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German Pages 271 [289]
JUS PRIVATUM Beiträge zum Privatrecht Band 67
Christiane Brors
Die Abschaffung der Fürsorgepflicht Versuch einer vertragstheoretischen Neubegründung der Nebenpflichten des Arbeitgebers
Mohr Siebeck
Christiane Brors, geboren 1968; 1987-1991 Studium der Rechtswissenschaften in Münster; 1991 Erstes Juristisches Staatsexamen; 1992-1995 Wiss. Mitarbeiterin an der Universität Münster, 1995 Zweites Juristisches Staatsexamen; 1995 Forschungsaufenthalt an der University of Iowa; 1996 Promotion; 1996 Tätigkeit als Arbeitsrichterin; 1997 Wiss. Assistentin an der Universität Münster; 1999 Forschungsaufenthalt an der Columbia Law School, New York; 2001 Habilitation, Privatdozentin an der Universität Münster; 2002 Lehrstuhlvertretung an der Universität Erlangen.
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Die Deutsche
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CIP-Einheitsaufnahme
Brors, Christiane: Die Abschaffung der Fürsorgepflicht: Versuch einer vertragstheoretischen Neubegründung der Nebenpflichten des Arbeitgebers / Christiane Brors. Tübingen : Mohr Siebeck, 2002 (Jus privatum ; Bd. 67) ISBN 3-16-147840-1
978-3-16-157918-9 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019
© 2002 J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Pfäffingen aus der Garamond-Antiqua gesetzt, von Guide-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Heinr. Koch in Tübingen gebunden. ISSN 0941-0503
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2001 von der Juristischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Habilitationsschrift angenommen. Sie entstand zum einen Teil während meiner Assistentinnenzeit am dortigen Institut für Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht. Zum anderen Teil gewährte mir das Habilitationsstipendium der DFG den Freiraum zu einem Forschungsaufenthalt an der Columbia Law School in New York wie auch die Freiheit dazu, intensiv und zügig zu arbeiten. An erster Stelle möchte ich mich bei Herrn Professor Schüren bedanken, mit dessen Unterstützung ich von der Arbeitsgerichtsbarkeit an die Universität zurückgekehrt bin und der meinen akademischen Werdegang von Beginn an gefördert hat. Herr Prof. Steinmeyer hat dankenswerterweise das Zweitgutachten übernommen. Aus rechtstheoretischer Sicht hat Herr Prof. Eidenmüller die Untersuchung begutachtet. Für anregende Diskussionen über die rechtsökonomische Analyse des Arbeitsrechts stand mir an der Columbia Law School Herr Professor Barenberg zur Verfügung. Zu danken habe ich dem Verleger für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe und wiederum der DFG für die schnelle Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Ich widme die Arbeit Juri. Münster, im Januar 2002
Christiane Brors
Inhaltsübersicht Vorwort Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
V XV
1
1. K a p i t e l : G r u n d l a g e n j u d i z i e l l e r B e g r ü n d u n g v o n N e b e n p f l i c h t e n des Arbeitgebers § 1
Die historische Entwicklung der allgemeinen Fürsorgepflicht im Spannungsfeld zwischen Privatautonomie und Allgemeinwohl
§2
7
Ansatzpunkte der judiziellen Nebenpflichtbegründung in der gegenwärtigen Rechtsprechung
§3
7
32
Zu den rechtstheoretischen Grundlagen der judiziellen Entwicklung von Nebenpflichten
47
2. K a p i t e l : D i e z u g r u n d e l i e g e n d e n P r i n z i p i e n
63
§4
D i e Vertragsfreiheit des Arbeitgebers
63
§5
Judizieller Schutz berechtigter Erwartungen des Arbeitnehmers
66
§6
Zur Uberschätzung der Einigung als Koordinationsmechanismus
93
3. K a p i t e l : E n t w u r f eines V e r t r a g s m o d e l l s i m S p a n n u n g f e l d von Vertragsfreiheit u n d Vertragsgerechtigkeit
105
§ 7
105
§ 8
Transaktionskostenbezogene Analyse des Arbeitsverhältnisses Wann muß die Rechtsprechung Pflichten unter den Funktionsvoraussetzungen des internen Arbeitsmarkts begründen?
§9
127
Absicherung des Vertrags bei Fehlen außerrechtlicher Sanktionsmechanismen
134
4. K a p i t e l : A u s g e w ä h l t e E i n z e l p r o b l e m e d e r j u d i z i e l l e n Nebenpflichtbegründung
143
VIII
Inhaltsübersicht
§ 1 0 Vertragskonkretisierende zwingende Nebenpflichten
143
§ 11 Nebenpflichten in Korrektur des Parteiwillens
232
Schlußbemerkung
245
Literaturverzeichnis
251
Sachverzeichnis
267
Personenverzeichnis
271
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
Abkürzungsverzeichnis
XV
Einleitung
1 1. Kapitel
Grundlagen judizieller Begründung von Nebenpflichten des Arbeitgebers § 1 Die historische Entwicklung der allgemeinen Fürsorgepflicht im Spannungsfeld zwischen Privatautonomie und Allgemeinwohl I. Die Begründung der Nebenpflichten des Arbeitgebers durch die Rechtsprechung und Literatur bis zum Erlaß des AOG 1. Die vertragsrechtliche Entwicklung von Nebenpflichten in der Rechtsprechung 2. Entwurf eines relationalen Vertragsmodells durch Otto von Gierke 3. »Fürsorgepflichten« in der arbeitsrechtlichen Literatur bis 1934 II. Die Fürsorgepflicht zwischen Instrumentalisierung und sierung in der nationalsozialistischen Arbeitsverfassung III.
Irrationali-
Wirkungen des § 2 Abs. 2 AOG nach 1945
§ 2 Ansatzpunkte der judiziellen Nebenpflichtbegründung in der gegenwärtigen Rechtsprechung I. Vertragskonkretisierende judizielle Nebenpflichten 1. Zum normativen Parteiwillen a) Arbeitsschritte des Gerichts bei der Pflichtbegründung b) Revisibilität der Pflichtbegründung c) Abgrenzung zur erläuternden Auslegung gem. § 133 BGB 2. Zur Bedeutung der vertraglichen Regelungslücke II. Regelungsersetzende judizielle Nebenpflichtbegründung 1. Keine Billigkeitskontrolle 2. Keine Sittenwidrigkeitskontrolle
7 9 9 14 17 22 29
32 33 34 36 38 40 40 41 43 44
X
Inhaltsverzeichnis
III.
Liegt der ergänzenden Pflichtenbegründung und der Inhaltskontrolle ein einheitliches normatives Vertragsmodell zugrunde?
§ 3 Z u d e n r e c h t s t h e o r e t i s c h e n G r u n d l a g e n der judiziellen Entwicklung von Nebenpflichten I. Gebot der rationalen Entscheidungsfindung
45
47 47
II. Rechtsfortbildung anhand von Prinzipien 1. Prinzipien als innere Systemkomponenten 2. Prinzipien, Regeln und politische Zielsetzungen 3. Fehlen einer kardinalen Abwägungsordnung Zusammenfassung
52 52 53 56 59
2. Kapitel Die zugrunde liegenden Prinzipien § 4 D i e V e r t r a g s f r e i h e i t des A r b e i t g e b e r s
63
§ 5 J u d i z i e l l e r S c h u t z b e r e c h t i g t e r E r w a r t u n g e n des A r b e i t n e h m e r s . .
66
I. Effizienz als Funktion des Vertrags? 1. »Wealth maximizing principle« 2. Realismus der Annahmen über das Parteiverhalten 3. Effizienz ist kein Prinzip a) Risikoverteilung bei Arbeitsunfällen nach der neoklassischen ökonomischen Analyse b) Kritik der amerikanischen Literatur am Effizienzkriterium c) Übertragung der Problematik II.
Vertragsgerechtigkeit als Anknüpfungspunkt Pflichtbegründung 1. Zum Vorwurf der Inhaltsleere 2. Vertragsgerechtigkeit als Reziprozität
86 86 88
I. Verhandeln als Koordinationsmechanismus? 1. Einigung als Richtigkeitschance 2. Funktionsdefizit bei Vorformulierung Zur Bedeutung der Einigung - der Ansatzpunkt »relational contracts theory«
Zusammenfassung
80 81 84
judizieller
§ 6 Z u r U b e r s c h ä t z u n g d e r E i n i g u n g als K o o r d i n a t i o n s m e c h a n i s m u s .
II.
67 72 74 76
93 93 94 96
der 99 103
Inhaltsverzeichnis
XI
3. Kapitel
Entwurf eines Vertragsmodells im Spannungfeld von Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit Transaktionskostenbezogene
§7
I. Zur Bedeutung
Analyse des Arbeitsverhältnisses
der Transaktionskosten
106
II. Interner Arbeitsmarkt III.
109
Vereinbarkeit des transaktionskostenbezogenen Modells mit der prinzipiengeleiteten Argumentation 1. Vereinbarkeit der Zielvorstellungen 2. Besteht bei allen Arbeitsverhältnissen ein bilaterales Monopol? 3. Rationale Parteien a) Präferenzautonomie b) Wie kooperativ sind Vertragsparteien? aa) Defektverhalten bb) Problem: Kooperationsgrad
§ 8 Wann muß die Rechtsprechung Pflichten unter den Funktionsvoraussetzungen des internen Arbeitsmarkts begründen? I. Zur Bedeutung II.
Zur Bedeutung
105
von Sanktionen
112 112 114 117 119 120 120 122
127 128
im Individualarbeitsrecht
131
§ 9 Absicherung des Vertrags bei Fehlen außerrechtlicher Sanktionsmechanismen
134
I. Inhaltskontrolle II. Abdingbare III.
von Verkehrssitten
und zwingende
Arbeitgeberpflichten
vertragskonkretisierende
Recht als Anreiz zu kooperativem
134
Pflichten
139
Verhalten?
139
4. Kapitel
Ausgewählte Einzelprobleme der Nebenpflichtbegründung §10 Vertragskonkretisierende
judiziellen
zwingende Nebenpflichten
I. Gleichbehandlungsgrundsatz bei freiwilligen Entgeltleistungen 1. Abgrenzung von Differenzierungsverboten 2. Zur vertragstheoretischen Grundlage der Gleichbehandlungspflicht 3. Zur privatautonomen Zweckbestimmung
143 143 143 144 148
XII
Inhaltsverzeichnis a) Lohnfestsetzung nach der neoklassischen ökonomischen Theorie 148 b) Besonderheiten des internen Arbeitsmarktes 149 c) Gruppenbezug und Einzelmotivation 151 aa) Equity Theory 152 bb) Expectancy Theory 154 d) Ergebnis: Rationaler Zweck der freiwilligen Leistung 155 4. Warum muß die Erwartung auf Gleichbehandlung verrechtlicht werden? 155 a) Zusätzliche Voraussetzungen der Verrechtlichung 159 b) Zum Umfang der Gleichbehandlungspflicht 160 5. Kritik an der Rechtsprechung zur Gleichbehandlungspflicht 161 a) Rechtsprechung zu den rückwirkenden Lohnerhöhungen 166 b) Auslegungsgrundsätze bei Weihnachtsgratifikationen und anderen nicht arbeitsleistungsbezogenen Sonderzuwendungen... 169 aa) Rechtsprechung zur sachgerechten Ausnahme von ausgeschiedenen und betriebsbedingt gekündigten Arbeitnehmern 169 bb) Fehlzeiten bei nichtarbeitsleistungsbezogenen Zahlungen 171 cc) Fehlzeiten bei arbeitsleistungsbezogenen Sonderzahlungen . . 1 7 4 6. Zusammenfassung 175
II.
III.
Informationspflichten
176
1. Ausgangsproblematik 2. Offenbarungspflichten vor Abschluß des Arbeitsvertrags a) Offenbarungs-oder Aufklärungspflichten? b) Umfang der Offenbarungspflicht am Beispiel der Aufklärung über mögliche Gesundheitsrisiken aa) Voraussetzung und Grenzen der Offenbarungspflicht über Gesundheitsgefahren bb) Rechtsfolgen bei unterlassener Offenbarung von Gesundheitsrisiken 3. Informationspflichten vor Abschluß des Aufhebungsvertrags 4. Zusammenfassung
176 182 182
Haftungsrechtliche Risikoverteilung 1. Ausgangsproblematik des innerbetrieblichen Schadensausgleichs . . . 2. Grund und Umfang der Haftungserleichterung in der Abwägung des objektiven Arbeitgeberanteils a) Berechtigtes Arbeitnehmerinteresse aa) Aquivalenzstörung im Haftungsfall bb) Fehlen einer autonomienäheren Lösung (1.) Ausweichmöglichkeiten im Tatsächlichen (2.) Vereinbarung eines Gefahrenzuschlags b) Berechtigtes Arbeitgeberinteresse 3. Abwägung der konkreten Verursachungsbeiträge von Arbeitgeber und Arbeitnehmer gem. § 254 B G B
192 192
184 184 185 187 191
198 198 198 200 200 200 201 205
Inhaltsverzeichnis a) Organisationsverschulden bei der Schadensentstehung gem. § 254 Abs. 1 BGB b) Abwägung gegen das Verschulden des Arbeitnehmers c) Schadensminderungspflicht als Versicherungsobligenheit aa) Keine Rücksicht auf den »cheapest insurer« bb) Rechtlicher Zielkonflikt zwischen Prävention und Versicherung 4. Zusammenfassung 5. Übertragung der Grundsätze auf die verschuldensunabhängige Haftung des Arbeitgebers bei Sachschäden des Arbeitnehmers 6. Mankohaftung IV. Abschied vom allgemeinen Beschäftigungsanspruch und Kritik am Weiterbeschäftigungsanspruch 1. Ausgangsproblematik der Konstruktion des allgemeinen Beschäftigungsanspruchs 2. Beschäftigungsanspruch nur bei besonderen wirtschaftlichen Interessen 3. Weiterbeschäftigungsanspruch 4. Zusammenfassung § 11 N e b e n p f l i c h t e n in K o r r e k t u r des Parteiwillens I. Rückzahlung von Ausbildungskosten 1. Ausgangsproblematik 2. Ergebniskontrolle gem. § 138 BGB II. Rückzahlung
von Gratifikationen
XIII
205 207 209 210 211 212 213 217 218 218 225 227 231 232 233 233 238 242
Zusammenfassung
243
Schlußbemerkung
245
Literaturverzeichnis
251
Sachverzeichnis
267
Personenverzeichnis
271
Abkürzungsverzeichnis AcP AP AR-Blattei ArbuR ARS ARSP
Archiv für die civilistische Praxis Arbeitsrechtliche Praxis Arbeitsrechts-Blattei Arbeit und Recht Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen Archiv für Rechts und Staatsphilisophie
BAG BB Bensh. Samml. BetrAV BIStSozAR
Bundesarbeitsgericht Betriebsberater Bensheimer Sammlung, Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte Betriebliche Alterversorgung Blätter für Steuerrecht, Sozialversicherung und Arbeitsrecht
DAR DB
Deutsches Arbeitsrecht Der Betrieb
EzA
Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht
FS
Festschrift
JuS JW JZ
Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung
KJ
Kritische Justiz
LAG
Landesarbeitsgericht
NJW NZA
Neue Juristische Wochenschrift Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht
RabelsZ RdA
Rabeis Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Recht der Arbeit
SAE
Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen
WM
Werpapiermitteilungen
ZBB ZBlfHR ZfA ZIP
Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft Zentralblatt für Handelsrecht Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
Einleitung D i e Fürsorgepflicht ist t o t - es lebe die Fürsorgepflicht! U n t e r diesem M o t t o scheint die judizielle Instrumentalisierung einer ebenso »schillernd und ideologisch belastet« 1 wie umstrittenen 2 Rechtsfigur zu stehen, die, schon totgesagt 3 , im Individualarbeitsrecht immer n o c h omnipräsent ist. 4 In der R e c h t s p r e c h u n g des Bundesarbeitsgerichts werden N e b e n p f l i c h t e n des Arbeitgebers auch heute n o c h z u m Teil 5 auf die Figur einer allgemeinen Fürsorgepflicht gestützt 6 bzw. allgemeine Fürsorgepflichten als feste Bestandteile des Arbeitsvertrags angesehen 7 . D a n a c h hat der Arbeitgeber »im R a h m e n seiner allgemeinen F ü r s o r g e pflicht, . . . , auf das W o h l und die berechtigten Interessen des Arbeitnehmers B e dacht zu nehmen« und m u ß »unter U m s t ä n d e n auch besondere M a ß n a h m e n treffen, die . . . eine Beeinträchtigung des F o r t k o m m e n s seines Arbeitnehmers verhindern k ö n n e n . « 8 D e n U m f a n g der Fürsorgepflicht bestimmt die R e c h t sprechung »aufgrund einer eingehenden A b w ä g u n g der beiderseitigen Interes1 Vgl. Wiese, Der personale Gehalt des Arbeitsverhältnisses, ZfA 1996, S. 439 (459), MünchArbR-B/orae^er § 94 Rz. 6: »Ihre »Blütezeit« erlebte die Fürsorgepflicht in der Zeit des Nationalsozialismus.« Die kollektivrechtliche Fürsorgepflicht des »Betriebsführers« war in § 2 Abs. 2 AOG geregelt [RGBl. 1934 I., S. 45]; vgl. dazu Hueck/Nipperdey/Dietz, Kommentar zum AOG (1934), § 2 Rz. 11 ff. 2 Schaub, Arbeitsrechtshandbuch (2000), §108 S. 1082; ErfK-iVeis (2001) §611 BGB Rz. 884; Schwerdtner, Fürsorgetheorie und Entgelttheorie im Recht der Arbeitsbedingungen (1970), S. 80. 3 Schwerdtner,Treueund Fürsorgepflichten im Gefüge des Arbeitsverhältnisses oder: Vom Sinn und Unsinn einer Kodifikation des Allgemeinen Arbeitsvertragsrechts, ZfA 1979, S. 1 (17); Wolf, Das Arbeitsverhältnis - Personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis oder Schuldverhältnis?, Marburg 1970, S. 30. 4 Vgl. Schaub, Arbeitsrechtshandbuch (2000), §108, S. 1084 die Fürsorgepflicht »durchdringt das gesamte Arbeitsverhältnis«. 5 Gegen eine Uberstrapazierung der Fürsorgepflicht vgl. BAG, Urt. v. 19.5.1998 - 9 AZR 307/96 - AP Nr. 31 zu § 670 BGB. 6 Vgl. z.B. BAG, Urt. v. 25.5.2000 - 8 AZR 518/99- ; Urt. v. 20.2.1997-8 AZR 121/95 - AP Nr. 4 zu §611 BGB Haftung des Arbeitgebers; BAG, Urt. v. 6.9.1994 - 9 AZR 221/93, AP Nr. 106 zu §611 BGB Fürsorgepflicht; Urt. v. 14.9.1994 - 5 AZR 632/93 - AP Nr. 13 zu §611 BGB Abmahnung; Urt. v. 26.8.1993 - 2 AZR 376/93 - AP Nr. 105 zu §611 BGB Fürsorgepflicht; Urt. v. 19.3.1992-8 AZR 301/91- AP Nr. 110 zu §611 Fürsorgepflicht. 7 BAG, Urt. v. 29.10.1998 - 2 AZR 666/97 - AP Nr. 77 zu § 615 BGB; Urt. v. 12.8.1999 - 2 AZR 55/99 - AP Nr. 41 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung; BAG, Urt. v. 28.4.1998 - 9 AZR 348/97 - AP Nr. 2 zu § 14 SchwbG. 8 BAG, Urt. v. 27.11.1985 - 5 AZR 101/84 - AP Nr. 93 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht.
2
Einleitung
sen« 9 unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzipes. 1 0 Diese Rechtsprechung baut auf der - bis in die sechziger Jahre in Rechtsprechung 1 1 und Literatur 1 2 nahezu 1 3 einhellig vertretenen - A n s i c h t auf, die N e b e n p f l i c h ten der Arbeitsvertragsparteien mit dem besonderen Treue- und Fürsorgeverhältnis oder dem »personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis« 1 4 zwischen Arbeitgeber und A r b e i t n e h m e r zu begründen. U n t e r dem Begriff der allgemeinen Fürsorgepflicht w u r d e n so ihrer Funktion nach gänzlich verschiedene Pflichtenbündel zusammengefaßt: Das A n l e g e n v o n Parkplätzen 1 5 , die Risikotragung f ü r eingebrachte Sachen des A r b e i t n e h m e r s 1 6 , die Gleichbehandlungspflicht 1 7 w i e aber auch Informationspflichten v o r A b s c h l u ß eines A u f hebungsvertrags 1 8 . N u r soweit die Fürsorgepflicht durch öffentlich-rechtliche Schutzvorschriften wie im Arbeitsschutzrecht konkretisiert ist, wird der vertragliche Verantwortungsbereich des Arbeitgebers genau beschrieben. Die Grenzen der darüber hinausgehenden allgemeinen Fürsorgepflicht, die den Gegenstand dieser Untersuchung bilden, sind dagegen diffus. Ihre Ableitung ist unklar. 1 9 Trotz9 BAG, Urt. v. 15.1.1986- 5 AZR 70/84 - Nr. 96 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht und BAG, Urt. V. 9.2.1977 - 5 AZR 2/76 - AP Nr. 83 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht m.w.N. auf die ständige Rechtsprechung. 10 BAG, Urt. v. 27.11.1985 - 5 AZR 101/84 - AP Nr. 93 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht. Vgl. BAG, Urt. v. 1.7.1965 - 5 AZR 264/64 - AP Nr. 75 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht: »Der Umfang der den Arbeitgeber obliegenden Sorgepflicht hängt somit von einer Vielzahl von Faktoren ab. ... der Arbeitnehmer kann nur die Fürsorgemaßnahmen verlangen, die dem Arbeitgeber nach den konkreten Umständen zumutbar sind.« 11 BAG, Urt. v. 25.2.1959 - 4 AZR 549/57 - AP Nr. 6 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht; BAG, Urt. v. 5.3.1959 - 2 AZR 268/56 - AP Nr. 26 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht. 12 Dersch, Entwicklungslinien der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers im Arbeitsverhältnis, RdA 1949, S. 325 (326); Molitor, Die personenrechtliche Natur des Arbeitsverhältnis, BlStSozAr 1949, S. 30 (31); Frey, Das Verhältnis von Treue und Fürsorgepflicht, AuR 1958, S. 203; Nikisch, Die Eingliederung in ihrer Bedeutung für das Arbeitsrecht, RdA 1960, S. 1 (2); derselbe, Arbeitsrecht Band I (1961), S. 445 und S. 470; Stecher, Die arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht, RdA 1961, S. 261 (262); Trieschmann, Das Verhältnis des Rechts des Einzelarbeitsverhältnisses zum allgemeinen bürgerlichen Recht, AuR 1962, S. 97 (103); Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts (1963), S. 241 und S. 390. 13 Zur Kritik an dieser Ansicht aus den sechziger Jahren vgl. Farthmann, Der »personenrechtliche« Charakter des Arbeitsverhältnisses, RdA 1960, S. 5; Pinther, Ist das Arbeitsverhältnis ein personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis?, ArbuR 1961, S.225; NeumannDuesberg, Das Haftungsbeschränkungsprinzip bei schadensgeneigter Tätigkeit außerhalb des Arbeitsverhältnis, JZ 1964, S. 433; Ramm, Rezension Wiedemann, JZ 1968, S. 479. 14 Wiedemann, Das Arbeitsverhältnis als Austausch- und Gemeinschaftsverhältnis (1966), S. 33. 15 BAG, Urt. v. 5.3.1959 - 2 AZR 268/56 - AP Nr. 26 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht. 16 BAG, Urt. v. 1.7.1965 - 5 AZR 264/64 - AP Nr. 75 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht. 17 BAG, Urt. v. 13.9.1956 - 2 AZR 152/54 - AP Nr. 3 zu § 611 BGB Gleichbehandlung. 18 BAG, Urt. v. 13.4.1984-3 AZR 255/84-AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskasse. 19 Schaub, Arbeitsrechtshandbuch (2000), §108 S. 1082; MünchArbR-5/ome>er (2000)
3
Einleitung
dem soll sie kennzeichnend für die soziale Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses sein. 2 0 M i t ihr soll die arbeitsvertragliche Besonderheit gewürdigt werden, daß sich der A r b e i t n e h m e r einer fremden Organisationsgewalt 2 1 unterwirft und fremde Interessen wahrnehmen muß. 2 2 Z w a r hat ein Teil der Literatur s c h o n in den siebziger J a h r e n die F ü r s o r g e pflicht als »verworrenen« 2 3 Begründungsansatz abgelehnt 2 4 und kritisiert, daß weder dem Begriff der »personenrechtlichen G e m e i n s c h a f t « n o c h dem »personalen Charakter« des Arbeitsvertrags eine rechtliche Bedeutung z u k o m m t . D i e R ü c k b e s i n n u n g auf das allgemeine Schuldrecht und die K o n s t r u k t i o n vertraglicher Schutz- und Rücksichtnahmepflichten 2 5 als R e a k t i o n auf diese Kritik reicht aber dann nicht aus, wenn sie nur dazu führt, in einem Etikettenwechsel die bislang unter dem Begriff der allgemeinen Fürsorgepflicht entwickelten Pflichten nun aus § 242 B G B 2 6 bzw. § 241 Abs. 2 B G B abzuleiten, ohne die zugrunde liegenden Wertungen aufzudecken. In diesem Fall bleibt unklar, worin die arbeitsvertragliche Besonderheit besteht, mit der die speziellen R ü c k s i c h t nahmepflichten des Arbeitgebers vertragstheoretisch begründet werden k ö n nen. In der vorliegenden U n t e r s u c h u n g entwickele ich ein vertragstheoretisches K o n z e p t , mit dem anstelle der allgemeinen Fürsorgepflicht die tatsächlich gegebenen Besonderheiten des Arbeitsvertrags berücksichtigt werden k ö n n e n . D i e allgemeine Fürsorgepflicht wird in einem ersten Schritt als Leerformel verabschiedet und durch ein vertragstheoretisch begründetes Modell ersetzt, das erklärt, warum die Rechtsprechung in bestimmten Fällen die tatsächlichen Erwartungen des Arbeitnehmers verrechtlichen und unter bestimmten Voraussetzungen
in
der
richterlichen
Inhaltskontrolle
auch
gegen
den
erklärten
Parteiwillen durchsetzen muß. D i e N e u b e g r ü n d u n g ist nicht nur notwendig, um die Erforderlichkeit der judiziellen Eingriffe in den Vertrag nachzuvollzie-
§ 94 Rz. 14; Schwerdtner, Fürsorgetheorie und Entgelttheorie im Recht der Arbeitsbedingungen (1970), S. 79. 20 Wiese, Der personale Gehalt des Arbeitsverhältnisses, ZfA 1996, S. 439 (457 und 461). 21 Richardi, Entwicklungstendenzen der Treue- und Fürsorgepflicht in Deutschland in: Tomandl (Hrsg.) Treue- und Fürsorgepflicht im Arbeitsrecht (1975), S. 41 (44); MünchArbRBlomeyer (2000) § 94 Rz. 14. 22 Mayer-Maly, Treue- und Fürsorgepflicht in rechtstheoretischer und rechtsdogmatischer Sicht in: Tomandl (Hrsg.), Treue- und Fürsorgepflicht im Arbeitsrecht (1975), S. 71 (80 ff.). 23 Wolf, Das Arbeitsverhältnis - Personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis oder Schuldverhältnis? (1970), S. 35; Schwerdtner,Treueund Fürsorgepflichten im Gefüge des Arbeitsverhältnisses oder: Vom Sinn und Unsinn einer Kodifikation des Allgemeinen Arbeitsvertragsrechts, ZfA 1979, S. 1 ff. 24 Wolf, Das Arbeitsverhältnis - Personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis oder Schuldverhältnis? (1970), S. 30. 25 Vgl. UünchArbK-Blomeyer (2000) § 94 Rz. 8. 26 MünchArbR-ß/omeyer (2000) § 94 Rz. 14; EdK-Preis § 611 B G B Rz. 883.
4
Einleitung
hen. Sie dient auch als Material zur zukünftigen Entwicklung eines vereinheitlichten europäischen Arbeitsvertragsrechts, das auf den Rechtsprinzipien der einzelnen Länder aufbaut. In einem zweiten Schritt wird anhand von Beispielen das bislang unter dem Oberbegriff der Fürsorgepflicht zusammengefaßte judizielle Instrumentarium auf der Grundlage dieses vertragstheoretischen Neuentwurfs kritisiert. Basis der Neukonzeption und der Kritik der bislang unter dem Oberbegriff der Fürsorgepflicht zusammengefaßten judiziellen Eingriffe in den Vertrag sind zwei Fragen, welche die Untersuchung leiten: -
Welchen rechtlichen Wertungsrahmen muß die Rechtsprechung ihrer Vertragsergänzung oder Vertragskorrektur zugrunde legen und wie können die Grenzen dieses Wertungsrahmens konkretisiert werden? - Welchen typischen tatsächlichen Abwicklungsstörungen ist dieses normative Modell eines gerechten Arbeitsvertrags in der Marktwirklichkeit ausgesetzt und wie kann die typische Marktwirklichkeit aus der maßgeblichen rechtlichen Perspektive beschrieben werden? Die allgemeine Fürsorgepflicht ist Ausdruck einer historischen Rechtsentwicklung. Eine Neubegründung rechtfertigt sich nur dann, wenn sich die bisherigen Erklärungsversuche als unzureichend erwiesen haben. Es wird daher zu Beginn des ersten Kapitels analysiert, welche historischen Regelungsziele die Rechtsprechung mit der allgemeinen Fürsorgepflicht erreichen wollte und gerechtfertigt erreichen konnte und inwieweit die gegenwärtige Rechtsprechung an diese Erklärungsversuche anknüpfen kann. Damit ein einheitliches normatives Modell für das bislang unter dem Begriff der allgemeinen Fürsorgepflicht zusammengefaßte judizielle Instrumentarium erarbeitet werden kann, muß die Grenzziehung zwischen Auslegung des hypothetischen Parteiwillens und der richterlichen Inhaltskontrolle untersucht werden. Im zweiten Kapitel werden die Argumentationslinien herausgearbeitet, die diesem einheitlichen Modell des gerechten Vertrags unterliegen, das die Rechtsprechung als Schablone dem zu beurteilenden Vertrag in ihrer Vertragsergänzung und Korrektur unterlegt. Neben den Rechtsprinzipien der Vertragsfreiheit und der noch im einzelnen zu konkretisierenden Vertragsgerechtigkeit, ist zu erörtern, ob die Rechtsprechung darüber hinaus sozialpolitische Zielvorgaben aber auch die ökonomische Effizienz des Arbeitsvertrags als Ausrichtungspunkte berücksichtigen kann und muß. Steht die maßgebliche rechtliche Perspektive nach dieser Erörterung fest, muß weiter konkretisiert werden, welcher zeitliche Ausschnitt des Vertrags maßgeblich sein soll. Spielen nur Erwartungen des Arbeitnehmers eine Rolle, die sich im Zeitpunkt der Einigung aus der exante-Sicht erfassen lassen? Oder muß davon unabhängig ein Kooperationsschema für die eigentlichen Abwicklungsprobleme gefunden werden, die sich erst während der Vertragsdurchführung des Dauerschuldverhältnisses des Ar-
Einleitung
5
beitsvertrags ergeben? In diesem Zusammenhang muß überlegt werden, inwieweit die Erkenntnisse der angloamerikanischen »relational contracts theory« für das deutsche Arbeitsvertragsrecht weiterführen können. Erst wenn die rechtlichen Argumentationslinien der Rechtsprechung feststehen, kann im dritten Kapitel erörtert werden, wie die typischen tatsächlichen Abwicklungsbedingungen des Arbeitsvertrags aus der vorangestellten rechtlichen Blickrichtung erklärt werden können. Dabei sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, unter denen das Arbeitsverhältnis durchgeführt wird. Sollen die tatsächlichen Abwicklungsstörungen zutreffend beschrieben werden, so muß darüber hinaus feststehen, welche Annahmen die Rechtsprechung über das Parteiverhalten zugrunde legen kann. Wie kooperativ oder egozentrisch sind die Arbeitsvertragsparteien, wie wirkt sich die organisatorische Zusammenfassung mehrerer Arbeitsverhältnisse bei einem Arbeitgeber aus und welche verhaltenssteuernde Funktion kann das Recht übernehmen? Im vierten und letzten Kapitel wird die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts anhand des zuvor entwickelten Konzepts kritisiert. Fallgruppen, wie der Gleichbehandlungsanspruch, die innerbetriebliche Risikoverteilung oder der allgemeine Beschäftigungsanspruch werden verabschiedet oder auf eine tragfähige vertragstheoretische Grundlage gestellt. Die vorliegende Untersuchung liegt somit im Schnittfeld einer vertragstheoretischen und einer rechtsökonomischen Analyse des Arbeitsvertrags. In ihr wird arbeitsvertragliches Neuland betreten. Bislang ist die rechtsökonomische Analyse für das deutsche Arbeitsvertragsrecht nur vereinzelt aufgegriffen worden. 2 7 Dies ist umso unverständlicher als die Diskussion um die Grenzen der Vertragsfreiheit in der richterlichen Inhaltskontrolle darum kreist, Paritätsstörungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer rechtlich zu beschreiben. Ein derartiger Versuch ist aber nur dann erfolgversprechend, wenn die tatsächlichen Marktbedingungen aus der rechtlichen Perspektive wahrgenommen werden. Will man die arbeitsvertragliche Besonderheit erklären, die zu gesteigerten Rücksichtnahmepflichten führt, muß untersucht werden, was den Markt, auf dem der Arbeitsvertrag geschlossen und abgewickelt wird von einem Gütermarkt unterscheidet. Ziel der Untersuchung ist es, die tradierte Leerformel der allgemeinen Fürsorgepflicht abzuschaffen und jenseits eines unbestimmten Rechtspaternalismus eine diskutierbare Erklärung für die aus rechtlicher Sicht relevanten marktbedingten Besonderheiten des Arbeitsvertragsrechts anzubieten.
27 Kittner, Die Rechtsprechung des BVerfG zur »Wiederherstellung gestörter Vertragsparität« im Lichte der ökonomischen Analyse des Rechts und von Deregulierungsprogrammen, in: Hanau/Heither/Kühling (Hrsg.) Festschrift Dieterich, München 1999, S. 278 ff; Behrens, Die Bedeutung der ökonomischen Analyse für das Arbeitsrecht, Z f A 1989, S. 209 ff.
1.
Kapitel
Grundlagen judizieller Begründung von Nebenpflichten des Arbeitgebers $ 1 Die historische Entwicklung der allgemeinen Fürsorgepflicht im Spannungsfeld zwischen Privatautonomie und Allgemeinwohl
K o n t i n u i t ä t e n z w i s c h e n d e m A r b e i t s r e c h t der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d und d e m des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s sind in personeller 1 und in sachlicher 2 H i n sicht aufgezeigt w o r d e n . D i e f o l g e n d e A u f a r b e i t u n g dieser und der davorliegenden Z e i t , v o m E r l a ß des B G B bis z u m E r l a ß des G e s e t z e s z u r O r d n u n g der nationalen A r b e i t ( A O G ) im J a h r e 1 9 3 4 3 , f ü h r t ü b e r die bisherigen U n t e r s u c h u n g e n hinaus. Sie erklärt die N o t w e n d i g k e i t einer v e r t r a g s t h e o r e t i s c h e n N e u b e g r ü n d u n g der N e b e n p f l i c h t e n des A r b e i t g e b e r s . Ernst
Wolf*
hat darauf
hingewiesen, daß der in § 2 A b s . 2 A O G 5 v e r w e n d e t e G e m e i n s c h a f t s b e g r i f f und seine A u s p r ä g u n g als allgemeine arbeitsrechtliche F ü r s o r g e p f l i c h t 6 w e d e r in der R e c h t s p r e c h u n g n o c h in der R e c h t s l i t e r a t u r z u v o r existiert haben. D i e f o l g e n d e n A u s f ü h r u n g e n unterstellen der gegenwärtigen R e c h t s p r e c h u n g keine
1 Wahsner, Kontinuitäten und Diskontinuitäten in Arbeitsrechtslehre und Arbeitsgerichtsbarkeit, in: Gustav-Stresemann-Institut (Hrsg.), Arbeitsrecht und Nationalsozialismus (1986), S. 121 (124); derselbe, Das Arbeitsrechtskartell - Die Restauration des kapitalistischen Arbeitsrechts in Westdeutschland nach 1945, KJ 1974, S. 369 (373). 2 Scbwerdtner, Fürsorgetheorie und Entgelttheorie im Recht der Arbeitsbedingungen (1970); Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (1997) S. 379 u. 399 § 19 VI. 3 RGBl. I S. 45 ff. 4 Wolf, Das Arbeitsverhältnis - Personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis oder Schuldverhältnis (1970), S. 75. 5 § 2 AOG (RGBl. I 1934, S. 45) lautet: I. Der Führer des Betriebes entscheidet der Gefolgschaft gegenüber in allen betrieblichen Angelegenheiten, soweit sie durch dieses Gesetz geregelt werden. II. Er hat für das Wohl der Gefolgschaft zu sorgen. Diese hat ihm die in der Betriebsgemeinschaft begründete Treue zu halten. 6 Die in dieser Vorschrift statuierte Pflicht betraf nur die betriebliche, »aus der sozialen Ehre« (Hueck/Nipperdey/Dietz, A O G (1943), § 2 Rz. I I a ) begründete und nicht die individualrechtliche Pflicht des Arbeitgebers. Die betriebliche Fürsorgepflicht war aber auf der anderen Seite Auslegungsmaßstab der individualvertraglichen Fürsorgepflicht, so daß die inhaltliche Begründung letztlich zusammenfiel (Hueck/Nipperdey/ Dietz, A O G , aaO., § 2 Rz. 11 b).
1. Kapitel: Grundlagen judizieller Begründung von Nebenpflichten
8
des
Arbeitgebers
Zielvorstellungen, die sich aus der historischen Gesetzeslage ergeben. Sie verdeutlichen vielmehr den methodischen B r u c h , zu dem die A n n a h m e einer allgemeinen Fürsorgepflicht führt.Wie im A n s c h l u ß 7 belegt wird, gab es vor Erlaß des A O G keine allgemeine Fürsorgepflicht, die sich auf alle Arbeitsverhältnisse bezog. M i t A u f h e b u n g des A O G im J a h r e 1946 8 entfiel die Grundlage, u m N e benpflichten aus einer allgemeinen Fürsorgepflicht zu entwickeln. D i e R e c h t sprechung ü b e r n a h m die Begrifflichkeit der allgemeinen Fürsorgepflicht aus dem A O G , ohne die dafür erforderliche rechtliche Grundlage zu erklären. F r e i lich k o n n t e sich die Rechtsprechung auf § 2 4 2 B G B stützen. D a m i t wurden jedoch die zugrunde gelegten Wertungen nicht aufgedeckt, da der innerhalb des § 2 4 2 B G B zur Verfügung stehende Wertungsrahmen nicht näher konkretisiert wurde. W i e die E n t w i c k l u n g der N e b e n p f l i c h t e n unter dem Einfluß des A O G verdeutlicht, widersprechen sich die nach dem A O G zulässige P f l i c h t e n k o n s t r u k tion und die gem. § 2 4 2 B G B vertragstheoretisch begründete E n t w i c k l u n g von N e b e n p f l i c h t e n derart, daß sich die R e c h t s p r e c h u n g nach 1945 weder an den Inhalten n o c h an dem Konstruktionsgerüst aus den dreißiger Jahren orientieren durfte. D i e Interpretation,
daß in der Zeit des Nationalsozialismus
der
»Schutzbereich des Arbeitnehmers . . . mit der A n e r k e n n u n g eines allgemeinen Grundsatzes der F ü r s o r g e . . . eine bedeutsame Erweiterung erfahren [habe], den man natürlich nicht aufgeben wollte« 9 , m u ß zurückgewiesen werden. A u f grund der gesetzlichen Regelungen in §§ 1 und 2 A O G k o n n t e die R e c h t s p r e chung Pflichten über die Allgemeinwohlbindung des Arbeitsvertrags im öffentlichen Interesse konstruieren. D i e vertragstheoretische
Rechtfertigung
spielte keine Rolle. D i e s e gesetzliche Grundlage stand der Rechtsprechung nach 1945 nicht mehr zur Verfügung. D a aber in der Zeit nach 1945 eine vertragstheoretische N e u b e g r ü n d u n g versäumt wurde, k o n n t e sich die F ü r s o r g e pflicht über die Generalklausel des § 2 4 2 B G B zu einem Bereich entwickeln, in dem die H e r k u n f t der maßgeblichen Wertungen unklar geblieben ist. D i e A n t w o r t auf die Frage nach der vertragstheoretischen Legitimationsgrundlage hat entscheidende Bedeutung für die D e k o n s t r u k t i o n und N e u k o n s t r u k t i o n der heutigen N e b e n p f l i c h t e n . D i e N e b e n p f l i c h t e n haben eine andere Qualität, je nachdem, o b das Individuum oder die Allgemeinheit geschützt werden soll. D i e Regelungen des Gesetzgebers und nicht die judizielle Pflichtbegründung sind das geeignete Mittel, die Privatautonomie aus G r ü n d e n des G e m e i n w o h l s einzuschränken. Verantwortlich für den E i n d r u c k , daß die in § 2 Abs. 2 A O G geregelte ursprünglich nur betriebsbezogene Fürsorgepflicht einer bestehenden Vgl. § 1 I S. 9 ff. Kontrollratsgesetz Nr. 40 v. 30.11.1946, Amtsblatt des Kontrollrats Nr. 12 (1946), S. 229. Darin wurde das AOG mit Wirkung zum 1.1.1947 aufgehoben. 9 Klatt, Treuepflichten im Arbeitsverhältnis (1990), S. 296; vgl. eine ähnliche Aussage auch bei Kranig, Lockerung und Zwang (1983), S. 214. 7 8
5 1: Die historische Entwicklung
der allgemeinen Fürsorgepflicht
9
Rechtstradition gefolgt sei, ist nicht zuletzt die - unrichtige - von Alfred Hueck10 im Jahre 1947 geäußerte Ansicht, daß der Treuegedanke und damit auch die Fürsorgepflicht schon vor Erlaß des A O G das Arbeitsverhältnis geprägt hätten. Auf diese Ansicht ist noch zurückzukommen. 1 1 Es ist sicherlich richtig, daß der in § 2 A O G verwendete Begriff der betrieblichen Gemeinschaft schon zuvor unter sozialpolitischen Aspekten diskutiert worden ist. 12 Eine allgemeine Fürsorgepflicht erkannten die überwiegende Rechtsliteratur und Rechtsprechung - wie nun gezeigt wird - jedoch nicht an oder beschränkten eine solche Pflicht auf bestimmte Arbeitsverhältnisse.
I. Die Begründung der Nebenpflichten des Arbeitgebers durch die Rechtsprechung und Literatur bis zum Erlaß des A O G »Im übrigen soll das ganze Verhältnis gekennzeichnet sein durch den Gedanken einer disziplinaren Harmonie. Diese Verbeamtung des Arbeitsverhältnisses ist der Ausfluß einer auf der einen Seite romantisch-militärischen, auf der anderen Seite ausgesprochen kleinbürgerlichen Einstellung.« Kahn-Freund, Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts (1931), S. 191.
1. Die vertragsrechtliche in der Rechtsprechung
Entwicklung
von
Nebenpflichten
In den bereits vorliegenden Untersuchungen 1 3 über die Zeit vor Erlaß des A O G wird klargestellt, daß die Rechtsprechung Nebenpflichten des Arbeitgebers nicht aus einer für das Arbeitsvertragsrecht allgemein geltenden Fürsorgepflicht entwickelte, sondern nur aus schuldrechtlichen Grundsätzen 1 4 gem. § 242 BGB. 15 Wozu also eine erneute Untersuchung der arbeitsgerichtlichen 10
Der Treuegedanke im modernen Privatrecht (1947), S. 13. Vgl. § 1 1.3 S. 21. 12 Vgl. dazu Hientzsch, Arbeitsrechtslehren im Dritten Reich (1970), S. 16 u. 55, der aber ebenso auf die Unterschiede dieser Lehren zu der faschistischen Arbeitsverfassung eingeht, so daß man nicht sagen kann, diese Lehren hätten den nationalsozialistischen Gemeinschaftsbegriff schon vorweggenommen. 13 Wiedemann, Das Arbeitsverhältnis als Austausch- und Gemeinschaftsverhältnis (1966), S. 1 ff.; Schwerdtner; Fürsorgetheorie und Entgelttheorie im Recht der Arbeitsbedingungen (1970), S. 22 ff. 14 Freilich liegt es auf der Hand, daß die Vorstellung des Reichsarbeitsgerichts vom N o r malarbeitsverhältnis nicht unpolitisch war. Kahn-Freund, Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts (1931), in: Ramm (Hrsg.), Arbeitsrecht und Politik Quellentexte 1918 - 1933 (1966), S. 149 (205) beschreibt das Ideal des Reichsarbeitsgerichts in seiner Kritik als faschistisch und autoritär und belegt dies insbesondere mit den Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts zum Arbeitskampfrecht. Im Individualarbeitsrecht folgte es nach seiner Auffassung einem patriarchalisch geprägten Leitbild, das zwar wirtschaftsfriedlich, aber nicht ausschließlich Arbeitgeber orientiert war. Danach müsse sich der Arbeitnehmer »still verhalten und nicht auf seine Rechte pochen« (aaO., S. 191). 11
10 1. Kapitel: Grundlagen judizieller
Begründung von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
Rechtsprechung? Sie zeigt den historischen Versuch, die Nebenpflichten des Arbeitgebers vertragstheoretisch ohne die Leerformel der allgemeinen Fürsorgepflicht zu begründen. Der dabei zugrundegelegte vertragstheoretische Konstruktionsansatz ist freilich verbesserungswürdig. Er weist die Schwäche auf, gegen die sich v. Gierke weniger pointiert mit der oft zitierten Forderung nach dem »Tropfen sozialistischen Öles« 16 als vielmehr mit einer anderen vertragstheoretischen Konzeption 17 wendete: der Konstruktion von Pflichten anhand der Momentaufnahme der Einigung ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Besonderheiten, die sich bei der Durchführung der Langzeitbeziehung Arbeitsvertrag ergeben. Eine allgemeine Fürsorgepflicht, die über den z.B. in § 618 B G B gesetzlich geregelten Rahmen hinausging, nahm das Reichsgericht nicht an, weil sie nicht durch die Willenserklärungen abgedeckt war. Die in § 618 B G B geregelte Fürsorgepflicht war zudem kein arbeitsrechtliches Spezifikum: Das Reichsgericht hatte schon vor Erlaß des B G B einen vertraglichen Schadensersatzanspruch anerkannt, wenn ein Vertragspartner Gesundheitsverletzungen erlitten hatte wie z.B. im Falle eines Dienstmietvertrags. 18 Nach Inkrafttreten des B G B nahm das Reichsgericht an, daß sich vertragliche Integritätsschutzpflichten als Nebenpflichten eines jeden Vertrages aus § 242 B G B ergaben. So traf auch den Werkbesteller die Fürsorgepflicht, den Werkunternehmer vor Gesundheitsschäden zu bewahren. 19 In zwei Fallgruppen zeigte sich die Schwierigkeit, Nebenpflichten allein aus der Einigung der Parteien zu entwickeln. Zum einen handelt es sich um die Begründung vertraglicher Schadensersatzansprüche aufgrund sozialversicherungsrechtlicher Pflichtverletzungen. Zum anderen reicht die Einigung als Legitimationsgrundlage nicht mehr aus, wenn durch die judizielle Pflichtbegründung Risiken unter Berücksichtigung der Organisationsgewalt des Arbeitgebers wirtschaftlich sinnvoll verteilt werden sollten. In den Fällen, in denen der Arbeitgeber seinen öffentlich-rechtlichen Sozialversicherungspflichten nicht nachgekommen war, hatte das Reichsgericht zu-
15 Wiese, Der personale Gehalt des Arbeitsverhältnisses, ZfA 1996, S. 447 (448) und Klatt, Treuepflichten im Arbeitsrecht (1990), S. 228 ff.; Richardi, Entwicklungstendenzen der Treueund Fürsorgepflicht in Deutschland, in: Tomandl (Hrsg.), Treue- und Fürsorgepflicht im Arbeitsrecht (1975), S. 41 (46) und derselbe, Das Arbeitsverhältnis im Zivilrechtssystem, ZfA 1988, S. 221 (229). 16 Die soziale Aufgabe des Privatrechts, Nachdruck des am 5.4.1889 vor der Juristischen Gesellschaft zu Wien gehaltenen Vortrags, in: Erik Wolf (Hrsg.), Deutsches Rechtsdenken, Heft 12 (1948), S. 10. 17 Vgl. dazu unter 2., S. 14. 18 RG, Urt. v. 24.5.1888 - Rep. VI 80/88 - RGZ 21, S. 170 und RG, Urt. v. 2.10.1890 - Rep. VI 124/90 - RGZ 27, S. 191. In dieser Entscheidung leitete es den Schadensersatzanspruch aus römisch-rechtlichen Quellen ab. 19 RG, Urt. v. 2.7.1912 - III 496/11 - RGZ 80, S. 27; RG, Urt. v. 14.12.1917 - VII 287/17 RGZ 91, S. 324 und RG, Urt. v. 13.10.1916 - III 145/16 - RGZ 88, S. 433.
§ 1: Die historische Entwicklung
der allgemeinen
Fürsorgepflicht
11
nächst einen vertraglichen Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers verneint. 20 Das Reichsgericht trennte in diesen Entscheidungen zwischen den öffentlich-rechtlichen Pflichten des Arbeitgebers gegenüber dem Staat und denen, die er vertraglich gegenüber dem Arbeitnehmer übernommen hatte. Zur Begründung des Anspruchs verlangte das Gericht, daß sich der Arbeitgeber zumindest konkludent gegenüber dem Arbeitnehmer verpflichtete, für ihn Sozialversicherungsbeiträge zu leisten. Es nahm eine derartige vertragliche Pflicht insbesondere in dem Fall an, in dem der Arbeitgeber schon in der Vergangenheit die Versicherungsmarken eingeklebt oder sich zuvor die Versicherungskarte hatte aushändigen lassen. Die durch das Arbeitsgerichtsgesetz im Jahre 192621 verselbständigte Arbeitsgerichtsbarkeit knüpfte an die Entscheidungen des Reichsgerichts an. Da auch das Reichsarbeitsgericht einen Schutzcharakter der sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB verneinte 22 , konnte ein Schadensersatzanspruch nur über eine Nebenpflichtverletzung konstruiert werden. Eine konkludente Übernahme einer entsprechenden vertraglichen Sorgfaltspflicht sah das Reichsarbeitsgericht darin, daß sich der Arbeitgeber die Quittungskarten aushändigen ließ. 23 Dersch merkt - ebenso noch auf der Grundlage eines unter dem Willensdogma stehenden Vertragsmodells - zu der zitierten Entscheidung an, daß die Karten stets an das Lohnbüro übergeben worden seien, so daß man nicht mehr von der Pflicht als Ausnahme ausgehen könne, sondern sich vielmehr schon eine entsprechende Verkehrssitte gebildet habe.24 Die zweite Fallgruppe, bei der die Begrenztheit des vertragstheoretischen Ansatzpunktes deutlich wurde, war die Begründung von Nebenpflichten infolge von Organisationsentscheidungen des Arbeitgebers. In diesen Fällen ließ sich die Risikoverteilung nicht allein aus der Einigung herleiten, sondern setzte ein bestimmtes normatives Vertragsmodell für eine wirtschaftlich sinnvolle Risikoverteilung zwischen den Parteien voraus. Die Rechtsprechung entwickelte dieses Modell allerdings versteckt, da sie Nebenpflichten weiterhin nur über die Einigung konstruierte. Als Kriterium für die Risikoverteilung stellte das
2 0 RG, Urt. v. 12.3.1906 - VI 234/05 - R G Z 63, S. 53 unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung in Urt. v. 3.5.1904 - III 469/03 - R G Z 58, S. 102, in dem es eine solche Pflicht verneint hatte. 21 RGBl. I, S. 507. 22 R A G , Urt. v. 15.3.1930 - 499/29 - SAE 1930, S. 385; R A G , Urt. v. 9.8.1929 - 157/29 Bensh.Saraml. Band 7 Nr. 3 (RAG), S. 12; R A G , Urt. v. 5.7.1930 - 88/30- Bensh. Samml. Band 10 Nr. 30 (RAG), S. 110; R A G , Urt. v. 9.7.1930 - 209/30 - SAE 1930, S. 496; L A G Berlin, Urt. v. 17.7.1931 - 101b S 1562/31 - SAE 1933, S. 70. 23 R A G , Urt. v. 5.7.1930 - 88/30- Bensh. Samml. Band 10 Nr. 30 (RAG), S. 110. 24 Dersch, Anm. zu R A G , Urt. v. 5.7.1930 - 88/30- Bensh. Samml. Band 10 Nr. 30 (RAG), S. 115.
12
1. Kapitel:
Grundlagen
judizieller
Begründung
von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
Reichsarbeitsgericht auf die Organisationsgewalt des Arbeitgebers ab. N e b e n pflichten des Arbeitgebers begründete das Reichsarbeitsgericht dann, wenn der den Rechtsstreit hervorrufende Schaden dadurch entstanden war, daß der Arbeitnehmer Weisungen des Arbeitgebers befolgt hatte. Organisationsentscheidungen, die an die Stelle von Einzelweisungen traten, konnten ebenso zu einer Nebenpflicht führen. So bestand eine Verwahrungspflicht des Arbeitgebers gem. § 242 B G B für Kleidungsstücke, die aufgrund Einzelweisung oder Organisationsentscheidung zur Arbeit mitgebracht werden mußten. 2 5 Die »Anordnungsbefugnis«- also das Direktionsrecht gem. § 315 B G B - wurzelte, wie es das Reichsarbeitsgericht 1931 ausführte, gerade in der »selbstverständlichen Aufgabe des Betriebsinhabers, den Betrieb zu organisieren und leiten« 2 6 . Soweit die Arbeitnehmer durch Organisationsentscheidungen zu einem bestimmten Verhalten bestimmt wurden, traf den Arbeitgeber eine mit der »Anordnungsbefugnis« korrespondierende Obhutspflicht, die zu Schadensersatzansprüchen führen konnte. 2 7 Wurden Gegenstände dagegen freiwillig und damit unbeeinflußt von Weisungen des Arbeitgebers mitgeführt wie z. B. das Fahrrad, um die Arbeitsstelle zu erreichen, so existierte grundsätzlich 2 8 keine Obhutspflicht des Arbeitgebers. 2 9 Die Anbindung dieser judiziell konstruierten Pflichten an die Organisationsgewalt des Arbeitgebers zeigt, daß das Reichsarbeitsgericht mit der Pflichtenbegründung letztlich die entstandenen Risiken wirtschaftlich sinnvoll verteilen wollte. O b w o h l die Pflichten nach wie vor ausschließlich aus der vertraglichen Einigung hergeleitet wurden und dem Willen der Parteien entsprechen mußten, führte die Rechtsprechung Kriterien ein, die einer darüber hinausgehenden normativen Vorstellung entsprachen. Bei der Auslegung von Erklärungen für eine Begründung von Pflichten kam es nicht nur darauf an, daß die Aus-
2 5 R A G , Urt. v. 23.10.1929 - 137/29 - SAE 1930, S. 44; R A G , Urt. v. 26.6.1929 - 673/28 Bensh. Samml. Band 6 Nr. 91 (RAG), S. 370 unter Verwendung des Begriffs »Fürsorgepflicht«; L A G Essen, Urt. v. 7.1.1928 - 71/27 - SAE 1928, S. 85; L A G Berlin, Urt. v. 31.8.1928 - SAE 1928, S. 417 2 6 R A G , Urt. v. 19.12.1931 - 261/31 - SAE 1932, S. 158. 2 7 R A G , Urt. v. 26.6.1929 - 673/28 - Bensh.Samml. Band 6 Nr. 91 (RAG); R A G , Urt. v. 23.10.1929 - 137/29 - SAE 1930, S.44; L A G Essen, Urt. v. 9.6.1928 - 97/28 - Bensh.Samml. Band 3 Nr. 55 (LAG), S. 170. 2 8 Eine »Aufbewahrungs-« oder »Fürsorgepflicht« wurde angenommen, wenn die Aufbewahrung der Verkehrssitte entsprach ( R A G , Urt. v. 2.7.1930 - Bensh. Samml. Band 10 Nr. 11 ( R A G ) S. 30; v. 6.2.1932 - 347/31 - SAE 1932, S. 278), oder unabhängig davon, wenn der Arbeitgeber eine solche Pflicht stillschweigend übernommen hatte. U m eine entsprechende Verkehrssitte, z.B. Bewachung mitgebrachter Fahrräder festzustellen, beriefen sich die Gerichte zunächst auch auf Statistiken, um zu ermitteln, wie viele Arbeitnehmer mit einem Fahrrad fuhren ( L A G Magdeburg, Urt. v. 2 6 . 4 . 1 9 2 8 - 2 0 S 11/28 -Bensh. Samml. Band 3 Nr. 71 (LAG), S. 204; L A G Essen, Urt. v. 7.1.1928 - 7 1 / 2 7 - SAE 1928, S.85). 2 9 R A G , Urt. v. 9.5.1931 - 629/30 - SAE 1931, S. 347; L A G Essen, Urt. v. 7.1.1928 - 71/27 SAE 1928, S. 85; L A G Berlin, Urt. v. 31.8.1928 - 102 S 932/28 - SAE 1928, S. 417.
§ 1: Die historische
Entwicklung
der allgemeinen
Fürsorgepflicht
13
l e g u n g n i c h t z u e i n e r Ä n d e r u n g des V e r t r a g e s f ü h r t e u n d sich i n s b e s o n d e r e i m R a h m e n des w i r t s c h a f t l i c h e n u n d s o z i a l e n Z w e c k s des V e r t r a g e s h i e l t . 3 0 V i e l m e h r b e s t i m m t e d i e s e r v o n der R e c h t s p r e c h u n g a n g e n o m m e n e Z w e c k das A u s l e g u n g s e r g e b n i s , das sich aus d e r E i n i g u n g s e l b s t n i c h t g e w i n n e n ließ. I n e i n e m a n d e r e n B e r e i c h stellte das R e i c h s a r b e i t s g e r i c h t die a b s t r a k t e B e h e r r s c h b a r k e i t v o n V o r g ä n g e n i n n e r h a l b der B e t r i e b s o r g a n i s a t i o n in den M i t t e l p u n k t s e i n e r R e c h t s p r e c h u n g . B e i d e r F r a g e d e r V e r t e i l u n g des B e t r i e b s r i s i k o s e n t s c h i e d das R e i c h s a r b e i t s g e r i c h t in F o r t f ü h r u n g der s t a r k k r i t i s i e r t e n R e c h t s p r e c h u n g des R e i c h s g e r i c h t s 3 1 , d a ß s i c h die L o h n z a h l u n g s p f l i c h t n i c h t aus d e n V o r s c h r i f t e n d e r § § 3 2 3 (a.F.) u n d 6 1 5 B G B alleine e r g e b e . 3 2 E s sei » u n t e r A n w e n d u n g des § 2 4 2 B G B u n d u n t e r B e r ü c k s i c h t i g u n g d e r f ü r das A r b e i t s recht maßgebenden wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkte nur nach L a g e des E i n z e l f a l l s z u e n t s c h e i d e n . « 3 3 D a b e i stellte es auf z w e i w i r t s c h a f t l i c h ausgerichtete Gesichtspunkte zivilrechtlicher Schadenszurechnung34
ab: die
G e f a h r b e h e r r s c h u n g u n d die K a l k u l i e r b a r k e i t des S c h a d e n s . K o n n t e die S c h a d e n s u r s a c h e n ä m l i c h bei d e r F r a g e n a c h d e m B e t r i e b s r i s i k o d e m » G e f a h r e n k r e i s « des A r b e i t g e b e r s z u g e r e c h n e t w e r d e n , w i e e t w a bei M a s c h i n e n s c h ä d e n 3 5 ,
30 Vgl. R A G , Urt. v. 9.4.1932 - 501/31 - SAE 1932, S. 303; R A G , Urt. v. 12.11.1930 - 258/30 - S A E 1931, S. 198. 31 Vgl. m.w.N. Nörr, Zwischen den Mühlsteinen - Eine Privatrechtsgeschichte der Weimarer Republik (1988), S.211. Danach knüpfte das Reichsgericht nur sehr unklar an eine »Gemeinschaft« zwischen den Arbeitnehmern an, deren nähere Bestimmung zweifelhaft und gesetzesfern blieb. Der kritisierte Begriff der »Betriebsgemeinschaft« führte dazu, daß sich das Lohnrisiko im Streikfall auf die Arbeitnehmer verlagerte. Die Unzulänglichkeit der gerichtlichen Argumentation in diesem Punkt ist genügend kritisiert worden (vgl. zur Kritik KahnFreund, Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts (1931), in: Ramm (Hrsg.), Arbeitsrecht und Politik Quellentexte 1918 - 1933 (1966), S. 174 ff.). Die Verlagerung des Lohnrisikos ist nach Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Rechtsfortbildung (1974), S. 180 ein klassisches Beispiel dafür, wie Gerichte von dem »esprit du code« abweichen. Vgl. zur historischen Entwicklung dieses Gemeinschaftsbegriffs Hientzsch, Arbeitsrechtslehren im Dritten Reich und ihre historische Vorbereitung (1970), S. 16 ff. 32 Zwar gibt es zwischen der Lehre vom Betriebsrisiko und der Begründung von Nebenpflichten substantielle Unterschiede. Führt die judizielle Pflichtbegründung zu einer »Neu«konstruktion von Pflichten, so wird aufgrund der Lehre vom Betriebsrisiko das Risiko einer bereits bestehenden Pflicht verteilt. Trotz dieses Unterschiedes zeigt sich, daß die Rechtsprechung sowohl bei der Verteilung des Betriebsrisikos wie bei der judiziellen Pflichtbegründung die entstandenen Risiken - unabhängig von dem dazu schweigenden Vertrag - wirtschaftlich sinnvoll verteilen will und damit unausgesprochen ein bestimmtes Vertragsmodell zugrunde legt. 33 RAG, Urt. v. 30.4.1928 - 110/27 - R A G E Band I, S. 339; RAG, Urt. v. 20.6.1928 - 72/28 - S A E 1928, S.326. 34 Vgl. Koller, Die Risikozurechnung bei Vertragsstörungen im Austauschverhältnis (1979), S. 77 ff. 35 RAG, Urt. v. 24.9.1930 - 160/30 - Bensh. Samml. Band X Nr. 117 (RAG), S. 523; zur Unterbrechung der Stromzufuhr RAG, Urt. v. 9.1.1929 -313/28 - SAE 1929, S. 232; RAG, Urt. v. 30.4.1928 - 110/27 - R A G E Band I, S. 339; RAG, Urt. v. 3.11.1928 - 81/28 - SAE 1929, S. 31.
14 1. Kapitel: Grundlagen judizieller
Begründung von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
der Organisation von Rohmaterial 36 oder dem tatsächlichen Wegfall des Arbeitsplatzes 37 , so leiteten die Gerichte daraus ab, daß der Arbeitgeber trotz der Arbeitsverhinderung den Lohn zu zahlen habe. Es kam aber nicht darauf an, ob der Arbeitgeber die Schadensursache hätte tatsächlich beseitigen können. 38 Das Reichsarbeitsgericht prüfte, ob der Arbeitgeber aufgrund seiner abstrakten Organisationsgewalt mit dem tatsächlichen Ereignis hätte rechnen können. 39 So kam es darauf an, ob der Arbeitgeber die entstehenden Kosten »vorher in Rechnung stellen« 40 konnte oder unter Rücklagenbildung hatte »einkalkulieren« 41 können. Aus der Organisationsbefugnis folgte die Gefahrtragung. Die Aufteilung der wirtschaftlichen Risiken bei Betriebsstörungen zu Lasten des Arbeitgebers entsprach den wirtschaftlichen Einflußmöglichkeiten der Parteien und hatte mit der Einigung nichts zu tun. Damit ging die Rechtsprechung über diese Momentaufnahme der Einigung schon hinaus und berücksichtigte in einem normativen Vertragsmodell die außerrechtlichen Umstände der Vertragsdurchführung. Die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung vor Erlaß des A O G versuchte demnach, ohne Hilfe der Leerformel der allgemeinen Fürsorgepflicht, judizielle Nebenpflichten aus einem »einigungszentrierten« Vertragsmodell zu rechtfertigen, dessen Grenzen sie in ihrer Konstruktion jedoch überdehnte.
2. Entwurf eines relationalen
Vertragsmodells
durch Otto von
Gierke
Erst in letzter Zeit hat Oechsler42 die vertragstheoretische Bedeutung der Arbeiten von v. Gierke43 gewürdigt, die in einem deutlichen Gegensatz zur bereits geschilderten Konzeption des Reichsarbeitsgerichts stehen und das von der angloamerikanischen Literatur 44 entworfene Modell relationaler Verträge in beRAG, Urt. v. 20.6.1928 - 72/28 - SAE 1928, S. 326. RAG, Urt. v. 16.1.1929 - 282-295/28, SAE 1929, S. 636; vgl. auch LAG Leipzig, Urt. v. 4.7.1929 - Arb. D. 134/29 - SAE 1929, S.694; RAG, Urt. v. 7.3.1928 - 105/27 - SAE 1928, S. 196; RAG, Urt. v. 4.7.1928 - 41/28 - SAE 1928, S. 386; RAG, Urt. v. 15.12.1928 - 277/28, SAE 1928, S. 124. 38 Vgl. die Entscheidungen des Reichsgerichts zum Betriebsrisiko RAG, Urt. v. 9.1.1929 3 1 3 / 2 8 - S A E 1929, S. 232; RAG, Urt. v. 11.5.1929 - 566/28 - SAE 1929, S. 436. 3 9 RAG, Urt. v. 7.3.1928 - 105/27 - SAE 1928, S. 196. 4 0 RAG, Urt. v. 1 1 . 5 . 1 9 2 9 - 5 6 6 / 2 8 - S A E 1929, S.436. 41 LAG Leipzig, Urt. v. 4.7.1929 - Arb. D. 134/29 - SAE 1929, S. 694. 42 Oechsler, Wille und Vertrauen im privaten Austauschvertrag, RabelsZ 1996, S. 91 (114). 43 Die sich mit einer Vertragstheorie für das Arbeitsrecht beschäftigenden Untersuchungen sind insbesondere: Die soziale Aufgabe des Privatrechts, Nachdruck des am 5.4.1889 vor der Juristischen Gesellschaft zu Wien gehaltenen Vortrags, in: Erik Wolf (Hrsg.), Deutsches Rechtsdenken, Heft 12 (1948), S. 10; Die Wurzeln des Dienstvertrages, in: Festschrift für Brunner (1914), S. 37 ff. und Dauernde Schuldverhältnisse, Iherings Jahrbücher 1914, S. 355 ff. 44 Linzer, Uncontracts: Context, Contorts And The Relational Approach, 1988 Annual Survey Of American Law 139; Macauly, Non-contractual Relations In Business: A Preliminary Study, in: Goldberg (Hrsg.), Readings In The Economics Of Contract Law (1983), S. 10 36 37
§ 1: Die historische Entwicklung der allgemeinen
Fürsorgepflicht
15
stimmten Punkten vorwegnehmen. Traditionell wird v. Gierke genannt, wenn auf den Ursprung der personenrechtlichen Würdigung des Arbeitsverhältnisses hingewiesen werden soll. Neben seiner viel zitierten Forderung nach einer sozialeren Gestaltung des Vertragsrechts ist jedoch die Bedeutung seines vertragstheoretischen Modells unterschätzt worden. So meint Wiedemann45, seinen geringen Einfluß auf die Endfassung des Bürgerlichen Gesetzbuches gerade darauf zurückführen zu können, daß ihm in erster Linie an einer vertragstheoretischen »Antithese zum romanistischen Denken gelegen war«. Sicherlich wollte v. Gierke ein anderes vertragstheoretisches Modell 46 entwerfen. Darin liegt aber keine Schwäche, sondern gerade seine wissenschaftliche Stärke, die über seine sozialpolitischen Forderungen 47 hinausgeht. V. Gierke wendete sich gegen die Ansicht, Arbeitsverhältnisse könnten wie andere kurzzeitige Verträge auf den Austausch der jeweils geschuldeten Leistungen - Arbeit gegen Lohn - reduziert werden. 48 Er betonte, daß ein derartiger Vertrag, bei dem sich der Arbeitnehmer einem tatsächlichen Gewaltverhältnis unterordne, nicht nur schuldrechtlich erfaßt werden könne. Vielmehr habe das Recht die »soziale Einbettung« des Arbeitsvertrags zu berücksichtigen. 49 Es reiche daher nicht aus, bei einer Betrachtung des »individuellen Vertragsrahmens« 50 stehenzubleiben. Die vom Recht aufzugreifenden Treuepflichten ergäben sich in erster Linie aus der tatsächlichen Sozialbeziehung. 51 Diese Sichtweise sprengt nicht nur den romanistischen Vertragsansatz, gegen den sich v. Gierke wehrte, sie war ein erster Versuch, Vertragsrecht nicht nur als Folge der punktuellen Einigung zu verstehen. Die judizielle Konstruktion von Pflichten setzte danach das Verständnis der tatsächlichen Bedingungen der Vertragsdurchführung voraus. V. Gierke war der Ansicht, daß Schuldverträge nicht die einzige Quelle andauernder Schuldverhältnisse sind. Insbesondere in personenrechtlichen Verbindungen wie der Körperschaft oder dem Verein erwuchsen
Nachdruck aus 28 American Sociological Review 55 (1963); Macneil, Contracts: Adjustment Of Long-Term Economic Relations Under Classsical, Neoclassical, Relational Contract Law, 72 (1978) Northwestern University Law Review 854; derselbe, The Many Futures Of Contracts, 47 (1974) Southern California Law Review 691 (693). Vgl. die Erörterungen unter § 6 II. 4 5 Das Arbeitsverhältnis als Austausch- und Gemeinschaftsverhältnis (1966), S.2. 4 6 Die Forderung, daß sich Privatrecht nicht auf die Analyse von einzelnen Individualverträgen beschränken darf, sondern darüber hinaus die den Verträgen zugrundeliegenden Sozialbeziehungen würdigen muß, wird insbesondere deutlich in Gierkes Vortrag Die soziale Aufgabe des Privatrechts, Nachdruck des am 5.4.1889 vor der Juristischen Gesellschaft zu Wien gehaltenen Vortrags, in: Erik Wolf (Hrsg.), Deutsches Rechtsdenken, Heft 12 (1948), S. 32. 47 v. Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, Nachdruck des am 5.4.1889 vor der Juristischen Gesellschaft zu Wien gehaltenen Vortrags, in: Erik Wolf (Hrsg.) Deutsches Rechtsdenken, Heft 12 (1948), S. 10. 4 8 Die Wurzeln des Dienstvertrages, in: Festschrift für Brunner (1914), S. 37 (40). 4 9 Die Wurzeln des Dienstvertrages, in: Festschrift für Brunner (1914), S. 37 (54). 5 0 Die Wurzeln des Dienstvertrages, in: Festschrift für Brunner (1914), S. 37 (68). 51 Die Wurzeln des Dienstvertrages, in: Festschrift für Brunner (1914), S. 37 (61).
16
1. Kapitel: Grundlagen
judizieller
Begründung
von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
seiner Ansicht nach Treuepflichten in erster Linie aus der tatsächlichen zwischen den Personen bestehenden sozialen Beziehung. 52 So komme gerade den dauernden Verpflichtungen eine »eigenartige Funktion« zu: Sie zielten nicht auf den punktuellen Austausch von Gütern, sondern auf »die Kraft, ständige Machtverhältnisse ins Leben zu rufen und in Wirksamkeit zu erhalten« 53 . Gerade »Dienstverhältnisse« waren nach v. Gierke »Geschäfte der sozialen Organisation« 54 . Es ist nicht überraschend, daß die Vorstellung, die v. Gierke von der maßgeblichen Sozialbeziehung im Arbeitsverhältnis hatte, nicht dem heutigen Verständnis entspricht. Die Beschreibung der maßgeblichen tatsächlichen Bedingungen durch das »soziale Bild von Herr und Diener« und die Ableitung dieser tatsächlichen Beziehung aus dem deutschrechtlichen Treudienstvertrag 55 ist der überholten zeitgenössischen Sicht verhaftet. Der vertragstheoretische Ansatz bleibt dagegen aktuell. Das Problem stellt sich auch gegenwärtig, Pflichten so zu entwickeln, daß das Arbeitsverhältnis als Langzeitvertrag zum beiderseitigen Nutzen trotz der tatsächlichen Bedingungen und der damit bestehenden Ungewißheiten eingegangen und durchgeführt werden kann. Damit das Recht Verträge in dieser Weise absichern kann, ist die Untersuchung der tatsächlichen Beziehung zwischen den Vertragsparteien notwendig. Anders als die zeitgenössische Rechtsprechung löst sich v. Gierke von der Vorstellung, daß sich judiziell begründete Pflichten allein aus der punktuellen Momentaufnahme der Einigung rechtfertigen lassen müssen. Sein vertragstheoretisches Modell umfaßt darüber hinaus die tatsächlichen Umstände, unter denen die Langzeitbeziehung Arbeitsvertrag durchgeführt wird. Das Recht wird nur in Beziehung und Wechselwirkung zu diesen Realdaten verstanden. Die judizielle Pflichtenkonstruktion ist damit funktional. Sie ist auf die tatsächlichen vertragsbegleitenden Umstände so zugeschnitten, daß die rechtliche Risikoverteilung im gegebenen Kontext Wirkung entfalten kann. Damit ist die Grundlage für eine relationale Betrachtungsweise, die über den individualistischen Vertragsrahmen hinausweist, lange Zeit vor der relational contracts theory 56 gelegt. Wie Oechsler57 ist man versucht, bei der Rezeption der relational contracts theory - auf die noch an späterer Stelle 58 einzugehen ist - von einem deutschen »späten Reimport« zu sprechen.
52 53 54 55 56 57 58
Dauernde Schuldverhältnisse, Iherings Jahrbücher 1914, S. 355 (404). Dauernde Schuldverhältnisse, Iherings Jahrbücher 1914, S. 355 (407). Dauernde Schuldverhältnisse, Iherings Jahrbücher 1914, S. 355 (409). Die Wurzeln des Dienstvertrages, in: Festschrift für Brunner (1914), S. 37 (40). Vgl. § 6 II, S. 99 ff. Wille und Vertrauen im privaten Austauschvertrag, RabelsZ 1996 (60), S. 116. Vgl. § 6 II, S. 99 ff.
§ 1: Die historische
3. »Fürsorgepflickten«
Entwicklung
der allgemeinen
in der arbeitsrecbtlichen
Fürsorgepflicht
17
Literatur bis 1934
Abgesehen von dem von v. Gieke entwickelten Ansatz begrenzte die Literatur nach Inkrafttreten des BGB die Fürsorgepflicht auf den in § 618 BGB gesetzlich festgelegten Inhalt und nahm aus der traditionellen einigungsbezogenen Sicht keine darüber hinausgehende allgemeine Fürsorgepflicht an 59 , wenn sie nicht durch entsprechende Willenserklärungen zu legitimieren war. Die in § 618 BGB geregelten Integritätsschutzpflichten wurden als keine arbeitsrechtliche Besonderheit angesehen. 60 Rümelin61 kritisierte ausdrücklich, daß der Gesetzgeber den Sinnzusammenhang zwischen spezifischen Merkmalen des Arbeitsvertrags und der besonderen Regelung der Fürsorgepflicht in § 618 BGB vernachlässigt habe. Seiner Ansicht nach trafen auch den Werkbesteller dieselben Fürsorgepflichten, so daß sich eine allgemeine Regelung dieser Integritätsschutzpflichten angeboten hätte: Differenzierungskriterium zwischen Arbeits- und Werkvertrag sei allein die unterschiedliche Gefahrtragung für das Eintreten des Erfolges. Beim Werkvertrag trage der Unternehmer die Gefahr bis zur Abnahme. Beim Arbeitsvertrag trage der Arbeitgeber dagegen diese Gefahr während der gesamten Vertragsdauer, da er die Arbeitsleistung durch seine Weisungen überwache und so den Erfolg steuere. Der Werkunternehmer werde gerade dafür entlohnt, daß er diese Kontrolle selbst übernehme. 62 Aus dieser unterschiedlichen Gefahrtragung folge jedoch nicht, daß hinsichtlich der gesetzlich geregelten Fürsorgepflicht des Arbeitgebers und des Bestellers zu differenzieren sei. Gefahrtragung und die in § 618 BGB geregelte Fürsorgepflicht stünden in keinem sachlichen Zusammenhang. Die Fürsorgepflicht bestehe daher als Integritätsschutzpflicht für beide Verträge. Die arbeitsrechtliche Literatur der zwanziger Jahre knüpfte an diese rein vertragsrechtliche Perspektive an. Sie sah im Arbeitsvertrag eine schuldrechtliche Beziehung, deren Nebenpflichten nach § 242 BGB zu entwickeln waren. 6 3 Gegenseitige Rücksichtnahmepflichten wurden damit begründet, daß sich der Arbeitnehmer im Arbeitsvertrag zu weisungsgebundenen Tätigkeiten im Fremdinteresse verpflichte. 64 Darüber hinaus wurde betont, daß das »moderne Arbeitsrecht« die »patriarchale Behandlung« des Arbeitsverhältnisses zurückdränge und nur noch bei der Aufnahme in die häusliche Gemeinschaft von ei-
59 Lotmar, Der Arbeitsvertrag, Band II (1908), S. 842; Rümelin, Dienstvertrag und Werkvertrag (1905), S. 101 ff. 60 Lotmar, Der Arbeitsvertrag, Band II (1908), S. 843; Rümelin, Dienstvertrag und Werkvertrag (1905), S.5. 61 Rümelin, Dienstvertrag und Werkvertrag (1905), S. 101 ff. 62 Rümelin, Dienstvertrag und Werkvertrag (1905), S. 101. 63 Jacohi, Grundlehren des Arbeitsrechts (1927), S. 6; Silberschmidt, Das deutsche Arbeitsrecht, (1926), S. 265; Hueck, Das Arbeitsvertragsrecht (1922), S. 162 ff. 64 Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts (1927), S. 54.
18
1. Kapitel: Grundlagen
judizieller
Begründung
von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
nem personenrechtlichen Verhältnis gesprochen werden könne. 65 Diese Ansicht spiegelte sich in dem Entwurf eines allgemeinen Arbeitsvertragsgesetzbuches von 1923 66 , in dem eine allgemeine Fürsorgepflicht nicht genannt wird. Nur für die in häuslicher Gemeinschaft mit dem Arbeitgeber lebenden Arbeitnehmer wurden besondere Nebenpflichten aufgeführt, was Alfred Hueck67 im Jahre 1926 unter dem Gesichtspunkt kritisierte, daß § 618 B G B - aber auch nur dieser und keine allgemeine Fürsorgepflicht - in den Entwurf hätte aufgenommen werden müssen. Dementsprechend ergab sich aus dem Entwurf von 1923 ebenso keine allgemeine, aus der Fürsorgepflicht resultierende Beschäftigungspflicht 68 des Arbeitgebers, die erst nach Erlaß des A O G erstmals aus dem nationalsozialistischen Arbeitsethos 69 hergeleitet wurde. Zuvor erkannten Rechtsprechung70 und Literatur 71 nur ein besonderes wirtschaftliches Interesse des Arbeitnehmers an, aufgrund dessen der Arbeitgeber den Arbeitnehmer in besonderen Fällen tatsächlich beschäftigen mußte. 72 Die Idee eines modernen Arbeitsrechts, das sich gegen überkommene patriarchalische Strukturen wendete, vertrat Sinzheimer, der das aus einem germanischen Treudienstvertrag abgeleitete personenrechtliche Gemeinschaftsverhältnis als Grundlage der arbeitsvertraglichen Beziehung strikt ablehnte. 73 Sinzheimer betonte die schuldrechtliche Einbettung des Arbeitsverhältnisses, wies aber auf die Bedeutung der tatsächlichen Organisationsmacht des Arbeitgebers hin. 74 Er sah vertragliche Schutzpflichten des Arbeitgebers ausdrücklich nicht als Konsequenz eines »Treueverhältnisses« an, sondern als Korrektiv der tatsächlichen Organisationsgewalt des Arbeitgebers. 75 Aus ihr folge die Pflicht, Gefahren abzuwehren, die sich für den Oertmann, Deutsches Arbeitsvertragsrecht (1923), S. 21. RArbBl. 1923, Amtlicher Teil, S. 498 ff. 6 7 Die Pflichten des Arbeitgebers, in: Der Arbeitsvertrag und der Entwurf eines Allgemeinen Arbeitsvertrags-Gesetzes (1925), S. 171 ff. 6 8 RArbBl. 1923, Amtlicher Teil, S. 500 § 46: »I. Der Arbeitgeber ist auch ohne ausdrückliche Vereinbarung verpflichtet, den Arbeitnehmer angemessen zu beschäftigen, wenn dieser ein besonderes Interesse an der Beschäftigung hat. Dies gilt namentlich, wenn die Nichtbeschäftigung geeignet ist, die Entwicklung der Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers in erheblichem Umfang zu beeinträchtigen oder sein Fortkommen wesentlich zu erschweren.« 69 Hueck/Nipperdey/Dietz, A O G (1943), §2 Rz. 18: »Die Arbeit im Betriebe... ist Dienst an Volk und Staat. Sie ist eine Pflicht, aber auch ein Recht.« 7 0 R G Urt. V. 26.10.1910 - 539/09 III, J W 1911, S. 39; R A G Urt. v. 6.6.1928 - 2 R A G / 2 8 SAE 1928, S. 323. 71 Hueck, Das Arbeitsvertragsrecht (1922), S. 155; Silberschmidt, Das deutsche Arbeitsrecht (1926), S.255; Kaskel, Arbeitsrecht (1925), S. 116. 72 Zur historischen Entwicklung des Beschäftigungsanspruchs Lepke, Der Anspruch auf Beschäftigung (1966), S. 26 ff. 73 Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts (1927), S. 120. Freilich ist zu bedenken, daß es Sinzheimer in erster Linie um die Entwicklung des Kollektivarbeitsrechts ging. Das Individualarbeitsrecht spielte nur eine untergeordnete Rolle. 74 Es ist daher Kranig, Lockerung und Zwang (1983), S. 212 nicht zu folgen, daß Sinzheimer sich gegen eine schuldrechtliche Auffassung des Arbeitsverhältnisses gewendet habe. 75 Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts (1927), S. 146 ff.: »Die Gewalt besteht zu65
66
§ 1: Die historische
Entwicklung
der allgemeinen
Fürsorgepflicht
19
Arbeitnehmer aus der »Unterwerfung« unter die von Arbeitgeber aufgestellte Organisation ergaben.76 Nur von wenigen Autoren wurde ein »personenrechtliches Element« des Arbeitsvertrags zur Begründung arbeitgeberischer Nebenpflichten herangezogen. Nikisch77 zitierte in seiner Rückschau aus dem Jahre 1941 nur Potthoff, Molitor und sich selbst als Vertreter einer Mindermeinung, die gegenüber der damals herrschenden Literaturansicht das »persönliche« oder »personenrechtliche Element« betont hätten. Potthof)78 und Nikisch79 entwickelten beide das Arbeitsverhältnis aus dem deutschrechtlichen Ansatz von v. Gierke ohne dessen schon erörterte 80 vertragstheoretische Besonderheit zu beachten. Nikischsl betonte das persönliche Uber- Unterordnungsverhältnis, das beim Arbeitsvertrag mit der gegenseitigen Treuepflicht ein personenrechtliches Band zwischen den Vertragsschließenden spanne.82 Allerdings weise nicht jeder Arbeitsvertrag dieses besondere persönliche Verhältnis auf. Nur bei Gesindeverträgen und den Verträgen der gewerblichen Arbeiter, der Bergarbeiter, der Handlungsgehilfen und der Schiffsleute komme es noch auf die enge persönliche Beziehung zwischen den Vertragsschließenden an.83 Aber auch in den genannten Vertragsverhältnissen nahm Nikisch keine allgemeine Fürsorgepflicht an. Zwar wies er auf die Treue- und Gehorsamspflicht des Arbeitnehmers hin 84 , führte hinsichtlich der Fürsorgepflicht aber nur die gesetzlichen Regelungen und Besonderheiten bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf.85 Die Annahme eines personächst in dem Recht des Arbeitgebers, zu befehlen Durch den Befehl faßt der Arbeitgeber die einzelnen ihm zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte zu einheitlichem Wirken zusammen. ... Wohl ist das Direktionsrecht im Befehlsrecht enthalten. ... Seine Grundlage ist das Eigentum an den Arbeitsmitteln. Seine Ausübung ist personenrechtliche Verfügung über das Eigentum.« 76 Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts (1927), S. 155 f.: »Eine solche Unterwerfung bringt Gefahren für die persönlichen Güter des Gewaltunterworfenen hervor, die abzuwenden Pflicht des Gewaltinhabers ist, wie es Pflicht des Verwahrers ist, das ihm anvertraute Gut vor Schaden zu bewahren.« 77 Nikisch, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis (1941), S. 12. 78 Potthoff, Wesen und Ziel des Arbeitsrechts (1922), S. 15. 79 Nikisch, Die Grundformen des Arbeitsvertrags und der Anstellungsvertrag (1926)S. 136: »Mit Recht bringt Gierke die von der Treue bestimmte Herrenpflicht, dem deutschrechtlichen Gedankengange folgend, in innere Verbindung mit dem Herrenrechte.« 80 § 1 1 . 2. S. 14. 81 Nikisch, Die Grundformen des Arbeitsvertrags und der Anstellungsvertrag (1926), S. 97 und 100. 82 Nikisch, Die Grundformen des Arbeitsvertrags und der Anstellungsvertrag (1926), S. 124. 83 Nikisch, Die Grundformen des Arbeitsvertrags und der Anstellungsvertrag (1926), S. 130 und 133. 84 Nikisch, Die Grundformen des Arbeitsvertrags und der Anstellungsvertrag (1926), S. 132. 85 Nikisch, Die Grundformen des Arbeitsvertrags und der Anstellungsvertrag (1926), S. 133 f.
20
1. Kapitel: Grundlagen
judizieller
Begründung
von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
nenrechtlichen Verhältnisses erweiterte nach Nikisch nicht die vertraglichen Pflichten des Arbeitgebers durch eine allgemeine Fürsorgepflicht. Dagegen war die Ansicht von Potthoff ausschließlich rechtspolitisch begründet und löste sich gänzlich von einer vertraglichen Legitimationsgrundlage.86 Danach sollte das Arbeitsrecht politisches Mittel zur Gleichstellung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden. In einem Arbeitsverhältnis als sozialem Organisationsverhältnis87 habe sich der Einzelne im Betrieb wie im Staat unterzuordnen und »dem selbstgewählten Führer Gefolgschaft zu leisten«.88 Diese »erzieherische Aufgabe« sei durch ein auf individuelle Verträge ausgerichtetes Recht nicht zu erfüllen. Der Zweck der Fürsorgepflicht in diesem Verhältnis und damit die »soziale« Aufgabe des Arbeitsrechts liege darin, durch Schutz der Arbeitskraft »die Konkurrenzfähigkeit, die Wehrfähigkeit, die Zukunft des Volkes« zu sichern. 89 In der zitierten Schrift erläuterte Potthoff90 weiter, welche Bedeutung ein »soziales«Arbeitsrecht hat: »Gerade der Volkswirt muß verlangen, daß die geringen Mittel, die von Staat und Privaten für solche [sozialen] Zwecke aufgewendet werden, da Anlage finden, wo sie rentieren. Das heißt, daß die Mittel nur verwandt werden, um Existenzen zu erhalten oder zu befördern, die biologisch gut und stark, die nur wirtschaftlich schwach sind und eben wegen dieser wirtschaftlichen Schwäche ihre guten Lebenskräfte nicht entfalten können.«
Molitor91 - den Nikisch92 1941 als weitere Ansicht für die personenrechtliche Beurteilung des Arbeitsverhältnisses zitierte - zog aus der Unterordnung des Arbeitnehmers unter die Organisationmacht des Arbeitgebers keine Schlüsse Potthoff, Wesen und Ziel des Arbeitsrechts (1922), S. 9 und 11. Potthoff, Wesen und Ziel des Arbeitsrechts (1922), S. 15; vgl. zur zeitgenössischen Kritik Silberschmidt, Arbeitsverhältnis und Schuldverhältnis, J W 1923, S. 221 (224). 88 Potthoff, Wesen und Ziel des Arbeitsrechts, Berlin 1922, S. 33. 89 Potthoff, Probleme des Arbeitsrechts (1912), S. 64. 90 Potthoff, Probleme des Arbeitsrechts (1912), S. 86. Auf diesem Niveau fiel es Potthoff dem Sinzheimer 1927 noch die »Grundzüge des Arbeitsrechts« als »Weg- und Kampfgenossen« gewidmet hatte im Jahre 1935 (Das deutsche Arbeitsrecht (1935), S. 53) nicht schwer, zu erklären, daß dem »Arbeitsverhältnis die Mannestreue des germanischen Rechts« zugrunde liege und daß die Gesetze vor Erlaß des A O G weitgehend von dem »semitischen Gedanken ... beherrscht« gewesen seien, wonach »Arbeit eine Last, eine Strafe für den Sündenfall« sei; dagegen Arbeit nach der Auffassung des »Germanen«(aaO., S. 14 f.) adele. Trotz dieser Bemühungen wurde Potthoff in der nationalsozialistischen Literatur kritisch beurteilt. Nach Ramm, Nationalsozialismus und Arbeitsrecht, KJ 1968, S. 108, (114), versuchte Potthoff in dieser Zeit vergebens, eine Brücke zum Nationalsozialismus zu schlagen. So wirft ihm gerade Siebert, Das Arbeitsverhältnis in der Ordnung der nationalen Arbeit (1935), S. 51 vor, daß er das Arbeitsverhältnis gerade nicht als Gemeinschaftsverhältnis ansehe, sondern weiterhin von einem Interessengegensatz zwischen Unternehmer und Arbeitnehmer ausgehe. Im Gegensatz zu Potthoff mußte Sinzheimer Deutschland nach seiner Inhaftierung 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner politischen Betätigung verlassen. 1940 wurde er erneut verhaftet und nach Theresienstadt deportiert. Er starb 1945 an den Folgen der Inhaftierung. 91 Molitor, Das Wesen des Arbeitsvertrages (1925), S. 81 ff. 92 Nikisch, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis (1941), S. 12. 86
87
§ 1: Die historische
Entwicklung
der allgemeinen
Fürsorgepflicht
21
für die judizielle Nebenpflichtbegründung. Ein Treueverhältnis lehnte er sogar ausdrücklich im Hinblick auf dessen patriarchale Züge ab.93 Neben den bisher genannten Auffassungen führte als einziger KaskeP4 in seinem Lehrbuch aus, daß die Nebenpflichten des Arbeitgebers Fürsorgepflichten im Korrelat zur Treuepflicht des Arbeitnehmers sind. Diese Pflichten seien nicht auf die Regelung des § 618 B G B festgelegt.95 Diese Fürsorgepflicht finde ihre Grenze in der Zumutbarkeit für den Arbeitgeber. Kaskel erläuterte nicht, woran diese Zumutbarkeit anknüpfte. Ebenso setzte er das Treueverhältnis voraus, ohne es dogmatisch zu erklären. Um so bezeichnender ist es, daß Alfred Hueck96 in der schon zitierten Rückschau im Jahre 1947 - die von Ernst Wolf97 schon kritisiert worden ist - letztlich nicht belegen kann, daß der Treuegedanke vor 1934 das Arbeitsverhältnis geprägt habe. Seiner Behauptung 98 , daß beiderseitige Treuepflichten schon zuvor in Literatur und Judikatur anerkannt waren, fehlt der Beleg der Rechtsprechung gänzlich. Zum Beleg der von ihm angeführten Literaturansicht zieht er fälschlich Molitor und Nikisch heran, der Treuepflichten - wie ausgeführt - nur auf bestimmte Arbeitsverhältnisse beschränkte. Schließlich bleibt nur das Zitat seines eigenen Lehrbuchs aus dem Jahre 1931". Aber selbst seine eigenen Ausführungen können die Ansicht nicht belegen. In ihnen betonte er vielmehr, daß das Arbeitsverhältnis ein rein schuldrechtlicher Vertrag sei, in dessen Vordergrund die Verpflichtung zur Arbeitsleistung gegen Entgelt stehe und nur daneben ein »personenrechtlicher Einschlag« existiere.100 Hueck wendete sich sogar ausdrücklich dagegen, daß das Arbeitsverhältnis den Arbeitnehmer mit seiner Person »ergreife«, da die »moderne Auffassung des Arbeitsvertrages« solchen »patriarchischen« Arbeitverhältnissen entgegenstehe.101 Zwar wirkte sich dieser personenrechtliche Einschlag bei Hueck in der Annahme einer Treuepflicht des Arbeitnehmers aus, blieb jedoch für den Arbeitgeber ohne Konsequenzen. Hueck verwies hinsichtlich der Fürsorgepflicht nur auf die im B G B geregelten Fälle und wollte eine Erweiterung dieser Pflichten - z.B. Eigentumsschutz oder Urlaubsanspruch 102 - über § 242 B G B nur bei einer entsprechenden Verkehrsit93 Molitor, Die Entwicklung des Arbeitsrechts, in: Molitor (Hrsg.), Der Arbeitsvertrag (1925), S. 1 (7). 94 Kaskel, Arbeitsrecht (1925), S. 114. 95 Kaskel, Arbeitsrecht (1925), S. 114. Nach seiner Ansicht hatte der Arbeitnehmer auch dann einen Schadensersatzanspruch, wenn er vom Arbeitgeber in anderen Rechten, z.B. in seiner Religionsfreiheit, ungerechtfertigt eingeschränkt wurde. 96 Hueck, Der Treuegedanke im modernen Privatrecht (1947), S. 13. 97 Wolf, Das Arbeitsverhältnis - Personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis oder Schuldverhältnis (1970), S. 71 ff. 98 Vgl. Hueck, Der Treuegedanke im modernen Privatrecht (1947), S. 13 Fußnote 35. 99 Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Band I (1931). 100 Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Band I (1931), S. 102. 101 Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Band I (1931), S. 102. 102 Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Band I (1931), S. 268.
22
1. Kapitel: Grundlagen
judizieller
Begründung
von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
te annehmen. 103 Einen allgemeinen Beschäftigungsanspruch und einen klagbaren Anspruch auf Erfüllung der Schutzpflichten verneinte er ausdrücklich. 104 Weitergehende allgemeine Fürsorgepflichten nahm Hueck nur bei Arbeitsverhältnissen an, in denen der Arbeitnehmer in die häusliche Gemeinschaft aufgenommen worden war. 105 Die allgemeine Fürsorgepflicht, die sich auf alle Arbeitsverhältnisse erstrecken sollte, wurde erst 1934 mit Erlaß des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit (AOG) 1 0 6 geschaffen.
II. D i e Fürsorgepflicht zwischen Instrumentalisierung und Irrationalisierung in der nationalsozialistischen Arbeitsverfassung »Man wird eine Eigenschaft, die man vor allen anderen für das Kennzeichen des Deutschen hält, nämlich die Ordnung, immer zu gering einschätzen, wenn man nicht in ihr das stählerne Spiegelbild der Freiheit zu erkennen vermag. Gehorsam, das ist die Kunst zu hören, und die Ordnung ist die Bereitschaft für das Wort, die Bereitschaft für den Befehl, der wie ein Blitzstrahl vom Gipfel bis in die Wurzeln fährt. Jeder und jedes steht in der Lehensordnung, und der Führer wird daran erkennen, daß er der erste Diener, der erste Soldat, der erste Arbeiter ist. Daher beziehen sich sowohl Freiheit wie Ordnung nicht auf die Gesellschaft, sondern auf den Staat, und das Muster jeder Gliederung ist die Heeresgliederung, nicht aber der Gesellschaftsvertrag. Daher ist der Zustand unserer äußersten Stärke erreicht, wenn über Führung und Gefolgschaft kein Zweifel mehr besteht. Jünger, Der Arbeiter, (Nachdruck 1981), S. 17.
Im A O G beseitigten die nationalsozialistischen Machthaber das Betriebsrätegesetz und die Tarifvertragsordnung und ersetzten sie durch eine nationalsozialistische Arbeitsordnung 107 , nach deren § 1 »der Unternehmer als Führer des Betriebes« und »die Angestellten und Arbeiter als Gefolgschaft gemeinsam zur Förderung der Betriebszwecke und zum Nutzen von Volk und Staat« zusammen arbeiten sollten. In § 2 Abs. 2 A O G wurde die betriebliche Pflicht des Arbeitgebers geregelt, wonach »er für das Wohl der Gefolgschaft zu sorgen« hatte. Diese Pflicht wurde zum Auslegungsmaßstab für individualvertragHueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Band I (1931), S. 261 f. Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Band I (1931), S. 262. 105 Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Band I (1931), S. 265. 1 0 6 RGBl. 1 1934, S. 45. 107 Nach Ansicht von Prinz, Die soziale Funktion moderner Elemente in der Gesellschaftspolitik des Nationalsozialismus, in: Prinz/Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung (1991), S. 297 (300) läßt sich das A O G als Grundgesetz der nationalsozialistischen Sozialverfassung ansehen. Welche gesetzespolitischen Ziele dem A O G letztlich zugrunde gelegen haben, läßt sich zumindest nicht anhand der Gesetzesmaterialien nachvollziehen, da diese bei einem Bombenangriff vernichtet worden sind; vgl. Mason, in: Mason/Caplan (Hrsg.), Nazism, Fascism And The Working Class (1995), S. 84. Allerdings spricht das Gesetz hinsichtlich der Zielsetzungen meiner Ansicht nach für sich selbst. 103 104
§ 1: Die historische
Entwicklung
der allgemeinen
Fürsorgepflicht
23
liehe Pflichten 108 und damit zum Ansatzpunkt der Begründung einer allgemeinen individualvertraglichen Fürsorgepflicht. Gleichbehandlungspflicht 109 , Urlaubsanspruch110 und Beschäftigungspflicht111 wurden in Anknüpfung an das A O G entwickelt. Der in § 2 Abs. 2 A O G kodifizierte Grundsatz war Teil einer völligen Neuordnung des Arbeitsrechts, die darauf zielte, den in Selbstbestimmung getroffenen privatrechtlichen Arbeitsvertrag zu beseitigen. Die Fürsorgepflicht war Mittel der nationalistischen Sozialpolitik, die »nicht mehr Interessenausgleich, Wirtschaftstaktik oder gar eine Art Wohltätigkeit« war, »sondern ... rein politische Gestaltung, auch im kleinsten Einzelbetrieb.« 112 Sozialpolitik diente im Nationalsozialismus dem einzigen Ziel, »die Lebensansprüche des Einzelnen dem Gesamtwohl unterzuordnen.« 113 Dadurch wurde »eine Gemeinschaftslehre« Ausgangspunkt des A O G , »die das Einzelarbeitsverhältnis unterwirft und die Fürsorgepflicht politisch ausrichtet« und so »den Anspruch des Nationalsozialismus auf totale Erfassung und Durchdringung aller Lebensbereiche« 114 für den Bereich des Arbeitsrechts umsetzte. 115 Der Fürsorgegedanke gehörte nicht zu den »hochtrabenden Worten und tönen den Phrasen«, wie es Huecknb in seiner eigenen Rückschau formulierte, Hueck/Nipperdey/Dietz, A O G (1943), § 2 Rz. 11 a. RAG, Urt. v. 19.1.1938 - 153/37 - ARS 33, 172. Der Gleichbehandlungsanspruch war zuvor schon diskutiert worden, war aber nicht auf allgemeine Zustimmung in Rechtsprechung und Literatur gestoßen. L A G Berlin Urt. v. 27.8.1928 - 103 S 1113/28 - J W 1928, S.2937 mit ablehnender Anmerkung von Oertmann. Im Sinne eines Gleichbehandlungsgrundsatzes auch RAG, Urt. v. 15.6.1929 - 180/29 Arbeitsrechtsprechung Band 6, S. 203 und die ablehnende Besprechung von Fuchs, Der Anspruch des Arbeitnehmers auf Weihnachtsgratifikation, ZBlfHR 1929, S. 23 wie auch Warnke, Weihnachtsgratifikation, ZBlfHR 1928, S. 396. 1 . 0 R A G , Urt. v. 16.3.1938 - 254/37 - ARS 32 (RAG) Nr. 45, S. 316. 1 . 1 L A G Leipzig, Urt. v. 5.1.1938 u. v. 9.6.1942 - 24 Sa 124/37 u. 24 Sa 19/42 - ARS 32, S. 161 (LAG Nr. 36) u. ARS 45, S. 83 (LAG Nr. 16). Vgl. zur zustimmenden Literatur Hueck/ Nipperdey/Dietz, A O G (1943), § 2 Rz. 18. 112 Müller, Die Fürsorgepflicht im nationalsozialistischen Arbeitsrecht, Monatshefte für NS Sozialpolitik 1936, S. 177. 113 Crämer, Vom gesellschaftlichen Begriff der Sozialpolitik, Jahrbuch 1940/41 Band I des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der deutschen Arbeitsfront, S. 582 (619). 114 Müller, Die Fürsorgepflicht im nationalsozialistischen Arbeitsrecht, Monatshefte für NS Sozialpolitik 1936, S. 178. 115 Nach Ansicht von Prinz, Die soziale Funktion moderner Elemente in der Gesellschaftspolitik des Nationalsozialismus, in: Prinz/Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung (1991), S.297 (300) läßt sich das A O G als Grundgesetz der nationalsozialistischen Sozialverfassung ansehen. Nach Auffassung von Mason, in: Mason/Caplan (Hrsg.), Nazism, Fascism And The Working Class (1995), S. 84 ist es weniger als Planentwurf zu verstehen als vielmehr als bloße Gegenreaktion. Danach kann noch nicht einmal nachgewiesen werden, daß überhaupt nationalsozialistische Ideologien zum Ausgangspunkt genommen worden sind, da die Gesetzesmaterialien vernichtet worden sind. Allerdings ist das A O G für diese Ideologie zweifelsohne instrumentalisiert worden. Daher kommt es auf die Intention nicht entscheidend an. 116 Hueck, Der Treuegedanke im modernen Privatrecht (1947), S. 3. 108
109
2 4 1. Kapitel: Grundlagen judizieller Begründung von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
sondern war ein in der nationalsozialistischen T h e o r i e genutztes Instrument, u m die propagierten Staatsziele zu erreichen 1 1 7 , die es in der T h e o r i e 1 1 8 und als E n t w u r f für die Nachkriegsgesellschaft gab. 1 1 9 M i t der Regelung in § 2 A O G fiel die G r e n z e zwischen privatem und öffentlichem R e c h t . 1 2 0 D i e Frage der Z u m u t b a r k e i t der Fürsorgepflicht orientierte sich nicht an einem Interessenausgleich in einem individuellen Austauschvertrag 1 2 1 , sondern daran, »die Wahrung des einzig anerkannten Interesses der Arbeitsgemeinschaft und ihrer Arbeitsleistung vor unnötigen Belastungen« 1 2 2 zu schützen. Jeglicher tatsächlicher Interessengegensatz zwischen A r b e i t n e h m e r und Arbeitgeber k o n n t e nach umstrittener A n s i c h t 1 2 3 durch den Verweis auf die k o n k r e t e O r d n u n g 1 2 4 des Betriebs als Gliedschaftsverhältnis negiert werden. Das anerkannte Interesse bestimmte die nationalsozialistische Sozialpolitik. D a n a c h lag 117 Zwar mag die NS-Ideologie in sich durch die Verwendung archaischer Bilder (Blut und Boden) und zum anderen durch das Bild einer auf Massenproduktion angelegten Konsumgesellschaft nicht in sich schlüssig gewesen sein. Die vom nationalsozialistischen Arbeitswissenschaftlichen Institut (AWI) vorgelegten Untersuchungen gehen jedoch von einem Sozialmodell aus, das nicht allein wirre Propaganda ist, vgl. Smelser, Die Sozialplanung der Deutschen Arbeitsfront, in: Prinz/Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung (1991), S.71 (73 ff.) belegt. Nach Zitelmann, Die totalitäre Seite der Moderne, in: Prinz/Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung (1991), S. 1 (19 Fußnote 53) wäre der wissenschaftliche Aufwand allein für Propagandazwecke zu hoch gewesen. 118 Damit ist nicht gemeint, daß es eine eigene, in sich geschlossene nationalsozialistische Rechtstheorie gegeben hätte. Jedoch herrschten in der Rechtsliteratur dieser Zeit bestimmte rechtstheoretische Ansichten vor; vgl. Alexy, Fortwirkungen nationalsozialistischer Denkweisen in Rechtsprechung und Rechtslehre nach 1945 ?, in: Säcker (Hrsg.), Recht und Rechtslehre im Nationalsozialismus (1992), S. 219 (222 ff.): Danach bestimmte eine autoritäre und nur an der Gemeinschaft ausgerichtete Betrachtung des Individuums das Vertragsdenken. 119 Dazu Smelser, Die Sozialplanung der Deutschen Arbeitsfront, in: Prinz/Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung (1991), S.71 (74), wonach Vollbeschäftigung, ein technokratischer Kapitalismus, ein einheitliches, staatlich festgelegtes Lohnsystem und eine übergreifende staatliche Sozialversicherung nach dem Leistungsprinzip die vier angestrebten Ziele waren. 120 Müller, Die Fürsorgepflicht im nationalsozialistischen Arbeitsrecht, Monatshefte für NS Sozialpolitik 1936, S. 180. Zum Ziel der nationalsozialistisch begründeten Fürsorgepflicht vgl. auch Lehmann, Entwicklung und Inhalt der Fürsorgepflicht des Unternehmers (1940), S. 29, der kritisiert, daß in der Zeit nach 1918 diese Grenze zwischen öffentlichem und privatem Recht stets eingehalten worden sei. 121 Vgl. Siebert, Die Entwicklung der Lehre vom Arbeitsverhältnis im Jahre 1936, DAR 1937, S. 14 (19): »Innerhalb einer echten personenrechtlichen Gemeinschaftsordnung bildet niemals eine einzelne vertragliche Leistung oder ein vereinbarter Güteraustausch den Gegenstand und den Rechtsgrund des Rechtsverhältnisses, sondern hier ist eine Gesamtbeziehung vorhanden, die... als Grundlage der Ordnung niemals durch einzelne Ansprüche ausgeschöpft werden kann. 122 Müller, Die Fürsorgepflicht im nationalsozialistischen Arbeitsrecht, Monatshefte für NS Sozialpolitik 1936, S. 180. 123 Gegen die Figur der »konkreten Ordnung« wendete sich ein großer Teil der Literatur Hueck/Nipperdey/Dietz, AOG (1943), §2 17 a. 124 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (1997), S. 387.
§ 1: Die historische
Entwicklung
der allgemeinen
Fürsorgepflicht
25
»das Kernstück des deutschen Sozialismus ... in der Auffassung vom Wesen der Arbeit und ihrer gemeinschaftsbildenden Kraft. Aus dem Begriff der Arbeit als Dienst und Einsatz in der Volksgemeinschaft ergibt sich, daß Unternehmer und Arbeitnehmer in grundsätzlich gleicher Aufgabenstellung gesehen werden. 1 2 5 D i e dadurch b e s c h w o r e n e gemeinschaftsbildende K r a f t in der nationalsozialistischen Arbeitsverfassung war entscheidend im totalitären R e g i m e . 1 2 6
Sie
spiegelte den V e r s u c h wider, A r b e i t n e h m e r zu k o n t r o l l i e r e n u n d auf die n a t i o nalsozialistischen Ziele a u s z u r i c h t e n . 1 2 7 D u r c h die Irrationalisierung128 der A r beitswelt sollte diese E i n b i n d u n g erleichtert w e r d e n : »Denn es war ja das Ziel dieser Maßnahmen, die Arbeitskraft des deutschen Arbeiters zu erhalten und zu fördern, und zwar nicht allein durch die technischen Maßnahmen, sondern durch die seelische Betreuung. Diese Pflege des Menschen ergibt sich aus der anderen Einstellung zu seiner Arbeit im Rahmen der Volksgemeinschaft.« 1 2 9 A u f diese W e i s e v e r s u c h t e n die nationalsozialistischen M a c h t h a b e r , den Interessengegensätzen z w i s c h e n U n t e r n e h m e r n u n d A r b e i t n e h m e r n zu begegnen. F ü r d i e E i n b i n d u n g d e r A r b e i t n e h m e r i n t e r e s s e n in d e n t o t a l i t ä r e n S t a a t w a r d i e E r f a s s u n g des Einzelarbeitsverhältnisses mittels des Treue- u n d F ü r s o r g e g e dankens fundamental: »Die nationalsozialistische Arbeitsverfassung hat dagegen von Anfang an den Gemeinschaftsgedanken von oben und von unten her, und zwar mindestens ebenso stark von un-
125 Siebert, Faschistische und nationalsozialistische Arbeitsverfassung, Monatshefte für NS Sozialpolitik 1938, S. 97 (98). 126 Dersch, Der Arbeitsvertrag im neuen Staat, D A R 1933, S. 9: »Eine solche gesteigerte Aufmerksamkeit würde der Arbeitsvertrag schon deshalb beanspruchen, weil er mehr als jede andere Vertragsart überall das Wirtschaftsleben durchdringt, sich also allenthalben so zahlreich wie kein anderer Vertrag in den großen Mechanismus unseres gesamten Wirtschaftslebens als tausendfältig wirkendes Rad einschaltet.« Vgl. auch Loschke, Grundsätzliches zur arbeitsrechtlichen Treupflicht, D A R 1938, S. 249 (251): Betriebe als »wettbewerbsbereite Zellen der völkischen Gesamtwirtschaft.« 1 2 7 Nach Mason, in: Mason/Caplan (Hrsg.), Nazism, Fascism And The Working Class (1995), S. 250 sollte dieser »Klassenkampf von oben« die Arbeiter erfassen und sie zugleich in die Gesellschaft integrieren. So lag es - wie Smelser, Die Sozialplanung der Deutschen Arbeitsfront, in: Prinz/Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung (1991), S.71 (83) zeigt, in dieser Intention, jegliche Standesunterschiede - wie auch den zwischen Arbeitern und Angestellten - gänzlich abzubauen, nicht zuletzt, um eine effektive Rationalisierung der Arbeitswelt herbeizuführen. 1 2 8 Als irrational können nach Zitelmann, Die totalitäre Seite der Moderne, in: Prinz/Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung (1991), S. 1 (18) die archaischen Bilder von einer Umsiedlung der Industriearbeiter auf das Land bezeichnet werden, die zum Teil von den Nationalsozialisten gebraucht wurden, an deren Umsetzung aber in der Planung - insbesondere nach dem Scheitern der »zweiten Revolution« der D A F am 30.6.1934 — nicht mehr gedacht wurde; vgl. dazu auch Smelser, Die Sozialplanung der deutschen Arbeitsfront, in: Prinz/Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung (1991), S.71 (80). 129 Lötz, »Schönheit der Arbeit« auch in der Kriegszeit, D A R 1940, S. 33.
26
1. Kapitel: Grundlagen
judizieller
Begründung
von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
ten, also von dem einzelnen Arbeitsverhältnis her, entwickelt und zur Wirkung gebracht.« 1 3 0
Die Fürsorgepflicht war das einklagbare 131 Mittel dazu. Die theoretische Aufhebung der gegensätzlichen Interessen ließ den Unternehmer 132 ebenfalls in der Rechtsdogmatik zum verlängerten Arm des Staates werden: Ihm oblag mit der Lohnzahlung die unmittelbare Daseinsförderung des Arbeitnehmers. 133 Die allgemeine Fürsorgepflicht war geschaffen. Der Rückgriff 1 3 4 auf die von v. Gierke angeführte rechtshistorische Herleitung der Fürsorgepflicht aus dem germanischen Treudienstvertrag 135 , deren rechtshistorische Qualität von der nationalsozialistischen Literatur angezweifelt wurde, 136 war nicht mehr als »mittelalterliches« Vokabular 137 , um die arbeitsrechtlichen Neuerungen an eine vorgespiegelte Kontinuität anzubinden und letztlich die Radikalität der Änderungen zu verschleiern. Der Ansatz von v. Gierke paßte nicht in das nationalsozialistische Konzept: Siebert wies darauf hin, daß v. Gierkes Ansatz dem Denken in Interessengegensätzen verhaftet gewesen sei und die schuldrechtliche Konstruktion nicht überwunden habe. 138 So habe v. Gierke weiterhin eine Trennung von Sozialrecht und Individualvertragsrecht angestrebt. 139 Erst die im Nationalsozialismus erfolgte Annäherung des Arbeitsverhältnisses an das Beamtenverhältnis 140 und der Wegfall der Trennung von öffentlichem Recht
130 Siebert, Faschistische und nationalsozialistische Arbeitsverfassung, Monatshefte für NS Sozialpolitik 1938, S. 101. 131 Dersch, Der Arbeitsvertrag im neuen Staat, D A R 1933, S. 12. 132 Dazu Lehmann, Entwicklung und Inhalt der Fürsorgepflicht des Unternehmers (1940), S. 9, wonach die Fürsorgepflicht dem sozialpolitischen Verantwortungsbewußtsein des Arbeitgebers entsprechen sollte. 133 Loschke, Praktische Auswirkungen der grundrechtlichen Fürsorgepflicht im Arbeitsverhältnis unter Eingehen auf die Rechtsprechung, D A R 1938, S. 308: »Der Lohn hört damit auf, Kaufpreis für eine Ware zu sein. Er wird zur unentbehrlichen Daseinsvorsorge für den mitarbeitsfähigen und mitarbeitsbereiten Gefolgsmann.« 134 Lehmann, Entwicklung und Inhalt der Fürsorgepflicht des Unternehmers (1940), S. 16 f. 1 3 5 Vgl. dazu Kahn-Freund, Der Funktionswandel des Arbeitsrechts (1932), in: Ramm (Hrsg.), Arbeitsrecht und Politik Quellentexte 1 9 1 8 - 1 9 3 3 (1966), S. 211 (212 f.), der v. Gierke der »sozialkonservativen (kathedersozialistischen) Schule« zuordnet. 136 Siebert, Das Arbeitsverhältnis in der Ordnung der nationalen Arbeit (1935), S. 51 Fußnote 3 und Lehmann, Entwicklung und Inhalt der Fürsorgepflicht des Unternehmers (1940), S. 26. 137 Prinz, Die soziale Funktion moderner Elemente in der Gesellschaftspolitik des Nationalsozialismus, in: Prinz/Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung (1991), S. 297 (301) zu dem archaischen Führer- Gefolgschaftsverhältnis. 138 Siebert, Das Arbeitsverhältnis in der Ordnung der nationalen Arbeit (1935), S. 18. 139 Siebert, Das Arbeitsverhältnis in der Ordnung der nationalen Arbeit (1935), S. 64. 140 Siebert, Das Arbeitsverhältnis in der Ordnung der nationalen Arbeit (1935), S. 80.
§ 1: Die historische Entwicklung der allgemeinen
Fürsorgepflicht
27
und Privatrecht führe dazu, daß die Fürsorgepflicht und das Arbeitsverhältnis »Verwirklichung« der »konkreten Gemeinschaftsordnung« werde. 1 4 1 Zumindest an diese Argumentation anknüpfend, k o n n t e das Reichsarbeitsgericht den Gleichbehandlungsanspruch bei freiwilligen Arbeitgeberleistungen rechtfertigen. 1 4 2 Z w a r habe das Arbeitsverhältnis einen schuldrechtlichen E n t stehungsgrund, sei aber »überwiegend von der Gemeinschaftsseite h e r « 1 4 3 zu bestimmen. S o griff die Rechtsprechung nach 1934 die neue theoretische A u f fassung 1 4 4 der Fürsorgepflicht auf, sobald es politisch notwendig erschien. 1 4 5 Sie zog aber auch vertraute Instrumente des Schuldrechts heran, wenn das auf schuldrechtlichem Weg erreichte Ziel politisch opportun war und nicht mit dem nationalsozialistisch definierten G e m e i n w o h l kollidierte. E i n e einheitliche vertragstheoretische Begründung spielte aber letztlich keine R o l l e mehr. So verlangte die angestrebte Durchregelung und K o n t r o l l e des Arbeitsverhältnisses eine eindeutige Z u o r d n u n g des Arbeitnehmers zu einem bestimmten für ihn Sorge tragenden Arbeitgeber. B e i der Überlassung von Arbeitskräften an einen anderen A r b e i t g e b e r 1 4 6 blieb die Fürsorgepflicht bei dem Verleiher. D e r Entleiher war ungeachtet der Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers nur Erfüllungsgehilfe des Verleihers, nicht aber selbst Zuordnungssubjekt eigener arbeitsvertraglicher Schutzpflichten. 1 4 7 A m deutlichsten formulierten die G e r i c h t e den G e m e i n w o h l b e z u g bei der G e w ä h r u n g des Urlaubsanspruchs aus der Fürsorgepflicht. So knüpfte das Reichsarbeitsgericht in dieser Frage nicht mehr an eine schuldrechtliche B e gründung an. Vielmehr leitete es den Urlaubsanspruch aus der personenrechtlichen N a t u r ab: »Der Urlaub soll grundsätzlich dazu dienen, die Arbeitskraft des schaffenden Menschen zu erhalten und neu zu beleben, und zwar nicht nur im Interesse des Einzelnen, sondern ebenso sehr im Interesse des Volksganzen.«148 141 Siebert, Das Arbeitsverhältnis in der Ordnung der nationalen Arbeit (1935), S. 64. Vgl. zum Begriff der konkreten Ordnung und dessen Bedeutung für das Arbeitsvertragsrecht Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (1997), S. 379. 142 RAG, Urt. v. 19. 1. 1938 - RAG 153/37 - ARS 33, S. 172. 143 RAG, Urt. v. 19. 1. 1 9 3 8 - R A G 153/37 - ARS 33, S. 172 (176). 144 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (1997), S. 382 ff. zum Unterschied dieser neuen Auffassung zu der traditionellen Vertragstheorie. 145 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (1997), S. 394. 146 LAG München, Urt. v. 19.1.1937 - Sa 62/36 - ARS 37 (LAG) Nr. 7, S.26. 147 RAG, Urt. v. 5.6.1940 - 265/39 - ARS 40 (RAG) Nr. 2, S. 10. 148 RAG, Urt. v. 16.3.1938 - 254/37 - ARS 32 (RAG) Nr. 45, S. 316 unter Abrücken von der eher an schuldrechtliche Grundsätze anknüpfenden Rechtsprechung in Urt. v. 20.10.1937 - 106/37 - ARS 31 (RAG), S. 181 und v. 16.1.1937 - 203/36 - ARS 30 (RAG) Nr. 11, S. 71; vgl. dazu auch die Anmerkung von Dersch, S. 73: »Man wird angesichts der Natur des Arbeitsverhältnisses als eines personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses den Urlaubsanspruch vielmehr als eine zur Erhaltung und Förderung der Arbeitskraft im Interesse der Allgemeinheit von ihm zu gewährende Leistung des Unternehmers aus dem Arbeitsverhältnis, hervorge-
28 1. Kapitel: Grundlagen judizieller Begründung von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
A u f dieser Grundlage wandelte sich die Inanspruchnahme des U r l a u b s v o m R e c h t »zur Pflicht im öffentlichen Interesse« 1 4 9 D i e s e m G e d a n k e n entsprach es, einen A r b e i t n e h m e r trotz Uberschreitens der betrieblichen Altersgrenze weiter zu beschäftigen, weil der Entlassene sonst »Wohlfahrt« beziehen müsse. D e r Betriebsführer habe stets im R a h m e n seiner Fürsorgepflicht zu überlegen, wie sich seine M a ß n a h m e n auf die Allgemeinheit auswirkten. 1 5 0 D i e G r e n z e n der Fürsorgepflicht wurden erreicht, wenn das Gemeinwohlinteresse
dem
A n s p r u c h des Arbeitnehmers widersprach. So war eine Kündigung t r o t z U n b e stimmheit des Zeitpunktes wirksam, wenn der A r b e i t n e h m e r der D u r c h f ü h rung eines Rüstungsauftrags im Wege stand. 1 5 1 D i e für den A r b e i t n e h m e r nachteilige Versetzung an einen anderen Arbeitsplatz war keine Fürsorgepflichtverletzung, wenn der Einsatzort den Interessen der Allgemeinheit entsprach, z.B. u m einer verstärkten P r o d u k t i o n n a c h z u k o m m e n . 1 5 2 D i e Fürsorgepflicht entfiel ganz, w e n n der A r b e i t n e h m e r nicht der Betriebsgemeinschaft angehörte, weil er als Angehöriger des jüdischen Glaubens kein »Mitarbeiter am großen W e r k des Führers« und somit kein »Gefolgsschaftsangehöriger« war. 1 5 3 A u c h wer als A r b e i t n e h m e r seine Treuepflichten gegenüber der Gemeinschaft verletzte, verlor den Anspruch auf allgemeine F ü r s o r g e . 1 5 4 D i e Treue- und Fürsorgepflicht wurde so auch aus Sicht der K o m m e n t a t o r e n zu zwingendem R e c h t , das ohne R ü c k s i c h t auf dasjenige galt, was die Parteien vereinbart hatten. 1 5 5 N u r in wenigen Fällen k o n n t e n N e b e n p f l i c h t e n aus den allgemeinen schuldrechtlichen Grundsätzen hergeleitet werden, wie zum B e i spiel die Informationspflicht des Arbeitgebers über die A n f o r d e r u n g e n an den A r b e i t n e h m e r im Bewerbungsgespräch. 1 5 6 D i e reibungslose Vermittlung entsprach dem staatlich organisierten A b b a u der Arbeitslosigkeit. D i e Startposition nach 1945 war vor diesem H i n t e r g r u n d insbesondere in rechtstheoretischer H i n s i c h t interessant. Welches M o d e l l sollte als Grundlage für eine individualvertraglich ausgerichtete N e b e n p f l i c h t b e g r ü n d u n g herangezogen werhend aus der Fürsorgepflicht anzusehen haben, nicht also als Gegenleistung für die bisherige Arbeitsleistung.« Danach war eine schuldrechtliche Konstruktion überflüssig. 149 LAG Leipzig, Urt. v. 2.6.1938 -24 Sa 16/38 - ARS 34 (LAG) Nr. 1, S. 1. Zur Arbeitspflicht vgl. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (1997), S. 391. 150 LAG Hamburg, Urt. v. 2.12.1937 - 19 Sa 84/1937 - ARS 32 (LAG) Nr. 26, S. 123 (128). 151 RAG, Urt. v. 10.4.1940 - 234/39 - ARS 40 (RAG) Nr. 49, S. 278 (281). 152 LAG Magdeburg, Urt. v. 20.10.1938 - 15 Sa 33/38 ARS 34 (LAG) Nr. 33, S. 139 (142). 153 RAG, Urt. v. 24.7.1940 - 71/40 - ARS 39 (RAG) Nr. 67, S. 383. 154 RAG, Urt. v. 19.1.1938 - 153/37-ARS 33 (RAG) Nr. 29, S. 172 (177); vgl. auch LAG Hamburg, Urt. v. 15.8.1938 - 19 Sa 48/38 - ARS 34 (LAG) Nr. 13, S. 69 (70), wonach Treueund Fürsorgepflicht »Hand in Hand« gehen. 155 Anmerkung von Hueck zu RAG, Urt. v. 21.9.1938 - 54/38 - ARS 34 (RAG) Nr. 18, S. 114. 156 RAG, Urt. v. 13.4.1938 - 270/37 - ARS 34 (RAG) Nr. 35, S. 200; vgl. auch LAG Leipzig, Urt. v. 10.11.1941 - ARS 42 (LAG) Nr. 16, S. 109 (112) »diligentia in contrahendo« und zur Hinweispflicht bei Ausgleichsquittungen LAG 22.7.1941 - 24 Sa 4/41 - ARS 42 (LAG) Nr. 9, S. 65.
§ 1: Die historische Entwicklung der allgemeinen
Fürsorgepflicht
29
den? Anders als zur Zeit der G e l t u n g des § 2 A O G fehlte die gesetzliche Legitimation zur Gestaltung und N e u b e g r ü n d u n g von Pflichten. D i e U m e t i kettierung im R a h m e n des § 2 4 2 B G B k o n n t e nur zu einem gesetzlichen A u f hänger verhelfen, nicht aber die vertragstheoretische K o n s t r u k t i o n der arbeitgeberischen N e b e n p f l i c h t e n erklären. D a m i t stand die R e c h t s p r e c h u n g vor mehreren theoretisch schwierigen P r o b l e m e n , die in der Praxis jedoch n o c h nicht einmal erwähnt wurden.
III. Wirkungen des § 2 Abs. 2 A O G nach 1945 N a c h d e m mit dem A O G auch die positive Verankerung einer allgemeinwohlbezogenen Fürsorgepflicht entfallen w a r 1 5 7 , fehlte die ursprüngliche Legitimationsgrundlage der judiziellen Nebenpflichtbegründung. T r o t z d e m stand für Dersch1™,
Siebert159,
Hueck160
und Nikisch161
fest, daß die unter § 2 A b s . 2
A O G entwickelten Pflichten beibehalten und fortgeführt werden mußten. D i e vertragstheoretische Grundlage wurde nicht hinterfragt. Derscb
entwickelte
aus der »Wesensart« des Arbeitsverhältnisses ein »allgemeines soziales S c h u t z recht«, aus dem sich die allgemeine Fürsorgepflicht ergab. 1 6 2 B e z e i c h n e n d für diesen Ansatz ist, daß das vorausgesetzte Wesen des Arbeitsvertrags nicht nachvollziehbar erklärt wird. So k o n n t e das gewünschte rechtliche Ergebnis in das a n g e n o m m e n e tatsächliche Wesen transponiert werden. Dersch
erläutert weder
seinen rechtstheoretischen A n s a t z p u n k t n o c h die in diesem R a h m e n zu berücksichtigenden tatsächlichen Bedingungen des Arbeitsvertrags. So untersucht er nicht, welche Marktsituation der Langzeitbeziehung Arbeitsvertrag überhaupt zugrunde liegt. D i e arbeitsrechtliche Literatur verwies z u m Teil darauf, daß § 2 Abs. 2 A O G letztlich nur durch § 2 4 2 B G B in Verbindung mit dem »Wesen des Arbeitsverhältnisses« bzw. dem genannten Schutzprinzip zu ersetzen sei. 1 6 3 Anstatt mit vertragstheoretischen Erwägungen rechtfertigte man die N e b e n p f l i c h t e n des 157
S. 229.
Kontrollratsgesetz Nr. 40 v. 30.11.1946, Amtsblatt des Kontrollrats Nr. 12 (1946),
158 Dersch, Entwicklungslinien der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers im Arbeitsverhältnis, RdA 1949, S. 325. 159 Siebert, Einige Entwicklungslinien im neueren Individualarbeitsrecht, RdA 1958, S. 366; derselbe, Einige Grundgedanken des gegenwärtigen Arbeitsrechts, RdA 1956, S. 13. 160 Hueck, Die Gefahr der Rechtszersplitterung, RdA 1948, S. 81 (83), und derselbe, Anmerkung zu LAG Berlin, Urt. v. 4.8.1948 - Sa 12/48 - RdA 1948, S. 193. 161 Nikisch, Individualismus und Kollektivismus im heutigen Arbeitsrecht, RdA 1953, S. 81 (82). 162 Dersch, Entwicklungslinien der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers im Arbeitsverhältnis, RdA 1949, S. 325 (326). 163 Bulla, Die Sorgepflicht des Arbeitgebers um eingebrachtes Arbeitnehmer-Eigentum, RdA 1950, S. 88 (89).
30
1. Kapitel: Grundlagen judizieller
Begründung von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
Arbeitgebers mit einem »unbestreitbaren Bedürfnis« 164 , mit der Praktikabilität 1 6 5 oder eben dem genannten Schutzprinzip als dem »kategorischen Imperativ über allem Arbeitsrecht« 166 . Diese Umschreibungen sind methodisch unzureichend, da sie die Entscheidungsfindung nicht erklären können. Sie bergen die Gefahr, Nebenpflichten nicht aus einem individuellen Interessenausgleich zu begründen, sondern aus Gemeinwohlinteressen. Dies kam auch in den Formulierungen zum Ausdruck. So hatte der Lohn weiterhin »Unterhaltscharakter« 1 6 7 . Siebertus fiel es in diesem Zusammenhang leicht auszuführen, daß die Interessengegensätze zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber in einer Kooperation mit dem Ziel des Allgemeinwohlinteresses aufgehoben seien. Dadurch sollte in der Zeit des Wiederaufbaus und der großen Nachfrage nach Arbeit eine »Produktionsgemeinschaft« 169 entstehen, die in erster Linie auf wirtschaftspolitische Aufgaben ausgerichtet war. Ebenso führte Fechner in der Tradition des konkreten Ordnungsdenkens aus, daß der »Sozialstaatsbegriff« sich in der Fürsorgepflicht spiegele und so die dem Arbeitsverhältnis zugrunde liegende »Solidarität« ausdrücke. 170 Dieser Sozialstaat sei die Synthese zwischen dem rein auf individuelle Belange gerichteten System und dem Kollektivstaat, wie er in den östlichen Zonen errichtet wurde. 171 Die Kritik 1 7 2 an der Auffassung vom Arbeitsverhältnis als personenrechtlichem Gemeinschaftsverhältnis führte zu keiner vertragstheoretischen Neubegründung. Obwohl die Schrecken des totalitären Regimes überwunden waren, wurde keine auf dem Individualschutz aufbauende Vertragstheorie zur judiziellen Pflichtenkonstruktion herangezogen. Im Gegenteil: Die Leerformeln des sozialen Schutzprinzips und des personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses erlaubten es, politische Interessen in das Individualrechtsverhältnis zu transponieren. Die Grenze zwischen berücksichtigungsfähigen Individual- und Gemeinwohlinteressen wurde nicht klar gezogen. Damit entstand eine methodische - nicht eine bezüglich des nationalsozialistischen Gedankenguts begrün164 Dersch, Entwicklungslinien der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers im Arbeitsverhältnis, RdA 1949, S. 325. 165 Bulla, Die Sorgepflicht des Arbeitgebers um eingebrachtes Arbeitnehmer-Eigentum, RdA 1950, S. 88 ( 93) hinsichtlich der Klagbarkeit. 166 Dersch, Entwicklungstendenzen im Arbeitsrecht unter Abweichung vom BGB, RdA 1958, S. 441 (443). 167 Molitor, Grund und Grenzen des Weisungsrechts, RdA 1959, S. 2 (4). 168 Siebert, Einige Grundgedanken des gegenwärtigen Arbeitsrechts, RdA 1956, S. 13 (14). 169 Siebert, Einige Grundgedanken des gegenwärtigen Arbeitsrechts, RdA 1956, S. 13 (15). 170 Penney_ Sozialer Rechtsstaat und Arbeitsrecht, RdA 1955, S. 161. 171 Fechner, Sozialer Rechtsstaat und Arbeitsrecht, RdA 1955, S. 161 (168). 172 Mavridis, Eingliederungstheorie, Vertragstheorie und Gemeinschaftsverhältnis, RdA 1956, S. 445 (447); derselbe, Der Schutzgedanke als Grundlage des Arbeitsrechts, ArbuR 1956, S. 161 (163) und Vor- und Nachwirkungen der Fürsorgepflicht im Arbeitsrecht, ArbuR 1957, S. 225; Ramm, Die Anfechtung des Arbeitsvertrages, Karlsruhe 1955, S. 22; Bührig, Der Rechtscharakter des Urlaubsanspruchs, ArbuR 1954, S. 371 (372).
§ 1: Die historische
Entwicklung
der allgemeinen
Fürsorgepflicht
31
dete inhaltliche - Kontinuität zwischen den nach § 2 Abs. 2 A O G begründeten Pflichten u n d der allgemeinen Fürsorgepflicht. Besonders in den ersten U r t e i len nach der A u f h e b u n g des A O G 1 7 3 w i r d dies deutlich. So führte das L A G Stuttgart in einer Entscheidung aus d e m Jahre 1948 im Leitsatz aus: » D e r die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers regelnde § 2 Abs. 2 A O G hatte lediglich die Bedeutung einer den G r u n d s a t z des § 242 B G B bestätigenden Generalklausel. A u c h nach seiner A u f h e b u n g besteht auf G r u n d des § 242 B G B eine allgemeine Fürsorgepflicht, die d e m A r b e i t g e b e r gebietet, bei allen seinen M a ß n a h m e n auf das Wohl seiner A r b e i t n e h m e r R ü c k s i c h t zu nehmen.« 1 7 4
Das Gericht leitete den Gleichbehandlungsgrundsatz in diesem Urteil aus der allgemeinen Fürsorgepflicht ab und betonte, daß es sich dabei u m »kein spezifisch nationalsozialistisches G e d a n k e n g u t « handele. 1 7 5 Sicherlich enthielt die A n w e n d u n g der Generalklausel nicht z w a n g s l ä u f i g nationalsozialistisches Gedankengut. Statt die judizielle Pflichtenkonstruktion aber negativ abzugrenzen, hätte es notgetan, die Pflicht u n d ihre Konstruktionsleitlinien positiv zu definieren. 1 7 6 Das methodische Gerüst, das die faschistischen Inhalte getragen hatte, erwies sich weiterhin als belastbar. A u c h in den Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts w u r d e die M e t h o d i k nicht aufgedeckt, nach der die Vertragspflichten des Arbeitgebers entwickelt w u r d e n . Der Gleichbehandlungsanspruch w u r d e aus der »personalen Struktur« des Arbeitsverhältnisses hergeleitet, ohne daß dieser Begriff nachvollziehbar erklärt wurde. 1 7 7 Vorvertragliche Auskunftspflichten ergaben sich aus der allgemeinen Fürsorgepflicht, deren vertragstheoretischer A n k n ü p f u n g s p u n k t weiterhin unklar blieb. 1 7 8 Der Beschäftigungsanspruch folgte daraus, daß das Arbeitsverhältnis in seiner personenrechtlichen A u s p r ä g u n g den Arbeitnehmer als Mensch erfasse u n d somit seine grundgesetzlich geschützte Persönlichkeitsfreiheit im Falle der Nichtbeschäftigung berührt sei. 1 7 9 W a r u m das Bundesar173
Kontrollratsgesetz Nr. 40 v. 30.11.1946, Amtsblatt des Kontrollrats Nr. 12 (1946),
S. 229. 174 L A G Stuttgart, Urt. v. 3.6.1948 - Sa 97/47 - R d A 1948/1949, S. 115; vgl. aber auch die Entscheidung des L A G Frankfurt, Urt. v. 10.2.1948 - II L A 1/48 - R d A 1948, S. 191, in der noch von der Fürsorgepflicht gegenüber den »Gefolgschaftsmitgliedern« die Rede ist. 175 L A G Stuttgart, Urt. v. 3.6.1948 - Sa 97/47 - R d A 1948/1949, S. 115. 176 Vgl. dazu auch L A G Bremen, Urt. v. 4.8.1948 - Sa 12/48 - R d A 1948/1949, S. 193. In dieser Entscheidung erwägt das Gericht eine Beschränkung des arbeitgeberischen Kündigungsrechts aus den Grundsätzen der Fürsorgepflicht und verneint dies letztlich bei der Wahrnehmung berechtigter Interessen. O b w o h l es das Arbeitsverhältnis als »vom Interesse der Vertragsschließenden« bestimmt ansieht, dem »keineswegs in erster Linie Fürsorgecharakter« zukommt, soll den Arbeitgeber trotzdem die Pflicht treffen, seine Belange gegen die des Arbeitnehmers abzuwägen. 177 BAG, Urt. v. 25.4.1959 - 2 AZR 363/58 - A P Nr. 15 zu § 242 BGB Gleichbehandlung. 178 BAG, Urt. v. 12.12.1957 - 2 AZR 574/55 - A P Nr. 2 zu § 276 BGB Verschulden bei Vertragsschluß. 179 BAG, Urt. v. 10.11.1955 - 2 AZR 591/54 - A P N r . 2 zu § 6 1 1 BGB Beschäftigungspflicht.
3 2 1. Kapitel: Grundlagen judizieller
Begründung von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
beitsgericht gerade von diesem Wirklichkeitsbild ausging, war unklar. Die Frage, ob den Arbeitgeber die Nebenpflicht treffen sollte, für Motorroller der Arbeitnehmer eine Unterstellmöglichkeit einzurichten, wurde nach der »Platz-, Kosten- und Dringlichkeitsfrage« beurteilt. 180 Das B A G erwog die zu begründende Verwahrungspflicht unter dem Gesichtspunkt, daß die Benutzung von Fahrzeugen üblich war. Letztlich habe der Arbeitgeber einen Vorteil davon, wenn der Arbeitnehmer »ausgeruht« zur Arbeit erscheine und »arbeitsfreudiger« sei. Im Ergebnis verneinte es eine Pflicht, da auch zu erwägen sei, inwieweit der Arbeitgeber finanziell belastet werde und wieviele Arbeitnehmer tatsächlich ein Fahrzeug benutzen müssten. 181 Von welcher Wertungsgrundlage das Gericht ausging, blieb offen. Ebenso war es nicht nachvollziehbar, warum der Arbeitgeber auf diesem Weg dazu gezwungen werden sollte, die »Arbeitsfreudigkeit« seiner Mitarbeiter zu nutzen, obwohl er dies im gegebenen Sachverhalt abgelehnt hatte. In einer Entscheidungsanmerkung zur Fürsorgepflicht gibt Larenz zu bedenken, daß es sich bei diesen Pflichten um Richterrecht handelt, »ohne jede unmittelbare Anknüpfung an das Gesetz«. 182 Die Schwierigkeit der judiziellen Pflichtenkonstruktion besteht gerade darin, daß die in Frage stehenden Nebenpflichten vertraglich und gesetzlich ungeregelt sind. Es ist dem Gesetz nicht zu entnehmen, ob der Arbeitgeber eine Gleichbehandlungspflicht oder eine Beschäftigungspflicht hat. Nebenpflichten kann die Rechtsprechung mangels besonderer gesetzlicher Regelungen nur aus einem vertragstheoretischen Modell heraus entwickeln. Dieses Modell muß konkretisiert werden.
§2 Ansatzpunkte der judiziellen Nebenpflichtbegründung in der gegenwärtigen Rechtsprechung Die Rechtsprechung greift bei der Nebenpflichtbegründung auf zwei qualitativ verschiedene Arten in den Vertrag ein. Zum einen bestimmt sie gem. §§ 157, 242 bzw. 241 Abs. 2 B G B Pflichten, wenn die Parteien eine bestimmte Risikoverwirklichung nicht bedacht haben und das Gericht eine vertragliche Lücke festgestellt hat. Die judiziell entwickelte Pflicht kann den Vertrag ergänzen oder ihn korrigieren. Die erste Form kann als Nebenpflichtbegründung in Ergänzung oder in Konkretisierung des Parteiwillens bezeichnet werden. Darüber hinaus entwickelt die Rechtsprechung in den Fällen einer sogenannten Inhaltskontrolle des Vertrags Nebenpflichten gegen den erklärten Parteiwillen als korBAG, Urt. v. 5.3.1959 - 2 AZR 268/56 - AP Nr. 26 zu § 611 Fürsorgepflicht. BAG, Urt. v. 5.3.1959 - 2 AZR 268/56 - AP Nr. 26 zu §611 Fürsorgepflicht, Bl. 634 Rückseite. 182 Larenz, Anmerkung zu BAG, Urt. v. 14.12.1956 - 1 AZR 29/55 - und v. 24.11.1956 - 2 AZR 345/56 - AP Nr. 3 und 4 zu § 611 Fürsorgepflicht, Blatt 118 Rückseite. 180 181
§ 2: Ansatzpunkte der judiziellen Nebenpflichtbegründung
33
rigierende Nebenpflichtbegründung (§ 2 4 2 B G B ) . 1 8 3 Handelt es sich um allgemeine Geschäftsbedingungen ist die Inhaltskontrolle gem. § 3 1 0 A b s . 4 S. 2 B G B unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Arbeitsrechts durchzuführen. Beide Vorgehensweisen verändern den Vertragsinhalt. 1 8 4 Zwar haben sie unterschiedliche Eingriffsvoraussetzungen, 1 8 5 aber es liegt ihnen eine einheitliche normative Vorstellung eines »gerechten« Vertrags zugrunde. D i e s e r normative Ausgangspunkt wird im A n s c h l u ß zunächst für die vertragskonkretisierende und dann für die vertragskorrigierende
Nebenpflichtbegründung
verdeutlicht.
I. Vertragskonkretisierende judizielle Nebenpflichten N e b e n p f l i c h t e n k ö n n e n in ergänzender Auslegung des Vertrages gem. § 157 B G B anhand der E r m i t t l u n g des hypothetischen Parteiwillens begründet, sie k ö n n e n aber auch als Rechtsfortbildung an objektive Wertungen wie die Verkehrssitte oder Treu und G l a u b e n gem. § 2 4 2 bzw. § 2 4 1 A b s . 2 B G B angeknüpft werden. D e r ausdrücklich erklärte Wille zieht die G r e n z e . H a b e n die Parteien eine abschließende Regelung getroffen, so soll es nach der traditionellen D o g m a t i k an der erforderlichen vertraglichen Regelungslücke fehlen. 1 8 6 Dieses vertraute dogmatische M o d e l l trügt. D i e Termini »hypothetischer Parteiwille«, »vertragliche Regelungslücke« und »vertraglicher Regelungsplan« verdecken die zugrunde liegenden Wertungen. Sie bieten keine methodische Hilfe. Ziel der judiziellen Pflichtenbegründung ist die Absicherung der vertraglichen K o o p e r a t i o n von einem normativen Regelungsplan aus. D i e M o m e n t aufnahme »Einigung« spielt nur insoweit eine R o l l e , als daß sie die judizielle Pflichtenbegründung durch eine ausdrückliche Vereinbarung sperrt. G e g e n diese scheinbare E n t w e r t u n g des Parteiwillens k ö n n e n zwei traditionelle A r g u m e n t e vorgebracht werden. Das erste bezieht sich auf die Legitimationsgrundlage der Pflichtenbegründung. D i e ergänzende Auslegung gem. § 157 B G B soll im Gegensatz zu einer K o n s t r u k t i o n nach § 2 4 2 B G B dem 183 Zur Rückzahlung von Ausbildungsbeihilfen: BAG, Urt. v. 6.5.1998 - 5 AZR 535/97 AP Nr. 28 zu §611 BGB Ausbildungsbeihilfe unter Hinweis auf Urt. v. 16.3.1994 - 5 AZR 339/92 - AP Nr. 18 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe. Zur Unverfallbarkeit von Ansprüchen auf betriebliche Alterversorgung vor der gesetzlichen Regelung BAG, Urt. v. 10.3.1972 - 3 AZR 278/71 - AP Nr. 156 zu §242 BGB Ruhehalt. 184 Becker, Vertragsfreiheit, Vertragsgerechtigkeit und Inhaltskontrolle, WM 1999, S. 709 (711). 185 Fastrieb, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht (1992), S. 66 ff. wonach die Inhaltskontrolle in rechtsdogmatischer Hinsicht nicht aus der Norm des §242 BGB hergeleitet werden kann, da von § 242 BGB nur die Konkretisierung, nicht aber die Kontrolle des Vertrags umfaßt ist. Vgl. zu den Voraussetzungen im Einzelnen § 9 I. 186 Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts (1997), § 28 Rz. 114
34
1. Kapitel: Grundlagen
judizieller
Begründung
von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
hypothetischen Parteiwillen entsprechen, der sich durch die Nähe zum tatsächlichen Parteiwillen legitimiert. Das zweite Argument zielt auf die Grenzen der richterlichen Vertragsänderung. Nach der traditionellen Dogmatik muß in Orientierung am Parteiwillen eine Vertragslücke festgestellt werden, bevor die Rechtsprechung Pflichten in Konkretisierung dieses vertraglichen Regelungsplans entwickeln kann. Beide Argumente werden im Anschluß widerlegt. 1. ïum normativen
Parteiwillen
Dem gesetzlichen Ansatzpunkt der Nebenpflichtbegründung schenkt die Rechtsprechung wenig Beachtung. Das Bundesarbeitsgericht zitiert in den Entscheidungen zur Treue- und Fürsorgepflicht §§611, 242 BGB, §611 B G B 1 8 7 oder auch §§ 157, 242 BGB 1 8 8 . Die ergänzende Auslegung des Vertrags gem. §157 B G B und die rechtsfortbildende Konstruktion einer Nebenpflicht über § 242 B G B unterscheiden sich in den Entscheidungen weder im juristischen Argumentationsweg noch im Ergebnis. In der Literatur ist es umstritten, ob zwischen ergänzender Auslegung gem. § 157 B G B und Nebenpflichtbegründung gem. § 242 B G B überhaupt getrennt werden kann. Nach Larenz ist hinsichtlich der Funktion der Normen grundsätzlich zu differenzieren. Während sich § 157 B G B auf »das Individuelle« beziehe, trete bei § 242 B G B »das Allgemeingültige« in den Vordergrund. 189 Auch nach anderen Ansichten 190 ist zwischen der Pflichtenbegründung nach §157 B G B und derjenigen nach §242 B G B zu trennen, da die Auslegung ihren Ausgangspunkt beim Willen der Vertragsparteien habe und sich die Pflichtenbegründung über §242 B G B bzw. §241 Abs. 2 B G B außervertraglich rechtfertige. 191 Die ergänzende Auslegung 187 Treuepflicht: BAG, Urt. v. 23.2.1989 - I X ZR 236/86 - AP Nr. 9 zu §611 B G B Treuepflicht; ohne Bezug auf § 242 B G B allein aus § 611 B G B BAG, Urt. v. 5.3.1968- 1 AZR 229/67 - AP Nr. 6 zu § 611 B G B Treuepflicht; Urt. v. 17.10.1969 - 3 AZR 442/68 - AP Nr. 7 zu § 611 B G B Treuepflicht; Urt. v. 16.6.1976 - 3 AZR 73/75 - zu §611 B G B Treuepflicht Urt. v. 16.6.1990 - 2 AZR 113/90 - AP Nr. 10 zu § 611 B G B Treuepflicht; Fürsorgepflicht: B A G , Urt. V. 17.1.1956-3 AZR 3 0 4 / 5 4 - A P Nr. 1 zu §611 B G B Fürsorgepflicht; BAG, Urt. v. 24.11.1956 - 2 AZR 345/56 - AP Nr. 4 zu §611 B G B Fürsorgepflicht; B A G , Urt. v. 25.2.1960 - 3 AZR 446/57 - AP Nr. 50 zu § 611 B G B Fürsorgepflicht; nur § 611 B A G Urt. v. 9.2.1977 - 5 AZR 2 / 7 6 - A P Nr. 83 zu §611 B G B Fürsorgepflicht; Urt. v. 27.11.1985 - 5 AZR 1 0 1 / 8 4 - A P Nr. 93 zu § 611 B G B Fürsorgepflicht. 1 8 8 BAG, Urt. v. 12.5.1958 - 2 AZR 5 3 9 / 5 6 - A P Nr. 5 zu §611 B G B Treuepflicht; Urt. v. 13.8.1970 - 3 AZR 275/69 - AP Nr. 146 zu § 242 B G B Ruhegehalt. 1 8 9 Die Methode der Auslegung des Rechtsgeschäfts (1966), S. 105. Larenz betont aber, daß es sich bei der Figur des »hypothetischen Parteiwillens« um eine reine Fiktion handelt, aaO., S. 97. 190 MünchlLomm-Mayer-Maly (1993) §157 B G B Rz.24; VAxaAl-Heinrichs (2001) §157 Rz.2. 191 Vgl. Brox, Fragen der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, JZ 1966, S. 761 (765); vgl. grundlegend zur Bedeutung des Parteiwillens Oertmann, Rechtsordnung und Verkehrssitte (1914), S. 314.
§ 2: Ansatzpunkte
der judiziellen
Nebenpflichtbegriindung
35
gem. § 1 5 7 B G B steht nach dieser Ansicht zwischen erläuternder Auslegung (§ 133 B G B ) 1 9 2 und abstrakter Fallgruppenbildung (§ 242 B G B ) . 1 9 3 N u r soweit sich aus dem Parteiwillen kein Anhaltspunkt f ü r eine individuelle Risikoverteilung ergebe, richte sich die ergänzende Auslegung nach der T y p i k 1 9 4 des Vertrags. Dagegen ist darauf hingewiesen worden, daß sich die ergänzende Vertragsauslegung nach § 1 5 7 B G B v o n der Pflichtenbegründung nach § 242 B G B sachlich nicht abgrenzen lasse. 1 9 5 Neuere Erklärungen eines »gerechten Vertragsmodells« haben diese Problematik aufgegriffen 1 9 6 und betont, daß der »psychologische« 1 9 7 Parteiwille irrelevant ist. Die Nebenpflichten nehmen danach eine »Zwitterstellung« 1 9 8 zwischen Parteiwille und Gesetz ein. Schon in der Wahl des gesetzlichen Ansatzpunktes zeigt sich das Dilemma einer judiziellen Pflichtenbegründung, wenn sie ausschließlich durch den vertraglich vereinbarten Verpflichtungsgrund gerechtfertigt w e r d e n soll. 1 9 9 A u f die Tendenz, v o m vertraglichen Willensdogma abzurücken, ist schon hingewiesen w o r d e n . 2 0 0 Die schon klassische Streitfrage über den Geltungsgrund v o n Schutzpflichten, bei der es darum geht, ob das Gesetz oder der Parteikonsens die judizielle Pflichtenbegründung rechtfertigt, spiegelt diese Entwicklung. 2 0 1 Die Trennung zwischen Vertragsauslegung gem. § 1 5 7 B G B und objektiver Pflichtenbegründung gem. § 242 B G B ist nur dann haltbar, w e n n sich der h y p o thetische Parteiwille nicht nur als bloße petitio principii herausstellt. 2 0 2
192 Vgl. zum Unterschied zwischen ergänzender und »eigentlicher« (erläuternder) Auslegung Henckel, Die ergänzende Vertagsauslegung, AcP 159 (1960), S. 106 (107). 193 Vgl. Brox, Fragen der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, JZ 1966, S. 761(766). 194 Vgl. dazu schon Danz, Die Auslegung der Rechtsgeschäfte (1911) unter Hinweis auf eine Formulierung des Reichsoberhandelsgerichts, S. 154: »Treu und Glauben verbieten, das Gewöhnliche (...) ohne klaren Ausdruck für nicht gewollt zu haben.« 195 Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts (1997), §28 Rz. 113; Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Band II (1992), S. 309; Staudinger-Schmidt §242 Rz. 266, der darauf hinweist, daß ein materielles Konkurrenzproblem zwischen §157 BGB und § 242 BGB fehlt: Die Vorschriften führen zu keinen unterschiedlichen Rechtsfolgen.; Lüderitz, Auslegung von Rechtsgeschäften (1966), S. 416. 196 Vgl. insbesondere Graf, Vertrag und Vernunft (1997) und Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997). 197 Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts (1997), § 28 Rz. 120 f., der darauf hinweist, daß die ergänzende Auslegung den normativen und nicht einen psychologischen Parteiwillen feststellt. 198 Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 291. 199 Zur Schwierigkeit, »tatsächlichen« und »hypothetischen« Parteiwillen in Uberstimmung zu bringen vgl. Graf, Vertrag und Vernunft (1997), S. 20 ff. 200 Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag (1981), S. 132. 201 Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 168 m.w.N. 202 Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 237; Zur Kritik an der herkömmlichen Dogmatik zur Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens vgl. Graf, Vertrag und Vernunft (1997), S. 20 ff.
36 1. Kapitel: Grundlagen judizieller Begründung von Nebenpflichten a) Arbeitsschritte
des Gerichts
bei der
des
Arbeitgebers
Pflichtbegründung
D i e Fallgruppenbildung gem. § 2 4 2 B G B bzw. § 2 4 1 Abs. 2 B G B führt nicht nur zu denselben Ergebnissen wie die ergänzende Vertragsauslegung gem. § 157 B G B . D i e Arbeitsschritte des erkennenden Gerichts bei der ergänzenden Vertragsauslegung gem. § 157 B G B entsprechen denen der Fallgruppenbildung gem. § 242 B G B . Entscheidend ist in beiden Fällen letztlich ein normatives Vertragsmodell. D i e G e r i c h t e gehen bei der ergänzenden Vertragsauslegung gem. § 157 B G B v o n einem bestimmten Vertrag als k o n k r e t zu entscheidendem Sachverhalt aus, bei dem es den tatsächlichen Parteiwillen nicht kennt. D e s h a l b ist es gezwungen, eine H y p o t h e s e über den Parteiwillen aufzustellen. 2 0 3 D a der Sachverhalt nicht ergibt, wie die Parteien den Einzelfall geregelt hätten, ist die H y pothese nur durch den Verweis auf ähnliche Fallgestaltungen zu verifizieren. D i e H y p o t h e s e setzt stets eine Verallgemeinerung in F o r m einer O b j e k t i v i e rung 2 0 4 voraus. D i e O b j e k t i v i e r u n g reduziert den Sachverhalt auf bestimmte, als relevant erkannte Vergleichsmerkmale. D i e Entscheidung, o b ein bestimmtes M e r k m a l als relevant anzusehen ist, richtet sich nach dem zugrunde gelegten normativen Modell eines »gerechten Vertrags« und nicht nach dem p s y c h o l o g i schen Parteiwillen. 2 0 5 D i e Aufgabe des Gerichts liegt darin, die hypothetische Vertragsgestaltung anhand dieser objektiven Wertung zu begründen. D i e s e Begründung ist aber nur dann überzeugend, wenn der Ausgangspunkt der H y p o t h e s e - dies ist der individuelle Vertrag - genau beachtet wird. D i e Verallgemeinerung in der H y pothese m u ß daher eine ähnliche Interessenlage wie der individuelle Vertrag aufweisen. D i e Begründung des Gerichts ist insofern » k o n k r e t normativ«. 2 0 6 Vergleichsmaßstab ist die im normativen Parteiwillen zum A u s d r u c k k o m m e n de objektive Wertung. D e r mutmaßliche Wille spielt keine Rolle, selbst wenn er v o m normativ - anhand objektiver Kriterien - ermittelten Willen abweicht
207
D a h e r ist der individuelle Vertrag zwar zu beachten, aber nur als Ausgangspunkt, als Material und nicht als Raster dafür, welche M e r k m a l e relevant sein sollen. 2 0 8 203 Vgl. dazu auch Neufert, Die Revisibilität der Auslegung individueller Vertragserklärungen (1988), S. 54. 204 BAG, Urt. v. 3.6.1998 - 5 AZR 552/97 - AP Nr. 57 zu § 612 BGB; Urt. v. 17.1.1979 - 5 AZR 498/77 - AP Nr. 2 zu § 611 BGB Berufssport »vernünftige Abwägung«; Urt. v. 13.8.1970 - 3 AZR 275/69 - AP Nr. 146 zu § 242 Ruhegehalt »redlicherweise«; Urt. v. 6.2.1974 - 3 AZR 232/73 - AP Nr. 38 zu § 133 BGB »redlichem« und »verständigen« 205 Obwohl auch sozialpsychologische Kriterien bei der Entwicklung des Vertragsmodells zu berücksichtigen sein werden vgl. dazu § 10 I 2. c). 206 Rimmelspacher, Anmerkung zu BAG, Urt. v. 6.2.1974 - 3 AZR 232/73 - AP Nr. 38 zu §133 BGB. 207 Henssler, Risiko als Vertragsgegenstand (1994), S. 100. 208 Vgl. BAG,Urt. v. 13.4.1972 - 2 AZR 243/71 - AP Nr. 64 zu § 626 BGB und BAG, Urt. v. 9.5.1985 - 2 AZR 372/84 - AP Nr. 4 zu § 620 BGB, danach werden in der ergänzenden Ausle-
§ 2: Ansatzpunkte der judiziellen Nebenpflichtbegründung
37
D i e s e r Argumentation folgt das G e r i c h t auch bei der Rechtsfortbildung gem. § 2 4 2 B G B bzw. gem. § 241 Abs. 2 B G B . D i e entwickelte Fallgruppe »paßt« nämlich nicht auf den zu entscheidenden Sachverhalt, wenn die Interessenlage des vorliegenden Vertrags im Ausgangspunkt der K o n s t r u k t i o n nicht beachtet wird. D e r Verallgemeinerung m u ß in ihrem » K e r n « eine ähnliche I n teressenlage zugrunde liegen, wie sie im zu beurteilenden Vertrag zum A u s druck g e k o m m e n ist. M a ß s t a b der »Ähnlichkeit« ist wiederum die im o b j e k t i vierten Parteiwillen ausgedrückte Wertung. D a h e r ist der individuelle Vertrag auch bei der Fallgruppenbildung gem. § 242 oder § 241 A b s . 2 B G B zu beachten, aber wiederum nur als Ausgangspunkt der Verallgemeinerung. D e r individuelle Vertrag spielt daher bei dieser K o n s t r u k t i o n eine ähnliche R o l l e wie bei der E r m i t t l u n g des hypothetischen Parteiwillens gem. § 157 B G B : E r ist in beiden Fällen der Ausgangspunkt der Verallgemeinerung, die das G e r i c h t v o r n e h men muß. D a m i t verschiebt sich die Legitimationsgrundlage der judiziellen Pflichtenbegründung von ihrer Einigungszentriertheit zu einer außervertraglichen normativen W e r t u n g . 2 0 9 P r o b l e m ist nicht mehr das Deckungsverhältnis zwischen tatsächlichem und konstruiertem »hypothetischen« Parteiwillen 2 1 0 , sondern die Erklärung der außervertraglichen Wertung. E s geht u m die Frage, welche außervertragliche Wertung es vorgibt, bestimmte Erwartungen der Vertragsparteien als berechtigt und schützenswert 2 1 1 herauszugreifen und damit zugleich das » O p f e r « 2 1 2 zu bestimmen, das in F o l g e der rechtlichen Selbstbindung erbracht werden muß. Grundlage der Verallgemeinerung ist daher sowohl im Fall der ergänzenden Vertragsauslegung wie im Fall der objektiven Pflichtbegründung gem. § 2 4 2 B G B bzw. § 241 Abs. 2 B G B eine normative Vertragsvorstellung, die als Schablone unter den zu beurteilenden Sachverhalt gelegt wird. D i e Vorstellung, daß sich das G e r i c h t an einer dem tatsächlichen Parteiwillen n a h e k o m m e n d e n L ö sung orientiert, steht daher der E r k l ä r u n g der eigentlich maßgeblichen K r i t e rien im Wege. 2 1 3 So erlaubt die F i k t i o n , die Parteien hätten die von der R e c h t gung zwar die konkreten Fallumstände zum Ausgangspunkt genommen, jedoch dann durch generelle Erwägungen wie das typische Interesse des Arbeitnehmers an einer Mindestbindung an den Arbeitsvertrag überlagert: » Der mutmaßliche Parteiwille ist unter Würdigung der beiderseitigen Interessenlage zu ermitteln, die grundsätzlich unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls vorzunehmen ist. Zu ergänzen ist diese Auffassung dahin, daß allerdings bestimmte Umstände, insbesondere die Länge der Kündigungsfrist und die Art der vorgesehenen Beschäftigung, Anhaltspunkte für den Willen und die Vorstellung der Vertragsparteien sein können...« 209 Flume, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, in: von Caemmerer/Friesenhahn/Lange (Hrsg.), Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, FS zum hundertjährigen Bestehen des deutschen Juristentages (1960), S. 135 (197). 210 Graf, Vertrag und Vernunft (1997), S. 20 ff. 211 Graf, Vertrag und Vernunft (1997), S. 29. 212 Graf, Vertrag und Vernunft (1997), S. 29. 213 Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 168.
38
1. Kapitel: Grundlagen judizieller Begründung von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
sprechung vorgeschlagene Regelung getroffen, letztlich freie Wertungen ohne A n b i n d u n g an ein bestimmtes rechtliches Vertragsmodell. 2 1 4 D i e U n t e r s c h e i dung von tatsächlichem, m u t m a ß l i c h e m und normativem Parteiwillen führt daher nicht dazu, drei unterschiedliche M a ß s t ä b e a n z u n e h m e n . 2 1 5 V o r der B e gründung einer N e b e n p f l i c h t ist der Parteiwille insoweit zu beachten, als ihm eine »Negativfunktion« z u k o m m t . D e r mutmaßliche Parteiwille ist unbeachtlich. N u r der erklärte »empirisch, subjektive« 2 1 6 Wille hat als ausdrücklicher K o n s e n s Vorrang v o r dem normativen W i l l e n . 2 1 7 F ü r den materiellen Begründungsweg ist es ohne Belang, o b an § 2 4 2 bzw. § 2 4 1 Abs. 2 B G B oder an § 157 B G B angeknüpft wird: E s k o m m t stets auf »überindividuelle« und außervertragliche, objektive Gesichtspunkte an. b) Revisibilität
der
Pflichtbegründung
G e g e n eine unterschiedlose Behandlung des gem. § 157 B G B und § 2 4 2 B G B zugrunde gelegten Maßstabs kann auch nicht die Revisibilität der Entscheidungen angeführt w e r d e n . 2 1 8 D e r U m f a n g der Revisibilität bei einer an § 157 B G B angeknüpften Entscheidung wie bei einer gem. § 2 4 2 B G B getroffenen E n t scheidung führt dazu, daß das Bundesarbeitsgericht die Erwägungen des vorangegangenen Rechtszuges unter den folgenden Gesichtspunkten
überprüfen
kann: der Einhaltung der v o n der R e c h t s p r e c h u n g zu beachtenden Wertgrenzen, der Vollständigkeit der tatsächlichen Wertungsgrundlagen und der logischen Nachvollziehbarkeit der Entscheidung anhand von anerkannten Schlußverfahren 2 1 9 ( » D e n k g e s e t z e n « ) . 2 2 0 Eingeschränkt ist die Revision nur hinsichtlich des Wertungsspielraums, den die Vorinstanz bei der G e w i c h t u n g von Interessen hat, aber nicht hinsichtlich des angewendeten M a ß s t a b s . 2 2 1 Z w a r scheint die Frage der U b e r p r ü f b a r k e i t der ergänzenden Auslegung von W i l lenserklärungen zunächst anders zu liegen als die U b e r p r ü f b a r k e i t von E n t scheidungen, die sich auf § 2 4 2 oder auf § 241 A b s . 2 B G B stützen. Handelte es sich bei der Ü b e r p r ü f u n g der ergänzenden Vertragsauslegung wirklich um eine reine Tatsachenfrage, schiede eine Revision hinsichtlich dieses Gesichtspunktes aus. Dies ist umstritten.
Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 237. Henssler, Risiko als Vertragsgegenstand (1994), S. 99. 216 Rimmelspacher, Anmerkung zu BAG, Urt. v. 6.2.74 - 3 AZR 232/73 - AP Nr. 38 zu § 133 BGB wie das zitierte Urteil selbst. 217 BAG, Urt. v. 10.1.1975 - 3 AZR 70/74 - AP Nr. 3 zu §242 BGB Ruhegehalt Beamtenversorgung Nr. 3 m.w.N. 218 So aber Ehrike, Zur Bedeutung der Privatautonomie bei der ergänzenden Vertragsauslegung, RabelsZ 1996, S. 661 (672). 2 1 9 Zöller -Gummer, Zivilprozeßordnung (2001) § 550 Rz. 7. 2 2 0 Zöller -Gummer, Zivilprozeßordnung (2001) § 550 Rz. 12. 221 Anders Stein/Jonas-Grunski, Kommentar zur Zivilprozeßordnung (1994), §550 Rz. 32. 214 215
$ 2: Ansatzpunkte
der judiziellen
Nebenpflicbtbegründung
39
Die Revisibilität der Auslegung von Willenserklärungen soll nach Ansicht von Teilen der Literatur 2 2 2 im Gegensatz zu einer gem. § 242 B G B getroffenen Entscheidung nur eingeschränkt zulässig sein. Bei der Revisibilität von Auslegungen sollen danach Rechts- von Tatfragen zu differenzieren sein. 223 Auslegungsentscheidungen könnten gem. § 550 Z P O nur hinsichtlich der rechtlichen Entscheidung nachprüfbar sein. 2 2 4 Von der neueren Literatur ist darauf hingewiesen worden, daß eine strenge begriffliche Trennung zwischen Rechts- und Tatfrage nicht möglich ist. 225 Es sei vielmehr eine funktionelle Betrachtungsweise vorzuziehen, bei der gefragt werde, ob eine nochmalige Uberprüfung dem Sinn und Zweck der Revision entspreche, nämlich der Vereinheitlichung des Rechts. 2 2 6 Dies sei auch bei einer Auslegung der Fall, sobald das Gericht typische Maßstäbe verwendet habe. Dagegen scheide eine erneute Prüfung des tatsächlichen Sachverhalts in der Revisionsinstanz aus. Insoweit könne die Vorinstanz abschließend über den tatsächlichen Wortlaut bzw. das Gegebensein bestimmter Begleitumstände als Ausgangspunkt der rechtlichen Würdigung entscheiden. 2 2 7 Das Bundesarbeitsgericht 2 2 8 vertritt die Ansicht, daß rechtliche und tatsächliche Fragestellungen in einem einheitlichen Vorgang ineinander verschränkt seien. So legt das Bundesarbeitsgericht Verträge in der Revisionsinstanz selbst ergänzend aus, da es »um eine an objektiven Maßstäben orientierte Bewertung des Inhalts der getroffenen Vereinbarungen« 2 2 9 gehe. Die Uberprüfung einer an § 2 4 2 B G B orientierten und einer an § 157 B G B ausgerichteten Entscheidung muß jedoch nach den vorangestellten Überlegungen zum hypothetischen Parteiwillen gleichlaufen. Das erstinstanzliche Gericht orientiert sich an einem bestimmten normativen Vertragsmodell und vervollständigt eine danach fehlende Regelung im Wege der judiziellen Pflichtenbegründung. Das 222 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann-yl&ers, Kommentar zur Zivilprozeßordnung (2001) § 550 Rz. 4; Zöller-Gummer, Zivilprozeßordnung (2001) § 550 Rz. 1; Messer, Die revisionsrichterliche Nachprüfung der Vertragsauslegung, in: Böttcher (Hrsg.) Festschrift für Odersky (1996), S. 605. 2 2 3 Vgl. dazu den Uberblick bei Messer, Die revisionsrichterliche Nachprüfung der Vertragsauslegung, in: Böttcher (Hrsg.) Festschrift für Odersky (1996), S. 605 (606) und Stein/Jonas-Grunsky, Kommentar zur Zivilprozeßordnung (1994) § 550 Rz. 21 f. 2 2 4 Zöller -Gummer, Zivilprozeßordnung (2001) § 550 Rz. 1. 225 Bürck, Zur revisionsgerichtlichen Uberprüfung der Auslegung von Erklärungen durch die Instanzgerichte, in: Gitter (Hrsg.), Festschrift für Krasney (1997), S. 39 (44 f.); Messer, Die revisionsrichterliche Nachprüfung der Vertragsauslegung, in: Böttcher (Hrsg.) Festschrift für Odersky (1996), S. 605 (608). 226 Bürck, Zur revisionsgerichtlichen Uberprüfung der Auslegung von Erklärungen durch die Instanzgerichte, in: Gitter (Hrsg.), Festschrift für Krasney (1997), S. 39 (45). 227 Messer, Die revisionsrichterliche Nachprüfung der Vertragsauslegung, in: Böttcher (Hrsg.) Festschrift für Odersky, Berlin, New York 1996, S. 605 (608); Stein/Jonas-Grunsky (1994), § 549, 550 Rz. 34; Neufert, Die Revisibilität der Auslegung individueller Vertragserklärungen, (1988), S. 60. 2 2 8 B A G , Urt. v. 17.2.1966 - 2 A Z R 162/65 - AP Nr. 30 zu § 133 B G B . 2 2 9 B A G , Urt. v. 3.6.1998 - 5 A Z R 552/97 - AP Nr. 57 zu § 612 B G B .
4 0 1. Kapitel: Grundlagen judizieller
Begründung von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
in beiden Fällen zugrunde gelegte Vertragsmodell ist eine rechtliche Würdigung und somit vollständig in der Revision überprüfbar. c) Abgrenzung
zur erläuternden
Auslegung gem. § 133 BGB
Die Methode und der Maßstab bei der Begründung von Nebenpflichten nach §§ 157, 242 B G B sind nach den vorangestellten Ausführungen daher grundsätzlich anders als bei der erläuternden Auslegung gem. § 133 BGB. Die erläuternde Auslegung gem. § 133 B G B verlangt keine Verallgemeinerung in Form einer Hypothese oder einer Fallgruppenbildung. Vielmehr existieren bei der erläuternden Auslegung gem. § 133 B G B Anhaltspunkte im Wortlaut für eine konkrete Regelung. Das Gericht hat die Erklärung zwar unter Berücksichtigung des objektiven Empfängerhorizonts auszulegen. Die Erklärung muß jedoch keinesfalls »vernünftig« oder »gerecht« sein. Vielmehr kann sich der Vertragspartner - aus welchen Gründen auch immer - z.B. zu unwirtschaftlichen Leistungen verpflichten. Anders als bei der Ermittlung des »Gewollten« nach § 133 B G B müssen bei der ergänzenden Pflichtbegründung gem. § 157, 242 B G B »gerechte« Maßstäbe die Grundlage der Hypothese sein. Dagegen kann und muß die erläuternde Auslegung gem. § 133 B G B nur an den konkreten Einzelfall anknüpfen.Die ergänzende Pflichtbegründung gem. § 157, 242 B G B knüpft daher zwar an den Vertrag an, erfährt ihre Legitimation aber nicht aus dem Vertragsinhalt selbst. 230 Begründet die Rechtsprechung auf diesem Wege Nebenpflichten, setzt sie diese nämlich quasi »von außen« fest. Konsequenz daraus ist, daß die anhand des normativen Maßstabs gem. §§ 157, 242 B G B entwickelten Pflichten von den Parteien nicht angefochten werden können. 231 Die Legitimation für ihre Begründung folgt nicht aus dem Parteiwillen, sondern aus der nachvollziehbaren Begründung unter dem Geltungsanspruch des positiven Rechts.
2. Zur Bedeutung
der vertraglichen
Regelungslücke
Nach der traditionellen Dogmatik darf die ergänzende Vertragsauslegung nicht zu einer Vertragserweiterung führen, die über den von den Parteien festgelegten Vertragsgegenstand hinausgeht oder die der von ihnen gewollten Regelung widerspricht. 232 Die ergänzende Vertragsauslegung setzt daher nach allgemeiner Ansicht voraus, daß die vertragliche Regelung lückenhaft ist. 233 Die Vertrags-
230 Ehrike, Zur Bedeutung der Privatautonomie bei der ergänzenden Vertragsauslegung, RabelsZ 1996, S. 661. 231 Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts (1997), § 28 Rz. 123. 232 Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts (1997), §28 Rz. 115. 233 Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts (1997), § 28 Rz. 114 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 300.
§ 2: Ansatzpunkte der judiziellen Nebenpflichtbegründung
41
auslegung soll keine »korrektorische F u n k t i o n « 2 3 4 haben. D i e Rechtsprechung soll den Vertrag unangetastet lassen, wenn eine »vom rechtsgeschäftlichen Willen getragene Regelung besteht«. 2 3 5 D i e Feststellung einer Vertragslücke erweist sich nach diesem - auf den tatsächlichen Parteiwillen bezogenen - K o n z e p t j e d o c h als schwierig. D e r ausdrücklichen Vereinbarung läßt sich letztlich nichts darüber entnehmen, ob der Vertrag lückenhaft oder vollständig ist. Verläßt man den fixierten Vertragstext und betrachtet die von den Parteien vorgetragenen Interessen, so wird sich eine Partei auf die Unvollständigkeit berufen, die andere auf die Vollständigkeit. 2 3 6 Ein gemeinsamer durch den tatsächlichen Parteiwillen legitimierter Regelungsplan existiert - gerade in der Prozeßsituation - nicht. U m eine L ü c k e annehmen zu k ö n n e n , bedarf es j e d o c h einer bestimmten Vorstellung, wie der Vertrag vollständig aussehen muß. D i e A n n a h m e einer L ü c k e setzt stets eine bestimmte R e gelungsvorstellung als B e z u g s p u n k t voraus, von dem aus sich eine nicht getroffene Regelung überhaupt als L ü c k e erweisen kann. D i e Regelungslücke ist daher genau g e n o m m e n nicht die Voraussetzung sondern ihr Rückschluß.
der judiziellen Uberprüfung,
Scheiden aber der ausdrückliche Vertrag wie auch der
tatsächliche Parteiwille als B e z u g p u n k t aus, so verbleibt wiederum nur das k o n k r e t normative Regelungsprogramm, von dem aus das G e r i c h t den Vertrag als lückenhaft ansieht. D e r Ermittlung eines gemeinsamen Regelungsplans anhand des tatsächlichen Parteiwillens stehen dieselben B e d e n k e n entgegen wie der am tatsächlichen Parteiwillen orientierten K o n s t r u k t i o n des hypothetischen Parteiwillens. 2 3 7 D e r Wortlaut des Vertrags verliert vor diesem H i n t e r grund j e d o c h nicht seine Bedeutung. Z u m einen gibt der ausdrücklich geregelte Vertragsinhalt das Grundgerüst vor, das anhand der normativen Schablone ergänzt wird. Z u m anderen markiert er die G r e n z e zur Inhaltskontrolle, nach der die Rechtsprechung nur unter erheblich engeren Voraussetzungen korrigierend in den Vertrag eingreifen darf.
II. Regelungsersetzende judizielle Nebenpflichtbegründung N a c h Ansicht des Bundesarbeitsgericht 2 3 8 sollen im A n s c h l u ß an die sogenannte Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2 3 9 Verträge mit o f fensichtlich unangemessenen Regelungen richterlich überprüft werden k ö n 234 Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht (1992), S. 22; Becker, Vertragsfreiheit, Vertragsgerechtigkeit und Inhaltskontrolle, WM 1999, S. 209 (211). 235 Larenz/Wolf Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts (1997), §28 Rz. 115. 236 Graf, Vertrag und Vernunft (1997), S. 255. 237 Graf, Vertrag und Vernunft (1997), S. 259. 238 BAG, Urt. v. 16.3.1994, 6.9.1995 und v. 6.5.1998 - 5 AZR 339/92, 241/94 und 535/97 AP Nr. 18, Nr. 23 und Nr. 28 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe; 239 BVerfG, Beschluß v. 19.10.1993 - 1 BvR 567/89 - AP Nr. 35 zu Art. 2 GG.
42 1. Kapitel: Grundlagen judizieller Begründung von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
nen, wenn diese eine strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers spiegeln. Bei der Auslegung von Generalklauseln wie z . B . § 2 4 2 B G B hätten die G e r i c h t e »... darauf zu achten, daß Verträge nicht als Mittel der Fremdbestimmung dienen. Haben die Vertragspartner eine an sich zulässige Regelung vereinbart, so wird sich regelmäßig eine weitergehende Inhaltskontrolle erübrigen. Ist aber der Inhalt für eine Seite ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen, so dürfen sich die Gerichte nicht mit der Feststellung begnügen, »Vertrag ist Vertrag«. Sie müssen vielmehr klären, ob die Regelung eine Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke ist, und gegebenenfalls im Rahmen der Generalklauseln des geltenden Zivilrechts korrigierend eingreifen.« 240 Das Bundesarbeitsgericht führt weiter aus, daß die richterliche Vertragskontrolle im Arbeitsrecht »eine n o c h größere R o l l e als im allgemeinen Zivilrecht« hat, »da das Schutzbedürfnis des schwächeren Teils, nämlich des A r b e i t n e h mers, besonders groß ist und der G e s e t z g e b e r in vielen Bereichen untätig geblieben ist.« 2 4 1 D e r A r b e i t n e h m e r sei auch zu Zeiten der Vollbeschäftigung dem Arbeitgeber strukturell unterlegen. 2 4 2 D a s Bundesarbeitsgericht schließt mit dieser Rechtsprechung an das B u n desverfassungsgericht an, das die Zulässigkeit der richterlichen Vertragskontrolle in der Bürgschaftsentscheidung damit begründet hatte, daß die Zivilrechtsordnung dem Einzelnen gemäß der verfassungsrechtlich gewährleisteten Privatautonomie »im R e c h t s l e b e n einen angemessenen Betätigungsbereich« 2 4 3 gewährleisten müsse. D a der Gesetzgeber nicht für alle Situationen Vorsorgen k ö n n e , in denen die Selbstbestimmung aufgrund des starken M a c h t ü b e r g e wichts einer Partei zu einer F r e m d b e s t i m m u n g werde, müßten die G e r i c h t e in Auslegung der Generalklauseln solche »strukturellen Störungen der Vertragsparität« 2 4 4 ausgleichen. 2 4 5 A n s a t z p u n k t der Inhaltskontrolle ist darüber hinaus 240 BAG, Urt. v. 16.3.1994 - 5 AZR 339/92 - AP Nr. 18 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe unter II 1 b cc. 241 BAG, Urt. v. 16.3.1994 - 5 AZR 339/92 - AP Nr. 18 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe unter II 1 b dd der Gründe. 242 BAG, Urt. v. 16.3.1994 - 5 AZR 339/92 - AP Nr. 18 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe unter II 1 b dd der Gründe. 243 BVerfG, Beschluß v. 19.10.1993- 1 BvR 567/89 - AP Nr. 35 zu Art. 2 GG unter II 2 a der Gründe. 244 BVerfG, Beschluß v. 19.10.1993 - 1 BvR 567/89 - AP Nr. 35 zu Art. 2 GG unter II 2 c der Gründe. 245 Zur nahezu unübersehbaren Diskussion der Entscheidung des BVerfG Hromadka, Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen, in: Hanau/Heither/Kühling (Hrsg.), Festschrift Dieterich (1999), S.251; Kittner, Die Rechtsprechung des BVerfG zur »Wiederherstellung gestörter Vertragsparität« im Lichte der ökonomischen Analyse des Rechts und Deregulierungspostulaten, in: Hanau/Heither/Kühling (Hrsg.), Festschrift Dieterich (1999), S. 279; Schupp, Privatautonomie und Verfassungsrecht, ZBB 1999, S. 30; derselbe, Grundrechte als Werteordnung, JZ 1998, S. 913; Diedrichsen, Das Bundesverfassungsgericht als oberstes Zivilgericht - ein Lehrstück juristischer Methodenlehre, AcP 198 (1998), S. 171; derselbe, Die Selbstbehauptung des Privatrechts gegenüber dem Grundgesetz, Jura 1997, S. 57; Fastrich, Inhaltskontrolle im
§ 2: Ansatzpunkte
der judiziellen
Nebenpflichtbegrändung
43
die Vorformulierung des Vertrags gem. § 310 Abs. 4 S. 2 i.V.m. §§ 305 ff. B G B . Diese richterliche Vertragskontrolle, die in der Literatur als Inhaltskontrolle 246 oder als Angemessenheitskontrolle bzw. Inhaltskontrolle im engeren Sinn 247 bezeichnet wird, ist von zwei ähnlichen Kontrollmechanismen abzugrenzen: hinsichtlich der in § 315 B G B vorgesehenen Billigkeitskontrolle und hinsichtlich der am Maßstab der Sittenwidrigkeit ausgerichteten Uberprüfung gem. §138 BGB. 1. Keine
Billigkeitskontrolle
Unter der Inhaltskontrolle wird in Abgrenzung zu § 315 B G B die Überprüfung bestehender Vertragsvereinbarungen anhand rechtlicher - »überindividueller« - Wertungen verstanden. 248 Nach den Voraussetzungen des § 315 B G B orientiert sich die Billigkeitskontrolle dagegen am Einzelfall und stellt auf »eine individualisierende Betrachtungsweise« ab, für die »eine etwa zu beachtende Regel nicht existiert« 249 . Fastrieb250 und Preis251 haben darauf hingewiesen, daß die Rechtsprechung nicht zureichend zwischen einer Billigkeits- und einer Inhaltskontrolle trennt. Während bei der Inhaltskontrolle die Wirksamkeit einer inhaltlich fixierten Regelung überprüft werde, sei die Billigkeitskontrolle im Rahmen des § 3 1 5 B G B eine Ausübungskontrolle der vorbehaltenen einseitigen Leistungsbestimmung. 252 In der Billigkeitskontrolle wird daher die Reichweite der vorbehaltenen Rechtsausübung unter Berücksichtigung der konkreten Situation geprüft. In der Inhaltskontrolle geht es dagegen darum, festzustellen,
Arbeitsrecht nach der Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10. 1993, RdA 1997, S. 65; Zöllner, Regelungsspielräume im Schuldvertragsrecht, AcP 196 (1996), S. 1; Dieterich, Grundgesetz und Privatautonomie im Arbeitsrecht, RdA 1995, S. 129. 246 preis/Rolfs, Gestörte Vertragsparität und richterliche Inhaltskontrolle, DB 1994, S. 261; Hromadka, Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen, in: Hanau/Heither/Kühling (Hrsg.), Festschrift Dieterich (1999), S. 251. 247 Fastrich, Inhaltskontrolle im Arbeitsrecht nach der Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10.1993, RdA 1997, S. 65 (70). 248 v. Hoyningen Huene, Die Billigkeit im Arbeitsrecht (1978), S. 91; Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht (1992), S. 6, Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht (1993), S. 147 f. 249 v. Hoyningen Huene, Die Billigkeit im Arbeitsrecht (1978), S. 90; vgl. auch Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 307; Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht (1992), S. 164; Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht (1993), S. 247 zum normativen Ansatzpunkt einer Inhaltskontrolle vorformulierter Vertragsbedingungen. 2 5 0 Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht (1992), S. 159 ff. zur »Billigkeitskontrolle« arbeitsvertraglicher Einheitsregelungen, die nach der hier verwendeten Terminologie eine Inhaltskontrolle ist. 251 Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht (1993), S. 191 ff. 252 p r e i s ) Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht (1993), S. 191.
4 4 1. Kapitel: Grundlagen judizieller
Begründung von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
daß der Vertragsinhalt nicht mit bestimmten objektiven Rechtsvorstellungen zu vereinbaren ist 253 , die im Einzelnen noch zu konkretisieren sind. 2. Keine
Sittenwidrigkeitskontrolle
Gegenüber der Ergebniskontrolle des § 138 B G B hat die Inhaltskontrolle eine andere Zielrichtung. Geht es bei § 138 B G B darum, eine einzelne Vertragsregelung zu korrigieren, weil ihr Ergebnis nicht hingenommen werden kann, so handelt es sich bei der Inhaltskontrolle um die Korrektur einer Situation, in welcher der Vertragsmechanismus als solcher versagt. 254 Voraussetzungen und Maßstab der Kontrolle nach § 138 B G B und der Inhaltskontrolle sind daher verschieden. Zwar verlangt das Bundesverfassungsgericht letztlich, daß sich die strukturell ungleiche Verhandlungsstärke in einer offensichtlich unangemessenen Regelung niedergeschlagen hat. Trotzdem wird in der Ergebniskontrolle der Inhaltskontrolle sowohl ein gegenüber § 138 B G B anderer Maßstab, als auch auch eine andere Zweckrichtung der Kontrolle verlangt. Anders als bei § 138 B G B muß der Vertrag einseitig fremdbestimmt worden sein. Voraussetzung für die Inhaltskontrolle ist, daß der Vertrag seine Funktion als Kooperationsmechanismus insgesamt nicht mehr erfüllen kann und sich diese Störung in einem offensichtlich unangemessenen Vertragsergebnis manifestiert hat. Die Frage nach den Funktionsbedingungen des Vertrags steht im Zentrum der in den neunziger Jahren geführten Diskussion um die Voraussetzungen der Inhaltskontrolle. Wann funktioniert der Vertrag nicht? Ist es die Verwendung vorformulierter Bedingungen, die ein strukturell bedingtes Versagen der Privatautonomie nach sich zieht 255 oder fehlen im Arbeitsrecht - wie es auch das Bundesarbeitsgericht 256 annimmt - grundsätzlich die Funktionsbedingungen eines wirksamen Vertragsschlusses?257 Voraussetzung für eine Antwort ist, daß feststeht, welche Anforderungen an ein rechtliches Vertragsmodell gestellt werden. Erst wenn dieses Modell für den Arbeitsvertrag entworfen ist, kann die Frage nach den Funktionsbedingungen beantwortet werden.
253 Vgl. Weber, Einige Gedanken zur Konkretisierung von Generalklauseln durch Fallgruppen, AcP 192 (1992), S. 516 ff.; vgl. auch Motzer, Die »positive Vertragsverletzung« des Arbeitnehmers (1982), S. 153, wonach die Begründung von Pflichten aus §242 B G B führe zu einer nicht zu befürwortenden Loslösung vom Gesetz. 254 Fastrich, Inhaltskontrolle im Arbeitsrecht nach der Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10.1993, RdA 1997, S. 65 (70). 255 Auf diesen Umstand stellt Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht (1993), S. 274; derselbe/Rolfs, Gestörte Vertragsparität und richterliche Inhaltskontrolle, DB 1994, S. 261 (266) ab. 2 5 6 BAG, Urt. v. 16.3.1994 - 5 AZR 339/92 - AP Nr. 18 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe unter II 1 b dd der Gründe. 257 Fastrich, Inhaltskontrolle im Arbeitsrecht nach der Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10.1993, RdA 1997, S. 65 (75).
§ 2: Ansatzpunkte
der judiziellen Nebenpflicbtbegründung
45
III. Liegt der ergänzenden Pflichtenbegründung und der Inhaltskontrolle ein einheitliches normatives Vertragsmodell zugrunde? F ü r die Inhaltskontrolle und für die ergänzende N e u b e g r ü n d u n g von N e benpflichten ergibt sich ein ähnliches Ausgangsproblem: Inhaltskontrolle und Pflichtenkonkretisierung sind Vertragsänderungen von außen, die der Legitimation aus einem rechtlichen Vertragsmodell bedürfen. Handelt es sich u m ein und dasselbe Vertragsmodell? G e g e n eine solche A n n a h m e scheint zu sprechen, daß sowohl Voraussetzungen wie auch Z w e c k e der ergänzenden und der korrigierenden Pflichtbegründung unterschiedlich sind. A u c h der U m f a n g der richterlichen Änderung des Vertrags weicht im Fall der Pflichtenkonkretisierung von demjenigen der Inhaltskontrolle ab. D i e Pflichtenkonkretisierung setzt keine grundsätzliche, »strukturelle«, also den Vertrag insgesamt erfassende S t ö rung voraus. Sie ist darauf begrenzt, den Vertrag in bestimmten P u n k t e n zu vervollständigen. E s ist für das Arbeitsverhältnis als Dauerschuldverhältnis t y pisch, daß die Parteien nicht alle erdenklichen Risiken vorhersehen und durch entsprechende Regelungen absichern können. Diese Ergänzung geht einer möglichen K o r r e k t u r vor. Allein die von der h e r k ö m m l i c h e n D o g m a t i k verlangte Vorrangigkeit der Auslegung vor der Inhaltskontrolle spricht nicht dagegen, daß beiden richterlichen Instrumenten ein einheitliches Vertragsmodell zugrunde liegen könnte. D i e Vorrangigkeit der Auslegung soll sich nach der traditionellen Vorstellung in »zeitlicher« H i n s i c h t daraus ergeben, daß vor der inhaltlichen K o n t r o l l e einer Regelung ihr Inhalt feststehen muß. D a m i t ist aber über die Grundlage der A u s legung wie der Inhaltskontrolle nichts gesagt. D i e Vorrangigkeit begründet keinen engeren oder weiteren M a ß s t a b . Inhaltskontrolle und konkretisierende Pflichtbegründung unterscheiden sich nur darin, daß die Parteien im ersten Fall ausdrücklich eine andere, v o m judiziellen Regelungsmodell abweichende Vereinbarung getroffen haben. F ü r eine U b e r e i n s t i m m u n g des Vertragsmodells spricht, daß die v o m G e r i c h t entwickelten konkretisierenden Pflichten der I n haltskontrolle standhalten müssen. Judiziell begründete N e b e n p f l i c h t e n sind nie unangemessene Problemlösungen. Freilich k o m m t man nur dann dazu, ergänzende und korrigierende Pflichtbegründung auf ein Vertragsmodell z u r ü c k zuführen, wenn man - wie o b e n geschehen - der ergänzenden Pflichtbegründung keinen am tatsächlichen Willen orientierten hypothetischen Parteiwillen zugrunde legt. Erst wenn akzeptiert wird, daß die R e c h t s p r e c h u n g von rechtlichen und insoweit außervertraglichen Wertungsgesichtspunkten ausgeht, ist der gedankliche Weg zu einem einheitlichen Vertragsmodell frei. 2 5 8 F ü r die Inhaltskontrolle kann ein derartiges einheitliches Vertragsmodell nur dann a n g e n o m m e n werden, wenn sich auch die Lückenfüllung nach einem nor258
Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 294.
4 6 1. Kapitel: Grundlagen judizieller Begründung von Nebenpflickten
des
Arbeitgebers
mativen Vertragsmodell richtet und nicht nach Billigkeitsgesichtspunkten. In der Inhaltskontrolle ist zwischen der K o n t r o l l e , also der A u f h e b u n g der unwirksamen Regelung, und der anschließenden judiziellen Lückenfüllung zu trennen. E r s e t z t die Rechtsprechung eine offensichtlich unangemessene R e g e lung in einem Schritt durch eine neue, besteht die Gefahr, daß die jeweils angelegten M a ß s t ä b e unklar b l e i b e n 2 5 9 und auf diese Weise ein nicht mehr k o n t r o l lierbares richterliches Gestaltungsrecht entsteht. Bei der Inhaltskontrolle nach den §§ 305ff. B G B tritt - soweit vorhanden - eine Regelung des dispositiven R e c h t s an die Stelle der unwirksamen vertraglichen R e g e l u n g . 2 6 0 In § 3 0 6 B G B heißt es diesbezüglich, daß sich im Falle unwirksamer B e s t i m m u n g e n der Inhalt des Vertrags nach den gesetzlichen Vorschriften richtet. Diese Regelung ist grundsätzlich gem. § 3 1 0 A b s . 4 S. 2 B G B auf Arbeitsverträge anwendbar. S c h o n vor A u f h e b u n g des A G B G hielten sowohl das Bundesarbeitsgericht 2 6 1 als auch die überwiegende arbeitsrechtliche Literatur 2 6 2 t r o t z der A u s n a h m e des Arbeitsrechts v o m sachlichen Anwendungsbereich des A G B G gem. § 23 A b s . 1 A G B G zumindest die dem A G B G zugrunde liegenden Rechtsgedanken auf die richterliche Arbeitsvertragskontrolle für übertragbar. D a m i t ist freilich n o c h nichts darüber gesagt, o b auch eine sogenannte
»geltungserhaltende
R e d u k t i o n « der Regelung auf den gerade n o c h zulässigen Inhalt im Einzelfall untersagt ist 2 6 3 , die einer Pflichtenbegründung nach Billigkeitsgesichtspunkten entspricht. E i n e konsequente L ö s u n g dieses P r o b l e m s läßt sich nur erreichen, wenn man sich die Zulässigkeitsvoraussetzungen der richterlichen Pflichtenbegründung vergegenwärtigt. Erweist sich eine vertraglich vereinbarte Regelung als unwirksam, so stellt sich vor einer Regelungsersetzung die grundsätzliche F r a ge, o b überhaupt eine L ü c k e besteht, die ausgefüllt werden m u ß . 2 6 4 D i e s e F r a ge 2 6 5 beantwortet sich danach, o b der Vertrag ohne die unwirksame Regelung vor dem H i n t e r g r u n d des rechtlichen Modellvertrags lückenhaft ist. Diesen Modellvertrag entwickelt die R e c h t s p r e c h u n g in A n w e n d u n g eines generellen M a ß s t a b s 2 6 6 , da die Voraussetzungen des § 315 B G B nicht erfüllt sind. E s kann daher nicht anhand der Billigkeit überprüft werden, welche Regelung im E i n zelfall gerade n o c h zulässig wäre. Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht (1993), S. 344. Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht (1992), S. 339. 261 BAG.Urt. v. 11.6.1997-7 AZR 313/96-AP Nr. 1 zu § 19 AVR Caritasverband ra.w.N. 262 p r e ; S ; Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsvertragsrecht (1993), S.265; MüchArbK-Richardi § 14 Rz. 45. 263 p re i s ^ Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsvertragsrecht (1993), S. 357 ff. 264 Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsvertragsrecht (1993), S. 358. 265 Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht (1993), S. 360. 266 pre{s> Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht (1993), S. 373; Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht (1992), S. 342 spricht insoweit von Rechtsfortbildung. 259
260
§ 3: Zu den rechtstheoretischen
Grundlagen
47
Die Entwicklung einer Pflicht als Vervollständigung der Lücke steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem angewendeten Kontrollmaßstab. D e r Kontrollmaßstab sowie der Maßstab zur Bestimmung der Rechtsfolgen ergeben sich letztlich aus dem von der Rechtsprechung zugrunde gelegten rechtlichen Modellvertrag. Eine Ableitung der Regelung aus dem Parteiwillen scheidet schon deshalb aus, weil die Parteien gerade eine andere - nämlich die unwirksame Regelung - ausdrücklich vereinbart haben. 2 6 7 Soll damit ein gemeinsamer rechtstheoretischer Ansatzpunkt der konkretisierenden und der kontrollierenden Pflichtbegründung aufgezeigt werden, so muß dies natürlich vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Funktion beider Instrumente erfolgen. Auf die Gefahr einer Vermischung konkretisierender und ersetzender Pflichtbegründung in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung ist bereits hingewiesen worden. 2 6 8 Gelingt es jedoch, ein einheitliches Vertragsmodell zu entwickeln, können die jeweiligen Besonderheiten der ergänzenden und der korrigierenden Pflichtbegründung von diesem Ansatzpunkt aus präzisiert werden.
§3 Zu den rechtstheoretischen der judiziellen Entwicklung von
Grundlagen Nebenpflichten
»Bei uns ist der Gedanke durchaus alltäglich, ein Rechtsprinzip »schlummere« zuweilen auf dem Grunde der positiven Regeln und brauche nur »entdeckt« zu werden, um dann auf eigene Faust als positiv-rechtliche Wahrheit ans Werk zu gehen. Er erklärt sich aus den Schwächen des Kodifikationszeitalters.« Esser, Grundsatz und Norm (1974), S. 2.
I. Gebot der rationalen Entscheidungsfindung Die Begründung der Nebenpflichten des Arbeitgebers folgt keiner besonderen »arbeitsrechtlichen Methodik« 2 6 9 . Sie ist in die zivilrechtliche Problematik eingebettet. D e r Gesetzgeber hat mit den Generalklauseln der §§ 157, 242 bzw. § 2 4 1 Abs. 2 B G B Regelungsbefugnisse an die Rechtsprechung »delegiert«. 2 7 0 Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht (1992), S. 341. 268 p r e i s ) Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht (1993), S. 153 zur »Auslegung als kaschierte Inhaltskontrolle«; Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht (1992), S. 170, der allerdings ein gemeinsames Prinzip von konkretisierender und kontrollierender Nebenpflichtbegründung ablehnt aaO., S. 21 ff. 269 Reuter, Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht, RdA 1985, S. 321. 2 7 0 Zur sogenannten »Delegationstheorie« Schlachter, Die Auslegungsmethoden im Arbeitsrecht (1987), S. 95 ff. 267
48 1. Kapitel: Grundlagen judizieller Begründung von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
D a m i t ist das P r o b l e m der Entscheidungsfindung jedoch nur beschrieben. 2 7 1 Entscheidend ist, in welchen G r e n z e n und von welchem vertragstheoretischen Ausgangspunkt
die Rechtsprechung
das R e c h t
aufgrund
dieser
Delega-
tionsbefugnis fortbilden soll. Generalklauseln dürfen nicht zu Einfallstoren willkürlicher Eigenwertungen des Gerichts werden. D i e Rechtsprechung hat bei der Nebenpflichtbegründung den gesetzgeberischen Wertungsrahmen sinngemäß fortzuführen. 2 7 2 Sie hat die Generalklauseln anhand gesetzlicher Wertungen, Prinzipien, Regeln der Verkehrssitte und letztlich ihrer nicht zu vermeidenden Eigenbeurteilungen zu konkretisieren. 2 7 3 D a die Rechtsprechung wegen der funktionsnotwendigen 2 7 4 »extrem vagen« 2 7 5 Voraussetzungen der Generalklausel nicht unter ein vorgegebenes K o n d i t i o n a l p r o g r a m m subsumieren kann 2 7 6 und somit zwangsläufig selbst produktiv tätig ist 2 7 7 , muß sich die Legitimation aus der Entscheidungsbegründung selbst ableiten lassen. Daraus ergibt sich ein methodisches »Paradox«: D i e Rechtsprechung m u ß sich selbst »die H ä n d e binden«. 2 7 8 D a es gesetzlich nicht geregelt ist, daß der Arbeitgeber im innerbetrieblichen Schadensausgleich einen Teil des Schadens selbst tragen 2 7 9 oder daß er den A r b e i t n e h m e r aufgrund eines allgemeinen Beschäftigungsanspruchs tatsächlich an seinem Arbeitsplatz beschäftigen 2 8 0 muß, haben sich diese Pflichten aus der judiziellen Begründung selbst zu rechtfertigen. D i e judizielle Pflichtenbegründung m u ß sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher H i n s i c h t nachvollziehbar sein. Z w a r sind
271 Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln (1971), S. 107 zur Schwierigkeit, trotz dieser Delegation Rationalitätsanforderungen zu genügen. 272 So Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, Schriften Recht und Staat 193/194 (1956), S. 22. 273 Bydlinsky, Möglichkeiten und Grenzen der Präzisierung von Generalklauseln, in: Okko Behrens (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft (1989), S. 189 (203). 274 Nur wegen dieser textlichen Offenheit der Generalklausel können die von Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln (1971), S. 115 ff. herausgearbeiteten Funktionen erfüllt werden. 275 Staudinger-Schmidt § 242 BGB Rz. 176. 276 Alternativkommentar zum Bürgerlichen Recht- Teubner (1980), §242 Rz. 6 zur damit verbundenen Unbestimmtheit von Generalklauseln. 277 Vgl. zum Ansatz, richterliche Entscheidungen stets als produktive Rechtssetzungen zu verstehen: Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S.231; Müller, Richterrecht (1986), S. 51, wonach erst die Umsetzung des Gesetzestextes in der Entscheidung »Normativität« schaffe. Die Ansicht, daß Richterrecht nur Anwendung und Umsetzung vorgegebener Wertungen sei, führe zu einem »Kryptopositivismus« (aaO., S. 32). Vgl. auch Esser, Grundsatz und Norm (1974), S. 257, wonach erst der Wegfall der Projektionsmöglichkeit auf eine Rechtsidee dazu führe, daß die argumentative Verantwortung der Rechtsprechung wachse. 278 Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit (1997), S. 169. 279 Vgl. die Grundsatzentscheidung des BAG, GS Beschluß v. 27.9.1994 - GS 1/89 - AP Nr. 103 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 280 Vgl. die Grundsatzentscheidung BAG, Urt. v. 10.11.1955 - 2 AZR 591/54 - AP Nr. 2 zu §611 BGB Beschäftigungspflicht.
§ 3: Zu den recktstheoretischen
Grundlagen
49
die Generalklauseln durch Präjudizien konkretisiert. 281 Präjudizien haben jedoch nur einen Rechtserkenntnischarakter 282 , für den zwar eine Richtigkeitsvermutung, aber kein originär verbindlicher Geltungsgrund spricht. 283 Die Weiterbildung des Rechts anhand von Präjudizien hat einen rechtlichen »systematischen Test« 284 , eine »Richtigkeitsprüfung« 285 anhand des geltenden Rechts zu bestehen. Die Arbeitsrichterin ist - in Abwandlung des bekannten Zitats von Gamilischeg 2 8 6 - keine Herrin des Verfahrens, die soziale Ungleichgewichtslagen im Arbeitsverhältnis 287 ohne eine entsprechende Legitimationsgrundlage 281 Bydlinsky, Möglichkeiten und Grenzen der Präzisierung von Generalklauseln, in: Okko Behrens (Hrsg.) Rechtsdogmatik und praktische Vernunft (1989), S. 189 (191). 282 Zur »Formulierungskontroverse« um den Rechtsquellenbegriff Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (1997), S.472; zum Rechtserkenntnischarakter Richardi, Richterrecht als Rechtsquelle, in: Lieb (Hrsg.) Festschrift für Zöllner (1998), S. 935 (945); Larenz, Methodenlehre (1991), S. 432. 283 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 431. 284 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff (1991), S. 584; derselbe, Möglichkeiten und Grenzen der Präzisierung von Generalklauseln, in: Okko Behrens (Hrsg.) Rechtsdogmatik und praktische Vernunft (1989), S. 189 (211). Auch nach einem fallrechtsbezogenen Ansatz muß die bindende Entscheidung »richtig« sein, um ein weiteres Gericht zu binden. Dazu Fikentscber, Methoden des Rechts, Band IV (1977), S. 244 ff., nach dessen Ansicht eine Bindungswirkung erst nach Uberprüfung der bestehenden Fallnormen eintreten kann. Allerdings geht Fikentscber davon aus, daß der Richter als der verfassungsmäßig Zuständige die Gerechtigkeitsfrage selbst zu beantworten habe, aaO., S. 316. 285 Richardi, Richterrecht als Rechtsquelle, in: Lieb (Hrsg.) Festschrift für Zöllner (1998), S. 935 (945); Larenz, Methodenlehre (1991), 935 (948). 2 8 6 Die Grundrechte im Arbeitsrecht, AcP 164 (1964), S.385 (388) und derselbe, Die Grundrechte im Arbeitsrecht (1989), S. 29, wonach der Arbeitsrichter als »Herr des Arbeitsrechts« das soziale Machtübergewicht des Arbeitgebers ausgleichen soll. Allerdings gibt Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht (1989), S. 35, auch zu bedenken, daß nicht in allen Fällen ein »soziales Machtgefälle« gegeben sein muß. Er läßt es aber offen, wie das Gericht diese Unterlegenheit im Einzelfall feststellen soll. 2 8 7 Vgl. zur nahezu unübersehbaren Literatur über die Bedeutung richterlicher Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht Wank, Arbeitsrecht und Methode, RdA 1999, S. 130; derselbe, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (1978); Hanau, Probleme der arbeitsgerichtlichen Rechtsfortbildung, BIStSozAr 1985, S. 17; Fabricius, Arbeitsrecht und die Lehre vom Vorverständnis, in: Fabricius/Naendrup/Schwerdtner (Hrsg.) Arbeitsrecht und Methodenlehre (1980), S. 6 (46); v. Hoyningen-Huene, Die Billigkeit im Arbeitsrecht (1978), S. 114; Zöllner, Privatautonomie und Arbeitsverhältnis, AcP 176 (1976), S. 237; Müller, Gedanken zum Richterrecht, ArbuR 1977, S. 129 (133); derselbe, Richterliche Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht, JuS 1980, S. 627 (633); Scholz, Arbeitsverfassung und Richterrecht, DB 1972, S. 1771; Herschel, Gedanken zu Richterrecht und Tarifautonomie, ArbuR 1972, S. 129 (132); Mayer-Maly, Arbeitsrechtliche Rechtsfortbildung, DB 1970, S. 444; derselbe, Das Verhältnis der richterlichen Rechtsfortbildung zur arbeitsrechtlichen Gesetzgebung, RdA 1970, S. 289; Galperin, Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht (1966), S. 18. Zur politischen Wirkung arbeitsrechtlichen Richterrechts vgl. Redeker, Legitimation und Grenzen richterlicher Rechtssetzung, NJW 1972, S. 409 (415); vgl. auch Hilger, Überlegungen zum Richterrecht, in: Paulus/Diedrichsen/ Canaris (Hrsg.), Festschrift für Larenz (1973), S. 109 (112), die es bedauert, daß die öffentliche Reaktion auf Gerichtsurteile stets erst nach der Urteilsveröffentlichung folgt und das Gericht keine Möglichkeit hat, vorher eine politische Diskussion hervorzurufen. Schon aus diesem Grund
5 0 1. Kapitel: Grundlagen judizieller
Begründung
von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
korrigieren kann. Die richterliche Entscheidung muß auf das geltende Recht zurückzuführen sein 288 , wobei der Text der Generalklausel selbst keine Hilfe bei der Begründung gibt. 289 Die Generalklausel verweist auf die außerrechtlichen Maßstäbe von Treu und Glauben wie der Verkehrssitte und rezipiert und transformiert auf diese Weise soziale Normen. 2 9 0 Wird aus der rechtlichen Perspektive Bezug auf die soziale Ordnung genommen, so muß erklärt werden, was in sozialwissenschaftlicher Hinsicht unter dem betrachteten tatsächlichen Bereich zu verstehen ist. 291 Das vom Gericht zugrunde gelegte Wirklichkeitsbild der sozialen Zusammenhänge, also z.B. die Auswirkungen der Betriebsorganisation auf die Abwicklung des Arbeitsverhältnisses, muß ebenso erklärt werden wie die rechtliche Lösung. Dies gilt um so mehr, als die Rechtsprechung, wie erörtert 292 , bei der Begründung von Nebenpflichten gem. §§ 157, 242 BGB nicht an einen hypothetischen Parteiwillen anknüpfen kann, der sich aus der Nähe zum tatsächlichen psychologischen Parteiwillen legitimiert. Geht es bei der Entwicklung vertragsabsichernder Pflichten also darum, die »außervertraglichen Voraussetzungen« 293 des Vertrags zu verrechtlichen, ist deren Analyse zentral. 294 Wenn das Bundesarbeitsgericht zur Rechtfertigung des allgemeinen Beschäftigungsanspruchs ausführt, daß »das Selbstwertgefühl sowie die Achtung und Wertschätzung« 295 der Familie davon abhängen, wie die Arbeit geleistet
müsse sich das an außergesetzlichen Wertungen orientierte Richterrecht in Frage stellen lassen können. 288 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 327. Nach Müller, Richterrecht (1986), S. 47 muß die zugrunde gelegte Methode »Entscheidungstechnik und Zurechnungstechnik unter dem rechtfertigenden Anspruch der Bindung an das tatsächliche Recht« sein. Zur Bindung der Gerichte Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit (1997), S.129; Richardi, Richterrecht als Rechtsquelle, in: Lieb (Hrsg.) Festschrift für Zöllner (1998), S. 935 (940); Larenz, Methodenlehre (1991), S. 429; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (1972), S. 197 und 189; Scholz, Arbeitsverfassung und Richterrecht, DB 1972, S. 1771 (1776); Flume, Richter und Recht (1967), S. 18. 289 Staudinger-Schmidt, § 242 BGB Rz. 198. 290 Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln (1971), S. 116 ff. zusammenfassend zu der Rezeptions-, Transformations- und Delegationsfunktion der Generalklausel. 291 Unter diesem Gesichtspunkt verändert sich das Verständnis des Rechtssystems. Es besteht nicht nur in der Gesamtheit der grundlegenden normativen Wertungen, sondern bildet sich aus der normativen Erklärung sozialer Sinnzusammenhänge, vgl. Albert, Kritik der reinen Hermeneutik (1994), S. 179. Teubner, Recht als autopoietisches System (1989), S. 138 ff. sieht die Generalklausel des §242 BGB als »funktionelle Kollisionsnorm« an. Die Funktion des Rechts ist es, die unterschiedlichen Umweltsysteme Recht, Markt, Gesellschaft aufeinander abzustimmen. 292 Vgl. §2 1. I S . 34 ff. 293 Röhl, Uber außervertragliche Voraussetzungen des Vertrages, in: Kaulbach (Hrsg.) Festschrift Schelsky (1978), S. 435. 294 Alternativkommentar zum Bürgerlichen Recht- Teubner (1980), § 242 Rz. 17. 295 BAG, Urt. v. 10.11.1955 - 2 AZR 591/54 - AP N r . 2 zu §611 BGB Beschäftigungspflicht.
§ 3: Zu den rechtstheoretischen
Grundlagen
51
wird, so muß diese letztlich anthropologische Annahme belegt werden. Die »Realdaten« dürfen nicht »regellos« behandelt werden. 296 Der Hinweis auf die Wesensart des Arbeitsvertrags, wie ihn z.B. Dersch zur »Neu«begründung einer allgemeinen Fürsorgepflicht gegeben hat297, ist so lange unzureichend, bis nicht erklärt und belegt ist, worin die aus rechtlicher Sicht zu würdigende tatsächliche Besonderheit im einzelnen besteht. Erst wenn die zugrundegelegten Annahmen über die tatsächlichen Umstände erklärt werden, wird verhindert, daß aus dem Wirklichkeitsbild ohne weiteres das gewünschte rechtliche Bild gewonnen werden kann. Hönn29S hat seiner rechtsgebietsübergreifenden Studie gestörter Vertragsparität einen in dieser Weise funktionellen rechtstheoretischen Ansatz zugrunde gelegt. Seine Arbeit zeigt, daß eine funktionelle Erfassung von Recht die »Wechselwirkungen« 299 zwischen Sein und Sollen besser erklären kann, als eine, die dem juristischen Zweckdenken verhaftet bleibt. Eine funktionelle Betrachtungsweise setzt die Frage voraus, unter welchen tatsächlichen Bedingungen Rechtsregeln wirken und wie die Rechtsordnung Einfluß auf diese Bedingungen nehmen kann. 300 Sieht man das Problem vertraglicher Imparität im Uberschneidungsfeld zwischen Recht und Markt, verlangt die rechtliche Ubersetzung der ökonomischen Problematik zunächst das Verständnis der ökonomischen Bedingungen. Dabei verlieren Rechtsprinzipien nicht ihre entscheidende Bedeutung als Systemkomponenten. Die maßgebliche Perspektive auf die soziale Ordnung gibt der rechtliche Rahmen vor, welcher der Rechtsprechung letztlich zur Verfügung steht.
Müller, Strukturierende Rechtslehre (1994), S. 237. Entwicklungslinien der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers im Arbeitsverhältnis, RdA 1958, S. 366 und siehe dazu § 1 III, S. 29. 298 Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), S. 71 ff. 299 Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), S. 72. 300 Vgl. dagegen die untergeordnete Rolle der Sozialwissenschaften bei Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 464. Danach können Sozialwissenschaften nur dazu dienen, empirische Häufigkeitstypen zu ermitteln, z.B. bei der Feststellung von Verkehrssitten als regelmäßig zu erwartenden Verhaltensweisen. Sie werden aber nicht dazu gebraucht, soziale Ordnungsgefüge zu erklären. In der von ihm vertretenen rechtlichen Typenlehre beruht die rechtliche Begriffsbildung ausschließlich auf einer rechtlich vorgegebenen Realitätswahrnehmung (aaO., S. 472): »Der Erkenntniswert des Typus als einer Denkform liegt darin, daß er, im Gegensatz zum abstrakten Begriff, die Fülle der in ihm beschlossenen Einzelzüge gerade in ihrer sinnvollen Verbindung deutlich macht und festzuhalten erlaubt. In der Fülle dieser Einzelzüge spiegelt sich die »Natur der Sache«. Denn sie sind nichts anderes als die besonderen rechtlichen Aspekte von in der Realität immer wieder verwirklichten konkreten zwischenmenschlichen Beziehungen.« 296
297
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judizieller
Begründung
von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
II. Rechtsfortbildung anhand von Prinzipien When two sides disagree, as often happens, about a proposition »of law«, what are they disagreeing about and how shall we decide which side is right? Why do we call what »the law« says a matter of legal »obligation«? Is obligation here just a term of art, meaning only what the law says ? O r does legal obligation have something to do with moral obligation? Can we say that we have, at principle at least, the same reason for meeting our legal obligations that we have for meeting our moral obligations? These are not puzzles for the cupboard, to be taken down on rain days for fun. These are sources of continuing embarrassment, and they nag at our attention.« Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 14.
Ein Modell, das der Rechtsprechung die Lösung von ungeregelten Fällen ermöglicht, ohne ihr ein rechtlich nicht mehr überprüfbares Ermessen einzuräumen, gründet sich auf die Argumentation mit Rechtsprinzipien. 301 Es sind verschiedene Modelle entwickelt worden, in denen die Rechtsprechung ihre Entscheidungen durch Rechtsprinzipien legitimieren kann. 302 Die Modelle können zwar nicht unter einer einheitlichen Prinzipientheorie zusammengefaßt werden, da sie unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen und von unterschiedlichen rechtstheoretischen Standpunkten ausgehen. Sie haben aber einen gemeinsamen Ansatzpunkt: In den ungeregelten Fällen kann die Rechtsprechung ihre Entscheidung deshalb am Recht ausrichten, weil Prinzipien als Argumentationslinien dem geltenden Recht unterliegen. 1. Prinzipien als innere
Systemkomponenten
Larenz unterscheidet hinsichtlich des der Rechtsprechung zur Verfügung stehenden Wertungsrahmens zwischen einem äußeren und einem inneren System. 303 Während das äußere System aus den Begriffen und Tatbeständen des B G B bestehe, beruhe das innere System auf dem Zusammenspiel von Rechtsprinzipien. Die Rechtsprinzipien müssen als Wertungsgrundlagen nicht selbst im Gesetz positiviert sein.304 Die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers sei ein solches »rechtsethisches Prinzip«. 305 Sie rechtfertige sich »vermöge ihrer eigenen 301 Zur Rolle von Rechtsprinzipien als Leitlinien bei der Bestimmung von Generalklauseln Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 329. 302 Dworkin, Taking Rights Seriously (1997); Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), derselbe, Richtiges Recht (1979); Alexy, Theorie der Grundrechte (1989); Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz (1983); Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems (1990). 303 Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 437 ff. 304 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 479 f., der zwischen »offenen Prinzipien« und »rechtssatzförmigen Prinzipien« unterscheidet. Nur die »rechtssatzförmigen Prinzipien« sind ausdrücklich positiviert. 305 Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 422.
$ J: Zu den rechtstheoretischen
Grundlagen
53
Überzeugungskraft«. 306 Larenz geht davon aus, daß das Zusammenspiel der Prinzipien zu einer Stimmigkeit führt, die sich in einer inneren Rangordnung ausdrückt. 307 Rechtsprinzipien können danach verstanden werden als »... leitende Gedanken einer (möglichen oder bestehenden) rechtlichen Regelung, die selbst noch keine der Anwendung fähigen Regeln sind, aber in solche umgesetzt werden können. Sie weisen daher bereits einen zu einer Regelung hinführenden gedanklichen Gehalt auf, sind »materiale« Prinzipien, entbehren aber noch des rechtssatzförmigen Charakters, d.h. der Verknüpfung eines näher umrissenen »Tatbestandes« mit einer bestimmten »Rechtsfolge«. Vielmehr geben sie erst die Richtung an, in der die zu findende Regel gelegen ist.« 3 0 8
Nach Larenz überschreitet die Rechtsprechung ihre Kompetenz nur dann, wenn sie eine politische und keine rechtliche Entscheidung mehr trifft. 309 Worin jedoch das Kriterium für eine Rechtsentscheidung liegt, wird offen gelassen. Ohne eine Antwort auf die Frage nach Erkennungsmerkmalen von Rechtsprinzipien ist der Wertungsrahmen zu unbestimmt. Die Gefahr liegt in einer Scheinargumentation, nämlich der des Verweises auf die sich selbst erklärenden rechtsethischen Prinzipien, die auf der anderen Seite Anknüpfungspunkte von richterlicher Rechtsfortbildung und Auslegung sein sollen. Die von Larenz angesprochene Trennung von Politik und Recht ist mit Hilfe seiner Prinzipientheorie nicht möglich. 2. Prinzipien, Regeln und politische
Zielsetzungen
Ein präziseres Prinzipienmodell hat Dworkin™ als Kritik des von H.L.A. Hartiu vertretenen Rechtspositivismus entwickelt. Danach müssen Prinzipien Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 474. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S.476. 308 Larenz, Richtiges Recht (1979), S.23. Diese Definition von Larenz weist Ähnlichkeiten mit der von Dworkin verwendeten auf. Vgl. Dworkin, Taking Rights Seriously (1997), S. 26, »A principle like ..., states a reason, that argues in one direction, but does not nessitate a particular decision.« Im Folgenden wird sich jedoch zeigen, daß Dworkins Prinzipienbegriff ein methodisch genaueres Vorgehen ermöglicht. 309 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 428. 3 1 0 Taking Rights Seriously (1997). 3 1 1 The Concept O f Law (1997). Danach sind zunächst nur solche Wertungen als »Recht« zuzulassen, die darauf zurückzuführen sind, daß der Gesetzgeber sie im Normsetzungsverfahren autorisiert hat (aaO., S. 94). Hart differenziert nach zwei Normarten. Die primären Regeln ordnen Rechtspositionen zu, während die sekundären Regeln darüber entscheiden, wer die Normsetzung vornehmen kann (aaO., S. 94). O b sich die Rechtsprechung bei ihrer Entscheidung an einer dem Recht zugehörigen Wertung orientiert hat, läßt sich seiner Ansicht nach einem Test entnehmen, der feststellt, ob sich die Wertung aus einer primären Regel ergibt, der sogenannten rule of recognition. Dieser Test beseitigt nach Hart die Zweifel daran, ob es sich um eine Rechtsentscheidung handelt; vgl. aaO., S. 94: »The simplest form of remedy for the uncertainty of the regime of primary rules is the introduction of what we shall call a »rule of recognition«. This will specify some feature or features possession of which by a sug306 307
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Grundlagen
judizieller
Begründung
von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
zwar nicht ausdrücklich positiviert sein 312 , aber im Gegensatz zu politischen Entscheidungen Kohärenzmaßstäben genügen 313 und somit zum einen stimmig mit den geltenden Rechtsregeln und bestehenden Rechtsprinzipien sein. Zum anderen müssen auf ihrer Grundlage in Anwendung des formellen Gleichheitssatzes Kriterien zu entwickeln sein, die dem Kläger in vergleichbaren Fällen einen Anspruch gewähren, so daß die Entscheidungen in ihrer Argumentation eine über den Einzelfall hinausgehende Regelung enthalten müssen (»articulate consistency«). 314 Politische Entscheidungen, die von der Rechtsprechung nicht getroffen werden können 315 , müssen diesen Anforderungen nicht genügen. Sie sind nicht darauf gerichtet, Individuen oder bestimmten Gruppen Rechte einzuräumen, sondern zielen auf allgemeinwohlbezogene Maßnahmen, deren Durchführung unter einem bestimmten politischen Zweck als sachdienlich erscheint. Dworkin nennt als Beispiel für eine politische Entscheidung die Subventionierung eines bestimmten Flugzeugherstellers, um verteidigungspolitische Zwecke zu erreichen. 316 Aus der politischen Entscheidung folgt nicht, daß alle Unternehmen dieser Branche subventioniert werden müssen. Prinzipien sind im Gegensatz zu politischen Entscheidungen Gerechtigkeitsmaßstäbe, anhand derer die Rechtsprechung ein individuelles Recht oder ein Recht einer Gruppe entwickelt. 317 Erst diese Differenzierung ermöglicht es, die Entscheidungsfindung des Gerichts zu strukturieren. Soll die Argumentation des Gerichts nachvollziehbar sein, muß sie sich stringent auf die zugrunde gelegten Prinzipien beziehen. Für diesen Zweck ist es sinnvoll, Prinzipien von Regeln hinsichtlich ihres Kollisionsverhaltens abzugrenzen. 318 Regeln haben nach Dworkin einen »Algested rule is taken as a conclusive affirmative indication that it is a rule of the group to be supported by the social pressure it exerts. The existence of such a rule of recognition may take any of a huge variety of forms, simple or complex. ... In a developed legal system the rules of recognition are of course more complex; instead of identifying rules exclusively by reference to a text or list they do so by reference to some general characteristics possessed by the primary rules. This may be the fact of having been enacted by a specific body, or their long customary practice, or their relation to judicial decisions.« Hart nimmt an, daß die Rechtsprechung bei Fehlen einer gesetzgeberischen Wertung selbst Recht setzen kann, wobei ihr ein freies Ermessen zusteht, das moralischer Kritik unterliegt (aaO., Postscript, S. 272.). 312 Dworkin, Taking Rights Seriously (1997), S. 43, vertritt, daß die Rechtsqualität von Prinzipien im Gegensatz zu dem von Hart entwickelten Modell nicht durch eine Erkenntnisregel festgestellt werden kann. 313 Dworkin, Taking Rights Seriously (1997), S. 116. 314 Dworkin, Taking Rights Seriously (1997), S. 88. 315 Dworkin, Taking Rights Seriously (1997), S. 84 ff., wonach allgemeinwohlbezogene Entscheidungen demokratisch legimitiert sein müssen. 316 Dworkin, Taking Rights Seriously (1997), S. 82. 317 Dworkin, Taking Rights Seriously (1997), S. 54 ff und S. 146. 318 Dworkin, Taking Rights Seriously (1997), S. 39. Das unterschiedliche Kollisionsverhalten von Regeln und Prinzipien nimmt auch Alexy, Theorie der Grundrechte (1986), S. 71 ff. zum Ausgangspunkt seiner Abwägungsmethodik. Alexy versteht Prinzipien abweichend von
§ 3: Zu den recbtstheoretischen
Grundlagen
55
les- oder Nichtscharakter«, das heißt, sie können entweder gültig oder ungültig sein. 319 Muß entschieden werden, welche von mehreren in Betracht kommenden, kollidierenden Regeln angewendet werden soll, kann immer nur eine zur Geltung kommen: »If two rules conflict, one of them cannot be a valid rule. The decision as to which is valid, and which must he abandoned or recast, must be made by appealing to considerations beyond the rules themselves. A legal system might regulate such conflicts by other rules, which prefer the rule enacted by the higher authority, or rule enacted later, or the more specific rule, or something of that sort.« 3 2 0
U m eine regelbezogene Argumentation handelt es sich z.B., wenn das Gericht entscheiden muß, ob Arbeitgeber und Auszubildende eine wirksame Vereinbarung über die Rückzahlung der vom Arbeitgeber vorgeschossenen Ausbildungskosten treffen können. Die Entscheidung richtet sich nach § 5 Abs. 2 BBiG als einer Regel, nach der eine Vereinbarung nichtig ist, in der sich der auszubildende Arbeitnehmer verpflichtet, eine Entschädigung für die Berufsausbildung zu zahlen. Die Rechtsprechung hat in diesem Fall die Anwendbarkeit der N o r m zu überprüfen. Im Geltungsfalle bestimmt sie die vorgegebene Rechtsfolge der Nichtigkeit. Die Kollision zweier Prinzipien ist anders zu lösen. Wenn die Regel der Rechtsprechung eine Entscheidung über ihre Gültigkeit eindeutig vorgibt, so legt das Prinzip nach Dworkin die Argumentationsrichtung fest. 321 Eine Entscheidung im Kollisionsfall zweier Prinzipien bestimmt sich erst in einer Abwägung, in der beide Prinzipien nach ihrem relativen Bedeutungsgehalt oder Gewicht im vorliegenden Fall zur Anwendung kommen:
Dworkin als Optimierungsgebote. Danach soll ein Prinzip in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht in einem möglichst hohen Maß realisiert werden Alexy, aaO., S. 75; zu diesem Ansatz vgl. auch Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems (1990), S. 238 ff. Im Gegensatz zu Dworkin geht es Alexy nicht um den Entwurf einer eigenen Rechtstheorie. Seine Prinzipientheorie soll die Grundlage einer klar strukturierten Grundrechtsdogmatik bilden, vgl. Alexy, aaO., S. 18 f. 319 Taking Rights Seriously (1997), S. 24: »The difference between legal principles and legal rules is a logical distinction. Both sets of standards point to particular decisions about legal obligation in particular circumstances, but they differ in the character of the direction they give. Rules are applicable in an all-or-nothing fashion. If the facts a rule stipulates are given, then either the rule is valid, in which case the answer it supplies must be accepted, or it is not, in which case it contributes nothing to the decision.« Als Beispiel einer Regel führt Alexy, Theorie der Grundrechte (1986), S. 76 Fußnote 25 § 5 Abs. 1 StVO an. Diese N o r m sei eine Regel, da sie eindeutig festlege, daß links überholt werden müsse. Sie könne entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden. 320 Taking Rights Seriously (1997), S. 27. 321 Dworkin, Taking Rights Seriously (1997), S. 26.
5 6 1. Kapitel: Grundlagen judizieller
Begründung von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
»Principles have a dimension that rules do not - the dimension of weight or importance. When principles intersect... one who must resolve the conflict has to take into account the relative weight of each.« 322
Eine derartige Abwägungsentscheidung hatte das Bundesarbeitsgericht im Pilotenfall 323 zu treffen. Die Frage, ob die Arbeitgeberin mit dem Arbeitnehmer wirksam vereinbaren kann, daß sich der Arbeitnehmer entweder drei Jahre an sie bindet oder vorausgeleistete Schulungskosten in Höhe von 60.000 DM zurückzahlen muß, läßt sich nicht aufgrund einer Regel beantworten. Es muß überlegt werden, ob der Vertragsfreiheit der Arbeitgeberin Vorrang zu geben ist oder ob die Erwartung des Arbeitnehmers, den Arbeitsplatz wechseln zu können, berechtigt und geschützt ist. Es handelt sich um eine Kollision von Rechtspositionen, die mangels eines eindeutigen Normprogramms nur argumentativ aufgelöst werden kann. 3. Fehlen einer kardinalen
Abwägungsordnung
Die Gewichtung von Prinzipien ist ein für das Zivilrecht unsicheres Gelände. Es ist unklar, was sich unter dem Deckmantel einer Interessenabwägung im Zivilrecht verbirgt. 324 Hubmann hat als einer der ersten versucht, eine bestimmte Abwägungsordnung zu entwickeln. 325 Nach seinem Modell wird die Abwägung wesentlich dadurch bestimmt, daß in einem ersten Prüfungsschritt untersucht wird, ob die geltend gemachten Interessen überhaupt berechtigt und schutzwürdig sind. Danach kann nur ein von der Rechtsordnung anerkanntes Interesse von der Rechtsprechung abgewogen werden. 326 Hubmann trennt zwischen der Frage der grundsätzlichen Berechtigung und der späteren Abwägung. Dieser Prüfungsschritt hat deshalb eine besondere Bedeutung, weil Hubmann von einer vorgegebenen Wertehierarchie ausgeht: Dworkin, Taking Rights Seriously (1997), S. 26. Diesem Beispiel liegt die Entscheidung des BAG, Urt. v. 16.3.1994 - 5 AZR 339/92 AP Nr. 18 zu §611 BGB Ausbildungsbeihilfe zugrunde. Vgl. zur Besprechung der Entscheidung §111. 324 Zur Methode der Interessenabwägung vgl.: Leisner, Der Abwägungsstaat (1997) und derselbe, »Abwägung überall« - Gefahr für den Rechtsstaat?, NJW 1997, S. 636; Sieckmann, Zur Begründung von Abwägungsurteilen, Rechtstheorie 1995, S.45; derselbe, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems (1990), S. 238; Enderlein, Abwägung in Recht und Moral (1992), S. 67; Alexy, Theorie der Grundrechte (1986); Ladeur, »Abwägung - ein neues Rechtsparadigma?, ARSP 1983, S. 463; Struck, Interessenabwägung als Methode, in: Dubischar (Hrsg.) Josef Esser zum 65. Geburtstag (1975), S. 17; Kraft, Interessenabwägung und gute Sitten im Wettbewerbsrecht (1963); Hubmann, Grundsätze der Interessenabwägung, AcP 155 (1956), 85 ff.; derselbe, Die Methode der Abwägung in: Wertung und Abwägung im Recht (1977), S. 145. 325 Grundsätze der Interessenabwägung, AcP 155 (1956), S. 85 ff.; derselbe, Die Methode der Abwägung in: Wertung und Abwägung im Recht (1977), S. 145. 326 Grundsätze der Interessenabwägung, AcP 155 (1956), S. 85 (98). 322
323
§ 3: 7.U den rechtstheoretischen
57
Grundlagen
»Wie bereits erwähnt, ergibt sich die bedeutsamste Vorzugstendenz aus dem verschiedenen Wertgehalt, der den Interessen an sich, d.h. unabhängig von ihrer Stellung im konkreten Fall, innewohnt. Bevor aber der Wertunterschied festgestellt werden kann, ist es zunächst erforderlich zu prüfen, ob ein Interesse überhaupt schutzwürdig ist. O h n e Zweifel kann es dabei nicht auf die subjektive Einschätzung des Einzelnen ankommen, mag er auch vielleicht sein Interesse für noch so wichtig halten. Vielmehr ist nach einem objektiven Maßstab zu suchen.« 3 2 7 N a c h dieser W e r t e h i e r a r c h i e ist d e m b e r e c h t i g t e n I n t e r e s s e ein b e s t i m m t e s G e w i c h t u n d d a m i t ein Z a h l e n w e r t 3 2 8
z u z u e r k e n n e n , der die A b w ä g u n g
be-
stimmt. D i e Skepsis der Literatur329 gegenüber der v o n H u b m a n n vorgeschlag e n e n m a t h e m a t i s c h e n G e w i c h t u n g ist b e g r ü n d e t . D e r V e r w e i s a u f e i n b e z i f f e r bares
Eigengewicht
eines
rechtlich
anzuerkennenden
Interesses
hebt
den
m e t h o d i s c h e n L e g i t i m a t i o n s d r u c k a u f . D i e A b l e i t u n g des G e w i c h t s aus e i n e r kardinalen R a n g o r d n u n g läßt die A b w ä g u n g zu einer v o m R i c h t e r scheinbar unbeeinflußbaren und sich hinter seinem R ü c k e n ergebenden Addition werd e n . 3 3 0 D i e Z u o r d n u n g d e r W e r t e i s t j e d o c h das H a u p t p r o b l e m d e r A b w ä g u n g , d a es k e i n e u n a b h ä n g i g v o m E i n z e l f a l l b e s t e h e n d e k a r d i n a l e
Werteordnung
gibt.331 M i t d e m V e r l u s t e i n e r G e r e c h t i g k e i t s v o r s t e l l u n g , d i e s i c h als s e l b s t v o l l z i e h e n d e R a t i o n a l i t ä t 3 3 2 p r ä s e n t i e r t , m u ß a u c h d i e E r w a r t u n g f a l l e n , in d e r I n t e r e s s e n a b w ä g u n g einen einfachen G e r e c h t i g k e i t s m e c h a n i s m u s z u finden. A n die Stelle einer v o r g e s c h o b e n e n A b w ä g u n g s m e c h a n i k tritt die
nachvollziehbare
327 Hubmann, Grundsätze der Interessenabwägung, AcP 155 (1956), S. 85 (97). Ebenso geht Kraft, Interessenabwägung und gute Sitten im Wettbewerbsrecht (1963), S. 78 von einer bestehenden Rangordnung der Werte aus. 328 Hubmann, Die Methode der Abwägung in: Wertung und Abwägung im Recht (1977), S. 145 (159): »Bei Entweder-Oder-Entscheidungen, bei denen das Uberwiegen einer Reihe von Gesichtspunkten festgestellt werden muß, ist eine Umwertung in Zahlen weniger dringlich, obwohl sie auch hier zweckmäßig wäre. Werden bei einer Argumentation mehrere Gründe berücksichtigt, die für eine bestimmte Entscheidung sprechen, so wird ihr Gewicht gedanklich zusammengezählt.« Die Schwierigkeit, daß die Bewertung nicht einer festen Ordnungrangfolge entsprechen muß, sieht Hubmann, aaO., S. 168 hat aber dafür keine andere Problemlösung als das Rechtsgefühl: »Auch die rationale Abwägung hat nämlich ihre Fehlerquellen. Sie liegen nicht in den mathematischen Regeln, sondern in den Einzelwertungen, die sie voraussetzen und die falsch sein können. ... daher sollte das gewonnene Ergebnis auf Grund einer gefühlsmäßigen Gesamtschau überprüft werden.« 329 Struck, Interessenabwägung als Methode, in: Dubischar (Hrsg.) Josef Esser zum 65. Geburtstag (1975), S. 17; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S.404 Fußnote 93, der sich gegen die Methode von Hubmann wendet, den abzuwägenden Gütern eine feste mathematische Größe zuzuordnen. Vgl. ebenso Sieckmann, Zur Begründung von Abwägungsurteilen, Rechtstheorie 1995, S. 45 (47 Fußnote 11), wonach der Erfüllungsgrad des abzuwägenden Prinzips nicht rechnerisch ermittelbar sein muß. 3 3 0 Zwar haben Prinzipien auch nach Dworkin, Taking Rights Seriously (1997), S. 26 eine Gewichtung, die jedoch nicht meßbar ist. 331 Alexy, Theorie der Grundrechte (1986), S. 141. 332 Ladeur, »Abwägung« - ein neues Rechtsparadigma, ARSP 1983, S. 463 (467).
58 1. Kapitel:
Grundlagen
judizieller
Begründung
von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
Entscheidungsbegründung im Einzelfall. Die Abwägungsentscheidung, mag sie auch von der Richterin oder dem Richter intuitiv vorgefühlt worden sein, muß daher in der nachvollziehbaren Begründung rationalisiert sein. Es muß zwischen dem »psychischen Vorgang« und der Begründung des Präferenzsatzes unterschieden werden 333 und nicht, wie Hubmann334 es vorschlägt, letztlich auf das Rechtsgefühl der Richterpersönlichkeit vertraut werden, in dem sich die Rangordnung der Interessen als Ausdruck des »Kulturbewußtseins« zeige. Hierin liegt der grundlegende Unterschied zwischen der von Hubmann vorgeschlagenen Struktur und einer Methode, bei der sich der eigentliche Prinzipiengehalt und damit die Leitlinie der Entscheidung erst in der fallbezogenen Abwägung selbst bestimmt, da die Prinzipien keine abstrakte Wertrangfolge haben. 335 Es fehlt an gesetzlichen Anhaltspunkten, die darauf schließen lassen könnten, daß einem bestimmten Prinzip unabhängig vom Einzelfall stets ein Vorrang einzuräumen ist. Daher kommt es nicht auf eine abstrakte - letztlich nicht nachvollziehbare - Gewichtung an, sondern die Vorrangrelation zwischen den Prinzipien erklärt sich nur vor dem Hintergrund der einzelfallspezifischen Problemlage. 336 Im Pilotenfall bildete das Bundesarbeitsgericht die Vorrangrelation zwischen Vertragsfreiheit und zu schützender berechtigter Erwartung des Arbeitnehmers wie folgt: »Nach ständiger Rechtsprechung des BAG sind einzelvertragliche Vereinbarungen grundsätzlich zulässig, wonach Ausbildungskosten, die der Arbeitgeber aufgewendet hat, vom Arbeitnehmer zurückzuzahlen sind, wenn dieser das Arbeitsverhältnis vor Ablauf bestimmter Fristen beendet. Das gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Zahlungsverpflichtungen, die an die vom Arbeitnehmer ausgehende Kündigung anknüpfen, können gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstoßen. Die Rückzahlungspflicht muß vom Standpunkt eines verständigen Betrachters einem begründeten und zu billigenden Interesse des Arbeitgebers entsprechen. Der Arbeitnehmer muß mit der Ausbildungsmaßnahme eine angemessene Gegenleistung für die RückZahlungsverpflichtung erhalten haben.« 3 3 7
Alexy, Theorie der Grundrechte (1986), S. 144. Hubmann, Grundsätze der Interessenabwägung, AcP 155 (1956), S. 85 (133). 335 Alexy, Theorie der Grundrechte (1986), S. 138 ff. Im konkreten Fall kollidieren die Prinzipien so, daß danach »im Blick auf die Umstände des Falls eine bedingte Vorrangrelation zwischen den Prinzipien festgesetzt wird. Die Feststellung der bedingten Vorrangrelation besteht darin, daß unter Bezug auf den Fall Bedingungen angegeben werden, unter denen das eine Prinzip dem anderen vorgeht.« aaO., S. 81. Daraus folgt das von ihm entwickelte Kollisionsgesetz: »(K') Die Bedingungen, unter denen das eine Prinzip dem anderen vorgeht, bilden den Tatbestand einer Regel, die die Rechtsfolge des vorgehenden Prinzips ausspricht.« aaO., S. 84. 336 Anders dagegen Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 213 und 216, der auf eine abstrakte Gewichtung abstellen will, ohne jedoch Kriterien für das abstrakte Gewicht zu benennen. 337 BAG, Urt. v. 16.3.1994 - 5 AZR 339/92 - A P Nr. 18 zu §611 BGB Ausbildungsbeihilfe unter II. der Gründe. 333 334
§ 3: Zu den rechtstheoretischen
Grundlagen
59
Das Gericht stützt sich in dieser Entscheidung letztlich auf einen generellen Vorrang der Vertragsgerechtigkeit vor der Vertragsfreiheit, weil das Individualarbeitsrecht »- wie nicht näher erläutert werden muß - durch eine strukturelle Unterlegenheit des einzelnen Arbeitnehmers gegenüber dem einzelnen Arbeitgeber gekennzeichnet [ist], die durch kollektivrechtliche Regelungen wie TVe und Betriebsvereinbarungen nicht beseitigt wird. D i e Unterlegenheit besteht auch in Zeiten der Vollbeschäftigung. Das zeigt sich auch im vorliegenden Fall: O b w o h l Piloten gesucht wurden, wurden die Rückzahlungsklauseln nicht frei ausgehandelt, sondern von der Beklagten vorformuliert.« 3 3 8
In dieser Vorrangrelation werden jedoch nicht alle Wertungen erklärt. Es wird nicht im Einzelnen aufgeschlüsselt, woraus sich die berechtigten Erwartungen der Vertragsparteien herleiten und warum die Vertragsfreiheit im Arbeitsrecht zurückzutreten hat. Eine Antwort auf diese Fragen setzt voraus, daß im nächsten Kapitel die rechtlichen Argumentationslinien geklärt werden, die der richterlichen Entscheidung zugrunde liegen.
Zusammenfassung D e r historische Uberblick hat gezeigt, daß eine vertragstheoretische N e u b e gründung judiziell entwickelter Nebenpflichten notwendig ist. Die gegenwärtige Rechtsprechung kann aus methodischen Gründen nicht auf den Konstruktionsansatz zurückgreifen, der § 2 Abs. 2 A O G zugrundelag. Unabhängig von den nationalsozialistischen Inhalten wurde in dieser Regelung nicht das Individualinteresse, sondern das Gemeinwohl zum methodischen Ansatzpunkt der judiziellen Nebenpflichtbegründung genommen. Aber auch an den Konstruktionsansatz vor dieser Zeit kann die gegenwärtige Rechtsprechung nicht anknüpfen. In der Zeit vom Erlaß des B G B bis zum Erlaß des A O G im Jahre 1934 nahmen die Rechtsprechung und die überwiegende Literatur grundsätzlich keine allgemeine Fürsorgepflicht an, die über den Bereich der in § 618 B G B geregelten gesetzlichen Fürsorgepflicht hinausging. In Einzelfällen begründete die Rechtsprechung Nebenpflichten des Arbeitgebers im Wege der Auslegung des Vertrags gem. §§ 157, 242 B G B . Die Analyse der Entscheidungen zeigt den Schwachpunkt dieses Begründungswegs. Indem die Rechtsprechung Pflichten des Arbeitgebers nur über die Momentaufnahme der Einigung rechtfertigte, überdehnte sie ihr einigungsbezogenes Modell regelmäßig. Gerade gegen diese verkürzte Sichtweise wendete sich v. Gierke in seiner Kritik, die den Ansatzpunkt der relational contracts theory schon vorwegnimmt und das Arbeitsverhältnis aus seiner sozialen Kontextbezogenheit heraus versteht. Die Besonder3 3 8 B A G , Urt. v. 16.3.1994 - 5 A Z R 339/92 - AP Nr. 18 zu § 611 B G B Ausbildungsbeihilfe unter II. 1. dd) der Gründe.
60
1. Kapitel: Grundlagen judizieller Begründung
von Nebenpflichten
des
Arbeitgebers
heit seiner Kritik liegt darin, daß der Vertrag und die sich aus ihm ergebenden Pflichten nicht nur auf den Fluchtpunkt der Einigung bezogen werden, sondern Vertragsrecht als Absicherung der tatsächlichen Bedingungen der Vertragsdurchführung angesehen wird und damit einen funktionalen Ansatzpunkt erhält. Die Rechtsprechung und Literatur nach 1945 übernahmen die Begrifflichkeit der noch unter dem Einfluß des A O G geprägten allgemeinen Fürsorgepflicht, ohne jedoch die vertragstheoretische Grundlage dabei näher als mit einem Hinweis auf § 242 B G B zu begründen. Das arbeitsrechtliche Schutzprinzip, das an die Stelle des § 2 Abs. 2 A O G treten sollte, wurde ohne Anbindung an gesetzliche Regelungen oder Rechtsprinzipien entwickelt. Die gegenwärtige Rechtsprechung greift auf zwei qualitativ verschiedene Arten in den Vertrag ein. Zum einen konkretisiert sie den Vertrag, zum anderen begründet sie im Wege der Inhaltskontrolle Pflichten gegen den erklärten Parteiwillen. Beiden Arten liegt - trotz unterschiedlicher Zielrichtung und unterschiedlicher Voraussetzungen - ein normatives Vertragsmodell zugrunde. Die vertragskonkretisierenden Pflichten entwickelt die Rechtsprechung gem. §§ 157, 242 bzw. § 241 Abs. 2 B G B nach einem normativen Regelungsplan. Die von der traditionellen Dogmatik verwendete Figur des hypothetischen Parteiwillens oder des hypothetischen Regelungsplans sind keine geeigneten Begründungshilfen. Die judiziell entwickelte Pflicht legitimiert sich nicht aus dem Parteiwillen, sondern ausschließlich aus dem normativen Konzept eines »gerechten« Vertrags, das sich erst aus der Auflösung der Prinzipienkollision ergibt. Dieses Konzept liegt ebenso der Inhaltskontrolle zugrunde, die eingreift, wenn der Vertrag als Regelungsmechanismus insgesamt versagt. Die rechtliche F u n k tion des Vertrags richtet sich gerade nach dem normativ zugrunde gelegten Konzept. D a die Rechtsprechung bei der Entwicklung von Nebenpflichten in den wenigsten Fällen auf positiv geregelte Wertungen zurückgreifen kann, muß sich das normative Vertragsmodell anhand einer prinzipiengeleiteten Argumentation entwickeln lassen. Die richterlichen Entscheidungen müssen sich aus ihrer Begründung unter dem Geltungsanspruch des Rechts bzw. der maßgeblichen Rechtsprinzipien legitimieren. Fehlen positivierte Regelungen, hat sich die Rechtsprechung bei der Pflichtenbegründung an Rechtsprinzipien zu orientieren, die den Eigenbezug des Rechtssystems sichern. Unter Rechtssystem ist keine sich selbst erklärende systemische Rationalität zu verstehen, die unabhängig von anderen Systemen wie dem Wirtschaftssystem besteht und funktioniert. Nach diesem Systemverständnis setzt die Argumentation mit Rechtsprinzipien das Verständnis ihrer tatsächlichen Funktionsbedingungen voraus, die ebenso erklärt werden müssen. Politische Entscheidungen kann die Rechsprechung ihrer Funktion nach nicht treffen. Im Gegensatz zu ihnen müssen Rechtsprinzipien Kohärenzmaßstäben genügen. Aufgrund eines Rechtsprin-
5
7.U den rechtstheoretischen
Grundlagen
61
zips muß in Anwendung des formellen Gleichheitssatzes einem Individuum oder einer Gruppe ein bestimmtes Recht zugeordnet werden können. Politische Entscheidungen orientieren sich dagegen an reinen Zweckmäßigkeitsüberlegungen, wie eine bestimmte auf das Allgemeinwohl bezogene Zielvorstellung verwirklicht werden kann. Diese Erwägungen muß der Gesetzgeber vornehmen. Bei der judiziellen Pflichtbegründung steht die Rechtsprechung vor dem Problem, eine Prinzipienkollision argumentativ aufzulösen. Mangels einer kardinalen Werteordnung von Rechtsprinzipien muß sie für den Einzelfall eine Vorrangrelation aufstellen, in der begründet wird, warum ein bestimmtes Prinzip bezüglich des gegebenen Sachverhalts vor einem anderen zurücktreten muß.
2.
Kapitel
Die zugrunde liegenden Prinzipien $ 4 Die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers Anläßlich der Diskussionen 1 über die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 2 und die nachfolgenden Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts 3 zur Inhaltskontrolle v o n Individualarbeitsverträgen ist die Frage neu gestellt worden, inwieweit sich der Arbeitgeber gegenüber der
arbeitsrechtlichen
Rechtsprechung auf seine Vertragsfreiheit berufen kann. 4 D a ß die R e c h t s p r e chung die Vertragsfreiheit im Individualarbeitsrecht wie in allen anderen Vertragsarten zu achten hat, ist eigentlich selbstverständlich. 5 E i n pauschales »Totalmißtrauen« 6 gegenüber der Funktionsfähigkeit der Vertragsfreiheit im Arbeitsrecht rechtfertigt keine judiziellen Eingriffe in den Vertrag. 7 D a s P r o b l e m
1 Aus der breiten Diskussion Kittner, Die Rechtsprechung des BVerfG zur »Wiederherstellung gestörter Vertragsparität« im Lichte der ökonomischen Analyse des Rechts und von Deregulierungsprogrammen, in: Hanau/Heither/Kühling (Hrsg.) Festschrift Dieterich, München 1999, S. 278 ff.; Hromadka, Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen, in: Hanau/Heither/ Kühling (Hrsg.) Festschrift Dieterich, Müchen 1999, S. 251; Schapp, Privatautonomie und Verfassungsrecht, ZBB 1999, S. 30; derselbe, Grundrechte als Werteordnung, JZ 1998, S. 913; Diedrichsen, Das Bundesverfassungsgericht als oberstes Zivilgericht - ein Lehrstück juristischer Methdenlehre, AcP 198 (1998), S. 171; derselbe, Die Selbstbehauptung des Privatrechts gegenüber dem Grundgesetz, Jura 1997, S. 57; Fastrich, Inhaltskontrolle im Arbeitsrecht nach der Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10.1993, RdA 1997, S. 65; Zöllner, Regelungsspielräume im Schuldvertragsrecht, AcP 196 (1996), S. 1 (10 ff.). 2 BVerfG, Beschl. v. 19.10.1993 - 1 BvR 567/89 - AP Nr. 35 zu Art. 2 GG; zur Wirkung von Art. 12 GG bei fehlendem »Kräftegleichgewicht« der Vertragsparteien BVerfG, Beschl. v. 7.2.1990 - 1 BvR 26/84 - AP Nr. 65 zu Art. 12 GG. 3 BAG, Urt. v. 6.5.1998 - 5 AZR 535/97 - AP Nr. 28 zu §611 BGB Ausbildungsbeihilfe; Urt. v. 6.9.1995 - 5 AZR 241/94 - AP Nr. 23 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe Nr. 23; Urt. v. 16.3.1994 - 5 AZR 339/92 - AP Nr. 18 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe. 4 Zöllner, Der Arbeitsvertrag: Restposten oder Dokument der Selbstbestimmung?, NZA 2000, S. 1; Hanau, Wie halten Sie es mit der Vertragsfreiheit? - Fragen an die Arbeitsgerichtsbarkeit, in Dörner/Konzen/Schmidt/Speiger (Hrsg.) Arbeitsrecht und Arbeitsgerichtsbarkeit (1999), S. 115. 5 Ausdrücklich dazu Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 515. 6 Zöllner, Der Arbeitsvertrag: Restposten oder Dokument der Selbstbestimmung?, NZA 2000, S. 1. 7 Zöllner, Der Arbeitsvertrag: Restposten oder Dokument der Selbstbestimmung?, NZA 2000, S. 1; Hanau, Wie halten Sie es mit der Vertragsfreiheit? - Fragen an die Arbeitsgerichts-
64
2. Kapitel:
Die zugrunde
liegenden
Prinzipien
besteht aber darin, die Grenze zu bestimmen, ab der die Rechtsprechung tatsächliche Erwartungen des Arbeitnehmers aufgreifen und den Vertragsinhalt somit verändern darf. In der Bürgschaftsentscheidung 8 hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, daß der Ausgleich gestörter Vertragsparität zu den Hauptaufgaben des Zivilrechts gehört. Die Gerichte sollen Vereinbarungen korrigieren, »die einen der beiden Vertragspartner ungewöhnlich stark belasten und das Ergebnis strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sind« 9 . Das Bundesverfassungsgericht stellt in dieser Entscheidung den Schutzcharakter 1 0 der Privatautonomie zugunsten des Unterlegenen heraus und gründet darauf die rechtliche Legitimation der Inhaltskontrolle. D e r Grundsatz von Treu und Glauben ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts die immanente Grenze der vertraglichen Gestaltungsmacht. 1 1 Die Ausführungen des Bundesverfasungsgerichts dürfen jedoch insbesondere in Zusammenschau mit der Formulierung des Bundesarbeitsgerichts, daß der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber auch in Zeiten der Vollbeschäftigung strukturell unterlegen sei 1 2 , nicht dahingehend verstanden werden, daß jegliche arbeitsvertragliche Regelung gerichtlich korrigiert werden kann. 1 3 Jede regelungsersetzende judizielle Korrektur des ausdrücklichen Vertragsinhalts muß sich vor dem Hintergrund der Privatautonomie 1 4 und der noch näher zu bestimmenden Funktion des Vertrags rechtfertigen lassen. Diese institutionelle Gewährleistung 1 5 der Privatautonomie verhindert es, daß vertragliche Zwecke einer politisch motivierten Allgemeinwohlbestimmung un-
barkeit, in Dörner/Konzen/Schmidt/Speiger (Hrsg.) Arbeitsrecht und Arbeitsgerichtsbarkeit (1999), S. 115. 8 BVerfG, Beschl. v. 19.10.1993 - 1 BvR 567/89 - AP Nr. 35 zu Art. 2 G G . 9 Leitsatz BVerfG, Beschl. v. 19.10.1993 - 1 BvR 567/89 - AP Nr. 35 zu Art. 2 G G . 10 Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht (1993), S. 43 ff. zur Entwicklung der Schutzgebotslehre. 11 BVerfG, Beschl. v. 1 9 . 1 0 . 1 9 9 3 - 1 BvR 567/89 - AP Nr. 35 zu Art. 2 G G unter 2.II. c der Gründe. 12 B A G , Urt. V. 16.3.1994 - 5 A Z R 339/92 - AP Nr. 18 zu § 611 B G B Ausbildungsbeihilfe unter II 1 b dd der Gründe. 13 Hanau, Wie halten Sie es mit der Vertragsfreiheit? - Fragen an die Arbeitsgerichtsbarkeit, in Dörner/Konzen/Schmidt/Speiger (Hrsg.) Arbeitsrecht und Arbeitsgerichtsbarkeit (1999), S. 115 (119); Zöllner, Der Arbeitsvertrag: Restposten oder Dokument der Selbstbestimmung?, N Z A 2000, S. 1 (4). 14 Zöllner, Gerechtigkeit im Arbeitsverhältnis, in: Köbler/Heinze/Hromadka (Hrsg.), Festschrift für Söllner (2000), S. 1297 (1313 f.); derselbe, Der Arbeitsvertrag: Restposten oder Dokument der Selbstbestimmung?, N Z A 2000, S. 1 (7); Schapp, Privatautonomie und Verfassungsrecht, Z B B 1999, S. 30 (36); Canaris, Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Festschrift für Lerche (1993), S. 873 (883 und 884). 15 Schapp, Privatautonomie und Verfassungsrecht, Z B B 1999, S. 30 (36).
§ 4: Die Vertragsfreiheit
des
65
Arbeitgebers
t e r g e o r d n e t w e r d e n u n d das I n d i v i d u a l a r b e i t s r e c h t » s c h l i c h t e i n I n s t r u m e n t der Sozialpolitik«16 wird. D e r A r b e i t s v e r t r a g ist e i n u n g e e i g n e t e s s o z i a l p o l i t i s c h e s U m v e r t e i l u n g s m i t tel.17 D i e R e c h t s p r e c h u n g überschreitet z u d e m ihre K o m p e t e n z , w e n n
sie
selbst o h n e gesetzliche R e g e l u n g eine politische E n t s c h e i d u n g trifft. Sie k a n n sich n i c h t - w i e dies in den f ü n f z i g e r J a h r e n z u r B e g r ü n d u n g v o n F ü r s o r g e p f l i c h t e n a n g e f ü h r t w o r d e n i s t 1 8 - a u f d e n G e s t a l t u n g s a u f t r a g des in A r t . 2 0 Abs. 1 G G verankerten Sozialstaatsprinzips berufen. Das
Sozialstaatsprinzip
b i n d e t z w a r die R e c h t s p r e c h u n g als s t a a t l i c h e G e w a l t ; es i s t a b e r in s e i n e r F u n k t i o n als G e s t a l t u n g s a u f t r a g a u f d e n G e s e t z g e b e r b e z o g e n . 1 9 E s ist d a h e r mit B l i c k auf die K o m p e t e n z der J u d i k a t i v e zu pauschal zu argumentieren, daß ein »soziales G e r e c h t i g k e i t s p r i n z i p « 2 0
die Z i v i l r e c h t s o r d n u n g
O h n e e i n e b e s t e h e n d e g e s e t z l i c h e K o n k r e t i s i e r u n g des
mitbestimme.
Sozialstaatsprinzips
k a n n d i e R e c h t s p r e c h u n g d i e V e r t r a g s f r e i h e i t d a h e r n i c h t e i n s c h r ä n k e n 2 1 ; sie
Zöllner, Privatautonomie und Arbeitsverhältnis, AcP 176 (1976), S. 221 (241). Dabei ist zu bedenken, daß der Arbeitgeber theoretisch in den vertraglichen und gesetzlichen Grenzen die ihm durch judiziell begründete Pflichten neu entstehenden Kosten zum Nachteil des Arbeitnehmers umlegen kann. Es wird daher vertreten, daß sich zivilrechtliche Normen für Umverteilungsentscheidungen nicht eignen (Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 31; differenzierend Eidenmiiller, Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 285 ff.; vgl. zur Schwierigkeit, Güter als Ausgangsbasis von Verträgen durch »default rules« im amerikanischen Recht (um)zuverteilen Millon, Default Rules, Wealth Distribution, And Corporate Law Reform: Employment At Will Versus J o b Security, 146 (1998) University O f Pennsylvania Law Review 975 (1003); Craswell, Passing O n the Costs O f Legal Rules: Efficiency And Distribution In Buyer-Seller Relationships, 43 (1991) Stanford Law Review 361; am Beispiel der Unfallhaftung erörtert dies Demsetz, Wealth Distribution And The Ownership O f Rights, 1 (1972) Journal O f Legal Studies 223 (226), und zu den Kosten durch Arbeitsschutzpflichten vgl. die Analyse von Posner, Economic Analysis O f Law, 5. Auflage Aspen 1998, S. 363. Dieses Problem muß jedoch von der hier interessierenden Frage getrennt werden, in welcher Weise und mit welcher Legitimationsgrundlage die Rechtsprechung Nebenpflichten begründen darf. 18 Fechner, Sozialer Rechtsstaat und Arbeitsrecht, RdA 1955, S. 161 (162). 1 9 B G H , Urt. v. 21.12.1993 - VI Z R 103/93 - AP Nr. 104 zu §611 B G B ; B G H , Urt. v. 19.9.1989 - 19.9.1989 - VI Z R 349/88 - AP Nr. 99 zu § 611 B G B Haftung des Arbeitnehmers; B A G , Urt. v. 24.11.1987 - 8 A Z R 524/82 - AP Nr. 93 zu § 6 1 1 B G B Haftung des Arbeitnehmers; Post, Die Verwendung des Sozialstaatsarguments im Arbeitsrecht, ZfA 1978, S. 421 (422); Benda, Die Sozialstaatsklausel in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts, RdA 1979, S. 1 (5); Wollny, Die Sozialstaatsklausel in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, RdA 1973, S. 33 (39). 20 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 361. 21 BVerfG, Beschl. v. 13.1.1982 1 BvR 848 1047/77 u.w.- BVerfGE 59, S.223 (262 m.w.N.); Vgl. aus der Literatur Söllner, Zur Verfassungs- und Gesetzestreue im Arbeitsrecht, RdA 1985, S. 328 (334); Müller, Überlegungen zur Sozialstaatsmaxime, D B 1982, S. 2459 (2465); denselben, Richterliche Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht, JuS 1980, S.627 (634); Benda, Die Sozialstaatsklausel in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts, RdA 1979, S. 1 (3); Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts (1987), § 2 5 S. 1109. 16
17
66
2. Kapitel:
Die zugrunde
liegenden
Prinzipien
träte sonst direkt an die Stelle der Legislative, w e l c h e die wirtschafts- u n d damit a u c h die s o z i a l p o l i t i s c h e E n t s c h e i d u n g s k o m p e t e n z h a t . D a s Sozialstaatsprinzip steht selbst im Spannungsfeld z w i s c h e n A l l g e m e i n w o h l i n t e r e s s e u n d P r i v a t a u t o n o m i e 2 2 , w e n n daraus die Pflicht des Staates begründet wird, »für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen«23. D i e R e c h t s p r e chung k a n n nach dieser M a x i m e aber nicht s c h o n dann etwaigen S t ö r u n g e n bei der Vereinbarung und Vertragsdurchführung entgegenwirken, w e n n aufgrund d e r s p e z i e l l e n P r o b l e m a t i k d e s E i n z e l v e r t r a g e s e i n e B e n a c h t e i l i g u n g des A r beitnehmers droht.24 D a s Sozialstaatsprinzip dient nicht dazu, individualvertragliche Pflichten und R e c h t e zu begründen, u m Machtungleichgewichte zwischen den Parteien zu beseitigen.25
§ 5 Judizieller Schutz berechtigter des Arbeitnehmers
Erwartungen
S o l l e n N e b e n p f l i c h t e n n a c h K o r r e k t u r o d e r in n o r m a t i v e r E r g ä n z u n g des P a r t e i w i l l e n s b e g r ü n d e t w e r d e n , m u ß die R e c h t s p r e c h u n g e i n e n B e z u g z u d e r F u n k t i o n 2 6 des V e r t r a g s h e r s t e l l e n k ö n n e n , w e l c h e die P a r t e i e n a u t o n o m b e s t i m m t h a b e n . F ü r die I n h a l t s k o n t r o l l e ist dies V o r a u s s e t z u n g . D i e R e c h t s p r e c h u n g d a r f n u r d a n n g e g e n d e n P a r t e i w i l l e n eine P f l i c h t n e u b e g r ü n d e n , w e n n die F u n k -
22 Benda, Die Sozialstaatsklausel in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts, RdA 1979, S. 1 (7). 2 3 BVerfG, Beschl. v. 13.1.1982 - 1 BvR 848 1047/77 u.w.- BVerfGE 59, S. 223 (263) m.w.N. auf die ständige Rechtsprechung des BVerfG. 2 4 Diese Störungen sind im Einzelfall nachzuweisen und zu belegen. Es reicht für eine plausible Argumentation nicht aus, auf eine angeblich stets vorhandene strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers hinzuweisen, so Reuter, Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht, RdA 1985, S.321 (323). Nach Zöllner, Privatautonomie und Arbeitsverhältnis, AcP 176 (1976), S. 221 (237) gibt es bislang keinen Maßstab dafür, um das »Gleichgewicht« der Vertragspartner zu bestimmen. 25 Hönn, Kompensation gestörter Vertragsfreiheit (1982), S. 281; Manfred Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich (1970), S. 99. 2 6 Sicherlich kann der Ermittlung einer solchen »Ordnungsfunktion« der Vertragsfreiheit entgegnet werden, daß sich darin letztlich nur eine subjektiv gesetzte und nicht weiter begründbare Wertung finde, die keine zwingende Erklärung von Vertragsgerechtigkeit geben könne, so Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 132: »Hier zeigt sich ein weiteres Mal das hermeneutische Problem materialer Gerechtigkeitstheorien. Ihnen liegt ein - selten reflektiertes, nie aber rational begründbares - Vorverständnis von der Maßgeblichkeit bestimmter Gerechtigkeitsgehalte zugrunde, das eine charakteristische Perspektiwerengung zur Folge hat. Nur anhand dieser erklärt sich nämlich, wie im Rahmen der Funktionenanalyse konkurrierende Funktionen (des Vertrags, der A G B ) regelmäßig zugunsten einer einzigen ausgeblendet werden können, um dieser dann das Prädikat normativer Maßgeblichkeit zuzusprechen.« Dieses Problem der »Letztbegründbarkeit« entbindet jedoch nicht von der Notwendigkeit, überhaupt eine Wertung zu treffen.
§ 5: Judizieller
Schutz berechtigter
Erwartungen
des
Arbeitnehmers
67
tionsvoraussetzungen des Vertrags als Kooperationsschema im konkreten Fall ihrer Struktur nach versagen. Aber auch die judizielle Begründung von konkretisierenden Nebenpflichten rechtfertigt sich vor dem Hintergrund der Privatautonomie nur durch ihren Bezug auf die konkreten Funktionsbedingungen des Arbeitsvertrags, die sie ergänzen und dadurch die gesamte Vertragsdurchführung absichern soll. Aber was sind die Funktionsbedingungen des Vertrags? Eine U m schreibung des judiziell auszugleichenden »Marktversagens« ist bislang nicht gelungen. Die Antwort hängt zunächst davon ab, welchem rechtlichen Standard die Regelungen des Arbeitsvertrags entsprechen müssen und welche Funktion der Arbeitsvertrag aufgrund dieser rechtlichen Bewertung hat. M u ß der Arbeitsvertrag -
eine effiziente Zuordnung widerspiegeln,
-
soll er Mechanismus sein, um das richtige, d.h. das objektiv gerechte Ergebnis hervorzubringen
-
oder können judiziell entwickelte Pflichten nur Mindestbedingungen sichern und damit eine ungerechte Vertragsabwicklung verhindern?
D e r Standard und damit auch die Grenze, ab der Erwartungen des Arbeitnehmers verrechtlicht werden müssen, bemißt sich - wie im Anschluß gezeigt wird - danach, welche Funktion der Arbeitsvertrag aus rechtlicher, prinzipienbezogener Sicht hat.
I. Effizienz als Funktion des Vertrags? »If the purpose of the law of contracts is to effectuate the desires of the contracting parties, then the proper criterion for evaluating the rules of the contract law is surely that of economic efficiency. Since the object of most voluntary exchanges is to increase value or efficiency, contracting parties may be assumed to desire a set of contract terms that will maximize the value of the exchange. It is true that each party is interested only in the value of the contract to it. However, the more efficiently the exchange is structured, the larger is the potential profit of the contract for the parties to divide between them.« Posner/Rosenfeld, 6 (1977) Journal O f Legal Studies 83 (89)
Nach dem Konzept der neoklassischen 2 7 ökonomischen Analyse 2 8 soll die Rechtsprechung einen unvollständigen Vertrag mit dem Ziel ökonomischer E f -
2 7 Zu diesem Begriff Dau-Schmidt, Economics And Sociology: The Prospects For An Interdisciplinary Discourse O n Law, 1997 Wisconsin Law Review 389 (895), der darunter ein Entscheidungsmodell versteht, das von einer exogenen Präferenzbildung ausgeht und in dem Resourcen effizient ohne Rücksicht auf die Identität der Parteien zugeordnet werden sollen. 2 8 Vgl. zur Diskussion, ob eine ökonomischen Analyse für das deutsche Zivilrecht nutzbar gemacht werden kann, Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1998); Schwintowski, Öko-
68
2. Kapitel: Die zugrunde liegenden
Prinzipien
fizienz 2 9 aus der ex-ante Perspektive zu einem ö k o n o m i s c h vollständigen Vertrag 3 0 (»fully specified c o n t r a c t « 3 1 ) ergänzen. D i e Parteien handeln nach diesem Modell als individuell rationale Nutzenmaximierer, die sich nicht von Zielen wie K o o p e r a t i o n oder Solidarität leiten lassen. 3 2 Ein Vertrag ist ö k o n o m i s c h unvollständig 3 3 oder auch in anderer Terminologie u n w i r k s a m 3 4 , wenn er die R i s i k e n nicht für beide Parteien effizient zuordnet. In diesem Modell ist der Vertrag eine punktuelle B e z i e h u n g , in der Leistung, Gegenleistung und mögliche Abwicklungsrisiken in der Einigung so zugeordnet werden können, daß ein im Einigungszeitpunkt vollständiges und effizientes R e g e l w e r k
geschaffen
wird. Arbeit wird gegen L o h n getauscht, w o b e i die Vertragspartner austauschbar sind, ohne daß sich an der Effizienz der Z u o r d n u n g etwas ändert. 3 5 nomische Theorie des Rechts, JZ 1998, S. 581; Schäfer/Ott, Die ökonomische Analyse des Rechts - Irrweg oder Chance wissenschaftlicher Rechtserkenntnis ?, JZ 1993; zur Kritik an der ökonomischen Analyse des Rechts Fezer, Aspekte einer Rechtskritik an der economic analysis of law und am property rights approach, JZ 1986, S. 817 und derselbe, Nochmals: Kritik an der ökonomischen Analyse des Rechts, JZ 1988, S. 223; vgl. auch Canaris, Funktion, Struktur und Falsifikation juristischer Theorien, JZ 1993, S.377 (384) wonach die ökonomische Analyse den Gesamtzusammenhang des geltenden Rechts nicht genug beachtet. 29 Posner, Economic Analysis Of Law (1998), S. 105; derselbe, Utilitarism, Economics, And Legal Theory, 8 (1979) Journal Of Legal Studies 103 (125); Ayres! Gertner, Strategie Contractual Inefficiency And The Optimal Choice Of Legal Rules, 101 (1992) Yale Law Journal 729; Schwartz, Relational Contracts In The Courts: An Analysis Of Incomplete Agreements And Judicial Strategies, 21 (1992) Journal Of Legal Studies 271. 30 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 389 ff.; für das Arbeitsrecht: Kittner, Die Rechtsprechung des BVerfG zur »Wiederherstellung gestörter Vertragsparität« im Lichte der ökonomischen Analyse des Rechts und von Deregulierungspostulaten, in: Hanau/Heither/Kühling (Hrsg.), Festschrift Dieterich (1999), S.279 (290); kritisch zum Gebrauch dieses Konzeptes bei der ergänzenden Vertragsauslegung Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 456 ff. 31 Polinsky, An Introduction To Law And Economics (1989), S.29; Posner, Economic Analysis Of Law (1998), S. 105; derselbe, Utilitarism, Economics, And Legal Theory, 8 (1979) Journal Of Legal Studies 103 (125); Ayres!Gertner, Strategie Contractual Inefficiency And The Optimal Choice Of Legal Rules, 101 (1992) Yale Law Journal 729; Schwartz, Relational Contracts In The Courts: An Analysis Of Incomplete Agreements And Judicial Strategies, 21 (1992) Journal Of Legal Studies 271; Coleman/Heckathorn/Maser, A Bargaining Theory Approach To Default Provisions And Disclosure Rules In Contract Law, 12 Harvard Journal Of Law And Public Policy 639 (640) 32 Posner, Economic Analysis Of Law (1998), S. 4; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 56; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 28 ff. 33 Ayres/Gertner, Strategie Contractual Inefficiency And The Optimal Choice Of Legal Rules, 101 (1992) Yale Law Journal 729 (730). 34 Schäfer!Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 390. 35 Zur Kritik am neoklassischen Vertragsmodell vgl. Dau-Schmidt, Economics And Sociology: The Prospects For An Interdisciplinary Discourse On Law, 1997 Wisconsin Law Review 389 (895); Linzer, Uncontracts: Context, Contorts And The Relational Approach, 1988 Annual Survey Of American Law 139; Macneil, Contracts: Adjustment Of Long-Term Economic Relations Under Classical, Neoclassical, Relational Contract Law, 72 (1978) Northwestern University Law Review 854; derselbe, The Many Futures Of Contracts, 47
§ 5: Judizieller Schutz berechtigter Erwartungen des
Arbeitnehmers
69
Posner formuliert die Aufgabe des Gerichts, Risiken effizient zuzuordnen, folgendermaßen: »The task for a court asked to interpret a contract to cover a contingency that the parties did not provide for is to imagine how the parties would have provided for the contingency if they had decided to do so. Often there will be clues in the language of the contract. But often there will not be, and then the court may have to engage in economic thinking - may have to decide what the most efficient way of dealing with the contingency is. For this is the best way of deciding how the parties would have provided for it. Each party, it is true, is interested just in his own profit, and not in the joint profit; but the larger the joint profit is, the bigger the »take« of each party is likely to be. So they have a mutual interest in minimizing the cost of performance.«36 A u f den ersten B l i c k scheint die effiziente Z u o r d n u n g von Risiken den Parteien danach genau den Spielraum zu geben, welchen die Privatautonomie verlangt. Selbstverständlich m ö c h t e n rational handelnde Parteien ihren N u t z e n mit dem Vertragsschluß vermehren. Daraus scheint zu folgen, daß das G e r i c h t Risiken möglichst kostengünstig verteilen sollte. Ö k o n o m i s c h e E f f i z i e n z soll auch nach der von Schäfer und Ott vertretenen Ansicht eine eigene Zielvorgabe sein. 3 7 Eidenmüller
hat dagegen eingewendet,
daß weder eine Identität von E f f i z i e n z und rechtlichen Prinzipien nachgewiesen ist 3 8 n o c h daß die G e r i c h t e tatsächlich in ihren Entscheidungen E f f i z i e n z als M a ß s t a b heranziehen. 3 9 Seiner Ansicht nach kann Effizienz für die judizielle Pflichtenbegründung gem. § 157 B G B nur dann relevant sein, wenn es sich tatsächlich um rational handelnde Parteien wie z . B . Kaufleute handelt, die den »homines o e c o n o m i c i « nahe stehen. 4 0 Zumindest dieser E i n w a n d gegen eine ö k o n o m i s c h e Betrachtung des Vertrags läßt sich ausräumen. Sicherlich m u ß das G e r i c h t von der im Einzelfall gegebenen Interessenlage gem. §§ 157, 2 4 2 B G B ausgehen, wenn es N e b e n p f l i c h t e n des Arbeitgebers entwickelt. W i e schon ausgeführt, richtet sich der hypothetische Parteiwille aber nicht nach einer p s y c h o logischen, sondern vielmehr nach einer normativen Feststellung 4 1 , so daß es für die normative Absicherung der vertraglichen Funktionsbedingungen
nicht
darauf a n k o m m t , o b die Parteien Kaufleute oder geschäftlich U n e r f a h r e n e sind. D i e N e b e n p f l i c h t e n lassen sich ohnehin nicht aus dem Vertragszweck selbst
(1974) Southern California Law Review 691 (693); Macauly, Non-contractual Relations In Business: A Preliminary Study, in: Goldberg (Hrsg.), Readings In The Economics Of Contract Law (1983), S. 10 Nachdruck aus 28 American Sociological Review 55 (1963); vgl. dazu ausführlich § 6. 36 Posner, Economic Analysis Of Law (1998), S. 105. 37 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 392. 38 Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 471. 39 Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 488. 40 Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 458. 41 Vgl. dazu oben §2 1.1, S. 34.
70
2. Kapitel: Die zugrunde
liegenden
Prinzipien
entnehmen.42 Sie folgen aus einer prinzipiengeleiteten Argumentation und damit aus einem allgemeinen Modell, das die tatsächlichen Funktionsbedingungen des Vertrags unabhängig von der geschäftlichen Erfahrung der Vertragsparteien beschreibt. Entscheidend ist daher allein, ob der Maßstab ökonomischer Effizienz mit einer rechtlichen Prinzipienargumentation vereinbar ist. Nach den vorangestellten Überlegungen kann die Rechtsprechung Pflichten nur dann an einer effizienten Risikoverteilung ausrichten, wenn es das Kriterium der Effizienz erlaubt, einem Individuum oder einer Gruppe ein Recht nach einem verallgemeinerungsfähigen Maßstab zuzuteilen, welcher der Rechtsordnung als Grundgedanke unterliegt. Hinsichtlich der Vereinbarkeit von ökonomischer Effizienz und einer prinzipiengeleiteten Argumentation der Rechtsprechung sind zwei Möglichkeiten denkbar. Zum einen kann Effizienz selbst ein Prinzip sein. Zum anderen wäre es denkbar, daß eine an Effizienz ausgerichtete Nebenpflichtbegründung stets zu denselben Ergebnissen führt, wie sie innerhalb der normativen Prinzipienabwägung erzielt werden. Eidenmüller hat diese Rechtfertigung als »Identitätsthese« bezeichnet. 43 Falls beide Möglichkeit verneint werden müssen, scheidet eine Nebenpflichtbegründung mit dem ausschließlichen Ziel der Konstruktion des effizienten Ergebnisses aus. Die Vereinbarkeit der prinzipiengeleiteten Argumentation mit der Ausrichtung des Vertragsmodells an Effizienz hängt davon ab, was in der neoklassischen ökonomischen Analyse des Rechts unter Effizienz zu verstehen ist. Sehr allgemein kann formuliert werden, daß ein Zustand effizient ist, bei dem angesichts knapper Mittel in der Gesellschaft eine möglichst hohe Bedürfnisbefriedigung erreicht werden kann.44 Zur Bewertung, wann eine hohe Bedürfnisbefriedigung erzielt ist, wird überwiegend das sogenannte Kaldor/Hicks-Kriterium herangezogen. Danach ist ein Zustand A einem Zustand B vorzuziehen, wenn durch die Resourcenallokation beeinträchtigte Dritte von den »Gewinnern« der Verteilung potentiell entschädigt werden können. 45 Auf eine tatsächliche Entschädigung kommt es nicht an. Das Kaldor/Hicks-Kriterium baut auf dem Begriff der Paretooptimalität 46 auf. Ein Zustand ist gegenüber einem ande42 Dazu auch Henssler, Risiko als Vertragsgegenstand (1994), S. 121, der sich für ein Heranziehen ökonomischer Gesichtspunkte unter Beachtung des negativen Parteiwillens und des dispositiven Rechts ausspricht. 43 Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 466. 44 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 1. 45 Posner, Economic Analysis O f Law (1998), S. 14; ColemanlHeckathorn!Maser, A Bargaining Theory Approach To Default Provisions And Disclosure Rules In Contract Law, 12 Harvard Journal O f Law And Public Policy 639 (642); Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 29; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2. Auflage (1998), S. 51. Zur Kritik an diesen Kriterien Kennedy, Cost-Benefit Analysis O f Entitlement Problems: A Critique, 33 (1981) Stanford Law Review 387, 390. Danach sind Dritteffekte so weitreichend, daß anhand dieser Kriterien der für die Gesellschaft vorzuziehende Zustand nicht ermittelbar ist. 46 Posner, Economic Analysis O f Law (1998), S. 14; Colemanl Heckathorn/Maser, A Bar-
§ 5: Judizieller Schutz berechtigter Erwartungen des
Arbeitnehmers
71
ren paretooptimal, wenn ihn von allen Gesellschaftsmitgliedern mindestens eine Person vorzieht und die anderen Gesellschaftsmitglieder dadurch nicht schlechter gestellt werden, also denselben Zustand vorziehen oder sich nicht entscheiden k ö n n e n . E i n e derartige Situation, in der dritte Personen nicht durch die Resourcenverteilung belastet werden, ist in der Wirklichkeit selten. 4 7 D e s h a l b erscheint das K a l d o r / H i c k s - K r i t e r i u m praktikabler, das auf die p o tentielle Entschädigungsmöglichkeit abstellt und insoweit auch als potentielle Paretooptimalität bezeichnet wird. D e r Vergleich verschiedener Zustände nach diesem Effizienzmodell setzt stets eine monetäre B e w e r t u n g voraus. 4 8 Sie ist, wie im Folgenden n o c h gezeigt wird 4 9 , der neuralgische P u n k t des Effizienzkriteriums. J e d e monetäre B e w e r tung ist letztlich abhängig von rechtlichen und politischen Wertungen, die außerhalb des Effizienzbegriffs liegen, da es keinen objektiven, von H i n t e r grundwertungen unabhängigen Preisindex gibt. W i e soll ohne R ü c k s i c h t auf die ursprüngliche Anspruchsverteilung bestimmt werden, wieviel der G l e i c h behandlungsanspruch gegenüber einer willkürlichen Ungleichbehandlung oder der Beschäftigungsanspruch gegenüber einer Nichtbeschäftigung wert ist? D a r über hinaus ist bei der Verwendung des Begriffs der Effizienz terminologische Vorsicht angebracht. Entgegen der Selbstverständlichkeit, mit der die Befürw o r t e r der ö k o n o m i s c h e n Analyse den Begriff der Effizienz verwenden, handelt es sich bei diesem umstrittenen 5 0 Ausrichtungspunkt nicht zwangsläufig gaining Theory Approach To Default Provisions And Disclosure Rules In Contract Law, 12 Harvard Journal Of Law And Public Policy 639 (642); Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 48. 47 Posner, Economic Analysis Of Law (1998), S. 14; zur Unpraktikabilität des Paretokriteriums Dworkin, Is Wealth A Value?, in: A Matter Of Principle (1985), S. 237 (239). 48 Posner, Utilitarism, Economics, And Legal Theory, 8 (1979) Journal Of Legal Studies 103 (119) sieht darin den Vorteil der ökonomischen Analyse gegenüber einem rein utilitaristischen Ansatz, der letztlich auf einen Nutzenvergleich angewiesen ist. Zur Kritik am utilitaristischen Ansatz Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 22 ff. 49 Vgl. § 5 I 3c), S. 84. 50 Zur Kritik der Ausrichtung an Effizienz vgl. aus neuerer Zeit insbesondere für das Arbeitsrecht McClusky, The Illusion Of Efficiency In Workers'Compensation »Reform«, 50 (1998) Rutgers Law Review 661 (721); zur grundlegenden Kritik daran, Effizienz als Wert anzusehen Kennedy, Distributive And Paternalist Motives In Contract And Tort Law, With Special Reference To Compulsory Terms And Unequal Bargaining Power, 41 (1982) Maryland Law Review 563; derselbe, Cost-Benefit Analysis Of Entitlement Problems: A Critique, 33 (1981) Stanford Law Review 387; Kelman, Consumption Theory, Production Theory, And The Ideology In The Coase Theorem, 52 (1979) Southern California Law Review 669; Dworkin, Taking Rights Seriously (1997), S. 97 ff.; zur grundlegenden Kritik an wohlfahrtsökonomischen Theorien vgl. Little, A Critique Of Welfare Economics (1960), S. 82; Zum rechtstheoretischen Hintergrund der Frage nach Werten, die hinter der »law and economics«- Analyse stehen vgl. die Diskussion zwischen Posner, The Ethical And Political Basis Of The Efficiency Norm in Common Law Adjudication, 8 (1980) Hofstra Law Review 487, Calabresi, About Law And Economics: A Letter To Ronald Dworkin, 8 (1980) Hofstra Law Review 553 und Dworkin, Why Efficiency?, 8 (1980) Hofstra Law Review 563.
72
2. Kapitel: Die zugrunde liegenden
Prinzipien
u m ein einheitliches K o n z e p t . 5 1 I m folgenden wird der E f f i z i e n z b e g r i f f im Z u s a m m e n h a n g mit der T h e o r i e e r ö r t e r t , die Posner
als einer der p r o m i n e n t e s t e n
Vertreter der ö k o n o m i s c h e n A n a l y s e des R e c h t s e n t w o r f e n hat.
1. »Wealth
maximizing
principle«
»It is, however, important to remember that we can never conclude that something ought to be done, from the proposition that economic welfare has increased. The means of increasing economic welfare may decrease welfare in general. If we treat »welfare« as a purely ethical expression, it is a tautology that welfare ought to be increased; but if we say that economic welfare would be increased, that only means that welfare would be increased by the change if the other non-economic effects were not unfavourable.« Little, A Critique Of Welfare Economics (1960), S. 82.
Posners
ö k o n o m i s c h e A n a l y s e des Vertragsrechts baut auf d e m C o a s e t h e o r e m 5 2
auf. D a n a c h spielt die r e c h t l i c h e A n s p r u c h s z u o r d n u n g k e i n e R o l l e , w e n n die bei Vertragsschluß und V e r t r a g s d u r c h f ü h r u n g e n t s t e h e n d e n K o s t e n , die sogen a n n t e n T r a n s a k t i o n s k o s t e n 5 3 , h i n w e g g e d a c h t w e r d e n . D i e Beteiligten w e r d e n danach u n a b h ä n g i g v o n den R e c h t s r e g e l u n g e n die jeweils effiziente L ö s u n g aushandeln. I n diesen V e r h a n d l u n g e n erhält derjenige den A n s p r u c h , der das R e c h t am h ö c h s t e n schätzt u n d bereit ist, dafür den h ö c h s t e n Preis zu z a h l e n . 5 4 G e s e t z e und M o r a l sind u n b e a c h t l i c h . 5 5 D a s Ziel der U n t e r s u c h u n g v o n
Coase
51 Zu den in der Ökonomie verwendeten Effizienzbegriffen Kornhauser, A Guide To The Perplexed Claims Of Efficiency In The Law, 8 (1980) Hofstra Law Review 591. Danach ist zwischen einem normativen und einem deskriptiven Ansatz zu unterscheiden. Der normative Effizienzbegriff drücke aus, daß das Recht »effizient« sein solle, wohingegen der letztere das gegebene Recht als »effizient« beschreibe (aaO., S. 592). »Effizienz« im normativen Sinn könne in einem »produktiven« Sinne verstanden werden und sei danach nur auf die Vermehrung der Güter ausgerichtet. Ebenso könne sich »Effizienz« auch auf die Allokation der Güter und Risiken also die Verteilung beziehen. Für den beschreibenden Charakter gibt Kornhauser allein sechs Definitionen an (aaO., S. 612). 52 Coase, The Problem Of The Social Cost, 3 (1960) Journal Of Law And Economics 1 (6). 53 Der Begriff der Transaktionskosten ist nicht eindeutig definiert. Allgemein werden darunter solche Kosten verstanden, die bei der Suche nach einem geeigneten Vertragspartner und dem Aushandeln und Durchsetzen des Vertrags entstehen Polinsky, An Introduction To And Economics (1989), S. 12. Zur Schwierigkeit der Abgrenzung der Transaktionskosten zu Produktionskosten Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 97 ff. Zum Transaktionskostenbegriff der neuen Institutionenökonomie vgl. ausführlich § 7 I. 54 Coase, The Problem Of The Social Cost, 3 (1960) Journal Of Law And Economics 1(10). Zur Darstellung des Coasetheorems vgl. Posner, Economic Analysis Of Law (1998), S. 8; Polinsky, An Introduction To Law And Economics (1989), S. 11; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2. Auflage, Tübingen 1998, S. 60 und Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 80; vgl. auch die instruktive Darstellung bei Elofson, The Dilemma Of Changed Circumstances In Contract Law, 30 (1996) Columbia Of Law And Social Problems 1 (6). 55 Coleman, Risks And Wrongs (1992), S. 41.
§ 5: Judizieller
Schutz berechtigter
Erwartungen
des
Arbeitnehmers
w a r j e d o c h keine ö k o n o m i s c h e A n a l y s e des R e c h t s . Coase
73
wollte begründen,
daß I n t e r v e n t i o n e n des Staates in b e s t i m m t e n Situationen nicht greifen, da die A k t e u r e auf d e m M a r k t u n a b h ä n g i g v o n der rechtlichen R e g e l u n g das effiziente E r g e b n i s selbst b e s t i m m e n . 5 6 So zeigt Coase in einem Modellbeispiel, daß die rechtliche Zuerkennung eines Abwehranspruchs letztlich nicht dazu führt, daß störendes Verhalten unterbunden wird. In dem Fall weiden Viehherden auf dem nachbarlichen Grundstück und zerstören die Ernte. 57 Unabhängig vom Bestehen eines Abwehranspruchs werden die Beteiligten stets eine marktkonforme, effiziente Lösung aushandeln, in welcher derjenige in Abhängigkeit vom Marktpreis für Vieh oder Getreide das Nutzungsrecht bekommt, dem es am meisten wert ist. Ist mit dem Viehpreis ein Gewinn zu erzielen, wird die Rechtsregelung bedeutungslos, unabhängig davon, zu wessen Gunsten sie sich auswirkt. Hat der Viehzüchter kein Weiderecht und will er die Anzahl der Herden von 2 auf 3 erhöhen, so muß er dem Bauern $ 3 Schaden nach der Haftungsregel ersetzen. Wenn der mögliche Nettogewinn ($ 12 Verkaufspreis abzüglich $ 10 Anpflanzung) des Bauern für sein Getreide $ 2 beträgt, ist es für den Bauern einfacher, das Land nicht zu bestellen und eine Zahlung über dem Verkaufswert des Getreides, also zwischen $ 2 und 3, zu verlangen. 58 Lohnt es sich aufgrund gestiegener Viehpreise, mehr Herden zu haben (d.h., übersteigt der Nettogewinn die Kosten einschließlich der Schadensersatzzahlung), wird der Viehzüchter den Schadensersatz zahlen und mehr Vieh anschaffen. Besteht dagegen ein Weiderecht zahlt der Bauer bis zur Höhe seines Schadens (zwischen $ 2 und 3), damit der Viehzüchter keine weitere Herde anschafft. Falls die Viehpreise aber einen über dieser Zahlung liegenden Nettogewinn erbringen, wird die Herde wiederum vergrößert. 59 In Posners
A n s a t z g e w i n n e n die im Beispiel n o c h u n b e a c h t l i c h e n K o s t e n eine
R o l l e , die mit d e m A u s h a n d e l n und der D u r c h f ü h r u n g der V e r e i n b a r u n g verb u n d e n sind - die s o g e n a n n t e n T r a n s a k t i o n s k o s t e n . 6 0 Sie sind in der W i r k l i c h keit oftmals so h o c h , daß sie die V e r h a n d l u n g e n verhindern, die zu einer effizienten R e s o u r c e n a l l o k a t i o n f ü h r e n k ö n n t e n . D i e rechtliche R e g e l u n g soll danach an die Stelle der zu »teuren« V e r h a n d l u n g s l ö s u n g treten. D a s judiziell e n t w i c k e l t e Vertragsrecht m u ß nach dieser A n s i c h t daher den M a r k t imitieren, wie er sich in A b w e s e n h e i t v o n T r a n s a k t i o n s k o s t e n darstellt. 6 1 D a s v o n
Posner
e n t w i c k e l t e M o d e l l setzt voraus, daß die Parteien ü b e r h a u p t o h n e B e z u g zur ursprünglichen r e c h t l i c h e n u n d tatsächlichen Verteilung der T r a n s a k t i o n s g e genstände einen o b j e k t i v e n W e r t b e s t i m m e n k ö n n e n . S c h o n diese A n n a h m e kann b e z w e i f e l t w e r d e n . 56 Coase, The Problem Of The Social Cost, 3 (1960) Journal Of Law And Economics 1 (2): »It is my contention that the suggested causes of action [Eingriffe vom Staat durch Rechtsregeln, Steuern oder Verbote] are inapropriate, in that they lead to results which are not necessarily, or even unusually, desirable.« [...] Erklärungen hinzugefügt. 57 Coase, The Problem Of The Social Cost, 3 (1960) Journal Of Law And Economics 1 (7). 58 Coase, The Problem Of The Social Cost, 3 (1960) Journal Of Law And Economics 1 (4). 59 Coase, The Problem Of The Social Cost, 3 (1960) Journal Of Law And Economics 1 (7). 60 Posner, Utilitarism, Economics, And Legal Theory, 8 (1979) Journal Of Legal Studies 103 (125).
74 2. Realismus
2. Kapitel: Die zugrunde liegenden der Annahmen
über
das
Prinzipien
Parteiverhalten
E s ist fraglich, o b die Parteien u n b e e i n f l u ß t v o n » e n d o g e n e n « F a k t o r e n u n d damit o h n e R e f e r e n z auf ihre besitz- o d e r a n s p r u c h s r e c h t l i c h e 6 2 Situation W e r t e z u o r d n e n k ö n n e n . 6 3 PosnerM
hat auf diese K r i t i k entgegnet, daß mit d e m ö k o -
nomischen Entscheidungsmodell
kein in allen E i n z e l h e i t e n
verifizierbares
W i r k l i c h k e i t s b i l d e n t w o r f e n w e r d e n soll: »But its lack of realism in the sense of descriptive completeness, far from invalidating the theory, is a precondition of theory. A theory that sought faithfully to reproduce the complexity of the empirical world in its assumptions would not be a theory - an explanationbut a description.« 65 D i e A n n a h m e ü b e r m ö g l i c h e s Parteiverhalten darf j e d o c h auch nicht falsch sein. 6 6 E s m ü s s e n daher z u m i n d e s t t y p i s c h e Verhaltensweisen z u g r u n d e gelegt w e r d e n , damit die M o d e l l v o r s t e l l u n g auf e i n e m reduzierten, aber z u t r e f f e n d e n W i r k l i c h k e i t s b i l d aufbauen k a n n . 6 7 E i n s o l c h e r S t ö r f a k t o r bzw. eine »Verhalt e n s a n o m a l i e « 6 8 ist der s c h o n lange b e k a n n t e B e s i t z e f f e k t 6 9 ( » e n d o w m e n t effect«). E r zeigt, daß es für die Parteien z u m i n d e s t in k o m p l e x e r e n Situationen u n m ö g l i c h ist, einen W e r t o h n e R e f e r e n z p u n k t zu b e s t i m m e n und so ihr Ver61 Posner, Utilitarism, Economics, And Legal Theory, 8 (1979) Journal Of Legal Studies 103 (125). 6 2 Dazu Jolls/Sunstein/Thaler, A Behavioral Approach To Law And Economics, 50 (1998) Stanford Law Review 1471 (1497). 63 Hanson/Kysar, Taking Behavioralism Seriously: The Problem Of Market Manipulation, 74 (1999) New York University Law Review 630; Kaufmann, Expanding The Behavioural Foundations Of Labor Economics, 52 (1999) Industrial And Labor Relations Law Review 361; Jolls/Sunstein/Thaler, A Behavioral Approach To Law And Economics, 50 (1998) Stanford Law Review 1471 (1473); Ellickson, Law And Economics Discover Social Norms, 27 (1998) Journal Of Legal Studies 537; derselbe, Bringing Culture And Human Frailty To Rational Actors: A Critic Of Classical Law And Economics, 65 (1989) Chicago Kent Law Review 25; Arlen, Comment: The Future Of Behavioral Economic Analysis Of Law, 52 (1998) Vanderbilt Law Review 1765; Dau-Schmidt, Economics And Sociology: The Prospects For An Interdisciplinary Discourse On Law, 1997 Wisconsin Law Review 389. 64 Posner, Economic Analysis Of Law (1998), S. 17 ff. 65 Posner, Economic Analysis Of Law (1998), S. 18 66 Posner, Economic Analysis Of Law (1998), S. 18: »All this is not to suggest that the analyst has a free choice of assumptions. An important test of a theory is its ability to explain reality. If it does a lousy job, the reason may be that its assumptions are insufficiently realistic; but we need not try to evaluate the assumptions directly in order to evaluate it.« 67 Anders dagegen Posner, Economic Analysis Of Law (1998), S. 18, der eine Überprüfung, ob typische Verhaltensweisen zugrunde liegen, angesichts der Zustimmung und des Erfolgs der neoklassischen ökonomischen Analyse für unnötig hält. 68 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 63. 6 9 Vgl. dazu die ausführlichen Nachweise bei Hanson/Kysar, Taking Behavioralism Seriously: The Problem Of Market Manipulation, 74 (1999) New York University Law Review 630 (673); Sunstein, Social Norms And Social Roles, 96 (1996) Columbia Law Review 903 (942); vgl. auch Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 66 und Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 125 ff.
§ i: Judizieller Schutz berechtigter Erwartungen
des Arbeitnehmers
75
halten rein exogen an Effizienz auszurichten. Nach dem neoklassischen Entscheidungsmodell ermitteln die Vertragsparteien die Kosten und den Nutzen der Transaktion unbeeinflußt von der ursprünglichen Verteilung der Güter. 70 So wird angenommen, daß unabhängig von der Ausgangsverteilung dem Statuswechsel von Gut A zu Gut B derselbe Wert beigemessen wird wie dem Wechsel von B zu A zurück. 7 1 Gegen diese Annahme oder Invarianzthese 72 spricht das experimentell nachgewiesene Phänomen, daß die Bereitschaft eine bestimmte, noch nicht eigene Sache zu kaufen (»willingness to pay«), sich von derjenigen unterscheidet, eine bereits eigene Sache zu verkaufen (»willingness to accept«). 73 Das Haben einer Sache oder eines Rechtes wird stets höher bewertet als die bloße Erwerbschance. Der Wert einer Sache wird damit nicht ausschließlich nach monetarisierbaren Nutzenkriterien bestimmt, sondern richtet sich schlicht nach der Ausgangsverteilung. Korobkin74 hat nachgewiesen, daß Besitzeffekte nicht nur dann auftreten, wenn eine Partei - wie in den bisherigen Experimenten zum »endowment effect« - eine bestimmte Sache tatsächlich erhalten hatte, sondern auch dann, wenn es sich um die Frage der Veränderung des rechtlichen Status quo handelte. In dem von ihm durchgeführten Experiment sollten zwei vorgegebene Verhandlungssituationen bewertet werden, in denen die Befragten einen Mandanten beraten sollten. In der ersten Situation konnte sich der Mandant auf eine ihm günstige Regelung berufen. Es ging um die Fragestellung, welchen Angebotspreis der Mandant verlangen sollte, um sich das Recht abkaufen zu lassen bzw. auf die Geltendmachung des Rechts zu verzichten (»willingness to accept«). In der zweiten Verhandlungssituation begünstigte die Nebenpflicht bei gleicher Sachlage den Vertragsgegner. Es ging um die Frage, wieviel der Mandant zahlen sollte, um einen Rechtsverzicht herbeizuführen (»willingness to pay«). 7 5 Für den Fall, daß die Nebenpflichtregelung den Mandanten begünstigte, gaben die Befragten einen Mindestwert von $ 6,96 an, den der Mandant verlangen sollte, um eine für ihn nachteilige Regelung zu akzeptieren. Demgegen70 Kennedy, Cost-Benefit Analysis Of Entitlement Problems: A Critique, 33 (1981) Stanford Law Review 387 (401); Kelman, Consumption Theory, Production Theory, And Ideology In The Coase Theorem, 52 (1979) Southern California Law Review 669 (695). 71 Kelman, Consumption Theory, Production Theory, And Ideology In The Coase Theorem, 52 (1979) Southern California Law Review 669 (698). 72 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 116. 73 Zusammenfassend zu den Ansätzen der letzten Jahre Sunstein, Social Norms And Social Roles, 96 (1996) Columbia Law Review 903 (942); vgl. auch Korobkin, The Status Quo Bias And Contract Default Rules, 83 (1998) Cornell Law Review 608 (625 mit ausführlichen Literaturhinweisen); ausführlich zum »Endowment« - Effekt Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 125. 74 Korobkin, The Status Quo Bias And Contract Default Rules, 83 (1998) Cornell Law Review 608. 75 Korobkin, The Status Quo Bias And Contract Default Rules, 83 (1998) Cornell Law Review 608 (634 ff.).
2. Kapitel: Die zugrunde liegenden
76
Prinzipien
über gaben sie nur einen Maximalbetrag 7 6 für die »willingness to pay« von $ 4,46 an, wenn gefragt wurde, wieviel der Mandant bezahlen solle, um sich von der ihn benachteiligenden Regelung freizukaufen. 7 7 Bei einer rein exogenen Präferenzbildung hätten die Befragten beide Situationen einheitlich bewerten müssen. N a c h Korobkin
läßt sich die D i f f e r e n z
zwischen der »willigness to pay« und der »willingness to accept« aus p s y c h o l o gischen M o t i v e n erklären, w o n a c h es den Parteien in Verhandlungen zunächst wichtig ist, einen möglichen Rechtsverlust zu vermeiden. 7 8 A u f welche p s y c h o logische U r s a c h e dieser E f f e k t aber letztlich zurückzuführen ist, ist nicht geklärt. 7 9 Z w a r kann bezweifelt werden, o b die E x p e r i m e n t e tatsächlich eine A u s sage über die A b w i c k l u n g von Verträgen in der Wirklichkeit treffen k ö n n e n . 8 0 Festgehalten werden kann aber, daß sich Parteien zumindest in Situationen, in denen der Wert der Sache nicht einfach zu ermitteln ist, am Besitz einer Sache oder Zustehen eines R e c h t s als Anhaltspunkt orientieren. E i n e Situation, in der dieser E f f e k t deutlich wird, ist die Verhandlungsposition der Partei vor einem gerichtlichen Vergleich. In den seltensten Fällen wird eine Partei die Verhandlungssituation nur anhand des tatsächlichen M a r k t w e r t s des Anspruchs zuzüglich der möglichen P r o z e ß k o s t e n beurteilen. Entscheidender sind die E r f o l g s aussichten des Prozesses. M u ß ein wahrscheinlich zuerkanntes R e c h t abgekauft werden, erhöht sich sein Wert für den potentiellen Anspruchsinhaber. G e g e n die A n w e n d b a r k e i t des von Posner entwickelten Modells spricht daher schon seine unrealistische A n n a h m e über das Parteiverhalten und damit über die Marktgegebenheiten, die dem Vertrag zugrunde liegen.
3. Effizienz
ist kein
Prinzip
N e b e n der Frage, o b das Effizienzmodell dazu geeignet ist, die Vertragswirklichkeit angemessen zu beschreiben, bestehen B e d e n k e n dagegen, daß Effizienz ein Wert ist, auf den sich die R e c h t s p r e c h u n g legitimerweise berufen darf. O k o 76 Nach Korobkin, The Status Quo Bias And Contract Default Rules, 83 (1998) Cornell Law Review 608 (636) besteht bei der Frage nach der »willingness to pay« (WTP) die Gefahr einer Unterbewertung und bei der Frage nach der »willingness to accept« (WTA) eine der Uberbewertung, da die Bewertung Grundlage einer späteren Verhandlung sein soll. Um diesen Effekt auszugleichen, sollten die Studenten die WTP mit einem Maximalwert und die WTA mit einem Minimalwert angeben. 77 Korobkin, The Status Quo Bias And Contract Default Rules, 83 (1998) Cornell Law Review 608 (639). 78 Korobkin, The Status Quo Bias And Contract Default Rules, 83 (1998) Cornell Law Review 608 (656 f.). 79 Arien, Comment: The Future Of Behavioral Economic Analysis Of Law, 52 (1998)Vanderbilt Law Review 1765 (1777). 80 Arlen, Comment: The Future Of Behavioral Economic Analysis Of Law, 52 (1998) Vanderbilt Law Review 1765 (1777); zu dieser Kritik Dau-Scbmidt, Economics And Sociology: The Prospects For An Interdisciplinary Discourse On Law, 1997 Wisconsin Law Review 389.
§ S: Judizieller
Schutz berechtigter
Erwartungen
n o m i s c h e E f f i z i e n z ergibt sich nach Posner
des
Arbeitnehmers
aus d e m s o g e n a n n t e n
77 »wealth
m a x i m i z a t i o n principle«, das er s y n o n y m mit d e m s c h o n o b e n b e s c h r i e b e n e n 8 1 K a l d o r / H i c k s - K r i t e r i u m v e r w e n d e t . 8 2 D i e effiziente vertragsrechtliche L ö s u n g setzt danach voraus: »To recapitulate, the Wealth-maximization principle implies, first, an initial distribution of individual rights (to life, liberty, and labor) to their natural owners; second, free markets to enable those rights to be reassigned from time to time to other uses; third, legal rules that simulate the operations of the market when costs of market transactions are prohibitive; fourth, a system of legal remedies for deterring and redressing invasions of rights; and fifth, a system of personal morality (the »protestant virtues«) that serves to reduce the costs of market transactions. Where the traditional common law fields to be reorganized along more functional lines, the first field of these areas would be the domain of property law, the second of contract law, the third of tort law, and the fourth of procedural and remedial (including criminal) law«. 83 D i e ursprüngliche A n s p r u c h s b e r e c h t i g u n g , die A u s g a n g s p u n k t der R e s s o u r c e n a l l o k a t i o n ist, solle sich daran ausrichten, w e r den T r a n s a k t i o n s g e g e n s t a n d m e h r schätze, mit anderen W o r t e n , w e r bereit sei, dafür m e h r zu z a h l e n . 8 4
Pos-
ner r ä u m t ein, daß diese Z u o r d n u n g w o h l h a b e n d e Beteiligte b e v o r z u g t . 8 5 I n den achtziger J a h r e n hat Posner
versucht, das w e a l t h - m a x i m i z a t i o n principle als
das die R e c h t s o r d n u n g b e s t i m m e n d e P r i n z i p k o n s e n s t h e o r e t i s c h zu b e g r ü n d e n . 8 6 O b w o h l das »wealth m a x i m i z a t i o n principle« nicht auf ein p a r e t o o p t i males E r g e b n i s abstellt, d e m die Beteiligten o h n e Z w e i f e l z u s t i m m e n k ö n n e n , da n i e m a n d s c h l e c h t e r gestellt wird, sollte nach seiner früheren A n s i c h t die H y p o t h e s e ausreichen, daß eine Schlechterstellung k o m p e n s i e r t w e r d e n k ö n n t e . D e r Schlechtergestellte sollte aus w o h l f a h r t ö k o n o m i s c h e r Sicht in einer v e r m u -
Vgl. § 5 I, S. 70. Posner, Economic Analysis Of Law (1998), S. 14 f und derselbe, The Ethical And Political Basis Of The Efficiency Norm In Common Law Adjudication, 8 (1980) Hofstra Law Review 487 (491). 83 Zu den beschriebenen Arbeitsschritten Posner, Utilitarism, Economics, And Legal Theory, 8 (1979) Journal Of Legal Studies 103 (127). 84 Posner, Utilitarism, Economics, And Legal Theory, 8 (1979) Journal Of Legal Studies 103 (125). In dieser Hinsicht unterscheide sich die ökonomische an »Wealth maximization« ausgerichtete Theorie von utilitaristischen Erklärungen, die Werte über nicht meßbare Kriterien (Glück) definierten, aaO., S. 119. 85 Economic Analysis Of Law (1998), S. 13. Dort erörtert Posner ein scheinbar absichtlich bizarr gewähltes Beispiel, um zu zeigen, daß »Wertschätzung« nur danach bemessen werden soll, wieviel der einzelne für ein Gut zahlen kann und will: Eine arme Familie kann wenig aufwenden, um ein Medikament zu kaufen, das ihrem kleinwüchsigen Kind zu einer Normalgröße verhelfen würde. Eine reiche Familie, die durch das Medikament den Normalwuchs ihres Kind um einige Zentimeter erhöhen könnte, ist bereit, mehr für das Medikament zu bezahlen. Nach der ökonomischen Analyse soll die reiche Familie das Medikament bekommen, da es für sie am meisten wert ist. 86 The Ethical And Political Basis Of The Efficiency Norm In Common Law Adjudication, 8 (1980) Hofstra Law Review 487 (488). 81 82
2. Kapitel: Die zugrunde liegenden
78
Prinzipien
teten G e n e r a l k o m p e n s a t i o n entschädigt w e r d e n , die letztlich in einer Teilhabe an allgemeinem
Wirtschaftswachstum
R e c h t f e r t i g u n g ist, hat Eidenmüller Posner
besteht.87
Wie problematisch
diese
bereits gezeigt. 8 8
s c h r ä n k t e seine k o n s e n s t h e o r e t i s c h e A b l e i t u n g des » w e a l t h - m a x i -
m i z a t i o n p r i n c i p l e « aber auch s c h o n in den achtziger J a h r e n in zwei F ä l l e n ein. Seiner damaligen A n s i c h t nach k o n n t e das » w e a l t h - m a x i m i z a t i o n principle« dann keine v o m R e c h t u n a b h ä n g i g e H a n d l u n g s e m p f e h l u n g geben, w e n n entw e d e r s c h o n die rechtliche Ausgangsverteilung n a h e z u das gesamte V e r m ö g e n einer P e r s o n b e t r a f oder w e n n die effiziente Verteilung den a n e r k a n n t e n W e r t e n der Gesellschaft widersprach. Falls die anfängliche r e c h t l i c h e Z u o r d n u n g s c h o n den w e s e n t l i c h e n Teil des V e r m ö g e n s a u s m a c h t e (»wealth effect« o d e r » E i n k o m m e n s e f f e k t « 8 9 ) r ä u m t e Posner90
der r e c h t l i c h e n u n d nicht der ö k o n o m i s c h e n Verteilung die b e s t i m -
m e n d e F u n k t i o n ein, w o b e i er die genaue G r e n z e 9 1 o f f e n ließ: »If, however, the right in question constitutes a large fraction of the possessor's wealth, the initial assignment may be the final one and there will be no unique efficient outcome. For example, if A is made B's slave, he may not be able to buy his freedom from B, so the right to As labor, if initially vested in B, will remain there and this solution will be efficient. But if A is initially assigned the right to his own labor, B may not be willing to pay the price necessary to induce A to part with that right. The initial assignment will again be the final assignment and again will be efficient - but it will be a different assignment than if B had been granted the right initially.«92
87 Posner, Economic Analysis Of Law (1998), S. 16: »One answer is that the things that wealth makes possible - not only or mainly luxury goods, but leisure, comfort, modern medicine, and opportunities for selfexpression and self-realization - are major ingredients of most people's happiness, so that wealth maximization is instrumental to utility maximization.« Vgl. zur konsenstheoretischen Legitimation des Kaldor/Hicks-Kriteriums, Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 38: »In keinem der reichen Staaten, in denen insbesondere die Rechtsinstitute der Vertragsfreiheit und des Eigentums zur Generierung dieses Reichtums geführt haben, gibt es gesellschaftliche Gruppen, denen es wirtschaftlich schlechter geht als den entsprechenden Gruppen in ärmeren Gesellschaften, die auf Reichtumsmaximierung aus den verschiedensten Gründen verzichtet haben. Der Grund dafür, daß die Menschen in Lateinamerika, China, Indien oder Rußland mehr und mehr ein effizienzorientiertes Gesellschafts- und Wirtschaftssystem akzeptieren, ist nicht die Aussicht auf eine gerechtere Verteilung, sondern auf Partizipation am Wachtstumsprozeß, mögen auch Benachteiligungen im Einzelfall und ein Mehr an Ungleichheit die Folge sein.« 88 Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 264. 89 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 118. 90 Posner, Utilitarism, Economics, And Legal Theory, 8 (1979) Journal Of Legal Studies 103 (108 f.). 91 Rizzo, The Mirage Of Efficiency, 8 (1980) Hofstra Law Review 641 (651). 92 Posner,The Ethical And Political Basis Of The Efficiency Norm In Common Law Adjudication, 8 (1980) Hofstra Law Review 487 (502) modifiziert das Sklavereibeispiel dahingehend, daß die Freiheit einen eigenständigen Wert habe, der in Arbeit umwandelbar sei. In diesem Fall habe der »Freie« einen höheren Marktwert als der Sklave. Gebe es keine Sklaverei, könne der »Freie« gleich seine Arbeitskraft verkaufen und der Freikauf als Transaktion ent-
§ 5: Judizieller
Schutz berechtigter
Erwartungen
des Arbeitnehmers
79
Ein damit zusammenhängendes Problem sah Posner in dem Fall, in dem die effiziente Verteilung den ethischen Grundwerten der Gesellschaft widersprach 93 : Erweise sich unter bestimmten Umständen die Sklavenhaltergesellschaft als effizient, sprächen jedoch ethische Gründe gegen eine entsprechende Umgestaltung der Gesellschaftsordnung. 94 In diesen beiden Extremfällen verenge sich der Anwendungsbereich der ökonomischen Analyse: Sie bezeichne nicht mehr den Grund der Verteilungsentscheidung, sondern könne nur noch im Sinne einer Rechtsfolgenanalyse Hinweise geben, wie die rechtliche Anspruchsverteilung angesichts der ökonomischen Interessen der Parteien am besten verwirklicht werden könne. 95 In seinem Lehrbuch aus dem Jahr 1998 versteht Posner Effizienz nunmehr als eine unter mehreren möglichen Handlungsempfehlungen, die nichts über die Gerechtigkeit oder Vorzugswürdigkeit der Verteilung sagt: »Economics does not answer the question of the existing distribution of income wealth is good or bad, just or unjust, although it can tell us a great deal about the costs of altering the existing distribution, as well as about the distributive consequences of various policies; neither does it answer the ultimate question whether an efficient allocation of resources would be socially or ethically desirable. Thus, the economist's competence in a discussion of legal system is limited. He can predict the effect of legal rules on value and efficiency, in their strict technical senses, and on the existing distribution of income and wealth, but he cannot issue mandatory prescriptions for social change.« 96
Entscheidend für das hier zu erarbeitende Modell ist, ob Effizienz ein Rechtsprinzip ist. Nach den vorangestellten Überlegungen muß untersucht werden, ob das Kriterium der ökonomischen Effizienz einen eigenen, verallgemeinerungsfähigen Zuteilungsmaßstab bildet. Diese Frage kann nicht abstrakt beantwortet werden, sondern wird im Folgenden am Beispiel der amerikanischen Diskussion um die Risikoverteilung im Arbeitsunfallrecht analysiert.
falle. Dieses Beispiel ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Posner zeigt nicht, warum der Sklave einen geringeren Wert als der »Freie« hat. Von dieser Voraussetzung hängt aber das Ergebnis der von Posner vorgenommenen ökonomischen Analyse ab. 93 Posner, The Ethical And Political Basis Of The Efficiency Norm In Common Law Adjudication, 8 (1980) Hofstra Law Review 487 (500). 94 Posner, The Ethical And Political Basis Of The Efficiency Norm In Common Law Adjudication, 8 (1980) Hofstra Law Review 487 (501). 95 Posner, Utilitarism, Economics, And Legal Theory, 8 (1979) Journal Of Legal Studies 103 (108 f.). 96 Posner, Economic Analysis Of Law (1998), S. 15.
80
2. Kapitel: Die zugrunde
liegenden
Prinzipien
»The cost of the product should bear the blood of the working man.« 97 a) Risikoverteilung bei Arbeitsunfällen ökonomischen Analyse
nach der
neoklassischen
D e r Einfluß der Ausgangsverteilung 9 8 auf eine an Effizienz ausgerichtete Pflichtenbegründung ist in der amerikanischen Literatur angesichts der R e f o r m der arbeitsrechtlichen Unfallhaftung 9 9 erneut diskutiert w o r d e n . 1 0 0 Die neoklassische ökonomische A n a l y s e geht davon aus, daß der Arbeitgeber schon aufgrund seines ökonomischen Eigeninteresses Unfälle verhindert. So f ü h r t Posner aus, daß es auf der Hand liege, daß der Arbeitgeber zahle, w e n n die Versicherungskosten unter den erwarteten Schadenskosten lägen. Eine gesetzliche Festsetzung könne dagegen den Standard zum Nachteil beider G r u p p e n zu hoch ansetzen. 1 0 1 Die Haftungsregel als solche ist nach der neoklassischen ö k o nomischen A n a l y s e effizient, wenn sie einen A n r e i z setzt, damit die Parteien die gefährlichen Tätigkeiten verringern oder Schutzmaßnahmen ergreifen 1 0 2 und dadurch Kosten gesenkt werden. 1 0 3 Die Internalisierung v o n Kosten 1 0 4 , also die Verteilung der Risiken an die beteiligten Parteien und nicht an unbeteiligte Dritte wie etwa den Steuerzahler, soll dazu das geeignete Mittel sein. Was bedeutet dies nun f ü r die Haftungsverteilung bei Arbeitsunfällen? A n d e r s als bei Unfällen zwischen Personen, die keinen Vertrag abgeschlossen haben, erhöhen Unfallkosten nach der neoklassischen ökonomischen A n a l y s e im Vertrags-
97 Motto der Gesetzesinitiative zur Änderung des Workers Compensation Act 1910, siehe dazu Friedman/Ladinsky, Social Change And The Law Of Industrial Accidents, 67 (1967) Columbia Law Review 50 (53 Fußnote 14). 98 Vgl. zu diesem grundsätzlichen Problem Coleman, Risks And Wrongs (1992), S. 177 ff.; White, Coase And The Courts: Economics For The Common Man, 72 (1987) Iowa Law Review 577; Kennedy, Cost-Benefit Analysis Of Entitlement Problems: A Critique, 33 (1981) Stanford Law Review 387; derselbe, Distributive And Paternalist Motives In Contract And Tort Law With Special Reference To Compulsory Terms And Unequal Bargaining Power, 41 (1982) Maryland Law Review 563; Kelman, Consumption Theory, Production Theory, And The Ideology In The Coase Theorem, 52 (1979) Southern California Law Review 669; vgl. zum Problem der »Hintergrundrechte« auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 138 ff. 99 Die in den jeweiligen Staaten unterschiedlich geregelte privatrechtliche Unfallhaftpflicht des Arbeitgebers sieht z.T. Lohnfortzahlung und Ersatz von Heilungskosten bei Arbeitsunfällen vor. Die Haftung ist verschuldensunabhängig ausgestaltet, aber auf bestimmte Höchstbeträge begrenzt. Anspruchsgegner im Haftungsfall ist eine über Arbeitgeberbeiträge finanzierte privatrechtliche Versicherung McClusky, The Illusion Of Efficiency Of The Workers' Compensation »Reform«, 50 (1998) Rutgers Law Review 661 (670 f.). 100 McClusky, The Illusion Of Efficiency Of The Workers' Compensation »Reform«, 50 (1998) Rutgers Law Review 661; Schroeder/Shapiro, Response To Occupational Disease: The Role Of Markets, Regulation, And Information, 72 (1984) Georgetown Law Journal 1231. 101 Posner, Economic Analysis Of Law (1998), S. 363. 102 Shavell, Strict Liability Versus Negligence, 9 (1980) Journal Of Legal Studies 1. 103 Calabresi, The Costs Of Accidents (1970), S. 26 ff. 104 Calabresi, The Cost Of Accidents (1970), S. 144.
5 5: Judizieller
Schutz berechtigter
Erwartungen
des Arbeitnehmers
81
Verhältnis den Leistungspreis, hier also den L o h n . 1 0 5 N u r w e n n der Preis für U n f ä l l e z u n i e d r i g sei, k ö n n e d e r A r b e i t g e b e r g e f ä h r l i c h e P r o d u k t i o n s w e i s e n o h n e finanzielle E i n b u ß e weiterführen.106 U b e r eine k o r r e k t e
Preisbildung
k ö n n e n I n f o r m a t i o n e n ü b e r die a u f g e w e n d e t e n R e s s o u r c e n w e i t e r g e g e b e n u n d eine b e w u ß t e und informierte E n t s c h e i d u n g ü b e r den V e r b r a u c h
bestimmter
G ü t e r getroffen w e r d e n . 1 0 7 Dieses K o n z e p t b e r u h t auf der Vorstellung, daß P r e i s e e i n I n d e x f ü r d i e a u f g e w e n d e t e n R e s s o u r c e n u n d d a m i t das e i n f a c h s t e Informationsmittel
über
Ressourcenknappheit
sind108, da diese
dezentrale
Informationsvermittlung über Preise im Vergleich zu einer staatlich gelenkt e n 1 0 9 flexibler und schneller ist.110 G e r a d e für den B e r e i c h des Individualarb e i t s r e c h t s i s t es a b e r n e b e n d e r F r a g e , o b E f f i z i e n z e i n R e c h t s p r i n z i p ist, s e h r z w e i f e l h a f t , o b L ö h n e in d e r W i r k l i c h k e i t d i e s e F u n k t i o n ü b e r h a u p t ü b e r n e h men können. b) Kritik
der amerikanischen
Literatur
am
Effizienzkriterium
D i e K r i t i k an d e m n e o k l a s s i s c h e n E f f i z i e n z m o d e l l s t ü t z t s i c h a u f z w e i Ü b e r l e gungen. Sie w e n d e t sich z u m einen g r u n d s ä t z l i c h dagegen, daß E f f i z i e n z ein w e r t u n a b h ä n g i g e s K r i t e r i u m i s t . 1 1 1 Z u m z w e i t e n v e r h i n d e r t e n es s c h o n
die
M a r k t b e d i n g u n g e n s e l b s t , d a ß s i c h U n f a l l k o s t e n in L o h n k o s t e n n i e d e r s c h l a g e n Shavell, Strict Liability Versus Negligence, 9 Journal O f Legal Studies 1 (5). Shavell, Strict Liability Versus Negligence, 9 Journal O f Legal Studies 1 (4). 107 Calabresi, Some Thoughts O n Risk Distribution And The Law O f Torts, 70 (1961) Yale Law Journal 409 (502). 108 Hayek, The Use O f Knowledge In Society, 35 (1945) American Economic Review 519 (526): »Fundamentally in a system where the knowledge of the relevant facts is dispersed among many people prices can coordinate the separate actions of people in the same way as subjective values help the individual to coordinate the parts of his plan.« 109 Calabresi, Some Thoughts O n Risk Distribution And The Law O f Torts, 70 (1961) Yale Law Journal 409 (502) führt dazu folgenden Beispielsfall an: In Gesellschaft A fallen Kosten bei Autounfällen beim Verursacher an; dagegen werden Unfallkosten in Gesellschaft B über eine allgemeine Steuer ausgeglichen. T kann in Gesellschaft A überlegen, ob er anstelle des Autos öffentliche Verkehrsmittel benutzt. In Gesellschaft B wird T diese Wahl genommen. 110 Hayek, The Use O f Knowledge In Society, 35 (1945) American Economic Review 519 (520): »And the problem of what is the best way of utilising knowledge initially dispersed among all the people is at least one of the main problems of economic policy - or of designing an efficient system. The answer to this question is closely connected with that other question which arises here, that of who is to do the planning« und vgl. auch S. 524: »We cannot expect that this problem will be solved by first communicating all this knowledge to a central board which, after integrating all knowledge, issues its orders. We must solve it by some form of decentralization. But this answers only a part of our problem. We need decentralization because only thus can we ensure that the knowledge of the particular circumstances of time and place will be promptly used.« 111 McClusky, The Illusion O f Efficiency In Workers'Compensation »Reform«, 50 (1998) Rutgers Law Review 661 (721); Coleman, Risks And Wrongs (1992), S. 177 ff.; Kennedy, Distributive And Paternalist Motives In Contract And Tort Law, With Special Reference To Compulsory Terms And Unequal Bargaining Power, 41 (1982) Maryland Law Review 563; derselbe, Cost-Benefit Analysis O f Entitlement Problems: A Critique, 33 (1981) Stanford Law 105 106
82
2. Kapitel: Die zugrunde
liegenden
Prinzipien
und somit zu einer Indexierung v o n Ressourcen führen können. 1 1 2 Die theoretische Ausrichtung an Effizienz verdecke vielmehr die eigentliche Wertung, an der sich die ökonomische A n a l y s e orientiere. 1 1 3 Schon die Differenzierung, was als Arbeitsunfall und was als allgemeines Lebensrisiko anzusehen sei, entscheide sich aufgrund einer Wertung, die außerhalb des Effizienzbegriffs liege. Es existierten keine ökonomischen Parameter 1 1 4 , um festzustellen, was f ü r die G e sellschaft am sinnvollsten sei und w e r Güter und Rechte f ü r die Gesellschaft am besten nutzen könne. 1 1 5 Die Frage, »was v o n was ein Kostenfaktor« sei, stelle sich stets als wertungsabhängige Kausalitätsfrage. Erst wenn diese Wertung feststehe, folge daraus, daß dem »Verursacher« die Kosten auferlegt werden müssen, mit anderen W o r t e n zu internalisieren sind. 1 1 6 Die Frage, welche K o Review 387; Kelman, Consumption Theory, Production Theory, And The Ideology In The Coase Theorem, 52 (1979) Southern California Law Review 669. 112 McCluskey, The Illusion Of Efficiency In Workers'Compensation »Reform«, 50 (1998) Rutgers Law Review 661 (754). 113 Zur Kritik an der »law and economics«- Richtung vgl. aus neuerer Zeit insbesondere für das Arbeitsrecht McClusky, The Illusion Of Efficiency In Workers'Compensation »Reform«, 50 (1998) Rutgers Law Review 661 (721); zusammenfassend für die ökonomische Analyse des Kollektivarbeitsrechts Wächter/Cohen, The Law And Economics Of Collective Bargaining, 136 (1988) University Of Pensylvania Law Review 1349 (1351); zur grundlegenden Kritik daran, Effizienz als Wert anzusehen, Dworkin, Taking Rights Seriously (1997); S. 97 ff.; Kennedy, Distributive And Paternalist Motives In Contract And Tort Law, With Special Reference To Compulsory Terms And Unequal Bargaining Power, 41 (1982) Maryland Law Review 563; derselbe, Cost-Benefit Analysis Of Entitlement Problems: A Critique, 33 (1981) Stanford Law Review 387; Kelman, Consumption Theory, Production Theory, And The Ideology In The Coase Theorem, 52 (1979) Southern California Law Review 669; zur grundlegenden Kritik an wohlfahrtsökonomischen Theorien vgl. Little, A Critique Of Welfare Economics (1960), S. 82. 114 White, Coase And The Courts: Economics For The Common Man, 72 (1987) Iowa Law Review 577 (593). 115 Posner, Utilitarism, Economics, And Legal Theorie, 8 (1979) Journal Of Legal Studies 103 (125). 116 Kennedy, Cost-Benefit Analysis Of Entitlement Problems: A Critique, 33 (1981) Stanford Law Review 387 (396), der sich auf ein von Coase verwendetes Beispiel bezieht, in dem es um die Störung von Anwohnern durch eine Fabrik geht. Die Fabrik verursache im Beispielsfall die anwohnerstörende Umweltverschmutzung, daher seien die entstehenden Kosten durch ein Haftungsrecht so zu internalisieren, daß ein Anreiz zu schadenverhinderndem Verhalten geschaffen werden könne. Sehe man dagegen die nahe Bebauung und die Umweltverschmutzung als zwei Zustände an, die durch ihr Zusammentreffen zunächst nur »gemeinsam« Kosten hervorriefen, so sei unklar, ob die Fabrik die angrenzenden Nachbarn störe und somit ungerechtfertigt und auf deren Kosten produziere. Nur wenn dieses Werturteil bereits gefällt sei, folge daraus, daß gerade der Fabrik Kosten auferlegt werden müßten. Auch die Bestimmung der Transaktionskosten sowie der im Arbeitsunfallrecht und im Versicherungsrecht gebräuchliche ökonomische Begriff des »moral hazard« seien stets nur von einer offen oder verdeckt zugrunde gelegten Wertentscheidung abhängig McCluskey, The Illusion Of Efficiency In Workers'Compensation »Reform«, 50 (1998) Rutgers Law Review 661 (736 und 742). Die mit den fiktiven Verhandlungen verbundenen Transaktionskosten könnten sich sowohl als zu vermeidende Kosten darstellen als auch Faktoren sein, die bei der Preisbildung zu berücksichtigen seien. So seien Informationskosten zum Teil als störende Transaktionskosten einzuor-
5 5: Judizieller
Schutz berechtigter
Erwartungen
des Arbeitnehmers
83
sten in die Preisbildung miteinfließen sollten, hänge ausschließlich v o n dieser oftmals verdeckten politischen Grundentscheidung ab. 1 1 7 Theoretisch basiere das K o n z e p t der neoklassischen ökonomischen Analyse auf zweifelhaften A x i o m e n : der A n n a h m e eines neutralen Staates und der eines neutralen Effizienzbegriffs. 1 1 8 Neben dieser grundsätzlichen Kritik wird eingewendet, daß es nirgendwo dokumentiert sei, daß sich Unfallkosten jemals lohnerhöhend ausgewirkt hätten. 1 1 9 Gegen einen funktionierenden Lohnmechanismus spreche schon, daß die Informationen über das Risiko der Unfallwahrscheinlichkeit ungleich verteilt seien und Marktanreize zur A u f k l ä r u n g des Arbeitnehmers fehlten. 1 2 0 Bei Berufskrankheiten sei schon die Informationsermittlung kostspielig. D e r A r beitgeber handele geradezu irrational, w e n n er Informationen zum eigenen Nachteil an den Arbeitnehmer weitergebe. 1 2 1 Gutachten und Untersuchungen über Berufskrankheiten lägen z w a r im Interesse der Arbeitnehmer, jedoch sei es nahezu ausgeschlossen, daß Arbeitnehmer diese Studien in A u f t r a g gäben. 1 2 2 Schon wegen der asymmetrischen Informationsverteilung bleibe die Lohnhöhe trotz bestehender Risiken konstant. 1 2 3 den. Wechsele man aber die Perspektive, seien sie selbst preisbildende Faktoren wie etwa im Verhältnis des Rechtsanwalts zu Mandanten. McCluskey, aaO., S. 740. Die Definition bestimmter Kosten als Transaktionskosten oder als preisbildende Umstände hänge damit nur von dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis ab; da der Rechtsanwalt einen vertraglichen Anspruch auf Vergütung habe, seien Informationen in diesem Verhältnis preisbildend. Für eine Drittbeziehung seien sie dagegen Transaktionskosten. Die rechtliche Ausgangslage, von der die ökonomische Analyse ausgeht, wirkt sich demnach auf die Begriffsbestimmung der Transaktionskosten aus. Ausschließlich aus einer ökonomischen Perspektive kann der Begriff der Transaktionskosten losgelöst von der ursprünglichen rechtlichen Anspruchszuordnung nicht definiert werden. 117 Kennedy, Distributive And Paternalist Motives In Contract And Tort Law, With Special Reference To Compulsory Terms And Unequal Bargaining Power, 41 (1982) Maryland Law Review 563 (597). Vgl. dazu auch McCluskey, The Illusion Of Efficiency In Workers' Compensation »Reform«, 50 (1998) Rutgers Law Review 661 (725); White, Coase And The Courts: Economics For The Common Man, 72 (1987) Iowa Law Review 577 (582). 118 Kelman, Distributive And Paternalist Motives In Contract And Tort Law, With Special Reference To Compulsory Terms And Unequal Bargaining Power, 41 (1982) Maryland Law Review 563 (675 und 678). 119 McCluskey, The Illusion Of Efficiency In Workers'Compensation »Reform«, 50 (1998) Rutgers Law Review 661 (754). 120 Schroeder/Shapiro, Response To Occupational Disease: The Role Of Markets, Regulation, And Information, 72 (1984) Georgetown Law Journal 1231 (1237) insbesondere für Berufskrankheiten. 121 Schroeder!Shapiro, Response To Occupational Disease: The Role Of Markets, Regulation, And Information, 72 (1984) Georgetown Law Journal 1231 (1237). 122 Schroeder!Shapiro, Response To Occupational Disease: The Role Of Markets, Regulation, And Information, 72 (1984) Georgetown Law Journal 1231 (1238). 123 Schroeder/Shapiro, Response To Occupational Disease: The Role Of Markets, Regulation, And Information, 72 (1984) Georgetown Law Journal 1231(1239). Ein statistischer Nachweis, daß sich in den vereinigten Staaten Unfallrisiken in Löhnen niederschlage, fehlt da-
2. Kapitel: Die zugrunde liegenden
84 c) Übertragung
der
Prinzipien
Problematik
Was bedeutet diese K r i t i k nun für die Vereinbarkeit von Effizienz mit einer prinzipiengeleiteten Argumentation? I m deutschen Arbeitsvertragsrecht ist die H a f t u n g des Arbeitgebers für Gesundheitsverletzungen gesetzlich in § § 6 1 8 , 2 8 0 Abs. 1 B G B geregelt. D i e P r o b l e m a t i k , wie die R e c h t s p r e c h u n g Risiken im Arbeitsverhältnis verteilen soll, stellt sich j e d o c h bei der Frage des sogenannten innerbetrieblichen Schadensausgleichs. N a c h der Rechtsprechung des B u n d e s arbeitsgerichts soll der Arbeitgeber einen Teil seines Sachschadens selbst tragen müssen, wenn er aufgrund einer zwar verschuldeten, aber betrieblich veranlaßten Tätigkeit des Arbeitnehmers entstanden ist. 1 2 4 D a r ü b e r hinaus hat der Arbeitgeber verschuldensunabhängig Schäden an Sachen des Arbeitnehmers zu ersetzen, die bei einem v o n ihm gebilligten Einsatz in seinem B e t r i e b entstanden sind. 1 2 5 D i e Angemessenheit dieser Risikoverteilung läßt sich anhand des E f f i z i e n z kriteriums weder verifizieren n o c h falsifizieren. N a c h den vorangestellten Überlegungen der neoklassischen ö k o n o m i s c h e n Analyse ist die Haftungsregel effizient, w e n n sie dazu führt, daß Unfälle verhindert oder zumindest Schutzmaßnahmen ergriffen werden, u m die U n f a l l k o s t e n zu senken. 1 2 6 N a c h diesem Ansatz sollte derjenige haften, der den kostengünstigsten Einfluß auf die U n fallvermeidung hat. Wer ist das? Z u m einen kann der A r b e i t n e h m e r den Unfall vermeiden. Z u m anderen ist es auch denkbar, daß der Arbeitgeber durch U m stellung der Arbeitsorganisation Unfälle verhindert, bei unvermeidbaren U n fällen die K o s t e n durch eine Versicherung gering hält oder durch die K o s t e n b e lastung dazu angehalten wird, die gefährliche Tätigkeit insgesamt zu reduzieren. 1 2 7 In der Entscheidung des achten Senats v o m 17.7.1997 1 2 8 ging es u m die Frage, ob der Arbeitgeber einen Sachschaden am N u t z f a h r z e u g des A r b e i t n e h mers tragen m u ß , das dieser bei seinem Arbeitseinsatz mit Billigung des A r b e i t gebers selbst schuldhaft beschädigt hatte. N a c h der o b e n genannten Verteilungsregel hätte der A r b e i t n e h m e r die K o s t e n selbst tragen müssen, da er den U n f a l l mit den geringsten K o s t e n hätte vermeiden k ö n n e n . D u r c h die K o s t e n last wäre für ihn ein A n r e i z gesetzt w o r d e n , Unfälle zukünftig zu vermeiden. Das Bundesarbeitsgericht stellte dagegen darauf ab, daß der A r b e i t n e h m e r mit nach. Mögliche Arbeitslosigkeit, fehlende Mobilität und Bindung der Arbeitnehmer aufgrund von Senioritätsregelungen stehen nach ihrer Ansicht einer Lohnbildung entgegen, welche die tatsächlichen Risiken widerspiegeln könne (aaO., S. 1240 f.). 124 Grundlegend B A G , Urt. v. 27.9.1994 - GS 1/89 - AP Nr. 103 zu §611 B G B Haftung des Arbeitnehmers. 125 Vgl. B A G , Urt. v. 17.7.1997 - 8 AZR 480/95 - AP Nr. 14 zu § 611 B G B Gefährdungshaftung des Arbeitgebers m.w.N. auf die ständige Rechtsprechung. 1 2 6 Vgl. oben § 5 I 3 a S. 80. 127 Vgl. zur ausführlichen Besprechung der Risikoverteilung im innerbetrieblichen Schadensausgleich § 10 III S. 191 ff. 1 2 8 8 AZR 480/95 - AP Nr. 14 zu § 611 B G B Gefährdungshaftung des Arbeitgebers.
§ 5: Judizieller Schutz berechtigter Erwartungen des
Arbeitnehmers
85
der L o h n z a h l u n g kein Äquivalent für Schäden an seinem Fahrzeug erhalten habe und der Arbeitgeber ohne den Einsatz des Arbeitnehmerfahrzeugs die U n f a l l k o s t e n hätte selbst tragen müssen. 1 2 9 E i n e mögliche Präventionsfunktion der H a f t u n g berücksichtigte das Bundesarbeitsgericht erst bei der Haftungsquote und gerade nicht bei der für das Zivilrecht unüblichen Schadensverlagerung zu Lasten des Arbeitgebers. 1 3 0 N a c h einer Verteilung, die sich ausschließlich an E f f i z i e n z orientiert, hätte es nahegelegen, dem A r b e i t n e h m e r den Schaden aufzubürden und damit einen A n r e i z zur Schadensvermeidung zu setzen. D e r Arbeitgeber hatte in dem zu entscheidenden Sachverhalt keinen Einfluß auf die k o n k r e t e Tätigkeit des Arbeitnehmers; er hätte durch seine Arbeitsorganisation das Schadensrisiko nicht verringern k ö n n e n und hätte das Fahrzeug auch nicht kostengünstiger als der A r b e i t n e h m e r versichern können. E r hätte also keine M a ß n a h m e n ergreifen k ö n n e n , u m den Unfall zu verhindern. A b e r stimmt diese Schlußfolgerung? Ist nicht vielmehr auch nach einer ö k o n o m i s c h e n Betrachtung der Arbeitgeber als Verursacher anzusehen, weil er das Fahrzeug für seine Z w e c k e hat benutzen lassen? Ist es nicht sinnvoller, dem Arbeitgeber eine Gefährdungshaftung aufzuerlegen, damit die potentiell gefährliche Tätigkeit grundsätzlich verringert wird, o b w o h l der A r b e i t n e h m e r den U n f a l l hätte k o n k r e t verhindern k ö n n e n ? A n dieser Stelle zeigt es sich, wie ungewiß eine an E f f i z i e n z ausgerichtete Verteilung bzw. die B e s t i m m u n g einer daran ausgerichteten Kausalität ist. Sie setzt nämlich voraus, daß der R e d u k t i o n der Tätigkeit des Arbeitgebers wie der Weiterproduktion ein N u t z e n w e r t zugeordnet werden kann. 1 3 1 Diese B e w e r tung beruht auf keinem rechtlichen Prinzip, da es nicht darum geht, einem Individuum oder einer G r u p p e nach einer verallgemeinerungsfähigen Erwägung R e c h t e zu sichern. Vielmehr fragt die nach E f f i z i e n z ausgerichtete Z u o r d n u n g nach der w o h l f a h r t s ö k o n o m i s c h e n und damit nach der politischen Z w e c k mäßigkeit. Diese politische Wertung k ö n n e n die G e r i c h t e nicht treffen. Effizienz ist kein Kriterium, das die ursprüngliche Z u o r d n u n g von R e c h t e n im Arbeitsrecht erklären kann. Dagegen kann E f f i z i e n z bei der R e c h t s f o l g e n beurteilung im R a h m e n der Abwägungsentscheidung zwischen Prinzipien eine 129 BAG, Urt. v. 17.7.1997 - 8 AZR 480/95 - AP Nr. 14 zu § 611 BGB Gefährdungshaftung des Arbeitgebers unter II 1. der Gründe. 130 BAG, Urt. v. 17.7.1997-8 AZR 4 8 0 / 9 5 - A P Nr. 14 zu §611 BGB Gefährdungshaftung des Arbeitgebers unter II 4. der Gründe. 131 Vgl. zu dieser Problematik Calabresi, The Cost Of Accidents (1970), S. 153 zur Frage, ob Unfälle zwischen Fußgängern und Autofahrern dadurch verringert werden sollen, daß eine Aktivität reduziert wird: » The matter is made more difficult by the fact that the best solution, i.e. the cheapest way of avoiding the cost, is often a reduction of both activities, walking and driving. And if it is hard to know whether people would give higher value to the walking or the driving that would have to be eliminated, it is even harder to compare each of these with the values people would give to the various combinations of walking and driving that would have to be eliminated to accomplish the same result.«
86
2. Kapitel: Die zugrunde
liegenden
Prinzipien
Rolle spielen. Stehen die abzuwägenden Prinzipien fest, kann es für die im konkreten Fall zu bildende Vorrangrelation durchaus beachtlich sein, wer den Schaden mit den geringsten Kosten vermeiden kann. In diesem Fall ist die ökonomische Analyse aber auf eine rein instrumenteile Funktion beschränkt, die von der hier in Frage stehenden Prinzipieneigenschaft streng getrennt werden muß.
II. Vertragsgerechtigkeit als Anknüpfungspunkt judizieller Pflichtbegründung 1. Zum Vorwurf der
Inhaltsleere
Wird die Vertragsgerechtigkeit zum Anknüpfungspunkt der judiziellen Nebenpflichten genommen, sieht man sich dem Einwand ausgesetzt, daß es sich dabei um ein formelles Prinzip ohne objektiv materielle Inhalte handelt. Oechsler132 kommt in seiner Untersuchung zum Ergebnis, daß Vertragsgerechtigkeit als Maßstab der judiziellen Pflichtbegründung inhaltlich nicht bestimmt werden kann. Er sieht den Maßstab der Vertragsgerechtigkeit in dem Gebot formaler Gerechtigkeit, gleiche Sachverhalte gleich und ungleiche ungleich zu behandeln. Auch ein im Sinne von Oechsler formell bestimmter Begriff der Vertragsgerechtigkeit setzt eine materiell inhaltliche Wertung voraus 133 , die er jedoch unter Hinweis auf den damit verbundenen infiniten Wertungsregreß als Teil des Gerechtigkeitsbegriffs ablehnt. 134 Erst aus der materiellen Wertung folgen die Bezugspunkte des Vergleichs von Gleichem und Ungleichem. Diese materiellen Bezugspunkte sind der Maßstab des Gleichheitssatzes, der als solcher hinsichtlich seines formal-instrumentellen Gerechtigkeitcharakters inhaltsleer ist. 135 Ein Beispiel mag dies verdeutlichen. Die Frage, ob ein Arbeitgeber Teil- und Vollzeitkräfte bei freiwilligen Sonderzahlungen gleich behandeln muß, läßt sich nur entscheiden, wenn feststeht, was materieller Bezugspunkt der Leistung ist und welchen legitimen Zweck der Arbeitgeber mit der Zahlung verfolgt. Die materiell gesetzliche Wertung z.B. in Art. 141 EGV entscheidet, ob eine Differenzierung zwischen den Gruppen erlaubt ist und es sich somit um wesentlich Gleiches oder Ungleiches handelt. Dem formellen Gleichheitssatz als solchem sind diese Wertungen nicht zu entnehmen. 136
Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 167. Weinberger, Moral und Vernunft (1992), S. 224. 134 Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 10. 135 Weinberger, Moral und Vernunft (1992), S. 193. 136 Yg| z u m arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz und dem verfassungrechtlichen Gleichheitssatz § 10 I. 132 133
§ 5: Judizieller
Schutz berechtigter
Erwartungen
des Arbeitnehmers
87
Oechsler weist die Versuche zurück, materielle Inhalte der Vertrags gerechtigkeit zu benennen. Er führt sie auf nicht nachvollziehbare subjektive Werturteile zurück. 137 Werde Vertragsgerechtigkeit dialektisch erklärt, sei sie stets auf einen letztlich problemunabhängigen Gerechtigkeitsinhalt bezogen, der keine Anbindung an die tatsächliche Vertragswirklichkeit habe. 138 Die gerechte Problemlösung des Einzelfalls sei letztlich ein hermeneutisches Problem, da sie davon abhänge, ob sich der Rechtsanwender von einer bestimmten vorgedachten Lösung aus der konkreten Einzelfrage nähere 139 oder ob »das Vorverständnis ergebnisoffen« sei. Nur in diesem Fall werde die im Einzelfall bestehende Gerechtigkeitsproblematik wahrgenommen: »... was an einer Parteivereinbarung gerecht und ungerecht ist, steht nicht bereits vor der Prüfung im Einzelfall in Gestalt eines Rechtsfolgenprogramms eines bestimmten Normtypus fest, sondern folgt u.a. aus einer Analyse des involvierten spezifischen Problempotentials, der Besonderheiten des von den Parteien unternommenen Leistungsaustauschs und - nicht zuletzt - aus den Wertungen und Rechtsfolgen des geltenden Rechts« 1 4 0 .
Die Analyse des einzelfallspezifischen Problempotentials und damit schon die Ordnung des Sachverhalts in Probleme und Unerhebliches setzt jedoch stets eine Wertung voraus. Das Hin- und Herwandern des Blicks des Rechtsanwenders zwischen dem rechtlichen Wertungsrahmen und der vorliegenden Einzelfallproblematik darf - und damit ist Oechsler zu folgen - freilich nicht dazu führen, daß die tatsächlichen Probleme der Vertragsdurchführung im Einzelfall dialektisch negiert werden. Die materielle Konkretisierung des Gerechtigkeitsbegriffs führt jedoch nicht zwangsläufig dazu, daß die einzelfallspezifische Problematik oder der »jeweils eigene Gerechtigkeitsgehalt der Parteivereinbarung« 141 übergangen werden. Die Rechtsprechung entwickelt die Nebenpflichten anhand von Maßstäben, die sich nicht aus dem Parteiwillen selbst legitimieren lassen. Die Verrechtlichung von Pflichten ist, entgegen der Ansicht von Oechsler, keine wertneutrale »Ubersetzung« der Vereinbarung der Parteien »auf die Ebene des Rechts« 142 . Wenn Oechsler den »Vergleichspunkt von rein tatsächlicher Parteivereinbarung und rechtlichem Vertrag« in der analytischen Betrachtung der von den Parteien vereinbarten Hauptleistungspflichten und der daraus entstehenden »Konkreti137 Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 86 ff. So wendet sich Oechsler gegen einen idealisierten »vernünftigen Parteiwillen«, der dazu führe, die Lebenswirklichkeit zu leugnen und die Problemlösungen allein an einer letztlich subjektiv gewählten Ordnung zu entwickeln. Ebenso lasse sich der von Schmidt-Rimpler verwendete »Richtigkeitsbegriff« nur durch einen ebenso nicht weiter erklärbaren Vertragssinn belegen, dem eine rechtliche Substanz fehle (aaO., S. 125 ff.). 138 Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 126. 139 Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 281. 140 Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, (1997), S. 297. 141 Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 281. 142 Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 293.
2. Kapitel: Die zugrunde liegenden
88
Prinzipien
sierung des Vertrages« sieht 1 4 3 , so k o m m t diese Analyse nicht ohne materielle Wertungen aus. Allein aus der von den Parteien v o r g e n o m m e n e n Konkretisierung des Gefahrenpotentials des Leistungsaustausches läßt sich nicht erklären, welchen Standard die R e c h t s p r e c h u n g zur Beurteilung der Regelungen heranzieht. Diese Frage beantwortet Oechsler
nicht:
»Der zentrale Maßstab von Kontrolle, Ergänzung und Korrektur aber liegt im Schutz des Gläubigervertrauens: Durch sein Leistungsversprechen bindet sich der Schuldner nicht nur hinsichtlich der ausdrücklich avisierten Rechtsfolgen, sondern legt sich auch auf Pflichteninhalte fest, deren Gegenstand er selbst nicht unbedingt antizipieren muß. Denn bestimmungsgemäß wirkt sein Leistungsversprechen auf die Vorstellungswelt des Gläubigers ein, erzeugt dort bestimmte Erwartungen und veranlaßt diesen zu Folgeverhalten. Wenn dabei auch nicht jedes subjektive Hoffen des Gläubigers den Schuldner bereits bindet, sondern nur ein an objektiven Horizonten überprüftes Vertrauen, so muß sich der Schuldner doch auf berechtigte Erwartungen der anderen Seite einlassen, will er sich nicht in Widerspruch zu seinem gerade abgegebenen Verhalten setzen.« 144 D i e Eingrenzung dieser »objektiven H o r i z o n t e « ist das P r o b l e m und nicht die Lösung. D i e Parteivereinbarung gibt keine A u s k u n f t darüber, an welcher G r e n z e Erwartungen des Arbeitnehmers aufzugreifen und zu verrechtlichen sind, sondern die von der R e c h t s p r e c h u n g materiell zugrunde gelegte Wertung. D i e s e r rechtliche Standard ist nun zu konkretisieren.
2. Vertragsgerechtigkeit
als
Reziprozität
»Gerecht, zweckmäßig und effektiv heißt die Losung.« Weinberger, Moral und Vernunft (1992), S. 191 D i e Entscheidung für die materielle und gegen die rein formelle B e s t i m m u n g der Vertragsgerechtigkeit zwingt nicht zu einer positiv gefaßten D e f i n i t i o n des gerechten Vertragsinhalts. E s ist unmöglich, eine Gerechtigkeitsformel mit einer inhaltlichen D e f i n i t i o n des gerechten Ergebnisses zu erarbeiten, die für die N e b e n p f l i c h t b e g r ü n d u n g in irgendeiner Weise nützlich sein k a n n . 1 4 5 E s gibt keinen richtigen, d.h. anhand einer Wertetabelle bestimmbaren
»gerechten
P r e i s « 1 4 6 für die Arbeitsleistung. Tariflöhne k ö n n e n den v o m Arbeitgeber einzuhaltenden Mindeststandard bezeichnen, der jedoch nicht der »gerechten« Bezahlung entspricht. Fehlt schon die Grundlage für die B e w e r t u n g der H a u p t Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 293. Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 294. 145 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 363. 146 Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht (1992), S. 186; von Stebut, Der soziale Schutz als Regelungsproblem des Vertragsrechts - Die Schutzbedürftigkeit von Arbeitnehmern und Wohnungsmietern (1982), S. 214. 143
144
5 5: Judizieller
Schutz berechtigter
Erwartungen
des
Arbeitnehmers
89
leistungspflicht, so ist es unmöglich, mit der Entwicklung von Nebenpflichten die vertraglichen Regelungen in der Weise zu korrigieren, daß in der Gesamtschau der vertraglichen Rechte und Pflichten insgesamt das »gerechte« Ergebnis erzielt wird. Die Angemessenheit einer judiziell begründeten Nebenpflicht kann nicht isoliert von dem übrigen Vertrag betrachtet werden. Es gibt keine wie es von Stebut formuliert - nur auf »Neben- oder Hauptpflichten und -rechte beschränkte Vertragsgerechtigkeit« 147 . Zusätzliche Nebenpflichten sind mit zusätzlichen Kosten verbunden, die der Arbeitgeber in seiner Gesamtkalkulation berücksichtigt. Eine von der Rechtsprechung nachträglich entwickelte Pflicht berührt stets das Gesamt«äquivalent« 148 des Vertrags. So ist die Verpflichtung des Arbeitgebers, dem Arbeitnehmer einen Parkplatz zur Verfügung zu stellen, mit Kosten verbunden, die sich lohnsenkend auswirken können. Kann der Arbeitgeber vorausgezahlte Schulungskosten vom Arbeitnehmer nicht zurückverlangen, wird er schon bei Vertragsschluß einen entsprechend niedrigeren Lohn vereinbaren. Neben der Schwierigkeit Pflichten isoliert zu gewichten, fehlt der Maßstab, um ein gerechtes Verhältnis der Gesamtheit der Leistungen feststellen zu können. 149 Die Vertragsgerechtigkeit kann daher nur eine Begründung für die Erforderlichkeit einer Nebenpflicht geben, eine Erklärung, wie diese Pflichten im Sinne einer positiven Gerechtigkeitsbestimmung zu entwickeln sind, dagegen nicht. 150 Selbst wenn man der Ansicht ist, daß es keine verläßliche Methode gibt, objektiv Richtiges oder Gerechtes festzustellen 151 , bedeutet das nicht zugleich, daß nicht in einer kritischen Analyse festgestellt werden kann, wann eine Regelung als »ungerecht« im rechtlichen, also im prinzipiengeleiteten Sinn empfunden wird. 152 Ubergeordneter Ansatzpunkt dieser materiellen Wertung kann nur das rechtliche Äquivalenzprinzip 153 in einem weit verstandenen Sinn 154 als Ausdruck der Vertragsgerechtigkeit sein. 155 Mit dieser Bewertung wird nicht 147 von Stebut, Der soziale Schutz als Regelungsproblem des Vertragsrechts - Die Schutzbedürftigkeit von Arbeitnehmern und Wohnungsmietern (1982), S. 217. In Bezug auf die Frage rechtlicher Äquivalenz Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts - Tendenzen zu seiner »Materialisierung«, AcP 200 (2000), S. 273 (326). 148 von Stebut, Der soziale Schutz als Regelungsproblem des Vertragsrechts - Die Schutzbedürftigkeit von Arbeitnehmern und Wohnungsmietern (1982), S. 217. 149 Behrens, Die ökonomischen Grundlagen des Rechts, Tübingen 1986, S. 192. 150 von Stebut, Der soziale Schutz als Regelungsproblem des Vertragsrechts - Die Schutzbedürftigkeit von Arbeitnehmern und Wohnungsmietern (1982), S. 220. 151 Weinberger, Moral und Vernunft (1992), S. 317. 152 Weinberger, Moral und Vernunft (1992), S. 186; vgl. auch Canaris, Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, in: Badura/ Scholz (Hrsg.), Festschrift Lerche (1993), S. 884. 153 Canaris, Die Bedeutung der justitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, in: Sitzungsberichte der bayrischen Akademie der Wissenschaften Heft 7 (1997), S. 8 (53). 154 Härle, Die Äquivalenzstörung (1995), S. 9 ff. 155 Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag (1981), S. 235. Auf die soziologische Erklärung
90
2. Kapitel: Die zugrunde
liegenden
Prinzipien
das zum Scheitern verurteilte Bemühen 1 5 6 um die Feststellung des »gerechten Preises« 157 wieder aufgegriffen. Anders als nach einer Vorstellung, nach welcher Vertragsgerechtigkeit Ausrichtungspunkt des gerechten Ergebnisses ist, ist Vertragsgerechtigkeit hier Maßstab einer kritischen Analyse. Vertragsgerechtigkeit schränkt daher die vertraglichen Regelungsmöglichkeiten im Sinne einer Determinante ein 158 , um die Äquivalenzerwartungen der Parteien zu koordinieren. Rechtliche Äquivalenz ist »die Gleichheit der rechtsgeschäftlichen Entscheidungen« 159 , die darauf beruht, daß die eigene Leistung nur erbracht wird, um als Gegenwert die Leistung des Vertragspartners zu erhalten. Rechtliche Äquivalenz als »Strukturprinzip des Austauschvertrags« 160 ist von wirtschaftlicher Äquivalenz im Ausgangspunkt zunächst zu trennen. Die vertragliche Zweckbeziehung ist aufgrund des eingegangenen Versprechens als solchem äquivalent und nicht aufgrund eines Vergleichs mit den Marktpreisen. Rechtliche Äquivalenz ist daher die vom Marktwert unabhängige, »aus der Zweckstruktur des Vertrags folgende Pflichtensymmetrie«. 161 Der rechtliche Schutz der Reziprozität unterliegt als Prinzip, wie Köndgen gezeigt hat, den Regelungen des Synallagmas in den §§ 323 ff. B G B , der Anordnung der Zug-um-Zug Erfüllung in § 3 2 0 B G B 1 6 2 wie den Regelungen über den Wegfall der Geschäftsgrundlage oder den Aufwendungsersatzansprüchen des Geschäftsführers gem. § 670 B G B . 1 6 3 Die Erwartung, seine Leistung nur vor dem Hintergrund der Gegenleistung erbringen zu müssen, bezieht sich nicht nur auf die Erfüllung der Hauptleistungspflichten. Die Nebenpflichten werden ebenso in dieser Erwartung erbracht und dienen dazu, das Risiko der Verpflichtung um der Gegenleistung willen im Sinne der vertraglichen Äquivalenz zu begrenzen. 164 So ermöglichen es die Informationspflichten vor Vertragsabschluß bei asymmetrisch verteilter Information erst, das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung zu von Reziprozität wird an dieser Stelle noch nicht eingegangen vgl. dazu Röhl, Uber außervertragliche Voraussetzungen des Vertrages, in: Kaulbach (Hrsg.) Festschrift Schelsky (1978) S. 435; Weinberger, Recht, Institution und Rechtspolitik (1987), S. 251; DiMaggio, Culture And Economy, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook O f Economic Sociology (1994), S. 27 (37 ff). 156 Schupp, Grundfragen der Rechtsgeschäftslehre (1986), S. 31. 157 Canaris, Die Bedeutung der justitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, in: Sitzungsberichte der bayrischen Akademie der Wissenschaften Heft 7 (1997), S. 8 (55 ff.). 158 Weinberger, Moral und Vernunft (1992), S. 189. 159 Härle, Die Äquivalenzstörung (1995), S. 20. 160 Van den Daele, Probleme des gegenseitigen Vertrags - Untersuchungen zur Äquivalenz gegenseitiger Leistungspflichten (1968), Einleitung I. 161 Van den Daele, Probleme des gegenseitigen Vertrags - Untersuchungen zur Äquivalenz gegenseitiger Leistungspflichten (1968), S. 28. 162 Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag (1981), S. 237f. 163 Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag (1981), S. 258 f.; zum Prinzipiencharakter des Äquivalenzprinzips vgl. auch Schapp, Grundfragen der Rechtsgeschäftslehre (1986), S. 59. 164 Canaris, Wandelungen des Schuldvertragsrechts - Tendenzen zu seiner Materialisierung, AcP 200 (2000), S. 273 (326).
§ 5 : ] udizieller
Schutz berechtigter
Erwartungen
des Arbeitnehmers
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beurteilen. Sie schaffen die Basis dafür, daß die Vertragspartei entscheiden kann, ob das vertragliche Äquivalenzverhältnis für sie vorteilhaft ist. Die Nebenleistungspflichten sichern den abgeschlossenen Vertrag ab, indem sie die Verwendbarkeit des Transaktionsgegenstandes gewährleisten, die Schutzpflichten gewährleisten, daß die bestehenden Rechtsgüter der Vertragsparteien nicht geschädigt werden und ein derartiger Verlust die an sich ausgeglichene vertragliche Äquivalenz überlagert. Zwar setzt die Vertragspartei mit ihrer Entscheidung die Werte der Leistungen gleich. 165 Trotzdem stehen rechtliche und wirtschaftliche Äquivalenz aber nicht unverbunden nebeneinander.166 Ein grobes wirtschaftliches Ungleichgewicht der Leistungen indiziert, daß der Zweck des Vertrages verfehlt ist. 167 Freilich ist Oechsler zuzustimmen, daß grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann, daß das Marktergebnis nicht eben an derselben Schwäche leidet wie das zu untersuchende Vertragsergebnis.168 Im ungerechten Wettbewerb werden keine gerechten Ergebnisse erzielt. Das auf dem Vergleichsmarkt erzielte Ergebnis muß jedoch nicht dazu dienen, das gerechte Vertragsergebnis nachzukonstruieren, sondern soll Ausgangspunkt der kritischen Analyse des erzielten Vertragsergebnisses sein. Auch dieses offensichtliche Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung reicht aber noch nicht aus, um richterliche Eingriffe und inhaltliche Veränderungen des Vertrags zu legitimieren. 169 Die richterliche Vertragshilfe kann vor dem Hintergrund der Vertragsfreiheit nur dann gerechtfertigt werden, wenn die Parteien selbst keine autonome Lösung entwickeln können und damit die tatsächlichen Funktionsbedingungen das ungerechte Ergebnis determinieren. Nur wenn die Bedingungen des Vertrags eine privatautonome Vertragsgestaltung ausschließen, die auf dem freien Willen der Parteien beruht, kann das offensichtliche Abweichen von Leistung und Gegenleistung indizieren, daß die Rechtsprechung flankierend eingreifen muß, um den Vertrag als Koordinationsschema der gegenseitigen Erwartungen aufrechtzuerhalten. Als ungerecht kann daher nur ein Vertragsergebnis bezeichnet werden, bei dem ein Vertragspartner ohne wirtschaftliche Korrekturmöglichkeiten dem anderen ausgeliefert ist und eine öffentlich vom Marktpreis abweichende Gegenleistung erbringen muß.
165 Van den Daele, Probleme des gegenseitigen Vertrags - Untersuchungen zur Äquivalenz gegenseitiger Leistungspflichten (1968), S. 31. 166 Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäfts (1967), S. 153. 167 Scbapp, Grundfragen der Rechtsgeschäftslehre (1986), S. 98. 168 Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 101. 169 Canaris, Wandelungen des Schuldvertragsrechts - Tendenzen zu seiner Materialisierung, AcP 200 (2000), S. 273 (287); Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 363.
92
2. Kapitel: Die zugrunde liegenden
Prinzipien
Das offensichtlich ungerechte Ergebnis, bei dem sich ein Vertragspartner wirtschaftlich ohne außerrechtliche H a n d h a b e ausgeliefert hat, indiziert nach dem später 1 7 0 vorgeschlagenen Modell der Inhaltskontrolle die Unterlegenheit bei A b s c h l u ß des Vertrags. D a r ü b e r hinaus ist eine ergänzende judizielle Pflichtenbegründung ebenso nur dann nach dem Prinzip der Vertragsgerechtigkeit zu rechtfertigen, wenn eine Aquivalenzstörung droht und die Parteien aufgrund der tatsächlichen Bedingungen mit z u m u t b a r e m wirtschaftlichem Aufwand keine eigene Regelung treffen k o n n t e n . L i e ß e man die Vertragsparteien in Situationen allein, in denen sie keine ausdrückliche Regelung getroffen haben, so wäre jeder Vertrag mit einem u n z u m u t b a r h o h e n Durchführungsrisiko und entsprechend hohen K o s t e n belastet. 1 7 1 A u f der anderen Seite kann die R e c h t sprechung j e d o c h nicht in j e d e m Fall Vertragshilfe leisten. A u c h in den Fällen der konkretisierenden Pflichtbegründung ist die judizielle Vertragskonstruktion darauf beschränkt, eine typischerweise drohende Aquivalenzstörung abzuwenden. D i e judizielle Pflichtenbegründung beschränkt sich daher darauf, die notwendigen Rahmenbedingungen zu setzen 1 7 2 , um ungerechte Vertragsergebnisse zu vermeiden und somit K o o p e r a t i o n s c h e m a t a zur Verfügung zu stellen, die dem Reziprozitätsprinzip rechtlicher Äquivalenz genügen können. D i e Kollision der Prinzipien der Vertragsfreiheit und der Vertragsgerechtigkeit ist aus der k o n t e x t - und m a r k t b e z o g e n e n 1 7 3 Perspektive aufzulösen. Bei einem kurzzeitigen Vertrag müssen die Rahmenbedingungen nur hinsichtlich des einmaligen Austausches von Leistung und Gegenleistung rechtlich äquivalent sein. I m Arbeitsverhältnis bestehen darüber hinaus wirtschaftliche Abhängigkeiten. 1 7 4 W ä h r e n d der D u r c h f ü h r u n g des Arbeitsverhältnisses investieren die Parteien laufend in den Vertrag, sei es durch Ausbildung, Schulung, Spezialisierung oder besondere Kooperationsbereitschaft. Vor dem H i n t e r g r u n d des R e ziprozitätsprinzips müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die dieses Beziehungsgeflecht von vorausgeleisteten Investitionen und erwarteten G e g e n leistungen zumindest so absichern, daß Investitionen überhaupt möglich sind und mit einer grundsätzlichen Kooperationsbereitschaft des Vertragspartners Vgl. § 9 I S . 134. Graf\ Vertrag und Vernunft (1997), S. 197; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 394 zur Entlastungsfunktion des dispositiven Rechts. 172 Canaris, Die Bedeutung der justitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, in: Sitzungsberichte der bayrischen Akademie der Wissenschaften Heft 7 (1997), S. 8 (50). 173 Zur Bedeutung der Marktbedingungen bei der Inhaltskontrolle von Verträgen CoesterWaltjen, Die Inhaltskontrolle von Verträgen außerhalb des A G B G , AcP 190 (1990), S. 1 (24); von Stebut, Der soziale Schutz als Regelungsproblem des Vertragsrechts - Die Schutzbedürftigkeit von Arbeitnehmern und Wohnungsmietern (1982), S. 265 wirtschaftliche Gegebenheiten als Grund für »dynamisches Anpassungsbedürfnis« im Arbeitsvertrag; Rittner, Uber das Verhältnis von Vertrag und Wettbewerb, AcP 188 (1988), S. 101 (121) Vorbedingungen, unter denen ein privatrechtlicher Vertrag funktionsfähig sei. 174 Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag (1981), S. 246 spricht insoweit von der Reziprozität als Hintergrunderwartung während der Vertragsdurchführung. 170 171
5 6: Zur Überschätzung
der
Einigung
93
gerechnet w e r d e n kann. Dabei k o m m t es jedoch nicht nur auf die tatsächlichen Umstände an, die der Einigung zugrunde liegen. Die einigungszentrierte Sicht verstellt - wie im folgenden gezeigt w i r d - den Blick auf die maßgeblichen tatsächlichen Bedingungen der Vertragsdurchführung, an denen erst erkannt werden kann, ob sich die v o n den Parteien vereinbarten Lösungen zur tatsächlichen Konflikbewältigung eignen.
§ 6 Zur Uberschätzung der Einigung als Koordinationsmechanismus I. Verhandeln als Koordinationsmechanismus? Die Frage, ob das Arbeitsvertragsrecht im Sinne der Vertragsfreiheit und der Vertragsgerechtigkeit funktioniert, w i r d klassischerweise unter Hinweis auf die Bedingungen bejaht oder verneint, die der Einigung zugrunde liegen. So begründet das Bundesarbeitsgericht arbeitnehmerschützende Regelungen mit dem Hinweis auf das generelle Kräfteungleichgewicht zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Einigung. 1 7 5 Zur Inhaltskontrolle hat das Bundesarbeitsgericht ausgeführt, daß der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber auch in Zeiten der Vollbeschäftigung strukturell unterlegen ist, weil Verträge nicht ausgehandelt w e r d e n 1 7 6 und schon deshalb keine Parität zwischen den Parteien besteht. Die Literatur 1 7 7 hat z w a r kritisiert, daß Parität keine notwendige Voraussetzung angemessener Vertragsregelungen 1 7 8 ist, sie ist aber ebenso bei der A n a l y s e der Einigungsbedingungen als dem maßgeblichen Kooperationsschema stehengeblieben. 175 Vgl. dazu nicht nur die bereits zitierten Urteile des BAG zur Inhaltskontrolle bei der Ausbildungsbeihilfe, sondern auch BAG, Urt. v. 17.8.1974 - 4 AZR 623/93 - AP Nr. 35 zu §§ 22,23 BAT Lehrer, in dem auf die fehlende Parität zu einer Nachverhandlung des Vertrages hingewiesen wird; BAG, GS, Beschl. v. 27.9.1994 - GS 1/89 (A) - AP Nr. 103 zu §611 BGB Haftung des Arbeitnehmers und v. 12.6.1992 - GS 1/89 - AP Nr. 101 zu §611 BGB Haftung des Arbeitnehmers sowie auch die Handelsvertreterentscheidung des BVerfG, Beschl. v. 7.2.1990 - 1 BvR 26/84 - AP Nr. 65 zu Art. 12 GG. 176 BAG, Urt. v. 16.3.1994 - 5 AZR 339/92 - AP Nr. 18 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe unter II 1 b dd der Gründe. 177 Schapp, Privatautonomie und Verfassungsrecht, ZBB 1999, S. 35; Zöllner, Privatautonomie und Arbeitsverhältnis, AcP 176 (1976), S. 221 (233); Diedrichsen, Das Bundesverfassungsgericht als oberstes Zivilgericht, AcP 198 (1998), S. 248; Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 147; Rittner, Uber das Verhältnis von Vertrag und Wettbewerb, AcP 188 (1988), S. 101 (127); Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), S. 92; Fastrich, Inhaltskontrolle im Arbeitsrecht nach der Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10.1993, RdA 1997, S. 65 (67). 178 Wackerbarth, Unternehmer, Verbraucher und die Rechtfertigung der Inhaltskontrolle vorformulierter Verträge, AcP 200 (2000), S. 45 (51); Zöllner, Regelungsspielräume im Schuldvertragsrecht, AcP 196 (1996), S. 30; Fastrich, Inhaltskontrolle im Arbeitsrecht nach der Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10.1993, RdA 1997, S. 65 (67).
94 1. Einigung als
2. Kapitel: Die zugrunde
liegenden
Prinzipien
Richtigkeitschance
So lehnt Fastrich es ab, die Inhaltskontrolle deswegen zuzulassen, weil eine Partei ein wirtschaftliches, intellektuelles oder soziales Verhandlungsübergewicht hat. 179 Er knüpft die Inhaltskontrolle an vier Voraussetzungen: Es muß ein generelles Versagen der Richtigkeitsgewähr des Vertrages festzustellen sein; die Beseitigung eines Mißstandes muß Schutz vor einer ungewöhnlich schweren Belastung 180 gewähren; es dürfen keine autonomienäheren Lösungsmöglichkeiten bestehen, und der Bereich der Inhaltskontrolle muß ausreichend klar abgegrenzt sein.181 Die Richtigkeitsgewähr versagt nach Fastrich im Arbeitsvertragsrecht grundsätzlich, weil der Arbeitnehmer existentiell auf seinen Arbeitsplatz angewiesen ist. 182 Er könne nicht zu seinen Gunsten verhandeln, sondern müsse die ihm angebotenen Nebenbedingungen akzeptieren. 183 Damit nimmt Fastrich die von Schmidt-Rimpler™ entwickelte Sichtweise ein, von der aus die Einigung der zentrale Koordinationsmechanismus ist, aus dem eine Richtigkeitsgewähr des Vertragsinhalts folgt. Das von Schmidt-Rimpler entworfene Modell ist mit dem hier vertretenen Ansatz von Vertragsgerechtigkeit als kritischer Analyse nicht zu vereinbaren, da es von einer Optimierungsthese ausgeht. Um diese These vom Vertrag als dem zentralen »Richtigkeitsmechanismus« abzulehnen, muß nicht auf die von Schmidt-Rimpler in den vierziger Jahren vertretene Ansicht zurückgegriffen werden. In diesem frühen Modell sah Schmidt-Rimpler den Vertrag nicht als Mittel an, um autonom gesetzte Zwecke zu erfüllen, sondern als Instrument, um eine bestimmte, »richtige« Gemeinschaftsvorstellung zu verwirklichen. 185 In dem später revidierten Entwurf zum Verhältnis von Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit will Schmidt-Rimpler zwar berücksichtigen, daß der Vertrag »auch dem Wert der Freiheit der Persönlichkeit Rechnung trägt« und so verhindern soll, daß ein autoritärer Staat den Vertragszweck vorgibt. 186 Jedoch 179 Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht (1992), S. 81 für die Inhaltskontrolle im allgemeinen Zivilrecht. Vgl. auch Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitrecht (1993), S. 287, der diese Kriterien ebenfalls für unergiebig hält. 180 Fastrich, Inhaltskontrolle im Arbeitsrecht nach der Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10.1993, RdA 1997, S. 65 (75). 181 Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht (1992), S. 78. 182 Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht (1992), S. 187 und 232. 183 Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, S. 187. Auf diesen Aspekt stellt auch Manfred Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich (1970), S. 202 hinsichtlich unzulässiger Befristungen ab. 184 Grundfragen einer Erneuerung des Vertragsrechts, AcP 147 (1941), S. 130 ff und Zum Vertragsproblem, in: Baur/Esser/Kübler/Steindorff (Hrsg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen, Festschrift für Raiser (1974), S. 3 ff. 185 Schmidt-Rimpler, Grundfragen einer Erneuerung des Vertragsrechts, AcP 147 (1941), S. 130 (138). 186 Schmidt-Rimpler, Zum Vertragsproblem, in: Baur/Esser/Kübler/Steindorff (Hrsg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen, Festschrift für Raiser (1974), S. 3 (8).
§ 6: Zur Überschätzung
der Einigung
95
schränkt er dies mit dem Argument wieder ein, daß das Vertragsergebnis der Gemeinschaftsordnung zu entsprechen habe und diese Kongruenz über den Einigungsmechanismus erreicht werde. 187 Der Vertrag folge schon deshalb nie einem Autonomieprinzip, da sich bei der Einigung nicht der einzelne, sondern ein gemeinsamer Wille durchsetze. 188 Zwar führt Schmidt-Rimpler aus, daß das Eigeninteresse der einzelnen Partei Grundvoraussetzung des Mechanismus ist, der zu einer »gerechten« Lösung führt. Er hebt aber die Bedeutung dieser Aussage im zweiten Schritt unter Hinweis auf das gemeinsame Interesse der Vertragsparteien und das übergeordnete Gemeinschaftsinteresse wieder auf. Raiser hat in seiner Kritik des Ansatzes von Schmidt-Rimpler betont, daß das Vertragsrecht unabhängig von gesellschaftlichen Vorstellungen besteht und eine eigene, auf die von den Parteien verfolgten Zwecke zugeschnittene Ordnung ist. 189 Die schon in den dreißiger Jahren von Schmidt-Rimpler gewählte Formulierung, »der Vertrag ist ein Mechanismus, um ohne hoheitliche Gestaltung in begrenztem Rahmen eine richtige Regelung auch gegen unrichtigen Willen herbeizuführen, weil immer der durch die Unrichtigkeit Betroffene zustimmen muß« 190 ,
ist nämlich so lange inhaltsleer, bis erklärt ist, woran sich die »Richtigkeit« überhaupt orientiert. Der Ansatz von Schmidt-Rimpler ist gerade deshalb abzulehnen, weil er nicht von einer autonomen Zwecksetzung der Parteien ausgeht. »Richtig« ist nur das gemeinschaftskonforme Vertragsergebnis. Daher kommt es ihm, obwohl er die »individual- und sozialpsychologischen Erwägungen« 191 berücksichtigen will, auch nicht darauf an, bei Versagen der Richtigkeitsgewähr die Funktionsvoraussetzungen durch das Recht so auszugleichen, daß die Eigenverantwortung der Parteien möglichst gewahrt bleibt. Vielmehr soll in diesen Bereichen der autonome Vertrag ausgeschaltet und »ehrlich und bewußt zu hoheitlicher Gestaltung« 192 übergegangen werden. Auf eine Gemeinschaftskonformität kommt es nach der vorangestellten Prinzipienargumentation nur insoweit an, als der Vertrag eine Kooperation ermöglichen muß, die den Äquivalenzerwartungen der Parteien nicht widerspricht. Eine Richtig187 Zum Vertragsproblem, in: Baur/Esser/Kübler/Steindorff (Hrsg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen, Festschrift für Raiser (1974), S. 3 (16). 188 Zum Vertragsproblem, in: Baur/Esser/Kübler/Steindorff (Hrsg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen, Festschrift für Raiser (1974), S. 3 (20). 189 Vertragsfunktion und Vertragsfreiheit, in: Caemmerer/Friesenhahn/Lange (Hrsg.), Hundert Jahre Deutsches Rechtsleben, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des deutschen Juristentages, Karlsruhe 1960, S. 101 (119). 190 Schmidt-Rimpler, Grundfragen einer Erneuerung des Vertragsrechts, AcP 147 (1941), S. 130(156). 191 Schmidt-Rimpler, Zum Vertragsproblem, in: Baur/Esser/Kübler/Steindorff (Hrsg.), Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen, Festschrift für Raiser (1974), S. 3 (12). 192 Schmidt-Rimpler, Grundfragen einer Erneuerung des Vertragsrecht, AcP 147 (1941), S. 130 (157).
96
2. Kapitel: Die zugrunde
liegenden
Prinzipien
keitsgewähr oder Richtigkeitschance allein in der Einigung zu sehen, bürdete den Parteien darüber hinaus zu viel auf. Der Arbeitsvertrag ist als Dauerschuldverhältnis notwendig unvollständig. Im Gegensatz zur theoretischen Annahme, daß Risiken vollständig in der Einigung zugeordnet werden, ist es für die rechtliche Qualifikation als Arbeitsvertrag gerade entscheidend, daß der Arbeitgeber aufgrund seines Weisungsrechts die Arbeitsaufgabe erst während der Vertragsdurchführung bestimmen kann. Nicht nur die Bedingungen der Einigung müssen untersucht werden, sondern ebenso die vertragsbegleitenden Umstände und das Verhalten der Parteien während der Zeit der Vertragsdurchführung, da in diesen Umständen die entscheidenden Kooperationsmuster begründet sind. 2. Funktionsdefizit
bei
Vorformulierung
Preis, der die Inhaltskontrolle im Regelfall auf die Verwendung vorformulierter Vertragsbedingungen beschränkt 193 , hat den Ansatzpunkt von Fastrieb kritisiert. Trotzdem bleibt auch er der einigungszentrierten Sicht verhaftet. Er wendet sich gegen das von Fastrieb für die Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers angeführte Argument, daß der Arbeitnehmer auf den Arbeitsplatz existentiell angewiesen sei. Dabei handele es sich um einen Gesichtspunkt, »der noch aus der Verelendung der Arbeiterschaft in der Ära des Liberalismus und vor Vollendung einer sozialen Gesetzgebung und Verbreitung von Tarifverträgen stammt« und der »unter den Bedingungen einer sozialen Marktwirtschaft, wie sie in Deutschland verwirklicht worden ist, die innere Uberzeugungskraft« 194 verliert. Es sei nicht möglich, an die von Fastrieh herangezogene Unausgeglichenheit des Arbeitsmarktes in einer rechtlichen Beurteilung anzuknüpfen. Es fehle schon deshalb an dem »notwendigen logischen Korrelat zwischen den Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt einerseits und der Ausgestaltung des Arbeitsvertrages andererseits«195, weil Unternehmen ihre Arbeitsverträge nicht »nach Maßgabe der jeweiligen Arbeitslosenstatistik« änderten. Tatsächlich können arbeitsrechtliche Regelungen nicht konjunkturabhängig gestaltet werden. 196 Darüber hinaus ist fraglich, ob ein derartiger Globalschutz notwendig ist oder ob nicht vielmehr die genaue ökonomische Analyse einer vertraglichen Funktionsstörung zu sachgerechten Ergebnissen führt. Diese genaue Analyse bleibt Preis aber schuldig. Indem er gegenüber der Argumentation von Fastrieh auf die Bedingungen der sozialen Marktwirtschaft verweist, tauscht er nur ein Pauschalargument gegen das andere aus. Wie sollen derartige
Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht (1993), S. 288 ff. Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht (1993), S. 286. 195 p r e J S ; Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht (1993), S. 287. 196 Vgl. Mayer-Maly, Weiterbeschäftigung nach Kündigung, D B 1979, S. 1601 (1607). 193
194
§ 6: Zur Überschätzung
der
Einigung
97
Argumente verifizierbar sein? Nach Preis besteht die normative Rechtfertigung der Inhaltskontrolle in erster Linie darin, nicht ausgehandelte Vertragsbedingungen zu überprüfen, da sich in diesen Fällen eine Ungleichgewichtslage feststellen lasse. 197 Damit geht auch Preis von der bestimmenden Funktion der E i nigung als Koordinationsmechanismus aus. Selbst wenn es entscheidend auf die Vorformulierung ankäme, muß doch untersucht werden, welche Funktionsbedingungen der Vertragsdurchführung zugrunde gelegen haben. Sieht man in § 307 B G B die entscheidende Kontrollnorm, verschiebt sich nämlich nur die Problematik. Wann eine unangemessene Benachteiligung des Arbeitnehmers außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle vorliegt, kann nur beantwortet werden, wenn die Funktionsbedingungen während der Vertragsdurchführung aus der prinzipienbezogenen Sicht analysiert werden. Orientiert man sich an § 307 B G B , dessen Wertungen zuvor im aufgehobenen A G B G geregelt waren, so darf bei der maßgeblichen Auslegung von Treu und Glauben die Richtlinie 93/13/EWGV vom 5.4.1993 1 9 8 nicht unberücksichtigt bleiben. Im Anhang der Richtlinie wird darauf hingewiesen, daß es für die Angemessenheitsprüfung entscheidend ist, welches Kräfteverhältnis über die Vorformulierung hinaus als Funktionsbedingung des Vertrags zwischen den Parteien besteht. Die Richtlinie, aufgrund der das A G B G 1 9 9 6 geändert worden ist, umfaßt gerade das einmalige Stellen von Vertragsbedingungen. Die Vorformulierung von Vertragsbedingungen ist jedoch - insbesondere im Arbeitsrecht - der Regelfall. Will man nicht jeden Vertrag der Inhaltskontrolle unterwerfen, so wird die Prüfung um so entscheidender, wann eine unangemessene Regelung vorliegt. Einen weiterführenden Ansatz zu einer funktionsbezogenen Analyse hat Hönn gewählt, der in seiner Untersuchung die traditionelle Rechtfertigung judiziell begründeter Pflichten durch ein neues Argumentationsschema
er-
setzt. 1 9 9 Dabei verwendet er zwar die traditionellen Begriffe 2 0 0 »Vertragsparität« und »Kompensation«, seine vertragstheoretische Begründung von Nebenpflichten ist aber neu. Seiner Ansicht nach sollen judizielle Pflichten keine »Vertragsparität« zwischen den Parteien herstellen. 201 Auch eine einseitige wirtschaftliche Übermachtstellung einer Partei berechtige nicht pauschal dazu, den Vertrag zu korrigieren. 2 0 2 Vielmehr sei eine schutznormbezogene Perspek-
197 Preis/Rolfs, Gestörte Vertragsparität und richterliche Inhaltskontrolle, D B 1994, S. 261 (266); Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht (1993), S. 274. 198 ABl. Nr. L 95/29. 199 Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), S. 301 zum inneren System dieser Argumentation. 2 0 0 Zur Kritik hieran Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 155. 201 Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), S. 92 ff. 202 Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), S. 100.
98
2. Kapitel: Die zugrunde
liegenden
Prinzipien
tive einzunehmen, wonach der Maßstab oder die Prinzipien zur Ermittlung von Schutzpflichten aus »der vertragsbezogenen Schutzbedürftigkeit in der Interpretation des geltenden Rechts« zu ermitteln seien. 203 Die Rechtsprechung könne im Wege eines »vertragsbezogenen Individualschutzes« dann Pflichten begründen, wenn »wichtige Vertragsinteressen über den Markt nicht angemessen bewältigt werden können«. 204 Zwar wird die Rechtsprechung in dem hier interessierenden Bereich judizieller Nebenpflichten nur in den seltensten Fällen anhand der gesetzlichen Vorschriften nachvollziehen können 205 , welche Interessen als wichtig anzusehen sind. Die übrigen Fälle sind nach Hönn aber dadurch gekennzeichnet, daß der Wettbewerb gerade die während eines Dauerschuldverhältnisses entstehenden Abhängigkeiten nicht bewältige. 206 Der Regelungsmechanismus des Arbeitsvertrags versagt nicht grundsätzlich wegen eines unterschiedlichen Kräfteverhältnisses der Parteien zum Einigungszeitpunkt. Die maßgeblichen wirtschaftlichen Abhängigkeiten entstehen erst während der Vertragsdurchführung. Diesen Risikosituationen können die Parteien bei Vertragsschluß nicht umfassend vorbeugen. Die Einbeziehung der Marktbedingungen führt nicht dazu, staatliche Eingriffe als »Störfaktoren« 207 der Effizienz des Marktmechanismus zu verstehen. Die genaue Betrachtung der außerrechtlichen Funktionsbedingungen von Verträgen führt dazu, die Ergänzung und Korrektur vor dem Hintergrund der Privatautonomie auf das Notwendige zu begrenzen. Rechtsprechung und Literatur haben - wie die vorangestellten Überlegungen zeigen - jedoch stets die Einigung der Parteien zum maßgeblichen Konstruktions- und Argumentationsansatz gewählt. In der Einigung soll sich das Kräfteungleichgewicht bzw. die Benachteiligung des Arbeitnehmers wegen seiner existentiellen Abhängigkeit ausdrücken. Diese Sicht führt aber dazu, daß die Bedingungen nicht untersucht werden, unter denen das Arbeitsverhältnis als Langzeitvertrag abgewickelt wird. Die maßgeblichen wirtschaftlichen Abhängigkeiten zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ergeben sich erst während der Vertragsdurchführung. Es kann von den Parteien nicht verlangt werden, diese Gefahren abschließend bereits im Einigungszeitpunkt zu erkennen. Wenn richterlich begründete Nebenpflichten die Vertragsdurchführung absichern sollen, ist die Untersuchung ihrer gesamten Funktionsbedingungen notwendig.
203 204 205 206 207
Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), S. 105. Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), S. 310. Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), S. 302. Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), S. 263 f. Dieterich, Grundgesetz und Privatautonomie im Arbeitsrecht, RdA 1995, S. 129.
5 6: Zur Überschätzung der Einigung
99
II. Zur Bedeutung der Einigung der Ansatzpunkt der »relational contracts theory« D i e in den Vereinigten Staaten in den siebziger Jahren entwickelte 2 0 8 und weiterführend auf die Bedingungen des internen Arbeitsmarkts übertragene 2 0 9 »relational contracts theory« bietet Erklärungsansätze für eine nach eigener Einschätzung realistischere B e t r a c h t u n g 2 1 0 von komplexen Langzeitverträgen und berücksichtigt die wirtschaftliche Abhängigkeiten während der tatsächlichen Vertragsdurchführung neben der Einigungssituation. D i e s e r Ansatz ist im deutschen R e c h t für Franchise- und Werkverträge bereits diskutiert w o r d e n . 2 1 1 D a b e i steht der Versuch einer übergreifenden Systematisierung v o n k o m p l e xen Langzeitverträgen n o c h am A n f a n g . 2 1 2 D i e »relational c o n t r a c t t h e o r y « ist in der deutschen vertragstheoretischen Literatur bislang vereinzelt auf ihre Tauglichkeit untersucht w o r d e n . D i e M e i n u n g e n sind geteilt: W ä h r e n d ihr z u m Teil v o r g e w o r f e n wird, daß sie die Parteibeziehung nur beschreibe und keine rechtlichen Kriterien e n t w i c k e l e 2 1 3 , wird auch e i n g e r ä u m t 2 1 4 , daß die tra208 Vgl. den Überblick über die relational contracts theory bei Linzer, Uncontracts: Context, Contorts And The Relational Approach, 1988 Annual Survey Of American Law 139. Die Entwicklung dieser von der neoklassischen Vertragstheorie abweichenden Konzeption führt Linzer, aaO., S. 155 wesentlich auf die Publikationen von Macneil zurück. Vgl. dazu Macneil, The Many Futures Of Contracts, 47 (1974) Southern California Law Review 691 (693); derselbe, Contracts: Adjustment Of Long-Term Economic Relations Under Classsical, Neoclassical, Relational Contract Law, 72 (1978) Northwestern University Law Review 854; derselbe, Economic Analysis Of Contractual Relations: Its Shortfalls And The Need For A »Rich Classificatory Apparatus«, 75 (1981) Northwestern University Law Review 1018; derselbe, Relational Contract: What We Do And What We Do Not Know, 1985 Wisconsin Law Review 483; derselbe, Barriers to the Idea of Relational Contracts, in: Nikiisch (Hrsg.) Der komplexe Langzeitvertrag (1987), S. 34; vgl. auch die frühe Studie von Macauly, Non-contractual Relations In Business: A Preliminary Study, in: Goldberg (Hrsg), Readings In The Economics Of Contract Law (1983), S. 10 ff, die wesentlich für die Entwicklung der relational contracts theory gewesen ist; zur Rezeption und Diskussion dieser Lehre im deutschen Recht vgl. Staudinger-Martinek §675 Rz. 155 ff.; Oecbsler, Wille und Vertrauen im privaten Austauschvertrag, RabelsZ 1996 (60), S. 91 ff. 2 0 9 Vgl. den Uberblick bei Barenberg, The Political Ecomony Of The Wagner Act: Power, Symbol, And Workplace Cooperation, 106 (1993) Harvard Law Journal 1379 (1462). 210 Schanze, Symbiotic Contracts: Exploring Long-Term Agency Structures Between Contracts And Corporation, in: Joerges (Hrsg.), Franchising And The Law (1991), S. 67 (77). 211 Staudinger -Martinek, Kommentar zum BGB (1995), § 675 Rz. A 155 ff.; Oechsler, Wille und Vertrauen im privaten Austauschvertrag, RabelsZ 1996 (60), S. 91 ff.; Nikiisch, Empfiehlt sich eine Neukonzeption des Werkvertragsrechts?, JZ 1984, S. 757 ff. 212 Nikiisch, Vorteile einer Dogmatik für komplexe Langzeitverträge, in: Nikiisch (Hrg.), Der komplexe Langzeitvertrag (1987), S. 17. 213 Vgl. Staudinger-Martinek, Kommentar zum BGB (1995), §675 Rz.A 171; Oechsler, Wille und Vertrauen im privaten Austauschvertrag, RabelsZ 1996 (60), S. 91 (109) und derselbe, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag (1997), S. 102, der auf den Fehlschluß der »relational contracts theory« hinweist, die Gerechtigkeitsinhalte in der außerrechtlichen Vertragsabwicklung zu begründen. Vgl. zur amerikanischen Kritik Barnett, Conflicting Visions:
100
2. Kapitel:
Die zugrunde
liegenden
Prinzipien
dierte Begründung eines »Statusschutzes« mit »erhöhten Treuepflichten« überkommen ist. 215 Behrens216 hat bislang als einziger für das Arbeitsrecht den Ansatz der »relational contracts theory« aufgegriffen und darauf hingewiesen, daß die ökonomische Analyse von Langzeitverträgen insbesondere dazu dienen kann, »verschleierte Verteilungsmechanismen« des Arbeitsrechts aufzudecken. Er unterscheidet, ob es sich bei den zu analysierenden Pflichten um solche handelt, die auf einen von der Langzeitbeziehung abgrenzbaren punktuellen Austausch bezogen sind, oder um solche, die sich aus der Langzeitbeziehung selbst ergeben. 217 So entspreche der wirtschaftliche Hintergrund der arbeitsvertraglichen Schadenshaftung eher einem kurzzeitigen Austausch, da die zuzuordnenden Werte feststünden. Schwieriger und auf Spekulation angewiesen sei dagegen die ökonomische Analyse von Transaktionen, die ihren Ursprung in der Langzeitbeziehung als solcher hätten, wie zum Beispiel der durch Spezialisierung der Arbeitsleistung bei einem bestimmten Arbeitgeber entstehende »Mehrwert« 218 . Ob sich insbesondere der innerbetriebliche Schadensausgleich 219 tatsächlich anhand einer ökonomischen Analyse des Rechts erklären läßt, ist zu bezweifeln. 220 Die »relational contracts theory« muß nach dem hier zugrunde gelegten Konzept keine rechtlichen Erklärungen liefern. Die maßgeblichen rechtlichen Argumentationslinien liegen mit den Prinzipien der Vertragsfreiheit und der A Critique O f Ian Macneil's Relational T h e o r y O f Contract, 78 (1992) Virginia Law Review 1175 (1182 und 1200 ff.). Barnett sieht den Unterschied zwischen einer liberalen Vertragstheorie und der relational contracts theory darin, daß die letztere auf einer kommunitaristisch geprägten Vorstellung der Gesellschaft aufbaut und schon daher den rechtlichen Schutz des Individuums vor dem Staat und vor anderen Individuen nicht problematisiert. Darüber hinaus (aaO., S. 1200 und 1203 f.) existierten bereits relationale Elemente wie z.B. die Berücksichtigung von Verkehrssitten, so daß der Ansatz der relational contracts theory nicht zu einer neuen Vertragstheorie führen müsse. 2 1 4 Staudinger-Aftfriznefe § 675 R z . A 174 und 175. 2 1 5 S t a u d i n g e r - § 675 Rz. A 175. 2 1 6 Die Bedeutung der ökonomischen Analyse für das Arbeitsrecht, ZfA 1989, S . 2 0 9 (220). 2 1 7 Die Bedeutung der ökonomischen Analyse für das Arbeitsrecht, ZfA 1989, S . 2 0 9 (236). 218 Behrens, Die Bedeutung der ökonomischen Analyse für das Arbeitsrecht, Z f A 1989, S. 209 (227). 2 1 9 D e r Arbeitgeber hat danach auch dann einen Teil des Schadens zu tragen, wenn ihn kein Verschulden trifft und der Arbeitnehmer ihn schuldhaft geschädigt hat. Zur Ermittlung der Schadensquote stellt das B A G dem vom Arbeitgeber zu tragenden Betriebsrisiko das Verschulden des Arbeitnehmers gegenüber. Als Leitlinie greift das Gericht die schon in den Entscheidungen zur gefahrgeneigten Arbeit entwickelten Haftungsdreiteilung auf. Danach trägt der Arbeitnehmer bei grober Fahrlässigkeit den gesamten Schaden, bei mittlerer Fahrlässigkeit wird der Schaden gequotelt und bei leichter Fahrlässigkeit entfällt eine Haftung des Arbeitnehmers vgl. dazu B A G G S , Beschluß v. 2 7 . 9 . 1 9 9 4 - G S 1 / 8 9 - A P Nr. 103 zu § 6 1 1 B G B Haftung des Arbeitnehmers. 2 2 0 Vgl. § 1 0 1 1 1 .
§ 6: Zur Überschätzung
der Einigung
101
Vertragsgerechtigkeit im Sinne des Reziprozitätsprinzips fest. Die »relational contracts theory« weitet aus dieser prinzipienbezogenen Sicht den Blick von den Funktionsbedingungen der Einigung zu denen der gesamten Vertragsdurchführung. In den ersten Publikationen aus den siebziger Jahren weist Macneil deutlich auf das Ziel hin, das er mit einer rechtlichen Neukategorisierung relationaler Verträge verband: die Modifikation des neoklassischen Vertragsbildes, nach dem die ursprüngliche Einigung ausschließlicher Ausgangs- und Begründungspunkt jeglicher Rechte und Pflichten ist.221 Macneil räumt ein, daß der Beschreibung relationaler Verträge ein direkter rechtlicher Ansatzpunkt fehlt, aus dem konkrete Pflichten entwickelt werden können. 222 Dies ist jedoch auch nicht sein Anliegen. 223 Vielmehr soll die Perspektive verändert werden, aus der eine Pflichtenbegründung gerechtfertigt wird. Die Einigung soll zum Teil - eben in den relationalen Elementen einer Vertragsbeziehung - als Ausgangsbasis der maßgeblichen Rechte und Pflichten entlastet werden. Hingegen soll es die erweiterte Sichtweise des Vertragsverhältnisses zulassen, daß rechtliche Regeln entworfen werden, welche die Parteien über eine Planbarkeit im Zeitpunkt des Vertragsschlusses hinaus zu einem kooperativen Verhalten anhalten.224 Nach dem von Macneil kritisierten neoklassischen Verständnis sind Verträge ausschließlich durch das rechtliche Versprechen gekennzeichnet, das punktuell und separat aus einem zeitlichen Zusammenhang225 von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herausgelöst wird. 226 In diesem punktuellen Versprechen muß sich theoretisch die gesamte zukünftige Entwicklung vergegenwärtigen (»presentiated«) und fixieren lassen.227 Werde die ursprüngliche Einigung auf
221 Macneil, The Many Futures Of Contracts, 47 (1974) Southern California Law Review 691 (693); vgl. dazu auch Linzer, Uncontracts: Context, Contorts And The Relational Approach, 1988 Annual Survey Of American Law 139. 222 Macneil, The Many Futures Of Contracts, 47 (1974) Southern California Law Review 691 (806 und 812). 223 Vgl. Whitford, Ian Macneil's Contribution To Contracts Scholarship, 1985 Wisconsin Law Review 545 (551), wonach Macneil die direkten rechtlichen Auswirkungen seiner Theorie offen läßt und, anstatt Konzepte für den Gesetzgeber oder die Rechtsprechung zu entwikkeln, eher auf Regelungsmechanismen wie Schlichtung und Neuverhandlung verweist. 224 Macneil, The Many Futures Of Contracts, 47 (1974) Southern California Law Review 691 (812). 225 Macneil, The Many Futures Of Contracts, 47 (1974) Southern California Law Review 691 (803) spricht von einem Zeitkontinuum. 226 Macneil, The Many Futures Of Contracts, 47 (1974) Southern California Law Review 691 (694). 227 The Many Futures Of Contracts, 47 (1974) Southern California Law Review 691(800) und derselbe, Contracts: Adjustment Of Long-Term Economic Relations Under Classical, Neoclassical, Relational Contract Law, 72 (1978) Northwestern University Law Review 854 (888) als einen in dieser Weise separaten Vertrag sieht Macneil z.B. die Einigung darüber an, daß ein Autofahrer an einer Tankstelle Kraftstoff tankt, aaO., S. 857; zur »presentiation« vgl.
102
2. Kapitel:
Die zugrunde
liegenden
Prinzipien
diese Weise zentralisiert 228 , so könne schon nicht begründet werden, warum die Vertragsdurchführung zusätzlich noch durch besondere, nicht in dieser Einigung enthaltene Rechtsregeln gesichert werden müsse. 229 Im neoklassischen Vertragsrecht könnten daher eigentlich nur solche Erwartungen geschützt werden, die bereits von der ursprünglichen Einigung umfaßt seien. 230 Trotzdem müsse auch das neoklassische Vertragsrecht Planstörungen absichern, die sich erst während der Vertragsdurchführung ergäben. Der einzige konstruktiv denkbare Weg laufe nach dem neoklassischen Modell über die Einigung der Parteien als Ausgangsbasis jeglicher Rechte und Pflichten und überdehne diese zwangsläufig. Daher bestimmten letztlich Fiktionen den Pflichteninhalt. 231 Anders als die rechtliche Zuordnung in einem kurzzeitigen Austauschgeschäft müssen Rechtsregeln eines Relationalvertrags nach Macneil die Struktur der Vertragsbeziehung so beeinflussen können, daß sich die Parteien auch während der Dauer der Vertragsdurchführung kooperativ verhalten. 232 Diesen möglichen Gleichklang der spezifischen Eigeninteressen der Parteien bezeichnet Macneil als Solidarität. 233 Innerhalb der dauernden Vertragsbeziehung erhielten Leistungen einen ideosynkratischen, das heißt auf das jeweilige Vertragsverhältnis bezogenen, Charakter und seien nicht mit einem externen Marktwert meßbar. 234 Obwohl die Generalklauseln der §§ 157, 242 B G B bereits die Möglichkeit geben, relationale Elemente bei der Pflichtenbegründung zu berücksichtigen, fehlt bislang eine Untersuchung über die ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Funktionsbedingungen des Arbeitsverhältnisses. Insoweit kann aus der prinzipiengeleiteten Sicht tatsächlich eine »neue« Vertragstheorie für auch Linzer, Uncontracts: Context, Contorts And The Relational Approach, 1988 Annual Survey O f American Law 139 (157). 228 Macneil, Relational Contract: What We D o And What We D o Not Know, 1985 Wisconsin Law Review 483 (496). 229 Macneil, Contracts: Adjustment O f Long-Term Economic Relations Under Classical, Neoclassical, Relational Contract Law, 72 (1978) Northwestern University Law Review 854 (861). 230 Macneil, Contracts: Adjustment O f Long-Term Economic Relations Under Classical, Neoclassical, Relational Contract Law, 72 (1978) Northwestern University Law Review 854 (897). 231 Macneil, Contracts: Adjustment O f Long-Term Economic Relations Under Classical, Neoclassical, Relational Contract Law, 72 (1978) Northwestern University Law Review 854 (900). 232 Macneil, The Many Futures O f Contracts, 47 (1974) Southern California Law Review 691 (762 und 812). 233 Macneil, Economic Analysis O f Contractual Relations: Its Shortfalls And The Need For A »Rich Classificatory Apparatus«, 75 (1981) Northwestern University Law Review 1018 (1034). 234 Macneil, Economic Analysis O f Contractual Relations: Its Shortfalls And The Need For A »Rich Classificatory Apparatus«, 75 (1981) Northwestern University Law Review 1018 (1023).
§ 6: Zur Überschätzung der Einigung
103
den Arbeitsvertrag entworfen werden, der eine relationale Perspektive zugrunde gelegt wird. Aus ihr gewinnen die tatsächlichen U m s t ä n d e , die den Vertrag begleiten, eine zentrale Rolle. Wenn N e b e n p f l i c h t e n die D u r c h f ü h r u n g des Vertrags absichern und somit die K o o p e r a t i o n im Sinne des Reziprozitätsprinzips ermöglichen sollen, ist die Analyse der tatsächlichen vertragsbegleitenden U m stände notwendige Voraussetzung, um eine Vorrangrelation zwischen den Prinzipien der Vertragsfreiheit und der Vertragsgerechtigkeit zu begründen. D i e »relational contracts t h e o r y « interpretiert diese U m s t ä n d e nicht selbst, sondern weist nur auf die Erforderlichkeit hin, die ö k o n o m i s c h e n und s o z i o l o gischen Bedingungen des Vertrags zu analysieren. D i e Frage, welches ö k o n o mische und soziologische Erklärungsmodell dazu herangezogen werden kann, wird im folgenden Kapitel erörtert.
Zusammenfassung D i e Rechtsprechung hat bei der judiziellen Pflichtbegründung die Vertragsfreiheit gegen die Vertragsgerechtigkeit im Sinne rechtlicher Äquivalenz abzuwägen. J e d e r richterliche Eingriff in den Vertrag m u ß vor dem H i n t e r g r u n d der Privatautonomie als A b w e h r r e c h t gerechtfertigt sein. D i e Rechtsprechung hat keinen Gestaltungsauftrag aus dem in Art. 20 A b s . 1 G G geregelten Sozialstaatsprinzip wahrzunehmen. Eine konkretisierende oder ersetzende judizielle Pflichtbegründung m u ß aus der F u n k t i o n des Vertrags gerechtfertigt werden können. Ö k o n o m i s c h e Effizienz ist kein rechtliches Prinzip, das als argumentative Leitlinie der richterlichen Entscheidungsfindung unterliegt. Zwar kann anhand einer ö k o n o m i s c h e n Analyse ermittelt werden, mit welchem Aufwand eine bestimmte Anspruchsverteilung verwirklicht werden kann. Diese reine R e c h t s folgenanalyse ist j e d o c h von einer rechtlichen Prinzipienargumentation zu trennen, in der begründet wird, warum im Ausgangspunkt eine bestimmte Erwartung des Vertragspartners verrechtlicht werden muß. W a r u m E r w a r t u n g e n des Arbeitnehmers verrechtlicht werden müssen, läßt sich aus dem Prinzip der Vertragsgerechtigkeit im Sinne des rechtlichen Ä q u i valenzprinzips erklären, das jedem Austauschvertrag unterliegt. Das Prinzip der Vertragsgerechtigkeit dient j e d o c h nicht dazu, das objektiv gerechte E r g e b nis zu ermitteln. Vielmehr ist es Ausgangspunkt einer kritischen Analyse des erzielten Vertragsergebnisses. M a ß s t a b dieser U b e r p r ü f u n g ist das R e z i p r o z i tätsprinzip. Leistungen werden erbracht, um eine Gegenleistung zu erhalten. Ist die Reziprozität der Leistungen nicht gewährleistet, so versagt der Vertrag als Kooperationsmodell. Bei einem kurzzeitigen Austausch m u ß nur die R e z i prozität von einmaliger Leistung und Gegenleistung sichergestellt werden. Bei einem Dauerschuldverhältnis wie dem Arbeitsvertrag m u ß dagegen während
104
2. Kapitel: Die zugrunde
liegenden
Prinzipien
der gesamten Vertragsdurchführung die Kooperationsbereitschaft des Vertragspartners gesichert sein. Zwar sind rechtliche und wirtschaftliche Äquivalenz der Leistungen grundsätzlich zu trennen, jedoch kann eine wirtschaftliche Unausgeglichenheit der Leistungen indizieren, daß Leistung und Gegenleistung in keinem rechtlichen Aquivalenzverhältnis stehen. In diesem Fall kann die Rechtsprechung vorbeugend im Wege der konkretisierenden Pflichtbegründung und korrigierend im Wege der Inhaltskontrolle in den Vertrag eingreifen, wenn den Parteien selbst keine autonomen Problemlösungen zur Verfügung stehen.
3. Kapitel
Entwurf eines Vertragsmodells im Spannungfeld von Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit § 7 Transaktionskostenbezogene Analyse des Arbeitsverhältnisses Werden die tatsächlichen Abwicklungsbedingungen des Arbeitsvertrags in der deutschen Arbeitsrechtsliteratur kaum erörtert, ist die Analyse der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in der angloamerikanischen Literatur mit der rechtlichen Wertung verschränkt. Dieser Ansatz kann für das deutsche Recht insoweit aufgegriffen werden, als er die tatsächlichen Funktionsbedingungen des Arbeitsverhältnisses erklärt. In der arbeitsrechtlichen Literatur 1 der Vereinigten Staaten wird der Arbeitsvertrag als relationales Vertragsverhältnis verstanden, dessen Abwicklungsbedingungen sich unter bestimmten Voraussetzungen nach dem sogenannten internen Arbeitsmarkt (»internal labor market«) richten. Der interne Arbeitsmarkt ist auf die Organisation der Arbeitsverhältnisse bei einem bestimmten Arbeitgeber, also auf einen Betrieb oder ein Unternehmen, bezogen und von dem externen kompetitiven Arbeitsmarkt zu unterscheiden, auf dem die Arbeitnehmer um Arbeitsplätze konkurrieren. Nach diesem Modell ist das Arbeitsverhältnis notwendig ein ökonomisch unvollständiger Vertrag. Dieses Verständnis entspricht der rechtlichen Ausgestaltung des Arbeitsvertrags mehr als das Modell des neoklassischen vollständigen Vertrags. Die Arbeitsvertragsparteien legen die gesamte Vertragsabwicklung im Zeitpunkt der Einigung nicht fest. Vielmehr hat der Arbeitgeber gem. § 315 BGB
1
Barenberg, The Political Economy Of The Wagner Act, Power, Symbol, And Workplace Cooperation, 106 (1993) Harvard Law Review 1379 (1462); Rock/Wachter, The Enforceability Of N o r m s And The Employment Relationship, 144 (1996) University Of Pennsylvania Law Review 1913 (1915); für das Kollektivarbeitsrecht Wächter/Cohen, The Law And Economics Of Collective Bargaining, 136 (1988) University Of Pennsylvania Law Review 1349 (1355); Williamson/Wachter/Harris, Understanding The Employment Relation: The Analysis Of Ideosyncratic Exchange, 6 (1975) Bell Journal Of Economics 250; Goldberg, A Relational Exchange Perspective O n The Employment Relationship, in: Stephan (Hrsg.) Firms, Organizations And Labour (1984), S. 133. Die Grundlagen des Modells eines internen Arbeitsmarktes, der von dem externen wettbewerbsgeprägten Markt zu unterscheiden ist, entwirft Williamson in den Monographien The Economic Institutions Of Capitalism (1987) und Markets And Hierarchies (1983) auf die im Folgenden noch einzugehen ist.
106
3. Kapitel: Entwurf eines
Vertragsmodells
ein Direktionsrecht, um die Art und Weise der Arbeitsleistung in bestimmten Gren zen erst während der Vertragsdurchführung zu bestimmen. Bevor im einzelnen auf die Vereinbarkeit dieses Ansatzes mit der prinzipiengeleiteten Argumentation einzugehen ist, muß die ökonomische Terminologie dieses Ansatzes erklärt werden. Entscheidend ist das Verständnis der Transaktionskosten und darauf aufbauend, das des internen Arbeitsmarkts.
I. Z u r Bedeutung der Transaktionskosten Die Differenzierung zwischen einem internen und einem externen Arbeitsmarkt baut auf dem von Williamson entwickelten Ansatz der Transaktionskostenökonomik auf. Williamson2 behandelt im Anschluß an Coase3 die Frage, wie Konzerne, Unternehmen oder Betriebe als organisatorische Koordinationsmechanismen Transaktionskosten senken können. Coase4 hatte erörtert, warum der Arbeitgeber ein ökonomisches Interesse daran hat, Arbeitsverhältnisse in einer eigenen Struktur z.B. einem Betrieb zu organisieren. Der neoklassische Ansatz konnte nämlich nicht erklären, warum eine vom Markt unterscheidbare vertikale Eingliederung von Arbeitsverhältnissen gegenüber einer Vergabe des Auftrags auf dem freien Markt wirtschaftliche Vorteile bringen sollte. Danach bestimmten Angebot und Nachfrage auf dem kompetitiven Arbeitsmarkt den Lohn, so daß die organisatorische Zusammenfassung der Arbeitsverhältnisse keinen wirtschaftlichen Vorteil bot. Der externe kompetitive Markt und die vom Arbeitgeber gewählte Organisationsform waren nach Coase jedoch als alternative Koordinationsmechanismen zu verstehen, die unter bestimmten Bedingungen in Konkurrenz traten. 5 Williamson griff die Frage nach dem organisatorischen Zweck der Zusammenfassung von Arbeitsverhältnissen auf und entwickelte eine Theorie, um zu erklären, warum sie unter bestimmten Voraussetzungen Transaktionskosten senken kann. 6 Auf die Schwierigkeit, den Begriff der Transaktionskosten zu definieren, ist bereits hingewiesen worden. 7 Welche Kosten als Transaktions2 Williamson, Markets And Hierarchies, Taschenbuchausgabe der Ersterscheinung von 1973 New York, London, Toronto, Sydney, Singapore 1983; derselbe, The Economic Institutions Of Capitalism, Taschenbuchausgabe der Ersterscheinung von 1983 New York, London, Toronto, Sydney, Singapore 1987; speziell für arbeitsrechtliche Verträge derselbe/Wächter/ Harris, Understanding the Employment Relation: The Analysis Of Ideosyncratic Exchange, 6 (1975) Bell Journal Of Economics 250. 3 The Nature Of The Firm (1993), S. 18. 4 The Nature OfThe Firm (1993), S. 18. 5 Vgl. Meyer, Measuring Performance In Economic Organizations, in: Smelser/Swedberg (Hrsg) Handbook Of Economic Sociology (1994), S. 556 (558). 6 Dazu insbesondere Williamson/Wachter/Harris, Understanding the Employment Relation: The Analysis Of Ideosyncratic Exchange, 6 (1975) Bell Journal Of Economics 250. 7 Vgl. §5 I I .
5 7: Transaktionskostenbezogene
Analyse des Arbeitsverhältnisses
107
kosten gelten, hängt letztlich davon ab, welches entscheidungstheoretische Modell der Betrachtung der Vertragsdurchführung zugrunde gelegt wird. Im Gegensatz zum Modell des neoklassischen ökonomisch vollständigen Vertrags8 ist ein Vertrag nach Williamson schon deshalb unvollständig, weil sich die Parteien zwar rational verhalten wollen, dieses Ziel jedoch aufgrund der nur eingeschränkten menschlichen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeit (»bounded rationality« 9 ) nicht vollständig umsetzbar ist. Die einigungszentrierte Sicht des neoklassischen Ansatzes 10 ist danach verfehlt. Rechne man von vornherein mit der eingeschränkten Rationalität der Akteure 11 , so sei es entscheidend, wie Transaktionen gerade in Anbetracht irrationaler Entscheidungen effizient organisiert werden könnten. 12 Daher komme es darauf an, die Durchführung des notwendig unvollständigen Vertrags aus der ex-post-Perspektive abzusichern und institutionelle Hilfen für die Vertragsdurchführung in ihrem tatsächlichen Kontext zu entwickeln. 13 Insoweit knüpft Williamson direkt an die schon erörterte 14 »relational contracts theory« an. 15 Als Folge der eingeschränkten Rationalität müsse berücksichtigt werden, daß sich Parteien »opportunistisch« verhielten und Informationsvorteile unter Täuschung des Vertragspartners zu ihren Gunsten ausnutzten 16 : »Opportunism is an effort to realize individual gains through a lack of candor or honesty in transactions. It is a somewhat deeper variety of self-interest seeking assumption that is ordinarily employed in economics; opportunism is self-interest with guile.« 17
Insbesondere wenn die Parteien voneinander wirtschaftlich abhängig seien 18 , müsse durch die Organisationsform verhindert werden, daß der strategisch unVgl. § 5 I S. 68. Williamson, Transaction Cost Economics Meets Posnerian Law And Economics, 149 (1993) Journal Of Institutional And Theoretical Economics 99 (109 f.) unter Hinweis auf die Entwicklung des Terminus der »bounded rationality« von Simon, Theories Of Bounded Rationality, in: McGuire/Radner (Hrsg.) Decision And Organisation (1972). Vgl. zum Konzept der »bounded rationality« Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 38 f. 10 Posner, Economic Analysis Of Law (1998), S. 19; derselbe, Reply, 149 (1993) Journal of Institutional And Theoretical Economics 119 (120) wendet sich gegen eine Modifizierung der »rational choice theory« aufgrund dieses Gesichtspunkts. Er sieht dagegen die Schwierigkeit der Informationsbeschaffung und -bewältigung ausschließlich als ein Informationskostenproblem an. 11 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 38 Fußnote 51. 12 Williamson, The Economic Institutions Of Capitalism (1987), S. 46. 13 Williamson, The Economic Institutions Of Capitalism (1987), S. 71 ff. 14 Vgl. § 6 II. 15 Williamson, The Economic Institutions Of Capitalism (1987), S. 71 und derselbe, Transaction Cost Economics Meets Posnerian Law And Economics, 149 (1993) Journal Of Institutional And Theoretical Economics 99 (108). 16 Williamson, The Economic Institutions Of Capitalism (1987), S. 47. 17 Williamson/Wachter/Harris, Understanding the Employment Relation: The Analysis Of Ideosyncratic Exchange, 6 (1975) Bell Journal Of Economics 250 (258 f.). 18 Williamson The Economic Institutions Of Capitalism (1987), S. 52 nimmt an, daß eine 8
9
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3. Kapitel: Entwurf eines
Vertragsmodells
terlegene Vertragspartner auf diese Weise seine Vertragsvorteile verliere und so mit Transaktionskosten belastet werde.19 Transaktionskosten sind danach Vertragskosten im weitesten Sinne. Unter Hinweis auf ein Zitat von Arrow bezeichnet Williamson20 sie als »costs of running the economic system« und vergleicht die Bedeutung dieser »Betriebskosten« mit derjenigen des Begriffs der physikalischen Reibung. 21 Ziel ist es danach, eine Organisationsform zu finden, bei der möglichst wenig »Reibungsverlust« auftritt. Da der Vertrag für ihn schon wegen der eingeschränkten Rationalität der Akteure unvollständig sein muß, kommt es nicht darauf an, die entstehenden Transaktionskosten wie bei der Konstruktion des ökonomisch vollständigen Vertrags nur aus einer exante-Sicht zu bestimmen. Williamson trennt zwischen ex-ante- und ex-postTransaktionskosten. Ex-ante-Transaktionskosten umfasssen die Kosten, die bei der Aushandlung und Planung des Vertrags entstehen.22 Darunter fallen nicht nur die Kosten, um den Vertrag aufzusetzen oder entsprechende Informationen einzuholen, sondern auch die Kosten der betrieblichen Organisation selbst, die das Koordinationsschema der späteren Vertragsdurchführung ist. Ex-post-Transaktionskosten werden dagegen bei der Durchführung, der Überwachung und der Durchsetzung des Vertrags verursacht.23 Darunter fallen Nachverhandlungskosten, aber auch die Kosten der gerichtlichen Durchsetzung von Ansprüchen. Entscheidend für den von 'Williamson verwendeten Transaktionskostenbegriff ist, daß Kosten erfaßt werden, die mit der tatsächlichen Organisation oder Abwicklung der Geschäftsbeziehung entstehen. Die Transaktionskosten können nach Williamson dazu führen, daß es für bestimmte Arten vonVerträgen unterschiedlich effiziente Organisationsformen gibt.
derartige Abhängigkeit insbesondere bei einer sogenannten Faktorspezifität (»asset specificity«) gegeben ist. Faktorspezifität bedeutet, daß vertragsspezifische Investitionen in Sach- oder Humankapital sich nur in diesem Vertragsverhältnis rentieren und Vorteile bieten, die auf andere Vertragsverhältnisse nicht übertragen werden können. 19 Williamson, The Economic Institutions O f Capitalism (1987), S. 47: »More generally, opportunism refers to the incomplete or distorted disclosure of information, especially to calculated efforts to mislead, distort, disguise, obfuscate, or otherweise confuse. It is responsible for real or contrived conditions of information asymmetry, which vastly complicate problems of economic organization. Both principals and third parties (arbitrators, courts, and the like) confront much more difficult ex post interference problems as a consequence.« 20 The Economic Institutions O f Capitalism (1987), S. 18. 21 Williamson, The Economic Institutions O f Capitalism (1987), S. 19. 22 Williamson, The Economic Institutions O f Capitalism (1987), S. 20. 23 Insbesondere zum Problem der Beaufsichtigung der Arbeitnehmer Williamson, The Economic Institutions O f Capitalism (1987), S. 244 ff.
§ 7: Transaktionskostenbezogene
Analyse des Arbeitsverhältnisses
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II. Interner A r b e i t s m a r k t Welche Organisationsform gewählt werden soll, hängt nach Williamson maßgeblich davon ab, ob sich die Vertragsbeziehung häufig wiederholt, ob die zukünftige Vertragsabwicklung nicht absehbar ist und ob die Parteien vertragsspezifische Vorteile erzielen, die sich in einem anderen Vertragsverhältnis nicht realisieren lassen. 24 Sind diese Bedingungen erfüllt nimmt Williamson an, daß Arbeitsverträge auf dem sogenannten internen Arbeitsmarkt abgewickelt werden. 25 Williamson unterscheidet somit drei Hauptmerkmale, die dafür sprechen, Vertragsbeziehungen in einen Betrieb einzugliedern und nicht auf dem freien Markt abzuwickeln. 26 Eine vertikale Integration von Arbeitsverhältnissen ist danach kostensenkend, wenn die Vertragsdurchführung gerade deshalb unsicher ist, weil sich die Parteien möglicherweise opportunistisch verhalten. Die Organisationsform kann in Reaktion auf mögliches opportunistisches Verhalten verbindliche Verhaltensrichtlinien und Konfliktlösungsschemata festlegen 27 und so Kosten senken. Das zweite Merkmal betrifft die Häufigkeit der Transaktion. Die Kosten der vertikalen Eingliederung rentieren sich nur dann, wenn die Vertragsbeziehungen häufig abgewickelt werden. 28 Der dritte und wichtigste Grund ist die sogenannte Faktorspezifität der Vertragsleistungen (»asset specificity« 29 ). Williamson geht davon aus, daß die Parteien durch vertragsspezifische Investitionen einen Vorteil erwirtschaften können, der sich nur in diesem Verhältnis realisieren läßt und bei einem Wechsel des Vertragspartners verloren geht. 30 Er unterscheidet zwischen Investitionen in den Standort, Sachmittel sowie Aus- und Fortbildung der Arbeitskräfte. 31 Die arbeitsplatzbezogene Schulung des Arbeitnehmers auf Kosten des Arbeitgebers kann sich z.B. nur dann rentieren, wenn der Arbeitnehmer auf diesem Arbeitsplatz beschäftigt bleibt. Eng verbunden mit diesem Gesichtspunkt ist der Erwerb sogenannter »idiosynkratischer Kenntnisse«. 32 Idiosynkratisch sind Fähigkeiten Williamson, The Economic Institutions Of Capitalism (1987), S. 52. Williamson/Wachter/Harris, Understanding the Employment Relation: The Analysis Of Ideosyncratic Exchange, 6 (1975) Bell Journal Of Economics 250 (269 f.). 2 6 The Economic Institutions Of Capitalism (1987), S. 52 ff. 27 Williamson, The Economic Institutions Of Capitalism, S. 59. 28 Williamson, The Economic Institutions Of Capitalism, S. 60. 29 Williamson, The Economic Institutions Of Capitalism, S. 53. 30 Williamson, The Economic Institutions Of Capitalism (1987), S. 54: »Asset specificity arises in an intertemporal context. As set out in the contractual schema in Chapter 1, parties to a transaction commonly have a choice between special purpose and general purpose investments. Assuming that contracts go to completion as intended, the former will often permit cost savings to be realized. But such investments are also risky, in that specialized assets cannot be redeployed without sacrifice of productive value if contracts should be interrupted or prematurely terminated.« 31 Williamson, The Economic Institutions Of Capitalism (1987), S. 55. 32 Williamson/Wachter/Harris, Understanding The Employment Relation: The Analysis Of Ideosyncratic Exchange, 6 (1975) Bell Journal Of Economics 250 (256). 24 25
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3. Kapitel: Entwurf eines
Vertragsmodells
des Arbeitnehmers, die ihm nur bei diesem Arbeitgeber nützlich sind. 3 3 D i e F ä higkeiten k ö n n e n sich auf einen bestimmten technischen Arbeitsablauf oder insgesamt auf die Art und Weise der Arbeitsleistung beziehen. Sie k ö n n e n in Qualifizierungen liegen, wie sie in speziell auf den A r b e i t g e b e r zugeschnittenen Schulungen vermittelt werden. 3 4 D i e s e Spezialisierungen führen auf der einen Seite zu einer stärkeren Abhängigkeit v o m Vertragspartner, auf der anderen Seite bieten sie die M ö g l i c h k e i t , einen Vorteil gegenüber nicht spezialisierten Mitbietern auf dem externen A r b e i t s m a r k t zu erlangen. 3 5 I n diesem Fall wandelt sich die Wettbewerbssituation vor A b s c h l u ß des Arbeitsvertrags mit dem Vertragsschluß in ein bilaterales M o n o p o l , in dem es nur einen A n b i e t e r und einen N a c h f r a g e r der vertragspezifischen Leistung gibt. Aus dem externen A r b e i t s m a r k t , auf dem viele A r b e i t n e h m e r u m Arbeitgeber bieten, wird ein interner A r b e i t s m a r k t , der anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegt und der einer besonderen organisatorischen Absicherung bedarf: »... transaction cost economics holds that a condition of large numbers bidding at the outset does not necessarily imply that a large numbers bidding condition will prevail thereafter. Whether ex post competition is fully efficacious or not depends on whether the good or service in question is supported by durable investments in transaction-specific human or physical assets. Where no such specialized investments are incurred, the initial winning bidder realizes no advantage over nonwinners. Although it may continue to supply for a long time, that is only because, in effect, it is continuously meeting competive bids from qualified rivals. Rivals cannot be presumed to operate on a parity, however, once substantial investments in transaction-specific assets are put in place. Winners in such circumstances enjoy advantages over nonwinners, which is to say that parity is upset. Accordingly, what was a large numbers bidding condition at the outset is effectively transformed into one of bilateral supply after. This fundamental transformation has pervasive contracting consequences.«36 33 Williamson/Wacbter/Harris, Understanding The Employment Relation: The Analysis Of Ideosyncratic Exchange, 6 (1975) Bell Journal Of Economics 250 ( 256 f.). 34 Williamson, Markets And Hierarchies (1983), S. 57. 35 Williamson, Markets And Hierarchies (1983), S. 54 f. Williamson knüpft mit dem Begriff der Faktorspezifität an Marshall, Principles Of Economics (1948), an, der zwischen frei beweglichem Kapital und an Sachmittel gebundenen Investitionen unterscheidet. Bei diesen Investitionen »versinkt« das Geld und kann in einer anderen Vertragsbeziehung nicht mehr nutzbringend angelegt werden. Dies gelte auch für Investitionen in Humankapital. Mit dem Wechsel des Vertragspartners gingen die Vorteile verloren. Diese Betrachtungsweise der Spezialisierung von Arbeitskräften als Humankapitalbildung liegt ebenso dem Ansatz von Becker, Human Kapital, 3. Auflage 1993, S. 15 ff. zugrunde. Für das Kollektivarbeitsrecht haben Doeringer/Piore, Internal Labor Markets And Manpower Analysis (1985), S. 13 zwischen internem und externem Arbeitsmarkt unterschieden. Nach Doeringer/Piore ist der interne Arbeitsmarkt dadurch geprägt, daß die Arbeitnehmer firmenspezifische Fähigkeiten erwerben, auf spezifischen Tätigkeitsfeldern trainiert werden und innerhalb der Firma üblichen Verhaltensregeln unterliegen, S. 13. Die von Doeringer/Piore vertretene Theorie des internen Arbeitsmarktes bezieht sich auf das Kollektivarbeitsrecht und zielt nicht darauf ab, Individualarbeitsverhältnisse zu erklären, aaO., Vorwort S. xxii. 36 Williamson, The Economic Institutions Of Capitalism (1987), S. 61.
5 7: Transaktionskostenbezogene
Analyse des Arbeitsverhältnisses
111
Für Arbeitsverhältnisse ist eine vertikale Integration nach Ansicht von Williamson daher transaktionskostensenkend, wenn feststeht, daß die Parteien tatsächlich spezifisch in das Arbeitsverhältnis investieren. Nahezu jeder Arbeitsvertrag sei dadurch gekennzeichnet, daß der Arbeitnehmer bestimmte, nur auf dieses Vertragsverhältnis bezogene Fähigkeiten erwerbe. 37 Davon seien aus organisationstheoretischer Perspektive Vertragsverhältnisse zu unterscheiden, die nicht auf einem internen, sondern ausschließlich auf einem wettbewerbsrechtlich geprägten externen Markt abgewickelt würden. 38 Kennzeichnend für diese Vertragsverhältnisse sei, daß sie keine besonderen Fähigkeiten voraussetzten. Solche Tätigkeiten seien weder in einen Organisationszusammenhang noch in einen speziellen technischen Ablauf einbezogen 39 und würden ohne dauernde Vertragsbeziehung durchgeführt (»spot« 40 -Geschäfte). Erst wenn der Arbeitnehmer vertragsspezifische Kenntnisse erlangt habe und deshalb seine »Auswechslung« Kosten für den Arbeitgeber verursache, finde das Arbeitsverhältnis zu den Bedingungen des internen und nicht des externen Arbeitsmarktes statt. 41 Da die Parteien in der Situation des bipolaren Monopols voneinander abhängig sind, besteht eine hohe Gefahr, daß sie sich opportunistisch verhalten. 42 Der Arbeitgeber hat eine strategisch bessere Position, wenn sich die Einarbeitung des Arbeitnehmers für ihn bereits rentiert hat. 43 Der Arbeitnehmer ist strategisch überlegen, wenn er von seinem Arbeitgeber ausgebildet worden ist und diese Qualifikation auf dem externen Markt für ihn vorteilhaft ist. Wechselt er den Arbeitgeber, so verliert dieser seine Investition. Ebenso kann der Arbeitnehmer seine Arbeitsintensität steuern und seine Kooperationsbereitschaft zumindest graduell selbst bestimmen. Die Kooperation zum beiderseitigen Vorteil auf dem internen Arbeitsmarkt setzt voraus, daß die Vertragsparteien ungefährdet in die laufende Vertragsbeziehung investieren und aufgrund bestehender Regelungsmechanismen davon ausgehen können, daß sich auch der andere Vertragspartner im Zweifel kooperativ verhalten wird. 44 Ob idiosynkratische Kenntnisse eine notwendige Bedingung für das Entstehen eines internen Arbeitsmarkt sind, ist bezweifelt worden. 45 Goldberg46 hat Williamson, Markets And Hierarchies (1983), S. 57. Williamson, Markets And Hierarchies, (1983), S. 58. 39 Williamson, Markets And Hierarchies, (1983), S. 63. 40 Williamson, The Economic Institutions O f Capitalism (1987), S. 245. 41 Williamson, Markets And Hierarchies (1983), S. 69. 42 Williamson, The Economic Institutions O f Capitalism (1987), S. 63. 43 Wächter/Cohen, 136 (1988) University O f Pennsylvania Law Review 1362.Vgl. zu dieser Situation im Lebenarbeitsverhältnis auch Becker, Human Capital (1993), S. 48. 44 Wachter/Rock, 144 (1996) University Of Pennsylvania Law Review 1928. 45 Goldberg, A Relational Exchange Perspective On The Employment Relationship, in: Stephen (Hrsg.), Firms. Organisation And Labour (1984), S. 133. 46 Goldberg, A Relational Exchange Perspective On The Employment Relationship, in: Stephen, (Hrsg.) Firms. Organisation And Labour (1984), S. 133 (134). 37 38
112
3. Kapitel: Entwurf
eines
Vertragsmodells
darauf hingewiesen, daß es für den Arbeitgeber auch dann vorteilhaft sei, Arbeitsverhältnisse in einen Betrieb einzugliedern und z.B. durch bestimmte Entlohnungs- und Beförderungsysteme an sich zu binden, wenn keine speziellen Fähigkeiten für die Tätigkeiten erforderlich sind. N u r wenn ein auf den bestimmten Arbeitgeber bezogener und gegenüber dem externen Arbeitsmarkt abgrenzbarer Markt bestehe, habe der Arbeitgeber die Möglichkeit, z.B. durch eine Herabstufung im Entlohnungssystem, Schlechtleistungen zu sanktionieren. Die Sanktionierung von Schlechtleistungen beeinflusse das Verhalten der Arbeitnehmer dagegen nicht, wenn sie ohne Einbußen zu einem anderen Arbeitgeber wechseln könnten. Die Bindung der Arbeitnehmer entspreche daher dem Interesse des Arbeitgebers, die Beaufsichtigungskosten gering zu halten, und wirke letztlich stets transaktionskostensenkend. Was bedeutet das transaktionkostenbezogene Modell des internen Arbeitsmarkts für die rechtliche Analyse der judiziellen Nebenpflichtbegründung? O b dieser Ansatz die tatsächlichen Funktionsbedingungen des Arbeitsvertrags erklären kann, hängt zunächst davon ab, inwieweit dieses Modell mit der prinzipiengeleiteten Argumentation vereinbar ist. Für diese Untersuchung wird die transaktionskostenbezogene Analyse des Arbeitsvertrags in drei Sätze unterteilt, die jeweils auf ihre Stimmigkeit mit der rechtlichen Argumentation zu überprüfen sind: 1. Die Ziele der prinzipiengeleiteten Argumentation und des transaktionskostenbezogenen Ansatzes sind vereinbar. 2. Die mit dem Modell des internen Arbeitsmarkts beschriebenen Abhängigkeiten treffen auf alle Verträge zu, die rechtlich als Arbeitsvertrag zu bezeichnen sind. 3. Die in der Transaktionskostenökonomik zugrunde gelegten Annahmen über das Parteiverhalten können zum tatsächlichen Ausgangspunkt der judiziellen Pflichtbegründung genommen werden.
III. Vereinbarkeit des transaktionskostenbezogenen Modells mit der prinzipiengeleiteten Argumentation 1. Vereinbarkeit
der
Zielvorstellungen
Anders als das Modell der neoklassischen ökonomischen Analyse beschäftigt sich die Transaktionskostenökonomik damit, wie Koordinationsmechanismen gewählt werden können, um den Gefahren aus einer ungleichen Informationsverteilung und möglichen opportunistischen Verhaltensweisen vorzubeugen. Die Organisation soll nach diesem Ansatz diese Funktionsvoraussetzungen für eine vertragliche Kooperation so flankieren, daß die Parteien Verträge mit einem niedrigen Transaktionskostenaufwand abwickeln können. Die
§ 7: Transaktionskostenbezogene
Analyse des Arbeitsverhältnisses
113
rechtliche prinzipiengeleitete Argumentation zielt darauf ab, die Funktionsvoraussetzungen für ein Vertragsmodell zu schaffen, nach dem die Parteien selbstbestimmt Leistungen in einem rechtlichen Äquivalenzverhältnis austauschen. Sowohl die organisatorische als auch die rechtliche Absicherung soll dazu führen, Koordinationsschemata 4 7 in Ergänzung der Vertragsabwicklung auf dem Markt zu entwickeln. D e r Ausgangspunkt der rechtlichen und der ökonomischen Analyse ist daher ähnlich. Fraglich ist, ob aber nach beiden A n sätzen denselben Störfällen entgegengewirkt werden soll. Transaktionskosten in der Terminologie von Williamson sind Vertragskosten, die nicht nur zu ökonomischen Reibungsverlusten führen, sondern eine Äquivalenzstörung begründen können, die Eingriffsvoraussetzung der judiziellen Pflichtbegründung ist. Das Ziel der Transaktionskostenökonomik überschneidet sich daher mit der Funktion judiziell entwickelter Regelungen, die eine Einigung trotz der zukünftigen Unsicherheit ermöglichen und vereinfachen sollen, wenn auch die rechtlichen Eingriffsvoraussetzungen enger sind. Die wichtigste Funktion der judiziellen Nebenpflichten liegt in der Begleitung und Absicherung der Durchführung des Vertrags. Aus transaktionskostenökonomischer Perspektive bietet die strategische Abhängigkeit auf dem internen Arbeitsmarkt einer Vertragspartei die Möglichkeit, eine »vorausgeleistete« Investition ausschließlich zum eigenen Vorteil zu nutzen und eine mögliche B e teiligung des »Vorleistenden« an einem Kooperationsgewinn für sich einzubehalten. Rechtlich ist diese Situation aufzugreifen, wenn sich das strategische Ausnutzen der Situation in einer Äquivalenzstörung niederschlägt. Keine rational handelnde Partei wählt eine Kooperationslösung, wenn sie nicht darauf vertrauen kann, daß auch der andere Vertragspartner auf kurzfristige Vorteile verzichtet und eine strategische Überlegenheit, welche die rechtliche Äquivalenz des Vertrags zerstört, nicht zu seinen Gunsten ausnutzen wird. Die Transaktionskostenökonomik erklärt mögliche tatsächliche Ursachen, die sich rechtlich als Äquivalenzstörung auswirken können. Insoweit ist der Ansatzpunkt der Transaktionskostenökonomik für die arbeitsgerichtliche N e benpflichtbegründung relevant. E r kann die außerrechtlichen Funktionsbedingungen des Arbeitsvertrags vor dem Hintergrund der rechtlichen Prinzipienargumentation aufschlüsseln. Damit erschöpft sich allerdings seine Funktion. Die Frage, wann die Rechtsprechung in den Vertrag eingreifen muß, kann nur aus der rechtlichen Perspektive beantwortet werden. Das Modell eines internen Arbeitsmarkts bietet aber nur dann eine weiterführende Erklärung, wenn es die Rahmenbedingungen erklären kann, die Arbeitsverhältnissen typischerweise zugrunde liegen. Daher muß überlegt werden, ob ein Vertrag, der rechtlich als
4 7 Aus diesem ordnungstheoretischen Blickwinkel ist Markt ein Steuerungsmechanismus menschlichen Verhaltens Bebrens, Die ökonomischen Grundlagen des Rechts (1986), S. 132 ff. und 151.
114
3. Kapitel:
Entwurf
eines
Vertragsmodells
Arbeitsvertrag zu bezeichnen ist, aus ökonomischer Sicht typischerweise auf einem internen Markt abgewickelt wird. 2. Besteht bei allen Arbeitsverhältnissen
ein bilaterales Monopol?
Ob rechtlich ein Arbeitsverhältnis anzunehmen ist, hängt nach ständiger Rechtsprechung davon ab, ob der Arbeitnehmer die Arbeitsleistung in persönlicher Abhängigkeit erbringt. 48 Entscheidend dafür ist, daß der Beschäftigte in die Arbeitsorganisation des Arbeitgebers eingegliedert ist und dem Weisungsrecht des Arbeitgebers hinsichtlich Inhalt, Zeit, Durchführung, Dauer und Ort der Tätigkeit unterliegt. 49 Dagegen ist eine wirtschaftliche Abhängigkeit des Arbeitnehmers keine Voraussetzung für die rechtliche Annahme eines Arbeitsverhältnisses. 50 Es ist fraglich, ob bei Abschluß jedes Arbeitsvertrags aus ökonomischer Sicht zugleich ein interner Arbeitsmarkt entsteht. Die von Williamson entwikkelte Transaktionskostenökonomik beschäftigt sich nicht mit Rechtsfragen. Vielmehr soll die Vertragsabwicklung und Konfliktbewältigung den Parteien in erster Linie selbst überlassen bleiben. Nach Williamson sollen gerichtliche Konfliktlösungen durch institutionelle Hilfen bei der Vertragsabwicklung und Schlichtungsstellen vermieden werden. 5 1 Die rechtliche Koordination tritt für Williamson hinter die Organisationsmöglichkeiten des Arbeitgebers zurück. Nach Williamson kommt es für die Annahme eines internen Arbeitsmarkts darauf an, ob die Arbeitnehmer auf das Arbeitsverhältnis bezogene spezifische Kenntnisse erwerben und deshalb für den Arbeitgeber ein Austausch der Arbeitskräfte mit Kosten verbunden ist. Der Austausch des Arbeitgebers ist für die Arbeitnehmer seiner Ansicht nach ebenfalls erst dann mit Kosten verbunden, wenn sich die Arbeitnehmer für eine Tätigkeit spezialisiert haben und diese Kenntnisse in anderen Vertragsverhältnissen nicht verwenden können. Käme es nur auf dieses Kriterium an, könnte man sicherlich nicht sagen, daß die rechtliche Annahme eines Arbeitsvertrags zwangsläufig dazu führt, daß aus ökonomischer Sicht ein interner Arbeitsmarkt anzunehmen ist. Allein die weisungsabhängige Arbeitsleistung führt nicht zwangsläufig dazu, daß Arbeitnehmer besondere, auf dieses Arbeitsverhältnis bezogene Fähigkeiten erlangen. Dies hängt vielmehr von den unterschiedlichen Anforderungen und der Art der Tätigkeit ab. Ebenso wird der Arbeitgeber nicht zwangsläufig von der von Gold-
48 BAG, Urt. v. 26.5.1999 - 5 AZR 469/98 - AP Nr. 104 zu §611 BGB Abhängigkeit m.w.N. auf die ständige Rechtsprechung. 49 BAG, Urt. v. 26.5.1999 - 5 AZR 469/98 - AP Nr. 104 zu § 611 BGB Abhängigkeit unter IV 1. der Gründe. 50 BAG, Urt. v. 30.9.1998 - 5 AZR 563/97 - AP Nr. 103 zu § 611 BGB Abhängigkeit. 51 Williamson, The Economic Institutions Of Capitalism (1987), S. 250 für die Konfliktbeilegung zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaft.
§ 7: Transaktionskostenbezogene
Analyse des
Arbeitsverhältnisses
115
berg52 angeführten Möglichkeit der Hierarchisierung seiner Arbeitsverhältnisse profitieren. Die Sichtweise von Williamson bezieht sich allerdings auf den amerikanischen Arbeitsmarkt. Eine Übertragung seines Modells auf die rechtliche Funktionsanalyse des deutschen Arbeitsmarkts unterliegt einer anderen Perspektive, aus der die Abwanderungskosten des Arbeitnehmers eine besondere Bedeutung erlangen. Williamson vernachlässigt die Abwanderungskosten 53 des Arbeitnehmers. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen sind Abwanderungskosten der Arbeitnehmer für Williamson schon nach seiner Zielvorgabe unerheblich. Er will aus der Vielfalt der bestehenden Organisationsformen auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt die jeweils für eine bestimmte Geschäftsabwicklung geeignete Form entwickeln. Seine Perspektive ist schon deshalb arbeitgeberorientiert, da der Arbeitgeber die bestehenden Organisationsformen vorgibt. Eine vertikale Integration lohnt sich für den Arbeitgeber erst, wenn er mit Abwanderungskosten bei einem Wechsel der Arbeitskräfte belastet wird. Der andere Grund dafür, daß Williamson Abwanderungskosten des Arbeitnehmers nicht näher untersucht, ist in der amerikanischen Vorstellung des Arbeitsmarkts54 begründet. Diese Vorstellung von der Durchführung der Arbeitsver hältnisse kann als »Abwanderungsmodell«55 bezeichnet werden, bei dem der Arbeitnehmer den Job wechselt, wenn er mit den Arbeitsbedingungen oder seinem Arbeitgeber unzufrieden ist. Im amerikanischen System wird diese Mobilität vorausgesetzt. Das deutsche Modell weicht schon in den rechtlichen Rahmenbedingungen davon ab. Hier handelt es sich um ein »Widerspruchsmodell«56, bei dem der Arbeitnehmer auf seinem bestehenden Arbeitsplatz eine Veränderung der Arbeitsbedingungen einklagen kann oder im Betrieb vom Betriebsrat bei der Wahrnehmung seiner Rechte gestärkt werden soll. Das Arbeitsverhältnis ist davon geprägt, daß dem Arbeitnehmer zumindest auf dem Papier des Kündigungsschutzgesetzes ein Bestandsschutzinteresse zuerkannt 52 A Relational Exchange Perspective O n The Employment Relationship, in: Stephen (Hrsg.), Firms. Organisation And Labour (1984), S. 133 und vgl. § 7 II. 53 Eger, Eine ökonomische Analyse von Langzeitverträgen (1995), S. 20. Zu der Möglichkeit des Arbeitgebers, das Verhalten des Arbeitnehmers durch hohe Beendigungskosten (»high exit costs«) zu beeinflussen Goldberg, A Relational Exchange Perspective On The Employment Relationship, in: Stephen (Hrsg.), Firms. Organization And Labour (1984), S. 133. 54 Williamson, The Economic Institutions O f Capitalism (1987), S. 37 unter dem Stichwort »The Mobile Society: The appearance of the automobile, mobile homes, home freezers, mailorder houses, and the like greatly relieve the contracting difficulties of the premobile area. The need for site-specific investments in homes is alleviated by the invention of suitable assets on wheels, which is what the mobile home option represents.« 55 Eger/Nutzinger, Arbeitsmarkt zwischen Abwanderung und Widerspruch, in: Weise (Hrsg.), Unternehmungsverhalten und Arbeitslosigkeit (1999), S. 135 (137). 56 Eger IN utzinger, Arbeitsmarkt zwischen Abwanderung und Widerspruch, in: Weise (Hrsg.), Unternehmungsverhalten und Arbeitslosigkeit (1999), S. 135 (139).
116
J. Kapitel:
Entwurf
eines
Vertragsmodells
wird. Auch wenn der echte Bestandsschutz angesichts der Abfindungspraxis kaum noch durchsetzbar ist, führt der Kündigungsschutz auf diese Weise in der Realität zu einem finanziellen Ausgleich für die mit dem Arbeitsplatzverlust entstehenden Transaktionskosten. Die Partei, der hohe Transaktionskosten entstehen, wenn sie den Vertragspartner wechselt, ist in einer strategisch unterlegenen Position. Die Transaktionskosten, die bei einem Wechsel des Vertragspartners entstehen, sind bei Arbeitgeber und Arbeitnehmer völlig unterschiedlich. 57 Typischerweise sind sie bei dem Arbeitnehmer höher. Mit dem Vertragsabschluß legt sich der Arbeitnehmer örtlich fest: Er zieht in die Nähe seines Arbeitsplatzes. Da der Arbeitnehmer - anders als das vom Arbeitgeber investierte Kapital - nicht flexibel und ortsungebunden auf dem Markt präsent sein kann, führt der Vertragsabschluß für den Arbeitnehmer stets zu einer vertragsspezifischen Investition im Sinne der von Williamson erörterten »site specifity« 58 . Er muß seine Arbeitskraft an einem bestimmten Ort anbieten und muß in Abhängigkeit von diesem Ort zumindest einen seiner Lebensmittelpunkte wählen. Der Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber ist daher - anders als der Wechsel des Kapitaleinsatzes - stets mit Mobilitätskosten wie Umzugskosten verbunden. 59 Darüber hinaus besteht für die Arbeitskraft im Vergleich zum Kapitaleinsatz stets nur ein eingeschränkter Markt. Die Ausbildung geht mit einer bestimmten Spezialisierung einher, so daß die Arbeitskraft im Gegensatz zum Kapital an einen bestimmten Marktausschnitt gebunden ist. Schließlich ist die Arbeitskraft an die - auch alternde - Person des Arbeitnehmers gebunden und unterliegt schon deshalb Restriktionen. Der Abschluß eines Arbeitsvertrags ist daher stets eine vertragsspezifische Investition. Nehmen die übrigen Marktchancen ab, steigt diese vertragsspezifische Investition darüber hinaus noch an, da der Wechsel des Arbeitgebers mit hohen Kosten - unter Umständen sogar mit dem Ausscheiden aus dem Markt - verbunden ist. Der Leistungsaustausch im Arbeitsverhältnis kann aus ökonomischer Sicht daher nicht mit einem Warenaustausch auf einem Gütermarkt verglichen werden. 60 Der Arbeitnehmer kann das Arbeitsverhältnis typischerweise nur mit Transaktionskostenaufwand wechseln. Er begibt sich in eine gegenüber dem 57 Kittner, Die Rechtsprechung des BVerfG zur »Wiederherstellung gestörter Vertragsparität« im Lichte der ökonomischen Analyse des Rechts und von Deregulierungsprogrammen, in: Hanau/Heither/Kühling (Hrsg.) Festschrift Dieterich (1999), S. 278 (288); vgl. auch Weise, Alle Märkte sind gleich - Zur Bedeutung und den Folgen unterschiedlicher Mobilität der Produktionsfaktoren, in: Nutzinger (Hrsg.), Geteilte Arbeit und ganzer Mensch (2000), S. 92 (108). 58 Williamson, The Economic Institutions Of Capitalism (1987), S. 95. 59 Kittner, Die Rechtsprechung des BVerfG zur »Wiederherstellung gestörter Vertragsparität« im Lichte der ökonomischen Analyse des Rechts und von Deregulierungsprogrammen, in: Hanau/Heither/Kühling (Hrsg.) Festschrift Dieterich (1999), S. 278 (288). 60 Weise, Alle Märkte sind gleich - Zur Bedeutung und den Folgen unterschiedlicher Mo-
5 7: Transaktionskostenbezogene
Analyse des
Arbeitsverhältnisses
117
kurzzeitigen Austausch von Leistungen höhere Abhängigkeit. Investiert darüber hinaus auch der Arbeitgeber, wie es Williamson voraussetzt, so entstehen Abhängigkeiten auch auf seiner Seite, die der Arbeitnehmer zu seinem Vorteil nutzen kann. In diesen Fällen muß der Gefahr vorgebeugt werden, daß sich der Arbeitnehmer opportunistisch verhält. Das Modell des internen Arbeitsmarktes kann vor diesem Hintergrund dazu dienen, die wirtschaftlichen Abhängigkeiten der Arbeitsvertragsparteien und die damit verbundenen Gefahren bei Vertragsabschluß und Vertragsdurchführung zu entschlüsseln.Um die strategischen Abhängigkeiten genauer beschreiben zu können muß feststehen, welches entscheidungstheoretische Modell aus der prinzipiengebundenen Argumentation zugrunde gelegt werden kann.
3. Rationale
Parteien
»Ein kluger Fürst darf daher sein Versprechen nie halten, wenn es ihm schädlich ist oder die Umstände, unter denen er es gegeben hat, sich geändert haben. Diese Grundregel würde nicht gut sein, wenn alle Menschen gut wären. Weil aber alle böse und schlecht sind und in dem gegebenen Falle dem Fürsten ihr Versprechen auch nicht halten würden, so berechtigt ihn dieses, auch wortbrüchig zu werden.« Macbiavelli, Politische Schriften, S. 97.
Die »rational choice theory« liegt als entscheidungstheoretisches Modell der ökonomischen Analyse des Rechts zugrunde. 61 Umgangssprachlich kann unter einem rational handelnden Menschen jemand verstanden werden, der sich nicht spontan von Gefühlen leiten läßt, sondern sein Verhalten nach einem überlegten Plan richtet. In der ökonomischen Analyse steht die vom Akteur aufzustellende Kosten-Nutzen-Berechnung im Mittelpunkt des überlegten und in diesem Sinne zielgerichteten 62 Handlungsplans. Als rational bezeichnen Schäfer/ Ott ein Verhalten, das ein von der Partei bestimmtes Ziel mit einem Minimum an Mitteln erreicht. 63 Die Vertragsparteien wollen als »resourceful, evaluating, maximizing man (REEM)« 6 4 rational ihren eigenen Nutzen vermehren. Nur wenn sich der entscheidungstheoretische Ansatz streng nach dem neoklassibilität der Produktionsfaktoren, Nutzinger (Hrsg.), Geteilte Arbeit und ganzer Mensch ( 2000), S. 92 (113). 61 Posner, Economic Analysis Of Law (1998), S. 3; Coleman,A Rational Choice Perspective On Economic Sociology, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook Of Economic Sociology (1994), S. 166; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 56. 62 Harsanyi, Advances In Understanding Rational Behavior, in: Harsanyi (Hrsg.), Essays On Ethics, Social, Behavior, And Scientific Explanation (1976), S. 89 (90). 63 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 57. 64 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 56.
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3. Kapitel:
Entwurf
eines
Vertragsmodells
sehen Rationalitätsmodell richtet, wie es z.B. von Posner65 zugrunde gelegt wird, spielen sozialpsychologische Verhaltensmuster, gesellschaftliche Konventionen, Recht oder Moral für die Handlungsspräferenz keine Rolle. 66 Die Präferenz wird dann »exogen«, also von außen, ohne Berücksichtigung des sozialen Kontextes gebildet. Die Präferenzsetzung läßt sich nach Suchman67 in einem Vier-Stufen-Modell beschreiben: »(1) What are my goals/preferences? (2) What are my alternatives? (3) What are the consequences of my alternatives for achieving my goals? (4) Choose the alternative that maximizes goal attainment.« Diese Grundannahmen sind vielfach kritisiert worden. 68 Die neuere Literatur zur ökonomischen Analyse des Rechts versucht, eine Synthese herzustellen zwischen der am homo oeconomicus ausgerichteten »rational choice«-Perspektive und einem sozialpsychologischen Verständnis menschlichen Verhaltens. Bislang leben der homo oeconomicus und der homo sociooeconomicus in zwei verschiedenen Welten. Der »resourceful, evaluating, maximizing man« wird unter Berücksichtigung der soziologischen Perspektive zum »restricted, resourceful, expecting, evaluating, maximizing man (RREEMM)« 6 9 . Soll nach diesem Modell die Handlungspräferenz eines Individuums ermittelt werden, müssen die eingeschränkten menschlichen Fähigkeiten berücksichtigt werden. Die Wahrnehmung des Akteurs ist in diesem Modell begrenzt (»restricted«), weil objektive Informationen fehlen, um die Frage nach der besten zielgerichteten Handlung zu beantworten. Darüber hinaus lebt nur der homo oeconomicus als atomisiertes Individuum für sich. Entscheidungen werden nach sozialpsychologischer Ansicht von den sozialen Rahmenbedingungen beeinflußt und lassen schon deshalb nur eine bestimmte Perspektive auf die Wahl zwischen den Handlungsmöglichkeiten zu. 70 Williamson muß in seiner Theorie zwangsläufig davon ausgehen, daß Institutionen das menschliche Verhalten beeinflussen, da er annimmt, daß über den Organisationszusammenhang effiziente Entscheidungen entwickelt werden können. 71 Die Annahme, daß der Handelnde eben nicht allwissend und Posner, Economic Analysis O f Law (1998), S. 17. Coleman, Risks And Wrongs (1992), S. 17. 6 7 On Beyond Interest: Rational, Normative And Cognitive Perspektives In The Social Scientific Study O f Law, 1997 Wisconsin Law Review 475 (477). 6 8 Zusammenfassender Uberblick zur Kritik aus den achtziger Jahren bei Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 63 ff. 69 Lindenberg, The Method O f Decreasing Abstraction, in: Coleman/Fararo (Hrsg.), Rational Choice Theory (1992), S. 3 (8). 70 Abell, Is Rational Choice Theory A Rational Choice O f Theory?, in: Coleman/Fararo (Hrsg.), Rational Choice Theory (1992), S. 183 (189). 71 The Economic Institutions O f Capitalism (1987), S. 32: »Organize transactions so as to 65 66
§ 7: Transaktionskostenbezogene
Analyse des Arbeitsverhältnisses
119
nicht vollständig rational ist, steht im Mittelpunkt seines Ansatzes. Williamson modifiziert den neoklassischen Ansatz dahingehend, daß die Akteure sich in seinem Modell zwar wie ein homo oeconomicus verhalten möchten, also rationales Handeln intendiert ist, aber dieses Ziel wegen der nur eingeschränkten menschlichen Fähigkeiten zu rationalem Handeln nicht stets erreichen können (»bounded rationality« 72 ). Danach überschreitet es zum einen die menschlichen Fähigkeiten, Risiken komplexer, oftmals über Jahre andauernder Verträge zu überblicken und angemessene Handlungsalternativen zu ermitteln.73 Zum anderen geht es Williamson darum, ein möglichst realistisches Bild menschlicher Verhaltensweisen zugrunde zu legen, um die Organisationsform den tatsächlichen Schwierigkeiten möglichst genau anzupassen. Anders als im neoklassischen Ansatz greift Williamson Erkenntnisse der Sozialwissenschaft und Sozialpsychologie auf, soweit sie Aufschluß über typisierbare irrationale Verhaltensweisen geben. Eine besondere Rolle spielen dabei organisationstheoretische Ansätze 74 , auf die an späterer Stelle75 noch zurückzukommen ist. In der Grundannahme, daß die Vertragsparteien egoistische Nutzenmaximierer sind, stimmt Williamson dagegen mit dem neoklassischen Ansatz überein. Der Ansatz von Williamson läßt sich damit in zwei Prämissen aufspalten, die auf ihre Vereinbarkeit mit der rechtlichen, prinzipiengeleiteten Argumentation untersucht werden müssen. Die erste Annahme ist, daß die Parteien ihre Ziele selbst bestimmen (Präferenzautonomie). Die zweite Prämisse bezieht sich darauf, daß die Akteure egozentrisch handeln, um ihren eigenen Nutzen zu steigern, und betrifft damit die Frage, wie kooperationsbereit Parteien in der rechtlichen Modellvorstellung sein sollen. a)
Präferenzautonomie
Die Privatautonomie überlagert sich mit der ökonomischen Präferenzautonomie.76 Das ökonomische Marktparadigma ist schon deshalb mit dem oben erörterten liberalen Verständnis der Privatautonomie verschränkt, weil der Markt das Kooperationsschema ist, nach dem Verträge ohne eine vom Staat vorgegebene Zielvorgabe durchgeführt werden. 77 Nicht Effizienz, sondern die Privateconomize on bounded rationality while simultaneously safegarding them against the hazards of opportunism. Such a statement supports a different and larger conception of the ecomonic problem than does the imperative »Maximize profits!«. 72 The Economic Institutions O f Capitalism (1987), S. 43 ff. 73 Williamson, Transaction Cost Economics Meets Posnerian Law And Economics, 149 (1993) Journal O f Institutional And Theoretical Economics 99 (109 f.). 74 Williamson, Transaction Cost Economics And Organization Theory, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook O f Economic Sociology (1994), S. 77 (99). 75 Vgl. § 1 0 1 . 2 . c). 76 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1998), S. 326 und 332. 77 Canaris]Verfassungsund europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, in: Badura/Scholz (Hrsg.) Festschrift Lerche (1993), S. 873 (876).
3. Kapitel: Entwurf eines
120
Vertragsmodells
autonomie ist das Bindeglied zwischen R e c h t und M a r k t . 7 8 D e s h a l b kann der rechtlichen Beurteilung angemessener Kooperationsbedingungen die Vorstellung ö k o n o m i s c h e r Präferenzautonomie zugrunde gelegt werden. E s ist diejenige, die an die Parteien die wenigsten inhaltlichen Vorgaben stellt. Diese G r u n d a n n a h m e schließt allerdings nicht aus, daß die Präferenzentscheidung der Parteien in typisierbaren Fällen von gesellschaftlichen K o n v e n t i o n e n , Verkehrssitten oder Rechtsregeln beeinflußt wird. Inwieweit diese A b w e i c h u n g e n zu berücksichtigen sind, wird im Zusammenhang mit den jeweiligen Beispielsfällen erörtert. 7 9 b) Wie kooperativ
sind
Vertragsparteien?
D a s neoklassische ö k o n o m i s c h e Erklärungsmodell scheitert nicht zuletzt deshalb, weil es im B e m ü h e n , den perfekten M a r k t nachzubilden, die Realität der Vertragsparteien übergeht. D a s Vertragsrecht m u ß j e d o c h an der Realität ansetzen, wenn es in A n b e t r a c h t der tatsächlichen Schwierigkeiten geeignete K o o p e rationsschemata 8 0 zur Verfügung stellen will. A b e r wie kooperativ sind die Parteien in der rechtlichen Modellvorstellung und welchen arbeitsvertraglichen K o o p e r a t i o n s p r o b l e m e n m u ß vorgebeugt werden? D a b e i sind zwei Situationen zu unterscheiden. In Extremsituationen handeln die Vertragsparteien rücksichtslos und opportunistisch und gefährden dadurch die Weiterführung des Vertrags. D a s P r o b l e m in dieser Situation besteht darin, dem Defektverhalten wirksam vorzubeugen. W ä h r e n d der Vertragsdurchführung verhalten sich die Arbeitsvertragsparteien außerhalb der genannten Extremsituationen grundsätzlich kooperativ. Das P r o b l e m besteht in dieser Grundsituation des A r b e i t s vertrags darin, den Kooperationsgrad der Parteien aufeinander abzustimmen. aa)
Defektverhalten
A u s Sicht der T r a n s a k t i o n s k o s t e n ö k o n o m i e
sind asymmetrische
Informa-
tionsverteilung und opportunistisches Verhalten die U r s a c h e n dafür, daß Transaktionskosten
entstehen. A s y m m e t r i s c h e Informationsverteilung
und
opportunistisches Verhalten liegen ebenso Störungen des rechtlichen Äquivalenzverhältnisses zugrunde. D a das R e c h t diese Störfälle absichern m u ß , ist das Gegenbild der unkooperativen Vertragspartei notwendig, o b w o h l sich die Parteien im Regelfall tatsächlich kooperativ 8 1 verhalten werden. O p p o r t u n i s t i Bebrens, Die ökonomischen Grundlagen des Rechts (1986), S. 154. Dazu insbesondere § 10 I. 3. c) S. 151. 80 Coleman, Risks And Wrongs (1992), S. 62. 81 Dazu Jolls/Sunstein/Thaler, A Behavioral Approach To Law And Economics, 50 (1998) Stanford Law Review 1471 (1490) unter Hinweis auf den experimentell nachgewiesenen »ultimatum-game«-Effekt, nach dem Beteiligte nicht ausschließlich ihren eigenen Gewinn maximieren wollen, sondern sich an »Fairnessregeln« halten. In dem Experiment wird der erste Spieler aufgefordert, eine Geldsumme zwischen sich und dem zweiten Spieler aufzuteilen. Der 78
79
§ 7: Transaktionskostenbezogene
Analyse des
Arbeitsverhältnisses
121
sches Verhalten in der Vertragssituation als eine Ursache rechtlicher Äquivalenzstörungen läßt sich in tatsächlicher Hinsicht anhand spieltheoretischer Strategiesituationen näher konkretisieren. Die spieltheoretische Beschreibung der Vertragssituation bietet sich an, weil die Parteien in einer Kooperation nicht unabhängig voneinander bestimmte Ergebnisse erzielen können. 82 Das in diesem Zusammenhang am häufigsten diskutierte Modell ist das sogenannte Gefangenendilemma. 83 In der Ausgangssituation des Gefangenendilemmas werden zwei bislang noch nicht überführte Gefangene unabhängig voneinander zur Tat befragt. Die Gefangenen können sich nicht absprechen. Bei der Vernehmung können sie entweder die Tat gestehen oder schweigen. Beide wisssen, daß sie nur zu einer geringen Strafe verurteilt werden, wenn sie beide schweigen; wenn beide reden, werden beide hart bestraft; derjenige, der den schweigenden Mitgefangenen beschuldigt, wird entlassen. Handeln beide Gefangene individuell rational, das heißt, beschuldigen sie einander, werden beide bestraft. Schweigen jedoch beide, wird die Strafe gemildert. Das aufgrund individueller Rationalität erzielte Ergebnis ist suboptimal gegenüber dem einer rationalen Kooperation. 84 Das Ergebnis ihrer Entscheidung - der »payoff« 85 - hängt maßgeblich davon ab, wie sich der andere Beteiligte entscheidet. Richten beide ihre Entscheidung ausschließlich an ihrem Eigeninteresse aus, ist das Ergebnis für beide schlecht. Die Kooperation setzt aber voraus, daß beide Parteien davon ausgehen können, daß von dem Gegenüber die kooperative Verhaltensweise gewählt wird. Die Situation läßt sich in folgender Matrix darstellen: Gefangener Gefangener Schweigen Reden
2:
Schweigen
Reden
-2;-2 0;-10
-10; 0 - 6;-6
1:
zweite Spieler kann daraufhin entscheiden, ob er die vorgeschlagene Teilsumme nimmt oder ablehnt. Im letzteren Fall bekommen beide Spieler nichts. Nach der klassischen ökonomischen Theorie wird der erste Spieler den möglich kleinsten Betrag anbieten und der zweite wird akzeptieren, da dieser kleine Betrag besser als nichts ist. Tatsächlich lehnten die zweiten Spieler einen Betrag unter 2 0 % der Gesamtsumme ab. O b das Bild des egozentrischen Nutzenmaximierers mit der Realität übereinstimmt und eine Funktion hat, die über die Konstruktionshilfe zur Vertragsabsicherung hinausgeht, ist sehr zweifelhaft. Insbesondere nach dem feministisch sozialpsychologisch orientierten Ansatz von Gilligan, Die andere Stimme (1999) ist vielmehr davon auszugehen, daß Verhalten zumindest in gleichem Maße kooperativ angelegt ist. 82 Harsanyi, Advances In Understanding Rational Behavior, in: Harsanyi (Hrsg.) Essays O n Ethics, Social Behavior, And Scientific Explanation (1976), S. 90 (96). 83 Myerson, Game Theory (1997), S. 97; Baird/Gertner/ Picker, Game Theory And The Law (1998), S. 33; Coleman, Risks And Wrongs 1992, S .34; Leibenstein, Inside The Firm (1987), S. 47; Ullmann-Margalit, The Emergence O f Norms (1977), S. 18; Schotter, The Economic Theory O f Social Institutions (1981), S. 24; Ellikson, Order Without Law (1994), S. 160. 84 Baird! Gertneri Picker, Game Theory And The Law (1998), S. 33 85 Baird/Gertner/Picker, Game Theory And The Law (1998), S. 9.
122
3. Kapitel: Entwurf eines
Vertragsmodells
D i e Spielsituation des Gefangenendilemmas zeigt, daß die individuell rationale Strategie in ein D i l e m m a führen kann, das nur durch eine K o o r d i n a t i o n der E r wartungen an das gegenseitige Verhalten aufgelöst werden kann. G e h t man davon aus, daß sich Vertragsparteien nicht v o n sich aus kooperativ verhalten, sondern eine individuelle Strategie verfolgen, müssen die Erwartungen von außen durch eine Institution koordiniert werden. Das nicht kooperative 8 6 Strategiespiel des Gefangenendilemmas läßt sich auf Extremsituationen im Arbeitsverhältnis übertragen, in denen sich eine Partei - zumeist bei bevorstehender Vertragsbeendigung - Vorteile ohne R ü c k s i c h t und zu Lasten der Interessen des Vertragspartners sichert. Z w a r k ö n n e n die Vertragsparteien im G e g e n s a t z zu den Gefangenen eine Vereinbarung treffen, j e d o c h bleibt ohne Sanktionsmechanismen die Versuchung bestehen, diese zu brechen. Eine
Kooperation
k o m m t nur zustande, wenn die Erwartungen an das gegenseitige Verhalten k o ordiniert werden. N i c h t s anderes als diese Erwartungsabstimmung spiegelt sich in der bislang in Zusammenhang mit der Fürsorgepflicht verwendeten F o r mulierung des Bundesarbeitsgerichts, daß der »Arbeitgeber auf das W o h l und die berechtigten Interessen des Arbeitnehmers B e d a c h t « 8 7 nehmen muß. bb) Problem:
Kooperationsgrad
E s wäre überzogen, das Arbeitsverhältnis ausschließlich als ein sich im Sinne des Gefangenendilemmas wiederholendes Strategiespiel anzusehen. S c h o n der A b s c h l u ß des Vertrags setzt Kooperationswilligkeit voraus. 8 8 In der Einigung manifestiert sich, daß die Vertragsparteien davon ausgehen, daß sich der Status q u o nicht verschlechtert, o b w o h l sie sich in eine Situation begeben, in der das Ergebnis einer H a n d l u n g nicht unilateral bestimmt wird, sondern stets v o m Verhalten des Vertragspartners abhängt. 8 9 W ä h r e n d der D u r c h f ü h r u n g des Vertrags ist die B e s t i m m u n g des Kooperationsgrades das maßgebliche P r o b l e m . R e i n e Koordinationsentscheidungen, in denen sich die Interessen der Beteiligten vollständig d e c k e n 9 0 , sind wegen der starken Interessengegensätzlichkeit im 86 Harsanyi, Advances In Understanding Rational Behavior, in: Harsanyi (Hrsg.) Essays On Ethics, Social Behavior, And Scientific Explanation (1976), S. 90 (101) bei einem kooperativen Spiel können die Parteien eine Vereinbarung treffen und abweichendes Verhalten sanktionieren. 87 BAG, Urt. v. 27.11.1985 - 5 AZR 101/84 - AP Nr. 93 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht. 88 Coleman, Risks And Wrongs (1992), S. 59. 89 Baird/Gertner!Picker, Game Theory And The Law (1998), S. 1. 90 In dieser Situation verfolgen die Beteiligten keine dominante Strategie, das heißt, die Handlungsalternative führt unabhängig vom Gegnerverhalten stets zum Erfolg. Die Problemlösung liegt in dem Auffinden des sogenannten »focal point«, bei dem sich die Interessen treffen können (Myerson, Game Theory (1997), S. 108.) Die Fragestellung, auf welcher Seite Fahrzeuge im Straßenverkehr fahren sollen oder wie ein gemeinsamer Treffpunkt ausgemacht werden soll, ist nach diesem Modell zu lösen. Um reine Koordinationsprobleme kann es auch gehen, wenn sich die Interessen nicht decken, aber nur eine gemeinsame Lösung Erfolg verspricht. Vgl. dazu Leibenstein, Inside The Firm (1987), S. 64 und Myerson, Game Theory
§ 7: Transaktionskostenbezogene
Analyse des Arbeitsverhältnisses
123
Arbeitsverhältnis kaum denkbar. Bei der spieltheoretischen Erklärung der Problematik des Kooperationsgrades muß beachtet werden, daß das »Spiel« nicht nur zwischen zwei Vertragsparteien stattfindet, sondern in den Organisationszusammenhang Betrieb oder Unternehmen eingebettet ist, in dem der Arbeitgeber mehreren »Spielteilnehmern« gegenübersteht. Leibenstein91 hat untersucht, inwieweit Arbeitnehmer und Arbeitgeber hinsichtlich der Produktivität und der Arbeitsbedingungen kooperieren. Das bereits beschriebene 92 eindimensionale Modell des Gefangenendilemmas zwischen nur zwei Vertragsparteien weitet sich in diesem Zusammenhang zu einer multidimensionalen Strategiesituation aus, die von drei Faktoren beeinflußt wird: Die Arbeitnehmer können ihre Arbeitsintensität in einem bestimmten Maße selbst steuern, ihre Arbeitsintensität hängt von der Arbeitsumgebung ab, und das Verhalten jedes Arbeitnehmers richtet sich zu einem Teil nach dem üblichen Verhalten der anderen Arbeitnehmer. 93 Leibenstein unterscheidet für die Arbeitnehmer- und die Arbeitgeberseite jeweils drei Produktivitätsstufen, die einen möglichen Kooperationsgrad beschreiben. Auf der ersten Stufe (»golden rule«) arbeiten die Arbeitnehmer mit höchster Intensität zu den besten Arbeitsbedingungen. Auf der zweiten Stufe (»peer effort«) passen sich die Arbeitnehmer mit ihrer Arbeitsintensität einem Durchschnittsniveau an, das deutlich unter dem der »golden rule« liegt, und die Arbeitgeber stellen demgemäß durchschnittliche Arbeitsbedingungen zur Verfügung. Auf der dritten Stufe (»parametric-maximization«) versuchen die Arbeitnehmer mit der geringsten Intensität zu arbeiten und die Arbeitgeber stellen gerade noch vertretbaren Ar(1997), S. 108 mit dem Modell des »battle of the sexes«, bei dem sich ein Paar nicht einigen kann, ob es zum Fußball oder in die Oper geht. Da beide den Abend miteinander verbringen wollen und in der vorgegebenen Situation nicht diskutieren können, kann die Abstimmung nur durch eine Konvention gelingen. EP1:
Fußball
Oper
3; 1 0; 0
0; 0 1; 3
EP2: Fußball Oper
Vgl. auch das »stag hunt«-Spiel, dem folgende Situation zugrunde liegt: Zwei Jäger können bei Kooperation ein grosses Tier fangen, bei einzelner Jagd nur ein kleines Baird/Gertner/Picker, Game Theory And The Law (1998), S. 36. Jäger 2:
große Beute
kleine Beute
10; 10 8; 0
0; 8 8; 8
Jäger 1: große Beute kleine Beute 91
Inside The Firm (1987), S. 48 ff.
§ 7 3 b) aa). Inside The Firm (1987), S. 48. Von diesen Annahmen geht auch Akerlof, Labor Contracts As Partial Gift Exchange, 97 (1982) Quarterly Journal O f Economics 543 (557) zur Beschreibung seines Effizienzlohnkonzeptes aus. 92
93
124
3. Kapitel: Entwurf eines
Vertragsmodells
beitsbedingungen. 9 4 Arbeitgeber und A r b e i t n e h m e r erzielen nur bei übereinstimmendem Kooperationsgrad das auf der jeweiligen Produktivitätsstufe beste Ergebnis. A u f welcher Stufe sich der Kooperationsgrad einstellt, richtet sich nicht ausschließlich nach Effizienz. D i e übereinstimmende B e f o l g u n g einer bestimmten Verhaltensweise ist kein Indikator dafür, daß es sich dabei auch u m eine paretooptimale L ö s u n g für die Beteiligten handelt. 9 5 F ü r das Arbeitsverhältnis lassen sich bislang nur einzelne F a k t o r e n beschreiben, die für das Entstehen einer arbeitsplatzbezogenen K o n v e n t i o n 9 6 beachtlich sind. D e r genaue Vorgang, nach dem sich K o n v e n t i o n e n herausbilden, ist soziologisch nicht vollständig bekannt. 9 7 Entscheidend für die Herausbildung eines üblichen K o o p e r a t i o n s grads ist der von den A r b e i t n e h m e r n in B e z u g g e n o m m e n e »peer group Standard«. 9 8 E s ist beobachtet worden, daß neu eingestellte A r b e i t n e h m e r eher versuchen, sich einem bestimmten Durchschnittsniveau anzupassen als daß sie Leibenstein, Inside The Firm (1987), S. 49. Ob Konventionen stets effiziente Verhaltensweisen sind, ist in der amerikanischen Literatur unter Deregulierungsaspekten heftig diskutiert worden. Die skeptischen Stimmen überwiegen dabei; so z.B. Axelrodt, The Complexity Of Cooperation (1997), S. 56, der auf den Einfluß von Macht hinweist; S unstein, Social Norms And Social Roles, 96 (1996) Columbia Law Review 903 (916); Cooter, Structural Adjudication And The New Law Merchant: A Model Of Decentralized Law 14 (1994) International Review Of Law And Economics 215 (224), der unter bestimmten Voraussetzungen annimmt, daß sich effiziente Konventionen entwikkeln können, kritisch dazu Kornhauser, Are There Cracks In The Foundation Of Spontaneous Order?, 67 (1992) New York University Law Review 647; Elster, The Cement Of Society (1989), S. 97 und 147; Leibenstein, Inside The Firm, Cambridge, Massachusetts, 1987, S. 72; Ullman-Margalit, The Emergence Of Norms (1977), S. 162 Nach Charny, Hypothetical Bargains: The Normative Structure Of Contract Interpretation 89 (1991) Michigan Law Review 1815 (1858) und nach den grundlegenden Untersuchungen von Lewis, Convention (1969), S. 56 können Konventionen bei langer Erprobung zu optimalen Ergebnissen führen. Zu den Voraussetzungen, unter denen Konventionen sich als Kooperationslösungen des Gefangenendilemmas entwickeln können vgl. Eric Posner, Law, Economics, And Inefficient Norms, 144 (1996) University Of Pennsylvania Law Review 1697 und Ellikson, Order Without Law (1994) und die Erörterung dieser Bedingungen unter § 8 II. 96 Inside The Firm (1987), S. 60. Leibenstein unterscheidet zwischen »norm«, »convention« und »institution«. Eine Norm ist danach ein ohne Rücksicht auf Akzeptanz durchgesetzter Verhaltensstandard. Eine Konvention ist eine in örtlich begrenztem Gebiet akzeptierte Verhaltensregel, wohingegen eine Institution denselben Voraussetzungen genügt, aber nicht auf ein begrenztes Gebiet beschränkt ist. 97 Inside The Firm (1987), S. 66 zu den nicht vollständig geklärten Entstehungsgründen von Konventionen im Arbeitsverhältnis. Zu den Entstehungsvoraussetzungen gesellschaftlicher Konventionen vgl. Ziegler, Interesse, Vernunft und Moral: zur sozialen Konstruktion von Vertrauen, in Hradil (Hrsg.) Differenz und Integration (1996), S. 241; Axelrodt, The Evolution Of Cooperation (1994), und derselbe, The Complexity Of Cooperation (1997), der anhand von Computersimulationen die Entwicklungsbedingungen von Kooperationslösungen untersucht hat; vgl. auch die grundlegenden Arbeiten von Lewis, Convention (1969); Ulimann- Margalit, The Emergence Of Norms (1977); Schotter, The Economic Theory Of Social Institutions (1981) und Elster, The Cement Of Society (1989), S. 215. 98 Inside The Firm, Cambridge (1987), S. 53. 94
95
5 7; Transaktionskostenbezogene
Analyse des Arbeitsverhältnisses
125
überdurchschnittliche Leistungen erbringen." Diese Anpassung ist darauf zurückzuführen, daß die Strategiesituation bei Bestimmung des Kooperationsgrades nicht nur zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern als Gruppe besteht, sondern eine weitere Dimension in der Arbeitnehmergruppe selbst hat. Innerhalb der Gruppe werden Arbeitnehmer versuchen, von den Arbeitsleistungen der anderen als Trittbrettfahrer zu profitieren (»free-rider incentives«). 100 Nur wenn sich alle Arbeitnehmer nach dieser Strategie verhalten, ist das Ergebnis für alle negativ. Die Lösung dieser Situation liegt darin, daß eine mehr oder weniger akzeptable Verhaltensweise gewählt wird 101 , die sich innerhalb der Gruppe von Arbeitnehmern nicht zuletzt aufgrund der internen Machtverteilung einspielt.102 Eine einmal eingespielte betriebliche Arbeitsmoral läßt sich schwer ändern. Leibenstein weist auf ein Trägheitsmoment hin, das mit der Herausbildung betrieblicher Konventionen verbunden ist. 103 Haben sich alle Arbeitnehmer auf einen bestimmten - nicht unbedingt optimalen - Kooperationsgrad geeinigt, so führt jedes Abweichen von der gefundenen Linie zu Unsicherheit, ob der gefundene Kompromiß verloren geht, mit dem den Arbeitsanforderungen mehr oder weniger genügt werden kann. Der Grad der üblichen Kooperationsbereitschaft läßt sich nicht durch eine einfache Maßnahme verändern. Die Verhaltensänderung muß innerhalb der Gruppe akzeptiert werden. Eine Möglichkeit des Arbeitgebers, die Kooperationsbereitschaft der Arbeitnehmer zu beeinflussen, liegt darin, Lohnvorteile zu gewähren. Nach der Effizienzlohntheorie 104 führt die Zahlung von überdurchschnittlich hohen Löhnen zu einer größeren Kooperationsbereitschaft und damit zu qualitativ oder quantitativ besseren Arbeitsergebnissen. Nach Ansicht von Akerlof ist für eine derartige Anreizstruktur durch Lohnerhöhungen erforderlich, daß die Parteien über die Durchschnittsleistung hinaus einen Teil ihrer Leistung freiwillig, als »partial gift exchange », erbringen können. 105
Leibenstein, Inside The Firm (1987), S. 52. Leibenstein, Inside The Firm (1987), S. 57. 101 Leibenstein, Inside The Firm (1987), S. 60; für Verkehrssitten in anderen Geschäftsbeziehungen Axelrod, The Evolution Of Cooperation (1984), S. 178; derselbe, The Complexity Of Cooperation (1997), zur Lösung von gesellschaftlichen Problemen, S. 44; Solow, The Labor Market As A Social Institution (1990), S. 32; Ullmann-Margalit, The Emergence Of Norms (1977), S. 9. 102 Leibenstein, Inside The Firm (1987), S. 86. 103 Inside The Firm (1987), S. 74 und 72 zur Frage, warum nicht optimale Konventionen beibehalten werden. 104 Sorensen, Firms, Wages, And Incentives, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.) Handbook Of Economic Sociology (1994), S. 504 (514). 105 Akerlof, Labor Contracts As Partial Gift Exchance, 97 (1982) Quarterly Journal Of Economics 543 (559). 99
100
126
3. Kapitel: Entwurf eines
Vertragsmodells
D i e F o r m u l i e r u n g »partial gift exchange« ist aus rechtlicher Sicht ein wenig mißverständlich. Sicherlich schenken die Parteien einander nichts. 1 0 6 E i n e freiwillige L o h n e r h ö h u n g bzw. freiwillige Gratifikation ist rechtlich keine Schenk u n g . 1 0 7 Vielmehr gründet sich die Effizienzlohntheorie letztlich auf das interkulturelle 1 0 8 Reziprozitätsprinzip, das do ut des, w o n a c h die Gegenseitigkeit von Leistungen den K e r n jeglicher Austauschbeziehung bildet. 1 0 9 E r s t mit der Möglichkeit, über dem Minimalsatz zu leisten, k ö n n t e n die Parteien sich gegenseitig im Vertrauen auf eine reziproke Gegenleistung motivieren. 1 1 0 D a s G e g e n leistungsprinzip als soziologische Erklärung von Verhalten setzt aber voraus, daß die Leistung als » G e s c h e n k « empfunden wird und damit über dem nach neoklassischer Analyse zu zahlenden M a r k t w e r t liegt. 1 1 1 D e r Anreiz entsteht erst dadurch, daß die Leistung in Relation zu den üblichen L ö h n e n innerhalb des Betriebs oder des externen Markts gewürdigt wird. Gratifikationszahlungen k ö n n e n eine derartige W i r k u n g entfalten. O b der Kooperationsgrad tatsächlich angehoben wird, ist j e d o c h nicht sicher. D e r Arbeitgeber trägt das Risik o , daß sich der Anreiz nicht verwirklicht und der übliche Kooperationsgrad weiterbestehen bleibt. D a m i t kann als Zwischenergebnis festgehalten werden, daß der transaktionskostenbezogene Ansatz die tatsächlichen Funktionsbedingungen vor dem H i n t e r g r u n d der maßgeblichen rechtlichen Sicht angemessen
beschreiben
kann. D i e Vertragsabwicklung m u ß insbesondere dann rechtlich flankiert werden, wenn sich die Parteien opportunistisch verhalten oder die Situation aufgrund einer bestehenden Informationsasymmetrie nicht beurteilen können. E b e n s o ist es zumindest denkbar, daß eine judiziell entwickelte Regelung auch den Kooperationsgrad der Parteien abstimmen kann. N a c h den vorangestellten
106 Vgl. dazu Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag (1981), S. 255: »Im Tauschverkehr des Marktes werden grundsätzlich keine Geschenke gemacht, und Altruismus wäre für den seinen Gewinn mehrenden Arbeitgeber eine kostspielige Ideologie.« 107 BAG, Urt. v. 29.4.1954 - 2 AZR 13/53 - AP Nr. 1 zu §611 BGB Gratifikation; BAG, Urt. v. 4.10.1956 - 2 AZR 213/54 - AP Nr. 4 zu §611 BGB Gratifikation; BAG, Urt. v. 10.5.1962 - 5 AZR 452/61 - AP Nr. 22 zu § 611 BGB Gratifikation. 108 Röhl, Uber außervertragliche Voraussetzungen des Vertrages, in: Kaulbach (Hrsg.) Festschrift Schelsky (1978), S. 435 (455 ff.) 109 Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag (1981), S. 240 ff.; Röhl, Uber außervertragliche Voraussetzungen des Vertrages, in: Kaulbach (Hrsg.) Festschrift Schelsky (1978), S. 435; zur soziologischen Bedeutung des Gegenseitigkeitsprinzips zum Aufbau von Vertrauen und damit Koordination der Erwartungen Elster, The Cement Of Society (1995), S. 111; zur Bedeutung des Gegenseitigkeitsprinzips aus spieltheoretischer Perspektive McCahe/Rassenti/ Smith, Reciprocity, Trust, And Payoff Privacy In Extensive Form Bargaining, 24 (1998) Games And Economic Behavior 10. 110 Akerlof, Labor Contracts As Partial Gift Exchange, 97 (1982) Quarterly Journal Of Economics 543 (553). 111 Akerlof, Labor Contracts As Partial Gift Exchange, 97 (1982) Quarterly Journal Of Economics 543 (549 und 559).
§ 7: Transaktionskostenbezogene
Analyse des Arbeitsverhältnisses
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Überlegungen ist für es jedes judizielles Eingreifen jedoch Voraussetzung, daß autonomienähere L ö s u n g e n versagen. U m die G r e n z e der richterlichen Pflichtbegründung genau bestimmen zu k ö n n e n , m u ß feststehen, welche außerrechtlichen Konfliktlösungen von den Parteien selbst entwickelt werden k ö n n e n und inwieweit das R e c h t diese Aufgabe ü b e r n e h m e n kann.
§ 8 Wann muß die Rechtsprechung Pflichten unter den Funktionsvoraussetzungen des internen Arbeitsmarktes begründen? B e i m A b s c h l u ß und bei der D u r c h f ü h r u n g des Vertrags vertrauen die Parteien s o w o h l auf rechtliche als auch auf außerrechtliche D u r c h s e t z u n g s m e c h a n i s m e n . 1 1 2 In ö k o n o m i s c h e r T e r m i n o l o g i e wird auf die sogenannte »implizite« 1 1 3 Vereinbarung oder »den unsichtbaren H ä n d e d r u c k « 1 1 4 hingewiesen, mit denen die Parteien ihre grundsätzliche K o o p e r a t i o n s b e r e i t s c h a f t signalisieren. Beispielsweise kann der A r b e i t g e b e r b e i m A r b e i t n e h m e r die E r w a r t u n g w e k ken, daß besondere Leistungsbereitschaft mit einer K a r r i e r e m ö g l i c h k e i t h o n o riert w i r d 1 1 5 und so einen A n r e i z für den A r b e i t n e h m e r setzen. D i e s e r A n r e i z wird sich n u r verwirklichen, wenn der A r b e i t n e h m e r seine Investition, die hier in einer e r h ö h t e n Leistungsbereitschaft besteht, o h n e zu großes R i s i k o e r b r i n gen k a n n und dem A r b e i t g e b e r vertraut, daß er sich nicht opportunistisch verhalten wird. D e r A b s i c h e r u n g solcher impliziter Vereinbarungen liegen Strategieprobleme zugrunde, bei denen sich eine Partei durch vertragsspezifische Investitionen den H a n d l u n g e n der anderen ausliefert. Stellen außerrechtliche M e c h a n i s m e n sicher, daß sich der kurzzeitig überlegene Vertragspartner nicht opportunistisch verhält, vollzieht sich die implizite Vereinbarung selbst (»selfinforcing n o r m s « 1 1 6 ) . W i r d das opportunistische Verhalten des überlegenen Vertragspartners j e d o c h nicht durch den M a r k t oder das R e c h t sanktioniert, verliert die unterlegene Vertragspartei nicht n u r ihre Investition und den m ö g lichen G e w i n n aus der Vertragsbeziehung, sondern unter U m s t ä n d e n auch das 112 Charny, Nonlegal Sanctions In Commercial Relationships, 104 (1990) Harvard Law Review 373 (376); Bernstein, Merchant Law In A Merchant Court: Rethinking The Code's Search For Immanent Business Norms, 144 (1996) University Of Pennsylvania Law Review 1765(1788). 113 Akerlof, Labor Contracts As Partial Gift Exchance, 97 (1982) Quarterly Journal Of Economics 543 (545); Schrüfer, Ökonomische Analyse individueller Arbeitsverhältnisse (1988), S. 104. 114 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 474. 115 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 475. 116 Zu den Verkehrssitten als »selfinforcing norms« vgl. Rock/Wächter, The Enforcability Of Norms And The Employment Relationship, 144 (1996) University Of Pennsylvania Law Review 1913.
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3. Kapitel:
Entwurf
eines
Vertragsmodells
Vertrauen auf die zukünftige Kooperationsbereitschaft des Vertragspartners, das für eine längerfristige Zusammenarbeit erforderlich ist. Implizite Vereinbarungen sind keine rechtlich bindenden Versprechen. Der Arbeitgeber stellt in dem genannten Beispiel die Karrieremöglichkeit nur in Aussicht, ohne sich festlegen zu wollen. Bei der Bestimmung der Verrechtlichungsgrenze von Erwartungen geht es aus der maßgeblichen prinzipienbezogenen Perspektive nicht darum, jegliche Erwartung des Arbeitnehmers aufzugreifen, die durch eine implizite Vereinbarung hervorgerufen wird. Vielmehr sind nur solche Erwartungen rechtlich relevant, von deren Erfüllung die rechtliche Äquivalenz des Vertrags abhängt. 1 1 7 Die den impliziten Vereinbarungen zugrunde liegenden Strategieprobleme kennzeichnen daher in erster Linie tatsächliche Situationen, in denen für eine Partei starke Anreize bestehen, sich vertragliche Vorteile auf Kosten des anderen Vertragspartners zu sichern. Führt dieses Verhalten zu einer Aquivalenzstörung oder droht eine Aquivalenzstörung, muß das Recht die Erwartung des Arbeitnehmers aufgreifen und das Defektverhalten des Arbeitgebers sanktionieren.
I. Z u r B e d e u t u n g v o n S a n k t i o n e n Die Verrechtlichung der Erwartung liegt in diesen Fällen jedoch nur dann im Interesse einer rational handelnden Partei, wenn sie das effiziente und im Falle eines Prozesses auch das geeignete Mittel ist, um die berechtigte Erwartung zu verwirklichen. 1 1 8 Das bedeutet, daß es kein autonomienäheres Mittel geben darf, um mögliches Defektverhalten zu sanktionieren. Erst wenn außerrechtliche Sanktionsmechanismen fehlen, die in den Fällen asymmetrisch verteilter Information und der Gefahr opportunistischer Verhaltensweisen Anreize zu kooperativem Verhalten geben könnten, kann das Recht eingreifen. 1 1 9 Beispielsweise wird ein Arbeitgeber vor Abschluß des Vertrags nicht von sich aus mitteilen, daß die im Stellenangebot angegebene Verdiensthöhe sich zum größten Teil aus Provisionen errechnet, die von kaum einer Mitarbeiterin in dieser Höhe erwirtschaftet werden können. 1 2 0 Weil ein außerrechtlicher Sanktionsmechanismus fehlt, um den Arbeitgeber zur Weitergabe von Informationen anzuhalten, kann die Rechtsprechung eine zum Schadensersatz führende Informationspflicht des Arbeitgebers entwickeln. Vgl. § 5 I 2 S. 88 ff. Bernstein, Merchant Law In A Merchant Court: Rethinking The Code's Search For Immanent Business Norms, 144 (1996) University Of Pennsylvania Law Review 1765 (1770); Charny, Nonlegal Sanctions In Commercial Relationships, 104 (1990) Harvard Law Review 373 (426 ff.). 119 Leibenstein, Inside The Firm (1987), S. 51. 120 Vgl. dazu LAG Hessen, Urt. v. 13.1.1993 - 2 Sa 522/92 - NZA 1994, S. 884. 117 118
I 8: Wann muß die Rechtsprechung
Pflichten
begründen?
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Die Sanktionierung von Defektverhalten ist der zentrale Ansatzpunkt, um sowohl außerrechtliche als auch rechtliche Kooperationslösungen von Strategieproblemen zu entwickeln. Nach der zugrunde gelegten Modellvorstellung der nutzenmaximierenden Partei121 ist zwar das Selbstinteresse strategiebestimmend. Die Modellparteien können aber Kooperationslösungen erlernen und so auch die im Gefangenendilemma erzählte Geschichte zu einem glücklichen Ende bringen. Für diesen Lernprozeß spielt die Sanktionierung des Defektverhaltens die Schlüsselrolle in der Erwartungskoordination. Um dies zu verdeutlichen, muß die Strategiesituation des Gefangenendilemmas wiederaufgegriffen werden. Bei der vorangestellten Darstellung 122 des Gefangenendilemmas ist ein Moment bislang vernachlässigt worden, das gerade den Arbeitsvertrag kennzeichnet: die zeitlich unbegrenzte oder zumindest nicht absehbare Wiederholung des Strategiespiels. In der Situation des Gefangenendilemmas spielen die Akteure nur einmal. Der Anreiz zu opportunistischem Verhalten ist deshalb stark, da die Parteien zukünftig nicht mehr voneinander abhängig sind. Die Strategiesituation in einer zeitlich andauernden vertraglichen Verbindung ist anders. Wenn sich die Strategiesituation mit unterschiedlichen Rollen ohne zeitlich absehbares Ende wiederholt, ist überhaupt keine vom Gegnerverhalten unabhängige Strategie mehr möglich, um das Eigeninteresse durchzusetzen. 123 Nur bei kurzer Spieldauer oder bei absehbarem Spielende kann ein Gewinn durch unkooperatives Verhalten erzielt werden. 124 Es besteht daher die Möglichkeit, daß sich bei einer unabsehbaren Spieldauer durch Erfahrungen der Akteure eine gemeinsame kooperative Strategie entwickelt. 125 In diesem Fall ist es nur bei der letzten Transaktion wahrscheinlich, daß die Parteien ihr faires Verhalten zugunsten eines möglichen Gewinns aufgeben. Zentrale Voraussetzung für die Entwicklung einer Kooperationsstrategie ist es aber, daß destruktives Verhalten während der Vertragsdurchführung außerrechtlich oder rechtlich sanktioniert wird. 126 Die einfachste und erfolgreichste Verhaltensweise, um das Gefangenendilemma bei Spielwiederholung aufzulösen, ist - wie Axelrodt127 anhand von Computersimulationen gezeigt hat - die sogenannte »tit for tat«-Strategie, nach Vgl. §7 III 3, S. 117. Vgl. § 7 I I I 3 . a a ) , S . 1 2 1 . 123 Axelrod, The Evolution Of Cooperation (1984), S. 15. 124 Axelrodt, The Evolution Of Cooperation (1984), S. 109. 125 Charny, Illusions Of A Spontaneous Order: Norms In Contractual Relationships, 144 University Of Pennsylvania Law Review 1841 (1846); Ellikson, Order Without Law (1994), S. 164; Eger, Eine ökonomische Analyse von Langzeitverträgen (1995), S. 161. 126 Yg] J a z u Untersuchungen von Axelrodt, The Evolution Of Cooperation (1984), S. 27 und derselbe The Complexity Of Cooperation (1997), S. 48, wonach in Computersimulationen die Strategie Auge um Auge (tit for tat) am erfolgreichsten abschnitt. 127 Axelrod, The Evolution Of Cooperation (1984), S.27; derselbe The Complexity Of Cooperation (1997), S. 48 ff. 121
122
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3. Kapitel: Entwurf eines
Vertragsmodells
der im ersten Spielzug kooperiert wird und in den folgenden Spielzügen k o o p e ratives Verhalten mit eigener K o o p e r a t i o n und Defektverhalten mit eigenem Defektverhalten beantwortet wird. Verhalten sich die Spieler entsprechend dieser alttestamentarischen A u g e - u m - A u g e - R e g e l , kann sich die kooperative Verhaltensweise schnell und einfach als R i c h t s c h n u r entwickeln. D a d u r c h lernen auch rationale Nutzenmaximierer, daß sich Defektverhalten wegen der sofortigen Sanktion nicht lohnt. D i e Rahmenbedingungen der erfolgreichen L ö s u n g des Gefangenendilemmas müssen beiden Spielern daher sofortige Sanktionsmöglichkeiten gewährleisten. Was sind derartige Sanktionsmechanismen? Grundsätzlich sind zwei außerrechtliche M e c h a n i s m e n denkbar, die auf legitime Weise ein vertragliches D e fektverhalten sanktionieren k ö n n e n . Dies sind eine wirtschaftlich oder sozial fühlbare Ansehenseinbuße und der drohende Verlust einer bereits erbrachten vertragsspezifischen Investition. 1 2 8 W i e schon erörtert 1 2 9 , wird der Arbeitgeber j e d o c h nicht in jedes Arbeitsverhältnis zwangsläufig vertragsspezifisch investieren und durch diese Investition an den bestimmen A r b e i t n e h m e r gebunden sein. D a h e r ist der wirtschaftlich oder sozial fühlbare Reputationsverlust oftmals die einzige außerrechtliche Sanktion. D e r wirtschaftlich fühlbare A n s e hensverlust setzt im Arbeitsverhältnis voraus, daß das Defektverhalten gegen eine geschäftliche K o n v e n t i o n oder eine bestehende Verkehrssitte verstößt und zur Folge hat, daß sich potentielle Vertragspartner, also sowohl A r b e i t n e h m e r als auch D r i t t f i r m e n von dem »Markthasadeur« abwenden, der gegen die K o n v e n t i o n verstößt. D e r Ansehensverlust in den Augen des einzelnen Vertragspartners reicht dagegen nicht aus: Aufgrund h o h e r A b w a n d e r u n g s k o sten 1 3 0 ist er an den Arbeitgeber gebunden und hat keine wirksamen Sanktionsmöglichkeiten. In diesem Fall ist die K o n v e n t i o n die Strategielösung des zugrundeliegenden Gefangenendilemmas. 1 3 1 D i e Sanktion ist Voraussetzung dafür, daß die gewünschte Verhaltensweise internalisiert w i r d 1 3 2 , das heißt, so
128 Charny, Nonlegal Sanctions In Commercial Relationships, 104 (1990) Harvard Law Review 373 (393); Ellikson, Order Without Law (1994), S.214; Rock/Wächter, The Enforceability Of Norms And The Employment Relationship, 144 University Of Pennsylvania University 1913 (1931); Eger, Eine ökonomische Analyse von Langzeitverträgen (1995), S. 159 ff.; Schrüfer, Ökonomische Analyse individueller Arbeitsverhältnisse (1988), S. 165. 129 Vgl. §7 III. 2, S. 114. 130 Vgl. §7111. 2, S. 116. 131 Zum Teil sieht die amerikanische arbeitsrechtliche Literatur in betriebsüblichen Verkehrssitten derartige Kooperationslösungen (Leibenstein, Inside The Firm (1987), S. 51; Wachter/Rock, The Enforceability Of Norms And The Employment Relationship, 144 University Of Pennsylvania University 1913 (1938 ff.) Die Frage, ob und in welchen Fällen übliche Verhaltensweisen verrechtlicht werden sollen, spielt in der amerikanischen Vertragstheorie eine weitaus größere Rolle als in Deutschland, da es z.B. auch für den gewerkschaftlich nicht organisierten Betrieb wenig verbindliche Rechtsregeln gibt, z.B. bei Fragen der Vertragskündigung oder von Senioritätsregelungen Wachter/Rock, aaO., S. 1921. 132 Ziegler, Interesse, Vernunft und Moral: zur sozialen Konstruktion von Vertrauen, in:
5 8: Wann muß die Rechtsprechung
Pflichten
begründen?
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zur Richtschnur des zukünftigen individuellen Verhaltens wird, daß der strategisch unterlegene Vertragspartner ein kooperatives Verhalten erwarten kann. 133
II. Zur Bedeutung von Verkehrssitten im Individualarbeitsrecht Konventionen oder Verkehrssitten im Arbeitsrecht können als außerrechtliche Mechanismen das Strategieproblem nur dann auflösen, wenn sich in ihnen überhaupt Kooperationslösungen spiegeln. Verkehrssitten können aber ebenso nur auf einem bestehenden Machtungleichgewicht beruhen, durch das dem Unterlegenen über lange Zeit Regeln aufgezwungen werden. 134 N u r wenn feststeht, daß Verkehrssitten Kooperationslösungen sind und keine bloße Machtausübung darstellen, sind sie Erfahrungswerte, wie eine zeitlich lange andauernde Vertragsbeziehung zum Gewinn beider Parteien durchgeführt werden kann. N u r in diesem Fall kann eine Verkehrssitte verrechtlicht werden. 135 Die Voraussetzungen kooperationsfördernder Verkehrsitten lassen sich erklären, wenn der spieltheoretische Ansatz mit soziologischen Untersuchungen verbunden wird. 136 Gemeinsam ist diesen Ansätzen, daß sie die Funktion des Rechts als Kooperationsschema begrenzen und die Rolle einer von der Gesellschaft oder dem Verkehrskreis selbst aufgestellten informationellen O r d nung 1 3 7 betonen. Damit sich in Verkehrssitten die im Gefangenendilemma aufgeworfenen Problemlösungen spiegeln können, müssen mehrere Vorausset-
Hradil (Hrsg.) Differenz und Integration (1996), S.241 (247); Ellikson, O r d e r Without Law, Taschenbuchausgabe der Erstauflage von 1991, Cambridge 1994, S. 207. 133 Cooter, Structural Adjudication And The New Law Merchant: A Model Of Decentralized Law 14 (1994) International Review Of Law And Economics 215 (222). 134 Zur Frage des Entstehens von gesellschaftlich anerkannten Verhaltensweisen (»norms«), Schotter, The Economic Theory Of Social Institutions (1981), S. 8. Zur Frage des Entstehens von gesellschaftlich anerkannten Verhaltensweisen (»norms«), wenn ein »Markt« fehlt Schotter, The Economic Theory Of Social Institutions (1981), S. 8; Ulimann-Margalit, The Emergence Of N o r m s (1977), S. 134 ff. (174); Axelrod, The Complexity Of Cooperation (1997), S. 63; Elster, The Cement Of Society (1989), S. 97; Sunstein, Social N o r m s And Social Roles, 96 (1996) Columbia Law Review 903, 916. Eine Konvention muß daher auch nicht eine effiziente Lösung sein. Anders ist es in den Situationen, in denen keine Strategiesituation des Gefangenendilemmas zugrunde liegt. Hier kann auch die bloße Koordination von Vorteil sein Leibenstein, Inside The Firm (1987), S. 72. 135 Allein auf die empirische Häufigkeit einer Verhaltensweise kommt es nicht an. Vgl. aber Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S 468, der die Aufgabe der Sozialwissenschaften auf die Ermittlung der empirischen Häufigkeit der Verhaltensweise beschränken will. 136 Zu den früheren Erklärungen von Konventionen und gesellschaftlich üblichen und sanktionierten Verhaltensweisen (»norms«) Ullmann-Margalit, The Emergence Of N o r m s (1977), S. 85; Schotter, The Economic Theory Of Social Institutions (1981), S. 142; Lewis, Convention (1969), S.36. 137 Ellikson, Order Without Law (1994), S. 8 und 137.
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3. Kapitel: Entwurf eines
Vertragsmodells
Zungen erfüllt sein. Zunächst muß es sich um einen Verkehrskreis handeln, bei dem die einzelnen Handlungen und Reaktionen der Beteiligten über ein Informationsnetz beobachtet 138 und dokumentiert 139 werden können. Darüber hinaus müssen beide Vertragspartner die Möglichkeit haben, Defektverhalten sofort zu sanktionieren. 140 Zentral für die Entwicklung von Kooperationslösungen ist ebenso die Bereitschaft, Defektverhalten zu sanktionieren. 141 Diese Bereitschaft ist besonders hoch, wenn die dem Verkehrskreis angehörenden Akteure ihre vertraglichen Rollen wechseln, wie es zum Beispiel im Handelsverkehr üblich ist 142 , da die Rollen des Käufers und des Verkäufers je nach Vertrag variieren können. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, gibt es ein wirksames außerrechtliches Konfliktlösungsschema. Die Verrechtlichung von Pflichten 143 ist dann nur notwendig, wenn Drittinteressen betroffen sind 144 oder die Verrechtlichung die informationelle Kontrolle erhöhen kann, indem sie die gewünschten Kooperationsschemata zusätzlich dokumentiert. 145 Das rechtliche Aufgreifen von Verkehrssitten führt dann zu einer stärkeren Manifestation des an sich schon außerrechtlich geprägten Verhaltenskodexes. Fehlt eine Konvention, um Defektverhalten vorzubeugen, muß die Verrechtlichung der gewünschten Verhaltensweise diese Funktion übernehmen. Allerdings ist die Wirkungsweise außerrechtlicher und rechtlicher Sanktionsmechanismen nicht identisch. Während Konventionen die Vertragsdurchführung flankieren, werden die Parteien eine verrechtlichte Erwartung in einem zeitlich andauernden Vertrag nur bei (drohender) Vertragsbeendigung einfordern. In diesem Fall geht es darum, den Vertragsgewinn aufzuteilen oder in einer letzten Runde vor der Vertragsbeendigung den Vertragspartner ein letztes Mal zur Kooperation anzuhalten. Bernstein hat diese Funktion der verrechtlichten Erwartungen treffend als »end-game norms« 146 bezeichnet. Die gerichtliche Geltendmachung eines Rechts signalisiert, daß die Parteien den Konflikt nicht selbst beilegen können. Wird der Anspruch gerichtlich durchgefochten 138 Cooter, Structural Adjudication And The New Merchant: A Model Of Decentralized Law, 14 (1994) International Review Of Law And Economics 215 (219). 139 Ellikson, Order Without Law (1994), S. 177. 140 Ellikson, Order Without Law (1994), S. 165. 141 Cooter, Structural Adjudication And The New Merchant: A Model Of Decentralized Law, 14 (1994) International Review Of Law And Economics 215 (226); Eric Posner, The Regulation Of Groups: The Influence Of Legal And Nonlegal Sanctions On Collective Action, 63 University Of Chicago Law Review 133 (156). 142 Charny, Illusions Of A Spontaneous Order: »Norms« In Contractual Relationships, 144 (1996) University Of Pennsylvania Law Review 1841 (1851). 143 In diesem Fall spricht Ellikson, Order Without Law (1994), S. 254 von einer hybriden Form der Verhaltenskontrolle. 144 Ellikson, Order Without Law (1994), S. 249. 145 Ellikson, Order Without Law (1994), S. 284. 146 Bernstein, Merchant Law In A Merchant Court: Rethinking The Code's Search For Immanent Business Norms, 144 (1996) University Of Pennsylvania Law Review 1765 (1797).
§ 8: Wann muß die Rechtsprechung
Pflichten
begründen?
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und durch Urteil entschieden, dokumentiert sich auch darin, daß den Parteien die erforderliche Kompromißbereitschaft fehlt, um den Streit zu lösen. Ist das Vertrauen in das zukünftige kooperative Verhalten durch diese Situation einmal erschüttert worden, so ist die Fortführung des Arbeitsverhältnisses nur dann möglich, wenn besondere Umstände vorliegen, die das Verhalten des Vertragspartners trotz der einmaligen Aufkündigung der Kompromißbereitschaft noch berechenbar erscheinen lassen. Dies wird der Fall sein, wenn die Parteien aufgrund besonderer wirtschaftlicher Abhängigkeit aufeinander angewiesen sind. Zum anderen kann der Vertrag fortgesetzt werden, wenn die Parteien keinen persönlichen Kontakt haben und die Arbeitstätigkeit anonym ist. Die außergerichtliche Einigung vor einem unabhängigen Schlichter ist daher nahezu essentiell, wenn die Parteien das Arbeitsverhältnis trotz der Streitfrage weiterführen wollen. Der Vergleich im arbeitsgerichtlichen Güteverfahren ist neben der außergerichtlichen Einigung für die Parteien die zweitbeste Möglichkeit zu zeigen, daß sie trotz des Konfliktes noch kompromißbereit sind und der Vertragpartner daher auch zukünftig damit rechnen kann, daß sein Gegenüber grundsätzlich kooperativ ist. Das Arbeitsverhältnis wird jedoch unter Bedingungen abgewickelt, die nicht den Voraussetzungen entsprechen, unter denen Konventionen oder Verkehrssitten Kooperationslösungen widerspiegeln. Weder droht dem Arbeitgeber bei destruktivem Verhalten zwingend ein sozialer oder wirtschaftlich fühlbarer Reputationsverlust noch wird er in vielen Fällen mit dem Wechsel des Vertragspartners eine Investition verlieren. Der Reputationsverlust setzt voraus, daß der strategisch unterlegenen Vertragspartei vergleichbare alternative Abschlußpartner zur Verfügung stehen. Außerdem kann der Arbeitnehmer aufgrund prohibitiver Abwanderungskosten den Arbeitsplatz nicht ohne weiteres wechseln. Das Fehlen einer Marktalternative - hier eines anderen Abschlußpartners - läßt den möglichen außerrechtlichen Sanktionsmechanismus schon in vielen Fällen leerlaufen. 1 4 7 Darüber hinaus müßte der Arbeitgeber nur dann um sein Ansehen als vertrauenswürdiger Vertragspartner fürchten, wenn Informationen über sein Verhalten gesammelt werden. Im Arbeitsrecht existiert jedoch keine Stelle, die derartige Informationen sammelt. Weder der Betriebsrat noch die Gewerkschaften können diese Funktion erfüllen. Der Betriebsrat kann aus drei Gründen nicht dazu beitragen, daß sich außerrechtliche Sanktionsmechanismen bei Defektverhalten des Arbeitgebers bilden können. Der erste Grund liegt darin, daß der Betriebsrat nur einen Teil der Arbeitnehmer repräsentiert. So spielt z.B. das Verhalten des Arbeitgebers gegenüber Outsidern im Vorstellungsgespräch für ihn keine Rolle, soweit keine Belegschaftsinteressen betroffen sind. Zum Zweiten sind die Betriebsratsmitglieder als Arbeitnehmer selbst Teil der arbeitgeberischen Organisation. D a sie 147 Johnston, The Statute O f Frauds A n d Business N o r m s : A Testable Gametheoretic M o del, 144 (1996) University O f Pennsylvania L a w Review 1859 (1877)
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3. Kapitel:
Entwurf
eines
Vertragsmodells
vom Arbeitgeber abhängig sind, können sie schon deshalb das arbeitgeberische Fehlverhalten nur bedingt sanktionieren, z.B., indem sie die Arbeitsmoral im Betrieb negativ beeinflussen. Zum Dritten stehen sie aber auch dem einzelnen Belegschaftsmitglied nicht objektiv gegenüber. Die Entscheidung, ein Fehlverhalten zu sanktionieren, hängt nicht zuletzt davon ab, inwieweit das Eigeninteresse an der Wiederwahl berührt ist. Das wäre unproblematisch, wenn der Betriebsrat tatsächlich alle im Betrieb vertretenen Interessengruppen repräsentierte. Das ist jedoch nicht der Fall. 1 4 8 Dieser Einwand spricht auch dagegen, daß die Gewerkschaften auf eine Herausbildung von Verkehrssitten als Kooperationslösungen hinwirken könnten. Schon aufgrund ihrer oligarchischen Repräsentationsstruktur sind die Gewerkschaften keine umfassende Vertretung aller Beschäftigten. 1 4 9 Darüber hinaus sind sie keine Stelle, die Informationen über mögliches Fehlverhalten sammelt und den Arbeitnehmern zur Verfügung stellt. Schon dieses Informationsdefizit verhindert, daß der einzelne Arbeitnehmer, von Ausnahmefällen abgesehen, z.B. durch Presseberichte über besonders schlechte Arbeitsbedingungen, die Reputation des Arbeitgebers kennt. Fehlen daher in den genannten Fällen der asymmetrischen Informationsverteilung und des drohenden oder verwirklichten Defektverhaltens außerrechtliche Sanktionsmechanismen, muß das Recht diese Rolle - wenn auch mit den genannten Funktionsverlusten - übernehmen.
§ 9 Absicherung des Vertrags bei Fehlen Sanktionsmechanismen
außerrechtlicher
Nachdem die Funktionsbedingungen des Arbeitsvertrags auf dem internen Markt beschrieben worden sind, können nun auf dieser Grundlage die Konsequenzen für die judizielle Pflichtbegründung im Fall der Inhaltskontrolle, der abdingbaren und der zwingenden konkretisierenden Pflichtbegründung erläutert werden.
I. Inhaltskontrolle und zwingende Arbeitgeberpflichten D e r Arbeitsvertrag ist nach den vorangegangenen Ausführungen ein Kooperationsmodell von Parteien, die in einem bilateralen Monopol ihren eigenen wirtschaftlichen Nutzen mehren wollen. Die Parteien haben nur die Intention, sich rational zu verhalten. Schon die Bedingungen der Vertragsdurchführung wie das zukünftige Verhalten des Vertragspartners können von den Parteien nicht 148 Brors, Interessengemeinschaft als Strukturelement funktionsfähiger betrieblicher Interessenvertretung, Berlin 1997, S. 160. 149 Schüren, Die Legitimation der tariflichen Normsetzung (1990), S. 224.
§ 9: Absicherung des Vertrags bei Fehlen außerrechtlicher
Sanktionsmechanismen
135
vorhergesehen werden, so daß der Vertrag aus ex-ante Sicht notwendig unvollständig und keine rationale endgültige R i s i k o z u o r d n u n g ist. D i e judizielle Pflichtbegründung hat in diesem M o d e l l den Z w e c k , Regelungen aufzustellen, die den Vertrag aus der ex-post Sicht so absichern, daß die Parteien t r o t z der U n g e w i ß h e i t der Bedingungen in das bilaterale M o n o p o l investieren können. D i e zwingende konkretisierende Pflichtbegründung (Vertragsergänzung) wie auch die regelungsersetzende Pflichtbegründung (Inhaltskontrolle) m u ß die Vertragsdurchführung gegen opportunistisches Verhalten der Vertragspartner absichern. I n den Fällen, in denen sich der A r b e i t n e h m e r an den Arbeitgeber im Zuge der Bildung des bilateralen M o n o p o l s strategisch ausgeliefert hat, m u ß die Rechtsprechung eingreifen, wenn außerrechtliche Sanktionsmechanismen zu seinem Schutz nicht bestehen. D i e Inhaltskontrolle und die zwingende k o n k r e tisierende Pflichtbegründung sind daher Instrumente, um dem Defektverhalten einer Partei vorzubeugen. Ist der erklärte Parteiwille Ausdruck des verwirklichten Defektverhaltens, gegen das die unterlegene Partei keine legitime außerrechtliche H a n d h a b e hat, indiziert dieses Ergebnis, daß die F u n k t i o n s b e d i n gungen in einer Inhaltskontrolle korrigiert werden können. In diesen Fällen versagt nämlich das von den Parteien entwickelte K o o p e r a tionsmodell in seiner F u n k t i o n , da es die Investitionen des Arbeitnehmers einem für ihn nicht überschaubaren und somit unberechenbaren Gegnerverhalten ausgeliefert hat. D i e strategische Überlegenheit, die sich in einem solchen Vertragsergebnis dokumentiert, zeigt, daß der Vertrag seine F u n k t i o n als A b s i cherung des bilateralen M o n o p o l s nicht erfüllen kann. D i e Rechtsprechung m u ß in diesen Fällen zwingende, auch gegen den Parteiwillen wirkende R e g e lungen entwickeln k ö n n e n , damit ein rational handelnder A r b e i t n e h m e r t r o t z der bestehenden Unsicherheiten einer strategischen Unterlegenheit in den Arbeitsvertrag investieren k a n n . 1 5 0 Setzt man diese Inhaltskontrolle an den §§ 3 1 0 Abs. 4 S. 2 i.V.m. 305 ff. B G B an, so m u ß sich diese strategische Unterlegenheit in dem unangemessenen Vertragsergebnis zeigen. 150 Nach Coleman, Risks And Wrongs (1992), S. 109 lassen sich die Bedingungen eines rationalen Vertrags graphisch wie folgt darstellen:
NP, C4
D
C2
NP A
D bezeichnet den Status quo (kein Vertrag). U A und B sind die Ergebnisse, wenn ein Vertrag geschlossen wird, aber von einem der Vertragspartner nicht durchgeführt wird; NP Ä ist der fi-
136
J. Kapitel: Entwurf eines
Vertragsmodells
Bisher ist es nicht gelungen, Vertragsimparität als Voraussetzung der Inhaltskontrolle zu beschreiben. Kann man nunmehr vorformulierte Arbeitsverträge gem. §§310 Abs. 4 S. 2 BGB einer Inhaltskontrolle unterziehen, so bleibt weiterhin unklar, wann ein unangemessenes, auf die Imparität hinweisendes Vertragsergebnis unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Arbeitsrechts angenommen werden kann. Anstatt die Verhandlungssituation aus einer einigungszentrierten Sicht abstrakt zu beschreiben, liegt es näher, das offensichtlich unangemessene Vertragsergebnis als Indikator der Funktionsstörung zu nehmen. 151 Kann diese Indizwirkung festgestellt werden, darf die Rechtsprechung den Vertragstext zugunsten des schon nach den äußeren Marktbedingungen unterlegenen Vertragspartners korrigieren. Vor dem Hintergrund der hier entwikkelten Vorstellung eines gerechten Vertrags ist die Rechtsprechung nicht legitimiert, positiv ein gerechtes Vertragsergebnis zu konstruieren. Sie darf nur eingreifen, wenn das Ergebnis offensichtlich darauf schließen läßt, daß das von den Parteien selbst bestimmte Kooperationsschema versagt. Voraussetzung der Inhaltskontrolle des Individualarbeitsvertrags ist danach, -
eine kontextabhängige vertragsstrategische Überlegenheit des einen Vertragspartners, die im Vertragsinhalt zum Ausdruck kommt, und - ohne außerrechtliche Korrekturmöglichkeit einen Vertragspartner in dem bilateralen Monopol zwischen den Parteien einseitig benachteiligt. Ein Beipiel einer nach diesen allgemeinen Grundsätzen zulässigen Inhaltskontrolle ist die Kontrolle der Ausgestaltung von vertraglichen Zusagen, in denen der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer eine betriebliche Altersversorgung gewährt. In der Situation nach Beendigung seines Arbeitsverhältnisses ist der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber strategisch unterlegen und hat keine außerrechtliche Handhabe. Der Arbeitgeber hat im Zeitpunkt der Vertragsbeendigung kein Interesse mehr an Gegenleistungen des Arbeitnehmers. Er kann sich unsanktioniert opportunistisch verhalten, da er nicht mehr vom Arbeitnehmer abhängig ist. Entscheidend ist, daß der Arbeitnehmer zu diesem Zeitpunkt keine anderen Möglichkeiten mehr hat, auf dem Markt eine Absicherung im Alter zu erwerben: Ein wirtschaftlicher lock in-Effekt hat ihn alternativenlos an den Arnanzielle Nutzen, wenn A den Vertrag bricht, und N P B ist der Nutzen für B bei einem Vertragsbruch. Die Vertragsalternativen zwischen C t und C 2 sind pareto optimal zum Punkt D. Wenden die Parteien Kosten auf, um mögliche Gewinne, also die Existenz der Kurve C t zu C 2 , festzustellen, kann sich dadurch der gemeinsame Gewinn verringern zur Kurve C 3 zu C 4 . Die von der Rechtsprechung angebotene Konfliktlösung, auf welche die Parteien ohne Kosten zurückgreifen können, liegt zwischen C ( und C 2 . 151 Eine ähnliche Indikationswirkung gibt es im Kartellrecht. Im Kartellrecht soll die judizielle Kontrolle zur Aufrechterhaltung des Wettbewerbs als Steuerungsmodell führen, wobei zwischen einer Verhaltenssteuerung (Art. 81 EGV) und einer Ergebniskontrolle (Art. 82 EGV) unterschieden wird. Die kartellrechtliche Ergebniskontrolle zieht den Vertragsinhalt als Indikator einer marktbeschränkenden Ungleichgewichtslage an.
§ 9: Absicherung
des Vertrags bei Fehlen außerrechtlicher
Sanktionsmechanismen
137
beitgeber gebunden. Mit Gewährung einer betrieblichen Altersversorgung versichert sich der Arbeitgeber gegen eine zu hohe Fluktuation von Arbeitskräften. Das Angebot der betrieblichen Altersversorgung ist eine Möglichkeit, zuvor investierte Schulungs- und Ausbildungskosten abzusichern. So kann der Arbeitgeber erreichen, daß er die Kenntnisse der von ihm ausgebildeten Arbeitnehmer langfristig für sich nutzen kann. Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses haben sich die Investitionen in die Ausbildung des Arbeitnehmers amortisiert. D e r Arbeitgeber hat kein wirtschaftliches Interesse daran, seine Gegenleistung für die Bindung des Arbeitnehmers mit der betrieblichen Altersversorgung zu erbringen. D e r Ausgestaltung der betrieblichen Altersvorsorge liegt demnach die klassische Situation einer zulässigen Inhaltskontrolle zugrunde: Das als offensichtlich unangemessen empfundene Ergebnis ist Ausdruck einer Marktsituation, in der es aufgrund einer typisierbaren vertragsstrategischen Überlegenheit des einen Vertragspartners ohne die Möglichkeit einer außerrechtlichen Korrektur dazu kommt, daß sich der unterlegene Vertragspartner einseitig ohne ausgleichende Gegenleistung verpflichtet hat. Die Kontrolle von Zusagen über die betriebliche Altersversorgung wird daher insbesondere relevant, wenn der Arbeitgeber während des Arbeitsverhältnisses die Bedingungen der Gewährung verändern kann, wenn er sich z.B. die Ausgestaltung bis zum Gewährungszeitpunkt vorbehalten hat (Blankettzusagen) 1 5 2 , wenn er den Zeitpunkt der Gewährung verzögert (Vorschaltzeiten) 1 5 3 oder wenn er die Zusage unter Widerrufsvorbehalt 1 5 4 abgegeben hat. Auch der in § 1 B e t r A V G inzwischen Gesetz gewordenen Uberprüfung der Verfallbarkeit derartiger Zusagen liegt die Wertung zugrunde, diese strukturelle Unterlegenheit zu kompensieren. In seiner Entscheidung zur Unverfallbarkeit von Versorgungsanwartschaften analysierte das Bundesarbeitgericht 1 5 5 im Rahmen der von ihm als »Billigkeitskontrolle« 1 5 6 bezeichneten Prüfung letztlich die oben geschilderten Bedingungen des internen Arbeitsmarkts. Nach dem zu überprüfenden Arbeitsvertrag und der in Bezug genommenen Einheitsregelung sollten die versprochenen Versorgungsleistungen verfallen, wenn das Arbeitsverhältnis in dem Zeitpunkt nicht mehr bestand, in dem der Arbeitnehmer 65 Jahre alt wurde. O b w o h l der Arbeitnehmer vor dem 65. Lebensjahr ausschied, blieb seine Versorgungsanwartschaft nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts bestehen, da er mehr als zwanzig Jahre im Betrieb tätig gewesen war. Das
152 Dazu B A G , Urt. v. 13.7.1975 u. 23.11.1978 - 3 A Z R 446/74 u. 3 A Z R 708/77 - AP Nr. 167 u. 181 zu § 2 4 2 B G B Ruhegehalt. 1 5 3 B A G , Urt. v. 7.7.1977 - 3 A Z R 572/76 - AP Nr. 3 zu § 1 BetrAVG Wartezeit; v. 5.7.1979 - 3 A Z R 197/78 - AP Nr. 9 zu § 242 B G B Unterstützungskassen. 1 5 4 B A G , Urt. v. 17.5.1973, 28.4.1977, 5.7.1979 - 3 A Z R 381/72, 3 A Z R 300/76, 3 A Z R 197/ 78 - AP Nr. 6, 7, 9 zu § 242 B G B Ruhegehalt Unterstützungskassen. 1 5 5 B A G , Urt. v. 1 0 . 3 . 1 9 7 2 - 3 A Z R 278/71 - AP Nr. 156 zu § 2 4 2 B G B Ruhegehalt. 1 5 6 Diese Kontrolle ist wie die Inhaltskontrolle eine reine Rechtskontrolle.
138
3. Kapitel: Entwurf eines
Vertragsmodells
G e r i c h t stellte darauf ab, daß der A r b e i t n e h m e r seine Leistungen erbracht habe und sich wegen der U n w i e d e r h o l b a r k e i t seines »Arbeitslebens« an diesen bestimmten Arbeitgeber auch bezüglich der späteren Versorgung so gebunden habe, daß er keine neue Altersversicherung mehr abschließen könne. D e r Arbeitgeber habe dagegen das Mittel der Versorgungszusage genutzt, u m einer »kostenverursachenden F l u k t u a t i o n « 1 5 7 entgegenzuwirken. D e r A r b e i t n e h m e r habe keine Möglichkeit, im Arbeitsvertrag eine andere L ö s u n g auszuhandeln, da die Zusage üblicherweise einseitig v o m Arbeitgeber gewährt werde. » D i e R e c h t s w i r k l i c h k e i t « zeige, »daß die Vertragsfreiheit nicht gewährleistet, die Verfallbarkeit der Anwartschaft zu beseitigen« 1 5 8 . Das Bundesarbeitsgericht stellt damit eine Aquivalenzstörung fest, die durch rechtliche M a ß n a h m e n ausgeglichen werden muß. I m Gegensatz z u m B u n d e s arbeitsgericht ist j e d o c h nach dem hier vertretenen K o n z e p t nicht entscheidend, daß der A r b e i t n e h m e r dem Arbeitgeber stets unterliegt und daher ein rollenbezogener Statusschutz gewährleistet werden muß. D i e strukturelle U n t e r legenheit ist vielmehr situationsabhängig und nicht durch die Arbeitnehmeroder Arbeitgeberrolle typischerweise vorgegeben. D i e Erwartungen der Arbeitnehmer sind nur deshalb schützenswert, weil die tatsächliche D u r c h f ü h rung des »Lebensarbeitsverhältnisses« den A r b e i t n e h m e r in eine Marktsituation bringt, in der er dem Arbeitgeber ohne eigene wirtschaftliche
Sank-
tionsmöglichkeiten ausgeliefert ist. N u r aufgrund der wirtschaftlichen und strategischen Überlegenheit des Arbeitgebers zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, kann die Rechtsprechung die A u s ü b u n g eines Widerrufs oder einer vorbehaltlichen Leistungsgewährung darauf hin kontrollieren, o b sie angemessen und »gerecht« gestaltet ist. Letztlich bedeutet dies, daß dem Arbeitnehmer, der die Voraussetzungen des § 1 B e t r A V G erfüllt oder der außerhalb des sachlichen Anwendungsbereichs des Gesetzes eine vergleichbar lange Zeit gearbeitet hat, die Anwartschaft auf die betriebliche Altersversorgung nur aus den in § 7 B e t r A V G genannten wirtschaftlichen G r ü n d e n also der Insolvenz des Arbeitgebers gekürzt oder versagt werden kann. Andere G r ü n d e berechtigen auch t r o t z eines ausdrücklich vorbehaltenen Gestaltungsrechts zu keiner einseitig v o r g e n o m m e n e n Veränderung des Anspruchs. E b e n s o kann der Arbeitgeber den Beginn der anrechenbaren Zeit nicht durch die Vereinbarung sogenannter Vorschaltzeiten willkürlich hinausschieben, u m dadurch den A n s p r u c h zu verringern. D i e anrechenbare Zeit beginnt gemäß den gesetzlichen Wertungen in §§ 1 und 17 A b s . 3 S. 3 B e t r A V G , mit der Ankündigung der Zusage zu laufen. E i n e spätere Bestätigung ist unerheblich, da dem Arbeitgeber kein Gestaltungsspielraum verbleiben soll, der ihn zu U m -
157 158
BAG, Urt. v. 10.3.1972 - 3 A Z R 278/71 - AP Nr. 156 zu § 242 BGB Ruhegehalt Bl. 561. BAG, Urt. v. 1 0 . 3 . 1 9 7 2 - 3 AZR 278/71 - AP Nr. 156 zu § 2 4 2 BGB Ruhegehalt Bl. 565.
§ 9: Absicherung des Vertrags bei Fehlen außerrechtlicher
Sanktionsmechanismen
139
gehung der Unverfallbarkeitsbestimmungen berechtigen kann. 159 Entscheidend kommt es hier darauf an, ob der Arbeitgeber die Zusage an eine objektive Bedingung knüpft, die nicht willkürlich von ihm verhindert werden kann. Es handelt sich um eine normative Inhaltskontrolle, in der die Vereinbarung einer Vorschaltzeit auch dann kontrolliert und durch eine sachgerechte Regelung ersetzt wird, wenn sich der Arbeitgeber die willkürliche Gestaltung des Anspruchs auf betriebliche Altersversorgung ausdrücklich vorbehält.
II. Abdingbare vertragskonkretisierende Pflichten Abdingbare judiziell entwickelte Pflichten des Arbeitgebers haben im Arbeitsrecht gegenüber den zwingenden Pflichten eine vergleichsweise geringe Bedeutung, da der Arbeitnehmer aufgrund höherer Abwanderungskosten oftmals die strategisch schwächere Partei ist. Abdingbare Pflichten spielen nur dann eine Rolle, wenn der Arbeitnehmer sich nicht in einer Strategiesituation befindet, also entweder unilateral handeln kann, oder rechtliche oder außerrechtliche Sanktionsmöglichkeiten seine Position bereits absichern. In dieser Situation dienen abdingbare Pflichten dazu, den Parteien die Kosten zu ersparen, die mit dem Auffinden der Problemlösungen entstehen. Da in dem zugrunde gelegten Modell davon ausgegangen wird, daß der Vertrag notwendig unvollständig ist, können abdingbare Pflichten die typischerweise auftretenden Risiken abdekken. Das explizite Aushandeln solcher Regeln wäre nicht nur mit einem hohen Zeit und Kostenaufwand verbunden. Der Abschluß des Vertrags würde in diesem Fall auch insofern erschwert, als nicht sicher ist, daß die Parteien überhaupt alle Risiken erkennen können. 160
I I I . R e c h t als Anreiz zu kooperativem Verhalten? Ob die Verrechtlichung von Erwartungen neben dem Schutz gegen Defektverhalten auch dazu führen kann, daß der Kooperationsgrad der Parteien im Sinne des von Leibenstein161 erörterten Modells aufeinander abgestimmt wird, ist fraglich. Nach dem hier zugrunde gelegten Konzept der Vertragsgerechtig-
159 BAG, Urt. v. 20.4.1982 - 3 AZR 118/79 - AP Nr. 12 zu § 1 BetrAVG Wartezeit unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung. 160 Zu diesem Argument auf das amerikanische Vertragsrecht bezogen vgl. Charny, Hypothetikal Bargains: The Normative Structure Of Contract Interpretation, 89 (1991) Michigan Law Review 1815 (1819); Barnett, The Sound Of Silence: Default Rules And Contractual Consent, 78 (1992) Virginia Law Review 821 (822). 161 Vgl. §7111. bb),S. 123.
140
3. Kapitel: Entwurf eines
Vertragsmodells
k e i t 1 6 2 als kritischer Analyse der erzielten Vertragsergebnisse kann die judizielle Pflichtbegründung keiner O p t i m i e r u n g des Vertragsergebnisses dienen. S c h o n aus diesem G r u n d kann die R e c h t s p r e c h u n g nicht die Erwartung des A r b e i t nehmers aufgreifen, daß der Arbeitgeber ein besonders angenehmes und k o operatives Arbeitsklima schaffen soll. U b e r diesen rechtlichen Gesichtspunkt hinaus wird es auch praktisch nicht möglich sein, den Kooperationsgrad der Parteien im Wege gerichtlicher D u r c h s e t z u n g zu koordinieren und zu optimieren. D a die Entstehung und Funktionsweise betrieblicher K o n v e n t i o n e n wie e r ö r t e r t 1 6 3 unklar ist, kann die Verrechtlichung einer bestimmten Verhaltensweise und damit das Fixieren eines bestimmten Kooperationsgrades ebenso kontraproduktiv sein. D i e Möglichkeit, Anreize zu setzen, m u ß den Parteien selbst überlassen bleiben. Dies bedeutet aber zugleich, daß die Arbeitsvertragsparteien die Möglichkeit haben müssen, ihre Verhaltensweisen im B e t r i e b m ö g lichst flexibel zu gestalten. Ist die Veränderung des Kooperationsgrades aufgrund des e r w ä h n t e n 1 6 4 Trägheitsmoments schon zäh genug, sollte ein bestimmter Kooperationsgrad nicht n o c h durch rechtliche Regelungen auf einer bestimmten Stufe eingefroren werden. Aus dieser Perspektive fällt ein anderes L i c h t auf die Verrechtlichung von K o n v e n t i o n e n aus betrieblicher Ü b u n g . N a c h dem G r u n d s a t z der betrieblicher Ü b u n g 1 6 5 werden im Arbeitsrecht unter bestimmten Voraussetzungen betriebsübliche K o n v e n t i o n e n aufgegriffen und verrechtlicht. N a c h der R e c h t s p r e c h u n g des Bundesarbeitsgerichts soll ein übliches Verhalten des Arbeitgebers dann anspruchsbegründend wirken, wenn es sich um eine regelmäßige Wiederholung handelt, aus welcher der A r b e i t n e h mer schließen kann, daß ihm eine Vergünstigung auf D a u e r gewährt werden soll. 1 6 6 Praktische Relevanz hat die Anspruchsbegründung über die betriebliche Ü b u n g bei Gratifikationszahlungen. 1 6 7 Zahlt der Arbeitgeber dreimal eine jährlich vorbehaltlos gewährte S u m m e in derselben H ö h e , so entsteht für den Arbeitnehmer nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts ein in die Zukunft reichender Zahlungsanspruch. 1 6 8 D i e dogmatische Begründung des Anspruchs ist un-
Vgl. § 5 II, S. 86 ff. Vgl. § 7 III. bb), S. 124. 164 Vgl. § 7 III. bb), S. 125. 165 WiünchKrbR-Richardi §13 Rz. 3 zur kollektiven Ordnung des Arbeitsverhältnisses; auf die gewohnheitsrechtliche Anerkennung des Grundsatzes der betrieblichen Übung stellt ab ErfK-Preis § 611 BGB Rz. 276. 166 BAG, Urt. v. 4.5.1999 - 10 AZR 290/98 - AP Nr. 55 zu § 242 BGB Betriebliche Übung mit weiteren Nachweisen auf die ständige Rechtsprechung. 167 Dazu BAG, Urt. v. 4.5.1999 - 10 AZR 290/98 - AP Nr. 55 zu §242 BGB Betriebliche Übung; BAG, Urt. v. 28.2.1996 - 10 AZR 516/95 - AP Nr. 192 zu §611 BGB Gratifikation; BAG, Urt. v. 14.8.1996 - 10 AZR 69/96 - AP Nr. 47 zu § 242 BGB Betriebliche Übung jeweils mit weiteren Nachweisen auf die vorangegangene Rechtsprechung. 168 BAG, Urt. v. 4.5.1999 - 10 AZR 290/98 - AP Nr. 55 zu § 242 BGB Betriebliche Übung unter II. 1. der Gründe. 162
163
5 9: Absicherung
des Vertrags bei Fehlen außerrechtlicher
Sanktionsmechanismen
141
klar. 169 Während in der Literatur 1 7 0 zum Teil auf den kollektiven Charakter der betrieblichen Übung abgestellt wird, wählt das Bundesarbeitsgericht 1 7 1 eine individualrechtlich bestimmte Lösung. Danach wird die rechtliche Verpflichtungswirkung aus der Perspektive der Arbeitnehmer als Erklärungsempfänger beurteilt. Konnten die Arbeitnehmer gem. § 242 BGB unter Berücksichtigung des objektiven Empfängerhorizonts auf einen entsprechenden Bindungswillen schließen, soll nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts in der tatsächlichen Zahlung ein Angebot liegen, das die Arbeitnehmer gem. § 151 BGB annehmen. Die vorangestellten Überlegungen 1 7 2 haben verdeutlicht, daß der Anspruch aus der sogenannten betrieblichen Übung nicht auf einen kollektiven Entstehungsgrund gestützt werden kann. Es sprechen die genannten tatsächlichen Gründe dagegen, eine allgemein befolgte Verhaltensweise und den darin z u m Ausdruck kommenden Kooperationsgrad zu fixieren. Der Anspruch gemäß der sogenannten betrieblichen Ü b u n g hat seinen Entstehungsgrund daher nicht in dem kollektiven Bezug - wie er für den Gleichbehandlungsanspruch 1 7 3 maßgeblich ist - sondern ausschließlich in der individualrechtlichen Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses. Wird regelmäßig ein höheres Entgelt gezahlt, das über dem ursprünglich vereinbarten liegt, weichen Vereinbarung und Vertragspraxis voneinander ab. Der Inhalt der Vereinbarung bestimmt sich nach dem Bild der Gesamtumstände 1 7 4 , zu dem insbesondere die tatsächliche Abwicklung 1 7 5 gehört. Es handelt sich nach der zutreffenden Ansicht des Bundesarbeitsgerichts um eine individuelle Änderung des ursprünglich vereinbarten Vertragsinhalts. Zahlt der Arbeitgeber allen Arbeitnehmern im Betrieb ein von der ursprünglich vereinbarten Vergütung abweichendes Entgelt, so ist dies nur ein Indiz, daß der ursprünglich vereinbarte Inhalt an Bedeutung verloren hat. Die Verrechtlichung der Erwartung ist individualvertraglich begründet und hat keinen notwendigen kollektiven Bezug. Es gibt daher keine Rechtfertigung dafür, betriebsübliche Verhaltensweisen zu verrechtlichen. Wie ausgeführt, fehlen im Individualarbeitsrecht die erforderlichen Bedingungen dafür, daß Verkehrssitten Kooperationslösungen spiegeln können. Darüber hinaus können die Parteien die Notwendigkeit von Korrekturen des Kooperationsgrads besser als das Gericht beurteilen. 1 7 6 Die Flexibilität schwindet mit MünchArbR-.R¿cvW¿ § 13 Rz. 5 ff.; ErfK-Preis % 611 BGB Rz. 276. MünchArbR-ÄicAari/i § 13 Rz. 19; Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 111 S. 1131 f. 171 BAG, Urt. v. 4.5.1999 - 10 AZR 290/98 - AP Nr. 55 zu § 242 BGB Betriebliche Übung unter II. 1. der Gründe. 172 Vgl. § 7 III. bb), S. 122. 173 V g l . § 1 0 I , S . 156 ff. 174 S o e r g e l - H e f e r m e h l § 133 BGB Rz. 27. 175 BAG, Urt. v. 9.11.1994 - 7 AZR 217/94 - AP Nr. 18 zu § 1 AÜG. 176 Bernstein, Merchant Law In A Merchant Court: Rethinking The Code's Search For Immanent Business Norms, 144 (1996) University Of Pennsylvania Law Review 1765 (1796 ff.), die eine den Kooperationsgrad betreffende Pflicht als »relationship preserving 169 170
142
3. Kapitel: Entwurf
eines
Vertragsmodells
der Verrechtlichung 177 und erschwert es den Parteien, Pflichtverstöße aus Kulanz zum eigenen Vorteil unbeachtet zu lassen 178 oder neue Kooperationsformen zu entwickeln 179 . Das Recht ist somit kein Mittel, um die Kooperationsbereitschaft der Parteien zu koordinieren. Stehen somit die maßgeblichen Funktionsbedingungen fest, unter denen das Arbeitsverhältnis abgewickelt wird, kann anhand dieses Modells im folgenden Kapitel die Rechtsprechung zu den ergänzenden Nebenpflichten und zu der richterlichen Inhaltskontrolle individualvertraglicher Regelungen kritisiert werden.
norms« bezeichnet, die von den Gerichten auch deshalb nicht verrechtlicht werden soll, weil »Zuverlässigkeit« und »Vertrauenswürdigkeit« vom Standpunkt eines Dritten aus nicht sicher verifizierbar sind (aaO., S. 1793). 177 Rock/Wachter, The Enforceability Of N o r m s And The Employment Relationship, 144 University Of Pennsylvania Law Review 1913 (1932); Eric Posner, The Regulation Of Groups: The Influence Of Legal And Nonlegal Sanctions O n Collective Actions, 63 (1996) Chicago Law Review 133 (179). 178 Bernstein, Merchant Law In A Merchant Court: Rethinking The Code's Search For Immanent Business Norms, 144 (1996) University Of Pennsylvania Law Review 1765 (1813). 179 Bernstein, Merchant Law In A Merchant Court: Rethinking The Code's Search For Immanent Business Norms, 144 (1996) University Of Pennsylvania Law Review 1765 (1814).
4.
Kapitel
Ausgewählte Einzelprobleme der judiziellen Nebenpflichtbegründung §10 Vertragskonkretisierende
zwingende
Nebenpflichten
I. Gleichbehandlungsgrundsatz bei freiwilligen Entgeltleistungen Im Schuldrecht existiert kein allgemeiner und für alle Vertragsverhältnisse geltender Grundsatz, nach dem der Gläubiger seine Schuldner gleich zu behandeln hat. 1 Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist eine individualarbeitsrechtliche Besonderheit. Der Arbeitgeber muß danach Arbeitnehmer gleich behandeln, wenn zwischen ihnen kein aus dem Zweck der Leistung zu ermittelnder sachlicher Differenzierungsgrund besteht. In der Praxis spielt der Gleichbehandlungsgrundsatz bei zusätzlichen Entgeltleistungen die wesentliche Rolle. 2 Der Arbeitgeber muß diese Leistungen so gewähren, daß kein Arbeitnehmer willkürlich schlechtergestellt wird. 3 1. Abgrenzung
von
Differenzierungsverboten
Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz ist streng zu trennen von einzelnen Diskriminierungsverboten, die dem Arbeitgeber ein regelbezogenes Gleichstellungsgebot auferlegen. 4 Soweit solche Diskriminierungsverbote wie etwa aufgrund der Richtlinie 2 0 0 0 / 7 8 / E G 5 oder nach § 75 BetrVG, § 67 BPersVG, Art 3 Abs. 3 oder Art. 141 des E G V - eingreifen, betreffen diese nur bestimmte Merkmale deretwegen ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin nicht schlechter gestellt werden darf. In diesen Fällen kann die Rechtsprechung regelbezogen argumentieren. Das Problem, die oben beschriebene Prinzipien1 2
3
Hueck, Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 107. ErfK-Prrà § 611 B G B Rz. 857; MünchArbR-Richardi § 14 Rz. 12.
ErfK-Preis § 611 BGBRz. 853; MünchKrhR/Rieh ardi § 14 Rz. 1; Scbaub, Arbeitsrechts-
handbuch, § 78 S. 657. 4 Zu dieser Differenzierung vgl. Fastrich, Gleichbehandlung und Gleichstellung, RdA 2000, S. 65 (68). 5 Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf vom 27.11.2000 Amtsblatt Nr. L 303 vom 2.12.2000, S. 16 ff.
144
4. Kapitel: Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
kollision aufzulösen, stellt sich in diesen Fällen nicht. 6 U m eine solche regelbezogene Argumentation handelt es sich auch bei der Frage, ob Differenzierungsverbote nach der Richtlinie 2000/78/EG 7 einschlägig sind, obwohl nach dem Wortlaut der Richtlinie die »Gleichbehandlung« innerhalb des europäischen Arbeitsrechts geregelt werden soll. Dieser Gleichbehandlungsbegriff ist keineswegs mit dem des Gleichbehandlungsgrundsatzes identisch. Während die Richtlinie Diskriminierungsverbote statuiert, verpflichtet der Gleichbehandlungsgrundsatz des deutschen Arbeitsrechts den Arbeitgeber zu einer willkürfreien 8 Leistungsvergabe, in der Arbeitnehmer bezüglich der vom Arbeitgeber verfolgten Zwecke gleich behandelt werden müssen. Die in der Richtlinie festgelegten Diskriminierungsverbote schränken die autonome Zweckbestimmung des Arbeitgebers ein, indem sie eine Ungleichbehandlung aufgrund von bestimmten Merkmalen verbieten. Darüber hinaus statuieren sie jedoch keine allgemeine Gleichbehandlungspflicht. In ihrem Anwendungsbereich gehen die europäischen Diskriminierungsverbote zudem über den Anwendungsbereich des Gleichbehandlungsgrundsatzes hinaus, weil sie schon bei der Frage der Einstellung 9 des Arbeitnehmers eine Diskriminierung wegen der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung verbieten. Die Rechtsprechung prüft in diesen Fällen die Anwendbarkeit des Verbots. Über eine Prinzipienkollision muß sie nicht entscheiden. 2. Zur vertragstheoretischen
Grundlage der
Gleichbehandlungspflicht
Die vertragstheoretische Grundlage der Gleichbehandlungspflicht ist unklar. 10 Der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz gem. Art 3 Abs. 1 G G kann die Besonderheit des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes entgegen der 6
Vgl. § 3 II. 2, S. 54. Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf vom 27.11.2000 Amtsblatt Nr. L 303 vom 2.12.2000, S. 16 ff. 8 Vgl. dazu Fastrich, Gleichbehandlung und Gleichstellung, RdA 2000, S. 65 (71). 9 Art 3 der Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens f ü r die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf vom 27.11.2000 Amtsblatt Nr. L 303 vom 2.12.2000, S. 16 ff. 10 Schlachter, Wege zur Gleichbehandlung (1993), S. 89; MünchArbRARz'dwiÄ' §14 Rz. 6 ff.; ErfK-Preis §611 BGB Rz. 836; AR-Blattei-Mayer-Maly Gleichbehandlung I A.; Fastrich, Anmerkung zu BAG Urt. v. 21.10.1998 - 9 AZR 299/97 - AP Nr. 211 zu § 611 BGB Gratifikation, Bl. 1482; BAG Urt. v. 17.11.1998 - 1 AZR 147/98 - AP Nr. 162 zu §242 BGB Gleichbehandlung, wonach die Grundlagen im einzelnen umstritten seien, Einigkeit jedoch insoweit bestehe, als der Gleichbehandlungsanspruch inhaltlich durch den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 G G bestimmt werde; vgl. zur früheren Rechtsprechung BAG Urt. v. 25.4.1959 - 2 AZR 363/58 - AP Nr. 15 zu §242 BGB Gleichbehandlung unter Betonung der personalen Struktur des Arbeitsverhältnisses; Urt. v. 4.5.1962 - 1 AZR 250/61 AP Nr. 32 zu § 242 BGB Gleichbehandlung. 7
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende
Nebenpflichten
145
Ansicht des Bundesarbeitsgerichts 11 kaum erhellen. 12 Zum einen ist die Wirkung beider Grundsätze unterschiedlich: N u r der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz ist eine Anspruchsgrundlage. 13 Zum anderen kann sich der vertragstheoretische Grund für die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Arbeitsrecht nur aus einer arbeitsvertraglichen und nicht aus einer verfassungsrechtlichen Besonderheit ergeben. Wäre die verfassungsrechtliche Perspektive maßgeblich, dürfte der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht auf das Individualarbeitsrecht beschränkt sein, sondern müßte auch im übrigen Vertragsrecht zu berücksichtigen sein. Der in der Verfassung in Art. 3 Abs. 1 G G niedergelegte allgemeine Gleichheitsatz, gleiche Sachverhalte gleich und ungleiche ungleich zu behandeln, ist darüber hinaus als formeller Grundsatz schon seiner Funktion nach ungeeignet, den inhaltlichen Grund der Gleichbehandlungspflicht zu erklären. Der Gleichheitssatz ist ein formeller Grundsatz, weil nach ihm Personen oder Gruppen hinsichtlich bestimmter »relevanter« 14 Bedingungen gleich oder ungleich zu behandeln sind, ohne daß sich diese Bedingungen aus dem Grundsatz selbst ergeben. Der Gleichheitssatz ist, wie es Weinberger formuliert hat, »inhaltsleer« 15 ; er ist bloßes »Instrument der materialen Gerechtigkeitswertung« 16 , weil er dazu zwingt, die Kriterien der aufgestellten materiellen Wertrelation aufzudecken. Der Grund für die Differenzierung, also der inhaltliche Referenzpunkt des Vergleichs zwischen den Gruppen, ergibt sich aus dem materiellen Recht und nicht aus dem Gleichheitssatz selbst. 17 Erst wenn der für das Individualarbeitsrecht maßgebliche vertragstheoretische Bezugspunkt des Gleichbehandlungsanspruchs geklärt ist, können sein Umfang und seine Grenzen bestimmt werden. Die bislang entwickelten Begründungen erweisen sich jedoch nicht als tragfähig. Neben dem insbesondere in der älteren Rechtsprechung angeführten Fürsorgegedanken 18 oder dem personenrechtlichen Gemeinschaftverhältnis 19 wird die arbeitsrechtliche Gleich11
BAG Urt. v. 17.11.1998 - 1 AZR 147/98 - AP Nr. 162 zu §242 BGB Gleichbehandlung. Fastrich, Gleichbehandlung und Gleichstellung, RdA 2000, S. 65 (66); Hueck, Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 98. 13 MürichArbR-Richardi § 14 Rz. 2. 14 Weinberger, Moral und Vernunft (1992), S. 223. 15 Weinberger, Moral und Vernunft (1992), S. 193. 16 Weinberger, Moral und Vernunft (1992), S. 224. 17 Zu diesem Zusammenhang zwischen sachlichem Grund und Gruppenbildung Schüren, Ungleichbehandlungen im Arbeitsverhältnis - Versuch einer Strukturierung der Rechtfertigungsvoraussetzungen, in: Däubler/Bobke/Kehrmann (Hrsg.), Festschrift für Gnade, S. 161 (170). 18 BAG, Urt. v. 13.9.1956 - 2 AZR 152/54 - AP Nr. 3 zu § 242 BGB Gleichbehandlung. 19 Hueck, Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 128, wonach die Besonderheit des Arbeitsrechts, die den Gleichbehandlungsgrundsatz erfordert, darin besteht, daß es sich bei den Arbeitnehmern im Betrieb um eine geschlossene Gruppe handele, die durch ein »rechtliches Band verbunden« sei. Warum aber diese Gruppe »geschlossen« sein soll, erklärt Hueck nicht. Auf die »personale Struktur des Arbeitsverhältnis12
146
4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegriindung
behandlungspflicht aus dem »überpositiven Ideal der G e r e c h t i g k e i t « 2 0 oder der austeilenden Gerechtigkeit 2 1 gefolgert. 2 2 D i e s e Begründung begegnet denselben B e d e n k e n wie die Ableitung des Gleichbehandlungsanspruchs aus dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz. Allein der Hinweis auf seine » g e w o h n heitsrechtliche A n e r k e n n u n g « 2 3 klärt ebenso wenig den gesuchten vertragstheoretischen Ausgangspunkt. A u c h die Überlegung, die D a u e r b e z i e h u n g zwischen Arbeitgeber und A r b e i t n e h m e r schließe es aus, »jede Einzelheit vertragsrechtlich festzulegen« 2 4 , erklärt zwar den W u n s c h des Arbeitgebers
nach
einheitlichen Regelungen, nicht aber den G r u n d für eine Verrechtlichung des Anspruchs auf Gleichbehandlung. Z w a r wird darauf verwiesen, daß »die Arbeitsverhältnisse nicht isoliert nebeneinanderstehen« 2 5 oder daß es ein »sachliches
Ineinandergreifen
von
Einzelarbeitsverhältnis
und
Betriebsgemein-
schaft« 2 6 gibt oder daß der Gleichbehandlungsgrundsatz »den Arbeitsfried e n « 2 7 fördert, jedoch wird dieses tatsächliche Verhältnis nicht näher analysiert. Allein aus diesem tatsächlichen U m s t a n d folgt jedoch vor dem H i n t e r g r u n d einer prinzipiengeleiteten Argumentation der G r u n d für eine G l e i c h b e h a n d lungspflicht im Arbeitsrecht. Insoweit k o m m t es nicht auf die in der R e c h t s p r e chung und Literatur geprägten Begriffe der »Betriebsgemeinschaft« und eines »personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses« an. E s ist daher zu untersuchen, warum der A r b e i t n e h m e r dem Arbeitgeber nicht einzeln gegenübersteht und die Arbeitsverhältnisse in ihrer Organisation nicht isoliert zu betrachten sind und warum sich die Erwartungen des einzelnen Arbeitnehmers und seine B e w e r t u n g der empfangenen Leistung 2 8 nicht zuletzt danach richten, wie andere A r b e i t n e h m e r behandelt werden. D e r Arbeitgeber bestimmt den Leistungszweck a u t o n o m . Soll die Verrechtlichung das angestrebte M o d e l l flankieren und eine angemessene judizielle Hilfe bieten, müssen das zwischen den Arbeitsvertragsparteien bestehende bilaterale M o n o p o l und
ses« stützt sich das BAG, Urt. v. 25.4.1956 -2 AZR 363/58 - AP Nr. 15 zu § 242 BGB Gleichbehandlung. 20 ErfK-Pms § 611 BGB Rz. 836. 21 MùnàikrbR-Richardi § 14 Rz. 4 und 8. 22 Für einen Uberblick über die Begründungen des Gleichbehandlungsgrundsatzes ARBlattei-Mayer-Maly Gleichbehandlung I unter C. 23 ErfK-Pras § 611 BGB Rz. 836. 24 Richardi, Anmerkung zu BAG Urt. v. 17.11.1998 - 1 AZR 147/98 - AP Nr. 162 zu § 242 BGB Gleichbehandlung. 25 M.ünc\iArhR-Richardi § 14 Rz. 8. 26 Hueck, Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 233. 27 KK-H\a.tx.d-Mayer-Maly Gleichbehandlung I A. 28 Vgl. dazu BAG, Urt. v. 25.4.1959 - 2 AZR 363/58 AP Nr. 15 zu §242 BGB Gleichbehandlung Bl. 783 zum Ausschluß von einer allgemeinen Lohnanhebung: »... bewirken aber auch für denjenigen, der daran nicht teilnimmt, daß sich seine gesamte auf Grund seines Arbeitsverhältnisses ergebende soziale Stellung im Vergleich zu den anderen Arbeitnehmern, die daran teilnehmen, entscheidend nach unten verschiebt.«
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende Nebenpflichten
147
die Bedeutung des internen Arbeitsmarktes berücksichtigt werden. Der sachliche Bezug zwischen den einzelnen Arbeitsverhältnissen ergibt sich, wie im Anschluß gezeigt werden wird, aus den Besonderheiten des internen Arbeitsmarkts, auf dem die Leistungen vergeben werden. Erst wenn unter Berücksichtigung des oben vorgestellten 29 entscheidungstheoretischen Modells die Handlungsmotivation der Parteien erörtert ist, kann überlegt werden, welche Funktion die Verrechtlichung erfüllen muß. Nach der Rechtsprechung soll eine vertragsspezifische Perspektive für die Bestimmung des Zwecks entscheidend sein: Der Zweck sei entscheidend, den der Arbeitgeber im Verhältnis von Leistung und Gegenleistung verfolge. 30 Es ist jedoch weitgehend unklar, nach welchem Modell dieser Zweck festzustellen ist. Daher gerät der Gleichbehandlungsgrundsatz zu einem Instrument, den Arbeitgeber nicht nur zu einer willkürfreien, sondern auch zu einer sozial-politisch »gerechten« Leistungsvergabe zu verpflichten 31 , die aber nur politisch und nicht vertragstheoretisch begründet werden kann. Insbesondere die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts 32 zu Differenzierungen in der betrieblichen Altersvorsorge ist unter diesem Gesichtspunkt von Lieb3i kritisiert worden. In der kritisierten Entscheidung hatte der Arbeitgeber nur Innendienstmitarbeitern eine betriebliche Altersversorgung gezahlt. Die Außendienstmitarbeiter waren von dieser Zusage ausgeschlossen worden. Das Gericht nahm aufgrund des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsanspruchs einen Anspruch der Außendienstmitarbeiter auf betriebliche Altersversorgung an, da der Zweck der Leistung in der Versorgung nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses bestehe und eine Differenzierung nur nach unterschiedlichem Versorgungsbedarf getroffen werden dürfe. 34 Das Bundesarbeitsgericht ermittelte den Zweck der Leistung demnach aus einer bedarfsorientierten Perspektive. Der Zweck einer Leistung ist aber - worauf Lieb in seiner Kritik hinweist - nicht mit dem Bedarf an einer Leistung identisch 35 , sondern besteht in einer Entgelterhöhung, um Tätigkeiten einer abgrenzbaren Gruppe zu honorieren. 36 Argumentiere man - wie das Bundesarbeitsgericht - bedarfs-
Vgl. § 7 III. 3, S. 117. BAG, Urt. v. 20.7.1993 - 3 AZR 52/93 - AP Nr. 11 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung Bl. 890. 31 Fastrich, Gleichbehandlung und Gleichstellung, RdA 2000, S. 65 (70). 32 Urt. V. 20.7.1993 - 3 AZR 52/93 - AP Nr. 11 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung. 33 Personelle Differenzierung und Gleichbehandlung, ZfA 1996, S. 319. 34 BAG, Urt. v. 20.7.1993 - 3 AZR 52/93 - AP Nr. 11 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung Bl. 890. Vgl. auch BAG, Urt. v. 13.12.1994 - 3 AZR 367/94 - AP Nr. 23 zu §1 BetrAVG Gleichbehandlung. In diesem Urteil hielt das BAG allerdings eine Differenzierung zwischen Arbeitnehmern für zulässig, die einen befristeten und einen unbefristeten Arbeitsvertrag haben. 35 Lieb, Personelle Differenzierung und Gleichbehandlung, ZfA 1996, S. 319 (330 f.). 36 Lieb, Personelle Differenzierung und Gleichbehandlung, ZfA 1996, S. 319 (325). 29
30
148
4. Kapitel:
Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
orientiert, so führe dies bei der betrieblichen Altersversorgung dazu, sie entweder allen Arbeitnehmern zu gewähren oder sie insgesamt nicht zu leisten. 37 Gegen eine bedarfsorientierte Auslegung des Leistungszwecks spricht, daß der Arbeitgeber aufgrund der Privatautonomie den Leistungszweck autonom bestimmt und damit seine Intention maßgeblich ist. Die Auslegung des Leistungszwecks muß sich nach dem vorangestellten entscheidungstheoretischen Modell daran orientieren, welche Zwecke ein rational handelnder Arbeitgeber mit einer freiwilligen Entgeltleistung verfolgt. Erst danach ist zu überprüfen, inwieweit Erwartungen des Arbeitnehmers vor dem Hintergrund der rechtlichen Äquivalenz des Vertrags zu verrechtlichen sind.
3. Zur privatautonomen
Zweckbestimmung
»For example, spectators at a horse race generally are interested in the speed of the winning horse and the closeness of the contest. Then the firm's (track) revenue function depends on the first few order statistics; yet the horses could be paid on the basis of their speed rather than on the basis of win, place, and show positions. Both methods would induce them to run fast.« Lazear/Rosen, Rank-Order Tournaments As Optimum Labor Contracts, 89 Journal Of Political Economy 841 (849)
Sowohl rechtlicher wie tatsächlicher Ausgangspunkt für die Entwicklung der Gleichbehandlungspflicht ist die Auslegung der Zweckbestimmung des Arbeitgebers. Nach dem zugrunde gelegten entscheidungstheoretischen Modell will der Arbeitgeber mit einer freiwilligen Leistung seinen eigenen Nutzen mehren. Warum er unter diesem Gesichtspunkt freiwillig Leistungen über einem Normallohn zahlt und welches besondere Interesse sich mit diesen Zahlungen verbindet, läßt sich in tatsächlicher Hinsicht aus einem neoklassischen ökonomischen Ansatz nicht erklären. Nach der neoklassischen Lohntheorie hat der Arbeitgeber kein Interesse, Löhne über dem marktüblichen Entgeltsatz zu zahlen. Erst durch das Modell des internen Arbeitsmarkts 3 8 wird das ökonomische Interesse des Arbeitgebers an freiwilligen Entgeltleistungen deutlich.
a) Lohnfestsetzung
nach der neoklassischen
ökonomischen
Theorie
Nach der neoklassischen ökonomischen Theorie hat der Arbeitgeber kein ökonomisches Interesse daran, die Lohnkosten selbst zu bestimmen. Die Löhne stehen in Reaktion auf das Marktgeschehen, auf das Zusammenspiel von Nachfrage und Angebot, zwangsläufig fest. 39 Der Arbeitgeber wird so lange Arbeit37 38 39
Lieb, Personelle Differenzierung und Gleichbehandlung, ZfA 1996, S. 319 (323). Vgl. § 7 II. Sorensen, Firms, Wages, And Incentives, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook Of
5 10: Vertragskonkretisierende
zwingende Nebenpflichten
149
nehmer einstellen, als der Verkaufswert des G r e n z p r o d u k t s (der Arbeitswert) größer ist als der L o h n , der den arbeitgeberischen G r e n z k o s t e n entspricht. In dieser L o h n t h e o r i e ist der A r b e i t g e b e r einem Käufer vergleichbar, der die Ware Arbeitskraft erwirbt. Dieses Modell des Arbeitsmarkts unterscheidet sich nicht von einem G ü t e r m a r k t . A u f diesem durch W e t t b e w e r b geprägten A r b e i t s m a r k t sind die Arbeitskräfte problemlos auswechselbar; der L o h n entspricht der P r o duktivität, die Frage nach einer freiwilligen M e h r z a h l u n g stellt sich nicht. D e r A r b e i t n e h m e r ist auf diesem offenen kompetitiven M a r k t ausschließlich daran interessiert, den aufgrund der externen Marktbedingungen feststehenden L o h n zu erhalten. Zahlt ein Arbeitgeber einen geringeren L o h n , so wechseln die Arbeitnehmer zu einem anderen Arbeitgeber. Entspricht die Produktivität eines Arbeitnehmers nicht dem gezahlten L o h n , stellt der Arbeitgeber einen anderen A r b e i t n e h m e r ein. 4 0 A b w a n d e r u n g s k o s t e n 4 1 spielen in diesem Modell keine Rolle. N a c h dieser T h e o r i e ist es uninteressant, wie der Arbeitgeber die Arbeitsverhältnisse organisiert. E r s t wenn es einen internen M a r k t gibt, der sich v o m dem durch W e t t b e w e r b geprägten externen Arbeitsmarkt unterscheiden läßt, ergibt sich ein Interesse des Arbeitgebers, die L ö h n e in gewissen G r e n z e n selbst zu bestimmen. b) Besonderheiten
des internen
Arbeitsmarktes
Wenn man allerdings die bereits erörterten 4 2 Besonderheiten des internen Arbeitsmarktes berücksichtigt, so ergibt sich unter diesen R a h m e n b e d i n g u n g e n ein wirtschaftliches Interesse des Arbeitgebers an zusätzlichen Entgeltleistungen. Aus Sicht des Arbeitgebers entstehen Abwanderungskosten, wenn der Arbeitnehmer vertragsspezifische Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat, so daß eine Kündigung und Neueinstellung eines anderen Arbeitnehmers stets mit zusätzlichen K o s t e n und einem »Produktivitätsverlust« verbunden sind. 4 3 In diesen Fällen besteht ein besonderes Interesse des Arbeitgebers daran, den Arbeitnehmer an sich zu binden und ihn nur n o c h in Extremfällen, nämlich bei Fehlverhalten und betriebsbedingter Reduzierung der Arbeitskräfte, zu entlassen 4 4 , wie es sich im übrigen in den Regelungen des Kündigungsschutzgesetzes widerspiegelt.
Economic Sociology (1994), S. 504 (506); Wilborn, Individual Employment Rights And The Standard Economic Objection: Theory And Empiricism, 67 (1988) Nebraska Law Review 101 (104). 40 Sorensen, Firms, Wages, And Incentives, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook Of Economic Sociology, (1994), S. 504 (507). 41 Vgl. §7111.2. 42 Vgl. § 7 II. 43 Williamson, The Economic Institutions Of Capitalism (1987), S. 246. 44 Sorensen, Firms, Wages, And Incentives, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook Of Economic Sociology, (1994), S. 504 (508).
150
4. Kapitel: Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegriindung
Hat aufgrund dieser Interessenlage eine Transformation 45 des externen kompetitiven Markts zu einem davon abgrenzbaren internen Markt stattgefunden, ist es für den rational handelnden Arbeitgeber aus ökonomischer Sicht interessant, das Verhalten der Arbeitnehmer durch freiwillige Lohnzahlungen zu beeinflussen.46 Aus ökonomischer Perspektive haben Anreize auf einem internen Arbeitsmarkt im Wesentlichen drei Funktionen. Sie sollen einer ständigen Fluktuation der Arbeitnehmer entgegenwirken, zu einer erhöhten Produktivität führen und opportunistischem Verhalten der Arbeitnehmer vorbeugen.47 Die Wirkung einer freiwilligen Leistung, die mögliche Arbeitsplatzwechsel verhindern soll, ist auf der Grundlage einer rationalen Entscheidungstheorie einfach zu erklären. Vor dem Wechsel wird der Arbeitnehmer Nutzenvorteile, die ihm bei dem Weiterbestand des Arbeitsverhältnisses zukommen, gegen die Vorteile einer neuen Arbeitsstelle abwägen. Freiwillige Leistungen, die über dem Marktpreis liegen und ihm damit von einem anderen Arbeitgeber nicht unbedingt gewährt werden, führen in einer rationalen Abwägung dazu, daß der Arbeitnehmer auf seinem bisherigen Arbeitsplatz bleibt. Daß die freiwillige Leistung darüber hinaus auch einen Anreiz zur Steigerung der Produktivität und zur Vorbeugung strategischen Verhaltens setzen kann, läßt sich nach der schon erwähnten48 Theorie von Akerlof49 erklären. Anreizsysteme, welche die Produktivität auf diese Weise beeinflussen sollen, müssen berücksichtigen, daß der Arbeitnehmer stets mehr Wissen über die unmittelbaren Arbeitsabläufe hat als der Arbeitgeber. 50 Es hängt vom Arbeitnehmer ab, mit welcher Sorgfalt er seine Tätigkeit ausübt und wie er seine Fähigkeiten einsetzt. Insofern hat der Arbeitnehmer, der seine Fähigkeiten besser kennt als der Arbeitgeber, einen Informationsvorsprung. Diese Informationsverteilung kann der Arbeitnehmer zu seinen Gunsten strategisch nutzen, er kann sich vor bestimmten Tätigkeiten oder vor bestimmten Anforderungen »drücken« oder nur noch mit halber Kraft arbeiten (»shirking« 51 ). Der Arbeitgeber kann in Reaktion darauf zum einen den Arbeitnehmer stärker beaufsichtigen. Da eine Kontrolle stets mit hohen Kosten verbunden ist, bietet sich aber zum anderen eine indirekte Steuerung über Motivationsanreize an. Die ökonomische LiVgl. § 7 II, S. 109. Sorensen, Firms, Wages, And Incentives, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook Of Economic Sociology, (1994), S. 504 (505). 47 Sorensen, Firms, Wages, And Incentives, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook Of Economic Sociology, (1994), S. 504 (508); Williamson, The Economic Institutions Of Capitalism (1987), S. 212. 48 Vgl. § 7 II. 49 Labor Contracts As Partial Gift Exchange, 97 (1982) Quarterly Journal Of Economics 543. 50 Williamson, The Economic Institutions Of Capitalism (1987), S. 212. 51 Orts, Shirking And Sharking: A Legal Theory Of The Firm, 16 (1998) Yale Law And Policy Review 265 (275 ff.); Williamson, Markets And Hierarchies (1983), S. 61. 45 46
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende
Nebenpflichten
151
teratur unterscheidet zwischen zwei Anreizsystemen. Ein Motivationsanreiz kann bei einem meßbaren Arbeitsergebnis an Stückzahlen oder an einen anderen Wert der erbrachten Leistung gekoppelt sein (»output-based incentive« 52 ). Akkordlohn oder eine Abrechnung auf Kommissionsbasis sind Beispiele für ein derartiges System. Ein Motivationsanreiz durch eine freiwillige Entgeltzahlung, die über dem marktüblichen Lohn liegt, ist dagegen die einzige Möglichkeit, das Verhalten von Arbeitnehmern zu beeinflussen, wenn das Arbeitsergebnis nicht meßbar ist oder die einzelnen Arbeitsvorgänge nicht voneinander getrennt werden können (»input-based incentive« 53 ). Freiwillige Sonderzahlungen aber auch eine generelle Lohnerhöhung (»efficiency wages« 5 4 ), die über dem neoklassisch ermittelten Grenznutzen des Arbeitnehmers liegen, sind wenn sie nicht ausschließlich ein Mittel sind, um den Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis zu halten - Anreize zu höherer Kooperationsbereitschaft. Damit dieses Ziel erreicht werden kann, muß eine weitere Besonderheit berücksichtigt werden. Akerlof55 hat in seiner Theorie vom Arbeitsverhältnis darauf hingewiesen, daß die Arbeitnehmer die freiwillige Leistung stets in Relation zu den Marktverhältnissen des externen oder des internen Markts bewerten werden. Erst über diesen Vergleich ergibt sich der Bonuscharakter, der mit einer eigenen zusätzlichen Leistung vergolten wird. c) Gruppenbezug
und
Einzelmotivation
Nur in der neoklassischen ökonomischen Theorie bleibt das Verhalten der Akteure innerhalb der Organisationsstruktur des Betriebs oder des Unternehmens eine »black box« 5 6 . Aus einer transaktionskostenorientierten Sicht 57 fällt die Erklärung von Anreizstrukturen in einen Uberschneidungsbereich von ökonomischer Transaktionskostenanalyse und verhaltenstheoretischen wie zum Beispiel organisations- oder sozialpsychologischen Erklärungen. 5 8 Die Verknüpfung von individuellen mit sozialen Steuerungsprozessen 59 ist die Basis, von der aus die Verbindung zwischen Organisation und dem vom Arbeitgeber be52 Sorensen, Firms, Wages, And Incentives, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook Of Economic Sociology, (1994), S. 504 (516 ff.). 53 Sorensen, Firms, Wages, And Incentives, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook Of Economic Sociology, (1994), S. 504 (519 ff.) 54 Sorensen, Firms, Wages, And Incentives, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook Of Economic Sociology (1994), S. 504 (514.) 55 Akerlof, Labor Contracts As Partial Gift Exchange, 97 (1982) Quarterly Journal Of Economics 543. 56 Sorensen, Firms, Wages, And Incentives, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook Of Economic Sociology (1994), S. 504. 57 Vgl. § 7 1 . 58 Williamson, Transaction Cost Economics And Organization Theory, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook Of Economic Sociology (1994), S. 77 ( 99). 59 Coleman, A Rational Choice Perspective On Economic Sociology, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook Of Economic Sociology (1994), S. 166.
152
4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
zweckten A n r e i z erklärt werden kann. 6 0 G e h t man in der Vorstellung von der »bounded rationality« davon aus, daß rationales Handeln zwar intendiert, die Fähigkeit dazu aber letztlich begrenzt ist 6 1 , so kann die organisatorische Z u sammenfassung in G r u p p e n ein U m s t a n d sein, der das Verhalten eines Individuums entscheidend beeinflussen kann. H a n d e l t es sich dabei um eine typisierbare Erscheinung, so läßt sich nur unter Berücksichtigung dieser innerorganisatorischen Strukturen klären, inwieweit die v o m A r b e i t g e b e r mit freiwilligen Leistungen b e z w e c k t e n Ziele erreicht werden. Dies hängt davon ab, wie freiwillige Leistungen von den A r b e i t n e h m e r n unter Zugrundelegung des Modells der »rational choice theory« aber auch unter Berücksichtigung ihrer sozialpsychologischen R o l l e innerhalb der arbeitgerischen Organisation bewertet werden. 6 2 T r o t z aller Unsicherheiten, welche die Berücksichtigung endogener Präferenzen in sozialpsychologischen Erklärungen des Arbeitnehmerverhaltens im Gegensatz zu dem einfachen neoklassischen Modell mit sich bringt, besteht Einigkeit darüber, daß sich Individuen in G r u p p e n anders verhalten und die Gleichbehandlungen innerhalb der G r u p p e sozialpsychologische Voraussetzung für einen Motivationsanreiz ist. 6 3 Z u dieser Frage k ö n n e n zwei sozialpsychologische Erklärungsansätze unterschieden werden. aa) Equity
Theory
D i e sozialpsychologische, empiristische »equity t h e o r y « ist ein Versuch, das Gerechtigkeitsbewußtsein v o n Individuen über einen G r u p p e n b e z u g zu erklären. 6 4 M i t dieser T h e o r i e soll Gerechtigkeit als sozialpsychologisches P h ä n o men über das Verlangen nach Gleichbehandlung erklärt werden. 6 5 In der »equity theory« wird ein allgemeiner Erklärungsansatz menschlichen Verhaltens entwickelt, der von vier G r u n d a n n a h m e n ausgeht. D a n a c h versuchen Individuen
60 Sorensen, Firms, Wages, And Incentives, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook Of Economic Sociology (1994), S. 504 (511); Coleman, A Rational Choice Perspective On Economic Sociology, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook Of Economic Sociology (1994), S. 166(172). 61 So auch Williamson, Transaction Cost Economics And Organization Theory, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook Of Economic Sociology (1994), S. 77 (81). 62 Coleman, A Rational Choice Perspective On Economic Sociology, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook Of Economic Sociology (1994), S. 166 und 172. 63 Sorensen, Firms, Wages, And Incentives, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook Of Economic Sociology (1994), S. 504 (511 f.); Hackman, Group Influences On Individuals In Organizations, in: Dunnette/Hough (Hrsg.), Handbook Of Industrial And Organizational Psychology (1992), S. 199 (200); Steers/Porter, Motivation And Work Behavior (1991), S. 122; Mikula, Gerechtigkeit und soziale Interaktion (1980), S. 19; Lawler, Motivierung in Organisationen (1977), S. 17. 64 Walster/Walster/Berscheid, Equity: Theory And Research (1978), S. 6; Austin/Hatfield, Equity Theorie, Macht und soziale Gerechtigkeit, in: Mikula (Hrsg.), Gerechtigkeit und soziale Interaktion (1980), S. 25 ff. Eine Zusammenfassung dieses Ansatzes findet sich bei Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 146 ff.
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende
Nebenpflichten
153
in Übereinstimmung mit der Annahme der »rational choice theory« ihren eigenen Nutzen zu maximieren. In Gruppen könne der gemeinsame Nutzen nur durch solche Systeme erhöht werden, die gewährleisten, daß Belohnungen ausgewogen verteilt werden. Eine unausgewogene Behandlung werde von Gruppenmitgliedern als »unbehaglich« empfunden und deshalb nicht toleriert. Die »equity theory« ist insbesondere wegen ihres Anspruchs kritisiert worden, Aussagen über jedes menschliche Verhalten nur aus dem Verlangen nach Gleichbehandlung zu erklären. 66 Diese Kritik berührt aber nicht den hier weiterführenden Versuch, typische Verhaltensweisen in Gleichbehandlungssituationen zu beschreiben. Die »equity theory« bietet sich gerade deshalb für eine verhaltenspsychologische Erklärung von Motivationsanreizen in Arbeitsbeziehungen an, weil ihr Ursprung in arbeitswissenschaftlichen Studien liegt. Das Verhältnis des einzelnen Arbeitnehmers zu den übrigen Arbeitnehmern innerhalb der arbeitgeberischen Organisation stand im Mittelpunkt der ersten Untersuchungen von Adamskl, der zu den Mitbegründern der »equity theory« gezählt werden kann. Adams zeigte, daß die Wertigkeit der Leistungen innerhalb des an sich rein individuellen Austauschverhältnisses zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht isoliert zu ermitteln ist, sondern nur im Verhältnis zu den anderen Arbeitsverhältnissen innerhalb der arbeitgeberischen Organisation. Eine arbeitgeberische Leistung habe keinen objektiven, sondern nur einen relativen Wert. Dieser hänge von dem Referenzpunkt des Arbeitnehmers ab, von dem aus er die erhaltene Leistung bewerte. Die Entgeltleistung des Arbeitgebers könne mit eigenen, vormals erhaltenen Löhnen verglichen werden. Sie könne aber auch in Relation zu den Löhnen bewertet werden, die eine Gruppe von Arbeitskollegen innerhalb der Organisation des Arbeitgebers erhalten habe oder welche die Arbeitnehmer auf dem externen Arbeitsmarkt bekommen. 68 Damit eine freiwillige Leistung motiviere, müsse sie von dem Arbeitnehmer in diesem Vergleich als »fair« empfunden werden. Eine Behandlung sei unfair oder ungleich, wenn das Verhältnis der eigenen Aufwendungen und Ergebnisse 69 von dem entsprechenden Verhältnis in der Referenzgruppe ab65 Austin/Hatfield, Equity Theorie, Macht und soziale Gerechtigkeit, in: Mikula (Hrsg.), Gerechtigkeit und soziale Interaktion (1980), S. 25 (26). 66 Cropanzano/Folger, Procedural Justice And Worker Motivation, in: Steers/Porter Equity And (Hrsg.), Motivation And Work Behavior (1991), S. 131 (133); Utne/Kidd, Attribution, in: Mikula (Hrsg.), Gerechtigkeit und soziale Interaktion (1980), S. 69 (102); Leventhal/Karuza/Fry, Es geht nicht um Fairness: Eine Theorie der Verteilungspräferenzen, in: Mikula (Hrsg.) Gerechtigkeit und soziale Interaktion (1980), S. 185 (226). 67 Adams, Towards An Understanding O f Inequity, Journal O f Abnormal And Social Psychology 1963, S. 422 ff. 68 Adams, Towards An Understanding O f Inequity, Journal O f Abnormal And Social Psychology 1963, S. 422 (424). 69 Adams, Towards An Understanding O f Inequity, Journal O f Abnormal And Social Psychology 1963, S.422 (423) verwendet die Begriffe »input« and »output«. Unter »input« ver-
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4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
weiche. Investiert der A r b e i t n e h m e r danach genauso viel oder mehr als vergleichbare Arbeitnehmer, erhält er aber eine geringere Gegenleistung dafür als die Mitglieder der Referenzgruppe, so geht der Motivationsanreiz verloren. Welche Aufwendungen dabei überhaupt relevant sind, bestimmt sich nach dem jeweiligen Z w e c k des Austausches 7 0 , im Falle der freiwilligen Entgeltleistung also durch die v o m Arbeitgeber bestimmten Leistungsvoraussetzungen. Verschiedene sozialpsychologische T h e o r i e n 7 1 haben diesen Einfluß von Vergleichsgruppen auf das Verhalten und die Präferenzbildung des einzelnen Arbeitnehmers und damit die N o t w e n d i g k e i t der Gleichbehandlung für die Verwirklichung des Motivationsanreizes bestätigt. 7 2 bb) Expectancy
Theory
Von dem Ansatz der »equity theory« ist die ebenso sozialpsychologisch ausgerichtete »expectancy t h e o r y « zu trennen. 7 3 D i e v o m Individuum zu treffende Wahl zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten hängt danach nicht v o n der Gleichbehandlung ab, sondern in erster Linie von den Erfolgsaussichten der Handlungsalternative. D i e Verbindung zwischen Verhalten und erwarteter B e l o h n u n g stehe im Mittelpunkt jeglicher E r k l ä r u n g von M o t i v a t i o n . 7 4 D o c h auch unter diesem A s p e k t ist die Gleichbehandlung v o n A r b e i t n e h m e r n relevant. D i e Erwartung, einen Vorteil zu erhalten, hängt nach dieser T h e o r i e nicht zuletzt davon ab, mit welcher Wahrscheinlichkeit andere A r b e i t n e h m e r aus einer vergleichbaren G r u p p e die Leistung erzielen. 7 5 D i e G r u p p e ist aus dieser Perspektive Informationsträger über die Wahrscheinlichkeit, den er-
steht er die Fähigkeiten und Kenntnisse, die der Arbeitnehmer in seine Tätigkeit einbringt. »Output« ist der erzielte Erfolg. Beide Definitionen sind nicht trennscharf, da sie sich nur anhand von Beispielen erklären lassen. 70 Adams, Towards An Understanding Of Inequity, Journal Of Abnormal And Social Psychology 1963, S. 422 (423). 71 Vgl. den Überblick bei Hackman, Group Influences On Individuals In Organizations, in: Dunette/Hough (Hrsg.), Handbook Of Industrial And Organizational Psychology (1992), S. 199 ff; Sorensen, Firms, Wages, And Incentives, in: Smelser/Swedberg (Hrsg.), Handbook Of Economic Sociology (1994), S. 504 (512). 72 Hackman, Group Influences On Individuals In Organizations, in: Dunette/Hough (Hrsg.), Handbook Of Industrial And Organizational Psychology (1992), S. 199 (200). 73 Pinder, Valence-Instrumentality-Expectancy Theory, in: Steers/Porter (Hrsg.), Motivation And Work Behavior (1991), S. 144. 74 Pinder, Valence-Instrumentality-Expectancy Theory, in: Steers/Porter (Hrsg.), Motivation And Work Behavior (1991), S. 144 (147). 75 Hackman, Group Influences On Individuals In Organizations, in: Dunette/Hough (Hrsg.), Handbook Of Industrial And Organizational Psychology (1992), S. 199 (216); Porter/Lawler/Hackman, Ways Groups Influence Individual Work Effectiveness, in: Steers/ Porter (Hrsg.), Motivation And Work Behavior (1991), S. 199 (202); Lawler, Motivierung in Organisationen (1977), S. 113.
5 10: Vertragskonkretisierende
zwingende Nebenpflichten
155
strebten Vorteil selbst zu erhalten. D i e Verteilungsregeln sind danach das B i n deglied zwischen der Situation des Einzelnen und der Vergleichsgruppe. 7 6 d) Ergebnis:
Rationaler
Zweck
der freiwilligen
Leistung
N a c h dem hier zugrunde gelegten Entscheidungsmodell verfolgt der Arbeitgeber mit einer freiwilligen Zahlung, die über dem marktüblichen Entgelt liegt, zwei Z w e c k e : E r will sich gegen eine für ihn mit Transaktionskosten verbundene F l u k t u a t i o n der A r b e i t n e h m e r absichern, und er m ö c h t e Anreize setzen, um ein für ihn günstigeres Arbeitsergebnis zu erzielen. S c h o n damit sich diese Z w e c k e in tatsächlicher H i n s i c h t realisieren lassen, m u ß sich der Arbeitgeber gegenüber den A r b e i t n e h m e r n als G r u p p e an Verteilungsregeln halten. D i e sozialpsychologischen U n t e r s u c h u n g e n haben gezeigt, daß der Motivationsanreiz verloren geht, w e n n Leistungen an die A r b e i t n e h m e r willkürlich vergeben werden. Diese vor dem H i n t e r g r u n d der Privatautonomie rechtlich selbstbestimmte Z w e c k s e t z u n g ist von der R e c h t s p r e c h u n g als eine Argumentationslinie zu beachten. 4. Warum
muß die Erwartung
auf Gleichbehandlung
verrechtlicht
werden
?
D i e R e c h t s p r e c h u n g kann nach dem vorangestellten Prinzipienmodell 7 7 nur dann in den Vertrag eingreifen und bestimmte Erwartungen des Arbeitnehmers verrechtlichen, wenn dies aus G r ü n d e n der Vertragsgerechtigkeit im Sinne des Reziprozitätsprinzips geboten ist. N a c h der vorgestellten 7 8 kritischen G e r e c h tigkeitsanalyse ist es die Aufgabe der Rechtsprechung drohenden oder eingetretenen Äquivalenzstörungen entgegenzuwirken. D i e Gleichbehandlungspflicht als zwingende Vertragspflicht m u ß sich aus dieser prinzipienbezogenen Argumentation erklären lassen, wenn sie beibehalten werden soll. O b eine Äquivalenzstörung droht, ist nach dem zugrunde gelegten entscheidungstheoretischen Modell zu beurteilen. Entscheidend ist, o b eine willkürliche Leistungsvergabe aus der Perspektive einer Modellpartei deutlich von ihren anhand dieses Modells zu bestimmenden Äquivalenzerwartungen abweicht. Bei der Erklärung der Äquivalenzerwartungen müssen nach dem vorangestellten Modell auch solche Verhaltensweisen berücksichtigt werden, die sich aus der Sicht einer klassischen »rational c h o i c e « - T h e o r i e als Verhaltensanomalien darstellen. D i e Berücksichtigung solcher Verhaltensweisen setzt allerdings voraus, daß es sich u m typische Verhaltensmuster handelt. D i e schon erörterten sozialpsychologischen U n t e r s u c h u n g e n zur M o t i v a t i o n durch arbeitgeberische Leistungsvergaben k o m m e n zu dem Ergebnis, daß A r b e i t n e h m e r unter be-
76 77 78
Vgl. dazu Steers/Porter, Motivation And Work Behavior (1991), S. 122. Vgl. § 3 II, S. 52. Vgl. § 5 II 2, S. 88.
156
4. Kapitel:
Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpfliehtbegründung
stimmten Voraussetzungen typischerweise den Wert der arbeitgeberischen Leistung über einen Vergleich mit den Leistungen ermitteln, die andere Arbeitnehmer erhalten. Voraussetzung für die Wertermittlung über einen Referenzgruppenvergleich ist, daß es sich um eine Leistungsvergabe handelt, die unter Voraussetzungen gewährt wird, die sowohl der Arbeitnehmer als auch die Mitglieder der in Bezug genommenen Referenzgruppe erfüllen können. In diesem Fall sieht ein Arbeitnehmer, der die Voraussetzung erfüllt, einen Ausschluß von der Leistung typischerweise als ungerecht an. Damit die Rechtsprechung diese Erwartung auf Gleichbehandlung aufgreifen kann, muß es sich jedoch aus der rechtlichen Perspektive um eine Äquivalenzstörung handeln. Bei freiwilligen Entgeltleistungen könnte dies unter Hinweis auf das Reziprozitätsprinzip verneint werden, weil es sich um eine freiwillige Leistung handelt, die eben nicht in dem vertraglichen Gegenseitigkeitsverhältnis von L o h n und Arbeitsleistung steht, sondern zusätzlich erbracht wird. In dieser Argumentation würden aber die vom Arbeitgeber intendierten Zwecke nicht berücksichtigt, die gerade auf dem Reziprozitätsgedanken aufbauen. Die freiwillige Entgeltleistung ist kein Geschenk, sondern ein vorgeleistetes Entgelt für das Verhalten, zu dem der Arbeitnehmer gerade motiviert werden soll. Aus ökonomischer Sicht wird das zusätzliche Entgelt gezahlt, um den Arbeitnehmer an den Betrieb oder das Unternehmen zu binden oder um ihn zu einer erhöhten Kooperationsbereitschaft anzuhalten. Die Gegenleistung des Arbeitnehmers für das zusätzliche Entgelt 7 9 ist daher nicht die schon normalerweise erbrachte Arbeit. Ein derartiges Geschenk im Sinne einer rückwirkenden Lohnerhöhung ist nach dem zugrunde gelegten entscheidungstheoretischen Modell irrational. Die freiwillige Leistung soll den Arbeitnehmer zu erhöhter Produktivität oder zum Bleiben motivieren. Zwischen diesen Verhaltenweisen - Zahlung gegen die erhöhte Kooperationsbereitschaft bzw. das Verbleiben im Vertragsverhältnis - besteht ein Reziprozitätsverhältnis. Erfüllt der Arbeitnehmer demnach die vom Arbeitgeber aufgestellten Voraussetzungen für die Leistungsvergabe und kommt dem intendierten Motivationsanreiz nach, so führt ein Ausschluß von der Leistung zu einer dem Reziprozitätsprinzip widersprechenden Äquivalenzstörung. Dabei k o m m t es nicht darauf an, daß mit Sicherheit nach dem geschilderten sozialpsychologischen Modell der E q u i t y - T h e o r i e 8 0 davon ausgegangen werden kann, daß der Arbeitnehmer nur eine vergleichbare innerbetriebliche Gruppe von Arbeitskollegen als letztlich bestimmende »Referenzgruppe« ansieht und die freiwillige Leistung ausschließlich aus diesem Vergleich heraus bewertet. Sie ist aber die zunächst in Betracht kommende, die nächstliegende
7 9 Mit weiteren Nachweisen Fastrieb, S. 190. 8 0 Vgl. § 1 0 1 . 3 . aa),S. 152.
Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht (1992),
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende
Nebenpflichten
157
Vergleichsgruppe, die der Arbeitgeber selbst mit der auf seine Organisationsstruktur bezogenen Leistung vorgibt. Der Wert der freiwilligen Leistung in der individuellen Vertragsbeziehung und damit die rechtliche Äquivalenz können in diesem Fall nur über den Vergleich mit Referenzgruppen innerhalb der arbeitgeberischen Organisation ermittelt werden. Der Arbeitgeber muß demnach die von ihm aufgestellten Vergabevoraussetzungen einhalten, damit ein nach dem zugrunde gelegten entscheidungstheoretischen Modell rational handelnder Arbeitnehmer das individuelle Austauschverhältnis als gerecht ansieht. Vertragstheoretischer Ansatzpunkt der Rechtsprechung ist diese Aquivalenzstörung des vertraglichen Austauschverhältnisses und nicht die Konkretisierung des Prinzips der austeilenden Gerechtigkeit. Zwar scheint es zunächst einleuchtend, den Gleichbehandlungsanspruch als Ausprägung der Verteilungsgerechtigkeit zu begreifen. 81 Diese Einteilung scheint ebenso zwar zunächst der herkömmlichen Differenzierung zwischen ausgleichender Gerechtigkeit (justitia commutativa) und austeilender Gerechtigkeit (justitia distributiva) zu entsprechen, da der Arbeitgeber Leistungen an mehrere Arbeitnehmer verteilt und damit ein Drei- oder Mehrpersonenverhältnis gegeben ist. 82 Austauschgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit werden nach dem Verhältnis unterschieden, in dem die Beteiligten zueinander stehen. Die Verteilungsgerechtigkeit ist durch ein Dreipersonenverhältnis gekennzeichnet, in dem eine dritte übergeordnete Person den ihr untergeordneten Personen Leistungen zuteilt. Ein Beispiel dafür ist die staatliche Leistungsvergabe an Bürger. Dagegen werden Entscheidungen der Austauschgerechtigkeit in einem gleichgeordneten Zweipersonenverhältnis getroffen. 83 Das klassische Beispiel dafür ist der Vertrag. Trotz möglicher Abgrenzungsschwierigkeiten 84 ist diese Kategorisierung gerade für die judizielle Pflichtbegründung hilfreich. Eine Verteilungsentscheidung kann nicht mit vertragstheoretischen Argumenten
81 Canaris, Die Bedeutung der justitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, in: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Heft 7 (1997), S. 8 (36); MünchKrbK-Richardi § 14 Rz. 8. 8 2 Die Differenzierung zwischen Verteilungs- und Austauschgerechtigkeit geht zurück auf Aristoteles, Die Nikomachische Ethik (1991), Fünftes Buch 1130 b 17, S. 208: »Von der besonderen Gerechtigkeit nun und dem ihr entsprechenden Gerechten betrifft die eine Art die Zuteilung von Ehre, Geld und den andern Dingen, die unter die Mitglieder der Gemeinschaft aufgeteilt werden können; denn hier kann der eine ungleich oder gleich viel erhalten wie der andere. Die andere Art ordnet den vertraglichen Verkehr.« Dazu auch Canaris, Die Bedeutung der justitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, in: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Heft 7 (1997), S. 8 (119); Zöllner, Gerechtigkeit im Arbeitsverhältnis, in: Köbler/Heinze/Hromadka (Hrsg.), Festschrift für Söllner (2000), S. 1297 (1306). 83 Canaris, Die Bedeutung der justitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, in: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Heft 7 (1997), S. 8 (9 ff.). 84 Canaris, Die Bedeutung der justitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, in: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Heft 7 (1997), S. 8 (14).
158
4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
begründet w e r d e n 8 5 , da die Parteien die Verteilungsgerechtigkeit im Vertrag nicht zu b e a c h t e n h a b e n . 8 6 D a s von der R e c h t s p r e c h u n g im Wege des Gleichbehandlungsanspruchs erzielte Ergebnis m u ß nicht gerecht im Sinne der justitia distributiva sein. 8 7 Vielmehr handelt es sich bei der Frage nach der Verrechtlichung des G l e i c h b e handlungsanspruchs um ein P r o b l e m der rechtlichen Äquivalenz. D a s Wertverhältnis der hier in Frage stehenden Leistungen läßt sich nicht allein aus einer Gegenüberstellung der im Individualverhältnis erbrachten Arbeitsleistung und der dafür gezahlten E n t l o h n u n g ermitteln. O b die unter allgemeinen Voraussetzungen gewährte Leistung im Austauschverhältnis nicht offensichtlich ungerecht ist, kann nur im Verhältnis zu den Leistungen ermittelt werden, die andere A r b e i t n e h m e r in vergleichbarer Arbeitssituation erhalten haben. T r o t z des Mehrpersonenverhältnisses, das indizieren k ö n n t e , daß es sich u m eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit handeln könnte, spielen nur Äquivalenzüberlegungen eine Rolle. Das Wertverhältnis zwischen Arbeit und zusätzlicher E n t lohnung
kann
der
Arbeitnehmer
aufgrund
seiner
sozialpsychologischen
D i s p o s i t i o n typischerweise nicht im Individualarbeitsverhältnis »absolut« beurteilen, sondern nur über eine Referenzgruppe, also stets »relativ« im Verhältnis zu den an andere A r b e i t n e h m e r erbrachten Sonderleistungen. U n t e r diesem G e s i c h t p u n k t ist die Gleichbehandlungspflicht als rechtliche M a ß n a h m e zur Verhinderung von »Störungen der Austauschgerechtigkeit« 8 8 zu verstehen. D a außerrechtliche Sanktionsmechanismen fehlen, die sicherstellen k ö n n ten, daß der Arbeitgeber den berechtigten Erwartungen der A r b e i t n e h m e r auf Gleichbehandlung entspricht, m u ß die berechtigte E r w a r t u n g in einem A n spruch verrechtlicht werden. E s kann nicht darauf verwiesen werden, daß der Arbeitgeber die A r b e i t n e h m e r bei freiwilligen Leistungen schon aus Eigeninteresse gleich behandeln wird, damit sich der Motivationsanreiz verwirklichen kann. D e r Arbeitgeber wird nicht in j e d e m Fall auf den einzelnen A r b e i t n e h mer R ü c k s i c h t nehmen müssen, um den Z w e c k seiner freiwilligen Leistung 8 5 Ein Beispiel für eine reine Verteilungsentscheidung war die gesetzlich begründete, inzwischen aber aufgehobene (§ 73 EStG, der diese Pflicht begründete, ist durch das Steuerentlastungsgesetz (BGBl. I 1999, S.402 ff) aufgehoben worden.) Pflicht des Arbeitgebers, das Kindergeld an die Arbeitnehmer auszuzahlen. Diese Pflicht ließ sich deshalb nicht aus Erwägungen der Austauschgerechtigkeit begründen, da die Auszahlung von Kindergeld keinen inhaltlichen Bezug zum vertraglich vereinbarten Leistungsaustausch hatte und das Austauschverhältnis nicht betraf. Inwieweit vertragliche Regelungen vom Gesetzgeber zu Umverteilungsentscheidungen herangezogen werden dürfen, wird in der Literatur diskutiert Zöllner, Gerechtigkeit im Arbeitsverhältnis, in: Köbler/Heinze/Hromadka (Hrsg.), Festschrift für Söllner (2000), S. 1297 (1302 ff.). Die Rechtsprechung selbst kann diese Verteilungsentscheidungen nicht treffen. 86 Canaris, Die Bedeutung der justitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, in: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Heft 7 (1997), S. 8 (35). 87 Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb (1996), S. 290 Rz. 973. 88 Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb (1996), S. 291 Rz. 975 f.
5 10: Vertragskonkretisierende
zwingende Nebenpflichten
159
nicht zu gefährden. E r wird auch dann ein A n r e i z s y s t e m für seine Z w e c k e aufbauen k ö n n e n , wenn er einzelne A r b e i t n e h m e r sachwidrig von dem Verteilungsmodus ausschließt. Erst wenn sich das Leistungsvergabesystem insgesamt als unzuverlässig erwiesen hat, wird die freiwillige Leistung ihren Z w e c k nicht mehr erreichen und die willkürliche Praxis des Arbeitgebers auf diese Weise sanktioniert werden. D a s Prinzip der rechtlichen Äquivalenz gewährleistet jedoch einen Individualschutz. J e d e r A r b e i t n e h m e r soll darauf vertrauen k ö n nen, daß seine berechtigten Äquivalenzerwartungen gesichert sind. D i e s e r I n dividualschutz ist aufgrund der tatsächlichen Bedingungen nicht garantiert. D a sich die Parteien nicht von sich aus kooperativ verhalten, müssen rechtliche A n reize zu kooperativem Verhalten gesetzt werden. a) Zusätzliche
Voraussetzungen
der
Verrechtlichung
D i e Verrechtlichung der Gleichbehandlungspflicht setzt darüber hinaus voraus, daß eine gerichtliche U b e r p r ü f u n g , also die N a c h p r ü f u n g durch einen unbeteiligten D r i t t e n , aus der Perspektive rational handelnder Parteien überhaupt sinnvoll ist. K a n n die Z w e c k b e s t i m m u n g von einem unbeteiligten D r i t t e n überhaupt nicht nachvollzogen werden, so wäre die Verrechtlichung irrational. Voraussetzung für die Verrechtlichung und Durchsetzbarkeit des G l e i c h b e h a n d lungsanspruchs ist, daß der Z w e c k der freiwilligen Leistung überhaupt v o n dem G e r i c h t nachvollzogen werden kann. Es m u ß überlegt werden, inwieweit das R e c h t I n f o r m a t i o n e n über das gewünschte Kooperationsverhalten festhalten kann. N u r in den unproblematischen Fällen ergibt sich der Z w e c k der freiwilligen zusätzlichen Leistung des Arbeitgebers bereits ausdrücklich aus seiner Zusage. Ist der Z w e c k dagegen auslegungsbedürftig, so entsteht die Frage, wieviel I n f o r m a t i o n e n der Arbeitgeber über sein Verteilungssystem darlegen m u ß , damit das G e r i c h t den Leistungszweck nachvollziehen kann. H ä t t e der A r b e i t geber überhaupt keine Darlegungslast hinsichtlich der Z w e c k b e s t i m m u n g und des sich daraus ergebenden Verteilungssystems der Leistung, so ginge eine v o m Arbeitgeber steuerbare Unaufklärbarkeit stets zu Lasten des klagenden A r b e i t nehmers. In diesem Fall wäre der Arbeitgeber gut beraten, wenn er sein Verteilungssystem so undurchsichtig gestaltete, daß sowohl der Z w e c k wie die sich daraus ergebende Verteilung nicht nachvollziehbar wären und der G l e i c h b e handlungsanspruch schon aus diesem G r u n d vereitelt würde. Aus diesem G r u n d ist der R e c h t s p r e c h u n g des Bundesarbeitsgerichts 8 9 zu folgen, daß der Arbeitgeber die Pflicht hat, den Z w e c k der Leistung gegenüber 8 9 Urt. v. 30.3.1994 - 10 AZR 681/92 - AP Nr. 113 zu §242 B G B Gleichbehandlung ra.w.N. Die vom B A G in diesem Zusammenhang entwickelte Präklusionsregel ist jedoch nicht notwendig. Nach der früheren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts mußte der Arbeitgeber den Zweck seiner freiwilligen Leistung in einer bestimmten Zeit, nämlich auf die Nachfrage des Arbeitnehmers erklären, und war mit einem späteren Vortrag präkludiert (Urt. v. 5 . 3 . 1 9 8 0 - 5 AZR 881/78 - A P Nr. 44 zu §242 B G B Gleichbehandlung). In einer späteren
160
4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
einem auf Gleichbehandlung klagenden A r b e i t n e h m e r darzulegen, w e n n dieser für den A r b e i t n e h m e r nicht erkennbar ist. D e n Arbeitgeber trifft nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts die Pflicht, den Z w e c k der freiwilligen Leistung darzulegen: » . . . nur dann, wenn der A r b e i t n e h m e r weiß, warum er nicht ebenso wie andere A r b e i t n e h m e r behandelt wird, kann er sich ein Urteil darüber erlauben, o b die gesetzten Bedingungen gerecht sind.« 9 0 D a d u r c h wird der Arbeitgeber nicht gezwungen, zusätzliche Leistungen stets nur n o c h nach einem bestimmten Vergabesystem zu verteilen. D i e Darlegungspflicht betrifft nur Fälle, in denen die freiwillige Leistung einen kollektiven B e z u g hat, also unter Voraussetzungen gewährt wird, die von mehreren A r b e i t n e h m e r n erfüllt werden k ö n n e n . D i e s e Pflicht, die isoliert nicht einklagbar ist, hat darüber hinaus eine Appellfunktion: Sie veranlaßt den Arbeitgeber dazu, transparente Vergabesysteme zu konzipieren und K o n f l i k t e n vorzubeugen.
b) Zum Umfang der
Gleichbehandlungspflicht
D i e »gerechte« Verteilung innerhalb der arbeitgeberischen Organisationsstruktur ist demnach eine notwendige Voraussetzung für eine rationale K o o p e r a t i o n . D e r E r w a r t u n g s h o r i z o n t , selbst eine Leistung zu b e k o m m e n , und auch die Wahl der Referenzgruppe sind durch die Handlungsmöglichkeiten des Leistungsgewährenden begrenzt. In den Vergleich werden daher stets die A r b e i t nehmer einbezogen, die überhaupt dem Leistungszweck nach potentiell erfaßt werden k ö n n e n . D i e äußere G r e n z e ist daher mit der arbeitgeberischen O r g a nisationsstruktur vorgegeben, da der Arbeitgeber nur innerhalb dieser G r e n z e den Inhalt und die Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse beeinflussen kann. D e n B e z u g zu seiner eigenen Organisationsstruktur gibt der A r b e i t g e b e r bereits damit vor, daß er die freiwillige Leistung unter allgemeinen Voraussetzungen vergibt. Sind der Leistungszweck und damit auch die Voraussetzungen, um die Leistung zu erhalten, auslegungsbedürftig, so fehlt die eindeutige B e s c h r ä n kung auf eine bestimmte Arbeitnehmergruppe. Kann der Z w e c k der Leistung nicht näher bestimmt werden, so k o m m e n für die Bildung einer R e f e r e n z g r u p pe alle A r b e i t n e h m e r in B e t r a c h t , die möglicherweise die Leistung erhalten
Entscheidung v o m 8.3.1995 - 10 A Z R 2 0 8 / 9 4 - A P Nr. 184 zu § 2 4 2 B G B Gleichbehandlung hat es das G e r i c h t offen gelassen, o b der Arbeitgeber auf das außergerichtliche Begehren des Arbeitnehmers sofort reagieren muß, um der Präklusion zu entgehen. D i e Präklusion sei keine notwendige Voraussetzung, um den Arbeitgeber dazu anzuhalten, transparente Vergabesysteme zu entwerfen. O h n e die Präklusionswirkung k ö n n t e er zwar Begründungen für die maßgebliche Z w e c k v o r g a b e im P r o z e ß nachschieben. Dies gelte aber nur dann, w e n n diese G r ü n de mit der bestehenden Vergabeordnung oder der Vergabepraxis vereinbar seien und ihr nicht widersprächen ( B A G , U r t . v. 9 . 1 2 . 1 9 9 7 - 3 A Z R 6 6 1 / 9 6 - A P Nr. 4 0 zu § 1 B e t r A V G G l e i c h behandlung). D a h e r ist einer willkürlichen Vereitelung des Anspruchs auf Gleichbehandlung bereits mit der Darlegungslast des Arbeitgebers vorgebeugt, so daß auf die Präklusionsregel verzichtet werden kann. 90
U r t . v. 5 . 3 . 1 9 8 0 - 5 A Z R 8 8 1 / 7 8 A P Nr. 44 zu § 2 4 2 B G B Gleichbehandlung.
§10: Vertragskonkretisierende
zwingende
Nebenpflichten
161
können. Dies sind alle bei dem Arbeitgeber Beschäftigten. Damit ist die Leistungsvergabe in der äußersten Grenze auf seinen eigenen Organisationsbereich bezogen und umfaßt alle mit ihm geschlossenen Arbeitsverhältnisse. Aus diesem Grund ist die Gleichbehandlungspflicht nicht zwangsläufig auf Arbeitsverhältnisse innerhalb eines Betriebs beschränkt, sondern erstreckt sich in den äußeren Grenzen auf alle Arbeitsverhältnisse, die mit dem leistungsgewährenden Arbeitgeber abgeschlossen worden sind. Das Bundesarbeitsgericht 91 ist inzwischen von einer ausschließlich betriebsbezogenen Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes abgerückt. I n d e r Entscheidung vom 17.11.1998 weist das Bundesarbeitsgericht die frühere Auffassung von einer aus der Betriebsgemeinschaft zu entwickelnden Ableitung des Gleichbehandlungsanspruchs zurück, begründet aber nach wie vor den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Auf das Paradox, aus dem formellen Gleichheitssatz eine inhaltliche Begründung ableiten zu wollen, ist schon hingewiesen worden. 9 2 Dem Bundesarbeitsgericht kann aber zugestimmt werden, daß der Gleichbehandlungsanspruch letztlich »kompetenzbezogen« ist und sich »auf den Bereich« bezieht, »auf den sich die gebundene Regelungskompetenz erstreckt« 93 . Dies sind die Unternehmensgrenzen. 5. Kritik an der Rechtsprechung
zur
Gleichbehandlungspflicht
Das Bundesarbeitsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß der Arbeitgeber den Zweck der freiwilligen Leistung autonom bestimmen kann 94 und daß die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers Ausgangspunkt der Gleichbehandlungspflicht ist 95 , so daß auch steuerrechtliche Gründe 9 6 oder eine unterschiedliche Arbeitsmarktsituation 9 7 denkbare Differenzierungsgründe sind. 98 Dieser Ausgangspunkt wird in anderen Entscheidungen vernachlässigt. Als »irrational« hat es Fastrich in seiner Anmerkung zum Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 27.10.1998" bezeichnet, dem Arbeitgeber zu unterstellen, der 91 92 93
Urt. v. 17.11.1998 - 1 AZR 147/98 - AP Nr. 162 zu §242 BGB Gleichbehandlung. Vgl. §101. 1. b). Urt. v. 17.11.1998 - 1 AZR 147/98 - AP Nr. 162 zu §242 BGB Gleichbehandlung Bl.
1274. 94 Urt. v. 10.3.1982 - 4 AZR 540/79 - AP Nr. 47 zu § 242 BGB Gleichbehandlung; Urt. v. 21.3.1968 - 5 AZR 299/67 - AP Nr. 33 zu §242 BGB Gleichbehandlung; vgl. auch Urt. v. 3.4.1957 - 4 AZR 129/56 - AP Nr. 4 zu §242 BGB Gleichbehandlung, wonach Vertragsfreiheit und »Leistungsprinzip« die entscheidenden Gesichtspunkte der Beurteilung seien. 95 Urt. V. 4.5.1962 - 1 AZR 250/61 - AP Nr. 32 zu § 242 BGB Gleichbehandlung. 96 Urt. V. 5.12.1957 - 2 AZR 474/55 - AP Nr. 13 zu §242 BGB Gleichbehandlung. In dieser Entscheidung hatte der Arbeitgeber einen seiner Betriebe aufgrund steuerrechtlicher Erwägungen von einer Gratifikationszahlung ausgeschlossen. 97 BAG, Urt. v. 21.10.1998-9 AZR 2 9 9 / 9 7 - A P Nr. 211 zu §611 BGB Gratifikation. 98 Urt. v. 25.1.1984 - 5 AZR 89/82 - AP Nr. 67 zu § 242 BGB Gleichbehandlung. 99 9 AZR 2 9 9 / 9 7 - A P Nr. 211 zu §611 BGB Gratifikation.
162
4. Kapitel: Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
Zweck einer Weihnachtsgratifikation erfülle sich neben dem Entgeltcharakter 100 auch darin, zu den anläßlich des Weihnachtsfestes erhöhten Ausgaben beizutragen. 101 Die Rechtsprechung zwinge den Arbeitgeber, sein bezwecktes rationales Verhalten gegen ein unterstelltes irrationales darzulegen und zu beweisen. Nach dem hier zugrunde gelegten Modell ist von rational handelnden Parteien auszugehen. Der Arbeitgeber ist ohne ein gesetzliches Gleichstellungsgebot nicht dazu verpflichtet, Leistungen sozialpolitisch sinnvoll zu verteilen. 102 Er muß sie innerhalb des gesetzlichen Rahmens, also der Differenzierungsverbote 103 , zum Beispiel gem. Art. 141 Abs. 1 EG-Vertrag willkürfrei vergeben. Deshalb ist der von ihm bestimmte Zweck entscheidend für den Umfang der Gleichbehandlungspflicht. So kann der Arbeitgeber in Reaktion auf die Arbeitsmarktlage einer gesuchten Arbeitnehmergruppe im Rahmen der gesetzlichen Diskriminierungsverbote finanzielle Vorteile gewähren, um sie an sich zu binden. Im Beispiel der Weihnachtsgratifikation hat der Arbeitgeber weder ein rationales Interesse daran, die bereits erbrachte Arbeitsleistung rückwirkend höher zu bewerten, noch daran, dem Arbeitnehmer zu Weihnachten etwas zu schenken. Weihnachten ist der Anlaß 104 , nicht aber der Grund der Zahlung. Der Zweck, den der Arbeitgeber mit der zusätzlichen Leistung verfolgt, erschöpft sich nicht darin, dem Arbeitnehmer ein »Geschenk« zu machen. Die Rechtsprechung selbst hielt an ihrer Auslegung des Zwecks der Weihnachtsgratifikation nicht fest: Trotz ihrer bedarfsorientierten Argumentation konnte der Arbeitgeber zwischen einzelnen Arbeitnehmergruppen 1 0 5 differenzieren und bereits ausgeschiedene Arbeitnehmer 1 0 6 von der Zusage ausschließen, obwohl auch sie die zu honorierende Tätigkeit erbracht hatten und auch ihnen die Aufwendungen entstanden waren. 100 Zur Rechtsprechung, Gratifikationen als Entgelt anzusehen, vgl. schon BAG, Urt. v. 10.5.1962 - 5 AZR 452/61 - AP Nr. 22 zu § 611 BGB Gratifikation; BAG, Urt. v. 4.10.1956 - 2 AZR 213/54 - AP Nr. 4 zu § 611 BGB Gratifikation; BAG Urt. v. 29.4.1954 - 2 AZR 13/53 AP Nr. 1 zu § 611 BGB Gratifikation. 101 BAG, Urt. v. 27.10.1998 - 9 AZR 299/97 - AP Nr. 211 zu §611 BGB Gratifikation B1.1484 Rs.; vgl. auch BAG Urt. v. 29.4.1954 - 2 AZR 13/53 - AP Nr. 1 zu §611 BGB Gratifikation Bl. 90 Rs.: »Der allgemeine Zweck der Weihnachtsgratifikation besteht nicht darin, daß der Arbeitnehmer am Weihnachtstage einen zusätzlichen Geldbetrag in der Hand hat, sondern daß er von der Gratifikation noch Anschaffungen zum Weihnachtsfeste ermöglichen und Angehörige durch Geschenke erfreuen kann.« 102 Fastrich, Gleichbehandlung und Gleichstellung, RdA 2000, S. 65 (81). 103 Zur Unterscheidung zwischen Gleichbehandlung und Gleichstellungsgeboten Fastrich, Gleichbehandlung und Gleichstellung, RdA 2000, S. 65 (68). 104 Gaul, Der Zweck von Sonderzahlungen, BB 1994, S. 494 (495). 105 BAG, Urt. v. 30.3.1994 - 10 AZR 681/92 - AP Nr. 113 zu §242 BGB Gleichbehandlung; BAG, Urt. v. 25.1.1984 - 5 AZR 89/82 - AP Nr. 67 zu §242 BGB Gleichbehandlung; BAG Urt. v. 5.3.1980 - 5 AZR 881/78 - AP Nr. 44 zu § 242 BGB Gleichbehandlung. 106 So schon BAG, Urt. v. 24.10.1958-2 AZR 244/55 - A P Nr. 8 zu §611 BGB Gratifikation und Urt. v. 18.6.1960 - 5 AZR 31/59 - AP Nr. 16 zu §611 BGB Gratifikation; aus der neueren Rechtsprechung BAG, Urt. v. 25.4.1991 - 6 AZR 532/89 - AP Nr. 137 zu § 611 BGB Gratifikation und Urt. v. 19.11.1992 - 10 AZR 264/91 - AP Nr. 147.
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende
Nebenpflichten
163
Die Auslegung von Zusagen muß sich daran orientieren, welche Ziele ein rational handelnder Arbeitgeber mit zusätzlichen Entgeltleistungen verfolgt. Nach den vorangegangenen Erörterungen sind dies die Bindung der Arbeitnehmer an den Betrieb oder das Unternehmen und die Förderung der Kooperationsbereitschaft des Arbeitnehmers. 107 N u r wenn die Leistungsvergabe mit diesen Zwecken unvereinbar ist, kann im Rahmen der Kontrolle gem. § 307 BGB von einer unangemessenen Benachteiligung ausgegangen werden. Das Bundesarbeitsgericht setzt die Akzente in seiner Auslegung von Zusagen anders. Im Zweifel soll die freiwillige Zahlung das Entgelt für die bereits erbrachte Leistung des Arbeitnehmers anheben 108 und die in der Vergangenheit liegende Tätigkeit zusätzlich vergüten. 109 Wenn die arbeitgeberische Leistung diese zeitlich zurückliegenden Dienste honorieren solle, sei es sachwidrig, ausgeschiedene Arbeitnehmer auszuschließen, die wie alle anderen Beschäftigten im vergangenen Bezugszeitraum gearbeitet hätten. 110 Neben diesem Zweck kann der Arbeitgeber nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts mit der zusätzlichen Entlohnung alternativ oder kumulativ das Ziel verfolgen, die zeitliche Dauer zu honorieren, die sogenannte »Betriebstreue«. 111 N u r diese zweite Auslegungsregel entspricht dem Interesse eines rational handelnden Arbeitgebers, sich gegen eine Fluktuation der Arbeitnehmer zu sichern. Dieser Zweck, dem Wechsel des Arbeitgebers vorzubeugen, steht nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts im Vordergrund, wenn der Arbeitgeber in der Zusage einen Stichtag 107 p m s > Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts im Jahre 1990, ZfA 1992, S. 61 (90) unterscheidet nach dem Rechtscharakter der Anspruchsgrundlage zwischen tariflichen Anspruchsnormen, Entlohnung geleisteter Arbeit, Belohnung von Betriebstreue, Entlohnung geleisteter Arbeit und Belohnung von Betriebstreue (Kombinationsmodell); Dörner, Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgericht zum Gratifikationsrecht in den Jahren 1988 bis 1991, RdA 1993, S. 24 (25) zählt ebenfalls den bei einer Sonderzuwendung mit Mischcharakter vorliegenden Zweck als einen eigenen, so daß insgesamt drei Zwecke denkbar sind: Belohnung der zukünftigen Betriebstreue (Fortdauer des Arbeitsverhältnisses), Entgelt der erbrachten Tätigkeit, Mischcharakter. 108 BAG, Urt. v. 25.4.1991 - 6 AZR 532/89 - AP Nr. 137 zu §611 BGB Gratifikation; BAG, Urt. v. 25.1.1984 - 5 AZR 251/82 - AP Nr. 68 zu §242 BGB Gleichbehandlung; Urt. v. 5.3.1980 - 5 AZR 881/78 - AP Nr. 44 zu § 242 BGB Gleichbehandlung; BAG, Urt. v. 14.2.1974 - 5 AZR 235/73 - AP Nr. 79 zu § 611 BGB Gratifikation; vgl. ebenso die zustimmende Literatur ErfK-Preis §611 BGB Rz. 793, Hanau/Vossen, Die Kürzung von Jahressonderzahlungen aufgrund fehlender Arbeitleistung, DB 1992, S. 213; Gaul, Der Zweck von Sonderzahlungen, BB 1994, S. 494 (499). 109 BAG, Urt. v. 25.4.1991 - 6 AZR 532/89 - AP Nr. 137 zu § 611 BGB Gratifikation. 110 Urt. v. 11.9.1985 - 7 AZR 371/83 - AP Nr. 76 zu §242 BGB Gleichbehandlung; Urt. v. 10.3.1982 - 4 AZR 540/79 - AP Nr. 47 zu § 242 BGB Gleichbehandlung; Urt. v. 5.3.1980 - 5 AZR 881/78 AP Nr. 44 zu § 242 BGB Gleichbehandlung; Urt. v. 17.5.1978 - 5 AZR 132/77 AP Nr. 42 zu §242 BGB Gleichbehandlung; Urt. v. 10.4.1973 - 4 AZR 180/72 AP Nr. 38 zu §242 BGB Gleichbehandlung; Urt. v. 9.11.1972 - 5 AZR 224/72 - AP Nr. 36 zu §242 BGB Gleichbehandlung; Urt. v. 25.4.1959 - 2 AZR 363/58 - AP Nr. 15 zu §242 BGB Gleichbehandlung. 111 Urt. v. 10.3.1982 - 4 AZR 540/79 - AP Nr. 47 zu § 242 BGB Gleichbehandlung.
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4. Kapitel:
Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
benennt und so die Zahlung von einer bestimmten Dauer des Arbeitsverhältnisses abhängt. 112 Die Überlegung des Bundesarbeitsgerichts, daß die freiwillige Entgeltleistung im Zweifel die vergangene Tätigkeit entlohnen soll, ist jedoch mit dem hier zugrunde gelegten Rationalitätsmodell nicht zu vereinbaren. Nach dem vorangestellten Modell besteht das ökonomische Interesse eines rational handelnden Arbeitgebers an einer zusätzlichen Leistung neben dem Zweck, den Arbeitnehmer an sich zu binden, nur darin, ihn zu einem zukünftigen Verhalten zu motivieren. Auf die bereits erbrachte Tätigkeit kommt es nicht an, da sich der Motivationsanreiz dort nicht mehr auswirken kann. An einer rückwirkenden Lohnerhöhung, also einer Leistung, die ausschließlich im Reziprozitätsverhältnis mit der erbrachten Tätigkeit steht und die bereits vergütet ist, hat ein rational handelnder Arbeitgeber kein Interesse. Die Kritik an der Rechtsprechung muß daher schon am unklaren Entgeltbegriff ansetzen. Es muß geklärt werden, welche Gegenleistung durch die arbeitgeberische Geldzahlung vergütet wird, ob sich also die Zahlung auf eine vergangene oder eine zukünftige Tätigkeit des Arbeitnehmers bezieht. Der Entgeltbegriff selbst ist dabei wenig hilfreich, da er letztlich ein Oberbegriff für alle Zahlungen ist, die im Gegenseitigkeitsverhältnis zu Tätigkeiten des Arbeitnehmers stehen. Die Feststellung, die Gratifikation sei Entgelt, bedeutet letztlich nur, daß es sich, um kein »Geschenk« 1 1 3 handelt und daß keine Schenkungsregeln Anwendung finden. 114 Obwohl die zusätzliche Zahlung Entgelt ist, steht sie nicht im Gegenseitigkeitsverhältnis mit der in der Vergangenheit erbrachten Arbeitsleistung. Sie soll den Arbeitnehmer zu zusätzlichen Leistungen oder zum Bleiben motivieren. Daher ist in einem ersten Schritt zwischen dem Arbeitslohn für die Vergangenheit und einer darüber hinausgehenden Zahlung zu differenzieren. Die Auslegung, ob es sich bei einer Gratifikationszahlung um Lohn handelt, ist daher eine zentrale vorangestellte Auslegungsfrage. 115 So ist z.B. eine aufgesparte Zahlung - bei einem 13. Monatsgehalt - ein echter Vertragslohnbestandteil, der nur zu einem späteren Zeitpunkt fällig wird. Handelt es sich um einen solchen aufgesparten Vergütungsbestandteil, sind die Regeln anzuwenden, die sich aus dem Gegenseitigkeitsverhältnis der Hauptleistungspflichten ergeben, wie z.B. § 326 B G B . 1 1 6 Handelt es sich dagegen um eine freiwillige, zusätzlich zu dem Vertragslohn erbrachte Zahlung, muß zwischen den schon zuvor erörterten Anreizsystemen
B A G , v. 25.4.1991 - 6 A Z R 532/89 - A P Nr. 137 zu §611 B G B Gratifikation. B A G , Urt. v. 10.5.1962 - 5 A Z R 452/61 - AP Nr. 22 zu § 6 1 1 B G B Gratifikation. 114 Hueck, Anmerkung zu B A G Urt. v. 29.6.1954 - 2 A Z R 1 3 / 5 3 - A P Nr. 1 zu § 6 1 1 B G B Gratifikation. 1 1 5 B A G , Urt. v. 1 9 . 4 . 1 9 9 5 - 1 0 A Z R 4 9 / 9 4 - A P Nr. 173 zu § 6 1 1 B G B Gratifikation. 1 1 6 B A G Urt. v. 1 9 . 4 . 1 9 9 5 - 1 0 A Z R 4 9 / 9 4 - A P Nr. 173 zu § 6 1 1 B G B Gratifikation. 112
113
§10: Vertragskonkretisierende
zwingende
Nebenpflichten
165
unterschieden werden. Bei einem »output-based incentive« 1 1 7 , einer arbeitsleistungsbezogenen 1 1 8 Zulage, ist die Zahlung an ein Arbeitsergebnis gekoppelt. Vom Z w e c k dieser Zusage sind nur Arbeitnehmer erfaßt, die diese Leistung tatsächlich erbringen. Bei einem »input-based incentive«, also einer Zahlung, die nicht an die Tätigkeit selbst gekoppelt ist, k ö n n e n zwei Ziele verfolgt werden. Der Arbeitgeber kann versuchen, den Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis zu halten. Diese W i r k u n g reicht in die Vergangenheit z u r ü c k , da das Arbeitsverhältnis bis z u m Fälligkeitszeitpunkt oder einem anderen Stichtag bestanden haben muß. Darüber hinaus kann die Zahlung, w e n n nicht der B i n d u n g s z w e c k ganz eindeutig im Vordergrund steht, den Arbeitnehmer zu einem z u k ü n f t i g e n Verhalten motivieren. Die Auslegung einer Zusage k a n n nach den vorangestellten A u s f ü h r u n g e n demnach in vier P u n k t e gegliedert werden: 1. Es m u ß feststehen, daß es sich bei der zusätzlichen Zahlung nicht u m einen Lohnbestandteil handelt. Handelt es sich u m einen Lohnbestandteil, kann die Rechtsprechung nur unter den Voraussetzungen der Inhaltskontrolle in den Vertrag eingreifen. 2. Bei zusätzlichen Zahlungen m u ß zwischen arbeitsleistungsbezogenen ( » o u t put-based incentives« 1 1 9 ) u n d nichtarbeitsleistungsbezogenen (»input-based incentives« 1 2 0 ) A n r e i z s y s t e m e n unterschieden werden. 3. Bei nichtarbeitsleistungsbezogenen Zusatzzahlungen stellt sich das A u s l e gungsproblem, ob der Arbeitgeber mit der Zahlung den Zweck verfolgt, die Arbeitnehmer an sich zu binden, oder ob er einen Motivationsanreiz für zukünftiges Verhalten setzen will. N u r w e n n sich aus dem Wortlaut der Zusage ergibt, daß in erster Linie die Bindung bezweckt ist, können auch solche Arbeitnehmer die Leistung beanspruchen, die nach dem gesetzten Stichtag ausscheiden. In den anderen Fällen hat die Zahlung stets auch das Ziel, einen Motivationsanreiz für zukünftiges Verhalten zu setzen. Das bedeutet, daß ausgeschiedene Arbeitnehmer keine Leistung erhalten. Verfolgt eine f r e i w i l lige Leistung sowohl den Zweck, die Arbeitnehmer an den Betrieb zu binden, als auch zu einem z u k ü n f t i g e n Verhalten zu motivieren, k a n n sie nur auf diejenigen Arbeitnehmer bezogen sein, bei denen sich beide Zwecke verw i r k l i c h e n können. 4. Bei arbeitsleistungsbezogenen Zusatzzahlungen folgt schon aus der Koppelung der zusätzlichen Leistung an das Arbeitsergebnis, daß die Z u w e n d u n g nur Arbeitnehmern zugute k o m m e n soll, die w ä h r e n d des Bezugszeitraums tätig gewesen sind. Der Arbeitgeber kann Leistungen in den gesetzlichen
117 118 119 120
Vgl. § BAG, Vgl. § Vgl. §
10 I. 3. b), S. 151. Urt. v. 1 0 . 5 . 1 9 9 5 - 1 0 A Z R 6 4 8 / 9 4 - A P Nr. 174 zu § 6 1 1 B G B Gratifikation. 10 I. 3. b), S. 151. 10 I. 3. b), S. 151.
166
4. Kapitel:
Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
Grenzen kürzen. Ausgeschiedene Arbeitnehmer erhalten die Leistungen dann nicht, wenn sie im Bezugszeitraum nicht gearbeitet haben. An diesen vier Punkten orientiert sich die folgende Kritik der Rechtsprechung. In einem ersten Schritt wird die Rechtsprechung zu rückwirkenden Lohnerhöhungen kritisiert. Sie zieht die Grenze zwischen Inhaltskontrolle und Gleichbehandlungsgrundsatz nicht deutlich genug. Stellt man mit dem Bundesarbeitsgericht darauf ab, daß die zusätzliche Entgeltleistung im Zweifel die bereits erbrachte Tätigkeit entlohnen soll, führt dies letztlich dazu, daß das vertragliche Leistungsverhältnis im nachhinein korrigiert wird. Bei dieser Korrektur handelt es sich nicht mehr um einen Gleichbehandlungsfall, sondern um eine Inhaltskontrolle, die nur unter anderen Voraussetzungen zulässig ist. a) Rechtsprechung
zu den rückwirkenden
Lohnerhöhungen
Unter dem Stichwort der »rückwirkenden Lohnerhöhung« 1 2 1 werden Zahlungen des Arbeitgebers verstanden, die einer tariflichen Lohnerhöhung zeitlich nachfolgen und bei denen sich die Frage stellt, ob auch übertarifliche, zusätzliche Zahlungen an ausgeschiedene Arbeitnehmer aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes rückwirkend angehoben werden müssen. Ein ähnliches Problem entsteht in Fallgestaltungen, in denen der Arbeitgeber ohne die zeitliche Nähe zu einer Tariflohnerhöhung das vertragliche Entgelt jährlich erhöht und dabei einer »linearen Komponente angesichts des Anstiegs der Preise und Gehälter« folgt, aus der das Bundesgericht schließt, daß die Leistungen zumindest zum Teil den Zweck haben, einen Kaufkraftverlust auszugleichen. 122 Bezüglich dieses Teilbetrages nimmt das Bundesarbeitsgericht eine Gleichbehandlungspflicht des Arbeitgebers an, die zu einer rückwirkenden Erhöhung der an bereits ausgeschiedene Arbeitnehmer gezahlten Löhne führt. 1 2 3 Mit dieser Rechtsprechung überprüft das Bundesarbeitsgericht letztlich, ob das Verhältnis von erbrachter Tätigkeit und Lohn wirtschaftlich äquivalent ist. Es stellt darauf ab, daß aufgrund des »wirtschaftlichen Austauschprinzips« »grundlegende Veränderungen der wirtschaftlichen Basis« 1 2 4 auch bei freiwilligen übertariflichen Zahlungen zu berücksichtigen sind. Das Bundesarbeitsgericht legt den Zweck der freiwilligen Leistung dahingehend aus, daß die Verteuerung ausgeglichen werden solle. 1 2 5 Läßt die Vertragsabwicklung dagegen Urt. V. 10.3.1982 - 4 A Z R 540/79 - AP Nr. 47 zu § 242 B G B Gleichbehandlung. Dazu schon Urt. v. 25.4.1959 - 2 A Z R 363/58 AP Nr. 15 zu § 2 4 2 B G B Gleichbehandlung, wonach eine allgemeine Lohnanhebung (»Lohnwelle«) zu einer Veränderung der wirtschaftlichen Basis führe, die auch bereits ausgeschiedene Arbeitnehmer treffe; Urt. v. 10.3.1982 - 4 A Z R 540/79 - AP Nr. 47 zu § 242 B G B Gleichbehandlung. 1 2 3 Urt. V. 11.9.1985 - 7 A Z R 371/83 - AP Nr. 76 zu § 242 B G B Gleichbehandlung. 1 2 4 Urt. V. 25.4.1957 - 2 A Z R 474/55 - AP Nr. 15 zu § 242 B G B Gleichbehandlung Bl. 783. 1 2 5 Urt. V. 17.5.1978 - 5 A Z R 132/77 - AP Nr. 42 zu § 242 B G B Gleichbehandlung Bl. 375 Rs. 121
122
§10: Vertragskonkretisierende
zwingende
Nebenpflichten
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den Schluß zu, daß die Parteien konkludent eine lineare Angleichung vereinbart haben, so handelt es sich dabei um die Bestimmung des Vertragslohns und nicht um einen Anwendungsfall der Gleichbehandlungspflicht. Davon sind die Fälle zu unterscheiden, in denen der Arbeitgeber eine übertarifliche Zulage in zeitlichem Zusammenhang mit einer Tariflohnerhöhung gewährt. Hatte das Bundesarbeitsgericht zunächst nur Fälle zu entscheiden, in denen sich die rückwirkende übertarifliche Lohnerhöhung auf aktiv Beschäftigte erstreckte 126 , so bezog der vierte Senat in seiner Entscheidung vom 10.3.1982 auch ausgeschiedene Arbeitnehmer in die anspruchsberechtigte Gruppe ein. 127 Rückwirkende Lohnerhöhungen knüpften an die bereits erbrachte Arbeitsleistung an und bezweckten nicht, die Arbeitnehmer auch in Zukunft an den Betrieb zu binden. 128 Da »erbrachte Arbeitsleistungen« »ihren Eigenwert« behielten, dürfe der Arbeitgeber bereits ausgeschiedene Arbeitnehmer von einer rückwirkenden Lohnerhöhung nicht ausschließen. Eine Ausnahme von dieser Auslegungsregel läßt das Bundesarbeitsgericht aber dann zu, wenn die Tarifvertragsparteien ausgeschiedene Arbeitnehmer von der rückwirkenden Tariflohnerhöhung ausgeschlossen haben. 129 Soweit ausgeschiedene Arbeitnehmer von der tariflichen Regelung nicht erfaßt würden, müsse auch der Arbeitgeber keine freiwilligen übertariflichen Leistungen aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes an die bereits ausgeschiedenen Arbeitnehmer zahlen. 130 Wie Wiedemann in seiner Anmerkung zu dem Urteil feststellt, wird dort »im Gewände der Gleichbehandlungspflicht nicht nur ein Willkürverbot, sondern eine Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen vorgenommen« 131 . Das Bundesarbeitsgericht versucht unter dem Deckmantel der Gleichbehandlungspflicht, die Äquivalenz von Arbeit und Lohn nachträglich zu korrigieren, indem es den Leistungszweck in einer nach dem hier zugrundegelegten Konzept unzulässigen Weise uminterpretiert. Bei der zunächst zwischen den Senaten des Bundesarbeitsgerichts umstrittenen 132 Frage, welchen Zweck der Arbeitgeber in diesen Fällen erreichen will, legte der vierte Senat unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung den Zweck einer freiwilligen rückwirkenden Lohnerhöhung dahingehend aus, daß die bereits erbrachte Tätigkeit belohnt und insoweit neu 126 Urt. V. 17.5.1978 - 5 AZR 132/77- AP Nr. 42 zu §24 BGB Gleichbehandlung; Urt. v. 10.4.1973 - 4 AZR 180/72 - AP Nr. 38 zu §242 BGB Gleichbehandlung; Urt. v. 25.4.1957 - 2 AZR 474/55 - AP Nr. 15 zu § 242 BGB Gleichbehandlung. 127 Urt. v. 10.3.1982 - 4 AZR 540/79 AP Nr. 47 zu § 242 BGB Gleichbehandlung. 128 Urt. V. 10.3.1982 - 4 AZR 540/79 - AP Nr. 47 zu § 242 BGB Gleichbehandlung Bl. 673 Rs. 129 Urt. v. 10.3.1982 - 4 AZR 540/79- AP Nr. 47 zu § 242 BGB Gleichbehandlung Bl. 674. 130 Urt. v. 10.3.1982 - 4 AZR 540/79 - AP Nr. 47 zu § 242 BGB Gleichbehandlung Bl. 674 Rs. 131 Urt. v. 10.3.1982 - 4 AZR 540/79 - AP Nr. 47 zu § 242 BGB Gleichbehandlung Bl. 675. 132 Zu einem Überblick über diese Rechtsprechung vgl. BAG, Urt. v. 10.3.1982 - 4 AZR 540/79 - AP Nr. 47 zu § 242 BGB Gleichbehandlung.
168
4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
bewertet werden solle. 1 3 3 D a b e i stellte der Senat darauf ab, daß dem Arbeitgeber nur zwei mögliche »Anreizstrukturen« zur Verfügung stehen: L o h n e r h ö hung als B e w e r t u n g der erbrachten Tätigkeit und Sonderzuwendung als Mittel, u m die A r b e i t n e h m e r an den Betrieb zu binden. E i n rational handelnder Arbeitgeber hat, wie erörtert, j e d o c h kein Interesse daran, den L o h n rückwirkend für die erbrachte Tätigkeit zu erhöhen. E i n e solche A n n a h m e wäre nur dann begründet, wenn die Parteien individualvertraglich eine Anpassungsklausel vereinbart hätten. Dies war j e d o c h in der besprochenen Entscheidung nicht der Fall, da die Leistung freiwillig übertariflich gezahlt wurde. Z u welchen Schwierigkeiten die von Bundesarbeitsgericht v o r g e n o m m e n e Inhaltskontrolle führt, zeigt die Suche nach einem M a ß s t a b , den das G e r i c h t schließlich in der tariflichen Regelung findet. Wenn bereits ausgeschiedene Arbeitnehmer kraft Tarifregelung von der rückwirkenden L o h n e r h ö h u n g ausgeschlossen sind, soll auch der A r b e i t g e b e r sie von der freiwilligen übertariflichen Leistung ausschließen k ö n n e n . 1 3 4 Diese W ü r d i g u n g zeigt deutlich, daß es dem Bundesarbeitsgericht letztlich nur u m eine Wiederherstellung der Austauschgerechtigkeit geht, die das G e r i c h t in A n l e h n u n g an die tariflichen Regelungen entwickelt. Dies ist in mehrfacher H i n s i c h t problematisch. Z u m einen kann der gerechte L o h n nach dem hier vertretenen rechtstheoretischen A n s a t z p u n k t 1 3 5 nicht bestimmt werden. D i e tariflichen Arbeitsbedingungen und die tarifliche Lohnfestsetzung sind zwar Mindestbedingungen, sie geben aber deshalb keine exakten R i c h t w e r t e vor. E i n e K o r r e k t u r des Vertragsergebnisses ist nur m ö g lich, wenn sich in dem offensichtlich unangemessenen Ergebnis eine rechtliche Äquivalenzstörung ausdrückt und wenn indiziert wird, daß der Vertrag insgesamt als Regelungsmechanismus versagt hat. E i n offensichtlich unangemessenes Ergebnis, das zu einer Inhaltskontrolle berechtigen könnte, kann jedoch nicht jedesmal a n g e n o m m e n werden, wenn der Tariflohn geringfügig unterschritten wird. In diesem Fall käme eine derartige E r s t r e c k u n g der Tarifvorschrift auf alle Arbeitsverhältnisse einer unzulässigen Allgemeinverbindlichkeit gleich. 1 3 6 E i n e derartige W i r k u n g ist ebenso nicht aufgrund § 3 1 0 A b s . 4 S. 3 B G B möglich, da dort Tarifregelungen nur für tarifgebundene Parteien R e c h t s vorschriften gleichgestellt w e r d e n . 1 3 7 E i n e übertarifliche freiwillige Zahlung zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie nicht an den Tarifvertrag gekoppelt sein soll. D i e R e c h t s p r e c h u n g kann das Vertragsergebnis unter diesen Voraussetzungen nicht korrigieren.
BAG, Urt. v. 10.3.1982 - 4 AZR 540/79 - AP Nr. 47 zu § 242 BGB Gleichbehandlung. BAG, Urt. v. 10.3.1982 - 4 AZR 540/79 - AP Nr. 47 zu § 242 BGB Gleichbehandlung. 135 Vgl. § 5 II. 136 Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht (1992), S. 186. 137 A. A. Gotthardt, Der Arbeitsvertrag auf dem AGB-rechtlichen Prüfstand, ZIP 2002, 277 (281) potentiell anwendbarer TV. 133
134
§ 10: Vertragskonkretisierende
b) Auslegungsgrundsätze arbeitsleistungsbezogenen
zwingende Nebenpflichten
bei Weihnachtsgratifikationen Sonderzuwendungen
169
und anderen nicht
D i e Auslegung von nichtleistungsbezogenen Zusagen ist dann problematisch, wenn die Leistung einen Mischcharakter hat, also den A r b e i t n e h m e r sowohl an den A r b e i t g e b e r binden als auch zukünftige Anreize setzen soll. In diesen Fällen stellt sich die Frage, o b der Arbeitgeber solche A r b e i t n e h m e r ausdrücklich von der Zusage ausschließen kann und muß, die entweder aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden sind oder die während des Bezugszeitraums nicht gearbeitet haben. N a c h den hier zugrunde gelegten Auslegungsregeln 1 3 8 m u ß genau zwischen den jeweiligen zeitlichen Bezugsrahmen der verschiedenen
Lei-
stungszwecke differenziert werden. Bei einer Leistung mit Mischcharakter will sich der Arbeitgeber zum einen gegen eine Fluktuation absichern. Dieser Z w e c k bezieht sich auf den vergangenen Zeitraum. Das Arbeitsverhältnis m u ß in der Vergangenheit bis zu einem bestimmten Zeitpunkt - im Zweifel dem Fälligkeitszeitpunkt - bestanden haben. D i e Motivationswirkung reicht dagegen in die Z u k u n f t . Das Arbeitsverhältnis m u ß nach Fälligkeit der Leistung weiterbestehen. Ausgeschiedene A r b e i t n e h m e r sind in diesem Fall schon vom Z w e c k der Zusage nicht umfaßt, da sich bei ihnen der intendierte A n r e i z nicht verwirklichen kann. D e r Arbeitgeber m u ß diesen Arbeitnehmern auch dann keine Leistungen gewähren, wenn er sie in der Zusage nicht ausdrücklich von der Vergabe ausgeschlossen hat. D i e Auslegungsregel der Rechtsprechung, daß die freiwillige Zahlung im Zweifel Entgelt für die erbrachte Tätigkeit ist, ist aufzugeben. D e r damit eingeführte Entgeltbegriff ist mißverständlich und verschleiert die zugrunde liegenden Ziele des Arbeitgebers mehr, als daß er zu einer kosequenten Auslegung beitragen kann. Dies wird im Folgenden an zwei Beispielen gezeigt. Das erste Beispiel betrifft die Rechtsprechung zum Ausschluß ausgeschiedener A r b e i t nehmer v o n Sonderzahlungen, das zweite die Frage, o b der Arbeitgeber nur im Falle eines ausdrücklich vorbehaltenen Kürzungsrechts Leistungen an A r b e i t nehmer kürzen kann, die in der Vergangenheit gerechtfertigt nicht gearbeitet haben.
aa) Rechtsprechung zur sachgerechten Ausnahme von und betriebsbedingt gekündigten Arbeitnehmern
ausgeschiedenen
N a c h der früheren Rechtsprechung k o n n t e der Arbeitgeber ausgeschiedene Arbeitnehmer nur dann von einer Zahlung ausschließen, wenn er dies in seiner Zusage ausdrücklich erklärt hatte. Aus dem »Wesen« der Weihnachtsgratifikation ergab sich nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts nicht, daß sich diese nur auf laufende bzw. in Vollzug gesetzte Arbeitsverhältnisse beziehe. 1 3 9 Diese 138 139
Vgl. §10 1. 5, S. 165. BAG, Urt. v. 26.6.1975 - 5 AZR 412/74 - AP Nr. 86 zu § 611 BGB Gratifikation.
170
4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
R e c h t s p r e c h u n g steht in Einklang mit der kritisierten Auslegungsregel, daß die Sonderzahlung im Zweifel Entgelt für die erbrachte Tätigkeit sein soll. In einer späteren Entscheidung legte das Bundesarbeitsgericht den Z w e c k der Weihnachtsgratifikation dagegen dahingehend aus, daß die Zahlung A r b e i t n e h m e r für die Z u k u n f t zu reger und engagierter Mitarbeit motivieren solle, dieser Z w e c k bei im Fälligkeitszeitpunkt ausgeschiedenen A r b e i t n e h m e r n nicht mehr erreicht werden k ö n n e und deshalb ein Ausschluß dieser G r u p p e nicht sachwidrig sei. 1 4 0 D i e ausgeschiedenen A r b e i t n e h m e r erhielten nach dieser R e c h t sprechung keine zusätzliche Leistung, o b w o h l der Arbeitgeber in seiner Zusage sogar ausdrücklich auf die erbrachte Arbeitsleistung B e z u g nahm. Allerdings enthielt die Zusage keine ausdrückliche Stichtagsregelung. 1 4 1 E b e n s o sah das Bundesarbeitsgericht den Z w e c k einer jährlichen Sonderzahlung, die ohne ausdrückliche Zusage v o m Arbeitgeber überwiesen wurde, darin, die Beschäftigten zu zukünftiger Mitarbeit zu motivieren. 1 4 2 In ähnlicher Weise wechselte die R e c h t s p r e c h u n g in der Frage, o b der Arbeitgeber betriebsbedingt gekündigte A r b e i t n e h m e r von einer Sondervergütung ausschließen kann, ohne gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz zu verstoßen. D i e frühere R e c h t s p r e c h u n g hatte unter B e z u g auf den Entgeltcharakter der Weihnachtsgratifikation betont, daß eine betriebsbedingte Kündigung nicht dazu führen k ö n n e , die gekündigten A r b e i t n e h m e r von der Zahlung auszuschließen. 1 4 3 I m Falle einer betriebsbedingten Kündigung habe der A r b e i t nehmer -
wie alle übrigen A r b e i t n e h m e r -
seine Leistung erbracht; sein
Gratifikationsanspruch müsse deshalb bestehen bleiben. 1 4 4 A u f einen nahe am vertraglichen L o h n anzusiedelnden Vergütungscharakter der
Gratifikation
stellte auch die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts v o m 1 4 . 2 . 1 9 7 4 1 4 5 ab, in der ein Anspruch von ausgeschiedenen A r b e i t n e h m e r n auf eine rückwirkend gezahlte A u f s t o c k u n g der Weihnachtsgratifikation a n g e n o m m e n wurde. Das Bundesarbeitsgericht verglich in dieser Entscheidung die rückwirkende A u f stockung der Gratifikation mit einer rückwirkenden L o h n e r h ö h u n g .
Den
BAG, Urt. v. 26.10.1994 - 10 AZR 109/93 - AP Nr. 167 zu § 611 B G B Gratifikation. BAG, Urt. v. 26.10.1994 - 10 AZR 109/93 - AP Nr. 167 zu § 611 B G B Gratifikation Bl. 1, wonach der Zusage der folgende Aushang des Arbeitgebers zugrunde lag: »An unsere Belegschaft! Wir bedanken uns recht herzlich für die gute Mitarbeit zurückblickend auf das Jahr 1988. Als Anerkennung für Ihre Leistung zählt auch die Weihnachtsgratifikation. Diese ist eine freiwillige Zuwendung. Es besteht kein Rechtsanspruch. Wir wünschen Ihnen und Ihren Familien ein frohes Weihnachtsfest und für das Neue Jahr Gesundheit, Glück und Zufriedenheit.« 142 BAG, Urt. v. 8.3.1995 - 10 AZR 208/94 - EzA Nr. 131 zu §611 B G B Gratifikation, Prämie. 143 BAG, Urt. v. 27.10.1978 - 5 AZR 287/77 - Nr. 98 zu § 611 B G B Gratifikation und Urt. v. 26.6.1975 - 5 AZR 412/74 - AP Nr. 86 zu § 611 B G B Gratifikation. 144 BAG, Urt. v. 26.6.1975 - 5 AZR 412/74 - AP Nr. 86 zu § 611 B G B Gratifikation; BAG, Urt. v. 14.2.1974 - 5 AZR 235/73 - AP Nr. 79 zu § 611 B G B Gratifikation. 145 5 AZR 235/73 AP Nr. 79 zu § 611 B G B Gratifikation. 140
141
5 10: Vertragskonkretisierende
zwingende
Nebenpflichten
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Zweck der Weihnachtsgratifikation legte es dahingehend aus, daß die Betriebstreue belohnt werden solle. Habe der pensionierte Arbeitnehmer sich entsprechend diesem Zweck verhalten, so müsse ihm auch die rückwirkende Zahlung zugute kommen. Wie bei der Lohnzahlung könne der Anspruch nicht davon abhängen, wie sich der Arbeitnehmer nach Erbringung seiner Tätigkeit verhalte, der Anspruch bestehe unabhängig von dem späteren Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis. Das Bundesarbeitsgericht hat dagegen im Fall einer Tarifregelung, die betriebsbedingt ausgeschiedene Arbeitnehmer von einer Sonderzahlung ausschloß, darauf abgestellt, ob die Kündigung rechtsmißbräuchlich im Sinne des § 1 6 2 B G B die Zahlungsvoraussetzungen beseitigen sollte. 1 4 6 In dieser Entscheidung weist das Bundesarbeitsgericht darauf hin, daß Gratifikationszahlungen zulässigerweise auf bestehende Arbeitsverhältnisse beschränkt werden können, wie dies in tariflichen und betrieblichen Regelungen durch Stichtagsbegrenzungen üblicherweise geschehe. Auch in einer weiteren Entscheidung stellt das Bundesarbeitsgericht darauf ab, daß sich der Zweck, Arbeitnehmer zu künftigem Verhalten zu motivieren, bei ausgeschiedenen, also auch bei betriebsbedingt gekündigten Arbeitnehmern nicht mehr verwirklichen könne. 1 4 7 Zwar unterliegt die Kontrolle von Tarifverträgen, Betriebsvereinbarungen und Individualarbeitsverträgen unterschiedlichen Rechtfertigungsanforderungen, die Auslegung der Zweckbestimmung der Sonderzahlung ist jedoch gleich. Sie ist ebenso entscheidend für die Frage, ob es sich im Rahmen des § 307 B G B um eine unangemessene Benachteiligung handelt. Der Zweck einer Zusatzleistung mit Mischcharakter besteht stets darin, einen Motivationsanreiz zu künftigem Verhalten zu setzen. Ausgeschiedene Arbeitnehmer werden daher schon vom Zweck der Zahlung nicht erfaßt, so daß sich die Leistungsvergabe ihren Voraussetzungen nach nur an Beschäftigte richtet, deren Arbeitsverhältnis zum Fälligkeitszeitpunkt besteht. bb) Fehlzeiten
bei nichtarbeitsleistungsbezogenen
Zahlungen
Hat der Arbeitnehmer während des zurückliegenden Bezugszeitraums einer freiwillig gewährten Leistung teilweise nicht gearbeitet, war er z.B. vor Zahlung einer Jahressonderleistung mehrere Monate krank, so stellt sich die Frage, ob der Arbeitgeber ein ausdrückliches Ausschluß- oder Kürzungsrecht bezüglich dieser Zeiten regeln kann und muß. Die Rechtsprechung ist der Ansicht, daß nur ein ausdrücklich in der Zusage geregeltes Kürzungsrecht den Arbeitgeber dazu berechtigt, Fehlzeiten anspruchsmindernd zu berücksichtigen. Das
1 4 6 B A G , Urt. v. 4.9.1985 - 5 AZR 655/84 - AP Nr. 123 zu § 611 B G B Gratifikation; zu diesem Maßstab der Überprüfung vgl. auch B A G , Urt. v. 4.5.1999 - 10 A Z R 417/98 - EzA Nr. 155 zu § 6 1 1 B G B Gratifikation, Prämie. 1 4 7 B A G , Urt. v. 19.11.1992- 10 A Z R 64/91 - AP Nr. 147 zu § 6 1 1 B G B Gratifikation.
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4. Kapitel: Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
Schrifttum 148 hat diese Rechtsprechung kritisiert und dem Bundesarbeitsgericht eine inkonsequente Verwendung des Entgeltbegriffs vorgeworfen. Der zehnte Senat 149 hat im Jahre 1992 entschieden, daß zwar kraft einer tariflichen Regelung bestimmt werden kann, daß sich Zeiten ohne tatsächliche Arbeitsleistung anspruchsmindernd auf eine freiwillig gewährte Sonderzahlung auswirken können. Daraus könne aber nicht gefolgert werden, daß es Voraussetzung für einen Anspruch sei, daß der Arbeitnehmer in dem zurückliegenden Bezugszeitraum überhaupt gearbeitet habe. Wolle der Arbeitgeber bei nichtarbeitsleistungsbezogenen Sonderzahlungen die Zeiten anteilig kürzen, in denen der Arbeitnehmer tatsächlich nicht gearbeitet habe, so müsse er dies ausdrücklich vereinbaren. 150 Henssler hat seiner Anmerkung zu dieser Entscheidung 151 darauf verwiesen, daß sich der Zweck der Entlohnung erbrachter Tätigkeit bei den abwesenden Arbeitnehmern nicht realisieren könne und deshalb schon eine Anspruchsvoraussetzung fehle. 152 Ebenso hat Krebs in seiner Anmerkung 153 zu dieser Entscheidung darauf abgestellt, daß beide Zwecke - nämlich Vergütung der erbrachten Tätigkeit und Betriebstreue - sich verwirklichen lassen müssen. Dies sei bei Arbeitnehmern, die keine tatsächliche Arbeitsleistung erbrächten, nicht der Fall. Daher folge der Anspruch auf Sondervergütung im Zweifel den Regelungen, die für den im Synallagma stehenden Lohnanspruch gälten. Arbeite der Beschäftigte nicht, könne der Arbeitgeber die Abwesenheitszeiten auch ohne ein ausdrücklich vereinbartes Kürzungsrecht anteilig abziehen. 154 In der Folgeentscheidung vom 16.3.1994 155 bekräftigte der zehnte Senat seine Ansicht gegenüber der Literatur. In dem zu entscheidenden Sachverhalt hatte der auf Gewährung einer Jahressonderleistung klagende Arbeitnehmer aufgrund seiner Arbeitsunfähigkeit nur 3 Monate in dem jährlichen Bezugszeitraum arbeiten können. Die Tarifregelung sah vor, daß der Anspruch auf Sonderzahlung dann gekürzt werden konnte, wenn das Arbeitsverhältnis als 148 Anmerkung Krebs zu BAG, Urt. v. 5.8.1992 - 10 AZR 88/90 und - 10 AZR 171/91 SAE 1993, S. 251; Anmerkung Gaul zu BAG, Urt. v. 24.3.1993 - 10 AZR 160/92 - EzA Nr. 102 zu §611 BGB Gratifikation, Prämie; Anmerkung Henssler zu BAG, Urt. v. 5.8.1992 - 10 AZR 88/90 - EzA Nr. 90 zu §611 BGB Gratifikation, Prämie; zum Überblick über die Kritik an dieser Rechtsprechung des zehnten Senats vgl. Schwarz, Sonderzahlungen: Ausfall und Kürzungen bei Fehlzeiten, NZA 1996, S. 571 (S. 572 Fußnote 8). 149 BAG, Urt. v. 16.3.1994 - 10 AZR 669/92 - Nr. 162 zu §611 BGB Gratifikation und Urt. v. 5.8.1992 - 10 AZR 88/90 - AP Nr. 143 zu §611 BGB Gratifikation. 150 BAG, Urt. v. 5.8.1992 - 10 AZR 88/90-AP Nr. 143 zu §611 BGB Gratifikation. 151 BAG, Urt. v. 5.8.1992 - 10 AZR 88/90 - AP Nr. 143 zu § 611 BGB Gratifikation. 152 Anmerkung zu BAG, Urt. v. 5.8.1992 - 10 AZR 88/90 - EzA Nr. 90 zu §611 BGB Gratifikation, Prämie, S. 13. 153 SAE 1993, S. 251 (253). 154 Krebs zu BAG, Urt. v. 5.8.1992 - 10 AZR 88/90 und - 10 AZR 171/91 - SAE 1993, S. 251. 155 Urt. v. 16.3.1994 - 10 AZR 669/92 - Nr. 162 zu § 611 BGB Gratifikation.
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zwingende Nebenpflichten
173
solches nicht während des gesamten Kalenderjahres bestand. D e r Senat führte aus, daß es für den Anspruch nicht erforderlich sei, daß der A r b e i t n e h m e r in dem Bezugszeitraum eine nicht unerhebliche Zeit gearbeitet habe, wie es die frühere R e c h t s p r e c h u n g 1 5 6 verlangt habe. D i e Tarifregel stelle auf den Bestand des Arbeitsverhältnisses und nicht auf die tatsächlich erbrachte Tätigkeit ab. E i n e Auslegung des Z w e c k s der Zahlung ergebe nicht, daß es auf die tatsächlich geleistete Arbeit a n k o m m e , da die Betriebstreue belohnt werden solle. D e r Senat folgte insoweit der ständigen Rechtsprechung, daß eine Sonderzuwendung sowohl alternativ als auch kumulativ die Z w e c k e verfolgen k ö n n e , »erwiesene Betriebstreue« zu honorieren und zu zukünftiger Betriebsangehörigkeit zu motivieren. E s sei aber ein »Zirkelschluß«, darüber hinaus als weitere Voraussetzung zu verlangen, daß der A r b e i t n e h m e r im Bezugszeitraum überhaupt gearbeitet haben müsse. Sei der A r b e i t n e h m e r - wie im Falle der K r a n k heit - gerechtfertigt v o n der Arbeitsleistung befreit, so k ö n n e das M a ß der tatsächlich erbrachten A r b e i t nicht entscheidend sein. 1 5 7 Bei einer Sonderzahlung mit Mischcharakter, die nicht ausdrücklich an die tatsächliche Arbeitsleistung gekoppelt ist, berechtigt nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts nur ein ausdrücklich vorbehaltenes K ü r z u n g s - oder Ausschlußrecht den
Arbeitgeber
dazu, den A n s p r u c h einzuschränken. 1 5 8 D i e Auslegungsschwierigkeiten resultieren aus dem v o m Bundesarbeitsgericht verwendeten unklaren Entgeltbegriff. 1 5 9 W i e schon erörtert 1 6 0 , wird die G r e n z z i e h u n g zwischen Gratifikation und vertraglich vereinbarter E n t l o h nung durch diesen Begriff verwischt. N u r wenn die Gratifikation fälschlicherweise als normaler Lohnbestandteil verstanden wird, kann argumentiert werden, daß der A r b e i t n e h m e r gearbeitet haben müsse, um die Gratifikation zu erhalten und daß Fehlzeiten ohne das Erfordernis eines ausdrücklichen Kürzungsrechts berücksichtigt werden k ö n n e n . 1 6 1 D i e Auslegungsschwierigkeiten k ö n n e n j e d o c h vermieden werden, wenn auf die Auslegungsregel verzichtet wird, daß freiwillige Zahlungen im Zweifel die erbrachte Tätigkeit entlohnen sollen, und deutlicher zwischen den W i r k u n g e n getrennt wird, die der A r b e i t geber mit der Zahlung b e z w e c k t . N a c h dem hier zugrunde gelegten Auslegungsmodell ist die L ö s u n g in den umstrittenen Fällen eindeutig. Verfolgt ein rational handelnder Arbeitgeber mit der freiwilligen Zahlung sowohl den Z w e c k , die A r b e i t n e h m e r an sich zu binden, als auch im Sinne der Effizienz 156 BAG, Urt. v. 18.1.1978 - 5 AZR 56/77 - AP Nr. 92 zu § 611 BGB Gratifikation und Urt. v. 7.9.1989-6 AZR 6 3 7 / 8 8 - A P Nr. 129. 157 BAG, Urt. v. 16.3.1994 - 10 AZR 669/92 - Nr. 162 zu § 611 BGB Gratifikation Bl. 3. 158 BAG, Urt. v. 5.8.1992 - 10 AZR 88/90 - AP Nr. 143 zu § 611 BGB Gratifikation. 159 Herrmann, Anm. zu BAG, Urt. v. 16.3.1994 - 10 AZR 669/92 - Nr. 162 zu § 611 BGB Gratifikation Bl. 4. 160 Vgl. §101. 5, S. 163 ff. 161 Dazu Schwarze, Sonderzahlungen: Ausfall und Kürzung bei Fehlzeiten, NZA 1996, S. 571 (574).
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4. Kapitel: Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
lohntheorie 162 einen Anreiz für zukünftiges Verhalten zu setzen, so kann es für die zurückliegende Zeit keine Rolle spielen, ob der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat. Das Ziel, den Arbeitnehmer an sich zu binden, ist erreicht, wenn das Arbeitsverhältnis im Fälligkeitszeitpunkt oder zu dem in der Zusage bestimmten Stichtag besteht. Der Zweck, einen Anreiz für zukünftiges Verhalten zu setzen, kann sich verwirklichen, wenn der Arbeitnehmer nach dem Fälligkeitszeitpunkt arbeitet. Die erbrachte Tätigkeit ist dagegen mit der Lohnzahlung abgegolten. Sie steht nach dem hier zugrunde gelegten Auslegungsmodell in keinem Gegenseitigkeitsverhältnis mit der zusätzlichen Zahlung, die sich nur auf die genannten, zusätzlichen Zwecke bezieht. Danach spielt es für die Leistungsgewährung keine Rolle, ob der Arbeitnehmer in der Vergangenheit tatsächlich gearbeitet hat. Will der Arbeitgeber diese zurückliegenden Fehlzeiten berücksichtigen, so muß er dies ausdrücklich klarstellen. cc) Fehlzeiten bei arbeitsleistungsbezogenen
Sonderzahlungen
Von den oben erörterten nichtleistungsbezogenen Sonderzahlungen sind Leistungen in ergebnisorientierten Anreizsystemen 163 zu differenzieren, die direkt mit der erbrachten Tätigkeit verknüpft sind. 164 Die Zweckbestimmung des Arbeitgebers ist darauf gerichtet, die Arbeitnehmer durch eine Prämie, eine Provision oder eine Stundenlohnzulage zu einem bestimmten Arbeitsresultat zu motivieren. Aus dem Zweck dieser Zulagen folgt unmittelbar, daß Abwesenheitszeiten in den gesetzlichen Grenzen auch dann anteilig 165 gekürzt werden können, wenn sich der Arbeitgeber ein solches Kürzungsrecht nicht ausdrücklich vorbehalten hat. 166 Dies bedeutet, daß bei der anteiligen Kürzung von Abwesenheitszeiten in Verbindung mit einem Mutterschaftsurlaub oder einem Erziehungsurlaub zunächst zu prüfen ist, ob eine verbotene Entgeltdiskrimierung vorliegt. In einem zweiten Schritt ist zu differenzieren, ob die Leistung an ein Arbeitsresultat gekoppelt ist und damit gekürzt werden kann. Diese Systematik wird durch die europäische Rechtsprechung zur anteiligen Kürzung von Gratifikationen nicht berührt. In der Entscheidung vom 21.10.1999 167 urteilte der E u G H , daß Sonderzuwendungen Entgelt im Sinne des zu diesem Zeitpunkt noch geltenden Art. 119 EWGV seien. Zeiten, die wegen eines Beschäftigungsverbotes (Mutterschutzzeiten) zu einer Abwesenheit führen, dürfe der Arbeit-
162
Vgl. §101. 3, S. 150. Vgl. § 10 I. 3. b), S. 151. 164 BAG, Urt. v. 10.5.1995-10 AZR 6 4 8 / 9 4 - A P Nr. 174 zu §611 BGB Gratifikation. 165 Nach §4a EntgeltfortzG darf die Kürzung bei krankheitsbedingten Fehlzeiten pro Krankheitstag ein Viertel des täglichen Arbeitsentgelts nicht überschreiten, das sich im Jahresdurchschnitt ergibt. 166 BAG, Urt. v. 8.9.1998 - 9 AZR 273/97 - AP Nr. 2 zu § 611 BGB Tantieme. 167 Lewen./. Denda - Rs. C - 333/97 EzA Nr. 57 zu Art. 119 EWG-Vertrag. 163
§ 10: Vertragskonkretisierende
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Nebenpflichten
175
geber wegen eines Verstoßes gegen Art. 119 EWGV nicht leistungsmindernd berücksichtigen. Dagegen sei eine anteilige Kürzung der Abwesenheitszeiten im Erziehungsurlaub dann zulässig, wenn die Zahlung von dem tatsächlichen Einsatz des Arbeitnehmers abhänge. Ob die Zahlung diese Voraussetzung habe, beurteile sich nach nationalem Recht.
6.
Zusammenfassung
Dem Bundesarbeitsgericht kann in seinen Auslegungsregeln zur Zweckbestimmung einer freiwilligen Entgeltleistung nicht gefolgt werden. Freiwillige Sonderzahlungen sind zwar Entgelt, sie sollen aber im Zweifel nicht die bereits erbrachte Tätigkeit neu bewerten, sondern einen Motivationsanreiz für die künftig zu erbringende tatsächliche Arbeitsleistung setzen. Die Sonderzahlung mit Mischcharakter hat im Zweifel den Zweck eines Effizienzlohns. 1 6 8 Diese Zweifelsregelung kommt nicht zur Anwendung, wenn der Wortlaut oder die Vergabepraxis dafür sprechen, daß ausschließlich die Zeit honoriert werden soll, in der das Arbeitsverhältnis als solches besteht. Das ist der Fall, wenn der Arbeitgeber die Gratifikation nur dann auszahlt, falls das Arbeitverhältnis zum Fälligkeitszeitpunkt oder einem anderen Stichtag ungekündigt weiterbesteht. Liegt eine Zahlung mit Mischcharakter vor, sind ausgeschiedene Arbeitnehmer schon vom Zweck der Zahlung nicht umfaßt. In der Zusage muß sich der Arbeitgeber kein ausdrückliches Ausschlußrecht vorbehalten. N u r wenn der Zusage deutlich zu entnehmen ist, daß die vergangene, in dem Arbeitsverhältnis erbrachte Zeit honoriert werden soll, z.B. durch Festsetzung einer Mindestbetriebsangehörigkeit oder einer Stichtagsregelung, sind auch Arbeitnehmer einzubeziehen, die nach Fälligkeit der Leistung ausscheiden. Der Arbeitgeber kann Fehlzeiten bei nichtarbeitsleistungsbezogenen Sonderzahlungen nur dann kürzen, wenn er sich ein Kürzungsrecht vorbehalten hat. Der Zweck, den Arbeitnehmer an das Arbeitsverhältnis zu binden, ist erreicht, wenn das Arbeitsverhältnis als solches besteht. Dagegen kann er ohne Vereinbarung eines Ausschlußrechts Arbeitnehmer von der Leistungsvergabe ausschließen oder deren Zulagen kürzen, wenn sie nach dem Fälligkeitszeitpunkt ausscheiden oder zeitlich danach die geschuldete Tätigkeit nicht leisten.
168
Vgl. §10 1.3, S. 151.
176
4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpfliehtbegründung
II. Informationspflichten 1.
Ausgangsproblematik
D e r U m f a n g und die G r e n z e n von Informationspflichten des Arbeitgebers gegenüber dem A r b e i t n e h m e r haben in zwei Fällen besondere praktische R e l e vanz: vor dem A b s c h l u ß des Arbeitsvertrags und des Aufhebungsvertrags. 1 6 9 D a b e i kann den Arbeitgeber theoretisch die Pflicht treffen, nur auf eine entsprechende Frage des Arbeitnehmers die Information preiszugeben
(Aus-
kunftspflicht). E r kann aber auch ohne vorherige Frage verpflichtet sein, Informationen von sich aus preiszugeben ( O f f e n b a r u n g s p f l i c h t ) . 1 7 0 D i e s e zwei Arten von Informationspflichten müssen getrennt werden. D a s Bundesarbeitsgericht sieht den G r u n d dieser Pflichten in der F ü r s o r g e pflicht des Arbeitgebers. 1 7 1 D e r A r b e i t n e h m e r m u ß berechtigterweise darauf vertrauen k ö n n e n , daß der Arbeitgeber ihn über bestimmte U m s t ä n d e informiert. 1 7 2 O h n e Angabe der Kriterien, wann das Vertrauen als berechtigt anzuerkennen ist, führt diese Argumentation jedoch in die Tautologie: »Schutzwürdig
169 Vgl. zur Rechtsprechung zu vorvertraglichen Aufklärungspflichten: BAG, Urt. v. 8.3.1977- 4 AZR 700/75 - BB 1977, S. 1705 und 24.9.1974 - 3 AZR 589/73 - NZA 1975, S. 708 (Aufklärungspflicht über bevorstehende finanzielle Schwierigkeiten, die Löhne auszuzahlen); BAG, Urt. v. 12.12.1957 - 2 AZR 574/55 - AP Nr. 2 zu § 276 BGB Verschulden vor Vertragsschluß (keine Aufklärungspflicht über allgemeine Marktverhältnisse); zu Aufklärungs- und Hinweispflichten im Zusammenhang mit einem Aufhebungsvertrag: BAG, Urt. v. 10.3.1988 8 AZR 420/85 - AP Nr. 99 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht; v. 18.9.1984 u. 13.11.1984 - 3 AZR 118/82 u. 255/84 - AP Nr. 6 u. 5 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen. Vgl. zur Literatur zu vorvertraglichen Aufklärungspflichten: ErfK-Preis § 611 BGB Rz. 340; Kursave, Die Aufklärungspflichten des Arbeitgebers bei Abschluß von Arbeitsverträgen, NZA 1997, S.245; Hemming, Die Aufklärungspflichten des Arbeitgebers (1997); Becker-Schaffner, Umfang und Grenzen der arbeitgeberischen Hinweis- und Aufklärungspflichten, BB 1993, S. 1281; Zu Aufklärungs- und Hinweispflichten bei Aufhebungsverträgen: Bauer, Arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge (1997) Rz. 82; Hoß/Ehrich, Hinweis- und Aufklärungspflichten des Arbeitgebers beim Abschluß von Aufhebungsverträgen, DB 1997, S. 625; Wisskirchen/Worzalla, Aktuelle Fragen zu arbeitsrechtlichen AufhebungsVerträgen, DB 1994, S. 577; Nägele, Aufklärungs- und Hinweispflichten des Arbeitgebers bei Abschluß eines Aufhebungsvertrages, BB 1992, S. 1274. 170 Die Terminologie zur Bezeichnung der Pflichten ist uneinheitlich. Z.T. werden die hier als Offenbarungspflichten bezeichneten Pflichten auch als Aufklärungspflichten bezeichnet, so bei Breidenbach, Die Voraussetzungen von Informationspflichten beim Vertragsschluß (1989), S. 2 und Kursave, Die Aufklärungspflichten des Arbeitgebers bei Abschluß von Arbeitsverträgen, NZA 1997, S. 245 (446). Der Begriff Offenbarungspflichten wird dagegen auch von Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht (1998), S. 148 verwendet. Er kennzeichnet deutlicher, daß die Informationen von sich aus gegeben werden müssen. 171 BAG, Urt. v. 10.3.1988 - 8 AZR 420/85 - AP Nr. 99 zu §611 BGB Fürsorgepflicht; BAG, Urt. v. 13.11.1984 - 3 AZR 255/84 - AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskasse; für vorvertragliche Aufklärungspflichten BAG, Urt. v.12.12.1957 - 2 AZR 574/55 - AP Nr. 2 zu § 276 BGB Verschulden bei Vertragsschluß. 172 BAG, Urt. v. 10.3.1988,-8 AZR 4 2 0 / 8 5 - A P Nr. 99 zu §611 BGB Fürsorgepflicht.
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende
Nebenpflicbten
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ist das berechtigte, berechtigt das schutzwürdige Vertrauen.« 173 Ebenso verfehlt ist es, Aufklärungspflichten gemäß dem Fürsorgegedanken auf die Konzeption eines »Sozialschutzes« 174 des Arbeitnehmers zu stützen. Informationsdefizite einer Partei hängen nicht von der sozialen Stellung ab, sondern vom Wissen um tatsächliche Umstände. Ein »Sozialschutz«, der einer verhandlungsunterlegenen Partei eine Entscheidungshilfe geben soll, kann über Informationspflichten ohnehin nicht erreicht werden. Informationspflichten können nur die Basis für eine rationale Entscheidung sicherstellen. Sie können nicht gewährleisten, daß sich die Partei auf dieser Grundlage auch rational entscheidet. 175 Die Rechtsprechung zu Informationspflichten im Arbeitsrecht ist uneinheitlich. Zum Teil stützt sich das Bundesarbeitsgericht auf den zivilrechtlichen Grundsatz 1 7 6 , daß sich jede Vertragspartei selbst die vertragswesentlichen Informationen beschaffen muß. Diese Entscheidungen beziehen sich auf die Situation vor Abschluß des Arbeitsvertrags. So muß der Arbeitgeber beispielsweise nicht über das allgemein bekannte Risiko aufklären, daß der Arbeitnehmer eine neu angetretene Stelle innerhalb der Probezeit verlieren kann. Dies gilt auch, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor aus einem bestehenden, kündigungsschutzrechtlich gesicherten Arbeitsverhältnis abgeworben hat. 177 Ebenso muß der Arbeitnehmer außerhalb der gem. § 2 Abs. 1 Nr. 10 NachwG gesetzlich statuierten Pflicht des Arbeitgebers nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts die für das Arbeitsverhältnis relevanten Rechts 178 - und Tarifvorschrif-
173 Leenen, Die vatrechts, in: O k k o (113). 174 Leenen, Die vatrechts, in: O k k o
(114).
Funktionsbedingungen von Verkehrssystemen in der Dogmatik des PriBehrends (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft (1989), S. 108 Funktionsbedingungen von Verkehrssystemen in der Dogmatik des PriBehrends (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft (1989), S. 108
175 Breidenbach, Die Voraussetzungen der Informationspflichten beim Vertragsschluß (1989), S. 27. 176 MünchKomm/fmmericA, Vor §275 BGB Rz. 79; MüchKomm/Äot/>, §242 BGB Rz. 215; Wiedemann, Zur Culpa in Contrahendo beim Abschluß des Arbeitsvertrages, in: Müller/Hanau/Wiedemann/Wlotzke (Hrsg.), Festschrift Herschel (1982), S.463 (466) zur Geltung dieses Grundsatzes im Arbeitsrecht. 177 BAG v. 12.12.1957 - 2 AZR/55 - AP Nr. 2 zu §276 BGB Verschulden bei Vertragsschluß und auch BAG v. 13.6.1996 - 8 AZR 415/94 - ArbuR 1996, S.404 keine Aufklärung über allgemeine Marktverhältnisse. 178 BAG, Urt. v. 26.6.1996 - 5 AZR 872/94 - AP Nr. 2 zu § 3 EntgeltFG (keine Hinweispflicht auf Verlängerung der Arbeitserlaubnis); BAG, Urt. v. 10.3.1988 - 8 AZR 420/85 - n.v. juris-Nr. KARE337030435; L A G Berlin Urt. v. 18.1.1999 - 9 Sa 107/98, N Z A - R R 1999, S. 179 (keine Aufklärungspflicht über mögliche steuerrechtliche Vergünstigungen); A r b G Frankfurt Urt. v. 21.11.1995 - 4 Ca 3589/95, n.v. juris Nr. KARE 488110104.
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4. Kapitel: Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
t e n 1 7 9 selbst kennen, so daß keine Informationspflicht des Arbeitgebers besteht. 1 8 0 W i e das Bundesarbeitsgericht 1 8 1 ausgeführt hat, ist es »einem in der Mitte des 20. Jahrhunderts lebenden Menschen ... zuzumuten, sich die Rechtskenntnisse zu verschaffen, die er im Arbeitsleben für die Wahr nehmung seiner sozialen Sicherheit braucht. Hierfür stehen ihm in ausreichenden Maße sachkundige Interessenverbände und Organisationen sowie sonstige Informationsmittel zur Verfügung.«
In einer neueren Entscheidung hat das Bundesarbeitsgericht diese R e c h t s p r e chung bestätigt und ausgeführt, daß es »grundsätzlich Sache des A r b e i t n e h mers« ist, »sich selbst über die für ihn maßgebenden sozialrechtlichen Regelungen zu informieren und die ihm sachgerecht erscheinenden Anträge zu stell e n . « 1 8 2 In diesem Sachverhalt betraf der v o m A r b e i t n e h m e r verlangte H i n w e i s eine für ihn nachteilige Tarifregelung (§ 71 Abs. 2 B A T ) , nach der er erhaltene K r a n k e n b e z ü g e wegen des gleichzeitigen Bezugs von rentenersetzendem U b e r gangsgeld zurückzahlen mußte. D e r A r b e i t n e h m e r war der Ansicht, der Arbeitgeber hätte ihn vor Zahlung der K r a n k e n b e z ü g e auf die tarifliche R ü c k z a h lungsverpflichtung hinweisen müssen. Diese Pflicht verneinte das Bundesarbeitsgericht. Diese klare Linie verläßt das Bundesarbeitsgericht, wenn es u m die B e g r ü n dung von Informationspflichten vor A b s c h l u ß eines Aufhebungsvertrags geht. D e r Arbeitgeber soll den A r b e i t n e h m e r auch außerhalb des A n w e n d u n g s b e reichs von § 2 Abs. 6 B e t r A V G auf Versorgungsnachteile wegen seines vorzeitigen Ausscheidens hinweisen, weil er »durch eine sachgerechte und v o m A r b e i t nehmer redlicherweise zu erwartende Aufklärung v o r der Auflösung des Arbeitsverhältnisses bewahrt werden m u ß , weil er sich durch sie in B e z u g auf die
1 7 9 BAG, Urt. v. 30.9.1999 - 6 AZR 130/98 - N Z A 2000, S. 547; BAG, Urt. v. 6.7.1972 - 5 AZR 100/72 - AP Nr. 1 zu § 8 T V G 1969. 1 8 0 Zwar ist diese Informationslast des Arbeitnehmers hinsichtlich tarifvertraglicher Verfallfristen von der instanzgerichtlichen Rechtsprechung angezweifelt worden (LAG Schleswig-Holstein Urt. V. 8.2.2000 - 1 Sa 563/99 -n.rkr., D B 2000, S. 724). Dem Nachweisgesetz genügt der Arbeitgeber jedoch durch einen allgemeinen Hinweis auf den geltenden Tarifvertrag. Er ist nicht gehalten, den Arbeitnehmer zu seinem eigenen Nachteil auf konkrete tarifliche Ausschluß- und Verfallfristen hinzuweisen, um deren Einhaltung sich der Arbeitnehmer im Eigeninteresse kümmern muß und kann, da es sich um zugängliche Informationen handelt. Aufklärung über Verfall- und Ausschlußfristen muß vielmehr die vertretende Gewerkschaft im Interesse ihrer Mitglieder leisten. 181 Urt. v. 6.7.1972 - 5 AZR 100/72 - AP Nr. 1 zu § 8 T V G 1969. In dieser Entscheidung ging es um die Frage, ob der Arbeitgeber über die Allgemeinverbindlichkeit eines Tarifvertrags aufklären muß. Zwar ist eine entsprechende Hinweispflicht durch das Nachweisgesetz begründet worden. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, daß sich über den Anwendungsbereich des Nachweisgesetzes hinaus der in der Rechtsprechung zugrunde zulegende Maßstab verändert hat. 1 8 2 BAG, Urt. v. 30.9.1999 - 6 AZR 130/98 - NZA 2000, S. 547.
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Altersversorgung aus U n k e n n t n i s selbst schädigen w ü r d e . « 1 8 3 Diese R e c h t sprechung hat das Bundesarbeitsgericht auf solche Nachteile übertragen, die sich in sozialrechtlicher H i n s i c h t aus der Auflösung des Arbeitsverhältnisses ergeben k ö n n e n . 1 8 4 D e r Arbeitgeber soll danach auch ohne entsprechende F r a ge des Arbeitnehmers auf rechtliche Risiken hinweisen, wenn er selbst den A u f lösungsvertrag initiiert 1 8 5 und der A r b e i t n e h m e r nach der Verkehrsanschauung einen derartigen H i n w e i s redlicherweise erwarten darf. D e r Arbeitgeber kann sich nach dieser Rechtsprechung allerdings darauf beschränken, den A r b e i t n e h mer an eine fachkundige Stelle wie z . B . das Arbeitsamt zu verweisen. G i b t er dagegen selbst eine A u s k u n f t über mögliche versorgungsrechtliche oder sozialrechtliche Nachteile, so haftet er für die Richtigkeit dieser I n f o r m a t i o n . D e r Arbeitgeber hat dagegen keine Informationspflicht, wenn der A r b e i t n e h m e r selbst u m den Auflösungsvertrag gebeten hat. Das Bundesarbeitsgericht geht in dieser Situation davon aus, daß sich der A r b e i t n e h m e r seinen E n t s c h l u ß und die damit verbundenen rechtlichen F o l g e n überlegt hat und weitere I n f o r m a t i o n e n obsolet sind. 1 8 6 D i e Literatur hat diese R e c h t s p r e c h u n g zu den Informationspflichten vor A b s c h l u ß eines Aufhebungsvertrags als zu weitgehend 1 8 7 kritisiert. In der instanzgerichtlichen R e c h t s p r e c h u n g 1 8 8 wird dagegen zum Teil versucht, diese Pflichten n o c h auszuweiten. E s wird b e t o n t 1 8 9 , daß der A r b e i t n e h m e r ohne eine Hinweispflicht auf mögliche Nachteile vor A b s c h l u ß eines Aufhebungsvertrags »überrumpelt« werde und deshalb ohne rechtlich gewährleistete B e d e n k zeit oder die M ö g l i c h k e i t z u m Widerruf keine freie Entscheidung treffen k ö n ne. Das zugrunde gelegte Modell einer prinzipiengeleiteten Argumentation bietet ein einheitliches Bewertungsschema, nach dem Qualität, U m f a n g und G r e n z e n der Informationspflichten nachvollziehbar erklärt werden k ö n n e n . 183 BAG, Urt. v. 13.11.1984 - 3 AZR 255/84 - AP Nr. 5 zu § BetrAVG Zusatzversorgungskassen; vgl. auch BAG, Urt. v. 17.10.2000 - 3 AZR 605/99 - DB 2001, S. 286. 184 BAG, Urt. v. 10.3.1988 - 8 AZR 420/85 - AP Nr. 99 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht. 185 BAG, Urt. v. 13.11.1984 - 3 AZR 255/84 - AP Nr. 5 zu § BetrAVG Zusatzversorgungskassen. 186 BAG v. 18.9.1984 - 3 AZR 118/82 - AP Nr. 6 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskasse. 187 Bauer, Arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge (1997), S. 25, wonach der Arbeitnehmer sich selbst informieren muß; Hoß/Ehrich, Hinweis- und Aufklärungspflichten des Arbeitgebers beim Abschluß von Aufhebungsverträgen, DB 1997, S. 625 (626) keine Aufklärungspflicht bei anwaltlicher Vertretung des Arbeitnehmers. 188 Dazu insbesondere die instanzgerichliche Rechtsprechung des ArbG Wetzlar Urt. v. 29.8.1995 - 1 Ca 273/95 - NZA-RR 1996, S. 84 und v. 7.8.1990 - 1 Ca 48/90 - DB 1991, S. 976, wonach der Arbeitgeber über sozialrechtliche Nachteile des Aufhebungsvertrags aufklären muß; so auch ArbG Freiburg Urt. v. 20.6.1991 -2 Ca 145/91 - DB 1991, S. 2600; auf einen Schutz vor Überrumpelung und damit auf die Einräumung einer Bedenkzeit für den Arbeitnehmer stellen ab: ArbG Hamburg Urt. v. 10.12.1990 BB 1991, S. 625; LAG Hamburg Urt. v. 3.7.1991 u. v. 20.8.1992 - 5 Sa 20/91u. 2 Sa 16/92 - LAGE Nr. 6 u. Nr. 9 zu § 611 BGB Aufhebungsvertrag. 189 ArbG Wetzlar Urt. v. 29.8.1995 - 1 Ca 273/95 - NZA-RR 1996, S. 84.
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der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
Rational handelnde Vertragsparteien werden den Vertrag nur dann abschließen, wenn er das geeignete Mittel ist, um das von ihnen angestrebte Ziel zu erreichen. Da die Vertragsparteien nur in Grenzen Informationen sammeln und verarbeiten können 1 9 0 , steht nicht eine vollständige Aufklärung über die Rahmenbedingungen des Vertrags, sondern die Koordination der gegenseitigen Erwartungen im Mittelpunkt der Informationspflichten. 1 9 1 Es muß entschieden werden, ob die wissende Vertragspartei die Unkenntnis der anderen für sich als Marktvorteil ausnutzen darf oder ob sie der anderen Partei (zu ihrem eigenen Nachteil) die Information mitteilen muß. Es ist damit, wie es das Bundesarbeitsgericht 1 9 2 formuliert hat, dem »Eigennutz« dann eine Grenze zu ziehen, wenn er den »schutzwürdigen Lebensbereich des anderen Teil« berührt. Nach der zugrunde gelegten prinzipiengeleiteten Argumentation können Erwartungen des Arbeitnehmers nur dann verrechtlicht werden, wenn die Parteien die zu regelnde Frage nicht selbst beantworten können und eine rechtliche Aquivalenzstörung des Vertrags droht. 1 9 3 Die Informationspflichten sichern insoweit, daß die Parteien eine Grundlage für ihre rationale Entscheidung haben. Damit rationale Parteien beurteilen können, ob sich der Vertragsschluß für sie lohnt - also nach ihrer Zwecksetzung Leistung und Gegenleistung äquivalent sind —, müssen sie zutreffende Informationen über die wesentlichen Vertragsbedingungen haben. Wesentlich und aus rechtlicher Sicht relevant sind nach dem Prinzip der Vertragsgerechtigkeit nur die Informationen, deren Fehlen typischerweise eine Äquivalenzstörung begründet. Eine Verrechtlichung ist nicht notwendig, wenn zwar beide Parteien den Umstand nicht kennen, es ihnen aber mit gleichem Kostenaufwand möglich ist, die Information zu erlan194
gen.1" Folglich setzt die judizielle Begründung einer Informationspflicht als erste Bedingung voraus, daß das Wissen und die Kosten zur Informationsbeschaf-
Vgl. § 7 III. 3, S. 119. Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), S.257; Breidenbach, Die Voraussetzungen von Informationspflichten beim Vertragsschluß (1989), S. 27. 192 Urt.v. 1 3 . 1 1 . 1 9 8 4 - 3 A Z R 2 5 5 / 8 4 - A P Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskasse. 1 9 3 Nach anderen Kriterien soll sich eine effizienzorientierte Begründung von Informationspflichten richten. Danach ist es entscheidend, Anreize zu setzen, damit sogenannte produktive Informationen gesammelt werden, die den Wert der Ressource erhöhen (dazu Schäfer, Ökonomische Analyse von Aufklärungspflichten, in: Schäfer/Ott (Hrsg.), Ökonomische Probleme des Zivilrechts (1991), S. 117). Werden Informationen allen Marktteilnehmern gleich eröffnet, besteht kein Anreiz mehr, die Informationen zu verbessern ( Schredelseker, Zur ökonomischen Theorie der Publizität, in: Schäfer/Ott (Hrsg.), Effiziente Verhaltenssteuerung und Kooperation im Zivilrecht, Tübingen (1997), S. 214 (223). Hat daher eine Partei Nachforschungskosten auf sich genommen, kann keine kostenlose Aufklärungspflicht statuiert werden. Eine effizienzorientierte Betrachtungsweise scheidet aber aus den oben genannten Gründen aus vgl. § 5 I. 3. 194 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000),S. 484. 190 191
5 10: Vertragskonkretisierende
fung asymmetrisch verteilt sind.
195
zwingende
Nebenpflichten
181
Ein derartiges Sonderwissen beruht auf
Informationen, die nur einem Vertragspartner aufgrund seiner besonderen Nähe zu dem Informationsgegenstand gegeben sind und die von dem anderen Vertragspartner nur mit unverhältnismäßig hohen Kosten in Erfahrung gebracht werden können. Schulbeispiel dafür ist die Auskunftspflicht des Arbeitnehmers auf die Frage des Arbeitgebers nach Vorstrafen, die für das Arbeitsverhältnis relevant sein können. N u r theoretisch ist es denkbar, daß sich der Arbeitgeber diese Information mit unverhältnismäßig hohen Kosten beschaffen läßt. D e r Arbeitnehmer, der insoweit über präsentes vertragsrelevantes Wissen verfügt, muß dieses auf Frage preisgeben. Hinsichtlich des präsenten Wissens muß freilich differenziert werden. D e r Arbeitgeber kann nicht verpflichtet werden, jegliches vorhandene Wissen aufzudecken. Eine Informationspflicht ist unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dann nicht sinnvoll und widerspricht dem Interesse einer rational handelnden Partei, wenn die aufklärungspflichtige Partei selbst zuvor investiert hat, um die Information und daraus resultierend einen Marktvorteil zu erlangen. 1 9 6 M u ß das mit besonderen Kosten gewonnene Wissen dagegen kostenlos weitergegeben werden, so verschwindet der wirtschaftliche Anreiz, Informationen zu sammeln und verarbeiten. D e r Arbeitgeber kann daher nicht verpflichtet werden, seine Personalpolitik gegenüber dem Arbeitnehmer aufzudecken. O b und inwieweit er in die Ausbildung der Arbeitnehmer investiert oder welche Betriebe er langfristig verändern will, unterliegt seiner freien unternehmerischen Planung als Auswertung der für ihn interessanten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Verwertet der Arbeitgeber Informationen in einer derartigen Planung, dann investiert er, um Marktvorteile in seiner Personalpolitik nutzen zu können. O b w o h l solche Planungen direkt vertragsrelevant für den Arbeitnehmer sind, trifft den Arbeitgeber grundsätzlich 195 Ott, Vorvertragliche Aufklärungspflichten im Recht des Güter- und Leistungsaustausches, in: Schäfer/Ott (Hrsg.), Ökonomische Probleme des Zivilrechts (1991), S. 142 (155). Nach Breidenbach, Die Voraussetzungen von Informationspflichten beim Vertragsschluß (1989), S. 62 und MünchKomm-Äoi/; § 242 B G B Rz. 216 spielen drei Kriterien eine Rolle: Der Informationsbedarf, die Informationsmöglichkeit und die nach dem Vertrag ausgeübte Funktion und damit übernommene Verantwortung des Auskunftspflichtigen. 196 Kronman, Mistake, Disclosure, Information, And The Law O f Contracts, 7 (1978) Journal O f Legal Studies 1 (13); Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 484, die im Gegensatz zu Kronman zwischen produktiven und unproduktiven Informationen trennen; Adams, Irrtümer und Offenbarungspflichten im Vertragsrecht, AcP 186 (1986), S. 453 (475); MünchKomm-i?of/!> Vor § 275 B G B Rz. 82; vgl. auch B G H , Urt. v. 29.1.1993 - V ZR 227/91 - N J W 1993, S. 1643 (1644): »Weiß der Kaufinteressent dagegen, daß mit einem bestimmten Risiko zu rechnen ist und daß sein Vertragsgegner hierzu ganz konkrete besondere Kenntnisse gegen Entgelt erworben hat, deren Preisgabe er seinerseits von einer Vergütung abhängig macht, so liegt es an ihm, ob er den Vertragsschluß von der O f fenlegung der Kenntnisse abhängig machen oder den Vertrag mit dem vorgesehenen Inhalt schließen und das damit ihm zugeschobene Risiko übernehmen will.«
182
4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
keine Informationspflicht. Eine Ausnahme davon besteht nur in dem Fall, in dem die Informationspflicht vor Abschluß des Arbeitsvertrags erforderlich ist, um eine Aquivalenzstörung zu verhindern. So muß der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über finanzielle Schwierigkeiten informieren, welche die Lohnzahlung unmittelbar nach Vertragsabschluß in diesem Betrieb gefährden. 197 Die Rechtsprechung kann danach Informationspflichten unter den folgenden Voraussetzungen begründen: -
Die Information über eine vertragsrelevante Tatsache, deren Fehlen eine Aquivalenzstörung nach sich zieht, muß asymmetrisch verteilt sein,
-
es muß sich dabei entweder um Sonderwissen einer Partei handeln, das die andere nur mit unverhältnismäßig hohen Kosten in Erfahrung bringen kann und das die eine Partei nicht durch freiwillige Investitionen erlangt hat, oder es handelt sich um präsentes Wissen, das ebenfalls nicht durch eine freiwillige Investition erlangt worden ist.
-
Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu Informationspflichten vor Abschluß des Arbeitsvertrags und des Aufhebungsvertrags weicht, wie im Folgenden gezeigt wird, zum Teil von diesem Schema ab. Während die Informationspflichten vor Abschluß des Arbeitsvertrags um Offenbarungspflichten des Arbeitgebers über typische Gesundheitsgefahren ergänzt werden müssen, können die von der Rechtsprechung entwickelten Informationspflichten vor Abschluß des Aufhebungsvertrags nicht nach den genannten Voraussetzungen gerechtfertigt werden. 2. Offenbarungspflichten a) Offenbarungs-
oder
vor Abschluß
des
Arbeitsvertrags
Aufklärungspflichtenf
Bevor auf den Umfang und die Grenzen der Informationspflichten vor Abschluß des Arbeitsvertrags einzugehen ist, muß in einem ersten Schritt geklärt werden, warum Sonderwissen in einigen Fällen erst auf eine entsprechende Frage preisgegeben werden muß (Aufklärungspflicht) und warum in anderen Fällen dagegen ohne eine entsprechende Frage eine Offenbarungspflicht besteht. Eine Offenbarungspflicht des Arbeitgebers ist in zwei Fällen anzunehmen. Zum einen können dem Arbeitnehmer schon die erforderlichen Informationen fehlen, um die Frage zu stellen (fehlendes Basiswissen). Eine solche Konstellation lag der Entscheidung des L A G Hessen vom 13.1.1993 1 9 8 zugrunde. Der Arbeitgeber hatte dort in seiner Stellenannonce ein Mindestgehalt angegeben, das nur von wenigen Arbeitnehmern in seinem Betrieb überhaupt erreicht wur1 9 7 Diese Situation lag den Entscheidungen B A G , Urt. v. 8.3.1977 - 4 A 2 R 700/75 - B B 1977, S. 1705 und B A G , Urt. v. 24.9.1974 - 3 A Z R 589/73 - N Z A 1975, S. 708 zugrunde. 1 9 8 2 Sa 5 2 2 / 9 2 - N Z A 1984, S. 884.
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende Nebenpflichten
183
de. Im Bewerbungsgespräch hätte er den Arbeitnehmer über diesen Umstand aufklären müssen, der von der Richtigkeit der Angabe in der Stellenanzeige überzeugt war. Ebenso muß der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über untypische zukünftige Arbeitsanforderungen aufklären, mit denen der Arbeitnehmer nicht rechnen kann. 199 Eine Offenbarungspflicht besteht darüber hinaus, wenn der Arbeitnehmer mit der Frage nach der für den Arbeitgeber nachteiligen, aber für ihn selbst notwendigen Information seine Verhandlungsposition so verschlechtert, daß der Arbeitgeber den Vertrag voraussichtlich nicht mit ihm abschließt (Verschlechterung der Verhandlungsposition). Muß der Arbeitnehmer vor Abschluß des Arbeitsvertrags eine für den Arbeitgeber ungünstige Information erst erfragen, wird ein rational handelnder Arbeitgeber diesen Bewerber angesichts einer Marktalternative nicht einstellen. Deutlich wird dies bei der Frage nach etwaigen Gesundheitsrisiken der zukünftigen Tätigkeit. Fragt der Arbeitnehmer im Vorstellungsgespräch nach Gesundheitsrisiken, so kann der Arbeitgeber zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht beurteilen, ob es sich um einen »ehrlichen« künftigen Mitarbeiter handelt oder ob der Bewerber seine Schutzrechte mißbrauchen und den Arbeitgeber letztlich mehr kosten als ihm nützen wird. 200 Da der Arbeitgeber den »Typus« des Arbeitnehmers nicht erkennen kann, handelt er rational, wenn er denjenigen Arbeitnehmer einstellt, der nicht nach möglichen Gesundheitsrisiken fragt. Diese Situation tritt freilich nur dann ein, wenn der Arbeitgeber kein Eigeninteresse daran hat, die Information selbst preiszugeben. Der Arbeitgeber handelte irrational, wenn er Gesundheitsrisiken von sich aus aufdeckte, da eine derartige Unternehmenspolitik adverse Effekte nach sich zöge. 201 Im Zweifel werden solche Bewerbungsgespräche gerade auch für solche Arbeitnehmer interessant, die bereit sind, ihre Rechte zu mißbrauchen. Diese Marktsituation vor Abschluß des Arbeitsvertrags kann jedoch nur dann ausgeglichen werden, wenn allen Arbeitgebern eine Offenbarungspflicht auferlegt wird, so daß dem einzelnen Arbeitgeber keine Nachteile entstehen.Vor dem Hintergrund dieser Marktsituation erklärt sich, warum Offenbarungspflichten unabdingbar sind. In der Literatur 202 werden judiziell begründete Aufklärungspflichten für ab199 BAG, Urt. v. 12.12.1957 - 2 AZR 574/55 - AP Nr. 2 zu § 276 BGB Verschulden bei Vertragsschluß. 200 Kamiat, Labor And Lemons: Efficient Norms In The Internal Labor Market And Possible Failures Of Individual Contracting, 144 (1996) University Of Pennsylvania Law Review 1953. 201 Kamiat, Labor And Lemons: Efficient Norms In The Internal Labor Market And Possible Failures Of Individual Contracting, 144 (1996) University Of Pennsylvania Law Review 1953 (1959). 202 Hoß/Ehrich, Hinweis- und Aufklärungspflichten des Arbeitgebers beim Abschluß von Aufhebungsverträgen, DB 1997, S.627. Nach den Rechtsgrundlagen der Aufklärungspflicht differenziert Hemming, Die Aufklärungspflichten des Arbeitgebers (1997), S. 145 f.
184
4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpßichtbegründung
dingbar gehalten, ohne daß j e d o c h zwischen O f f e n b a r u n g s - und Aufklärungspflichten getrennt wird. B e s t e h t eine Marktsituation, in welcher der Vertragsabschluß durch die Frage gefährdet wird, kann der A r b e i t n e h m e r nicht auf die Offenbarungspflicht verzichten. E i n rational handelnder Arbeitgeber wird ansonsten einen Verzicht auf diese für ihn nachteiligen I n f o r m a t i o n e n mit dem A r b e i t n e h m e r vereinbaren. L e h n t der A r b e i t n e h m e r in der Marktsituation vor A b s c h l u ß des Arbeitsvertrags eine derartige Verzichtserklärung ab, so gefährdet er wiederum den Vertragsabschluß.
b) Umfang der Offenbarungspflicht über mögliche Gesundheitsrisiken
am Beispiel der
Aufklärung
W i e erörtert, geht das Bundesarbeitsgericht bei der Begründung v o n I n f o r m a tionspflichten vor A b s c h l u ß des Arbeitsvertrags davon aus, daß sich jede Partei selbst über die vertragsrelevanten Tatsachen informieren muß. N u r im Fall vertragsrelevanten Sonderwissens bestehen Informationspflichten. T r o t z der H i n weise in der arbeitsrechtlichen Literatur 2 0 3 und der in § 12 A r b S c h G für alle Arbeitsverhältnisse 2 0 4
geregelten Unterweisungspflicht
des Arbeitgebers
sind
U m f a n g und G r e n z e n einer Offenbarungspflicht über typische Gesundheitsrisiken vor Vertragsabschluß unklar, o b w o h l es sich dabei klassischerweise um vertragsrelevantes und asymmetrisch verteiltes Sonderwissen des Arbeitgebers handelt.
aa) Voraussetzung und Grenzen der über Gesundheitsgefahren
Offenbarungspflicht
Voraussetzung für eine Offenbarungspflicht über Gesundheitsgefahren ist ein erkennbares Informationsgefälle zwischen den Parteien, das für den Vertragsabschluß wesentliches Wissen betrifft. E s ist bereits erörtert w o r d e n 2 0 5 , daß der A r b e i t n e h m e r vor dem H i n t e r g r u n d der Marktsituation ein berechtigtes Interesse daran hat, daß der Arbeitgeber von sich aus, also ohne eine entsprechende Frage des Arbeitnehmers, typische Gesundheitsrisiken aufdeckt. Ein rational handelnder A r b e i t n e h m e r wird den Vertrag nur dann abschließen, wenn er für ihn vorteilhaft ist. D a b e i wird der A r b e i t n e h m e r in einer K o s t e n - N u t z e n r e l a tion auch mögliche Gesundheitsgefährdungen zu berücksichtigen haben, die seine Arbeitskraft und damit sein auf dem M a r k t einsatzfähiges Kapital verringern oder aufheben k ö n n e n . D i e I n f o r m a t i o n e n über typische Gesundheitsge203 Hemming, Die Aufklärungspflichten des Arbeitgebers (1997), S. 76; Derleder, Unterlegenenschutz im Vertragsrecht - Ein Modell für das Arbeitsrecht?, KJ 1995, S. 320 (337); Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht (1998), S. 150; für zivilrechtliche Verträge Soergel-Wiedemann Vor §275 Rz. 169. 204 Wlotzke, Das betriebliche Arbeitsschutzrecht - Ist-Zustand und künftige Aufgaben, NZA2000, S. 19. 205 Vgl. § 10 II. 2. a), S. 182.
5 10: Vertragskonkretisierende
zwingende Nebenpflichten
185
fährdungen durch die zukünftige Tätigkeit hat der Arbeitgeber. O h n e eine rechtliche Offenbarungspflicht sind sie für den A r b e i t n e h m e r nur mit h o h e n K o s t e n in Erfahrung zu bringen. D a der A r b e i t n e h m e r seine zukünftigen Arbeitsbedingungen nicht kennt, wird er oftmals schon die Risiken unterschätzen. E i n e rationale Entscheidung setzt voraus, daß der A r b e i t n e h m e r die typischen Gesundheitsgefahren kennt. U m die G r e n z e n der Offenbarungspflicht und ihren genauen Inhalt zu konkretisieren, reicht es jedoch nicht aus, allgemeine Lebensrisiken von den aufklärungspflichtigen U m s t ä n d e n arbeitsplatzbezogener G e f a h r e n zu t r e n n e n . 2 0 6 F ü r die positive B e s t i m m u n g des Inhalts der Offenbarungspflicht bietet es sich vielmehr an, die insbesondere im R a h m e n der U m s e t z u n g europäischen R e c h t s 2 0 7 bestehenden Dokumentationspflichten
öffentlich-rechtlichen
des Arbeitgebers aufzugreifen. Z u m einen wird
damit ein innerhalb der europäischen U n i o n einheitlicher Arbeitssicherheitsstandard angelegt. Z u m anderen m u ß der Arbeitgeber diese D o k u m e n t a tionspflichten gegenüber den zuständigen B e h ö r d e n ohnehin erfüllen. E r m u ß z.B. gem. § 6 A r b S c h G gegenüber der zuständigen B e h ö r d e Gesundheitsgefahren und Arbeitsunfälle dokumentieren, so daß es sich um präsentes Wissen handelt, das nicht durch eine freiwillige Investition erlangt w o r d e n ist. D i e sanktionsbewehrte Pflicht, Arbeitsunfälle bei Vorstellungsgesprächen ebenso gegenüber den B e w e r b e r n aufzudecken, gibt einen wirtschaftlichen
Anreiz,
unfallverhütende M a ß n a h m e n zu ergreifen. N a c h § 6 Abs. 2 A r b S c h G umfaßt die D o k u m e n t a t i o n s p f l i c h t auch die in der B e r u f s k r a n k h e i t e n - V O aufgeführten Krankheiten. A u c h sie sind für eine rationale Entscheidungsgrundlage des Stellenbewerbers wesentlich und ihm im Vorstellungsgespräch zu offenbaren. D a r ü b e r hinaus treffen den Arbeitgeber zusätzliche D o k u m e n t a t i o n s p f l i c h t e n , wenn er in spezialgesetzlich geregelten besonderen Gefahrenbereichen tätig ist. 2 0 8 In all diesen Fällen handelt es sich um die Preisgabe präsenten Wissens, so daß der Arbeitgeber nach den vorangestellten Ü b e r l e g u n g e n eine O f f e n b a rungspflicht hat. bb) Rechtsfolgen
bei unterlassener
Offenbarung
von
Gesundheitsrisiken
Werden Offenbarungspflichten verletzt, kann der A r b e i t n e h m e r den Vertrag im Falle einer arglistigen Täuschung des Arbeitgebers analog § 123 B G B anfechten. D e r N a c h w e i s von Arglist wird dem A r b e i t n e h m e r im Regelfall gelinSo aber Hemming, Die Aufklärungspflichten des Arbeitgebers (1997), S. 80. Dies ist insbesondere die Rahmenrichtlinie 89/391/EWG vom 12.6.1989 ABl. EG Nr. L I 83 S. 1. 208 Aufgrund der Rahmenrichtlinie 80/1107 vom 27.10.1980 ABl. 1980 Nr. L 357/8, sind verschiedene Einzelverordnungen erlassen worden, die den Umgang mit besonders gefährlichen Arbeitsstoffen regeln: z.B. die GefahrstoffVO v. 15.11.1999 (BGBl. I, S.2233); die BiostoffVO v. 27.1.1999 ( BGBl. I, S. 50) oder die ChemikalienverbotsVO v. 18.10.1999. In diesen VO sind Dokumentationspflichten z.B. § 16 Abs. 3 a GefahrstoffVO, § 6 BiostoffVO des Arbeitgebers geregelt. 206
207
186
4. Kapitel: Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
gen, da es sich um präsentes Wissen des Arbeitgebers handelt. Mit der Rechtfolge des § 122 BGB kann der Arbeitnehmer z.B. seine Umzugskosten ersetzt verlangen, wenn er vom Vertrag Abstand nehmen möchte. Darüber hinaus kann er in diesen Fällen der vorsätzlichen Irreführung Schadensersatz wegen Verletzung einer vorvertraglichen Aufklärungspflicht (§§ 280 Abs. 1,311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB oder §§280 Abs. 3, 282, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB) verlangen. Theoretisch kommen dabei drei Rechtsfolgen in Betracht, 209 die für das Arbeitsrecht um eine weitere Möglichkeit zu ergänzen sind: -
Der Vertrag bleibt zu den abgeschlossenen Bedingungen bestehen, er wird aufgelöst, er wird dem hypothetischen Verlauf der Dinge im Falle einer erfolgten Aufklärung durch Schadensersatz angepaßt, - oder er wird tatsächlich durch eine Versetzung des Arbeitnehmers an einen nicht gesundheitsheitsgefährdenden Arbeitsplatz verändert. In den Fällen der Vertragsanpassung nimmt die Rechtsprechung 210 eine Darlegungs- und Beweislastumkehr hinsichtlich des hypothetischen Geschehensablaufs an: Der Aufklärungspflichtige hat die Darlegungs- und Beweislast, daß der Geschädigte den Vertrag auch dann zu denselben Bedingungen abgeschlossen hätte, wenn er ihn über die fragliche Tatsache informiert hätte. Kann dieser Geschehensablauf nicht dargelegt werden, darf der Geschädigte nach Ansicht der Rechtsprechung zwischen der Vertragsaufhebung und der Vertragsanpassung wählen. 211 Das umstrittene Problem 212 , die Schadensersatzhaftung mit den Wertungen der §§ 123 ff. BGB zu vereinbaren, stellt sich im Fall der vorsätzlichen Irreführung nur hinsichtlich einer Angleichung der Fristen, wobei die kurze Frist des § 124 BGB übertragen werden sollte. Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch ist nach der Ansicht der Rechtsprechung 213 und der Literatur 214 ein Vermögensschaden. U m den Ver209
MünchKomm-/?of/? §242 BGB Rz.231. B G H v. 29.3.1990 - IX ZR 24/88 - W M 1990, S. 1301. 211 B G H , Urt. v. 14.3.1991 - V I I ZR 342/89 - B G H Z 114, S. 87; B G H , Urt. v. 25.5.1977VIII ZR 186/75 - B G H Z 69, S. 53. 212 Canaris, Wandelungen des Schuldvertragsrechts, AcP 200 (2000), S.273 (305); Fleischer, Konkurrenzprobleme um die culpa in contrahendo: Fahrlässige Irreführung versus arglistige Täuschung, AcP 200 (2000), S.91 (94); Lieb, Vertragsaufhebung oder Geldersatz, in: Festschrift 600 Jahre Universität Köln (1988), S.251 (254); Canaris, Leistungsstörungen beim Unternehmenskauf, Z G R 1982, S. 395 (418). 213 Unter Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung B G H , Urt. v. 26.9.1997 - V ZR 29/96 N J W 1998, S. 302 und 898. 214 Canaris, Wandelungen des Schuldvertragsrechts, AcP 200 (2000), S.314; Tiedtke, Der Inhalt des Schadensersatzanspruchs aus Verschulden beim Vertragsschluß wegen fehlender Aufklärung, JZ 1989, S. 569 (571); Lieb, Vertragsaufhebung oder Geldersatz, in: Festschrift 600 Jahre Universität Köln (1988), S. 251 (259); Basedow, Preiskalkulation und culpa in con210
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende Nebenpflichten
187
mögensschaden zu ermitteln, m u ß die Situation bei Vertragsabschluß der Vermögenslage bei N i c h t a b s c h l u ß des Vertrags gegenübergestellt werden. E r s t wenn sich die ursprüngliche Vermögenslage durch den Vertragsabschluß verschlechtert hat, kann von einem wirtschaftlichen Schaden gesprochen werden. D r e h - und Angelpunkt ist der Vergleich mit dem üblichen Marktpreis für die latent gefährliche Tätigkeit. U m einen Schaden feststellen zu k ö n n e n , m u ß der Wert ermittelt werden, den der Arbeitgeber bei Preisgabe der I n f o r m a t i o n unter normalen Marktbedingungen hätte zahlen müssen. G e r a d e darin besteht aber die Schwierigkeit: Ein solcher Vergleichsmarkt existiert nicht. Als Vergleichswert m u ß trotz der damit verbundenen B e d e n k e n 2 1 5 letztlich auf G e f a h renzuschläge in Tariflohnsystemen zurückgegriffen werden. E i n e n anderen Vergleichsmarkt für Gefahrenzuschläge gibt es nämlich schon deshalb nicht, weil dem A r b e i t n e h m e r vor Vertragsschluß eben die erforderlichen I n f o r m a tionen fehlen, um einen derartigen Ausgleich zu verlangen. D i e asymmetrische Informationsverteilung begründet eine Verhandlungsüberlegenheit des A r b e i t gebers. D e r Tarifvertrag ist in diesem Fall direktes Mittel » z u m Machtausgleich zwischen A r b e i t n e h m e r und A r b e i t g e b e r « 2 1 6 , soweit die M a c h t auf einer I n formationsüberlegenheit beruht. L e h n t e man einen Vergleich mit den tariflichen Gefahrzuschlagsregelungen für die Schadensberechnung ab, so lastete man dem A r b e i t n e h m e r wiederum die ungleiche Verhandlungssituation aufgrund der asymmetrischen Informationsverteilung an. D a ein authentischer M a r k t in dieser Frage nicht existiert, m u ß der in Tarifverhandlungen künstlich geschaffene Marktpreis als Vergleichswert für die B e s t i m m u n g des Schadensersatzes herangezogen werden.
3. Informationspflichten
vor Abschluß
des
Aufhebungsvertrags
Das Bundesarbeitsgericht nimmt in ständiger R e c h t s p r e c h u n g an, daß der Arbeitgeber den A r b e i t n e h m e r im Einzelfall auf mögliche Nachteile des A u f h e bungsvertrags oder zumindest auf eine I n f o r m a t i o n s m ö g l i c h k e i t
hinweisen
m u ß z . B . eine zuständige Stelle im Arbeits- oder Versorgungsamt. 2 1 7 Das G e richt
begründet diese Informationspflicht aus einer gesteigerten F ü r s o r g e -
pflicht des Arbeitgebers, da es sich nicht u m eine schlichte vorvertragliche trahendo, NJW 1982, S. 1030; a.A. Fleischer, Konkurrenzprobleme um die culpa in contrahendo: Fahrlässige Irreführung versus arglistige Täuschung, AcP 200 (2000), S. 91 (118). 215 Vgl. §101. 5. a),S. 168. 216 BAG, Urt. v. 17.1.1998 - 1 AZR 364/97 - AP Nr. 87 zu Art. 9 GG unter Hinweis auf BVerfG Beschluß v. 26.1.1991 - 1 BvR 779/85 - AP Nr. 117 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 217 BAG, Urt. v. 17.10.2000 - 3 AZR 605/99 - DB 2001, S. 286; BAG, Urt. v. 10.3.1988 - 8 AZR 420/85 - AP Nr. 99 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht und vgl. auch BAG, Urt. v. 23.5.1989 3 AZR 257/88 - AP Nr. 28 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen; BAG, Urt.v. 13.11.1984 - 3 AZR 255/84 - AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen zu Hinweispflichten des öffentlich-rechtlichen Arbeitgebers.
188
4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
Informationspflicht handele, sondern u m eine Pflicht aus dem bestehenden Arbeitsverhältnis. 2 1 8 Das Bundesarbeitsgericht nimmt eine derartige Pflicht in einer Interessenabwägung an, wenn der A r b e i t n e h m e r die Information aufgrund besonderer U m s t ä n d e des Einzelfalls erwarten k a n n . 2 1 9 In seiner Interessenabwägung differenziert das Bundesarbeitsgericht, auf wessen Initiative der A u f l ö sungvertrag z u r ü c k g e h t . 2 2 0 Verlangt der A r b e i t n e h m e r selbst die Auflösung seines Vertrags, so geht das G e r i c h t davon aus, daß er sich die rechtlichen F o l gen der Vertragsauflösung selbst überlegt habe und den Arbeitgeber deshalb keine Hinweispflicht mehr treffe. 2 2 1 Initiiert der Arbeitgeber den Auflösungsvertrag, soll sein Interesse an einer schnellen Vertragsbeendigung unter U m ständen zurücktreten, da es sich bei Auflösungsverträgen kurz v o r Eintritt in den Ruhestand nur n o c h u m eine kurze Beschäftigungszeit handele. 2 2 2 Das Bundesarbeitsgericht 2 2 3 weist in seinen Entscheidungen darauf hin, daß die mit dem Aufhebungsvertrag verbundenen rechtlichen Nachteile bezüglich der A l tersversorgung besonders einschneidend sind und einen »schwerwiegenden« E n t s c h l u ß des Arbeitnehmers verlangen. E b e n s o einschneidend kann jedoch auch der Verlust von A n s p r ü c h e n sein, bei denen der A r b e i t n e h m e r eine tarifliche Ausschlußfrist versäumt hat. A u f tarifliche Ausschlußfristen m u ß der Arbeitgeber j e d o c h nicht hinweisen. D i e Informationspflichten k ö n n e n nach dem hier zugrunde gelegten M a ß stab auf ein einheitliches K o n z e p t zurückgeführt werden. In einem ersten Schritt m u ß danach feststehen, o b der A r b e i t n e h m e r I n f o r m a t i o n e n erfragen m u ß oder o b der Arbeitgeber eine Offenbarungspflicht hat. D a b e i ist zu berücksichtigen, daß dem Aufhebungsvertrag eine völlig andere Marktsituation als bei Vertragsabschluß zugrunde liegt. D e r A r b e i t n e h m e r ist nicht darauf angewiesen, die erstrebte M a r k t p o s i t i o n erst n o c h v o m Arbeitgeber zu erhalten. D e r Bestand des Arbeitsverhältnisses ist ihm in den G r e n z e n der Regelungen des K S c h G bereits gesichert. D e r Aufhebungsvertrag ist daher, aus der Position des Arbeitnehmers betrachtet, ein freiwilliger Verzicht auf die durch die R e g e lungen des K S c h G abgesicherte M a r k t p o s i t i o n . In dieser Situation m u ß auf die wirtschaftliche Verhandlungsposition des Arbeitnehmers vor A b s c h l u ß des
218 BAG, Urt. v. 13.11.1984 - 3 AZR 255/84 - AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen. 2 1 9 BAG, Urt. v. 23.5.1989 - 3 AZR 257/88 - AP Nr. 28 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen. 220 BAG, Urt. v. 23.5.1989 - 3 AZR 257/88 - AP Nr. 28 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen und Urt. v. 13.11.1984 - 3 AZR 255/84 - AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen. 221 BAG, Urt. v. 13.11.1984 - 3 AZR 255/84 - AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen. 222 BAG, Urt. v. 13.11.1984 - 3 AZR 255/84 - AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen. 223 Urt. v. 10.3.1988 - 8 AZR 420/85 - AP Nr. 99 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht.
5 10: Vertragskonkretisierende
zwingende Nebenpflichten
189
Aufhebungsvertrags keine R ü c k s i c h t g e n o m m e n werden. E i n e Frage des Arbeitnehmers nach möglichen, mit dem A b s c h l u ß des Aufhebungsvertrags verbundenen Nachteilen verschlechtert nicht seine eigene Verhandlungsposition. E i n e mögliche Hinweispflicht des Arbeitgebers kann nur darauf gestützt werden, daß der A r b e i t n e h m e r nicht mit den möglichen R i s i k e n des A u f h e bungsvertrags rechnet, ihm also das für eine Frage erforderliche Basiswissen fehlt. D i e A n n a h m e einer typischen »intellektuellen Unterlegenheit« des Arb e i t n e h m e r s 2 2 4 entbehrt j e d o c h jeglicher Grundlage. Weder steht fest, w o r a n die Unterlegenheit zu messen wäre, n o c h kann behauptet werden, daß A r b e i t nehmer typischerweise unfähig sind, sich selbst über den A b s c h l u ß eines A u f hebungsvertrags zu informieren. Aufklärungspflichten setzen keine intellektuelle Imparität voraus, sondern sollen unabhängig von der Parteirolle die gegenseitigen Informationen so koordinieren, daß eine rationale Entscheidung getroffen werden kann. D a h e r kann nur in wenigen Ausnahmefällen eine Hinweispflicht angenommen werden. D i e s e r Ausnahmefall liegt vor, wenn der Arbeitgeber im Einzelfall einen k o n k r e t e n Wissensvorsprung (präsentes Wissen) hat und der A r b e i t n e h mer für den Arbeitgeber erkennbar über die mögliche Risikolage irrt, z . B . wenn der A r b e i t n e h m e r erst kurze Zeit in Deutschland beschäftigt ist und deshalb mit dem R e c h t s s y s t e m und den zur Verfügung stehenden I n f o r m a t i o n s m ö g lichkeiten nicht vertraut ist. In diesem Fall kann ausnahmsweise eine H i n w e i s pflicht des Arbeitgebers auf die zur Verfügung stehenden I n f o r m a t i o n s m ö g lichkeiten begründet werden. Keinesfalls kann eine intellektuelle Überlegenheit des Arbeitsgebers unter Hinweis auf den Beruf des Arbeitnehmers begründet werden. E s ist nicht nachzuvollziehen, wie das Bundesarbeitsgericht in einer aktuellen E n t s c h e i d u n g 2 2 5 diese Überlegenheit letztlich mit dem
Hinweis
rechtfertigen will, daß es sich bei der mit dem Versorgungssystem offensichtlich nicht vertrauten A r b e i t n e h m e r i n u m eine Reinigungskraft handele. Aufgrund dieser Erwägungen ist auch eine Hinweispflicht des Arbeitsgebers im öffentlichen D i e n s t entgegen der Ansicht des Bundesarbeitsgerichts 2 2 6 im Regelfall zu verneinen. Zwischen den Parteien besteht kein durch ein Sonderwissen des Arbeitgebers hervorgerufenes Informationsgefälle. Ü b e r mögliche mit einem Aufhebungsvertrag verbundene Nachteile in der Altersversorgung informiert die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder ( V B L ) , so daß das Wissen allgemein
zugänglich
ist.
Dem
Arbeitnehmer
steht
es
aufgrund
seiner
224 So noch Schwarze, Anmerkung zu LAG Hamburg Urt. v. 20.8.1992 - 2 Sa 16/92 LAGE Nr. 9 zu § 611 BGB Aufhebungsvertrag. Dagegen verneint die überwiegende Ansicht im Schrifttum eine typische intellektuelle Unterlegenheit Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht (1993), S. 287; Zöllner, Privatautonomie und Arbeitsverhältnis, AcP 176(1976), S. 221 (237). 2 2 5 BAG, Urt.v. 2.12.1999 - 8 AZR 386/98 - DB 2001, S. 286 (287). 226 BAG, Urt.v. 2.12.1999 - 8 AZR 386/98 - DB 2001, S. 286.
190
4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
M a r k t p o s i t i o n vor A b s c h l u ß des Aufhebungsvertrags frei, sich B e d e n k z e i t a b zubitten und die erforderlichen I n f o r m a t i o n e n einzuholen. E i n überlegenes Sonderwissen m u ß beim Arbeitgeber, der in dem Versorgungsverfahren selbst nur Beteiligter 2 2 7 und nicht Anspruchsgegner ist, nicht zwingend vorhanden sein. 2 2 8 D a h e r spielt der U m s t a n d , daß der Arbeitgeber u m Auflösung bittet, keine Rolle. D e r A r b e i t n e h m e r m u ß vertragsrelevante I n f o r m a t i o n e n vor A b s c h l u ß des Aufhebungsvertrags selbst erfragen. D e n Arbeitgeber trifft unter den o b e n genannten Voraussetzungen die Pflicht, seine I n f o r m a t i o n e n auf die entsprechende Frage hin weiterzugeben. D a n a c h m u ß es sich um vertragsrelevantes Sonderwissen handeln und die I n f o r m a t i o n m u ß dazu dienen, einer Äquivalenzstörung vorzubeugen. Grundsätzlich kann sich der A r b e i t n e h m e r selbst über tarif- und sozialversicherungsrechtliche Nachteile oder über eine Verringerung seiner betrieblichen Altersversorgung informieren. Diese I n f o r m a t i o n e n sind beiden Parteien zugänglich. H a t der Arbeitgeber j e d o c h präsentes Wissen über bestimmte Nachteile, weiß er z . B . aus vorherigen Aufhebungsverträgen, daß sich die Altersversorgung verringert, m u ß er dieses präsente Wissen auf eine entsprechende Frage des Arbeitnehmers mitteilen. Von diesem P r o b l e m streng zu trennen ist die Frage nach einem » Ü b e r r u m p e l u n g s s c h u t z « des A r b e i t n e h mers, der nicht durch die H i n t e r t ü r einer Hinweispflicht eingeführt werden sollte, und den das Bundesarbeitsgericht 2 2 9 bislang zu R e c h t 2 3 0 verneint hat. O b der G r u n d s a t z des pacta sunt servanda aus sozialpolitischen Überlegungen vor A b s c h l u ß des Aufhebungsvertrags einzuschränken ist, läßt sich vertragstheoretisch nicht begründen. Vielmehr handelt es sich dabei u m eine sozialpolitische Entscheidung, die der G e s e t z g e b e r treffen muß. Gerade vor dem H i n t e r g r u n d der fehlenden Informationspflicht des Arbeitgebers vor A b s c h l u ß des A u f h e bungsvertrags kann diese Entscheidung nicht in § 3 1 2 B G B gesehen werden. Z w a r ist der A r b e i t n e h m e r Verbraucher nach dem Wortlaut des § 13 B G B . A b e r der Sinn und Z w e c k der §§ 13, 312 B G B liegt darin, vorhandenen I n f o r m a t i o n s asymmetrien zu begegnen, die bei einem Haustürgeschäft mangels Vergleichs-
2 2 7 Dazu Weinen, Anmerkung zu BAG, Urt. v. 18.9.1984 - 3 AZR 118/82 - AP Nr. 6 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen. 228 In den Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts hatte der Arbeitgeber bzw. seine Personalabteilung mehrfach falsche Auskünfte erteilt vgl. BAG, Urt. v. 13.12.1988 - 3 AZR 322/89 - AP Nr. 23 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen und 18.9.1984 - 3 AZR 118/82 AP Nr. 6 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen. 2 2 9 BAG, Urt. v. 14.2.1996 - 2 AZR 234/95 - NZA 1996, S. 811 (812), wonach es schon »an der strukturell ungleichen Verhandlungsstärke als Voraussetzung der vom BVerfG geforderten Inhaltskontrolle« fehle. Der Arbeitnehmer könne dem arbeitgeberischen Aufhebungsangebot ein »schlichtes Nein« entgegensetzen. 230 Letztlich könnte sich eine »Uberrumpelungsituation« dann allein aus der Präsenz des Arbeitgebers ergeben.
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende Nebenpflichten
191
möglichkeiten nicht gegeben sind, aber nicht bei A b s c h l u ß des Aufhebungsvertags. 2 3 1
4.
Zusammenfassung
Informationspflichten k ö n n e n eine unterschiedliche Qualität haben: Sie k ö n nen den Arbeitgeber z u m einen in F o r m von Offenbarungspflichten dazu anhalten, vertragsrelevantes Sonderwissen unter bestimmten Bedingungen v o n sich aus preiszugeben; z u m anderen kann den Arbeitgeber die Auskunftspflicht treffen, I n f o r m a t i o n e n erst auf eine entsprechende Frage des Arbeitnehmers weiterzugeben. Offenbarungspflichten kann die R e c h t s p r e c h u n g in zwei Situationen begründen. D e r erste Fall setzt voraus, daß eine entsprechende Frage die Verhandlungsposition des Arbeitnehmers so verschlechtert, daß ein rational handelnder Arbeitgeber den Vertrag nicht abschließen wird. Diese Situation ist gegeben, wenn der A r b e i t n e h m e r
nach typischen
Gesundheitsgefahren
der
Tätigkeit vor A b s c h l u ß des Arbeitsvertrags fragen muß. Ein rational handelnder Arbeitgeber wird die B e w e r b e r vorziehen, die diese Frage nicht stellen, da er nicht weiß, o b der A r b e i t n e h m e r seine R e c h t e mißbräuchlich ausüben wird. Offenbarungspflichten k ö n n e n darüber hinaus auch dann begründet werden, w e n n dem A r b e i t n e h m e r die I n f o r m a t i o n e n fehlen, um eine entsprechende Frage überhaupt zu stellen. Diese Situation kann in Ausnahmefällen vor A b schluß eines Aufhebungsvertrags eintreten, w e n n der A r b e i t n e h m e r z.B. erst kurze Zeit in Deutschland arbeitet und typischerweise keine K e n n t n i s der ihm zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten hat. In den anderen Fällen müssen vertragsrelevante I n f o r m a t i o n e n erfragt werden. D e r Arbeitgeber hat eine derartige Auskunftspflicht, wenn er vertragsrelevantes Sonderwissen hat, dessen Verschweigen zu einer Äquivalenzstörung des Vertrags führen kann. D e r Arbeitgeber kann in diesem Fall zur Weitergabe präsenten Wissens verpflichtet werden, w e n n es sich u m I n f o r m a t i o n e n handelt, in die er nicht freiwillig investiert hat. E i n e derartige Verpflichtung zur Weitergabe des präsenten Wissens trifft den A r b e i t g e b e r auf eine entsprechende Frage des Arbeitnehmers in der Situation vor A b s c h l u ß des Aufhebungsvertrags.
231 Gegen die Anwendbarkeit der §§ 13, 312 BGB auf Aufhebungsvertrag: Bayer/Kock, Arbeitsrechtliche Auswirkungen des neuen Verbraucherschutzrechts, DB 2002, S. 42 (44); derselbe, Neue Spielregeln für Aufhebungs- und Abwicklungsverträge durch das BGB, NZA 2002, S. 169 (171); für eine Anwendung: Hümmerich/Holthausen, Der Arbeitnehmer als Verbraucher, NZA 2002, S. 173 (178) unter Hinweis auf die unklare Gesetzeslage; Däubler, Die Auswirkungen der Schuldrechtsmodernisierung auf das Arbeitsrecht, 2002, S. 1329 (1334) für best. Fälle.
192
4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
III. Haftungsrechtliche Risikoverteilung 1. Ausgangsproblematik
des innerbetrieblichen
Schadensausgleichs
N a c h den Regelungen des allgemeinen Schadensrechts hat der Schuldner im Falle seines alleinigen Verschuldens den gesamten Schaden zu ersetzen. Bei der Frage nach der Verantwortlichkeit des Schuldners gem. § 2 7 6 Abs. 1 S. 1 B G B sind j e d o c h die Besonderheiten des Schuldverhältnisses zu berücksichtigen, aus denen sich eine strengere oder mildere H a f t u n g ergeben kann. N a c h Ansicht der R e c h t s p r e c h u n g 2 3 2 und der Literatur 2 3 3 soll im sogenannten innerbetrieblichen Schadensausgleich die H a f t u n g für den A r b e i t n e h m e r dann erleichtert werden, w e n n er bei einer betrieblich veranlaßten T ä t i g k e i t 2 3 4 Betriebsmittel des Arbeitgebers schuldhaft beschädigt hat. In diesen Fällen soll der Arbeitgeber auch dann einen Teil seines Schadens selbst tragen, wenn ihn selbst kein konkretes Verschulden an dem Unfall trifft. D i e Zuteilung der Schadensquote im innerbetrieblichen Schadensausgleich richtet sich nach zwei Abwägungen, die differenziert werden müssen: In der ersten A b w ä g u n g stellt die Rechtsprechung ein v o m Arbeitgeber abstrakt zu übernehmendes R i s i k o dem k o n k r e t e n Verursachungsbeitrag des Arbeitnehmers in einer analogen A n w e n d u n g des § 2 5 4 B G B gegenüber. In der zweiten A b w ä g u n g berücksichtigt sie in der direkten A n w e n d u n g des § 2 5 4 B G B den k o n k r e t e n Verursachungsbeitrag des Arbeitgebers gegenüber dem Verschulden des Arbeitnehmers. D i e Abwägungen sind nach dem hier zugrunde gelegten K o n z e p t zu trennen, da ihnen verschiedene Prinzipien unterliegen. In der ersten A b w ä g u n g m u ß erklärt werden, warum der Arbeitgeber überhaupt ein abstraktes R i s i k o aufgrund des Inhalts des Arbeitsverhältnisses tragen soll. E i n e gesetzliche Gefährdungshaftung des Arbeitgebers existiert nicht. D i e mit der Haftungserleichterung bewirkte Risikotragungspflicht des A r b e i t gebers m u ß vertragstheoretisch begründet werden und ist von einer Gefährdungshaftung abzugrenzen, die von der Rechtsprechung nicht gegen das Enumerationsprinzip der gesetzlichen Gefährdungshaftungstatbestände
be-
gründet werden k a n n . 2 3 5 Bei der A b w ä g u n g dieses objektiven R i s i k o s gegen den k o n k r e t e n Verursachungsbeitrag
des Arbeitnehmers
bezieht sich die
R e c h t s p r e c h u n g auf die Leitlinie der schon zur gefahrgeneigten A r b e i t e n t w i k -
232 Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 52 S. 423; MünchArbR-ß/omeyer § 59 Rz. 23; ErfKPreis §611 BGB Rz. 1038. 233 BAG GS Beschluß v. 27.9.1994-GS 1/89 (A ) - A P Nr. 103 zu §611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 234 BAG GS Beschluß v. 27.9.1994 - GS 1/89 (A )- AP Nr. 103 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 235 Latenz/Canaris, Schuldrecht II/2 (1994), S. 601; MünchKomm-Afertews Vor §§823853 Rz. 21 und 53; Soergei-Zeuner Vor § 823 Rz. 34.
5 10: Vertragskonkretisierende
zwingende
Nebenpflichten
193
kelten Haftungstrias. 236 Danach soll der Arbeitnehmer bei grober Fahrlässigkeit in aller Regel den gesamten Schaden tragen, bei leichter Fahrlässigkeit soll seine Haftung entfallen und bei mittlerer Fahrlässigkeit soll der Schaden quotiert werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann die Haftung auch bei grober Fahrlässigkeit des Arbeitnehmers erleichtert werden, wenn sein Verdienst in einem deutlichen Mißverhältnis zum Schadensrisiko der Tätigkeit steht und ihn in seiner finanziellen Existenz gefährdet. 237 Der Arbeitnehmer sei in diesem Fall regelmäßig »nicht in der Lage«, »Risikovorsorge zu betreiben und einen eingetretenen Schaden zu ersetzen«. 238 Die Schadensquote sei analog § 254 BGB 239 in Abwägung der Gesamtumstände des Einzelfalls nach Billigkeits- und Zumutbarkeitsgesichtspunkten zu ermitteln. Dabei soll ein breites Spektrum von Kriterien von Bedeutung sein: Der Verschuldensgrad des Arbeitnehmers, die Gefahrgeneigtheit der Arbeit, die Schadenshöhe, ein vom Arbeitgeber einkalkuliertes oder durch Versicherung abdeckbares Risiko, die Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb, die Entgelthöhe und eine möglicherweise darin enthaltene Risikoprämie, wie auch unter Umständen die persönlichen Verhältnisse des Arbeitnehmers, wie die Dauer der Betriebszugehörigkeit, sein Lebensalter, seine Familienverhältnisse und sein bisheriges Verhalten. 240 In dieser Abwägung hat das Bundesarbeits gericht 241 darüber hinaus den kritisierten 242 Begriff der »gröbsten Fahrlässigkeit« verwendet. Das »ob« der Haftungserleichterung an sich ist von der Prüfung zu differenzieren, ob den Arbeitgeber gem. § 254 Abs. 1 BGB ein konkretes Mitverschulden trifft. 243 In einer zweiten Abwägung 2 4 4 ist in direkter Anwendung des § 254 236 BAG GS Beschluß v. 27.9.1994 - GS 1/89 (A )- AP Nr. 103 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 237 B A G . U r t . v. 23.1.1997-8 AZR 8 9 3 / 9 5 - N Z A 1998, S. 140 (141); v. 12.10.1989-8 AZR 276/88 - AP Nr. 97 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 238 Urt. v. 12.10.1989-8 AZR 276/88 - A P Nr. 97 zu §611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 239 BAG GS Beschluß v. 27.9.1994 - GS 1/89 (A )- AP Nr. 103 zu §611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 240 BAG GS Beschluß v. 27.9.1994 - GS 1/89 (A )- AP Nr. 103 zu §611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 241 Urt. v. 2 5 . 9 . 1 9 9 7 - 8 AZR 2 8 8 / 9 6 - A P Nr. 111 zu §611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 242 MünchArbR-ß/omcyer § 59 Rz. 48, der sich grundsätzlich gegen eine starre Handhabung bestimmter Verschuldensgrade wendet. 243 BAG, Urt. v. 3.11.1970-1 AZR 2 2 8 / 7 0 - A P Nr. 61 zu §611 BGB Haftung des Arbeitnehmers; v. 7.7.1970- 1 AZR 507 und 505/69 - AP Nr. 59, 58 zu §611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 244 Die Rechtsprechung differenziert nicht zwingend zwischen den einzelnen Schritten und ihrer Reihenfolge. So beginnt das Bundesarbeitsgericht zum Teil seine Prüfung mit der direkten Anwendung des §254 Abs. 1 BGB, also mit der hier als zweiter Prüfungsschritt bezeichneten Abwägung (vgl. BAG, Urt. v. 12.11.1998 - 8 AZR 221/97 - AP Nr. 117 zu §611
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4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
Abs. 1 B G B zu prüfen, welcher Verursachungsbeitrag dem Arbeitgeber wegen seines k o n k r e t e n Verhaltens bei der Schadensentstehung zugerechnet werden kann. D i e von der R e c h t s p r e c h u n g in diesen Abwägungen entwickelte H a f t u n g s verteilung des innerbetrieblichen Schadensausgleichs ist für den Arbeitgeber einseitig zwingend. 2 4 5 Sie greift gegen den Parteiwillen ein. D i e Entscheidung des achten Senats v o m 17.9.1998 zur Inhaltskontrolle einer vertraglichen M a n kohaftung des A r b e i t n e h m e r s 2 4 6 verdeutlicht dies. In dieser Entscheidung hat das Bundesarbeitsgericht die Grundsätze des innerbetrieblichen Schadensausgleichs zur K o n t r o l l e herangezogen. E s stellte darauf ab, daß eine Haftungsvereinbarung unwirksam und mit den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs nicht zu vereinbaren sei, wenn dem A r b e i t n e h m e r kein angemessener Ausgleich für die H a f t u n g gezahlt werde oder er nicht alleine die Kasse kontrolliere. 2 4 7 A u f die Zulässigkeit dieser Inhaltskontrolle ist gesondert einzugehen 2 4 8 , nachdem die G r u n d s ä t z e der Haftungsverteilung erörtert worden sind. D e r G r u n d für das » o b « der Haftungsverlagerung in der ersten A b w ä g u n g ist nach wie vor umstritten. A u c h wenn nun in § 2 7 6 Abs. 1 S. 2 B G B ein n o r m a tiver A n k e r für die Risikoverlagerung existiert, ist damit nicht geklärt, w a r u m der Inhalt des Schuldverhältnisses dafür spricht. Das Bundesarbeitsgericht sieht ihn zum einen in der Verantwortung des Arbeitgebers für die Organisation seines Betriebs und der von ihm erteilten arbeitsrechtlichen Weisungen 2 4 9 , zum anderen stützt es die Legitimation darauf, daß der A r b e i t n e h m e r A n s p r u c h auf einen verfassungsrechtlich gebotenen Mindestschutz habe, der wegen der im Arbeitsverhältnis bestehenden Ungleichgewichtslage und der wirtschaftlich einschneidenden F o l g e n der vollen H a f t u n g für den A r b e i t n e h m e r zu einer Haftungsbeschränkung
f ü h r e n m ü s s e . 2 5 0 I n s b e s o n d e r e diese
verfassungs-
rechtliche B e g r ü n d u n g des innerbetrieblichen Schadensausgleichs ist in der L i t e r a t u r der neunziger J a h r e kritisiert w o r d e n . 2 5 1 N e b e n der Schwierigkeit, die v o m B u n d e s a r b e i t s g e r i c h t vorausgesetzte strukturelle U n g l e i c h g e w i c h t s BGB Haftung des Arbeitnehmers; v. 25.7.1997 - 8 AZR 288/96 - AP Nr. 111 zu § 611 BGB zu Haftung des Arbeitnehmers). 245 Peifer, Neueste Entwicklung zu Fragen der Arbeitnehmerhaftung im Betrieb, ZfA 1996, S. 69 (74). 246 BAG, Urt. v. 17.9.1998-8 AZR 175/97 - AP Nr. 2 zu § 611 BGB Mankohaftung. 247 BAG, Urt. v. 17.9.1998-8 AZR 175/97 - AP Nr. 2 zu § 611 BGB Mankohaftung. 248 Vgl. § 10 III. 6. 2 4 9 Einen zusammenfassenden Uberblick über die Entwicklung der Haftungserleichterung in der Rechtsprechung gibt Hammen, Die Gattungshandlungsschuld (1995), S. 214 ff. 250 BAG GS Urt. v. 27.9.1994 - GS 1/89 (A )- AP Nr. 103 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 251 Annuß, (Nichts) Neues zur Arbeitnehmerhaftung?, NZA 1998, S. 1089 (1093); Langenbucher, Risikohaftung und Schutzpflichten im innerbetrieblichen Schadensausgleich, ZfA 1997, S. 523 (544); Deutsch, Das Verschulden als Merkmal der Arbeitnehmer-Haftung, RdA
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende
Nebenpflichten
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läge im Arbeitsverhältnis zu überprüfen, wird darauf hingewiesen, daß der Arbeitnehmer vor einer Existenzgefährdung durch eine Schadensersatzforderung bereits durch das Zwangsvollstreckungsrecht oder Insolvenzrecht geschützt werde, dem Schadensrecht aber ein derartiger Schutz fremd sei. 252 Trotz der breiten Diskussion 253 um die Begründung der Haftungserleichterung bestand jedoch auch in der Literatur Einigkeit darüber, daß die Haftung unter bestimmten Voraussetzungen abweichend von den Regelungen der §§ 276, 249 a.F. BGB eingeschränkt werden sollte. 254 Der Grund dafür erklärt sich allerdings nicht durch den Hinweis auf die analoge Anwendung des § 254 BGB, sondern setzt diesen bereits voraus. 255 Die Haftungserleichterung kann nicht in Reminiszenz des überkommenen Begriffs der gefahrgeneigten Arbeit darauf zurückgeführt werden, daß - wie es erneut vertreten worden ist 256 - während des Dauerschuldverhältnisses auch dem sorgfältigsten Arbeitnehmer gelegentlich Fehler unterlaufen können. Ebenso könnte argumentiert werden, daß der Arbeitgeber von Risiken zu entlasten ist, da auch er Partei des Dauerschuldverhältnisses ist. In der Literatur der neunziger Jahre ist die Haftungserleichterung darauf gestützt worden, daß der Arbeitgeber aufgrund seiner Betriebsorganisation und seiner Weisungsbefugnis Gefahren besser beherrschen und steuern könne als der Arbeitnehmer und deshalb der Schaden zwischen den Parteien aufzuteilen sei. 257 Dieser Grund reiche jedoch nicht aus, da die Haftungserleichterung auch dann greife, wenn die Schadensursachen außerhalb der Betriebsorganisation lägen und der Arbeitgeber, wie z.B. bei einem Verkehrsunfall des Arbeitnehmers, noch nicht einmal abstrakt die Möglichkeit einer Gefahrbeherrschung gehabt habe. 258 1996, S. 1; Hammen, Die Gattungshandlungsschuld (1995), S.212, zweifelt bereits an, ob überhaupt eine Regelungslücke vorliegt. 252 Ahrens, Anmerkung zu BAG, Urt. v. 12.11.1998 - 8 AZR 221/97 - AP Nr. 117 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 253 Vgl. den Uberblick bei Hammen, Die Gattungshandlungsschuld (1995), S.241 ff. und bei Annuß, Die Haftung des Arbeitnehmers (1997), S. 72 ff. 254 Kritisch dazu, ob die Haftungserleichterung de lege lata überhaupt möglich ist Annuß, Die Haftung des Arbeitnehmers (1997), S. 113 ff. 255 Langenbucher, Risikohaftung und Schutzpflichten im innerbetrieblichen Schadensausgleich, ZfA 1997, S. 523 (534 f.). 256 Hammen, Die Gattungshandlungsschuld (1995), S. 307 ff. und S. 327 f. wonach die Arbeitsschuld als Gattungshandlungsschuld dem Maßstab des § 243 Abs. 1 BGB entsprechen soll. Danach kann der Arbeitnehmer auch trotz einzelner objektiver Fehlleistungen dem Maßstab genügen, da solche Fehler üblicherweise »menschlich entschuldbar« (aaO., S. 327) seien. 257 Annuß, (Nichts) Neues zur Arbeitnehmerhaftung?, NZA 1998, S. 1089 (1092).; Langenbucher, Risikohaftung und Schutzpflichten im innerbetrieblichen Schadensausgleich, ZfA 1997, S. 523 (539); vgl. zur Bedeutung dieser Kriterien in der Rechtsprechung BAG, Urt. v. 27.9.1994 - GS 1/89 - AP 103 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers, in der auf die Verantwortlichkeit des Arbeitgebers abgestellt wird, da er den Betrieb organisiert und den Arbeitsprozeß steuert, der Arbeitnehmer dagegen seine Arbeitsumgebung nicht beeinflussen kann. 258 Langenbucher, Risikohaftung und Schutzpflichten im innerbetrieblichen Schadensausgleich, ZfA 1997, S. 523 (540).
196
4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
U n t e r diesem Gesichtspunkt müssen die Versuche zurückgewiesen werden, den G r u n d für die abstrakte Haftungsverlagerung neben den schon geäußerten B e d e n k e n 2 5 9 in einer ö k o n o m i s c h effizienten Risikoverteilung zu sehen. E n t g e gen der Ansicht von Schwarze/Sadowski260
zielt die Haftungserleichterung
nicht nur darauf, dem Arbeitgeber einen A n r e i z zu Präventionsmaßnahmen zu ver mittein, um - langfristig gesehen - Schäden kostengünstig zu vermeiden. D i e s e r Ansatz kann die Fälle nicht erklären, in denen der Arbeitgeber überhaupt keine Möglichkeit hat, den Schaden zu verhindern, weil sich der Unfall außerhalb seines Organisationsbereichs ereignet hat. 2 6 1 D e r Hinweis, daß der Arbeitgeber etwa durch die Gestaltung der Arbeitsabläufe stets Einfluß auf die Sorgfaltsanstrengungen der Mitarbeiter nehme und deshalb stets das G e s c h e hen abstrakt b e h e r r s c h e 2 6 2 , ist zu pauschal. E i n derartiger Einfluß entspricht nicht einer Steuerungsmöglichkeit von Unfällen, die sich etwa bei Verkehrsunfällen schon wegen der Drittbeteiligung und der U n v o r h e r s e h b a r k e i t der Situation trotz einer n o c h so gut abgestimmten Arbeitsorganisation nicht ausschließen lassen. Eine dem G r u n d nach ausschließlich an ö k o n o m i s c h e r Effizienz ausgerichtete Haftungsverteilung k o m m t darüber hinaus nach dem vorangestellten K o n zept nicht in Betracht, da sie die K o m p e t e n z der Rechtsprechung überschreitet. 2 6 3 D i e Rechtsprechung kann nicht über den U m w e g der Haftungserleichterung in einer verdeckten Gefährdungshaftung bestimmen, daß dem Arbeitgeber das Ziel einer » I n n o v a t i o n s f ö r d e r u n g « 2 6 4 auferlegt wird, zukünftig nach A k t i vitäten mit geringerer Schadenswahrscheinlichkeit zu suchen und Tätigkeitsabläufe sicherer zu gestalten. Dieses Ziel ist ausschließlich politisch ausgerichtet, da es nicht von der Frage zu trennen ist, welche Aktivität bei konfligierenden
Vgl. § 5 I. insbesondere 3 c), S. 84. Ökonomische Analyse der Arbeitnehmerhaftung, in: Schäfer/Ott (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Arbeitsrechts, Beiträge zum VII. Travemünder Symposium, S. 112 ff. 261 Koller, Die Risikozurechnung in Vertragsstörungen bei Austauschverträgen (1979), S. 385. 262 Reinhardt, Die dogmatische Begründung der Haftungsbeschränkung des Arbeitnehmers (1977), S. 165, der diesen Einfluß pauschal mit einem Verursachungsbeitrag von 50 % berücksichtigen will. 2 6 3 Vgl. § 5 1 3 , S. 76ff. 264 Blaschczok, Gefährdungshaftung und Risikozuweisung (1993), S. 220. Die objektive Risikozuweisung in den Fällen der gesetzlich bestimmten Gefährdungshaftung hat zwar den Vorteil, daß der Schädiger auch dann haftet, wenn das Gericht nicht ermitteln kann, welche konkrete Schadensabwendungsmaßnahme den Schaden verhindert hätte. Nimmt man an, daß der Arbeitgeber aufgrund einer Planungsüberlegenheit stets die Möglichkeit hat, die Unfallsituation langfristig schadensenkend zu beeinflussen, zum Beispiel durch Einbau einer technischen Sicherungsmaßnahme oder durch die Änderung der Arbeitsorganisation, so könnten dem Gericht die Informationen fehlen, welche konkrete Maßnahme durchzuführen ist; vgl. dazu Scheel, Versicherbarkeit und Prävention (1999), S. 175. Der Arbeitgeber hat jedoch nicht in allen Fällen diese Steuerungsmöglichkeit. 259 260
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende Nebenpflichten
197
Tätigkeiten 265 bevorzugt werden soll. So müßte bei betrieblich bedingten Verkehrsunfällen entschieden werden, daß es gesamtgesellschaftlich gesehen sinnvoll ist, gerade die Häufigkeit dieser Fahrten im Gegensatz zu Privatfahrten zu senken. In der zugrunde liegenden Unfallsituation steht die an sich erlaubte Tätigkeit des Arbeitnehmers in Konflikt mit dem Verhalten des Dritten. Der Arbeitnehmer kann das Aktivitätsniveau selbst nicht bestimmen, da er seine Tätigkeit weisungsabhängig erbringt. Soll eine Haftungsregel in diesem Fall aktivitätssteuernde Anreize geben, so muß der Impuls an den Arbeitgeber weitergegeben werden. Die Rechtsprechung kann jedoch nicht politisch entscheiden, daß es zur Verhinderung von Verkehrsunfällen sinnvoll ist, gerade betrieblich veranlaßte Fahrten zu verringern. Für den innerbetrieblichen Schadensausgleich ist die Frage, wer den Schaden mit den geringsten Kosten verhindern kann, eigentlich einfach zu beantworten: Es ist der Arbeitnehmer, der die erforderliche Sorgfalt hätte einhalten müssen. 266 Kann der Arbeitgeber mit seiner Betriebsorganisation die Unfallsituation konkret beeinflussen, so ist dies nur innerhalb der Bewertung seines konkreten Mitverschuldens gem. § 254 B G B zu berücksichtigen. Läßt sich die abstrakte Haftungsverlagerung nicht mit der Steuerungsüberlegenheit des Arbeitgebers begründen, so wird in der arbeitsrechtlichen Literatur darauf verwiesen, daß sich aus der »arbeitsrechtlichen Schutzpflicht« ein weiteres, die Haftungserleichterung begründendes Prinzip gewinnen lasse. 267 Die Schutzpflicht führe deshalb zur Haftungserleichterung, da der Arbeitnehmer aufgrund der Weisungsbefugnis des Arbeitgebers fremdbestimmt arbeite und sich fremdbestimmten Risiken aussetze. Diese »Zwangsrisiken«, denen sich der Arbeitnehmer nicht entziehen kann, werden ebenso von Annuß2bS zur Begründung der Haftungserleichterung herangezogen. Damit wird aber letztlich an die traditionelle Betriebsrisikolehre 269 angeknüpft, die deshalb auf die Risikosetzung abstellte, da nur der Arbeitgeber den Mehrwert der von ihm veranlaßten und dem Arbeitnehmer aufgezwungenen Tätigkeiten abschöpfen kann. 270 Allein die Zurechnung danach vorzunehmen, wer die Vorteile der Tätigkeit hat, ist zu unbestimmt, um die Voraussetzungen und Kriterien der arbeitsvertraglichen Risikoverteilung herauszuarbeiten. 271 Zum anderen ist zweifelhaft, ob Blaschczok, Gefährdungshaftung und Risikozuweisung (1993), S. 223. So schon Koller, Die Risikozurechnung bei Vertragsstörungen in Austauschverträgen (1979), S. 386. 267 Langenbucher, Risikohaftung und Schutzpflichten im innerbetrieblichen Schadensausgleich, ZfA 1997, S. 523 (544). 268 Annuß, (Nichts) Neues zur Arbeitnehmerhaftung?, NZA 1998, S. 1089 (1092). 269 Canaris, Risikohaftung bei schadensgeneigter Tätigkeit im fremden Interesse, RdA 1966,41 (43). 270 Annuß, Die Haftung des Arbeitnehmers (1997), S. 114 und 122. 271 Zur Kritik MünchArbR-Blomeyer § 57 Rz. 30; Annuß, Die Haftung des Arbeitnehmers (1997), S. 98 ff.; Hammen, Die Gattungshandlungsschuld (1995), S. 244 ff. 265
266
198
4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
diese Argumentation auf ein Rechtsprinzip zurückgeführt werden kann. M e thodisch scheint nur der Hinweis auf die gewohnheitsrechtliche Ausprägung zu verbleiben. 2 7 2 Dieser H i n w e i s ist j e d o c h unbefriedigend 2 7 3 , da der G r u n d der Risikoverlagerung weiterhin unklar bleibt. E b e n s o w e n i g erklärt der Begriff einer möglichen arbeitsrechtlichen Schutzpflicht den G r u n d für die abweichende Haftungsverlagerung und ist wie die Fürsorgepflicht eine Begriffshülse.
2. Grund und Umfang der Haftungserleichterung des objektiven Arbeitgeberanteils
in der
Abwägung
U m die N o t w e n d i g k e i t einer judiziellen v o m dispositiven R e c h t abweichenden Risikoverteilung zu erklären, ist das M o d e l l der prinzipiengeleiteten A b w ä gung zugrunde zu legen. D i e Rechtsprechung darf nur dann die Erwartung des Arbeitnehmers auf eine Haftungserleichterung verrechtlichen, wenn die judiziell begründete Regelung zum Ausgleich einer Äquivalenzstörung des Vertrags erforderlich ist. D a r ü b e r hinaus m u ß eine autonomienähere L ö s u n g ausscheiden: E i n rational handelnder A r b e i t n e h m e r darf keine M ö g l i c h k e i t gehabt haben, entweder eine Risikoprämie ex ante oder eine Haftungsfreistellung ex post selbst vertraglich zu vereinbaren.
a) Berechtigtes
Arbeitnehmerinteresse
aa) Aquivalenzstörung
im
Haftungsfall
D e r Vertrag ist nur dann eine für beide Parteien erstrebenswerte K o o p e r a t i o n , wenn er beiden die M ö g l i c h k e i t bietet, einen G e w i n n zu erzielen. D i e s e r potentielle G e w i n n des Arbeitnehmers kann durch einen Schadensersatzanspruch des Arbeitgebers vollständig aufgezehrt werden. N u n ist dies keine Besonderheit des Arbeitrechts, da auch in anderen Verträgen ein Schadensersatzanspruch den Vertragsgewinn übersteigen kann. D i e arbeitsvertragliche Besonderheit, die letztlich zu der abstrakten Risikozuweisung an den Arbeitgeber führt, liegt darin begründet, daß die Risiken zwar vertraglich angelegt oder nach den W o r ten des Bundesarbeitsgerichts 2 7 4 »betrieblich veranlaßt« sind, j e d o c h bei der H ö h e des Arbeitsentgelts typischerweise unberücksichtigt bleiben. Vertraglich angelegt sind diese Risiken, weil sich der A r b e i t n e h m e r aufgrund seiner E i n b i n dung in die vorgegebene Arbeitsumgebung nicht aussuchen kann, welchen R i siken er sich aussetzt.
Annuß, Die Haftung des Arbeitnehmers (1997), S. 122. Ebenso Däubler, Die Haftung des Arbeitnehmers - Grundlagen und Grenzen, N J W 1986, S. 867 (868). 2 7 4 B A G GS Beschluß v. 27.9.1994 - G S 1 / 8 9 - A P Nr. 103 zu §611 B G B Haftung des Arbeitnehmers. 272
273
$ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende Nebenpflichten
199
Steht dieses R i s i k o in einem offensichtlichen Mißverhältnis zur Gegenleistung des Arbeitgebers, ist die vertragliche Äquivalenz gestört. D a s R i s i k o , mit einer dem eingesetzten Wert und einer der H ö h e nach fremdbestimmten vertraglichen H a f t u n g bedroht zu sein, ist ein ausschlaggebender Gesichtspunkt in der K o s t e n - N u t z e n - R e c h n u n g eines rational handelnden Arbeitnehmers, der überlegt, o b sich der Vertrag für ihn lohnt. Ist ihm vor Vertragsschluß bekannt, daß er Risiken dem eingesetzten Wert nach nicht bestimmen kann, wird er sich diese für ihn unkontrollierbare Haftungsgefahr abkaufen lassen, um sie kalkulierbar zu machen. D e r Arbeitgeber entscheidet allein darüber, welche Betriebsmittel er einsetzt, welche Werte er in potentiellen Haftungssituationen riskiert und welchen G e w i n n er erzielen kann. Seinem R i s i k o steht als möglicher A u s gleich der U n t e r n e h m e n s g e w i n n gegenüber. 2 7 5 D e m A r b e i t n e h m e r ist durch die vertikale Integration in die Organisation des Arbeitgebers dieses R i s i k o , aber auch die G e w i n n m ö g l i c h k e i t a b g e n o m m e n . Dieses Wertschöpfungsargument erklärt daher nur, warum ein rational handelnder Arbeitgeber überhaupt hohe Werte einsetzt. D i e arbeitsvertragliche Besonderheit, die der H a f t u n g s erleichterung zugrunde liegt, ist j e d o c h die typische Störung der vertraglichen Äquivalenz. Anders als einem selbständig T ä t i g e n 2 7 6 fehlt dem A r b e i t n e h m e r diese k o n k r e t e Steuerungsmöglichkeit der eingesetzten Risikopotentiale, ohne daß sich dieses zusätzliche R i s i k o in der vertraglichen Äquivalenz niederschlägt, also in dem L o h n des Arbeitnehmers als Gegenleistung für die Ü b e r nahme dieser Risikosituationen. D a die D i s k r e p a n z zwischen Entgelt und Schadensersatzforderung des Arbeitgebers im nachhinein kaum durch eine » L o h n e r h ö h u n g « korrigiert werden kann (wie sollte diese zu berechnen sein?) bietet sich eine auf den eingetretenen Schadensfall bezogene Haftungsfreistellung als wirtschaftlich äquivalente L ö s u n g an. Diese Wertung ist auf den von der R e c h t s p r e c h u n g entwickelten Freistellungsanspruch des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber bei einer Drittschädigung zu übertragen. D a s Bundesarbeitsgericht stützt den Freistellungsanspruch dagegen auf einen weitgehend diffusen B e z u g zur Fürsorgepflicht. 2 7 7 Diese A n b i n d u n g wie auch die Überlegung, den Freistellungsanspruch aus § 6 7 0 B G B herzuleiten 2 7 8 , verdecken die tatsächlichen
Zurechnungsgründe
eher, als daß sie eine H i l f e bei der Herausarbeitung von Vorausetzungen und Kriterien der Risikoverteilung sein k ö n n t e n . D e r Freistellungsanspruch ist 275 Annuß, Die Haftung des Arbeitnehmers (1997), S. 114, der von der Möglichkeit zur Mehrwertabschöpfung des Arbeitgebers spricht. 276 Zum Vergleich der Marktsituation eines Arbeitnehmers mit einem selbständig Tätigen vgl. Buchner, Berufshaftpflichtversicherung oder gesetzliche Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung? RdA 1972, S. 153 (157); Otto, Gutachten zum 56. Deutschen Juristentag, E 37; Däubler, Die Haftung des Arbeitnehmers - Grundlagen und Grenzen, S. 869. 277 Urt. v. 23.6.1988 - 8 AZR 300/85 - AP Nr. 94 zu §611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 278 ErfK-Preis § 611 BGB Rz. 1054; MünchArbR-ß/om^er § 60 Rz. 15.
200
4. Kapitel: Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpßichtbegründung
»Konsequenz und Korrelat« 279 der beschränkten Arbeitnehmerhaftung gegenüber dem Arbeitgeber. Er hängt unmittelbar mit dem vorgegebenen Einsatz des Betriebsmittels zusammen. Mit der Entwicklung des Freistellungsanspruchs aus vertragstheoretischen Überlegungen heraus und damit der Begrenzung der vom Gesetz abweichenden Risikoverteilung auf das Arbeitsverhältnis ist aber zugleich der direkten Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung gegenüber dem Dritten eine Absage erteilt. 280 bb) Fehlen einer autonomienäheren
Lösung
In der oben beschriebenen Situation hat der Arbeitnehmer zwei Möglichkeiten, Haftungsrisiken zu begegnen. Der Arbeitnehmer kann theoretisch Risikosituationen meiden oder er kann versuchen, die Haftung mit einer ihn entlastenden vertraglichen Klausel auf den Arbeitgeber abzuwälzen. (1.) Ausweichmöglichkeiten im Tatsächlichen. Praktisch kann es der Arbeitnehmer kaum vermeiden, Situationen ausgesetzt zu sein, die ein hohes Haftungsrisiko bergen. 281 Er muß zum einen die Weisungen 282 des Arbeitgebers befolgen, zum anderen muß er sich in die vom Arbeitgeber vorgegebene Organisation fügen, die seinen Tätigkeitsablauf wie viele vergegenständlichte Einzelweisungen bestimmt. Der Arbeitnehmer kann nicht entscheiden, ob er seine Tätigkeit mit den vom Arbeitgeber bereit gestellten Mitteln wie Computer, Fahrzeuge, Produktionsmaschinen etc. durchführen will oder ob er es vorzieht, dies wegen etwaiger Haftungsrisiken zu unterlassen. 283 (2.) Vereinbarung eines Gefahrenzuschlags. Eine autonomienähere Lösung, die der judiziellen Pflichtbegründung vorzuziehen wäre 284 , bestünde darin, daß die Arbeitsvertragsparteien selbst einen Gefahrenzuschlag oder eine Haftungsbefreiung aushandeln. Ein solcher Markt existiert jedoch aus zwei Gründen nicht. Die Informationen über mögliche Haftungssituationen zwischen den Parteien sind zu asymmetrisch verteilt, als daß eine Regelung ausgehandelt werden könnte. Darüber hinaus vertrauen die Arbeitsvertragsparteien der existierenden und damit kostengünstiger erscheinenden judiziellen Haftungsverteilung und werden - insbesondere im Konfliktfall - nicht versuchen, eine eigene Re279 280
mutet.
Denck, Der Schutz des Arbeitnehmers vor der Außenhaftung (1980), S. 255. Vgl. Annuß, Die Haftung des Arbeitgebers (1997), S. 18, der darin Anlaß zur Kritik ver-
281 Canaris, Risikohaftung bei schadensgeneigter Tätigkeit im fremden Interesse, RdA 1966, S. 45; Annuß, Die Haftung des Arbeitnehmers (1997), S. 114. 282 Hammen, Die Gattungshandlungsschuld (1995), S. 238 2 8 3 Vgl. dazu auch Heinze, Zur Verteilung des Schadensrisikos bei unselbständiger Arbeit, NZA 1986, S. 545 (548), der die Haftungseinschränkung mit dem Gedanken der »Fremdfürsorge« des Arbeitgebers begründet. 284 Vgl. § 8, S. 132.
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende Nebenpflichten
201
gelung zu finden, so daß sich ein M a r k t nicht entwickeln wird. Allein mit einer Aufklärungspflicht vor Vertragsschluß kann dem P r o b l e m nicht b e i g e k o m m e n werden, da es auch für den Arbeitgeber bei Vertragsschluß oft n o c h nicht absehbar ist, welchen Risiken der A r b e i t n e h m e r ausgesetzt sein wird. E b e n s o ist eine Prämie, die einen möglichen Schaden ausgleichen soll, im voraus nicht zu berechnen. D i e Schwierigkeit, Risiken unabhängig von ihrer Verwirklichung im Einzelfall abstrakt festzulegen, hat sich nicht zuletzt an der Unzulänglichkeit des Begriffs der gefahrgeneigten A r b e i t gezeigt. E r mußte aufgegeben werden, da er mögliche Risiken bei solchen Tätigkeiten nicht erfassen konnte, die zwar nicht offensichtlich risikoträchtig waren, aber den A r b e i t n e h m e r t r o t z dem mit hohen Schadensersatzansprüchen konfrontierten. Typischerweise fehlt daher eine autonomienähere Lösung, um die Äquivalenzstörung zu verhindern. H a b e n die Parteien aber im Ausnahmefall einen Gefahrenzuschlag oder eine Haftungsbefreiung vereinbart und deckt diese das verwirklichte Haftungsrisiko ab, so fehlt es bereits an einer Voraussetzung des judiziellen Eingreifens. Das Bundesarbeitsgericht berücksichtigt diesen U m stand dagegen erst bei der k o n k r e t e n Schadensverteilung. 2 8 5 b) Berechtigtes
Arbeitgeberinteresse
D e r Arbeitgeber hat dagegen ein berechtigtes Interesse daran, daß der A r b e i t nehmer bei seinem Verschulden das R i s i k o tragen soll. Dies folgt schon aus den gesetzlichen Regeln der §§ 2 7 6 , 2 4 9 B G B . In den Fällen, in denen der Arbeitgeber den Unfall nicht mitverschuldet hat oder eine k o n k r e t e Schadensminderungspflicht besteht, bezieht sich die P r ä v e n t i o n s f u n k t i o n 2 8 6 des Haftungsrechts, die anders als ö k o n o m i s c h e E f f i z i e n z darauf gerichtet ist, die rechtlich anerkannten G ü t e r zu schützen, ausschließlich auf den Arbeitnehmer, der als einziger den Unfall hätte k o n k r e t verhindern können. 285
mers.
Beschluß v. 27.9.1994 - GS 1/89 - AP Nr. 103 zu §611 B G B Haftung des Arbeitneh-
2 8 6 Zur Präventionsfunktion des Haftungsrechts: Scheel, Versicherbarkeit und Prävention (1999), S. 19; Ott/Schäfer, Die Anreiz- und Abschreckungsfunktion im Zivilrecht, in: Schäfer/ Ott (Hrsg.) Die Präventivwirkung zivil- und strafrechtlicher Sanktionen: Beiträge zum VI. Travemünder Symposium (1999), S. 131 (132); Blaschczok, Kommentar zu Ott/Schäfer, Anreiz- und Abschreckungsfunktion im Zivilrecht, in: Schäfer/Ott (Hrsg.) Die Präventivwirkung zivil- und strafrechtlicher Sanktionen: Beiträge zum VI. Travemünder Symposium (1999), S. 156; vgl. die ältere Literatur: Deutsch, Die Zwecke des Haftungsrechts, JZ 1971, S. 244 (246); Zur »erzieherischen Wirkung« des Haftungsrechts Esser, Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungshaftung (1969), S. 128. Zum umstrittenen Verhältnis der Ausgleichsfunktion zur Präventionsfunktion des Haftungsrechts vgl. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökono mischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 113 ff. Kritisch zur Ausgleichsfunktion der Haftungsregeln, die stets Einfluß auf eine Verteilung des Schadens haben Blaschczok, Gefährdungshaftung und Risikozuweisung (1993), S. 342, unter Verweisung auf Esser, Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungshaftung (1969), S. 66, wonach allein mit einem Hinweis auf eine Ausgleichsfunktion nichts inhaltlich konkretisiert ist, da es stets um eine gerechte Verteilung der Risiken gehe.
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4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
G e g e n diese haftungsrechtliche F u n k t i o n ist das unter a) als berechtigt festgestellte Arbeitnehmerinteresse abzuwägen. D a m i t ist in erster Linie das Arbeitnehmerverschulden zu gewichten. D i e innerhalb der A b w ä g u n g herangezogenen Kriterien müssen nämlich gewährleisten, daß die F u n k t i o n der gesetzlichen Haftungsregelungen t r o t z der abstrakten Risikoverlagerung auf den Arbeitgeber nicht aufgehoben wird. D i e Herleitung der Kriterien knüpft daher ausschließlich an das Verschulden und die Beherrschbarkeit der Unfallsituation an. D i e vertragstheoretischen Überlegungen, die zur Haftungsverlagerung des abstrakten Risikos auf den Arbeitgeber geführt haben, spielen dabei keine R o l le, im Gegenteil: D i e Kriterien für die G e w i c h t u n g des k o n k r e t e n Verursachungsbeitrags des Arbeitnehmers grenzen die der Q u o t e nach n o c h unbestimmte und abstrakte Risikoverlagerung auf den A r b e i t g e b e r ein und führen sie auf ein M a ß zurück, bei dem die Haftungserleichterung n o c h mit den Grundgedanken der Verschuldenshaftung vereinbart werden kann. H i n s i c h t lich des k o n k r e t e n Arbeitnehmerverschuldens gilt die Darlegungs- und B e weislastregel des § 6 1 9 a B G B . Trennt man, wie hier vorgeschlagen, zwischen der Begründung des Z u r e c h nungsgrundes und der anschließend vorzunehmenden Schadensquotierung, so kann sich die G e w i c h t u n g des k o n k r e t e n Verschuldensbeitrags des A r b e i t n e h mers auf eine Analogie zu § 2 5 4 B G B stützen. J e d o c h kann aus dieser Analogie der Zurechnungsgrund des v o m Arbeitgeber abstrakt zu tragenden Risikos nicht legitimiert werden. D i e Analogie bezieht sich nur auf die G e w i c h t u n g des konkreten Verursachungsbeitrags des A r b e i t n e h m e r s . 2 8 7 V o n dieser analogen A n w e n d u n g des § 2 5 4 B G B ist die spätere direkte Berücksichtigung eines M i t verschuldens des Arbeitgebers an dem Unfall streng zu trennen. I n dieser zweiten A b w ä g u n g k o m m t es auf das k o n k r e t e Organisationsverschulden an. D e r Arbeitgeber m u ß eine k o n k r e t zu bezeichnende Sicherungsmaßnahme unterlassen haben. I h m kann innerhalb der direkten A n w e n d u n g des § 2 5 4 B G B nicht vorgeworfen werden, daß sich in seinem Organisationsbereich überhaupt Unfälle ereignet haben. D i e R e c h t s p r e c h u n g kann über die Haftungserleichterung keine faktische Gefährdungshaftung für Arbeitsunfälle begründen. M i t steigendem Schuldvorwurf n i m m t die Bedeutung der Präventionsfunktion zu und kann bei einem besonders starken Vorwurf nur unter besonderen Bedingungen zurücktreten. In diese Lesart sind die Kriterien einzupassen, die das Bundesarbeitsgericht 2 8 8 innerhalb der A b w ä g u n g des konkreten A r b e i t 287 Annuß, Die Haftung des Arbeitnehmers (1997), S. 122, der allerdings den Grund der Risikozuordnung in einer gewohnheitsrechtlichen Verfestigung sieht. 288 BAG GS Beschluß v. 27.9.1994 - GS 1/89 - AP Nr. 103 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. Neben dem Umstand des Verschuldensgrades berücksichtigt das Bundesarbeitsgericht bei der innerbetrieblichen Schadensverteilung darüber hinaus noch die folgende Kriterien: Die Gefahrgeneigtheit der Arbeit, die Schadenshöhe, ein vom Arbeitgeber einkalkuliertes oder durch Versicherung abdeckbares Risiko, die Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb,
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende
Nebenpflichten
203
nehmerverschuldens gegen die abstrakte Risikotragung des Arbeitgebers heranzieht. Sie müssen nach den vorangegangenen Überlegungen dazu geeignet sein, die vertragstheoretisch begründete Risikoverlagerung so zu begrenzen, daß die Präventionsfunktion der gesetzlichen Regelungen nicht unterlaufen wird. Nicht alle von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien 289 lassen sich danach aufrechterhalten. Nach dem hier vertretenen Ansatz kommt es auf diese persönlichen Verhältnisse des Arbeitnehmers bezüglich seiner Lebens- und Finanzsituation nicht an 290 , da diese Kriterien in keinem Zusammenhang mit der Präventionsfunktion der Haftungsregel stehen. Das Verhältnis zwischen der Schadens- und der Lohnhöhe kann dagegen indizieren, daß der Präventionsfunktion auch bei einer nur quotalen Schadenstragung genügt werden kann. Steht der Schaden in einem offensichtlichen Mißverhältnis zur Entlohnung, wird der Arbeitnehmer auch dann zur Schadensverhinderung angehalten, wenn er nur einen Teil des hohen Schadens ersetzen muß, wie z.B. in den Sachver halten der Entscheidungen vom 23.1.1997291 (Lohn 2.500 DM netto; Schaden 150.000 DM) oder vom 12.10.1989292 (Lohn unter 4.000 D M netto; Schaden 110.195,15 DM). Die Abschreckungswirkung, die letztlich einen Handlungsanreiz zu sorgfältigem Verhalten setzen soll, kann in diesen Fällen auch dann erzielt werden, wenn der Arbeitnehmer nur einen Teil des sehr hohen Betrags ersetzen muß. Ein schwerer Schuldvorwurf kann daher nicht erleichtert werden, wenn kein eklatantes Mißverhältnis zwischen Schaden und Entgelt besteht. Bei grober Fahrlässigkeit muß die Präventionswirkung durch eine hohe Schadensersatzforderung aufrechterhalten werden. So schied im Sachverhalt der Entscheidung vom 25.9.1997 293 eine Haftungserleichterung abweichend von der Begründung des Bundesarbeitsgerichts schon von vornherein aus, weil der zu ersetzende Schaden (110.418,10 DM) in keinem deutlichen Mißverhältnis zur Entgelthöhe der angestellten Arztin gestanden hat wie auch eine Haftungserleichterung bei die H ö h e des Arbeitsentgelts, die persönlichen Verhältnisse des Arbeitnehmers wie die Dauer seiner Betriebszugehörigkeit, sein Lebensalter, seine Familienverhältnisse und sein bisheriges Verhalten im Betrieb. 289 BAG GS Beschluß v. 27.9.1994 - GS 1/89 (A )- AP Nr. 103 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 290 So auch MünchArbR- Blomeyer § 59 Rz. 56; Annuß, Die Haftung des Arbeitnehmers (1997), S. 122; Langenbucher, Risikohaftung und Schutzpflichten im innerbetrieblichen Schadensausgleich, ZfA 1997, S. 523 (552); a. A. Hübsch, Arbeitnehmerhaftung bei Versicherbarkeit des Schadensrisikos und bei grober Fahrlässigkeit, BB 1998, S.690 (695), der auf eine Parallele zu § 1 Abs. 3 Satz 1 1. HS KSchG verweist. Der Unterschied liegt allerdings darin, daß der Gesetzgeber beim KSchG die Berücksichtigung dieser Kriterien vorgeschrieben hat. Lehnt man eine verfassungsrechtliche Begründung der Haftungsfreistellung ab, so fehlt jedoch ein Ansatzpunkt, diese Kriterien zu berücksichtigen. 291 8 AZR 893/95 - N Z A 1998, S. 140. 292 8 AZR 276/88 AP Nr. 97 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 293 8 AZR 288/96 - AP Nr. 111 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers.
204
4. Kapitel: Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
einem Schaden von 6705, 50 DM bei einem Bruttoeinkommen von 5370 DM 2 9 4 schon den Voraussetzungen nach hätte abgelehnt werden können. Die anderen vom Bundesgericht entwickelten Kriterien sind verwendbar, soweit sie eine Bestimmung des Verschuldensvorwurfs erlauben. Dabei sollte die Haftungsdreiteilung nicht unflexibel gehandhabt werden. 295 Sie ist für die Rechtsprechung ohnehin keine Determinante mehr. So weist das Bundesarbeitsgericht in ständiger Rechtsprechung darauf hin, daß auch im Falle grober Fahrlässigkeit die Haftung des Arbeitnehmers erleichtert werden kann. 296 Vielmehr sollte, wie Deutsch297 es vorgeschlagen hat, der Verschuldensgrad skalenartig ermittelt werden, ohne an ohnehin nicht faßbaren Begriffen zu kleben. Auf eine vierte Fahrlässigkeitskategorie der »gröbsten« Fahrlässigkeit 298 kann daher verzichtet werden. Die Schwere des Verschuldens richtet sich in dieser Abwägung nicht nur nach dem streng objektiven und an verhaltenstypischen Erwartungen ausgerichteten Sorgfaltsbegriff. 299 Bei der Feststellung eines besonders schweren Vorwurfs wie der »groben« Fahrlässigkeit kommt es auf die individuellen Fähigkeiten des Verletzers an. 300 Erst der subjektive Schuldvorwurf begründet die Schwere des Vorwurfs. Die individuelle Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit des Unfalls für den Arbeitnehmer können mit den Kriterien der Dauer der Betriebszugehörigkeit, der Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb, dessen Lebensalter oder der Gefahrgeneigtheit der Tätigkeit gewürdigt werden. In diesem Zusammenhang berücksichtigte das Bundesarbeitsgericht in den Fällen betrieblich bedingter Kraftfahrzeugunfälle, wie lange der Arbeitnehmer den Führerschein besaß und ob er aufgrund seines bisherigen Einsatzes im Betrieb, seiner vorherigen Tätigkeit und seines Alters Fahrpraxis hatte. 301 Ergibt sich, 2 9 4 BAG, Urt. v. 12.11.1998-8 AZR 2 2 1 / 9 7 - A P Nr. 117 zu §611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 295 Annuß, Die Haftung des Arbeitnehmers (1997), S. 116; Deutsch, Das Verschulden als Merkmal der Arbeitnehmerhaftung, RdA 1996, S. 1 (4); MünchArbR-Blomeyer § 59 Rz. 46 ff.; zum Abrücken der Rechtsprechung von dieser Dreiteilung Hübsch, Arbeitnehmerhaftung bei Versicherbarkeit des Schadensrisikos und bei grober Fahrlässigkeit, BB 1998, S. 690 (694). 2 9 6 BAG, Urt. v. 25.9.1997- 8 AZR 288/96 - AP Nr. 111 zu §611 BGB Haftung des Arbeitnehmers und. v. 12.10.1989 - 8 AZR 276/88 - 8 AZR 276/88 AP Nr. 97 zu § 611 B G B Haftung des Arbeitnehmers m.w.N. zur Rechtsprechungsentwicklung. 2 9 7 Das Verschulden als Merkmal der Arbeitnehmerhaftung (1997), S. 4. 298 Urt. v. 25.9.1997-8 AZR 2 8 8 / 9 6 - A P Nr. 111 zu§611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 299 Deutsch, Das Verschulden als Merkmal der Arbeitnehmerhaftung, RdA 1996, S. 1 (4); lAùnàihrbK-Blomeyer § 59 Rz. 52. 3 0 0 Vgl. Hübsch, Arbeitnehmerhaftung bei Versicherbarkeit des Schadensrisikos und bei grober Fahrlässigkeit, BB 1998, S. 690 (693) m.w.N und Ahrens, Anmerkung zu BAG, Urt. v. 12.11.1998-8 AZR 2 2 1 / 9 7 - A P Nr. 117 zu §611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 301 Urt. V. 7.7.1970 - 1 AZR 507/69 - AP Nr. 59 zu § 611 B G B Haftung des Arbeitnehmers und 1 AZR 5 0 5 / 6 9 - A P Nr. 58 zu §611 BGB Haftung des Arbeitnehmers; Urt. v. 28.4.1970146/69 - AP Nr. 55 zu § 611 B G B Haftung des Arbeitnehmers.
5 10: Vertragskonkretisierende
zwingende
Nebenpflichten
205
daß der Arbeitnehmer trotz der Risikoverlagerung einen A n r e i z dazu bek o m m t , Unfälle zu verhindern u n d somit die Präventionsfunktion erfüllt w i r d , kann die Rechtsprechung die H a f t u n g des Arbeitnehmers einschränken.
3. Abwägung der konkreten Verursachungsbeiträge und Arbeitnehmer gem. § 254 BGB
von
Arbeitgeber
Erst in einem zweiten A b w ä g u n g s s c h r i t t sind die konkreten Verursachungsbeiträge beider Parteien in der direkten A n w e n d u n g des § 254 B G B gegenüberzustellen. Diese Differenzierung zwischen den Abwägungsschritten ist nicht nur notwendig, u m eine doppelte Berücksichtigung desselben Gesichtspunkts zu vermeiden, sondern auch, u m die jeweils zu bildende Vorrangrelation in der A b w ä g u n g nachvollziehbar zu erklären. Die abstrakte Risikotragungspflicht ist zu modifizieren, w e n n den Arbeitgeber ein konkretes Mitverschulden gem. § 254 Abs. 1 BGB trifft oder ihm das Unterlassen einer Schadensminderungspflicht gem. § 254 Abs. 2 S. 1 B G B vorz u w e r f e n ist. Hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast bleibt es bei der Grundregel des § 280 Abs. 1 S. 2, w o n a c h sich der Arbeitgeber entlasten muß. Zwei Fälle sind daher zu unterscheiden. D e m Arbeitgeber kann ein Verschulden gegen sich selbst in der direkten A n w e n d u n g des § 254 Abs. 1 B G B angelastet werden, w e n n eine konkrete M a ß n a h m e oder das Unterlassen einer k o n kreten Sorgfaltspflicht in schuldhafter Weise die Wahrscheinlichkeit des Unfalls erhöht oder den Unfall selbst herbeigeführt haben. Weiterhin k a n n den A r b e i t geber gem. § 254 Abs. 2 S. 1 B G B eine Schadensminderungspflicht in F o r m einer Versicherungsobliegenheit treffen.
a) Organisationsverschulden gem. § 254 Abs. 1 BGB
bei der
Schadensentstehung
Ein Organisationsverschulden in F o r m eines schuldhaften Unterlassens kann dem Arbeitgeber nur dann vorgeworfen werden, w e n n er die zur Verfügung stehenden Kontrollmöglichkeiten innerhalb der von ihm aufgestellten Betriebsorganisation nicht ausgeschöpft hat. Das Gericht m u ß im R a h m e n der vorgegebenen Organisationsmöglichkeiten eine konkrete Schadensverhinderungsmaßnehme bezeichnen können. Es kann sich schon mangels der erforderlichen Informationen nicht an die Stelle des Arbeitgebers setzen und eine neue Organisation vorschlagen, mit der U n f ä l l e möglichst effektiv verhindert werden können. Darüber hinaus k ä m e eine derartige Pflicht, den Betrieb oder das U n t e r n e h m e n optimal zu organisieren, einer faktischen Gefährdungshaftung gleich, die gesetzlich nicht vorgesehen ist und von der Rechtsprechung über die Haftungserleichterung nicht begründet w e r d e n kann. Setzt der Arbeitgeber z.B. einen Arbeitnehmer ohne Fahrpraxis bei Kraftfahrzeugfahrten ein, so m u ß er sich es als Verschulden gegen sich selbst anrechnen lassen, w e n n er keinen an-
206
4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
deren erfahrenen A r b e i t n e h m e r als Beifahrer mitfahren 3 0 2 oder z . B . Arbeiten nur durch ungelernte A r b e i t n e h m e r durchführen läßt. 3 0 3 E b e n s o ist es an dieser Stelle zu berücksichtigen, wenn der Arbeitgeber schuldhaft Weisungen erteilt hat, die zum Unfall geführt haben, etwa wenn er einen Arbeitnehmer, der über keine Fahrpraxis verfügt, anweist, einen ihm nicht vertrauten Wagen zu benutzen. 3 0 4 H a b e n die Arbeitsvertragsparteien den Verantwortungsbereich des A r b e i t nehmers ausdrücklich geregelt, so spielt dies bei der Ü b e r p r ü f u n g eines O r g a nisationsfehlers des Arbeitgebers eine entscheidende Rolle. In der N a r k o s e ä r z tin-Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts 3 0 5 k o n n t e sich die beklagte A r b e i t nehmerin deshalb nicht auf ein Organisationsverschulden des Arbeitgebers berufen, weil gerade sie mit der eigenverantwortlichen D u r c h f ü h r u n g der zum Unfall führenden Transfusion beauftragt w o r d e n war und die ihr zuarbeitende K r a n k e n s c h w e s t e r hätte selbst kontrollieren müssen. D e r Arbeitgeber hatte innerhalb der bestehenden Organisation keine Möglichkeit, den Sorgfaltsverstoß der angestellten Ä r z t i n zu verhindern, da die Arbeitnehmerin allein für die K o n t r o l l e zuständig war. Anders waren die Verantwortlichkeiten in der Flugbegleiter-Entscheidung 3 0 6 zwischen den Arbeitsvertragsparteien aufgeteilt. D e r Arbeitgeber hatte der klagenden Arbeitnehmerin im Sachverhalt dieser E n t scheidung L o h n in H ö h e einer Einreisestrafe abgezogen, die deshalb verhängt w o r d e n war, weil die A r b e i t n e h m e r i n ihren Reisepaß vergessen hatte. Z w a r sahen die dienstlichen Anweisungen vor, daß jeder Flugbegleiter für seine jeweiligen Einreisedokumente selbst verantwortlich sein sollte. D a r ü b e r hinaus sollte die Vollständigkeit dieser D o k u m e n t e nach der bestehenden Organisationsverteilung j e d o c h nochmals von dem C h e f der Kabinenbesatzung überprüft werden. D a m i t bestand beim Arbeitgeber bereits ein K o n t r o l l s y s t e m , mit dem er die nur leicht fahrlässige Sorgfaltspflichtverletzung der Arbeitnehmerin hätte verhindern k ö n n e n . Das G e r i c h t k o n n t e daher dem Arbeitgeber ein konkretes Organistionsverschulden vorwerfen, da er die von ihm selbst vorgesehene K o n trolle nicht durchgeführt hatte.
302 Anders BAG, Urt. v. 7.7.1970 - 1 AZR 507/69 - AP Nr. 59 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers, wonach der Einsatz trotz geringer Fahrpraxis als Umstand bei der Bestimmung der objektiven Betriebgefahr zu berücksichtigen ist. 303 Urt. V. 7.7.1970 - 1 AZR 505/69 - AP Nr. 58 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 304 BAG, Urt. v. 18.1.1972 - 1 AZR 125/71 - AP Nr. 69 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 305 Urt. v. 25.9.1997-8 AZR 288/96-AP Nr. 111 zu §611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 306 BAG, Urt. v. 16.2.1995 - 8 AZR 493/93 - AP Nr. 106 zu §611 BGB Haftung des Arbeitnehmers.
§ 10: Vertragskonkretisierende
b) Abwägung
gegen das Verschulden
zwingende
des
Nebenpflichten
207
Arbeitnehmers
Das konkrete Arbeitgeberverschulden ist gegen das des Arbeitnehmers abzuwägen. Es müssen der Präventionsfunktion nach für beide Parteien Anreize gesetzt werden, um den Schaden zu vermeiden. Damit ist die Rechtsfolgenwirkung der Haftungsregelung angesprochen und damit das Problem, wie die Regelung einen Anreiz zu schadensverhinderndem oder schadensminderndem Verhalten setzen kann. Diese ausschließlich auf die Rechtsfolgen und nicht auf die Haftungsverlage als solche bezogene Untersuchung kann auf dem oben erörterten 307 entscheidungstheoretischen Modell aufbauen, das erklärt, wie rational handelnde Parteien auf den Normappell der Haftungsregelung reagieren. Dafür spielen die wirtschaftlichen Interessen der Parteien die maßgebliche Rolle. Für diese ausschließlich rechtsfolgenbezogene Untersuchung kann die ökonomische Analyse auch vor dem Hintergrund der vorangestellten Kritik instrumentalisiert werden. 308 In der Literatur zur ökonomischen Analyse des Rechts entspricht es der überwiegenden Ansicht, daß vertragliche Haftungsregelungen einen Anreiz zu schadensverhindernden Verhaltensweisen setzen können. 3 0 9 Aus ökonomischer Sicht soll die Risikozuweisung so ausgestaltet werden, daß - wie es CalabresP10 in seiner grundlegenden Untersuchung gezeigt hat - die Entstehung von primären, sekundären und tertiären Kosten 3 1 1 verhindert wird oder diese Kosten zumindest gesenkt werden. Danach soll die Haftungsregel unabhängig davon, ob es sich um eine Fahrlässigkeits- oder um eine Gefährdungshaftung handelt 312 , das Risiko demjenigen Beteiligten zuweisen, der es mit Vgl. § 7 III. 3, S. 117. Dieser ausschließlich rechtsfolgenorientierte Einsatz der ökonomischen Analyse ist nach dem zugrunde gelegten Konzept zulässig, da von den rechtlichen Wertungen aus untersucht wird, wie die Regel im Tatsächlichen - angesichts der wirtschaftlichen Interessen der Parteien - umgesetzt werden kann. 309 Latin, Problem-Solving Behavior Theories Of Tort Liability, 73 (1985) California Law Review 677, der aber auch kritisch auf das oftmals fehlende Problembewußtsein hinweist. 3 1 0 The Costs O f Accidents (1970), S. 26 ff. 3 1 1 Unter primären Kosten versteht Calabresi, The Costs O f Accidents (1970), S. 26 die Kosten, die den Unfall selbst oder seine Schadensfolge betreffen. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 117 verstehen darunter den durch den Unfall vernichteten Nutzwert (aaO. S. 101). Sekundäre Kosten bezeichnen die »sozialen Schadenskosten«, die von den primären Schadenskosten abweichen, wenn Versicherungslösungen z.B. in der Form einer Risikostreuung die Schäden auf mehrere Personen verteilen (Calabresi aaO., S. 27; Schäfer/Ott, aaO., S.122). Tertiäre Kosten sind die Schadensabwicklungskosten (Calabresi aaO., S.28), wie z.B. Anwaltskosten und Gerichtskosten ( S c h ä f e r / O t t , aaO., S. 128). 3 1 2 Der von Calabresi, The Costs O f Accidents (1970), S. 286 und derselbe, The Decision For Accidents: An Approach To Nonfault Allocations O f Costs, 78 (1965) Harvard Law Review 713, verwendete Begriff des cheapest cost avoiders wird von ihm nur in Zusammenhang mit einem Gefährdungshaftungsmodell verwendet, das er aus ökonomischer Sicht einer Verschuldenshaftung vorziehen will. Wie Gilles, Negligence, Strict Liability, And The Cheapest Cost Avoider, 78 (1992) Virginia Law Review 1290, gezeigt hat, fällt in einem Gefährdungs307 308
208
4. Kapitel: Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
d e n g e r i n g s t e n K o s t e n v e r h i n d e r n o d e r s e n k e n k a n n , s o d a ß die R i s i k o v e r t e i lung effizient ist.313 U n a b h ä n g i g v o n dieser bereits kritisierten und a b g e l e h n t e n 3 1 4 Zielvorgabe e i n e r e f f i z i e n t e n R i s i k o z u o r d n u n g l ä ß t sich m i t H i l f e e i n e r r e c h t s ö k o n o m i s c h e n F o l g e n a n a l y s e k l ä r e n , w a n n eine r a t i o n a l e P a r t e i S c h a d e n s a b w e n d u n g s m a ß n a h m e n a u f g r u n d e i n e r H a f t u n g s r e g e l e r g r e i f e n w i r d u n d s o die P r ä v e n t i o n s f u n k t i o n im Tatsächlichen überhaupt erfüllt werden kann. E i n e rational handelnde Partei wird einem A n r e i z der Haftungsregel nur dann n a c h k o m m e n u n d S c h ä d e n a b w e n d e n , w e n n sich die M a ß n a h m e z u r S c h a d e n s v e r h i n d e r u n g in e i n e r K o s t e n - N u t z e n r e c h n u n g
als w i r t s c h a f t l i c h s i n n v o l l e r w e i s t .
Diese
Ü b e r l e g u n g trifft ü b r i g e n s s o w o h l f ü r S c h ä d e n i n n e r h a l b v o n V e r t r a g s v e r h ä l t n i s s e n als a u c h f ü r S c h ä d e n b e i F r e m d k o n t a k t e n z u . 3 1 5 D e r K o s t e n - N u t z e n r e c h n u n g w i r d in d e r ö k o n o m i s c h e n L i t e r a t u r die s o g e n a n n t e L e a r n e d H a n d F o r m e l 3 1 6 z u g r u n d e gelegt. D a n a c h m ü s s e n die K o s t e n d e r S c h a d e n s a b w e n haftungssystem nur die Bestimmung der konkreten, im Schadensfall anzuwendenden Sorgfaltsmaßnahme fort, die sich in der ökonomischen Analyse nach der sogenannten »Learned Hand Formel« ermitteln läßt (aaO., S. 1307). Die Learned Hand Formel besagt, daß der Schädiger dann fahrlässig gehandelt hat und den Schaden hätte abwenden müssen, wenn die Kosten der Maßnahme geringer sind als das Produkt aus Schadenswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe. 3 1 3 In der ökonomischen Analyse des Rechts wird dieser Beteiligte als der »cheapest cost avoider« bezeichnet, vgl. dazu Calabresi, Some Thoughts On Risk Distribution And The Law O f Torts, 4 (1961) Yale Law Journal 499 (543); Gilles, Negligence, Strict Liability, And The Cheapest Cost-Avioder, 78 (1992) Virginia Law Review 1290 (1298 und 1306). Auf den in der ökonomischen Analyse verwendeten Begriff des »superior risk bearers« kommt es bei den hier interessierenden Fallgestaltungen dagegen nicht an. Der »superior risk bearer« soll nach der ökonomischen Analyse dann das Risiko tragen, wenn es weder beherrschbar noch versicherbar ist (Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 384). Haben beide Beteiligte zu dem Schaden beigetragen, ist der Begriff des »cheapest cost avoider« zu modifizieren: Schlecht können beide Beteiligte als »cheapest cost avoider« betrachtet werden (Blaschczok, Gefährdungshaftung und Risikoverteilung (1993), S. 186; Gilles, Negligence, Strict Liability, And The Cheapest Cost-Avioder, 78 (1992) Virginia Law Review 1290 (1294). Nicht die billigste, sondern die sinnvolle Schadensabwendungsmaßnahme muß ermittelt werden, und zwar vor dem Hintergrund, welche Abwendungsmaßnahmen dem anderen Beteiligten zur Verfügung stehen. Überwiegt die Planungskompetenz des einen Beteiligten, so können sich Schadenskosten auf lange Sicht gesehen durch eine zentrale Vorbeugungsmaßnahme verringern, obwohl im Einzelfall der andere den Schaden zu geringeren Kosten hätte verhindern können. Dabei sind alle denkbaren Transaktionskosten in die Überlegung mit einzubeziehen, so daß letztlich der »billigste Transaktionskostenvermeider« festgestellt werden muß {Blaschczok, aaO., S. 197). 3 1 4 Vgl. § 5 1. 3, S. 76 ff. 3 1 5 Nur wenn die Haftungsregel ihrem Grund nach an Effizienz ausgerichtet werden soll, muß zwischen Schäden innerhalb einer Vertragsbeziehung und Schäden bei Fremdkontakten unterschieden werden. Bei Schäden innerhalb der Vertragsbeziehung muß berücksichtigt werden, daß der Haftende unter perfekten Marktverhältnissen in den Vertragsverhandlungen die Möglichkeit hat, die Kosten der Schadensabwendung auf den anderen Vertragspartner abzuwälzen Calabresi, The Costs O f Accidents (1970), S. 161 ff. 3 1 6 Vgl. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 146 f.;
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende
Nebenpflichten
209
dungsmaßnahme geringer sein als das Produkt aus Schadenswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe. Bei einer bilateralen Verursachung sind die Schadensabwendungsmöglichkeiten beider Beteiligter in ein Verhältnis zu setzen. 3 1 7 Danach entscheidet eine Gesamtbetrachtung des Netto-Grenzertrags der Schadensabwendungsmaßnahme über ihre ökonomische Gebotenheit. 3 1 8 Bei einer von beiden zu vertretenden Schädigung kommt es darauf an, welche Maßnahme vor dem Hintergrund der Möglichkeit des anderen zur Verhinderung des Schadens ökonomisch sinnvoll ist. 3 1 9 Der Anreiz durch die Haftungsregel selbst ist insbesondere dann notwendig, wenn der Beteiligte nicht klar erkennen kann, daß er den Schaden zu den geringsten Kosten beseitigen oder verringern kann und daß sich die Planungskosten unter dem Grenznutzen der Schadensabwendungsmaßnahme halten. 3 2 0 Das Gericht ist aufgrund der bekannten Informationen in der Lage, die Risiken zumindest überschlägig nach dieser Überlegung zu verteilen, da es jeweils zwei konkrete Schadensabwendungsmaßnahmen miteinander vergleichen muß. c) Schadensminderungspflicht
als
Versicherungsobliegenheit
Das Bundesarbeitsgericht berücksichtigt seit der Entscheidung des achten Senats vom 24.11.1987 3 2 1 , ob der Arbeitgeber eine Kaskoversicherung abgeschlossen hat, und begrenzt die Haftung des Arbeitnehmers auf die hypothetisch zu zahlende Selbstkostenbeteiligung. In früheren Entscheidungen 3 2 2 hatte sich das Bundesarbeitsgericht dagegen ausgesprochen, die Haftungsverteilung an der Versicherungsmöglichkeit auszurichten, und auf den Grundsatz hingewiesen, daß die Versicherung der Haftung folgen müsse. Freilich hätte es in der Zeit vor Änderung des § 15 Abs. 2 A K B den Arbeitnehmer nicht entlastet, die Schadensquote an der Versicherungsmöglichkeit auszurichten, da er der Versicherung gemäß den alten Versicherungsbedingungen regreßpflichtig war. In § 15 Abs. 2 A K B ist jedoch der Rückgriff der Versicherung auf den Arbeitnehmer ausgeschlossen worden. Berücksichtigt man mit dem Bundesarbeitsgericht 3 2 3 in der Gilles, Negligence, Strict Liability, And The Cheapest Cost Avoider, 78 (1992) Virginia Law Review 1290 (1307). 317 Blaschczok, Gefährdungshaftung und Risikoverteilung (1993), S. 218. 318 Eidenmüller,Effizienz als Rechtsprinzip, Tübingen (1998), S.401; bei beiderseitiger Schadensverursachung oder Planungsüberlegenheit des einen Beteiligten Blaschczok, Gefährdungshaftung und Risikoverteilung (1993), S. 295. 319 Blaschczok, Gefährdungshaftung und Risikoverteilung (1993), S. 168. 320 Blaschczok, Gefährdungshaftung und Risikoverteilung (1993), S. 219. 3 2 1 Urt. v. 24.11.1987 - 8 A Z R 524/82 - AP Nr. 92 zu § 6 1 1 B G B Haftung des Arbeitnehmers. 3 2 2 Urt. v. 24.11.1987 - 8 A Z R 524/82 - AP Nr. 92 zu §611 B G B Haftung des Arbeitnehmers vgl. auch Urt. v. 8.12.1978 - I V Z R 1 0 2 / 7 0 - A P Nr. 68 zu §611 B G B Haftung des Arbeitnehmers. 3 2 3 Vgl. die Urteile B A G , Urt. v. 25.9.1997 - 8 A Z R 288/96 - AP Nr. 111 zu §611 B G B Haftung des Arbeitnehmers; v. 12.101989 - 8 A Z R 276/88 - AP Nr. 97 zu § 611 B G B Haftung
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4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
Schadensverteilung, o b der Arbeitgeber eine Kaskoversicherung hätte abschließen k ö n n e n , so führt dies quasi zur B e j a h u n g einer Obliegenheit des Arbeitgebers, seine Betriebsmittel zu versichern. Diese Rechtsprechung ist insbesondere im H i n b l i c k auf ihre mangelnde Rechtssicherheit kritisiert w o r d e n . 3 2 4 W e n n die fehlende Versicherung - wie es das Bundesarbeitsgericht annimmt - nur in der A b w ä g u n g gegen das k o n k r e t e Verschulden des Arbeitnehmers zu einer H a f tungsverlagerung führen soll, kann ein Arbeitgeber, der mehreren A r b e i t n e h mern das Fahrzeug überläßt, nicht einschätzen, o b er eine Kaskoversicherung abschließen soll. 3 2 5 Es ist daher notwendig, die rechtlichen Voraussetzungen einer Versicherungsobliegenheit zu verdeutlichen. aa) Keine Rücksicht
auf den »cheapest
insurer«
D i e Angemessenheit einer Versicherungsobliegenheit kann nach dem hier zugrunde gelegten K o n z e p t nicht unter Hinweis auf die ö k o n o m i s c h e D e n k f i g u r des »cheapest insurer« begründet werden. N a c h der ö k o n o m i s c h e n T h e o r i e soll die Risikoverlagerung auf den »cheapest insurer« dazu führen, daß die Beteiligten von Nutzenverlusten entlastet werden: D u r c h die Versicherung eines U n fallschadens würden R i s i k e n gestreut und wirkten sich so für den Einzelnen und das G e m e i n w o h l weniger beeinträchtigend aus. 3 2 6 Dieses Ziel unterscheidet sich von der rechtlichen Präventionsfunktion der Haftungsregel und gerät mit ihr in K o n f l i k t . 3 2 7 D i e Versicherungslösung m u ß aus rechtlicher Perspektive dem Haftungsrecht folgen. A b e r auch aus ö k o n o m i s c h e n Gesichtspunkten ersteht ein Zielkonflikt zur Schadensprävention. D i e Versicherung entlastet den Schädiger. 3 2 8 Wenn die günstigste Versicherungsmöglichkeit
zu einer aus-
schließlichen H a f t u n g des Arbeitgebers führen könnte, hätte dies zur Folge, daß sich der A r b e i t n e h m e r o h n e Nachteile unsorgfältig verhalten kann und Unfälle letztlich nicht verringert werden. D a r ü b e r hinaus setzte die Ausrichtung der H a f t u n g an der Versicherung aus ö k o n o m i s c h e r Sicht voraus, daß die
des Arbeitnehmers; v. 24.11.1987 - 8 AZR 524/82 - AP Nr. 93 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 324 Sommer, Arbeitnehmerhaftung und Kaskoversicherung, NZA 1990, S. 837; Schwerdtner, Gefahrgeneigte Arbeit und Kaskoversicherung, DB 1988, S. 1799; kritisch zu einer generellen Versicherungspflicht Brox Anmerkung zu BAG, Urt. v. 24.11.1987 - 8 AZR 524/82 AP Nr. 92 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers 3 2 5 Gefahrgeneigte Arbeit und Kaskoversicherung, DB 1988, S. 1799 (1801). 326 Calabresi, The Decision For Accidents: An Approach To Nonfault Allocations Of Costs, 78 (1965) Harvard Law Review 713 (714); derselbe, Some Thoughts On Risk Distribution And The Law Of Torts, 4 (1961) Yale Law Journal 499 (517); Kenneth, Insurance Law And Regulation (1990), S. 2; Hanson/Logne, The First Party Insurance Externality: An Economic Justification For Entreprise Liability, 76 (1990) Cornell Law Review 129 (135). 327 Scheel, Versicherbarkeit und Prävention (1999), S. 165. 328 Scheel, Versicherbarkeit und Prävention (1999), S. 181 ff.; Hanson/Logne, The First Party Insurance Externality: An Economic Justification For Entreprise Liability, 76 (1990) Cornell Law Review 129 (131); Coleman, Risks And Wrongs (1992), S. 206.
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende Nebenpflichten
bestehenden Versicherungsangebote überhaupt effiziente Verteilungen
211 der
Schadenskosten sind. 3 2 9 So müßten z. B . die Schadensklassen so gewählt sein, die Risikostreuung tatsächlich zu einer Entlastung der risikoaversen Partei führt. E i n e ö k o n o m i s c h sinnvolle Risikoallokation durch eine Versicherungslösung verlangt, daß die Prämien angemessene Preise für bestimmte Risiken sind und so einen Präventionsanreiz geben k ö n n e n . D a r ü b e r hinaus müßte ausgeschlossen werden k ö n n e n , daß die gegebene Versicherungsmöglichkeit zu einer adversen Selektion f ü h r t 3 3 0 und so infolge einer Risikounterschätzung R i siken in zu niedrige Schadensklasse aufgenommen werden, so daß einzelne Versicherungsnehmer die Versicherung zu U n g u n s t e n der anderen Versicherungsnehmer ausnutzen k ö n n e n . 3 3 1 O h n e eine entsprechende U b e r p r ü f u n g der gegebenen Versicherungsmöglichkeiten bestünde die Gefahr, daß die Haftungsregel eine Versicherungslösung fixiert, die ö k o n o m i s c h nicht sinnvoll ist. D i e s e Ü b e r p r ü f u n g kann das G e r i c h t nicht vornehmen. D i e Voraussetzungen einer Versicherungsobliegenheit richten sich ausschließlich nach der rechtlichen Präventionsfunktion der Haftung. D i e Obliegenheit darf z u m einen dem Präventionsgedanken der Haftungsregel nicht zuwiderlaufen und m u ß z u m anderen aus der Sicht eines rational handelnden Arbeitgebers dazu geeignet sein, die K o s t e n gering zu halten. bb) Rechtlicher
Zielkonflikt
zwischen
Prävention
und
Versicherung
D e r K o n f l i k t zwischen Prävention und Versicherung k ö n n t e so aufgelöst werden, daß eine Versicherungsobliegenheit nur dann eingreift, wenn es sich u m unvermeidbare Schäden handelt. 3 3 2 In diesem Fall träfe den Arbeitgeber nie die Pflicht, seine Betriebsmittel zu versichern, da zumindest der A r b e i t n e h m e r den Unfall verschuldet hat. E i n e andere L ö s u n g ist vorzuziehen: D i e Präventionsfunktion wird dann nicht unterlaufen, w e n n der Arbeitgeber die typischerweise entstehenden Risiken nicht nur am kostengünstigsten versichern kann, sondern darüber hinaus auch aufgrund seiner Planungsüberlegenheit U n fällen in seiner Betriebsorganisation vorbeugen k a n n . 3 3 3 In diesem Fall k o m m t
3 2 9 Zum Einfluß von Versicherungslösungen auf die Präventionswirkung Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 201 ff. Kritisch dazu, ob die Versicherungsmarktbedingungen ein ökonomisch sinnvolles Ergebnis hervorbringen können Blaschczok, Gefährdungshaftung und Risikoverteilung (1993), S. 199. 330 Hanson/Logne, The First Party Insurance Externality: An Economic Justification For Entreprise Liability, 76 (1990) Cornell Law Review 129 (138 ff.). 331 Hanson/Logne, The First Party Insurance Externality: An Economic Justification For Entreprise Liability, 76 (1990) Cornell Law Review 129 (139). 332 Vgl. dazu Scheel, Versicherbarkeit und Prävention (1999), S. 181 f. 333 Blaschczok, Gefährdungshaftung und Risikoverteilung (1993), S. 240. Ahnlich beurteilen Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2000), S. 383 f. das Auseinanderfallen von cheapest cost avoider und cheapest insurer. Im Zweifel solle derjenige haften, der das Risiko vermeiden könne.
212
4. Kapitel:
Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
es in Übertragung der ökonomischen Terminologie, nicht auf die Figur des »cheapest insurers«, sondern auf die des »billigsten Transaktionskostenvermeiders« 3 3 4 an. Der Arbeitgeber kann daher vor dem Hintergrund der rechtlichen Präventionsfunktion der Haftungsregel nur dann zu einer Versicherungsobliegenheit verpflichtet werden, wenn er die Unfallsituation konkret beeinflussen kann. Dies ist aber bei den Kraftfahrzeugunfällen, welche die Diskussion um eine Obliegenheit des Arbeitgebers zur Kaskoversicherung erst ausgelöst haben, nicht der Fall. Daher kann den Arbeitgeber entgegen der Rechtsprechung keine Obliegenheit treffen, Fahrzeuge zu versichern, die vom Arbeitnehmer im Rahmen seiner Tätigkeit verwendet werden. Übrige Betriebsmittel muß der Arbeitgeber versichern, wenn er die Unfallsituation steuern kann und wenn zudem die Versicherungskosten als Schadensminderungskosten in einer Grenzertragsbetrachtung wirtschaftlich sinnvoll sind. In der Abwägung gegenüber dem Arbeitnehmerverschulden muß darüber hinaus sichergestellt sein, daß der Arbeitnehmer nicht gänzlich entlastet wird, sondern ebenfalls zur Schadensverhinderung angehalten wird.
4.
Zusammenfassung
Bei der Bestimmung der Haftungsquoten im innerbetrieblichen Schadensausgleich ist streng zwischen zwei verschiedenen Abwägungsschritten zu trennen: In der ersten Abwägung ist die abstrakte und noch unbestimmte Risikotragung des Arbeitgebers dem Arbeitnehmerverschulden gegenüberzustellen. Im zweiten Schritt ist das konkrete Arbeitgeberverschulden gegen das Arbeitnehmerverschulden abzuwägen. Die Verlagerung der abstrakten Risikotragungspflicht läßt sich vertragstheoretisch begründen, wenn damit einer Aquivalenzstörung des Vertrags vorgebeugt wird und eine autonomienähere Möglichkeit fehlt. Bei einer offensichtlichen Diskrepanz zwischen dem eingegangenen Haftungsrisiko und der dafür vom Arbeitgeber erbrachten Gegenleistung ist die Äquivalenz des Vertrags gestört, ohne daß die Parteien selbst eine ausgleichende Vereinbarung treffen könnten. Die Abwägung gegen den noch unbestimmten Anteil, den der Arbeitgeber tragen muß, richtet sich danach, daß der Präventionsfunktion der Haftung genügt sein muß. Der Arbeitnehmer, der den Unfall verschuldet hat, muß durch seine Risikotragungspflicht dazu angehalten werden, Maßnahmen zur Schadensverhinderung zu ergreifen. Die vom Bundesarbeitsgericht verwendeten Abwägungskriterien lassen sich demnach nur dann aufrechterhalten, wenn sie
334
Blaschczok,
Gefährdungshaftung und Risikoverteilung (1993), S. 197.
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende
Nebenpflichten
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sich darauf beziehen, inwieweit der Arbeitnehmer das Geschehen steuern und beherrschen kann. In der zweiten Abwägung gern § 254 BGB ist das konkrete Verschulden des Arbeitgebers zu berücksichtigen. Da die Rechtsprechung keine verdeckte Gefährdungshaftung begründen kann, können nur konkrete Sorgfaltsverstöße innerhalb des vom Arbeitgeber vorgegebenen Organisationszusammenhangs berücksichtigt werden. Damit sich die Präventionsfunktion im Tatsächlichen verwirklichen kann, muß der geforderte Sorgfaltsmaßstab wirtschaftlich sinnvoll sein. Ein rational handelnder Arbeitgeber wird nur dann durch die Haftungsquote zu Präventionsmaßnahmen angehalten, wenn die Kosten dieser Maßnahme nach der sogenannten Learned-Hand-Formel das Produkt von Schadenswahrscheinlichkeit und Schadenskosten nicht übersteigen. Eine Versicherungsobliegenheit des Arbeitgebers kann die Rechtsprechung vor dem Hintergrund der Präventionsfunktion der Haftung nur dann begründen, wenn der Arbeitgeber zugleich das Geschehen steuern kann. Daher ist entgegen der Ansicht des Bundesarbeitsgerichts bei Kraftfahrzeugunfällen mit Drittbeteiligung die Möglichkeit zur Kaskoversicherung unerheblich. Zusammenfassend ergeben sich nach dem hier zugrunde gelegten Konzept demnach drei Abweichungen gegenüber der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts: 1. Das »ob« der Haftungserleichterung ist ausschließlich vertragstheoretisch im Fall einer rechtlichen Äquivalenzstörung zu begründen. 2. In dem ersten Abwägungsschritt der abstrakten Risikoverlagerung gegen das konkrete Arbeitnehmerverschulden muß ausschließlich der Präventionsfunktion der Haftung genügt werden. Daher spielen in der Abwägung nur solche Kriterien eine Rolle, aus denen sich der Verschuldensbeitrag des Arbeitnehmers ergibt. N u r wenn dem Arbeitnehmer trotz der Risikoverlagerung auf den Arbeitgeber ein Anreiz zur Schadensvermeidung gesetzt werden kann, darf die Rechtsprechung die Haftung mildern. 3. In der davon zu differenzierenden zweiten Abwägung der konkreten Verschuldensbeiträge beider Parteien ist ebenso die Präventionsfunktion der gesetzlichen Haftung der zentrale Ausrichtungspunkt. Eine Versicherungsobliegenheit des Arbeitgebers kann die Rechtsprechung daher nur dann annehmen, wenn er das Geschehen hätte steuern und so den Unfall vermeiden können. 5. Übertragung der Grundsätze auf die verschuldensunabhängige Haftung des Arbeitgebers bei Sachschäden des Arbeitnehmers Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hat der Arbeitgeber Schäden an Sachen des Arbeitnehmers auch dann zu übernehmen, wenn ihn selbst kein Verschulden trifft. Voraussetzung dafür ist, daß der Schaden in
214
4. Kapitel: Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
IN
ebenpflichtbegründung
Ausführung einer betrieblichen Tätigkeit entstanden ist, folglich dem Betätigungsbereich des Arbeitgebers zugerechnet werden kann und nicht durch den Arbeitslohn oder Zuschläge mitabgegolten ist. 335 Das Bundesarbeitsgericht stützt die verschuldensunabhängige Risikozuweisung auf eine umstrittene 336 Analogie zu § 670 B G B . Gegen diese Analogie spricht neben der in der Literatur bereits kritisierten 337 fehlenden Vergleichbarkeit der Interessenlage in erster Linie, daß der eigentliche Zurechnungsgrund sich nicht aus einer Anwendung der Vorschrift ergibt, sondern bereits vorausgesetzt ist. So ist die analoge Heranziehung des § 670 B G B eher ein »Oberdach« 3 3 8 für eine Risikozurechnung, die sich jedoch aus der Vorschrift nicht ergibt. Aus dem Wortlaut sowie dem Sinn und Zweck der Vorschrift lassen sich kaum Voraussetzungen entwickeln, die eine angemessene Schadensverteilung rechtfertigen können. Auch die Rechtsprechung hält sich nicht konsequent an die von ihr zitierte Norm des § 670 B G B . Hatte der Große Senat in seiner Grundsatzentscheidung 339 noch ausgeführt, daß ein Anspruch des Arbeitnehmers bei Eigenverschulden insgesamt analog § 670 B G B entfalle, da die getätigten »Aufwendungen« nicht erforderlich seien, so berücksichtigte das Bundesarbeitsgericht das Arbeitnehmerverschulden in späteren Entscheidungen 3 4 0 nur innerhalb einer an § 254 B G B orientierten Schadensquotierung, die den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs entsprach. In der Entscheidung vom 14.11.1991 341 stellte der achte Senat dagegen unter Hinweis auf die zitierte Grundsatzentscheidung wiederum darauf ab, daß ein Anspruch des Arbeitnehmers bei dessen Verschulden analog § 670 B G B ausscheide. Der Senat hätte - ohne zu einem anderen Ergebnis zu gelangen - das Verschulden auch innerhalb einer analogen Anwendung des § 254 B G B berücksichtigen können, da der Arbeitnehmer in diesem Fall den Schaden grob fahrlässig verursacht hatte. Haben die Voraussetzungen der Risikozuweisung keine zwingende Verbindung zu der herangezogenen Norm, ist die erreichte Bodenhaftung trügerisch. Anstelle der letztlich nicht weiterführenden Anbindung an § 670 B G B 335 Urt. V. 17.7.1997 - 8 AZR 480/95 - AP Nr. 14 zu §611 B G B Gefährdungshaftung des Arbeitgebers m.N. auf die ständige Rechtsprechung. 3 3 6 ErfK-Pms, §611 BGB 230 Rz. 1118; MünchArbR-Blomeyer § 96 Rz. 41. 337 Canaris, Risikohaftung bei schadensgeneigter Tätigkeit im Drittinteresse, RdA 1966, S. 41 (42); Brox, Anmerkung zu BAG, Urt. v. 8.5.1980 - 3 AZR 82/79 - AP Nr. 6 zu § 611 B G B Gefährdungshaftung des Arbeitgebers. 3 3 8 ErfK-Preis § 611 BGB Rz. 1120. 3 3 9 BAG GS v. 10.11.1961 - GS 1/60 - AP Nr. 2 Gefährdungshaftung des Arbeitgebers Bl. 1494 Rs. 3 4 0 Urt. v. 17.7.1997 - 8 AZR 480/95 - AP Nr. 14 zu §611 B G B Gefährdungshaftung des Arbeitgebers; Urt. v. 20.4.1989 - 8 AZR 632/87 - AP Nr. 9 zu § 611 BGB Gefährdungshaftung des Arbeitgebers; Urt. v. 11.8.1988 - 8 AZR 71/85 - AP Nr. 7 zu §611 BGB Gefährdungshaftung des Arbeitgebers. 341 8 AZR 628/90 - AP Nr. 10 zu § 611 B G B Gefährdungshaftung des Arbeitgebers.
5 10: Vertragskonkretisierende
zwingende Nebenpflichten
215
ist die arbeitgeberische H a f t u n g für Sachschäden des A r b e i t n e h m e r s nach den V o r a u s s e t z u n g e n zu beurteilen, die nach dem hier vorgeschlagenen K o n z e p t s c h o n im Falle des i n n e r b e t r i e b l i c h e n Schadensausgleichs zu einer v o n den gesetzlichen V o r s c h r i f t e n a b w e i c h e n d e n R i s i k o v e r t e i l u n g geführt h a b e n . 3 4 2 A u f diese Weise wird z u d e m klargestellt, daß die R i s i k o z u w e i s u n g v o n Schäden an G e g e n s t ä n d e n des A r b e i t n e h m e r s keine verdeckte G e f ä h r d u n g s h a f t u n g des A r b e i t g e b e r s 3 4 3 ist, s o n d e r n ein vertragstheoretisch begründeter Ausgleich einer Ä q u i v a l e n z s t ö r u n g . K a n n die G e f ä h r d u n g s h a f t u n g auch nicht auf b e s t i m m t e Prinzipien z u r ü c k g e f ü h r t w e r d e n 3 4 4 , so sind den gesetzlich geregelten Tatbeständen der G e f ä h r d u n g s h a f t u n g d o c h b e s t i m m t e K r i t e r i e n gemein, die sich vertragstheoretisch nicht rechtfertigen lassen. N i c h t die B e h e r r s c h barkeit einer G e f a h r e n q u e l l e oder eine b e s o n d e r e G e f a h r e n h ö h e o d e r das Ausgeliefertsein an eine b e s t i m m t e G e f a h r 3 4 5 auch nicht die soziale Verantw o r t u n g z u r R i s i k o ü b e r n a h m e 3 4 6 begründen die R i s i k o z u t e i l u n g an den Arbeitgeber, s o n d e r n n u r die vertragliche Ä q u i v a l e n z s t ö r u n g . B e r u h t die wirtschaftliche U n a u s g e g l i c h e n h e i t b e i m
innerbetrieblichen
Schadensausgleich darauf, daß der A r b e i t n e h m e r o h n e vertragliche K o m p e n sation vertragstypischen H a f t u n g s r i s i k e n ausgesetzt ist, so bringt der A r b e i t n e h m e r in den Fallgestaltungen der sogenannten verschuldensunabhängigen A r b e i t g e b e r h a f t u n g diese B e t r i e b s m i t t e l gerade selbst mit ein. E r b e n u t z t sie j e d o c h nicht nach seiner freien E n t s c h e i d u n g , s o n d e r n o r d n e t sich bei seiner T ä t i g k e i t den Weisungen, der feststehenden A r b e i t s o r g a n i s a t i o n wie d e m täglichen A r b e i t s a b l a u f unter. D e r A r b e i t n e h m e r k a n n daher nicht frei entscheiden, in w e l c h e n R i s i k o s i t u a t i o n e n er sein eingebrachtes B e t r i e b s m i t t e l einsetzt. A n d e r s als in den Fällen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs ist es ungleich schwieriger, den n o t w e n d i g e n B e z u g z w i s c h e n dem U n f a l l und dem Arbeitsvertrag herzustellen und das allgemeine L e b e n s r i s k o des A r b e i t n e h mers so auszugrenzen, daß mit Sicherheit eine vertragliche A q u i v a l e n z s t ö rung a n g e n o m m e n w e r d e n kann. D e r A r b e i t n e h m e r bringt die B e t r i e b s m i t t e l ja selbst ein, so daß der n o t w e n d i g e B e z u g z u m Arbeitsvertrag nicht allein da3 4 2 In der Literatur ist stets darauf hingewiesen worden, daß dem innerbetrieblichen Schadensausgleich, dem Freistellunganspruch und der verschuldensunabhängigen Haftung des Arbeitgebers für Sachschäden ein einheitliches Konzept zugrunde liegt, vgl. schon Canaris, Risikohaftung bei schadensgeneigter Tätigkeit im Drittinteresse, RdA 1966, S. 43 ff. und aus neuerer Zeit Langenbucber, Risikohaftung und Schutzpflichten im innerbetrieblichen Schadensausgleich, ZfA 1997, S. 523 (548). 3 4 3 Vgl. dazu die Ausführungen im Beschluß des GS v. 10.11.1961 - GS 1/60 - AP Nr. 1 zu §611 B G B Gefährdungshaftung des Arbeitgebers, wonach die Rechtsprechung wegen des Enumerationsprinzips der Gefährdungshaftung daran gehindert sei, die Haftung des Arbeitgebers allein nach Risikozurechnungsgesichtspunkten zu begründen. 344 Blaschczok, Gefährdungshaftung und Risikozuweisung (1993) S. 139. 3 4 5 Zu einem Uberblick der von der Literatur erarbeiteten Merkmale einer Gefährdungshaftung Blaschczok, Gefährdungshaftung und Risikozuweisung (1993), S. 45 ff. 346 Esser, Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungshaftung (1969), S. 97.
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4. Kapitel:
Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpßichtbegründung
durch herzustellen ist, daß es sich um einen Unfall bei der geschuldeten Tätigkeit handelt. Vielmehr muß der Einsatz des eigenen Betriebsmittels bei dieser Tätigkeit einen arbeitsvertraglichen, dem Arbeitgeber zurechenbaren Grund haben. U m diesen Bezug herzustellen, untersucht das Bundesarbeitsgericht, ob der Arbeitgeber den Einsatz der Sache des Arbeitnehmers in seinem Betätigungsbereich gebilligt hat. Eine derartige Billigung nimmt das Gericht an, wenn der Arbeitgeber ohne den Einsatz der Sache des Arbeitnehmers ein eigenes Betriebsmittel gebraucht und für dieses die Unfallgefahr getragen hätte. 347 Es bleibt aber offen, wann anzunehmen ist, daß der Arbeitgeber das Betriebsmittel gebraucht und eingesetzt hätte. Wie ist über die Risiokoverteilung zu entscheiden, wenn der Arbeitnehmer wie in der Entscheidung vom 16.11. 1978 3 4 8 selbst sein privates Kraftfahrzeug zu einer Dienstreise nehmen wollte, obwohl eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln möglich gewesen wäre? In dieser Entscheidung lehnte das Bundesarbeitsgericht einen Anspruch des Arbeitnehmers ab unter Berufung auf den damaligen Begriff der gefahrgeneigten Arbeit und die Außergewöhnlichkeit des Schadens. Nach dem hier vertretenen Lösungansatz muß der Schaden nicht außergewöhnlich sein. Es reicht aus, daß das Schadensrisiko offensichtlich nicht mit dem Arbeitsentgelt oder einem Zuschlag abgegolten ist. Für die Frage, ob der Einsatz des Betriebsmittels dem Arbeitgeber zugerechnet werden kann, muß auf die Perspektive eines rational handelnden Arbeitgebers abgestellt werden. Ist die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln mit dem gleichen Zeit- und Kostenaufwand wie eine PKW-Fahrt möglich, so ist der Einsatz des eigenen P K W wirtschaflich nicht sinnvoll, da die Unfallwahrscheinlichkeit gegenüber einer Fahrt mit einem öffentlichen Verkehrsmittel größer ist. Ein Verschulden des Arbeitnehmers führt nicht zu einem vollständigen Anspruchsverlust, wie es die vom Bundesarbeitsgericht vorgenommene Prüfung analog § 670 B G B nahelegen könnte. Ein Verschulden ist nur anteilig analog § 254 B G B zu berücksichtigen. Auch im Fall der verschuldensunabhängigen Haftung ist der sich daraus ergebende Anteil des Arbeitgebers so gegen den Verschuldensbeitrag des Arbeitnehmers abzuwägen, daß der Präventionsgedanke der gesetzlichen Haftung nicht unterlaufen wird. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. 349
3 4 7 Urt. v. 17.7.1991 - 8 A Z R 480/95 - aaO., in dem das B A G seine ursprünglich für KfZSchäden entwickelte Rechtsprechung auch auf andere Nutzfahrzeuge überträgt; Urt. v. 8.5.1980 - 3 A Z R 82/79 - AP Nr. 6 zu § 611 B G B Gefährdungshaftung des Arbeitgebers. 3 4 8 3 A Z R 258/77 - AP Nr. 5 zu § 611 B G B Gefährdungshaftung des Arbeitgebers. 3 4 9 § 10 III 3 b), S. 206.
5 10: Vertragskonkretisierende
6.
zwingende
Nebenpflichten
217
Mankohaftung
In zwei neueren Entscheidungen hat das Bundesarbeitsgericht 350 den Inhalt von vertraglichen Vereinbarungen anhand der Grundsätze des innerbetrieblichen Schadenausgleichs kontrolliert, in denen der Arbeitnehmer für Fehlbestände unabhängig von dem Grad seines Verschuldens haften sollte. Derartige Mankovereinbarungen sind Ausdruck einer Situation, in welcher der Arbeitnehmer zwangsläufig aufgrund der äußeren Marktbedingungen unterlegen ist, keine außerrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten hat und ihm eine einseitig verpflichtende, nicht äquivalente Pflicht auferlegt wird. Die vom Bundesarbeitsgericht vorgenommene Inhaltskontrolle, die nach den Änderungen durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts an § 307 BGB ansetzen kann, ist daher auch nach dem hier vertretenen Lösungsansatz zulässig. Kann der Arbeitnehmer aufgrund der ihm vorgegebenen Organisationsstruktur, bzw. der von ihm zu befolgenden Einzelweisungen des Arbeitgebers risikoreichen Tätigkeiten im Tatsächlichen nicht ausweichen, so ist die Durchführung der Tätigkeit ohne einen Risikozuschlag mit der Lohnzahlung nicht abgegolten. Da aber - abgesehen von wenigen Fällen z.B. bei Regelung einer tariflichen Gefahrenzulage - kein Markt für die Ermittlung eines derartigen Zuschlags existiert, ist der Arbeitnehmer schon aufgrund der Marktbedingungen unterlegen. Schon die asymmetrische Informationsverteilung verhindert es, daß der Arbeitnehmer, der in der Verhandlungssituation die zukünftige Tätigkeit noch nicht kennt, Risiken abschätzen kann. Der Vertragsinhalt indiziert in diesem Fall eine marktbedingte und insoweit strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers, die er nicht durch außerrechtliche Maßnahmen kompensieren kann. Sind somit die Voraussetzungen für eine Inhaltskontrolle und eine unangemessene Benachteiligung des Arbeitnehmers erfüllt, kann die Rechtsprechung nach den schon oben erörterten 3 5 1 Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs die unwirksame Regelung korrigieren.
350
BAG, Urt. 22.5.1997 u. v. 17.8.1998 - 8 AZR 562/95 u. 8 AZR 175/87 - AP Nr. 1 u. 2 zu §611 BGB Mankohaftung. 351 Vgl. § 10 III. 4, S. 212.
218
4. Kapitel: Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
IV. Abschied vom allgemeinen Beschäftigungsanspruch und Kritik am Weiterbeschäftigungsanspruch »Weil, nach der herrschenden Arbeitsmoral, die von Arbeit freie Zeit die Arbeitskraft wiederherstellen soll, wird die der Arbeit ledige Zeit, gerade weil sie bloßes Anhängsel der Arbeit ist, mit puritanischem Eifer von dieser getrennt. Man stößt hier auf ein Verhaltensschema des bürgerlichen Charakters. Auf der einen Seite soll man bei der Arbeit konzentriert sein, nicht sich zerstreuen, keine Allotria treiben; darauf beruhte einst die Lohnarbeit, und ihre Gebote haben sich verinnerlicht. Andererseits soll die Freizeit, vermutlich damit man danach um so besser arbeiten kann, in nichts an die Arbeit erinnern. Das ist der Grund des Schwachsinns vieler Freizeitbeschäftigungen.« Adorno, Stichworte (1969), S. 59.
1. Ausgangsproblematik Beschäftigungsanspruchs
der Konstruktion
des allgemeinen
Ein Anspruch des Arbeitnehmers auf tatsächliche Beschäftigung ist den Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches fremd. Die Nichtannahme der Leistung führt zum Annahmeverzug gem. § 615 BGB 352 , ohne daß eine einklagbare Abnahmepflicht besteht. Der Anspruch auf tatsächliche Beschäftigung wird von der überwiegenden Ansicht in der Literatur 353 und der Rechtsprechung 354 zum Teil mit unterschiedlicher dogmatischer Begründung aus der arbeitsvertraglichen Besonderheit hergeleitet, daß »der Arbeitnehmer nicht nur seine Arbeitskraft zur Verfügung stellt, sondern seine ganze Persönlichkeit in das Beschäftigungsverhältnis ... einbringt« 355 und deshalb auch ideelle Persönlichkeitsinteressen als Auswirkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Verbindung mit den Art. 1 und 2 G G vom Arbeitgeber zu schützen sind.
352 Heinze, Bestandsschutz durch Beschäftigung trotz Kündigung, DB 1985 , S. 111 (117) folgert aus dem Fehlen einer Abnahmeverpflichtung, daß es schon an der für die Rechtsfortbildung erforderlichen Regelungslücke mangelt, und verneint einen allgemeinen Beschäftigungsanspruch. Ebenso weist Bengelsdorf, Beschluß des Großen Senats des BAG zum Weiterbeschäftigungsanspruch - Unzulässiger richterlicher Rechtssetzungsakt (I), DB 1986, S. 168 darauf hin, daß §615 BGB gegen einen allgemeinen Beschäftigungsanspruch spricht. Dem BAG, GS Beschluß v. 27.2.1985 - GS 1/84 - AP Nr. 14 zu §611 BGB Beschäftigungspflicht, das sich mit der Ansicht von Heinze auseinandergesetzt hat, ist jedoch zuzustimmen, daß der Arbeitsvertrag nicht abschließend durch die Vorschriften des Dienstvertragsrechts geregelt wird und verfassungsrechtliche Wertungen bei der ergänzenden Fortentwicklung zu berücksichtigen sind. Zunächst muß aber feststehen, daß eine Rechtsfortbildung aufgrund dieser Wertungen erforderlich ist. 353 MünchArbR-Blomeyer §95 Rz. 11; Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, §110, S. 1118; ErfK-Preis § 611 BGB Rz. 825 ff. 354 BAG, Urt. v. 15.5.1991 - 5 AZR 271/90 - AP Nr. 23 zu § 611 BGB mit Nachweisen auf die ständige Rechtsprechung. 355 MünchArbR-Blomeyer § 95 Rz. 11.
j 10: Vertragskonkretisierende
zwingende Nebenpflichten
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D e r allgemeine Beschäftigungsanspruch geht nach 1945 auf das G r u n d s a t z urteil des Bundesarbeitsgerichts v o m 10.11.195 5 3 5 6 zurück. Das G e r i c h t stützte sich in dieser Entscheidung darauf, daß das Arbeitsverhältnis als personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis den A r b e i t n e h m e r mit seiner ganzen Person erfasse, so daß die vertraglichen Beziehungen nicht nur auf den wirtschaftlichen Austausch von A r b e i t gegen L o h n beschränkt werden k ö n n t e n , sondern daß die » A c h t u n g und A n e r k e n n u n g des Arbeitnehmers als M e n s c h « darauf beruhe, »wie er die obliegenden Aufgaben erfüllt« 3 5 7 . Diese Entfaltung der Persönlichkeit werde beeinträchtigt, »wenn einem A r b e i t n e h m e r zugemutet wird, nicht nur vorübergehend, sondern w o m ö g l i c h jahrelang sein Gehalt in E m p fang zu nehmen, ohne sich in seinem bisherigen B e r u f betätigen zu k ö n n e n . « W i e das Bundesarbeitsgericht weiter ausführte, entstehe in dieser Situation »ein Zwang z u m N i c h t s t u n « , der »den betreffenden Arbeitnehmer nicht mehr als vollwertiges Glied der Berufsgemeinschaft und der Gesellschaft überhaupt erscheinen lasse. Nicht bloß die Allgemeinheit, sondern auch der größte Teil der ihrer Fähigkeiten und Leistungen bewußten Arbeitnehmer halten es für verächtlich, Lohn in Empfang zu nehmen, der nicht durch entsprechende Leistungen verdient ist.« 3 5 8
In einer zweiten Grundsatzentscheidung hatte sich der G r o ß e Senat des B u n desarbeitsgerichts 3 5 9 erneut im R a h m e n der B e g r ü n d u n g des Weiterbeschäftigungsanspruchs mit dem allgemeinen Beschäftigungsanspruch auseinanderzusetzen. D e r G r o ß e Senat leitete in dieser Entscheidung den Beschäftigungsanspruch gem. § 2 4 2 B G B in Verbindung mit den aus Art. 1 und 2 G G zu entnehmenden Wertungen zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers ab. D a b e i bestätigte es, daß das Arbeitsverhältnis die Persönlichkeit des Arbeitnehmers wesentlich bestimme und deshalb auch ideelle Interessen des Arbeitnehmers zu schützen seien, da »das Selbstwertgefühl sowie die Achtung und Wertschätzung, die er bei seiner Familie, bei seinen Freunden und Kollegen und überhaupt in seinem Lebenskreis erfährt, ... entscheidend mitbestimmt (wird) von der Art, wie er seine Arbeit leistet.« 360
D e r A n s p r u c h auf tatsächliche Beschäftigung sollte nur dann zurücktreten, wenn der Arbeitgeber besondere G r ü n d e gegen die tatsächliche Beschäftigung anführen k o n n t e 3 6 1 , etwa die begründete Befürchtung, daß der A r b e i t n e h m e r 2 AZR 591/54 - AP Nr. 2 zu § 611 B G B Beschäftigungspflicht. BAG, Urt. v. 10.11.1955 - 2 AZR 591/54 - AP Nr.2 zu §611 B G B Beschäftigungspflicht. 3 5 8 BAG, Urt. v. 10.11.1955 - 2 AZR 591/54 - AP Nr.2 zu §611 B G B Beschäftigungspflicht Bl. 119 Rs. 3 5 9 GS Beschluß v. 27.2.1985 - GS 1/84 - AP Nr. 14 zu § 611 B G B Beschäftigungspflicht. 3 6 0 GS Beschluß v. 27.2.1985 - GS 1 / 8 4 - A P Nr. 14 zu § 611 B G B Beschäftigungspflicht Bl. 106. 3 6 1 BAG, Urt. v. 10.11.1955 - 2 AZR 591/54 - AP Nr.2 zu §611 B G B Beschäftigungs356 357
220
4. Kapitel: Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
Geschäftsgeheimnisse verrät, der Fortfall der Vertrauensgrundlage oder der Wegfall der konkreten Einsatzmöglichkeit. 362 Blomeyeribi hält diese Begründungsversuche des Bundesarbeitsgerichts für gescheitert. Seiner Ansicht nach bietet sich wiederum nur die allgemeine Fürsorgepflicht als Begründungsmöglichkeit des Anspruchs auf tatsächliche Beschäftigung an, da sich positive Handlungspflichten des Arbeitgebers aus der Verfassung nicht ableiten lassen. Diese Argumentation gerät jedoch in die Nähe eines Zirkelschlusses: Der Beschäftigungsanspruch wird postuliert, ohne zuvor begründet zu werden, da die Fürsorgepflicht eine Leerformel ist. Aus diesem Grund kann der allgemeine Beschäftigungsanspruch auch nicht auf eine allgemeine Förderungspflicht des Arbeitgebers 364 gestützt werden. Eine solche Pflicht kann nur auf der Grundlage der vorangestellten Prinzipienargumentation entwickelt werden. Diese Wertung widerspricht nicht § 75 BetrVG, in dem nur die Betriebspartner verpflichtet werden, bei ihren Maßnahmen die Persönlichkeit des Arbeitnehmers zu schützen und zu fördern. Rechte, die über eine individualvertragliche Pflichtbegründung hinausgehen, werden durch § 75 Abs. 2 BetrVG nicht begründet, der auf die betriebsverfasungsrechtlichen Pflichten von Arbeitgeber und Betriebsrat zugeschnitten ist. 365 Eine allgemeine Förderungspflicht existiert außerhalb der auf eine vertragstheoretische Grundlage zurückführbaren Pflichten nicht. Die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen durch Weiterbildung, Fortbildung und Beförderung ohne zwingenden Bezug zum existierenden Arbeitsverhältnis bleibt der freiwilligen Vereinbarung der Arbeitsvertragsparteien überlassen. Der Arbeitgeber ist insoweit frei, Maßnahmen anzubieten oder zu unterlassen. Kraft366 will einen allgemeinen Beschäftigungsanspruch aus einer rein vertragstheoretischen Perspektive in Einzelfällen annehmen. Die Beschäftigungspflicht kann demnach gem. § 242 B G B entwickelt werden, wenn dem Arbeitnehmer infolge der Nichtbeschäftigung ein konkreter Schaden entsteht. 367 Dieser konkrete Schaden könne auch in einer Persönlichkeitsverletzung liegen, wenn positiv feststehe, daß das Persönlichkeitsrecht im Einzelfall durch die Nichtbeschäftigung verletzt werde. Dabei sei zu beachten, daß der Arbeitnehmer im Gegensatz zur Ansicht des Bundesarbeitsgerichts nicht zum Nichtstun gezwungen werde. Er habe die Möglichkeit, bei einem anderen Arbeitgeber zu pflicht, Bl. 119 Rs.; BAG GS Beschluß v. 27.2.1985 - GS 1 / 8 4 - A P Nr. 14 zu §611 BGB Beschäftigungspflicht Bl. 107. 362 BAG GS Beschluß v. 27.2.1985 - GS 1/84 - AP Nr. 14 zu §611 BGB Beschäftigungspflicht Bl. 107. 363 MünchArbR § 95 Rz. 10. 364 MünchArbR-5/oOTeyer § 92 Rz. 11. 365 Ricbardi, BetrVG § 75 Rz. 41f. 3 6 6 Beschäftigungsanspruch und Weiterbeschäftigungsanspruch, ZfA 1979, S. 123 ff. 367 Kraft, Beschäftigungsanspruch und Weiterbeschäftigungsanspruch, ZfA 1979, S. 123 (131 ff.)
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende Nebenpflichten
221
arbeiten. 3 6 8 O b der Anspruch auf tatsächliche Beschäftigung aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgt, kann j e d o c h - entgegen der A n s i c h t von Kraft
-
nicht in einer Einzelabwägung entschieden werden. E s kann nicht darauf ank o m m e n , o b Tätigkeiten im Einzelfall - und damit aus einer subjektiven Sicht betrachtet - für den A r b e i t n e h m e r eine M ö g l i c h k e i t bieten, »seine geistigen und körperlichen F ä h i g k e i t e n « 3 6 9 zu entfalten. K ä m e es auf eine solche A b w ä g u n g im Einzelfall an, wäre letztlich entscheidend, o b sich der einzelne A r b e i t n e h m e r aus subjektiver Sicht in seiner Tätigkeit selbst verwirklichen kann. Soll der B e schäftigungsanspruch auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht gestützt werden, m u ß j e d o c h eine fundierte Gerechtigkeitsvorstellung innerhalb der Gesellschaft bestehen, daß A r b e i t eine typische F o r m der Persönlichkeitsentfaltung ist. D i e dem Beschäftigungsanspruch zugrunde liegende Wertung kann m e t h o disch k o r r e k t nur in F o r t f ü h r u n g der »Werterechtsprechung« des Bundesverfassungsgerichts entwickelt werden, w o n a c h es, wie es das Bundesarbeitsgericht formuliert hat, die Aufgabe der R e c h t s p r e c h u n g erfordert, »Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Ordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu verwirklichen. Dabei muß sich der Richter jedoch von Willkür freihalten. Seine Entscheidung muß auf rationaler Argumentation beruhen; es muß einsichtig gemacht werden, daß das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft.« 370 D i e Feststellung eines derartigen in der Gesellschaft anerkannten Wertes bereitet nicht zuletzt deshalb Schwierigkeiten, weil sie in die G e f a h r gerät, ohne »Richtigkeitsfrage« einem »Positivismus der Tageswertungen« das W o r t zu reden und nur zu einer »soziologischen oder soziokulturellen, keineswegs aber zu einer philosophischen R e c h t s b e g r ü n d u n g « 3 7 1 zu führen. D a h e r m u ß es sich bei der nach dem zugrunde gelegten K o n z e p t notwendigen und unvermeidlic h e n 3 7 2 Berücksichtigung gesellschaftlicher Gerechtigkeitsvorstellungen u m so verfestigte Anschauungen handeln, daß sie typischerweise den Erwartungshin368 Kraft, Beschäftigungsanspruch und Weiterbeschäftigungsanspruch, ZfA 1979, S. 123 (134); ebenso Weber, Die Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung eines gekündigten Arbeitnehmers, BB 1974, S. 698 (702); Lepke, Der Anspruch auf Beschäftigung (1966), S. 111. 3 6 9 BAG GS Beschluß vom 27.2.1985 - GS 1/84 - AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht. 370 BAG GS Beschluß vom 27.2.1985-GS 1 / 8 4 - A P Nr. 14 zu §611 BGB Beschäftigungspflicht Bl. 105 Rs. 371 Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit (1991), S. 90. 372 Starck, Zur Notwendigkeit einer Wertbegründung des Rechts, ARSP Beiheft 37 (1990), S. 47: »Alles Recht ist auf Werten begründet. Daher können rechtliche Normen auch an Wertungen gemessen werden.«
222
4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegriindung
tergrund der Parteien bestimmen und insofern auf anthropologische G r u n d g e gebenheiten zurückzuführen sind, etwa auf das schon erörterte R e z i p r o z i t ä t s prinzip. N i c h t zuletzt, weil der allgemeine Beschäftigungsanspruch eine R e c h t s f o r t bildung ist, die »im K o n t e x t der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlichpolitischen Anschauungen steht« 3 7 3 , handelt es sich um eine Fragestellung, die nur dann nachvollziehbar beantwortet werden kann, w e n n aus sozialwissenschaftlicher Perspektive tatsächlich festgestellt werden kann, daß A r b e i t eine typische Bedingung der Persönlichkeitsentfaltung ist. N u r dann kann dem Ziel der vorgestellten M e t h o d e entsprochen werden, das intuitiv antizipierte E r g e b nis der richterlichen Entscheidung durch eine nachvollziehbare Begründung zu rationalisieren und so zwischen dem »psychischen Vorgang« und der B e g r ü n dung des Präferenzsatzes zu unterscheiden. 3 7 4 N u r vereinzelt ist überhaupt angezweifelt w o r d e n , o b die letztlich pauschalen A n n a h m e n des Bundesarbeitsgerichts der gesellschaftliche Vorstellung von A r b e i t überhaupt Realitätsbezug h a b e n . 3 7 5 E s wird auch in der neueren Literatur ohne nähere Belegung ausgeführt, daß die »Arbeitsleistung weniger als Last, denn als Möglichkeit empfunden« wird, »soziale K o n t a k t e zu knüpfen und Selbstbestätigung zu erfahr e n « 3 7 6 . D a b e i scheint der vertragliche B e z u g einer Beschäftigungspflicht völlig in den Hintergrund zu treten. D e r Arbeitgeber hat sich nicht dazu verpflichtet, eine Selbstbestätigungsmöglichkeit zur Verfügung zu stellen, sondern nur dazu, die vereinbarte Arbeitstätigkeit zu vergüten. E s m u ß für die besondere, von diesem Vertragstatbestand abweichende Begründung des allgemeinen B e schäftigungsanspruchs daher feststehen, daß sich das Bundesarbeitsgericht auf eine typische und in der Gesellschaft verfestigte Auffassung v o n Arbeit berufen kann. Wie im Folgenden gezeigt wird, fehlt es gerade an dieser Voraussetzung. Das Bundesarbeitsgericht begründet überhaupt nicht, warum die gesellschaftliche A c h t u n g des Arbeitnehmers von der A u s ü b u n g seiner Erwerbsarbeit abhängen soll und ein zum N i c h t s t u n gezwungener A r b e i t n e h m e r nicht mehr als vollwertiges Gesellschaftsmitglied gilt. In der Entscheidung des G r o ßen Senats 3 7 7 wird als Beleg für diese soziologischen H y p o t h e s e n die Z u s t i m mung des arbeitsrechtlichen Schrifttums zitiert. W o r a u f dieses letztlich intuitive Verständnis von Erwerbsarbeit beruht, wird nicht analysiert. D a h e r kann nicht ausgeschlossen werden, daß letztlich nur ein für Juristen typisches und
373 BAG GS Beschluß vom 27.2.1985 - GS 1 /84 - AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht. 374 Alexy, Theorie der Grundrechte (1989), S. 144. 375 Ehler, Der sogenannte Weiterbeschäftigungsanspruch, BB 1996, S. 376; Lepke, Zum Problem einer allgemeinen Beschäftigungspflicht, DB 1971, S. 478 (481). 376 Ruhl/Kassebohm, Der Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers, NZA 1995, S. 497. 3 7 7 BAG GS Beschluß vom 27.2.1985 - GS 1/84 - AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht.
5 10: Vertragskonkretisierende
zwingende Nebenpflichten
223
nicht verallgemeinerungsfähiges Verständnis von Erwerbsarbeit zugrunde gelegt wird. D a b e i mangelt es nicht an soziologischen und sozialpsychologischen U n t e r suchungen zur gesellschaftlichen Bedeutung der Erwerbsarbeit. D a n a c h steht fest, daß aufgrund des Wertewandels in den achtziger Jahren die Bedeutung der Erwerbsarbeit als bestimmende soziale Schlüsselkategorie 3 7 8 gesunken ist. 3 7 9 I m G e g e n s a t z zur Behauptung des Bundesarbeitsgerichts wird sich derzeit für die Bundesrepublik nicht eindeutig feststellen lassen, daß die gesellschaftliche A c h t u n g typischerweise davon abhängt, wie der Einzelne die Erwerbsarbeit erbringt. Es ist entscheidend, wie der Einzelne seine T ä t i g k e i t 3 8 0 selbst bewertet. Es kann also nicht mehr davon ausgegangen werden, daß Erwerbsarbeit als solche, unabhängig v o n ihrer individuellen Bewertung, eine typische Voraussetzung für gesellschaftliche A n e r k e n n u n g ist. 3 8 1 D e m o s k o p i s c h e U n t e r s u c h u n gen belegen, daß im J a h r e 1996 nur 43 % der B e v ö l k e r u n g Erwerbsarbeit als L e bensaufgabe sahen; dagegen waren es 1964 n o c h 6 0 % . 3 8 2 A n die Stelle v o n E r w e r b s a r b e i t als Pflichterfüllung im Sinne einer außenstrukturierten 3 8 3 L e bensauffassung sind innenorientierte M a ß s t ä b e getreten, nach denen das Selbstwertgefühl wie aber auch die A c h t u n g von anderen davon abhängen, o b das L e ben aus der subjektiven Perspektive einer »sozialen B e l i e b i g k e i t « 3 8 4 heraus als erfüllt bewertet w i r d . 3 8 5 Dieser Wertewandel führt dazu, daß eine einheitliche Arbeitsethik nicht mehr vorausgesetzt werden k a n n . 3 8 6 D i e vielleicht n o c h in den fünfziger Jahren nachweisbare Vorstellung, daß der A r b e i t s l o h n verdient 378 Engfer/Hinrichs/Wiesenthal, Arbeitswerte im Werte im Wandel, in: Matthes (Hrsg.), Krise der Arbeitsgesellschaft?, Verhandlungen des 21, Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982 Frankfurt/New York 1982, S. 434 (435), wonach an die Stelle der Arbeit als Tugend eine stärkere Konsumorientierung und die Aufwertung einer individuellen Persönlichkeitsentfaltung getreten ist, die nicht mehr Arbeit als dominanten gesellschaftlichen Bezugspunkt voraussetzt. Folge davon ist eine größere Pluralität gesellschaftliche Werte; vgl. auch Pawlowsky, Arbeitseinstellungen im Wandel (1986), S. 54; Noelle-Neumann/Strümpel, Macht Arbeit krank? Macht Arbeit glücklich? (1984). 379 Ettrich/Schmidt, Einleitung Plenum Wirtschaft: Arbeit, Beruf, Großbetriebe, in: Clausen (Hrsg.) Gesellschaften im Umbruch (1996), S. 847. 380 Zur Unterscheidung von notwendiger Erwerbsarbeit und als sinnvoll empfundener Tätigkeit Dahrendorf, Im Entschwinden der Arbeitsgesellschaft, Merkur 1980 (8), S. 749 (757). 381 Brock/Otto-Brock, Krise der Arbeitsgesellschaft oder Entmythologisierung der Arbeit, in: Klages/Hippler/Herbert (Hrsg.), Werte und Wandel (1992), S.358; Schulze, Die Erlebnisgesellschaft (1992), S. 16 und 256; v. Rotz, Arbeit - Individuelle Bedürfnisse und ökonomische Effizienz (1994), S. 405. 382 Noelle-Neumann, Wertewandel in der öffentlichen Meinung, in: Konrad-AdenauerStiftung (Hrsg.), Werte im pluralistischen Staat (1997), S. 11. 383 Schulze, Die Erlebnisgesellschaft (1992), S. 37. 384 Schulze, Die Erlebnisgesellschaft (1992), S. 16. 385 Bonß, Was wird aus der Erwerbsgesellschaft?, in: Beck (Hrsg.), Die Zukunft von Arbeit und Demokratie (2000), S. 327 (357); Schulze, Die Erlebnisgesellschaft (1992), S. 38 ff. 386 Heimken, Der Mythos von der Freizeitgesellschaft (1989), S. 79.
224
4. Kapitel:
Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
sein müsse sowie die einer »Opferethik« 3 8 7 lassen sich aktuell gesellschaftsübergreifend 3 8 8 nicht belegen. Bereits in den siebziger Jahren wurde in der soziologischen Literatur eine Abwendung von der zuvor bestehenden Erwerbsarbeitsgesellschaft hin zu einer konsumorientierten Gesellschaft konstatiert, in der Erwerbsarbeit zwar einen wichtigen Stellenwert behält, aber darauf gerichtet ist, die materielle Grundlage für die stärkere Konsumorientierung zu sichern. 389 Die Arbeitsethik, die für die Nachkriegsgesellschaft maßgeblich gewesen ist und nach der »Arbeit ... nicht nur Geld (brachte), sondern auch garantierten Lebenssinn als ethisches Kapital« 3 9 0 , ist mit der zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft in den Hintergrund getreten. 391 War das eigene subjektive innenorientierte Erleben in den fünfziger Jahren ein »Feierabendvergnügen«, so hat sich die Gesellschaft maßgeblich gewandelt. 3 9 2 Die innenorientierte Lebensauffassung, verbunden mit den verschiedenen Wahlmöglichkeiten 3 9 3 , wie das Leben gelebt werden soll, ist der ausschließlich auf Erwerbsarbeit bezogenen Askese entgegengesetzt. 3 9 4 Freilich ist auch in dieser konsumorientierten Gesellschaft Erwerbsarbeit materielle Grundlage der gesellschaftlichen Teilhabe. Ihr Wert als solcher - auf den sich das Bundesarbeitsgericht bezieht - ist jedoch für das Selbstwertgefühl 3 9 5 und die gesellschaftliche Achtung nicht mehr die typische, sondern nur eine mögliche Kategorie. 3 9 6 Erwerbsarbeit kann eine Lebensaufgabe und eine wesentliche Bedingung der Persönlichkeitsentfaltung sein, sie muß es aber nicht. 3 9 7 Hinsichtlich der zum Teil politisch angestrebten »neofeudalen Dienstbotengesellschaft« 3 9 8 wird niemand behaupten können, daß Erwerbsarbeit zwangsläufig zu Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Achtung führt. Heimken, Der Mythos von der Freizeitgesellschaft (1989), S. 122. Anders scheint die Situation in den Vereinigten Staaten zu sein, in denen Arbeitsethos durchgängig einen hohen Stellenwert besitzt Beerman/Stengel, Werthaltungen zu Arbeit, Freizeit und Organisationen in den USA und in der Bundesrepublik Deutschland, in: Klages/ Hippler/Herbert (Hrsg.), Werte und Wandel (1992), S. 373 (382 ff). 389 Heimken, Der Mythos von der Freizeitgesellschaft (1989), S. 114. 390 Schulze, Die Erlebnisgesellschaft (1992), S. 532. 391 v. Rotz, Arbeit - Individuelle Bedürfnisse und ökonomische Effizienz (1994), S. 405. 392 Schulze, Die Erlebnisgesellschaft (1992), S. 544. 393 Speilerberg, Lebensstile in West- und Ostdeutschland, in: Clausen (Hrsg.) Gesellschaften im Umbruch (1996), S. 750 (751). 394 Schulze, Die Erlebnisgesellschaft (1992), S. 14. 395 Diewald/Huinink, Berufsbezogene Kohortenschicksale und Kontrollüberzeugungen ostdeutscher Erwachsener nach der Wende, in: Clausen (Hrsg.) Gesellschaften im Umbruch (1996), S. 765, (771) wonach für das Selbstwertgefühl nicht ausschließlich die Chancen auf dem Arbeitsmarkt entscheidend sind, sondern sich ein differenziertes Bild ergibt. 396 Schulze, Die Erlebnisgesellschaft (1992), S. 191. 397 Vgl. dazu Dahrendorf, Im Entschwinden der Arbeitsgesellschaft, Merkur 1980 (8), S. 749 (757). 398 Beck, Wohin führt der Weg, der mit dem Ende der Vollbeschäftigungsgesellschaft beginnt?, in: Beck (Hrsg.), Die Zukunft von Arbeit und Demokratie (2000), S. 7 (24). 387
388
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende
Nebenpflichten
225
Die soziologische Annahme des Bundesarbeitsgerichts, daß Erwerbsarbeit eine typische Bedingung der Persönlichkeitsentfaltung ist, kann demnach nicht begründet werden. Sie ist letztlich eine politische Zielvorstellung, eine »policy« 3 9 9 , wie Erwerbsarbeit in wünschenswerter Weise angesehen werden sollte, und entspricht z.B. der Vorstellung protestantischer wie auch katholischer laboristischer Arbeitsethik. 4 0 0 Diese politische Position ist aber nur eine mögliche unter vielen. Unter mehreren politischen Zielvorstellungen muß der Gesetzgeber wählen und bestimmen, was für das Gemeinwohl am besten ist. Die Rechtsprechung kann ihre Rechtsfortbildungen nicht auf solche Erwägungen stützen. Sie ist in ihrer Argumentation auf Rechtsprinzipien beschränkt. 2. Beschäftigungsanspruch
nur hei besonderen
wirtschaftlichen
Interessen
Ein berechtigtes Interesse des Arbeitnehmers an der tatsächlichen Beschäftigung ist daher nur dann anzunehmen, wenn der tatsächliche Einsatz für die Marktfähigkeit der Arbeitskraft notwendig ist. Hängt die Einsatzfähigkeit der Arbeitskraft davon ab, daß der Beschäftigung tatsächlich nachgegangen wird, so hat der Arbeitnehmer ein wirtschaftliches Interesse an einem Beschäftigungsanspruch. Die Nichtbeschäftigung führt in diesen Fällen dazu, daß sich die vertragliche Kooperation trotz der Lohnzahlung letztlich kapitalsenkend für den Arbeitnehmer auswirkt. Insbesondere bei Berufen deren Arbeitsfeld weiterentwickelnde Technologien umfaßt, ist die Tätigkeit Voraussetzung der Marktfähigkeit der Arbeitskraft. A m deutlichsten wird dies bei ausschließlich technologieabhängigen Berufen, wie zum Beispiel in der Informationstechnologie. Bislang nur implizierte, aber nicht erklärte Voraussetzung für einen Beschäftigungsanspruch ist jedoch, daß gerade der freistellende Arbeitgeber die Beschäftigungsmöglichkeit anbieten muß und der Arbeitnehmer nicht auf den externen Arbeitsmarkt verwiesen werden kann. Entgegen der Ansicht des Bundesarbeitsgerichts 401 gibt es keinen rechtlichen Zwang zum Nichtstun. Dem Arbeitnehmer steht es rechtlich frei, ein weiteres Arbeitsverhältnis mit einem anderen Arbeitgeber einzugehen. Beide Arbeitsverträge sind wirksam, der Arbeitnehmer kann frei entscheiden, welchen Vertrag er erfüllen will und in welchem Vertragsverhältnis er sich schadensersatzpflichtig macht. 4 0 2 Gegen die 3 9 9 Vgl. zur Unterscheidung zwischen Prinzipien und politischen Zielvorstellungen § 3 11.2. 400 Sturn, » O f The Division O f Labour«, in: Nutzinger/Held (Hrsg.), Geteilte Arbeit und Ganzer Mensch (2000), S. 29 (52) unter Hinweis auf die Enzyklika Johannes Pauls II. Laborem Exercens, wonach die soziale Ordnung es dem Menschen erlauben müsse, »in der Arbeit mehr Mensch zu werden« und in ihr »Würde und Personalität angetastet zu sehen«. 4 0 1 GS Beschl. v. 27.2.1985 - GS 1/84 - AP Nr. 14 zu § 611 B G B Beschäftigungspflicht. 4 0 2 MünchKomm-Schaub § 6 1 3 B G B Rz. 13; Fabricius, Kollision von Beschäftigungspflichten aus Doppelarbeitsverhältnissen, ZfA 1972, 35 (65); nur für den Fall, daß es sich um zeitlich hintereinandergeschaltete und damit kumulativ erfüllbare Verträge handelt, ist der
226
4. Kapitel: Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
Ansicht 403 , der Abschluß eines weiteren Arbeitsvertrages verstoße gegen die arbeitsvertragliche Treuepflicht des Arbeitnehmers oder sei »ethisch unbefriedigend« 404 , spricht schon die Regelung des § 615 S. 2 BGB, wonach der Arbeitnehmer sich das aus einer weiteren Beschäftigung erworbene Entgelt sowie böswillig unterlassenen Erwerb auf die Lohnzahlung anrechnen lassen muß. Die Aufnahme einer weiteren Tätigkeit führt nicht dazu, daß die Voraussetzungen des Annahmeverzugs entfallen. Wegen der Sonderregelung des § 615 S. 2 BGB muß der Arbeitnehmer während der Nichtbeschäftigung und der Durchführung eines weiteren Arbeitsverhältnisses nicht sofort leistungsbereit sein und nicht sofort auf jederzeitigen Abruf zur Verfügung stehen. 405 Ein weiteres Arbeitsverhältnis kann zwar wirksam abgeschlossen werden, es besteht aber sowohl nach dem Sinn und Zweck des § 615 BGB keine Pflicht 406 des Arbeitnehmers, sich eine neue Stelle zu suchen, als auch nach der internen Risikoverteilung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Diese Risikoverteilung folgt aus der schon oben beschriebenen Besonderheit des internen Arbeitsmarkts. 407 Typischerweise hindern hohe Abwanderungskosten den Arbeitnehmer daran, seinen Arbeitsplatz zu wechseln. Wenn der Arbeitnehmer bei hohen Abwanderungskosten das Risiko der Verwendbarkeit seiner Arbeitskraft selbst trägt, so verhindert diese Risikoverteilung, daß ein rational handelnder Arbeitnehmer in die bestimmte Tätigkeit durch eine Spezialisierung investiert. Beschäftigt der Arbeitgeber den Arbeitnehmer plötzlich nicht mehr weiter, so ist der Arbeitnehmer nicht nur durch Kosten, sondern zudem durch den zeitlich schwindenden Marktwert seiner Arbeitkraft an den Arbeitgeber gebunden. Diese Marktsituation führt dazu, daß der Arbeitnehmer noch stärker auf den Arbeitgeber angewiesen ist, der ihn gerade nicht beschäftigen will. Erst eine rechtliche Absicherung der tatsächlichen Beschäftigung kann in dieser Situation einen rationalen Vertragsschluß ermöglichen und Investitionen des Arbeitnehmers absichern.
zweite Vertrag bei Verstoß gegen § 3 A r b Z G in Verbindung mit § 134 BGB nichtig vgl. ErfKPreis § 611 BGB Rz. 176. 403 Isele, Das suspendierte Arbeitsverhältnis, in: Nipperdey (Hrsg.), Festschrift für Molitor (1962), S. 107 (119); Callam, Arbeitsrechtliche Probleme mehrfacher Erwerbstätigkeit von Arbeitnehmern (1969), S. 89 und 95; ArbG Lörrach, Urt. v. 24.4.1960 - II Ca 212/60 - BB 1960, S. 1059; Monjau, Die Abwerbung von Arbeitskräften, DB 1961, S. 98 (99). 404 Neumann-Duesberg, Das vertragswidrige Doppelarbeitsverhältnis, DB 1971, S. 382 (384). 405 So schon Hueck, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Band I (1963), S. 219; Nikisch, Arbeitsrecht I.Band (1961), S.278. 406 Eine Pflicht zur Aufnahme eines zweiten Arbeitsverhältnisses begründet §615 S. 2 BGB nicht. Der Arbeitnehmer muß sich nur den Erwerb anrechnen lassen, den er böswillig trotz Freiwerden seiner Arbeitskraft nicht erwirtschaftet hat. Dazu BAG, Urt. v. 16.5. und 22.2. 2000 - 9 AZR 203 und 194/99 -. 407 Vgl. § 7 II.
§ 10: Vertragskonkretisierende
3.
zwingende
Nebenpflichten
2.17
'Weiterbeschäftigungsanspruch
Vom allgemeinen Beschäftigungsanspruch unterscheidet das Bundesarbeitsgericht den sogenannten materiellen Weiterbeschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers während des Kündigungsschutzprozesses. Diesen Weiterbeschäftigungsanspruch stützt es - wie den allgemeinen Beschäftigungsanspruch - auf eine Auslegung der Generalklausel des § 242 BGB unter Berücksichtigung der Wertungen der Art. 1 und 2 GG. Danach leide »die Selbstachtung und sein Ansehen in seiner Familie und in seiner sozialen Umwelt«, wenn der Arbeitnehmer wegen der Kündigung nicht beschäftigt wird. 408 Dem Weiterbeschäftigungsanspruch liege aber trotz dieser Gemeinsamkeit mit dem allgemeinen Beschäftigungsanspruch eine andere Interessenlage zugrunde: Anders als bei dem sogenannten allgemeinen Beschäftigungsanspruch habe der Arbeitgeber ein berechtigtes vorrangiges Interesse an der Nichtbeschäftigung während der Zeit des Kündigungsschutzprozesses, da ihm im Falle der Wirksamkeit der Kündigung durch eine Beschäftigung ein sehr großer Nachteil entstehe. In diesem Zusammenhang führt das Gericht aus: »Zwar ist Grundvoraussetzung für den allgemeinen Beschäftigungsanspruch stets der rechtliche Bestand des Arbeitsverhältnisses, so daß ein vertraglicher Beschäftigungsanspruch für die Dauer des Kündigungsrechtsstreits nur gegeben sein kann, wenn nach der objektiven Rechtslage die ausgesprochene Kündigung unwirksam ist und das Arbeitsverhältnis demzufolge auch während des Kündigungsprozesses fortbesteht. Bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Kündigungsprozesses herrscht aber Ungewißheit über die objektive Rechtslage. Gerade diese Ungewißheit ist es, die sich auf die Interessenlage auswirkt und sie verändert.« 409 N u r in Ausnahmefällen, nämlich bei einer offensichtlich unwirksamen Kündigung und bei einem die Unwirksamkeit der Kündigung feststellenden Urteil, überwiege das Interesse des Arbeitnehmers an der Beschäftigung. 410 Das Bundesarbeitsgericht leitet den allgemeinen Beschäftigungs- und den Weiterbeschäftigungsanspruch demnach letztlich aus derselben vertraglichen Verpflichtung ab. Dagegen spricht schon, daß der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis gekündigt hat und die Wirksamkeit des Vertrags und damit auch der Anspruchsgrundlage erst mit der rechtskräftigen Entscheidung am Ende des Prozesses feststeht. In seiner Argumentation unterstellt das Bundesarbeitsgericht
408 BAG GS Beschluß v. 27.2.1985 - GS 1/84 - AP Nr. 14 zu §611 BGB Beschäftigungspflicht Bl. 112. 409 BAG GS Beschluß v. 27.2.1985 - GS 1/84 - AP Nr. 14 zu §611 BGB Beschäftigungspflicht Bl. 109 Rs. 410 BAG GS Beschluß v. 27.2.1985 - GS 1/84 - AP Nr. 14 zu §611 BGB Beschäftigungspflicht Bl. 112 Rs. So für einen im einstweiligen Verfahren durchzusetzenden Weiterbeschäftigungsanspruch LAG Köln Urt. v. 26.11.1985 - 1 Sa 975/85 - N Z A 1986, S. 136.
228
4. Kapitel: Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
quasi, daß die Kündigung bis zur endgültigen Klärung ihrer Wirksamkeit im Prozeß während der Prozeßdauer als unwirksam anzusehen ist. Die Anknüpfung an den Vertrag verbietet sich jedoch schon deshalb, weil sich die Kündigung als wirksam herausstellen kann und damit die in Bezug genommene Anspruchsgrundlage letztlich entfallen kann. 411 Darüber hinaus widerspricht diese Risikoverteilung den Wertungen der §§ 9 bis 12 KSchG, nach welchen der Arbeitnehmer während der Zeit des Prozesses das Risiko trägt, aus dem Vertrag keine Rechte herzuleiten. 412 Der Weiterbeschäftigungsanspruch kann daher nicht auf eine materiell-vertragliche Anspruchsgrundlage gestützt werden. 413 Auch ein über § 102 Abs. 5 BetrVG hinausgehender materiell-rechtlicher Bestandsschutzanspruch während des Prozesses existiert de lege lata nicht. 414 Die Regelung des § 102 Abs. 5 BetrVG 415 kann nicht analog angewendet werden, da es sich um eine Ausnahmeregelung handelt und dem Beschäftigungsanspruch und dem zu entwickelnden Weiterbeschäftigunganspruch eine unterschiedliche Interessenlage zugrunde liegt. Eine Argumentation mit dem »Bestandsschutzprinzip« hilft ebenso nicht weiter 416 , da es sich zum einen wiederum um eine »Leerformel« 417 handelt und es zum anderen im Kündigungsschutzprozeß praktisch keinen echten Bestandsschutzes mehr gibt. 418 Die Kritik an der Rechtsprechung zum Weiterbeschäftigungsanspruch ist bereits mit einer »Materialschlacht« 419 verglichen worden. Im Folgenden inter411
MünchArbR-ß/oOTeyer § 95 Rz. 14. Heinze, Bestandsschutz durch Beschäftigung trotz Kündigung, DB 1985, S. 111 (120); Wank, Rechtsfortbildung im Kündigungsschutzrecht, RdA 1987, S. 129 (153); Kraft, Beschäftigungsanspruch und Weiterbeschäftigungsanspruch, ZfA 1979, S. 123 (133). 4,3 Wank, Rechtsfortbildung im Kündigungsschutzrecht, RdA 1987, S. 129 (153). 414 Wank, Rechtsfortbildung im Kündigungsschutzrecht, RdA 1987, S. 129; Dütz, Effektiver Bestandsschutz im Arbeitsverhältnis, DB Beilage 13/1978, S. 11; anders Kraft, Beschäftigungsanspruch und Weiterbeschäftigungsanspruch, ZfA 1979, S. 123 (136), der nach Ablauf der Kündigungsfrist einen Beschäftigungsanspruch und aber auch eine einstweilige Sicherung des Anspruchs verneint. Auch zivilrechtlich kann ein materieller Weiterbeschäftigungsanpruchs entgegen der Ansicht von Schaub, Vorläufiger Rechtsschutz bei der Kündigung von Arbeitsverhältnissen, N J W 1981, S. 1807 (1810) nicht begründet werden. Entgegen der dort vertretenen Ansicht kann der Gläubiger auch im Arbeitsverhältnis einseitig gem. § 397 BGB auf die Arbeitsleistung verzichten, da damit »nicht notwendigerweise das Arbeitsverhältnis zum Erlöschen« gebracht wird. 415 Wank, Rechtsfortbildung im Kündigungsschutzrecht, RdA 1987, S. 129 (152). 416 Dazu Reuter, Anmerkung zu BAG v. 26.5.1977 - 2 AZR 632/76 - SAE 1978, S.248, wonach die Rechtsprechung im Ergebnis den Arbeitsplatz dadurch sichern möchte, daß der Arbeitnehmer im Betrieb verbleibt. Kritisch Mayer-Maly, Weiterbeschäftigung nach Kündigung, DB 1979, S. 1601(1607), wonach der Kündigungsschutz nicht über einen Weiterbeschäftigungsanspruch umgestaltet werden kann, weil die Prozesse zu lange dauern. 417 Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts bei Arbeitsverhältnissen (1987), S. 121. 418 Der Großteil der Kündigungsprozesse endet mit einem Abfindungsvergleich Zu den Statistiken vgl. Geffert, Beschäftigung wider Willen (1994), S. 83 ff. 419 Weber, Anmerkung zum Vorlagebeschluß des BAG v. 21.12.1983 - 7 AZR 444/81 SAE 1984, S. 202. 412
§ 10: Vertragskonkretisierende
zwingende Nebenpflichten
229
essiert ausschließlich die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein A r b e i t n e h mer einen Weiterbeschäftigungsanspruch hat, der nach den vorangegangenen Erörterungen ein berechtigtes, wirtschaftliches Interesse an der tatsächlichen Beschäftigung hat. E i n e materielle Anspruchsgrundlage auf Weiterbeschäftigung während des Kündigungsschutzprozesses läßt sich nicht aus einer richterlichen Rechtsfortbildung heraus begründen. 4 2 0 Diese ist nur dann zulässig, »wenn die R e c h t s o r d n u n g nicht schon aufgrund bestehender Regelungen eine angemessene L ö s u n g ermöglicht.« 4 2 1 D e r Arbeitnehmer, der nach den vorangegangenen Ausführungen ein schützenswertes Interesse an der tatsächlichen B e schäftigung hat, kann jedoch während des laufenden Prozesses schon im p r o zessualen einstweiligen R e c h t s s c h u t z sowie mit der vorläufigen Vollstreckbarkeit des bereits ergangenen Urteils erreichen, daß der Arbeitgeber ihn tatsächlich weiterbeschäftigt. 4 2 2 Das Bundesarbeitsgericht hat sich dagegen auf den Standpunkt gestellt, daß »die prozessualen Vollstreckungsvorschriften ... der spezifischen Interessenlage der Parteien während des Kündigungsschutzprozesses nicht hinreichend R e c h n u n g « 4 2 3 tragen. Dies ist nur v o m A n s a t z punkt der R e c h t s p r e c h u n g zum allgemeinen Beschäftigungsanspruch aus k o n sequent. F o l g t man nämlich der Ansicht des Bundesarbeitsgerichts, so überwiegt aufgrund des allgemeinen Beschäftigungsanspruchs stets das Interesse des Arbeitnehmers. Ein auf dieser Grundlage ergangenes Beschäftigungsurteil wäre trotz der veränderten Interessenlage im Kündigungsschutzprozeß stets vollstreckbar, da die Vollstreckungsvorschriften keine erneute A b w ä g u n g vorsehen. E b e n s o gelänge es dem Arbeitgeber oftmals nicht, die Vollstreckbarkeit gem. § 62 A b s . 1 S. 2 A r b G G abzuwenden, da in der Beschäftigung trotz U n g e wißheit über das Bestehen des Arbeitsvertrags kein »nicht zu ersetzender N a c h t e i l « liegt. 4 2 4
420 Wank, Rechtsfortbildung im Kündigungsschutzrecht, RdA 1987, S. 129 (158), wonach das Bundesarbeitsgericht eine Interessenabwägung vornimmt, ohne die Anspruchsgrundlage anzugeben; zustimmend zu dem Urteil des BAG v. 26.5.1977 - 2 AZR 632/76 AP Nr. 5 zu §611 BGB Beschäftigungspflicht, in dem ein Weiterbeschäftigungsanspruch verneint wurde Konzen, Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts im Jahre 1977, ZfA 1978, S. 451 (535); Kraft, Beschäftigungsanspruch und Weiterbeschäftigungsanspruch, ZfA 1979, S. 123 (137); Heinze, Bestandsschutz durch Beschäftigung trotz Kündigung, DB 1985, S. 111 (129). 421 BAG GS Beschluß v. 27.2.1985 - GS 1/84 - AP Nr. 14 zu §611 BGB Beschäftigungspflicht Bl. 110. 422 So im Ergebnis auch LAG Niedersachsen Urt. v. 6.8.1987 u. 18.11.1994 - 3 Sa 218/87u. 3 Sa 1697/94 - LAGE Nr. 22 u. 38 zu §611 BGB Beschäftigungspflicht. Diese prozessualen Möglichkeiten erörterte Grunski, Der Anspruch des gekündigten Arbeitnehmers auf Beschäftigung, NJW 1979, S. 86 (89), schon vor der Entscheidung des Großen Senats v. 27.2.1985 - GS 1/84 - AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht. 423 BAG GS Beschluß v. 27.2.1985 - GS 1/84 - AP Nr. 14 zu §611 BGB Beschäftigungspflicht Bl. 110 Rs. 424 Dazu Germelmann/Matthes/Prütting, Arbeitsgerichtsgesetz (1999), §62 Rz. 15; aus der Literatur vor der Entscheidung des GS vgl. Brill, Die Durchsetzung des allgemeinen Be-
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4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpßicbtbegründung
D a m i t das Bundesarbeitsgericht aber die während des Kündigungsschutzprozesses berechtigten Interessen des Arbeitgebers überhaupt berücksichtigen kann, m u ß es sie erneut abwägen. Diese abermalige G e w i c h t u n g der Interessen ist nach dem hier vertretenen Ansatz nicht erforderlich. D a s Interesse des Arbeitnehmers an einer tatsächlichen Beschäftigung besteht sowohl im u n g e k ü n digten als auch im bereits gekündigten Arbeitsverhältnis nur in den beschriebenen Fällen. S o w o h l im bestehenden als auch im gekündigten Arbeitsverhältnis überwiegen im Regelfall die Interessen des Arbeitgebers. Ist zugunsten des Arbeitnehmers in einem instanzlichen U r t e i l die U n w i r k s a m k e i t der Kündigung festgestellt w o r d e n , so hat das erkennende G e r i c h t bereits die Interessen gegeneinander abgewogen und U m s t ä n d e festgestellt, die in diesem besonderen Fall für den Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers sprechen. Es widerspricht den Interessen der Arbeitsvertragsparteien also in diesem Fall nicht, daß sich der A r b e i t n e h m e r nach den allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen auf die für ihn positive P r o g n o s e 4 2 5 des instanzgerichtlichen Urteils berufen und es danach vollstrecken kann. W ä h r e n d der Zeit v o r d e m instanzgerichtlichen U r t e i l k a n n der A r b e i t n e h m e r seinen B e s c h ä f t i g u n g s a n s p r u c h mittels einer Leistungsverfügung gem. § 9 4 0 Z P O dann gerichtlich durchsetzen, w e n n er Verfügungsanspruch und Verfügungsgrund glaubhaft m a c h e n k a n n . 4 2 6 F ü r den Verfügungsanspruch als erste Voraussetzung m u ß der A r b e i t n e h m e r glaubhaft machen, daß er im Kündigungsschutzprozeß
obsiegen w i r d . 4 2 7
In dieser P r ü f u n g k a n n
die
R e c h t s p r e c h u n g beide Interessen angemessen würdigen. D a s A r b e i t g e b e r i n teresse tritt n u r dann z u r ü c k , w e n n der A r b e i t n e h m e r ein besonderes w i r t schaftliches Interesse an der tatsächlichen B e s c h ä f t i g u n g hat und die K ü n d i gung offensichtlich u n w i r k s a m ist. I n diesen Fällen ist typischerweise auch der Verfügungsgrund als z w e i t e Voraussetzung gegeben, da mit dem Warten auf das U r t e i l 4 2 8 die M a r k t f ä h i g k e i t der A r b e i t s k r a f t a b n i m m t und nur eine schäftigungsanspruchs, BB 1982, S. 621 (623), a.A. Körnig/Reinicke, Materiellrechtliche und vollstreckungsrechtliche Probleme des Beschäftigungsanspruchs während des Kündigungsschutzprozesses, D B 1978, S. 233 (235). 425 Körnig/Reinicke, Materiellrechtliche und vollstreckungsrechtliche Probleme des Beschäftigungsanspruchs während des Kündigungsschutzprozesses, D B 1978, S. 233 (237). 4 2 6 Vgl. zu einem Uberblick über die breite Diskussion in Literatur und Rechtsprechung zu den Voraussetzungen eines im Wege der einstweiligen Verfügung durchzusetzenden Beschäftigungsanspruchs Walker, Der einstweilige Rechtsschutz im Zivilprozeß und im arbeitsgerichtlichen Verfahren (1993), S. 440 Rz. 675 und Germelmann/Mattbes/Priitting, Arbeitsgerichtsgesetz (1999), § 62 Rz. 86. 427 Walker, Der einstweilige Rechtsschutz im Zivilprozeß und im arbeitsgerichtlichen Verfahren (1993), S. 443 Rz. 678 ff. 4 2 8 Nach Erlaß des erstinstanzlichen Urteils scheidet eine einstweilige Verfügung mangels eines Verfügungsgrundes aus, da der Arbeitnehmer die Vollstreckungsmöglichkeit hat Walker, Der einstweilige Rechtsschutz im Zivilprozeß und im arbeitsgerichtlichen Verfahren (1993), S. 446 Rz. 685. Das gilt auch, wenn der Arbeitnehmer es unterlassen hat, im Kündigungs-
5 11: Nebenpflichten
in Korrektur
des
Parteiwillens
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zeitlich schnelle Entscheidung verhindern kann, daß der Anspruch unerfüllbar wird. D e r praktische Unterschied zu der vom Bundesarbeitsgericht vertretenen Ansicht liegt in der Risikozuweisung des ungewissen Prozeßausgangs. Während der vom Bundesarbeitsgericht entwickelte materielle Weiterbeschäftigungsanpruch den Arbeitnehmer für die Dauer des Prozesses mit einer endgültigen Zuweisung - eben einer materiellrechtlichen - vom Risiko des ungewissen Prozeßausgangs entlastet, verbleibt dieses Risiko bei der hier verfolgten »prozessualen Lösung« beim Arbeitnehmer: D e r Arbeitnehmer haftet dem Arbeitgeber, wenn sich die Kündigung als wirksam herausstellt im Falle einer zuvor ergangenen einstweiligen Verfügung gem. § 945 Z P O und im Falle der durchgeführten Vollstreckung eines instanzgerichtlichen Urteils gem. § 7 1 7 Abs. 2 ZPO. 4.
Zusammenfassung
Entgegen der Ansicht des Bundesarbeitsgerichts läßt sich unter sozialwissenschaftlichen Aspekten nicht feststellen, daß die tatsächliche Ausübung einer Erwerbstätigkeit eine typische Bedingung der Persönlichkeitsentfaltung ist. Die Frage, ob sich der Einzelne als »vollwertiges Mitglied der Gesellschaft« 4 2 9 fühlt sowie seine »Selbstachtung und sein Ansehen in seiner Familie und seiner sozialen U m w e l t « 4 3 0 hängen nicht davon ab, daß er objektiv tatsächlich irgendeiner Erwerbsarbeit nachgeht, sondern davon, wie diese Tätigkeit subjektiv erlebt wird. D e n empirisch festgestellten Wertewandel der Erwerbsarbeit in der Gesellschaft berücksichtigt das Bundesarbeitsgericht nicht, sondern hält an einem überkommenen Gesellschaftsbild fest. D e r Wandel der gesellschaftlichen Bewertung von Erwerbsarbeit und die Individualisierung der Wertvorstellungen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder zeigen jedoch deutlich, daß keine einheitliche Wertvorstellung von Erwerbsarbeit mehr existiert. Insofern folgt das Bundesarbeitsgericht nur einer von mehreren politischen Ansichten, wie Erwerbsarbeit bewertet werden soll, kann sich aber nicht auf eine rechtliche Wertung stützen. Ein Beschäftigungsanspruch setzt daher voraus, daß der Arbeitnehmer ein berechtigtes wirtschaftliches Interesse an dem tatsächlichen Einsatz seiner Arbeitskraft hat. Dieses Interesse ist geschützt, wenn die tatsächliche Beschäftigung dazu erforderlich ist, um die Arbeitskraft marktfähig zu halten. Schutzprozeß den Antrag auf Weiterbeschäftigung zu stellen vgl. L A G Köln v. 6.8.1996 - 11 Ta 151/96 - L A G E Nr. 40 zu § 611 B G B Beschäftigungspflicht. 4 2 9 B A G , Urt v. 10.11.1955 - 2 A Z R 591/54 - AP N r . 2 zu §611 B G B Beschäftigungspflicht. 4 3 0 B A G GS Beschluß v. 27.2.1985 - GS 1/84 - AP Nr. 14 zu § 611 B G B Beschäftigungspflicht.
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4. Kapitel: Ausgewählte Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
Entgegen der Ansicht des Bundesarbeitsgerichts existiert kein rechtlicher Zwang zum Nichtstun. D e r Arbeitnehmer kann wirksam zwei Arbeitsverträge eingehen, ohne seinen Anspruch aus § 615 B G B auf den Annahmeverzugslohn zu gefährden. Der sogenannte Weiterbeschäftigungsanspruch während des Kündigungsschutzprozesses kann nicht auf eine materiell-rechtliche Anspruchsgrundlage gestützt werden. D e lege lata existiert kein solcher Anspruch. Anders als nach dem von der Rechtsprechung entwickelten Ansatz ist eine Rechtsfortbildung unzulässig, weil die Risiken während des Rechtsstreits bereits sachgerecht durch die bestehenden prozessualen Vorschriften verteilt werden. Vor Erlaß eines Urteils kann der Arbeitnehmer einen Anspruch auf tatsächliche Beschäftigung im einstweiligen Rechtsschutz gem. § 62 Abs. 2 S. 1 A r b G G i.V.m. § 940 Z P O geltend machen. Nach Erlaß des Urteils hat er die Möglichkeit, das Urteil gem. § 62 Abs. 1 S. 2 A r b G G vorläufig zu vollstrecken.
§11 Nebenpflichten in Korrektur des Parteiwillens Zum vertragstheoretischen Modell der Inhaltskontrolle Indikator für eine gem. § 307 B G B zur Inhaltskontrolle berechtigende unangemessene Benachteiligung ist ein Vertragsergebnis, in dem zum Ausdruck kommt, daß ein Vertragspartner den anderen aufgrund einer typisierbaren, vertragsstrategischen Überlegenheit ohne die Möglichkeit einer außerrechtlichen Korrektur und offensichtlich ohne eine ausgleichende Gegenleistung verpflichtet hat. N a c h § 310 Abs. 4 S. 2 B G B ist diese Inhaltskontrolle unter B e achtung der »im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten« durchzuführen. D i e Bedeutung der »arbeitsrechtlichen Besonderheiten« erklärt sich in der marktbezogenen Analyse gerade darin, daß es sich bei einem Arbeitsverhältnis um eine Langzeitbeziehung handelt, bei der sich andere strategische A b hängigkeiten als bei einem kurzfrsitigen Leistungsaustausch ergeben können. Das Ergebnis indiziert nur dann ein determiniertes Verhandlungsungleichgewicht, bei dem die Rechtsprechung deshalb korrigierend in den Vertragsinhalt eingreifen darf, wenn schon die zugrunde liegende Marktsituation eine autonomienähere Lösung verhindert. Dadurch unterscheidet sich die Inhaltskontrolle von der Einzelkorrektur eines groben Mißverhältnisses von Leistung und Gegenleistung gem. § 138 B G B . Das »ob« der Inhaltskontrolle hängt davon ab, daß der als offensichtlich unangemessen empfundene Vertragsinhalt Ergebnis einer bestimmten Strategiesituation ist. F ü r diese Situation ist es kennzeichnend, daß der überlegene Vertragspartner deshalb die Vertragsbedingungen diktieren kann, weil der unterlegene Vertragspartner keine Marktalternative hat. Mangels einer Marktalternative muß der unterlegene Vertragspartner die ihn belastende Regelung sanktionslos hinnehmen. Erst wenn diese
§ 11: Nebenpflichten
in Korrektur des Parteiwillens
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Voraussetzungen erfüllt sind, kann die R e c h t s p r e c h u n g in einem zweiten Schritt das offensichtlich unangemessene E r g e b n i s durch eine judiziell e n t w i k kelte Regelung ersetzen. U b e r p r ü f t man die R e c h t s p r e c h u n g des Bundesarbeitsgerichts unter diesen Voraussetzungen, lassen sich die v o n ihr entwickelten Ergebnisse zur Inhaltskontrolle v o n RückZahlungsverpflichtungen nicht halten.
I. Rückzahlung von Ausbildungskosten 1.
Ausgangsproblematik
Das Bundesarbeitsgericht 4 3 1 hat v o r E r l a ß der §§ 3 0 5 f. B G B Regelungen einer Inhaltskontrolle u n t e r z o g e n , nach denen der A r b e i t n e h m e r zur R ü c k z a h l u n g von arbeitgeberseitig ü b e r n o m m e n e n Ausbildungskosten verpflichtet ist, wenn er vor einem vereinbarten Zeitpunkt aus dem Vertrag ausscheidet. D a b e i ging es weit über den Anwendungsbereich gesetzlicher V e r b o t e 4 3 2 - z.B. § 5 A b s . 2 Nr. 1 B B i G G - hinaus. Das Bundesarbeitsgericht hat folgende »Richtlinien« für die zulässige Ausgestaltung einer RückZahlungsverpflichtung entwickelt 4 3 3 : D i e D a u e r der Bindung darf danach fünf J a h r e nicht überschreiten. 4 3 4 E i n e Rückzahlungsklausel ist für den Fall einer kürzeren Bindung nur dann angemessen, wenn der A r b e i t n e h m e r mit der Ausbildung einen Vorteil erhält, der eine adäquate Gegenleistung für die RückZahlungsverpflichtung ist 4 3 5 , w o b e i dem Arbeitgeber die Darlegungslast obliegt, daß die A u s - oder F o r t b i l d u n g s maßnahme mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu einem inner- oder außerbetrieblichen Vorteil des Arbeitnehmers führt. 4 3 6 D i e D a u e r der Ausbildungsmaßnahme soll nach dieser R e c h t s p r e c h u n g ein »starkes Indiz für die Qualität der erworbenen Qualifikation« sein. 4 3 7 I m Regelfall soll danach eine Ausbildungsdauer von ein bis zwei M o n a t e n zu einer einjährigen Bindung führen. E i n e sechs M o n a t e bis zu einem J a h r dauernde Ausbildung soll zu keiner längeren B i n d u n g als drei J a h r e n führen k ö n n e n . Erst eine mehr als zweijährige A u s 431 Ständige Rechtsprechung vgl. aus neuerer Zeit BAG, Urt. v. 6.5.1998 u.v. 6.9.1995 - 5 AZR 535/97 u. 5 AZR 241/94 - AP Nr. 28 u. 23 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe. 432 Zu einem Uberblick über diese Vorschriften vgl. Hanau/Stoffels, Beteiligung von Arbeitnehmern an den Kosten der beruflichen Fortbildung (1992), S. 11 ff. 433 Für einen Uberblick vgl. Hanau/Stoffels, Beteiligung von Arbeitnehmern an den Kosten der beruflichen Fortbildung (1992), S. 34 ff. 434 BAG, Urt. v. 12.12.1975 - 5 AZR 1056/77-AP Nr. 4 zu §611 BGB Ausbildungsbeihilfe. 4 3 5 BAG, Urt. v. 6.9.1995 - 5 AZR 241/94 - AP Nr. 23 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe. 436 BAG, Urt. v. 16.3.1994 - 5 AZR 339/92 - AP Nr. 18 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe Bl. 1695 Rs. 437 BAG, Urt. v. 6.9.1995-5 AZR 2 4 1 / 9 4 - A P Nr. 23 zu §611 BGB Ausbildungsbeihilfe Bl. 1102.
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4. Kapitel: Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
bildungsdauer soll eine vertragliche Bindung von fünf Jahren rechtfertigen. 438 Diese Rechtsprechungsgrundsätze beruhen auf einem Ausgangspunkt, von dem aus man auf eine andere Entwicklung der Rechtsprechung hätte schließen können. Zunächst hatte das Bundesarbeitsgericht Rückzahlungsvereinbarungen nämlich nur daran überprüft, ob der Arbeitgeber an ihnen ein berechtigtes Interesse hat und dem Arbeitnehmer die Rückzahlung zuzumuten ist. 439 In dieser Kontrolle sollten Fälle eines offensichtlichen Mißverhältnisses korrigiert werden. Diese Rechtsprechung kehrte sich in den folgenden Entscheidungen aber in eine Angemessenheitskontrolle um, in welcher der Arbeitgeber als Wirksamkeitsvoraussetzung der Vereinbarung darzulegen hat, daß die Fortbildungsmaßnahme als Gegenleistung für die RückZahlungsverpflichtung angemessen ist. 440 Diese Wende in der Rechtsprechung läßt sich an der Entscheidung des fünften Senats 441 aus dem Jahre 1976 nachvollziehen, der eine Angemessenheitskontrolle einführte, ohne die damit einhergehende Veränderung sowohl des Kontrollmaßstabs als auch der Eingriffsvoraussetzungen zu erörtern. Zuvor 442 hatte der Senat das berechtigte Interesse des Arbeitgebers zum Ausgangspunkt genommen und ausgeführt, daß der Arbeitgeber den Arbeitnehmer durch eine finanzierte Fortbildung an den Betrieb binden wolle, damit sich die investierten Kosten zumindest zu einem Teil amortisieren können. 443 Dies sei insbesondere der Fall, wenn der Arbeitnehmer die erworbenen Kenntnisse bei anderen Arbeitgebern einsetzen könne und somit die Gefahr einer Abwerbung bestehe. 444 Gegen die in dieser Entscheidung vom Instanzgericht vorgebrachte Ansicht, die RückZahlungsverpflichtung sei in Anbetracht der Lohnhöhe nicht zumutbar, wendete das Bundesarbeitsgericht ein, daß nicht nur die Lohnhöhe, sondern auch der Wert der erhaltenen Ausbildung berücksichtigt werden müsse und die vertragliche RückZahlungsverpflichtung schon deshalb nicht unangemessen sei. 445 438 BAG, Urt. v. 6.9.1995 - 5 AZR 241/94 - AP Nr. 23 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe Bl. 1102. 439 BAG, Urt. v. 19.6.1974 u.v. 20.2.1975-4 AZR 299/73 u. 5 AZR 240/74 - A P Nr. 1 u. 2 zu §611 BGB Ausbildungsbeihilfe. 440 BAG Urt. v. 18.8.1976 - 5 AZR 399/75 - AP Nr. 3 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe seitdem ständige Rechtsprechung vgl. BAG, Urt. v. 6.9.1995 - 5 AZR 241/94 - AP Nr. 23 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe unter Hinweis auf die vorangegangene Rechtsprechung. 441 BAG, Urt. v. 18.8.1976 - 5 AZR 399/75 - AP Nr. 3 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe. 442 BAG, Urt. v. 20.2.1975 - 5 AZR 240/74 - AP Nr. 2 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe und die Rechtsprechung des vierten Senats BAG, Urt. v. 19.6.1974 - 4 AZR 299/73 - AP Nr. 1 zu §611 BGB Ausbildungsbeihilfe. 443 BAG, Urt. v. 20.2.1972 - 5 AZR 240/74 - AP Nr. 2 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe; zum Amortisationseffekt vgl. Blomeyer, Anmerkung zu BAG v. 19.6.1974 - 4 AZR 299/73 AP Nr. 1 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe; Hanau/Stoffels, Beteiligung von Arbeitnehmern an den Kosten der beruflichen Fortbildung (1992), S. 8. 444 BAG, Urt. 20.2.1972 - 5 AZR 240/74 - AP Nr. 2 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe. 445 BAG, Urt. v. 20.2.1972 - 5 AZR 240/74 - AP Nr. 2 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe.
§ 11: Nebenpflichten
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In der folgenden Entscheidung statuierte der fünfte Senat 4 4 6 die wirtschaftliche Äquivalenz von RückZahlungsverpflichtung und erhaltenem beruflichen Vorteil zur Wirksamkeitsvoraussetzung: » N a c h alledem muß es für die Interessenabwägung vorrangig darauf ankommen, ob und inwieweit der Arbeitnehmer mit der Aus- oder Weiterbildung einen geldwerten Vorteil erlangt.« 4 4 7 Diese Nuance in der Formulierung des Obersatzes führte dazu, daß das Gericht ein angemessenes Marktergebnis nachkonstruierte, was nach dem oben erläuterten Ansatz nicht möglich ist. 4 4 8 D a s Bundesarbeitsgericht stützte diese Angemessenheitskontrolle auf eine Parallelwertung zu vertraglichen Wettbewerbsverboten. Die freie Verwertbarkeit der Arbeitskraft stelle einen so wichtigen Wert dar, daß Einschränkungen nur bei einer entsprechenden Gegenleistung oder Entschädigung zulässig seien. Dies zeige sich in der Kontrolle von Wettbewerbsverboten, die über den gesetzlich geregelten Bereich hinaus nur dann wirksam seien, wenn eine entsprechende Entschädigung gezahlt werde. 4 4 9 Eine Übertragung dieser Wertung auf vertragliche RückZahlungsverpflichtungen ist jedoch problematisch. D a s Wettbewerbsverbot untersagt die Betätigung in dem zuvor ausgeübten Beruf. Dagegen wird der Arbeitnehmer im Falle der RückZahlungsverpflichtung nicht gehindert, in seinem Beruf tätig zu werden; er soll gerade bei dem Arbeitgeber arbeiten. Die Qualität der Beschränkung ist anders. Darüber hinaus hat der Arbeitgeber in den Fällen des Wettbewerbsverbots kein Absicherungsinteresse an einer von ihm vorfinanzierten Leistung. Gerade die Vorfinanzierung begründet aber in den Fällen der RückZahlungsverpflichtung das schützenswerte Interesse des Arbeitgebers. Eine Inhaltskontrolle von RückZahlungsverpflichtungen darf nicht dazu führen, daß die Rechtsprechung voraussetzungslos ihre Vorstellung von einem äquivalenten Vertragsinhalt an die Stelle der vereinbarten Regelung setzt. O b die Fort- oder Weiterbildungsmaßnahmen wahrscheinlich wirtschaftlich sinnvoll sein werden, unterliegt dem unternehmerischen Beurteilungsspielraum des Arbeitgebers, da ihre Rentabilität vor Durchführung der Maßnahmen nicht immer feststehen wird. Gerade bei der Einführung von neuen technischen Entwicklungen, die zwangsläufig mit einer Weiterbildung der Arbeitnehmer einhergehen, kann dies unklar sein. N a c h der Rechtsprechung hängt die Zulässigkeit der Rückzahlungsklausel jedoch davon ab, ob der Arbeitgeber darlegen kann, daß die Ausbildung den Marktwert der Arbeitskraft tatsächlich steigert und der Arbeitnehmer somit eine angemessene Gegenleistung erhält. Zwar erkennt das Bundesarbeitsgericht an, daß der Arbeitgeber einen unternehmeriB A G , Urt. v. 1 8 . 8 . 1 9 7 6 - 5 A Z R 3 9 9 / 7 5 - A P Nr. 3 zu §611 B G B Ausbildungsbeihilfe. B A G , Urt. v. 1 8 . 8 . 1 9 7 6 - 5 A Z R 399/75 - AP Nr. 3 zu §611 B G B Ausbildungsbeihilfe. 4 4 8 Vgl. § 5 II 2., S. 89. 4 4 9 B A G , Urt. v. 1 8 . 8 . 1 9 7 6 - 5 A Z R 3 9 9 / 7 5 - A P Nr. 3 zu §611 B G B Ausbildungsbeihilfe Bl. 766. 446
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Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegründung
sehen Prognosespielraum hat. Es würdigt diesen Umstand jedoch nur mit einer Darlegungs- und Beweiserleichterung: Es reiche aus, wenn der Arbeitgeber darlegen könne, daß sich die Ausbildungsmaßnahme mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vorteilhaft auswirke. 450 Ob sich Investitionsmaßnahmen in Sachmittel tatsächlich lohnen werden, muß der Arbeitgeber zur Rechtfertigung einer Maßnahme noch nicht einmal nach den arbeitnehmerschützenden Vorschriften des Kündigungsschutzgesetzes darlegen. Arbeitsplatzabbauende Rationalisierungsmaßnahmen kann der Arbeitgeber durchführen, ohne daß die angestrebte Kosteneinsparung als solche sicher ist. 451 Die Maßnahme darf nur nicht willkürlich sein und offensichtlich ihren Zweck verfehlen, da das Gericht die Zweckmäßigkeit der betriebswirtschaftliche Überlegungen nicht überprüfen kann. 452 Ebenso verhält es sich aber mit einer humankapitalbezogenen Investition in die Einsatzfähigkeit der Arbeitnehmer. Der Arbeitgeber schuldet dem Gericht keine Rechtfertigung, ob die von ihm vorgenommenen Investitionen tatsächlich zu einer besseren beruflichen Verwendbarkeit führen. Dies ist seiner unternehmerischen Entscheidung vorbehalten. Darüber hinaus verdoppelt die Rechtsprechung mit der von ihr durchgeführten Angemessenheitsprüfung das Investitionsrisiko des Arbeitgebers. Kosten einer Fort- oder Weiterbildung der Arbeitnehmer sind Investitionen, bei denen im voraus nicht klar ist, ob sie sich auszahlen werden. Dieses Risiko trägt der Arbeitgeber, da er wirtschaftlich verantwortlich für die Vermarktung des Arbeitsergebnisses oder der Dienstleistung ist. Der Arbeitgeber, der eine Fort- oder Weiterbildung finanziert, hat jedoch nicht nur die Kosten dieser Maßnahme zu tragen; er kann den Arbeitnehmer während der Ausbildungszeit nicht einsetzen, obwohl er ihm den Lohn weiterzahlt. Nach dem hier zugrunde gelegten Konzept kann die Rechtsprechung die vertragliche Äquivalenz nicht positiv bestimmen. Der Maßstab ist letztlich darauf beschränkt, die offensichtlich nicht mehr mit den Gerechtigkeitsvorstellungen zu vereinbarenden Fälle herauszufiltern. 453 Eine Inhaltskontrolle scheidet auch nach den §§ 305 ff. B G B im Falle der Rückzahlungsklauseln jedoch schon deshalb aus, weil es sich nicht um eine offensichtlich unangemessene Regelung handelt, die auf einem strukturellen, das heißt das gesamte Vertragsgefüge erfassenden Ungleichgewicht beruht. Die RückZahlungsverpflichtung als Vertragsergebnis kann eine derartige Verhandlungsungleichheit der Parteien nicht indizieren. Sie beruht auf dem berechtigten Interesse des Arbeitgebers, seine Investition abzusichern und ist daher die BAG, Urt. v. 16.3.1994 - 5 AZR 339/92 - AP Nr. 18 zu § 611 B G B Ausbildungsbeihilfe. BAG, Urt. v. 17.6.1999 - 2 AZR 141/99 - AP Nr. 101 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung m.w.N. auf die ständige Rechtsprechung. 4 5 2 Dazu insbesondere BAG, Urt. v. 24.4.1997 - 2 AZR 352/96 - AP Nr. 42 zu § 2 KSchG 1969. 4 5 3 Vgl. § 5 II, S. 86. 450 451
§ 11: Nebenpflichten
in Korrektur des
Parteiwillens
237
Verrechtlichung einer kooperationsfördernden impliziten Vereinbarung 454 . Es liegt keine Äquivalenzstörung vor, die nach den vorangegangenen Ausführungen auf eine strategische Überlegenheit und das Fehlen von Marktalternativen hinweisen könnte. Der Arbeitnehmer, der seine Arbeitskraft marktgerecht, also rational verwaltet, muß sich ausbilden lassen. Dazu hat er mehrere Möglichkeiten. Die Übernahme der Kosten vom Arbeitgeber ist eine unter vielen. Darüber hinaus steht es dem Arbeitnehmer jederzeit frei, das Arbeitsverhältnis zu kündigen und so von der Ausbildung zu profitieren, ohne daß sich die investierten Kosten für den Arbeitgeber amortisiert haben. Für den Arbeitnehmer besteht im Fall der arbeitgeberseitigen Vorausleistung kein Bindungsinteresse. Er wird bei einem besseren Angebot von der Ausbildung ohne Rücksicht auf die Belange des Arbeitgebers profitieren und das Arbeitsverhältnis kündigen. Die Rückzahlungsvereinbarung ist in dieser Situation eine Absicherung gegen das strategische Verhalten des Arbeitnehmers. 455 Die Rechtsprechung geht jedoch letztlich davon aus, daß bei jeder Vereinbarung einer RückZahlungsverpflichtung eine strukturelle Ungleichgewichtslage anzunehmen ist 456 , ohne deren Voraussetzungen zu bezeichnen. Auch die Literatur bleibt in dieser Frage nicht konsequent. So soll bei Einstellung und Erstabschluß des Arbeitsvertrags eine RückZahlungsverpflichtung nach Ansicht von Hanau/Stoffels zulässig sein, weil der Arbeitnehmer die Einstellungsvoraussetzungen erfüllen und deshalb bestimmte Fähigkeiten vorweisen müsse. 457 Warum sich diese Pflicht bei Anpassungsmaßnahmen infolge technischer oder wirtschaftlicher Entwicklungen während der Durchführung des Arbeitsverhältnisses ändern soll, wird nicht erklärt. Vielmehr scheint hier das Bild eines statischen Arbeitsverhältnisses mit einer einheitlichen und im wesentlichen gleichen Arbeitsaufgabe bestimmend zu sein, in welchem dem Arbeitgeber als Daseinsvorsorger auch die Rolle des Ausbilders zufällt. Das Arbeitsverhältnis ist jedoch kein von den wirtschaftlichen Interessen losgelöstes Fürsorgeverhältnis. Das Bundesarbeitsgericht verweist den Arbeitgeber dagegen darauf, andere Vertragsgestaltungen zu wählen, wie die Vereinbarung eines LebenszeitverhältVgl. § 8 , S. 127. In der zivilrechtlichen Rechtsprechung wird ein Amortisationsinteresse bei vorgeleisteten Investitionen grundsätzlich als berechtigt anerkannt B G H U r t . v. 14.6.1972 - V I I I Z R 1 4 / 7 1 - N J W 1972, S. 1459. 4 5 6 B A G , U r t . v. 16.3.1994 - 5 A Z R 3 3 9 / 9 2 - A P Nr. 18 zu § 611 B G B Ausbildungsbeihilfe Bl. 1692 Rs.: » D i e dargestellten G r u n d s ä t z e gelten auch im Individualarbeitsrecht. Dieses ist wie nicht näher erläutert werden muß - durch eine strukturelle Unterlegenheit des einzelnen Arbeitnehmers gegenüber dem einzelnen Arbeitgeber gekennzeichnet... D i e Unterlegenheit besteht auch in Zeiten der Vollbeschäftigung. Dies zeigt sich auch im vorliegenden Fall: O b wohl Piloten gesucht wurden, wurden die Rückzahlungsklauseln nicht frei ausgehandelt, sondern von der Beklagten vorformuliert.« 4 5 7 Beteiligung von Arbeitnehmern an den K o s t e n der beruflichen Fortbildung (1992), S. 21. 454
455
238
4. Kapitel: Ausgewählte
Einzelprobleme
der judiziellen
Nebenpflichtbegriindung
nisses oder bei fehlender Tarifbindung die Vereinbarung eines entsprechend untertariflichen, niedrigeren Lohns. 4 5 8 Auf die Bedenklichkeit dieses Vorschlags wie auf seine Unpraktikabilität bei hoher Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften ist schon hingewiesen worden. 459 Eine inhaltliche Kontrolle der RückZahlungsverpflichtung kann daher allenfalls ausgerichtet sein, eine unzumutbare Knebelung des Arbeitnehmers zu verhindern. Nicht die Nachkonstruktion einer vertraglichen Äquivalenz, sondern die Beseitigung einer Äquivalenzstörung nach dem Maßstab des § 138 B G B kann das Ziel der judiziellen Uberprüfung sein. 2. Ergebniskontrolle
gem. § 138 BGB
Eine lange vertragliche Bindung ist dann sittenwidrig, wenn sie die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit des Vertragspartners in unvertretbarer Weise einengt und so zu einer den Anschauungen des redlichen Verkehrs widersprechenden Abhängigkeit führt. 460 Eine Schädigungsabsicht ist nicht erforderlich 461 , da die festgestellte, offensichtliche, überlange Bindung die Sittenwidrigkeit im Sinne des § 138 B G B indiziert. 462 Widerspricht die Länge der vertraglichen Bindung diesen Grundsätzen, reduziert der Bundesgerichtshof in ständiger, wenn auch kritisierter 463 Rechtsprechung die Dauer bei zeitlich teilbaren Langzeitverträgen auf das noch zulässige Maß. 4 6 4 Die Höchstdauer einer arbeitsvertraglichen Bindung folgt aus der Wertung des § 624 B G B . Im Falle eines Lebensarbeitsverhältnisses oder bei einem Arbeitsvertrag, dessen Laufzeit fünf Jahre überschreitet, beträgt die zulässige Höchstbindungsdauer fünf Jahre. Diese Höchstgrenze ist im Rahmen der Überprüfung gem. § 138 B G B zu berücksichtigen. 465 Freilich ist mit dieser nur für wenige Fälle einschlägigen Begrenzung wenig gewonnen. Entscheidend ist, wann eine gem. § 138 B G B unzumutbare Knebelung des Arbeitnehmers durch eine Rückzahlungsklausel unterhalb der Fünfjahresgrenze anzunehmen ist. Die 4 5 8 BAG, Urt. v. 16.3.1994 - 5 AZR 339/92 - AP Nr. 18 zu § 611 B G B Ausbildungsbeihilfe Bl. 1696 Rs. 459 Rieble, Arbeitsrecht und Wettbewerb (1996), S. 298 Rz. 997. 4 6 0 BGH Urt. v. 21.1.1987 - VIII ZR 169/86 - NJW-RR 1987, S. 628 u. Urt. v. 14.6.1972 VIII ZR 14/71 - NJW 1972, S. 1459 m.w.N auf die vorangegangene Rechtsprechung; vgl. aus neuerer Zeit auch O L G Köln Urt. v. 9.5.1995 - 3 U 144/94 - NJW-RR 1994, S. 1516. 461 Staudinger-S