Neuer Versuch einer alten, auf die Wahrheit der Tatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte 9783486778816, 9783486778809


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German Pages 180 Year 1952

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Table of contents :
INHALT
Einleitung des Herausgebers
VORAUSSETZUNGEN GESCHICHTSPHILOSOPHISCHFER ERKENNTNIS
I. DIE EINHEIT DER GESCHICHTE
II. RAUM, VOLK, GEIST
III. DIE GESCHICHTLICHE BEWEGUNG
IV. RELIGION, STAAT, KULTUR
V. DIE HISTORISCHE GRÖSSE
VI. VERFALL UND TOD DER VÖLKER
VII. DIE SITUATION DER GEGENWART
ZUR TEXTGESTALTUNG
LITERATUR
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Neuer Versuch einer alten, auf die Wahrheit der Tatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte
 9783486778816, 9783486778809

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L AS AU LX, P H I L O S O P H I E D E R

GESCHICHTE

ERNST VON LASAULX

NEUER VERSUCH EINER ALTEN, AUF DIE WAHRHEIT DER TATSACHEN GEGRÜNDETEN

PHILOSOPHIE DER GESCHICHTE

Herausgegeben und eingeleitet von

EUGEN

THURNHER

# V E R L A G V O N R. O L D E N B O U R G M Ü N C H E N 1952

Copyright 1952 by Verlag für Geschichte und Politik

Druck R. Spies & Co., Wien V.

INHALT Einleitung

des Herausgebers

Voraussetzungen geschichtsphilosophischer Erkenntnis

7 63

Das Wagnis der Aufgabe. — Die sieben Bedingungen. — Der „objektive Verstand" der Geschichte. — Der Standort des Betrachters

I. Die Einheit der Geschichte

68

Vielheit und Ganzheit. — Menschheit, Volk, Stamm, Geschlecht, Individuum. — Einfluß des Landes und des Klimas. — Der Zeitgeist. — Zusammenhang der weltlichen und überweltlichen Dinge. — Der Naturprozeß im Leben der Völker. — Natur und Bildung.

II. Raum, Volk, Geist

82

Drei Erdteile: Afrika, Asien, Europa. — Drei Urväter: Sem, Cham, Japhet. — Die Stammsagen der Völker. — Dreigliedrigkeit als Lebensgesetz. — Einteilung der Menschenrassen. — Sprache und Geist. — Wort und Sache. — Wortforschung und Völkerforschung. — Alterung der Sprache. — Volk und Sprache. — Eigenart der Chamiten, Semiten und Japhetiten. — Asien und Europa.

III. Die geschichtliche Bewegung

109

Weltgang der Völker von Ost nach West. — Wanderung der Pflanzen und Tiere. — Weg der Seuchen. — Völkerkriege zwischen Nord und Süd. — Krieg als göttliches Weltgesetz. — Das Ringen um den Besitz Italiens. — Verjüngung der Völker ? — Deutschland als Erbe des Imperium Romanum.

IV. Religion, Staat, Kultur

125

Entwicklung der Religionen. — Wesen der Religion. — Bedeutung im Leben der Völker. — Die Idee der Freiheit als Agens der Geschichte. — Entwicklung der Staatsverfassung. — Die Wirkung der Revolutioneil. — Kunst und Religion. — Der Werdegang der Künste. — Kunst und Philosophie.

5

V. Die historische Größe Der Einzelne und das Allgemeine. — Heroen als Verkörperung des Volksgeistes. — Jeder Mensch alle Menschen. — Stille und Schweigen als Brunnen des Lebens. — Die Großen des Geistes. — Homer.

139

VI. Verfall und Tod der Völker Naturgesetz und Geschichtsverlauf. — Die Dauer der großen Reiche. — Untergang und innerer Verfall. — Absterben der sprachbildenden und religiösen Kraft. — Entartung des politischen Lebens. — Zerfall der Künste und Wissenschaften.

154

VII. Die Situation der Gegenwart Wo stehen wir? — Erschöpfung der sprachlichen, religiösen und politischen Kräfte. — Sind Restaurationen möglich? — Gegenwart und Zukunft. — Analogie und Kausalität. — Rückkehr der Welt zu Gott.

163

Zur

175

Textgestaltung

Literaturverzeichnis

6

177

Einleitung

des

Herausgebers.

1. Wer war Ernst von Lasaulx? Die Frage wäre nicht gestellt worden, ginge es allein darum, eine verschollene Gestalt der deutschen Geistesgeschichte aus dem Dunkel des Yergessens wieder in die Helle des Bewußtseins des Volkes zu stellen. Es gilt dabei vielmehr, einen Lebendigen in sein zukommendes Recht einzusetzen und sein Werk klar und fest mit der Wirkung zu verknüpfen, die von ihm ausging. Denn das Gedankengut Lasaulx' keimt, blüht und fruchtet, aber es ist mit seinem Werk nicht verbunden geblieben. So wird nur ein geringer Teil dessen, was seine geschichtliche Wirkung ausmacht, mit dem Namen Lasaulx' verknüpft. Er ist frühzeitig anonyme Wirkung geworden. Schon zu seinen Lebzeiten ist Lasaulx mit seinen tiefsten Gedanken eingegangen in eine Flut verborgener Wirkungen und unsichtbarer Anregungen, und die Nachwelt hat über dem lebendigen Fließen seiner Ideen den festen Umriß seiner Gestalt ganz aus dem Auge verloren. So blieben Werk und Wirkung, Persönlichkeit und Gedankenwelt getrennt, — und es ist die Aufgabe unserer Zeit, den Namen Ernst von Lasaulx mit seiner geschichtlichen Bedeutung wieder zu verbinden. Dieser Widerspruch zwischen Werk und Wirkung hatte freilich in der Persönlichkeit Lasaulx' selbst die erste Ursache. Ihm lag wenig am Werk, aber alles an der Wirkung, es handelte sich ihm nicht um die gültige Vollendung, sondern um die unerschöpfliche Keimkraft seiner Gedanken. Überzeugt von der streng zeitgebundenen Gültigkeit alles menschlichen Erfahrens und Erkennens, ging es ihm vor allem darum, die Gedanken in die Tat umzusetzen und die Erkenntnisse zu einer formenden Kraft des Lebens zu gestalten. Lasaulx hat es vermieden, den Reichtum seiner Einfälle und Ideen auf politischem und künstlerischem Felde und die Fülle seiner

Einsichten und Erkenntnisse auf allen Gebieten der Wissenschaft in ein geschlossenes System zusammenzufassen. In kleinen Schriften hat er sein Wissen jederzeit unter das Gebot des Tages gestellt. Gerne trug er seine Gedanken in der Form der Rede unmittelbar an seine Zuhörer heran. So ist es kein Zufall, daß die Mehrzahl seiner Schriften Reden waren oder aus Aufzeichnungen seiner Vorlesungen entstanden sind. Rede und Schrift jedoch sind zwei verschiedene Dinge. Die persönliche Wucht des Gedankens ist nicht gleichbedeutend mit der Gültigkeit und Dauer seiner Wirkung. So stand sich Lasaulx selbst im Wege. Er leistete unbewußt den Bestrebungen Vorschub, die Gedanken und Form, Persönlichkeit und Werk auseinanderrissen. Seine Zeit wirkte in gleicher Richtung. Neben den subjektiven Ansätzen spielten objektive Gründe mit, daß Lasaulx keine fest umrissene Gestalt in der Erinnerung seines Volkes erhielt. Er war an der Schnittlinie zweier Zeiten geboren. Als Lasaulx zu schreiben begann, vollendete der deutsche Idealismus durch Hegel und Schelling seine großen metaphysischen Systeme und münzte die Romantik durch Schlegel, Görres und Baader ihre neuen Erfahrungen im seelischen Bereich zu weitgespannten Erkenntnissen des religiösen und geschichtlichen Lebens aus. Als Lasaulx von der Bühne abtrat, hatte überall die nüchterne Sachforschung der alten Metaphysik den Rang abgelaufen und die Naturwissenschaft über die Phänomenologie des Geistes gesiegt. Lasaulx stand weder in dem einen, noch in dem anderen Lager. Er betrachtete sich bewußt als Nachfahre des Idealismus, aber er verschloß das Ohr gegenüber den Forderungen seiner Zeit keineswegs. Ja, er strebte in seinem Werke darnach, die Erkenntnisse der alten Metaphysik mit den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaften in Einklang zu bringen. Das war freilich ein Widerspruch in sich selbst, — und fast will es scheinen, als wäre sich Lasaulx über die Tragweite seines Beginnens nicht immer im klaren gewesen. Bald übertrug sich der Widerspruch von seinem Werk auf seine Person. Die einen erkannten in ihm'einen Spätling des Idealismus, die anderen einen Vorläufer des Positivismus. Zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht verblaßte sein Bild bis zur Unkenntlichkeit. Seine Gedanken aber wirbelten wie Flug8

samen durch die Zeit und fielen an zahlreichen Stellen in fruchtbares Erdreich. Lasaulx hat unter diesem Widerspruch zwischen Persönlichkeit und Gestalt, Wirken und Wirkung, Gedanke und Form nicht gelitten wie Herder. E r sah in diesem Widerstreit des Vollendeten und Unvollendeten keine persönliche Tragik, sondern erkannte darin ein allgemeines Gesetz des geschichtlichen Lebens, „daß, wenn sich auf einmal etwas Neues in den Gefühlen und Gedanken der Menschen zu entwickeln scheint, fast immer ein früher, tiefliegender Keim, wie vereinzelt, sich aufspüren läßt. Jede neue Entdeckung wird zuerst der Welt nur gezeigt, nicht verstanden, dann wieder eingehüllt und für eine bessere, reifere Zeit aufgespart. Der erste Entdecker trägt in der Regel statt des Dankes nur Spott, ja die Märtyrerkrone davon; er ist wie eine vorzeitige Blüte, die der Nachtfrost bricht, wie der erste Erbauer eines Hauses, der, wenn es fertig ist, stirbt. Weshalb auch die Welt nicht den als den Urheber preist, der die Sache begonnen, sondern jenen, der sie vollendet hat". 1 ) Das Bewußtsein dieser allgemeinen Gesetzmäßigkeit ließ das Leben Ernst von Lasaulx' ohne Bitterkeit ausreifen und beschied ihm eine Vollendung, die seinem Werk nicht zuteil geworden ist. 2.

Nicht Frankreich, sondern Luxemburg ist die ursprüngliche Heimat des Geschlechtes, dem Ernst von Lasaulx entstammte. Den früheren Familiennamen Van der Weyden hatte ein Vorfahr im 17. Jahrhundert, der Mode der Zeit folgend, ins Französische De la saule übersetzt. So kam die weitverzweigte Sippe zu ihrem Namen 2 ). Seit Generationen war die Familie im Rheinland ansässig und hatte vor allem der Stadt Koblenz eine Reihe von tüchtigen Köpfen geschenkt. In Koblenz ist auch Peter Ernst von Lasaulx am 16. März 1805 geboren worden. Sein Großvater stand als Hofsyndikus im Dienste des Kurfürsten von Trier und verwaltete in den kritischen Jahren der Französischen Revo') Lasaulx, Philosophie der Geschichte, S. 66. Holland H., Erinnerungen an Ernst von Lasaulx, ¡861, S. 6.

München

()

lution das Amt des Bürgermeisters der Stadt Koblenz. Sein Vater, Johann Claudius von Lasaulx, 1781 bis 1848, hatte in seiner Jugend juristische und medizinische Studien betrieben und war dann, durch die Vermittlung von Joseph Görres, 1812 Kreisbaumeister und später Bauinspektor der preußischen Regierung geworden. Nach seinen Plänen wurde eine beträchtliche Anzahl von Kirchen in den Rheinlanden gebaut. Seine Frau, Anna Maria Müller, kam aus Würzburg und fügte sich nicht ganz frei in die leichtlebigere Gesellschaft von Koblenz ein. Ihr stilles Wirken beschränkte sich ganz auf den Kreis ihrer Kinder, der drei Knaben und drei Mädchen umfaßte. Ritterliche Haltung, uneigennützige Güte und strenge Gewissenhaftigkeit bestimmten die Art des Vaters und unerbittlicher Ernst, herbe Wahrhaftigkeit und peinliche Ordnungsliebe gaben dem Wesen der Mutter das Gepräge. Das sind Eigenschaften, die das Leben schwer machen, den Einzelnen von der Umwelt absperren und eine zwanglose Geselligkeit nicht leicht aufkommen lassen. So entwich der junge Lasaulx dem strengen Geist seines Elternhauses gerne und trat früh in das gastfreundliche Haus des verwandten Justizrates Longard, wo Phillips, Kaulbach, Sulpiz und Melchior Boisseree, Montalembert, Guido Görres und Clemens Brentano aus und ein gingen.3) So lernte Lasaulx frühzeitig die führenden Köpfe seiner Zeit kennen. Die Heirat von Joseph Görres mit einem Geschwisterkind seines Vaters verknüpfte ihn durch verwandtschaftliche Bande mit dem großen Vorkämpfer gegen die Revolution und für die Befreiung der Rheinlande. Nach Abschluß des Gymnasiums in Koblenz begann Lasaulx 1824 sein Studium an der Universität in Bonn. Der Weite seines Geistes und der Zahl seiner Interessen gemäß beschränkte er sich nicht auf ein einzelnes Fach, sondern betrieb altertumskundliche Studien im weitesten Sinne. Niebuhr erschloß ihm den Weg in die alte Geschichte, bei WeIcker erwarb er sich die Kenntnisse der klassischen Sprachen und Literaturen, der Mythologie und der Kunst, August Wilhelm Schlegel wurde ihm zum Führer in die deutsche Dichtung. ¡Lasaulx verdankte diesen Männern die reiche Fülle von Kenntnissen und die strenge Gewissenhaftigkeit "

10

3

)~VgL Stölzle R., Lasaulx, Münster 1904, S. 8.

der wissenschaftlichen Methoden, vermißte aber, trotz allen Einzelergebnissen, die metaphysische Begründung des Ganzen. So weit seine Forschungsgebiete und Arbeitsbereiche waren, so vermochte er doch den Sinn und Zusammenhang der Fächer nicht zu ergründen. Auf Grund dieses Ungenügens ging er 1828 nach München und erfuhr in den Vorlesungen von Görres, Schelüng und Baader all das, was er suchte. Sie deuteten die gesamte Wirklichkeit von einem großen Mittelpunkt aus und verbanden das vielspältige Wissen zu einem abgerundeten Ganzen. Begeistert schreibt Lasaulx an seinen Vater: „Görres' universalhistorischer Gesichtspunkt ist der höchste, den ein Mensch nehmen kann; er stellt die Geschichte der Menschheit dar, zwar als ein Werk menschlicher Freiheit im einzelnen, aber das Ganze geführt und geleitet nach den ewigen, unvergänglichen Zweckgesetzen der Providenz. Ob seine Gliederung und Nachweisung jener ewigen Gesetze im einzelnen überall richtig und historisch wahr sei, weiß ich nicht; aber selbst wenn das Ganze nur ein großes Gedicht wäre, so ist diese Dichtung doch so ungeheuer und erhaben, daß ich dafür gern einige nackte, sogenannte historische, materielle Wahrheiten hingeben will. Schelling gelangt auf philosophischem Wege zu ähnlichen Resultaten wie Görres auf historischem. Ich bin in seinen Vorlesungen frommer als ich jemals war, — seine Gewalt über die Sprache ist unbeschreiblich, seine Darstellung dämonisch-hinreißend."4) In der geistigen Luft Münchens erwachte sein Sinn für die religiösen Wirklichkeiten, und Schöllings Vorlesungen über die Weltalter und die Philosophie der Offenbarung, Görres' Vorträge über Grundlage, Gliederung und Zeitenfolge der Weltgeschichte und Baaders spekulative Theologie und Soziologie formten das Weltverständnis des jungen Lasaulx mit bleibender Gültigkeit. Der Verkehr mit den Freunden, Cornelius, Ringseis, Döllinger, Görres und Baader, ergänzte die Studien und gab dem Wissen den ersten gesellschaftlichen und menschlichen Widerhall. Lasaulx gab sich mit dem bloßen Wissen nicht zufrieden. Er drängte über die begrifflichen Abstraktionen hinaus und suchte nach konkreter Anschauung. So verließ er 1830, noch vor Ablegung der Prüfungen, München und begab sich auf 4

) Stölzle, Lasaulx, S. 16 und 17.

11

die Wanderschaft. Sein Reiseplan hatte zunächst bescheidene Ziele, wuchs aber dann räumlich und zeitlich immer mehr in die Weite. So war er schließlich von 1830 bis 1834 unterwegs. Noch in München hatte Lasaulx einige unbekannte handschriftliche Zeugnisse gefunden, die den großen mittelalterlichen Mystiker Meister Eckhart betrafen. Diese Funde gaben ihm Anlaß, die österreichischen Klöster nach Handschriften Meister Eckharts abzusuchen und in Wien eigene Studien zu betreiben. Dort lernte er Johannes Günther und Johann Emanuel Yeith kennen, mit denen Lasaulx eine lebenslange Freundschaft verband. In Wien faßte er den Plan, nach Italien weiterzureisen. Im Mai 1831 wanderte er von Wien über die Steiermark und Kärnten nach Triest, von dort ging er nach Venedig, Padua, Bologna und Florenz und traf schließlich im August in Rom ein. Dort öffnete ihm die Fürsprache seiner Freunde den Zutritt zu den deutschen Künstler- und Gelehrtenkreisen, und die Umgänglichkeit seines Wesens erwarb ihm neue Freunde. In Rom vertiefte er sich in die Schriften der Kirchenväter und großen Scholastiker. Aber stärker als die lebendige Gegenwart des päpstlichen Rom erfaßte ihn „das ungeheure Leichenhaus der Weltgeschichte" 5 ), das Trümmerfeld der antiken Kunst. Sofort jedoch suchte er nach der übergreifenden Einheit beider, das „innerliche R o m " wollte er als Schlüssel zum „besseren und lebendigeren Studium des römischen Altertums benützen, welches mir hier vielleicht verständlicher wird, als das römische Christentum. Denn wenn ich das Jüngste Gericht des unvergleichbaren Michelangelo ausnehme, so wollen mir die Trümmer heidnischer Kunst fast bedeutender vorkommen als die Werke der christlichen. Durch die ungeheuren Antikensammlungen im Vatikan und Kapitol kann icli nie hindurchgehen, ohne mein ganzes Herz heidnisch bewegt zu fühlen; vor den Raffaelschen Bildern aber ist mir das Entgegengesetzte nicht begegnet. Ebenso ist meinem Gefühl nach das ganz heidnische Pantheon christlicher als sämtliche Kirchen Roms, St. Peter nicht ausgenommen; so groß gedacht der riesige Dom immerhin sein mag, doch fühlt man's ihm beim ersten Eindruck an, daß der Glaube ihn nicht gebaut hat, sondern Stolz und Eitelkeit. ~sy~Brief an die Mutter vom 30. August 1831. Stölzle, Lasaulx, S. 38.

12

Hier erst empfinde ich es, was wir an unseren gotischen Kirchen haben, deren schlanke, jungfräuliche Säulenbündel vollkommen so schön sind, als die schönsten griechischen Tempel; und zwar, wie mir scheint, aus keinem andern Grunde, als weil sie nicht durch den Verstand gemacht, sondern aus einem inwohnenden organischen Lebensprinzip herausgewachsen sind als ein lebendiges Geistes- und Naturgewächs. Doch das sind lauter ungewaschene Urteile, die mir die Kunst und Gott verzeihen möge." 6 ) So bekennt er seiner Mutter. In diesen Urteilen steckt zum ersten Male der ganze Lasaulx. E r bekennt sich zum „organischen Lebensprinzip" der Kunst gegenüber jeder Regelgläubigkeit des Verstandes. Damit ist bereits der Grund gelegt zur Betrachtung der Kulturen als „lebendiges Geistes- und Naturgewächs", wie sie seiner Geschichtsphilosophie als Leitgedanke die Form gibt. Selbst die sehr fragwürdige Ineinssetzung von natürlichem Gefühl und christlicher Haltung bildet den Ausgangspunkt für die späteren religionsphilosophischen Schriften, die vor allem bestrebt sind, christliche Vorstellungen in der heidnischen Antike nachzuweisen. Lasaulx' Sehnsucht, Griechenland zu sehen und das Heilige Land zu betreten, fand unverhofft eine Erfüllung. Durch Görres' Vermittlung konnte er sich dem Gefolge. König Ottos anschließen, der sein Königreich Griechenland zum ersten Male besuchte. Von Brindisi nach Nauplia ging die Fahrt. Dort betrat Lasaulx am 30. Januar 1833 griechischen Boden, durchstreifte das Land monatelang in allen Richtungen und bewunderte die gewaltigen Ruinen der mykenischen Zeit und die Bauten des perikleischen Athen. Die Trauer um das Vergangene trübte den Blick für die Eigenart der antiken Kunst, ließ ihn aber die unvergängliche Pracht der Natur stärker fühlen: „ . . . keine von allen Gegenden, die ich kenne, ist an stiller Heiterkeit, freundlichem Ernst und harmonischem Ebenmaß sanfter und doch scharfer Naturformen zu vergleichen mit der Lage Athens; des Sophokles und Piatons Werke waren nur möglich unter dem reinen Äther, der sich über diese Stadt ausspannt. Aber wie die ganze Natur, so ist alles Griechentum nur ein schöner Irrtum, und ist mir die Zeit zu ernst geworden, um diesem «TÜbenda, S. 39.

n

länger zu leben." 7 ) Er stand dem Gedanken einer Renaissance des klassischen Zeitalters völlig skeptisch gegenüber und kam, gleichzeitig mit Fallmerayer, zur Überzeugung: „Von antiken Erinnerungen muß man völlig absehen, sie sind dem Lande nur schädlich und haben in seinen Bewohnern schlechterdings kein natürliches Leben." 8 ) Immer stärker zog es ihn nach dem Heiligen Land. Über die Ägäischen Inseln gelangte er nach Konstantinopel. Dort lernte er den Islam kennen als „keine bedeutungslose Manifestation Gottes" und las den Koran als „ein Evangelium, zwar ein apokryphes, aber ein Evangelium". 9 ) Das Erlebnis Konstantinopels aber verblaßte, als Lasaulx in Joppe das Heilige Land betrat. „Hier wandelte sich die Studienreise zur Pilgerfahrt. Den Augen des Ergriffenen erstanden alle Stätten der Passion des Herrn wieder; sie zwangen ihn auf die Knie und lösten ihm die Tränen. Zugleich aber leuchtete aus den Trümmern des irdischen Jerusalem der Glanz des himmlischen auf und gab ihm die Gewißheit, daß der Tod endgültig überwunden worden ist im Opfertod Jesu Christi."10) Der Ton der Briefe wechselt, der farbige Glanz der Mitteilung vertieft sich zum feierlichen Ernst der Verkündung, indem er dem Vater schreibt: „Donnerstag, am 5. September 1833, um 6 Uhr morgens erblickte Dein unwürdiger Sohn Ernst die Zinnen der Friedensstadt, sie war ganz von einem lichtgrauen Nebelschleier umflossen, und über ihr hing eine schwere Wetterwolke, von den ersten Strahlen der Morgensonne durchbrochen; es war, wie wenn ,ein Zorngericht Gottes die Tochter Zions umwölkte'. Zu weinen bin ich hierher gegangen, — heiße Tränen und ein kalter Schauer meines Herzens waren der erste, wolle Gott nicht der einzige Tribut, den ich Seiner und Seines Sohnes Liebe darbrachte." 11 ) Die „große Tatsache der Auferstehung Christi" erlebt er als das große Ereignis, durch das die „ganze Geschichte Licht und transzendentales Leben"12), empfängt. Brief an den Vater vom 25. Mai 1833. Stölzle, Lasaulx, S. 63. ) Brief an Joseph Görres vom 25. August 1833. Stölzle, Lasaulx, S. 69. ») Brief an die Eltern vom 29. Juni 1833. Stölzle, Lasaulx, S. 64. 10 ) Instinsky H. U., Ernst von Lasaulx, Hochland 33/2, S. 416. ") Brief an den Vater vom 15. September 1833. Stölzle, Lasaulx, S. 71. 12 ) Ebenda, S. 72. 8

14

Nachdem Lasaulx Jerusalem gesehen hatte, war sein tiefstes Verlangen gestillt. Zwar faßte er noch eine Reise nach Ägypten ins Auge, aber heftige Fieberanfälle erzwangen eine rasche Heimkehr. Ende August 1834 kehrte Lasaulx nach München zurück und ging nun eifrig daran, seine Studien abzuschließen. Auf Grund der lateinischen Dissertation „De mortis dominatu apud veteres" erhielt er am 10. Februar 1835 von der Universität Kiel den Titel eines Doktors der Philosophie. Seine Doktorschrift enthält viele Gedankenkeime, die erst später ausreiften, und löste ein heftiges Für und Wider der Meinungen aus. Im Frühsommer 1835 kam Lasaulx als Professor für klassische Philologie und Ästhetik nach Würzburg und heiratete am 30. August 1835 Julie von Baader, die Tochter des Philosophen Franz von Baader. Neben der anstrengenden Berufsarbeit fand Lasaulx in Würzburg noch Zeit, das öffentliche Geschehen mit wachem Auge zu verfolgen. Nichts erbitterte sein Rechtsgefühl stärker als das Vorgehen der preußischen Regierung in den katholischen Rheinlanden, das über der Streitfrage der gemischten Ehen zur Verhaftung des Kölner Erzbischofs geführt hatte. Der inneren Stimmung seiner Heimat gab Lasaulx Ausdruck in seiner Schrift „Kritische Bemerkungen über die Kölner Sache. Ein offener Brief an Niemand den Kundbaren und das urteilsfähige Publikum von Peter Einsiedler", 1838. Wer die Broschüre mit Görres' „Athanasius" vergleicht, der bemerkt alsbald die tiefe Übereinstimmung der leitenden Gedanken, doch ist Lasaulx viel schärfer im Ausdruck und aggressiver in der Haltung. Selbst Görres warf ihm Maßlosigkeit vor und die bayerische Regierung beschlagnahmte die ganze Auflage, da sie Schwierigkeiten mit Preußen befürchtete. 13 ) Nach diesem wenig glücklichen Auftreten im Tagesstreit wandte sich Lasaulx wieder stärker der stillen Gelehrtenarbeit zu und veröffentlichte in den kommenden Jahren eine Reihe von Studien, die er als Vorarbeiten einer künftigen Religionsphilosophie betrachtete. Jahr für Jahr ließ er eine oder zwei Arbeiten erscheinen: „Das pelasgische Orakel des Zeus von Dodona", 1840, „Über den Sinn der Ödipussage", 1841, „Die Sühnopfer der Griechen ") Vgl.: Doeberl A., Ernst von Blätter 162 (1918/2), S. 205 bis 207.

Lasaulx,

Historisch-politische

15

und Römer und ihr Verhältnis zu dem einen auf Golgatha", 1841, „Die Gebete der Griechen und Römer", 1842, „Die Linosklage", 1842, „Der Fluch bei den Griechen und Römern", 1843, „Prometheus, die Sage und ihr Sinn", 1843, „Der Eid bei den Griechen", 1844, und „Der Eid bei den Römern", 1844. Lasaulx liest dabei die Religion und Geschichte der alten Völker als „ein zweites apokryphes Altes Testament", dessen „wahre Deutung" 11 ) in Christus gegeben ist. In seiner Darstellung des Sühnopfers sagt Lasaulx: „Wenn die Weltgeschichte nicht der Menschen Werk, sondern Gottes durch die Menschen ist, und ein allmächtiger Wille das Ganze ordnet; wenn, wie der Philosoph lehrt, das der Geburt nach Spätere der Idee und Substanz nach das Frühere und alles Werden um des Endzweckes willen ist, und der am Ende offenbarte Wille von Anfang her der bewegende war: so kann die gesamte Vergangenheit ihrer innersten Natur nach nur ein Vorbild, gleichsam eine Vorerscheinung der Zukunft sein, die ihr Ziel ist. Die Geschichte aller Völker, die als Teile der einen organisch gegliederten Menschheit nur ein Leben haben, bildet also eine fortschreitende Reihe, worin das relativ letzte Glied stets alle vorhergehenden reassumiert. Da aber alle Geschichte in letzter Instanz Religionsgeschichte ist, so hat das Christentum als universale Weltreligion seiner Natur nach alle früheren Volksreligionen, insoweit sie Wahrheit enthielten, in sich aufgenommen und beschlossen, und es gibt kaum eine im Christentum ausgesprochene Wahrheit, die nicht substantiell auch in der vorchristlichen Welt gefunden würde." 15 ) Sonach kann alle Geschichte nur aus dem Opfertod Christi verstanden werden, auf den alle Zeit als innere Mitte hingeordnet ist und aus dem alle Erscheinungen ihren Sinn empfangen. „Wer die Auferstehung Christi leugnet, nimmt der Geschichte alles Transzendentale, den hellsten, schönsten Moment: er schneidet der Weltgeschichte die, Augen aus und macht sie blind." 16 ) So kann auch das Altertum nur von der christlichen Wahrheit aus verstanden werden. 14

) Lasaulx, Studien des klassischen Altertums, Regensburg 1854, S. 316 und 317. lä ) Ebenda, S. 233 und 234. 1G ) Brief an Guido Görres vom 5. September 1838. Lasaulx, Studien, S. 506.

lo

Jeder Versuch, die Zeit aus sich selbst zu begreifen, scheitert notwendig an den begrenzten Möglichkeiten des Menschen. Die akademische Tätigkeit brachte Lasaulx reiche Anerkennung. Kaum fünfunddreißigj ährig, wählte ihn die Universität Würzburg 1840/41 zum Rektor. Vier Jahre später, 1844, wurde er an die Universität München berufen. Dort entfaltete er im Kreise von Görres, Döllinger, Phillips, Moy, Sepp und Froschhammer eine sehr erfolgreiche Tätigkeit, die selbst weltanschauliche Gegner wie Dahn und Prantl zur Anerkennung zwang. Drei Abhandlungen trug er in der Bayerischen Akademie vor: „Über das Studium der griechischen und römischen Altertümer", 1846, „Über die Bücher des Königs Numa", 1847, und „Über den Entwicklungsgang des griechischen und römischen und den gegenwärtigen Zustand des deutschen Lebens", 1847. Gerade in der letzten Schrift versuchte er „in der Entwicklungsgeschichte des griechischen und römischen Lebens nicht bloß dieses, sondern den Naturgang menschlicher Völkerentwicklung überhaupt zu erkennen". 17 ) Die so hoffnungsvoll begonnene Arbeit aber wurde jäh abgebrochen durch ein politisches Ereignis, über das Lasaulx zum Sturz kam. Der Widerstand gegen die Erhebung der Tänzerin Lola Montez in den Adelsstand hatte 1847 zur Entlassung des Ministeriums Abel geführt, worauf Lasaulx im akademischen Senat den Antrag stellte, „es wolle der königliche Senat in corpore dem abgetretenen Minister des Innern, Herrn von Abel, eine Dankaufwartung abstatten". 18 ) Das war eine Herausforderung des Königs, die derselbe mit der Versetzung in den Ruhestand beantwortete. Lasaulx schied schwer aus dem Lehramt, konnte aber sein Handeln nicht bedauern, da ihm seine sittliche Überzeugung den Weg seines Handelns vorgeschrieben hatte. Das Jahr 1848 sah ihn wieder in führender Stellung. Als Abgeordneter Niederbayerns kam er in die Frankfurter Nationalversammlung und spielte im Plenum und im Verfassungsausschuß eine nicht unbedeutende Rolle. SeineReden waren von einem starken Pathos getragen, verloren sich aber allzu oft in philosophischen Erörterungen. Er verlangte eine religiöse und geistige Wiedergeburt des Volkes 17

) Lasauls, Studien, S. IV. " ) Vgl.: Stölzle. Lasaulx. S. 123 und 124.

17

und wies alle Pläne eines bloß rationalistischen Reformwerkes zurück. Er forderte die Kaiserwürde für Österreich, -„weil in Österreich noch mehr unentwickelte, entwicklungsfähige, naturwüchsige Manneskraft ist als in Preußen, welches weiter vorangeschritten ist auf der Bahn des Lebens zum Tode". 1 9 ) Als die Nationalversammlung ihre ursprüngliche Aufgabe überschritt und zu gesetzgeberischen Maßnahmen griff, legte Lasaulx am 5. Mai 1849 sein Mandat nieder. In München hatte inzwischen Ludwig I. die Königswürde an Max II. abgegeben, der Lasaulx wieder in sein Amt einsetzte. Im Sommer 1849 nahm er seine Vorlesungen neuerdings auf. Zwar stand er weiterhin im Dienste der Politik und gehörte der Bayerischen Kammer bis zu seinem Lebensende an, sonst aber zog er sich immer mehr aus der Öffentlichkeit zurück. In der Stille seiner Studierstube reiften seine letzten Schriften. Der Akademie-Vortrag über „Die Geologie der Griechen und Römer" entstand 1851. Das Folgejahr 1852 führte Lasaulx noch einmal nach Griechenland, wobei ihn vor allem die religiösen Kultstätten in Delphi anzogen. Der Ton der Briefe aber ist ganz anders als auf der ersten Reise: Nirgends Überschwang und Begeisterung, sondern kühle Betrachtung, voll Ungeduld wartet er auf die Überfahrt „nach Europa" 20 ). Die unmittelbare Frucht dieser Reise ist die selbständige Schrift „Der Untergang des Hellenismus und die Einziehung seiner Tempelgüter durch die christlichen Kaiser", 1854, worin Lasaulx die geschichtstheologische Bedeutung der vorchristlichen Antike darzustellen unternimmt. Im gleichen Jahre sammelte er die Früchte seiner Lebensarbeit in den „Studien des klassischen Altertums", 1854, wo er nicht zufällig seine Aufsätze zur Altertumskunde und seine politischen Reden in einem Bande zusammenfaßt. Denn sie entsprangen dem gleichen Bemühen, das Gesetzhafte des geschichtlichen Wandels zu verstehen und aus der Vergangenheit die Zukunft zu begreifen.21) Diese geschichtsphilosophischen Ansätze bildete Lasaulx zu einem System fort in seinem Buche „Neuer Versuch einer alten, auf die Wahrheit 19 )

Lasaulx, Studien, S. 528. Brief an die Frau vom 30. September 1852, S. 222. 21) Vgl.: Lasaulx, Studien, S. V I . 20)

18

Stölzle, Lasaulx,

der Tatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte", 1856. Es ist, wie er selbst im Vorwort ausführt, „unter den Kindern meiner Gedanken das wohlgeratenste" 22 ). Imgleichen Jahre ließ Lasaulx seine Schrift „Über die theologische Grundlage aller philosophischen Systeme" erscheinen. Sie führt in die Mitte von Lasaulx' wissenschaftlicher Überzeugung. Religion bedeutet für ihn das Erleben eines geistigen Weltzusammenhanges. Ohne sie ist ein echtes Philosophieren überhaupt nicht möglich, denn dieses Erleben liegt jeder echten Philosophie zugrunde. Die gleichen Gedanken greift das folgende Werk „Über die prophetische Kraft der menschlichen Seele in Dichtern und Denkern", 1858, wieder auf und spielt sie in den Bereich der Offenbarung hinüber. Nirgends sonstwo treten die neuplatonischen Ideen so stark in Erscheinung. Lasaulx weiß sich mit Plotin in der Vorstellung einig, daß höchstes Gut und tiefste Erkenntnis im völligen Einswerden mit dem Ureinen beruht. In diesem Zustande fallen Anfang, Mitte und Ende zusammen und die Seele erblickt das Weltganze als einheitlichen Organismus. Alle Geschichte ist nur Offenbarung des Ewigen in der Zeit, eine Umwandlung des Ureinen in die Vielfalt der Erscheinungen. Im prophetischen Vermögen der Seele besitzt der Mensch die Kraft, dieser letzten Einheit der Dinge gewiß zu werden, er „fühlt sich selbst in lebendigem Zusammenhang mit der ganzen Vergangenheit und Zukunft, und atmet, empfindet, denkt, handelt in der ewigen Gegenwart Gottes" 23 ). Die folgende Schrift „Des Sokrates Leben, Lehre und Tod nach den Zeugnissen der Alten", 1858, nimmt das Thema seiner rcligionsphilosophischen Studien wieder auf. Schon seine Dissertation enthielt die gefährliche Wendung, die Sokrates als „verus typus Christi" 24 ) bezeichnete. Diesen Vergleich führt Lasaulx hier weiter aus. Dabei läßt er es keineswegs bei einem Aufweis der Ähnlichkeit des Charakters bewenden, sondern sieht in Sokrates eine Präfiguration Christi, der er bis in die Einzelzüge des äußeren und inneren Lebenslaufes nachgeht. Man fragt sich allerdings dabei, worin denn das ) ) 1925, M) 22

23

Lasaulx, Philosophie der Geschichte, Vorwort. Vgl.: Lasaulx, Verschüttetes deutsches Schrifttum, Stuttgart S. 110 und 111. Lasaulx, Studien, S. 491.

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eigentlich Unterscheidende des Christlichen liege, wenn die ganze Wahrheit substantiell schon in der vorchristlichen Zeit gefunden werden kann. Selbst die Geschichte des alten Rom deutete Lasaulx in seiner Schrift „Zur Philosophie der römischen Geschichte", 1860, als eine bloße Vorbereitung der Welt zur Aufnahme des Christentums. Unermüdlich sucht er nach Analogien, die den Zusammenhang des heidnischen und christlichen Rom erweisen sollen. Ja, er überanstrengt seine eigene Methode so weit, daß er selbst im Namen Roma, der von rückwärts nach vorwärts gelesen ein Amor ergibt, einen Hinweis auf die christliche Liebe erkennen will. Damit entwertet er seine eigene, genial gemeisterte geschichtsphilosophische Methode zu einem bloßen Spiel, da ihm „alles nur ein Ganzes und jedes Existierende ein Analogon alles Existierenden ist" 25 ). Die letzte Arbeit Lasaulx', zugleich die äußerlich umfangreichste, faßt seine historischen Einsichten ins Leben der Künste zu einem Ganzen zusammen: „Die Philosophie der schönen Künste", 1860. Die Schrift gibt nicht das, was der Titel besagt. Lasaulx will zwar untersuchen, „was denn die Kunst in jeder Kunst sei und nach welchen Gesetzen sie entstehe und sich entfalte" 26 ), aber er t u t es nicht, indem er die Objekte der Kunst nebeneinander betrachtet und durch den Vergleich das Schöne heraushebt, sondern er erfaßt die Kunstwerke nacheinander als Glieder einer Entwicklung, die aus der Notwendigkeit ihrer E n t stehung zu begreifen sind. Damit hebt er die Eigenständigkeit der Ästhetik auf und ordnet sie der Geschichtsphilosophie unter. 27 ) Die letzten Jahre Lasaulx' standen im Zeichen einer steigenden Verdüsterung. Den späten Schriften war nicht mehr der Erfolg beschieden, der den frühen Werken zugekommen war. An vielen Stellen meldete sich Widerspruch. Nicht nur von Feinden, sondern von Freunden. Sie erhoben vor allem Einspruch gegen die gnostischen Elemente seines Denkens, die zu einer Verwischung der Grenzen zwischen Christlichem und Nicht-Christlichem geführt hatten. Lasaulx 25

) Vgl.: Lasaulx, Verschüttetes deutsches Schrifttum, S. 229. ) Lasaulx, Philosophie der schönen Künste, München 1860, S. 8. 27 ) Horn H., Die Ästhetik Ernst von Lasaulx', Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 31, S. 244 bis 271. 25

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selbst fühlte den Widerspruch. Er wußte, daß er zu weit gegangen war. Aber er vermochte Glauben und Wissen nicht mehr in Einklang zu bringen. Dieses Lebensrätsel löste der Tod. Er schloß ihm am 9. Mai 1861 das Tor auf zur letzten Erkenntnis, die Lasaulx zeitlebens ernst und unablässig gesucht hatte. 3. Ernst von Lasaulx war klassischer Philologe von Beruf. Aber er verstand sein Fach nicht in dem verkümmerten Sinne, den das Wort Philologie derzeit angenommen hat, sondern übte es im Geiste einer höchsten Ehrfurcht vor der Sprache, die „ihrer Genesis nach der natürliche Ausdruck des menschlichen Denkens" 28 ) ist. „Die Sprache ist sonach nicht bloß das Organ des Denkens, das Werkzeug, womit wir denken, sondern sie ist mit dem Denken selbst zusammengewachsen, die Vollendung des Denkens." 29 ) Es ist klar, daß es für eine solche Überzeugung keine Möglichkeit gibt, die Sprache als eine selbständige Erscheinung und die Beschäftigung mit ihr als ein Sondergebiet wissenschaftlicher Forschung zu betrachten, sondern Sprachwissenschaft wird zu einer Philosophie des Geistes und zu einer Frage nach den Prinzipien des Geisteslebens. Lasaulx sprengt die engen Grenzen der positivistischen Sprachbetrachtung und stellt die Frage nach dem Wesen des Geistes und seiner Gebilde, das er aus der Sprache erkennen will. So ist es fast selbstverständlich, daß alle seine Studien des klassischen Altertums von philosophischen Fragestellungen bestimmt werden und sprachliche Untersuchungen nur das Rüstzeug liefern, diese allgemeinen Probleme zu klären. Diese grundsätzliche Überzeugung hat auch eine besondere Einstellung zu den Gegenständen seiner Forschung zur Folge, die zur zünftigen Fachwissenschaft in mannigfachem Widerspruch steht. Zwar galt seine wissenschaftliche und literarische Tätigkeit der Erforschung der griechischen und römischen Welt, aber diese Arbeit hatte eine andere, höhere Bedeutung. Lasaulx ging es weder um die erhabene Idealität der klassischen Antikendeutung von Winckelmann bis Goethe, noch um die historische Richtigkeit der romantischen Alter28

) Lasaulx, Philosophie der Geschichte, S. 93. -") Ebenda, S. 93.

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tumsforschung von Herder bis Welcker, sondern um die Erkenntnis jenes Allgemeinen und Gesetzhaften, das im Ablauf des antiken Lebens vollendet und einsichtig vor uns liegt. Im Vorwort seiner „Studien des klassischen Altertums" spricht er davon, daß sich in der Entwicklungsgeschichte des griechischen und römischen Lebens der „Naturgang menschlicher Völkerentwicklung überhaupt" 30 ) abspiegle. Aus der Erkenntnis dieses Allgemeinen ergibt sich „die höhere Bedeutung der Philologie als Philosophie der Geschichte"31). Er will die Erkenntnis der Vergangenheit mit der Erkenntnis des Weltganzen verbinden und am Altertum erfahren, „welche Schlüsse sich aus dem allen für die richtige Erkenntnis unseres eigenen heutigen deutschen Lebens ziehen lassen"32). Jetzt wird auch vom Gegenstand aus deutlich, warum Lasaulx ausschließlich philosophische Fragen bevorzugt. Es geht ihm nicht um das Historische, sondern um das Philosophische, nicht um das Besondere, sondern um das Allgemeine, nicht um das Einmalige, sondern um das Typische. Er will feste weltanschauliche Werte erhalten und einen persönlichen Wertzusammenhang zwischen Einst und Jetzt herstellen. Denn er ist überzeugt, es würde dem Menschen, „wenn er sähe, wie die Dinge geworden sind und wie sie innerlich zusammenhängen, die Vergangenheit, die wir meist als eine uns fremde, in sich abgeschlossene betrachten, warm und hell vor die Seele treten als ein Bestandteil unseres eigenen Daseins, ein Entwicklungsmoment des Ganzen, von dem wir selbst ein Teil sind"33). Von diesem Ganzen aus erhalten alle Teile erst Sinn, Bedeutung und Zusammenhang. Diese wissenschaftliche Einstellung zeigt sich bei Lasaulx schon sehr früh. Kaum bewußt, liegt sie schon dem Entschluß des Studenten zugrunde, die Universität Bonn mit der Universität München zu vertauschen. Dort wird er sich unter dem Einfluß Görres' und Schellings dieser Überzeugungen sogleich bewußt und bekennt dem Vater, daß er gern „einige nackte, sogenannte historische, materielle Wahrheiten" drangeben wolle für die Einsicht in „das Ganze", 30

) Lasaulx, Studien, S. IV. ) Ebenda, S. IV. Ebenda, S. V. •) Ebenda, S. IV.

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die „ewigen, unvergänglichenZweckgesetze der Providenz" 34 ). Denn in diesem Ganzen sind alle historischen Fakta nur schwer lesbare Chiffren für den inneren Zusammenhang. Auf diesen inneren Zusammenhang der Geschichte kommt es Lasaulx allein an. In ihm liegt auch sein eigenes Dasein unlösbar mitverwoben, so daß sich die Frage nach dem Ganzen letztlich auf sein eigenes Leben bezieht. Diese Fragestellung wird bei Lasaulx an vielen Stellen seines inneren und äußeren Werdeganges sichtbar. Schon in Griechenland, im Angesicht der antiken Trümmerwelt, überkommt ihn der Gedanke der allgemeinen Vergänglichkeit alles Irdischen und ein Schauer läßt ihn spüren, daß er in dieses allgemeine Gesetz des Werdens und Vergehens mit einbezogen ist. Erste Analogien zwischen der antiken und der gegenwärtigen Entwicklung treten auf, aber noch bleibt es bei zufälligen Übereinstimmungen. Das große Thema seiner Lebensaufgabe ist jedoch bereits aufgenommen und systematisch baut er in den folgenden Jahren diese Analogien aus. Diese Bestrebungen haben ihre Mitte in der metaphysischen Überzeugung, daß durch die Auferstehung Christi „die ganze Geschichte Licht und transzendentales Leben erhält" 35 ). Deshalb konnte das Altertum seine Deutung nur von der christlichen Offenbarung aus empfangen und der gesamte Prozeß der antiken Religion und Geschichte erschien als eine einzige Analogie zur nachchristlichen Entwicklung. Diesem Gedanken gehen alle religionsphilosophischen Schriften der Frühzeit nach. Schon die Dissertation verweist auf die tiefe Übereinstimmung zwischen Sokrates und Christus und die Studien der Würzburger Zeit leben alle aus dem Glauben an einen letzten gesetzmäßigen Zusammenhang des heidnischen und christlichen Weltalters. Zwar liegt die antike Welt als ein abgeschlossener Lebensprozeß hinter uns, aber ihr Entwicklungsgang hat allgemeine und überzeitliche Bedeutung. An ihm wurden erstmals die Gesetze offenbar, die auch unser Leben bestimmen. Diese Gedankengänge liegen zum ersten Male voll ausgebildet vor uns in dem Münchener Akademie-Vortrag „über den M

) Brief an den Vater vom 30. November 1828. Stölzle, Lasaulx, S. 16. 35 ) Brief an den Vater vom 15. September 1833. Stölzle, Lasaulx, S. 72.

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Entwicklungsgang des griechischen und römischen und den gegenwärtigen Zustand des deutschen Lebens", 1847. Dort folgert Lasaulx bereits aus dem Ablauf der antiken Kultur auf die Entwicklung des gegenwärtigen Lebens: „Überblicken wir so den Entwicklungsgang der Griechen und Römer, deren Leben abgeschlossen vor uns liegt wie das eines gefallenen Helden, so ist es wohl eine natürliche Frage, ob und was aus den hier erkannten Lebensgesetzen auf unser eigenes Leben sich anwenden lasse? Denn alles Erkennen eines fremden Lebens wäre nutzlos, wenn wir für unser eigenes nicht daraus lernten. Auch ist so oft das Leben der Alten mit unserem modernen Maßstabe gemessen worden, daß es nicht verargt werden kann, auch das unsrige einmal mit antikem Maßstabe zu messen: ist er falsch, so bleibt ja uns der Gewinn, und in jedem Falle der Glaube an Einen, dessen Großmut stets mehr gibt, als wir verdienen." 36 ) Die Prognose, die Lasaulx seiner Zeit stellt, ist äußerst düster: das politische Leben stehe am Vorabend der Demokratie, die K r a f t der christlichen Dogmen sei schwächer geworden und die Kunst sei ihrer religiösen Grundlage entfremdet. Was bleibt, ist nur die Hoffnung, daß Gott „die ursprüngliche Ordnung wiederherstelle" 37 ). Zu dem gleichen Ergebnis kommt auch seine spätere Schrift „Der Untergang des Hellenismus und die Einziehung seiner Tempelgüter durch die christlichen Kaiser", 1854. Lasaulx sieht in diesen Vorgängen „weltgeschichtliche Tatsachen, deren objektive Logik den göttlichen Logos, der darin waltet, unverkennbar dokumentiert . . . Wir heutigen Menschen des 19. Jahrhunderts, am Vorabende einer ähnlichen Katastrophe des europäischen Lebens wie jene des 4. Jahrhunderts war, werden uns, trotz der Erkenntnis seiner inneren Notwendigkeit, schwerlich einer mitfühlenden Teilnahme an dem Unterfange des Hellenismus erwehren können. Denn wenn alle menschlichen Schicksale uns nicht fremd sind, so müssen uns die hellenisch-römischen, an deren Ende unsere Anfänge anknüpfen, fast wie ein Vorspiel unserer eigenen anmuten." 3 8 ) Aber nicht nur in seinen wissenschaftlichen Arbeiten, sondern auch in seinen politischen Reden im Frankfurter Parla~6) Lasaulx, Studien, S. 68. Ebenda, S. 72. Lasaulx, Untergang des Hellenismus, München 1854, S. 4 und 5. 24

ment und in der Bayerischen Kammer kommt Lasaulx immer wieder auf diese Gedankengänge zurück. Es geht ihm dabei keineswegs, wie seine Gegner oft glaubten, um ein Aufprunken mit professoraler Gelehrsamkeit, sondern seine Darstellung wird bestimmt vom Willen, die objektive Situation des europäischen Lebens zu erkennen. Denn „alles Gedeihen im politischen Leben, wie im Leben überhaupt, beruht auf der Kontinuität des Lebens, daß man da anfängt, wo früher abgerissen wurde, weil, wer die Gegenwart von der Vergangenheit losreißt, eben dadurch auch die Zukunft unsicher macht" 39 ). Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bilden ein Ganzes. Sie können in ihrem wahren Wesen nur verstanden werden, wenn sie mit dem allgemeinen Gang des Lebens verglichen und mit dem abgeschlossenen Kulturprozeß der Vergangenheit in Beziehung gesetzt werden. So dient der historische Blick nicht der Vergangenheit, sondern der Zukunft. Er will in der Geschichte jene allgemeinen Gesetze erkennen, nach denen sich der Gang der Zukunft vorausbestimmen läßt. Viele seiner geschichtsphilosophischen Ideen, Gedanken und Anschauungen hat Lasaulx bereits in seinen politischen Reden ausgesprochen. So geht er schon hier vom Grundsatz aus: „Die Völker sind sterblich wie die Individuen. Ein Volk ist ja seiner Natur nach nichts anderes als ein ausgewachsener kräftiger Urmensch." 40 ) Jedem Volke ist seine Sendung zugemessen und Anfang und Ende erscheinen fest bestimmt. Das geistige und politische Leben eines Volkes entwickelt sich in Analogie zum Lebensgang des einzelnen Menschen und seine äußeren und inneren Schicksale werden oft durch eine große geschichtliche Persönlichkeit vorausgedeutet. So ist Leben und Leiden Christi eine Präfiguration der gesamten abendländischen Geschichte: „Die Geschichte der christlichen Kirche enthält wesentlich nichts anderes, als eine Wiederholung der irdischen Lebensgeschichte ihres Stifters Christi im Leben der christlichen Völker. Denn es ist ein allgemeines Gesetz jeder großen geschichtlichen Bewegung, daß in derselben nur jene Prinzipien sich explizieren, ••'J) Rede in der Bayerischen Kammer am 11. Juni 1850. Lasaulx, Studien, S. 542. 40 ) Rede in der Bayerischen Kammer am 2. November 1849. Lasaulx, Studien, S. 535.

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welche an der Spitze der Bewegung stehen, und nur das Leben jener großen Persönlichkeiten sich wiederholt, welche die Träger der weltgeschichtlichen Ideen sind."41) Die Überblickbarkeit des einzelmenschlichen Lebenslaufes ist die Voraussetzung der Erkenntnis des historischen Prozesses, denn Einzelleben und Gesamtleben stehen in tiefer Übereinstimmung. Durch diese Analogie ist es möglich, den objektiven Sinn und Ort der eigenen Zeit zu bestimmen. „Der allgemeine Charakter aller kirchlichen, politischen und sozialen Bewegungen der letzten Jahrhunderte besteht darin, daß in ihnen die gesamte mittelalterliche Lebensordnung sich auflöst. Das innere Agens dieses allgemeinen Auflösungsprozesses der alten, und das gestaltende Prinzip der neuen, wollte Gott besseren Lebensordnung im Staate und in der Kirche, ist die Idee der individuellen Freiheit." 42 ) Die Entwicklung der menschlichen Freiheit führt zur Herausbildung des menschlichen Bewußtseins aus dem allgemeinen Gang der Natur, endet aber mit innerer Notwendigkeit im Zwist zwischen Natur und Geist und in der Widersätzlichkeit von Gesetz und Freiheit. Das ist die Voraussetzung des inneren Verfalles, in den wir eingetreten sind: „Der ganze gegenwärtige Zustand Europas ist nichts anderes als ein Zersetzungsprozeß der mittelalterlichen Staatsformen, und die zersetzenden Kräfte wirken viel stärker als die kleinen Reorganisationskeime, welche anschießen. Man wartet allgemein auf ein Ereignis, man vertraut auf die Providenz des Schicksals. Auf einer gewissen Entwicklungsstufe des Verstandes erkennen die Menschen, daß alle Geistesrichtungen, alle Meinungen, alle Bestrebungen eine gewisse Berechtigung haben, und wenn sie nun handeln sollen, so sind sie wie ein Esel zwischen zwei Heubündeln, welcher bald dahin, bald dorthin sich gezogen fühlt." 43 ) Die volle Ausbildung der menschlichen Selbstbestimmung führt zur Auflösung der Einheit des religiösen und politischen Bewußtseins, die die Voraussetzung jeder politischen Größe ist. Die Freiheit wird zur Unentschlossenheit, die Differenzierung der Erkenntnis zur Atomisierung des 11 ) Rede im Frankfurter Parlament am 28. August 1848. Lasaulx, Studien, S. 511. 42 ) Ebenda, S. 510 und 511. ") Stölzle, Lasaulx, S. 204.

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Willens, die Fülle des Wissens zur Skepsis des Handelns. So leben wir ,,in einer Zeit, welche eine furchtbare Ähnlichkeit hat mit den Zeiten der Völkerwanderung" 44 ); die geschichtliche Rolle, die damals die Germanen spielten, ist jetzt an die Slaven übergegangen: „Als das alternde altrömische Weltreich im dritten und vierten Jahrhundert in sich zusammenzubrechen begann, weil ihm, wie ein gleichzeitiger Schriftsteller sich ausdrückt, die Herzkraft ausging, da ergossen sich über dasselbe halb barbarische germanische Stämme, erfrischten hierdurch die alte Welt und wurden ihrerseits durch den Kontakt mit der römischen Zivilisation gezähmt, veredelt und vorbereitet, um die Träger der neuen christlichen Weltentwicklung des Mittelalters zu werden. Eine ähnliche Katastrophe des germanischen Lebens scheint auch uns bevorzustehen . . . Den Slaven scheint nach der bisherigen Architektonik der Geschichte die Zukunft Europas vorbehalten zu sein."43) Darin spricht sich nicht etwa der Zufall der Ereignisse oder das Ergebnis eines menschlichen Versagens aus, sondern „es hat einen tieferen Grund in den allgemeinen Entwicklungsgesetzen des Lebens. Es ist ein allgemeines Gesetz, daß in allem Menschlichen, wenn es seinen Höhepunkt erreicht hat, ein Auflösungsprozeß beginne, ein Nachlassen der plastischen Kräfte, welche die frühere Form des Lebens erzeugt haben, und daß aus den dekomponierten Elementen des Staatslebens eine neue Rekomposition allmählich stattfindet; dahin strebt das innere Agens; allem Negativen liegt ein höheres Positives zu Grunde".46) Gibt es kein Zurück ? Lasaulx nimmt zu dieser Frage ausdrücklich Stellung, denn seine Zeit gefiel sich allzu sehr in der Wiederherstellung verjährter politischer Formen. „Restauration, nicht Reformation, ist heute überall die Losung des Tages. Hiermit ist aber für mich der objektive Wert dessen, was uns geboten wird, entschieden. Ich gehöre zu denjenigen, welche an politische Restaurationen nicht glauben; es gibt keine, alle, die versucht wurden, sind nach kurzer Zeit gescheitert; denn das Leben der Völker ist nicht, wie die Be44 ) Rede im Frankfurter Parlament am 29. August 1848. Lasaulx, Studien, S. 517. 46 ) Stölzle, Lasaulx, S. 213 und 214. «•) Ebenda, S. 210 und 211.

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wegung einer Uhr, die man beliebig zurückrücken und vorstellen kann, sondern es verläuft nach einem inneren notwendigen Naturgesetz." 47 ) Bei aller Pietät gegenüber der Vergangenheit, ja gerade aus der Einsicht in die unantastbare Einzigkeit der geschichtlichen Formen, hat sich in Lasaulx die Überzeugung gefestigt: „Es gibt keine politischen Restaurationen; rückwärts führen keine Wege, die Tore sind verschlossen, die Brücken abgebrochen, die Schiffe verbrannt, vorwärts, und wenn es in den Tod ginge, so lautet die Losung der Geschichte."48) Die Erkenntnis dieser allgemeinen Gesetze bestimmt Lasaulx' Stellung zu den Tagesfragen der Politik. Es ist selbstverständlich, daß ein so wacher Trieb zur Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit und zur Erfahrung des eigenen Standorts in der Geschichte an den geschichtsphilosophischen Erkenntnissen seiner Zeit und Vorzeit sich zu bilden suchte. So ergeben sich eine Reihe von Übereinstimmungen und Gegensätzen zu den Geschichtsdenkern des Jahrhunderts. Seiner Abkunft und seinem Bildungsgang nach verbinden Lasaulx naturgemäß viele Gemeinsamkeiten mit der romantischen Philosophie seiner Zeit. In dem lateinisch geschriebenen Lebenslauf, den Lasaulx seiner Dissertation anfügte, schrieb er, daß Görres, Schelling und Baader nicht nur seine Lehrer waren, sondern auch seine geistige Haltung dauernd bestimmten. „Er schöpft aus den großen Geschichtsphilosophen Vico, Herder, Hegel, Humboldt, Carlyle. Aber er bleibt dabei immer der Schüler seiner Münchener Lehrmeister Schelling, Görres und Baader." 49 ) Mit seinen Lehrern verbindet Lasaulx nicht nur „Sinn und Gefühl für die Größe und Eigentümlichkeit anderer Zeiten"50), sondern das metaphysische Bewußtsein eines einheitlichen Weltplanes, der allem Geschehen zugrunde liegt. Dem Schüler Schellings ist die Natur ein einheitlicher Gesamtorganismus, der nach den Gesetzen planmäßiger Intelligenz aufgebaut ist. „Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur sein."51) Das ist die Voraus-») Ebenda, S. 211. « ) Ebenda, S. 212. 49 ) Stadelmann R., Die Romantik und die Geschichte, Romantik, Tübingen-Stuttgart 1948, S. 171. 50 ) Savigny F. C., Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, S. 3. 51 ) Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur I, Leipzig 1907, S. 152.

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setzung der organologischen Auffassung des historischen Prozesses, denn in Natur und Geschichte waltet das eine und gleiche Gesetz. So erkennt Lasaulx in den Kulturen kollektive geistige Körper, Organismen, Lebewesen, und überträgt die Vorstellungen des pflanzlichen Lebens, des Wachsens, Blühens und Welkens, auf den Verlauf der Geschichte. Dieser Gedanke ist nicht neu. Schon Vico in seinen „Principi di una scienza nuova d'intorno alla commune natura delle nazioni", 1725, hat biologische Bilder auf den Ablauf der Völkerentwicklung angewandt und Herder in seiner genialen Frühschrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit", 1774, spricht in der Analogie der menschlichen Lebensalter von der Geschichte der Menschheit: „Niemand ist in seinem Alter allein, er bauet auf das Vorige, dies wird nichts als Grundlage der Zukunft, will nichts als solche sein — so spricht die Analogie in der Natur, das redende Vorbild Gottes in allen Werken! offenbar so im Menschengeschlechte I"52) So hat jedes Zeitalter seine Berechtigung als organische Stufe der Entwicklung und kann nur aus sich selbst verstanden und beurteilt werden. „Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt." 53 ) Dieses Geschichtsbild Herders hat die Auffassung der Romantik maßgeblich bestimmt. Auch Görres spricht in seinem Aufsatz „Wachstum der Historie", 1808, von einem „zykloidalen Progressus"54) der Geschichte, in dem sich der Ablauf der Kultur in Jugend, Mannesalter und Greisenzeit gliedert und in kreisförmigem Fortschreiten zum Ursprung zurückführt. In diesem Ablauf drückt sich ein „Real-Geistiges"55) aus, das die Romantik als Volksgeist überall zu erkennen und zu erfassen suchte. Der Volksgeisl ist eine reale historische Persönlichkeit, er vollendet sich in einem abgemessenen Lebenslauf und erzeugt aus sich selbst Mythos, Religion, Staat, Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft. Daraus ergibt sich jene romantische Auffassung der Menschengeschichte als einer Abfolge einzelner, in sich geschlossener, selbständiger Kulturkreise, die den „Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich selbst" tragen. 52

) Herder, Werke, ed. Supkan, V, S. 512 und 513. " ) Ebenda, S. 509. ««) Görres, Schriften I I I , fcS. 379. 5S ) Ranke, Politisches Gespräch, S. -'525.

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Diese metaphysische Grundüberzeugung ist auch Lasaulx eigen. Aber er nimmt sie nicht mehr in der naiven Weise der Romantik als bildliche Vergegenwärtigung eines geistigen Gesetzes, sondern er versucht sie im Studium der exakten Naturwissenschaften seiner Zeit zu bewähren und durch die Einsichten in die aufkommende Wissenschaft der Soziologie zu unterbauen. Lasaulx hat sich sehr lang und sehr genau mit der Naturwissenschaft und der Soziologie seiner Zeit auseinandergesetzt, er zitiert Blumenbach, Cuvier, Johannes Müller und Alexander von Humboldt, er kennt den Astronomen Herschel und den Physiologen Burdach und versucht von Karl Ernst Baers biologischen Erkenntnissen aus allgemeine Gesetze des Völkerlebens zu finden und die entwicklungsgeschichtlichen Anschauungen auf historische Epochen zu übertragen. In gleicher Weise ist Lasaulx auch mit den Meistern der Ethnologie Karl Vollgraff und Konrad Hermann vertraut und verfolgt mit besonderer Aufmerksamkeit die Anfänge einer statistischen Bevölkerungsgeschichte, wie sie A. Zumpt damals betrieb. Alle Ergebnisse der modernen Naturwissenschaft aber bringt Lasaulx in lebendige Verbindung mit der christlichen Offenbarung und versucht so, Metaphysik und Empirie zu einem höheren Ganzen zu verbinden. Das ganze Menschengeschlecht ist „seiner leiblichen und geistigen Natur nach nichts anderes als die in die Vielheit auseinandergegangene Einheit des ersten Menschen und der erste Mensch nichts anderes als die noch in der Einheit beschlossene Vielheit aller derjenigen, die aus ihm hervorgehen. Der eine ist die Wurzel aller, aus dem einen sind alle hervorgegangen, alle waren in ihm einer und der eine war in sich alle, die gesamte Menschheit war in ihm implizite substantiell gegenwärtig. Alle Menschen zusammen, der vergangenen wie der künftigen Jahrtausende, müssen darum, wie Pascal sich ausdrückt, angesehen werden als ein und derselbe Mensch, der fortwährend in Entwicklung begriffen ist, gleichsam als ein universaler Mensch."56) So bildet die ganze Menschheit einen großen Organismus, ein Gesamtwesen, eine naturwissenschaftliche Einheit, für die die gleichen Gesetze gelten wie für den Einzelorganismus. Denn das Leben der Völker verläuft „nach bestimmten Gesetzen, wie die Natur sich ent56

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) Lasaulx, Philosophie der Geschichte, S. 68, 69.

wickelt".57) Demgemäß ist die Einsicht in die Naturwissenschaft zugleich eine Erfahrung des geschichtlichen Prozesses, denn Natur und Geschichte sind ein Ganzes. Der romantischen Organismus-Idee steht der aufklärerische Fortschrittsglaube gegenüber, der Vorstellung der in sich abgeschlossenen Kulturabläufe der Gedanke der Perfektibilität des Menschengeschlechts. Zwar nimmt Lasaulx öfters dagegen Stellung, daß die Geschichte nach zeitlosen Idealen und fremden Zielen beurteilt werde, doch kommt er selbst vom Gedanken einer einsinnig fortschreitenden Entwicklung nicht ganz los. Das zeigt sich vor allem in der widerspruchsvollen Stellung gegenüber Hegels großem geschichtsphilosophischem Entwurf. Hegel darf in gewissem Sinne als der Vollender der aufklärerischen Perfektibilitätsidee gelten, denn er sieht als Ziel der Weltgeschichte, „daß der Geist zum Wissen dessen gelange, was er wahrhaft ist, und dies Wissen gegenständlich mache, es zu einer vorhandenen Welt verwirkliche, sich als objektiv hervorbringe . . . Daß er wahrhaft sei, dazu gehört, daß er sich hervorgebracht habe; sein Sein ist der absolute Prozeß . . . Das vollbringt er in der Weltgeschichte".58) Die ganze Geschichte erscheint bei Hegel als Selbstentfaltung der Vernunft durch den dialektischen Prozeß des Geistes, der durch Satz und Gegensatz „zum Bewußtsein und zum Wollen der Wahrheit" 59 ) fortschreitet. Diese immanente Dialektik des logischen Entwicklungsganges der Idee setzt Hegel mit eiserner Folgerichtigkeit in den Fortschritt der zeitlich-historischen Entwicklung um und läßt den Weltgeist „seine Natur explizieren"60), indem er alle einzelnen Momente der Gcschichte der Menschheit konsequent auf die Entfaltung der Idee bezieht. Diese Auffassung leitet Hegel zum Panlogismus seiner Realdialektik, die sich in dem Satze ausspricht: „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig." 61 ) Diesen Glauben an die All-Vernünftigkeit des Wirklichen teilt Lasaulx zwar nicht, doch auch er glaubt, daß „ein objektiver i7

) Ebenda, S. 69. ) Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, ed. Lasson, I, S. 51 und 52. M 6 ) Ebenda, S. 52. °) Ebenda, S. 6. 61 ) Hegel, Philosophie des Rechtes, Jubiläumsausgabe VIII, S. 48. 5S

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Verstand in den Dingen ausgeprägt" 62 ) ist. Scharf wendet er sich gegen Schopenhauers These: „Nicht in der Weltgeschichte ist Plan und Ganzheit, sondern im Leben der einzelnen. Die Völker existieren ja bloß in abstracto, die einzelnen sind das Reale. Daher ist die Weltgeschichte ohne direkte metaphysische Bedeutung; sie ist eigentlich bloß eine zufällige Konfiguration." 63 ) Aber der Widerspruch gegen Schopenhauers Skepsis einer allgemeinen Philosophie der Geschichte darf uns nicht den wesentlichen Gegensatz verdecken, der zwischen Hegels „sich selbst begreifendem Weltgeist" und Lasaulx' „objektivem Verstand in den Dingen" besteht. Für Hegel ist der Weltgeist zugleich „die Substanz der Geschichte"64) und sein notwendiger Gang „das Bild und die Tat der Vernunft" 65 ), der „objektive Verstand in den Dingen" bei Lasaulx meint indessen nur den metaphysischen Sinn des Ganzen, der über allem Widersprüchlichen in einem rätselhaften Plan Gottes zur Darstellung kommt. Demnach hat die Idee der Freiheit des Individuums als das innere Agens des gesamten politischen Lebens bei Hegel und bei Lasaulx ganz verschiedene Bedeutung. Für Hegel ist der „Endzweck der Welt das Bewußtsein des Geistes von seiner Freiheit" 66 ), für Lasaulx ist die Idee der Freiheit nur das schaffende Motiv des Handelns, die von Fall zu Fall wirkende Kraft des politischen Willens. So sprengt Hegels Geschichtsdeutung in keiner Weise Lasaulx' Geschichtsbild organisch sich bildender, abgeschlossener und selbständiger Kulturen, trägt aber manchen Baustein zu diesem Gedankengebäude bei. Die romantische Organismus-Idee und Hegels dialektischer Vernunftprozeß, die moderne Naturwissenschaft und die christliche Offenbarung, das alles faßt Lasaulx zusammen zu einem einheitlichen Ganzen. Aus vielen Quellen schöpft er sein Wissen, aber er bezieht es entschlossen auf seine Zeit und seinen Ort in der Geschichte. Der feste Wille zur Ganzheit und Einheit des Weltbildes führt zu einer Auffassung von Welt und Geschichte, die in der Persönlichkeit Lasaulx' selbst ihre Mitte und ihren Sinn besitzt. 62

) ) 64 ) Gi ) 63

:¡2

Lasaulx, Philosophie der Geschichte, S. 66. Schopenhauer, Parerga I, S. 194. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, S. 6. rs Ebenda, S. 13." ' ) Ebenda. S. 41.

4, Was Lasaulx' Werk „Neuer Versuch einer alten, auf die Wahrheit der Tatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte" von Hegels vernunftgläubigem Geschichtsbild und von der organologischen Geschichtsauffassung der Romantik in gleicher Weise abhebt, ist der durchlaufende Gedanke von einem parallelen Ablauf der griechisch-römischen und der germanisch-romanischen Kulturen. Lasaulx erkennt in der Geschichte keineswegs eine einsinnige Bewegung auf ein bestimmtes Ziel und nicht nur einen organischen Prozeß eines einheitlichen Ganzen, sondern ein Nebeneinander vieler einzelner Organismen, die einen selbständigen und abgeschlossenen Lebenslauf besitzen. Dieses Nebeneinander individueller Einzelformen gibt nicht nur dem Geschichtsbild eine unvergleichlich reichere Tönung und größere Fülle, sondern eröffnet gleichzeitig dem Geschichtsdenken neue Wege und Möglichkeiten. Der Vergleich tritt an die Stelle der Spekulation. Das morphologische Sehen geschichtlicher Vorgänge und Erscheinungen gibt dem verknüpfenden Geiste die Möglichkeit, in der Wiederkehr des Gleichen allgemeine Gesetze des Lebens zu erkennen. Das führt zu einem neuen methodischen Ansatz der Philosophie der Geschichte, der erst in der Folgezeit seine volle Fruchtbarkeit entfalten sollte. An die Stelle der metaphysischen Postulate, die nicht im Gang der Geschichte lagen, sollte der Vergleich der Phänomene treten, die im historischen Prozeß selbst zur Erscheinung kamen. Die Geschichtsmetaphysik alten Stils wird abgelöst durch die Geschichtsmorphologie modernen Gepräges. Das ist Lasaulx' eigentliches, großes Verdienst. Fast aber will es scheinen, daß er selbst vor den weiten Perspektiven und großen Folgen seines Denkens zurückschreckte, denn er versucht, über den Vergleich der einzelnen Formen hinaus, die Geschichte in einer allgemeinen Metaphysik des Geistes zu verankern. In diesem Gegensatz tritt der Widerspruch des Eigenen und des Fremden, des Überkommenen und des Geschaffenen, der idealistischen Ausgangsposition und der empiristischen Verfahrensweise besonders anschaulich zu Tage. Lasaulx sieht in der Geschichte „die dialektische Auseinanderbewegung eines unendlichen Verstandes, worin jeder

Moment seine Beziehung auf das Ganze hat". 67 ) In diesem Ausspruch hat Lasaulx selber auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die einer philosophischen Betrachtung der Geschichte entgegenstehen. Jakob Burckhardt hat diese Schwierigkeiten auf die klassische Formel gebracht: Die Geschichtsphilosophie ist „eine contradictio in adjecto: denn Geschichte, das heißt Koordinieren, ist Nichtphilosophie und Philosophie, das heißt Subordinieren, ist Nichtgeschichte". 68 ) Die Ganzheit, die die Voraussetzung jedes begrifflichen Erfassens ist, liegt nicht in der Geschichte, sondern wird vom denkenden Geiste erst in die Geschichte hineingetragen. Die Philosophie der Geschichte bleibt deshalb ein Wagnis, „so lange die Bewegung des menschlichen Lebens auf Erden ihr Endziel noch nicht erreicht hat. Denn erst, wenn die ganze Bewegung vollendet und in sich abgeschlossen wäre, könnte aus der Fülle des Lebens auch die volle Erkenntnis desselben geboren werden". 69 ) Dieses Ganze aber ist nie erfüllt und das „Bleibende in dem Vergänglichen"70) nie ruhig zu erfassen; deshalb bleibt die philosophische Beurteilung des historischen Prozesses immer an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Lasaulx ist sich darüber völlig im klaren und stellt seiner Betrachtung der Geschichte die sieben Voraussetzungen voran. Sie begründen die Einheit und Ganzheit der Geschichte in einer umfassenden Metaphysik, die ihre leitenden Ideen Schelling, Baader und Günther verdankt. Damit sind die Bedingungen umrissen, die das erkennende Subjekt bestimmen und die dem betrachteten Objekt zukommen. Denn die Möglichkeit einer Philosophie der Geschichte beruht darauf, „daß ein objektiver Verstand in den Dingen ausgeprägt und daß der subjektive Verstand des Menschen fähig sei, diesen objektiven Verstand Gottes zu verstehen".71) Dieser „objektive Verstand Gottes" wird aber erst dort sichtbar, „wo der Lebenstag der Völker sich seinem Abende zuneigt und wo zwei Zeilen einander begegnen, eine untergehende und eine aufgehende, die funkenwerfend die eine in die, andere ") saulx, ,iS ) ts ) 7 °) n )

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Brief an Franz von Baader vom 29. Januar 1836, Stölzle, LaS. 88. Burckhardt J., Weltgeschichtliche Betrachtungen, ed. Marx, S. 4. Lasaulx, Philosophie der Geschichte, S. 63. Ebenda, S. 63. Ebenda, S. 66.

hinüberspielt". 72 ) Erst wenn die Zeit der großen Geschichte zu Ende ist, ist die Möglichkeit einer Erkenntnis ihres Sinns und einer Bestimmung ihrer inneren Gesetzlichkeit gegeben. So wird die Philosophie der Geschichte selbst zum Zeichen dafür, daß „der substantielle Naturgrund alles Völkerdaseins in Europa" 73 ) schon stark erschöpft ist. „Nur dadurch also, daß sich der Philosoph selbst als die Erscheinung einer späten Kultur begreift, ist seine Reflexion über die Geschichte gerechtfertigt, nur dadurch aber ist sie auch erst tatsächlich möglich. Wie jemand seine eigene Biographie erst dann zu schreiben vermag, wenn er im Alter auf ein reiches Leben zurückblicken kann, so kann sich der Mensch erst dann auf die menschliche Geschichte besinnen, wenn sie sich in ihrer Reichhaltigkeit ihm als Objekt überhaupt erst aufdrängt, wenn sie zu einem wesentlichen Teile bereits abgeschlossen hinter ihm liegt."74) Als „Gedanke der Welt" ist die Philosophie Ausdruck einer Zeit, in der — wie Hegel sagt — die „Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet" hat und die „Gestalt des Lebens"75) sichtbar geworden ist. Das Bewußtsein eines unwiderruflichen Endes der abendländischen Kultur, das schon in den Reisebriefen gelegentlich anklang und in den politischen Reden mit steigender Deutlichkeit durchbrach, steht in vollem Gegensatz zum Geschichtsdenken von Vico bis Hegel, das in einer steten Höherentwicklung das Wesen der Geschichte erkannte. Deshalb mußten die idealistischen Geschichtsphilosophen in der jeweiligen Gegenwart den höchsten Punkt der Geschichte sehen, von dem aus betrachtet alle Bewegungen nur Glieder eines linearen Fortschritts waren. Hegel erkannte als Endziel aller Geschichte den vernünftigen Staat, Lasaulx hingegen vermochte ein derartiges Ziel im Ablauf des geschichtlichen Prozesses nicht festzustellen. Das Chaos der geistigen Situation seiner Zeit und der Zerfall aller staatlichen und religiösen Einrichtungen hatte in ihm den Glauben an jegliche Teleologie der Geschichte zerbrochen. „Gerade die Tatsache, daß 7Z

) Ebenda, S. 67. ) Ebenda, S. 167. ,4 ) Horn H., Die Geschichtsphilosophie Ernst von Lasaulx', Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie 3, S. 98. 76 ) Vgl.: Hegel, Philosophie des Rechtes, S. 20 und 21. ;3

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Lasaulx mit unerbittlicher Konsequenz auch vom Tode unserer Kultur spricht, deutet an, daß er im Grund keine gradlinige dialektische Höherentwicklung der Geschichte kennt." 7 6 ) Lasaulx erkennt in der Entwicklung der Menschheit einen „inneren Naturprozeß des Lebens" 77 ), der kein äußeres Ziel besitzt, sondern in der Entfaltung der inwohnenden Kräfte sich erfüllt. Aus diesem Gedanken zieht Lasaulx die logische Folgerung für das Leben der Völker und den Ablauf der Kulturen. Alle Kulturen sind Organismen, sie wachsen, blühen und welken, sie bringen ihr Wesen zur vollen Ausfaltung und sterben an der inneren Erschöpfung der Kräfte. Sie sind deshalb den gleichen Gesetzen unterstellt, denen alle organischen Wesen unterworfen sind. Mit diesen Gesetzmäßigkeiten versucht Lasaulx die konkrete geschichtliche Wirklichkeit zu fassen und durch die Analogie des Naturverlaufs das geschichtliche Werden auf feste Formeln zu bringen. Die Teleologie der alten Geschichtsphilosophie verneint er und stellt ihr eine moderne Biologie der Geschichte gegenüber. Der Glaube an die lineare Höherentwicklung wird abgelöst durch das Bewußtsein, daß alles Leben durch Geburt und Tod begrenzt ist. In der Geschichte waltet die gleiche Unerbittlichkeit des Gesetzes wie in der Natur, denn „alles geschaffene Leben als solches ist nicht ein unendliches Ewiges, sondern ein endliches Zeitliches, ein limitierter Fond, der, je mehr er entwickelt, desto mehr verbraucht und zuletzt erschöpft wird". 78 ) Die Formen, in denen das Leben der Völker sich entwickelt, sind nach Lasaulx' Anschauung keine dialektischen Schritte des Weltgeistes zur Objektivierung des Absoluten, sondern die auseinander folgenden Stufen des organischen Lebens, die sich als Kindheit, Jugend, Mannesalter und Greisenzeit darstellen. Aus der Erkenntnis dieser organischen Stufen der Entwicklung ergibt sich auch bereits die Möglichkeit, den inneren Ablauf und die äußeren Schicksale der abendländischen Kultur zu bestimmen. Wenn auch „die Schicksale der heutigen Völker Europas noch schwebend sind", so sind doch „die Geschicke der alten Völker vollendet" 79 ), in denen sich der J. I92 ) Lasaulx, Philosophie der Geschichte, S. .170.

lnl

Formen — „in der ganzen Natur eine fortschreitende Bewegung, eine sukzessive Evolution und Involution des Lebens" 193 ) stattfinde. Das Gleiche meint Toynbee, wenn er sagt: „Wenn die menschliche Geschichte sich wiederholt, so t u t sie das in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Rhythmus des Weltalls; die Bedeutung dieser Wiederholung aber liegt in dem Ziel der Weiterentwicklung, das sie allem Geschaffenen setzt. In diesem Sinne enthüllt sich das Wiederholungsprinzip in der Geschichte als ein Werkzeug der Freiheit schöpferischer T a t und nicht als ein Zeichen, daß Gott und Mensch die Sklaven des Schicksals sind." 194 ) In dieser Wiederholung der Geschichte liegt nicht ein Zwang gesetzhafter Kausalität, sondern die Aufforderung, dem geschichtlichen Prozeß eine „noch nicht dagewesene Wendung" 195 ) zu geben. Was die Vergangenheit nicht bezwungen hat, das „muß der Zukunft gelingen" 196 ). Toynbee gibt diesem Wechselspiel trefflichen Ausdruck in den Worten: „Während Kulturen aufsteigen und versinken und im Sinken andere emporheben, schreitet vielleicht irgendein zweckvolles Unternehmen höherer Art, als es die Kulturen sind, stetig vorwärts: in einem göttlichen Plan ist vielleicht das Wissen, das aus dem Leid geboren wird — aus dem Leid des Untergangs der Kulturen —, das höchste Mittel zum Fortschritt." 197 ) Unsere eigene Zeit ist nicht nur der letzte Akt einer alten Tragödie, sondern zugleich das Vorspiel eines neuen Wcltdramas. Sie ist zugleich das Ende des bekannten Alten und der Anfang eines nie dagewesenen Neuen. „Iis gibt in unserer eigenen nachchristlichen, westlichen Kultur einen Zug, der seinesgleichen in der Geschichte nicht hat und wohl ziemlich oberflächlich, aber dennoch in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist. Unsere neuzeitliche weltliche Kultur des Abendlandes ist im Zuge ihrer Ausbreitung tatsächlich weltumspannend geworden und hat sowohl alle noch lebenden Kulturen als auch die primitiven Gesellschaften in ihren Bereich einbezogen." 198 ) So steht unsere Zeit vor einer neuen Aufgabe. „Ks ist der Heginn des 193

) ) 195 ) ,9e ) m ) 191i ) 1M

Ebenda, Toynbee, Ebenda, Lasaulx, Toynbee, Ebenda,

S. [68. Kultur am S. 45. Philosophie Kultur am S. 245 und

Scheidewege, Zürich-Wien 1949, S. 44. d e r Geschichte, S. 170. Seheidewege. S. 21. 146. f. 9

Weltkulturprozesses."199) Der alte „antistrophische Gesang zwischen dem Rufe Gottes und der Antwort des Menschen" — wie Lasaulx sagt — oder der dialektische Prozeß von Herausforderung und Antwort — nach Toynbees Meinung — nimmt auf ein Neues seinen Anfang. So weit wirken die Gedanken Lasaulx' in die Zukunft fort. Diese vielfältige Keimkraft seiner Ideen aber steht zur unmittelbaren Wirkung seines Buches in einem seltsamen Mißverhältnis. Die Folgezeit hat wohl die Gedanken übernommen und fortgedacht, den Namen des Urhebers jedoch vergessen. Die Gedankenkette aber, die von Lasaulx ausgeht, wurde zur großen Leistung der deutschen Geschichtsphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Wo immer von ihr die Hede geht, ist Lasaulx' großes Werk mitgenannt. Es bildet den Anfang einer stolzen Reihe großer und bleibender Erkenntnisse. Was tut es, daß der Name darüber vergessen wurde? Für das Schicksal der großen Geister gilt Goethes unvergängliches Wort 200 ): Die Tat ist alles, nichts der Ruhm. 199

) Schröter M., Untergangsphilosophie, München 1948, S. 15. °°) Goethe, Faust II, 1V/5576.

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Neuer Versuch einer alten, auf die Wahrheit der Tatsachen gegründeten

Philosophie der Geschichte

Lo bueno, si breve, dos veces bueno. (Das Gute, wenn kurz, ist doppelt gut.)

VORAUSSETZUNGEN G E S C H I C H T S P H I L OSO P H I S C ERKENNTNIS

HF2R

Eine Philosophie der Geschichte zu schreiben wird immer ein Wagnis sein, solange die Bewegung des menschlichen Lebens auf Erden ihr Endziel noch nicht erreicht hat. Denn erst, wenn die ganze Bewegung vollendet und in sich abgeschlossen wäre, könnte aus der Fülle des Lebens auch die volle Erkenntnis desselben geboren werden; sowie ja auch nicht früher als am Ziel einer langen Wanderung ein weltfahrender Pilger den zurückgelegten Weg ruhig überschauen, das Bleibende in dem Vergänglichen richtig würdigen, auch seine Irrsale klar erkennen und selbst der bestandenen Gefahren heiter sich erfreuen mag. Wenn ich es daher unternehme, mit mäßigen Gaben ausgerüstet, nicht nur die Geschicke der alten Völker, deren Leben vollendet ist, sondern auch jene der heutigen Völker Europas, deren Schicksale, noch schwebend sind, philosophisch zu beurteilen, so kann dies nur unter mehrfachen Voraussetzungen geschehen, die ich hier, nichts verbergend, kurz und offen aussprechen will. Erstens: daß in der Philosophie der Geschichte wie in jeder echten Wissenschaft und im ganzen menschlichen Leben die alles entscheidende Hauptsache die ist, daß man von Gott ausgeht und ihn als das erste, die Natur als das zweite betrachtet; nicht aber, wie es heute üblich geworden, die Natur voranstellt und den Herrn der Natur nur als Lückenbüßer zu Hilfe ruft, wenn man nicht mehr weiter kann 1 ). Zweitens: daß der Ursprung und das Ende alles geteilten Seins die ideale Einheit ist 2 ); daß demnach alles Leben in seiner ursprünglichen Wesenheit idealer Natur, und daß Piaton, Sophista 265, B und Friedrich Schlegel, Philosophie der Geschichte I, 40. 2 ) W. Humboldt, Werke VI, 589.

diese ideale ewige Tätigkeit, die schaffende, einigende Liebe Gottes, die letzte und innerste Ursache alles Weltlebens ist: so daß eben darum nur ein Leben im Weltall, eine ewige Kohäsion der Geister 3 ), keinerlei Zufall, nur eine Harmonie und Ordnung waltet 4 ). Drittens: daß, wenn das Weltganze der eigentliche, höchste Organismus ist und in diesen alle besonderen Organismen, alle untergeordneten Systeme, alle Gattungen und Individuen samt ihrer Unaussprechlichkeit eingefügt sind, die K r a f t des Ganzen auch alles Einzelne durchdringen, auch in dem Einzelsten die allgemeine Weltkraft tätig sein muß 5 ), so daß jedes Leben das Unendliche im Endlichen, das Ganze im Einzelnen, das Einige im Mannigfaltigen ist und das Eine alles Umfassende auch in allem sich spiegelt. Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart durchdringen sich demnach gegenseitig und bilden nur ein unteilbares Ganzes; ja was in der zeitlichen Erscheinung das letzte Endziel der Bewegung, der am Ende offenbare Wille ist, das ist an sich das Erste, Gewollte und die Ursache der ganzen Bewegung 6 ). Viertens: daß es eben darum auch in allen Dingen gewisse tiefverborgene Geheimnisse gibt, die jeder nur mit seinem eigenen Herzen einsehen kann 7 ); und daß, wenn dieses ihn 3

) J. G. Schlosser, Kleine Schriften I I I , 73 ff. ) Plotinus, Ennead. IV, 4, 35: o t i T Ö sixij oi>v. ECTTIV ev tij uXXa ¡xia ap[/.ovia xai rticic. Vgl. Burdach, Physiologie II, 145; 154: 793; 799 ff. 5 ) Plinius X I , 2, 4 : rcrum natura nusquam magis quam in minimis tota est, —• und die treffliche Ausführung bei Burdach I I , 806 ff. 4

6 ) Aristoteles, P h y s . 261, A, 14 und Met. 989, A, 15: TÖ TIJ yevsasi roTspov Ttj tpi'ioei 7tpÖTspov. Polit. 1252, B, 32: olov Y"P ixaoTÖv i o n Tf]? yEVEaecoi; T£XEeiaY)po:)Trac F7to? eiTtsiv, IJ/TIAIS,

[J.oipac TF|S Sif)(ji.LOUPYIXF|(; TÖ mö? Tofi Mv&ptrtirou nichts anderes sagen wolle, als er sei jener Menschensohn, welchen der P r o p h e t Daniel in der ber ü h m t e n Vision 7, 13 als den künftigen Messias vorherverkündigt h a b e : „ I c h bin der Mensch, von dem Daniel spricht.' 4 Ich halte fliese E r k l ä r u n g f ü r falsch, sprachlich u n d psychologisch: ersteres d a r u m , weil bei Daniel gar nicht die Rede ist von dem Sohn des Menschen, sondern es dort nur heißt, es k a m einer in den Wolken des Himmels 70

Die Kunst Gottes aber in der Gestaltung des Weltlebens zeigt sich wesentlich darin, da(3 in demselben die größte äußere Mannigfaltigkeit zur schönsten inneren Einheit verbunden ist 8 ). In der einen ursprünglich homogenen Menschheit trat, entsprechend dem allgemeinen Gesetz der inneren Differenzierung des Lebens, welches von innen her sich teilt und immer reicher sich entfaltet und gliedert, und, wie uralte Überlieferungen melden, infolge einer tiefgreifenden psychischen und physischen Krisis, wachsender innerer Gegensätze und wachsender äußerer Ausdehnung, eine wie eines Menschen Sohn, ««; uioc üvi)-p«'>7roi>, nicht 5 toü «v&ptÖTtou bezeichnen darum nichts anderes, als daß er der Sohn Adams oder der zweite Adam, und der Sohn Marias als der zweiten Eva sei, der in dem Protoevangelium Mosis I, 3, 15 verheißene, aus dem Samen des Weibes geborne Schlangentreter. So schon Gregorius Xftz., Orat. 30, 21, 555, I): uiö? av&p xai oi'> vö^o,» Yevvi'|TOi dpj^yeTat, primi generis humani auctores, die drei Urväter aller Menschen durch Gebet und Opfer anzurufen21), eine dunkle Erinnerung an die drei Stammväter nicht nur der Hellenen, sondern der Menschheit überhaupt erhalten sei. Dieselbe Dreibrüdersage endlich begegnet uns auch bei der jüngsten unter den japhetischen Völkerfamilien, bei den slavischen Stämmen. Bei Krapina in Kroatien stehen heute noch die 17)

Der

Scholiast

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l s ) Hesiodus, Fragm. 32. Aiö?, AÖyoi 8e AeuxaXicovoc. Apollodorus I , 7, 3. Strabon V I I I , 7, I . K o n o n 27. 19 ) 2 °)

Pindarus, P y t h . I , 61 ff., mit den Scholien und Ephorus, Fragm. 10. Piaton, L e g . I I I , 683, C ; Apollodorus I I , 8, 2.

2 I ) Die Atthidcnschreiber Clidodemus Fragm. 19, Phanodemus Fragm. 4, Demon Fragm. 2, Philochorus Fragm. 2 und 3 bei Suidas von -rpiTOTTÜTopsc, p. 1218, mit den Parallelen des E t y m . 31. p. 768, des P h a vorinus, Hesychius, Photius und des Grammatikers in Bekker, Anecdota 307,16, nebst den ausführlichen Erläuterungen in Lobeek, A g l . p. 754 f f .

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Ruinen von drei Burgen, aus welchen nach einer alten, bei allen Slaven verbreiteten Sage die Urväter ihrer drei Hauptstämme Czech, Lech, Mech ausgezogen seien22). Auch darf hier nicht unerwähnt bleiben, daß diese Dreiteiligkeit23) als ein Grundgesetz jeder organischen Lebensentwicklung, ebenso wie in den historischen Völkersagen, auch in den mythologischen Göttersagen vorherrschend ist: in der indischen Trimurti von Brahma, Vishnu, Qiva, der schaffenden, erhaltenden und zerstörenden Kraft Gottes; in dem hellenischen sukzessiven Tritheismus von Uranos, Kronos, Zeus, wie in dem simultanen Tritheismus von Zeus, Poseidon, Aidoneus; in der samothrakischen Mysterienlehre von Axieros, Axiokersa, Axiokersos24), und in der altattischen Götterdreiheit von Zeus, Athene, Apollon25); in der altrömischen Göttereinteilung in Superi, Inferi, Medioxumi26), und in der 22 ) J. Kollar bei Schmeller, Münchener Gel. Anz. 1844, Nr. 225, p. 766. Vgl. Schafarik, Slaw. Altert. II, 356, wo als die polnische Form der Sage angeführt wird, daß Lech, der mit seinen Brüdern Czech und Kuß aus dem kroatischen Land in die Gegend gekommen sei, wo jetzt die Stadt Gnesen liege, dort ein Adlernest gefunden und sich da eine Burg gebaut, seine Brüder aber, den Czech nach Westen, den Ruß nach Osten geschickt habe. Ähnliche Sagen von drei Brüdern als Gründern von Staaten und Reichen sind die Sagen von den drei Warägern Rurik, Sineus, Truwer; die drei Polanen Kij, Sczek, Choriv; und die drei Normannen Amlaw, Sytarak, Yvor und andere in Schlözer, Nestor II, 189, 198, 213, 219. Auch Jomandes, De rebus Geticis, 5, 23 berichtet, daß der große Völkerstamm der Slaven sich in drei Hauptzweige geteilt habe: ab una Stirpe exorti tria nunc nomina reddidere idest Veneti, Antes, Slavi. Vgl. Schafarik, Slaw. Altert. I, 66 f. und 148 f., und über die verschiedenen Formen des Namens Venedi, Veneti, Winedi, Winidac, Winden oder Wenden, a. a. 0 . 152 ff. 23 ) Die Dreizahl ist, wie die Pythagoreer mit Recht lehrten, die erste vollkommene Zahl, als worin Anfang, Mitte und Ende ist. Philochorus, Fragm. 179: TipoiTOi; T e X e t o ? d p i & f i ö i ; o T p i a , OTI k x E I v.ai TeXoq xai [liarjv. Galenus IX, 934: TI'JV rpidSa •rceTtspaajj.svqv «pptoviav i] TSXS'.OV «pifl|xöv. Mehr bei Aristoteles, De coelo I, 1, und Plutarchus von Fabii, Max. 176, D. 24 ) Mnaseas, Fragm. 27 beim Scholiastcn des Apollonius Rhod. I, 917. är ') Siehe meine Studien, p. 140. 20 ) Plautus Cistell. II, 1, 45. Apuleius II, 196/197. Hildebr., Martianus Capeila II, § 154. Servius ad Ae. VIII, 275. Auch der bekannte indische Ausdruck „die drei Welten" begreift bei den Buddhisten oft den Himmelsraum, die Erde und die unterirdischen Regionen nebst den sie bewohnenden Wesen. Vgl. Schmidt in den Memoiren der Petersburger Akademie II, 55.

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kapitolinischen Götterdreiheit von Jupiter, Juno, Minerva; in der keltischen Triadenlehre; in den drei Göttern der Schweden Thor, Wodan, Frikko27) und in der altpreußischen Götterdreiheit von Potrimpos, Perkuno, Pikullos. Ja, daß dasselbe trinitarische Gesetz überall, in allem und jedem, was eine geschichtliche Entwicklung hat, wiederkehrt: in den ältesten drei Ständen der Priester, Krieger, Ackerbauer (Lehrstand, Wehrstand, Nährstand); in den Verfassungsformen der Völker Monarchie, Aristokratie, Demokratie; in dem dorischen, jonischen, korinthischen Baustil; in den drei Hauptformen der Poesie Epos, Lyrik, Drama; in der gesetzmäßigen Entfaltung der tragischen Kunst in Äschylos, Sophokles, Euripides, wie in der sukzessiven Entwicklung der alten, mittleren und neueren Komödie; in der Dreiteilung der Zeit überhaupt in Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Anfang, Mitte, Ende. Was nun zweitens die naturwissenschaftliche Erforschung der sogenannten Menschenrassen betrifft, so unterscheidet der Gründer dieser Studien, Blumenbach, deren bekanntlich fünf: die kaukasische, die mongolische, die äthiopische, die amerikanische und die malaiische Rasse. Von diesen fünf Hauptrassen sei die kaukasische die Stamm- oder Mittelrasse, und die beiden Extreme, in welche diese ausarte, seien einerseits die mongolische, andrerseits die äthiopische Rasse; die zwei anderen Rassen machten die Übergänge, die amerikanische den Übergang zwischen der kaukasischen und der mongolischen, die malaiische den tJbcrgang zwischen der kaukasischen und der äthiopischen28). Blumenbach ") Adamus Breinensis, Hist. eccles. Hamburg. IV, 26. Vgl. J. Grimm, Deutsohe Mythologie, p. 102. 28 ) Blumenbach, Handbuch der Naturgeschichte (1830), p. 56: „Es gibt nur eine Gattung im Menschengeschlecht, und alle uns bekannten Völker aller Zeiten und aller Himmelsstriche können von einer gemeinschaftlichen Stammrasse abstammen. Alle NationalVerschiedenheiten in Bildung und Farbe des menschlichen Körpers sind um nichts auffallender oder unbegreiflicher als die, in welche soviele andere Gattungen organischer Wesen, zumal unter den Haustieren, gleichsam unter unseren Augen ausarten." Ähnlich Joh. Müller, Handbuch der Physiologie II, 768: „Die Pflanzen, Tiere, Menschen verändern sich während ihrer Ausbreitung über die Oberfläche der Erde, diese Veränderungen gehen innerhalb gewisser Grenzen vor sich und pflanzen sich als Typen der Varietäten der Arten fort ; die Ursachen,

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selbst, wie nach ihm Cuvier, reduziert demnach diese fünf Rassen wieder auf drei Rassen, und alle drei auf eine ursprüngliche Spezies. Sein naturwissenschaftlicher Horizont ist weiter, als der des Altertums sein konnte, denn die vierte und fünfte der von ihm angenommenen Menschenrassen knüpfen sicli an die Länder der Neuen Welt, Amerika und Australien, welche den Alten unbekannt waren; die drei erstgenannten Rassen aber, die weiße kaukasische, die gelbe mongolische und die schwarze äthiopische, bewohnen, nicht streng geschieden, sondern teilweise gemischt, die drei Erdteile der Alten Welt, Asien, Europa, Afrika. Denn wie kaum ein einziges Kulturland, kaum ein einziger Fleck der bewohnten Erde heute noch seine ursprüngliche Physiognomie hat, so gibt es auch gewiß kein Land der Erde, welches noch ausschließlich von seinen ursprünglichen Bewohnern bewohnt würde. Die Pflanzenwelt, die Tierwelt und die Menschenwelt aller bewohnten Länder der Erde ist wesentlich verändert und umgewandelt, alle haben zahlreiche Einwanderungen, Auswanderungen, Mischungen erfahren. Fast überall auf Erden finden wir, wie die Erdarten übereinandergeschichtet und mannigfach verworfen, so auch Völkertrümmer, eine Kulturperiode über die andere hingelagert, eine mit der andern gemischt und alle vielfach verwaschen und zerworfen im Sturmregen der Jahrtausende. welche dieses Variieren der Arten bedingen, sind teils innere, in den Organismen selbst liegende, teils äußere, Nahrung, Standort, Klima. Alle Menschenrassen sind Formen einer einzigen Art, welche sich fruchtbar paaren und durch die Zeugung fortpflanzen..." Unter den zahlreichen von Blumcnbach abweichenden Einteilungen der Menschenrassen ist die von C. G. Carus vorgeschlagene die einfachste und geistreichste. Carus nämlich (in seinem System der Physiologie I, 144 ff., und in der Schrift Uber die ungleiche Befähigung der verschiedenen Menschenstämme p. 12 ff.) sucht zu zeigen, daß die Menschheit als das höchste epitellurische Gebilde, obgleich nur ein Reich, eine Klasse, eine Ordnung, eine Gattung darstellend, dennoch wesentlich abhängig sei von den großen Zuständen des Planeten, den sie bewohnt, und demnach in vier große Varietäten sich gliedere, nämlich 1. in die der Nacht des Planeten entsprechende, die Nachtvölker, Neger; 2. in die dem Tag des Planeten entsprechende, die Tagvölker, Kaukasier; 3. in die der Dämmerung des Aufganges entsprechende, die östlichen Dämmerungsvölker der Erde, Mongolen; 4. in die der Dämmerung de* Unterganges entsprechende, die westlichen Dämmerungsvölker, die amerikanischen Stämme der Tolteken, Azteken usw. 91

W a s endlich d r i t t e n s die sprachwissenschaftlichen F o r schungen b e t r i f f t , so ist d u r c h diese in K ü r z e folgendes ermittelt worden. Solange die Sprache in aufsteigender Lebenslinie sich entwickelt, ist sie n i c h t Gegenstand der F o r s c h u n g . E r s t w e n n ihr inneres L e b e n v o l l k o m m e n e n t f a l t e t vorliegt, e n t s t e h t aus dem fertigen L e b e n die reflexive B e t r a c h t u n g ü b e r den zurückgelegten Lebensweg, aus dem völlig e n t wickelten L e b e n die Möglichkeit u n d das B e d ü r f n i s eines klaren B e w u ß t s e i n s ü b e r das L e b e n , aus dem fertigen Sein die E r k e n n t n i s des Seins. U n d die F r a g e n , die sich hier darbieten, sind: E r s t e n s : W i e v e r h ä l t sich die Sprache ü b e r h a u p t z u m Geist, das Sprechen z u m D e n k e n ? Zweitens: Wie v e r h ä l t sich das W o r t zur Sache, die es bezeichnet, u n d welches ist die ursprüngliche B e d e u t u n g des W o r t e s ? D r i t t e n s : Wie u n d nach welchen Gesetzen v e r ä n d e r n sich die W o r t e u n d m i t ihnen die B e g r i f f e ? V i e r t e n s : In welcher Reihenfolge h a b e n sich die menschlichen Sprachen der Völker entwickelt, u n d wie v e r h ä l t sich die eine dieser Sprachen zur a n d e r n ? Lassen sich a u c h hier große Sprachfamilien unterscheiden, e n t s p r e c h e n d den V ö l k e r f a m i l i e n ? U n d wie v e r h a l t e n sich i n n e r h a l b jeder solchen Sprachfamilie die einzelnen Glieder derselben, das eine zum andern ? U n d wie die eine solche große Sprachl'amilie zur a n d e r n ? U n d weisen a u c h hier alle Sprachen auf eine Ursprache z u r ü c k ? B e t r a c h t e n wir z u n ä c h s t das Verhältnis der Sprache z u m d e n k e n d e n Geist des Menschen. Der römische Dichter E n n i u s , der dreier S p r a c h e n k u n d i g war, des Griechischen, Lateinischen u n d Oskischen, beh a u p t e t e , eben d a r u m drei Herzen zu haben 2 9 ); u n d m i t demselben R e c h t Kaiser K a r l V., d a ß einer sovielmal Mensch sei, als er Sprachen v e r s t e h e ; u n d a u c h h e u t e noch ist es ein türkisches Sprichwort, wer eine neue S p r a c h e lerne, gewinne eine neue Seele. Die Sprache n ä m l i c h ist u n zertrennlich m i t der innersten N a t u r des menschlichen 29

) Gellius XVII, 17: tria corda habere sese dicebat, quod loqui Graece et Osce et Latine sciret. 92

Geistes verwachsen und bricht weit mehr selbsttätig und naturnotwendig aus ihm hervor, als daß sie willkürlich und künstlich von ihm erzeugt würde 30 ). Sie ist ursprünglich ihrer Genesis nach der natürliche Ausdruck des menschlichen Denkens, die Worte brechen aus der Tiefe des Geistes und aus dem Ganzen der menschlichen Organisation mit derselben natürlichen Energie hervor, wie die Kristalle aus dem lebendigen Gestein aufschießen 31 ). Die Sprache ist sonach nicht bloß das Organ des Denkens, das Werkzeug, womit wir denken, sondern sie ist mit dem Denken selbst zusammengewachsen, die Vollendung des Denkens. Empfinden, fühlen, wollen, begehren läßt sich ohne Worte; denken aber läßt sich nicht ohne Worte, erst im Wort faßt sich der Gedanke. Jedes Wort, gedacht oder gesprochen, ist die Geburt eines im Dunkel gezeugten, nun erst ans Licht geborenen Gedankens. Wie den Schwangeren die Hebamme zu Hilfe kommt, die reife Frucht ans Licht zieht und die Mutter von den Schmerzen befreit, so befreit das ans Licht geborene Wort die Seele von den Geburtsschmerzen des nach Vollendung ringenden Denkens 32 ). Nicht nur andern, auch uns selbst wird unser Denken erst offenbar durch das lösende Wort; ohne die Sprache wäre unser ganzes Geistesleben in Nacht, in ein dumpfes Hinbrüten verschlossen33). Nur wer das rechte Wort für einen Gedanken hat, denkt klar, fühlt sich innerlich leicht, frei, hell in der Brust, fühlt durch das WTort sich erlöst aus der dumpfen Enge unklarer, verworrener Gefühle. Erkennen und Benennen, 3

°) W . H u m b o l d t , Werke VI, 33, 38 und 539: Die Sprache liegt in der Seele und kann sogar bei widerstrebenden Organen und fehlendem äußeren Sinn hervorgebracht werden. Dies sieht man bei dem Unterrieht von Taubstummen, der nur dadurch möglich wird, daß der innere Drang der Seele, die Gedanken in Worte zu kleiden, demselben entgegenkommt und vermittels erleichternder Anleitung den Mangel ersetzt und die Hindernisse besiegt. 31 ) Piaton, Sophista 263, E und 264, A: Siuvoia [ikv xoei Xöyoq TOA'TÖv. TÖ UTTÖ Siavoiat; yeiifxa Std TOP CTÖ;J.OCTO; iöv ¡JISTÜ (p&övyo'j Xi:zXr;Tai XÖYOQ... Siavoia ¡¿sv aiVnis 7tpö? fairniv i^X 1 !? SU'I.AO^OC: Gedanke und Sprache sind dasselbe. Die Rede ist nur der Ausfluß des Gedankens, das innere Gespräch der Seele mit sich selbst. 32 ) Maximus Tyrius XVI, 4: xai Xöyoc ¡xaisrsTai Oux 1 ^ Jt^ouisv y.ai (oSivcov uE(j-ri']v. Vgl. Piaton, Svmp. 206, B. m ) Boxhammer, Offenbarung und Theologie, p. 187.

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Gedanke und Wort werden zugleich in der Seele geboren; weshalb auch mit Recht gesagt wird, alles spezifisch Menschliche reduziere sich auf diese beiden, auf die Vernunft als das Vermögen der Ideen und auf die Sprache als das Mittel ihrer Offenbarung — und beide, Vernunft und Sprache, bezeichnen darum die Griechen durch das eine Wort X6yo?, und definieren den Menschen als ein £(öov Xoyixöv im Gegensatz zu den Tieren als u'Xoya als ein Vernunft- und sprachbegabtes Wesen im Gegensatz zu den Vernunft- und sprachlosen Tieren 34 ). Am klarsten ausgesprochen ist diese ursprüngliche Bedeutung der Sprache und des Wortes bei den morgenländischen Schriftstellern. In dem altjüdischen Buch Sohar heißt es: Der Gedanke ist der Anfang aller Entwicklung; er bringt zuerst eine Stimme hervor, diese wird dann zum Wort gestaltet, welches der wahre Ausdruck des Geistes ist, so daß Gedanke, Stimme, Wort eins sind, ein Band umschlingt sie alle35). Der Gedanke ist der Anfang der Entwicklung, der im Wort formierte Gedanke die vollendete Geburt desselben. Bei dem persischen Dichter Dschelaleddin Rumi lesen wir: „Wie aus dem Waldgebüsch der Löwe springt, so dem Gedanken sich das Wort entringt. Aufsteigt im Meer des Wissens der Gedanke und tritt als Wort in der Gestaltung Schranke; im Worte keimt die Form und stirbt dann hin, zum Meere heimwärts alle Wellen ziehn 36 )." Und gleicherweise in dem Buch des Königs Kabus: Gott hat unter allen Geschöpfen den Menschen einzig in seiner Art geschaffen, indem er ihn vor allen Tieren ausgezeichnet durch zehn Dinge, fünf innere und fünf äußere. Die innerlichen Eigenschaften sind: 1. Denken, 2. Lernen und das Gelernte behalten, 3. Sich einbilden, 4. Im Herzen das Gute und Böse unterscheiden, 5. Im Ilerzen WTorte zusammensetzen und sprechen. Die äußerlichen fünf Eigenschaften M ) Aristoteles, Pol. 1332, B, 5. l'sokratcs im Nicocles, § 6, 9. Plutarchus, Mor. 5, E; 450, D. Maximus Tyrius IV, 7. W. Humboldt, Werke VI, 541: Der Mensch ist nur durch die Sprache Mensch, und die Sprache nur dadurch Sprache, daß sie den Anklang zu dem Gedanken allein in dem Wort sucht. 35 ) Sohar I, 246, B in Joe], Religionsphilosophie des Sohar, p. 242 ff. Dschelaleddin Rumi, Mesneni, übersetzt von G. Rosen, p. 154/155.

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sind: 1. Hören, 2. Sehen, 3. Riechen, 4. Fühlen, 5. Schmecken. Einige dieser Eigenschaften haben zwar auch die Tiere, aber nicht in derselben Stärke wie die Menschen; darum ist der Mensch ein großer Kaiser über die Tiere. Die wesentlichste aber unter den zehn Kräften ist die Sprache, da alle übrigen gleichsam nur Werkzeuge zum Sprechen sind37). Weshalb Ali mit Recht gesagt hat, der Mensch ist unter seiner Zunge verborgen; wenn der Mensch nicht redet, so weiß man nicht, ob er ein Mensch ist; sprich, damit ich dich sehe38). Die Rede erst zerreißt den Schleier, der über der Seele liegt, und offenbart, ob ein Mensch darunter ist. Worte sind etwas, was vom Herzen kommt, darum sind sie kostbar, denn es ist eine Herzkraft in ihnen. Reden gleichen einer Perlenschnur, welche die Zunge aus dem Meer des Herzens herauszieht. Übrigens, wo du auch seist, höre viel und rede wenig, denn schweigen ist die zweite Gesundheit und viel reden ein Merkmal der Unwissenheit39). Weil der Gedanke erst im Wort gefaßt sein muß, wenn er faßlich sein soll, so sprechen die Morgenländer gern von Worten, wo wir Abendländer von Gedanken reden, und was wir einen denkenden Menschen nennen, heißt bei den Orientalen ein der Rede Kundiger, einer, der zu reden, zu sprechen weiß. In der Sprache oder im Wort schließt sich das unsichtbare Wesen der Seele auf40), und es tritt aus ihr, blitzbewaffnet wie Athene aus dem Haupt des Zeus, eine Gestalt ihrer selbst heraus. Darum auch, weil im Feuer des Geistes geboren, hat das lebendige Wort41), je nachdem es aus einem wohlwollenden oder zürnenden Innern gekommen ist, eine befruchtende oder zerstörende, Kraft; und daher die hin3T

) Buch dos Kabus, p. 334 f. ) Sehr richtig sagte darum Themistokles zu dem König von Persien, die Rede sei wie ein bunter Teppich, der, auseinandergelegt, das eingewirkte Gebilde klar darstelle, in den Gedanken dagegen liege alles wie eingewickelt. F. Bacon, Serm. fid. 27, 1184. 3 ») Buch des Kabus, p. 383, 387, 390, 392. «) G. Hamann, Werke I, 449. 4i ) Quintilianus II, 2, 8: viva vox alit plenius. L'linius, Epist. II, 3: multo magis ut vulgo dicitur viva vox afficit. nain licet acriora sint quae legas, altius tarnen in animo sedent quae pronuntiatio, vultus, habitus, gcstus etiam dicentis affigit. Hieronymus, Epist. 53, 2: habet nescio quid latentis energiae viva vox, et in aures discipuli de auctoris ore transfusa fortius sonat. 38

reißende Gewalt einer naturkräftigen Beredsamkeit, worin der im Wort projizierte Gedanke, feuerflüssig wie er geboren ist, in die verwandte Seele des Hörers einschlägt. Die Sprachen der Völker sind die unmittelbarste und am meisten spezifische Offenbarung ihres Geistes, ihr Geist selbst in seinem sprachlichen Anderssein das ideale Bild der verkörperten Volksgeister42); sie entstehen, wachsen und sterben ab mit den Völkern, die sie sprechen. Sie sind das dauerhafteste Material, in welches die Völker die Substanz ihres geistigen Lebens niederlegen. Die Worte, in welchen ein großer Dichter seine eigenen und seines Volkes Ideen verkörpert hat, leben wie die Sprüche der Sibylla Jahrtausende hindurch und werden in jedem empfänglichen Leser werktätig wiedergeboren43); weshalb es auch kein besseres Mittel gibt, in das innerste Herz eines Volkes einzudringen, seine Herzensgeheimnisse zu erforschen, als das Studium seiner Sprache und der in seiner Sprache ausgeprägten Geisteswerke. Die zweite der oben präzisierten Fragen, wie sich das Wort zu der Sache verhalte, die es bezeichnet, und welches die ursprüngliche Bedeutung eines Wortes sei, ist bisher nicht vollkommen gelöst. Da der Boden, aus dem die Gedanken aufsprossen, wie die Feldblumen auf der Wiese, die substantielle Gefühlswelt ist; da der menschliche Geist vor allem die Eindrücke der durch die Sinne empfundenen Welt in sich aufnimmt und durch organische Assimilation die reale Welt der Dinge in eine ideale Welt der Gedanken umschafft 44 ); da die Worteursprünglich im Feuer des Herzens geboren werden, so nimmt man an, daß die menschliche Sprache aus Gefühlslauten entstanden sei, daß die ersten Worte als Naturprodukte, in einer ursprünglichen Syngenesis von Natureindruck und Naturlaut entstanden und nichts anderes seien als Tonbilder der Dinge. WTie das Kind durch Lust und Schmerz zum Schreien, so werde es später auch durch andere Eindrücke der es umgebenden Welt angetrieben, ä2

) F. Gräfe, Über Sprachbildung und Sprachvergleichung. Petersburg 1837, p. 92 und 94. A. Schopenhauer, Parerga I I , 460. 14 ) K . F. Becker, Organismus der Sprache, § 1, 25, 16S. Bei C. Weinholtz, p. 14/15.

96

diese Sinneseindrücke

durch Laute,

und z w a r d u r c h

kulierte L a u t e oder W o r t e auszudrücken 4 5 ).

arti-

Die menschliche

S p r a c h e h ä n g e d e m n a c h ursprünglich m i t der substantiellen T o n s p r a c h e der N a t u r und der Musik z u s a m m e n und

sei

a u s dieser h e r v o r g e g a n g e n ;

wie das n a t ü r l i c h e T a l e n t

der

Völker,

die

uerbis

in

ihrer

Kindheit

Gegenstände

efficacissimis

zu bezeichnen, u n d die zahlreichen o n o m a t o p o e t i s c h e n

W ö r t e r in allen S p r a c h e n k l a r dokumentieren 4 6 ). schiedenheit

der

menschlichen

Sprachen

aber

Die V e r -

habe

ihren

Grund teils darin, daß die angeborenen und j e n a c h L a n d , L u f t , Lebensweise, K l i m a a n g e n o m m e n e n Geisteseigentümlich45) C. Weinholtz, Zur Erklärung des Ursprunges und der Bedeutung des Wortes, p. 25, 49, 53, und was das Wesentliche betrifft, schon die alten Forscher Pythagoras, Heraklitus, Hippokrates, Piaton, die Epikureer und Stoiker (vgl. Lersch, Die Sprachphilosophie der Alten I , 11 f., 25 ff., 30 ff.) und unter den Römern Nigidius Figulus bei Cellius X , 4 : nomina verbaque non posita fortuito, sed quadam vi et ratione naturae facta esse, naturalia magis quam arbitraria; und Varro, De ling. Lat. VI, 3, 73: natura dux fuit ad vocabula imponenda homini. J a , auch Aristoteles, Pol. 1253, A, 10 ff. macht die richtige Bemerkung, daß die Stimme der Tiere ein Zeichen dessen sei, was ihnen schmerzhaft und angenehm ist; der menschlichen Sprache aber sei es eigentümlich, auch das Schädliche und Nützliche, das Gerechte und Ungerechte, das Gute und Böse auszudrücken. 4e ) Vgl. Piaton, Cratylus 438, A/D, und die zahlreichen von Lersch, Sprachphilosophie der Alten I I I , 79 ff. angeführten Zeugnisse. Eine große Zahl solcher onomatopoetischer Tiernamen geben Varro, De ling. Lat. V, 75 und 96: upupa, cuculus (xöxxui; xoxxu^si, der Kuckuck kuckuckt, Hesiodus, Op. 486) corvus, hirundo, ulula, bubo, pavo, anser, gallina, columba; V, 105: puls appellata vel quod ita Graeci (•TröXTOi;), vel ab eo quod ita sonot quom aquae ferventi insipitur (von dem Auf wallen, wenn heißes Wasser zugegossen wird); Charisius I I , 2, 10: Stridor, clangor, hinnitus, ululatus, fremitus, mugitus (fii'ixco, [iuxuo[i.ai, mugire, muhon: I I . 5, 749; Hesiodus, Op. 508); Paulus, Exc. ex Festo 34, 5 : bilbit factum a similtudino sonitus qui fit in vase (von dem Plitschen der Flüssigkeit im Gefäß). Vgl. die Worte yotpiiaatu vom Schärfen des Eisens, der Sichel und der Säge. Hesiodus, Op. 387: /apaaaojxevoio oiSi'ipou; xsXapi'^eiv rieseln, xa^XaCciv sprudeln, (joOeco, yoöui^o rauschen, plätschern, X £l ' ,w gießen, /.y«, [¿i'-Xyco muleeo schmelzen. Ebendahin gehört auch das beim Rudern gesungene ÜJÖTT (!)Ö7t: Schol. Aristophanes Av. 1395 Suidas v. (OÖTT, p. 1262. Auch W. Humboldt, Werke VI, 80, nimmt darum mit Recht an, daß gewiß ein Zusammenhang stattfinde zwischen dem Laut und dessen Bedeutung, obgleich wir die Beschaffenheit dieses Zusammenhanges selten vollständig angeben, oft nur ahnen, noch öfter gar nicht mehr erraten können.

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keiten der Völker verschiedene seien47); teils darin, daß die verschiedenen Völker die einzelnen Dinge von verschiedenen Seiten aufgefaßt und eben darum auch verschieden benannt hätten. Der interessanteste Teil dieser Seite der Sprachforschung ist die Etymologie, d. i. die Ableitung der Wörter aus ihren Wurzeln und die Erforschung ihrer ursprünglichen Bedeutung. Diese Wissenschaft sucht zu zeigen, daß die Wörter nicht ein willkürliches und zufälliges, sondern das naturnotwendige und vernünftige Gewand der Begriffe sind. Sie erforscht deshalb mit Hilfe der Lautgesetze und der Sprachverwandtschaft die ursprüngliche Form der Wörter, weist den Zusammenhang dieser Form mit dem Begriff nach und zeigt, wie mit den Wortformen auch die Begriffe gewachsen sind und sich verzweigt haben. Wie die Geologie uns die Beschaffenheit der Erde kennen lehrt vor der Existenz des Menschen und die ältesten Formen der Pflanzen und Tiere, so die Etymologie die ältesten Formen der' menschlichen Rede, der Wörter und ihrer Bedeutung, und das darin sich aussprechende, ursprüngliche Leben des Menschen, die Urgeschichte der Völker, ihren ältesten Gedankenkreis, ihre frühesten Lebensbeschäftigungen, die ursprüngliche Genesis der Begriffe, die älteste Naturphilosophie der Völker und ihre älteste Religion. Und wie wir jetzt schon, von der Geologie belehrt, sagen können, wie die Erde ausgesehen habe, ehe der Mcnsch da war, so werden wir durch die vergleichende Sprachforschung bald wissen, wie die ursprüngliche Menschheit gelebt, gefühlt, gedacht habe, Jahrhunderte, Jahrtausende früher, als die ältesten Schriften, die wir besitzen, uns dieses zu sagen vermögen. Ich will einige Beispiele anführen. Das deutsche Wort Mensch, althochdeutsch mennisco, ist genau das indische Wort manushya, abgeleitet von dem sanskritischen Verbum man = denken, und wurzelverwandt mit dem griechischen ¡ABVO; und dem lateinischen mens, bezeichnet also das denkende Wesen. Der Stammvater der Deutschen, Mannus, der Sohn des Gottes Tuisko, entspricht ganz dem indischen Manus, dem Sohn des Brahma, so daß 17 ) Die Semitin singt u n d spricht aus einem anderen Grund ton als die «Taphetin, und diese, wieder anders als die Chamitin, sowohl seelisch als körperlich: Münchener Gel. Anz. 1837, Nr. 179, p. 407.

98

also das Wort Mensch seiner ersten Wurzel nach soviel heißt als der unter allen Erdengeschöpfen vorzugsweise mit Geist Begabte, der Denkende48). Im Griechischen dagegen heißt der Mensch av&p&>7to?. Dieses Wort soll nach Piaton ein aus drei Wörtern zusammengesetztes sein, aus oivw oder avcc, (19-pstv und coi|;, ¿716;, und würde demnach, wie man annimmt, den mit dem Antlitz Emporschauenden, Aufblickenden bezeichnen, im Gegensatz zu dem Tier, welches vor sich hin zu Boden stiert49). Aber so ansprechend diese Bezeichnung auch wäre, sie leidet sprachlich an großen Schwierigkeiten. Richtiger haben neuere Forscher50) den ersten Teil des Wortes von dv-9-60), ävib)pö die Erde, zusammen, und würde soviel als y^ov.oc, den Erdgebornen, bezeichnen53); eine Etymologie, die mit der hebräischen des Wortes Adam, rote Erde, wohl übereinstimmen würde54). Wahrscheinlicher « ) F . Schlegel, Philosophie der Geschichte I, 207. " ) Piaton, Cratylus 399, C; Cicero, De Leg. I, 9. Es steht aber dieser platonischen Ableitung entgegen, daß aus uvco oder uvd und ¿dpetv schwerlich uv&psiv werden kann; und daß, wenn der Mensch als der Aufblickende hätte bezeichnet werden sollen, dieses sehr leicht und ganz unzweideutig in anderer Weise hätte geschehen können durch (ivwrröi; im Gegensatz zu xoctotoS?, oder durch uvaßXe7n'i;, uvaßXe|i[xo')V, (/.vaöeQxow, avaSpaxr'is und andere. 50 ) Pott, Etymol. Forschungen I, 158. 61 ) Das Wort riv^ptoTtoi; von (iv$7]p68t¡¡ae, xaxöv el tt¡c noXccoq (/.vayxalov. oi'Te yäp [X£T« aoü Suváf/.s-O'a £f]v oi'ít' ávsi'i cjoü.

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bestimmten Gesetzen: die Künste zunächst aus dem religiösen Kultus und die Wissenschaften nach den Künsten, aus derselben Wurzel der individuellen Freiheit des Geistes, welche die treibende Kraft des politischen Lebens ist. Überblickt man nämlich den Entwicklungsgang der Künste im ganzen bei demjenigen Volk, welches zuerst einen vollständigen Kunstbau in Europa hervorgebracht hat, bei den Griechen, so zeigt sich, daß die sechs freien Künste, die drei bildenden, Architektur, Skulptur, Malerei, und die drei redenden, Musik, Poesie, Prosa, innerlich und äußerlich auch in dieser Reihenfolge entstanden und ausgebildet wurden. Man hat der Gottheit, an die man glaubte, zuerst eine Hütte, ein heiliges Haus gebaut, einen Tempel wie ein Weihgeschenk dargebracht; dann in dem Heiligtum ihr Bild, aus Holz geschnitzt, aus Ton gebacken, aus Erz gegossen, aus Marmor gehauen, aufgestellt, als sichtbaren Ausdruck der inneren religiösen Vorstellung; dieses Götterbild dann, je nach seiner Naturbedeutung, teilweise mit dem Schmuck symbolischer Farben bekleidet, damit es klar und hell wie im Glanz der Sonne dastehe; hat dann den stillen religiösen Gefühlen in heiliger Tempelmusik einen lauten Ausdruck gegeben, damit auch sie, wie der Gesang der Lerchen am Morgen und Abend, zum Himmel aufsteigen; hat dann die substantiellen Naturgefühle in den Rhythmus artikulierter Worte, als den adäquaten Ausdruck der poetischen Gedanken vergeistigt; und zuletzt die Phantasiebilder zu Verstandesbegriffen vollendet, dies alles sich zum Bewußtsein gebracht und über dasselbe philosophiert — wie ja auch heute noch, in jeder christlichen Kirche, in dem Bau, den Skulpturen, den Malereien, in der Kirchenmusik, den Kirchenliedern und in der Predigt, die einen historischen Stoff mit philosophischem Geist in oratorischer Form darstellt, alle sechs Künste zu Lob und Preis des höchsten und besten Vaters der Künste in schönem Vereine zusammengefunden werden. J a auch die Philosophie selbst, die freieste und die edelste unter den Wissenschaften 22 ), hat, wo sie zuerst in Europa und spontan aufgetreten ist, nicht regellos, sondern in allen 22) M.ÖV7]

Aristoteles, Met. I, 2, 19: |j-6v?) iXeu&t-pa ouaa AI'TI'I

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EOTIV.

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ihren Gestalten nach einem festen, bestimmten Naturgesetz sich entwickelt, so daß gerade bei ihr, mehr als bei irgendeiner anderen Wissenschaft, ihr Zusammenhang mit dem Totalcharakter des Lebens, aus dem sie geboren ist, klar und unzweideutig, auch heute nach Jahrtausenden noch sich erkennen läßt und eine ebenso einfache als tiefe Wahrheit bestätigt. Wenn wir nämlich den natürlichen Entwicklungsgang eines einzelnen wohlorganisierten Menschen denkend überblicken, so finden wir, daß: Erstens: die körperliche Entwicklung in der Regel früher reift als die geistige, zuerst der Leib, dann die Seele23); Zweitens: daß schon in früher Kindheit durch die Liebe seiner Eltern religiöse Vorstellungen in die Seele des Menschen eingepflanzt werden und daß diese ersten Eindrücke mit seiner Seele zusammenwachsen, so daß er sich nie oder nur sehr schwer völlig frei davon macht; wir finden aber auch Drittens: daß häufig und gerade bei heroischen, energischen Naturen, mit dem reifen Jünglingsalter eine Periode eintritt, in welcher das diskursive Denken des Verstandes mit jenen überlieferten religiösen Ideen in Konflikt gerät, und daß infolgedessen der Versuch gemacht wird, auf eigenen Füßen stehen und die Rätsel der Welt und des Lebens selbständig, d. h. unabhängig von jenen überlieferten religiösen Ideen lösen zu wollen; und wir finden endlich Viertens: diesen inneren geistigen Kampf damit endigen, daß der Einzelne sich entweder völlig lossagt von jenen religiösen Ideen seiner eigenen Jugend und des Volkes, dem er angehört — die Zahl der Menschen, welche diesen Akt der Scheidung wirklich vollbringen, ist viel kleiner als diejenigen glauben, die sich dazu rechnen, und die in der T a t dazu gehören, sind nicht glücklich, denn sie kommen nie über den Zweifel hinaus an allen höchsten Problemen des Lebens; sie sind wie ein Baum, der sich losgerissen hat von seiner Wurzel, und der darum zeitlebens innerlich schwankt und unsicher ist — oder aber es endigt jener Kampf damit, daß das besonnene männliche Denken sich mit jenen über2:(

) Wie dies bekanntlich auch fester Grundsatz der hellenischen Erziehung war: Tcpötepov TOI5 tiS-eaiv i'j TU) Xö-FM 7taiSeuTiov eivai, xat TTEpl TÖ [i.a 7tp6-repov !) nepl TI|V Siavoiav: Aristoteles. Pol. 1338,15,4. 134

lieferten Ideen versöhnt und anerkennt, daß beide, Religion und Philosophie, in letzter Instanz einig sind, indem sie großenteils eines und dasselbe wollen und, nur auf verschiedenen Wegen, auch erreichen. Denn die Philosophie wie die Religion will eine Antwort geben auf jene Fragen, die zuerst und zuletzt alle denkenden Geister beschäftigt haben, auf die Fragen, wie die Welt geworden sei und welche Stellung der Mensch in ihr einnehme, wie er sich zu Gott und zur Natur und wie diese sich zu ihm verhalten? Wie es mit der Freiheit seines Willens stehe, mit dem Wesen und der Natur seiner Seele, mit dem Guten und Bösen und mit dem letzten Schicksal beider? Denn dieses und nichts anderes bildet den Kern aller Religionen und aller Philosophien. Nun, was hier, nach psychologischen Gesetzen entwickelt, an einem einzelnen Menschen sich zeigt, ganz dasselbe zeigt sich auch in dem großen Entwicklungsgang des Völkerlebens, ja der Menschheit selbst, da beide ja nichts anderes sind als der eine ausgewachsene Urmensch. Auch in dem großen Entwicklungsgang des Völkerlebens sehen wir: Erstens: die leibliche Entwicklung früher reifen als die geistige. Die Anfänge des bürgerlichen Lebens gehen den Anfängen des wissenschaftlichen Lebens weit voran; die Völker fangen nicht mit der Wissenschaft an, sondern sie, endigen mit ihr. Zuerst muß das leibliche Dasein wohltuend begründet sein, ehe die geistige Macht sich zu entfalten vermag 24 ); eine kritische Jugend würde, wie Goethe sagt, einem .liingling mit grauen Haaren gleichen. Wir finden Zweitens: schon die ersten kindheitlichen Anfänge des Völkerlebens von religiösen Ideen erfüllt, sei es nun, daß diese von einer höheren Hand, wie die Alten glaubten von den Göttern selbst, dem Volksleben eingepflanzt wurden; oder daß sie, wie ich oben ausgeführt habe, als Trümmer einer früheren untergegangenen Weisheit, wie ein heiliges Erbe von der Vorwelt in die Mitwelt, von der vorgeschichtlichen Zeit in die geschichtliche Zeit herübergekommen sind. 24

) Aristoteles, Met. I, 2, 18: a/sSöv yetp ttuvtcov ünap'/övTOiv tüiv (ivayxaicüv xai npöq yaaTtnvvjv xai Siayoyiiv i") -roiat'i-r/} 9pövY)aii (cpiXoaotpia) ¡ip^aTO i^7]Teia{>ai — und Carus, Über die ungleiche Befähigung der versch. Menschenstämme, p. 96. 1 35

Und wir finden ferner, daß diese religiösen Ideen die Völker durch alle Stadien ihres nationalen Lebens bis zum Erlöschen desselben begleiten 25 ). Wir finden aber auch Drittens: daß wie in dem Lebensgang eines einzelnen Mannes, so auch in dem großen Lebensprozeß des Völkerlebens eine Periode eintritt, in welcher ein allgemein sich geltend machender kritischer Verstand die alten religiösen Überlieferungen anzweifelt und bekämpft, und s t a t t der alten theologischen Auffassung der göttlichen und menschlichen Dinge eine neue selbstgewonnene philosophische Lösung der Rätsel der W e l t und des Lebens versucht. Wie in dem Leben des Einzelnen dieses erste Erwachen des Zweifels an dem Überlieferten in der Regel in die Zeit des reifen Jünglingsalters fällt, in welcher die brausenden Lebensgeister der Jugend alle abgründigen Leidenschaften des menschlichen Herzens aufregen, so ist es auch im Völkerleben. B e i den Griechen fällt dieser Moment der erwachenden Philosophie in die Zeit, in welcher die alten Monarchien untergegangen und an ihrer Stelle volksfreie Republiken aufgekommen waren 2 6 ). Endlich finden wir Viertens: daß auch im großen Ganzen des Völkerlebens jener K a m p f der Philosophie mit der Religion damit endigt, daß sich daraus einerseits ein alles überlieferte zersetzender, an aller menschlichen Erkenntnis verzweifelnder Skeptizismus, andrerseits eine Religionsphilosophie erzeugt, welche darzutun versucht, daß Religion und Philosophie, ungeachtet ihrer formalen Verschiedenheit, doch in allen wesentlichen Momenten miteinander übereinstimmen. Dieses ist, auf den kürzesten Ausdruck gebracht, der subjektiv psychologische und der objektiv historische E n t 25 ) Welches alles sich an den Griechen, Römern, Juden und, mutatis mutandis, auch an den germanischen Völkern leicht exemplifizieren läßt. Vgl. die Schrift über den Untergang des Hellenismus, p. 124 f. 26 ) Vgl. Hegel, Philosophie des Rechtes, p. 20/21: um die Welt zu belehren, wie sie sein sollte, kommt die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht h a t . . . Wenn die Philosophie ihr grau in grau malt, dann ist eine (Jestalt des Lebens alt geworden, und mit grau in grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.

13*)

wicklungsgang der Philosophie in Europa. Die Religion ist ihr Ausgangspunkt, der Zweifel an der Religion ihr Durchgangspunkt, und entweder die subjektive Verzweiflung oder die objektive Versöhnung mit der Religion ist ihr Ende. Und daß dieser Prozeß, im ganzen geschätzt, nicht bloß ein hellenischer sei und ein im Leben der hellenisch gebildeten Völker sich wiederholender, sondern daß das erste Auftreten der Philosophie in Europa mit dem innersten Kern des gesamten menschheitlichen Lebens und Bewußtseins innig zusammenhänge, zeigt sich sehr klar darin, daß die Geburtsstunde der hellenischen Philosophie in merkwürdiger Weise zusammentrifft mit Weltbegebenheiten, die unter ganz verschiedenen weitentlegenen Völkern und Zonen alle ein Ziel verfolgen. Denn es kann unmöglich ein Zufall sein, daß ungefähr gleichzeitig, sechshundert Jahre vor Christus, in Persien Zarathustra, in Indien Gautama-Buddha, in China Konfutse, unter den Juden die Propheten, in Rom der König Nurria und in Hellas die ersten Philosophen, Jonier, Dorier, Eleaten, als die Reformatoren der Volksreligion auftraten 2 7 ); es kann dieses merkwürdige Zusammentreffen nur in der inneren substantiellen Einheit des menschheitlichen Lebens und des Völkerlebens, nur in einer gemeinsamen, alle Völker bewegenden Schwingung des menschheitlichen Gesamtlebens seinen Grund haben, nicht in der besonderen Efferveszenz eines Volksgeistes. Wie es denn gewiß ist, „daß in der Entwicklung der menschlichen Erkenntnis ein selbständiges Leben sei, das nach eigenen, ihm inwohnenden Gesetzen sich hervorbildet und die einzelnen Bearbeiter nur als dienende Organe gebraucht" 28 ). -") Vgl. Roeth, Gcschichte der abendländischen Philosophie, I, 348, lind Gfrörer, Urgeschichte des menschlichen Geschlechtes I, 206 f. 2S

) K. E. v. Baer, Blicke auf die Entwicklung der Wissenschaft, j). 77 und dazu die Anm. p. J18: So wie die Frucht, die der Landmann erntet, immer das doppelte, Resultat seiner Mühe und der Gunst der .Naturverhältnisse ist, so ebenso ist der Gewinn, den man auf dem wissenschaftlichen Felde sammelt, das Resultat nicht nur der tüchtigen Bestrebung, sondern der Zeit und der Verhältnisse, unter denen man arbeitet; und es ist nicht zu leugnen, daß von den schönsten Kränzen des Ruhmes der glänzendste Teil nicht dem Individuum gehört, sondern der Stellung, die es in Raum und Zeit erhalten hat. . . Amerika würde bald entdeckt worden sein, auch wenn Columbus in der Wiege gestorben

137

Das erste Hervortreten freilich jeder neuen geistigen Bewegung ist in Schweigen und Geheimnis gehüllt, und kann, wie der Anfang alles organischen Lebens in seinen letzten Gründen nicht erkannt werden. Denn fast alle großen Entdecker, denen die Wissenschaften ihren Fortschritt verdanken, sind Autodidakten, die wie Himalaja unter den Bergen und Meru unter den Gipfeln der Berge aus dem Herzen der Natur geboren, als Menschen und als Denker groß, einsam, oft als Märtyrer, dastehen in ihrer Zeit, und erst nach dem Tode, als was sie waren erkannt und nach Verdienst gewürdigt werden. wäre. Und p. 120: Ein Umstand, der uns die Selbständigkeit des Ganges der Wissenschaft anschaulich machen kann, ist auch der, daß der Irrtum, wenn er nur gründlich behandelt wird, fast ebenso fördernd ist als das Finden der Wahrheit, denn er erzeugt fortgesetzten Widerspruch. Für die Wissenschaft ist eben nichts zu fürchten, als die Gleichgültigkeit und die Einmischung nicht wissenschaftlicher Elemente.

138

V. DIE

HISTORISCHE

GRÖSSE

Die schönsten und erhebendsten Erscheinungen dieser Art im Leben der Menschheit und der Völker sind die geistigen Heroen derselben, die großen Männer, welche gerade zur rechten Zeit, in den •Entwicklungsperioden des Völkerlebens, da wo eine lange Vergangenheit ihren Abschluß erreicht und eine weite Zukunft sich öffnet, wo das Ende der alten und der Anfang einer neuen Zeit, wo Erlöschen und Neusichentzünden zusammentreffen, wie lichte Göttergestalten oder wie ein Blitz vom Himmel erscheinen 1 ), und als die Träger der neuen, das Leben gestaltenden Ideen, als Gründer und Wiederhersteller der Religionen und der Staaten auftreten; jene Männer, die wie Sprossen aus dem ursprünglichen Lebenskeim ihres Volkes, ja aus dem Herzen der Menschheit selbst geboren, und eben darum mit ursprünglichen, elementarischen Kräften ausgerüstet, nicht bloß für ihre Zeit, sondern auf lange Jahrhunderte hinaus tatkräftig wirken. Wie man es zuweilen in edlen Familien beobachtet hat, daß nacli vielen Generationen in einem späten Iinkel der ursprüngliche Typus seiner Ahnen wiederkehrt, so ist es auch im Leben der Völker, wenn in Zeiten der sinkenden Kraft, wo die Not am höchsten und die Hilfe am nächsten ist, der alternde Stamm des Volkslebens einen frischen Schößling treibt und aus der Wurzel Josse ein neuer Heiland geboren wird. Griechische und römische Schriftsteller erzählen von Bäumen, die, wenn sie alt geworden seien, sich verjüngen, indem sie einen frischen Schoß aus der Wurzel hervortreiben 2 ), ») C. F. Burdach, Physiologie I, 563 und 565, und Th. Carlyle, Über Helden und Heldenverehrung, j>. 137. 2 ) Theophrastus, Hist. plant. IV, 13, 3, und Plinius XVI, 44, 238 und 241: inarescunt rursusque adolescunt, seneaeunt quidem sed e radicibus repullulant.

1.-J9

ja von Bäumen, die bereits halb verdorrt und geköpft wieder frisch zu grünen beginnen. Als während der Perserkriege Xerxes Athen erobert und mit den übrigen Tempeln auf der Burg auch das Haus des Erechtheus3), und in demselben den heiligen Ölbaum, die Gabe der Athene, zerstört und verbrannt hatte, da fanden athenische Männer, die Xerxes selbst zwei Tage nach dem Brand hinaufgeschickt hatte, um dort zu opfern, aus dem halbverbrannten untersten Stamm einen neuen Sprossen aufgekeimt, zum Zeichen, daß auch die Stadt sich schnell wieder heben und statt der alten neue Sprossen treiben werde4). Gleicherweise soll zur Zeit der kimbrischen Kriege im Haine der Juno zu Nuceria eine Ulme, der man, weil sie auf den Altar gefallen war, den Wipfel abgehauen hatte, sich von selbst wieder aufgerichtet und wie früher fortgegrünt haben, zum guten Vorzeichen, daß von nun an auch die geschwächte Majestät des römischen Volkes wieder auferstehen werde5). Und Ähnliches erzählt uns ja, in apokalyptische Bilder gehüllt und in vielen Ciestaltcn eines Sinnes, die schönste unter den deutschen Sagen: daß, wenn der Kaiser, der im Kyffhäuser oder im Untersberg schlafe und zuweilen als Waller unter frommen Bauern sich sehen lasse, Karl der Große oder Friedrich der Holbart, wiedererwache und seinen Schild an einen dürren Ast des Birnbaumes auf dem Walserfeld hänge6), so werde der Baum, der, schon dreimal umgehauen, immer wieder durch Gottes Kraft aus der Wurzel voll aufgewachsen, nochmals grünen und Frucht tragen7); der Kaiser aber mit 3 ) 11. 2, 546. Od. 7, 77. *) Herodotus VIII, 55. Dionysius Hai. XI V, 4. Pausanias I, 27, 2. •r') Plinius XVI, 32, 132. Vgl. Theophrastus, Hist, plant. IV, 16, 2 und De causis plant. V, 4, 7. 6 ) Der Baum ist uralt und wahrscheinlich ein Druidenbaum, demjenigen ähnlich, der, ebenfalls ein Birnbaum, auf dem Druidenanger bei Rudertshofen steht, und den F. A. Mayer, Über ein paar Druidenbäume in Bayern, Eichstätt 1826, beschrieben hat. ') Welchen Sinn dieser oft vorkommende Zug in alten Sagen habe, gellt sehr klar aus folgender Stelle in Thietmars von Merseburg Chronik VII, 54 hervor: „An der Grenze von Bayern und Mähren wurde im Jahre 1017 ein fremder Wandersmann, Coloman, weil man ihn für einen Kundschafter hielt, von den Eingebornen festgenommen und, obgleich er seine Unschuld beteuerte und versicherte, er wandere als ein armer Bruder Christi durch die Welt, dennoch an einem schon

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seinen Genossen in einer langen, blutigen Schlacht, während welcher der B a u m i m m e r mächtiger wachse, seine die B ö s e n u n d Ungläubigen,

Feinde,

e r s c h l a g e n u n d d a s gute

Jahr

wiederbringen8). G a n z s o s i n d d i e groiJen M ä n n e r i m L e b e n d e r V ö l k e r , Ka&FAOV TOÜ 7tdXai v s « Tpoipr')9), d e s a l t e n K a d m o s n e u e K i n der, n e u e S p r o s s e n a u s d e r t i e f s t e n W u r z e l d e s n a t i o n a l e n L e b e n s , ein S t ü c k v o n der bis dahin n o c h n i c h t e n t f a l t e t e n W e s e n h e i t ihres Volkes, ursprüngliche, kernhafte, aufrichtige Naturen10). J e d e r der ursprünglichen Stammväter der Völker h a t t e einen Teil der noch nicht entwickelten Urkraft d e s e r s t e n M e n s c h e n , A d a m s , i n s i c h ; alle, d i e a u s d e m S t a m m v a t e r durch Z e u g u n g hervorgehen, sind nichts anderes als die weitere E n t w i c k l u n g der I n d i v i d u a l i t ä t des S t a m m lange verdorrten Baume aufgehenkt. Der Mann aber war unschuldig, denn der Baurn wurde wieder grün u n d zeigte, d a ß dies ein Märtyrer Christi w a r . " Das Aufhängen des Schildes ist ein Zeichen des Sieges, wie Ezech. 27, 10, u n d in der Chronik Nestors I I ] , 290: Oleg hing zum Zeichen seines Sieges seinen Schild am Tore der Stadt auf (907 nach Christus); zu welcher Stelle Schlözer mehrere Parallelen gesammelt h a t . 8 ) Siehe die Zeugnisse in W. Grimm, Deutsche Sagen, p. 30, in Massmann, Baierische Sagen T, 60 ff., u n d in desselben Verfassers fleißiger Abhandlung, Kaiser Friedrich im Kiffhäuser, Quedlinburg 1850. Die politische D e u t u n g dieser Sage, d a ß die K r a f t Karls des Großen wiedererwachen, seine Feinde alle, „die vielköpfige falsche B r u t , die seine Krone ihm gestohlen und seinen Mantel zerrissen u n d besudelt h a t " , erschlagen u n d des Reiches alte Hoheit endlich wieder aufrichten solle, ist leider nur unserer Sehnsucht T r a u m , nicht der alten Sage Sinn; denn als diese gewachsen ist, nach Friedrich I . Tode, s t a n d noch das Reich in ungeschwächtcr K r a f t u n d m a n brauchte nicht erst einen Rächer aus den Knochen des Gestorbenen zu erwarten. Der Sinn der Sage geht vielmehr, wie J . Grimm, Deutsche Mythologie, j>. 910 ff., u n d C. Simrock, Deutsche Mythologie ], 178 ff., überzeugend nachgewiesen haben, weit über das politische Leben hinaus u n d bezieht sich, Heidnisches u n d Christliches mischend, auf das E n d e der irdischen Dinge u n d einen neuen Wiederbeginn in dem folgenden Weltjahre, auf die letzte große Weltschlacht u n d den danach eintretenden Weltfrieden. Vgl. meine Studien p. 38 ff. Ganz ähnliche Sagen von einer solchen Wcltsehlacht finden sich in der Schweiz u n d knüpfen sich dort an einen Dornstrauch auf dem Birrfelde im Kanton Aargau und au eine Linde auf dem .Emmenfelde im K a n t o n Luxem. Vgl. E. L. Kochholz, Schweizersagen I, 60, 61, 80. 9

) Sophokles, Oed. Rex. 1. ) Th. Carlvle, Über Helden und Helden Verehrung, p. 70 und 81.

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vaters, und diese Entwicklung dauert fort, solange als noch ein entwicklungsfähiger Keim in ihm vorhanden ist; erst wenn der ganze Fond dieser ursprünglichen Individualität erschöpft ist, erlischt das Volk; ganz so wie ja auch Tiergeschlechter und Pflanzenformen aussterben, wenn ihre Zeit vorüber ist, d. h. wenn die ganze Fülle ihres ursprünglichen Lebenskeimes vollständig entwickelt und erschöpft ist. Denn eine unendliche, unerschöpfliche Lebenskraft besitzt kein geschaffenes Wesen, da alles, was einen Anfang hat, notwendig auch ein Ende hat. Ilm aber das Wesen dieser geistigen Heroen der Menschheit und der Völker zu begreifen, muß man sich vor allem die ursprüngliche Natur des Menschen und seine Stellung im Zusammenhang der Schöpfung vergegenwärtigen. Der Mensch, die lebendige Synthese von Leib und Seele, Geist und Natur, der Erde und des Himmels Sohn und zweier Welten Bürger, ist das größte Kunstwerk Gottes, ein viel höheres als die Sonne, die Erde und die ganze Natur; denn es ist wie der ideale Anfang auch das reale Ende der Schöpfung Gottes, ein cpuröv OVY. ¿MYSTOV