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German Pages 232 [242] Year 2013
Claudia Horst
Marc Aurel Philosophie und politische Macht zur Zeit der Zweiten Sophistik
Alte Geschichte Franz Steiner Verlag
Historia – Einzelschriften 225
Claudia Horst Marc Aurel
historia
Zeitschrift für Alte Geschichte | Revue d’histoire ancienne |
Journal of Ancient History | Rivista di storia antica
einzelschriften
Herausgegeben von Kai Brodersen, Erfurt |
Mortimer Chambers, Los Angeles | Martin Jehne, Dresden | François Paschoud, Genève | Aloys Winterling, Berlin Band 225
Claudia Horst
Marc Aurel Philosophie und politische Macht zur Zeit der Zweiten Sophistik
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Fragment einer Bronzebüste von Marc Aurel, etwa 170 n. Chr. Paris, Musée du Louvre © Marie-Lan Nguyen, 2007
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10280-3
„Notre personnalité sociale est une création de la pensée des autres.“ (Proust, À la recherche du temps perdu)
καὶ μή, ὅτι ἀπήλπισας διαλεκτικὸς καὶ φυσικὸς ἔσεσθαι, διὰ τοῦτο ἀπογνῷς καὶ ἐλεύθερος καὶ αἰδήμων καὶ κοινωνικὸς καὶ εὐπειθὴς θεῷ. (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen)
VORWORT Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2008 vom Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bremen angenommen wurde. Die Dissertation greift die Frage, inwieweit es Marc Aurel gelang, Philosophie und Politik miteinander zu vereinbaren, aus der Perspektive der modernen Kulturwissenschaft erneut auf. Mit diesem methodischen Zugang war es möglich, zwischen der senatsfreundlichen Politik und der Philosophie Marc Aurels strukturelle Gemeinsamkeiten darzustellen und die Philosophie als ein zentrales Medium der politischen Integration sichtbar zu machen. Es ist mir eine besondere Freude, mich anlässlich der Veröffentlichung des Buches bei allen denen bedanken zu dürfen, die an der Entstehung dieses Buches mitgewirkt haben. Mein größter Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Tassilo Schmitt, der mir durch seine vorbildliche Betreuung der Arbeit Voraussetzungen verschafft hat, ohne die das vorliegende Buch nicht entstanden wäre. Dafür, aber auch für das mir entgegengebrachte Vertrauen, möchte ich ihm an dieser Stelle herzlich danken. Prof. Dr. Stefan Rebenich, der bereit war, das Zweitgutachten zu übernehmen, danke ich für seine wohlwollende Unterstützung und Gesprächsbereitschaft. Prof. Dr. Aloys Winterling, der die Arbeit mit angeregt und zur Veröffentlichung in der Reihe „Historia-Einzelschriften“ vorgeschlagen hat, danke ich für die kritische Durchsicht des Manuskripts und für seinen fachlichen Rat. Ihm und den Herausgebern der „Historia-Einzelschriften“ danke ich für die hervorragende Betreuung und Aufnahme meiner Arbeit in ihre Reihe. Insbesondere möchte ich mich an dieser Stelle bei denen bedanken, die mir die Gelegenheit gegeben haben, das Konzept meiner Arbeit in Kolloquien vorzustellen. Zunächst gilt mein Dank Prof. Dr. Winfried Schmitz und Prof. Dr. Mischa Meier, die mich vor allem in der Entstehungsphase dieser Arbeit unterstützt und ermutigt haben. Für Kritik und weiterführende Hinweise danke ich Prof. Dr. Tanja S. Scheer, Prof. Dr. Jürgen Deininger, Prof. Dr. Helmut Halfmann und Prof. Dr. Burckhardt Meißner. Ein besonderer Gewinn war für mich die Einladung zu einem Vortrag von Prof. Dr. Aleida Assmann, die für ein Jahr meine Mentorin war und an entscheidender Stelle meine theoretischen Überlegungen zu dieser Arbeit vorangetrieben hat. In Bremen waren die Gespräche mit Prof. Dr. Hans Kloft stets eine große Bereicherung, dem ich für seine Anteilnahme danke. Mein herzlicher Dank gilt Moritz Böhme, Hanns-Martin Rüter und Dr. Jan Timmer, die das Manuskript mit größter Sorgfalt durchgesehen haben. Gewidmet sei das Buch meinem Vater, der mein Studium stets in jeglicher Hinsicht unterstützt hat.
INHALTSVERZEICHNIS I. II.
Einleitung .................................................................................................... 11 Forschung .................................................................................................... 18
1. 1.1. 2. 2.1. 2.2.
Dyarchie oder Von der Labilität kaiserzeitlicher Herrschaftsstrukturen .... 18 Exkurs: Akzeptanzrituale ............................................................................ 27 Probleme und Aporien der Forschung ........................................................ 33 Philosophie und Kaisertum – Ein strukturgeschichtliches Problem ........... 34 Marc Aurel und die Philosophie – Zwischen Idealismus und Machtpolitik ...................................................... 36 3. Kulturgeschichte des Politischen ................................................................ 40 3.1. Die Zweite Sophistik als hybride Kultur .................................................... 45 III.
Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht ....... 50
1. 2. 2.1. 2.2. 2.3.
Hypochondrie und Gesellschaft – Philosophie als Medizin ........................ 50 Oikeiosis – Rückzug oder Aneignung ......................................................... 56 Stoa und Politik .......................................................................................... 73 Zum Begriff des ‚adiaphoron‘ in der stoischen Philosophie ...................... 75 Politik als ‚adiaphoron‘ .............................................................................. 79
3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.
Die Selbstbetrachtungen Marc Aurels ........................................................ 83 Der erste Topos: Urteilen oder Entscheiden ............................................... 86 Der zweite Topos: Außenwelt und Kosmologie ......................................... 89 Der dritte Topos: Die Anderen .................................................................... 95 Formale Analyse der Selbstbetrachtungen ................................................. 98 Vita activa ................................................................................................. 103
IV.
Soziale und politische Funktionen der Paideia ......................................... 109
1. 1.1. 1.2. 2.
Paideia – Bildung und Gesellschaft .......................................................... 109 Formen und Orte gesellschaftlicher Distinktion ....................................... 114 Aufstiegschancen im Medium der Paideia ............................................... 121 Macht und Bildung am Kaiserhof ............................................................ 124
V.
Politische Theorie der Zweiten Sophistik – Über die Wiederaufnahme eines klassischen Herrscherideals .................. 139
1. 2.
Gegenwärtige Vergangenheit .................................................................... 139 Tyrannis- und Demokratiediskurs ............................................................ 142
10 3. 4. 5. 6. 7.
Inhaltsverzeichnis
Dion Chrysostomos – Hierarchische und reziproke Herrschaftsstrukturen ............................................................................... 149 Plutarch – Macht zwischen Zentrum und Peripherie ............................... 154 Aelius Aristides – Kritik und affirmatives Lob ........................................ 158 Die Vita Apollonii des Philostrat – Eine klassische Verfassungsdebatte und die Begründung einer neuen Herrschaftsform ...................... 164 Zusammenfassung .................................................................................... 169
VI.
Marc Aurel und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Zweiten Sophistik ............................................................................... 171
1. 2. 2.1. 2.2. 3. 4. 5.
Marc Aurel – Der Philosoph auf dem Kaiserthron ................................... 171 Herausforderungen prosenatorischer Politik ............................................ 175 Der Prozess gegen Herodes Atticus .......................................................... 175 Der Aufstand des Avidius Cassius ............................................................ 182 Marc Aurel und die Paideia ...................................................................... 189 Der Kaiserhof – Symbol einer neuen Herrschaftsform ............................ 195 Die Nachwelt und die Idealisierung eines Herrschers .............................. 199
VII. Schluss – Macht und Vertrauen ................................................................ 203 VIII. Literaturverzeichnis ................................................................................... 206 IX.
Register ...................................................................................................... 218
I. EINLEITUNG Ὅρα, μὴ ἀποκαισαρωθῇς, μὴ βαφῇς· γίνεται γάρ. […] ἀγώνισαι, ἵνα τοιοῦτος συμμείνῃς, οἷόν σε ἠθέλησε ποιῆσαι φιλοσοφία. αἰδοῦ θεούς, σῷξε ἀνθρώπους.1 Marc Aurel soll seine Selbstbetrachtungen nicht in Rom oder an einem anderen Ort in Stille und Zurückgezogenheit verfasst haben, sondern während des Krieges gegen die Markomannen und Quaden am Gran. Vermutlich begann er seine Aufzeichnungen im Jahr 168 n. Chr.2 Somit waren bereits sieben Jahre seiner Herrschaft vergangen, als Marc Aurel sich ermahnte, nicht zu „verkaisern“, sondern so zu bleiben, wie die Philosophie es von ihm erwartete. Marc Aurel distanzierte sich jedoch nicht nur von der Rolle des Kaisers, sondern auch vom Hof, von der Institution also, die seine Herrschaft als Kaiser repräsentierte. Der Grund, weshalb er das höfische Leben so skeptisch betrachtete, war ein in seinen Augen unauflösbarer Widerspruch zwischen den am Kaiserhof praktizierten Lebensformen und dem philosophischen βίος, für den er sich entschieden hatte.3 Dies verdeutlicht ein Vergleich, in dem er die Philosophie als Mutter, den Hof hingegen als Stiefmutter bezeichnet. Εἰ μητρυιάν τε ἅμα εἶχες καὶ μητέρα, ἐκείνην ἂν ἐθεράπευες καὶ ὅμως ἡ ἐπάνοδός σοι πρὸς τὴν μητέρα συνεχὴς ἐγίνετο. τουτό σοι νῦν ἐστιν ἡ αὐλὴ καὶ ἡ φιλοσοφία·4 Die Selbstbetrachtungen bleiben jedoch nicht bei kritischen Bemerkungen über den Kaiserhof stehen, wie das folgende Argument belegt, mit dem sich Marc Aurel von dem Gedanken der Unvereinbarkeit beider Lebensformen wieder trennt. Er versucht sich vielmehr davon zu überzeugen, dass die Diskrepanzen zwischen dem höfischen und dem philosophischen Leben aufgehoben werden können und es möglich sein müsse, die Philosophie mit dem höfischen Leben zu arrangieren: […] ὅπου ζῆν ἐστιν, ἐκεῖ καὶ εὖ ζῆν· ἐν αὐλῇ δὲ ζῆν ἐστιν· ἔστιν ἄρα καὶ εὖ ζῆν ἐν αὐλῇ.5 Die Integration der Philosophie in das höfische Leben war für Marc Aurel ein zentraler Gedanke. Dies wird schließlich daran erkennbar, dass im Unterschied 1
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M. Aur. ad se ipsum 6,30,1–3: „Achte darauf, daß du dich nicht zum Cäsar machen und entsprechend färben läßt. Denn das kann geschehen. […] Kämpfe darum, daß du so bleibst, wie dich die Philosophie haben wollte. Achte die Götter, rette die Menschen.“ (Die Zitation der Selbstbetrachtungen folgt der Übersetzung von Rainer Nickel.) M. Aur. ad se ipsum 1,17,23. Vgl. dazu den Kommentar von Rainer Nickel: Marc Aurel, Wege zu sich selbst, gr.-dt., hg. und übers. v. Rainer Nickel, Düsseldorf, Zürich 1990, 379 f. Vgl. Aloys Winterling, Aula Caesaris. Studien zur Institutionalisierung des römischen Kaiserhofes in der Zeit von Augustus bis Commodus (31 v. Chr.-192 n. Chr.), München 1999, 1 f. M. Aur. ad se ipsum 6,12,1–2: „Wenn du gleichzeitig eine Stiefmutter und eine Mutter hättest, dann würdest du jener zwar mit Achtung begegnen, aber trotzdem würde dein Weg immer wieder zu deiner Mutter zurückführen. Das ist für dich jetzt einerseits der Kaiserhof, andererseits die Philosophie.“ M. Aur. ad se ipsum 5,16,2: „Wo es möglich ist zu leben, da kann man auch gut leben. Am Kaiserhof kann man leben. Also kann man am Kaiserhof auch gut leben.“
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I. Einleitung
zu den übrigen Paragraphen nur an dieser Stelle von einem den Anforderungen der formalen Logik entsprechenden Argument Gebrauch gemacht wird. Obwohl die Distanzierung vom Kaiserhof sowie der von Marc Aurel geäußerte Wunsch, die Philosophie in das höfische Leben integrieren zu wollen, zunächst befremdlich erscheinen, ist zu erkennen, dass hiermit nicht eine Eigenart Marc Aurels, sondern eine herrschaftspolitische Notwendigkeit verbunden war. In seinen Selbstbetrachtungen erklärt Marc Aurel, dass die Rolle des Philosophen geeigneter sei als die Rolle des Caesar, um diejenige Akzeptanz, die er als Herrscher brauchte, herstellen zu können. ὧδε πολλάκις ἐπάνιθι καὶ προσαναπαύου ταύτῃ, δι᾿ ἣν καὶ τὰ ἐκεῖ σοι ἀνεκτὰ φαίνεται καὶ σὺ ἐν αὐτοῖς ἀνεκτός.6 Als „erträglicher“ princeps wollte Marc Aurel vor allem von der Aristokratie wahrgenommen werden, auf deren Akzeptanz er nicht verzichten konnte, wie die Untersuchungen zeigen werden.7 Die gebildeten Oberschichten des zweiten Jahrhunderts, die von einem Kaiser mittlerweile mehr als nur eine Anknüpfung an republikanische Traditionen erwarteten, setzten neben das Bild des civilis princeps das Bild des Philosophenkaisers. Während die Vertreter der Paideia das Bild des Philosophenkaisers verwendet haben, um konkrete Erwartungen an den Kaiser zu richten, bildete die Figur der Tyrannis ein geeignetes Medium für die Äußerung von Kritik. Immer wieder hat die Aristokratie die Missachtung ihrer Interessen zum Anlass genommen, um den Hof sowie den dort betriebenen Aufwand zu bemängeln und den Kaiser mit dem Vorwurf der Tyrannis zu konfrontieren. Es war letztlich diese Kritik, die Marc Aurel aufgriff, um sich von denjenigen Kaisern zu distanzieren, die sich offen über die Interessen der Aristokratie hinwegsetzten. Die Anknüpfung an die aristokratische Hofkritik in den Selbstbetrachtungen zeigt, dass diese Form der Kritik auch im zweiten Jahrhundert, als sich der Kaiserhof bereits zu einer Größe sui generis entwickelt hatte, noch fortbestand.8 Hier wird deutlich, dass die Hofkritik zugleich ein allgemeines, aus den Beziehungen zwischen Kaiser und Aristokratie resultierendes strukturelles Merkmal berührt. Wie Aloys Winterling mit einem Rekurs auf die Dyarchiethese Theodor Mommsens gezeigt hat, konnte die traditionelle, durch dignitas sich konstituierende aristokratische Rangordnung der Gesellschaft durch die neue höfische Hierarchie, die durch die Vergabe kaiserlicher Gunst geschaffen wurde, nicht abgelöst werden. Stattdessen bestanden beide Ordnungen nebeneinander fort, sodass Konkurrenz und Rivalität zwischen Kaiser und Aristokratie sowie ein hohes Maß an Labilität wesentliche Strukturmerkmale der gesellschaftlichen Ordnung blieben.9 Die zahlreichen Verschwörungen im ersten Jahrhundert und die unnatürlichen Tode der Kaiser, die sich über aristokratische Interessen hinwegset6 7 8 9
M. Aur. ad se ipsum 6,12,2: „Deshalb kehre möglichst oft zu dieser (sc. zur Philosophie) zurück und schöpfe neue Kraft aus ihr, wodurch dir die Dinge dort (sc. am Hof) erträglich erscheinen und du dort erträglich bist.“ Vgl. dazu auch S. 152 f. sowie Anm. 68 und S. 201. Vgl. Winterling, Aula Caesaris, 76 ff., 47 ff. Aloys Winterling, ‚Staat‘, ‚Gesellschaft‘ und politische Integration in der römischen Kaiserzeit, in: Klio 83, 2001.1, 93–112, 106 ff.; ders., Dyarchie in der römischen Kaiserzeit. Vorschlag zur Wiederaufnahme der Diskussion, in: Wilfried Nippel, Bernd Seidensticker (Hg.), Theodor Mommsens langer Schatten. Das römische Staatsrecht als bleibende Herausforderung für die Forschung, Hildesheim, Zürich, New York 2005, 177–198.
I. Einleitung
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zten und deshalb aus der memoria der Römer verbannt wurden, verdeutlichen dies. Herodian beschreibt zudem eine fast unüberschaubare Zahl von Unruhen und Gefahren, die eine Verunsicherung der sozialen und politischen Strukturen bis auf die Zeit Marc Aurels bewirkten: εἰ γοῦν τις παραβάλοι πάντα τὸν ἀπὸ τοῦ Σεβαστοῦ χρόνον, ἐξ οὗπερ ἡ Ῥωμαίων δυναστεία μετέπεσεν ἐς μοναρχίαν, οὐκ ἂν εὕροι ἐν ἔτεσι περί που διακοσίοις μέχρι τῶν Μάρκου καιρῶν οὔτε βασιλειῶν οὕτως ἐπαλλήλους διαδοχὰς οὔτε πολέμων ἐμφυλίων τε καὶ ξένων τύχας ποικίλας ἐθνῶν τε κινήσεις καὶ πόλεων ἁλώσεις τῶν τε ἐν τῇ ἡμεδαπῇ καὶ ἐν πολλοῖς βαρβάροις, γῆς τε σεισμοῦς καὶ ἀέρων φθορὰς τύραννων τε καὶ βασιλέων βίους παραδόξους πρότερον ἢ σπανίως ἢ μηδ᾿ ὅλως μνημονευθέντας.10
Der konkurrierenden Interessenlage zwischen Kaiser und Aristokratie war sich Marc Aurel durchaus bewusst, wie gleich das erste Buch seiner Selbstbetrachtungen dokumentiert, in dem er sich erinnert, […] καὶ ὅτι ὡς ἐπίπαν οἱ καλούμενοι οὗτοι παρ᾿ ἡμῖν εὐπατρίδαι ἀστοργότεροί πως εἰσίν.11 Bemerkenswert ist, dass die Herrschaft Marc Aurels, die Herodian als Ideal und Vorbild späterer Kaiser bestimmt, trotz widriger äußerer Umstände äußerst stabil war. Außer der Avidius Cassius-Affäre gab es keine nennenswerten Verschwörungen und kein über einen Senator gefälltes Todesurteil. Sollte Marc Aurel, der sich im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger für eine prosenatorische Politik entschied – er erinnert immer wieder an Nero oder Caligula – ‚aus der Geschichte gelernt‘ haben? Die vorliegende Arbeit wird zeigen, dass die Verbindung von Politik und Philosophie während Marc Aurels Herrschaft eine entscheidende Voraussetzung für die Herstellung aristokratischer Akzeptanz und politischer Stabilität war. Für die Frage, wie sich Philosophie und Politik als herrschaftsstabilisierende Faktoren zueinander verhalten haben, hat die Kulturgeschichte des Politischen einen hohen heuristischen Wert, insofern sie die Philosophie ausgehend von der sozialen Realität in Hinblick auf ihre sozialen und politischen Funktionen untersucht. Es sind vor allem ideengeschichtlich und machtpolitisch argumentierende Ansätze, deren Erklärungspotential hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Politik in vielen Fällen nicht weitreichend genug ist. Ideengeschichtlich ausgerichtete Forschungen, die der Philosophie einen eindeutigen Vorrang vor der historisch-sozialen Realität beimessen und insofern zuerst nach den Verwirklichungschancen philosophischer Inhalte in der politischen Praxis fragen, unterschätzen häufig den Einfluss von Machtinteressen oder lassen ihn weitestgehend unberücksichtigt. Im Gegensatz dazu erweisen sich eher machtpolitisch ausgerichtete 10
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Herodian. 1,1,4: „Wenn jemand die gesamte Zeit von Augustus her, seit sich die Römer-Herrschaft zur Monarchie gewandelt hat, überschaute, so fände er wohl in den rund zweihundert Jahren bis zu den Zeiten Marc Aurels weder so viele Herrschaftsfolgen nacheinander noch so vielfältige Wechselfälle innerer und äußerer Kriege, Unruhen der Provinzen und Eroberungen von Städten in unserem Lande und in vielen Barbarenländern, Erdbeben und Seuchen, unverhoffte Lebensläufe von Usurpatoren und Kaisern, wie sie früher nur selten oder überhaupt nicht zu erwähnen waren.“ (Übers. v. Friedhelm L. Müller) M. Aur. ad se ipsum 1,11: „[…] und daß die Adligen, die bei uns Patrizier heißen, meistens ziemlich lieblos und grausam sind.“
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I. Einleitung
Ansätze, die die Philosophie als ein aus den sozialen und politischen Strukturen bloß abgeleitetes Phänomen begreifen, als nicht weitreichend genug, um die Funktion, die die Philosophie in der sozialen Realität tatsächlich übernommen hat, erklären zu können. Diese erkenntnistheoretisch und methodisch sich voneinander unterscheidenden Ansätze bewirken eine Dichotomie zwischen einem entweder an rein philosophischen Idealen oder an rein machtpolitischen Interessen ausgerichteten Handeln. Von der dadurch erzeugten normativen Differenz, die das menschliche Handeln entweder auf ideelle oder materielle Beweggründe reduziert, grenzt sich die Kulturwissenschaft ab. Sie versucht, die Hierarchisierung zwischen der sozialen Realität und dem kulturellen System aufzuheben, indem sie die Philosophie als ein ebenso signifikantes Feld gesellschaftlichen Machtkampfes darstellt wie die Politik.12 Wie eng Politik und Kultur miteinander verbunden sind, wird daran erkennbar, dass nach kulturwissenschaftlicher Auffassung nur solche politischen Entscheidungen erfolgreich durchzusetzen sind, die sich im Rahmen einer allgemein akzeptierten Wirklichkeit vollziehen. Im Unterschied zur traditionellen Politikgeschichte, die danach fragt, ‚was‘ der ‚Staat‘ als Sachgebiet bedeutet, fragt die Kulturwissenschaft, ‚wie‘, mit Hilfe welcher die Wirklichkeit konstruierender Deutungsschemata, politische Systeme aufrechterhalten werden. In der römischen Kaiserzeit des zweiten Jahrhunderts war die Zweite Sophistik repräsentativ für eine solche allgemein akzeptierte Wirklichkeit, die ihren Ausdruck insbesondere in dem Bild der Philosophenherrschaft fand.13 Insofern sich die Sophisten auf dieses Bild beriefen, um an der politischen Macht beteiligt zu werden, wurden mit dem Bild der Philosophenherrschaft zugleich die Grenzen definiert, innerhalb derer politische Entscheidungen als legitim anerkannt wurden. Inwieweit sich der Erfolg und die hohe Stabilität Marc Aurels Herrschaft seiner Bereitschaft verdankt, sich in das von den Sophisten verteidigte Bild eines idealen Herrschers einzufügen, wird insbesondere anhand der Karrierechancen untersucht, die sich den Philosophen am Hof Marc Aurels eröffneten. Die Vertreter der Zweiten Sophistik verfügten über rhetorisches, philosophisches und medizinisches Wissen sowie über politische Macht. Diese verschiedenen Bereiche des Wissens wurden unter dem Begriff „Paideia“ zusammengefasst. Einen grundsätzlichen Konflikt zwischen den einzelnen Wissensgebieten gab es innerhalb der Zweiten Sophistik zu dieser Zeit nicht mehr.14 Allerdings konnten durch 12
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Vgl. dazu Thomas Schmitz, Bildung und Macht. Zur sozialen und politischen Funktion der zweiten Sophistik in der griechischen Welt der Kaiserzeit, München 1997, 26 ff. Thomas Schmitz bezeichnet in diesem Zusammenhang Politik und Philosophie als zwei verschiedene Seiten einer Medaille. Das Bild ist meines Erachtens insofern irreleitend, als es die Differenz stärker betont als das Zusammenspiel von Philosophie und Politik. – Eine Erläuterung zu den Grundlagen des für diese Untersuchung gewählten kulturwissenschaftlichen Ansatzes gibt das Kapitel „Kulturgeschichte des Politischen“. Die mit dem Bild der Philosophenherrschaft verbundenen politischen Funktionen werden insbesondere in Kapitel V. erläutert. Vgl. dazu Christoph Tobias Kasulke, Fronto, Marc Aurel und kein Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie im 2. Jh. n. Chr., München, Leipzig 2005, 49 ff. Kasulke zeigt am Beispiel der angeblichen Konversion Marc Aurels zur Philosophie im Jahr 146 und dem Briefwechsel mit
I. Einleitung
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die Paideia, die ein wesentlicher Faktor innerhalb des Rangstreites um soziales Prestige war, in Konkurrenzsituationen die überkommenen Streitigkeiten sowohl zwischen Philosophen und Rhetoren als auch zwischen den einzelnen philosophischen Schulen wieder akut werden.15 Nach der Auffassung von Thomas Schmitz sei in Hinblick auf die Frage, wie sich Bildung und Macht zueinander verhalten haben, von einer grundsätzlichen Zweiteilung der Gesellschaft in „Ober- und Unterschichten“16 auszugehen. Er meint hiermit die Beziehungen der Aristokratie zu den unteren Schichten. In dieser Arbeit – die These wird im Forschungsteil ausführlich begründet – wird hingegen gezeigt, dass die Zweite Sophistik vor allem für die Machtbeziehungen zwischen Kaiser und Aristokratie stabilisierende Funktionen besaß. Dementsprechend ist für die Untersuchung die folgende Argumentation vorgesehen: Ausgehend von der von Aloys Winterling erneut in die althistorische Diskussion eingebrachten Dyarchiethese von Theodor Mommsen17 werden im Forschungskapitel zunächst grundlegende Strukturprobleme benannt, auf die die römischen Kaiser reagieren mussten, um ihre Herrschaft zu stabilisieren. Mit einem Exkurs werden exemplarisch anhand der Herrschaft des Augustus herrschaftsstabilisierende Rituale vorgestellt, die sich bereits in der frühen Kaiserzeit entwickelt haben. Inwieweit auch die Zweite Sophistik als ein die gesellschaftlichen Strukturen stabilisierendes Phänomen verstanden werden kann, wird in diesem Zusammenhang forschungsgeschichtlich begründet. Zunächst werden Probleme und Aporien benannt, die innerhalb der Forschung dadurch entstanden sind, dass zum einen die Doppelstrukturen von Kaiser und Aristokratie nicht berücksichtigt wurden und zum anderen das Verhältnis von Philosophie und Politik entweder aus einer rein ideengeschichtlichen oder rein machtpolitischen Perspektive betrachtet wurde. Welche heuristischen Funktionen die Kulturgeschichte des Politischen in Hinblick auf den Umgang mit diesen Problemen übernimmt, wird anhand epistemologischer und methodischer Überlegungen gezeigt. Im Anschluss daran wird die Zweite Sophistik als eine hybride Kultur dargestellt, die unmittelbar auf die eingangs dargestellten Strukturprobleme der Kaiserzeit reagierte. Nach dem Forschungskapitel wird am Beispiel der stoischen Lehre der Oikeiosis und der Philosophie Marc Aurels das Konzept der stoischen Philosophie als Rückzugsphilosophie kritisch hinterfragt. Hierbei wird zunächst zu untersuchen sein, ob es den philosophischen und den medizinischen Diskursen, in denen sich das Empfinden artikulierte, in einer als „fremd“18 empfundenen Welt zu leben, ge-
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Fronto, dass es keine grundsätzliche Debatte über die Frage mehr gab, ob die Philosophie oder die Rhetorik einen höheren Wert habe, sondern die eigentliche Dimension der Auseinandersetzung nur noch stilistischer Art war. Allgemein zum Verhältnis von Philosophie und Rhetorik vgl. Glen W. Bowersock, Greek Sophists in the Roman Empire, Oxford 1969, 11 ff. Diese Problematik wird auf den Seiten 114–121 wieder aufgenommen und ausführlicher analysiert. Vgl. dazu die Ausführungen in dem Kapitel „Soziale und politische Funktionen der Paideia“. Schmitz, Bildung und Macht, 30 f. Die Forschung zur Dyarchie nach Mommsen wird von Winterling, Dyarchie, 177–184 zusammengefasst. Das Thema, wie man sich einer „fremden“ oder „feindlichen“ Außenwelt gegenüber verhalten soll, ist ein grundlegender Bestandteil der Selbstbetrachtungen. Vgl. dazu M. Aur. ad se ipsum
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I. Einleitung
lang, den Wunsch nach einem gesellschaftlichen Rückzug zu überwinden und der Fremdheit Vertrauen entgegenzusetzen.19 Dabei ist in den folgenden Kapiteln zur Oikeiosislehre zu fragen, inwieweit die kaiserzeitliche Stoa, die unmittelbar auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse reagierte20, als eine Philosophie im engeren Sinne oder eher als eine Form der Lebenskunst zu bezeichnen ist.21 Schließlich erhalten auch die literarisch nicht eindeutig zu klassifizierenden Selbstbetrachtungen durch die Verbindung mit der Oikeiosislehre ein schärferes Profil. Die sozialen und politischen Funktionen der Paideia22 werden im vierten Teil anhand der Aufstiegsmöglichkeiten untersucht, die sich innerhalb der gesellschaftlichen Rangordnung und der Hierarchie am Hof eröffneten. In Hinblick auf die
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2,1; Peter A. Brunt, Marcus Aurelius in his Meditations, in: JRS 64, 1974, 1–20, 10 ff. sieht eine Verbindung zwischen dieser Wahrnehmung und den am Hof üblichen Intrigen und Schmeicheleien sowie den Personen, die nach der eigenen Aussage Marc Aurels nichts sehnlicher wünschen als den Tod des Kaisers. Vgl. dazu M. Aur. ad se ipsum 1,11; 10,36. Das Gefühl, in einer „feindlichen“ oder „fremden“ Welt zu leben, interpretiert E.-R. Dodds, Pagan and Christian in an Age of Anxiety, Cambridge 1965, 20 ff. als ein allgemeines Phänomen, das nicht nur innerhalb des Christentums, sondern auch innerhalb der platonischen Schule und bei Marc Aurel zu beobachten gewesen sei. Thodoranova bezeichnet diese „Entfremdung“ als mentale Krise des zweiten Jahrhunderts, die u. a. auch durch Marc Aurel bestätigt wurde, wenn er behauptet, dass das Leben „Krieg und kurzer Aufenthalt eines Fremden“ sei. (M. Aur. ad se ipsum 2,17,2). Vgl. V. Thodoranova, Marc Aurèle – ξένος κόσμου, in: Actes de la XIIe Conférence Internationale d’Études Classiques. Eirene, 2.-7. Oktober, 1972, 435–438, 435, 438. Vgl. auch Dirk Barghop, Forum der Angst. Eine historisch-anthropologische Studie zu Verhaltensmustern von Senatoren im römischen Kaiserreich, Frankfurt am Main 1994. Zum Begriff des Vertrauens vgl. Ute Frevert, Vertrauen – eine historische Spurensuche, in: dies. (Hg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003, 7–66. Wie Paul Zanker beobachtet, war die Philosophie für die alte Führungsschicht, die ihre Macht verloren hatte, eine Möglichkeit, „ihre Rolle in der Monarchie neu zu verstehen“. Paul Zanker, Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst, München 1995, 244. Pierre Hadot, La citadelle intérieure. Introduction aux pensées de Marc Aurèle, Fayard 1992; Elizabeth Asmis, The Stoicism of Marcus Aurelius, in: ANRW 2.36.3, 1989, 2228–2252, 2232: „Genuine philosophy consists in caring for one’s character, not in making a sophistic display of cleverness […].“ – Grimal, Marc Aurèle, 373; Joachim Dalfen, Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, Diss. München 1967, 239. Dass es sich nicht um einen philosophischen Text im engeren Sinne handelt, sondern um Gedanken zur Lebenskunst, wird nicht zuletzt durch die moderne Rezeption bestätigt, die die Selbstbetrachtungen der sog. Glücksphilosophie zuordnet. Vgl. dazu Bernard Nollen, Nutze den Augenblick. Gedanken zur Lebenskunst von Marc Aurel, Köln 1999; Henry Dwight Sedgwick, Marcus Aurelius, New York 1971, 112 ff., 115, 117 behauptet, wie auch andere Autoren, dass die Selbstbetrachtungen, die keine theoretische Auseinandersetzung darstellen, eher der Suche nach einer Religion vergleichbar seien. Zur modernen Kritik an der sich selbst als Lebenskunst beschreibenden Philosophie vgl. Wolfgang Kersting, Claus Langbein (Hg.), Kritik der Lebenskunst, Frankfurt am Main 2007. – Auch im zweiten Jahrhundert gab es eine Differenzierung zwischen Philosophie und Lebenskunst, wie durch die pyrrhonische Skepsis bestätigt wird, die nicht bereit war, das populäre Konzept des magister artis vitae sowie die Möglichkeit einer ars vitae überhaupt als Philosophie anzuerkennen. Vgl. S. Emp. adv. eth. 168 ff.; pyrrh. hyp. 3, 273–279. – Zur Unterscheidung von Philosophie und Lebenskunst vgl. S. 84. Die heterogenen Wissensgebiete der Zweiten Sophistik werden unter dem Begriff „Paideia“ subsumiert. Vgl. dazu auch die Ausführungen auf den Seiten 109 ff. bes. Anm. 1. Der Begriff
I. Einleitung
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gesellschaftliche Rangordnung wird zunächst die Frage zu untersuchen sein, wie sich Politik und Paideia zueinander verhalten haben, da der Nachweis von Paideia mittlerweile zwar ein unverzichtbares Kriterium aristokratischer Zugehörigkeit war, die Konstitution des gesellschaftlichen Ranges aber auch in der Kaiserzeit nach wie vor von den alten republikanischen Institutionen, der Magistratur und dem Senat, abhängig blieb.23 Innerhalb der höfischen Hierarchie bildeten hingegen die Paideia und die soziale Herkunft zwei miteinander konkurrierende Faktoren, insofern am Kaiserhof normalerweise nur Personen eines geringeren sozialen Status reüssieren konnten, die von Marc Aurel begünstigten Philosophen jedoch aus der Oberschicht kamen. Ob die Paideia gesamtgesellschaftliche Funktionen übernehmen konnte, die über ihre Einzelfunktionen in den gesellschaftlichen und höfischen Teilsystemen hinausgingen, wird in den Kapiteln V. und VI. untersucht. Dabei wird zunächst ein politischer Diskurs rekonstruiert, der sich innerhalb der Zweiten Sophistik etabliert hat und der auf die Machtbeziehungen zwischen dem Kaiser und den gesellschaftlichen Eliten einen unmittelbaren Einfluss zu nehmen versuchte. Inwieweit sich Marc Aurel in das von den Sophisten propagierte Herrschaftsideal einfügte, und es ihm gelang, der potentiellen Rivalität zwischen Kaiser und Aristokratie entgegenzuwirken, wird der Gegenstand des letzten Kapitels sein.
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„Paideia“, der ebenfalls ein Teil des gesellschaftlichen Handelns ist, enthält auch das Konzept einer „Philosophie als Lebenskunst“. Während die „politische Integration der Gesellschaft“ – die Herstellung eines sozialen Status über politische Ämter – in der Kaiserzeit fortbestand, ist die „soziale Integration der Politik“ – ein Mechanismus, der, wie zur Zeit der Republik, nur Personen aristokratischer Herkunft für politische Ämter zulässt – in der Kaiserzeit nicht mehr in dem Maße zu beobachten. Winterling, Politische Integration, 108–109.
II. FORSCHUNG 1. DYARCHIE ODER VON DER LABILITÄT KAISERZEITLICHER HERRSCHAFTSSTRUKTUREN In dem im Jahr 2005 erschienenen Sammelband „Theodor Mommsens langer Schatten. Das römische Staatsrecht als bleibende Herausforderung für die Forschung“1 wird die Frage gestellt, wie die moderne Forschung erneut an das Staatsrecht Theodor Mommsens anknüpfen kann. Dieser Frage geht die Einsicht voraus, dass die Forschung nach Mommsen, die die Selektivität und Dogmatik einer staatsrechtlichen Perspektive mit gesellschafts- und verfassungsgeschichtlichen Ansätzen zu ergänzen oder sogar zu überwinden versuchte, in vielen Fällen nicht über Mommsen hinausgekommen, sondern hinter das von ihm erreichte Problembewusstsein sogar zurückgefallen sei.2 Die folgenden Ausführungen über die kaiserzeitlichen Herrschaftsstrukturen werden an den Dyarchiebegriff Theodor Mommsens und die sozialen und politischen Paradoxien, wie sie Aloys Winterling im Anschluss an Theodor Mommsen entwickelt hat, anknüpfen.3 Zum einen soll auf die heuristischen Funktionen hingewiesen werden, die der Dyarchiebegriff für die Untersuchung der kaiserzeitlichen Herrschaftsstrukturen übernimmt. Da Theodor Mommsen Erkenntnisse aktueller Machttheorien vorweggenommen hat, sollen zum anderen die Anknüpfungspunkte für moderne kulturwissenschaftliche Untersuchungen dargestellt werden. Aloys Winterling gelangt zu dem Ergebnis, dass ein Differenzbegriff wie der der Dyarchie für eine Analyse der Komplexität der sozialen und politischen Strukturen weitreichender sei als Einheitsbegriffe, die den Prinzipat als Republik oder Monarchie beschreiben.4 So sei es nicht möglich, mit dem Begriff der absoluten Monarchie zu erklären, weshalb sich die Kaiser weiterhin vom Senat in den Formen 1 2
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Wilfried Nippel, Bernd Seidensticker (Hg.), Theodor Mommsens langer Schatten. Das römische Staatsrecht als bleibende Herausforderung für die Forschung, Hildesheim, Zürich, New York 2005. Wilfried Nippel, Das Staatsrecht in der Diskussion – von 1871 bis heute, in: Nippel, Seidenstikker, Theodor Mommsens langer Schatten, 9–60, 44 ff.; Aloys Winterling, Dyarchie in der römischen Kaiserzeit. Vorschlag zur Wiederaufnahme der Diskussion, in: Nippel, Seidensticker, Theodor Mommsens langer Schatten, 177–198, 183. Das Konzept der Dyarchie wurde von Mommsen nicht nur im Römischen Staatsrecht, sondern auch im Abriß des römischen Staatsrechts erarbeitet, in dem die Kaiserzeit unter dem Titel „Die Dyarchie des Principats“ abgehandelt wird. Die zentralen Passagen finden sich in dem 1875 in erster, 1887 in dritter Auflage erschienenen Band II/2 sowie im letzten Abschnitt des 1888 publizierten Bandes III/2 des Römischen Staatsrechts und in dem 1893 zuerst erschienenen Abriß des römischen Staatsrechts auf den Seiten 270–274. Winterling, Dyarchie, 184, 192.
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des republikanischen Rechts legalisieren ließen.5 Doch auch der Begriff der Republik sei für eine Strukturanalyse der Kaiserzeit defizitär, insofern er die auf militärischen und ökonomischen Ressourcen beruhende reale Machtvollkommenheit des Kaisers nicht erklären könne.6 5
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Als absolute Monarchie wurde der Prinzipat von Hermann Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, 2 Bde., Berlin 1924–1930, I, 132 bezeichnet. Vergleichbare Positionen vertraten Jean Béranger, Recherches sur l’aspect idéologique du principat, Basel 1953, 278–282, 352 und Lothar Wickert, s. v. Princeps, in: RE 22.2, 1954, 1998–2296, 2068 ff. Aloys Winterling hat darauf verwiesen, dass Lothar Wickert von Mommsen vertretene Positionen letztlich reproduziere, wenn er behauptet, das römische Reich sei „zwar nicht im Rechtssinne, aber tatsächlich“ Eigentum des Kaisers gewesen. So sei die Differenzierung zwischen rechtlichen und politischen Verhältnissen (s. dazu im Folgenden die S. 21 ff.) von Mommsen übernommen, dann aber zugunsten der einen Seite der Unterscheidung, der politischen, aufgehoben worden. Vgl. dazu Winterling, Dyarchie, 181. Die These von der absoluten Monarchie wurde in der Literatur vorwiegend mit dem Gewaltmonopol der Kaiser begründet und insofern auch der Prinzipat als „Militärmonarchie“ bezeichnet. Vgl. dazu Matthias Gelzer, Caesar und Augustus, in: Erich Marcks u. a. (Hg.), Meister der Politik, Bd. 1, 2. Aufl., Stuttgart 1923, 147–195, 184 ff.; 192: „[…] dass das römische Reich überhaupt nur unter einer solchen monarchischen Handhabung der Regierungsgewalt fortbestehen konnte.“ Am Ende seines Aufsatzes gelangt er jedoch zu dem Ergebnis, dass „[…] nicht die Monarchie, wohl aber die Revolution legitimiert“ worden sei, womit er ebenfalls die für die Dyarchie zentrale Unterscheidung zwischen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen bei Mommsen bestätigt. (195) – Ähnlich wie bei Matthias Gelzer galt auch anderen Autoren der Prinzipat mit seiner republikanischen Verfassung als reine Fassade, hinter der sich „drohend der General, der all seine Macht seinen Soldaten verdankt“, erhebt. Jochen Bleicken, Augustus. Eine Biographie, Berlin 1998, 390. In den Einführungsbänden zum römischen Kaiserreich fügt Jochen Bleicken die politisch-soziale Stellung des Kaisers und ihre Verrechtlichung hingegen zu einem harmonischen Gesamtbild zusammen. (Vgl. dazu Winterling, Dyarchie, 183); bereits Montesquieu vermutete hinter der doppeldeutigen Verfassung eine absolute Monarchie: Sie war „im bürgerlichen Bereiche aristokratisch, im militärischen hingegen monarchisch. Eine doppeldeutige Verfassung also, die, weil sie nicht von ihren eigenen Kräften gestützt wurde, nur solange Bestand haben konnte, wie es dem Monarchen gefiel, und die folglich völlig monarchisch war.“ Montesquieu [Charles-Louis de Secondat, Baron de], Größe und Niedergang Roms. Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadance [1734]. Mit den Randbemerkungen Friedrichs des Großen. Übers. und hg. von Lothar Schuckert, Frankfurt am Main 1980, 83. Zu einem dezidierten Urteil gelangte Ines Stahlmann, Imperator Caesar Augustus. Studien zur Geschichte des Principatsverständnisses in der deutschen Altertumswissenschaft bis 1945, Darmstadt 1988, 50: „Mommsen hat die Rolle des Senats weitaus überschätzt. Der Principat war keine Dyarchie.“ Winterling, Politische Integration, 95 ff.; Winterling, Dyarchie, 183 f. Als Republik wurde der Prinzipat insbesondere von Johannes Kromayer und Otto Theodor Schulz interpretiert. Johannes Kromayer, Staat und Gesellschaft der Römer, in: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff u. a. (Hg.), Staat und Gesellschaft der Griechen und Römer bis zum Ausgang des Mittelalters, Leipzig u. a. ²1923 [ND 1994], 215–363, 317 ff.; Otto Theodor Schulz, Das Wesen des römischen Kaisertums der ersten zwei Jahrhunderte, Paderborn 1916, 31: „Insofern ist der römische Prinzipat allerdings die Fortsetzung und die Vollendung der römischen Demokratie. Diese allmächtige Magistratur ruht auf der Volkssouveränität […].“; ders., Die Rechtstitel und Regierungsprogramme auf römischen Kaisermünzen, Paderborn 1925. Auch Helmut Castritius, Der römische Prinzipat als Republik, Husum 1982, geht davon aus, dass sich die endgültige Monarchie nicht vor dem 2. Jh. n. Chr. ausbildete. Castritius versteht seine Ausführungen zum „Prinzipat als Republik“ als unmittelbare Antwort auf Lothar Wickert, der den „Principat als Monarchie“ definierte. Vgl. Castritius, Prinzipat als Republik, 10; Wickert, Princeps, 2068 ff. Besonders zu
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Im Gegensatz zu den Vertretern dieser von Aloys Winterling zu Recht kritisierten Positionen hat Theodor Mommsen die Kaiserzeit als Dyarchie beschrieben: „Die augustische Staatsordnung ist ein Compromiss; sie stellt neben einander einerseits das sullanische Senatsregiment, andererseits und übermächtig die caesarische Autokratie. Principiell schliessen diese Institutionen sich aus; dennoch war in den drei Jahrhunderten von der actischen Schlacht bis auf Diocletian nicht das Gleichgewicht, zu dem es nie gekommen ist, aber doch die praktische Coexistenz des kaiserlichen und des Senatsregiments der verfassungsmäßige Zustand.“7
Diese „praktische Coexistenz“, die Theodor Mommsen auf den Begriff der ‚Dyarchie‘8 gebracht hat, ist zunächst als ein staatsrechtlicher Sachverhalt zu betrachten.9 Nach Mommsens Interpretation stehen sich die Legitimität des Senats und die Illegitimität des Princeps einander gegenüber.10 Dem Kaisertum, das durch „Zuruf irgend welcher Soldaten“11 als usurpatorische Erhebung entstand12, kann nur der
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berücksichtigen ist seine Darstellung der Regierungswechsel bzw. der Interregna. Vgl. Castritius, Prinzipat als Republik, 82–109. StR III/2, 1252. (Hervorhebungen CH) StR III/2, 1253 f. Der staatsrechtliche Aspekt der Dyarchie ist von denjenigen Autoren unberücksichtigt geblieben, die die Dyarchie allein von ihren politischen Funktionen her betrachteten. Vgl. Winterling, Dyarchie, 180 f. So hat Eduard Meyer dem Begriff der Dyarchie die Funktion beigemessen, einen politischen Ausgleich zwischen Kaiser und Senatsaristokratie zu bewirken. Eduard Meyer, Kaiser Augustus [1903], in: ders., Kleine Schriften zur Geschichtstheorie und zur wirtschaftlichen und politischen Geschichte des Altertums, Bd. 1, Halle 1910, 441–492, bes. 444 ff. Zu beachten ist hier vor allem die grundsätzliche Kritik an der Vorstellung von einem starken Kaisertum: „Den Namen Augustus lernt jedes Kind durch die Bibel kennen und erfährt, daß er das römische Kaisertum gegründet hat. Bei dem Wort Kaisertum aber denkt die populäre Vorstellung an das, was es später geworden ist: die aufs höchste gesteigerte und zugleich universelle monarchische Gewalt, die weit hinausragt über die untergeordnete und lokal oder national beschränkte Gewalt des Königtums. Daß das historisch falsch ist, daß es ein Kaisertum in diesem Sinne erst seit Diocletian gegeben hat, drei Jahrhunderte nach Augustus, brauche ich in dieser Versammlung nicht auszuführen.“ (444 f.) Einer ähnlichen Interpretation folgt Dieter Timpe, der ausdrücklich von einer „politischen Dyarchie“ sprach. Dieter Timpe, Untersuchungen zur Kontinuität des frühen Prinzipats, Wiesbaden 1962, 122, 111: „Die Selbstbezeichnung des legatus Augusti als legatus senatus populique Romani ist demnach ein nicht so sehr rechtlich, als vielmehr geschichtlich zu verstehendes Faktum: es setzt die weitgehende Lösung des Imperators von seiner ursprünglichen Rolle als militärischer Gefolgsherr und das durch die senatsfeindliche Politik der schlechten Principes provozierte Aufkommen eines Gegensatzes zwischen Prinzipats- und Senatsideologie voraus.“ – Nach der Auffassung von Aloys Winterling haben die Missverständnisse, die sich in Hinblick auf die Dyarchiethese entwickelt haben, ihren Ursprung unter anderem auch darin, dass der Begriff der Dyarchie ausschließlich „auf politische Machtverhältnisse“ bezogen wurde. Insofern der Dyarchiebegriff auf die Bedingungen des Rechts verweist, verschränken sich in ihm die staatsrechtliche und die machtpolitische Ebene. Vgl. Winterling, Dyarchie, 191, 185. StR. III/2, 1252. Aus der Perspektive des Rechts sind das „Senatsregiment“ und die „caesarische Autokratie“ zwei Institutionen, die sich „principiell ausschließen“. StR II/2, 844. Und weiter: „Es hat wohl nie ein Regiment gegeben, dem der Begriff der Legitimität so völlig abhanden gekommen wäre wie dem augustischen Principat […].“ Nicht eine anerkannte Rechtsordnung, sondern das „Recht des Stärkeren“ (StR II/2, 1133) be-
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Senat eine legitime Anerkennung verschaffen, der allein im Rahmen einer anerkannten Rechtsordnung handelt. Der Senat bindet den Kaiser in die republikanische Rechtsordnung ein, indem er ihm einzelne Magistraturen überträgt – das prokonsularische Imperium, die tribunicia potestas und die ihm nicht vor Domitian dauerhaft verliehene zensorische potestas. Unter dieser Voraussetzung ist der Princeps jedoch „[…] nichts als ein Beamter mehr, und zwar ein Beamter nicht mit einer Machtfülle, die ihn über die Verfassung stellte, sondern mit einer in die verfassungsmässigen Ordnungen eingefügten und fest umschriebenen Competenz.“13 Dies ist die staatsrechtliche Seite der Dyarchie, unter deren Voraussetzung die Kaiserzeit als Republik beschrieben werden muss. Mommsen konstatiert dies und distanziert sich gleichzeitig unmissverständlich von der „Beschränktheit“ dieser Perspektive: „Die formale und officielle Auffassung des Principats als Regiment des Senats ist […] hohl […].“14 Obwohl der Kaiser staatsrechtlich nur als ein „Beamter“ bezeichnet werden kann und sich das Interesse Mommsens zuallererst auf das Staatsrecht richtet, unterlässt er es nicht, wie seine Kritiker immer wieder behaupten, gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass der Principat „factisch der Schrankenlosigkeit“ nahe stand.15 Wie die Untersuchungen von Aloys Winterling zeigen, verweist Mommsen mit den Begriffen „factisch“, „praktisch“ und „thatsächlich“ auf außerhalb des Rechts liegende Sachbereiche.16 Obwohl Mommsen die „factische“ Allmacht des Kaisers konstatiert, geht er jedoch nicht dazu über, den Prinzipat als Monarchie zu bezeichnen. Stattdessen stellt er fest, dass die Legitimität des Senats und die Illegitimität des Princeps Institutionen sind, die sich aus staatsrechtlicher Perspektive zwar gegenseitig ausschließen, gleichwohl aber zusammenwirken. Zur Erklärung, wie diese Verbindung entstehen und aufrechterhalten werden konnte, griff Mommsen jedoch nicht allein auf staatsrechtliche Argumente zurück. Der Einbindung des Princeps in die republikanische Rechtsordnung lagen vielmehr die „dem römischen Wesen tief eingeprägten Adelsvorrechte“17 bzw. die „Privilegien der Senatoren“18 zugrunde, auf die der Kaiser Rücksicht nehmen musste, wenn er seine Herrschaft dauerhaft erhalten wollte. Mommsen hat also erkannt, dass das rechtliche Zusammenwirken von Kaiser und Senat nur durch außerhalb des Rechts liegende Faktoren erklärt werden kann. Dies verdeutlicht schließlich der die Dyar-
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gründe die Erhebung des Kaisers: „[…] die Sanction giebt bei der Einsetzung wie bei der Absetzung allein der Erfolg.“ (Hervorhebung CH), StR III/2, 1267. StR II/2, 749 f. StR II/2, 747. StR II/2, 748. Winterling, Dyarchie, 178 f.; ders., Aula Caesaris. Studien zur Institutionalisierung des römischen Kaiserhofes in der Zeit von Augustus bis Commodus (31 v. Chr.-192 n. Chr.), München 1999, 12. Eine ähnliche Differenzierung findet sich im Abriß des römischen Staatsrechts, in dem Mommsen die Bedeutung des Senats bei jedem Regierungswechsel herausstellt und mit den Worten kommentiert, diese gehöre „mehr der Geschichte an als dem Staatsrecht“. Mommsen, Abriß, 271. StR II/2, 789. StR III/2, 1254 f. – Diese Privilegien seien im Unterschied zur staatsrechtlichen Stellung des Senats der „praktisch wichtigere Theil des senatorischen Mitregiments“ gewesen. StR III/2, 896.
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chie paraphrasierende Ausdruck der „praktischen Coexistenz“, der kein ausschließlich rechtssystematischer Terminus ist, sondern die wechselseitige Bedingtheit staatsrechtlicher und politischer Faktoren hervorhebt. Wie diese Stelle verdeutlicht, sind die Arbeiten Mommsens nicht auf die engen positivistischen Grenzen des Staatsrechts begrenzt, sondern nehmen die für die moderne Forschung grundlegende Erkenntnis vorweg, dass es kein außerhalb sozialer und politischer Bindungen stehendes Recht gibt.19 Wie die staatsrechtliche Seite der Dyarchie – die den Kaiser als Magistrat und den Prinzipat als Republik beschreibt – zu vereinbaren ist mit der politischen Beobachtung der Allmacht des Kaisers, hat Aloys Winterling im Anschluss an Theodor Mommsen durch die Beobachtung kaiserzeitlicher Paradoxien gezeigt. Ein zentrales Beispiel, das auch von Mommsen in diesem Zusammenhang zitiert wird, ist die lex de imperio Vespasiani.20 Die Paradoxie zwischen den ersten Paragraphen, die dem Kaiser wie einem Magistraten zunächst bestimmte Einzelrechte übertragen, und dem 6. Paragraphen, der ihm durch eine sog. diskretionäre Klausel eine Pauschalvollmacht überträgt, die ihn von allen Gesetzen dispensiert21, versucht Aloys Winterling zu lösen, indem er den Inhalt des Textes, der schließlich die Allmacht des Kaisers manifestiert, von dem Vorhandensein des Textes als solchem unterscheidet. Denn die Existenz des Textes signalisiere, dass „es der Senat ist, der (in Form eines Volksbeschlusses) die kaiserliche Allmacht verleiht“ und „der Kaiser sich vom Senat seine Allmacht verleihen lässt und somit bestätigt: dass er selbst aus sich heraus n i c h t allmächtig ist.“22 Die Paradoxie zwischen Allmacht und Machtlimitierung spiegelt sich jedoch auch auf der inhaltlichen Ebene wider, insofern die durch die lex de imperio Vespasiani ermöglichte Befreiung des Kaisers von bestimmten Gesetzen nur dann einen Sinn ergibt, wenn der Kaiser „als an die Gesetze gebunden angesehen wird und sich auch selbst so sieht oder zumindest sehen lässt“23. Auch anhand der folgenden Beispiele hat Aloys Winterling gezeigt, wie die sozialen Grenzen kaiserlicher Allmacht verliefen. So versuchten die Kaiser, sich über den Senat hinwegzusetzen, indem sie beispielsweise wichtige Militärämter 19
Diese Erkenntnis geht insbesondere auf Wolfgang Böckenförde zurück. „In nicht geringem Umfang hängt die soziale Geltung des Rechts ab von der Anerkennung seiner (ethisch-sittlichen) Verbindlichkeit, die ihrerseits nicht erzwingbar ist. […] Das Recht als auf soziale Geltung verwiesene normative Ordnung ist demgemäß in seinem Inhalt nicht losgelöst, sondern in bestimmter Weise rückgebunden an die Rechtsvorstellungen, das ethisch-sittliche Bewußtsein und auch den sozial-kulturellen Gesamtstatus der Gesellschaft, für die es als Recht gilt.“ ErnstWolfgang Böckenförde, Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main 1999, 216 f. Vgl. dazu Winterling, Dyarchie, 192. 20 StR II/2, 750 f. Für die folgenden Ausführungen vgl. Winterling, Politische Integration, 106 f. 21 CIL VI 930 = ILS 244. Diese Klausel überlässt ihm „das Recht und die Amtsgewalt“ […], „alle Maßnahmen, die nach seiner Ansicht im Interesse des Gemeinwesens liegen und der Erhabenheit der göttlichen und der menschlichen, der öffentlichen und der privaten Angelegenheiten angemessen sind, einzuleiten und zu treffen“. 22 Winterling, Politische Integration, 106 f. 23 Winterling, Dyarchie, 188; StR II/2, 749 f. – Dieser Interpretationsansatz zur lex de imperio Vespasiani wird in dem Kapitel V.6. noch einmal aufgenommen und weiter ausgebaut.
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nicht mehr wie bisher an Senatoren, sondern nur an solche Personen vergaben, die einen geringeren sozialen Status hatten und im Vergleich zu jenen keine unmittelbare Gefahr für sie darstellten. Doch in den meisten Fällen schlugen diese Versuche fehl. Eine bei Cassius Dio referierte prominente Rede des Agrippa an Augustus zeigt, welche Folgen es hat, wenn ein Kaiser die Staatsgeschäfte nicht mehr der Aristokratie, sondern Personen niederer Herkunft überlässt: τίς δ’ οὐκ ἂν καταφρονήσειεν αὐτοῦ τῶν πολεμίων; τίς δ’ ἂν πειθαρχήσειέν οἱ τῶν συμμάχων; τίς δ’ οὐκ ἂν καὶ αὐτῶν τῶν στρατιωτῶν ἀπαξιώσειεν ὑπὸ τοιούτου τινὸς ἄρχεσθαι;24 Es war nicht etwa die Verwaltungserfahrung, so Winterling, sondern ein außerhalb des Staatsrechts liegender Terminus, die auctoritas, also ein bestimmter gesellschaftlicher Status, der als notwendige Voraussetzung für bestimmte Ämter geltend gemacht wurde. Dass nicht beliebige Personen von dem Kaiser befördert werden konnten, zeigt in dieser Arbeit das Beispiel der Mitschüler Marc Aurels, denen er ob qualitatem vitae keine senatorischen Ämter übertragen durfte.25 Auch durch die Hierarchie, die sich am Kaiserhof institutionalisierte, konnte die nach Ehre (dignitas) stratifizierte Gesellschaftsform nicht aufgehoben werden. Da die Aristokratie für alle Kaiser eine potentielle Gefahr darstellte, wurden die neu etablierten höfischen Ämter nur mit Personen besetzt, die über einen niedrigen sozialen Status verfügten. Einen neuen, höfischen Adel, der, wie an frühneuzeitlichen Höfen, auch über ein entsprechendes gesellschaftliches Prestige verfügte, konnten die römischen Kaiser nicht erzeugen.26 Der Kaiserhof und die sich dort institutionalisierende Ordnung blieben von der gesellschaftlichen Rangordnung unterschieden, ein Sachverhalt, den Aloys Winterling mit der Paraphrase „Hof ohne ‚Staat‘“ zusammenfasst.27 Insgesamt verdeutlichen die genannten Beispiele, dass die auf eine Einheit des Prinzipats zielenden Begriffe wie Republik oder Monarchie nicht weitreichend genug sind, um sowohl die Gegensätze als auch die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Kaiser und Senat repräsentieren zu können. Theodor Mommsen hat den Prinzipat nicht nur mit dem eher sperrigen Begriff der Dyarchie, sondern auch mit dem innerhalb der modernen Forschung so zentralen Begriff des Hybrids gekennzeichnet, der auch den Ausführungen dieser Arbeit zugrunde gelegt werden soll.28 24
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Cass. Dio 52,8,7: „Wer von unseren Feinden möchte ihn nicht verachten? Wer von den Bundesgenossen wollte ihm gehorchen? Selbst welcher Soldat würde es nicht verschmähen, unter einem derartigen Befehlshaber zu stehen?“ – Eine ähnliche Ursache hatte eine unter Commodus entstandene Soldatenmeuterei. Auch hier sollten im britannischen Krieg senatorische durch ritterliche Kommandeure ersetzt werden. Vgl. Hist. Aug. Comm. 6,2. Der Versuch des Claudius, der seinen Soldaten den mächtigen Freigelassenen Narcissus schickte, scheiterte ebenfalls. Cass. Dio 60,19,2 f.; Vgl. Winterling, Politische Integration, 110. Hist. Aug. Marc. 3,8 f. Vgl. dazu das Kapitel „Macht und Bildung am Kaiserhof“. Vgl. dazu Aloys Winterling, Vergleichende Perspektiven, in: ders. (Hg.), Zwischen „Haus“ und „Staat“. Antike Höfe im Vergleich, München 1997, 151–169, 165 ff. Winterling, Aloys, Hof ohne „Staat“. Die aula Caesaris im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr., in: ders. (Hg.), Zwischen „Haus“ und „Staat“. Antike Höfe im Vergleich, München 1997, 91–112, 112. Der Prinzipat habe „einen hybriden zwischen Republik und Monarchie die Mitte haltenden
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II. Forschung
Wie die folgenden Ausführungen zeigen, bildet der von Mommsen verwendete Begriff des Hybrids insbesondere für kulturwissenschaftliche Fragen einen zentralen Anknüpfungspunkt. Theodor Mommsen scheint eine Prämisse moderner Herrschaftstheorien vorwegzunehmen, wenn er behauptet: „[…] rechtmäßiger Princeps ist der, den der Senat und die Soldaten anerkennen und er bleibt es, so lange sie ihn anerkennen […].“29 Auch nach der Auffassung moderner Theorieansätze können Herrschaftsstrukturen ohne Anerkennung nicht aufrecht erhalten werden. Dahinter steht die Vorstellung, dass politische Entscheidungen dauerhaft nicht von oben nach unten, mit Gewalt und ohne Zustimmung der Beherrschten durchsetzbar sind. Eine erfolgreiche Umsetzung erfahren hingegen nur diejenigen Entscheidungen, die mit der Akzeptanz der Beherrschten rechnen können. Anders als es vielleicht zunächst zu erwarten wäre, werden in den Ausführungen Mommsens nicht das Recht, sondern die politischen Handlungen als Grundlage für die Akzeptanz des Kaisers bezeichnet. Wichtiger als das „Beschlussrecht“ des Senats, der letztlich nur „über ziemlich geringfügige Fragen“30 zu entscheiden hatte, sei die zwischen Kaiser und Senat überhaupt stattfindende Kommunikation gewesen. Für die Kaiser sei es üblich geworden, zu Beginn ihrer Herrschaft ihr Regierungsprogramm dem Senat vorzutragen. Darüber hinaus wurde der Senat über militärische und politische Fragen unterrichtet. Diese „ständige Rechenschaftslegung“ sei für die „Entwickelung des Principats von wesentlicher Bedeutung geworden“, da sie dem Kaiser erlaubte, „insbesondere mit dem vornehmen Publicum beständig in Fühlung“31 zu bleiben, um dadurch „die öffentliche Meinung zu heben und zu leiten.“32
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Charakter“. StR II/2, 796. Es ist vermutlich das Fehlen einer eindeutigen Begrifflichkeit, die bereits Ronald Syme zu der Aussage veranlasste: „The principate buffles definition.“ Ronald Syme, The Roman Revolution, Oxford 1939, 323 ff. StR II/2, 844. StR III/2, 1264. StR III/2, 1265. Vgl. dazu auch die folgende Aussage: „[…] was in anderen Monarchien innerhalb der Mauern des Herrscherhauses begraben blieb, davon drang in Rom der Wiederhall regelmäßig in die Curie.“ StR III/2, 1265. StR III/2, 1265. – Dass die Position des Kaisers trotz seiner Allmacht prekär blieb, werde daran erkennbar, dass sowohl die Übernahme als auch die Aufrechterhaltung der Herrschaft letztlich davon abhängig war, ob „der Volkswille damit einverstanden ist und bleibt“. StR III/2, 1267. Vgl. dazu auch die folgende Stelle: „Der Volkswille erhebt den Princeps, wenn und wann er will, und stürzt ihn, wenn und wann er will […].“ (StR II/2, 1133) Aloys Winterling hat darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um eine andere Volkssouveränität handelt als die, die dem Senat zugeschrieben wird. Sie entsteht durch usurpatorische Erhebungen, bei denen, wie oben bereits ausgeführt wurde, nicht eine Rechtsordnung, sondern allein „das Recht des Stärkeren“ (StR II/2, 1133) zähle. Auch an anderer Stelle betont Mommsen, dass der Volkswille außerhalb des Rechts stehe. Er gehöre nicht zu den „formulirten Acten“ und ist „formell nicht festzustellen“. (StR III/2, 1266 f.) – Doch auch die Versuche des Senats, die Republik wiederherzustellen, dürften, ephemer wie sie waren, nicht unterschätzt werden: „Alle Dynastien haben geendigt mit dem Versuch der Erneuerung des Senatsregiments […].“ StR III/2, 1253, Anm. 2; Mommsen, Abriß, 271.
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Festzustellen ist, dass die zur Stabilisierung der labilen Strukturen zwischen Kaiser und Senat notwendigen Handlungen nicht rechtlicher, sondern politischer Art waren, und somit die rechtlich begründete Anerkennung des Princeps zwar notwendig, aber nicht hinreichend war.33 Auch Egon Flaig sieht in der von Mommsen beobachteten Abhängigkeit des Princeps von der Herstellung gesellschaftlicher Akzeptanz einen Anknüpfungspunkt für die moderne Forschung. Mommsen sei mit der Bestimmung des Prinzipates als eines Akzeptanz-Systems der historischen Realität näher gekommen als die staatsrechtliche Forschung, die aus der „Kette der drei Einverständnis-Erklärungen – militärische Akklamation, senatorische Übertragung der Titulatur, Lex durch die Volksversammlung – einen Faktor“ herausgebrochen habe, um diesem dann den Charakter einer rechtsgültigen Investitur zuzusprechen.34 Gegen die Interpretation von Flaig erheben sich jedoch zwei Einwände. Zunächst unterscheidet sich der Begriff der Akzeptanz, wie Mommsen ihn verwendet, in einem wesentlichen Aspekt von dem der modernen Forschung. Während diese die Akzeptanz als eine grundsätzliche Voraussetzung stabiler Herrschaftsstrukturen beschreibt, bezeichnet Mommsen die allein auf Akzeptanz beruhende Herrschaft als einen defizitären Zustand, der aus dem Fehlen einer legitimen Rechtsordnung des Kaisertums resultiert.35 Die Tatsache, dass der Senat die Kaiser bestätigte und es keine Sukzessionsordnung gab, die den Transfer der Sonderrechte, über die die Kaiser zu Lebzeiten verfügten, ermöglicht hätte, sind die beiden wesentlichen Faktoren, die Mommsen dazu veranlassen, „die neue Ordnung staatsrechtlich keineswegs als Monarchie, auch nicht als beschränkte“ zu bezeichnen.36 Versuche, die Republik wiederherzustellen, habe es nur gegeben, insofern „dem Principat die Legitimität“ gefehlt habe.37 Wenn es eine rechtlich verfasste Monarchie gegeben hätte, wäre der Princeps nach der Auffassung von Mommsen folglich von der Notwendigkeit entbunden gewesen, permanent für seine Herrschaft um Akzeptanz werben zu müssen. Obwohl nach der Auffassung von Mommsen die Herstellung gesellschaftlicher Akzeptanz lediglich die Funktion übernimmt, ein rechtliches Defizit zu kompensie33
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„Es wird begreiflicher Weise, namentlich wo die Uebernahme des Principats nicht selbstfolglich ist, auf die ersten Regentenhandlungen des neuen Herrschers Gewicht gelegt, vor allem auf die erste Begrüssung durch die Soldaten als imperator oder vielmehr die Entgegennahme dieses Grusses; ferner auf die Annahme der dem Princeps zukommenden Titel; auf das Ausgeben der Loosung an die Palastwache; auf die erste Ansprache des anwesenden oder den ersten Erlass des abwesenden Kaisers an den Senat; auf das erste von ihm als Regenten an das Volk gerichtete Edict; aber keine dieser Acte hat den Werth einer rechtlich nothwendigen Formalität.“ StR II/2, 790 f. Egon Flaig, Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich, Frankfurt am Main u. a. 1992, 193. So stellt auch Michael Peachin fest, dass nach Mommsens Ansicht die Macht der Adelsgesellschaft die des Gesetzes ersetzt hat: „Anders gesagt, gerade eine mangelnde verfassungsmäßige Definition hat dazu beigetragen, dass – mindestens bis 217 n. Chr. – ausschließlich Männer senatorischen Rangs auf den Thron gelangten.“ Michael Peachin, Mommsens Princeps, in: Nippel, Seidensticker, Theodor Mommsens langer Schatten, 161–176, 169. StR II/2, 748; vgl. Winterling, Politische Integration, 96. StR III/2, 1253, Anm. 2.
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ren, bilden seine Beobachtungen für moderne kulturwissenschaftliche Fragen Anknüpfungsmöglichkeiten. Im Gegensatz zu den Autoren, die den Prinzipat als absolute Monarchie darstellten, hat Mommsen gezeigt, dass der Kaiser überhaupt auf die Herstellung von Akzeptanz angewiesen war, er aus sich heraus nicht allmächtig war und die Senatsaristokratie, die die alte republikanische Gesellschaftsordnung repräsentierte, von dem Kaiser nicht umgangen werden konnte. Trotz der inhaltlichen Differenzen zum modernen Akzeptanzbegriff hat Mommsen den Blick dafür geöffnet, dass stabile Herrschaftsverhältnisse im Prinzipat nicht über hierarchische, sondern letztlich nur über reziproke Machtbeziehungen geschaffen werden konnten.38 Der zweite Einwand gegen Flaig ist zugleich grundsätzlicher Art, da sich die Akzeptanzbegriffe von Theodor Mommsen und Egon Flaig auf verschiedene Sachverhalte beziehen. Während nach der Auffassung von Flaig die Akzeptanz des Kaisers von drei verschiedenen Instanzen abhängig war, dem Volk, dem Militär und dem Senat, richteten sich nach der Auffassung von Mommsen die kaiserlichen Bemühungen um Akzeptanz in erster Linie an die Senatsaristokratie. Flaig stellt die Ausführungen von Mommsen gewissermaßen auf den Kopf, wenn er behauptet, dass der Kaiser vom Volk in wesentlich höherem Maße abhängig gewesen sei als von der Zustimmung des Senats. Den Begriff der Dyarchie, der den Prinzipat als Herrschaft zwischen Kaiser und Aristokratie beschreibt, hat Flaig offenbar ignoriert, als er Mommsens Akzeptanzbegriff auf sein Modell gesellschaftlicher Strukturen übertrug, in dem die Akzeptanzverhältnisse zwischen Kaiser und Senat hinsichtlich ihrer Intensität ganz anders gedeutet werden als bei Mommsen. Wie die folgenden Textaussagen belegen, bezog sich nach Mommsens Ansicht das Werben der Kaiser um Anerkennung vor allem auf die Senatsaristokratie. Um den Erwartungen der Beherrschten gerecht zu werden, sei für den Kaiser ein an republikanischen Normen orientiertes Verhalten notwendig gewesen, das die „tief eingeprägten Adelsvorrechte“39 respektierte. Die bereits erwähnten Mitteilungen, die der Kaiser im Senat regelmäßig vortrug, hatten ebenfalls den Zweck, „mit dem vornehmen Publicum“ in Kontakt zu bleiben. Auch der numismatische Befund ist für Mommsen ein Beleg für die Existenz dyarchischer Strukturen. Auf den Münzen werde der Senat oder die Dyarchie dargestellt, wohingegen der populus Romanus, wie Mommsen feststellt, aus den Darstellungen vollkommen verschwunden sei.40 38 39 40
Wie diese Herrschaftsstrukturen etabliert wurden, wird in Kapitel V. dargestellt. StR II/2, 789. „Die persönliche Thätigkeit des Princeps […] ist das eigentliche Triebrad in der grossen Maschine des Kaiserreichs; und es ist ein Rad, dessen Bewegungen kaum zu übersehen und noch weniger auf feste Gesetze zurückzuführen sind.“ StR II/2, 948. StR III/2, 1259 ff. Vgl. dazu Reinhard Wolters, Prägungen des Kaisers vs. Prägungen des Senats. Mommsens „Dyarchie-These“ und die antike Numismatik, in: Hans-Markus von Kaenel, Maria R. Alföldi, Ulrike Peter, u. a. (Hg.), Geldgeschichte vs. Numismatik, Theodor Mommsen und die antike Münze (Kolloquium aus Anlaß des 100. Todesjahres von Theodor Mommsen (1817–1903) an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 1.-4. Mai 2003, Berlin 2004, 254 ff. Auch Peter Weiß, Städtische Münzprägung und zweite Sophistik, in: Barbara Borg (Hg.), Paideia. The World of the Second Sophistic, Berlin, New York 2004, 179–200, 183, zeigt, dass in der Provinz Asia im Münzbild nicht nur der Kaiser, sondern auch der Senat verehrt wurde. Wie Mommsen nachgewiesen hat, fanden sich in den senatorisch verwalteten
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Obwohl auch die Akzeptanz der plebs urbana und des Heeres durch entsprechende Rituale wie den Gefolgschaftseid41 der Soldaten erzeugt werden musste, richteten die Kaiser ihre Aufmerksamkeit in besonderem Maße doch immer auf die Herstellung aristokratischer Akzeptanz, solange aus den Reihen der Aristokratie potentielle Gegner zu erwarten waren.42 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Abhängigkeit der Kaiser von der Akzeptanz der Senatsaristokratie ebenfalls durch eine Analyse des Dyarchiebegriffes erkennbar wurde, der insofern auch für die Interpretation der machtpolitischen Verhältnisse einen hohen Erklärungswert besitzt. Welche akzeptanzerzeugenden Rituale zur Festigung der labilen Herrschaftsstrukturen notwendig waren, wird in den folgenden Ausführungen anhand von Beispielen aus der frühen Kaiserzeit dargestellt. In Kapitel VI wird untersucht, inwieweit auch im zweiten Jahrhundert die Paideia eine Möglichkeit für die Kaiser war, die „öffentliche Meinung zu heben und zu leiten“43. 1.1. Exkurs: Akzeptanzrituale Aristoteles, der im 5. Buch seiner Politik nach den Bedingungen für Untergang, Erhalt und Dauer von Verfassungen fragt, bezeichnet Hass und Verachtung als die zwei wichtigsten Faktoren, die den Sturz von Alleinherrschaften verursachten.44 Wie es den römischen Kaisern gelang, dem im letzten Abschnitt beschriebenen Akzeptanzdefizit entgegenzuwirken, soll in den folgenden Ausführungen anhand von Ritualen verdeutlicht werden sowie am Beispiel der Semantik, die die Kommunikation zwischen Kaiser und Aristokratie bereits seit der frühen Kaiserzeit prägte.
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Provinzen Münzen, auf denen der Kopf des personifizierten Senats zusammen mit dem Kaiserkopf dargestellt wurde. (StR III/2, 1260, Anm. 4) Auf den Reichsmünzen finden sich bildliche Darstellungen des Senats erst unter Konstantin. Den „Kaiser Senat“ abzubilden, sei jetzt unbedenklich gewesen, da die Dyarchie nicht mehr existierte. (StR III/2, 1260, Anm. 2) In den ersten Jahrhunderten wurde der Kaiser hingegen pater patriae, nicht aber pater senatus genannt, „weil für den Senat als den formalen Träger der Staatssouveränetät die Unterordnung sich nicht geziemte […].“ (StR III/2, 1259) – Die Ausführungen von Reinhard Wolters, die den von Mommsen hergestellten Zusammenhang zwischen den Ergebnissen der Numismatik und der These der Dyarchie zu dekonstruieren versuchen, unterschätzen meines Erachtens die politische Abhängigkeit des Kaisers vom Senat. Der Gefolgschaftseid dehnte sich bald auf die gesamte Reichsbevölkerung aus. Die damit verbundenen Huldigungs- und Loyalitätsgesten werden hervorgehoben von Peter Herrmann, Der römische Kaisereid. Untersuchungen zu seiner Herkunft und Entwicklung, Göttingen 1968, 90 ff. und Arnaldo Momigliano, Rez.: Ronald Syme, The Roman Revolution, in: Walter Schmitthenner (Hg.), Augustus, Darmstadt 1969, 140–152, 148 ff. Dass Marc Aurel vermutlich kein allzu großes Interesse für die Angelegenheiten des Volkes aufbrachte, wird ex negativo durch die Kritik des Volkes an einem Kaiser bestätigt, der es vorzog, während öffentlicher Veranstaltungen Vorträge zu hören oder seine Korrespondenz zu bewältigen, und so sein Desinteresse an den Zirkusspielen unverhohlen zum Ausdruck brachte. Vgl. dazu die Ausführungen auf S. 193. StR III/2, 1265. Aristot. pol. 1312 b14–16, 1312 b18 ff.; vgl. auch 1301 a19–24.
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II. Forschung
Auch hier wird erkennbar, dass nicht vornehmlich das Volk als Gefahr empfunden wurde, da es, wie Michael Mause am Beispiel des Augustus überzeugend dargestellt hat, zum einen nicht über Waffen verfügte und zum anderen aufgrund seiner Heterogenität nicht so zielgerichtet vorgehen konnte wie gelenkte senatorische Verschwörungen.45 Vielmehr wird am Verhalten des Augustus ablesbar, dass die Senatsaristokratie permanent als Bedrohung wahrgenommen wurde und nicht nur in den Situationen, in denen sie sich als verschworene Gemeinschaft konstituierte. So berichtet Sueton, Augustus habe eine Senatsversammlung nur lorica sub veste munitus ferroque cinctus betreten.46 Der von Sueton zitierte Historiker Cordus Cremutius bemerkt, es sei kein Senator zu Augustus vorgelassen worden, ohne dass seine Kleidung zuvor genau durchsucht worden sei.47 Wenn es dennoch zu Verschwörungen kam, versuchte Augustus auf den Einsatz von Gewalt zu verzichten, der die kaiserliche Akzeptanz zutiefst verunsichert hätte.48 Aus diesem Grund wurde Cornelius Cinna, der als Verschwörer normalerweise die Todesstrafe zu erwarten gehabt hätte, von Augustus begnadigt, damit dieser an ihm seine clementia unter Beweis stellen konnte.49 Die zum Lob der Kaiser eingesetzten Tugenden wie die civilitas, die moderatio und die modestas verdeutlichen, dass die Kaiser keinen eigenen Tugendkatalog ausbildeten, sondern an senatorische Tugenden anknüpften.50 Ein Äquivalent zu 45
Vgl. Michael Mause, Augustus. „Friedensfürst“ in einer unruhigen Zeit, in: Klio 81.1, 1999, 142–155. – Bereits im Jahr 22 v. Chr. schien das Volk von Rom, das angesichts von Naturkatastrophen und Hungersnöten Augustus zum dictator machen wollte, die neue Rolle des princeps akzeptiert zu haben. Vgl. dazu Aug. res gest. 5; Cass. Dio 54,1,1–5; Vell. 2,94,3; Vgl. Mause, Augustus, 152. 46 Suet. Aug. 35,1: „[…] geschützt durch ein Panzerhemd, das er unter seinem Gewand trug, und gegürtet mit dem Schwert […].“ 47 Cordus Cremutius scribit ne admissum quidem tunc quemquam senatorum nisi solum et praetemptato sinu. – „Cordus Cremutius schreibt, damals sei nicht einmal ein Senator zu ihm vorgelassen worden, wenn er nicht allein und seine Kleidung vorher nicht genau durchsucht worden war.“ (Suet. Aug. 35,2) 48 Vgl. Mause, Augustus, 150 ff. Auch Cotton und Yacobson beobachten, dass Augustus wie auch die späteren Kaiser sich eine offene Feindschaft nicht leisten konnten. Hannah M. Cotton, Alexander Yakobson, Arcanum imperii. The Powers of Augustus, in: Gillian Clark, Tessa Rajak (Hg.), Philosophy and Power in the Graeco-Roman World. Essays in Honour of Miriam Griffin, Oxford 2002, 193–209, 207. 49 Sen. de clem. 1,9,11; Cass. Dio 55,22,1 f. Maecenas habe ebenfalls Gnade bei Augustus erwirken können, der zunächst die vor Gericht Angeklagten zum Tode verurteilen wollte. Vgl. Cass. Dio 55,7,1. 50 Andrew Wallace-Hadrill, Civilis Princeps. Between Citizen and King, in: JRS 72, 1982, 32–48, 41; Aur. Vict. Caes. 3,3, Eutr. 7,8 und Hist. Aug. Claud. 2,3 belegen, dass es sich hierbei um zentrale Wertbegriffe der römischen Kaiser handelt. Wallace-Hadrill, Civilis Princeps, 45; Cotton und Yakobson, die den in den Quellen dokumentierten monarchischen und republikanischen Diskurs untersuchen, gelangen zu dem Ergebnis, dass die quasi republikanische Rede, die die Rolle des princeps relativieren sollte, nie ganz verloren ging. Vgl. Cotton, Yakobson, Arcanum imperii, 209. Vgl. Wickert, Princeps, 2231: „Von einem Tugendkanon kann man nur mit Vorbehalt sprechen, da der ideale Princeps schlechthin alle virtutes besitzt, die sich erdenken lassen.“ Nach der Auffassung von Hans Kloft ist die liberalitas ein Wert gewesen, der es dem Kaiser erlaubte, seine Anerkennung sowie seinen Führungsanspruch zu festigen. Vgl.
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dem griechischen mit einem eindeutigen Alleinherrschaftsanspruch verbundenen Begriff σεμνότης gab es als kaiserliches Attribut in Rom nicht.51 Ein besonders geeigneter Wertbegriff, der sowohl die Überlegenheit des Augustus als auch seine Bindung an die Tradition zu begründen vermochte, war die auctoritas. Augustus behauptet in dem prominenten Paragraphen 34 aus seinen res gestae, er sei an auctoritas allen anderen überlegen. Da es sich bei der auctoritas um einen relationalen Begriff52 handelt, positioniert sich Augustus mit dieser Behauptung nicht außerhalb der aristokratischen Gesellschaftsordnung. Vielmehr ist seine Überlegenheit nur dadurch zu ermessen, dass er sich an Personen bindet, die ebenfalls über auctoritas verfügen, aber in geringerem Maße als er selbst.53 So versucht Augustus auch dem Vorwurf kaiserlicher superbia entgegenzuwirken, indem er behauptet, sein Haus möge nicht größer sein als das der Aristokraten. Noch im zweiten Jahrhundert, als sich der Hof schon lange aus den aristokratischen Häusern ausdifferenziert hatte54, wurden die faktischen Differenzen zwischen Kaiser und Aristokratie bestritten, wie die folgenden Bemerkungen Marc Aurels dokumentieren: Von Antoninus Pius habe er gelernt, „ὅτι δυνατόν ἐστιν ἐν αὐλῇ βιοῦντα μήτε δορυφορήσεων χρῄζειν μήτε ἐσθήτων σημειωδῶν μήτε λαμπάδων καὶ ἀνδριάντων τοιῶνδέ τινων καὶ τοῦ ὁμοίου κόμπου, ἀλλ᾿ ἔξεστιν ἐγγυτάτω ἰδιώτου συστέλλειν ἑαυτὸν […].“55 Mit all diesen Äußerungen war der Wunsch verbunden, bestehenden Unterschieden Akzeptanz zu verschaffen. Die Anstrengungen, die Augustus unternahm, um so wahrgenommen zu werden, wie er meinte, dass die Aristokratie ihn sehen wollte, äußerten sich entsprechend dem Bericht des Sueton in einer permanenten Selbstkontrolle. Ein Beispiel sind verschiedene Versuche des Augustus, sich von nicht akzeptablen Verhaltensweisen seiner Familienmitglieder zu distanzieren. Aus Angst, in der Öffentlichkeit
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Hans Kloft, Liberalitas principis, Wien 1970. In Anknüpfung an die Ausführungen von Hans Kloft wird auf S. 173, Anm. 9 hingegen gezeigt, dass die liberalitas gegenüber den Senatoren für die Herstellung kaiserlicher Akzeptanz nicht immer problemlos war, sondern sich sogar kontraproduktiv auswirken konnte. Vgl. dazu Ulrich Huttner, Recusatio imperii. Ein politisches Ritual zwischen Ethik und Taktik, Hildesheim 2004, 113. Wallace-Hadrill, Civilis Princeps, 35. Zum Begriff der auctoritas vgl. Jochen Bleicken, Die Verfassung der römischen Republik. Grundlagen und Entwicklung, Paderborn u. a. 71995, 208 f.; Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, 678 ff., bes. 682. Wie Uwe Walter prägnant zusammenfasst, habe Augustus sich die „Begriffe und Maßstäbe der aristokratischen Kommunikation“ angeeignet und „mit Hilfe der ihm zur Verfügung stehenden Medien“ dafür gesorgt, „dass seine Politik den römischen Traditionen nicht nur entsprach, sondern diese geradezu erst wieder auf die Füße stellte“. Vgl. Uwe Walter, Memoria und res publica. Zur Geschichtskultur im republikanischen Rom, Frankfurt am Main 2004, 416, 414. Siehe auch Alain M. Gowing, Empire and Memory. The Representation of the Roman Republic in Imperial Culture, Cambridge 2005. Sueton, Nero 31,1; vgl. Winterling, Aula Caesaris, 66 f. M. Aur. ad se ipsum 1,17,5: „[…] daß es [nicht nur] möglich ist, am Hofe zu leben, ohne Leibwächter zu benötigen oder auffallende Kleider, Kronleuchter, Standbilder, andere Dinge dieser Art und ähnlichen Prunk, sondern daß es möglich ist, sich fast wie ein Privatmann zu geben […].“
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II. Forschung
mit unliebsamen Geschichten identifiziert zu werden, hielt Augustus sich von der menschlichen Gesellschaft fern und überlegte sogar, Familienmitglieder beseitigen zu lassen.56 Wie sehr genau Augustus seine Außenwirkung überwacht haben muss, wird schließlich daran erkennbar, dass er vor dem Senat, vor dem Volk oder vor den Soldaten nicht mehr aus dem Stegreif sprach, sondern seine Reden sorgsam einstudierte und ausarbeitete. Auch bei Gesprächen, die er mit Einzelpersonen oder sogar mit seiner Frau Livia führte, habe er Aufzeichnungen aus seinem Notizbuch zur Hand gehabt, ne plus minusve loqueretur.57 Solche Formen der Selbstinszenierung, die den gesamten Alltag prägten, waren nicht bloß ein zum Zeitvertreib geeignetes Spiel, oder eine Fassade, sondern ein machtpolitisches Instrument, um aristokratische Feindseligkeiten möglichst gering zu halten.58 Ein wesentlicher Bestandteil des hier beschriebenen normativen Diskurses waren bestimmte Rituale, die ebenfalls die Funktion hatten, die Akzeptanz der Aristokratie herzustellen. Bereits am 13. Januar im Jahr 27 v. Chr. erklärte Augustus während einer Senatssitzung, auf seine Macht verzichten und die Armee, die Provinzen und die Gesetze dem Senat zurückgeben zu wollen.59 Als Begründung verweist er auf die mit seiner Machtposition verbundenen Reaktionen des Volkes wie Neid und Misstrauen, die, wenn sie sich in Intrigen oder Anschlägen zuspitzten, seine Herrschaft ebenso wie sein Leben bedrohten.60 Die Tatsache, dass Augustus gebeten wurde, die Macht doch zu übernehmen, lässt seine Rücktrittserklärung nicht als leere Formalität oder als bloße Farce erscheinen61, sondern als einen entscheidenden Schritt, der die Wahrnehmung seiner Herrschaft fundamental veränderte. 56 57 58
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Suet. Aug. 65,2. Suet. Aug. 84,2: „[…] um nicht zu viel oder zu wenig zu sagen.“ Nach der Auffassung von Achim Landwehr ist der Begriff der Macht, der „die Vorstellung von Zentrum und Tiefe suggeriert“, für die Frage, wie Herrschaftsstrukturen funktionieren, geeigneter als der Begriff der Politik, der zunächst die „Idee von Oberfläche evoziert“. „Im Gegensatz zu einem Politikbegriff, der sich traditionellerweise mit den Stichworten Staat, Regierung, große Männer und Ereignis verband, verweist der Machtbegriff auf seine eigene Omnipräsenz, die zeitlich, räumlich und sozial alles durchdringt“. Achim Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: AKG 85.1, 2003, 71–117, 94. Cass. Dio 53,4,3; 9,6. Ausführlich ist die Senatsrede des Augustus bei Cassius Dio referiert (53,3–10). Augustus kommentiert im selben Jahr in seinen res gestae, er habe die res publica aus seiner potestas der Verfügungsgewalt des Senates und Volkes von Rom überantwortet: […] rem publicam ex mea potestate in senat[us populique Rom]ani [a]rbitrium transtuli. – „[…] das politische Gemeinwesen aus meinem Machtbereich wieder der freien Entscheidung des Senats und des römischen Volkes übertragen.“ (Aug. res gest. 34) Cass. Dio 53,6,2; vgl. auch 53,8,6–7. Im Jahre 2004 erschien erstmals eine Monographie zur recusatio imperii: Ulrich Huttner, Recusatio imperii. Ein politisches Ritual zwischen Ethik und Taktik, Hildesheim 2004. In der älteren Forschung kam ihr hingegen lange Zeit eine eher marginale Bedeutung zu. Sie findet weder in einem grundlegenden Handbuch: François Jacques, John Scheid, Rome et l’intégration de l’Empire (44 av. J.-C.–260 ap. J.-C.), I: Les structures de l’Empire romain, Paris 1990 [dt. 1998], noch in der RE eine Erwähnung. Im Neuen Pauly finden sich unter entsprechendem Lemma lediglich Ausführungen zur recusatio in der Dichtung. Auch die Dissertation von Tim Junk, Die augusteische recusatio, Kiel 2001 beschäftigt sich ausschließlich mit der recusatio
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Mit der recusatio imperii ist es Augustus gelungen, sich vom Vorwurf der Alleinherrschaft zu befreien, insofern zunächst einmal alles, was er tat, als Folge nicht mehr seines, sondern des Willens der Aristokratie verstanden werden konnte.62
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von Dichtern in augusteischer Zeit. Wegweisend für die neuere Forschung waren die Arbeiten von Jean Béranger, Recherches sur l’aspect idéologique du principat, Basel 1953, 137–169, der unter anderem in Opposition zu Otto Seeck die recusatio als historische Realität ernst zu nehmen begann und als Untersuchungsgegenstand etablierte. Nach Otto Seeck waren es nur die Panegyriker, die gezwungen waren, „auch solche Farcen ernst zu nehmen“, während die Historiker sie als „leere Formalität übergehen konnten“. Otto Seeck, Geschichte des Untergangs der antiken Welt, Bd. 5, Stuttgart 21920 (ND Darmstadt 1966). – Die recusatio war auch nicht eine bloße Form der Manipulation, die die Macht des Augustus in besonderer Weise demonstriert hätte. Vgl. Cotton, Yakobson, Arcanum imperii, 194 ff. Ein weiteres, der recusatio vergleichbares Ereignis, mit dem Augustus auch während seiner Herrschaft noch jeden Verdacht von Alleinherrschaftsansprüchen weit von sich zu weisen suchte, war die Ablehnung der Diktatur im Jahr 22 v. Chr. Eine Hungersnot, Epidemien und die Überschwemmung des Tiber veranlassten die plebs, Augustus aufzufordern, die Diktatur zu übernehmen. Augustus, dem es nicht gelang, sich diesen Bitten zu entziehen, fiel schließlich auf die Knie und riss die Toga von seiner Brust. (Suet. Aug. 52–53) Auch dieses Ereignis wurde in der Forschung lange als eine bloße Episode behandelt, wie Alföldy 1972 bemerkte. Alföldy stellt vor allem die hohe politische Wirkung heraus, die dieses Ereignis hatte: nullum magistratum contra morem maiorum delatum recepi. Vgl. Géza Alföldy, Die Ablehnung der Diktatur durch Augustus, in: Gymnasium 79, 1972, 1–12, 5. Dass die Stabilisierung der Macht abhängig ist von der Herstellung eines Konsenses, ist in der politischen Theorie schon immer beobachtet worden. Wie Max Weber feststellt, könne Gehorsam, der die Voraussetzung jeder Herrschaft sei, nur auf der Grundlage eines „gemeinsamen Beschlusses“ gewonnen werden. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1972, 28. Ein weiterer klassischer Text zur politischen Theorie ist der Politische Traktat Spinozas. Auch für Spinoza besteht eine wichtige Voraussetzung für die Herstellung von Gehorsam darin, dass die Herrschenden die Interessen der Beherrschten reproduzieren, da die Menschen ihren Affekten unterworfen sind und es infolgedessen am wenigsten dulden, nach einer anderen als ihrer eigenen Sinnesart zu leben. Dass die Menschen in vielen Fällen nur meinen, übereinzustimmen, sei nur natürlich, für die Stabilisierung von Herrschaft aber unerheblich. Baruch de Spinoza, Politischer Traktat. Tractatus politicus (lat.-dt.), neu übers., hg., mit Einl. und Anm. versehen von Wolfgang Bartuschat, Hamburg 1994, 11, 69. – Zur Wirkung der recusatio imperii vgl. auch die folgende bei Sueton zitierte Aussage des Augustus: ‚compos factus votorum meorum, p.c., quid habeo aliud deos immortales precari, quam ut hunc consensum vestrum ad ultimum finem vitae mihi perferre liceat?‘ – „Ich bin am Ziel meiner Wünsche, Senatoren; um was kann ich die unsterblichen Götter noch bitten, als daß es mir gestattet sei, diese eure allgemeine Zustimmung bis ans Ende meines Lebens zu genießen?“ (Suet. Aug. 58,2) Laut Béranger, L’aspect idéologique du principat, 152 hat die recusatio, „sincère ou non“, eine „explosion de loyalisme“ ausgelöst und zwar vermutlich unabhängig davon, dass die Senatsmitglieder hinsichtlich der augusteischen Politik durchaus gespalten waren, wie Cassius Dio 53,11,1–4 berichtet. Vgl. dazu auch Huttner, Recusatio imperii, 22 f. und Hans Ulrich Instinsky, Consensus universorum, in: Hans Oppermann (Hg.), Römische Wertbegriffe, Darmstadt 1967, 226: „Was aber seiner Stellung (des Augustus) die Dauer verliehen hat, ist nicht in erster Hinsicht eine formale Legitimation, ist nicht die Gewalt der Machtmittel, über die er verfügte, gewesen, sondern die Überzeugung von Senat und Volk, daß der Sieger von Actium der Retter des Staates und sein berufener Führer sei.“ Auf Zeichen der Übereinstimmung und Zustimmung verweisen Cassius Dio 51,19 und Velleius Paterculus 2,89,1. Vgl. auch Wallace-Hadrill, Civilis princeps, 44. Es geht bei der Selbstdarstellung des Kaisers nicht um die ideologische Frage nach dem Verhältnis von Sein und Schein. Wie Christian Meier hervor-
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II. Forschung
Seine Herrschaft konnte somit nicht mehr als Folge eines fremden, der Aristokratie aufgezwungenen Willens bezeichnet werden.63 Die Umstellung von hierarchischen auf reziproke Machtstrukturen, die der Aristokratie im Prozess der Herrschaftsübernahme einen eigenen Willen einräumte und somit gewissermaßen ihre Freiheit wiederherstellte, war eine wichtige Voraussetzung für die Stabilisierung der aristokratischen Akzeptanz. Ein weiteres Ritual, das die Anerkennung des Kaisers bestätigte, waren die in der Forschung eher selten beachteten decennalia. Hierbei handelt es sich um ein Ereignis, bei dem alle zehn Jahre die zu Beginn der Herrschaft stattgefundene recusatio imperii bekräftigt wurde. Mit Hilfe dieses Rituals distanzierte sich der Kaiser noch einmal von seiner Herrschaft, um den Senatoren erneut die Gelegenheit zu geben, ihn zu bitten, die Herrschaft doch zu übernehmen. Die im Jahr 34 zum zweiten Mal stattfindenden Decennalien während der Herrschaft des Tiberius verdeutlichen, dass dieses Ritual die Funktion hatte, den Senat als diejenige Instanz zu bestätigen, die den Kaiser legitimierte. Obwohl Tiberius nicht einmal in Rom anwesend war, beschlossen die Konsuln Lucius Vitellius und Fabius Persicus, die Decennalien trotzdem zu feiern, mit der Begründung, es wäre für sie wie zur Zeit des Augustus eine Gelegenheit, sich selbst der Tatsache zu vergewissern, dass der Kaiser von ihnen seine Macht übertragen bekomme.64 Aufgrund der hier herausgestellten herrschaftsstabilisierenden Funktionen der Decennalia ist davon auszugehen, dass diejenigen Kaiser, die eine prosenatorische Politik anstrebten, auf dieses Ritual nicht verzichteten, auch wenn in vielen Fällen Nachrichten hierüber nicht vorhanden sind. Schließlich ist ein drittes Ritual vorzustellen, das ebenfalls mit der Funktion verbunden war, Akzeptanz für die zwischen Kaiser und Aristokratie sich entwickelnden Machtstrukturen herzustellen. Dies waren die sogenannten gratiarum actiones.65 Bei diesen an den Kaiser gerichteten Danksagungen handelte es sich um ein Ritual, das mehrfach im Jahr während der Amtsantritte der Konsuln im Senat
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hebt, war die augusteische Monarchie das, „was sie zu sein intendierte“. Für die Beziehungen zwischen Kaiser und Aristokratie hatte das Verhalten des Augustus eine stabilisierende Wirkung, unabhängig davon, ob es als nur geschauspielert oder als „wahr“ bezeichnet wird. Vgl. Christian Meier, Augustus. Die Begründung der Monarchie als Wiederherstellung der Republik, in: ders. (Hg.), Die Ohnmacht des allmächtigen Dictators Caesar. Drei biographische Skizzen, Frankfurt am Main 1980, 225–287, 273. – Wie Cassius Dio berichtet, versuchte er, auch nachdem er den Konsens vom Senat erreicht hatte, als „demokratischer“ Kaiser wahrgenommen zu werden. Das Bild des „demokratischen“ Kaisers, das vor allem im 2. Jahrhundert die Funktion hatte, den Erwartungen der Aristokratie gerecht zu werden, wird in dieser Arbeit in Kapitel V.2. diskutiert. Vgl. Cass. Dio 53,12,1. Vgl. dazu Meyer Reinhold, P. Michael Swan, Cassius Dio’s Assessment of Augustus, in: Kurt A. Raaflaub, Mark Toher (Hg.), Between Republic and Empire. Interpretations of Augustus and his Principate, Berkeley, Los Angeles, Oxford 1990, 155–173, 167. Wie Cassius Dio feststellt, war es das Ziel des Augustus, dass ihm freiwillig die Alleinherrschaft übertragen werde. Vgl. Cass. Dio 53,2,6. Cass. Dio 58,24,1. Vgl. für die folgenden Ausführungen Gunnar Seelentag, Taten und Tugenden Traians. Herrschaftsdarstellung im Principat, Stuttgart 2004. Seelentag beobachtet eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen den gratiarum actiones und den recusationes.
2. Probleme und Aporien der Forschung
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stattfand.66 Diese Reden, zu denen insbesondere der Panegyrikos des jüngeren Plinius gehört, waren mehr als bloße Schmeichelreden auf den Princeps.67 Mit dem Lob kaiserlicher Tugenden war zugleich ein politischer Appell an das prosenatorische Verhalten des Kaisers verbunden, der ihn daran erinnern sollte, dass er sich auch in Zukunft an die an ihm so gepriesenen virtutes halten müsse, wenn er die ihm entgegengebrachte Anerkennung nicht verspielen wolle.68 Ein gemeinsames Merkmal fast aller virtutes war die Distanzierung von Alleinherrschaftsansprüchen als auch von einer göttlichen Überhöhung. Während Trajan, der darauf verzichtete, sich als Gott verehren zu lassen, nach der Auffassung des Plinius dem Bild des optimus princeps entsprach, wurde Domitian aufgrund seiner eigenen Vergöttlichung untrennbar mit dem Bild des Tyrannen verknüpft. Die Fähigkeit eines Kaisers, die vom Senat gewünschten Gesten der civilitas zu demonstrieren, entschied darüber, welcher Kategorie er später zugeordnet werden würde, der Imago des idealen Herrschers oder der Imago des Tyrannen.69 Im zweiten Jahrhundert war nicht mehr nur der Bezug auf den aristokratischen Tugendkatalog, sondern auch die Paideia ein zentrales Medium dieses Herrschaftsdiskurses. Dies sowie der hier bereits angedeutete Tyrannisdiskurs werden in Kapitel V ausführlich behandelt. 2. PROBLEME UND APORIEN DER FORSCHUNG Die Frage, in welchem Verhältnis Philosophie und Politik im zweiten Jahrhundert zueinander standen, hat innerhalb der Forschung Aporien und Widersprüche hervorgebracht, deren Ursache jedoch weniger in der Kohärenz der verschiedenen Argumentationsstrukturen als in den jeweiligen Prämissen der einzelnen Untersuchungen liegt. Schwierigkeiten entstehen vor allem immer dann, wenn die im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Differenzen zwischen der gesellschaftlichen Rangordnung und der höfischen Hierarchie nicht berücksichtigt werden. Ein weiterer Problemkreis entsteht, wenn eine Erklärung für die von Marc Aurel hergestellte Vereinbarkeit von Philosophie und Politik auf der Ebene ideengeschichtlich oder 66 67
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Seelentag, Taten und Tugenden Traians, zeigt auf den Seiten 220 ff., dass die Reden regelmäßig gehalten wurden. Ebd. 224. In vergleichender Perspektive sei hier auch auf die Ausführungen von Hans-Ulrich Wiemer verwiesen, der die politische Funktion der Panegyrik in der Spätantike untersucht. Vgl. Hans-Ulrich Wiemer, Libanios und Julian. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Politik im vierten Jahrhundert n. Chr., München 1995, 372 ff. Martin Fell, Optimus Princeps? Anspruch und Wirklichkeit der imperialen Programmatik Kaiser Traians, München 1992, 107 hat bereits beobachtet, dass in dem Panegyrikos Forderungen und Verhaltenserwartungen formuliert worden sind, die die Senatoren an den Kaiser richteten. Seelentag geht noch einen Schritt weiter, wenn er behauptet, dass die Reden einen jener politischen Räume bildeten, in denen die kaiserliche Herrschaftsdarstellung verhandelt und nicht nur von den Senatoren bestätigt wurde. Seelentag, Taten und Tugenden Traians, 497, 227; auf den Seiten 30 ff. bezeichnet Seelentag diesen Mechanismus der Kommunikation als affirmatives Fordern. Vgl. Seelentag, Taten und Tugenden Traians, 493. Eine ausführlichere Darstellung der innerhalb der Zweiten Sophistik zentralen Tyrannis- und Demokratiereden erfolgt in Kapitel V.
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II. Forschung
machtpolitisch argumentierender Ansätze gesucht wird, die ihre Ergebnisse entweder aus dem philosophischen Denken oder dem politischen Handeln abzuleiten versuchen. 2.1. Philosophie und Kaisertum – Ein strukturgeschichtliches Problem Ein Beispiel für den ersten Problemkreis ist die Kontroverse zwischen Ewen L. Bowie70 und Glen W. Bowersock71, die beide die Frage untersuchen, welche Rolle die Bildung für gesellschaftliche Aufstiegschancen übernommen hat. Bowersock versucht eine kausale Verbindung zwischen Bildung und Aufstiegschancen durch seine Ausführungen zum Amt des ab epistulis graecis mit einem Auszug aus der ecloge des Phrynichos nachzuweisen: ἐν παιδείᾳ μέγιστον ἀξίωμα ἁπάντων ἔχοντα σὲ καὶ διὰ τοῦτο ἐκ προκρίτων ἀποφανθέντα ὑπὸ βασιλέων ἐπιστολέα αὐτῶν.72 Im Gegensatz zu Bowersock vertritt Bowie die These, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem intellektuellen Vermögen einer Person und ihrer gesellschaftlichen Stellung nicht gegeben habe, da ein Aufstieg in die römische Elite eher von Faktoren wie Abstammung und Reichtum abhängig gewesen sei als von dem Erfolg auf dem intellektuellen Sektor.73 Für sich genommen haben beide Autoren recht. Die Ursache ihrer Differenzen besteht letztlich nicht in einer widersprüchlichen Interpretation derselben Quellen, sondern darin, dass sich ihre Untersuchungen auf verschiedene Sachverhalte beziehen. Während Bowersock seine These am Beispiel der höfischen Hierarchie untersucht, entnimmt Bowie seine Beispiele der gesellschaftlichen Rangordnung. Wenn zwischen den beiden Teilsystemen, der aristokratischen und der höfischen Ordnung, in denen die Bedingungen für gesellschaftliche Aufstiegschancen unterschiedlich waren, keine Differenzierung vorgenommen wird, müssen auch generalisierende Aussagen über den Zusammenhang von Bildung und Macht notwendigerweise in Widerspruch geraten. Welche unterschiedlichen Funktionen es waren, die die Philosophie in den jeweiligen Teilsystemen übernommen hat, wird im IV. Teil dieser Arbeit untersucht. Inwieweit es darüber hinaus berechtigt ist, der Philosophie eine die Differenzen übergreifende gesamtgesellschaftliche Funktion beizumessen, wird in den Kapiteln V und VI gefragt. Auch anhand anderer Argumentationsansätze, die ebenfalls ein auf Einheit beruhendes Gesellschaftssystem voraussetzen, wird erkennbar, dass die nicht berücksichtigten Doppelstrukturen zwischen der sozialen und politischen Ordnung auf einer anderen Ebene wieder aufkeimen können, so zum Beispiel als ein der stoischen Morallehre inhärentes Problem. Peter A. Brunt verweist in seinem Aufsatz 70 71 72
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Ewen L. Bowie, The Importance of Sophists, in: YCS 27, 1982, 29–59. Glen W. Bowersock, Greek Sophists in the Roman Empire, Oxford 1969. Phrynichos ecl. 394: „Weil du in der Bildung den größten Ruhm besitzt und deswegen unter den Kandidaten von den Kaisern zu ihrem Sekretär ernannt worden bist […].“ – Bei den hier erwähnten Kaisern handelt es sich um Marc Aurel und Commodus. Vgl. Bowersock, Greek Sophists, 54 ff. Vgl. Bowie, The Importance of Sophists, 49 ff.
2. Probleme und Aporien der Forschung
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„Stoicism and the Principate“74 gleich zu Beginn seiner Ausführungen auf die auf eklatanten Widersprüchen beruhende Haltung der Stoiker gegenüber dem Prinzipat. Der Stoiker habe gleichzeitig zwei verschiedene Rollen übernommen: „Stoics seem to be both upholders and opponents of the regime“75. Diese Haltung der Stoiker gegenüber dem Prinzipat sei jedoch nicht auf äußere Machtverhältnisse zurückzuführen.76 Ihre Ursache liege vielmehr in dem Widerspruch zwischen den von der Philosophie gesetzten Normen und dem tatsächlichen Verhalten der Kaiser begründet: „We might then infer that it was not political authority, nor monarchy as such, that Stoics rejected, but those rulers whose vile conduct made them ‚tyrants‘, and that what they admired in Cato was not his fight for the republic but his rectitude and constancy.“77 Im Gegensatz zu Brunt wird im fünften Teil dieser Arbeit insbesondere der Tyrannisdiskurs als ein zentraler Bestandteil weniger der kaiserzeitlichen Moralvorstellungen als der zwischen den Kaisern und den gebildeten Oberschichten stattfindenden politischen Kommunikation dargestellt. Das Bild des Tyrannen, mit dem die Kaiser kontinuierlich konfrontiert wurden, enthielt nicht nur eine normative Botschaft. Es hatte vor allem die Funktion, der Aristokratie Macht- und Einflusschancen zuzusichern und die Akzeptanz derjenigen Kaiser infrage zu stellen, die den Erwartungen der Aristokratie nicht entsprachen. Die widersprüchliche Haltung der Stoiker gegenüber dem Prinzipat, die Brunt beobachtet, wird somit nicht als ein Resultat der stoischen Morallehre verstanden, sondern als ein Ausdruck der auf einer normativen Ebene reproduzierten Machtprobleme der gesellschaftlichen Doppelstrukturen, die die Stoiker im Medium der Philosophie zu ihrem Verhandlungsgegenstand gemacht haben. Auch Johannes Hahn gelangt zu der Feststellung, dass sich der Philosoph stets in einem Spannungsverhältnis zwischen Inklusion und Exklusion befunden habe.78 Im Rahmen seiner Untersuchung, die den gesellschaftlichen Status von Philosophen zum Gegenstand hat, wird den Philosophen letztlich eine Position außerhalb der Gesellschaft zugewiesen. Diese Außenseiterposition führt Johannes Hahn jedoch nicht auf gesellschaftliche Ursachen zurück, sondern ebenfalls auf die Inhalte der Philosophie. Die Autorität von Philosophen verdanke sich dem Anspruch auf παρρήσια sowie der mit ihr verbundenen pädagogischen Funktion, den Kaiser über Fragen des richtigen Herrschens aufzuklären und ihn gegebenenfalls in die Schranken seiner Macht zu verweisen. „Der Philosoph – obwohl äußerlich machtlos – zwingt dem Kaiser die Einsicht in die Grenzen der ihm allein zur Verfügung stehenden physischen Machtmittel auf und beweist ihm die Überlegenheit des von unbeugsamem
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Peter A. Brunt, Stoicism and the Principate, in: PBSR 43, 1975, 7–35. Brunt, Stoicism and the Principate, 7. Ebd. 9 ff. Ebd. 9. Hahn, Der Philosoph, 43. Auch die äußere Erscheinung und das Auftreten der Philosophen bedeutete „ebenso sichtbare Abgrenzung von wie kommunikatives Medium zu seiner Umwelt“. Vgl. ebd. 34.
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Willen beseelten Geistes.“79 Wie diese den Philosophen zugewiesene Existenz am Rande der Gesellschaft mit dem Befund zu vereinbaren ist, dass fast alle Philosophen ausnahmslos Mitglieder der Oberschicht waren und häufig politische Ämter übernommen haben, bleibt hingegen ungeklärt. Wie Johannes Hahn gezeigt hat, sei der „Fall des Epiktet als eine krasse Ausnahme“80 zu bewerten: „Von keinem anderen Philosophen wird berichtet oder läßt sich auch nur aufgrund von Indizien vermuten, daß er Sklave oder Libertiner gewesen wäre.“81 Nur wenn das Kaisertum als eine einheitliche Struktur verstanden wird, kann den Philosophen eine Position außerhalb der Gesellschaft beigemessen werden. Aus der Perspektive der sozialen und politischen Doppelstrukturen zeigt sich hingegen, dass die Kaiser und die gebildeten Oberschichten Teil desselben Systems waren. Unter dieser Voraussetzung stellt sich auch die Kritik der Philosophen als ein inhärenter Bestandteil der gesellschaftlichen Machtstrukturen dar.82 2.2. Marc Aurel und die Philosophie – Zwischen Idealismus und Machtpolitik Der zweite Problemkreis entzündet sich an der Frage, ob der Titel des Philosophenkaisers von Marc Aurel zu Recht geführt werde und es ihm gelungen sei, Philosophie und Politik miteinander zu vereinbaren. Wie bereits in der Einleitung ausführlicher dargelegt wurde, sind ideengeschichtlich und machtpolitisch geleitete Ansätze oft nicht weitreichend genug, um diese Frage beantworten zu können.83 Während ideengeschichtliche Ansätze politisch geleitete Machtabsichten häufig unterschätzen, sind machtpolitische Ansätze nicht weitreichend genug, um erkennen zu können, dass die Philosophie nicht nur ein aus den sozialen Strukturen abgeleitetes Phänomen darstellt, sondern durchaus gesellschaftlich relevante Funktionen übernehmen kann. Den ideengeschichtlichen Ansätzen ist der weitaus größere Teil der Forschung zu Marc Aurel zuzuordnen. So führt zum Beispiel Enrico Monti sowohl die Gesetzgebung Marc Aurels, als auch sein Verhältnis zum Senat sowie die Struktur des Staates allein auf die „ethische und moralische Einstellung“ des Kaisers zurück.84 Nach der Auffassung von Claus Schrempf, sei die Herrschaft Marc Aurels allein von seiner Philosophie beseelt gewesen: „Niemals ist ein so großes Reich mit soviel Weisheit und Milde regiert und auf die Wohlfahrt seiner Bürger hin eingerichtet worden.“85 Mirgeler betont vor allem die moralisch-pädagogische Aufgabe des Kaisers: „Seine Aufgabe war nicht allein das Beherrschen eines Weltreiches, sondern auch die Erziehung des 79 80 81 82 83 84 85
Ebd. 188. Ebd. 80. Ebd. 80. Wie Johannes Hahn selbst bemerkt, lässt auch das Quellenmaterial nicht auf eine machtlose Existenz der Philosophen am Rande der Gesellschaft schließen. Barbara Maier, Philosophie und römisches Kaisertum, hat bereits nach den wechselseitigen Beziehungen zwischen der Philosophie und dem römischen Kaisertum gefragt, jedoch unter anderen methodischen Vorannahmen als in dieser Arbeit. Enrico Monti, Marc Aurel. Römischer Kaiser aus Pflicht, Regensburg 2000, 170 ff., 178 ff. Schrempf, Weisheit und Weltherrschaft, 49 ff., 53.
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einzelnen Bürgers dieses Reiches zum pflichterfüllenden und damit lebenden Gliede dieses Staates.“86 Im Rahmen dieser Interpretationsansätze werden Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit mit dem Blick auf äußere Ursachen gelöst, die der Verantwortung des Menschen nicht zugerechnet werden können. Durch eine „gesinnungsethische“87 Argumentation wird die Aufmerksamkeit allein auf die Haltung des Handelnden und nicht auf die Handlung als solche gerichtet, die sich der Kontrolle des Menschen entziehen kann und deren Folgen deshalb als unbeabsichtigtes Nebenprodukt behandelt werden. Als problematisch erweist sich dieser Ansatz hingegen, wenn die über eine gesinnungsethische Argumentation gewonnenen Informationen auf die Interpretation konkreter Handlungen angewendet werden. So vertritt Peter A. Brunt die These, dass der Stoiker seine Handlungen allein an den Prinzipien der Philosophie ausrichtet und insofern kein äußerer oder politischer Imperativ darüber entscheiden könne, ob der Stoiker sich beispielsweise in das politische System integrieren oder den gesellschaftlichen Rückzug bevorzugen solle. Entsprechend sei es nach stoischer Auffassung beispielsweise nicht richtig, jemandem eine öffentliche Rolle zu übertragen, der hierfür „von Natur aus“ nicht geeignet sei, da er diese Position schlecht ausfüllen würde und gleichzeitig die Chance verlöre, eine andere, ihm bestimmte Rolle gut auszufüllen.88 Welcher Lebensform ein Stoiker den Vorzug gab, der Abgeschiedenheit oder der politischen Tätigkeit, der vita activa oder der vita contemplativa89, sei ausschließlich auf der Grundlage ‚innerer‘ Beweggründe entschieden worden. Diese Auffassung soll im Kapitel über die Oikeiosis-Lehre kritisch hinterfragt werden. Da die Entscheidung für eine politische Laufbahn auch in der Kaiserzeit von existenzieller Bedeutung war, insofern der gesellschaftliche Status noch immer an dem über die magistratischen Ämter vermittelten Rang bemessen wurde, ist es zu bezweifeln, dass die Entscheidung für oder gegen die Übernahme eines politischen Amtes allein von ‚inneren‘ Beweggründen abhängig gewesen sein soll. 86
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Josef Mirgeler, Die Stellung des Menschen in der Gesellschaft der ausgehenden Antike. Entwickelt aus den Selbstgesprächen Marc Aurels, Diss. Köln 1958, 81. Vgl. dazu Charles Parain, Marc Aurèle, Brüssel 1982, 114 f., 126 f. Auch Pierre Grimal, Marc Aurèle, Fayard 1991, 130, 150 ff. misst der Philosophie einen hohen Einfluss auf das politische Handeln Marc Aurels bei: „Sa monarchie sera essentiellement fondeé sur les valeurs spirituelles.“ Vgl. dazu Ute Schall, Marc Aurel. Der Philosoph auf dem Caesarenthron, München 1991, 163 f., die ebenfalls das politische Handeln Marc Aurels auf die philosophische Gesinnung des Kaisers zurückführt, auch wenn es, wie sie behauptet, mit Blick auf die historische Realität genug Anlass gebe, dies infrage zu stellen. Darüber hinaus wird in der Literatur insbesondere am Beispiel der Herrschaft Domitians und der senatorischen Opposition des ersten Jahrhunderts die These vertreten, dass die Philosophie sogar eine tatsächliche Gegenmacht zur staatlichen Macht gewesen sei. Die Begriffe „gesinnungsethisch“ und „Gesinnungsethik“ entsprechen Kategorien im Werk Max Webers. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Nachlaß, Teilband 2: Religiöse Gemeinschaften (MWG I 22.2), hg. v. Hans G. Kippenberg, in Zusammenarbeit mit Petra Schilm und unter Mitwirkung von Jutta Niemeier, Tübingen 2001, 310 f. Handlungsleitend sei allein ein Leben „gemäß der Natur“. Zum Begriff der vita activa vgl. S. 103 ff. sowie Anm. 241.
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Eine vergleichbare Form der Argumentation ist auf den Subjektivitätsbegriff anzuwenden, der nach stoischer Auffassung ebenfalls nicht ausschließlich auf ‚innere‘ Eigenschaften verweist. Stattdessen entsteht Subjektivität entsprechend ihrer Annahme durch die Übertragung gesellschaftlich vermittelter Werte auf ein Subjekt.90 Insofern Subjektivität über äußere Bedingungen konstituiert wurde, war der Bezug zum gesellschaftlichen Leben auch unter diesem Aspekt existenziell. Diese Überlegungen führen bereits zu der Vermutung, dass die Philosophie nicht den Rückzug aus der Gesellschaft unterstützen sollte, sondern als ein Instrument genutzt wurde, das den Bezug zur äußeren Welt, der durch den politischen Machtverlust der Aristokratie zunächst gestört war, wiederherstellen sollte. Exemplarisch für die mit ideengeschichtlich oder machtpolitisch argumentierenden Ansätzen verbundenen Probleme ist die Debatte zwischen Paul Noyen91 und Greg R. Stanton92. Da die Debatte mit ihren einzelnen Argumenten und Gegenargumenten ausführlich bei Stanton dargestellt ist, soll es an dieser Stelle genügen, die Aporien beider Ansätze darzustellen, die einer widerspruchsfreien Erklärung des Verhältnisses von Philosophie und Politik entgegenstehen. Noyen versucht auf der Grundlage von insgesamt 324 Gesetzestexten eine direkte Einflussnahme des stoischen Humanitätsgedankens auf die Praxis der Rechtsetzung nachzuweisen.93 Wie Noyen behauptet, sei in jenen Gesetzen der Gedanke der Humanität verwirklicht worden, insofern sie sich in erster Linie an Frauen, Kinder und Sklaven richteten, also an jene als humiliores bezeichnete Gruppe, der auf der Grundlage der quiritischen Gesetzgebung jahrhundertelang eine Rechtspersönlichkeit nicht zugesprochen werden konnte. Von den ungefähr 60 Reskripten, die sich an die Gruppe der Sklaven und Freigelassenen richteten, war die wichtigste Verordnung über die Freilassung von Sklaven die constitutio divi Marci ad Aufidium. Auf der Grundlage dieses Gesetzes konnte ein Sklave gegenüber seinem Herrn die eigene Freilassung einklagen, wenn beispielsweise bei dem Kauf des Sklaven die Freilassung nach einer bestimmten Frist versprochen, nach Ablauf dieses Zeitraumes von dem Besitzer des Sklaven aber nicht eingehalten worden war.94 Noyen geht so weit, zu behaupten, dass es das Anliegen Marc Aurels gewesen sei, die Sklaverei vollständig aufzuheben.95 90 91 92 93 94 95
Eine ausführlichere Darstellung des Subjektivitätsbegriffes folgt auf den Seiten 103–108. Paul Noyen, Marcus Aurelius. The Greatest Practician of Stoicism, in: L’Antiquité Classique 24, 1955, 372–383. Greg R. Stanton, Marcus Aurelius. Emperor and Philosopher, in: Historia 18, 1969, 570–587. Wie groß die Bemühungen Marc Aurels um die praktische Rechtspflege waren, ist allgemein aus den Berichten der Historia Augusta bekannt: Iudicariae rei singularem diligentiam adhibuit. (Hist. Aug. Marc. 10,10) Vgl. dazu Noyen, Marcus Aurelius, 374–478. Paul Noyen, Divus Marcus. Princeps prudentissimus et iuris religiosissimus, in: RIDA 1, 1954, 349–371, 353, 359. Ein Einfluss der Philosophie wird auch von den folgenden Autoren vorausgesetzt: Okko Behrends, Prinzipat und Sklavenrecht. Zu den geistigen Grundlagen der augusteischen Verfassungsschöpfung, in: Ulrich Immenga (Hg.), Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung, Göttingen 1980, 53–88, 63; C. Clayton Dove, Marcus Aurelius Antoninus. His Life and Times, London 1930, 209; Joseph Vogt, Wege zur Menschlichkeit in der antiken Sklaverei, Tübingen 1958, 21; Justo Garcia Sanchez, A propósito de D. 28.4.3.1, Marcelo, libro 29 dige-
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Der Einfluss des stoischen Humanitätsideals auf die Praxis wird von Noyen erheblich überschätzt, da die hierarchischen Strukturen der Gesellschaft unverändert blieben und eine grundsätzliche Beseitigung sozialer Ungleichheit sowie eine vollständige Abschaffung der Sklaverei nicht einmal in der Absicht der stoisch denkenden Menschen lag.96 Während es Noyen aus idealistischer Perspektive nicht gelingt, die Ungleichheiten der sozialen Wirklichkeit anzuerkennen, ist der machtpolitische Ansatz von Stanton jedoch ebenfalls nicht weitreichend genug, um zu erkennen, in welcher Weise die Philosophie auf das politische Handeln Marc Aurels einen Einfluss genommen hat. Stanton behauptet, die Gesetzgebungspraxis Marc Aurels habe sich nicht von der seiner nichtstoischen Vorgänger unterschieden.97 Darüber hinaus versucht er nachzuweisen, dass die kosmologischen Grundsätze der Philosophie Marc Aurels nicht dazu geeignet gewesen seien, in Handlungen umgesetzt zu werden.98 Das vornehmliche Ziel von Stanton besteht darin, verschiedene Verhaltensweisen Marc Aurels, die vordergründig als humanitäre Maßnahmen interpretiert worden sind, als bloßes Machtkalkül zu entlarven.99 So wurde die Entscheidung
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storum, in: Studi in onore de Cesare Sanfilippo III, Mailand 1983, 297–323, 321 f.; Max Kaser, Das römische Privatrecht. Erster Abschnitt: Das Altrömische, das Vorklassische und Klassische Recht, 2. Aufl., München 1972, 284; André Piganiol, Les empereurs parlent aux esclaves, in: ders., Scripta Varia III, Brüssel 1973, 202–211, 204 f., 211; Ernest Renan, Marc-Aurèle et la fin du monde antique, Paris 1882, 22 f., 24 ff.; Wolfgang Waldstein, Operae libertorum. Untersuchungen zur Dienstpflicht freigelassener Sklaven, Stuttgart 1986, 205; vgl. auch Schrempf, Weisheit und Weltherrschaft, 51, der ebenfalls davon ausgeht, dass Marc Aurel die humanitären Gedanken der stoischen Philosophie in die Praxis umgesetzt habe, indem er „den Grundsatz der Gemeinschaft auf alle Menschen, auch auf Nichtrömer, ja sogar auf die Sklaven ausdehnte“. Vgl. dazu die konträre Position von Gerhard Dankwarth, Marc Aurel. Römischer Kaiser und Philosoph, Heere 1997, 130, der zwischen dem Anspruch und der Realität klarer differenziert: „Auch der Philosoph unterwirft sich hier den realen Gegebenheiten, lehnt die Sklaverei nicht ab, sondern sieht sie als Teil des Gemeinwesens. Teilweise bemüht er sich, ihr Los durch eine humanere Gesetzgebung zu erleichtern, ohne aber an ihrem rechtlichen Status Wesentliches zu verändern.“ Pohlenz, Max, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 1978 (5. Aufl.), 316. Eine rechtskonservative Haltung wird Marc Aurel auch in der aktuellen und ersten monographischen Untersuchung zu seiner Rechtsetzungspraxis von Thomas Finkenauer unterstellt: „Selbst diejenigen Entscheidungen, die zu Gunsten der Freiheit ergingen, müssen nicht vom favor libertatis inspiriert gewesen sein, vielmehr kann die Freilassung auch bloßer Reflex der Anwendung allgemeiner Prinzipien und Rechtsregeln gewesen sein.“ Thomas Finkenauer, Die Rechtsetzung Mark Aurels zur Sklaverei, Mainz 2010, 87 ff. Die These, dass die Philosophie die Funktion einer Schutzhülle übernahm, die Marc Aurel von der Außenwelt distanzierte, wird bisweilen auch mit dem Hinweis auf seine angebliche Opiumsucht bekräftigt. Vgl. Stanton, Marcus Aurelius, 587; Thomas W. Africa, Marc Aurels Opiumsucht (1961), in: Richard Klein (Hg.), Marc Aurel, Darmstadt 1979, 133–143, 134, 137 f. Dies widerspricht jedoch der hier vertretenen Annahme, dass die Philosophie nicht den Rückzug aus dem Leben propagierte, sondern eine Möglichkeit darstellte, die Auseinandersetzung mit den Erfordernissen des Lebens zu erleichtern. Vgl. dazu auch G. R. Stanton, Marcus Aurelius, Lucius Verus and Commodus, in: ANRW 2,2, 1975, 478–549, 481 f. Dass die philosophischen Überzeugungen des Kaisers keinen Einfluss auf das politische Handeln Marc Aurels hatten, wird nur noch von den Autoren behauptet, die sich mit den Christenverfolgungen unter Marc Aurel beschäftigen. Da Marc Aurel nicht einmal
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Marc Aurels, den Markomannen die Hälfte der neutralen Zone zurückzugeben als besondere Friedensbemühung Marc Aurels bewertet. Stanton deutet diese Entscheidung hingegen als einzige Strategie, die Marc Aurel übrig geblieben sei, um den Krieg rasch zu beenden.100 Auch in alltäglichen Situationen sei zu beobachten gewesen, dass Marc Aurel Status und Prestige mehr geschätzt habe als die Umsetzung stoischer Ideale. So habe Marc Aurel Abgesandten auswärtiger Völkerschaften „nicht gleichheitlich, sondern so, wie es den einzelnen von ihnen zukam“, eine Audienz gewährt.101 Auch die am Hof übliche Heuchelei, die nicht unterbunden, sondern eher gefördert worden sei, stehe im Widerspruch zu einer an philosophischen Idealen ausgerichteten Politik.102 Im Gegensatz zu Noyen gelingt es der ausschließlich an machtpolitischen Absichten orientierten Argumentation von Stanton nicht, die Funktionen zu erkennen, die die Philosophie innerhalb des gesellschaftlichen Zusammenlebens möglicherweise doch übernommen hat. Gleichzeitig weisen die Argumente beider Autoren eine Gemeinsamkeit auf, indem zum einen der moderne Begriff der Humanität, der die naturrechtliche Gleichheit der Menschen voraussetzt, auf die Antike übertragen wird. Zum anderen wird die stoische Philosophie ausschließlich unter normativen Gesichtspunkten betrachtet. Dass der stoische Begriff der humanitas keinen Widerspruch zur Faktizität sozialer Ungleichheit bildete, wird somit von beiden Autoren letztlich nicht bedacht. Weshalb Marc Aurel in den Quellen als ein Kaiser wahrgenommen wurde, der Philosophie und Politik in seinem Handeln miteinander vereinbarte, kann weder von Noyen noch von Stanton widerspruchsfrei begründet werden. Wie es der Kulturgeschichte erkenntnistheoretisch und methodisch gelingt, die Dichotomien zwischen idealistischen und machtpolitischen Erklärungsansätzen aufzuheben, wird im nächsten Kapitel dargestellt. 3. KULTURGESCHICHTE DES POLITISCHEN Während die ältere Politikgeschichte „Staaten“, „Politiker“ und „Nationen“ zu ihrem Gegenstandsbereich rechnete, entdeckte die Kulturgeschichte des Politischen, dass auch die Kunst, die Philosophie oder der Erwerb einer Theaterkarte politisch relevant werden können.103 Es gehört zum Selbstverständnis der Kulturwissen-
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die Bereitschaft zeigte, Verständnis für die christliche Lehre aufzubringen, müsse davon ausgegangen werden, dass er sein Handeln nur von machtpolitischen Interessen leiten ließ. Vgl. dazu Claus Schrempf, Weisheit und Weltherrschaft. Kaiser Marc Aurel in seinen Bekenntnissen, München 1968, 51 f.; Aimé Puech, Préface à l’édition des „Pensées“ de Marc-Aurèle par A. I. Trannoy, Paris 1953, 16. Vgl. Cass. Dio 72 (71),15–17. Vgl. Cass. Dio 72 (71),19,1. Vgl. Stanton, Marcus Aurelius, 586. Der von Stanton hergestellte Zusammenhang zwischen einem an Status und Prestige orientierten Handeln und dem philosophischen Denken wird kritisiert von Benjamin Hendrickx, Once again. Marcus Aurelius. Emperor and Philosopher, in: Historia 23, 1974, 254–256, bes. 255. Achim Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: AKG 85.1, 2003, 71–117, 102 ff., vgl. auch 99 ff.
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schaft, „daß alle Geschichte Kulturgeschichte ist bzw. als solche thematisiert werden kann“.104 An Aussagen wie diese knüpft sich immer wieder die Frage, wie der Gegenstandsbereich der Kulturwissenschaft und somit auch ihr eigenes Profil zu definieren sei.105 Diese Frage scheint auf den ersten Blick nur allzu berechtigt zu sein, da es bereits unter formallogischen Gesichtspunkten Definitionen nur von solchen Dingen gibt, von denen man nicht nur sagen kann, was sie sind, sondern auch, was sie nicht sind. Eine Antwort der Kulturgeschichte auf diesen Einwand lautet, dass sie nicht von bestimmten Gegenständen, sondern von einer spezifischen Perspektive auf verschiedene Gegenstandsbereiche her zu definieren sei.106 Gegenstände, die potentiell in das Blickfeld der Kulturgeschichte des Politischen geraten können, zeichnen sich dadurch aus, dass sie immer eine kulturelle und eine politische Bedeutung besitzen. Wie Achim Landwehr mit einem Beispiel verdeutlicht, können unter bestimmten Bedingungen alle Themen ein Gegenstand kulturgeschichtlicher Betrachtung werden. Obwohl der Kauf einer Eintrittskarte für ein Theater per se noch keine politische Handlung ist, ändert sich dies, sobald die Theaterkarte für die Aufführung eines Revolutionsdramas im Paris der 1790er Jahre gekauft wurde.107 Auch ausgehend vom hier vorliegenden Untersuchungsgegenstand ist zu beobachten, dass der Philosophenmantel und der Philosophenbart nicht nur modische Accessoires, sondern auch bedeutsame Attribute waren, die für die Herstellung eines sozialen und politischen Status der Aristokratie im zweiten Jahrhundert n. Chr. relevant werden konnten. Insofern kulturwissenschaftlich konstruierte Phänomene immer ein Produkt sich wechselseitig bedingender kultureller und gesellschaftlicher Faktoren sind, bräuchten wir zur Bezeichnung dieser Phänomene Begriffe, die sich nicht auf klar definierte Gegenstände, sondern auf die den Gegenständen zugrunde liegenden Relationen beziehen.108 Gegenstände, die aus den zwischen Kultur und Politik stattfin104 Stollberg-Rilinger, Barbara, Einleitung, in: dies. (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005, 9–24, 11. Die von Klaus Ries, Kultur als Politik. Das „Ereignis WeimarJena“ und die Möglichkeiten und Grenzen einer „Kulturgeschichte des Politischen“, in: HZ 285.2, 2007, 303–354 geäußerte Kritik an dem von Barbara Stollberg-Rilinger vertretenen Ansatz ist meines Erachtens nicht berechtigt, da wesentliche Aussagen missverstanden werden. Weshalb die als eine besondere Perspektive definierte Kulturgeschichte – dies wird unten weiter ausgeführt – Schwierigkeiten haben sollte, die Kultur als Gegenstandsbereich zu erfassen, ist nicht nachvollziehbar. Eine ausführliche Behandlung der Einzelargumente ist hier leider nicht möglich. 105 „Es ist bekanntlich alles andere als eindeutig und unumstritten, was das Politische, als auch, was Kultur, als schließlich auch, was Kulturgeschichte ist – um so mehr gilt das für eine ‚Kulturgeschichte des Politischen‘.“ Stollberg-Rilinger, Einleitung, 9. 106 Stollberg-Rilinger, Einleitung, 12. 107 Landwehr, Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, 99 f. 108 Vgl. dazu Daniel, Kompendium, 385 f.: „Was das Was der historischen Untersuchung betrifft, […] lautet der kulturwissenschaftliche Vorschlag, diese als Wirkungszusammenhänge aufzufassen. In der Formulierung Ernst Cassirers heißt dies, wissenschaftliche Begriffe (nicht nur der Kulturwissenschaften) so zu prägen und zu verwenden, daß sie sich statt auf ‚Dinge‘ auf Beziehungen, auf Relationen beziehen.“ Und weiter unten, S. 395 f.: „Die angebotenen Begriffe für dasjenige, was, folgt man dieser Empfehlung, in den Mittelpunkt des Interesses rückt, sind verschieden, aber nahezu austauschbar: Bei Simmel heißt es Wechselwirkung, bei Bour-
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denden Wechselwirkungen hervorgegangen sind, werden als „Drittes“109 bzw. als „Tertium“ oder als „Hybrid“110 bezeichnet. Eine präzise Begrifflichkeit kann es hier nicht geben, wie die in der Kulturwissenschaft gebräuchlichen Ausdrücke „Symbolische Politik“, „Politische Kultur“ oder „Ritualisierte Politik“ verdeutlichen. Dirk Kaesler versucht, den Symbolbegriff ausgehend von der etymologischen Wurzel συμβάλλειν („zusammenwerfen“, „vereinigen“, oder „das Getrennte zusammenbringen“) zu definieren: „Im Symbol tritt Getrenntes zur Einheit zusammen, wird etwas miteinander verbunden, was nicht ohne weiteres zusammengehört, wobei aber keine Verschmelzung, keine Aufhebung der Differenz geschieht.“111 Aus der Perspektive der Kulturwissenschaft stellt die vermeintliche Uneindeutigkeit ihres Gegenstandsbereiches kein Dilemma dar, vielmehr wird sie aufgrund heuristischer und erkenntnistheoretischer Gründe geradezu intendiert. Erkenntnistheoretisch unterläuft das Tertium der Kulturwissenschaft „gewisse Leitoppositionen wie die von Geist und Materie, Subjekt und Objekt, Geschichte und Natur, Erklären und Verstehen“112. Binäre Konstruktionen wie diese haben häufig zu substantialistischen Aussagen geführt, insofern die Begriffe hierarchisch einander zugeordnet und einer Seite der Unterscheidung ein eindeutiger Vorrang beigemessen wurde. Wie Urs Stähli betont, werde dabei die jeweils privilegierte
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dieu dialektische Beziehung, bei John Dewey Interaktion und bei Cassirer Wechselbedingtheit.“ Das Dritte als ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften behandelt der 2010 herausgegebene Sammelband: Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer, Alexander Zorn (Hg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin 2010. – Für die Bezeichnung dieses Dritten fehlten uns, so Kaesler, „(noch?) die sprachlichen Mittel“, und es sei eine offene Frage, ob es jemals eine theoretische Lösung für dieses Problem, das in der klassischen Logik als „Tertium non datur“ bezeichnet wird, geben werde. Kaesler, Freund versus Feind, Oben versus Unten, Innen versus Aussen, 187. – „[…] eine absolut bestimmte Position des Begriffs in dieser Zwischenstellung gibt es nicht“ konstatiert Reiner Wiehl, Begriffsgeschichte zwischen theoretischem Mangel und theoretischem Überschuss. Philosophische Fußnoten zur historischen Semantik, in: Carsten Dutt (Hg.), Herausforderungen der Begriffsgeschichte, Heidelberg 2003, 81–101, 93. Homi K. Bhaba, The Third Space. Interview with Homi K. Bhaba, in: Jonathan Rutherford (Hg.), Identity. Community, Culture, Difference, London 1990, 207–221. Antje Gunsenheimer (Hg.), Grenzen, Differenzen, Übergänge. Spannungsfelder inter- und transkultureller Kommunikation, Bielefeld 2007; Karin Ikas, Gerhard Wagner (Hg.), Communicating in the Third Space, New York 2009. – Die Sorge, dass sich das Hybrid selbst zu einer essentialistischen Kategorie entwickeln könnte, ist meines Erachtens insofern nicht begründet, als das Hybrid keinen statischen, sondern einen Bewegungsbegriff darstellt. Vgl. insbesondere die Ausführungen von Gudrun Rath, „Hybridität“ und „Dritter Raum“. Displacements postkolonialer Modelle, in: Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer u. a. (Hg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschftliches Paradigma, Berlin 2010, 137–149, 141. Dirk Kaesler, Der politische Skandal. Zur symbolischen und dramaturgischen Qualität von Politik, Opladen 1991, 18 f. Vgl. Aleida Assmann, Die Unverzichtbarkeit der Kulturwissenschaften. Mit einem nachfolgenden Briefwechsel, Hildesheim 2003, 7 f.; Dirk Kaesler hat in einem Verzeichnis einige binäre Konstellationen zusammengefasst, das einen Eindruck davon vermittelt, wie sehr sie unser alltägliches und wissenschaftliches Denken strukturieren. Kaesler, Freund versus Feind, Oben versus Unten, Innen versus Aussen, 182 f.
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Seite als ‚eigentliche‘ Erkenntnisursache der ihr sowohl zeitlich als auch logisch nachfolgenden zweiten Seite betrachtet. Innerhalb einer solchen Figur linearer Nachträglichkeit seien jedoch Rückkopplungen ausgeschlossen.113 Ein Beispiel sind orthodox-marxistische Ansätze, die den ökonomischen Faktoren einen eindeutigen Vorrang vor der Kultur beimessen. Wenn die soziale Realität jedoch ausschließlich auf ökonomische Faktoren zurückgeführt wird, erscheint die Kultur immer als ein nur abgeleitetes Phänomen. Ein ganz anderer Ausgangspunkt liegt der Ideengeschichte zugrunde, die den Begriff „Geist“ privilegiert und von diesem aus den Nachweis zu erbringen versucht hat, dass Geschichte letztlich immer „eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat“114. Von solchen substantialistischen Erklärungsansätzen versucht sich die Kulturwissenschaft zu distanzieren, indem sie ihren Gegenstand nicht auf eine entweder ideelle oder materielle Ursache zurückzuführen versucht. Statt zu fragen, „was“ ein bestimmter Gegenstand letztlich sei, richtet sich ihr Interesse auf die Frage, „wie“ er aus den sich wechselseitig beeinflussenden ideellen und materiellen Bedingungen entstanden ist und wie er sich unter ihrem Einfluss weiterhin verändert. Es ist letztlich dieser den Gegenständen anhaftende prozesshafte Charakter, der eine rein ontologische Betrachtung ausschließt.115 Diese epistemologischen Grundlagen, die 113 Vgl. dazu Urs Stähli, Die Nachträglichkeit der Semantik. Zum Verhältnis zwischen Sozialstruktur und Semantik, in: Soziale Systeme 4.1, 1998, 315–339, 318 ff. In diesem Aufsatz wird gezeigt, dass auch moderne Theorien wie die Begriffsgeschichte oder die Systemtheorie an „zwei ontologisch zu unterscheidenden Sphären von historischen Ereignissen und Sprache festhalten“. So sei die Semantik innerhalb der Systemtheorie nur als „Visibilisierung der ‚eigentlichen‘ Gesellschaftsstrukturen“ von Interesse. (320) Die folgende Aussage aus den Geschichtlichen Grundbegriffen, die ebenfalls den historischen Ereignissen einen Vorrang beimisst: „Der Wandel geschichtlicher Struktur, also außersprachliche Inhalte (werden) gesucht“, wird in einem im Jahr 2003 veröffentlichten Sammelband bestätigt, in dem es heißt, dass die Differenzbestimmung zwischen Sprache und Geschichte aufrechterhalten bleiben müsse, um sich von jenen „modischen Theorien“ abgrenzen zu können, „die die Wirklichkeit auf Sprache und sonst nichts reduzieren“. Vgl. Carsten Dutt (Hg.), Herausforderungen der Begriffsgeschichte, Heidelberg 2003, 5. Dass die Kulturwissenschaft die Existenz der sozialen Realität nicht leugnet, ist hinlänglich gezeigt worden. An dieser Stelle mag ein Beispiel als Beweis genügen: „Die Tatsache, daß jedes Objekt als Objekt des Diskurses konstituiert ist, hat überhaupt nichts zu tun mit dem Gegensatz von Realismus und Idealismus oder damit, ob es eine Welt außerhalb unseres Denkens gibt. Ein Erdbeben oder der Fall eines Ziegelsteins sind Ereignisse, die zweifellos in dem Sinne existieren, daß sie hier und jetzt unabhängig von meinem Willen stattfinden. Ob aber ihre gegenständliche Spezifik in der Form von ‚natürlichen Phänomenen‘ oder als ‚Zornesäußerung Gottes‘ konstituiert wird, hängt von der Strukturierung des diskursiven Feldes ab.“ Ernesto Laclau, Chantal Mouffe (Hg.), Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, 2. Aufl., Wien 2006, 144 f. Die Polemik, mit der diese Debatte zum Teil immer noch geführt wird, hat meines Erachtens ihre Ursache in der bereits genannten Uneindeutigkeit kulturwissenschaftlicher Begriffe. Um ihr zu entgehen, wird teilweise bei der Sprache, teilweise bei den sozialen Strukturen Zuflucht genommen. 114 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, Darmstadt 1988 (1923), 11. Vgl. dazu Assmann, Die Unverzichtbarkeit der Kulturwissenschaften, 7 f.; Uwe C. Steiner, „Können die Kulturwissenschaften eine neue moralische Funktion beanspruchen?“ Eine Bestandsaufnahme, in: DVjS 71.1, 1997, 5–38, 5 ff. 115 Das Auge eines Hurrikan, das ebenfalls nur durch äußere Bedingungen, die spiralig aufsteigende Luft, konstituiert wird und zugleich mit dieser seine Form verändert, ist ein geeignetes
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an die phänomenologische Forschung des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts anknüpfen, unterscheiden die Kulturwissenschaft von anderen Ansätzen und verleihen ihr ein eindeutiges Profil.116 Ihr Gegenstand sind Bilder – wie das in dieser Arbeit zu untersuchende Bild des Philosophenkaisers –, sowie Rituale und Zeichen, in denen sich die kontinuierlich stattfindenden Austauschbeziehungen zwischen Kultur und Politik verdichten.117 Auch heuristisch unterscheidet sich die Kulturwissenschaft von ideengeschichtlich und machtpolitisch argumentierenden Ansätzen, die im letzten Kapitel anhand der Ausführungen von Noyen und Stanton vorgestellt wurden. Im Unterschied zu jenen Ansätzen hat die Kulturgeschichte ein weitreichenderes Erklärungspotential. Insofern sie auch die Kultur als eine Form gesellschaftlicher Macht in ihre Überlegungen einbezieht, gelingt es ihr zu zeigen, dass auch ein Bereich wie die Philosophie ein konstitutiver Faktor politischen Handelns werden kann. Ein solcher Zusammenhang zwischen Philosophie und Politik bliebe verdeckt, wenn die Philosophie als ein von den gesellschaftlichen Strukturen isoliertes oder als ein von ihnen bloß abgeleitetes Phänomen verstanden würde. Nach kulturwissenschaftlicher Auffassung können nur solche Entscheidungen eines Herrschers politische Macht generieren, die sich in einem sozialen Raum ereignen, in dem die Durchsetzung der Entscheidungen Anerkennung findet.118 Welche Entscheidungen als legitim anerkannt werden und welche nicht, ist letztlich abhängig von den in einer Gesellschaft geltenden Sinnvorstellungen, die von Herrschern und Beherrschten gemeinsam entwickelt und ausgehandelt werden.119 An
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Bild hierfür. Vgl. dazu Hans Häckel, Meteorologie, 4., völlig überarbeitete und neugestaltete Auflage, Stuttgart 1999. Die Metapher von dem Inneren eines Hurrikan zeigt, wie die Vorstellung von einem Wesenskern abgelöst werden kann durch die Vorstellung eines prozesshaften Phänomens, das zugleich nicht weniger real ist als jener. Daniel, Kompendium, 18 spricht von einem „Mittelweg“. Reinhard Blänkner, Historizität, Institutionalität, Symbolizität. Grundbegriffliche Aspekte einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen, Berlin 2005, 71–96, 72. Aleida Assmann hat diese Entwicklung bezeichnet als „Umorientierung vom geistigen Sein zum medialen Dasein“. Assmann, Die Unverzichtbarkeit der Kulturwissenschaften, 8. Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang der Herrschaftsbegriff in der Definition Max Webers: „‚Herrschaft‘ soll, definitionsgemäß (Kap. I, § 16), die Chance heißen, für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden. […] Ein bestimmtes Minimum an Gehorchen w o l l e n, also: I n t e r e s s e (äußerem oder innerem) am Gehorchen, gehört zu jedem echten Herrschaftsverhältnis.“ Und weiter unten heißt es: „Keine Herrschaft begnügt sich, nach aller Erfahrung, freiwillig mit den nur materiellen oder nur affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen ihres Fortbestandes. Jede sucht vielmehr den Glauben an ihre ‚Legitimität‘ zu erwecken und zu pflegen.“ Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. revidierte Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 1972, 122; Pierre Bourdieu knüpft an Max Weber an und geht zugleich einen Schritt über ihn hinaus, wenn er behauptet: „Man kann in bestimmter Hinsicht sagen, daß das Monopol der physischen Gewalt selbst auf dem basiert, was ich das Monopol der symbolischen Gewalt nenne, d. h. auf der Anerkennung oder dem Glauben.“ (Hervorhebung CH) Vgl. Pierre Bourdieu, Politisches Feld und symbolische Macht. Gespräch mit Pierre Bourdieu, in: Berliner Journal für Soziologie 1.4, 1991, 2–6, 4. Ein prominentes Beispiel, das diesen Sachverhalt illustriert, stammt von Pierre Bourdieu: „Ein
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dieser Stelle wird erkennbar, dass auch der Machtbegriff der Kulturwissenschaft ein weitreichenderes Erklärungspotential besitzt als beispielsweise der Machtbegriff der traditionellen Politikgeschichte. Macht wird nicht mehr nur als eine hierarchische Struktur verstanden, die sich in den Händen einiger Mächtiger konzentriert, sondern als ein die gesamte Gesellschaft, mithin die Kultur durchziehendes Phänomen. In diesen von Macht und Kultur konstituierten Räumen finden Aushandlungsund Deutungskämpfe sowohl um Sinnkonzepte als auch um Macht- und Einflusschancen statt. Im ersten Jahrhundert wurden die Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten bzw. zwischen Kaiser und Aristokratie durch den Bezug auf die traditionellen republikanischen Wertvorstellungen reguliert.120 Im zweiten Jahrhundert speisten sich die an einen Kaiser gerichteten Erwartungen hingegen nicht mehr allein aus diesen traditionellen Idealen. Durch die zunehmende Bedeutung der Paideia innerhalb der aristokratischen Oberschichten wurde vielmehr die Zweite Sophistik zu derjenigen Instanz, die die Erwartungen an einen Kaiser und an dessen Herrschaftspraxis formulierte. Wie politische Machtstrukturen durch die Paideia beeinflusst und gleichzeitig stabilisiert wurden, wird insbesondere im IV. Teil dieser Arbeit behandelt. Für die Frage, wie sich Philosophie und Politik zur Zeit Marc Aurels zueinander verhalten haben, bietet die Kulturwissenschaft insofern einen geeigneten Zugriff, als sie nicht einen Faktor, die Philosophie oder die Politik in ihrer Untersuchung privilegiert, sondern nach den strukturellen Parallelen philosophischen und politischen Handelns fragt und somit den Blick auf jene Sachverhalte lenkt, in denen beide Bereiche untrennbar miteinander verbunden waren. 3.1. Die Zweite Sophistik als hybride Kultur Die Zweite Sophistik, die den Zeitraum von der Mitte des ersten bis zum Beginn des dritten Jahrhunderts umfasst, wurde im vorangegangenen Kapitel bereits als ein aus den Verflechtungen von Macht und Kultur hervorgegangenes Hybrid bezeichnet, das die Beziehungen zwischen Kaiser und Aristokratie regulierte.121 Präsident der Republik ist jemand, der sich für den Präsidenten der Republik hält, aber im Unterschied zu dem Irren, der sich für Napoleon hält, als jemand anerkannt wird, der hierzu auch berechtigt ist.“ Vgl. Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main 1998, 114. 120 Bereits Mommsen hat für die Art, wie Kaiser und Aristokratie zusammenwirkten, den Begriff des Hybrid verwendet. Vgl. dazu S. 23. 121 Tim Whitmarsh, Greek Literature and the Roman Empire. The Politics of Imitation, New York 2001, 1; ders., The Second Sophistic, Oxford 2005, 1, 4 ff. Obwohl Philostrat Aeschines als Erfinder der Zweiten Sophistik nennt und ihre Entstehung somit auf das 4. Jahrhundert v. Chr. zurückführt, verortet er die epideiktischen Reden, die nach seiner Auffassung ein konstitutives Merkmal der Zweiten Sophistik darstellen, letztlich in der römischen Kaiserzeit. Dies wird nicht zuletzt daran erkennbar, dass der nächste Rhetor, den er nach Aeschines vorführt, der zur Zeit Neros lebende Nicetes von Smyrna ist. (Philostrat. Vita Sophist. 481; 507) Bedeutende Redner aus den dazwischen liegenden Jahrhunderten bleiben hingegen unerwähnt. (Philostrat. Vita Sophist. 511)
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II. Forschung
In der älteren Literatur wurde die Zweite Sophistik, bei der es sich um eine Renaissance griechischer Kultur handelt, zunächst als ein rein literarisches Phänomen begriffen. Im Gegensatz dazu richtet die neuere Forschung ihr Interesse nicht mehr auf rein sprachliche Probleme, sondern auf die Frage nach der sozialen und politischen Bedeutung der innerhalb der Zweiten Sophistik entstandenen Literatur. Die Frage, welche Funktion die Renaissance der griechischen Kultur hatte, wird hingegen sehr unterschiedlich beantwortet und ist letztlich davon abhängig, wie die zwischen der Zentralmacht Rom und den Provinzen existierenden Machtbeziehungen gedeutet werden. Hierbei lassen sich drei verschiedene Interpretationsansätze voneinander unterscheiden.122 Zwei Ansätze beschreiben die Beziehungen zwischen Rom und den Provinzen als hierarchisches Gefüge, wobei der Unterschied darin besteht, dass in dem einen Fall die Zweite Sophistik als ein Ergebnis römischer Machtpolitik beschrieben wird (top down), wohingegen sie in dem anderen Fall als ein genuin griechisches Phänomen interpretiert wird (bottom up). In Abgrenzung von diesen beiden Interpretationsversuchen hat sich ein dritter Zugang entwickelt, der davon ausgeht, dass die Machtbeziehungen zwischen Rom und den Provinzen nicht hierarchisch, sondern reziprok verliefen und die Zweite Sophistik ein aus dieser Interaktion entstandenes Produkt sei. An den letzten Ansatz werden die Ausführungen dieser Arbeit anknüpfen. Dem ersten Ansatz, der die Zweite Sophistik aus römischer bzw. imperialistischer Perspektive interpretiert, sind die vor allem auf prosopographischen und epigraphischen Untersuchungen entstandenen Arbeiten von Glen W. Bowersock zuzuordnen, der als erster die Zweite Sophistik als ein gesellschaftliches Problem behandelt hat. Wichtiger als die Texte der Sophisten sind für Bowersock ihre Handlungen, die er anhand der von ihnen und für sie errichteten zahlreichen Inschriften untersucht hat. Bowersock führt die Wiederbelebung griechischer Kultur im Wesentlichen auf römische Initiativen zurück: „[…] it was at times the Roman which gave way to the Greek.“123 Pointiert fasst Miriam Griffin das Urteil von Bowersock zusammen: „[…] the age of the great sophists is largely the product of the fact that the Roman Emperors had ceased to sneer. It is not that more and more Greeks were admitted to the imperial administration, but also that Greek values were increasingly accepted.“124 Wie Bowersock beobachtet, profitierten nicht nur einzelne Sophisten, sondern ganze Städte von dem wachsenden Interesse der Kaiser an der griechischen Kultur. Die Städte Griechenlands und Kleinasiens verdankten ihren neuen Glanz dem Erfolg der Sophisten, die ihre Kontakte in Rom nutzten, um sich als Gesandte für die Belange ihrer Städte einzusetzen. Viele Sophisten verfügten als Freunde der Kaiser über hohe Macht- und Einflusschancen, während andere durch einen Auf122 Vgl. dazu den Forschungsüberblick bei Whitmarsh, Greek Literature and the Roman Empire, 6 ff. 123 Glen W. Bowersock, Greek Sophists in the Roman Empire, Oxford 1969, 15, vgl. auch 117. 124 Miriam Griffin (Rez.): Glen W. Bowersock, Greek Sophists in the Roman Empire, Oxford 1969, in: JRS 61, 1971, 278–280, 280.
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stieg in den römischen Ritter- und Senatorenstand ihr gesellschaftliches Prestige vermehrten, das wiederum auf ihre Städte zurückwirkte. Es mag der rein machttheoretisch gelenkte imperialistische Blick auf die Sophisten sein, der die despektierlichen Bemerkungen über die Zweite Sophistik hinsichtlich ihrer kulturellen Bedeutung erklärt: „The quality of the second century works we possess (and they are many) is not high: they are often over-elaborated productions on unreal, unimportant or traditional themes. Such works were rhetorical showpieces, whose authors, highly trained in oral presentation, were showmen.“125 Bowersocks Referenz sind die Ausführungen von Bernard van Groningen, dessen feindseliges Urteil über die Zweite Sophistik die Forschung für lange Zeit beeinflusst hat. Als „essentially weak“ bezeichnet er die unter römischer Herrschaft entstandene Zweite Sophistik, die nichts weiter sei als ein „museum of fossils“, ein erfolgloser Wiederbelebungsversuch einer vergangenen Kultur. Dahinter steht letztlich die Vorstellung, dass nur politisch herrschende Systeme akzeptable Kulturleistungen hervorbringen können. Dies ist auch der Tenor der folgenden Aussage: „The Greek Literature of the second century is the work of a powerless community […] It is a neglected one in a neglected century, and, generally speaking, it deserves this neglect.“126 Hierbei wurde offensichtlich übersehen, dass die Produzenten jener sophistischen Texte nicht einer „powerless community“ angehörten, sondern römisches Bürgerrecht besaßen und Teil der herrschenden Elite waren. Im Gegenzug hat sich ein Ansatz entwickelt, der die Zweite Sophistik als ein rein griechisches Phänomen betrachtet. Ewen L. Bowie greift die oben genannte Argumentation von Bowersock auf, um sie in ihr Gegenteil zu verkehren, wenn er behauptet: „It might after all be that the Second Sophistic has more importance in Greek literature, than in Roman history.“127 Ewen L. Bowie und auch Simon Swain betrachten die Zweite Sophistik als Ausdruck emanzipatorischer Bestrebungen der Griechen gegenüber der römischen Vorherrschaft. Gegen Bowersock, der einen rein machtpolitisch geleiteten Integrationswillen der Griechen voraussetzt, argumentieren sie, dass den Griechen die römische Herrschaft immer fremd geblieben sei.128 Die Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Verhältnissen habe die Griechen veranlasst, Rom eine kulturelle Gegenmacht entgegenzustellen.129 MacMullen geht noch einen Schritt weiter, wenn er die Zweite Sophistik nicht nur als kulturelle, sondern als politische Gegenmacht zu Rom bezeichnet: „Rome’s internal enemies were not the urban poor but rather […] Greeks of the upper class, defending the purity of their cultural inheritance“. Und er fährt fort: „the so-called Second Sophistic [was] perfectly harmless on the surface 125 Bowersock, Greek Sophists, 1. 126 Bernard van Groningen, General Literary Tendencies in the Second Century, in: Mnemosyne 18.1, 1965, 41–56, 55 f. 127 Ewen L. Bowie, The Importance of Sophists, in: YCS 27, 1982, 29–59, 54. 128 Simon Swain, Hellenism and Empire. Language, Classicism, and Power in the Greek World, AD 50–250, New York 1996, 22003, 412; Ewen L. Bowie, Greeks and their Past in the Second Sophistic, in: Moses I. Finley (Hg.), Studies in Ancient Society, London, Boston (Mass.) 1974, 166–209, 208. 129 Bowie, Greeks and their Past, 208.
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II. Forschung
but anti-Roman in its implications, since its intent was the reassertion of Hellenism.“130 Im Gegensatz zu Bowersock will Bowie den Erfolg der Zweiten Sophistik nicht auf das wachsende Interesse der Römer an der griechischen Kultur zurückführen. Vielmehr habe der Aufstieg und die Prosperität der Städte die Griechen motiviert, ihrer alten Kultur erneut Geltung zu verschaffen. Obwohl er zugesteht, dass die Aufstiegschancen der Sophisten in Rom die Entwicklung der Zweiten Sophistik begünstigt hätten, warnt er davor, diesen Aspekt als Ursache überzubewerten, da ein Aufstieg in Rom vermutlich nicht vielen, wie Bowersock behauptet, sondern nur einigen wenigen gelungen sei. Zudem werde nach der Auffassung von Bowie, die Motivation, am Hof zu reüssieren, überschätzt, da der kaiserliche Dienst auch unter ausgesprochen philhellenischen Kaisern immer noch als fremd hätte empfunden werden müssen.131 Simon Swain beobachtet vor allem identitätsstiftende Funktionen der Zweiten Sophistik, die den provinzialen Eliten erlaubt hätten, sich wie einst als kulturell und politisch überlegene Gruppe zu konstituieren. Dass die Griechen mit der Zweiten Sophistik ihre eigene Identität in Abgrenzung zu Rom verteidigten, könne Bowersock anhand des epigraphischen Quellenmaterials, das den Blick ausschließlich auf die herrschende Kultur lenke, nicht erkennen. Im Gegensatz zu Bowersock glaubt Swain anhand der literarischen Quellen zur Frage der griechischen Identität vordringen zu können. Die Ausführungen von Swain sind jedoch aus zwei Gründen problematisch. Zum einen ist nicht zu erwarten, dass die Literatur der Zweiten Sophistik, die ein Produkt der griechisch-römischen Elite ist, Einblick in eine andere als die herrschende Kultur gewährt. Zum anderen ist die von Swain vorgeschlagene Definition des Identitätsbegriffs äußerst problematisch. Identität definiert Swain als persönliche Haltung132 und Bewusstsein des Selbst133. Andere moderne Theorieansätze gehen hingegen davon aus, dass das ‚wahre‘ Selbst ebenso wie konkrete Bewusstseinsinhalte der historischen Rekonstruktion entzogen bleiben.134 Von beiden Ansätzen werden die Beziehungen zwischen Rom und den Provinzen als ein hierarchisches Gefüge konzipiert. Dabei werden die Begriffe Macht und Kultur dichotomisch einander gegenübergestellt, indem Macht als politische Macht Roms und Kultur als griechische Kultur(-macht) definiert wird. Ein dritter Ansatz bestreitet hingegen diese Dichotomie sowie die mit ihr verbundene Vorstellung, dass die Sophisten als Wanderer „entre deux mondes“ einer der beiden Seiten zugeordnet werden müssten.135 130 Ramsay MacMullen, Enemies of the Roman Order. Treason, Unrest, and Alienation in the Empire, Cambridge (Mass.) 1966, 189, 244. 131 Bowie, Greeks and their Past, 207 f. 132 Swain, Hellenism and Empire, 418. 133 Ebd. 10. 134 Im Gegensatz zu Swain erklärt Whitmarsh, dass der Gegenstand der Identität nicht „an inner being fixed inside the sophist“ sein könne, sondern in Verbindung stehe mit der gesellschaftlich konstruierten „public persona“. Vgl. Whitmarsh, Second Sophistic, 34. Der Begriff „Identität“ wird, sofern er in den folgenden Ausführungen vorkommt, im Sinne der von Tim Whitmarsh vorgeschlagenen Interpretation verwendet. 135 Pierre Vidal-Naquet, Flavius Arrien entre deux mondes, in: Arrien. Histoire de l’Alexandre,
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Obwohl die große Zahl der Sophisten aus den kleinasiatischen Städten wie Ephesos, Milet, Smyrna und später auch Athen kam, war die Zweite Sophistik nicht begrenzt auf einige Städte Griechenlands und Kleinasiens. Auch Rom gehörte zu dem Ensemble kultureller Zentren. Dass Rom hinsichtlich seiner kulturellen Größe nicht hinter den anderen Städten zurückstand, zeigt symbolisch die Bedeutung des Rhetoriklehrstuhles in Rom, der als höchste Stufe einer sophistischen Karriere galt.136 Macht und Kultur waren keine getrennten Bereiche mehr. Dies wird am Beispiel des Flavius Arrianus erkennbar, der nicht nur der Verfasser der Anabasis und der Schüler des Epiktet war, dessen Diatriben er verschriftlichte, sondern zugleich Senator, Suffektkonsul und Statthalter der wichtigen Grenzprovinz Kappadokien.137 Auch am Beispiel der sich als Philhellenen präsentierenden römischen Kaiser, wie Hadrian oder Marc Aurel, der seine „Selbstbetrachtungen“ auf Griechisch verfasste, wird die Verflechtung von Kultur und Politik erkennbar.138 Dieser dritte Ansatz, der die Kultur ebenfalls als eine Form sozialer und politischer Macht analysiert und die Beziehungen zwischen Rom und seinen Provinzen nicht als hierarchische, sondern als reziproke Machtgefüge beschreibt, hat im Unterschied zu den zuerst genannten Ansätzen für die Erforschung der Zweiten Sophistik einen höheren heuristischen Wert. Die Differenz zwischen griechischer Kultur und römischer Macht wird insofern hinfällig, als die Zweite Sophistik ein kulturelles Phänomen war, auf das sich Römer und Griechen gleichermaßen bezogen. Tim Whitmarsh bezeichnet den aus politischer und kultureller Interaktion entstandenen Raum, der im vorangegangenen Kapitel als Hybrid definiert wurde, als „contact-zone“. Während Whitmarsh seine Aufmerksamkeit auf die (spezifisch sophistische) Identität139 richtet, die Römer und Griechen in gemeinsamer Interaktion entwickelt hätten, soll im fünften Teil dieser Arbeit gezeigt werden, dass diese sogenannte „contact-zone“ ein hybrider Raum war, in dem Griechen und Römer miteinander in Kontakt traten, um eine politische Theorie auszuhandeln, die durch die Begründung reziproker Machtstrukturen imperiale Herrschaftsstrukturen insofern infrage stellte, als sie auch den Vertretern der Paideia Macht- und Einflusschancen zusichern konnte.
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übers. v. P. Savinel, Paris 1984, 311–394. Whitmarsh, Second Sophistic, 33; Bowersock, Greek Sophists, 29. Vgl. dazu Whitmarsh, Second Sophistic, 14. Vgl. Swain, Hellenism and Empire, 9. Der Gegenstand dieser Identität werde, so Whitmarsh, vor allem durch die drei folgenden Faktoren gekennzeichnet: gender, culture and class. Vgl. Whitmarsh, Second Sophistic, 32. Der erfolgreiche Sophist war männlich, ein Vertreter griechischer Kultur und im Besitz politischer Macht innerhalb der griechisch-römischen Welt. Vgl. Whitmarsh, Second Sophistic, 14 f. In seinem 2001 veröffentlichten Werk „Greek Literature and the Roman Empire“ hing Whitmarsh noch stärker an der üblichen Differenzierung zwischen griechischer Kultur und römischer Macht, indem er der römischen Ideologie den Begriff der griechischen Identität gegenüberstellte. Vgl. Whitmarsh, Greek Literature and the Roman Empire, 16.
III. DAS ‚EIGENE‘ UND DAS ‚FREMDE‘ – LEBENSKUNST UND POLITISCHE MACHT 1. HYPOCHONDRIE UND GESELLSCHAFT – PHILOSOPHIE ALS MEDIZIN Noctem sine febri videor transmisisse; cibum non invitus cepi, nunc ago levissime. nox quid ferat, cognoscemus. sed, mi magister, cervicum dolore te arreptum, quo animo didicerim, profecto ex tua proxima sollicitudine metiris. Vale mi iucundissime magister. Mater mea salutat te.1 Nach einer endlich einmal ohne Fieber überstandenen Nacht stellt Marc Aurel seinem Lehrer Fronto den Verlauf seiner Krankheit, den er genau beobachtet hat, dar und zeigt sich zugleich besorgt um die Schmerzen, die sein Lehrer im Bereich des Nacken verspürte, wie dieser ihm in einem Brief zuvor mitgeteilt hatte: Quomodo manseris, domine, scire cupio. ego cervicum dolore arreptus sum. vale, domine. dominam saluta.2 Doch soeben überstandene Krankheiten scheinen sogleich von neuen Beschwerden überschattet zu werden. sane quidem quod ad vires adtinet, incipiunt redire: pectoris etiam dolor nullus residuus; ulcus autem illud ἀπεργάζεται τῆς ἀρτηρίας.3 Eine permanente ärztliche Kontrolle sowie eine an medizinischen Anweisungen strikt orientierte Lebensführung betrachtet Marc Aurel als die einzige Möglichkeit, um mit der Bedrohung durch immer neue Krankheitsbilder, die er bereits als unvermeidlich hingenommen zu haben scheint, angemessen umgehen zu können. nos remedia experimur et ne quid operae nostrae claudat advigilamus. neque enim ulla alia re tolerabiliora diuturna incommoda fieri sentio quam conscientia curae diligentis et temperantiae medicis obsequentis.4 Von Galen, der der spätere Leibarzt des Kai-
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Fronto ad M. Caes. 5,28 (v.d. Hout p. 73; Haines I 198): „Es hat den Anschein, als hätte ich die Nacht ohne Fieber überstanden. Ich habe Nahrung ohne Widerwillen aufgenommen und fühle mich äußerst wohl im Moment. Wir werden sehen, was die Nacht bringt. Aber, mein Lehrer, was ich mir vorstellte, als du von einem Schmerz im Nacken gepackt wurdest, kannst Du durch Deine letzte Unruhe sicherlich ermessen. Bleib gesund, mein liebster Lehrer. Meine Mutter grüßt Dich.“ Fronto ad M. Caes. 5,27 (v.d. Hout p.73; Haines I 198): „Ich möchte gern wissen, wie es Dir geht, mein Herr. Ich bin von einem Schmerz im Nacken gepackt worden. Lebe wohl, mein Herr. Grüße Deine Frau.“ Fronto ad M. Caes. 4,8 (v.d. Hout p.64; Haines I 184): „Fürwahr, was meine Kräfte anbelangt, sie beginnen zurückzukommen. Auch der Schmerz in meiner Brust ist gar nicht mehr vorhanden. Aber der wunde Punkt ist jenes […] der Luftröhre.“ – Da der Begriff ἀπεργάζεται unklar ist, bleibt der letzte Satz unvollständig. Vgl. dazu v.d.Hout, p.64. Fronto ad M. Caes. 4,8 (v.d. Hout p.64; Haines I 184): „Wir haben ein Heilmittel erprobt und wir achten darauf, dass nichts unseren Bemühungen im Wege steht. Denn ich fühle, dass meine lang anhaltende Krankheit durch nichts anderes erträglicher gemacht werden kann als durch
1. Hypochondrie und Gesellschaft – Philosophie als Medizin
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sers war, wissen wir, dass Marc Aurel ein sehr vorbildlicher Patient gewesen sein muss.5 Die gesteigerte Aufmerksamkeit auf körperliche Befindlichkeiten, die in diesen Briefen dokumentiert wird, ist keine Ausnahme, sondern ein durchgehendes Thema, das die Korrespondenz zwischen Fronto und Marc Aurel begleitet. Nach der Zählung von Whitehorne beziehen sich dreißig Prozent der Briefe, die Fronto geschrieben hat, auf seine eigenen Krankheiten, während sich acht Prozent der Briefe auf die Krankheiten Marc Aurels beziehen. Von den Briefen Marc Aurels beziehen sich siebenundzwanzig Prozent auf Frontos Beschwerden und zwanzig Prozent auf seine eigene Gesundheit.6 Dieser Befund hat die Forschung veranlasst, Fronto und Marc Aurel als Hypochonder zu pathologisieren. Eine solche Einschätzung schien vor allem insofern plausibel zu sein, als sich die Hypochondrie als ein allgemeines Phänomen des zweiten Jahrhunderts darstellte.7 Der Körper lag auch in anderen Schriften im Fokus des Interesses, der Asklepiuskult wurde zunehmend wichtiger, und die Ärzte gehörten mittlerweile zu der Gruppe mit dem höchsten Sozialprestige. Bekannte Personen des zweiten Jahrhunderts, das sogar als Jahrhundert der Ärzte bezeichnet wurde, waren Galen, Aretaeus, Soranus und Rufus. Bowersock erinnert an die Ärzte im ersten Jahrhundert, die ebenfalls bei den Kaisern hohe Anerkennung und Prestige aufgrund ihres medizinischen Wissens erlangten. Zu nennen wären Antonius Musa am Hof des Augustus oder C. Stertinius Xenophon am Hof des Claudius. Musa, der Augustus im Jahr 23 v. Chr. das Leben rettete, erhielt als Dank einen goldenen Ring.8 Die Verleihung dieses Attributes bedeutet, dass er zumindest äußerlich der Ehre der Senatoren gleichgestellt wurde. Xenophon erhielt von Claudius Unterstützung für seine Heimatinsel Cos.9 Er selber wurde mit dem höfischen Amt des ad responsa graeca belohnt. Darüber hinaus erhielt er einen größeren Landsitz bei Neapel. Der Mediziner Critos wurde der φίλος von Trajan.10 Sein Nachfolger Statilius Critonianus wurde unter Marc Aurel und Lucius procurator Augusti in Thrakien.11 Von einer vergleichbaren Breitenwirkung, die die Ärzte des zweiten Jahrhunderts erzielten, seien jene Ärzte, wie Bowersock herausstellt, jedoch noch weit entfernt gewesen. Bowersock bezeichnet Galen als “lion of society“.12 Seine medizinischen Vorlesungen waren ebenso gut besucht wie die Veranstaltungen der Philosophen und Rhetoren. Wie der folgende semantische Befund verdeutlicht, waren philosophisches, rhetorisches und medizinisches Wissen nicht streng voneinander getrennt. Die berufliche Bezeichnung als
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das Bewußtsein der gewissenhaften Sorge und des willfährigen Maßhaltens gegenüber den ärztlichen Anweisungen.“ Galen 14,216. E. G. Whitehorne, „Was Marcus Aurelius a Hypochondriac?“, in: Latomus 36, 1977, 413–421, 415 ff. Vgl. dazu Bowersock, Greek Sophists, 59 ff. Cass. Dio 53,30,3. Außerdem wurden ihm und seinen Berufsgenossen sowie den zukünftigen Generationen Steuerfreiheit zugesprochen. Tac. ann. 12,61. PIR S2 823; Galen 12,445. PIR S2 824; IGR 4,855. Vgl. Bowersock, Greek Sophists, 64 ff. Bowersock, Greek Sophists, 66.
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
ἰατροσοφιστής oder ἰατροφιλόσοφος illustriert den Zusammenhang zwischen den drei Disziplinen.13 Ein Ausspruch des Aristides wird als Indiz dafür verwendet, dass das populäre Interesse an der Medizin das Resultat einer allgemein verbreiteten Hypochondrie gewesen sei. ἐγὼ μὲν οὖν καὶ αὐτός εἰμι τῶν οὐ δὶς βεβιωκότων ὑπὸ τῷ θεῷ, ἀλλὰ πολλούς τε καὶ παντοδαποὺς βίους βεβιωκότων καὶ τὴν νόσον κατὰ τοῦτο εἶναι λυσιτελῆ νομιζόντων […].14 Nach der Auffassung von Bowersock war die geistige und körperliche Sensitivität, zu der auch das Phänomen der Hypochondrie gehörte, eine Folge des glücklichen antoninischen Zeitalters, das eine Verfeinerung der Sitten begünstigt habe.15 Judith Perkins argumentiert in ihrem Aufsatz „The ‚Self‘ as Sufferer“ gegen eine pathologische Deutung der zunehmenden Sorge um den menschlichen Körper.16 Ausgehend von der Person des Aelius Aristides, der der Forschung als prominentes Beispiel eines Hypochonders des zweiten Jahrhunderts gilt, zeigt Perkins, dass die auf den Körper gerichtete Aufmerksamkeit nicht auf eine Hypochondrie schließen lasse, sondern die Konstruktion einer neuen Subjektivität vorbereitet habe.17 Aristides, der im Jahr 143 n. Chr. erkrankte und seine rhetorische Karriere nicht fortsetzen konnte, ging im Jahr 145 für zwei Jahre in das Heiligtum des Asklepios nach Pergamon. Für die Anhänger des Gottes war es üblich, in dem Heiligtum zu schlafen, um im Traum Visionen und von dem Gott entsprechende Heilungen zu empfangen. Nach seinem Aufenthalt in Pergamon nahm Aristides seine Karriere wieder auf, blieb aber bis zum Ende seines Lebens in engem Kontakt mit dem Asklepioskult. Anhand der orationes sacrae, in denen Aristides von der langen Interaktion mit Asklepios berichtet, versucht Perkins ein verändertes Verhältnis zum Körper nachzuweisen. Anders als im Hellenismus, in dem der Körper das Objekt gesellschaftlicher Kontrolle und menschlicher Selbstregulierung war, würden die körperlichen Befindlichkeiten nun ausschließlich unter göttlichen Schutz gestellt. „This subjectivity placed greater value on transcendent approval than on worldly achievement.“18 Die Vorstellung, dass der Körper nicht mehr einer irdischen, sondern einer göttlichen Macht unterstellt sei, ist meines Erachtens zu stark von der Entstehung des 13 14
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Bowersock, Greek Sophists, 30–42, 66, 69 ff. Die zunehmende Bedeutung von Medizin, Philosophie und Rhetorik im 2. Jahrhundert wird nicht zuletzt anhand der ihnen gewährten Immunität erkennbar. Arist. 23,16: „Ich selbst bin einer von denen, die unter dem Schutz der Götter nicht zwei, sondern viele verschiedene Leben gelebt haben und in dieser Hinsicht die Krankheit als nützlich betrachten.“ – Die Zitation des Aelius Aristides folgt mit Ausnahme der Romrede der Zählung in der Ausgabe von Charles A. Behr, P. Aelius Aristides. The Complete Works, 2 Bde., Leiden 1981. „By an explicable and almost inevitable evolution the Second Sophistic brought with it a tendency to hypochondria which seems to mirror the excessive refinements of its rhetoric. The Antonine world was on the whole a peaceful one; (…). In the midst of that glorious era there was a real illness, but Galen could do nothing about it. Unknowingly, he too suffered from it.“ Bowersock, Greek Sophists, 74 f. Judith Perkins, The „Self“ as Sufferer, in: HTHR 85.3, 1992, 245–272. Perkins, The „Self“ as Sufferer, 246. Ebd. 256.
1. Hypochondrie und Gesellschaft – Philosophie als Medizin
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Christentums beeinflusst, die Perkins ebenfalls in ihre Interpretation einbezieht.19 Obwohl im zweiten Jahrhundert eine Spiritualisierung der Philosophie zu beobachten ist und die Figur des „heiligen Mannes“ sich bereits etabliert hatte, ist auf der anderen Seite eine Abkehr von der weltlichen Macht nicht zu beobachten. Die Träume des Aristides bestätigen dies. Ἐνάτῃ ἐπὶ δέκα ἐδόκουν ἐν τοῖς βασιλείοις διατρίβειν, τὴν δ’ ἐπιμέλειαν καὶ τιμὴν τῶν αὐτοκρατόρων εἰς ἐμὲ θαυμαστὴν καὶ ἀνυπέρβλητον εἶναι διὰ πάντων ἑξῆς ὧν ἔπραττον. μόνῳ γὰρ ἅπαντα γίγνεσθαι ὧν οὐδὲ μικρὸν ἄλλῳ τῳ. καὶ τοῦτο μὲν δὴ ἔνδον συνδιατρίβειν τε καὶ συνοικεῖν, οὐδενὸς ἄλλου τῶν σοβαρῶν παρόντος· […] καὶ ἐπὶ τούτοις ἤδη ἔλεγον ἀπαλλαξείων, χάριν ὑμῖν, ἔφην, ἔχω, αὐτοκράτορες, πάσης προνοίας καὶ τιμῆς ἥν με τετιμήκατε. οἱ δ’ ὑπολαβόντες, ἡμεῖς μὲν οὖν, ἔφασαν, τοῖς θεοῖς ἔχομεν χάριν πειραθέντες ἀνδρὸς τοιούτου· ἡγούμεθα γὰρ καὶ περὶ τοὺς λόγους ὅμοιον εἶναι.20
Dies ist der Traum des Aelius Aristeides, in dem Ohmachts- und Allmachtsphantasien so eng beieinander zu liegen scheinen: Frei von der Konkurrenz der anderen Sophisten, die er so sehr fürchtet, wünscht er sich, als Einziger von den Kaisern Marc Aurel und Lucius Verus als Redner anerkannt zu werden.21 Auch Philostrat bestätigt, dass Aristides sehr um seinen Ruf besorgt gewesen sei. Als der Kaiser ihn während seines Aufenthaltes in Smyrna aufforderte, eine Rede zu halten, bat er um Aufschub, da er nur einen perfekt vorbereiteten Vortrag halten wollte. Außerdem bat er darum, auch seine Schüler einladen zu dürfen, damit sie ihm applaudieren könnten.22 Dass eine göttliche Instanz und nicht mehr die gesellschaftliche Ordnung das Handeln der Menschen regulierte, wird zumindest durch diese Quellen nicht bestätigt. Eine Bemerkung Marc Aurels, die auf ironische Art und Weise das Konzept der Hypochondrie auf den Kopf stellt, verdeutlicht, wie sich die Sorge um den Körper allen psychologisierenden Erklärungsansätzen entzieht. Denn wie Marc Aurel Fronto berichtet, sei er sich nicht sicher, ob seine Erkältung darauf zurückzuführen 19 20
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Ebd. 262. Arist. 47,46–49: „Am 19. war es mir, als ob ich mich im Palast befände, die Aufmerksamkeiten und Ehren aber, die mir die Kaiser fortgesetzt in all ihren Handlungen bezeigten, wunderbar und nicht zu überbieten wären. Denn mir ausschließlich wurde alles erwiesen, wovon sonst niemand auch nur einen bescheidenen Teil erhielt. Fürs erste nämlich verbrachte ich mit ihnen die Zeit drinnen und teilte mit ihnen die Wohnung, während keiner der hochmögenden Herren sonst zugegen war. […] Als ich mich darauf entfernen wollte, sagte ich: ‚Ich danke Euch, Majestäten, für alle Fürsorge und Ehre, womit Ihr mich geehrt habt.‘ Sie aber fielen mir ins Wort und sagten: ‚Vielmehr wir danken den Göttern, daß wir einen solchen Mann kennenlernen durften. Denn wir glauben, daß er auch in seinen Reden ähnlich ist.‘“ Arist. 47,46–49. Vgl. dazu Jaap-Jan Flinterman, Sophists and Emperors. A Reconaissance of Sophistic Attitudes, in: Barbara Borg (Hg.), Paideia. The World of the Second Sophistic, Berlin, New York 2004, 359–376. In dem Kapitel „Dreaming about the emperor“ (369–373) betont Flinterman den enigmatischen Charakter der Träume. So sei die hohe Wertschätzung, die Marc Aurel Aelius Aristides im Jahre 176 in Smyrna entgegenbrachte, als eine unmittelbare Realisierung seiner Träume verstanden worden. „For Aristides, being allowed to address the imperial family appears as the acme of public recognition, and a craving for imperial honours seems to be a constant feature of both his waking and his dreaming life, […].“ (373) Philostrat. Vita Sophist. 583.
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
sei, dass er am Morgen nur in Sandalen spazieren gegangen ist oder seine Schreibversuche misslungen sind. Wie die folgenden Ausführungen zeigen, gab es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der allgemein zunehmenden Sorge um den Körper und den sozialen und politischen Strukturen. Die Sorge um den Körper schien mit dem Wunsch nach gesellschaftlicher Integration eng verbunden gewesen zu sein, sodass die Hypochondrie nicht als ein ausschließlich psychologisches Phänomen zu deuten ist.23 Meines Erachtens wurde der von Krankheiten bedrohte Körper für die Aristokratie zu einem Symbol ihrer gesellschaftlichen Position. Diese wurde nicht nur durch den politischen Machtverlust, sondern auch durch die Rolle des Kaisers verunsichert, der die alten sozialen und politischen Strukturen republikanischer Zeit zwar weiter aufrecht erhielt, aber dort, wo es möglich war, auch in seinem Sinne zu beeinflussen versuchte. Dieser Einfluss zeigte sich insbesondere dort, wo der Kaiser die Besetzung von Magistraturen zu steuern oder Personen eines geringen sozialen Status mit der Aristokratie gleichzustellen versuchte, indem er ihnen Ehrungen innerhalb der sozialen Rangordnung zuteil werden ließ. Doch auch die Privilegierung von Personen innerhalb der höfischen Hierarchie musste die Aristokratie brüskieren, da die dort erworbenen Macht- und Einflusschancen der Macht der Aristokratie weitaus überlegen sein konnten. Entsprechend ging die permanente Sorge um die Heilung des Körpers mit dem Wunsch einher, einen Weltbezug, der durch die politische Entmachtung verunsichert worden oder verloren gegangen war, wiederherzustellen. Dass medizinische Heilungsversuche und der Wunsch nach gesellschaftlicher Integration miteinander in Beziehung gesetzt wurden, beweisen die Ratschläge des Asklepios, der Aristides darin bestärkt, seine Karriere wiederaufzunehmen. Diese Aufforderung des Asklepios sei für Aristides so befreiend gewesen wie der Befehl zu fliegen. Als Aristides gefragt wurde, wie er auf den Befehl des Gottes reagieren werde, antwortete er: „Was anderes soll ich tun, als das, was möglich ist?“24 23
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Auch Manfred Horstmanshoff gelangt auf der Grundlage der Hieroi Logoi des Aelius Aristides zu dem Ergebnis, dass die Krankheiten durchaus sinnstiftende und gesellschaftliche Funktionen übernommen haben: „But later in the same oration he talks about the ‚civic ability‘ […], who ‚removed not only the diseases of the body, but also cured the sicknesses of the cities‘: Asclepius does not confine his help to the individual. […] His illness gave sense to his life.“ In der Stelle, auf die Horstmanshoff sich bezieht, dankt Aristides dem Asklepios, der ihn ein weiteres Mal vor anderen ausgezeichnet hat. Dies habe ihm, wie Aristides behauptet, wieder neuen Mut zum Leben gegeben. Ael. Aristid. 50,50–51; Manfred Horstmanshoff, Aelius Aristides. A suitable case for treatment, in: Borg, Paideia, 287. Vgl. dazu den ausführlicheren Abschnitt: ἔφην οὖν ἐγὼ μὴ ἔχειν ὅ τι χρήσομαι, προστετάχθαι γάρ μοι ἴσα καὶ πέτεσθαι, μελέτην λόγων ἀναπνεῖν οὐ δυναμένῳ, καὶ ταύτην ἐνταυθοῖ· λέγων αὐτῷ τὴν στοὰν, καὶ τὸ ὄναρ διηγοῦμαι. καὶ ὃς ἀκούσας, τί οὖν, ἔφη, ποιήσεις, καὶ πῶς ἔχεις; τί δ᾿ ἄλλο γε, ἔφην, ἢ ἅπερ δυνατόν, ταῦτα ποιήσω. – „Ich sagte nun, ich wisse nicht, was ich tun solle. Mir sei nämlich etwas aufgetragen, was wie ein Befehl zum Fliegen sei, nämlich Redeübungen, während ich doch nicht atmen könne, und zwar dort – wobei ich ihm die Halle bezeichnete –, und ich erzählte ihm meinen Traum. Als er ihn vernommen hatte, sagte er: ‚Was wirst du nun tun, und wie fühlst du dich?‘ ‚Was werde ich anderes tun‘, sagte ich, ‚als das, was möglich ist?‘“ (Aristid. or. sac. 50,14).
1. Hypochondrie und Gesellschaft – Philosophie als Medizin
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Der sich zwischen Krankheit und Heilung bewegende Körper wurde zum Schauplatz für die gesuchte, aber immer wieder bedrohte Integration in die Gesellschaft. In dem Kapitel „Soziale und politische Funktionen der Paideia“ wird gezeigt, dass sich die Aristokratie nach ihrem politischen Machtverlust neue Kriterien sozialer Distinktion schuf, wie die Bildung, die ebenfalls integrative Funktionen übernahm. Phänomenologisch betrachtet, hatte die Medizin eine ähnliche Funktion wie die Bildung, insofern beide nicht nach einer Alternative zur Gesellschaft, sondern danach fragten, wie ein verlorener Weltbezug wieder hergestellt werden kann. Eine Somatisierung des Weltverhältnisses ist jedoch nicht nur bei der Aristokratie, sondern auch bei Marc Aurel zu beobachten, der in den Selbstbetrachtungen die politische Herrschaft immer wieder als Körper darstellt. Dass der Körper als ein Medium verwendet werden kann, das die Macht, den Status und die Identität des Königs repräsentiert, ist in der Forschung bereits anhand der höfischen Kultur der Renaissance gezeigt worden. In den Selbstbetrachtungen wird der Körper in Widersprüchen dargestellt. Neben dem Bild des schwachen, vergänglichen und abscheulichen Körpers gibt es das Bild des gesunden, schönen und kräftigen Körpers. Der kranke Körper wird bei Marc Aurel zum Sinnbild der Probleme, die mit der Herrschaft eines römischen Kaisers verbunden waren. Es ist der bereits erwähnte Akzeptanzverlust seitens der Aristokratie, der seine Herrschaft am stärksten verunsichern konnte. Diesen Sorgen wurde durch Krankheitsbilder symbolischer Ausdruck verliehen. In den Selbstbetrachtungen schreibt Marc Aurel, dass ebenso wie Krankheit und Tod die Integrität des Körpers gefährden, die Stabilität der politischen Herrschaft durch Verleumdung und Intrigen bedroht werde: τοιοῦτο γὰρ καὶ νόσος καὶ θάνατος καὶ βλασφημία καὶ ἐπιβουλὴ καὶ ὅσα τοὺς μωροὺς εὐφραίνει ἢ λυπεῖ.25 Für beide gebe es ein Heilmittel, die Medizin für den kranken Körper und die Philosophie für die Politik. Somit stellt auch Marc Aurel eine Analogie zwischen Philosophie und Medizin her, wie in dem folgenden Beispiel, in dem er den Philosophen mit einem Arzt vergleicht, erkennbar wird: ῞Ωσπερ οἱ ἰατροὶ ἀεὶ τὰ ὄργανα καὶ σιδήρια πρόχειρα ἔχουσι πρὸς τὰ αἰφνίδια τῶν θεραπευμάτων, οὕτω τὰ δόγματα σὺ ἕτοιμα ἔχε […].26 In einem Paragraphen des fünften Buches bezeichnet er die Philosophie ausdrücklich als ein Heilmittel: […] καὶ μὴ ὡς πρὸς παιδαγωγὸν τὴν φιλοσοφίαν ἐπανιέναι, ἀλλ᾿ ὡς οἱ ὀφθαλμιῶντες πρὸς τὸ σπογγάριον καὶ τὸ ᾠόν, ὡς ἄλλος πρὸς κατὰπλασμα, ὡς πρὸς καταιόνησιν.27 Bei Marc Aurel hat die Körpersymbolik, wie bei der Aristokratie, ebenfalls die Funktion, einen Bezug zur Außenwelt, die er aufgrund der potentiellen Konkurrenz der Aristokratie als „fremd“ beschreibt, wieder herzustellen. Der kranke, vergäng25 26 27
M. Aur. ad se ipsum 4,44: „Dasselbe gilt auch für Krankheit, Tod, Verleumdung, Intrige und was sonst noch die Toren erfreut oder schmerzt.“ M. Aur. ad se ipsum 3,13,1: „Wie die Ärzte stets ihre Instrumente und Messer für plötzlich notwendige Behandlungen zur Hand haben, so sollst du deine Überzeugungen bereithalten […].“ M. Aur. ad se ipsum 5,9,1: „[…] und kehre nicht so zur Philosophie zurück, als ob du zu einem Schulmeister gingest, sondern tu es so, wie die Augenkranken zum Schwämmchen und zum Eiweiß greifen oder ein anderer zum Pflaster oder zum Umschlag.“
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
liche Körper wird Marc Aurel zum Sinnbild einer negativ wahrgenommenen Außenwelt: συνελόντι δὲ εἰπεῖν, πάντα τὰ μὲν τοῦ σώματος ποταμός, τὰ δὲ τῆς ψυχῆς ὄνειρος καὶ τῦφος, ὁ δὲ βίος πόλεμος καὶ ξένου ἐπιδημία, ἡ δὲ ὑστεροφημία λήθη.28 Doch während die Medizin die Funktion hat, den Körper zu heilen, kommt der Philosophie die Aufgabe zu, zwischen Menschen, die sich vorher als „fremd“ wahrgenommen haben, Vertrauen herzustellen. Dieses politische System, in dem Philosophie und Politik keinen Gegensatz mehr bilden, vergleicht Marc Aurel mit dem Kosmos bzw. mit dem Bild des idealen Körpers, da in einem solchen Gemeinwesen keiner dem anderen „fremd“ sei.29 Die Kooperation zwischen den Menschen sei dort ebenso harmonisch wie das Zusammenspiel der Gliedmaßen in einem gesunden Körper: […] γεγόναμεν γὰρ πρὸς συνεργίαν, ὡς πόδες, ὡς χεῖρες, ὡς βλέφαρα, ὡς οἱ στοῖχοι τῶν ἄνω καὶ κάτω ὀδόντων.30 Innerhalb dieses Kosmos werde die Gefahr gering, von anderen Menschen, die doch Verwandte seien, geschädigt zu werden. καθόσον δὲ ἔχω πως οἰκείως πρὸς τὰ ὁμογενῆ μέρη, οὐδὲν πράξω ἀκοινώνητον, μᾶλλον δὲ στοχάσομαι τῶν ὁμογενῶν καὶ πρὸς τὸ κοινῇ συμφέρον πᾶσαν ὁρμὴν ἐμαυτοῦ ἄξω καὶ ἀπὸ τοὐναντίου ἀπάξω. Τούτων δὲ οὕτω περαινομένων ἀνάγκη τὸν βίον εὐροεῖν, […].31 Wie es Marc Aurel mit Hilfe der Philosophie gelang, das Vertrauen der Aristokratie herzustellen und seine Herrschaft vor Intrigen und Verschwörungen zu schützen, wird im VI. Kapitel anhand der gesellschaftlichen Funktionen der Philosophie verdeutlicht. 2. OIKEIOSIS – RÜCKZUG ODER ANEIGNUNG οἱ μὲν οὖν Στωϊκοὶ ἔφασαν […] εἶναι […] τὴν δὲ φιλοσοφίαν ἄσκησιν ἐπιτηδείου τέχνης […].32
Die stoische Oikeiosis-Lehre stellte eine mögliche Form der Weltaneignung33 dar, die auf die im vorherigen Kapitel genannten gesellschaftlichen Probleme und das damit verbundene Gefühl, in einer fremden Welt zu leben, reagierte. 28 29 30 31
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M. Aur. ad se ipsum 2,17,2: „Kurz: Alles Körperliche – ein Fluß, alles Seelische – Schall und Rauch, das Leben – Krieg und kurzer Aufenthalt eines Fremden, der Nachruhm – Vergessen.“ M. Aur. ad se ipsum 7,9. M. Aur. ad se ipsum 2,1,4: „Denn wir sind da, um zusammenzuarbeiten, wie die Füße, Hände, Augenlider oder die Reihen der oberen und unteren Zähne.“ Vgl. dazu auch 10,6; 11,8. M. Aur. ad se ipsum 10,6,4–5: „Insofern ich aber irgendwie eine innere Beziehung zu den verwandten Teilen habe, werde ich nichts tun, was gemeinschaftswidrig ist, sondern vielmehr noch auf die verwandten Teile Rücksicht nehmen und mein ganzes Streben auf den gemeinsamen Nutzen richten und von seinem Gegenteil ablenken. Wenn dies aber so verwirklicht wird, muß das Leben einen guten Verlauf nehmen […].“ Aëtios 1. Prooem. 2; SVF 2,35: „Die Stoiker sagen […], die Philosophie sei die Ausübung von Kunst im Bereich des Nützlichen.“ Es sei an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die modernen Kulturwissenschaften und insbesondere die postcolonial studies den Begriff „Aneignung“ in deutlicher Abgrenzung von seinem mit dem Geist der Kolonialzeit verbundenen Bedeutungsgehalt verwenden. Kennzeich-
2. Oikeiosis – Rückzug oder Aneignung
57
Die Oikeiosis wurde bereits in der älteren Forschung als ein zentraler Bestandteil der Stoa wahrgenommen. So urteilte Max Pohlenz, dass die Oikeiosis eine entscheidende Rolle für die Begründung der altstoischen Ethik übernommen habe.34 Pembroke bewertete die Oikeiosis in seinem klassischen Aufsatz als Ausgangspunkt bzw. Fundament der stoischen Philosophie: „Oikeiosis was a central idea in Stoic thinking from the start […]: if there had been no oikeiosis, there would have been no Stoa.“35 Trotz dieser Einschätzungen, die der Oikeiosis-Lehre eine hohe Relevanz für die stoische Philosophie insgesamt beimessen, hat sich die Oikeiosis erst in jüngerer Zeit von einem eher marginalen zu einem zentralen Thema der Forschung entwickelt. Während die Oikeiosis in älteren Arbeiten als Teilbereich einer allgemeinen Untersuchung zur stoischen Ethik Berücksichtigung fand, wird sie in der neueren Stoaforschung zunehmend als ein Gegenstand eigenen Interesses behandelt. Zu erwähnen sind hier die an späterer Stelle ausführlicher zu behandelnden Monographien von Robert Bees36, Troels Engberg-Pedersen37 und Chang Uh Lee38. Eine eindeutige Definition des Begriffs „Oikeiosis“ ist insofern problematisch als es im Deutschen keinen Begriff gibt, der den mit dem griechischen Ausdruck οἰκείωσις verbundenen Bedeutungsgehalt adäquat erfassen könnte. Als aufschlussreich erweist sich zunächst jedoch eine Betrachtung der mit dem Begriff verbundenen inhaltlichen Aspekte. Das Adjektiv οἰκεῖος umfasst das zur Familie Gehörende und darüber hinaus all diejenigen Dinge, die dem Menschen im Verlauf seines Lebens vertraut werden. Im Gegensatz dazu bezieht sich das ἀλλότριον auf Gegenstände, die dem Men-
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nend für den kolonialzeitlichen Aneignungsbegriff war die Auffassung, dass das Fremde dem Eigenen angeglichen bzw. unterworfen werden müsse, weil der Mensch seine Integrität nur durch die Verneinung des Anderen bewahren könne. Dieser Gedanke der Einverleibung des Fremden wurde unter anderem auch von Hegel und Nietzsche unterstützt. Erst seit Heidegger hat sich die Vorstellung von einer dialogischen Aneignung von Welt entwickelt. So entdeckte Hannah Arendt im Politischen einen Kommunikationsraum, in dem durch den Dialog neue Wirklichkeiten geschaffen würden. An diese Vorstellung knüpft schließlich das moderne Konzept der Hybridität an. So geht Homi K. Bhaba von der Vorstellung eines Dritten Raumes aus, der ebenfalls die Kommunikation zwischen den verschiedenen Kulturen ermöglicht. Zum Begriff der Hybridität vgl. Antje Gunsenheimer, Grenzen, Differenzen, Übergänge. Spannungsfelder inter- und transkultureller Kommunikation, Bielefeld 2007; Karin Ikas, Gerhard Wagner (Hg.), Communicating in the Third Space, New York 2009. Während in diesem Kapitel die Funktion kaiserzeitlicher Aneignungskonzepte anhand der stoischen Oikeiosislehre untersucht wird, wird in Kapitel VI. der Frage nachgegangen, ob sich auch in der Interaktion zwischen dem Kaiser und den städtischen Eliten hybride Räume entwickelt haben. Vgl. Max Pohlenz, Grundfragen der stoischen Philosophie, Göttingen (1. Aufl. 1940) 1987, 7, 11–12. S. G. Pembroke, Oikeiosis, in: A. A. Long (Hg.), Problems in Stoicism, London 1971, 114–149, 114 f. Vgl. auch Pohlenz, Grundfragen der stoischen Philosophie, 11: „Die Lehre von der Oikeiosis ist der Ausgangspunkt wie der feste Grund der stoischen Ethik.“ Robert Bees, Die Oikeiosislehre der Stoa. I. Rekonstruktion ihres Inhalts, Würzburg 2004. Troels Engberg-Pedersen, The Stoic Theory of Oikeiosis. Moral Development and Social Interaction in Early Stoic Philosophy, Aarhus 1990. Chang-Uh Lee, Oikeiosis. Stoische Ethik in naturphilosophischer Perspektive, Freiburg i.Br. 2002.
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
schen fremd oder sogar feindlich erscheinen und von denen er sich abzugrenzen versucht.39 Das Begriffspaar οἰκεῖος-ἀλλότριος kann im Deutschen somit durch die Begriffe das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ wiedergegeben werden. Das Substantiv οἰκείωσις, das mit den Begriffen ‚Zueignung‘, ‚Aneignung‘ oder ‚Anverwandlung‘ übersetzt wird, sowie das Verb οἰκειόω, das soviel bedeutet wie ‚zu eigen machen‘, ‚zum Freund‘ oder ‚Vertrauten machen‘, ‚sich etwas zueignen‘ oder ‚sich jemanden geneigt machen‘, zeigen, dass die griechischen Begriffe vor allem einen Prozess zum Inhalt haben, dessen Ziel darin besteht, sich eine zunächst als „fremd“ oder „feindlich“ wahrgenommene Außenwelt allmählich anzueignen, sodass sie dem Menschen vertraut wird und keinen Gegensatz zu seinen Interessen mehr bildet.40 Der Prozess dieser Weltannäherung ist in der modernen Forschung wiederholt entweder als Ausdruck utilitaristischer Interessen oder als Folge eines religiösen Bedürfnisses gedeutet worden. In dem einen Fall wurde das menschliche Handeln egoistisch oder sogar imperialistisch als ein fortwährender Versuch gedeutet, sich die Welt ausgehend von der eigenen häuslichen Umgebung Schritt für Schritt anzueignen, um sie sich schließlich gänzlich zu unterwerfen.41 In dem anderen Fall wäre nicht die Eroberung der Welt, sondern der in der Betrachtung des Kosmos sich selbst vergessende Mensch, die contemplatio mundi, das Ziel der Oikeiosis. Die Frage, ob altruistische oder egoistische Gründe den Prozess der Weltannäherung vorantreiben, wird sehr unterschiedlich beantwortet und ist letztlich davon abhängig, aus welcher Richtung, vom Peripatos oder der platonischen Schule, ein stärkerer Einfluss auf die stoische Ethik und damit auch auf die Oikeiosis-Lehre vermutet wird.42 Dies war bereits in der Antike ein Streitgegenstand, insofern die Alte Stoa früh die von ihren platonischen und peripatetischen Kritikern vorgebrachten Argumente eklektisch in ihre eigene Theorie aufgenommen hat. Auf diese ver-
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Vgl. Paul Rabbow, Seelenführung. Methodik der Exerzitien in der Antike, München 1954, 183. Der Bedeutungsgehalt der griechischen Begriffe οἰκεῖος und ἀλλότριος kann durch verschiedene Begriffspaare übersetzt werden: ‚Fremdes‘ und ‚Eigenes‘, ‚vertraut‘ – ‚bedrohlich‘, ‚schädlich‘ – ‚nützlich‘. Vgl. Pohlenz, Die Stoa, 334 f.; Michel Foucault, Freiheit und Selbstsorge, in: Helmut Becker u. a. (Hg.), Freiheit und Selbstsorge, Frankfurt am Main 1985, 65. Die Οikeiosis wird hier als „Prozeß der seelisch-geistigen Anverwandlung“ beschrieben, die das „In-sich-selbst-häuslich-Werden und Zuhause-Fühlen jedes Lebewesens und dann spezifisch des Menschen erklärt“. Vgl. auch Eduard Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Bd. 3.1, hg. von Eduard Wellmann, 5. Aufl., Leipzig 1923, 783 f., dem zufolge die Philosophie einen Kontrast zu dem Leben in einer fremden Welt bilde. Vgl. auch: A. S. L. Farquharson, MARKOU ANTONINOU AUTOKRATOROS TA EIS EAUTON. The Meditations of the Emperor Marcus Antoninus, Bd. 2, Oxford 1968, 631: „Marcus uses the word and its cognates for the affinity of the individual to Nature…; of ourselves to others…; of phenomena to one another.“ Vgl. dazu S. 56, Anm. 33. Es waren vor allem die Peripatetiker, die den Stoikern vorwarfen, dass es ihnen letztlich nicht gelungen sei, eine vom Peripatos unabhängige Theorie zu entwickeln. Die Diskussion dieser Fragen hat ihre Ursache auch im antiken Schulstreit, als sich die einzelnen Richtungen innerhalb der Philosophie ein eindeutiges Profil zu schaffen versuchten.
2. Oikeiosis – Rückzug oder Aneignung
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schiedenen Traditionen der Stoa rekurriert auch die Debatte der modernen Forschung.43 Während sogenannte peripatetisierende Interpretationsansätze die Oikeiosis durchgängig als einen egoistischen, auf die Selbsterhaltung des Menschen gerichteten Prozess beschreiben, gehen diejenigen Autoren, die die Oikeiosis durch die platonischen Schulen beeinflusst sehen, davon aus, dass sie in erster Linie auf altruistische Motive zurückzuführen sei.44 Letztere behaupten, nicht der Mensch, sondern die kosmische Natur bilde das Subjekt der Oikeiosis, der der Mensch in religiöser Hingabe zugewandt sei. Diese Position wird in der aktuellen Debatte von Chang-Uh Lee vertreten, der die Oikeiosis als Produkt teleologischer und naturtheologischer Prozesse beschreibt.45 Er belegt dies mit der folgenden Aussage des Chrysipp: […] sic praeter mundum cetera omnia aliorum causa esse generata, ut eas fruges atque fructus, quos terra gignit, animantium causa, animantes autem hominum […]; ipse autem homo ortus est ad mundum contemplandum et imitandum […].46 Der andere Interpretationsansatz ist mit dem Namen Troels Engberg-Pedersen verbunden, der die Auffassung vertritt, dass nicht die Natur, sondern die Verwirklichung individueller Interessen das Ziel der Oikeiosis sei: „From start to end the process of oikeiosis should be understood in terms not of good but of belonging.“47 Eine dritte mit dem Namen Robert Bees verbundene Position, versucht den Widerspruch zwischen den beiden zuvor genannten Ansätzen zu überwinden, indem er die Oikeiosis aus soziobiologischer Perspektive interpretiert. Das Interesse an einer soziobiologischen Interpretation der Oikeiosis ist nicht zuletzt auf die rasanten Entwicklungen und Fortschritte innerhalb der Neurophysiologie und Hirn43 44
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Zu dieser Diskussion vgl.: Nicholas White, Indifferenz und der nicht peripatetische stoische Begriff des Guten, in: Barbara Guckes (Hg.), Zur Ethik der älteren Stoa, Göttingen 2004, 180– 197, 180 ff. und Lee, Oikeiosis, 40 ff. Dazu White, Indifferenz, 184 f., vgl. auch 182: „Die peripatetische Ethik ist eine Selbstverwirklichungsethik, die stoische dagegen nicht.“ Vgl. auch: Charles O. Brink, Οἰκείωσις and Οἰκειότης. Theophrastus and Zeno on Nature in Moral Theory, in: Phronesis 1.2, 1956, 123– 145, 123 ff. Vgl. Lee, Oikeiosis, 157 ff.; Gisela Striker, Following Nature. A Study in Stoic Ethics, in: OSAPH 9, 1991, 1–73, 12 argumentiert ebenfalls dafür, die Hinwendung zum Kosmos theologisch und als Resultat menschlichen Reflexionsvermögens zu interpretieren bzw. „[…] as the result of one’s reflection upon the way nature has arranged human behaviour in the context of an admirable cosmic order.“ Cic. de nat. deorum 2,37: „[…] alle Dinge außer dem Kosmos [sind] für andere geschaffen, z. B. Getreide und Früchte, die von der Erde hervorgebracht werden, für die Tiere, die Tiere wiederum für den Menschen […]. Der Mensch selbst ist entstanden, um den Kosmos zu betrachten und nachzuahmen […].“ Vgl. Lee, Oikeiosis 157. Troels Engberg-Pedersen, The Stoic Theory of Oikeiosis. Moral Development and Social Interaction in Early Stoic Philosophy, Aarhus 1990, 99. Eine psychologische oder anthropologische Deutung der Oikeiosis ist auch von Gisela Striker, The Role of Oikeiosis in Stoic Ethics, in: OSAPH 1, 1983, 145–167, Malte Hossenfelder, Die Stoa. Ethik, in: Wolfgang Röd (Hg.), Philosophie der Antike. Stoa, Epikureismus und Skepsis. Geschichte der Philosophie, Bd. 3, München 1985, 45–68 und Brad Inwood, Ethics and Human Action in Early Stoicism, Oxford 1985 vorgeschlagen worden.
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
forschung zurückzuführen, die so weitreichende Fragen wie die, ob der Mensch durch seine Natur determiniert werde oder auf einen Rest von Autonomie hoffen dürfe, wieder aufgreift, um sie mit Hilfe naturwissenschaftlicher Erkenntnisse endgültig zu einem Ende zu führen. Robert Bees behauptet ebenso wie Chang-Uh Lee, dass die Natur das Subjekt und somit die antreibende Kraft der Oikeiosis sei. Doch während Lee die Natur theologisch interpretiert48, identifiziert Bees den stoischen Naturbegriff als „genetische Programmierung“.49 Insofern Bees die Natur nicht als göttliche Natur, sondern als Natur des Menschen definiert, ist es möglich, die Oikeiosis im Anschluss an die Aussagen der Stoiker sowohl als ein Produkt menschlichen Handelns, als auch als einen von der Natur initiierten Prozess zu beschreiben. Selbst der Widerspruch zwischen Freiheit und Determinismus, den es für die Stoiker nicht gab, scheint aus dieser Perspektive auflösbar zu sein. Die Stoiker gingen davon aus, dass der Mensch seine Freiheit und seine Interessen dann verwirklicht, wenn er dem, wozu er von seiner Natur bereits bestimmt worden sei, zustimme. Dementsprechend besteht die Entscheidungsmacht des Menschen nach stoischer Auffassung darin, dass er der Notwendigkeit des kosmischen Geschehens seine Zustimmung erteilt, damit sie als Resultat seines freien Willens interpretiert werden kann. Chrysipp verdeutlicht dies am Beispiel eines an einen Wagen gebundenen Hundes: ἐὰν μὲν βούληται ἕπεσθαι, καὶ ἕλκεται καὶ ἕπεται, ποιῶν καὶ τὸ αὐτοεξούσιον μετὰ τῆς ἀνάγκης· ἐὰν δὲ μὴ βούληται ἕπεσθαι, πάντως ἀναγκασθήσεται· τὸ αὐτὸ δήπου καὶ ἐπὶ τῶν ἀνθρώπων· καὶ μὴ βουλόμενοι γὰρ ἀκολουθεῖν ἀναγκασθήσονται πάντως εἰς τὸ πεπρωμένον εἰσελθεῖν.50
Letztlich bleibt der soziobiologische Erklärungsansatz dennoch defizitär, da er den Spielraum, den die Stoiker der Freiheit des Menschen beimaßen, letztlich nicht ermessen kann. Bees, der sämtliche Äußerungsformen des Menschen auf eine biologische Ursache zurückführt, leugnet die Freiheit schließlich, wenn er behauptet, dass der Mensch, der nach stoischer Terminologie ein Teil des Kosmos ist, „nicht nach freier Entscheidung […], sondern aufgrund kosmischen Zwanges“ handelt.51 Auch an einer späteren Stelle wird der Mensch noch einmal als Marionette ohne 48 49 50
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Vgl. dazu S. 64. Eine ausführlichere Darstellung zu dieser Interpretation des Oikeiosisbegriffes gibt Lee auf den Seiten 25 ff. Bees, Oikeiosislehre, 200 ff. Hippolyt. Refutatio omnium haeresium 1,21 = SVF 2,975: „Wenn ein Hund an ein Fuhrwerk angebunden ist, dann wird er, falls er folgen will, gezogen und folgt und läßt so sein spontanes Verhalten mit der Notwendigkeit zusammenfallen; falls er dagegen nicht folgen will, wird er dazu noch in jedem Fall gezwungen. Genauso ist es auch mit den Menschen. Denn selbst wenn sie nicht folgen wollen, werden sie doch in jedem Fall gezwungen, in das hineinzugehen, was ihnen bestimmt ist.“ – Die Stoiker, die zwischen Freiheit und Determinismus keinen Widerspruch erkannten, sind deshalb auch als Kompatibilisten bezeichnet worden. Long und Sedley bezeichnen dies sogar als eine Untertreibung, da Determinismus und Freiheit nach Auffassung der Stoiker nicht bloß kompatibel waren, sondern sich in Wirklichkeit sogar gegenseitig voraussetzten. Vgl. Long, Sedley, Die hellenistischen Philosophen, 468 ff. Bees, Oikeiosislehre, 186. Hier werden die soziobiologischen Begriffe auf die stoische Terminologie übertragen.
2. Oikeiosis – Rückzug oder Aneignung
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eigenen Willen vorgestellt.52 Mit dieser deterministischen Reduktion begibt sich die Soziobiologie letztlich der Möglichkeit, das von den Stoikern dargestellte Zusammenspiel von Freiheit und Determinsmus hinreichend begründen zu können. Insbesondere gelingt es ihr nicht zu erklären, weshalb die Stoiker die Philosophie als eine Form des Handelns und die Oikeiosis als einen Ausdruck menschlicher Interessen definieren. Die direkte Verbindung der Philosophie mit einem Handlungspostulat dokumentiert eine Aussage Senecas: Non est philosophia populare artificium nec ostentationi paratum: non in verbis, sed in rebus est.53 Oder: […] facere docet philosophia, non dicere […].54 Auch in der Forschung wird beobachtet, dass in der Kaiserzeit die Oikeiosis auf die individuellen und gesellschaftlichen Interessen der Menschen reagierte. Die aristokratischen Oberschichten seien weniger an philosophisch-theoretischen Fragen als an konkreten Handlungsanweisungen der Philosophie interessiert gewesen, die ihnen das Leben im Kaiserreich praktikabel machen sollten.55 Diejenigen Autoren, die nicht die Interessen des Menschen als Subjekt der Oikeiosis betrachten möchten, behaupten, dass sich die Vertreter der kaiserzeitlichen Stoa mit ihrem Bedürfnis, sich den gesellschaftlichen Eliten anzupassen, von orthodoxen Lehrmeinungen distanziert hätten. Im Gegensatz zu dieser Auffassung werden die folgenden Ausführungen zeigen, dass sowohl in der Alten als auch in der kaiserzeitlichen Stoa der stoische Naturbegriff weder mit dem Gedanken menschlicher Freiheit noch mit dem Ziel der Verwirklichung menschlicher Interessen unvereinbar war. Der Begriff der Natur geht nach der Auffassung der Stoiker nicht über die menschlichen Interessen hinaus, sondern knüpft unmittelbar an diese an. Dies soll im Folgenden über eine funktionale Analyse des Naturbegriffs erklärt werden. Der Begriff „Natur“ soll zunächst als Symbol für die den Menschen insgesamt umgebende Welt verstanden werden. Dabei ist zu zeigen, dass es dem Menschen, der sich selbst in Beziehung zu dieser Welt zu setzen versucht, nicht nur um machtpolitische Interessen mit dem Ziel der Einverleibung und Unterordnung der äußeren Welt ging, sondern auch um die Herstellung von ‚Vertrauen‘. Eine zunächst als ‚fremd‘ wahrgenommene Umgebung (bzw. Natur) wurde in dem Moment ‚ver52 53 54
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Ebd. 221. Sen. ep. 2,16,3: „Nicht ist die Philosophie ein volkstümliches Handwerk noch zur Schaustellung geschaffen: nicht in Worten, sondern in Taten besteht sie.“ Sen. ep. 2,20,2: „[…] handeln lehrt die Philosophie, nicht reden […].“ – Auch eine Aussage Marc Aurels bestätigt, dass die Praxis einen eindeutigen Vorrang vor der Theorie hatte bzw. die Philosophie identisch war mit der Praxis: Μηκέθ᾿ ὅλως περὶ τοῦ οἷόν τινα εἶναι τὸν ἀγαθὸν ἄνδρα διαλέγεσθαι, ἀλλὰ εἶναι τοιοῦτον. „Gar nicht mehr über das Wesen des guten Menschen diskutieren, sondern ein solcher sein.“ (M. Aur. ad se ipsum 10,16). Im zweiten Buch erteilt sich Marc Aurel den Rat, die Bücher fortzuwerfen, um sein Leben nicht in Gram beschließen zu müssen. Vgl. M. Aur. ad se ipsum 2,2 f. Lee, Oikeiosis, 131 ff. Lee schließt sich hierin der Auffassung der Autorin Margharita Isnardi Parente an, die davon ausgeht, dass die Gestalt des stoischen Weisen die Aristokraten der Kaiserzeit überfordert und die Philosophie somit einer Anpassung an das gesellschaftliche Leben bedurft habe. Das Interesse der Aristokratie habe allein der Frage gegolten, wie die sozialen καθήκοντα gegenüber den Eltern, Mitbürgern und Mitmenschen ohne Konflikt zu erfüllen seien.
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
traut‘, in dem es gelang, sie der Gedankenwelt der Stoa einzufügen. Dabei trugen verschiedene Formen der Internalisierung dazu bei, dass die Außenwelt nicht mehr als ein Außen und als etwas Fremdes wahrgenommen wurde, sondern sich gleichsam zur ‚zweiten Natur‘ des Menschen entwickelte.56 Wenn die Lehre der Oikeiosis sowohl für die Aristokratie als auch für die Kaiser die Funktion übernommen hat, einen Bezug zur äußeren Welt wiederherzustellen, wird die Stoa schließlich nicht mehr als Rückzugsphilosophie zu bezeichnen sein. Einschlägige Texte zur Stoa dokumentieren, dass die Oikeiosis, die kontinuierlich an dem Selbstinteresse der Menschen anknüpfte, eine solche Integration in die Welt zu ermöglichen versuchte. Für eine Untersuchung der orthodoxen Lehrmeinung wäre es erforderlich, zunächst auf die ältere Stoa zurückzugehen, in der Hoffnung, nicht nur die durch Chrysipp systematisch begründete stoische Theorie, sondern auch die OikeiosisLehre in ihrer Reinform offenzulegen.57 Das grundsätzliche Problem, das ein solches Vorhaben beeinträchtigt, besteht darin, dass es im Wesentlichen Fragmente und Zusammenfassungen durch spätere, auch kaiserzeitliche Autoren sind, die über die Alte Stoa informieren.58 Trotzdem gibt es für die Ethik eine vergleichsweise gute Überlieferung. Im Vergleich zu anderen Teilen der Philosophie gibt es für sie einigermaßen zusammenhängende Texte, die das altstoische Material in einem größeren Kontext referieren. Zentrale, vor allem für die Oikeiosis-Lehre relevante Quellen, sind Diogenes Laertius VII 84–131, Cicero, de finibus III 16–76 und der Papyrus Êthikê stoicheiôsis, der auf Hierokles zurückgeht. Ansonsten sind es vor allem Zitate, die uns über die ältere Stoa informieren, sowie doxographische Bemerkungen, die häufig, wenn auch unspezifisch, auf ‚die Stoiker‘ verweisen.59 Wie bereits ausgeführt wurde, liegen die Divergenzen innerhalb der modernen Forschungsauffassungen, die die Oikeiosis entweder auf das Wirken der allgemeinen Natur zurückführen oder als Resultat menschlichen Handelns beschreiben, 56
Berger und Luckmann zeigen in ihrem Buch „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ verschiedene Internalisierungsprozesse, in denen objektive Wirklichkeit in subjektive Wirklichkeit übersetzt wird. Peter L. Berger, Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1980, 25, 144, 152 ff., 185 ff. 57 Allgemein dazu: Barbara Guckes, Stoische Ethik – eine Einführung, in: dies. (Hg.), Zur Ethik der älteren Stoa, Göttingen 2004, 7–29, bes. 3. 58 Die stoischen Fragmente sind zusammengetragen worden von Hans v. Arnim, Stoicorum veterum fragmenta, Stuttgart 1978/1979; v. Arnim ordnet die Fragmente nach den einzelnen Stoikern und innerhalb dieser Personenkapitel thematisch. Eine systematische Ordnung entwickeln Karlheinz Hülser, Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker. Zusammengestellt, ins Deutsche übersetzt und teilweise kommentiert, 4 Bde., Konstanz 1982 und A. A. Long, D. N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, übers. v. Karlheinz Hülser, Stuttgart 2006. Die originalsprachlichen Quellen werden nach der Ausgabe von Hans v. Arnim zitiert. 59 Für die stoische Ethik insgesamt sind Plutarch, de Stoicorum repugnantiis und de communibus notitiis sowie Galen, de placitis Hippocratis et Platonis zentral. Doxographisches Material findet sich in einigen weiteren Texten des Cicero, Diogenes Laertius und des Stobaeus. Diese Autoren, die als „neutrale“ Quellen zur stoischen Ethik gelten, konnten noch auf stoische Originaltexte zurückgreifen, im Gegensatz zu Aulus Gellius, Sextus Empiricus, Clemens von Alexandria und Simplikios, denen vermutlich nur sekundäre Berichte über die stoische Philosophie zugrunde lagen.
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häufig in der Entscheidung für eine entweder platonische oder peripatetische Lesart der Quellen begründet. Die folgenden Ausführungen werden zum einen darlegen, wie sich diese unterschiedlichen Lesarten auswirken und welche Konsequenzen sie für die Interpretation der Oikeiosis-Lehre haben. Zum anderen soll anhand des Prozesses, den die Oikeiosis nach Auskunft der Quellen grundsätzlich durchläuft, verdeutlicht werden, dass die Oikeiosis kontinuierlich an den menschlichen Interessen anknüpft und es keinen Widerspruch zwischen der Natur und den menschlichen Interessen gibt. Die Oikeiosis wird in den Quellen als ein zweistufiger Prozess dargestellt. Die Frage, aufgrund welcher Kriterien sich die beiden Stufen voneinander unterscheiden, wird hingegen sehr unterschiedlich bewertet. Dass die erste Stufe der Oikeiosis in erster Linie die Selbsterhaltung des Menschen zum Gegenstand hat, entspricht sowohl antiker als auch moderner Auffassung. In seinem Referat über die altstoische Ethik berichtet Diogenes Laertios, es sei die Auffassung des Chrysipp gewesen, dass die Natur den Menschen dazu ausgestattet habe, nach allem zu streben, was seiner Selbsterhaltung entspricht und alles, was ihr widerspricht, zu meiden.60 Das „Erste ihm Eigene“ (πρῶτον οἰκεῖον) sei „seine eigene Konstitution“ (σύστασις).61 Die Ausführungen über die zweite Stufe der Oikeiosis leitet Diogenes Laertius mit der Frage nach dem Telos des Menschen ein. Dabei grenzt er sich zuerst von den Epikureern ab, die behaupteten, die Lust sei das Ziel menschlichen Strebens. Im Gegensatz dazu gingen die Stoiker – insbesondere Zenon, der diesen Gedanken zuerst entwickelt hat – davon aus, dass das Ziel des Menschen in einem mit der Natur übereinstimmenden Leben (ὁμολογουμένως τῇ φύσει ζῆν) bestünde.62 An die Stelle der menschlichen Natur und des physischen Selbsterhaltungsstrebens tritt auf dieser Ebene die allgemeine Natur. Aus dieser Information schließen einige Autoren, der Mensch würde im Übergang von der ersten zur zweiten Stufe der Oikeiosis sein Handeln nicht mehr an egoistischen, sondern an außerhalb seiner selbst liegenden Werten ausrichten.63 Dies sei schließlich daran erkennbar, dass die Sto60
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Dieser zentrale Paragraph sei an dieser Stelle vollständig zitiert: Τὴν δὲ πρώτην ὁρμήν φασι τὸ ζῷον ἴσχειν ἐπὶ τὸ τηρεῖν ἑαυτό, οἰκειούσης αὐτὸ τῆς φύσεως ἀπ᾿ ἀρχῆς, καθά φησιν ὁ Χρύσιππος ἐν τῷ πρώτῳ Περὶ τελῶν, πρῶτον οἰκεῖον λέγων εἶναι παντὶ ζῴῳ τὴν αὑτοῦ σύστασιν καὶ τὴν ταύτης συνείδησιν· οὔτε γὰρ ἀλλοτριῶσαι εἰκὸς ἦν αὐτὸ τὸ ζῷον, οὔτε ποιήσασαν αὐτό, μήτ᾿ ἀλλοτριῶσαι μήτ᾿ [οὐκ] οἰκειῶσαι. ἀπολείπεται τοίνυν λέγειν συστησαμένην αὐτὸ οἰκειῶσαι πρὸς ἑαυτό· οὕτω γὰρ τά τε βλάπτοντα διωθεῖται καὶ τὰ οἰκεῖα προσίεται. – „Sie [die Stoiker] sagen, der erste Trieb eines Lebewesens richte sich darauf, sich selbst zu erhalten, weil die Natur es von Anfang an sich zueigen mache, wie Chrysipp im ersten Buch seiner Schrift Über die Endziele sagt. Für jedes Lebewesen, so erklärt er, ist das erste ihm Eigene seine eigene Konstitution und das Bewußtsein davon. Denn es stünde der Natur weder an, sich das Lebewesen selbst zu entfremden, noch, es zwar zu schaffen, dann aber weder zu entfremden noch sich zu eigen zu machen. Es bleibt also übrig zu sagen, daß die Natur, als sie es konstituierte, es sich selbst zu eigen machte. So nämlich erklärt sich, daß das Lebewesen das abwehrt, was schädlich ist, und das akzeptiert, was ihm zueigen ist.“ (Diog. Laert. 7,85) Diog. Laert. 7,85. Diog. Laert. 7,87. Eine ausführliche und kritische Auseinandersetzung mit der normativistischen Lesart der Oi-
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
iker die allgemeine Natur mit der Vernunft gleichsetzten und ihr normative Zwecke attribuierten, die die rein physischen Bestrebungen transzendierten.64 Chrysipp bezeichnete die allgemeine Natur als „rechte Vernunft“ (ὁ ὀρθὸς λόγος), „die alles durchdringt“ (διὰ πάντων ἐρχόμενος)65, und Zenon identifizierte das mit der Natur übereinstimmende Leben mit dem „tugendgemäße(n) Leben“ (κατ᾿ ἀρετὴν ζῆν).66 Bei Chrysipp erhält die Natur zudem einen religiösen Aspekt, indem die „allgemeine Natur“ (ἡ κοινὴ φύσις) zugleich als „Vorsehung“ (πρόνοια), „Schicksal“ (εἱμαρμένη) und „Zeus“ bezeichnet wird.67 Ein Leben gemäß der Natur zeichnet sich dementsprechend dadurch aus, dass der Mensch als pars mundi, als „Teil der allgemeinen Natur“ (μέρος τῆς τοῦ ὅλου φύσεως), vernünftig und tugendhaft handelt.68 Diese Definition der Natur wurde zum Anlass genommen, die beiden Stufen der Oikeiosis normativ voneinander zu unterscheiden. Durch die Quellen wird eine solche Unterscheidung hingegen nicht bestätigt, die sowohl den Naturbegriff als auch die ihm beigemessenen Eigenschaften, nämlich tugendhaft, göttlich und vernünftig zu sein, unmittelbar mit dem menschlichen Selbstinteresse verknüpfen, sodass die Oikeiosis als ein kontinuierlich an dem Selbstinteresse der Menschen anknüpfender Prozess zu beschreiben ist.69 Welche Kriterien es sind, die die Oikeiosis als einen kontinuierlichen Prozess präsentieren, erfährt man von Cicero, de finibus 3,16–76, einem ebenfalls zentralen Dokument für die Rekonstruktion der Oikeiosis-Lehre. Auch dieser Text ist immer wieder für eine normativistische Interpretation bemüht worden. Cicero zeigt nach den üblichen Darstellungsformen der Oikeiosis-Lehre, dass die Natur uns zunächst mit der Fähigkeit zur Selbstsorge ausstattet, deren Ziel es ist, nur danach zu streben, was unserer Konstitution zuträglich ist und das, was ihr schadet, zu meiden. Die Aussagen, die Cicero im Folgenden über den Inhalt der zweiten Ebene der Oikeiosis-Lehre entwickelt, können in der Tat so interpretiert werden, als gebe es innerhalb des Prozesses der Oikeiosis eine normative Wende
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keiosis bietet die Untersuchung von Robert Bees. Dies betrifft insbesondere die theologische Deutung des stoischen Naturbegriffes, die insbesondere auch von Chang-Uh Lee vertreten wird. Diog. Laert. 7,88. Diog. Laert. 7,87. Plut. de Stoic. repugn. 1050 B. Vgl. dazu auch Diog. Laert. 7,87. Die Ausführungen von White, Indifferenz, 182 ff., bes. 185, beruhen meines Erachtens auf einer Fehleinschätzung, wenn er behauptet, die Stoiker hätten die peripatetische Identitätsthese: „ ist, was naturgemäß ist“, nicht übernommen. Auch seine Argumentation für diese These ist nicht schlüssig. Nach seiner Auffassung hätten die Stoiker die Identitätsthese durch eine Indifferenzthese ersetzt. Eine Identität zwischen dem Naturgemäßen und dem Guten hätte nicht notwendigerweise bestanden, insofern die Stoiker auch die indifferenten, also diejenigen Dinge, die weder gut noch schlecht sind, als naturgemäß bezeichnet hätten. Im nächsten Kapitel, in dem die Funktion der indifferenten Dinge zu untersuchen ist, wird zu erkennen sein, dass die Stoiker nicht die indifferenten Dinge als naturgemäß bezeichneten, sondern nur eine von ihnen bevorzugte Menge, die sich dem Menschen innerhalb eines gewissen Zeitraumes als gut und nützlich erweist.
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von zunächst egoistischen zu altruistisch ausgerichteten Handlungen.70 Dort wird nämlich behauptet, dass die Tugend, die das höchste Gut darstelle, allein um ihrer selbst willen zu wählen sei, während im Gegensatz dazu von den „ersten Gaben der Natur“ keine um ihrer selbst willen, sondern nur in Hinblick auf die menschlichen Triebe begehrenswert sei.71 Die sich hieran anknüpfende Annahme einer normativen Differenz wird jedoch in Abschnitt 20 widerlegt, in dem Cicero zur Behandlung der zweiten Stufe der Oikeiosis überleitet und zugleich herausstellt, das Folgende müsse mit dem Vorangegangenen übereinstimmen. Für die Frage, worin die von Cicero behauptete Kontinuität besteht, ist der Abschnitt 22 aufschlussreich. Cicero spricht dort von den „ersten Erwerbungen des natürlichen Verlangens“, sodass an dieser Stelle zu fragen wäre, ob es außer den ersten auch zweite oder sogar dritte Formen dieses Verlangens gebe.72 Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die sittlich guten Handlungen, die er von der ersten Stufe der Oikeiosis unterscheidet, möglicherweise mit den zuvor genannten „Erwerbungen natürlichen Verlangens“ identisch sind. In einem weiteren Schritt wird genau dies bestätigt, wenn Cicero auch das tugendhafte Handeln auf die natürliche Veranlagung zurückführt.73 Insofern sowohl das physische Selbsterhaltungsinteresse als auch die tugendhaften Handlungen eine Folge natürlichen Strebens sind, ist die Natur dasjenige Kriterium, von dem aus die Oikeiosis als ein kontinuierlicher Prozess in Erscheinung tritt. Die Persistenz der Natur ist jedoch noch kein hinreichendes Kriterium für die Annahme, dass die Oikeiosis auch kontinuierlich von dem Selbstinteresse der Menschen ausgeht. Da Unterschiede nur erkennbar werden, wenn etwas anderes gleich bleibt, könnte die Natur auch als repetitive Struktur verstanden werden, vor deren Hintergrund der Wandel von egoistischen zu altruistischen Handlungen überhaupt erst erfahrbar wäre. Dass der gesamte Prozess der Oikeiosis das Produkt individueller Interessen ist, kann erst dann als bewiesen gelten, wenn es sich sowohl bei der Natur als auch bei den aus ihr hervorgehenden tugendhaften und vernünftigen Handlungen um Instanzen handelt, die ebenfalls der Verwirklichung rein menschlicher Ziele dienen. Nur so lässt sich die Auffassung derjenigen Autoren entkräften, die die Natur als Subjekt 70
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Diese Auffassung vertritt auch Striker, The Role of Oikeiosis in Stoic Ethics, 156 ff., hier 157: „[…] the argument seems to make two points. First, it comes out very clearly that the agent is to experience a change in interest such that he comes to uniquely value order and harmony, while before he had been pursuing things needed for self-preservation.“ Eorum autem, quae sunt prima naturae, propter se nihil est expetendum. – „Von den genannten ersten Gaben der Natur aber ist nichts seiner selbst wegen begehrenswert.“ (Cic. de fin. 3,21) Cic. de fin. 3,22. Dies verdeutlicht der Zusammenhang des Textes: […] nec tamen ut hoc sit bonorum ultimum, propterea quod non inest in primis naturae conciliationibus honesta actio; consequens enim est et post oritur, ut dixi. Est tamen ea secundum naturam multoque nos ad se expetendam magis hortatur quam superia omnia. Sed ex hoc primum error tollendus est ne quis sequi existimet, ut duo sint ultima bonorum. – „Aber sie sind deshalb nicht das höchste Gut, weil das sittlich gute Handeln nicht in den ersten Erwerbungen natürlichen Verlangens enthalten ist. Wie ich schon sagte, ist es die Folge davon und entsteht erst später. Aber immerhin entspricht es der natürlichen Veranlagung und spornt uns viel mehr an, es zu erstreben, als alles andere eben Gesagte. Hier muß nun zunächst einmal die irrige Folgerung ausgeräumt werden, als gebe es zwei höchste Güter.“ (Cic. de fin. 22)
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der Oikeiosis beschreiben und dabei den Menschen als eine zentrale Figur übersehen. Dies gilt schließlich auch für die Ausführungen von Lee, der die Persistenz der Natur als ein Argument für die Fundierung der These verwendet, dass nicht der Mensch, sondern die göttlich verstandene Natur eine begründende bzw. ursächliche Funktion nicht nur in Hinblick auf die Oikeiosis, sondern auch für die Entstehung von Wertbegriffen besitzt.74 Als Beleg führt Lee zunächst eine bei Plutarch referierte Aussage des Chrysipp an: οὐ γὰρ ἔστιν εὑρεῖν τῆς δικαιοσύνης ἄλλην ἀρχὴν οὐδ᾽ ἄλλην γένεσιν ἢ τὴν ἐκ τοῦ Διὸς καὶ τὴν ἐκ τῆς κοινῆς φύσεως·75 In seinen „Naturwissenschaftlichen Thesen“ setzt Chrysipp diesen Gedanken folgendermaßen fort: […] οὐδ’ ἄλλου τινὸς ἕνεκεν τῆς φυσικῆς θεωρίας παραληπτῆς οὔσης ἢ πρὸς τὴν περὶ ἀγαθῶν ἢ κακῶν διάστασιν.76 Ein wesentliches Argument für seine These findet Lee bei der eingangs schon erwähnten Textpassage des Diogenes Laertius.77 Dort werde der Selbsterhaltungstrieb des Menschen bereits auf der ersten Stufe der Oikeiosis durch den Nebensatz, „da die Natur es von Anfang an sich selbst zugehörig [und geneigt] gemacht hat“ (οἰκειούσης αὑτῳ τῆς φύσεως ἀπ᾿ ἀρχῆς), als Produkt der Natur definiert. Da sich das Verbum οἰκειόω hierbei als ein transitives Verbum mit kausaler Erklärungskraft präsentiere, dessen Subjekt die Natur und dessen Objekt das Lebewesen sei, könne die Oikeiosis nicht das Produkt menschlichen, sondern nur Ursprung natürlichen Handelns sein.78 Es soll nun gezeigt werden, dass die Natur als movens nur einen Aspekt der Oikeiosis betrifft, da sie in den Quellen trotz des strengen Determinismus durch die Natur immer als eine Sache des Menschen beschrieben wird. Die dem Menschen zugestandene Wahlfreiheit, die es ihm erlaubt, sich auch gegen die Natur zu entscheiden, kann hingegen nicht erklärt werden, wenn die Oikeiosis auf die Tätigkeit der Natur reduziert und der Mensch dabei außer Acht gelassen wird. Dass die Oikeiosis der Verwirklichung menschlicher Interessen diente, erschließt sich über die Gründe, die die Stoiker dazu bewegten, sich der externen Natur zuzuwenden und ihr Streben darauf zu richten, sich diese Natur überhaupt anzueignen.79 Diese Frage nach den Gründen hat meines Erachtens eine Schlüsselfunktion für die Interpretation der Oikeiosis als eines ausschließlich von menschlichen Interessen ausgehenden Prozesses. Alle zentralen Textstücke zur Oikeiosis zeigen unmissverständlich, dass der Mensch nur insofern bestrebt ist, ein „Leben gemäß der Natur“ zu führen, als die Funktion der allgemeinen Natur darin besteht, für das, was dem Menschen nützlich 74 75 76 77 78 79
Lee, Oikeiosis, 34 ff., 92 ff. und 99 ff. Plut. de Stoic. repugn. 1035 C = SVF 3,326. (Hervorhebung CH): „Es ist unmöglich, einen anderen Grund oder einen anderen Ursprung der Gerechtigkeit als den Grund von Zeus her und den von der kosmischen Natur her zu finden.“ Vgl. dazu Lee, Oikeiosis, 23. Plut. de Stoic. repugn. 1035 D = SVF 3,68: „[…] und die Theorie der Natur um keiner anderen Absicht willen anzueignen ist als zum Zweck der Unterscheidung guter und schlechter Dinge.“ Lee, Oikeiosis, 34 ff. Diese Interpretation ist zunächst insofern überzeugend, als nach stoischer Auffassung der intrinsische Oikeiosisprozess des Menschen kausal durch die extrinsische Natur verursacht wird. Nach Pembroke, Oikeiosis, 124, ist die Frage, weshalb sich der Mensch anderen bzw. der gesamten Menschheit zuwendet, noch nicht zufriedenstellend beantwortet worden.
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und zweckmäßig ist, zu sorgen, wie eine von Cicero zusammengefasste Aussage des Zenon erläutert: Ipsius vero mundi, qui omnia conplexu suo coercet et continet, natura non artificiosa solum sed plane artifex ab eodem Zenone dicitur, consultrix et provida utilitatum oportunitatumque omnium.80 Bei Lee bleibt der Aspekt der Nützlichkeit der Natur, der das Selbstinteresse der Menschen an der Oikeiosis in den Vordergrund rückt, unberücksichtigt. Auch Cicero, der am ehesten für eine normative Interpretation der OikeiosisLehre reklamiert werden kann, hebt schließlich die Nützlichkeit der Natur und der Götter hervor. Nach Cicero bedeuten die Epitheta des Jupiter – der Beste, der Höchste oder der Heilbringer zu sein –, dass die Wohlfahrt der Menschen unter seinem Schutz stehe.81 Auch nach altstoischer Auffassung sei das Absehen der Natur, so Diogenes Laertius, auf den Nutzen gerichtet gewesen.82 Wie bereits erwähnt, behauptet Chrysipp, die Theorie der Natur werde allein zum Zweck der Unterscheidung guter und schlechter Dinge angeeignet.83 Gemeint ist auch hier nur das, was für den Menschen gut bzw. schlecht ist. Dass es konkrete Eigeninteressen sind, die den Menschen dazu bringen, sich als pars mundi sehen zu wollen, zeigt auch der folgende Abschnitt aus den Selbstbetrachtungen Marc Aurels: Εἴτε ἄτομοι εἴτε φύσις, πρῶτον κείσθω, ὅτι μέρος εἰμὶ τοῦ ὅλου ὑπὸ φύσεως διοικουμένου· ἔπειτα, ὅτι ἔχω πως οἰκείως πρὸς τὰ ὁμογενῆ μέρη. τούτων γὰρ μεμνημένος, καθότι μὲν μέρος εἰμί, οὐδενὶ δυσαρεστήσω τῶν ἐκ τοῦ ὅλου ἀπονεμομένων· οὐδὲν γὰρ βλαβερὸν τῷ μέρει, ὃ τῷ ὃλῳ συμφέρει. 84 Die Ausführungen aus dem Paedagogus des Clemens beschreiben die Hinwendung zur göttlichen Natur ebenfalls als eine Folge utilitaristischer Bestrebungen: ἀγαθὸς δὲ ὁ θεὸς ὁμολογεῖται, ὠφελεῖ ἄρα ὁ θεός. Τὸ δὲ ἀγαθόν, ᾗ ἀγαθόν
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Cic. de nat. 2,58: „Die Natur der Welt im ganzen, die alles umfaßt und zusammenhält, ist nun nicht bloß kunstfertig, sondern wird von demselben Zenon geradezu Künstlerin genannt als diejenige, die die Nützlichkeiten und Zweckmäßigkeiten für alle Wesen bedenkt und besorgt.“ Atque etiam Iovem cum Optimum et Maximum dicimus cumque eundem Salutarem, Hospitalem, Statorem, hoc intellegi volumus, salutem hominum in eius esse tutela. – „Und wenn wir Jupiter den Besten nennen, den Höchsten, den Heilbringer, Beschützer der Gastfreundschaft, den Erhalter des Bestehenden, so wollen wir damit zum Ausdruck bringen, daß die Wohlfahrt der Menschheit unter seinem Schutze steht.“ (Cic. de fin. 3,66) Diog. Laert. 7,148 f. Plut. de Stoic. repugn. 1035 C = SVF 3,68. M. Aur. ad se ipsum 10,6,1–2: „Ob Atome oder Natur, zuerst soll gelten, daß ich ein Teil des von Natur durchwalteten Ganzen bin. Dann, daß ich eine innere Beziehung zu den verwandten Teilen habe. Denn wenn ich mich daran erinnere, werde ich, insofern ich ein Teil bin, nichts von dem, was mir aus dem Ganzen zugeteilt worden ist, ungern annehmen. Denn nichts ist dem Teil schädlich, was dem Ganzen nützt.“ – Dass die Hinwendung zur Natur an das Selbstinteresse des Menschen anknüpft und nicht über dieses hinausgeht, zeigt auch Julia Annas. Allerdings geht ihre Argumentation nicht von der utilitaristisch interpretierten Natur der Stoiker aus, sondern von der ausschließlich menschlichen Interessen unterstellten Tugend: „It might be that nature indicates what we should do, while the reason we should do it is to be found in the point that it will conduce to our happiness. That is, nature can lead us to act virtuously without our going outside an eudaimonistic framework.“ Vgl. Julia Annas, From Nature to Happiness, in: Apeiron 31.3, 1998, 59–73, 68 ff.
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ἐστιν, οὐδὲν ἄλλο ποιεῖ ἢ ὅτι ὠφελεῖ· πάντα ἄρα ὠφελεῖ ὁ θεός.85 Dass nicht nur die allgemeine Natur, sondern auch die aus ihr hervorgehenden Eigenschaften an dem Selbstinteresse der Menschen anknüpfen, illustrieren nicht nur die soeben genannten göttlichen, sondern auch die tugendhaften Eigenschaften der Natur. Nach Diogenes Laertius sind die Tugenden und die sittlich guten Handlungen ebenfalls eine Folge natürlichen Strebens sowie individueller Nützlichkeitserwägungen: Ἀγαθὸν δὲ κοινῶς μὲν τὸ τι ὄφελος, ἰδίως δ᾿ ἤτοι ταὐτὸν ἢ οὐχ ἕτερον ὠφελείας.86 In Abschnitt 98 fasst er in komprimierter Form zusammen, dass das Gute und das Nützliche untrennbar miteinander verbunden sind und unmittelbar aufeinander folgen: Πᾶν δ᾿ ἀγαθὸν συμφέρον εἶναι καὶ δέον καὶ λυσιτελὲς καὶ χρήσιμον καὶ εὔχρηστον καὶ καλὸν καὶ ὠφέλιμον καὶ αἱρετὸν καὶ δίκαιον. συμφέρον μὲν ὅτι φέρει τοιαῦτα ὧν συμβαινόντων ὠφελούμεθα·87 Dieselbe Interpretation lässt sich auf die dritte Eigenschaft der Natur anwenden, nämlich vernünftig zu sein. Ebenso wie das sittlich Gute wird in der Forschung auch die Vernunft als Gegensatz zu den natürlichen Bestrebungen der Menschen vorgestellt. Doch auch die Ursache dieser Opposition liegt nicht in den antiken Theorien begründet. Sie ist ein Produkt neuzeitlicher Unterscheidungen, die die „Natur“ und die „Kultur“ des Menschen werthierarchisch voneinander trennten.88 In den antiken Quellen wird die Vernunft hingegen nicht als Gegensatz zu den natürlichen Bestrebungen der Menschen konzipiert. Der Abschnitt 86 bei Diogenes Laertius im siebten Buch gilt in diesem Zusammenhang als locus classicus. Die Vernunft, die als τεχνίτης γὰρ οὗτος ἐπιγίνεται τῆς ὁρμῆς beschrieben wird, stellt keinen Gegensatz zum vorher genannten Trieb dar. Vielmehr wird sie instrumentell als „Bildnerin“ oder „kunstverständige Könnerin“, mithin als eine Instanz bezeichnet, die den Trieb in seinen Funktionen allenfalls ergänzt. Wie die bereits zitierte Aussage des Diogenes Laertius zum ersten οἰκεῖον gezeigt hat, wird auch die Vernunft den Trieben nicht normativ als eine höhere Instanz übergeordnet. Das „erste ihm Eigene“ (πρῶτον 85
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Clemens Alex., Paedagogus 1,8,63,1–2 (teilw. SVF 2,1116): „Daß Gott gut ist, darüber besteht Einverständnis; also hat Gott Nutzen. Das Gute, insofern es gut ist, tut nichts anderes als das, was Nutzen hat; in allem also nutzt Gott.“ – Vgl. auch Joachim Lukoschus, Gesetz und Glück. Untersuchungen zum Naturalismus der Stoischen Ethik, Paderborn 1998. Lukoschus richtet sich gegen eine naturrechtliche Interpretation der stoischen Ethik und zeigt insofern, dass die Natur keine begründende Funktion für die Ethik übernommen habe. Diog. Laert. 7,94: „Das Gute ist im allgemeinen mit irgendeinem Nutzen verbunden, im besonderen aber ist es entweder dasselbe oder nicht verschieden vom Nutzen.“ – Nicht zuletzt kann auf die Beispielsätze verwiesen werden, die Diogenes Laertius innerhalb der Darstellung der stoischen Logik 7,75,79 verwendet. Diog. Laert. 7,98–99 (Hervorhebung CH): „Alles Gute ist nützlich, notwendig, vorteilhaft, brauchbar, zuträglich, schön, förderlich, wünschenswert und gerecht. Es ist nützlich, weil es Dinge solcher Art hervorbringt, dass uns aus ihrem Auftreten ein Vorteil erwächst.“ – Diese Identität zwischen dem Guten und dem Nützlichen übersieht White, Indifferenz, 197, wenn er am Ende seines Aufsatzes behauptet, die stoische Philosophie sei im Gegensatz zum Peripatos insofern keine „Selbstverwirklichungsethik“ gewesen, als bei ihr das Ziel der menschlichen Entwicklung nicht in erster Linie auf die Natur, sondern das Gute gerichtet gewesen sei. Vgl. dazu Böhme, Kulturwissenschaft, 104 ff.
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οἰκεῖον) sei „seine eigene Konstitution (σύστασις) und das Bewusstsein davon“.89 Selbst die erste Ebene wird also nicht als vernunftlos bezeichnet oder auf die Tätigkeit der natürlichen Triebe reduziert. Schließlich belegen auch die Aussagen zum natürlichen Gemeinschaftsstreben der Menschen eine kontinuierliche Anknüpfung der Oikeiosis an das Selbstinteresse der Menschen. In den Quellen werden die sozialen Handlungen untrennbar mit der Suche nach der Maximierung des individuellen Nutzens verbunden und nicht, wie zunächst zu erwarten wäre, als Ausdruck altruistischer Ziele interpretiert. So behauptet Cicero in de finibus 3, 62–68, dass wir von Natur geneigt seien, Vereinigungen, Gesellschaften und Gemeinwesen zu bilden. Des Weiteren würden wir von der Natur gedrängt, möglichst vielen Menschen nutzen zu wollen.90 Als Begründung werden auch hier konkrete individuelle Interessen genannt. Wie Cicero, der das Streben nach Gemeinschaft darauf zurückführt, dass kein Mensch in gänzlicher Vereinsamung leben möchte91, gibt auch Hierokles als Grund für jede Vergesellschaftung an, dass jeder einen anderen Menschen brauche. Deshalb, so Hierokles weiter, wohnen wir auch in Städten und schließen Freundschaften leicht.92 89
πρῶτον οἰκεῖον λέγων εἶναι παντὶ ζῴῳ τὴν αὑτοῦ σύστασιν καὶ τὴν ταύτης συνείδησιν· (Diog. Laert. 7,85,2) 90 Cic. de fin. 3,63: Itaque natura sumus apti ad coetus, concilia, civitates. – „Deshalb besitzen wir schon von Natur aus eine besondere Neigung zu geselligem Verkehr, zu Vereinigungen und politischen Zusammenschlüssen.“ Und 3,65: Impellimur autem natura, ut prodesse velimus quam plurimis […]. – „Wir haben den natürlichen Trieb in uns, möglichst vielen Menschen dienlich zu sein […].“ 91 Quomque nemo in summa solitudine vitam agere velit […]. – „Und weil kein Mensch in gänzlicher Vereinsamung leben möchte […].“ (Cic. de fin. 3,65) 92 πρῶτον μ(ὲν) [ἐ]νθυμη[τέον ὅ]τι ἐ[σ]μ(ὲν) ζῷον, ἀλ(λὰ) [συνα]γελαστικὸν κ(αὶ) [δε] όμ[(εν)]ον ἑ[τ]έρου· δ(ιὰ) τοῦτο κ(αὶ) κ(ατὰ) π[ό]λ[ει]ς οἰκοῦμ(εν)· οὐ[δεὶ]ς γ(ὰρ) ἄνθρωπος [ὃ]ς οὐχὶ πόλεώς (ἐστι) μέρος· ἔπειτα [ῥᾳ]δίως συντιθ[έ]μεθα φιλίας· Der Text entspricht der kritischen Ausgabe von Francesco Adorno, Corpus dei papiri filosofici greci e latini. Testi e lessico nei papiri di cultura greca e latina, Bd. 1.2, Florenz 1992. – „Zuerst müssen wir bedenken, dass wir zwar ein Lebewesen sind, aber eins, das sich zusammenschart und auch noch jemand anderen braucht. Deshalb wohnen wir auch in Städten. Denn es gibt keinen Menschen, der nicht Teil einer Stadt wäre. Ferner schließen wir auch leicht Freundschaften.“ (Hierokles 11,14–18) Auch bei Marc Aurel wird den gemeinnützigen Handlungen, wie die späteren Ausführungen zeigen, ein besonders hoher Wert beigemessen, insofern nur sie imstande seien, nicht nur die physische Selbsterhaltung, sondern auch die freie Entfaltung individueller Interessen zu gewährleisten. (M. Aur. ad se ipsum 9,9,4 ff.) Auch nach der Auffassung des Kleanthes ist die Stadt ein Zufluchtsort, der den Menschen Schutz gewährt. Vgl. Stobaeus 2,103,14–17 (teilw. SVF 1,587, teilw. FDS 636a). Dieselbe Argumentation vertritt auch Cicero: hanc enim ob causam maxime, ut sua tenerentur, res publicae civitatesque constitutae sunt. Nam, etsi duce natura congregabantur homines, tamen spe custodiae rerum suarum urbium praesidia quaerebant. – „Denn vor allem zu dem Zweck, dass das Privateigentum geschützt wird, wurden Gemeinwesen und Bürgerschaften gegründet. Denn auch wenn sich Menschen unter Anleitung der Natur zusammenschlossen, suchten sie dennoch in der Hoffnung auf die Bewahrung ihres Eigentums den Schutz, den die Städte boten.“ (Cic. de off. 2,73) Dass es für den Menschen bereits auf einer früheren Stufe nützlich ist, sich zu vergesellschaften, stellt Diogenes Laertius 7,124 (SVF 3,631) heraus: λέγουσι δὲ καὶ τὴν φιλίαν ἐν μόνοις τοῖς σπουδαίοις εἶναι διὰ τὴν ὁμοιότητα. φασὶ δ᾿ αὐτὴν κοινωνίαν τινὰ εἶναι τῶν κατὰ τὸν βίον, χρωμένων ἡμῶν τοῖς φίλοις ὡς ἑαυτοῖς. – „Sie [die Stoiker] sagen, daß es auch
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Anhand des stoischen Naturbegriffes und der mit ihm verbundenen Eigenschaften, vernünftig und tugendhaft zu sein, konnte die kontinuierliche Orientierung der Oikeiosis an den Bedürfnissen der Menschen nachgewiesen werden. Nicht beantwortet ist hingegen die Frage, wie die Stoiker die zwei Stufen der Oikeiosis voneinander unterschieden, wenn die Normativität hierfür kein Kriterium war. Eine Antwort verspricht die Darstellung der Oikeiosis-Lehre bei Hierokles. Obwohl sich der Papyrus insbesondere ab Kolumne VIII in einem äußerst schlechten Zustand befindet, ist der erhaltene Text gleichwohl ein wichtiges Dokument dafür, dass die kaiserzeitliche Oikeiosis an ältere Positionen der Stoa anknüpfte. Bei Stobaeus ist überliefert, dass Hierokles die Oikeiosis durch eine Vielzahl konzentrischer Kreise darstellte, in deren Mittelpunkt der Verstand des Menschen liegt. Der erste Kreis umschließt dieses Zentrum. Zu ihm gehört der menschliche Körper und alles, was sich der Mensch um des Körpers willen aneignet. Die folgenden Kreise, die den jeweils vorangegangenen Kreis umschließen, enthalten Personen, die in unterschiedlichen Intensitätsgraden mit dem Zentrum verbunden sind, je nach dem, wie weit der Kreis, dem sie zugeordnet sind, vom Zentrum entfernt ist. Während in dem ersten Kreis zunächst die Eltern, die Geschwister und dann die Frau und die Kinder ihren Platz haben, umschließen die nächsten Kreise weitere Verwandte, sodann die Bürger der eigenen Stadt sowie die der Nachbarstädte und Nachbarländer bis zum letzten Kreis, der die gesamte Menschheit umfasst.93
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Freundschaft nur unter den Tugendhaften gibt – aufgrund von deren Ähnlichkeit. Sie beschreiben die Freundschaft als eine bestimmte Gemeinschaft der zum Leben nötigen Mittel, da wir unsere Freunde wie uns selbst behandeln.“ Dass bei Hierokles die gesamte Menschheit die letzte Stufe der Oikeiosis bildet, provoziert Lee ein weiteres Mal zu kritischen Einwänden. Nach seiner Auffassung ist nicht die Menschheit, sondern die „Homologie mit der göttlichen Natur“ der terminus ad quem der menschlichen Entwicklung. Er versucht damit wiederum seiner These Plausibilität zu verschaffen, dass nach der orthodoxen Position der Stoa nicht der Mensch, sondern letztlich die Natur das Subjekt der Oikeiosis bildet. Gegen Lee ist einzuwenden, dass auch die Götter nicht um ihrer selbst willen, sondern nur deshalb verehrt wurden, insofern sie sich für das, was dem Menschen nützlich und zweckdienlich war, kümmerten. Forderungen, die die Interessen der Menschen überstiegen, stellten die Götter nicht. Darüber hinaus repräsentiert der Begriff der Kosmopolis nicht nur die Welt der Götter, sondern die Gemeinschaft der Menschen und Götter. Auch Julia Annas übersieht, dass der Hinwendung sowohl zu den anderen Menschen als auch zu den Göttern rein utilitaristische Beweggründe unterstellt werden, wenn sie behauptet, die Stoiker hätten den individuellen allgemeine Zwecke übergeordnet: „I am not morally entitled to favour either myself or my mother, just because, outside the moral point of view, I am naturally more attached to my own interests and those of my mother than I am to those of other people. And this is just what the Stoic theory demands of the agent, at the end of the process of social oikeiosis.“ Julia Annas, The Morality of Happiness, Oxford 1993, 267. Vgl. Arius Didymus bei Eusebius, praep. evang. 15,15,3–5 (SVF 2,528): λέγεσθαι δὲ κόσμον καὶ τὸ οἰκητήριον θεῶν καὶ ἀνθρώπων […]. – „Als Welt bezeichnet man auch die Wohnstatt der Götter und der Menschen […].“ Auch von Chrysipp wurde dieser Gedanke vertreten: ὁ νόμος πάντων ἐστὶ βασιλεὺς θείων τε καὶ ἀνθρωπίνων πραγμάτων· – „Das Gesetz ist der König aller Dinge, der göttlichen wie der menschlichen.“ Marcianus 1 (SVF 3,314). Lee geht davon aus, dass auch Plutarch die eigentlich theologisch definierte Oikeiosis falsch interpretiert habe, wenn er behauptet, Alexan-
2. Oikeiosis – Rückzug oder Aneignung
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Im Unterschied zu anderen Autoren scheint Hierokles die Oikeiosis nicht nur in zwei, sondern in mehrere Stufen zu unterteilen. Dies ist ein Grund, weshalb Lee diese Darstellung der Lehre für unorthodox hält. Betrachtet man jedoch die Kolumne 9 des Papyrus Elementa Ethica, so zeigt sich, dass auch Hierokles konventionellen Auffassungen folgt. Hierokles unterscheidet hier ebenfalls zwei Ebenen der Oikeiosis. Die Verhaltensdispositionen der ersten Oikeiosis werden als „wohlwollend“ und „liebevoll“94 bezeichnet. Diese einzelnen Adjektive sind nicht, wie Lee glaubte, ein Indiz für verschiedene Ebenen innerhalb der ersten Oikeiosis.95 Stattdessen sind sie bloß verschiedene Ausdrücke für einen identischen Sachverhalt.96 Die verschiedenen Namen der Oikeiosis sollen auch hier nur verdeutlichen, dass sich der Mensch diejenigen Dinge zu Eigen macht, die grundsätzlich gut für ihn sind. Eine zweite Ebene der Oikeiosis kündigt sich erst im folgenden Satz an: ἡ (sc. die Oikeiosis) δ[(ὲ)] πρ(ὸς) τὰ ἐκτὸς χ[ρήματα (αἱ)-]ρετική.97 Hier geht es nun nicht mehr um das ‚Eigene‘, sondern um die Beziehung des Menschen zu den ‚äußeren Dingen‘. Das Verhalten ihnen gegenüber wird als ‚auswählend‘ bezeichnet. In Zeile 8–10 erklärt er, dass sich auch die Tiere sich selbst gegenüber „wohlwollend“, anderen Dingen gegenüber jedoch „auswählend“ verhielten. Und zwar verfolgten sie hierbei das Ziel, nur diejenigen Dinge, die der Erhaltung ihrer Konstitution nützlich seien, auszuwählen.98 Auch die erste Zeile kündigt in der Form einer Überschrift an, worum es bei der Darstellung der Oikeiosis insgesamt gehen werde: […] σω]τηρίω(ν) τ(ῆς) συστάσε[ως […].99 Insofern das Prinzip des Auswählens die Unterscheidung zwischen Nutzen und Schaden zum Gegenstand hat, sind es auch hier keine normativistischen Kriterien, von denen das Verhalten auf der zweiten Ebene der Oikeiosis geleitet wird.100 der der Große habe durch die Zusammenfassung der traditionellen griechischen poleis eine Kosmopolis, οἰκουμένη herstellen wollen. Vgl. Lee, Oikeiosis, 128, Anm. 52. 94 πρ(ὸς) ἑαυτὸ εὐνοητικ[ή, στερ-]κτ[ι]κ[ὴ δ(ὲ) ἡ συ]γγεν[ι]κή· – „[…] zu sich selbst wohlwollend, liebevoll gegenüber der Familie […].“ (Hierokles 9,3–4) 95 Lee, Oikeiosis, 121 f. 96 καλεῖτ(αι) γ(ὰρ) ἡ ο[ἰκείωσις] πολλ[ο]ῖς [ὀνόμασ]ιν. – „Die Oikeiosis wird mit vielen Namen bezeichnet.“ (Hierokles 9,4–5) 97 Hierokles 9,5–7: „[Die Oikeiosis] gegenüber dem äußeren Besitz ist die Wahl.“ 98 οὕ[τ]ω κ(αὶ) τ[ὸ] ζῷ(ον) ἑαυτῷ [μ(ὲν) εὐνο-]ητ[ικ]ῶς, τοῖς δ(ὲ) πρ(ὸς) τ[ή]ρησιν τ(ῆς) συστά[σεως σ(υμ)φέ-]ρουσ[ι]ν [ἐ]κλεκτ[ι]κ[ῶς] – „So wie auch ein Tier sich selbst gegenüber sich wohlwollend verhält und auswählend in Hinblick auf die nützlichen Dinge zur Erhaltung seiner eigenen Konstitution.“ (Hierokles 9,8–10) 99 Hierokles 9,1: „Die Erhaltung der eigenen Konstitution.“ 100 Am Beispiel des Hierokles wird erkennbar, dass nach stoischer Auffassung Wertbegriffe dadurch entstehen, dass das Individuum äußere Dinge zu sich selbst in Beziehung setzt und sie nach ihrem jeweiligen Nutzen oder Schaden hinsichtlich der eigenen Selbsterhaltung beurteilt. Als „gut“ bezeichnet der Mensch das, was sein Dasein fördert und als „schlecht“, was ihm schadet. Vgl. dazu Pohlenz, Grundfragen der stoischen Philosophie, 11: „Von ihr [der oikeiosis] aus wird die subjektive Bewertung der Außendinge erklärt […].“ Dazu auch S. 94: „Daß die Lehre von der Entstehung der sittlichen Begriffe spezifisch stoisch ist, bezweifelt niemand. Sie hängt aber mit der von der Oikeiosis innerlich aufs engste zusammen.“ Nicht nachvollziehbar ist, weshalb Pohlenz trotz der von ihm festgestellten Identität zwischen dem Guten und dem
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
Hierokles war die in der Stoa übliche Unterscheidung zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“ ebenfalls bekannt. Es ist diese Differenz, der letztlich die verschiedenen Stufen im Kreismodell unterzuordnen sind. Das Fremde, dem sich der Mensch allmählich anzunähern versucht, wird bei Hierokles nicht nur durch eine Stufe, sondern differenziert durch fortschreitend größer werdende Kreise dargestellt.101 Die Frage, nach welchem Kriterium die beiden Stufen der Oikeiosis voneinander unterschieden werden, wenn hierfür keine moralischen Kriterien geltend gemacht werden sollen, lässt sich vor dem Hintergrund des Kreismodells zu einer Neubewertung führen. Zu beobachten ist, dass sich die einzelnen Stufen lediglich hinsichtlich ihrer Komplexität voneinander unterscheiden und nicht in Hinblick auf verschiedene Zielsetzungen, die den Menschen zunächst selbstbezogen, dann aber altruistisch bzw. vernunftgemäß handeln ließen. Während das Selbsterhaltungsstreben auf der ersten Stufe noch durch grundlegende Dinge, wie z. B. durch die Nahrungsaufnahme befriedigt werden kann, hat das Streben nach Selbsterhaltung auf der zweiten Ebene bereits eine komplexere Bedürfnisbefriedigung zur Voraussetzung, die sich auf die Aneignung der den Menschen insgesamt umgebenden Welt bezieht.102 Somit sind es keine unterschiedlichen Ziele, sondern die zur Bedürfnisbefriedigung einzusetzenden Mittel, die lediglich aufgrund ihrer unterschiedlichen Komplexitätsgrade verschiedene Stufen der Oikeiosis konstituieren.103 Hierokles zeigt anhand eines Kreismodells, dass der Mensch „mit Eifer“ versuchen würde, auch die Menschen aus den entferntesten Kreisen zu „assimilieren“ und sie „irgendwie zum Zentrum zusammenzuziehen“, mit dem Ziel, die „Distanz der Beziehung zu jeder Person [zu] reduzieren“. Eine Begründung dafür, weshalb der Mensch bestrebt ist, Distanzen nicht aufrechtzuerhalten, sondern abzubauen, gibt er in Kolumne 11, in der er allgemein auf die Situation des Menschen verweist, die sich dadurch auszeichne, dass jeder „noch jemand anderen braucht“.104
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Nützlichen davon ausgeht, dass die Oikeiosis nicht auf rein egoistische Beweggründe zurückzuführen sei. Vgl. dazu Lukoschus, Gesetz und Glück, 211. Kerferd identifiziert die Oikeiosis aus diesem Grund mit dem gesamten Phänomen menschlicher Entwicklungs- und Identitätsprozesse. G. B. Kerferd, The Search for Personal Identity in Stoic Thought, in: BRL 55, 1973, 177–196, 179, 193. Vgl. Engberg-Pedersen, The Stoic Theory of Oikeiosis, 95 f. Meines Erachtens wird mit der Oikeiosis-Lehre das menschliche Verhalten nicht unter normativen, sondern analytischen Gesichtspunkten beschrieben. In kritischer Absicht wird untersucht, wie der Mensch normalerweise handelt, nicht aber, wie er handeln soll. Unter der Berücksichtigung dieser Vorentscheidung, die altruistische Handlungsmuster auf ihre egoistischen Motivlagen zurückzuführen versucht, wird erkennbar, weshalb die Stoiker – zu nennen sind hier vor allem Seneca, ep. 121,17 und Epiktet, diss. 1,19,13 – Egoismus und Altruismus für kompatibel hielten. Brad Inwood ist hingegen der Überzeugung, dass die von den Stoikern behauptete Identität der beiden Verhaltensoptionen praktisch nicht nachweisbar sei. Deutlich werde dies anhand des in der Antike viel zitierten Beispieles zweier Schiffbrüchiger, bei dem die altruistischen Absichten und die egoistischen Interessen zu keinem Ausgleich gelangen. Vgl. Brad Inwood, Hierocles. Theory and Argument in the Second Century AD, in: OSAPH 2, 1984, 151–183, 180 ff. πρῶτον μ(ὲν) [ἐ]νθυμη[τέον ὅ]τι ἐ[σ]μ(ὲν) ζῷον, ἀλ(λὰ) [συνα]γελαστικὸν κ(αὶ) [δε] όμ[(εν)]ον ἑ[τ]έρου· (Hierokles 11,15–16)
2. Oikeiosis – Rückzug oder Aneignung
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Hier wird erkennbar, dass sich in der stoischen Philosophie utilitaristische und altruistische Zwecke des Handelns nicht gegenseitig ausschließen, sondern wechselseitig bedingen. Dies bliebe jedoch verdeckt, wenn die Stoa nur unter dem Aspekt normativer oder machtpolitischer Interessen beobachtet würde. Die Stoiker verbanden mit dem Gedanken der Aneignung der Welt nicht nur das Ziel, die eigene Macht zu mehren. Vielmehr versuchten sie zur Welt ein Verhältnis des Vertrauens herzustellen, das nach stoischer Auffassung mit der Durchsetzung individueller Interessen jedoch nicht unvereinbar war, wie eine auf Cicero zurückgehende Definition menschlichen Glücks belegt: Volumus enim eum, qui beatus sit, tutum esse, inexpugnabilem, saeptum atque munitum, non ut parvo metu praeditus sit, sed ut nullo.105 2.1. Stoa und Politik Obwohl es das Ziel der Oikeiosis war, den Menschen in die Welt zu integrieren, gab es in der Forschung die Überzeugung, dass die Stoa eine Rückzugsphilosophie gewesen sei und die Übernahme politischer Ämter nicht zu den von der Oikeiosis unterstützten Formen möglicher Weltaneignung gehörte. Da die Stoiker die Politik den adiaphora, den sogenannten gleichgültigen Dingen, zuordneten, konnte sich aufgrund dieser Klassifizierung die Vorstellung entwickeln, die Stoiker seien an der Ausübung politischer Macht letztlich nicht interessiert gewesen.106 Eine Aussage Plutarchs wird als ein weiterer Beleg dafür verwendet, dass den Stoikern allenfalls ein theoretisches Interesse an der Politik attestiert werden könne: Ἐπεὶ τοίνυν πολλὰ μὲν ὡς ἐν ὀλίγοις αὐτῷ Ζήνωνι, πολλὰ δὲ Κλεάνθει, πλεῖστα δὲ Χρυσίππῳ γεγραμμένα τυγχάνει περὶ πολιτείας καὶ τοῦ ἄρχεσθαι καὶ ἄρχειν καὶ δικάζειν καὶ ῥητορεύειν· ἐν δὲ τοῖς βίοις οὐδενὸς ἔστιν εὑρεῖν οὐ στρατηγίαν, οὐ νομοθεσίαν, οὐ πάροδον εἰς βουλὴν, οὐ συνηγορίαν ἐπὶ δικαστῶν, οὐ στρατείαν ὑπὲρ πατρίδος, οὐ πρεσβείαν, οὐκ ἐπίδοσιν·107
Nach der Auffassung von Chang-Uh Lee wiesen die Schriften der Stoiker – Zenons Politeia war neben Chrysipps gleichnamigem Werk bei weitem das bekannteste Buch – nicht einmal einen im klassischen Sinne „politischen“ Charakter auf. Nach seiner Auffassung gehörten zu den Merkmalen politischer Schriften Erörterungen zu Verfassungsformen und den institutionellen Organisationen einer Polis. Die Sto105 Cic. Tusc. 5,40: „Von dem, der glücklich ist, wollen wir, daß er sicher, unbesiegbar, umzäunt und von Schutzmauern umgeben ist, nicht daß er weitgehend, sondern daß er gänzlich angstfrei ist.“ 106 Der Begriff „adiaphoron“ sowie die mit ihm verbundenen politischen Funktionen werden in den beiden folgenden Kapiteln vorgestellt. 107 Plut. de Stoic. repugn. 1033 B-C = SVF 1,27: „Über Verfassung, Herrschen und Beherrschtwerden, Richten und Reden wurde von Zenon selbst viel im Verhältnis zum geringen (Umfang seines Werkes), von Kleanthes viel, von Chrysipp aber sicherlich am meisten geschrieben. Doch lässt sich in keinem Lebenslauf ein Feldherrnamt, eine Gesetzgebung, eine Ratszugehörigkeit, eine Verteidigung vor den Richtern, ein Feldzug für das Vaterland, eine Gesandtschaft oder eine Beteiligung an einer ausserordentlichen Spende finden.“
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
iker, die „kein substantielles Interesse“108 an diesen Fragen äußerten, hätten den Menschen allein auf ein naturgemäßes und tugendhaftes Leben vorbereiten wollen. Dass die Einstellung zur Politik und zur Polis „radikal anti-politisch“ war, werde daran erkennbar, dass konkrete Verfassungsformen, wenn überhaupt, nur Gegenstand negativer Beurteilungen wurden.109 Auch die politischen Schriften hätten lediglich moralphilosophische bzw. protreptische Funktionen übernommen, die den Menschen zu einem naturgemäßen und tugendhaften Leben anleiten sollten. Pembroke geht schließlich davon aus, dass „all institutions, social or political, were for orthodox Stoics purely external and could not affect people’s inner morality“.110 Der stoische Begriff der Kosmopolis wird in der Literatur ebenfalls als ein Argument verwendet, um den Rückzug der Stoiker aus der Politik zu begründen. Im Gegensatz zu Aristoteles und Platon hätten die Stoiker nicht mehr die Polis als Bezugsrahmen für die Entwicklung ihrer Philosophie verwendet, sondern ausschließlich Fragen zur Moral. Als Inhalt einer philosophischen Utopie sei die Kosmopolis schließlich von den Belangen der politischen Praxis völlig abgekoppelt worden. Auch Peter Scholz geht davon aus, dass die Schriften von Zenon und Chrysipp einen ausschließlich pädagogisch-protreptischen Zweck gehabt hätten. Die Erziehung zum Kosmopoliten sei allein darauf ausgerichtet gewesen, den Menschen in Hinblick auf eine „wahre“, vernunftgemäße Gemeinschaft moralisch zu vervollkommnen, während eine Transformation philosophischer Inhalte in eine in irgendeiner Weise sozial organisierte Praxis nicht mehr vorgesehen gewesen sei.111 Nach der Auffassung von Scholz sei der Polisbegriff zu einer inhaltsleeren Kategorie und „alles äußere, geschichtliche Geschehen bedeutungslos“112 geworden. Es seien keine äußeren, sondern allein innere, moralische Beweggründe gewesen, die die Stoiker veranlasst hätten, sich desinteressiert vom politischen Alltag zurückzuziehen.113 Sie hätten sich von den politischen Machtspielen distanziert und auf einen höherwertigen moralischen bios zurückgezogen, um so die Vervollkommnung des „autarken Menschen“ außerhalb aller realen politischen Gemeinschaften voranzutreiben.114 Die Kosmopolis wird in der Literatur fast immer, so auch bei Isnardi Parente, als eine der realen Polis übergeordnete Sphäre bezeichnet: „La vera città insomma è il cielo, la terra ne è una imitazione imperfetta.“115 108 109 110 111 112 113
Lee, Oikeiosis, 226. Ebd. 226 f. Pembroke, Oikeiosis, 131. Vgl. dazu die Einschätzung von Scholz, Der Philosoph und die Politik, 348, Anm. 125. Scholz, Der Philosoph und die Politik, 345. Für das Folgende vgl. ders. 346 ff. Ebd. 24. Auch Vander Waerdt ist der Auffassung, dass die frühen Stoiker die politische Betätigung nicht als ihre unmittelbare Aufgabe betrachteten. Ihre Rolle sei vielmehr die einer kritischen Haltung gegenüber dem politischen System gewesen, mit deren Hilfe sie die Abweichungen der Politik von den stoischen Tugenden stets überwacht hätten. „Thus, when the sage participates in politics he does so not to advance a particular political programme but to promote virtue (…).“ Paul A. Vander Waerdt, Politics and Philosophy in Stoicism. A Discussion of Erskine, The Hellenistic Stoa. Political Thought and Action, in: OSAPH 9, 1991, 185–211, hier 203, 185 ff., bes. 188. 114 Vgl. Scholz, Der Philosoph und die Politik, 347 ff. 115 M. Isnardi Parente, La politica della stoa antica, in: Sandalion 2, 1980, 67–98, 92.
2. Oikeiosis – Rückzug oder Aneignung
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Die hier vorgestellten Auffassungen, die von einer grundsätzlichen Distanzierung der Stoiker von der Politik ausgehen, sollen auf der Grundlage einer Analyse zum stoischen Begriff des adiaphoron hinterfragt werden. Es ist zu beobachten, dass die Politik, die sowohl innerhalb der Alten Stoa als auch für die kaiserzeitlichen Stoiker niemals eine beliebige Tätigkeit war, nur funktional in bestimmten Situationen als ein adiaphoron bezeichnet wurde. Aufgrund dieses Befundes stellt sich die Frage, ob das Adjektiv ‚gleichgültig‘ eine adäquate Übersetzung für den Begriff des adiaphoron darstellt. 2.2. Zum Begriff des ‚adiaphoron‘ in der stoischen Philosophie Die Stoiker maßen der Politik bzw. der politischen Tätigkeit innerhalb der Menge der sogenannten indifferenten Dinge (adiaphora) eine privilegierte Position zu, indem sie diese als „vorgezogene“ Werte bezeichneten. Diogenes Laertius hat die Kategorien zusammengestellt, in die die Stoiker alle Dinge, die existieren, einteilten.116 Die grundlegende Unterscheidung bezieht sich zunächst auf die Dinge, die eindeutig als „gut“ oder „schlecht“ in Hinblick auf das Glück oder das Unglück des Menschen bezeichnet werden können. Dazu gehören die Tugend, die Klugheit und die Gerechtigkeit und das Gegenteil davon. Daneben gibt es jedoch noch eine dritte Gruppe, die sogenannten indifferenten Dinge, die weder gut noch schlecht und auch weder nützlich noch schädlich sind. Sie erregen weder einen Trieb noch eine Abwehr, wie das z. B. bei der Frage der Fall sei, ob man eine gerade oder ungerade Anzahl Haare auf dem Kopf habe. Unter diesen indifferenten Dingen besitzen einige, wie auch die Politik, einen ‚vorgezogenen‘ Wert. Auf die Frage, aufgrund welcher Eigenschaften ihnen ein solcher Vorzugscharakter zukommt, antwortet Diogenes, dass diese im Unterschied zu den rein indifferenten Dingen, die sich „im Hinblick auf Wahl und Vermeiden“ ganz gleich verhalten, aufgrund der „Art ihres Gebrauchs“ durchaus zu Glück oder Unglück, zu Nutzen oder Schaden einen Beitrag leisten können.117 Insofern sich auch die Menge der indifferenten Dinge unter bestimmten Umständen als nützlich erweisen kann, wird der Stoiker sie nicht unberücksichtigt lassen. Obwohl zum Beispiel Gesundheit, Reichtum, Ansehen und adlige Abstammung zu den indifferenten Dingen gehören, weil sie nicht in unserer Macht liegen, können sie bei „richtigem Gebrauch“ dennoch zu einem glücklichen Leben beitragen.118 Unter bestimmten Umständen könnten sogar Krankheiten, die ebenfalls den indifferenten Dingen zugehören, einen vorgezogenen Wert darstellen, wie Ariston erläutert: ἐὰν γοῦν δέῃ τοὺς μὲν ὑγιαίνοντας ὑπηρετεῖν τῷ τυράννῳ καὶ διὰ τοῦτο ἀναιρεῖσθαι, τοὺς δὲ νοσοῦντας ἀπολυομένους τῆς ὑπηρεσίας συναπολύεσθαι καὶ τῆς ἀναιρέσεως, ἕλοιτ’ ἂν μᾶλλον ὁ σοφὸς τὸ νοσεῖν κατὰ τοῦτον τὸν καιρὸν ἢ [ὅτι] τὸ ὑγιαίνειν.119 116 Diog. Laert. 7,101–105. 117 Diog. Laert. 7,104 = SVF 3,119: ἐνδέχεται γὰρ καὶ χωρὶς τούτων εὐδαιμονεῖν, τῆς ποιᾶς αὐτῶν χρήσεως εὐδαιμονικῆς οὔσης ἢ κακοδαιμονικῆς. 118 Diog. Laert. 7,101–105. 119 Sext. Emp. adv. math. 11,66 = SVF 1,361: „Denn zumindest, wenn gesunde Leute einem Ty-
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
Der Begriff des Gebrauchs (χρήσις) hat somit eine zentrale Bedeutung innerhalb der stoischen Philosophie. Der „richtige Gebrauch“ und die Fähigkeit, diejenigen Dinge aus der Menge der indifferenten Dinge auszuwählen, die für den Menschen „gut“ und „nützlich“ sind, gehörten nach der Auffassung der Stoiker zu einem „tugendhaften“ Leben. Es ist demnach nicht anzunehmen, dass sich das Verhalten des Stoikers in einer unqualifizierten Indifferenz gegenüber den „äußeren Dingen“, zu denen auch die Politik gehörte, erschöpft hätte.120 Da die indifferenten Dinge nur unter bestimmten Umständen einen vorgezogenen Wert darstellen, könne ihnen, so Ariston, keine naturbedingte Priorität beigemessen werden. Dies hätte zur Folge, dass auch sie als „gut“ bezeichnet werden müssten und somit von „dem Guten“ nicht mehr unterscheidbar wären. Wer die Stoiker als von der Welt abgeschiedene Weisheitslehrer betrachten möchte, müsste sich allein auf die Aussagen Aristons stützen, der die Tugend von den indifferenten Dingen zu isolieren versuchte. Mit „dem Guten“, das einen absoluten Wert besäße, dürften die indifferenten Dinge, die immer nur einen relationalen Wert besäßen, nicht identifiziert werden.121 Dieser Interpretation hat vor allem Cato widersprochen. Die Vorstellung, dass nur von äußeren Umständen unabhängige Dinge als naturgemäß bzw. gut bezeichnet werden könnten, sei äußerst problematisch, insofern es unter dieser Voraussetzung nichts anderes außerhalb der Tugend gäbe, das als „gut“ bezeichnet werden könnte. Nach Cato sei der Verzicht sowohl auf eine Differenzierung innerhalb der indifferenten Dinge als auch auf ein auf sie gerichtetes Auswählen nicht praktikabel: Deinceps explicatur differentia rerum: quam si non ullam esse diceremus, confunderetur omnis vita, ut ab Aristone, neque ullum sapientiae munus aut opus inveniretur, cum inter res eas, quae ad vitam degendam pertinerent, nihil omnino interesset neque ullum delectum adhiberi oporteret.122
Wenn es keine Dinge gäbe, auf die sich die Tugend, die allein über Glück und Unglück entscheidet, beziehen könnte, bliebe sie im Anschluss an Cato in der Tat nichts anderes als ein leerer Begriff. Es lässt sich nun zeigen, dass die Tugend als Fähigkeit, über „gut“ und „schlecht“ urteilen zu können, vor allem praktische Funktionen hatte. Wie Epiktet feststellt, sei allein die Urteilskraft frei, da sie das einzige sei, was in unserer Macht liege: ἐφ’ ἡμῖν μὲν ὑπόληψις, ὁρμή, ὄρεξις, ἔκκλισις καὶ ἑνὶ
rannen dienen müssten und aus diesem Grund zugrunde gingen, während die Kranken vom Knechtsdienst und deswegen auch dem Verderben befreit sein sollten, zumindest dann dürfte der Weise in dieser Situation eher das Kranksein wählen als das Gesundsein.“ 120 Vgl. Long, Sedley, Die hellenistischen Philosophen, 428. 121 Die Gegenstände der Tugend würden entweder „durchweg vorgezogen“ oder „durchweg nicht vorgezogen“. 122 Cic. de fin. 3,50 (SVF 1,365): „Wollte ich hier nämlich keinen Unterschied sehen, so würde unser ganzes Leben in Unordnung geraten, wie das nach der Lehre Aristons geschehen könnte. Es wäre dann nämlich keine Funktion und keine besondere Aufgabe für die Weisheit zu finden, wenn es zwischen den Dingen, die zur richtigen Lebensführung gehören, keine Unterscheidung gäbe und man keine Auswahl zu treffen brauchte.“
2. Oikeiosis – Rückzug oder Aneignung
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λόγῳ ὅσα ἡμέτερα ἔργα·123 Mit diesem Urteilsvermögen emanzipiert sich der Mensch von allen Dingen, die ihn umgeben und nicht in seiner Macht liegen. Dazu gehören nach Epiktet τὸ σῶμα, ἡ κτῆσις, δόξαι, ἀρχαὶ καὶ ἑνὶ λόγῳ ὅσα οὐχ ἡμέτερα ἔργα.124 Obwohl diese Dinge fremdem Einfluss ausgesetzt sind, ist der Stoiker ihnen nicht schonungslos ausgeliefert, da er sie ihrer prinzipiellen Unverfügbarkeit entziehen kann, indem er ihnen eindeutige Werte beimisst. Dies ist insofern möglich, als es keine den Gegenständen inhärenten Werte gibt, wie Epiktet feststellt: Ταράσσει τοὺς ἀνθρώπους οὐ τὰ πράγματα, ἀλλὰ τὰ περὶ τῶν πραγμάτων δόγματα·125 Die für sein Urteilsvermögen benötigten Kriterien entwickelt der Mensch, indem er die äußeren Dinge zu sich selbst in Beziehung setzt. Dabei wird er diejenigen Dinge, die sich in Hinblick auf seine eigene Konstitution als nützlich erweisen, als gut bezeichnen, die anderen, die ihm schaden, als schlecht. Epiktet bezeichnet das Urteilsvermögen und die Anwendung von Entscheidungen als zentrale Aufgabe der Philosophie.126 Auch eine Aussage bei Stobaeus bestätigt, dass die stoische Philosophie eine Praxis war, die sich an dem Selbstinteresse der Menschen orientierte. Denn der Mensch verbringe sein ganzes Leben damit, diejenigen Dinge, die naturgemäß sind, zu wählen und diejenigen, die im Gegensatz zur Natur sind, abzuwählen.127 Die Macht zu entscheiden ist gewissermaßen das Bollwerk des Stoikers und die wesentliche Konstituente menschlichen Glücks.128 Aufgrund dieser Kompetenz, autonom über Werte entscheiden zu können, ist der Stoiker imstande, alles, was ihm Schaden zufügen kann, abzuwehren. Sextus Empiricus bestätigt, dass die Stoiker das Gute und das Nützliche immer miteinander identifizierten und die Tugend für die Verwirklichung von beidem gleichermaßen verantwortlich machten: οἱ μὲν οὖν Στωικοὶ τῶν κοινῶν ὡς εἰπεῖν ἐννοιῶν ἐχόμενοι ὁρίζονται τἀγαθὸν τρόπῳ τῷδε «ἀγαθόν ἐστιν ὠφέλεια ἢ οὐχ ἕτερον ὠφελείας», ὠφέλειαν μὲν λέγοντες τὴν ἀρετὴν καὶ τὴν σπουδαίαν πρᾶξιν, οὐχ ἕτερον δὲ ὠφελείας τὸν σπουδαῖον ἄνθρωπον καὶ τὸν φίλον. ἡ μὲν γὰρ ἀρετή πως ἔχον ἡγεμονικὸν καθεστηκυῖα, καὶ ἡ σπουδαία πρᾶξις, ἐνέργειά τις οὖσα κατ᾽ ἀρετήν, ἄντικρύς ἐστιν ὠφέλεια·129 123 Epikt. Ench. 1: „In unserer Macht stehen: Annehmen und Auffassen, Handeln-Wollen, Begehren und Ablehnen – alles, was wir selbst in Gang setzen und zu verantworten haben.“ 124 Epikt. Ench. 1: „[…] unser Körper, unser Besitz, unser gesellschaftliches Ansehen, unsere Stellung – kurz: alles, was wir selbst nicht in Gang setzen und zu verantworten haben.“ 125 Epikt. Ench. 5: „Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Urteile und Meinungen über sie.“ 126 Epikt. Ench. 329. 127 Stobaeus 2,7,6a,12–13; teilw. SVF 3. Diog. 44, Ant. 57: εὐλογίστειν ἐν τῇ τῶν κατὰ φύσιν ἐκλογῇ καὶ ἀπεκλογῇ. Da sowohl die Tugend als auch die von ihr ausgewählten Dinge an das Selbstinteresse der Menschen anknüpfen, werden sie von Zenon und Chrysipp gleichermaßen als „naturgemäß“ bezeichnet. 128 Bei Stobaeus wird dieses als „Auswahl-Sinn“ bezeichnete Vermögen selbst als ein Wert bezeichnet. (Stobaeus 2,83,10–84,2; SVF 3,124) 129 Sext. Emp. adv. math. 11,22–23: „Die Stoiker also klammern sich sozusagen an die allgemeinen Begriffe und definieren das Gute folgendermaßen: ‚Das Gute ist Nutzen oder nichts anderes als Nutzen‘, wobei sie mit ‚Nutzen‘ die Tugend und die tugendhafte Handlung meinen und mit ‚nichts anderes als Nutzen‘ den tugendhaften Menschen und seinen Freund. Denn die Tu-
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
Sowohl die Tugend als auch „das Gute“ als Gegenstand der Tugend blieben ohne einen Bezug zu den indifferenten Dingen leere Begriffe. So wird auch die Tugend nicht über „das Gute“ oder einen bestimmten Gegenstandsbereich, sondern allein über die Urteilsfähigkeit definiert, die von den Stoikern aus diesem Grund auch als „höchster Wert“ bezeichnet wurde. Eine Aussage Senecas bestätigt dies: Itaque non est bonum per se munda vestis, sed mundae vestis electio quia non in re bonum est, sed in electione quali […].130 Eine Kontrolle über die Außenwelt erreicht der Mensch jedoch nicht nur dadurch, dass er in Hinblick auf seine eigenen Interessen einige Dinge als „gut“ oder „schlecht“ bezeichnet. Auch das Adjektiv „indifferent“ übernimmt die Funktion, den Menschen von äußeren Dingen zu emanzipieren. Als indifferent bezeichnet er grundsätzlich alle Dinge, die ihm aktuell keinen Nutzen bringen können. Dinge, denen ein „vorgezogener Wert“ beigemessen wurde, werden wieder den indifferenten Dingen zugeordnet, sobald sie dem Menschen keinen Nutzen mehr versprechen. Dies trifft z. B. in dem Fall zu, dass ein Körper plötzlich von einer Krankheit befallen wird. Der Körper, der dem Menschen bislang die Voraussetzungen verschafft haben mochte, bestimmte Leistungen erbringen zu können, mag über einen längeren Zeitraum ein Vorzugscharakter zugestanden worden sein. Wenn er aber erkrankt, wird der Stoiker dazu raten, den Körper wieder den indifferenten Dingen zu überlassen, um unter seinem Verfall nicht allzu sehr zu leiden. Der Stoiker distanziert sich von bestimmten Gegenständen, er bezeichnet sie als indifferent, um sich möglichst schnell von ihnen distanzieren und anderen Dingen, die ihm nützlich sind, schneller wieder zuwenden zu können. Die Setzung von Werten, die sich in einem permanenten Prozess des Aus- und Abwählens befindet, macht es dem Menschen möglich, sich auf verändernde äußere Situationen einstellen und auf widrige Umstände reagieren zu können. Bei Epiktet wird diese Auswahl denn auch als Macht bezeichnet: Ὥσπερ οὖν ἦν ἄξιον, τὸ κράτιστον ἁπάντων καὶ κυριεῦον οἱ θεοὶ μόνον ἐφ’ ἡμῖν ἐποίησαν, τὴν χρῆσιν τὴν ὀρθὴν ταῖς φαντασίαις […].131 Dass die Etikettierung bestimmter Dinge als ‚adiaphoron‘ weniger den Rückschluss auf eine tatsächlich vorhandene und dem Wortsinn entsprechende „Gleichgültigkeit“ zulässt als vielmehr auf konkrete Wünsche, Interessen oder sogar machtstrategische Überlegungen, ist an keinem besseren Beispiel als anhand der Politik zu verdeutlichen.
gend – sie besteht in einer Disposition des Zentralorgans – und die tugendhafte Handlung – sie ist eine Tätigkeit in Übereinstimmung mit der Tugend – sind geradewegs Nutzen.“ Vgl. Long, Sedley, Die hellenistischen Philosophen, 442. 130 Sen. ep. 92,12 (Hervorhebung CH): „Daher ist ein reines Gewand nicht an sich ein Gut, sondern eines reinen Gewandes Wahl, weil das Gut nicht in der Sache besteht, sondern in der Art der Wahl […].“ 131 Epikt. diss. 1,1,7: „Wie es also angebracht war, legten die Götter nur das mächtigste und wichtigste von allem in unsere Macht, den richtigen Gebrauch der Vorstellungen […].“ Vgl. Long, Sedley, Die hellenistischen Philosophen, 467.
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2.3. Politik als ‚adiaphoron‘ Bereits auf der sprachlichen Ebene war zu erkennen, dass sich die Stoiker gegenüber bestimmten, als ‚adiaphora‘ bezeichneten Gegenständen der Außenwelt, zu denen auch die politische Tätigkeit gehörte, nicht indifferent verhielten. Im Gegenteil maßen sie der Politik in solchen Situationen, in denen sie ihnen einen hohen Nutzen versprach, einen „vorgezogenen“ Wert bei. Die Stoiker, die die Politik je nach Situation als indifferenten oder bevorzugten Gegenstand behandeln konnten, schufen sich mit der Philosophie ein Instrument, das ihnen erlaubte, flexibel auf Veränderungen reagieren und sich mit neuen Verhältnissen arrangieren zu können. Dass die politische Tätigkeit und die Haltung des Stoikers ihr gegenüber nicht auf moralphilosophische, sondern auf äußere Umstände zurückzuführen ist, erläutert Seneca anhand eines bekannten Zitates von Zenon: Accedet ad rem publicam (sapiens), nisi si quid impedierit.132 Eine ausführlichere Version dieses Lehrsatzes, auf die Seneca zurückgegriffen haben muss, wird von Stobaeus überliefert:133 Ἔφαμεν δ’ ὅτι καὶ πολιτεύεσθαι κατὰ τὸν προηγούμενον λόγον οἷόν ἐστι, μὴ πολιτεύεσθαι δὲ ἐάν τι ‹κωλύῃ› καὶ μάλιστ’ ‹ἂν› μηδὲν ὠφελεῖν μέλλῃ τὴν πατρίδα, κινδύνους δὲ παρακολουθεῖν ὑπολαμβάνῃ μεγάλους καὶ χαλεποὺς ἐκ τῆς πολιτείας.134
Wie dieses Zitat belegt, hatten die Stoiker kein Interesse daran, sich aus der Politik zurückzuziehen. Vielmehr wollten sie auf die politische Tätigkeit nur verzichten, wenn äußere Gründe sie hinderten. Die hohe Bedeutung, die der politischen Aktivität beigemessen wurde, sei nicht zuletzt auf die an einzelne Städte gebundene politische Integration der Gesellschaft zurückzuführen, wie Aloys Winterling betont. Nicht die Herkunft bzw. die Familie, sondern der Rang innerhalb der politischen Ordnung bildete letztlich den „Modus der Reproduktion der Aristokratie“135 sowie der gesellschaftlichen Ordnung insgesamt. Wenn äußere Umstände es nicht zuließen, politische Ämter zu übernehmen, bestand die Möglichkeit, die politische Aktivität, die zur Herstellung eines gesellschaftlichen Status unentbehrlich war, durch andere „unpolitische“ Leistungen für die Stadt zu kompensieren. Auch die Philosophie konnte solche kompensatorischen Funktionen übernehmen und somit die gesellschaftliche Integration erleichtern. Autoren, die die stoische Philosophie mit einem politischen Desinteresse verbunden sehen, versuchen insbesondere die oben genannte Aussage des Stobaeus zu entkräften. Peter Scholz schlägt vor, den im ersten Satz auftretenden Ausdruck οἷόν ἐστι mit dem Adverb „möglicherweise“ zu übersetzen. Die Politik sei somit nur 132 Sen. de otio 3,2 = SVF 1,271: „Er wird in die Politik gehen, außer wenn ein Hindernis eintritt.“ 133 Vgl. Scholz, Der Philosoph und die Politik, 349. 134 Stob. Ecl. 2,7,11m,89–93 = SVF 3,690: „Sie (die Stoiker) behaupteten nämlich, dass (der Einsichtige und Weise) sich möglicherweise (οἷόν ἐστι) gemäß der Lehre vom ‚Bevorzugten‘ auch politisch betätige; dass er sich jedoch nicht politisch betätige, wenn ihn etwas hindere, und vor allem dann nicht, wenn abzusehen sei, dass er dem Vaterland damit zu keinem Nutzen verhelfe, oder er annehmen könne, dass ihm große und schwere Gefahren aus seinem politischen Engagement erwüchsen.“ 135 Winterling, Politische Integration, 109.
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
eine unter mehreren möglichen Lebensformen und nicht ein per se erstrebenswerter Gegenstand gewesen. Diese Übersetzung ist jedoch keinesfalls zwingend, da sie weder mit der realhistorischen Bedeutung der Politik noch mit dem Vorzugscharakter, den die Stoiker ihr beimaßen, in einem kohärenten Zusammenhang steht. Es ist wahrscheinlicher, dass mit dem Ausdruck οἷόν ἐστι vermittelt werden sollte, dass sich die Stoiker „so gut es geht“ oder „wenn immer es auch möglich“ war, sich politisch zu betätigen versuchten. Wie die folgenden Beispiele verdeutlichen, waren es in der Tat immer nur äußere Gründe, die die Stoiker veranlassten, sich aus der Politik zurückzuziehen. Überzeugend stellt Peter Scholz dar, dass es der soziale Status der Stoiker in Athen war, der „von vornherein jegliche politische[n] Ambitionen“ unterband.136 Zahlreiche Philosophen, so auch Zenon von Kition, seien Metöken gewesen. Als Fremde waren sie den Bürgern nicht nur rechtlich unterlegen. Insofern sie von der Teilnahme an allen politischen Entscheidungen und dem städtischen Kult ausgeschlossen waren, fehlten ihnen auch die entscheidenden Voraussetzungen für einen anerkannten sozialen Status, mithin für den Erwerb von Ruhm und Ehre, Identität und Selbstbewusstsein.137 Eine Aussage Senecas in de otio 3,3 belegt, dass es auch in der Kaiserzeit allein äußere Ursachen waren, die einen stoischen Rückzug aus der Politik begründeten. Folgendes wird als möglicher Anlass für einen Rückzug aufgeführt: si res publica corruptior est quam ut adiuvari possit, si obscurata est malis, non nitetur sapiens in supervacuum nec se nihil profuturus impendet; si parum habebit auctoritatis aut virium nec illum erit admissura res publica […].138 Nur äußere Hinderungsgründe oder solche Situationen, in denen die politische Tätigkeit mehr Schaden als Nutzen versprach, konnten die Stoiker veranlassen, sich zurückzuziehen. Unter solchen Umständen galt die Politik nicht mehr als ein „vorgezogener“, sondern wieder als ein indifferenter Wert. Stoikern, die als Metöken von der Gesellschaft ausgeschlossen waren, blieb nichts anderes übrig, als die Politik, von der sie aktuell nicht profitieren konnten, als etwas „Gleichgültiges“ zu betrachten. In diesen Situationen verwendeten sie den Begriff des adiaphoron, um sich aktuell gegenüber den negativen Folgen der politischen Exklusion zu immunisieren. Mit einer Änderung des rechtlichen Status wären sicherlich auch die Stoiker sofort bereit gewesen, politische Ämter zu übernehmen, von denen auch ihr sozialer Status abhängig war. 136 Scholz, Der Philosoph und die Politik, 350. 137 Peter Scholz akzeptiert hingegen den Verweis auf den sozialen Status der Philosophen der Alten Stoa nicht als ein hinreichendes Argument gegen die Annahme der Stoa als einer Rückzugsphilosophie. Es sei, so Scholz, nicht davon auszugehen, dass sich die Stoiker bei der Abwesenheit jener Hinderungsgründe wieder politisch integriert hätten. Bei den Aussagen von Seneca handle es sich um Ausdeutungen der mittleren und jüngeren Stoa, die für die Interpretation der altstoischen Lehre nicht weiter zu berücksichtigen seien. 138 Sen. de otio 3,3: „[…] wenn die res publica zu verkommen ist, als dass man ihr helfen könnte, wenn sie verdunkelt ist von verhängnisvollen Umständen, wird sich der Weise nicht umsonst bemühen noch sich, ohne helfen zu können, aufopfern; wenn er zu wenig besitzt an Einfluss oder Kraft und ihn nicht hinzuziehen will die res publica […].“
2. Oikeiosis – Rückzug oder Aneignung
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In der Forschung ist immer wieder behauptet worden, dass die Haltung der Stoiker gegenüber dem politischen System ambivalent gewesen sei, insofern sie es ein Mal als indifferent, ein anderes Mal als einen bevorzugten Wert behandelten.139 In den bisherigen Ausführungen wurde hingegen gezeigt, dass die Politik auch für die Stoiker ein unverzichtbarer Bestandteil ihres gesellschaftlichen Lebens war. Somit sind die Adjektive „indifferent“ und „bevorzugt“ nicht als Ausdruck einer ambivalenten Haltung zu verstehen, die sich einer moralphilosophischen Bewertung des politischen Systems zu verdanken hätte, sondern als Handlungsoptionen, die die Funktion hatten, auf Veränderungen in der äußeren Welt angemessen reagieren zu können. Die Tatsache, dass die stoische Philosophie die Politik als einen „bevorzugten“ Wert behandelt, wird nur innerhalb derjenigen Forschungsansätze zu einem Problem, die die Stoa als eine Rückzugsphilosophie beschreiben möchten und dabei deren soziale und politische Funktionen übersehen. Das Ziel der Stoiker, sich in die Welt zu integrieren, soll abschließend mit dem Begriff der Kosmopolis belegt werden. Es ist immer wieder vermutet worden, dass sich die stoische Philosophie im Gegensatz zu der Philosophie des Aristoteles und des Platon ausschließlich mit moralphilosophischen, nicht aber mehr mit politischen Fragen beschäftigt habe. Die Einschätzung, die stoische Philosophie sei insofern unpolitisch, als sie den Begriff der Polis durch den der Kosmopolis ersetzt habe, ist zu revidieren. Meines Erachtens speicherte der Begriff der Kosmopolis die Erfahrung, dass mit der Krise der griechischen Stadtstaaten und der Entstehung der hellenistischen Monarchie die Polis nicht mehr den alleinigen Bezugsrahmen für die politischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der in ihr lebenden Menschen bilden konnte. Die griechischen Stadtstaaten, die in archaischer Zeit politisch autonom und wirtschaftlich autark waren, wurden bereits im fünften Jahrhundert durch die großen Hegemonialmächte, wie Athen und Sparta, in ihrer Integrität gefährdet.140 Im vierten Jahrhundert, insbesondere in der Zeit zwischen dem Königsfrieden und der Schlacht bei Chaironeia (386–338), wurden die Poleis sowohl von innen, durch permanente Bürgerkriege (staseis) und eine zunehmende Desintegration der Polisbürger, als auch von außen gleichermaßen destabilisiert. In der Literatur gibt es verschiedene Mutmaßungen über die Funktion des Begriffes der Kosmopolis innerhalb der stoischen Philosophie. So ist zum einen vermutet worden, es sei die Absicht von Zenon und Chrysipp gewesen, einen Weltstaat, wie den Alexanders, ideologisch zu rechtfertigen. Zum anderen ist behauptet worden, es sei das Ziel der Stoiker gewesen, eine klassenlose Gesellschaft als Gegenbild zu den immer fortdauernden staseis zu entwickeln.141 Schließlich wurde 139 Scholz, Der Philosoph und die Politik, 21 f.; Lee, Oikeiosis, 226 f. 140 Für die folgenden Ausführungen vgl. Aloys Winterling, Polisbegriff und Stasistheorie des Aeneas Tacticus. Zur Frage der Grenzen der griechischen Polisgesellschaften im 4. Jahrhundert v. Chr., in: Historia 40,2, 1991, 193 ff.; ders., Polisübergreifende Politik bei Aristoteles, in: Kai Brodersen, Charlotte Schubert (Hg.), Rom und der griechische Osten. Festschrift für Hatto H. Schmitt zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1995, 316 ff. 141 Andrew Erskine, The Hellenistic Stoa. Political Thought and Action, London 1990, 35 ff., bes.
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
der Begriff der Kosmopolis auch zur Bezeichnung der absoluten „Negation der Notwendigkeit von menschlich-politischer Gemeinschaft“ überhaupt verwendet.142 Letzteres wurde hier bereits durch den Nachweis widerlegt, dass die Außenwelt den Stoikern niemals gleichgültig war. Interpretiert man den Begriff der Kosmopolis aus der Perspektive der Oikeiosis-Lehre, so zeigt sich, dass die Stoiker mit ihm die soziale und politische Funktion verbanden, sich die neuen Strukturen des Hellenismus, die die Grenzen der Polis weit überschritten, allmählich anzueignen. Wie eine Aussage Plutarchs belegt, wurde in der stoischen Philosophie die Entstehung polisübergreifender Strukturen verarbeitet: Καὶ μὴν ἡ πολὺ θαυμαζομένη πολιτεία τοῦ τὴν Στωικῶν aἵρεσιν καταβαλομένου Ζήνωνος εἰς ἓν τοῦτο συντείνει κεφάλαιον, ἵνα μὴ κατὰ πόλεις μηδὲ δήμους οἰκῶμεν ἰδίοις ἕκαστοι διωρισμένοι δικαίοις, ἀλλὰ πάντας ἀνθρώπους ἡγώμεθα δημότας καὶ πολίτας, εἷς δὲ βίος ᾖ καὶ κόσμος […].143
Im Kapitel über die Oikeiosis-Lehre wurde am Beispiel des Stoikers Hierokles gezeigt, dass der letzte Kreis, dem sich der Mensch annähert, nicht die Polis sei. Vielmehr wurde als Aufgabe des Menschen festgelegt, in seiner Entwicklung bis zur Umfassung der gesamten Menschheit fortzuschreiten.144 Es ist den Stoikern gelungen, auf die Herausforderungen ihrer Zeit zu reagieren und sich auf diejenigen Mechanismen der politischen Integration vorzubereiten, die nicht mehr an die Polis gebunden waren. Dies verdeutlicht nicht zuletzt ihre erfolgreiche Etablierung an den hellenistischen Königshöfen. Insofern der Begriff der Kosmopolis es dem Menschen erleichtern sollte, sich mit den neu entstandenen Strukturen zu arrangieren, hatte er nicht nur moralphilosophische, sondern auch entscheidende politische Funktionen.145 Nach der Auffassung von Chang-Uh Lee sei die stoische Philosophie vollkommen unpolitisch gewesen, insofern Erörterungen zu Verfassungsformen und den institutionellen Organisationen einer Polis in ihren Schriften keine Verbreitung gefunden hätten. Im V. Teil dieser Arbeit wird hingegen zu sehen sein, dass Fragen zum „Herrschen und Beherrschtwerden“, über die Zenon, Kleanthes und Chrysipp am meisten geschrieben haben, in keiner Weise unpolitisch waren.146 Vielmehr bil-
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37. Diese Ansätze sind von Scholz einer grundlegenden Kritik unterzogen worden. Vgl. Scholz, Der Philosoph und die Politik, 347, Anm. 120. Scholz, Der Philosoph und die Politik, 355; vgl. auch 345. Plutarch, De Alexandri Virtute 329 A f. = SVF 1,262: „Die viel bewunderte Schrift Der Staat des Zenon, des Gründers der stoischen Philosophie, ist auf diesen einen Punkt ausgerichtet: Wir sollten nicht in einer Stadt oder in einem Gemeindebezirk leben, die sich jeweils durch eine eigene Gesetzgebung abgrenzen; vielmehr sollten wir alle Menschen als Mitglieder unserer Gemeinde und als Mitbürger ansehen, und es sollte eine Art zu leben und eine Ordnung geben […].“ Hierokles bei Stobaeus 4,671,7–673,11; Vgl. dazu auch Max Mühl, Die antike Menschheitsidee in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Leipzig 1928 (ND 1975), 57. Welche Bedeutung der Begriff der Kosmopolis in der Kaiserzeit hatte, wird in Kapitel VI.4. gezeigt. Plut. de Stoic. repugn. 2,1033 B = SVF 1,27: ἐπεὶ τοίνυν πολλὰ μὲν ὡς ἐν ὀλίγοις αὐτῷ Ζήνωνι, πολλὰ δὲ Κλεάνθει, πλεῖστα δὲ Χρυσίππῳ γεγραμμένα τυγχάνει περὶ πολιτείας
3. Die Selbstbetrachtungen Marc Aurels
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deten die Debatten über die Machtbeziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten ein zentrales Thema des Diskurses, der sich zwischen den Vertretern der Paideia und den römischen Kaisern entwickelte. 3. DIE SELBSTBETRACHTUNGEN MARC AURELS Inhaltliche und formale Analysen werden im Folgenden zeigen, dass auch die literarisch so schwer einzuordnenden Selbstbetrachtungen einen Teil der OikeiosisLehre bildeten. Das Thema einer als ‚fremd‘ wahrgenommenen Außenwelt zieht sich ebenso wie die Frage, wie man sich gegenüber einer Umwelt verhalten solle, die einem möglicherweise feindlich gesonnen ist, als roter Faden durch die gesamten Selbstbetrachtungen. Gleich zu Beginn des zweiten Buches schreibt Marc Aurel, er wolle sich jeden Morgen daran erinnern, dass beschränkte, undankbare, unverschämte und missgünstige Menschen seine Wege kreuzen können.147 Er vergegenwärtigte sich insbesondere die Adligen als eine besondere Gefahr, vor denen er sich, wie er von Fronto gelernt habe, besonders in acht nehmen müsse.148 Es sind jedoch nicht diese pessimistischen Betrachtungen, mit denen die Selbstbetrachtungen enden, da sich Marc Aurel immer wieder auf die stärkende Kraft der Philosophie besinnt: τί οὖν τὸ παραπέμψαι δυνάμενον; ἓν καὶ μόνον φιλοσοφία.149
Oder: τήρησον οὖν σεαυτὸν ἁπλοῦν, ἀγαθόν, ἀκέραιον, σεμνόν, ἄκομψον, τοῦ δικαίου φίλον, θεοσεβῆ, εὐμενῆ, φιλόστοργον, ἐρρωμένον πρὸς τὰ πρέποντα ἔργα. ἀγώνισαι, ἵνα τοιοῦτος συμμείνῃς, οἷόν σε ἠθέλησε ποιῆσαι φιλοσοφία. αἰδοῦ θεούς, σῷζε ἀνθρώπους. βραχὺς ὁ βίος·150
Am Beispiel der beiden Zitate werden bereits die ethisch-moralischen bzw. lebenspraktischen Fragen als ein zentraler Gegenstand der Selbstbetrachtungen erkennbar.151
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καὶ τοῦ ἄρχεσθαι καὶ ἄρχειν καὶ δικάζειν καὶ ῥητορεύειν· ἐν δὲ τοῖς βίοις οὐδενὸς ἔστιν εὑρεῖν οὐ στρατηγίαν, οὐ νομοθεσίαν, οὐ πάροδον εἰς βουλήν, οὐ συνηγορίαν ἐπὶ δικαστῶν, οὐ στρατείαν ὑπὲρ πατρίδος, οὐ πρεσβείαν, οὐκ ἐπίδοσιν· M. Aur. ad se ipsum 2,1. […] καὶ ὅτι ὡς ἐπίπαν οἱ καλούμενοι οὗτοι παρ’ ἡμῖν εὐπατρίδαι ἀστοργότεροί πως εἰσίν. – „[…] und daß die Adligen, die bei uns Patrizier heißen, meistens ziemlich lieblos und grausam sind.“ (M. Aur. ad se ipsum 1,11). M. Aur. ad se ipsum 2,17,3: „Was kann uns da noch stützen und helfen? Einzig und allein die Philosophie.“ M.Aur. ad se ipsum 6,30,2–4: „Sorge also dafür, daß du ein einfacher, guter, ehrlicher, ernsthafter, schlichter Mensch bist, ein Freund der Gerechtigkeit, gottesfürchtig, gütig, liebevoll und stark für die Leistungen, die du zu erbringen hast. Kämpfe darum, daß du so bleibst, wie dich die Philosophie haben wollte. Achte die Götter, rette die Menschen. Das Leben ist kurz.“ In diesem Zusammenhang wird der Einfluss der kynischen Philosophie erkennbar. Antisthenes, der Begründer dieser Schule, hat die Philosophie als die Fähigkeit definiert, mit sich selbst
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
Diese Beobachtung veranlasste Joachim Dalfen zu der Bemerkung, Marc Aurel sei kein philosophischer Denker gewesen, der etwas „Originales zu der Einheit des philosophischen Systems beigetragen“ hätte. In der Kaiserzeit, so Dalfen, habe die Logik nicht mehr der Ableitung ethischer Sätze gedient, sondern eher psychagogische Funktionen übernommen, um den Menschen handlungsfähig zu machen. Dies werde beispielsweise daran erkennbar, dass innerhalb logisch strukturierter Sätze, die zunächst einem üblichen logischen Formalismus folgen, statt der conclusio plötzlich ein Imperativ verwendet werde.152 Obwohl die Selbstbetrachtungen nicht ein philosophisches System zum Gegenstand haben, da sämtliche Paragraphen auf die Praxis gerichtet sind, wurden die Selbstbetrachtungen dennoch weiterhin als ein philosophischer Text behandelt.153 Nach der Auffassung von Pierre Hadot würden die Selbstbetrachtungen dadurch, dass sie ein Dokument der Lebenskunst darstellen, überhaupt erst dem Anspruch einer Philosophie „im eigentlichen und etymologischen Sinne“, d. h. als Weisheitsliebe oder „Philo-sophie“, gerecht.154 In der Einleitung wurde hingegen bereits hervorgehoben, dass sowohl im zweiten Jahrhundert durch die Vertreter der pyrrhonischen Skepsis als auch in aktuellen Debatten eine Unterscheidung zwischen einer Philosophie und einer Lebenskunst begründet wurde.155 Wilhelm Schmid begründet die Notwendigkeit einer solchen Unterscheidung innerhalb des Bereichs der Lebenskunst, indem er die Philosophie der Lebenskunst, die die Begründung ethischer Grundsätze zum Ziel habe, von einer Philosophie als Lebenskunst abgrenzt, der es vor allem um die Umsetzung von Lehrsätzen in Handlungen gehe. Wenn auch hier als Kriterium festgelegt werden soll, dass nur solche Texte, die die argumentative Rechtfertigung ihrer Inhalte zum Ziel haben, den Ansprüchen der Philosophie genügen, werden die Selbstbetrachtungen, deren einzelne Paragraphen psychagogische Funktionen übernehmen, streng genommen nicht mehr als eine Form der Philosophie zu bezeichnen sein, sondern müssen im Sinne der oben genannten Unterscheidung einer Philosophie als Lebenskunst zugeordnet werden.156 Dies soll nun am Beispiel dreier verschiedener Topoi belegt werden.
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umzugehen. ἐρωτηθεὶς τί αὐτῷ περιγέγονεν ἐκ φιλοσοφίας, ἔφη, ‘τὸ δύνασθαι ἑαυτῷ ὁμιλεῖν’. Diog. Laert. 6,6. Vgl. Misch, Geschichte der Autobiographie, Bd. 1.2, 409, 454. Ebd. 160 ff., 169, 170. Vgl. dazu auch die Seiten 98 ff. am Ende dieses Kapitels. Joachim Dalfen, Marc Aurel. Die Einheit der Philosophie und die Verbindung von Theorie und Praxis, in: Zeitschrift für Ganzheitsforschung 30.4, 1986, 159–171, 170, 160 f. Philosophie im eigentlichen und etymologischen Sinne sei „Philo-sophie, d. h. Weisheitsliebe, da sie einer Anstrengung, einer Suche, einer Übung entspricht, die zur Weisheit führt“. Pierre Hadot, Die Einteilung der Philosophie, 444; ders., Philosophie als Lebensform, 87 f. Pierre Hadot identifiziert diese Themen mit den drei Teilgebieten der Philosophie, obwohl er sieht, dass es sich hier nicht um eine theoretische Physik, Ethik oder Logik handelt, sondern um „geistige Übungen“. Siehe Einleitung, S. 16, Anm. 21. Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt am Main 1998, 27 ff.; Vgl. dazu insbesondere die Ausführungen von Pierre Hadot, Arnold I. Davidson, Paula Wissing, Forms of Life and Forms of Discourse in Ancient Philosophy, in: Critical Inquiry 16.3, 1990, 483–505, 495: „Theory is never considered an end in itself; it is clearly and decidedly put in the service of practice.“ Zu einer vergleichbaren Definition gelangt Michael Trapp, Philosophy in the Roman Empire. Ethics, Politics and Society, Cornwall 2007, 7: „[…] philo-
3. Die Selbstbetrachtungen Marc Aurels
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Pierre Hadot konnte in seinen Untersuchungen drei Topoi nachweisen, die den unsystematisch erscheinenden Selbstbetrachtungen eine innere Struktur geben. Diese Topoi bezögen sich auf verschiedene Aspekte menschlichen Seins: das Verhältnis des Menschen zum Kosmos, das Verhältnis des Menschen zu anderen Menschen und die Beziehung des Menschen zu sich selbst. Es sei möglich, diesen Topoi, die innerhalb der Selbstbetrachtungen immer wieder aufgenommen werden, auch alle weiteren Themen zuzuordnen.157 Pierre Hadot geht davon aus, dass die einzelnen Topoi der traditionellen Dreiteilung der Philosophie in Logik, Ethik und Physik entsprechen: Τρεῖς σχέσεις· ἡ μὲν πρὸς τὸ ἀγγεῖον τὸ περικείμενον158 (Logik), ἡ δὲ πρὸς τὴν θείαν αἰτίαν, ἀφ᾿ ἧς συμβαίνει πᾶσι πάντα (Physik), ἡ δὲ πρὸς τοὺς συμβιοῦντας (Ethik).159 Im Gegensatz zu der von Hadot vorgeschlagenen Lesart sollen die folgenden Ausführungen zeigen, dass die οἰκείωσις als ein Oberbegriff für die verschiedenen Topoi bezeichnet werden kann, insofern diese nicht als Teilgebiete eines philosophischen Systems, sondern als unterschiedliche Methoden zu verstehen sind, die dem Menschen lebenspraktische Ratschläge an die Hand geben, damit er sich in seiner Auseinandersetzung mit den Ansprüchen und Herausforderungen der ihn umgebenden Welt bewähren kann.160
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sophia is at heart about right living, not sophisticated reasoning.“ Vgl. auch Veyne, Weisheit und Altruismus, 165. Marc Aurel habe die drei Topoi von Epiktet übernommen. Vgl. Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, 2. Aufl., Berlin 1991, 83 ff.; ders., Die Einteilung der Philosophie im Altertum, in: ZPHF 36, 1982, 422–444, 431 ff.; Max Pohlenz, Die Stoa, Bd. 2, 5. Aufl., Göttingen 1980, 162 (Anmerkung zu S. 328); Epikt. Ench. 3,2,1. Pierre Hadot interpretiert das Wort „Gefäß“ als Körper, durch den uns die Sinneswahrnehmungen und Vorstellungen vermittelt werden. M. Aur. ad se ipsum 8,27: „Drei Einstellungen: die erste gegenüber dem uns umgebenden Gefäß, die zweite gegenüber der göttlichen Ursache, von der alles für alles ausgeht, die dritte gegenüber den Mitmenschen.“ – Dass diese Themen auf keine theoretischen Disziplinen verweisen, wird auch durch den griechischen Text nahegelegt, der die verschiedenen Topoi unter dem Begriff σχέσις zusammenfasst, der lediglich auf eine Beschaffenheit oder einen bestimmten Zustand hinweist. In der Literatur wurde behauptet, dass die kaiserzeitliche Philosophie durch ihre Begrenzung auf ethische Probleme, die anderen Teilbereiche, die Logik und die Physik, eliminiert habe. Vgl. dazu M. Morford, The Roman Philosophers, London 2002. Dieser Lesart hat Michael Trapp, Philosophy in the Roman Empire, 10 ff. zu Recht widersprochen. So wurden zwar die anderen Teilbereiche der Ethik untergeordnet, nicht aber aus der philosophischen Lebenskunst ausgeschlossen. Insbesondere aus der Kosmologie wurden zahlreiche Ratschläge für das menschliche Handeln abgeleitet: „[…] ethics and physics were in practice treated as quite inextricably intertwined, even in authors who treated the physics as a fixed background, and concentrated their imaginative and exegetic resources on the ethical payoff. When Apuleius or Maximus expound Platonist demonology and cosmology, they do so to bring home lessons about proper human aspirations, and the aids made available by God and the Universe to individual humans.“ (12 f.)
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
3.1. Der erste Topos: Urteilen oder Entscheiden Der erste Topos soll dem Menschen verdeutlichen, dass sein Verhältnis zur Außenwelt allein davon abhängt, welche „Haltung“ er ihr gegenüber einnimmt. Der Grundgedanke dieses Themas wird durch einen stoischen Lehrsatz, der in dem Wortlaut des Epiktet weite Verbreitung fand, prägnant zusammengefasst: Ταράσσει τοὺς ἀνθρώπους οὐ τὰ πράγματα, ἀλλὰ τὰ περὶ τῶν πραγμάτων δόγματα·161
Es seien allein unsere δόγματα, unsere Meinungen oder, wie es in der Übersetzung auch heißt, unser Urteilsvermögen, das darüber entscheidet, welchen Einfluss die „äußeren Dinge“ auf uns nehmen, ob sie als nützlich oder schädlich empfunden werden. Dieser Behauptung liegt nach stoischer Vorstellung die Prämisse zugrunde, dass die Meinungen eines Menschen von den Einflüssen der Außenwelt unabhängig seien: Ὅτι πάντα ὑπόληψις καὶ αὕτη ἐπὶ σοί.162 Nur aufgrund einer solchen Ungebundenheit der Meinungen könne sich der Mensch von der Außenwelt und ihren störenden Einflüssen emanzipieren: ἐν δὲ τοῖς προχειροτάτοις, εἰς ἃ ἐγκύψεις, ταῦτα ἔστω τὰ δύο. ἓν μέν, ὅτι τὰ πράγματα οὐχ ἃπτεται τῆς ψυχῆς, ἀλλ᾿ ἔξω ἕστηκεν ἀτρεμοῦντα, αἱ δὲ ὀχλήσεις ἐκ μόνης τῆς ἔνδον ὑπολήψεως. […] ὁ βίος ὑπόληψις.163 Es ist meines Erachtens auch ein Problem der Übersetzung, wenn Pierre Hadot den ersten Topos der Logik als einem Teilbereich der Philosophie zuordnet. Wenn die in den Zitaten verwendeten griechischen Begriffe δόγματα und ὑπόληψις164 mit dem Wort „Urteil“ übersetzt werden, so wird damit eine Nähe zu logischen Formen des Argumentierens und Schließens suggeriert, die in den Begriffen jedoch nicht enthalten sind. Dass der Begriff ὑπόληψις nicht mit dem deutschen Wort „Urteil“ übersetzt werden kann, wird deutlich, wenn man ihn mit dem Begriff der κατάληψις vergleicht. Während der Begriff ὑπόληψις mit „passiver Aufnahme“ zu übersetzen ist, bezeichnet die κατάληψις nicht nur die Aufnahme, sondern vor allem die Erkenntnis einer Vorstellung. Diese Erkenntnis ist der κατάληψις aber nur möglich, weil sie imstande ist, eine Vorstellung von einer anderen zu unterscheiden. Die κατάληψις galt in der Stoa als Wahrheitskriterium und ist in engem Zusammenhang zu sehen mit der Lehre von der Autonomie des Logos, der eine Vorstellung sowohl annehmen als auch ablehnen kann.165 Die Logik und das mit ihr verbundene Vermögen zu urteilen entspricht also eher der κατάληψις als der ὑπόληψις. 161 Epikt. Ench. 5 (Hervorhebung CH): „Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Urteile und Meinungen über sie.“ 162 M. Aur. ad se ipsum 12,22: „(Wisse,) daß alles bloßes Aufnehmen ist und dies bei dir liegt.“ 163 M. Aur. ad se ipsum 4,3,10–12: „Zu den wichtigsten Grundsätzen aber, an die du dich halten wirst, sollen diese beiden gehören: Erstens: Die Dinge berühren die Seele nicht, sondern stehen außerhalb, ohne sich zu bewegen; Ärger und Aufregung erwachsen allein aus der Art der passiven Aufnahme der Dinge in uns. […] Das Leben ist subjektive Einstellung und Einbildung.“ (Hervorhebungen CH) 164 Vgl. dazu Hadot, Philosophie als Lebensform, 199, Anm. 24, der sich explizit dafür entscheidet, ὑπόληψις mit „Urteil“ zu übersetzen. 165 Vgl. Benson Mates, The Skeptic Way. Sextus Empiricus’s Outlines of Pyrrhonism, New York
3. Die Selbstbetrachtungen Marc Aurels
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In den Selbstbetrachtungen wird der κατάληψις, die im Unterschied zur häufig thematisierten ὑπόληψις nur an zwei Stellen erwähnt wird, eine vergleichsweise geringe Bedeutung beigemessen. Marc Aurel erinnert sich an verschiedenen Textstellen immer wieder erneut daran, dass alles im Leben bloß ein „passives Aufnehmen“ (ὑπόληψις) sei.166 Die κατάληψις beurteilt er hingegen sehr viel skeptischer, da ein sicheres Urteil, das den Irrtum ausschließt, ohnehin sehr unwahrscheinlich sei.167 Wenn das Vermögen zu urteilen und die philosophische Rechtfertigung einer Vorstellung nicht das Ziel der Selbstbetrachtungen ist, so stellt sich die Frage, wie man zu den „richtigen“ Vorstellungen gelangt, die allein notwendig seien, um sich von den negativ wahrgenommenen Einflüssen der Außenwelt befreien zu können. Zu beobachten ist, dass diese Vorstellungen einem Wissensbestand entnommen werden, dessen Wahrheit und Objektivität man bereits durch die Tradition gerechtfertigt sah. „Die Stoiker“, so Dalfen, „waren sich dessen bewusst, dass der Mensch bestimmte Voraussetzungen machen und bestimmte Basissätze anerkennen muss, wenn er sich im Leben orientieren können soll.“168 Einer weiteren philosophischen Rechtfertigung bedürften diese stoischen δόγματα nach der Auffassung der Stoi1996, 42. Mates übersetzt die κατάληψις als Apprehension – im Gegensatz zu einer bloßen, noch unverarbeiteten Sinneswahrnehmung bezeichnet die Apprehension bereits ein aus der Wahrnehmung hervorgegangenes Wissen. Vgl. auch Pohlenz, Die Stoa, 62. Zur Bedeutung des Begriffes ὑπόληψις vgl. auch Farquharson, The Meditations of the Emperor, Bd. 2, 533 f.: „The verb ὑπολαμβάνω means to take something to be true, whether it be true or not, so that the substantive ὑπόληψις is commonly employed for mere opinion.“ Vgl. auch Aristot. an. 427 b 24–26, der die vielfältigen Bedeutungsebenen der ὑπόληψις herausstellt. 166 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 2,15; vgl. auch 3,9: Τὴν ὑποληπτικὴν δύναμιν σέβε· ἐν ταύτῃ τὸ πᾶν […]. – „Achte auf deine Fähigkeit, die Dinge in dein Bewußtsein aufzunehmen. Nur auf sie kommt es an […].“ Vgl. dazu ebenfalls: 4,3,10; 12,8; 12,22; 12,26,2. 167 Vgl. 11,18,8 f. Im Zusammenhang seiner Behauptung, dass alles ein bloßes Aufnehmen sei, schließt sich Marc Aurel der Meinung des Kynikers Monimus an, der die skeptische Meinung vertrat, es gebe kein Kriterium für die Unterscheidung wahrer und falscher Vorstellungen; vgl. 2,15. Vgl. Farquharson, The Meditations of the Emperor, Bd. 2, 533: Es ist nicht die in 9,6 erwähnte ὑπόληψις καταληπτική, wie Farquharson behauptet, die in der Philosophie des Marc Aurel das Vermögen bezeichnet, Vorstellungen abzulehnen oder zuzustimmen. Wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, ist es vielmehr die im Anschluss erwähnte „positive Haltung“ (διάθεσις εὐαρεστική), die das Verhältnis gegenüber der Außenwelt bestimmt. 168 Dalfen, Verbindung von Theorie und Praxis, 170. In diesem Zusammenhang sei auf einen anderen von Dalfen verfassten Aufsatz hinzuweisen, in dem er die Möglichkeit einer Normfindung und einer Normbegründung am Beispiel der Stoa zu rechtfertigen versucht. Den Ausgangspunkt seiner Darstellung bildet die Kritik an der „pluralistischen Gesellschaft“, die durch die insbesondere seit David Hume geltende Trennung zwischen „Sein“ und „Sollen“, zwischen deskriptiven und präskriptiven Aussagen, eine „Ethik als Wissenschaft vom eigentlichen Lebensziel des Menschen […] unmöglich“ (S. 21) gemacht habe. Die von modernen Theorien vertretene Auffassung, dass es nicht möglich sei, aus deskriptiven Sätzen Werturteile abzuleiten, versucht Dalfen mit der von der modernen Naturwissenschaft hervorgebrachten Erkenntnis zu revidieren, dass auch deskriptive Aussagen nicht vom Subjekt unabhängig sind, sodass eine grundsätzliche Trennung zwischen deskriptiven und präskriptiven Aussagen zu bezweifeln sei. Vgl. Joachim Dalfen, Wo man leben kann, kann man gut leben. Ableitung und Begründung ethischer Sätze bei Marc Aurel und die Problematik von „Sein“ und „Sollen“, in: ders. u. a. (Hg.), Symmicta Philologica Salisburgensia, Rom 1980, 21–41.
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ker nicht. Auch das Ziel der Selbstbetrachtungen besteht nicht darin, diese Lehrsätze zu überprüfen, sondern sie auf konkrete Situationen anzuwenden. Vor dem Hintergrund dieser pragmatischen Zielsetzung wird das weitaus größere Interesse für die ὑπόληψις verständlich. Im Unterschied zur κατάληψις bezieht sich die ὑπόληψις ausschließlich auf die Gegenwart, während die κατάληψις, die eine vergleichende, um Erkenntnis bemühte Auseinandersetzung mit der Gegenwart darstellt, auch die Vergangenheit als Erkenntnishorizont benötigt.169 Unter Berücksichtigung der Zielsetzung, konkrete Situationen in der Gegenwart zu bewältigen, wäre die κατάληψις ineffizient, da sie zuviel Zeit beanspruchte, während die ὑπόληψις, deren Aufgabe darin besteht, stoische δόγματα in Erinnerung zu rufen und auf entsprechende Probleme und Sachverhalte anzuwenden, als erfolgversprechender wahrgenommen wird: βραχέα δὲ ἔστω καὶ στοιχειώδη, ἃ εὐθὺς ἀπαντήσαντα ἀρκέσει εἰς τὸ πᾶσαν λύπην ἀποκλύσαι […].170 Anhand der bisherigen Ausführungen konnte verdeutlicht werden, dass die Konstitution der „richtigen“ Einstellung gegenüber der Außenwelt weniger ein philosophisches Problem ist als eine „geistige Übung“171 bzw. eine Methode, deren Aufgabe darin besteht, als gültig anerkannte Basissätze auf das Leben anzuwenden. Der oben bereits zitierte stoische Lehrsatz: Ταράσσει τοὺς ἀνθρώπους οὐ τὰ πράγματα, ἀλλὰ τὰ περὶ τῶν πραγμάτων δόγματα172, soll den Menschen daran erinnern, dass alles nur von seiner Auffassung abhängig sei und die Furcht vor einem Gegenstand verschwindet, wenn er die Vorstellung über diesen Gegenstand durch eine andere ersetzt. Der erste Schritt dieser Übung besteht in der Isolation des Objektes. Dabei wird der zu betrachtende Gegenstand zunächst von sämtlichen für den Betrachter des Gegenstandes negativen oder unerwünschten Vorstellungen gelöst. Οἷον δὴ τὸ φαντασίαν λαμβάνειν ἐπὶ τῶν ὄψων καὶ τῶν τοιούτων ἐδωδίμων, ὅτι νεκρὸς οὗτος ἰχθύος, […] οἷαι δὴ αὗταί εἰσιν αἱ φαντασίαι καθικνούμεναι αὐτῶν τῶν πραγμάτων καὶ διεξιοῦσαι δι’ αὐτῶν, ὥστε ὁρᾶν, οἷά τινά ποτ’ ἐστίν. οὕτω δεῖ παρ’ ὅλον
169 Vgl. dazu bspw. die folgende Äußerung: […] καὶ ὅλως πολλὰ δεῖ πρότερον μαθεῖν, ἵνα τις περὶ ἀλλοτρίας πράξεως καταληπτικῶς τι ἀποφήνηται. – „Und überhaupt muß man vieles vorher wissen, um über die Handlungsweise eines anderen ein zutreffendes Urteil abgeben zu können.“ (M. Aur. ad se ipsum 11,18,9) 170 M. Aur. ad se ipsum 4,3,3: „Es sollen aber kurze und elementare Grundsätze sein, die dir in dem Moment, wo sie dir eingefallen sind, ausreichen, jeden Schmerz aufzuheben […].“ 171 Vgl. dazu Hadot, Philosophie als Lebensform, 13 ff.; Hadot behält in diesem Zusammenhang den mitunter nicht mehr zeitgenössischen Begriff der „geistigen Übung“ bei, da andere Begriffe, wie der der „intellektuellen“ bzw. „psychischen“ Übung oder der Autosuggestion dem hier zu beschreibenden Gegenstand nicht adäquat seien. Diese Methode beschreibt vielmehr einen Prozess, durch den man allmählich lernt, die Welt ausschließlich aus der Perspektive stoischer Lehrsätze zu betrachten. Der bereits in M. Aur. ad se ipsum 1,9 verwendete Ausdruck: οἰκειωθῆναι φιλοσοφίᾳ verweist auf diesen Prozess, der, so Farquharson, „a mode of life […], not a systematic study of philosophy“ bezeichne. Vgl. Farquharson, The Meditations of the Emperor, Bd. 2, 441. 172 Vgl. Epikt. Ench. 5.
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τὸν βίον ποιεῖν καί, ὅπου λίαν ἀξιόπιστα τὰ πράγματα φαντάζεται, ἀπογυμνοῦν αὐτὰ καὶ τὴν εὐτέλειαν αὐτῶν καθορᾶν καὶ τὴν εὐοψίαν173, ἐφ’ ᾗ σεμνύνεται, περιαιρεῖν.174
Es sind jedoch nicht nur konventionelle Vorstellungen, wie Hadot behauptet175, von denen der Gegenstand getrennt wird, sondern allgemein solche Vorstellungen, die den Betrachter des jeweiligen Gegenstandes beunruhigen und die er womöglich als nachteilig oder „schädlich“ empfindet. Der Stoiker versucht also zunächst, den Gegenstand von den alten Vorstellungen, die ihm anhaften, zu isolieren, um ihn anschließend mit anderen Vorstellungen auszustatten. Dies geschieht durch die Einordnung des Gegenstandes in das System der stoischen δόγματα, in dessen Rahmen er für den Betrachter zu einem „vertrauten“ Gegenstand wird. „[…] dass er nicht mehr ‚Gegen‘stand ist, ‚über‘ den man nachdenkt […]; dass er nicht gedacht und gewusst, sondern gehabt wird.“176 Ein „äußerer Gegenstand“ wird mit dieser Methode seine negativen Eigenschaften verlieren, indem er zunächst internalisiert und somit der Verfügbarkeit des Menschen unterstellt wird. Nun ist der Mensch frei, seine δόγματα auf diesen gleichsam neutralisierten Gegenstand anzuwenden. Wie der griechische Begriff δόγμα, der auch mit dem deutschen Wort „Beschluss“ übersetzt werden kann, verdeutlicht, war die Anwendung von Lehrsätzen auf das menschliche Handeln wichtiger als der mühsame Prozess der Urteilsfindung. Die Untersuchung zum stoischen Begriff ἀδιάφορος hat ebenfalls gezeigt, dass die Macht, solche Entscheidungen durchsetzen zu können, die dem Menschen nützlich sind, einen wesentlichen Bestandteil der stoischen Oikeiosislehre bildet.177 3.2. Der zweite Topos: Außenwelt und Kosmologie Der zweite Topos versucht ebenfalls zwischen Individuum und Außenwelt entstehende Probleme zu lösen, wobei er nicht wie der erste Topos von dem Individuum und dessen Haltung gegenüber der Außenwelt ausgeht, sondern von den verschiedenen Wahrnehmungsarten der Außenwelt. Der Außenwelt entspricht nach stoischer Terminologie der Kosmos.178 173 Der Text folgt hier der Ausgabe von Trannoy, da die Ersetzung des Begriffs εὐοψίαν durch ἱστορία in diesem Zusammenhang nicht plausibel erscheint. 174 M. Aur. ad se ipsum 6,13,1–3: „Wie man sich bei Leckerbissen und anderen Speisen dieser Art vorstellen kann, daß es sich um einen Kadaver eines Fisches handelt […] wie man diese Vorstellungen gewinnt, die den Kern der Sache treffen und ihren eigentlichen Gehalt bewußt machen, so daß man sehen kann, um was es sich in Wirklichkeit handelt, so muß man es das ganze Leben lang tun, und wo einem die Dinge allzu seriös vorkommen, muß man sie entblößen, ihre Wertlosigkeit erkennen und ihr hohes Ansehen zerstören, auf dem ihre Wertschätzung beruht.“ 175 Vgl. Hadot, Philosophie als Lebensform, 88. Denn es ist zu beachten, dass auch der Inhalt der neuen Vorstellungen, mit denen der Gegenstand assoziiert wird, ein Bestandteil konventioneller Vorstellungen ist, die dem Bestand stoischer δόγματα entnommen werden. 176 Rabbow, Seelenführung, 24. 177 Vgl. dazu Kapitel III.2.2.–2.3. 178 Die Selbstbetrachtungen enthalten zwar keine systematische Darstellung der stoischen Kosmo-
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Es gibt auch für dieses Thema einen zentralen stoischen Lehrsatz, dem ebenfalls weitere Lehrsätze der Selbstbetrachtungen subsumiert werden können. Hierbei handelt es sich um die Unterscheidung zwischen dem, was in unserer Macht steht, und dem, was nicht in unserer Macht steht.179 Mit dieser Unterscheidung soll dem Menschen verdeutlicht werden, dass er nur dann zu seinem eigenen Nutzen handelt, wenn er nur nach dem strebt, was in seiner Macht liegt, da alle anderen Dinge, die nicht in seiner Macht stehen, sich seiner Kontrolle entziehen und frei sind, einen „schädlichen“ Einfluss auf ihn auszuüben. Das, was in unserer Macht liegt, ist, wie im letzten Kapitel ausgeführt wurde, allein unsere „Haltung“, die wir den Dingen gegenüber einnehmen. Die Dinge, die nicht in unserer Macht stehen, sind die sog. „äußeren Dinge“ wie Ehre, Reichtum oder Gesundheit.180 Obwohl diese „äußeren Dinge“ frei sind, einen negativen Einfluss auf den Menschen auszuüben, indem beispielsweise auf den Entzug eines politischen Amtes ein gesellschaftlicher Ehrentzug folgt, bleibt er ihnen dennoch nicht schonungslos ausgeliefert, da er imstande ist, seine „Haltung“ ihnen gegenüber zu ändern. Es gibt innerhalb der stoischen Philosophie eine Reihe von Lehrsätzen, die es ermöglichen, die Außenwelt so zu interpretieren, dass sie aus der Perspektive des Menschen als vertraute Umgebung wahrgenommen werden kann. Diese Perspektive wird im Zusammenhang des zweiten Topos auch als „kosmische Perspektive“ bezeichnet. Hierbei geht es jedoch nicht um die Außenwelt als solche, die, wie Pierre Hadot behauptet, von dem Menschen als schöne und wohlgeordnete Natur betrachtet wird, sondern um die Konstitution einer Außenwelt, die vor allem deshalb als schön und wohlgeordnet verstanden wird, weil sie dem Menschen vertraut erscheint und nicht als etwas, das mit seinen Interessen unvereinbar wäre.181 Die „kosmologischen Lehrsätze“ sind allgemein den im letzten Kapitel genannten neuen Vorstellungen zuzuordnen, mit denen ein Gegenstand ausgestattet wird, nachdem er von den alten, für den Menschen nachteiligen Vorstellungen isoliert wurde. Die Außenwelt oder das kosmische Geschehen ist nach stoischer Auffassung für den Menschen insofern vorteilhaft, als er selbst als ein Teil des Kosmos (pars mundi) interpretiert wird. Marc Aurel erinnert sich immer wieder daran, dass der Mensch in das gesamte Geschehen des Kosmos eingebunden ist und von dorther den Sinn seiner Existenz erfährt: […] πρῶτον κείσθω, ὅτι μέρος εἰμὶ τοῦ ὅλου ὑπὸ φύσεως διοικουμένου· ἔπειτα, ὅτι ἔχω πως οἰκείως πρὸς τὰ ὁμογενῆ μέρη. τούτων γὰρ μεμνημένος, καθότι μὲν μέρος εἰμί, οὐδενὶ δυσαρεστήσω τῶν ἐκ τοῦ ὅλου ἀπονεμομένων· οὐδὲν γὰρ βλαβερὸν τῷ μέρει, ὃ τῷ ὅλῳ συμφέρει.182
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logie, sie zeigen aber, dass für Marc Aurel wie für frühere Stoiker die Frage nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Kosmos eine drängende Frage war. Vgl. Michael Lapidge, Stoic Cosmology and Roman Literature. First to Third Century A.D., in: ANRW 2.36.3, 1989, 1379– 1423. Epikt. Ench. 1,1; M. Aur. ad se ipsum 6,41; Hadot, Philosophie als Lebensform, 89 ff. Epikt. Ench. 1,1. Hadot, Philosophie als Lebensform, 81 f. M. Aur. ad se ipsum 10,6,1–2: „[…] zuerst soll gelten, daß ich ein Teil des von der Natur durch-
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Auch hier geht es darum, äußeren Schaden abzuwehren und die Perspektive auf das für den Menschen Nützliche zu richten. Im Zusammenhang anderer Textpassagen fragt sich Marc Aurel, welcher Seite der Unterscheidung der Vorzug zu geben sei: der Ordnung oder dem Chaos, dem Walten der Vorsehung oder dem Walten der Atome. Dabei ist festzustellen, dass diese Entscheidung nicht über eine theoretische Erörterung herbeigeführt wird, sondern letztlich ausgehend von der Frage getroffen wird, welche der beiden Antworten für den Menschen nützlicher oder angenehmer sei. Ἤτοι κυκεὼν καὶ ἀντεμπλοκὴ καὶ σκεδασμὸς ἢ ἕνωσις καὶ τάξις καὶ πρόνοια. εἰ μὲν οὖν τὰ πρότερα, τί καὶ ἐπιθυμῶ εἰκαίῳ συγκρίματι καὶ φυρμῷ τοιούτῳ ἐνδιατρίβειν; […]. εἰ δὲ θάτερά ἐστι, σέβω καὶ εὐσταθῶ καὶ θαρρῶ τῷ διοικοῦντι.183
Marc Aurel entscheidet sich für Ordnung (τάξις) und Vorsehung (πρόνοια).184 Da nach der Vorstellung der stoischen Philosophie alles, was existiert, ein Teil des Ganzen ist, partizipiert auch der Mensch an der innerhalb des Kosmos geltenden Ordnung und Vorsehung, sodass unter der Voraussetzung dieser Vorstellung der Kosmos nicht mehr als ein „fremder“, von dem Menschen unabhängiger Gegenstand wahrgenommen wird.185 walteten Ganzen bin. Dann, daß ich eine innere Beziehung zu den verwandten Teilen habe. Denn wenn ich mich daran erinnere, werde ich, insofern ich ein Teil bin, nichts von dem, was mir aus dem Ganzen zugeteilt worden ist, ungern annehmen. Denn nichts ist dem Teil schädlich, was dem Ganzen nützt.“ 183 M. Aur. ad se ipsum 6,10: „Entweder ist es ein Gemisch, eine Verknüpfung und Wiederauflösung oder Einheit, Ordnung und Planung. Wenn nun das erste zutrifft – warum will ich da noch in einem zufälligen Gebilde und einem solchen Durcheinander verweilen? […] Wenn aber das zweite richtig ist, dann empfinde ich Ehrfurcht, genieße innere Ruhe und vertraue auf die alles lenkende Vernunft.“ Vgl. auch: 2,11,2; 7,32; 4,3,5; 9,39; 10,6,1; 11,18,2. Für das Fehlen theoretischer Rechtfertigungen vgl. 12,28; 2,11,2 f. Vgl. Robert B. Todd, The Stoics and their Cosmology in the First and Second Centuries A.D., in: ANRW 2.36.3, 1989, 1365–1378, 1375, 1372 f., 1376: „I have tried to counter the thesis that in later Stoicism an interest in practical ethics somehow precluded knowledge of, and interest in, physical theory.“ Vgl. auch Zeller, Die Philosophie der Griechen, Bd. 3.1, 787. 184 An dieser Stelle wird einerseits die Abgrenzung von Demokrit und der Einfluss des herakliteischen Weltverständnisses auf das Denken Marc Aurels sichtbar. Die Lehre des Heraklit ging davon aus, dass das Sein aller Dinge gleich ihrem Wandel ist, sodass der Tod nicht Auflösung, sondern Übergang in ein anderes Sein bedeutet. Vgl. Misch, Geschichte der Autobiographie, Bd. 1.2, 464. 185 ἡ γὰρ τῶν ὅλων φύσις ὄντων ἐστὶ φύσις, τὰ δὲ ὄντα πρὸς τὰ ὑπάρχοντα οἰκείως ἔχει. – „Denn die Natur des Weltganzen ist die Natur des Seienden, das Seiende aber ist mit dem Vorhandenen eng verwandt.“ (M. Aur. ad se ipsum 9,1,2) Auch an zahlreichen weiteren Stellen hebt Marc Aurel hervor, dass alles mit allem verbunden ist: Πάντα ἀλλήλοις ἐπιπλέκεται καὶ ἡ σύνδεσις ἱερὰ καὶ σχεδόν τι οὐδὲν ἀλλότριον ἄλλο ἄλλῳ· – „Alles ist miteinander verflochten, und die Verbindung ist etwas Heiliges, und das eine ist dem anderen kaum fremd.“ (7,9,1) καὶ ὥσπερ συντέτακται συνηρμοσμένως τὰ ὄντα, οὕτω τὰ γινόμενα οὐ διαδοχὴν ψιλήν, ἀλλὰ θαυμαστήν τινα οἰκειότητα ἐμφαίνει. – „Und wie das Seiende harmonisch zusammengefügt ist, so läßt auch das Werdende keine bloße Abfolge, sondern einen wunderbaren inneren Zusammenhang erkennen.“ (4,45) Auch hier bezeichnet das Begriffspaar ἀλλότριον – οἰκεῖος, dass alle Dinge, die an der kosmischen Ordnung partizipieren, einander „vertraut“ sind. Vgl. auch Todd, The Stoics and their Cosmology, 1373.
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Diese „kosmische Perspektive“ gibt dem Mensch das Vertrauen, dass alle Ereignisse, die ihm widerfahren, einschließlich all derjenigen, die durch die außerhalb seiner Macht stehenden Dinge ausgelöst werden, gut für ihn sind, da entsprechend dieser Vorstellung alles, was dem Ganzen nützt, auch für jeden Teil des Kosmos nützlich ist.186 Wiederum wird erkennbar, dass den stoischen Dogmen gegenüber den vorherigen, alten Vorstellungen, von denen ein Gegenstand isoliert werden muss, nur deshalb ein höherer Wahrheitswert beigemessen wird, weil sie sich für den Menschen als nützlich erweisen. Im Folgenden werden verschiedene Methoden vorgestellt, die sich aus den kosmologischen Vorstellungen ergeben und den Menschen auf die Aneignung der Außenwelt vorbereiten sollen: 1. Nach stoischer Auffassung gibt es verschiedene Dinge, wie z. B. Reichtum, Gesundheit oder Ansehen, die zu den „äußeren“ oder, wie Epiktet sagt, zu den „fremden“ Dingen gehören, weil sie nicht in der Macht des Menschen liegen.187 Der prinzipiell „schädliche“ Einfluss, den diese Dinge auf den Menschen ausüben können, soll vor allem durch zwei zentrale Vorstellungen aufgehoben werden: Erstens wird behauptet, dass der Mensch nicht nach den Dingen streben dürfe, die nicht in seiner Macht liegen oder sich der Reichweite seines Einflusses entziehen. Zweitens sei es notwendig, diesen Dingen gegenüber eine „indifferente“ Haltung einzunehmen, damit sie sich erst gar nicht zu einem Gegenstand menschlichen Strebens entwickeln können. Wie bereits gezeigt wurde, ist ein adiaphoron nicht ein per se gleichgültiger Gegenstand.188 Und auch die dem Menschen empfohlene „indifferente“ Haltung ist letztlich nicht mit dem Ziel verbunden, das Streben nach äußeren Gütern zu verhindern. Stattdessen scheint sie lediglich die prophylaktische Funktion zu übernehmen, den Menschen vor den negativen Folgen seines Strebens zu warnen. Sie versucht, die Aufmerksamkeit des Menschen darauf zu richten, dass ihm die Dinge, die nicht in seiner Macht liegen, entzogen werden können, sodass er, falls er wirklich einmal den Verlust eines dieser Dinge erleiden würde, auf diesen Fall bereits vorbereitet wäre. So wird auch das Streben nach Reichtum nicht grundsätzlich verboten. Wie Marc Aurel betont, schadet der Besitz von Reichtum nicht per se, sondern nur die innere Abhängigkeit von demselben: Σήμερον ἐξῆλθον πάσης περιστάσεως, μᾶλλον δὲ ἐξέβαλον πᾶσαν περίστασιν· ἔξω γὰρ οὐκ ἦν, ἀλλὰ ἔνδον ἐν ταῖς ὑπολήψεσιν.189 186 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 5,8; 10,7. Vgl. auch Joachim Dalfen, Marc Aurel. Werde so, wie dich die Philosophie haben will, in: Michael Erler, Andreas Graeser (Hg.), Philosophen des Altertums. Vom Hellenismus bis zur Spätantike. Eine Einführung, Darmstadt 2000, 128–144, 131 f. 187 Τῶν ὄντων τὰ μέν ἐστιν ἐφ’ ἡμῖν, τὰ δὲ οὐκ ἐφ’ ἡμῖν. ἐφ’ ἡμῖν μὲν ὑπόληψις, ὁρμή, ὄρεξις, ἔκκλισις […]· οὐκ ἐφ’ ἡμῖν δὲ τὸ σῶμα, ἡ κτῆσις, δόξαι, ἀρχαὶ […]. Oder: τὰ δὲ οὐκ ἐφ’ ἡμῖν ἀσθενῆ, δοῦλα, κωλυτά ἀλλότρια. – „Das eine steht in unserer Macht, das andere nicht. In unserer Macht stehen: die Aufnahme, das Handelnwollen, das Begehren und Ablehnen […]. Nicht in unserer Macht stehen: unser Körper, unser Besitz, unsere Ehre, unsere politische Position […].“ (Epikt. Ench. 1,1–2). Vgl. auch M. Aur. ad se ipsum 9,11.13; 5,12. 188 Vgl. dazu Kapitel III.2.2. 189 M. Aur. ad se ipsum 9,13: „Heute habe ich mich aus jedem Luxus befreit, nein, vielmehr habe
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Mit dieser Methode wird das Streben nach den Dingen, die nicht in der Macht des Menschen liegen, nicht nur nicht verboten, sondern indirekt sogar unterstützt. Dies ist eine Vermutung, die darauf zurückzuführen ist, dass ein Mensch, der auf einen Verlust vorbereitet ist, weniger enttäuscht sein und sich somit schneller wieder den Objekten seines Strebens zuwenden wird als ein auf den Verlust unvorbereiteter Mensch. 2. Eine weitere Methode, die sog. „praemeditatio malorum“, steht mit der soeben genannten Methode in einem unmittelbaren Zusammenhang. Es ist eine wichtige Funktion der Kosmologie, den Leser der Selbstbetrachtungen mit der Vergänglichkeit aller Dinge zu konfrontieren. Solche Erinnerungen an die Vergänglichkeit und die immer wiederkehrenden Todesgedanken sind jedoch nicht, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, Ausdruck einer pessimistischen Grundauffassung. Der Zweck der „praemeditatio malorum“ besteht nicht darin, die Angst des Menschen zu schüren, sondern mit der gedanklichen Antizipation des Todes zu verhindern, dass der Tod den Menschen unerwartet und unvorbereitet trifft. Auch die Furcht vor dem Tod soll auf diese Weise gemindert werden. 3. Eine andere Methode, die ebenfalls die Funktion übernimmt, dem Menschen die Furcht vor dem Tod und vor anderen bedrohlichen Ereignissen zu nehmen, wird als „Minimalisierung“ bezeichnet. Ein Ereignis wie der Tod eines einzelnen Menschen wird zunächst singulär und isoliert von anderen Ereignissen betrachtet, um es in Konfrontation mit dem kosmischen Geschehen des ewigen Wechsels von Werden und Vergehen nur noch verschwindend klein erscheinen zu lassen. Die Einordnung des Todes in einen kosmischen Zusammenhang hat über die hier beschriebene Methode der Minimalisierung hinaus auch die Funktion, dem Tod einen Sinn zu verleihen. Aus „kosmischer Perspektive“ bedeutet der Tod nicht das Ende des Lebens, sondern Verwandlung in ein anderes Sein, da der Mensch als Teil des Kosmos auch an der dort geltenden Ordnung und Vorsehung partizipiert.190 4. Schließlich sollen auch Vorstellungen über Zeit dem Menschen vermitteln, dass es für ihn nur nützlich sei, nach dem zu streben, was in seiner Macht liegt. Die bereits unter Punkt 3) genannte kosmische Schau, die dem Menschen die Probleme und Schwierigkeiten des gesamten Lebens vor Augen führt, soll ihn anhand der endlosen Fülle der Probleme erkennen lassen, dass es nur sinnvoll ist, sich auf das Gegenwärtige zu beziehen. Den Herausforderungen des Lebens könne der Mensch am ehesten gerecht werden, wenn er sich allein auf die Gegenwart konzentriere, da weder die Vergangenheit noch die Zukunft in seiner Macht stünden. Τὰ μέλλοντα μὴ ταρασσέτω· ἥξεις γὰρ ἐπ’ αὐτά, ἐὰν δεήσῃ, φέρων τὸν αὐτὸν λόγον, ᾧ νῦν πρὸς τὰ παρόντα χρᾷ.191 ich jeden Luxus von mir geworfen. Denn er war nicht außerhalb, sondern in mir, in meinen Vorstellungen.“ 190 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 2,17; 10,27. 191 M. Aur. ad se ipsum 7,8: „Die Zukunft soll dich nicht beunruhigen. Denn du wirst mit derselben Vernunft an sie herankommen, wenn es erforderlich ist, die du auch jetzt schon für die Gegenwart gebrauchst.“
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Wie bereits im Zusammenhang mit den Ausführungen über den ersten Topos zu sehen war, stellte die Gegenwart einen zentralen Bezugspunkt dar.192 Dort wurde gezeigt, dass es nicht so sehr auf die „kataleptischen Vorstellungen“, die auch die Vergangenheit als Zeithorizont benötigen, ankomme, sondern vielmehr auf die Anwendung der „richtigen“ Vorstellungen. Im Zusammenhang beider Topoi bildet nicht die philosophische Reflexion über die Probleme der Gegenwart das Ziel der Selbstbetrachtungen, sondern die Bewältigung der Gegenwart durch den Einsatz feststehender δόγματα. Mit Hilfe der kosmologischen Lehrsätze soll der Mensch sich in der Gegenwart daran erinnern, dass er ein Teil eines geordneten Ganzen ist: ἔπειτα ἀναμίμνῃσκε σεαυτόν, ὅτι οὔτε τὸ μέλλον οὔτε τὸ παρῳχηκὸς βαρεῖ σε, ἀλλ’ ἀεὶ τὸ παρόν. τοῦτο δὲ κατασμικρύνεται, ἐὰν αὐτὸ μόνον περιορίσῃς καὶ ἀπελέγχῃς τὴν διάνοιαν, εἰ πρὸς τοῦτο ψιλὸν ἀντέχειν μὴ δύναται.193 5. Wie der letzte Teil des Zitates verdeutlicht, hat die Einordnung eines Geschehens in einen kosmischen Zusammenhang auch die Funktion, die Bedeutung der Gegenwart sowie die mit ihr verbundenen Sorgen zu relativieren. Marc Aurel wird nicht müde, immer wieder seine des Lebens überdrüssigen Empfindungen kundzutun: Ὁποῖόν σοι φαίνεται τὸ λούεσθαι, ἔλαιον, ἱδρώς, ῥύπος, ὕδωρ γλοιῶδες, πάντα σικχαντά, τοιοῦτον πᾶν μέρος τοῦ βίου καὶ πᾶν ὑποκείμενον.194
Oder: Ὥσπερ προσίσταταί σοι τὰ ἐν τῷ ἀμφιθεάτρῳ καὶ τοῖς τοιούτοις χωρίοις, ὡς ἀεὶ τὰ αὐτὰ ὁρώμενα καὶ τὸ ὁμοειδὲς προσκορῆ τὴν θέαν ποιεῖ […].195
Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung die auf diese Worte folgende Empfehlung haben kann: […] τοῦτο καὶ ἐπὶ ὅλου τοῦ βίου πάσχεις·196 Einerseits haben diese Ausführungen wohl die Funktion, dass man, ähnlich wie unter Punkt 1), den Verlust eines Lebens, das man wegen seiner überhandnehmenden negativen Eigenschaften nicht mehr liebt, nicht mehr zu fürchten braucht. Andererseits soll mit der Behauptung, dass ein in der Gegenwart wahrgenommenes Ereignis sich nicht von den Ereignissen des Lebens insgesamt, weder den vergangenen noch den zukünftigen, unterscheidet, gezeigt werden, dass die zeitliche Dauer eine homogene Größe ist, insofern die Realität des gesamten Lebens in jedem Augenblick gegeben ist. καὶ οὕτως οὐ θαυμάσεις, εἰ πολὺ πλείω, μᾶλλον δὲ πάντα τὰ γινόμενα ἐν τῷ ἑνί τε καὶ σύμπαντι, ὃ δὴ κόσμον ὀνομάζομεν, 192 Vgl. S. 88. 193 M. Aur. ad se ipsum 8,36,2–3: „Dann erinnere dich, daß dich weder das Zukünftige noch das Vergangene belasten wird, sondern immer nur das Gegenwärtige. Dieses aber verliert an Bedeutung, wenn du es isoliert betrachtest und deine Seele zurechtweist, falls sie nicht in der Lage ist, dieser Kleinigkeit standzuhalten.“ Vgl. auch 12,3,4. 194 M. Aur. ad se ipsum 8,24: „Wie dir das Baden, das Öl, der Schweiß, der Schmutz, das fettige Wasser und alles sonst ekelhaft erscheint, so auch jeder Teil des Lebens und jeder Gegenstand.“ 195 M. Aur. ad se ipsum 6,46: „Wie dir alles, was sich im Amphitheater und an ähnlichen Orten abspielt, zuwider ist, da man immer dasselbe sieht, und die Eintönigkeit das Zuschauen unerträglich werden läßt, […].“ 196 M. Aur. ad se ipsum 6,46: „[…] so mußt du auch sonst im Leben empfinden.“
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ἅμα ἐνυφίσταται.197 Aus diesem Grunde ist es Marc Aurel gewissermaßen gleichgültig, wie lange ein Mensch lebt, da die zeitliche Dauer auf den Gehalt der Realität allein keinen Einfluss hat.198 Aufgrund dieser Lebensauffassung war der Mensch nach stoischer Auffassung berechtigt, selbst über die Beendigung seines Lebens entscheiden zu dürfen. Doch auch diese Vorstellungen sind letztlich nicht als Ausdruck einer pessimistischen Grundhaltung gegenüber dem Leben zu verstehen, sondern sind in gleicher Weise wie die anderen Lehrsätze mit dem Ziel verbunden, dem Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, sich selbst von fremder Einflussnahme befreien zu können. Diesen dennoch zuerst niederdrückend wirkenden Beschreibungen des Lebens treten an verschiedenen Stellen aber auch immer wieder andere Aussagen gegenüber, wie z. B. die folgende Bemerkung: Τί μέντοι δύσκολον αλλως ἔχειν ταῦτα; εἰ μὲν οὖν κατὰ φύσιν ἐστί, χαῖρε αὐτοῖς καὶ ῥᾴδια ἔσται σοι·199 3.3. Der dritte Topos: Die Anderen In der Literatur, die die stoische Philosophie als „Rückzugsphilosophie“ bezeichnet, ist vermutet worden, dass für den Stoiker nur die innere „Haltung“ und die Einstellung gegenüber einer Handlung von Bedeutung sei, nicht aber der äußere Vollzug der Handlung, der sich der Macht des Menschen bereits entzieht. Ansätze, die dieser Argumentation folgen, bezeichnen die stoische Ethik dementsprechend auch als „Gesinnungsethik“.200 Auch der zweite Topos wird für das Argument verwendet, dass der Stoizismus lediglich eine Philosophie der Innerlichkeit war, Handlungen innerhalb der Gesellschaft aber unberücksichtigt gelassen wurden. Diese Auffassung ist auch von Paul Veyne vertreten worden, der behauptet, dass der Raum zwischen Individuum und Kosmos leer bleibe.201 Die Selbstbetrachtungen, die die Philosophie mit einem Handlungspostulat verbinden, vermitteln einen anderen Eindruck: Ἀρκεῖ ἡ παροῦσα ὑπόληψις καταληπτικὴ καὶ ἡ παροῦσα πρᾶξις κοινωνικὴ καὶ ἡ παροῦσα διάθεσις εὐαρεστικὴ πρὸς πᾶν τὸ παρὰ τῆς ἐκτὸς αἰτίας συμβαῖνον.202 Die gemeinnüt197 M. Aur. ad se ipsum 6,25: „Und so wirst du dich nicht wundern, wenn viel mehr noch oder besser: alles gleichzeitig abläuft, was in dem Einem und dem Ganzen geschieht, das wir Kosmos nennen.“ 198 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 2,14; 12,23; 4,47.50. 199 M. Aur. ad se ipsum 11,16,3: „Warum bist du denn so unzufrieden mit diesen Dingen? Wenn sie naturgemäß sind, freue dich darüber und laß sie dir leicht sein.“ – „Das schönste Leben führen“, ist nach Marc Aurel von der Voraussetzung abhängig, alle Dinge als naturgemäß, d. h. als Teil des kosmologischen Zusammenhanges zu betrachten. Vgl. 11,16. 200 Zum Begriff der „Gesinnungsethik vgl. in dieser Arbeit S. 37, Anm. 87. Vgl. auch Karlhans Abel, Stoa. Kleines Wörterbuch des Hellenismus, Wiesbaden 1988, 685. 201 „Der Stoizismus ist eine Ethik, und die Soziologie gab es noch nicht; in dem Raum zwischen dem Gesetz der Natur und dem Individuum nahm er keine ‚Gesellschaft‘ wahr.“ Paul Veyne, Weisheit und Altruismus, 181. 202 M. Aur. ad se ipsum 9,6: „Es genügen das jeweils vorhandene Auffassungsvermögen, das je-
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zige Handlung wird im zwölften Buch sogar als ausschließliches Ziel des Menschen bezeichnet.203 Mit der Behauptung: Ἀδικεῖ πολλάκις ὁ μὴ ποιῶν τι, οὐ μόνον ὁ ποιῶν τι204, gibt Marc Aurel unmissverständlich zu verstehen, dass nicht nur das Motiv einer Handlung, sondern insbesondere auch die Durchführung derselben zu berücksichtigen sei. Wie eine Bemerkung Senecas zeigt, war die Herstellung von Beziehungen zu anderen Menschen ein notwendiger Bestandteil der „Selbstsorge“ oder der Erweiterung und Verwirklichung individueller Interessen: […] alteri vivas oportet, si vis tibi vivere.205 Der Sorge um das eigene Selbst stellt auch Marc Aurel immer die Sorge für den Anderen voran, mit der Begründung, dass der Einzelne durch eine gemeinnützige Handlung keinen Verlust erleide, sondern persönlichen Gewinn davontrage.206 Die unter handlungstheoretischen Aspekten relevanten stoischen Lehrsätze gehen unmittelbar auf die im letzten Kapitel dargestellte Kosmologie zurück. Während es die Aufgabe der „kosmischen Perspektive“ war, die Haltung des Menschen gegenüber der Außenwelt allgemein zu konstituieren, geht es den Lehrsätzen des dritten Topos darum, dass der Andere nicht als ‚Fremder‘, sondern als ‚Freund‘ wahrgenommen wird, der dem Menschen nicht schadet, sondern nützlich ist. Erfolgreich ist die Konstituierung einer solchen Haltung, wenn auch die anderen Menschen als ein Teil des Kosmos betrachtet werden: […] πρῶτον κείσθω, ὅτι μέρος εἰμὶ τοῦ ὅλου ὑπὸ φύσεως διοικουμένου· ἔπειτα, ὅτι ἔχω πως οἰκείως πρὸς τὰ ὁμογενῆ μέρη.207 Insofern der andere Mensch an derselben Ordnung partizipiert, muss er, negativ gesprochen, nicht mehr als „Fremder“ wahrgenommen werden.208 Positiv ausgedrückt, ist der andere Mensch in diesem Zusammenhang sogar eine Bedingung für das Wohlergehen eines jeden Einzelnen. Indem er als Teil
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weils praktizierte solidarische Handeln und die jeweilige Verfassung der Seele mit ihrer positiven Einstellung gegenüber allem, was aufgrund einer äußeren Veranlassung geschieht.“ – Es wird sogar behauptet, dass die Eigenschaften des Menschen erst durch die äußeren Handlungen verwirklicht werden. Vgl. dazu 9,16. δεύτερον τὸ μὴ ἐπ’ ἄλλο τι ἢ ἐπὶ τὸ κοινωνικὸν τέλος τὴν ἀναγωγὴν ποιεῖσθαι. – „Zweitens sich auf nichts anderes beziehen als auf das Ziel ‚Solidarität‘.“ (M. Aur. ad se ipsum 12,20,2) 9,5: „Oft tut derjenige Unrecht, der etwas nicht tut, nicht nur derjenige, der etwas tut.“ Sen. ep. 6,48,2: „[…] für einen anderen mußt du leben, wenn du für dich willst leben.“ – Dass die „Selbstsorge“ ohne Bezug zu einem anderen Menschen nicht möglich ist, wird auch von Foucault herausgestellt. Vgl. Michel Foucault, Das Wahrsprechen des Anderen, Frankfurt am Main 1998, bes. 17. Gemeinnützige Handlungen werden mit dem individuellen Nutzen unmittelbar identifiziert: Πεποίηκά τι κοινωνικῶς, οὐκοῦν ὠφέλημαι. – „Habe ich solidarisch gehandelt? Also habe ich etwas gewonnen.“ (M. Aur. ad se ipsum 11,4) Vgl. auch 7,13; 8,10. M. Aur. ad se ipsum 10,6,1: „[…] zuerst soll gelten, daß ich ein Teil des von der Natur durchwalteten Ganzen bin. Dann, daß ich eine innere Beziehung zu den verwandten Teilen habe.“ Πάντα ἀλλήλοις ἐπιπλέκεται καὶ ἡ σύνδεσις ἱερὰ καὶ σχεδόν τι οὐδὲν ἀλλότριον ἄλλο ἄλλῳ· – „Alles ist miteinander verflochten, und die Verbindung ist etwas Heiliges, und das eine ist dem anderen kaum fremd.“ (M. Aur. ad se ipsum 7,9,1) Vgl. auch 9,1,1 f.
3. Die Selbstbetrachtungen Marc Aurels
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einen Beitrag zur Erhaltung des Ganzen leistet209, wird er auch allen anderen Teilen nützlich sein, da, wie bereits hervorgehoben, alles, was dem Ganzen nützt, auch für jeden Teil nützlich ist.210 Wie die bisherigen Ausführungen zeigen, wird im Zusammenhang dieses dritten Topos die Beziehung zum Anderen also nicht direkt, sondern indirekt, durch die gemeinsame Bezugnahme auf den Kosmos hergestellt. Der Verdacht, dass ein Handlungspostulat, das auf der Grundlage der Kosmologie entwickelt wird, nicht unmittelbar an dem Selbstinteresse des Menschen anknüpfen kann, wurde bereits am Beispiel des Naturbegriffes der Stoa sowie im letzten Kapitel ausgeräumt, in dem gezeigt werden konnte, dass der Mensch nur deshalb bereit sei, sich als Teil dieses kosmischen Ganzen zu betrachten, weil es ihn in seinem Selbsterhaltungsstreben begünstigt.211 Es ist schließlich auch insofern legitim, die im Bereich der Kosmologie entwickelten Ideen auf die politische und gesellschaftliche Interaktion von Menschen anzuwenden, als es eine deutliche Identifizierung des Kosmos mit dem politischen Gemeinwesen gibt und die Begriffe gleichsam synonym verwendet werden. Der Mensch kann nach stoischem Verständnis sein Streben nach Selbsterhaltung nur maximieren, wenn er an der Gesellschaft partizipiert, nicht aber, wenn er sich aus ihr zurückzieht. Dies soll abschließend anhand der anthropologischen Bestimmung, die den Menschen als ein κοινωνικὸν ζῷον kennzeichnet, verdeutlicht werden. Wenn die „Gesellschaft“, oder wie bei Aristoteles die „Polis“, als Ziel der menschlichen Entwicklung beschrieben wird, so muss beachtet werden, dass es sich hierbei nicht um ein äußeres Ziel handelt, sondern um etwas, das bereits in der „Natur“ des Menschen angelegt zu sein scheint.212 Somit ist die „Gesellschaft“ nicht das Resultat, sondern gewissermaßen die ursächliche Wirkung menschlicher Entwicklung, da die Menschen, für die die Gesellschaft die Bedingung der Möglichkeit für die Verwirklichung ihrer individuellen Interessen ist, gleichsam „von Natur aus“ diese Gesellschaft hervorbringen werden. Aus diesem Grund misst Marc Aurel insbesondere den gemeinnützigen oder „solidarischen“ Handlungen einen hohen Wert bei, da nur sie imstande seien, aus Chaos Ordnung herzustellen, „zwischen Getrenntem Sympathie [zu] erzeugen“, Kriege durch Verträge zu beschließen und die allgemeine Bedingung für die Entstehung von Versammlungen, Familien, Freundschaftsbeziehungen und Gemeinwesen seien.213 209 210 211 212
Vgl. M. Aur. ad se ipsum 6,42,1. Vgl. M. Aur. ad se ipsum 10,6. Zum Naturbegriff der Stoa vgl. S. 63–73. Vgl. M. Aur. ad se ipsum 3,4,3; 8,12; 9,31,2. Vgl. Aristot. pol. 1253 a3. Der Terminus des Aristoteles ἄνθρωπος φύσει πολιτικὸν ζῷον wird auch von Marc Aurel (9,16; 4,24,1) aufgegriffen, der den Menschen in den meisten Fällen allerdings als ein κοινωνικὸν ζῷον bezeichnet. Auch der Begriff der „anderen“ bzw. der „zweiten Natur“ entspricht der Vorstellung, dass die Gesellschaft als Vollendung der menschlichen Natur dargestellt werden kann. Vgl. dazu Norbert Rath, Natur, zweite, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 6, 1984, 484–494, 484 f. 213 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 9,9,4 ff. In diesem Zusammenhang sei mit einem kleinen Exkurs auf Spinoza verwiesen, der im Zusammenhang seiner politischen Theorie eine direkte Verbindung zwischen dem Selbsterhaltungsstreben des Menschen und dem Prozess der Vergesellschaftung
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
Wenn gemeinnützige Handlungen im Vergleich zu gemeinschaftswidrigen Handlungen höher bewertet werden, handelt es sich auch hier in erster Linie nicht um ein Werturteil, sondern zunächst um eine rein analytische Aussage. Insofern nämlich diejenigen Menschen, die ein Teil der Gesellschaft sind, im Unterschied zu denjenigen, die sich von der Gesellschaft entfernen, höhere Aussichten haben, sich in ihrem Dasein zu erhalten, da die dort geltende Ordnung ihnen Schutz vor den Machtansprüchen der anderen Menschen gewährt und ihnen damit die notwendigen Voraussetzungen zur freien Selbstentfaltung verschafft, wird die Suche nach Vergemeinschaftung nicht mehr als Folge eines äußeren Zwanges zu beschreiben sein. Vielmehr ist sie ein Ausdruck natürlichen menschlichen Strebens, da derjenige, der sich gemeinschaftswidrig verhält, sich letztlich selbst schadet. Insofern wird der Fall, dass sich „ein Mensch von jedem anderen Menschen völlig absondert“, als sehr unwahrscheinlich erachtet.214 Auf der Grundlage dieser Ausführungen können auch die Selbstbetrachtungen der Oikeiosis-Lehre zugeordnet werden, insofern jeder der drei genannten Topoi an dem Selbstinteresse des Menschen anknüpft, um ihn in der Gesellschaft handlungsfähig zu machen. 3.4. Formale Analyse der Selbstbetrachtungen Eine Analyse des formalen Aufbaues zeigt ebenfalls, dass die Selbstbetrachtungen eher dem Bereich der Lebenskunst und der Praxis angehören als der Philosophie im engeren Sinne. Merkmale, die man von philosophisch argumentierenden Texten nicht erwartet, sind die aphorismenhafte Kürze, der fehlende Zusammenhang zwischen den einzelnen Paragraphen, die ohne einen erkennbaren logischen Aufbau aneinandergereihten Sätze innerhalb der Paragraphen und die dem Leser ohne jede Begründung dargebotenen Aussagen, Mahnungen und Imperative. Joachim Dalfen hat in seiner „Formgeschichtlichen Untersuchung der Selbstbetrachtungen“215 dargelegt, dass herstellt: „Die Gesellschaft ist überaus nützlich und höchst notwendig, nicht nur um vor den Feinden in Sicherheit zu leben, sondern auch um bei vielen Dingen eine Ersparnis zu erzielen. Denn wollten die Menschen sich nicht gegenseitig Hilfe leisten, so würde es ihnen an Geschick und Zeit fehlen, sich nach Möglichkeit zu erhalten und zu ernähren. Denn nicht jeder ist in gleicher Weise zu allem befähigt, und der einzelne wäre nicht imstande, sich das zu beschaffen, was er am notwendigsten braucht.“ Vgl. Baruch de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, übers. v. Carl Gebhardt, neu bearb., eingel. u. hg. von Günter Gawlick, Hamburg 1994, 84. 214 θᾶσσον γοῦν εὕροι τις ἂν γεῶδές τι μηδενὸς γεώδους προσαπτόμενον ἤπερ ἄνθρωπον ἀνθρώπου ἀπεσχισμένον. – „Man dürfte eher etwas Erdiges finden, das mit dem Nicht-Erdigen Verbindung hat, als einen Menschen, der sich von jedem anderen Menschen völlig abgesondert hat.“ (M. Aur. ad se ipsum 9,9,12) Vgl. 8,34. Auch in diesem Zusammenhang wird das zwischen den Teilen des Kosmos bestehende Verhältnis als „vertraut“ bezeichnet, während derjenige, der sich von der Gesellschaft distanziert, als ein „Fremder“ bezeichnet wird. Vgl. 4,29; 9,9,5; 10,6,5. 215 Joachim Dalfen, Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, Diss. München 1967.
3. Die Selbstbetrachtungen Marc Aurels
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trotz der kritikreichen Worte, die in der Literatur über den formalen Aufbau der Selbstbetrachtungen geäußert wurden, diese durchaus einem literarischen Genre zuzuordnen seien. Sowohl inhaltlich als auch formal entsprächen die Selbstbetrachtungen der literarischen Form der Paränese216 und der Diatribe217. Die Konsolationsliteratur, deren Topoi ebenfalls einen festen Bestandteil der Selbstbetrachtungen bilden, soll in diesem Zusammenhang nicht eigens behandelt werden, da sie als literarische Form zur Diatribe gehört.218 Weder die Paränese noch die Diatribe ist letztlich für systematisch-philosophische Erörterungen geeignet. In den vorherigen Kapiteln konnte gezeigt werden, dass die für die einzelnen Topoi relevanten Lehrsätze die Funktion übernommen haben, für die Bewältigung bestimmter Lebenssituationen einsetzbar zu sein. Auch die Paränese und die Diatribe, die Dalfen beide der popularphilosophischen oder psychagogischen Literatur zuordnet, erfüllen diese Funktion, insofern ihre Aufgabe vornehmlich darin besteht, dem Leser die einzelnen Lehrsätze in einer Form zu präsentieren, die es ihm erlaubt, sich sogleich an sie zu erinnern und griffbereit zu haben, um in der Gegenwart handeln zu können.219 Ein sehr effizientes Stilmittel ist die adhortatio, die vor allem ein Bestandteil der paränetischen Literatur ist. Solche Mahnungen werden generell in der Form sehr kurzer, prägnanter Lehrsätze vorgetragen, die asyndetisch ohne logischen Zusammenhang aufeinander folgen. Sie werden aber auch dazu verwendet, die drei Topoi innerhalb eines Paragraphen kurz zusammenzufassen, um sie dem Leser unmittelbar zu vergegenwärtigen: φίλησον τὸ ἀνθρώπινον γένος. (3. Topos) ἀκολούθησον θεῷ. (2. Topos) […] ἀρκεῖ δὲ μεμνῆσθαι, ὅτι τὰ πάντα νομιστὶ ἔχει· (1. Topos).220 Oder: ἀγώνισαι, ἵνα τοιοῦτος συμμείνῃς, οἷόν σε ἠθέλησε ποιῆσαι φιλοσοφία. αἰδοῦ θεούς, σῷζε ἀνθρώπους. βραχὺς ὁ βίος·221 Es sind vor allem Imperative222, Asyndeta223 und Gnome224, die den entsprechenden δόγματα eine möglichst prägnante Ausdrucksform geben sollen. Ein weiteres Stilmittel, die Auslassung des Verbums, dient ebenfalls dazu, der Mahnung einen nachhaltigen Eindruck zu verleihen: Ὀρθός, μὴ ὀρθούμενος.225 216 Zur Form der Paränese bei Marc Aurel vgl. M. Aur. ad se ipsum 3,5; 6,30; 7,29–31,3; 2,5; 8,51,1; 9,7; 4,26. Vgl. auch Dalfen, Formgeschichtliche Untersuchungen, 40 ff. 217 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 5,28; 12,36; Dalfen, Formgeschichtliche Untersuchungen, 74 ff. 218 Ebd. 161 ff., 220. 219 Vgl. auch Misch, Geschichte der Autobiographie, Bd. 1.2, 449 ff., 451. 220 M. Aur. ad se ipsum 7,31,2–4: „Liebe das menschliche Geschlecht. Folge Gott. […] Es genügt, sich daran zu erinnern, daß alles nur unserer Meinung nach so ist, wie es ist.“ 221 M. Aur. ad se ipsum 6,30,3–4: „Kämpfe darum, daß du so bleibst, wie dich die Philosophie haben wollte. Achte die Götter, rette die Menschen. Das Leben ist kurz.“ 222 In 6,30 folgen sechs Mahnungen aufeinander. In 7,29–31 stehen elf Imperative und zwei imperativische Infinitive unverbunden aneinandergereiht. 223 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 7,29–30; 6,30 ff. 224 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 6,30,4: βραχὺς ὁ βίος· – „Das Leben ist kurz.“ Vgl. auch: 4,26,5; 7,29,6. 225 M. Aur. ad se ipsum 7,12: „Aufrecht, nicht aufgerichtet.“ Vgl. auch: 4,50,4; 9,37,1; 9,28,3; 12,20,1.
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
Im Gegensatz zu: ὀρθὸν οὖν εἶναι χρή, οὐχὶ ὀρθούμενον.226 Diese auf eine pointierte Formel reduzierte adhortatio hat die Funktion, einer Aussage eine autoritative Wirkung zu verleihen, um vom Rezipienten entsprechend schnell aufgenommen werden zu können. Schließlich ist der von Marc Aurel sehr häufig verwendete imperativische Infinitiv zu nennen, der eine ähnlich mahnende Funktion hat wie die Auslassung des Verbums. Dieses Stilmittel wird gleich zu Beginn des zweiten Kapitels verwendet: Ἕωθεν προλέγειν ἑαυτῷ·227 Im Unterschied zur Paränese stünden die in der Form der Diatribe vorgetragenen Mahnungen, so Dalfen, in einem argumentativen Zusammenhang.228 Ein solcher argumentativer Zusammenhang darf jedoch nicht mit der Form oder Funktion eines philosophischen Argumentes verwechselt werden, da die Diatribe ebenso wie die Paränese nicht auf den Intellekt, sondern auf den Willen und das Handeln einzuwirken versucht. Der ausführlichere Zusammenhang, in dem die Mahnungen vorgetragen werden, ist auf den Ursprung der Diatribe zurückzuführen, die aus dem sokratischen Dialog hervorgegangen ist. Obwohl sich die Diatribe zum Vortrag eines Einzelnen entwickelt hat, behält sie als besonderes Stilmittel die Rolle des fiktiven Gesprächspartners bei, der durch Fragen, Antworten oder Einwände der Mahnung besonderen Nachdruck verleihen und die Wirkung auf den Hörer verstärken soll. Diese Wirkung wird z. B. durch emphatisch-beschwörende Fragen wie das τί ποιεῖς, ἄνθρωπε;229 erreicht. Auch mit der Diatribe wird versucht, den Lehrsätzen der drei genannten Topoi besondere Wirkung zu verleihen. Für diesen Zweck werden ebenso wie bei der Paränese einerseits auch Imperative eingesetzt, vor allem aber Vergleiche, Beispiele und Zitate, die zu einem festen Bestandteil der Diatribe gehören. Die Funktion die226 M. Aur. ad se ipsum 3,5,4: „Du mußt aufrecht stehen, nicht erst aufgerichtet werden.“ 227 M. Aur. ad se ipsum 2,1,1; Dalfen zählt insgesamt neunzig weitere imperativische Infinitive. Vgl. dazu Dalfen, Formgeschichtliche Untersuchungen, 65 ff. 228 Ἄνθρωπε, ἐπολιτεύσω ἐν τῇ μεγάλῃ ταύτῃ πόλει· τί σοι διαφέρει, εἰ πέντε ἔτεσιν ‹ἢ ἑκατόν›; τὸ γὰρ κατὰ τοὺς νόμους ἴσον ἑκάστῳ. τί οὖν δεινόν, εἰ τῆς πόλεως ἀποπέμπει σε οὐ τύραννος οὐδὲ δικαστὴς ἄδικος, ἀλλ’ ἡ φύσις ἡ εἰσαγαγοῦσα; οἷον εἰ κωμῳδὸν ἀπολύοι τῆς σκηνῆς ὁ παραλαβῶν στρατηγός. ‘ἀλλ’ οὐκ εἶπον τὰ πέντε μέρη, ἀλλὰ τὰ τρία.’ καλῶς εἶπας· ἐν μέντοι τῷ βίῳ τὰ τρία ὅλον τὸ δρᾶμά ἐστι. τὸ γὰρ τέλειον ἐκεῖνος ὁρίζει ὁ τότε μὲν τῆς συγκρίσεως, νῦν δὲ τῆς διαλύσεως αἴτιος· σὺ δὲ ἀναίτιος ἀμφοτέρων. ἄπιθι οὖν ἵλεως· καὶ γὰρ ὁ ἀπολύων ἵλεως. – „Mensch, du hast dich in dieser großen Stadt politisch betätigt. Was macht es dir schon aus, ob es fünf oder hundert Jahre waren? Denn jedes Jahr, das man in Übereinstimmung mit den Gesetzen verbringt, ist jedem anderen gleich. Was ist nun schlimm daran, wenn dich kein Tyrann oder ungerechter Richter aus der Stadt weist, sondern die Natur, die dich ja auch hineingeführt hat? Als ob der Beamte einen Schauspieler, den er ursprünglich eingestellt hatte, aus dem Theater entließe. ‚Aber ich habe noch keine fünf Akte gespielt, sondern erst drei.‘ Du hast recht. Doch im Leben sind die drei Akte schon das ganze Drama. Denn das Ende bestimmt jener, der damals für die Verbindung (deiner Bestandteile) und jetzt für die Auflösung verantwortlich ist. Geh jetzt mit heiterem Herzen. Denn auch er, der dich entläßt, ist heiter und freundlich.“ (M. Aur. ad se ipsum 12,36) Vgl. Dalfen, Formgeschichtliche Untersuchungen, 36, 82 ff. 229 M. Aur. ad se ipsum 11,15,2: „Was tust du, Mensch?“ Vgl. auch 12,36,1. Vgl. auch die in der Diatribe verwendete 2. Person: Τῷ γράσωνι μήτι ὀργίζῃ; (5,28)
3. Die Selbstbetrachtungen Marc Aurels
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ser Stilmittel und deren Anwendung auf die unterschiedlichen Topoi soll im Folgenden kurz zusammengefasst werden. Vergleiche: Der erste Topos: In diesem Zusammenhang wird der menschliche Geist bspw. mit der Stille des Meeres verglichen, um seine Autarkie gegenüber den äußeren Dingen zu demonstrieren.230 Mit dem Beispiel des Feuers, das sich alles „zu eigen“ macht und „gerade dadurch höher emporsteigt“, wird an einen Grundgedanken der Oikeiosis, die Anverwandlung der Außenwelt, erinnert.231 Mit diesem Bild scheinen sich vor allem imperialistische Bedürfnisse zu verbinden, die nicht darauf ausgerichtet sind, sich die Außenwelt freundlich anzueignen, sondern sie zu unterwerfen. Der zweite Topos: Um den Menschen daran zu erinnern, dass nur ein in „Übereinstimmung mit der Natur“ geführtes Leben glücklich sein kann, wird das Leben außerhalb dieser kosmischen Ordnungsvorstellung als „Krieg und kurzer Aufenthalt eines Fremden“ beschrieben.232 Der dritte Topos: Es ist ein beliebtes Motiv, die Beziehung des Menschen zu seinen Mitmenschen durch einen Baum oder einen Weinstock zu symbolisieren, der seine Früchte zu keinem anderen Zweck außer dem seiner eigenen Natur folgend hervorbringt. Dieser Vergleich will ebenfalls daran erinnern, dass nur diejenigen Handlungen als „gut“ zu bezeichnen sind, die „naturgemäß“ nach den Gesetzen des Kosmos vollzogen werden.233 Schließlich wird das Handlungspostulat der Philosophie mit Vergleichen aus der Medizin verdeutlicht. Musonius, der die Philosophie als Seelenheilkunde bezeichnete, gab den Rat, dass man ebenso wie in der Medizin, die dem Kranken nicht viel, sondern nützliche Arznei verabreicht, auch in der Philosophie darauf achten solle, dass man dem Hörer nicht viele, sondern wirksame und wenige Lehrsätze mitteilt.234 Beispiele: Mit der Verwendung von Beispielen wird ebenfalls das Ziel verbunden, die innere „Haltung“ des Individuums zu stabilisieren.235 Für diesen Zweck werden Exempla besonders vorbildlicher oder abschreckender Charaktere verwendet. Die Beobachtung falschen Verhaltens anderer Menschen bezeichnet Marc Aurel als besonders lehrreich, da es möglich sei, an ihrem Beispiel die zum Handeln notwendige „richtige“ Einstellung einzuüben.236 Bei Seneca, Musonius, Epiktet und Marc Aurel sei die Verwendung bestimmter Dreiergruppen typisch, die nicht zuletzt Aufschluss 230 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 12,22. 231 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 4,1. Auch der Magen, der sich alles einverleibt (ἐξοικειώσῃς: 10,31,6), ist ein Bild, das auf den Prozess der Oikeiosis verweist. 232 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 2,17,2; 12,1,5. 233 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 5,6. 234 Muson. diatr. 1,4–9. Vgl. M. Aur. ad se ipsum 5,9,1 f.; 10,35. Vgl. dazu auch Cic. Tusc. 3,6. Vgl. dazu auch Kapitel III.1. 235 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 11,26. 236 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 7,58.
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
über die Interessen des jeweiligen Verfassers geben. So hebt Marc Aurel Personengruppen, die aus verschiedenen Philosophen bestehen, besonders hervor wie z. B. Heraklit, Demokrit, Sokrates, während er die Personen Alexander, Gaius und Pompeius als Kontrastfiguren einsetzt, die im Gegensatz zu den Philosophen als unwissende und unfreie Menschen gelten.237 Zahlreiche Beispiele haben bei Marc Aurel die Funktion, die „Haltung“ gegenüber dem Tod zu stabilisieren. An verschiedenen Stellen lässt er insbesondere Kaiser, die vor ihm den Thron bekleidet haben, mit ihrem „ganzen Hof“ vor seinem inneren Auge vorüberziehen, um an ihrem Beispiel die Vergänglichkeit alles Menschlichen zu demonstrieren, einschließlich die der eigenen Person.238 Abschließend soll darauf hingewiesen werden, dass der Begriff des οἰκεῖον παράδειγμα auf die Beispiele insgesamt angewendet werden kann. Die so bezeichneten Beispiele sind nicht nur, wie Dalfen behauptet, auf Beispiele einzuschränken, die dem Kreis der Familie entnommen werden,239 sondern können als Funktionsbezeichnung vielmehr auf all jene Beispiele angewendet werden, die auf den Prozess der Oikeiosis gerichtet sind und in diesem Zusammenhang eine Aneignung der Außenwelt dadurch erreichen, dass sie eine Zuordnung zu und eine Abgrenzung von bestimmten Personen und Sachverhalten unterstützen. Zitate: Homer, Euripides und Platon, die als Klassiker der Diatribe gelten, bilden die Quelle der meisten Zitate.240 Das Zitat übernimmt als Bestandteil der psychagogischen Literatur die Funktion, das Handeln an ständig memorierten Leitworten ausrichten zu können. So wird die eigene Position oder Lehre nicht nur positiv durch ein sogenanntes „autoritatives Zitat“ gestützt, das sich auf die Worte anerkannter Autoritäten bezieht, sondern wird auch durch das Zitat falscher Meinungen stabilisiert, das durch den Kontrast die Richtigkeit der eigenen Meinung umso klarer herausstreichen soll, vergleichbar den Einwänden des fiktiven Gesprächspartners, die ebenfalls die Funktion haben, die richtige Meinung durch Widerlegung hervorzuheben. Sowohl die inhaltliche als auch die formale Analyse haben ergeben, dass die Relationen zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“ und die daraus resultierende Frage, wie sich das Individuum gegenüber seiner Außenwelt verhalten soll, einen zentralen Bestandteil der Selbstbetrachtungen bilden. Somit erscheint die Zuordnung zur stoischen Lehre der Oikeiosis als durchaus gerechtfertigt, wodurch den 237 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 8,3. Vgl. auch: 3,3,4 f.; 6,47,3. 238 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 4,32.33; 8,5.25.31.37; 10,27. 239 Diese Lesart ist natürlich abhängig von der Übersetzung des οἰκεῖον. Dieses ist nicht nur auf den engen Familienkreis zu beziehen, sondern allgemein auf all jene Dinge, die dem Menschen nicht fremd, sondern vertraut sind. 240 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 7,32–51 und 11,22–39. Dies sind zwei größere Passagen, die sich aus einer Reihe kurzer Exzerpte insbesondere aus Euripides, Platon und Epiktet zusammensetzen. Einen Überblick nicht nur über die Philosophen, sondern auch über die Dichter, die das Denken Marc Aurels konstituiert haben, gibt Guido Cortassa, Il filosofo, i libri, la memoria. Poeti e filosofi nei pensieri di Marco Aurelio, Turin 1989.
3. Die Selbstbetrachtungen Marc Aurels
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auf den ersten Blick als unzusammenhängende Fragmente sich darbietenden Selbstbetrachtungen erstmals eine erkennbare Struktur verliehen werden kann. 3.5. Vita activa241 Die Selbstbetrachtungen wurden, insofern sie auf eine theoretische Rechtfertigung ihrer Lehrsätze verzichten, dem Bereich einer Philosophie als Lebenskunst zugeordnet. Auch aufgrund ihres unmittelbaren Praxisbezuges sind sie nicht, wie zunächst zu erwarten wäre, dem philosophischen Teilgebiet der Ethik zuzuordnen, da diese als ein Bestandteil der praktischen Philosophie ebenso eine theoretische Begründung ihrer Inhalte verlangt wie die theoretische Philosophie. Die zur Bewältigung konkreter Lebenssituationen einzusetzenden Selbstbetrachtungen sind somit dem Bereich der vita activa und nicht einem ausschließlich der Kontemplation gewidmeten Leben zuzuordnen. Unterstützt wird diese Beobachtung dadurch, dass sich auch der Autor der Selbstbetrachtungen als ein handelndes und nicht als ein der philosophischen Kontemplation zugeneigtes Subjekt beschreibt. Vielmehr ist der Autor selbst der Gegenstand der Selbstbetrachtungen, der Empfänger der dort formulierten Mahnungen. Während allgemein die Auffassung vertreten wird, dass Marc Aurel nicht für ein Publikum geschrieben habe, gibt es hinsichtlich der Frage, ob die Selbstbetrachtungen an den Autor selbst adressiert sind, divergierende Ansichten.242 Es sei hier auf zwei Argumente verwiesen, mit denen Joachim Dalfen insbesondere in seinen früheren Schriften eine unmittelbare Beziehung zwischen Autor und Text zu widerlegen versuchte.243 1. Wie Joachim Dalfen anhand eines literarhistorischen Vergleichs herausstellt, seien die Selbstbetrachtungen nicht mit jenen Schriften vergleichbar, die eindeutig als „Selbstgespräch“ zu bezeichnen sind, wie beispielsweise die spätantiken confessiones des Augustinus. Während die confessiones ein Gespräch mit dem inneren Selbst darstellten, erfüllten die Selbstbetrachtungen nicht den Anspruch eines „Selbstgespräches“, da in ihnen immer nur über dieses Selbst gesprochen werde.
241 Zum Begriff der vita activa vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1967, 22 f. Hier ist zu beachten, dass es das Ziel Hannah Arendts war, die strenge Hierarchisierung zwischen der vita activa und der vita contemplativa aufzuheben. 242 Brunt, Marcus Aurelius, 1 ff. legt ausführlich dar, dass die Selbstbetrachtungen, die als „spiritual diary“ und nicht als „philosophical treatise“ zu bezeichnen sind, nicht für ein Publikum gedacht waren. „Ein zentrales Merkmal“ der Selbstbetrachtungen, so Wolfgang Weinkauf (Hg.), Die Stoa, Augsburg 1994, 39, sei der „Appell an die eigene Person“. 243 Dalfen, Formgeschichtliche Untersuchungen, 204 ff., bes. 206, 217 ff. In einem späteren Aufsatz: Autobiographie und Biographie. Der Fall Marc Aurel, in: GB 23, 2000, 187–211, in dem sich Dalfen explizit von den hier vorgetragenen Argumenten distanziert, entsprechen seine Ausführungen eher der im Rahmen dieser Arbeit vorgeschlagenen Interpretation der Selbstbetrachtungen. Hier sind jedoch zunächst seine früheren Argumente zu beachten, da sie ein Beispiel für die Position sind, mit der begründet werden soll, dass die Selbstbetrachtungen keinen unmittelbaren Bezug zum Autor gehabt hätten.
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
2. Darüber hinaus hebt Dalfen hervor, dass sich ein Text nur dann auf den Autor selbst beziehen könne, wenn dieser die eigenen Gedanken des Autors enthalte. Ein solcher Zusammenhang zwischen Autor und Text liegt im Fall der Selbstbetrachtungen nicht vor, da diese nicht die Gedanken Marc Aurels, sondern vielmehr die seiner Lehrer und anderer Personen enthalten. Unter diesem Aspekt seien die Selbstbetrachtungen mit den Diatriben des Musonius, des Teles und des Epiktet vergleichbar, die ebenfalls nicht das Produkt ihrer Autoren seien, sondern von deren Schülern überliefert wurden. Marc Aurel sei somit in die Reihe des Theodoros (Schüler des Teles), Lucius (Schüler des Musonius) und Arrian (Schüler des Epiktet) einzuordnen, nicht aber in die Reihe: Teles – Musonius – Epiktet. Dalfen zufolge geben die Selbstbetrachtungen also keine Auskunft über die genuinen Gedanken Marc Aurels, sondern bloß über seine Achtung gegenüber der Philosophie und seine Entschlossenheit, sein Handeln an den Worten seiner Lehrer auszurichten, an die er sich im ersten Buch mit dankbaren Worten erinnert, und deren Lehrinhalte er in den übrigen elf Büchern in der Form prägnanter Lehrsätze zusammenfasst. Um die Annahme begründen zu können, dass sich der Text in der Form eines „Selbstgespräches“ auf den Autor selbst bezieht, ist es notwendig, der Interpretation der Selbstbetrachtungen einen anderen Begriff der Subjektivität zugrunde zu legen, als den, den Dalfen verwendet. Dass der Inhalt der Selbstbetrachtungen nicht originär ist, sondern die Gedanken der Lehrer Marc Aurels sowie vieler anderer Personen enthält, wird von niemandem bezweifelt.244 Wie bereits erwähnt, wird von Dalfen nicht akzeptiert, dass die Gedanken, die von anderen Personen stammen, einen direkten Bezug zur Subjektivität Marc Aurels haben könnten, da dieser ja nur die Aufgabe übernommen habe, jene Gedanken schriftlich zu fixieren. Dieser Auffassung liegt ein Subjektivitätsbegriff zugrunde, der das Subjekt philosophisch als Substanz beschreibt und nur die Dinge als Produkt einer subjektiven Leistung akzeptiert, die ausschließlich vom Subjekt selbst, nicht aber durch fremde Einflussnahme erzeugt werden. Im Unterschied zu dieser Vorstellung gibt es eine Definition des Subjektivitätsbegriffes, die für die Interpretation der Selbstbetrachtungen angemessener zu sein scheint. Sie geht von der Prämisse aus, dass sich das Subjekt als eine Projektionsfläche fremder Gedanken darstellt, sodass es nicht nur durch die Entwicklung eigener Gedanken, sondern insbesondere durch die Aufnahme fremder Gedanken konstituiert wird.245 Wenn es sogenannte fremde Gedanken sind, die das Subjekt und 244 Vgl. z. B. Misch, Geschichte der Autobiogaphie, 457 f.; Dalfen, Formgeschichtliche Untersuchungen, 239. 245 Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 2. aktual. und erw. Aufl., Stuttgart 2005 verdeutlicht am Beispiel des „persona“-Begriffes, „in welchem Maße die Darstellung einer Person in der Antike topischen Vorgaben folgte. […] >Persona< beschreibt in erster Linie die Funktion, die ein Mensch innehat, die Rolle, die er im Leben spielt, als den >Wesenskern< des Menschen, ist also viel eher, ebenfalls topisch gesprochen, >außen< als >innen< bestimmt.“ – In vergleichender Perspektive sei ein Aufsatz von Aleida Assmann zu zitieren, in dem auf ein besonders eindrückliches Beispiel hingewiesen wird, den mittelalterlichen höfischen Spiegel, in dem „nicht der, der hineinschaut, sondern das Vorbild, dem es nachzueifern gilt“, erscheint. „Es ist also kein reflektierender, die Besonderheit zeigender, sondern ein formativer, etwas Allgemeines zeigender Spiegel. Dem Bild, das er zeigt, gilt es, ähnlich zu werden. Individuelle Beson-
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dessen eigenes Denken konstituieren, kann in Hinblick auf die Selbstbetrachtungen, die zum größten Teil aus fremden Gedanken bestehen, entgegen der These von Joachim Dalfen, ein unmittelbarer Bezug zwischen Autor und Text bestätigt werden. Dies entspricht der von den Stoikern ohne allen Zweifel vertretenen Vorstellung, dass der Mensch sein eigenes „Selbst“ zum Gegenstand machen und aus eigener Kraft heraus selbst erziehen und entwickeln kann, indem er jene fremden Gedanken auf sich selbst projiziert.246 Unter der Voraussetzung dieses Subjektivitätsbegriffes ist auch die von Dalfen herausgestellte Tatsache, dass die Selbstbetrachtungen vornehmlich Sätze enthalten, die über das Subjekt geäußert werden, nicht eine Widerlegung, sondern eher eine Bestätigung für das Vorhandensein eines unmittelbaren Bezuges zwischen Autor und Text.247 Obwohl die innerhalb der Selbstbetrachtungen zusammengetragenen Lehrsätze nicht das Ergebnis subjektiver Reflexionsprozesse sind, sondern die übernommenen Gedanken seiner Lehrer darstellen, werden diese fremden Gedanken, insofern sie die Subjektivität Marc Aurels konstituieren, zu seinen eigenen.248 Dieser Subjektivitätsbegriff hat eine deutlich erkennbare Nähe zu den Inhalten der Oikeiosis, deren Ziel ebenfalls in der Aneignung fremder Gedanken besteht. Bei den sog. Anverwandlungsstrategien ging es vor allem darum, bestimmte Vorstellungen über die Welt durch stoische Lehrsätze zu ersetzen, deren Wahrheitsgehalt man bereits durch die Tradition gerechtfertigt sah. derung stellt in vielen Kulturen keinen Wert dar; vielmehr ist der Einzelne in einer Kultur der Vorahmung und Anähnelung dazu angehalten, die gesellschaftlich vorgeschriebenen Muster möglichst vollkommen zu verkörpern.“ Aleida Assmann, Zum Problem der Identität aus kulturwissenschaftlicher Sicht, in: Leviathan 21, 1993, 238–253, 240 f. 246 Vgl. Pohlenz, Die Stoa, 298, 318, 334; Paul Wendland, Die hellenistisch-römische Kultur in ihren Beziehungen zu Judentum und Christentum. Die urchristlichen Literaturformen, 3. Aufl., Tübingen 1912, 48; Wendland beschreibt dies als „methodische Selbsterziehung“, in der sich der ganz auf sich gestellte Mensch der Stoa beständig üben müsse. Vgl. auch Cic. Tusc. 3,6: „Damit sie (sc. die Philosophie) hilft, muß man … mit allen Mitteln und Kräften darauf hinarbeiten, daß wir uns selbst heilen können.“ Vgl. auch M. Aur. ad se ipsum 1,17,6: Dort sagt Marc Aurel, er sei insbesondere dafür dankbar, dass er gelernt habe, darauf zu achten, stets an sich selbst zu arbeiten (ἐπιμέλειαν ἐμαυτοῦ). Der Titel Τὰ εἰς ἑαυτόν sowie die weiteren zahlreich verwendeten reflexiven Personalpronomina, die die Beachtung der „Selbstsorge“ in den Vordergrund stellen, sprechen ebenfalls für eine selbstreferentielle Bedeutung der Selbstbetrachtungen. 247 Vgl. dazu die späteren Ausführungen von Dalfen, Autobiographie, 191, Anm. 15 sowie 193. Dort zeigt Dalfen mit einem Hinweis auf die Oikeiosis-Lehre, dass die Selbstbetrachtungen, deren Ziel die „Konzeption und Konstitution des Subjekts“ gewesen sei, durchaus einen unmittelbaren Bezug zum Autor gehabt hätten, da Marc Aurel, der „innere Adressat“ der Selbstbetrachtungen, zugleich als Autor und Leser seiner Ausführungen zu betrachten sei. 248 Nach stoischer Auffassung liegt die Wahrheit „nicht in uns selbst, sondern in den logoi, den Lehren der Lehrer“. Foucault, Technologien des Selbst, 46. Vgl. ebd. 42 ff. Hier zeigt Foucault, dass es in der Stoa im Unterschied zur griechisch-hellenistischen Philosophie und zum Christentum nicht um die Entzifferung des Subjekts gehe, da die Wahrheit, oder wie im Christentum die Sünde, nicht als Faktoren betrachtet würden, die innerhalb des Subjekts zu suchen seien. Vgl. auch Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts, in: Helmut Becker u. a. (Hg.), Freiheit und Selbstsorge, Frankfurt am Main 1985, 29–60.
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
Erkennbar ist, dass es sich bei dieser Methode nicht um einen erkenntnistheoretischen Prozess handelte, der sich primär analytisch mit der Außenwelt auseinandersetzt, sondern eher um einen Selektionsprozess, der auf die Aneignung stoischer Lehrsätze und die Vermeidung von Vorstellungen ausgerichtet ist, aus denen dem Menschen möglicherweise ein Nachteil entsteht.249 Somit wird das Subjekt nicht als ein philosophisch-kontemplatives, sondern als ein aktives Vermögen angesprochen,250 das nicht die Aufgabe hat, die stoischen Lehrsätze in Frage zu stellen oder neu zu beweisen, sondern diese in Erinnerung zu rufen und in Handlungen umzusetzen. Dies soll abschließend am Beispiel bestimmter Techniken demonstriert werden, die im Zusammenhang mit dieser Lebenskunst Verwendung fanden. Um eine schnelle und effektive Umsetzung der stoischen Lehrsätze in die Praxis zu gewährleisten, versuchte man einerseits, sich diese Grundsätze durch leise oder laute Selbstgespräche zu verinnerlichen, um sie stets „griffbereit“ zu haben.251 Diese als Mnemotechnik bezeichnete Methode bezieht sich jedoch nicht nur auf die mündliche Praxis. Auch das Notieren dieser Lehrsätze bzw. der Prozess des „Schreibens“ selbst hatte die Aufgabe, jene Lehrsätze vor dem Vergessen zu bewahren.252 Das Schreiben, so Hadot, habe zunächst die Funktion übernommen, den von einer permanenten Auflösung bedrohten inneren Dialog zu schützen: „Il s’agit de réactualiser, de rallumer, de reveiller sans cesse un état intérieur qui risque sans cesse de s’assoupir et de s’éteindre.“253 Die zahlreichen, teils wörtlichen Wiederholungen in den Selbstbetrachtungen sind als ein Bestandteil dieser Praxis zu sehen.254 Da die verschriftlichten Dogmen nicht dazu bestimmt waren, wiedergelesen zu werden, wurden sie stattdessen ebenso wie bei der mündlichen Praxis oft wiederholt aufgeschrieben, um sie auf diese Weise dem Bewusstsein einzuprägen. Auch die Empfehlung Epiktets, dass es notwendig sei, jeden Tag zu schreiben255, ist eine Aussage, die der hier beschriebenen Mnemotechnik zuzuordnen ist. 249 Dass es sich bei den Selbstbetrachtungen um eine Methode handelt, wird ebenfalls von Siegfried Jäkel, Das politische und gesellschaftliche Weltbild im Denken Marc Aurels, in: Eos 80, 1992, 245–263, 246 f. bestätigt, der den hier beschriebenen Prozess (in Abgrenzung von einem in der modernen philosophischen Terminologie negativ konnotierten Begriff des Eklektizismus) als „kreative Spielart einer eklektischen Verfahrensweise“ bezeichnet, „die durch gezielte Auswahl von Gedanken und Resultaten aus allen vorhandenen Denkmodellen ein eigenes Weltbild zu schaffen vermag“. Hervorgehoben wird von Jäkel, dass der Bezug zur klassischen griechischen Literatur und Philosophie als dialektisch zu bezeichnen ist, da er ohne eine Beteiligung des Subjekts nicht denkbar sei. „Das lässt erkennen, dass sein Denken, wenn man so will sein Philosophieren, immer von seiner konkreten Lebenslage ausgeht, und dass sein Ich immer mit dabei ist, wenn er sich ein Bild von der Welt zu machen versucht, so wie sie vielleicht ist oder wie sie vielleicht besser sein könnte.“ Vgl. ebd. 247. 250 Foucault, Technologien des Selbst, 35. 251 Rabbow, Seelenführung, 124 ff. 252 Foucault, Technologien des Selbst, 37; Rabbow, Seelenführung, 25: „Es ist Praxis, nicht Literatur.“; Hadot, La citadelle intérieure, 64 ff. 253 Hadot, La citadelle intérieure, 66. 254 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 2,11,4; 4,8. 255 Epikt. diss. 1,1,25; 3,24,103: ταῦτα ἔδει μελετᾶν τοὺς φιλοσοφοῦντας, ταῦτα καθ᾿ ἡμέραν γράφειν, ἐν τούτοις γυμνάζεσθαι.
3. Die Selbstbetrachtungen Marc Aurels
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Neben einigen Schriften Plutarchs und einigen Briefen Senecas sind die Aufzeichnungen Marc Aurels das einzig erhaltene Dokument, das diese eigentlich mündliche Praxis literarisch bezeugt.256 Dass die Selbstbetrachtungen kein philosophisches Schriftstück sind, sondern eine Methode, wird also nicht nur durch den Inhalt und die Form des Textes, sondern auch durch die Tätigkeit des Autors dokumentiert. Wie schließlich auch am Beispiel dieser „Übungen“257 erkennbar wird, stellt der Begriff der „Rückzugsphilosophie“ keine geeignete Kennzeichnung für diese Form der Philosophie dar. Diese Übungen, die weder räumlich noch zeitlich gebunden sind, bilden das Gegenteil zu der damals ebenfalls geläufigen Vorstellung, dass man sich, um philosophieren zu können, aufs Land zurückziehen müsse: Ἀναχωρήσεις αὑτοῖς ζητοῦσιν, ἀγροικίας καὶ αἰγιαλοὺς καὶ ὄρη· […]. ὅλον δὲ τοῦτο ἰδιωτικώτατόν ἐστιν ἐξὸν ἧς ἂν ὥρας ἐθελήσῃς εἰς ἑαυτὸν ἀναχωρεῖν.258
Der hier beschriebene innere Rückzug wird nicht um seiner selbst willen gewählt, um außerhalb der alltäglichen Geschäfte Zeit zur philosophischen Kontemplation zu gewinnen, sondern als ein Mittel verwendet, das zur unmittelbaren und effektiven Problemlösung einsetzbar sein soll: συνεχῶς οὖν δίδου σεαυτῷ ταύτην τὴν ἀναχώρησιν καὶ ἀνανέου σεαυτόν· βραχέα δὲ ἔστω καὶ στοιχειώδη, ἃ εὐθὺς ἀπαντήσαντα ἀρκέσει εἰς τὸ πᾶσαν αὖ τὴν ἀποκλύσαι καὶ ἀποπέμψαι σε μὴ δυσχεραίνοντα ἐκείνοις, ἐφ’ ἃ ἐπανέρχῃ.259
Die Distanznahme der Stoiker gegenüber dem epikureischen Grundsatz: „Lebe im Verborgenen“260 wird anhand der folgenden Worte Senecas erkennbar, mit denen er einerseits ein äußerlich zurückgezogenes Leben auf dem Land kritisiert und mit denen er zugleich zu zeigen versucht, dass Philosophie nicht Untätigkeit bedeutet, 256 Rabbow, Seelenführung, 25. 257 Marc Aurel bezeichnet diese Praxis selbst als Methode (θεωρητικὴν μέθοδον) und als Übung (συγγυμνάσθητι). Vgl. 10,11. 258 M. Aur. ad se ipsum 4,3,1 f.: „Die Menschen suchen sich Orte, an die sie sich zurückziehen können, auf dem Lande, an der See und im Gebirge. […] Doch das ist wirklich in jeder Hinsicht albern, da es dir doch möglich ist, dich in dich selbst zurückzuziehen, wann immer du es willst.“ Vgl. 6,11. Vgl. auch Sen. ep. 6,55,8; 17/18,104,7; Epikt. diss. 4,12,7 f. Foucault spricht in diesem Zusammenhang von einer Spiritualisierung des Rückzugs. Vgl. Foucault, Technologien des Selbst, 45. Ausgehend vom Villengedicht des Statius hat Bardo Maria Gauly nachgewiesen, dass bereits das ausgehende erste Jahrhundert Beispiele kannte, die einem grundlegenden Konflikt zwischen der Realität des Imperium Romanum und der privaten Villenkultur widersprechen. Die mit den römischen Eroberungen wie selbstverständlich verbundene Kultivierung der unterworfenen Länder sei vielmehr als Voraussetzung für die reichen Besitzungen verstanden worden. Bardo Maria Gauly, Das Glück des Pollius Felix. Römische Macht und privater Luxus in Statius’ Villengedicht SILV. 2,2, in: Hermes 134.4, 2006, 455–469, bes. 458, 467 ff. 259 M. Aur. ad se ipsum 4,3,3: „Schaff dir also ununterbrochen diese Möglichkeit des Rückzugs und erhole dich. Es sollen aber kurze und elementare Grundsätze sein, die dir in dem Moment, wo sie dir eingefallen sind, ausreichen, jeden Schmerz aufzuheben und dich vom Ärger über jene Dinge freizuhalten, denen du dich anschließend wieder zuwenden mußt.“ 260 Hirschberger, Geschichte der Philosophie, 268.
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III. Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ – Lebenskunst und politische Macht
da die Gemeinschaft, wie im Zusammenhang der vorherigen Kapitel261 ausgeführt wurde, vielmehr eine Bedingung der Möglichkeit für die Realisierung konkreter Interessen sowie überhaupt eines glücklichen Lebens darstellt: Otiosum enim hominem seductum existimat vulgus et securum et se contentum, sibi viventem, quorum nihil ulli contingere nisi sapienti potest. Ille solus scit sibi vivere … Nam qui res et homines fugit, quem cupiditatum suarum infelicitas relegavit, qui alios feliciores videre non potuit, qui velut timidum atque iners animal metu oblituit, ille sibi non vivit … non continuo sibi vivit, qui nemini.262
Die bisherigen Ergebnisse zusammenfassend ist festzustellen, dass es sich bei den Selbstbetrachtungen nicht um einen philosophischen Text, sondern um eine Methode bzw. eine Form der Lebenskunst handelt. Die stoischen Lehrsätze, die sich der Mensch durch verschiedene Erinnerungspraktiken verinnerlichen soll, folgen weder einem theoretischen Interesse, das diese Sätze zu begründen versucht, noch einer ausschließlichen moralischen oder pädagogischen Absicht, die den Menschen zum Guten erziehen soll, sondern eher einer pragmatischen Zielsetzung, die auf die Verwirklichung eines gelingenden Lebens gerichtet ist.263
261 Vgl. dazu Kap. III.2.-2.3. 262 Sen. ep. 6,55,4 f.: „Einen Menschen von Muße nämlich hält für zurückgezogen die Masse und sorgenfrei und mit sich zufrieden, für sich lebend, Eigenschaften, von denen nichts irgendjemandem zuteil werden kann außer dem Weisen. Er allein weiß für sich zu leben […]. Denn wer Geschäfte und Menschen flieht, wen seiner begehrlichen Wünsche enttäuschendes Fehlschlagen vereinsamt hat, wer andere nicht glücklicher zu sehen vermag, wer wie ein scheues und träges Tier vor Furcht sich verborgen hält, der lebt nicht für sich […] nicht lebt deswegen für sich, wer für niemanden.“ 263 Über den Zusammenhang der als „Selbstsorge“ definierten stoischen Philosophie und der politischen Machtausübung vgl. Foucault, Hermeneutik, 36: „Sich mit sich beschäftigen ist von dem Willen des Individuums impliziert und abgeleitet, über andere politische Macht auszuüben.“
IV. SOZIALE UND POLITISCHE FUNKTIONEN DER PAIDEIA 1. PAIDEIA1 – BILDUNG UND GESELLSCHAFT Nachdem im vorangegangenen Kapitel am Beispiel der stoischen Lehre der Oikeiosis und der Selbstbetrachtungen verdeutlicht werden konnte, dass die Philosophie insofern gesellschaftliche Funktionen übernahm, als sie dem Menschen konkrete Aneignungspraktiken an die Hand gab, die es ihm erlaubten, sich insbesondere auch auf neue gesellschaftliche Strukturen einzustellen, sollen die sozialen und politischen Funktionen der Philosophie nun anhand konkreter gesellschaftlicher Situationen nachgewiesen werden, wobei zwischen der gesellschaftlichen Rangordnung und der höfischen Hierarchie zu unterscheiden sein wird. Dass die Philosophie nicht den gesellschaftlichen Rückzug, sondern die Integration des Menschen in die Gesellschaft unterstützte, wird nicht nur durch ihre Inhalte, sondern auch durch ihre Rolle innerhalb der Gesellschaft bestätigt. Es braucht hier nicht eigens erläutert zu werden, dass der gesellschaftliche Rangstreit und das Streben nach Ehre und Distinktion ein konstitutiver Bestandteil aristokratischer Ordnungen sind. Die Medien, an denen sich der Rangstreit orientiert, können jedoch in jeder Gesellschaft andere sein, die Begriffe „Geburtsadel“, „Amtsadel“ und „Hofadel“ belegen dies. Während zur Zeit der Republik Ehre durch die Übernahme politischer Ämter konstituiert wurde, entstand in der Kaiser1
Die Begriffe „Paideia“ und „Philosophie“ sind gewissermaßen synonym zu verwenden. Dies hat Barbara Borg, Glamorous Intellectuals. Portraits of pepaideumenoi in the Second and Third Centuries AD, in: dies. (Hg.), Paideia. The World of the Second Sophistic, Berlin, New York 2004, 157–178 überzeugend in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit der modernen Forschung zur Zweiten Sophistik und insbesondere mit der Argumentation von Paul Zanker nachgewiesen. Der Begriff der Paideia ist als ein Oberbegriff für die verschiedenen Felder des Wissens zu verstehen. Gleichwohl konnte ein pepaideumenos einen Aspekt der Paideia betonen und sich insofern als Philosoph, Rhetor oder Astronom darstellen lassen. (bes. 172) Dass es üblich war, sich als Vertreter der Paideia darstellen zu lassen, weist Borg nicht ausschließlich anhand der Porträts, sondern am Beispiel der Sarkophage nach. Besonders erhellend ist die Darstellung des Motivs der neun Musen auf den Sarkophagen, die mit ihren jeweiligen Attributen auf die große Vielfalt der Wissensgebiete verweisen, die der Verstorbene oder die Verstorbene für sich in Anspruch nahm. (166 f.) Jaap-Jan Flinterman versucht hingegen die ältere Auffassung zu bestätigen, wonach die parrhēsia als eine differentia specifica eine deutliche Abgrenzung zwischen Philosophen und Sophisten kenntlich gemacht habe. Flinterman, Sophists and Emperors, 373 ff. In Kapitel V. wird dieser Interpretation insofern widersprochen, als die an die Kaiser adressierten politischen Forderungen von Philosophen und Sophisten gleichermaßen formuliert wurden und von der moralischen Haltung der Philosophen nicht zu trennen waren. Vgl. dazu S. 152 f. – In den folgenden Ausführungen sollen insbesondere diejenigen Vertreter der Paideia besonders berücksichtigt werden, die sich selbst als Philosophen beschrieben haben oder als solche wahrgenommen wurden.
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IV. Soziale und politische Funktionen der Paideia
zeit durch den politischen Machtverlust der Aristokratie ein Bedarf an neuen Medien gesellschaftlicher Distinktion. Dass die Philosophie zu einem wesentlichen Faktor für die Manifestation gesellschaftlicher Ehre wurde, soll am Beispiel der öffentlichen Wahrnehmung der Philosophie, insbesondere anhand der Bildniskunst, die das Ansehen und das Selbstverständnis einer Person nach außen sichtbar machen sollte, sowie anhand verschiedener Konkurrenzsituationen im öffentlichen Raum erläutert werden. Neben der Philosophie blieb die Konstitution des gesellschaftlichen Ranges auch in der Kaiserzeit nach wie vor von den alten republikanischen Institutionen, der Magistratur und dem Senat, abhängig.2 Die Frage, wie sich Philosophie und Politik in Hinblick auf den gesellschaftlichen Rangstreit zueinander verhielten und inwieweit sie Aufstiegschancen innerhalb dieser Rangordnung begünstigen konnten, wird am Ende dieses ersten Teils am Beispiel der griechischen Hausphilosophen untersucht. Am Beispiel der folgenden Persönlichkeiten soll zunächst demonstriert werden, dass sich die Philosophie, von der man sich im 1. Jahrhundert noch zu distanzieren versuchte, im 2. Jahrhundert zu einem innerhalb der aristokratischen Öffentlichkeit anerkannten Wert entwickelt hat.3 Von dem Peripatetiker Eudemos, einer der dominierenden Persönlichkeiten des kulturellen Lebens in Rom, wird berichtet, dass zu seinen Schülern die „nach Ansehen und Bildung herausragenden Persönlichkeiten Roms“4 gehörten. Zu ihnen zählten u. a. die Konsulare L. Sergius Paullus (cos. II ord. 168 n. Chr.; Stadtpräfekt5), „ein durch Taten und philosophische Bildung ausgezeichneter Mann“6, Flavius Boethus, der ein Anhänger der aristotelischen Philosophie war7, der ebenfalls als Aristoteliker bezeichnete Schwiegersohn Marc Aurels, Cn. Claudius Severus (cos. II ord. 173 n. Chr.8), sowie der Onkel des Lucius Verus, M. Vetulenus Civica Barbarus (cos. ord. 157 n. Chr.9). Auch am Beispiel der folgenden Philosophen wird erkennbar, dass sie über enge Kontakte zur Aristokratie verfügten. Der Skeptiker Favorinus hatte unter Hadrian und dessen Nachfolger eine große Anzahl von Schülern, die zum Teil von hohem Stande waren.10 Gellius hatte einen Peripatetiker und einen Stoiker, „beides 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Vgl. Winterling, Politische Integration, 108 ff. bes. 110. Vgl. Hahn, Der Philosoph, 148 ff., bes. 154 f.; Ludwig Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von Augustus bis zum Ausgang der Antonine, Bd. 3, hg. von Georg Wissowa, 9. Aufl., Leipzig 1920, 271 f.; Zanker, Die Maske, 190 ff., bes. 192 ff. Οἱ κατὰ τὴν Ῥωμαίων πόλιν ἀξιώματὶ τε καὶ παιδείᾳ προὔχοντες. (Galen 14,612) PIR2 S 377. Vgl. auch Géza Alföldy, Konsulat und Senatorenstand unter den Antoninen. Prosopographische Untersuchungen zur senatorischen Führungsschicht, Bonn 1977, 161. […] ἀνδρὸς τὰ πάντα πρωτεύοντος ἔργοις τε καὶ λόγοις τοῖς ἐν φιλοσοφίᾳ. (Galen. 2, 218) Galen 19,13. PIR2 c 1024; Alföldy, Konsulat, 182 f. Vgl. Paul von Rohden, Barbarus 4d, RE 3,1, 1958, 1. „ἀνδρὸς ὑπάτου“ (Philostrat. Vita Sophist. 489); an anderer Stelle wird erwähnt, dass zu seinem Publikum „Konsuln und die Kinder von Konsuln“ (ὕπατοι γὰρ καὶ παῖδες ὑπάτων) gehörten. Vgl. ebd. 490.
1. Paideia – Bildung und Gesellschaft
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zu Rom angesehene Philosophen“11, zu Freunden. Und Fronto empfiehlt dem Q. Egrilius Plarianus (Legat von Afrika im Jahre 15912) den Platoniker Julius Aquilinus, dessen Vorträge in Rom den größten Zulauf gehabt und bei sehr vielen Vertretern des Senatorenstandes Beifall gefunden und Bewunderung erregt hatten.13 Die mit der Philosophie verbundene hohe symbolische Macht, wird an dem Verhalten des Stoikers Apollonios von Chalkedon erkennbar. Apollonios, der von Antoninus Pius nach Rom berufen wurde, habe sich, so die Historia Augusta, der kaiserlichen Aufforderung widersetzt, zur Unterrichtung des jungen Marc Aurel in den Palast zu kommen, da es nach seiner Auffassung üblich sei, dass nicht der Lehrer zum Schüler, sondern der Schüler zum Lehrer kommt.14 Obwohl er von Antoninus Pius zurechtgewiesen worden war, hat er seinen Anspruch schließlich durchgesetzt. Denn Marc Aurel habe sich nicht nur als philosophischer Zögling, sondern auch später noch, als er bereits Kaiser war, vom Palast zum Haus des Philosophen begeben.15 Ähnlich verhielt sich der Philosoph Sextus aus Chaironea. Auch er ging nicht zum kaiserlichen Hof, da er erwarten konnte, dass ihn Marc Aurel persönlich aufsuchen würde.16 Die Bereitschaft Marc Aurels, sich der Paideia und ihren Vertretern unterzuordnen, veranschaulicht ein Ereignis aus dem Jahre 176, in dem Marc Aurel die kleinasiatische Stadt Smyrna besuchte, um dort die pepaideumenoi zu treffen, zu denen auch Aelius Aristides gehörte. Das Verhalten des Redners, der den Kaiser drei Tage warten ließ, wurde von Marc Aurel wohlwollend entschuldigt.17 Die Beziehungen, die einzelne Philosophen zu führenden Personen des gesellschaftlichen Lebens unterhielten, waren einerseits eine wesentliche Voraussetzung ihres Ansehens, das nicht zuletzt am Status und am Rang ihrer Schüler ablesbar war. Andererseits verfügten sie aufgrund ihres eigenen Status über gesellschaftliche Macht- und Einflusschancen, die es ihnen erlaubten, zugunsten ihrer Schüler zu handeln. In der Literatur wird hier von einer sog. „broker“-Patronage gesprochen.18 Bekannt ist, dass Eudemos die Formen römischer Patronage für den aus Pergamon stammenden Arzt Galen verwendete, indem er ihm die Möglichkeit gab, seine anatomischen Vorlesungen öffentlich vorzutragen.19 Dies machte Galen nicht nur mit 11 12 13 14 15 16 17 18 19
Familiares Favorini erant duo quidam non incelebres in urbe Roma philosophi. (Gellius 18,1,1) Edmund Groag, Egrilius 3, RE 5,2, 1905, 2011. Fronto ad amicos 1,4 (v.d. Hout p.174; Haines I 289 ff.). […] ‚non magister ad discipulum debet venire, sed discipulus ad magistrum‘ […]. (Hist. Aug. Ant. P. 10,4) Hist. Aug. Marc. 3,1; Cass. Dio 71,1,2. Cass. Dio 71,1,2. Vgl. dazu das Kapitel VI.3., in dem die Beziehungen Marc Aurels zur Paideia ausführlich dargestellt werden. Zur Funktion der Patronage innerhalb der römischen Aristokratie und der Verbindung zwischen Bildung und Patronage vgl. Richard P. Saller, Personal Patronage under the Early Empire, Cambridge 1982, 119 ff., bes. 136 ff.; Flinterman, Sophists and emperors, 365. Galen 14,627 ff. Der Umfang der Patronagetätigkeit des Eudemos wird von Heinrich SchlangeSchöningen hingegen relativiert. Heinrich Schlange-Schöningen, Die römische Gesellschaft bei Galen. Biographie und Sozialgeschichte, Berlin 2003, 140 ff.
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IV. Soziale und politische Funktionen der Paideia
der stadtrömischen Öffentlichkeit, sondern auch mit den Angehörigen des Kaiserhauses bekannt, sodass ihm dort später sogar die medizinische Betreuung Marc Aurels und die seiner Nachfolger übertragen wurde.20 Ein besonders gut dokumentiertes Beispiel der sog. Maklerpatronage ist der Einsatz des Aelius Aristides für die von einem heftigen Erdbeben zerstörte Stadt Smyrna. Erhalten ist nicht nur der Brief des Aelius Aristides an Marc Aurel und Commodus, sondern auch der Bericht Philostrats.21 Es ist der rhetorische Erfolg, der Aelius Aristides ermutigt, sich für die Stadt Smyrna einzusetzen, ohne auf eine ordentliche Gesandtschaft zu warten. Dass die Philosophie im Übergang vom 1. zum 2. Jahrhundert die Grenzen der privaten otium-Kultur überschritten und sich zu einem integralen Bestandteil der öffentlichen Kultur entwickelt hat, wurde zuerst von Paul Zanker am Beispiel der Bildniskunst nachgewiesen, anhand derer eine deutliche Veränderung im Repräsentationsstil der Oberschicht festzustellen sei.22 Die Renaissance altgriechischer Philosophenbüsten sei seit Hadrian ein die gesamte Gesellschaft umfassender „Modetrend“ gewesen. Es war insbesondere die seit Hadrian beliebte Bartmode, die das Bestreben, sich ein „Bildungsgesicht“ zuzulegen, zum Ausdruck brachte.23 Am Beispiel der offiziellen Porträts, die Hadrian mit gekräuseltem Haar und Bart präsentieren, werde nicht nur der Kontrast zum strengen Porträt seines glattgekämmten und rasierten Vorgängers, sondern zu repräsentativen Bildnissen insgesamt erkennbar, bei denen bisher die Darstellung eines Bartes als „unrömisch“ gegolten habe und grundsätzlich vermieden worden sei. Die Übernahme verschiedener Attribute klassischer und hellenistischer Bildnisstatuen war besonders deutlich anhand des langen Bartes und des griechischen Mantels erkennbar, die zu den wichtigsten Attributen der neuen Bildniskunst gehörten. In spätantoninischer Zeit waren langes, oft wirres Haar sowie die Denkerstirn mit den 20 21 22
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Galen. 14,657 ff. Aristid. or. 19; Philostrat. Vita Sophist. 582–583. Vgl. dazu Flinterman, Sophists and Emperors, 365 f. Vgl. dazu Zanker, Die Maske, bes. 192 ff., 206 ff. Einen Überblick über die verschiedenen Bildnistypen in der Zeit Marc Aurels geben die Ausführungen von Klaus Stemmer (Hg.), Kaiser Marc Aurel und seine Zeit. Das römische Reich im Umbruch, Berlin 1988. Zu beachten ist darüber hinaus der folgende Sammelband über die Reiterstatue des Marc Aurel: Giorgio Accardo, Detlev von der Burg, Ulrich Hommes (Hg.), Marc Aurel. Der Reiter auf dem Kapitol. Philosoph und Herrscher, München 1999, bes. 91 ff., der sich insbesondere auch mit den verschiedenen Formen der Wahrnehmung der antiken Repräsentationskunst in späteren Epochen auseinandersetzt. Vgl. auch Borg, Glamorous Intellectuals, 169: „[…] this paideia is not a purely private accomplishment, but another status symbol, not (only) an element of otium but a prerequisite for the acquisition of any public office.“ Paul Zanker geht davon aus, dass das Herrscherbild nicht nur einen multiplikatorischen Effekt hatte, der sich auf die Bürger- und Privatporträts auswirkte, sondern auch von jenen beeinflusst wurde. Zu der Wechselwirkung zwischen Herrscher- und Bürgerporträt merkt Zanker an: „Die Neukonzeption eines Herrscherbildes ist natürlich nur in sehr eingeschränktem Sinne ‚zufällig‘. Der Kaiser kann als Auftraggeber nur im Rahmen der formalen Möglichkeiten und geschmacklichen Trends seiner Zeit eine Wahl treffen.“ Paul Zanker, Herrscherbild und Zeitgesicht, in: Jahresinhaltsverzeichnis der wissenschaftlichen Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin 31.1–6, 1982, 307–312, 308 f.
1. Paideia – Bildung und Gesellschaft
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hochgezogenen Brauen und kontrahierten Stirnfalten als weitere Stilelemente zu beobachten. Paul Zanker zeigt, dass innerhalb der neuen Bildniskunst die Form der klassizistischen Selbststilisierung die alten Bürgerporträts nicht vollständig verdrängte, sondern verschiedene Bildelemente eklektisch miteinander kombiniert wurden. Obwohl neben den alten ikonographischen Elementen, der Toga und der virtusFormel der Panzer- und Paludamentum-Büsten, der griechische Mantel und die „Bildungsbüste“ als neue Werteformel zahlenmäßig einen nicht unbedeutenden Platz eingenommen haben, legten diejenigen, die sich als Philosophen stilisierten, stets großen Wert darauf, gleichzeitig Zeichen bürgerlicher Urbanität zu bewahren, um auch weiterhin als eine der Welt zugewandte Person wahrgenommen zu werden. In diesem Zusammenhang ist auch zu bemerken, dass sich die Symbole, die die philosophische Bildung einer Person anzeigen sollten, von ihrer ursprünglichen Bedeutung weitestgehend abgelöst haben. So wurde bspw. die nackte Brust unter dem Philosophenmantel nicht mehr als ein direkter Hinweis auf philosophische Askese verstanden, sondern eher als eine abstrakte Formel, die die Zugehörigkeit einer Person zu der Gemeinschaft der pepaideumenoi nach außen demonstrieren sollte.24 Die hier beschriebene Mischform sich widersprechender Bildelemente interpretiert Paul Zanker insgesamt als eine Entwicklung, die auf die Aussöhnung zwischen „Bürgertum“ und philosophischer Lebenshaltung im 2. Jahrhundert verweist. Die „Sorge um sich selbst“25, die auch Zanker als eine Körper und Seele gleichermaßen umfassende philosophische Lebenskunst beschreibt, habe „ebenso zu diesem Bildungskult [gehört] wie eine Gestaltung der Lebenswelt nach griechischen Modellen bis hin zum äußeren Erscheinungsbild des einzelnen“26. Dass sich die Philosophie innerhalb der Aristokratie zu einem Distinktionskriterium entwickelt hat, das zum einen die Abgrenzung gegenüber Personen eines niedrigeren sozialen Status ermöglichte und zum anderen der Aristokratie die Einheit der eigenen Gruppe versicherte, zeigt die an den Kynikern geübte Kritik des Apuleius, der die Philosophie als eine nur einigen Wenigen vorbehaltene Disziplin sehen wollte: Quod utinam … philosophiae edictum valeret, ne qui imaginem eius temere adsimularet, uti pauci boni artifices, idem probe eruditi omnifariam sapientiae studium contemplarent, neu rudes, sordidi, imperiti pallio tenus philosophos imitarentur et disciplinam regalem tam ad bene dicendum quam ad bene vivendum repertam male dicendo et similiter vivendo contaminarent.27 24
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Der hier beschriebene Eklektizismus und die Lösung der Bildelemente von ihren ursprünglichen Inhalten ist nicht nur zwischen bürgerlichen und philosophischen, sondern auch innerhalb der philosophischen Attribute zu erkennen. Es kam v. a. darauf an, sich allgemein als Vertreter der Paideia zu stilisieren, nicht aber, sich einer bestimmten Schulrichtung zuzuordnen. Dementsprechend war es nicht unüblich, dass jemand ein gepflegtes Aussehen hatte, das ihn als platonischen Philosophen auszeichnete, gleichzeitig aber kurzgeschnittenes Haar trug, das traditionell dem Image eines Stoikers entsprach. Vgl. dazu Zanker, Die Maske, 190–251. Vgl. dazu Kapitel III.2. Zanker, Die Maske, 194. Apul. Flor. 7,9 f.: „Wäre doch nur ein Edikt der Philosophie in Kraft, daß niemand aufs Geratewohl ihr Bild nachahmen dürfte, so daß nur wenige gute Künstler, die zudem ordentlich gebil-
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IV. Soziale und politische Funktionen der Paideia
Barbara Borg hat ebenfalls gezeigt, dass der Nachweis griechischer Paideia für jeden römischen Bürger mit politischen Ambitionen unverzichtbar war. Die Perspektive der älteren Forschung, die häufig mit verächtlichen Blicken auf die glanzvoll beschriebenen Auftritte der von ihr als „Prunkredner“28 bezeichneten Vertreter der Paideia schaut, hat Barbara Borg überzeugend in eine andere Richtung gelenkt. Nicht ein oberflächlicher Bildungskult, sondern die Etablierung eines Bildungsideals sei das Ziel der pepaideumenoi gewesen, die die Kultur der Elite mitbestimmten.29 Anhand verschiedener Konkurrenzsituationen wird die Paideia im Folgenden sowohl als ein zentrales Kriterium gesellschaftlicher Distinktionsbestrebungen als auch als ein Instrument zur Konstituierung der Elite als eine einheitliche Gruppe vorgestellt. 1.1. Formen und Orte gesellschaftlicher Distinktion Ein wesentlicher Bestandteil im Wettstreit um gesellschaftliches Prestige war der sogenannte Attizismus, der Streit um die richtige Verwendung der attischen Sprache des 5. und 4. vorchristlichen Jahrhunderts.30 Hierbei ist zu bemerken, dass die
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det sein müßten, ihren Blick auf das Studium der Weisheit umfassend richteten – nicht aber ungehobelte, schmutzige und jeden Wissens bare Charaktere, die Philosophen bloß in der äußeren Erscheinung nachahmten und diese königliche Wissenschaft, die geschaffen wurde, daß man sowohl recht zu reden wie auch recht zu leben verstünde, dadurch in den Schmutz zögen, daß sie schlecht sprechen und in gleicher Weise leben.“ Vgl. Hahn, Der Philosoph, 111 ff. Zanker, Die Maske, 230. Der Aufsatz von Borg, Glamorous Intellectuals, 157–178 versteht sich als eine direkte Antwort auf die Thesen von Zanker. Vgl. dazu die Anm. 1 in diesem Kapitel. Der Perspektivwechsel, den die neueren Forschungen zur Zweiten Sophistik vollzogen haben, wird erkennbar durch einen Vergleich der Wertmaßstäbe, die den Arbeiten von Barbara Borg und Johannes Hahn zugrunde liegen. Vgl. dazu Anm. 40 in diesem Kapitel. Borg, Glamorous Intellectuals, 172 f., 164: „The social status and success of these sophists is hardly understandable if their occupation was mere personal vanity, or if they were strange eccentrics fleeing from the real world, as some modern scholars have wanted to see them. Only if they served as positive role models and represented ideals (even if to an extreme extent), that they shared with the social elite of which they were a part, could they gain and maintain the position in society which they held.“ Erkennbar wird diese Tendenz vor allem anhand der im 2. Jahrhundert florierenden attizistischen Wörterbücher. Vgl. dazu Schmitz, Bildung und Macht, 72 ff. Es handelt sich um eine klassizistische Kunstsprache, die vornehmlich dem Streben der Elite nach gesellschaftlicher Distinktion entsprach. Schmitz, Bildung und Macht, 67 ff. Vgl. auch Zanker, Die Maske, 237 und allgemein zum Phänomen der „Zweiten Sophistik“ und zum Klassizismus und Attizismus im Besonderen: Anderson, The Second Sophistic, 69 ff., 78 ff., 86 ff., 88; Claudia Strobel hat gezeigt, dass die Arbeiten der Lexikographen „[…] should not be regarded as mere appurtenances […] or pure decoration.“ (157, 156) Von modernen Lexikographen, die stets auf Vollständigkeit bedacht sind, unterscheiden sich die antiken Autoren, die sich nicht einmal als Lexikographen bezeichneten, insbesondere dadurch, dass ihre linguistischen Interessen stets mit dem Ziel verbunden waren, sich auch die Kultur des fünften und vierten Jahrhunderts anzueignen. „The lexicographer of the Second Sophistic tries to collect words which convey a lingui-
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Suche nach den reinsten attischen Wendungen oder nach archaisierenden Ausdrücken nicht ein Corpus verbindlicher Regeln, sondern im Gegenteil ein sehr uneinheitliches Bild der sprachlichen Norm produzierte, die in scheinbar unzusammenhängende Einzelregeln und Ausnahmen zersplittert war. Wichtiger als der letztlich vergebliche Versuch, eine obsolete Sprachform wiederzubeleben, war das Bestreben, den allgemeinen Wettstreit um gesellschaftliches Prestige, der auf die Herstellung immer neuer Konkurrenzsituationen angewiesen war, voranzutreiben. Dass Konkurrenz eine notwendige Voraussetzung für die Konstitution des Subjekts in einer aristokratischen Rangordnung war, wird prägnant von Gleason zusammengefasst: „If they had had no rivals, they would have created them to define themselves.“31 Die Produktion einer zunehmenden Komplexität sprachlicher Regeln sollte die Möglichkeiten gesellschaftlicher Distinktion erhöhen und vor allem Neuankömmlingen die Aufnahme in den erlesenen Kreis der Sophisten erschweren. Aufstiegschancen wurden zusätzlich durch das Definitionsmonopol der gesellschaftlichen Elite obstruiert, die allein die Regeln festlegte und darüber entschied, welche sprachlichen Äußerungen als legitim gelten durften.32 Neben der Erzeugung immer komplexerer Regeln gab es umgekehrt die Absicht, den Gegenstand der Rangstreitigkeiten zu vereinheitlichen. Mit einer solchen Bemühung um Vereinheitlichung war nicht mehr primär die Funktion verbunden, sich von Personen eines niedrigeren sozialen Status abzugrenzen, sondern sich der Einheit der eigenen Gruppe zu versichern. Dies ist unter anderem anhand der innerhalb dieser Kreise diskutierten klassischen Bildungsthemen zu erkennen.33 Die aus allen Bereichen der klassischen Kultur stammenden Themen waren trotz ihrer bunten Fülle thematisch geordnet und begrenzt, sodass derjenige, der sich über einen längeren Zeitraum mit den gängigen Themen vertraut gemacht hatte, nicht mehr unvorbereitet auf einen Gesprächspartner traf und von diesem nicht mehr überrascht werden konnte. Die Erzeugung und die Reduktion von Komplexität sind auch innerhalb der Philosophie zu beobachten. Wie Johannes Hahn darlegt, sei zu dieser Zeit die breite Anzahl der philosophischen Themen erheblich verringert und die originelle Diskussion durch einen Synkretismus der konkurrierenden Lehrmeinungen verdrängt worden.34 Doch gleichzeitig gab es auch hier Tendenzen, die die Streitigkeiten zwischen den Schulen und die chronische Uneinigkeit von Philosophen wieder verschärfen sollten. Dass auch dieser Schulstreit nicht die Diskussion um die theoretischen Probleme der Philosophie wiederbelebte, sondern vor allem für die Instru-
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stic ‚message‘ to the reader or which can form a handbook.“ (132) Claudia Strobel, The Lexicographer of the Second Sophistic as Collector of Words, Quotations and Knowledge, in: Rosa Maria Piccione, Matthias Perkams (Hg.), Beiträge zur Technik des Sammelns und Kompilierens griechischer Texte von der Antike bis zum Humanismus (Selecta colligere Bd. 2), Alexandria 2005, 131–157. Maud W. Gleason, Making Men. Sophists and Self-Presentation in Ancient Rome, Princeton 1995, 28. Zum Subjekt-Begriff vgl. die Ausführungen auf den Seiten 103–108. Schmitz, Bildung und Macht, 85, 125. Zanker, Die Maske, 238. Hahn, Der Philosoph, 110.
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mentalisierung der Philosophie für gesellschaftliche Rangstreitigkeiten um soziales Prestige verwendet wurde, bestätigt Galen, der diesen Streit als äußerst dilettantisch empfand.35 Zwei verschiedene Konkurrenzsituationen, die öffentliche Rede36 und das aristokratische Gastmahl37, verdeutlichen, wie die Philosophie als ein wichtiges Kriterium gesellschaftlicher Distinktion zum Einsatz kam. Wie Johannes Hahn bemerkt, habe es zwischen den öffentlichen Vorträgen, die bisher noch den Sophisten und Rhetoren vorbehalten waren, und den philosophischen Vorlesungen im Unterricht keine eindeutige Grenze mehr gegeben, da von einem Philosophen inzwischen erwartet wurde, dass er seine Belehrungen nicht mehr nur einem elitären Hörerkreis vorbehielt, sondern für ein größeres Publikum öffnete.38 Entsprechend den Erwartungen des Publikums, das an kurzer lebenspraktischer Unterweisung interessiert war, beschränkten sich die Philosophen ebenso wie die Rhetoren auf kurze Präsentationen, die nicht länger als 20–25 Minuten dauerten. Systematisch-ausbreitende Darstellungen sowie die Diskussion theoretischer Probleme waren weder der äußeren Form des Vortrags noch den Bedürfnissen des Publikums gemäß.39 Da die Vorträge gesellschaftlich relevantes Wissen vermittelten, werden sich die folgenden Ausführungen davon distanzieren, die Behandlung ‚nur‘ lebenspraktischer Fragen gegenüber der Erörterung sog. theoretischer Probleme gering zu achten.40 Dass die Inhalte der Reden schließlich ein wesentlicher Bestandteil politischer Aushandlungsprozesse waren, wird das fünfte Kapitel dieser Arbeit nachweisen. Insofern sich die philosophische Rede nicht mehr auf einen elitären Kreis beschränkte, gab sie dem Vortragenden die Gelegenheit, seinen gesellschaftlichen Status in der Öffentlichkeit unter Beweis zu stellen, der nicht zuletzt durch das Publikum und dessen Beifallsbekundungen manifestiert wurde.41 35 36 37
38 39 40
41
Galen 19,53. Martin Korenjak, Publikum und Redner. Ihre Interaktion in der sophistischen Rhetorik der Kaiserzeit, München 2000. Zu den gesellschaftlichen Funktionen des kaiserzeitlichen Gastmahles vgl. Dirk Schnurbusch, ‚Prestigehierarchie‘ und aristokratisches Gastmahl in der späten Republik und frühen Kaiserzeit, in: Konrad Vössing (Hg.), Das römische Bankett im Spiegel der Altertumswissenschaften, Stuttgart 2008, 129–143; Elke Stein-Hölkeskamp, Das römische Gastmahl. Eine Kulturgeschichte, München 2005; Konrad Vössing, Mensa Regia. Das Bankett beim hellenistischen König und beim römischen Kaiser, Leipzig 2004. Hahn, Der Philosoph, 89. Ebd. 94, 110. Johannes Hahn bezeichnet insbesondere Maximus von Tyros abschätzig als Konzert- bzw. Salonphilosophen. Er bezieht sich dabei auf die despektierlichen Bemerkungen von W. Kroll, der seine Leser davon überzeugen möchte, dass sich Maximus für die Ausgestaltung seiner Reden „aus dem großen Glückstopf populärphilosophischer Vulgata“ bedient habe. Einen forschungsgeschichtlichen Überblick über die Bewertungen der sophistischen Reden in der Kaiserzeit gibt das Kapitel V.1. Vgl. Hahn, Der Philosoph, 92, 96. Hahn bezeichnet den öffentlichen Vortrag der Philosophen als ein „ritual of self-definition“: „Philosoph zu sein bedeutete, ein Bekenntnis abzulegen, und dieses Bekenntnis musste vornehmlich vor der Öffentlichkeit abgelegt werden.“ Hahn, Der Philosoph, 44.
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Die ambivalente Rolle des Publikums, das über den Wert und Unwert eines Vortrages entschied, haben Martin Korenjak und Thomas Schmitz ausführlich behandelt.42 Festzustellen sei, dass der Redner im Vergleich zum Publikum einerseits zunächst eine überlegene Rolle eingenommen habe, die dadurch manifestiert wurde, dass dieser als Einzelner gegenüber allen anderen die aktive Rolle in der Kommunikation monopolisierte. Andererseits sei der Status des Vortragenden jedoch auch von dem Rang der einzelnen Hörer abhängig gewesen. Während ein weniger gebildetes Publikum, das zur sachlichen Kritik unfähig war, den Status des Redners durch Schweigen bestätigen, aber wohl auch durch Unmutsäußerungen verunsichern konnte, bedeutete die Anwesenheit von Fachleuten und Kollegen stets eine besonders große Herausforderung, die jedoch, sofern sie von dem Redner gemeistert wurde, sein Prestige deutlich vermehren konnte. Die Abhängigkeit des Redners von der Erwartungshaltung des Publikums skizziert Philostrat anhand einer Anekdote über den Sophisten Herakleides: ἐκκρούει γὰρ σχεδίου λόγου καὶ ἀκροατὴς σεμνῷ προσώπῳ καὶ βραδὺς ἔπαινος καὶ τὸ μὴ κροτεῖσθαι συνήθως, εἰ δὲ καὶ φθόνου ὑποκαθημένου ἑαυτὸν αἴσθοιτο […] ἧττον μὲν ἐνθυμηθήσεται, ἧττον δὲ εὐροήσει, αἱ γὰρ τοιαίδε ὑποψίαι γνώμης ἀχλὺς καὶ δεσμὰ γλώττης.43
Thomas Schmitz bezeichnet dieses der „Zweiten Sophistik“ zugrunde liegende Bildungsverständnis als essentialistisch, da der Grad der Bildung nicht nur etwas über einen einzelnen Aspekt des Menschen aussagt, sondern auf seinen Status insgesamt verweist.44 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb das Publikum der sog. Stegreifrede im Vergleich zu einer schriftlich verfassten Rede, die dem Publikum bloß erworbenes Wissen demonstrierte, den Vorzug gab. Die Stegreifrede, die dem Publikum ohne Vorbereitung dargeboten wurde, sollte die aristokratisch überlegene Natur des Redenden offenbaren. Die Vorträge, so glaubte man, zeigten nicht, was der Redner wusste, sondern was er war. Doch auch bei diesen Reden handelte 42 43
44
Korenjak, Publikum und Redner, 52 ff., 100 ff.; Schmitz, Bildung und Macht, 215 ff. Philostrat. Vita Sophist. 614: „(Den Sophisten) wirft aus einer improvisierten Rede sowohl ein Zuhörer mit einem ernsten Gesicht als auch zu zögernder Applaus oder nicht in der gewohnten Weise Applaus zu erhalten, falls er jedoch bemerkt, dass ihn sogar Neid belauert […], werden seine Gedanken und sein Redefluß weniger stark sein. Denn Verdachtsmomente dieser Art umnebeln den Geist und fesseln die Zunge.“ – Wie Korenjak, Publikum und Redner 142 ff. nachweist, war auch die Sabotage von Vorträgen keine Ausnahme auf Vorträge zu reagieren. Dass Bildung im Wettstreit um soziales Prestige kein beliebiger Faktor war, auf den man nach eigenem Ermessen verzichten konnte, weist Schmitz am Beispiel des Verhaltens des Herodes Atticus nach. Von Herodes wird berichtet, dass er in seiner Jugend versucht habe, seinem Leben ein Ende zu setzen, nachdem er eine Rede, die er als Sprecher der Begrüßungsgesandtschaft für den Kaiser Hadrian halten sollte, „geschmissen“ hatte. Unter anderen Bedingungen, unter denen der Bildung eine vergleichsweise geringe Bedeutung beigemessen worden wäre, hätte Herodes sich vielleicht mit dem gleichen Missgeschick des Demosthenes vor Philippos trösten können. Weniger absolut, aber dennoch existentiell habe sich die Rolle der Bildung später in seinem Verhalten gegenüber seinem eigenen Sohn erwiesen. Da dieser ganz im Gegensatz zu seinem Vater äußerst dumm und dazu noch liederlich gewesen sei, habe Herodes ihn kurz entschlossen enteignet. Vgl. Schmitz, Bildung und Macht, 215, 158. Vgl. dazu auch die Einschätzung von Glen W. Bowersock, Greek Sophists in the Roman Empire, Oxford 1969, 90: „Professional squabbles could thus lead to such disagreeable outcomes as loss of job or privilege.“
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es sich letztlich um ein in der Öffentlichkeit inszeniertes Bildungsritual. Jeder Redner besaß ein festes Themenrepertoire, das ebenso vorbereitet und auswendig gelernt wurde wie andere Reden, sodass er zu jeder Zeit zu einem bestimmten Thema aus dem Stegreif referieren konnte. Diese Vorkehrungen versuchte man natürlich mit allen Mitteln zu verschleiern.45 Bei diesen öffentlichen Vorträgen bildeten vor allem sprachliche Normverstöße den Gegenstand der Beobachtung und Kritik, die insbesondere von den im Publikum anwesenden Rhetoren aufmerksam zur Kenntnis genommen wurden.46 In dem Bestreben, der Erste zu sein, war jeder stets daran interessiert, andere bei Verstößen gegen die sprachliche Norm zu ertappen und selbst seine Kompetenz auf diesem Gebiet unter Beweis zu stellen. Dass die Vertreter der Rhetorik im Zusammenhang mit den öffentlichen Reden das Recht auf die Definition von Bildung monopolisierten und die in der Öffentlichkeit auftretenden Philosophen sich ebenso wie die Rhetoren dem von der „Zweiten Sophistik“ postulierten attizistischen Kunstidiom fügen mussten, belegt die Auffassung eines Anonymus, der die Grammatik als „Mutter der Philosophie und Rhetorik“ bezeichnet.47 Auch Gellius konstatiert in seinen Schriften die Abhängigkeit der Philosophie von der Rhetorik: vos quoque, philosophorum inlustrissimi, nihil iam aliud quam verba auctoritatesque verborum cordi habetis.48 Und selbst Marc Aurel, der sich angeblich von der Rhetorik abgewendet haben soll, unterstreicht mit der folgenden Bemerkung die Forderung normierten Sprechens: Παρὰ Ἀλεξάνδρου τοῦ γραμματικοῦ τὸ ἀνεπίπληκτον· καὶ τὸ μὴ ὀνειδιστικῶς ἐπιλαμβάνεσθαι τῶν βάρβαρον ἢ σόλοικόν τι ἢ ἀπηχὲς προενεγκαμένων, ἀλλ᾿ ἐπιδεξίως αὐτὸ μόνον ἐκεῖνο, ὃ ἔδει εἰρῆσθαι, προφέρεσθαι […].49
An dieser Passage ist weniger die Erwähnung von Interesse, dass man Fehler nur in taktvoller Weise berichtigen dürfe, als vielmehr die Tatsache, dass nicht einmal Marc Aurel darauf verzichten kann oder will, diese Fehler überhaupt zu berichtigen.50 Schließlich wurden auch die im philosophischen Unterricht oder bei öffentlichen Vorträgen behandelten Themen, die sich vorwiegend mit Sophismen, Trugschlüssen und der Lösung von Syllogismen beschäftigten, dazu verwendet, andere in Verlegenheit zu bringen und die Überlegenheit des Redners zu demonstrieren, wie am Beispiel der zwei bekanntesten, von den Megarikern aufgestellten Fang-
45 46 47 48 49
50
Schmitz, Bildung und Macht, 115 ff. Ebd. 123 ff. Vgl. auch Friedländer, Sittengeschichte, Bd. 3, 286 f. … μήτηρ γὰρ φιλοσοφίας καὶ ῥητορικῆς γέγονε γραμματικὴ … (Herodian. π. βαρβ.), in: A. Nauck (Hg.), Lexicon Vindobonense, Hildesheim 1965, 294 f. Gellius 18,7,3: „Auch euch, den berühmtesten Philosophen, liegt nichts anderes mehr am Herzen als Wörter und Autoritäten für Wörter.“ M. Aur. ad se ipsum 1,10,1–2: „Von Alexandros, dem Sprachlehrer (lernte ich), darauf zu verzichten, mit Worten um mich zu schlagen und auf beleidigende Weise auf diejenigen loszugehen, die fremdartige, fehlerhafte oder häßlich klingende Worte gebrauchten, sondern einfach eben jenes Wort, das man hätte benutzen müssen, geschickt ins Gespräch zu bringen […].“ Schmitz, Bildung und Macht, 81.
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schlüssen erkennbar wird.51 Der sog. Sorites- bzw. Haufenschluss, der aus der Frage besteht: „Wie viele Körner machen einen Haufen?“, soll eine Person dadurch in Verlegenheit bringen, dass es unmöglich zu sagen ist, mit welcher Zahl eine Vielheit oder ein Haufen beginnt.52 Auch der Hörnerschluss, der mit der Frage beginnt: „Hast du deine Hörner verloren?“ soll den Antwortenden verwirren, denn wenn er die Frage verneint, lautet die Antwort: „Also hast Du noch Hörner, da man etwas, was man nicht verloren hat, immer noch besitzt!“, bejaht er hingegen die Frage, so wird die Antwort sein: „Also hast Du Hörner gehabt.“53 Dass die öffentlichen Vorträge und die Bildung insgesamt die Funktion übernommen haben, den Status des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft zu dokumentieren, wird daran erkennbar, wie Herodes Atticus, der in seiner politischen Karriere den Konsulat erreichte und dessen Ansehen mit dem ehrenvollen Ausdruck βασιλέα τῶν λόγων54 umschrieben wurde, das Verhältnis zwischen Bildung und politischem Amt bewertete. Herodes Atticus soll die Ehre, die er aus einer im 2. Jahrhundert so hochgeschätzten Stegreifrede gewonnen hatte, höher bewertet haben als das Ansehen, aus einer konsularischen Familie zu stammen und selbst Konsul gewesen zu sein.55 Eine weitere Möglichkeit, seinen Status innerhalb der Gesellschaft zu manifestieren, boten die aristokratischen Gastmähler.56 Obwohl auch hier das kompetitive Moment einen wichtigen Bestandteil bildete, hatte das Gastmahl im Unterschied zur öffentlichen Rede jedoch vornehmlich die Funktion, die Einheit dieser sich durch Bildung auszeichnenden Schicht zu bestätigen. Von Epiktet wird hervorgehoben, dass auch die Konversationspraxis beim Gastmahl die Funktion übernommen habe, den gesellschaftlichen Rang der einzelnen Teilnehmer zu manifestieren: εἰ δέ τις μόνον ἐπιδείκνυσθαι θέλων ἐν συμποσίῳ ὅτι οἶδεν τοὺς ὑποθετικοὺς ἀναγιγνώσκει ταῦτα καὶ προσέρχεται τοῖς φιλοσόφοις, οὗτος ἄλλο τι πράσσει ἵνα αὐτὸν συγκλητικὸς παρακατακείμενος θαυμάσει;57 Den Charakter einer Prüfung, die über Inklusion und Exklusion der Gruppenteilnehmer entscheidet, haben diese Gespräche allerdings erst im Falle eines Neuankömmlings übernommen, dessen Schlagfertigkeit darüber entschied, ob er in die Gruppe kooptiert werden konnte oder nicht.58 In der alltäglichen Praxis diente das Streitgespräch während eines Gastmahls jedoch eher der Selbstvergewisserung der sozialen Gruppe als dem Konkurrenz51 52 53 54 55 56 57 58
Vgl. dazu Eduard Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Bd. 2.1, 5. Aufl., Leipzig 1922, 264 ff. Vgl. Diog. Laert. 7,82. Diog. Laert. 7,187. Philostrat. Vita Sophist. 586. Ebd. 536. Vgl. Schmitz, Bildung und Macht, 127 ff.; Winterling, Aula Caesaris, 145 ff.; Zanker, Die Maske, 237 ff. Epikt. diss. 1,26,9: „Wenn jemand dies alles liest und zu den Philosophen geht, nur um beim Symposium vorzuführen, dass er die Hypothetiker kennt, will der etwas anderes, als dass ihn der neben ihm liegende Senator bewundert?“ In diesen Situationen haben die Streitgespräche die Funktion von rites de passage übernommen. Vgl. Schmitz, Bildung und Macht, 125, 132.
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denken zwischen den Personen. Das Ziel war vielmehr eine amüsante und spielerische Unterhaltung, die die Sicherheit des Einzelnen im Umgang mit einer Vielzahl verschiedener Themen demonstrieren sollte. Die folgende Äußerung Senecas verdeutlicht dies: Varius nobis fuit sermo, ut in convivio, nullam rem usque ad exitum adducens, sed aliunde alio transiliens.59 Wie anhand dieser Konversationspraxis erkennbar wird, war auch hier eine systematische Erörterung philosophischer Probleme nicht mehr der Zweck der Gespräche. Es waren nämlich immer wieder dieselben „Bildungsthemen“60 und Beispiele aus dem Mythos und der klassischen Geschichte, mit denen jeder Teilnehmer seine Bildung unter Beweis stellen und die Zugehörigkeit zu dieser sozialen Gruppe nachweisen konnte.61 59
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Sen. ep. 7,64,2: „Ein abwechslungsreiches Gespräch hatten wir, wie bei einem Gastmahl, kein Thema bis ins letzte vertiefend, sondern von einem Gedanken zum anderen überspringend.“ Vgl. dazu William Slater, The ancient Art of Conversation, in: Konrad Vössing (Hg.), Das römische Bankett im Spiegel der Altertumswissenschaften, Stuttgart 2008, 113–127, 121; Vössing, Mensa Regia, 219 ff. Einen Überblick über die Themen, Ansichten und Argumente geben die „Attischen Nächte“ des Aulus Gellius, die 15 Bücher der Deipnosophisten des Athenaios und die „Tischgespräche“ des Plutarch. Diese Kompendien klassischer Kultur sind trotz ihres breiten Spektrums thematisch geordnet: mythische und historische Geschichten, Literarisches und Philologisches, Philosophisches und Wissenschaftliches, Antiquarisches, Kurioses und Phantastisches. Vgl. Zanker, Die Maske, 238. Das von Athenaios zusammengestellte Material ist schier unüberschaubar. Die über viele Dutzend Seiten sich erstreckenden Fisch- oder Becherkataloge, die das Vorkommen von Fischen und Bechern in verschiedenen Ländern und Sprachen versammeln, sind nur ein Beispiel. Dieses Material wurde jedoch nicht nur für Konkurrenzsituationen genutzt. Vielmehr scheint mit der Zusammenstellung des Materials der Versuch verbunden gewesen zu sein, sich mit der Vielfalt der Kulturen, die zum römischen Reich gehörten, vertraut zu machen. Demgegenüber erkennt Dirk Uwe Hansen bei Athenaios ein ausschließliches Interesse für die Form seines Werkes und nicht für dessen Inhalt: „[…] das scheinbar vergeudende Ausgießen von Wissen [hat] System. Ebenso systematisch sind die einzelnen Abschweifungen aufeinander bezogen.“ Dirk Uwe Hansen, ΜΕΓΑ ΒΙΒΛΙΟΝ – ΜΕΓΑ ΚΑΚΟΝ. Wie bändigt Athenaios sein Material?, in: Rosa Maria Piccione, Matthias Perkams (Hg.), Beiträge zur Technik des Sammelns und Kompilierens griechischer Texte von der Antike bis zum Humanismus (Selecta colligere Bd. 2), Alexandria 2005, 79–96, 91, 96. – Richard Neudecker, Aspekte öffentlicher Bibliotheken in der Kaiserzeit, in: Barbara Borg (Hg.), Paideia. The World of the Second Sophistic, Berlin, New York 2004, 293–313 erkennt einen Zusammenhang zwischen dem „Kompilieren der Vergangenheit und Sammeln aller Phänomene“ und der „bürokratischen Machtausübung“. (308) Er demonstriert dies am Beispiel der öffentlichen Bibliotheken, in denen die kaiserzeitliche Literatur und die wachsenden Verwaltungsarchive auf denselben Regalen Platz und Bedeutung fanden. Dabei sei zu beachten, dass die Kaiser das in ihrem Besitz stehende gesamte literarische und dokumentarische Wissensarchiv für eigene Machtziele nutzten. Dies sei insbesondere daran erkennbar, dass das gesamte untere Personal fast komplett der familia Caesaris angehörte. (300 f.) Meines Erachtens hatte das in den Bibliotheken kompilierte Wissen nicht nur die Funktion, über die Paideia Macht und Kontrolle ausüben zu können. Wichtiger waren vermutlich die von Neudecker ebenfalls herausgestellten Vorträge und Gesprächszirkel, die in den Bibliotheken stattfanden und den Teilnehmenden erlaubten, sich mit einer komplexen Welt vertraut zu machen und sich der eigenen Zugehörigkeit zu einer kulturellen Elite zu vergewissern.
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Auch bei diesen Gesprächen verlangte niemand Originalität und die Fähigkeit zur Lösung theoretischer Probleme. Gefragt waren vielmehr Gedächtnis und geistige Präsenz, die die intellektuelle Voraussetzung dafür waren, sich in entsprechenden Situationen die zahlreichen Themen, Beispiele, Erfahrungen und Ratschläge aus der klassischen Geschichte in Erinnerung zu rufen und entsprechend einzusetzen. Die Philosophie war sowohl im Zusammenhang der öffentlichen Rede als auch innerhalb der beim Gastmahl praktizierten Konversation nicht mehr nur ein Gegenstand des theoretischen Interesses, sondern eine Methode, deren Zweck darin bestand, sowohl im Wettstreit um Rang und Einfluss einen Distinktionsgewinn zu erzielen als auch die Zugehörigkeit zur Gruppe der pepaideumenoi herzustellen. Welche Funktionen die Inhalte der Reden für die Aristokratie in ihrer Auseinandersetzung mit den kaiserzeitlichen Strukturen übernommen haben, wird im V. Teil behandelt. Die bisherigen Ausführungen haben ergeben, dass sich die Philosophie neben der Politik zu einem wesentlichen Kriterium gesellschaftlicher Distinktion entwickelt hat. Eine deutlichere Vorstellung darüber, wie sich Philosophie und Politik innerhalb des gesellschaftlichen Rangstreites zueinander verhielten, ergibt sich, wenn man die Bedingungen, die einen gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichten, betrachtet. 1.2. Aufstiegschancen im Medium der Paideia Die Frage, ob Bildung eine geeignete Voraussetzung für einen Aufstieg in die römische Aristokratie war, wird in der Literatur vor allem anhand der in aristokratischen Familien angestellten Hausphilosophen untersucht. Eine These ist, dass es im Wesentlichen wirtschaftliche Interessen waren, die Philosophen aus Griechenland dazu bewegten, die Ausbildung junger römischer Aristokraten zu übernehmen.62 Diese Beschäftigung sei nicht nur unter materiellen, sondern auch unter sozialen Gesichtspunkten erstrebenswert gewesen. Denn neben freier Kost und Logis und dem Anspruch auf ein regelmäßiges Gehalt verfügten jene Hausphilosophen über eine Vertrauensstellung beim Hausherrn als amicus und über eine Sonderstellung unter den übrigen familiares. Die Teilnahme an den in den aristokratischen Häusern stattfindenden Interaktionsformen, wie der Veranstaltung von Gastmählern, habe ihnen erlaubt, wichtige Kontakte zur Aristokratie herzustellen, die oft die Voraussetzungen für einen sozialen Aufstieg bildeten.63 Johannes Hahn, der soziale Aufstiegschancen über den Weg der Bildung für ausgeschlossen hält, hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass jene Personen nicht der Bildung, sondern ihrer eigenen aristokratischen Herkunft die Möglichkeit 62
63
Dass sie „hier viel größeren materiellen Gewinn als in den Städten draußen (finden)“, beschreibt Galen 14,621 als treibendes Motiv griechischer Ärzte wie auch vieler anderer Personen, die in Rom nach einer Beschäftigung suchten. Zu den folgenden Ausführungen vgl. Hahn, Der Philosoph, 150 ff. Hahn, Der Philosoph, 150 f.
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verdankten, in die römische Aristokratie vorzudringen.64 Diese Hausphilosophen seien keine Personen gewesen, die sich aus geringen Anfängen emporgearbeitet hätten, sondern griechische Aristokraten, die in Rom lediglich eine gesellschaftliche und finanzielle Verbesserung ihrer Lage suchten. Da der Erwerb von Bildung äußerst zeitaufwendig und kostspielig war, blieb eine philosophische Ausbildung nur entsprechend vermögenden Kreisen vorbehalten, sodass soziale Aufstiegsmöglichkeiten mittels Bildung ausgeschlossen waren.65 Der Fall des Epiktet, so Hahn, sei eine krasse Ausnahme gewesen, da von keinem anderen Philosophen berichtet werde, er sei Sklave oder Libertiner gewesen. Selbst für die Kyniker lasse sich, sofern sie in den Quellen fassbar werden, eine Herkunft aus vornehmen Familien nachweisen. „Philosophische Betätigung – anders als ärztliche Tätigkeit oder die Vermittlung der übrigen artes – eröffnete keine vergleichbaren Wege aus Abhängigkeit und Aufstiegschancen in der Gesellschaft. Sie stand vielmehr, wie es trotz des Falles des Epiktet scheint, von vornherein nur Freien bzw. Angehörigen der Oberschicht offen.“66 Ein weiteres Argument dafür, dass es sich bei den Hausphilosophen um Standespersonen gehandelt habe, sei deren Integration in die im Haus stattfindenden Interaktionsformen gewesen, die man von Personen niedriger Herkunft, denen eine Vertrautheit mit den dort geltenden Umgangsformen fehlte, nicht hätte erwarten können.67 Auch Thomas Schmitz, der im Gegensatz zu Johannes Hahn soziale Aufstiegschancen mittels Bildung zwar nicht grundsätzlich ausschließt, stößt im Verlauf seiner Untersuchung auf zahlreiche Schwierigkeiten, die die Möglichkeiten einer solchen Karriere stark begrenzten.68 Dass Bildung eine hinreichende Voraussetzung für einen Aufstieg in die Aristokratie gewesen sei, ist eine Vermutung, die auch von Schmitz eindeutig zurückgewiesen wird. Bei der Bewerbung um die höchsten politischen Ämter seien andere Faktoren, wie Abstammung und Reichtum, ausschlaggebend gewesen, nicht aber die intellektuellen Fähigkeiten einer Person.69 Die Kluft zwischen der aristokratischen Oberschicht und der großen Masse sei so tief gewesen, dass die Bildung einer Person niedrigerer Herkunft, selbst wenn sie das von allen Angehörigen der Oberschicht geteilte Normalmaß der Bildung weit übertraf, nicht ins Gewicht gefallen sei. Zweitens habe die Bildung, die auf diesem Ni64
65 66 67 68 69
Ebd. 152. Vgl. dazu auch die Anmerkung zu den Sophisten von Ewen L. Bowie, The Importance of Sophists, in: YCS 27, 1982, 29–59, 53: „[…] the sophists should be seen as a species of the genus Greek aristocrat and […] his membership of that genus is the greatest factor contributing to his success.“ Vgl. auch Ronald Syme, Antonine Government and Governing Class, in: ders., Roman Papers, Bd. 5, Oxford 1988, 668–688, 680 ff. Vgl. dazu Hahn, Der Philosoph, 69. Ebd. 80. Petrons Satyricon ist nur ein Beispiel für den boshaften Spott, den jene über sich ergehen lassen mussten, die an der Übernahme adeliger Lebensformen scheiterten. Vgl. Schnurbusch, ‚Prestigehierarchie‘ und aristokratisches Gastmahl, 135. Schmitz, Bildung und Macht, 50 ff. Vgl. dazu auch Bowie, Importance of Sophists, 49 f.: „Other sophistic families, eminent though they were, seem to have been so only in a local context and may have lacked the wealth or connections to join the συγκλητικοί.“
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veau bereits als selbstverständlich vorausgesetzt worden sei, keinen Distinktionswert mehr erzielen können, da alle Konkurrenten (zumindest idealiter) bereits über eine traditionelle Bildung verfügt hätten. Auf einer niedrigeren sozialen Ebene, und hierbei bezieht sich Schmitz ebenfalls auf die Gruppe der Hausphilosophen, sei Bildung zumindest eine indirekte Voraussetzung für einen sozialen Aufstieg gewesen. Eine Anstellung in den aristokratischen Häusern habe ihnen Aufstiegschancen in Aussicht gestellt, da diese Lehrer der Philosophie, wie Thomas Schmitz im Gegensatz zu Johannes Hahn behauptet, keine griechischen Aristokraten, sondern Angehörige der Unterschicht gewesen seien, die den Lohn, den sie für ihre Lehrtätigkeit erhielten, nicht bloß benötigt hätten, um ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern, sondern um überhaupt ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.70 Die Behauptung, es habe sich hierbei um Personen der Unterschicht gehandelt, belegt Thomas Schmitz anhand verschiedener Aussagen des Lukian, der an mehreren Stellen das in aristokratischen Häusern bestehende Dienstverhältnis als „Sklaverei“ bezeichnet und hervorhebt, dass diese Personen durch ihre Armut zu jener Tätigkeit gezwungen worden seien.71 Diese Argumente sind jedoch keine überzeugende Widerlegung der von Hahn dargestellten Interpretation, nach dessen Auffassung die Hauslehrer griechische, vielleicht verarmte Aristokraten gewesen seien, da sie bei Lukian als „frei“ (ἐλεύθερος) und „adlig“ (εὐπατρίδης) bezeichnet werden.72 Im Sinne der Argumentation von Johannes Hahn ist davon auszugehen, dass Lukian an dieser Stelle den Begriff der „Sklaverei“ ausschließlich unter normativen Aspekten verwendet und nicht, um über die Standeszugehörigkeit einer Person zu informieren. Darüber hinaus wird anhand der von Schmitz dargelegten Beweisführung nicht klar, wie sich jene der Unterschicht zugeordneten Hausphilosophen eine Ausbildung, die, wie Schmitz selbst feststellt, äußerst kostspielig gewesen sei, hätten leisten sollen. Für die Annahme, dass es sich um aristokratische Personen gehandelt habe, spricht schließlich auch ihre Teilnahme an der im Haus stattfindenden gesellschaftlichen Interaktion, die eine Vertrautheit mit den dort geltenden Umgangsformen voraussetzte. Überzeugend ist die Argumentation von Schmitz jedoch, wenn er feststellt, dass für diese Personen Bildung zwar keine hinreichende, aber eine hinführende Bedingung für einen Aufstieg in die Oberschicht war. Die anderen Voraussetzungen, die hierfür zunächst entscheidender waren, veranschaulicht er an einem weiteren Muster sozialer Aufstiegsmöglichkeiten. In diesem Zusammenhang betrachtet er Karrieremuster, deren Ausgangspunkt keine intellektuellen Fähigkeiten, sondern wirtschaftliche Aktivitäten bildeten. Es seien insbesondere die durch Handel erzielten finanziellen Gewinne gewesen, die genutzt werden konnten, um sich diejenigen Voraussetzungen anzueignen, mit denen es möglich war, sich der schon arrivierten Oberschicht allmählich anzugleichen. Zu diesen Voraussetzungen gehörten bspw. die Umwandlung des aus dem Handel gewonnenen Vermögens in Landbesitz, der im Gegensatz zu anderen Formen des Reichtums soziales Prestige mit sich brachte, 70 71 72
Schmitz, Bildung und Macht, 57 ff. Lukian merc. cond. 1; 5. Hahn, Der Philosoph, 150 ff., bes. 152. Vgl. Lukian merc. cond. 23; 30.
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das wiederum die Übernahme magistratischer Ämter begünstigte. Zudem war es nun mit dem neu erworbenen Reichtum möglich, die mit den Ämtern verbundenen euergetischen Pflichten sowie schließlich die Finanzierung einer traditionellen Ausbildung übernehmen zu können. Ein Aufstieg in die Aristokratie gelang unter diesen Voraussetzungen in den meisten Fällen jedoch erst der zweiten oder dritten Generation, da die dort geltenden Verhaltensregeln nur durch einen langwierigen Anpassungsprozess nach und nach adaptiert werden konnten. Dieses Karrieremuster sei, so Schmitz, ebenfalls auf die Gruppe der Hausphilosophen anwendbar. Der durch die Lehrtätigkeit erworbene Reichtum hätte zumindest den Nachkommen die Möglichkeit eröffnen können, sich die notwendigen Voraussetzungen zu verschaffen, um in die Honoratiorenschicht aufzusteigen. Doch auch anhand dieses Karrieremusters ist letztlich erkennbar, dass Bildung neben der Übernahme magistratischer Ämter und dem Erwerb von Reichtum nur eine indirekte Voraussetzung für einen sozialen Aufstieg war. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der im Verlauf des 2. Jahrhunderts entstandene Bedarf an neuen Mitteln sozialer Distinktion, der durch das politische Machtdefizit der Aristokratie erzeugt wurde, insbesondere auch durch die Paideia abgedeckt wurde.73 Obwohl die Philosophie und die Bildung insgesamt für die Zugehörigkeit zur Aristokratie notwendige Voraussetzungen bildeten, war die Philosophie im Verhältnis zur Politik jedoch nicht hinreichend, um ein soziales Prestige zu produzieren, das als Eintrittskarte in die Oberschicht hätte verwendet werden können. Dies hat bereits Helmut Halfmann beobachtet, wenn er schreibt: „Geistige Bildung war aber nur eine von vielen Voraussetzungen, die an einen Senator auf Grund seiner gesellschaftlichen Stellung von vornherein gestellt wurden, sie allein verschaffte aber keinen Senatssitz“.74 Die Zugehörigkeit zur Aristokratie war vielmehr nach wie vor zuerst von dem Nachweis einer traditionellen Ämterlaufbahn und materiellem Wohlstand abhängig. 2. MACHT UND BILDUNG AM KAISERHOF Bevor die Frage beantwortet werden kann, welche Macht- und Einflusschancen sich am Hof über die Paideia eröffneten, ist es notwendig, zunächst einige strukturelle Merkmale der Institution „Hof“ zusammenzufassen. Dass sich der Kaiserhof erst allmählich aus den aristokratischen Häusern ausdifferenziert und sich zu einer eigenständigen Institution entwickelt hat, konnte von Aloys Winterling in Auseinandersetzung mit der älteren Forschung nachgewiesen werden, die zunächst kein 73 74
Zu der These von Christian Meier, dass die hier beschriebene Lebenskunst als Ersatzbefriedigung einer machtgewohnten Aristokratenschicht zu beschreiben ist vgl. Meier, Lebenskunst als Kompensation von Machtdefizit?, 61 ff., 64 ff. Helmut Halfmann, Die Senatoren aus dem östlichen Teil des Imperium Romanum bis zum Ende des 2. Jh. n. Chr., Göttingen 1979, 51.
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dezidiertes Interesse daran fand, den Hof analytisch, in Hinblick auf seine politischen Funktionen zu untersuchen.75 Da Macht an antiken Höfen nicht aus der „amtlichen“ Stellung einer Person resultierte, sondern aus der „persönlichen“ Nahbeziehung zum Kaiser, seien, so Aloys Winterling, antike Höfe nicht als administrative Zentren, sondern als soziale Gebilde zu definieren.76 In der folgenden Untersuchung, die an diese Definition des antiken Kaiserhofes anknüpfen wird, steht dementsprechend nicht die Frage im Vordergrund, welche Ämter die einzelnen Gelehrten innerhalb der kaiserlichen Administration innehatten, sondern die Ermittlung des „persönlichen“ Verhältnisses der einzelnen Personen zum Kaiser sowie die daraus resultierenden Aufstiegschancen innerhalb der gesellschaftlichen oder der höfischen Hierarchie. Allgemein galt, dass der gesellschaftliche Rang derjenigen Personen, die über ein „persönliches“ Verhältnis zum Kaiser verfügten und als dessen „Freunde“ bezeichnet wurden, tendenziell umso niedriger war, je näher sie dem Kaiser standen. Die optimi des Senats kamen insofern für ein „persönliches“ Verhältnis zum Kaiser vorerst nicht in Betracht, da sie wegen ihrer Möglichkeit zur Akkumulation von Ehre und Macht immer zugleich die potentiellen Rivalen des Kaisers waren. Obwohl im Verlauf des 1. und 2. Jahrhunderts die Distanz zwischen den Mitgliedern des Senatorenstandes und den „Freunden“ der Kaiser allmählich aufgehoben wurde, indem die Senatoren zunehmend auch in die engeren Freundeskreise integriert wurden77, führte diese Entwicklung nicht, wie zu erwarten wäre, zu einer 75
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Winterling, Aula Caesaris. Zur Forschungslage vgl. Winterling, Aula Caesaris, 3 m. Anm. 13, 12–38. In der Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fand der Hof insbesondere im Rahmen der alten „Kulturgeschichte“ Interesse. So wurde in der „Sittengeschichte“ von Ludwig Friedländer primär das Verhalten der am Hof anwesenden Personen untersucht, während der Hof als eine politische Institution kaum Berücksichtigung fand. Ludwig Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von Augustus bis zum Ausgang der Antonine, 4 Bde., hg. von Georg Wissowa, 10. Aufl., Leipzig Bd. 1, 1922 [ND 1979], 33 ff., 74 ff., 86 ff., 90 ff., 98 ff.; Die Untersuchung von Robert Turcan, der an die alte Kulturgeschichte anknüpft, geht ebenfalls nicht über das Erzählen anekdotischer „Geschichten“ hinaus. Robert Turcan, Vivre à la cour des Césars d’Auguste à Dioclétien (Ier – IIIe siècles ap. J.-C.), Paris 1987. Jean Gagé und Paul Veyne gelangen hingegen zu dem Ergebnis, dass man von einem römischen Kaiserhof, dem sie den französischen Königshof im Absolutismus gegenüberstellen, im eigentlichen Sinne gar nicht sprechen könne. Jean Gagé, Les classes sociales dans l’Empire romain, 2. Aufl., Paris 1971, 191 ff.; Paul Veyne, Le pain et le cirque. Sociologie historique d’un pluralisme politique, Paris 1976, 619 ff.; Als ein Gegenstand eigenen Interesses fand der Hof insbesondere auch unter politischen Gesichtspunkten in dem Artikel von Wallace-Hadrill in der Cambridge Ancient History Berücksichtigung. Andrew Wallace-Hadrill, The Imperial Court, in: CAH 10, 2. Aufl., 1996, 283–308. Aloys Winterling, Einleitung, in: ders. (Hg.), Zwischen „Haus“ und „Staat“. Antike Höfe im Vergleich, München 1997, 1–9, 6, 4 f.; ders., „Hof“. Versuch einer idealtypischen Bestimmung anhand der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte, in: ders. (Hg.), Zwischen „Haus“ und „Staat“. Antike Höfe im Vergleich, München 1997, 11–25, 15 ff.; ders., Aula Caesaris, 161 ff., 92. Seit dem Beginn der Kaiserzeit ließen sich die kaiserlichen „Freunde“ in drei Gruppen aufteilen. Die erste Kategorie der kaiserlichen „Freunde“ war täglich in der Umgebung des Kaisers anwesend. Personen dieser Kategorie wurden als familiares, proximi bzw. intimi amici oder als πάνυ φίλοι bezeichnet. Die zweite Kategorie wurde von aristokratischen Personen gebildet,
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Angleichung der gesellschaftlichen Rangordnung und der auf persönlichen Nahverhältnissen beruhenden Hierarchie am Kaiserhof. Zum einen wurde durch die Integration der Senatoren eine Institutionalisierung bzw. eine „Entpersönlichung“ der kaiserlichen Freundschaft bewirkt, da die Senatoren über ihren politisch-sozialen Status und nicht über ihre „persönlichen“ Beziehungen zum Kaiser definiert wurden. Zum anderen wurde die Integration der Senatoren in den Kreis der familiares, der zuvor den Personen vorbehalten war, die über ein besonderes persönliches Nahverhältnis zum Kaiser verfügten, noch immer als Gefahr empfunden. Da das Arrangement zwischen Kaiser und Aristokratie äußerst labil war, folgte gewissermaßen als Reaktion auf diese Entwicklung die Ausdifferenzierung eines „persönlichen“ Kreises, für dessen Mitglieder eine Qualifikation nach Stand und Amt nun gerade keine notwendige Voraussetzung mehr gewesen sei. Aufnahme in diesen Kreis fanden vor allem diejenigen Personen, die den jeweiligen Vorlieben der einzelnen Kaiser entsprachen („Wissenschaftler unter Hadrian, Philosophen unter Marc Aurel, Kämmerer unter Commodus“78). Wie Aloys Winterling konstatiert, hatten diese Personen aufgrund ihrer Nahbeziehungen zum Kaiser ein weitaus höheres Maß an Macht und Einflusschancen auf den Kaiser als die sog. „Freunde“, die zwar über einen hohen gesellschaftlichen Rang, nicht aber über eine vergleichbare persönliche Nähe zum Kaiser verfügten.
mit denen der Kaiser in gesellschaftlichem Verkehr stand, indem er sie täglich zur Tafel zog und gelegentlich seinerseits besuchte. Die dritte, vom Kaiser am weitesten entfernte Kategorie bezeichnete schließlich alle Mitglieder des Senatorenstandes und diejenigen Ritter, die zur kaiserlichen salutatio erscheinen durften. Eine erste Veränderung in der Zusammensetzung der kaiserlichen „Freunde“ zeichnete sich nach dem Ende der julisch-claudischen Dynastie ab. Während der Kreis der familiares unverändert blieb, wurden Personen der dritten Kategorie in die zweite Personengruppe integriert. Unter Hadrian fand diese Entwicklung einen Abschluss, indem nun auch Personen des Senatorenstandes in den Kreis der familiares integriert wurden. Vgl. dazu Winterling, Aula Caesaris, 166 ff.; ders., Hof ohne „Staat“. Die aula Caesaris im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr., in: ders. (Hg.), Zwischen „Haus“ und „Staat“. Antike Höfe im Vergleich, München 1997, 91–112, 101 ff. – Werner Eck bezweifelt, dass „alle Senatoren und Ritter, soweit sie nicht von der morgendlichen salutatio ausgeschlossen waren, als amici principis gelten müssen“. Werner Eck, Der Kaiser und seine Ratgeber. Überlegungen zum inneren Zusammenhang von amici, comites und consiliarii am römischen Kaiserhof, in: Anne Kolb (Hg.), Herrschaftsstrukturen und Herrschaftspraxis. Konzepte, Prinzipien und Strategien der Administration im römischen Kaiserreich. Akten der Tagung an der Universität Zürich 18.20.10.2004 (Berlin 2006), 67–77, 75. Vgl. dazu ders., Der Kaiser und seine Ratgeber, in: Die Verwaltung des römischen Reiches in der hohen Kaiserzeit. Ausgewählte und erweiterte Beiträge, Bd. 2 (Basel 1998) 3–29, 19 f.; In einem jüngst erschienenen Aufsatz hat Aloys Winterling bereits auf diese Kritik reagiert. An den Ausführungen von Werner Eck, die davon ausgehen, dass es sich um einen in Hinblick auf seine Zusammensetzung letztlich unbestimmten Freundschaftskreis gehandelt habe, wird eine in nicht ausreichendem Maße vorhandene Differenzierung hinsichtlich der verschiedenen Freundschaftskategorien der kaiserlichen amici kritisiert. Vgl. Aloys Winterling, Die Freundschaft der römischen Kaiser, in: ders. (Hg.), Zwischen Strukturgeschichte und Biographie. Probleme und Perspektiven einer neuen Römischen Kaisergeschichte, 31 v. Chr. – 192 n. Chr. (Schriften des Historischen Kollegs), München 2011, 207–232, 212 f., 213, Anm. 20. 78 Winterling, Aula Caesaris, 194.
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Vor dem Hintergrund der hier dargestellten strukturellen Voraussetzungen soll zunächst am Beispiel einzelner Personen untersucht werden, wie die Karrierechancen am Hof Marc Aurels durch die Paideia beeinflusst wurden. Da die Träger der Paideia Personen aus den aristokratischen Oberschichten waren, wäre die Herstellung eines persönlichen Nahverhältnisses für diesen Personenkreis zumindest unter machtpolitischen Gesichtspunkten zunächst nicht erwartbar. Eine Bemerkung des Cassius Dio führt hingegen zu der Vermutung, dass Bildung unter der Herrschaft Marc Aurels durchaus eine vielversprechende Voraussetzung für Karrierechancen gewesen sein muss, da es gewisse Leute gab, die nur so taten, als betrieben sie Philosophie, ἵν᾿ ὑπ᾿ αὐτοῦ πλουτίζωνται.79 Beispiele für den Zusammenhang zwischen Bildung und Aufstiegsmöglichkeiten sind insbesondere die Lehrer und Mitschüler Marc Aurels, die er, wie von der Historia Augusta hervorgehoben wird, mit hohen Ehren auszeichnete.80 Die fol79 80
Cass. Dio 72 (71),35,2: „[…] um durch den Kaiser reiche Leute zu werden.“ – Eine vergleichbare Entwicklung ist auch später noch einmal am Hof Julians zu beobachten. Vgl. Wiemer, Libanios und Julian, 33 ff. tantum autem honoris magistris suis detulit, ut imagines eorum aureas in larario haberet ac sepulchra eorum aditu, hostiis, floribus semper honoraret. – „So hohe Ehre erwies er seinen Lehrern, daß er deren goldene Bilder in seiner Hauskapelle stehen hatte und ihre Gräber ständig aufsuchte und mit Opferspenden und Blumenschmuck bedachte.“ (Hist. Aug. Marc. 3,5) Aus Gründen der Übersichtlichkeit sollen hier die einzelnen Lehrer den drei voneinander unterschiedenen Erziehungsabschnitten zugeordnet werden: 1. Euphorion und Geminus hatten die Aufgabe, Marcus mit der griechischen und römischen Literatur vertraut zu machen. Ein anderer, namentlich nicht bekannter Lehrer, hatte die Aufgabe, das sittliche Wohlergehen und die Gesamtentwicklung des Marcus zu beobachten. Vgl.: Hist. Aug. Marc. 2,2; M. Aur. ad se ipsum 1,5. 2. Mit elf Jahren begann der zweite Abschnitt seiner Erziehung durch die grammatici. Diesem Zeitabschnitt ist der Lehrer Alexander von Kotiaion, der für die griechische Sprache zuständig war, und die lateinischsprachigen Lehrer Trosius Aper von Pola und Tuticius Proculus von Sicca Veneria in Nordafrika zuzuordnen. Auch der Lehrer Andron, der ihm den mit 12 Jahren beginnenden Geometrieunterricht erteilte, sowie der Zeichenlehrer Diognetus gehören zu diesem Zeitabschnitt. Vgl. dazu: Hist. Aug. Marc. 2,3. 3. Der dritte Erziehungsabschnitt begann im Jahre 135 n. Chr., als Marcus bereits im Alter von vierzehn Jahren die toga virilis anlegte. Mit diesem Lebensabschnitt begann normalerweise der Unterricht in der Rhetorik. Marcus hatte drei Lehrer in griechischer Rhetorik: Aninius Macer, Caninius Celer und Ti. Claudius Atticus Herodes. In der lateinischen Rhetorik wurde er von M. Cornelius Fronto unterrichtet. Vgl.: Hist. Aug. Marc. 2,4. Diesem Abschnitt ist auch der Name des Lucius Volusius Maecianus zuzuordnen, der Marc Aurel mit der Rechtswissenschaft vertraut machte. Vgl.: Hist. Aug. Marc. 3,6; Birley, Mark Aurel, 57 ff., 60 ff., 111 ff.; Joseph Schwendemann, Der historische Wert der vita Marci bei den Scriptores Historiae Augustae, Heidelberg 1923, 7 ff. Zu seinen Philosophielehrern gehörten die Stoiker Sextus aus Chaironea (M. Aur. ad se ipsum 1,9; Hist. Aug. Marc. 3,2), Iunius Rusticus (M. Aur. ad se ipsum 1,7; Hist. Aug. Marc. 3,2), Claudius Maximus (M. Aur. ad se ipsum 1,15; Hist. Aug. Marc. 3,2), Cinna Catulus (M. Aur. ad se ipsum 1,13; Hist. Aug. Marc. 3,2), Apollonios von Chalkis (M. Aur. ad se ipsum 1,8; Hist. Aug. Marc. 2,7), der Peripatetiker Claudius Severus (M. Aur. ad se ipsum 1,14; Hist. Aug. Marc. 3,3) und der Platoniker Alexandros von Seleukeia (M. Aur. ad se ipsum 1,12). Zu berücksichtigen bleibt in diesem Zusammenhang noch die umstrittene Rolle des Diognetus. Hans v. Arnim stellt die Behauptung auf, dass die von Zeller vorgenommene Zuordnung des
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gende Untersuchung der einzelnen Personen wird sowohl nach dem personenrechtlichen Status und dem gesellschaftlichen Rang der Personen als auch nach ihren Aufstiegschancen fragen, die ihnen durch die Gunst des Kaisers eröffnet wurden.81 Zu betrachten sind zunächst diejenigen Personen, die ihren Aufstieg der Philosophie verdankten. Eine der auffallendsten Persönlichkeiten in diesem Zusammenhang ist sicherlich der Stoiker Iunius Rusticus.82 Der Enkel eines unter Domitian hingerichteten stoischen Philosophen zeichnete sich nicht nur dadurch aus, dass er einer der besten Kenner der stoischen Philosophie war, sondern auch ein von Marc Aurel besonders bevorzugter Lehrer, quem et reveritus est et sectatus, qui domi militiaeque pollebat […].83 Das nicht zu unterschätzende Machtpotential, das Iunius Rusticus offenbar zufiel, wird anhand der hohen Einflussmöglichkeiten auf den Kaiser erkennbar. So berichtet die Historia Augusta, dass sich Marc Aurel mit Iunius Rusticus über omnia […] publica privataque beraten habe […].84 Die Rangposition des Philosophen wurde schließlich im Rahmen der höfischen Interaktion während der kaiserlichen salutatio dokumentiert, indem er vom Kaiser „noch vor den Prätorianerpräfekten“85 begrüßt wurde. Dies ist ein eindeutiger Verweis auf den Rang des Rusticus, der nach der „normalen“ Rangordnung wohl eher nach den Prätorianerpräfekten begrüßt worden wäre.86 Die hohe kaiserliche Gunst, in der der Stoiker
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Diognetos in die Reihe der Philosophielehrer nicht richtig sei. Der sein Handeln zusammenfassende Ausdruck τὸ οἰκειωθῆναι φιλοσοφίᾳ (M. Aur. ad se ipsum 1,6,5) erlaube, so v. Arnim, keinen Rückschluss auf die Erteilung philosophischen Unterrichts. Erinnert man sich jedoch an die im ersten Kapitel herausgearbeitete Bedeutung der oikeiosis-Lehre als integrativen Bestandteil der stoischen Philosophie, so ist es meines Erachtens durchaus plausibel, Diognetos mit Zeller als Philosophen und Stoiker zu bezeichnen. Sein Handeln hätte im Rahmen dieser Interpretation die Aufgabe gehabt, Marc Aurel mit der oikeiosis-Lehre, also der Anwendung der Philosophie, vertraut zu machen, oder, wie Zeller sagt, ihm die „Neigung zur Philosophie einzuflößen“. Vgl. Birley, Mark Aurel, 60 f.; Hans von Arnim, Diognetos 17, RE 9, 1985, 785 f.; Zeller, Die Philosophie der Griechen, Bd. 3.1, 715. Leider ist das Informationsmaterial oft sehr dünn, sodass in den meisten Fällen nur ein äußerst fragmentarisches Bild dieser Persönlichkeiten rekonstruiert werden kann. Von Euphorion (Hist. Aug. Marc. 2,2; Arthur Stein, Euphorion 2, RE 11, 1958, 1174; PIR2 E 120) und Geminus (Hist. Aug. Marc 2,2; Arthur Stein, Geminus 5, RE 13, 1958, 1052; PIR2 G 161), den Elementarlehrern Marc Aurels, von Andron (Hist. Aug. Marc 2,2), der ihn in Geometrie und Musik unterrichtete, dem Zeichenlehrer Diognetus (M. Aur. ad se ipsum 1,6; Hans von Arnim, Diognetos 17, RE 9, 1958, 785 f.; PIR2 D 98), dem lateinischsprachigen Lehrer Trosius Aper von Pola (Hist. Aug. Marc. 2,3) und von Aninius Macer (Hist. Aug. Marc. 2,4; Paul von Rohden, Aninius Macer, RE 1,2, 1894, 2211; PIR2 A 606), der ihn in griechischer Rhetorik unterrichtete, sind in den meisten Fällen leider nicht mehr als die Namen bekannt. M. Aur. ad se ipsum 1,7; 1,17,10 f.; 1,17,14; Cass. Dio 72 (71),35,1. Vgl. auch: Hans von Arnim, Maximilian Riba, Iunius 146, RE 10,1, 1917, 1083; PIR2 I 814. Hist. Aug. Marc. 3,3: „[…] den er verehrte und dessen Jünger er wurde und der in Krieg und Frieden etwas galt.“ Hist. Aug. Marc. 3,4. Hist. Aug. Marc. 3,4. […] cui etiam ante praefectos praetorio semper osculum dedit […]. – „[…] er begrüßte ihn auch stets noch vor den Prätorianerpräfekten mit einem Kuß […].“ (Hist. Aug. Marc. 3,4). Vgl. dazu Winterling, Aula Caesaris, 134 f.
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stand, war die Voraussetzung für weitere bedeutende Ämter, die er im Verlauf seiner Karriere eingenommen hat. Rusticus, der bereits im Jahre 133 Suffektkonsul war, wurde kurz nach dem Regierungsantritt Marc Aurels schon im Jahre 162 mit einem zweiten Konsulat geehrt und später, vermutlich bis zum Jahre 168, zum praefectus urbi ernannt.87 Die Zugehörigkeit zum ordo senatorius und eine erfolgreiche Ämterlaufbahn ist auch für andere stoische Lehrer nachweisbar, die in den Selbstbetrachtungen erwähnt werden. Der Stoiker Claudius Maximus88 wird in der Regel mit dem Statthalter in Pannonia superior im Jahre 150 n. Chr. identifiziert, da zumindest die gegenteilige Behauptung, es handele sich um zwei verschiedene Personen, nicht zu beweisen ist. Eine Identifikation wird vor allem deshalb für wahrscheinlich gehalten, da der Statthalter von Apuleius vor allem wegen seiner philosophischen Bildung und seiner Belesenheit in den Schriften des Platon und Aristoteles gerühmt wird.89 Unter der Voraussetzung der Identität der beiden Personen ist davon auszugehen, dass Claudius Maximus den Konsulat im Jahre 144 oder 145 n. Chr. bekleidete und im Verlauf seiner weiteren Karriere noch Prokonsul von Africa im Jahre 160/161 n. Chr. wurde.90 Der Einfluss, den dieser Stoiker auf den Kaiser genommen hat, kann leider außer auf der Grundlage der Selbstbetrachtungen durch keine weiteren Quellen bestätigt werden. Doch der ausführliche Dank, der ihm in den Selbstbetrachtungen zuteil wurde, sowie die Tatsache, dass Marc Aurel ihn im Zusammenhang mit den wohl einflussreichsten Lehrern Rusticus und Apollonios nennt, die ihm die zentrale stoische Auffassung von einem „Leben gemäß der Natur“ nahe gebracht hätten, verdeutlichen, dass Maximus im Leben Marc Aurels keine unbedeutende Rolle spielte.91 Auch für den Stoiker Cinna Catulus92, dessen Person kaum bekannt ist, lässt sich eine Zugehörigkeit zum ordo senatorius feststellen. Prosopographische Untersuchungen ergeben, dass sich im ersten Jahrhundert n. Chr. eine Reihe von Senatoren mit dem cognomen Catulus nachweisen lassen. Wie Hans-Georg Pflaum beobachtet, sei es trotz einer Lücke von 70 Jahren, innerhalb derer Senatoren mit diesem Namen nicht mehr bekannt sind, durchaus möglich, den Lehrer Marc Aurels dieser Tradition anzuschließen.93 87
[…] ad Iunium Rusticum amicum nostrum praefectus urbi […]. (dig. 49,1,1,3); CIL III p.1978; VI 858. 88 M. Aur. ad se ipsum 1,15; 1,17,10; Hist. Aug. Marc. 3,2; PIR2 C 933. 89 Apul. apol. 1; 11; 25; 36; 38; 41; 64. 90 Arthur Stein, Claudius 238, RE 3,1, 1899, 2772 f.; Edmund Groag, Claudius 239, RE 3,1, 1899, 2772; PIR2 C 934; vgl. J. Fitz, Legati Augusti pro praetore Pannoniae inferioris, in: Acta Antiqua 11, 1963, 258–261; vgl. auch Ronald Syme, Governors of Pannonia Inferior, in: Historia 14, 1965, 342–361, 352 ff., bes. 354. 91 M. Aur. ad se ipsum 1,17,10 f. 92 M. Aur. ad se ipsum 1,13; Hist. Aug. Marc. 3,2; Arthur Stein, Cinna Catulus 7, RE 3,1, 1899, 2562; PIR2 C 737. 93 Hans-Georg Pflaum, La valeur de la source inspiratrice de la vita Hadriani et de la vita Marci Antonini à la lumière des personnalités contemporaines nommément citées, in: BHAC 1968/69, 173–232, 210 f.
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IV. Soziale und politische Funktionen der Paideia
Für den Stoiker Sextus aus Chaironea94 kann ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Bildung und Karrierechancen nicht nachgewiesen werden, da er keine Ämter bekleidet hat, sondern stattdessen „Berufsphilosoph“ geblieben ist. Sein Status ist vielmehr dem des bereits erwähnten Apollonios von Chalkedon95 vergleichbar. Beide Philosophen konnten hingegen erwarten, dass Marc Aurel sich vom Kaiserhof aufmachte, um ihre Vorlesung zu besuchen.96 Da Marc Aurel ihnen die Möglichkeit gab, ihn zu beeinflussen, indem er sie persönlich um Rat anging, wird die Position dieser Stoiker von nicht wesentlich geringerer Bedeutung gewesen sein als beispielsweise die des Rusticus. So erinnert sich Themistios, der sich gegen Ende des 4. Jahrhunderts die von Philosophen beratenen Herrscher vor Augen führt, nicht nur an Rusticus, sondern ebenso an Sextus in dessen Rolle als Berater Marc Aurels.97 Auch in vielen philostrateischen Darstellungen werden Philosophen als Gesprächspartner und Berater von Herrschern in Szene gesetzt.98 Ein hoher gesellschaftlicher Status ist für den Peripatetiker Claudius Severus99 nachweisbar, der an späterer Stelle genauer betrachtet werden wird. Er gehörte dem ordo senatorius an und ist identisch mit Cn. Claudius Severus Arabianus, der im Jahre 146 consul ordinarius war.100 Mit der Vergabe eines Amtes zeichnete Marc Aurel den Grammatiker Proculus101 aus. Wie die Historia Augusta berichtet, habe Marc Aurel die mit dem Amt verbundenen Kosten selbst übernommen.102 Da Proculus mit dem Prokonsulat ausgezeichnet wurde, hatte Marc Aurel ihm zuvor sicherlich die gesamte senatorische Laufbahn erschlossen.103 Dass Marc Aurel seine Günstlinge jedoch nicht nach Belieben mit Ämtern versorgen konnte, sondern an die traditionelle gesellschaftliche Ordnung gebunden blieb, wird besonders am Beispiel seiner Mitschüler deutlich. Nach dem Bericht der Historia Augusta sei er ihnen gegenüber stets großzügig gewesen und habe sie, sofern dies möglich war, mit der Übergabe republikanischer Ämter geehrt. Es gab jedoch Personen, die er, wie es heißt, ob qualitatem vitae nicht mit hohen Ämtern 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103
M. Aur. ad se ipsum 1,9; Hist. Aug. Marc. 3,2; Wilhelm Kroll, Sextus 3, RE 2,2, 1923, 2057; PIR2 S 488. M. Aur. ad se ipsum 1,8; Hist. Aug. Marc. 2,7; Paul von Rohden, Apollonios 64, RE 2,1, 1896, 125; PIR2 A 929. Hist. Aug. Ant. P. 10,4; Hist. Aug. Marc. 3,1; Cass. Dio 71,1,2; Philostrat. Vita Sophist. 557. Themist. or. 11,145b; 13,173c. Philostrat. vit. Apoll. 6,29 ff. (Titus); 7,8 (Nerva); 1,28 u. 37 ff. (König von Babylon); 2,27 ff. (König der Inder). M. Aur. ad se ipsum 1,14; Hist. Aug. Marc. 3,3; Edmund Groag, Claudius 346, 350, RE 3,1, 1899, 2868 f.; PIR2 C 1022. CIL VI 1008; XV 678, 3863. Hist. Aug. Marc. 2,3; Rudolf Hanslik, Proculus 6, RE 23,1, 1957, 75. Hist. Aug. Marc. 2,5. Vgl. Pflaum, La valeur, 204; Birley zufolge sei der Name des in der Historia Augusta genannten Grammatiklehrers „Eutychio Proculo Siccensi“ zu verändern in „Tuticius Proculus von Sicca Veneria in Nordafrika“. Diese Emendation begründet Birley damit, dass der Name Eutychius nirgends belegt sei, Proculus aber identisch sei mit dem in CIL VIII 1625 genannten Prokurator M. Tuticius Proculus. Anthony R. Birley, Some teachers of M. Aurelius, in: BHAC 1966, 39– 42.
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auszeichnen konnte und die er stattdessen mit einem beträchtlichen Vermögen bedacht habe.104 Hierbei handelte es sich offenbar um Personen, denen die für die alten magistratischen Ämter notwendige ständische Voraussetzung fehlte. Auch hier zeigt sich, dass die gesellschaftliche Rangordnung von der neuen höfischen Hierarchie keineswegs aufgehoben werden konnte, sondern beide Ordnungen nebeneinander fortbestanden. Der Kaiser konnte zwar durch die Besetzung von Ämtern auf die senatorische Rangordnung Einfluss nehmen, er blieb aber andererseits von der alten republikanischen Ordnung abhängig, da er die Ämter nicht nach Belieben, also bspw. nicht mit Personen niedriger Herkunft, besetzen konnte. Erfolgreiche Ämterlaufbahnen lassen sich hingegen bei den Mitschülern Seius Fuscianus105 und Aufidius Victorinus106 nachweisen, die beide dem Senatorenstand angehörten. Seius Fuscianus, der unter Commodus im Jahr 188 n. Chr. cos. II. ord. wurde, war vermutlich der Nachfolger des Aufidius Victorinus, der dieses Amt im Jahr 183 n. Chr. innehatte. Folgt man den Worten des Cassius Dio, so war letzterer eine der am höchsten geehrten Personen unter Marc Aurel.107 Über Baebius Longus108 und Calenus109, die Mitglieder des ordo equester waren, ist neben dem Nachweis hoher kaiserlicher Gunst nichts bekannt. Außer den hier genannten Philosophen erhielten auch andere Personen, die Marc Aurel unterrichteten, eine entsprechende Anerkennung des Kaisers. Ein weiterer in der Historia Augusta genannter Lehrer Marc Aurels war der berühmte Jurist L. Volusius Maecianus.110 Dieser wurde während der Regierungszeit Marc Aurels in den Senat aufgenommen.111 Einige Lehrer, dies kann anhand zweier verschiedener Beispiele gezeigt werden, wurden nicht dadurch ausgezeichnet, dass der Kaiser ihnen eine senatorische Laufbahn erschloss, sondern dadurch, dass er ihnen Ämter in der höfischen Organisation übertrug. Wie von einem der wichtigsten Vertreter der Zweiten Sophistik, Alexandros von Seleukeia112, berichtet wird, habe Marc Aurel ihn, während er in Pannonien Krieg führte, zu sich gerufen und später als Sekretär eingesetzt. Auch Caninius Celer113, der griechische Rhetoriklehrer, war im Verlauf seiner Karriere gleichzeitig kaiserlicher Beamter ab epistulis.
104 105 106 107 108 109 110 111 112
Hist. Aug. Marc. 3,8 f. Edmund Groag, Seius 9, RE 2,2, 1923, 1122–1124. Paul von Rohden, Aufidius 41, RE 2,1, 1896, 2296–2297; PIR2 A 1393. Cass. Dio 73 (72),11,2. Paul von Rohden, Baebius 30, RE 2,1, 1896, 2730–2731; PIR2 B 19. Arthur Stein, Calenus 3, RE 3,1, 1899, 1351; PIR2 C 221. Hist. Aug. Marc. 3,6; PIR2 V 657. Pflaum, La valeur, 211. M. Aur. ad se ipsum 1,12; Wilhelm Schmid, Alexandros 98, RE 1,1, 1894, 1459; PIR2 A 503; Philostrat. Vita Sophist. 571: ἐβάδιζε μὲν γὰρ ἐς τὰ Παιονικὰ ἔθνη μετακληθεὶς ὑπὸ Μάρκου βασιλέως ἐκεῖ στρατεύοντος καὶ δεδωκότος αὐτῷ τὸ ἐπιστέλλειν Ἕλλησιν […]. 113 M. Aur. ad se ipsum 8,25; Hist. Aug. Marc. 2,4; Arthur Stein, Caninius 2, RE 3,1, 1899, 1477; PIR2 C 388; Philostrat. Vita Sophist. 524; Pflaum, La valeur, 206 f.
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IV. Soziale und politische Funktionen der Paideia
Außer der Übernahme von Ämtern gab es noch weitere Möglichkeiten, Vorteile aus der eigenen Bildung zu ziehen. Hierbei handelt es sich um die sog. sekundäre Form der Gunst, d. h., dass man die Gunst, in der man beim Kaiser stand, dazu nutzen konnte, um ebenfalls andere zu „begünstigen“, die über kein persönliches Nahverhältnis zum Kaiser verfügten.114 Von Alexander aus Kotiaion115, der zu so hohem Ansehen gelangte, dass er die Erziehung Marc Aurels übernehmen durfte, wird berichtet, er habe seine Stellung am Hof dazu genutzt, um seine Berufsgenossen mit Stellen zu versorgen und sich um seine Heimatstadt mit der Errichtung von Bauwerken verdient zu machen. Darüber hinaus sei er zu beträchtlichem Vermögen gelangt, da er im Gegensatz zu vielen anderen Lehrern einen Anspruch auf ein Honorar für seine Lehrtätigkeit geltend machte.116 Im Rahmen einer Untersuchung, die sich mit den verschiedenen Karrieremustern einzelner Lehrer beschäftigt, dürfen die bekanntesten Rhetoriklehrer M. Cornelius Fronto117 und Ti. Claudius Atticus Herodes118 nicht unerwähnt bleiben. Im Unterschied zu vielen anderen Lehrern haben sie in den Selbstbetrachtungen jedoch nur einen vergleichsweise geringen Eindruck hinterlassen, Fronto wird nur mit einem Satz119, Herodes hingegen gar nicht erwähnt. Diese Zurückhaltung wurde in der Literatur auf den alten Streit zwischen der Philosophie und der Rhetorik zurückgeführt, der letztlich auch die Freundschaft zwischen Fronto und Marc Aurel überschattet habe. Ein auf das Jahr 146 n. Chr. datierter Streit habe zu einem eindeutigen Bruch geführt, der dadurch ausgelöst worden sei, dass Marc Aurel seinem Lehrer offen seine Konversion von der Rhetorik zur Philosophie mitgeteilt habe. Marc Aurel beschäftigte sich zu jener Zeit gerade mit der stoischen Lehre des Philosophen Ariston, der ihn in seiner Meinung bekräftigte, dass einem viel Wissen entgehe, wenn man zugunsten der Rhetorik die Philosophie vernachlässige.120 114 Vgl. Winterling, „Hof“, 16. 115 M. Aur. ad se ipsum 1,10; Hist. Aug. Marc. 2,3; Georg Wentzel, Alexandros 95, RE 1,1, 1894, 1455 f.; PIR2 A 502. 116 Ael. Aristid. 32,13 ff. 117 Julius Brzoska, Cornelius 157, RE 4,1, 1900, 1312–1340; PIR2 C 1364. 118 Karl Münscher, Herodes 13, RE 8,1, 1912, 921–954; PIR2 C 802. 119 M. Aur. ad se ipsum 1,11. 120 Aristonis libri me hac tempestate bene accipiunt, atque eidem habent male: quom docent meliora, tum scilicet bene accipiunt; quom vero ostendunt quantum ab his melioribus ingenium meum relictum sit, nimis quam saepe erubescit discipulus tuus sibique succenset, quod viginti quinque natus annos nihildum bonarum opinionum et puriarum rationum animo hauserim. […] His nunc ego curis devinctus obsequium scribendi cotidie in diem posterum protuli. – „Die Bücher des Ariston behandeln mich im Augenblick gut, aber gleichzeitig auch schlecht. Wenn sie mich nämlich Besseres lehren, dann behandeln sie mich natürlich gut; aber wenn sie mir zeigen, wie weit mein Charakter von diesem Besseren entfernt ist, dann errötet dein Schüler gar oft und hadert mit sich, weil mit fünfundzwanzig Jahren meine Seele immer noch nichts von hohen Gedanken und reineren Lehren in sich aufgenommen hat. […] Von diesen Sorgen bedrückt, habe ich die Pflicht zu schreiben jedes mal von einem Tag auf den anderen verschoben.“ [Fronto ad M. Caes. 4,13 (v.d. Hout p. 67 f.; Haines I 217), übers. v. Birley, Mark Aurel, 167] Vgl. auch: Klaus Rosen, Marc Aurel und Fronto. Eine Freundschaft zwischen Macht und Kultur, in: ders. (Hg.), Macht und Kultur im Rom der Kaiserzeit, Bonn 1994, 121–135, 127.
2. Macht und Bildung am Kaiserhof
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Wie im vorangegangenen Kapitel „Paideia – Bildung und Gesellschaft“ gezeigt wurde, gab es innerhalb der Zweiten Sophistik zwischen den Disziplinen der Philosophie und der Rhetorik keinen echten Gegensatz mehr. Da die Grenzen zwischen den Schulmeinungen nur in Konkurrenzsituationen wieder verschärft wurden, muss vor diesem Hintergrund die Frage nach einem Streit als obsolet erscheinen. Die Kontroversen zwischen Marc Aurel und Fronto waren in der Tat, wie Christoph Tobias Kasulke überzeugend nachgewiesen hat, weit von einer Grundsatzdebatte über den Wert der Rhetorik bzw. der Philosophie entfernt.121 Die Auseinandersetzung Marc Aurels und Frontos über rein stilistische Fragen, die auch nach dem „Bekehrungs“-Jahr 146 fortgesetzt wurden, seien letztlich immer nur vorübergehend relevant geworden. Dass sich Marc Aurel aus Verunsicherung über seine eigene Begabung von dem archaistischen Stilideal Frontos distanzierte und es vorzog, entsprechend der stoischen Maxime κατὰ φύσιν zu sprechen, habe der Lehrer seinem Schüler nicht immer nachsehen können, sodass gelegentliche Invektiven nicht ausblieben.122 Die Orientierung Marc Aurels am modernen senecianischen Stil bot Fronto jedoch nicht nur Anlass zur Kritik, sondern nährte zugleich die Sorge, er könne „sein eigenes literarisches Renommee als kaiserlicher Rhetoriklehrer und Prinzenerzieher“ verlieren, anstatt es infolge von Marc Aurels Herrschaftsübernahme reichsweit zu etablieren, wie er vielleicht gehofft haben mag. Kasulke betont wiederum, dass diese Sorge nur zu Beginn von Marc Aurels Regierungstä121 Christoph Tobias Kasulke hat den von einem großen Teil der Forschung angenommenen Konflikt zwischen der Rhetorik und der Philosophie als rivalisierende Bildungsmächte überzeugend widerlegt. Vgl. Christoph Tobias Kasulke, Fronto, Marc Aurel und kein Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie im 2. Jh. n. Chr., München, Leipzig 2005, 188 ff., 248 ff.; Auch Edward Champlin, Fronto and Antonine Rome, Cambridge (Mass.) 1980, 121 ff., behauptet, dass es ein klares Konversionsmoment nicht gegeben habe, da das Interesse Marc Aurels bereits im Alter von zwölf Jahren hauptsächlich der Philosophie galt und eine eindeutige Abkehr von der Rhetorik und der Sophistik nicht feststellbar sei. Daneben betont er jedoch, dass die Interessenlage der beiden klar definiert gewesen sei. Die Ergebnisse der neueren Forschung zur Zweiten Sophistik haben hingegen ergeben, dass es eine klare Abgrenzung zwischen den Disziplinen nicht mehr gab. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel IV.1. 122 Für die Verunglimpfung der Philosophie gibt es zahlreiche Belege, die jedoch nicht als Teil einer Grundsatzdebatte zwischen Rhetoren und Philosophen zu lesen sind, sondern als Bestandteil der innerhalb der Zweiten Sophistik zentralen Konkurrenzsituationen sowie nicht zuletzt als Ausdruck existenzieller Sorgen Frontos. – So behauptet Fronto erstens, dass die Philosophie unfruchtbar und zwecklos sei [Fronto ad Ant. de eloqu. 1–4, (v.d. Hout p. 133–160; Haines II 47–115); ad amicos 1,15 (v.d. Hout p. 180 f.; Haines II 89 f.)], zweitens habe sie nur dann eine Bedeutung, wenn sie als Material zur Auflösung von Trugschlüssen Verwendung finde [Fronto ad Ant. de eloqu. 1 (v.d. Hout p. 141; Haines II 67)] und drittens zwinge sie ihre Jünger, jahrelang in Dunkelheit und Abhängigkeit von ihr zu leben, was insbesondere die Anhänger der Stoa betreffe [Fronto ad Ant. de eloqu. 4 (v.d. Hout p. 150; Haines II 81)]; Vgl. Julius Brzoska, Cornelius 157, RE 4,1, 1900, 1335 f. – Eine vergleichbare Funktion hatten die Invektiven des Herodes Atticus. Die spöttischen Bemerkungen gegenüber der Philosophie und ihren Vertretern sollten vor allem der Aufwertung seiner eigenen Disziplin dienen. Vgl. Gell. 1,2 (Herodes weist einen jungen Stoiker mit einem Epiktet-Zitat zurecht); Gell. 9,2 (Kritik des Herodes Atticus an Vertretern des Kynismus, die die Philosophie durch ihr äußeres Erscheinungsbild demontierten); Gell. 19,12 (Herodes explizite Stellungnahme gegen die zentrale stoische Lehre der ἀπάθεια).
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IV. Soziale und politische Funktionen der Paideia
tigkeit auftrat und insgesamt nur eine kurze Phase markierte. Auch der von Klaus Rosen herausgestellte persönliche und vertraute Ton der Briefe, der durchgängig erhalten blieb, spricht gegen einen deutlichen Bruch innerhalb der Freundschaft.123 Die Tatsache, dass der Stoiker Iunius Rusticus innerhalb der höfischen Hierarchie weitaus stärker begünstigt wurde als Fronto, ist vor dem Hintergrund der bisherigen Argumente und vor allem unter Berücksichtigung des besonders engen Verhältnisses zwischen Marc Aurel und Fronto, wie es in Kapitel III.1 nachgewiesen wurde, nicht als ein grundsätzlicher Sieg zu interpretieren, den die stoische Philosophie innerhalb der höfischen Hierarchie gegenüber der Rhetorik davongetragen hätte.124 Obwohl der Rang der Rhetoriklehrer innerhalb der höfischen Hierarchie nicht so hoch war wie der einiger Philosophen, so gehörten sie auf der gesellschaftlichen Ebene doch zu den herausragendsten Persönlichkeiten ihrer Zeit. Herodes war im Jahr 143 n. Chr. consul ordinarius, im selben Jahr, in dem Fronto für die Monate Juli und August consul suffectus wurde.125 Fronto sollte sogar noch den Prokonsulat für die Provinz Asia übernehmen, was jedoch durch eine spätere Krankheit verhindert wurde. Schließlich gab es neben dem hier betrachteten Personenkreis eine Reihe weiterer Personen, die sich in der höfischen Gunsthierarchie gerade nicht durch ihre Bildung, sondern durch ihre niedrige soziale Herkunft qualifizierten. Zu dieser Gruppe gehörten vor allem Freigelassene, die über erhebliche Macht verfügten, wie die Historia Augusta bestätigt: Multum sane potuerunt liberti sub Marco et Vero Geminus et Agaclytus.126 Der Einfluss des Geminus127 und Agaclytus128 sowie der eines weiteren Freigelassenen namens Coedes129 sei allerdings auf Verus beschränkt geblieben. Nach dem Tod des Verus ist nur der von ihm Freigelassene Eclectus130 von Marc Aurel beibehalten worden, während die anderen unter seiner Herrschaft specie honoris131 abgeschoben wurden. Zu berücksichtigen sind ebenfalls die Karrieren des Macrinius Vindex132 und des Bassaeus Rufus133. Beide gehörten zu der Gruppe der Stadtpräfekten, nach deren auctoritas Marc Aurel seine richterlichen Entscheidungen auszurichten pflegte. Obwohl Cassius Dio berichtet, dass beide ungebildet und von niedriger Herkunft
123 Klaus Rosen, Marc Aurel und Fronto. Eine Freundschaft zwischen Macht und Kultur, in: ders. (Hg.), Macht und Kultur im Rom der Kaiserzeit, Bonn 1994, 121–135, 128. 124 Vgl. dazu Champlin, Fronto and Antonine Rome, 106, 116 f. 125 Vgl. dazu Werner Eck, M. Cornelius Fronto. Lehrer Marc Aurels. Consul suffectus im J.142, in: RhM 141, 1998, 193–196, der im Gegensatz zu der bisher üblichen Annahme nicht davon ausgeht, dass Fronto im Jahre 143, sondern im Jahre 142 Suffektkonsul war. 126 Hist. Aug. Marc. 15,2: „Viel vermochten unter Marcus und Verus die Freigelassenen Geminus und Agaclytus.“ Vgl. auch Verus 9,6. 127 PIR2 G 162. 128 PIR2 A 452. 129 PIR2 C 1236. 130 PIR2 E 3. 131 Hist. Aug. Verus 9,6. 132 Arthur Stein, Macrinius 6, RE 14,1, 1930, 166–167; PIR2 M 25. 133 Paul von Rohden, Bassaeus 2, RE 3,1, 1899, 103–104; PIR2 B 69.
2. Macht und Bildung am Kaiserhof
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gewesen seien134, erreichten sie als Präfekten durch den Erhalt der ornamenta consularia ein Ansehen, das später, unter Caracalla, eine den consulares durchaus vergleichbare Ehre darstellte.135 Eine weitere Möglichkeit für eine Karriere am Kaiserhof bot die Herstellung verwandtschaftlicher Beziehungen. Beispielhaft ist in diesem Zusammenhang die Position des Ti. Claudius Pompeianus136, der, obwohl er nicht von vornehmer Herkunft war, mit Lucilla Augusta, der Tochter Marc Aurels, verheiratet und recht bald, im Jahre 173, cos. II. ord. wurde.137 Seiner engen Beziehung zum Kaiser verdankte er schließlich die einflussreiche Position, als Patron des Pertinax auftreten zu können. Eine geeignete Voraussetzung für die Möglichkeit, in die kaiserliche Familie einzuheiraten, war die über Bildung hergestellte Nähe zum Kaiser, was am Beispiel des Cn. Claudius Severus138, dem Sohn des bereits erwähnten Peripatetikers, erkennbar wird. Cn. Claudius Severus, der eine Tochter Marc Aurels heiratete, wurde zweimal Konsul, das erste Mal als suffectus vor oder im Jahre 163 und das zweite Mal als ordinarius im Jahre 173 zusammen mit Ti. Claudius Pompeianus, dem anderen Schwiegersohn Marc Aurels. Cn. Claudius Severus war ebenso wie sein Vater Vertreter der peripatetischen Philosophie, und auch ihm erlaubte seine herausgehobene Stellung am Hof, die Patronage des Galen übernehmen zu können, der für ihn und andere Vornehme (Sergius Paulus139, Flavius Boethus140, Ceionius Barbarus141) anatomische Vorlesungen hielt.142 Als besonders machtvoll werden in verwandtschaftlichen Zusammenhängen mitunter die am Hof anwesenden Frauen erachtet, die ihren Einfluss, wie die Quellen behaupten, in erster Linie durch Intrigen geltend machten.143 Dies sei auch am Verhalten der Annia Galeria Faustina II.144, der Frau Marc Aurels zu beobachten, die sich durch ihre Untreue und als Drahtzieherin in der Avidius Cassius-Affäre einen Namen gemacht hat, indem sie Cassius darin unterstützt habe, sich zum Kaiser ausrufen zu lassen. Sie habe offenbar nicht erwartet, dass sich Marc Aurel von seiner Krankheit noch einmal erholen sollte.145 Einflussreich war auch Ceionia Fabia146, die Schwester des Lucius Verus. Die hohe Gunst, in der Ceionia Fabia bei 134 Cass. Dio 72 (71),5,2. 135 Vgl. John A. Crook, Consilium principis. Imperial Councils and Counsellors from Augustus to Diocletian, Cambridge 1955 (ND 1975), 70; Wilhelm Enßlin, praefectus praetorio, RE 22,2, 1954, 2391–2502, 2399. 136 Edmund Groag, Claudius 282, RE 3,1, 1899, 2843–2845; PIR2 C 973. 137 Hist. Aug. Marc. 20,6; CIL VIII 18068; IX 4970. 138 Edmund Groag, Claudius 348, RE 3,1, 1899, 2868 f.; PIR2 C 1024. 139 PIR2 S 377. 140 PIR2 F 229. 141 PIR2 C 602. 142 PIR2 C 1024. Vgl. dazu auch die Ausführungen des vorherigen Kapitels; Galen 14,613. 629. 647. 653–656. 143 Zur topischen Darstellung der Kaiserinnen vgl. S. 183. 144 PIR2 A 716. 145 Vgl. Cass. Dio 72 (71),22,3; Hist. Aug. Marc. 24,6; Avid. 7,1. 146 PIR2 C 612.
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IV. Soziale und politische Funktionen der Paideia
ihrem Bruder stand, habe sogar zu dem Gerücht Anlass gegeben, dass beide versucht hätten, Marc Aurel zu beseitigen, eine Tat, die durch Agaclytus verhindert worden sei, der Marc Aurel sofort über diesen Plan in Kenntnis setzte.147 Zu beantworten bleibt die Frage, welche Aussage über den Zusammenhang zwischen Bildung und den verschiedenen Aufstiegsmöglichkeiten anhand des hier am Beispiel der einzelnen Persönlichkeiten zusammengetragenen Materials getroffen werden kann. Während im vorherigen Kapitel gezeigt werden konnte, dass Bildung zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung war, um innerhalb der gesellschaftlichen Rangordnung aufzusteigen, ist in Hinblick auf die höfische Organisation zu beobachten, dass Bildung ganz im Gegenteil keine notwendige, aber eine durchaus hinreichende Grundlage des eigenen Fortkommens sein konnte. Wie zu Beginn dieses Kapitels gezeigt wurde, war der Nachweis eines geringen gesellschaftlichen Ranges für eine Aufnahme in den „persönlichen“ Kreis, der sich im Zuge der Institutionalisierung der „Freundschaft“ des Kaisers mit der Aristokratie allmählich herausgebildet hatte, gerade keine notwendige Voraussetzung mehr. Seit der frühen Kaiserzeit war der gesellschaftliche Rang einer Person tendenziell umso niedriger war, je näher sie dem Kaiser stand. Dieses strukturelle Phänomen konnte am Hof Marc Aurels noch am Beispiel des Eclectus beobachtet werden, der als Freigelassener innerhalb der höfischen Hierarchie über sehr viel Macht und Einfluss verfügte. Wenn zu dieser „engsten“ Umgebung, für die man sich normalerweise mit einem niedrigen sozialen Status qualifizierte, neben dem Freigelassenen Eclectus aber auch Iunius Rusticus gehörte, der, wie andere Gelehrte, aufgrund der ihm übertragenen Ämter über einen recht hohen sozialen Status verfügte, so wird erkennbar, dass Bildung, ungeachtet aller anderen Voraussetzungen, offenbar eine hinreichende Bedingung für den Erwerb kaiserlicher Gunst war.148 Wie Herodian behauptet, seien von den „besten Männern des Senats“, mit denen die Töchter Marc Aurels verheiratet wurden, keine Personen aus den alten Adelsfamilien ausgewählt worden, die sich durch einen weitreichenden Stammbaum und Reichtum auszeichneten. Stattdessen wurden jene bevorzugt, die sich durch ihren Charakter und eine vernünftige Lebensweise hervortaten.149 Durch die Aussage Herodians wird zunächst nur ein machtpolitischer Mechanismus bestätigt, wonach Personen mit einem hohen gesellschaftlichen Prestige, die aus bereits genannten strukturellen Gründen Rivalen des Kaisers waren, eine Inklusion in die persönliche Nähe des Kaisers schon immer erschwert worden ist. Aus seiner Aussage folgt jedoch nicht, dass der Nachweis eines hohen sozialen Status für außerordentlich gebildete Personen ein hinreichendes Exklusionskriterium gewesen wäre. Denn immerhin wurden die Schwiegersöhne Marc Aurels, wie Herodian bemerkt, von den „besten Männern des Senats“ ausgewählt. Während frühere Kaiser noch darauf bedacht waren, ihre Töchter mit Söhnen eines geringen 147 Hist. Aug. Verus 10,1–5; PIR2 C 612. 148 Dass Bildung hier keine notwendige Voraussetzung war, wurde am Beispiel des Bassaeus Rufus deutlich, der sich nicht nur durch eine niedrige soziale Herkunft, sondern auch durch einen Mangel an Bildung auswies. 149 Herodian. 1,2,2.
2. Macht und Bildung am Kaiserhof
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sozialen Status zu verheiraten, wie Augustus, der seine Tochter Iulia mit Agrippa150 vermählte, konnte Marc Aurel es sich offensichtlich leisten, Personen mit einem hohen sozialen Status als Schwiegersöhne zu akzeptieren. Cn. Claudius Severus151, der Ehemann der Annia Aurelia Galeria Faustina, erhielt seinen ersten Konsulat im Jahr 163, also während Marc Aurels Herrschaft. Doch auch sein Vater verfügte bereits über einen hohen sozialen Status. Er war identisch mit Cn. Claudius Severus Arabianus, der im Jahr 146 Konsul war und als Peripatetiker die Aufgabe übernommen hat, den jungen Marc Aurel zu unterrichten.152 Auch M. Peducaeus Plautius Quintillus, der Ehemann der Fadilla, stammte aus einer konsularischen Familie und war selbst consul ordinarius im Jahr 177.153 Der Ehemann der Cornificia war vermutlich M. Petronius Sura Mamertinus, der im Jahr 182 consul ordinarius war.154 Über einen hohen gesellschaftlichen Status verfügte schließlich auch L. Antistius Burrus, der den Konsulat im Jahr 181 bekleidete und der Ehemann von Vibia Aurelia Sabina war. Unsicher ist, ob L. Aurelius Agaclytus, der zweite Mann von Vibia Aurelia, eine Ausnahme in Hinblick auf den sozialen Status der Schwiegersöhne bildete. Es wird vermutet, dass er mit dem bereits erwähnten Freigelassenen Agaclytus identisch war, der sowohl bei Lucius Verus als auch zunächst bei Marc Aurel über viel Macht verfügte. Da, wie bereits gezeigt, Agaclytus seinen Einfluss nach dem Tod des Verus verlor, ist eine Identität zwischen dem Freigelassenen und dem Schwiegersohn Marc Aurels jedoch eher unwahrscheinlich.155 Wie die genannten Beispiele zeigen, stand ein hoher gesellschaftlicher Rang der Möglichkeit, in die kaiserliche Familie einzuheiraten, nicht im Wege. Vor allem war der Nachweis von Bildung eine wichtige Voraussetzung, um die Vorbehalte des Kaisers gegenüber Personen mit einem hohen sozialen Status zu verringern. Dies war nicht nur am Beispiel des Schwiegersohnes Cn. Claudius Severus erkennbar, der während Marc Aurels Regierungszeit zweimal den Konsulat erhielt, sondern auch anhand der Karriere des Stoikers Iunius Rusticus. Obwohl Bildung und hoher sozialer Status innerhalb der höfischen Rangordnung zwei miteinander konkurrierende Kriterien waren, wurde durch den Nachweis eines hohen sozialen Status eine Karriere am Hof nicht verhindert, sondern allenfalls erschwert. Dass, sofern Bildung vorhanden war, die Voraussetzungen für den Erwerb kaiserlicher Gunst erfüllt waren, konnte am Beispiel der Personen nachgewiesen werden, die trotz ihres hohen sozialen Status vom Kaiser begünstigt wurden. 150 In den Quellen wird die ignobilitas des Vaters des M. Vipsanius Agrippa hervorgehoben. Vgl. Tac. ann. 1,3,1. Nach der Aussage Suetons habe Caligula sich angeblich seines mütterlichen Großvaters ob ignobilitatem eius geschämt. (Suet. Cal. 23,1); Rudolf Hanslik, M. Vipsanius Agrippa, RE 9 A1, 1961, 1226–1275, 1228. 151 Edmund Groag, Cn. Claudius Severus 348, RE 3, 1899, 2868. 152 PIR2 C 1024. Edmund Groag, Cn. Claudius Severus Arabianus 350/346, RE 3, 1899, 2868 f. 153 Zu M. Peducaeus Plautius Quintillus vgl. PIR2 P 358, Rudolf Hanslik, M. Peducaeus Plautius Quintillus 54, RE 41. Hlbd., 1951, 43–44. Sein Vater (PIR2 P 356) war Konsul im Jahr 159. Rudolf Hanslik, M. Peducaeus Plautius Quintillus 53, RE 41. Hlbd., 1951, 43. 154 PIR1 P 229; Wilhelm Hoffmann, M. Petronius Sura Mamertimus 71, RE 37. Hlbd., 1937, 1224 f. 155 PIR2 A 452(?); Paul von Rohden, Agaclytus 2, 11, 1958, 717; Hist. Aug. Marc. 15,2.
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IV. Soziale und politische Funktionen der Paideia
Bildung besaß in der gesellschaftlichen und höfischen Rangordnung folglich unterschiedliche Funktionswerte. Während die Paideia innerhalb der gesellschaftlichen Rangordnung bloß eine notwendige Voraussetzung für einen sozialen Aufstieg bildete, war die Philosophie am Hof eine hinreichende Bedingung für Karrierechancen. Schließlich ist die Tatsache, dass ein hoher sozialer Rang den Aufstieg eines Philosophen nicht verhindern konnte, bereits ein Indiz für die am kaiserlichen Hof zu beobachtende mediatisierende Funktion, die die Philosophie für das spannungsreiche Verhältnis zwischen Kaiser und Aristokratie übernommen hatte.
V. POLITISCHE THEORIE DER ZWEITEN SOPHISTIK – ÜBER DIE WIEDERAUFNAHME EINES KLASSISCHEN HERRSCHERIDEALS 1. GEGENWÄRTIGE VERGANGENHEIT Ein zentrales Phänomen der Zweiten Sophistik war die intensive Bezugnahme auf die Vergangenheit insbesondere des klassischen Griechenland des 5. und 4. Jahrhunderts. Die Perserkriege, die Eroberung Griechenlands durch Philipp II. von Makedonien und der Sieg Alexanders des Großen über die Perser waren immer wiederkehrende Themen in den Reden der Sophisten. Die Frage, wie die Beziehung zwischen der erinnerten Vergangenheit und den gegenwärtigen Verhältnissen des 1. und 2. Jahrhunderts n. Chr. zu deuten ist, wird in der Forschung sehr unterschiedlich beantwortet. So wird der Bezug auf die Vergangenheit sowohl als Ausdruck griechischer Emanzipationsbestrebungen als auch als Manifestation römischer Machtinteressen oder als völlig bedeutungsloses Spiel eingestuft.1 Die Vertreter der letzten Position gehen davon aus, dass der rückwärts gewandte Blick der Sophisten überhaupt keine Bedeutung für die Zeit ihrer eigenen Gegenwart besessen habe. Nach der Auffassung von Walter Ameling habe die Erinnerung an vergangene Ereignisse und Personen, die von der „täglichen Wirklichkeit des Imperium Romanum“ ablenken sollte, letztlich sogar den „Niedergang des Imperiums wesentlich beschleunigt“.2 Auch Donald A. Russell ist der Auffassung, dass die obsessive Beschäftigung mit der Vergangenheit letztlich die Abkehr von den Realitäten des Hier und Jetzt erleichtern sollte: „the rhetors seem to have lived largely in the past, in a world whose glitter made the present relatively unimportant and insignificant“.3 Im Gegensatz dazu verweisen neuere Arbeiten auf ganz vitale Interessen an der Gegenwart, die die Sophisten veranlassten, ihren Blick auf jene vergangenen Themen zu richten. Ewen L. Bowie beschreibt die Entstehung der Zweiten Sophistik als ein Symptom für die Unzufriedenheit der unter römischer Herrschaft stehenden Griechen. Nach seiner Auffassung führte die Zweite Sophistik jedoch nicht zu einer Abkehr, 1 2
3
Einen detaillierten Überblick über die unterschiedlichen Interpretationsansätze zur Zweiten Sophistik gibt das Forschungskapitel. An dieser Stelle geht es lediglich um die Frage, welche Funktion ihr Bezug auf die Vergangenheit hatte. Walter Ameling, Griechische Intellektuelle und das Imperium Romanum. Das Beispiel Cassius Dio, in: ANRW 2,34,3, 1997, 2472–2499, 2476, 2493. Ameling glaubt hiermit ex negativo die von Bowersock vertretene These zu bestätigen, dass die Sophisten, insofern sie den Untergang Roms vorantrieben, für die römische Geschichte eine größere Bedeutung besessen hätten als innerhalb der griechischen Literaturgeschichte. Donald Andrew Russell, Greek Declamation, Cambridge 1983, 108.
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V. Politische Theorie der Zweiten Sophistik
sondern zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der Gegenwart.4 Die Erinnerung an ihre glorreiche Vergangenheit habe den Griechen die Möglichkeit gegeben, ihre Identität aufrecht zu erhalten und gegenüber der politischen Macht Roms eine kulturelle Gegenmacht zu etablieren. Simon Swain schließt sich dieser Auffassung an, wenn er behauptet, dass auch diejenigen Griechen, die politisch in Rom reüssierten, niemals bereit gewesen seien, ihre griechische gegen eine römische Identität einzutauschen.5 Andere Autoren beschreiben die Zweite Sophistik nicht als ein griechisches, sondern als ein römisches Phänomen. Ein Konflikt zwischen kultureller Identität und politischer Macht wird von Glen W. Bowersock im Gegensatz zu Simon Swain nicht wahrgenommen.6 Bowersock unterstellt den Griechen aufgrund der politischen Aufstiegschancen in Rom vielmehr einen grundsätzlichen Integrationswillen. Die Zweite Sophistik sei vor allem ein Resultat römischer Machtinteressen gewesen, die mit der Förderung der griechischen Kultur das Ziel verbunden hätten, die griechischen Eliten auf diese Weise ihrem Herrschaftssystem einzuverleiben. Verschiedene Autoren richten sich gegen die Sichtweise von Bowersock, der die imperialen Vorstellungen, die die Römer über ihre Welt entwickelten, lediglich reproduziere. Besonders kritikwürdig erscheint ihnen die Auffassung, dass die griechische Identität im römischen Weltreich vollständig aufgegangen sei: „It is indeed only the crude discourse of nationalism […] that […] leads to the stark assumption that the Greek elite must have been pro-Roman in all respects, since they could not otherwise have supported Rome at all.“7 Als eine reine Erfindung der Römer beschreiben auch ideologiekritisch argumentierende Autoren wie Susan E. Alcock die Zweite Sophistik, die sowohl von der griechischen Tradition als auch von dem Selbstverständnis der Griechen in der Gegenwart völlig abgekoppelt gewesen sei. Die Römer, die die Vergangenheit in der Gegenwart zu sehen wünschten, hätten sich insbesondere in Griechenland eine ihren Vorstellungen entsprechende imaginäre Landschaft geschaffen, die sie als Touristen oder Studenten bereisen konnten.8 Sie besuchten Heiligtümer, nahmen an Festveranstaltungen in den Provinzen teil und besuchten die großen Zentren Griechenlands, allen voran Athen, Sparta und Argos.9 Es waren speziell die von Hadrian geförderten Baumaßnahmen, die alte Traditionen wiederbeleben und Athen als kulturelles Zentrum der politischen Führungseliten des griechischen Ostens bestätigen sollten. Zum Knotenpunkt der intellektuellen Strömungen der Zeit entwickelte sich Athen nicht zuletzt durch die Institution des Panhellenion, in dem, wie das inschriftliche Material bezeugt, zahlreiche Städte des griechischen Ostens Mitglieder waren.10 Auch die Verfassung 4 5 6 7 8 9 10
Vgl. dazu Ewen L. Bowie, Greeks and their Past in the Second Sophistic, in: Moses I. Finley (Hg.), Studies in Ancient Society, London, Boston (Mass.) 1974, 167, 207 ff. Swain, Hellenism and Empire, 71. Bowersock, Greek Sophists, 16. Swain, Hellenism and Empire, 70. Susan E. Alcock, Graecia capta. The Landscape of Roman Greece, Cambridge 1993, 225. Vgl. dazu Alcock, Graecia capta, 224 ff.; Swain, Hellenism and Empire, 74 ff. Vgl. dazu Marco Galli, Die Lebenswelt eines Sophisten. Untersuchungen zu den Bauten und Stiftungen des Herodes Atticus, Mainz 2002, hier 10, vgl. 9 ff.; Kostas Buraselis, Zum hadrianischen Regierungsstil im griechischen Osten oder vom kaiserlichen Agieren und Reagieren,
1. Gegenwärtige Vergangenheit
141
Athens wurde von Hadrian reformiert. Der neu eingerichtete Stadtrat erinnerte an die Boulé der klassischen Zeit, insofern seine Mitgliederzahl wieder 500 betrug. Die Wiedereinführung von Agonen und zahlreichen anderen Festlichkeiten war ebenfalls ein Medium des kulturellen Gedächtnisses, das die Erinnerung an die klassische Zeit inszenieren und neu beleben sollte.11 Athen und Sparta seien, so die Auffassung von Alcock und Swain, mit Museen vergleichbar gewesen, durch die der Besucher wie durch einen „Themenpark“ hindurchgeführt worden sei. Entlang einzelner Sehenswürdigkeiten – zu denen Platons Akademie, der Strand, an dem Demosthenes seine Stimmübungen praktizierte, ebenso gehörten wie das Grab des Perikles – sei dem Besucher die einstige Größe, nicht aber das zeitgenössische Leben der Stadt vor Augen geführt worden. In der gleichen Weise wie das reale Arkadien nichts mit dem idealisierten Schäferidyll zu tun hatte, seien auch die anderen Orte lediglich eine Projektionsfläche für die Wünsche und Vorlieben der Römer geworden.12 Im Unterschied zu diesen Interpretationsansätzen behauptet Marco Galli zu Recht, dass die Wiederbelebung der Vergangenheit für die Griechen mehr war als eine „antiquarische Manie“ oder eine bloße „Modeerscheinung“, die den „‚nostalgische[n]‘ Rückzug“ aus einer entpolitisierten Gegenwart zum Zweck gehabt hätte. Meine These ist, dass die Zweite Sophistik ein hybrider Raum war, in dem die Durchsetzung sowohl griechischer als auch römischer Interessen verhandelt werden konnte.13 Ein zentrales Medium dieser Aushandlungsprozesse waren die sophistischen Reden, und zwar im Besonderen die suasoriae und controversiae. Diese Reden, die historische, fiktive und mythologische Themen behandelten, sind ebenso wie die Zweite Sophistik insgesamt in der Forschung lange Zeit entwertet worden „as merely playful speeches, lacking any sense of engagement with contemporary reality“.14 So betont auch Russell den rein fiktiven Charakter der Reden, die verortet waren „[…] in an imaginary world subject to laws and politics different from those of the cities of the Greek East“.15 Im Unterschied zu den genannten Positionen wird die folgende Darstellung belegen, dass die in den Reden thematisierte Vergangenheit auf ein unmittelbar gegenwärtiges Problem Bezug nahm. Äußerst brisante Themen der Gegenwart wurden durch die Reden in einen imaginären Raum transferiert, innerhalb dessen sie, von äußeren Notwendigkeiten scheinbar suspendiert, verhandelbar waren. „[…] they convert real life issues into a culturally-laden mode of communication, investing these issues with ideological form and value, and thus
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14 15
in: Hans-Ulrich Wiemer (Hg.), Staatlichkeit und politisches Handeln in der römischen Kaiserzeit, Berlin 2006, 41–54, 51 ff. Jan Assmann (Hg.), Das Fest und das Heilige, Gütersloh 1991. Alcock, Graecia capta, 226 f. Die Interpretation der Reden des Aelius Aristides führt auch Flinterman zu einer vergleichbaren Beobachtung: „Oratory brings up proposals, acts in embassies, and is thus constantly engaged in modelling the circumstances of human life.“ Jaap-Jan Flinterman, The Self-Portrait of an Antonine Orator. Aristides, or. 2,429 ff., in: Erik Nis Ostenfeld (Hg.), Greek Romans and Roman Greeks. Studies in Cultural Interaction, Aarhus 2002, 198–211, 201. Whitmarsh, The Second Sophistic, 71. Russell, Greek Declamation, 105.
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V. Politische Theorie der Zweiten Sophistik
providing a context for society to debate them.“16 Nach dem Urteil von Ruth Webb konstituierten die sophistischen Reden einen von ihr treffend als „safe zone“ bezeichneten Raum, innerhalb dessen die Äußerung von Kritik möglich gewesen sei, ohne sich weiteren Gefahren auszusetzen.17 Zwischen der entfernten Vergangenheit und der Gegenwart konnte eine Annäherung ebenso flüchtig und unmittelbar geknüpft wie erneute Distanz wieder hergestellt werden.18 Die Reden hatten jedoch nicht nur die Funktion, der an der römischen Herrschaft entstandenen Kritik ein Ventil zu geben.19 Vielmehr sollten die Reden die Aufgabe übernehmen, die Machtstrukturen, die sich zwischen den römischen Kaisern und den stadtrömischen wie provinzialen Eliten etabliert hatten, verhandelbar zu machen.20 Dies soll am Beispiel der sog. Tyrannisreden und des Demokratiediskurses in den folgenden Unterkapiteln nachgewiesen werden. 2. TYRANNIS- UND DEMOKRATIEDISKURS Eine Vorlage der Tyrannis- und Demokratiereden waren die sog. peri basileiasReden der griechischen Autoren des 5. und 4. Jahrhunderts.21 Lukian legt mit seiner 16 17 18 19
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Whitmarsh, The Second Sophistic, 71. Ruth Webb, Fiction, Mimesis and the Performance of the Greek Past in the Second Sophistic, in: Tim Whitmarsh, Christopher Kelly, James Warren (Hg.), Greeks on Greekness. Viewing the Past under the Roman Empire, Cambridge 2006, 27–46, 44. Eine vergleichbare Funktion hatten Träume, z. B. die des Aristides, die ebenfalls die Phantasie belebten und jederzeit erlaubten, einen Vergleich zwischen zeitgenössischen Personen und historischen Figuren herzustellen und auch wieder aufzulösen. Dies entspricht der Interpretation von Ewen Bowie, Literature and Sophistic, in: CAH 11, 2000, 898–921, der von einer „Greek Second Sophistic“ spricht und davon ausgeht, dass es kaum römische, sondern vorwiegend griechische Deklamationen gegeben habe, denn „the élite of Rome and of western cities had no doubts about their role as a governing class. […] In the Greek world, however, one reason for the prevalence of sophistic declamation, often by members of a city’s élite, was its role as a substitute for ‚real‘ uses of oratory that acquired or displayed political power.“ Dass historische Themen nicht nur ein zentraler Bestandteil der Zweiten Sophistik waren, sondern auch zur Lösung gegenwärtiger Probleme eingesetzt wurden, behauptet auch Philostrat: ἡ δὲ μετ᾿ ἐκείνην, ἣν οὐχὶ νέαν, ἀρχαία γάρ, δευτέραν δὲ μᾶλλον προσρητέον, τοὺς πένητας ὑπετυπώσατο καὶ τοὺς πλουσίους καὶ τοὺς ἀριστέας καὶ τοὺς τυράννους καὶ τὰς ἐς ὄνομα ὑποθέσεις, ἐφ᾿ ἃς ἡ ἱστορία ἄγει. – „Aber [die Sophistik], die nach jener kam, die bezeichnen wir nicht als neu, denn sie ist alt, sondern besser als Zweite; sie skizziert Arme und Reiche, die Besten und Tyrannen und hilft uns Annahmen auf den Begriff zu bringen, wofür die geschichtliche Tradition aufschlußreich ist.“ (Philostrat. Vita sophist. 481) Zu nennen sind hier die Kyrupädie Xenophons sowie die Reden des Isokrates, im Besonderen die Rede an Nikokles. Zur Literatur vgl. Pierre Hadot, Fürstenspiegel, in: RAC 8, 1972, 555– 632, 566, der vor allem die mit den Reden verbundene moralische Absicht hervorhebt. – Zur politischen Funktionalität der Fürstenspiegelliteratur vgl. Walter Eder, Monarchie und Demokratie im 4. Jahrhundert v. Chr. Die Rolle des Fürstenspiegels in der athenischen Demokratie, in: ders. (Hg.), Die athenische Demokratie im 4. Jahrhundert v. Chr. Vollendung oder Verfall einer Verfassungsform? Akten eines Symposiums 3.-7. August 1992, Stuttgart 1995, 153–173, 155 ff. Matthias Haake will die peri basileias-Schriften hingegen nicht dem Genus der Fürstenspiegelliteratur zuordnen, da sie keine Theorie der Monarchie enthielten: „[…] die Figur des
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Schrift über den „Tyrannenmörder“ wesentliche Strukturmerkmale dieser Reden dar. Der Tyrannenmörder, von dem Lukian berichtet, hat zuerst den Sohn des Tyrannen getötet, woraufhin der Vater aus Entsetzen über den Tod seines Sohnes seinem Leben selbst ein Ende bereitete. Der Tyrannenmörder behauptet nun, dass er mit dieser Tat die Stadt gleichsam von zwei Tyrannen befreit und somit die Voraussetzungen für die Wiederherstellung von Frieden, Freiheit und einem Leben ohne Furcht geschaffen habe.22 Mit dem Satz: „Πάρειμι οὖν κομίζων ὑμῖν τὴν δημοκρατίαν […]“ rechtfertigt er vor den Richtern der Stadt seinen Anspruch auf eine entsprechende Belohnung.23 Die jedem Zuhörer bekannte Geschichte ist zum einen eine Nacherzählung der berühmten Tat der beiden Athener Harmodios und Aristogeiton, die im Jahr 514 v. Chr. die Ermordung des Tyrannen Hippias planten und von den Athenern als Begründer der Demokratie gefeiert wurden. Zum anderen berührte die Rede ein empfindliches Thema der Zeit. Grundsätzlich richtete sich der Vorwurf der Tyrannis gegen Personen, die sich über aristokratische Interessen hinwegsetzten. Auch im 6. Abschnitt der Tyrannisrede des Lukian wird der Tyrann als Gegner der Aristokratie dargestellt, die unter seiner Herrschaft ihre Freiheit verloren habe: τοιγαροῦν οὐδ᾿ ἐπιχειρεῖν τις ἐτόλμα τῶν γεννικῶν καὶ τὰ αὐτὰ ἐμοὶ προαιρουμένων, ἀλλ᾿ ἀπέγνωστο παντάπασιν ἡ ἐλευθερία καὶ ἄμαχος ἡ τυραννὶς ἐδόκει, πρὸς τοσούτους ἐσομένης τῆς ἐπιχειρήσεως.24 Als Tyrannen wurden jedoch nicht nur die römischen Kaiser, sondern auch Statthalter, die ihre Provinzen schlecht verwalteten, sowie allgemein diejenigen Personen bezeichnet, die sich von dem aristokratischen Gleichheitsgrundsatz zu weit entfernten. Anhand einer Aussage des Dion Chrysostomos, der von seiner Heimatgemeinde Prusa als Tyrann angeklagt worden war, wird deutlich, dass der Tyrann hier weniger dem klassischen Bild des Gewaltherrschers entspricht als vielmehr einer Person, von der man befürchtet, sie könne ihre Macht monopolisieren, um sie gegen die Aristokratie einzusetzen. Nach Dion gehört zu den Merkmalen eines Tyrannen, die er dem Katalog klassischer Tyrannentopik entnimmt, dass er verheiratete Frauen verführe, Knaben und freie Menschen schlage, misshandle und in einen Kessel mit siedendem Wasser tauche. Keine dieser Taten mochte Dion hingegen auf sich selbst beziehen. Ganz andere Gründe, so seine Vermutung, waren es, die die Menschen veranlassten, ihn als Tyrannen zu verunglimpfen. Die Tatsache, dass er sein Haus in großem Stil wiederaufbauen ließ, dass er ein Purpurkleid und nicht einen zerrissenen Mantel sowie langes Haar und einen Bart trug, begründete den Vorwurf in seinem Fall. Es Monarchen ist keine eigenständige Konstruktion, sondern ergibt sich allein aus einer Umkehrung des negativen Tyrannenimages.“ Matthias Haake, Warum und zu welchem Ende schreibt man peri basileias? Überlegungen zum historischen Kontext einer literarischen Gattung im Hellenismus, in: Karen Piepenbrink (Hg.), Philosophie und Lebenswelt in der Antike, Darmstadt 2003, 83–138, 90. Zur Auswahl der kaiserzeitlichen Fürstenspiegel vgl. S. 149, Anm. 51. 22 Lukian. tyrann. 10. 23 Lukian. tyrann. 9: So bin ich nun hier, euch die Demokratie zurückzubringen […]. 24 Lukian. tyrann. 6: „Darum nun wagte nicht einer von den Adligen Hand anzulegen und dasselbe wäre mir lieber gewesen, sondern man hat die Hoffnung, frei zu sein, ganz und gar aufgegeben und die Tyrannis schien unüberwindlich, gegen so viele hätte man angehen müssen.“
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war nicht der Reichtum als solcher, der die gegen ihn gerichteten Anschuldigungen provozierte, sondern der Verdacht, dass er seine finanziellen Mittel für eigene Zwecke einsetzte, die sich von dem Gleichheitsgrundsatz seiner Standesgenossen allzu weit entfernten. Dies belegt das folgende Beispiel. Nach der Auffassung von Dion bedurfte seine Stadt einer baulichen Verschönerung, wenn sie mit großen Städten Kleinasiens wie Ephesus, Milet und Smyrna konkurrieren wollte.25 Sein Vorhaben, eine Portikus zu bauen, wurde zuerst mit großem Enthusiasmus aufgenommen. Später warf man ihm jedoch vor, wie ein Tyrann zu handeln, der nicht das Wohl der Stadt, sondern ausschließlich seine eigenen ehrgeizigen Pläne verfolge. Diese Vorwürfe kamen von seiten der Aristokratie, an die Dion seine Verteidigung richtete. In anderen Städten, die noch viel unbedeutender als Prusa waren, seien sich, so die rechtfertigenden Worte Dions, zumindest die „maßgeblichen Menschen“ darin einig gewesen, dass es notwendig sei, für das Ansehen einer Stadt entsprechend Sorge zu tragen. Den Verdacht, eigennützig zu handeln, versucht Dion von sich abzuweisen, indem er sich von Nero, dem Gegenbild eines „guten“, senatsfreundlichen Kaisers, distanziert. Sein Haus, so beteuert er, solle nicht wie die domus aurea das Ehrgefühl seiner Mitbürger verletzen. Im Gegensatz zu einem goldenen Haus, das zu nichts nutze sei, hätten die von ihm eingeleiteten städtebaulichen Maßnahmen einen allgemeinen Wert, wie die von ihm geplante Portikus, die allen Bürgern gleichermaßen im Sommer Schatten spende. ἀλλ᾿ οὔτε γυμνάσιον ἐν πόλει μόνος οὐδεὶς ἔχει γυμναζόμενος οὔτε στοὰν οὔτε βαλανεῖον οὔτε ἄλλο τῶν δημοσίων οὐδέν. ἢ ἐγὼ τετύφωμαι καὶ ἀνόητός εἰμι.26 Um den Eindruck entstehen zu lassen, dass alles, was er in der Stadt veranlasste, nicht seinem Willen, sondern den Interessen der Aristokratie entsprach, forderte er: μόνον ἕν τι προστάξατε·27 Auf Veranlassung der Aristokratie zu handeln, ist für Dion die einzige Möglichkeit, sich ihrer Kritik zu entziehen. Verbreitet war innerhalb der kaiserzeitlichen Tyrannentopik die Rede von Semiramis, die mehr als für ihre promiskuitiven Vorlieben für die allein ihrem eigenen Ruhm dienende Errichtung von Städten bekannt geworden ist – das wohl berühmteste Beispiel ist Babylon.28 Dazu Diodor: ἐφιλοτιμεῖτο οὖν ἅμα μὲν μνημεῖον ἀθάνατον ἑαυτῆς ἀπολιπεῖν, ἅμα δὲ σύντομον ποιήσασθαι τὴν ὁδόν· διόπερ τούς τε κρημνοὺς κατακόψασα καὶ τοὺς κοίλους τόπους χώσασα σύντομον καὶ πολυτελῆ κατεσκεύασεν ὁδόν, ἣ μέχρι τοῦ νῦν Σεμιράμιδος καλεῖται.29 25 26 27 28 29
Dion. 47,13. Jennifer Tobin, Herodes Attikos and the City of Athens. Patronage and Conflict under the Antonines, Amsterdam 1997, 288; Christopher P. Jones, The Roman World of Dio Chrysostomus, Cambridge (Mass.) 1978, 111–115. Dion. 47,17: „Nein, niemand hat in einer Stadt ein Gymnasion für sich allein zum Üben, eine Säulenhalle, ein Bad oder eine andere öffentliche Einrichtung. Ich müsste ja verrückt und schwachsinnig sein!“ Dion. 47,20: „Gebt mir irgendeinen Auftrag!“ Vgl. Tobin, Herodes Attikos, 290. Diod. 2,13,5: „Sie war nun so ehrgeizig, nicht nur ein unvergängliches Denkmal ihrer selbst zu hinterlassen, sondern auch den Weg abzukürzen, weshalb sie Bergwände abtragen und Schluchten aufschütten ließ und so tatsächlich unter großen Kosten den Weg abkürzte, der seither nach ihr Straße der Semiramis benannt wird.“
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Vergleichbare Anschuldigungen wie gegen Semiramis finden sich nicht nur bei Dion, sondern auch in den Vorwürfen gegen Herodes Atticus wieder. Auch er wollte sich ein Denkmal setzen, das unverwechselbar mit seinem Namen verbunden werden sollte. Die Stiftungen in Athen – das Stadion und das Odeion – sowie zahlreiche weitere Wohltaten in anderen Städten, wie Alexandreia Troas, Korinth, Delphi und Olympia beweisen dies. Interessant ist die Begründung, weshalb Herodes auf sein größtes Projekt, nämlich den Isthmus zu durchstechen, verzichtete. Philostrat berichtet, Herodes habe sich von dem ambitionierten Projekt, an dem schon viele andere gescheitert waren, aufgrund der Sorge distanziert, mit Nero, der ähnliche Pläne hatte, verglichen zu werden.30 Wie Dion konnte auch Herodes Atticus es sich nicht leisten, seinen Namen mit dem Odium des „schlechtesten“ Kaisers der römischen Geschichte zu belasten.31 Doch auch die Kaisernähe, über die Herodes verfügte und die für viele andere unerreichbar blieb, war ein Grund, der den Unmut der Aristokratie provozieren konnte. Herodes Atticus war für die griechische Rhetorik der wichtigste Lehrer des Marc Aurel und des Lucius Verus. Er heiratete Regilla, die mit der Frau des Antoninus Pius, Faustina der Älteren, verwandt war. Als Regilla starb, ließ er ihr eine Statue in dem Tempel der Faustina, der in der Nähe seines Besitzes an der Via Appia lag, aufstellen und bewirkte so, dass seine Frau der vergöttlichten Kaiserin beigesellt wurde. Sein eifriges Bemühen um Kaisernähe zeigt sich auch in Olympia, wo er vier Generationen seiner und Regillas Familie parallel zu den vier Generationen der kaiserlichen Familie darstellen ließ. In Eleusis sollte ein inschriftlich veröffentlichtes Gedicht die tiefe und persönliche Freundschaft zwischen ihm und Lucius dokumentieren.32 Im Heiligtum der Nemesis in Rhamnous ließ Herodes schließlich Tierdarstellungen errichten, die Marc Aurel, Lucius Verus und ihn selbst verkörpern sollten, mit dem Ziel, eine Art kaiserliche Trias zu begründen.33 Die vielfach dokumentierte Kaisernähe, die ihm einen Platz außerhalb des Spielraumes inneraristokratischer Konkurrenz zuwies, musste die Kritik der Oberschichten provozieren.34 Die Tyrannisreden waren vor allem im ersten Jahrhundert ein Medium, durch das antirömischer Kritik ein Raum verschafft werden konnte.35 Der Redner Demosthenes, der die griechische Freiheit gegenüber der makedonischen Fremdherrschaft verteidigt hatte, war eine zentrale Identifikationsfigur für die Vertreter der Zweiten Sophistik.36 So ließ Polemon beispielsweise im Asklepieion von Pergamon 30 31 32 33 34 35 36
Philostrat. Vita Sophist. 551 f. Philostrat. Apollon. 5,33 erläutert am Beispiel Neros die Merkmale einer Tyrannenherrschaft. Zum Erinnerungsgedicht an Lucius Verus vgl. Walter Ameling, Herodes Atticus, Bd. 2, Inschriftenkatalog, Nr.186. Tobin, Herodes Attikos, 291 f. Die Reaktionen der Aristokratie, die in dem Kapitel „Der Prozess gegen Herodes Atticus“ erläutert werden, sollen hier nicht ausführlich dargestellt werden. Nigel M. Kennell, Herodes Atticus and the Rhetoric of Tyranny, in: CPH 92.4, 1997, 346–362, 353: […] the accusation of tyranny appears to have been an essential element of contemporary political discourse, particularly invective. Eine Vorlage war Demosthenes bereits für die Philippischen Reden Ciceros, der den Tyrannisvorwurf gegen seine gegen Antonius gerichtete Kritik verwendete. Vgl. dazu Wilfried Stroh,
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eine Statue für diesen aufstellen. Dass die Inhalte der demosthenischen Reden im ersten Jahrhundert hohe politische Wirksamkeit entfalteten, bestätigt ein Bericht Philostrats. Dion Chrysostomos habe sowohl Platons Phaidon als auch Demosthenes’ De falsa legatione mitgenommen, als er vor Domitian zu der Zeit, als dieser immer mehr Philosophen aus Rom verbannen ließ, flüchten musste. Das Buch De falsa legatione, in dem Demosthenes seinen Rivalen Aeschines der Komplizenschaft mit Philipp beschuldigt, konnte als unmittelbare Anspielung auf die Schmeicheleien und die Korruption am Hof des Tyrannen Domitian gelesen werden.37 Wichtiger als die in den Reden vermutete Äußerung antirömischer Kritik war das von den Sophisten entwickelte Bild eines idealen Herrschers, mit dem die römischen Kaiser konfrontiert und die Erwartungen an sie expliziert wurden. Es war nicht nur das negative Bild des Tyrannen, das die Auseinandersetzung mit der römischen Herrschaft leitete. Das Bild eines idealen Herrschers entwickelte sich vielmehr aus der Gegenüberstellung von einem „tyrannischen“ und einem „demokratischen“ Herrscher. So wurden die sogenannten „schlechten“ Kaiser als Tyrannen dargestellt, indem man sie bspw. mit dem persischen Großkönig identifizierte38, während die senatstreuen Kaiser als „demokratische Herrscher“ lobend hervorgehoben wurden. Entsprechend wurde ihre Herrschaftsform als „wahre Demokratie“ oder als Repräsentation des „neuen Athen“ bezeichnet. Beat Näf zufolge war der Begriff der „Demokratie“ letztlich ein leerer Begriff, obwohl er feststellt, dass dieser im 2. Jahrhundert n. Chr. „ein Wort in aller Munde“ gewesen sei. Seine Aufgabe habe lediglich darin bestanden, oligarchische Interessen zu zementieren, wohingegen die attische „Demokratie mit ihren spezifischen Einrichtungen“ in Vergessenheit geraten sei.39 Näf ist insofern zuzustimmen, als der Begriff der „Demokratie“, der sich von der Rolle des Volkes vollständig gelöst hatte, in der Tat als Bezeichnung für eine Verfassungsform keine Verwendung mehr fand. Offen bleibt jedoch die Frage, ob es eine positive Funktion des Demokratiebegriffes gab, die seine häufige Verwendung im 2. Jahrhundert erklären kann. Wie Näf eher beiläufig bemerkt, wurden mit dem Demokratiebegriff Herrschaftsprinzipien in Erinnerung gerufen, die einen „Konsens zwischen Regierenden und Regierten“ herstellen sollten.40 Dieses Herrschaftsprinzip bildet meines Erachtens das Proprium des Demokratiebegriffes und der politischen Theorie der Zweiten Sophis-
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Die Nachahmung des Demosthenes in Ciceros Philippiken, in: Éloquence et rhétorique chez Cicéron (Fondation Hardt: Entretiens sur l’antiquité classique, Bd. 28), Genf 1981, 1–31. Whitmarsh, Second Sophistic, 68. Der Begriff ὁ βασιλεύς bezeichnete im klassischen Griechenland den persischen Großkönig. Er wurde von den Griechen des ersten Jahrhunderts auch auf die römischen Kaiser angewendet. Der Begriff „Satrap“ wurde auf die römischen Provinzstatthalter übertragen. Vgl. dazu Dion. 7,66; 7,93; 47,9; 49,6; 50,6; 66,12; 77,8 u. 28; Lukian. Nigrinus 20. Vgl. Whitmarsh, The Second Sophistic, 66. Beat Näf, Die attische Demokratie in der römischen Kaiserzeit. Zu einem Aspekt des Athenbildes und seiner Rezeption, in: Peter Kneissl, Volker Losemann (Hg.), Imperium Romanum. Studien zu Geschichte und Rezeption, Stuttgart 1998, 552–570, 553, 567, 569 f. Ebd. 564. Caroline Stamm behauptet ebenfalls, dass innerhalb der Zweiten Sophistik nicht von einem „echten Vergangenheitsbezug“ gesprochen werden könne. Vielmehr gehe es darum, bestimmten Werten und Vorstellungen durch die Herstellung eines Vergangenheitsbezuges Auto-
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tik. Die Beziehung zwischen Regierenden und Regierten korrespondiert in der Gedankenwelt der Zweiten Sophistik mit den Beziehungen zwischen Kaiser und Aristokratie, nicht aber mit denen zwischen Kaiser und Volk.41 Die Sophisten konfrontierten die römischen Machthaber mit dem Demokratiebegriff und verknüpften mit ihm die politische Forderung, reziproke Herrschaftsstrukturen zwischen Kaiser und Aristokratie herzustellen. Inhaltlich bezog sich der Demokratiebegriff auf solche Prozesse, in denen aufkeimende hierarchische Herrschaftsstrukturen wieder durch reziproke ersetzt werden sollten. Auch bei Lukian war die Demokratie gleichbedeutend mit der Beseitigung der Tyrannis und der Wiederherstellung aristokratischer Freiheit.42 Das Ziel der Tyrannis- und Demokratiereden bestand jedoch nicht darin, das römische Kaisertum als solches zu beseitigen. Die beiden Bilder sollten vielmehr die politische Funktion übernehmen, dem Kaiser die Erwartungen mitzuteilen, die insbesondere von der Aristokratie an einen idealen princeps gerichtet wurden und seine Akzeptanz bedingten.43 Ein Beispiel hierfür ist die ambivalente Darstellung, mit der man sich an Alexander den Großen erinnerte, der entweder als fremdes Ungeheuer oder als Ikone des Hellenismus wachgerufen werden konnte. Im letzten Fall wurde Alexander als
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rität zu verleihen. Vgl. Caroline Stamm, Vergangenheitsbezug in der Zweiten Sophistik? Die Varia Historia des Claudius Aelianus, Frankfurt am Main 2003, 279. Dass es sich bei den Reden um einen elitären Diskurs handelt, zeigt eine Aussage Plutarchs: Seinem Freund Menemachus, der sich auf eine politische Karriere vorbereitet, gibt er den Rat, Themen wie Marathon, Eurymedon und Plataiai, die die Überlegenheit der Griechen gegenüber den Persern demonstrieren, zu vermeiden, wenn er zum Volk spricht, das durch diese Geschichten allzu leicht aufgewiegelt würde. (Plut. Praec. 814 C) Lukian, tyrann. 6 ff.; als demokratisch werden diejenigen Kaiser bezeichnet, die die Aristokratie respektieren und unterstützen: Cass. Dio 52,4,5: ἄρχειν τε γὰρ πάντες ἀξιοῦσι, καὶ διὰ τοῦτο καὶ ἄρχεσθαι ἐν τῷ μέρει ὑπομένουσι· – „Alle Menschen beanspruchen nämlich das Recht zu herrschen und lassen sich darum auch abwechselnd beherrschen.“ Und 52,5,1: Αὕτη μὲν ἡ τῶν δήμων κατάστασις, ἐν δὲ δὴ ταῖς τυραννίσι πάντα τἀναντία συμβαίνει. – „So steht es um das Wesen der Demokratien. Unter der Herrschaft von Tyrannen findet man dagegen in allem entgegengesetzte Verhältnisse.“ (Rede des Agrippa an Augustus) Cass. Dio 57,11,3: τούς τε ἀεὶ ἄρχοντας ὡς ἐν δημοκρατίᾳ ἐτίμα, καὶ τοῖς ὑπάτοις καὶ ὑπανίστατο· – „Die jeweiligen Beamten ehrte er, als befände man sich in einer Demokratie, und stand sogar vor den Konsuln auf.“ (Tiberius); Cass. Dio 74 (73),3,4: […], ἐχρῆτο δὲ καὶ ἡμῖν δημοτικώτατα· καὶ γὰρ εὐπροσήγορος ἦν, ἤκουέ τε ἑτοίμως ὅ τι τις ἀξιοίη, καὶ ἀπεκρίνετο ἀνθρωπίνως ὅσα αὐτῷ δοκοίη. – „[…], behandelte [Pertinax] auch uns [Senatoren] auf sehr demokratische Art. Denn er war leicht zugänglich, bereitwillig hörte er jedermanns Bitten, und er antwortete so wie es ihm freundlich erschien.“ – Philostrat. vit. Apoll. 5,33:Ῥωμαίοις τὸ δημοκρατεῖσθαι πολλοῦ ἄξιον καὶ πολλὰ τῶν ὄντων αὐτοῖς ἐπ᾿ ἐκείνης τῆς πολιτείας ἐκτήθη· παῦε μοναρχίαν, περὶ ἧς τοιαῦτα εἴρηκας, καὶ δίδου Ῥωμαίοις μὲν τὸ τοῦ δήμου κράτος, σαυτῷ δὲ τὸ ἐλευθερίας αὐτοῖς ἄρξαι. – „Von den Römern wird die Demokratie am meisten geschätzt. Vieles von dem, was sie besitzen, verdanken sie jener Verfassung. Mache der Alleinherrschaft ein Ende, über die du selbst [so schreckliche Dinge] gesagt hast. Gib den Römern die Demokratie zurück und erwirb dir selbst den Ruhm, ihre Freiheit begründet zu haben.“ Für eine ausführlichere Interpretation des kaiserzeitlichen Demokratiebegriffes vgl. Claudia Horst, Zur politischen Funktion des Demokratiebegriffes in der Kaiserzeit. Eine Interpretation der Reden des Agrippa und Maecenas (Cassius Dio 52,1–41), in: Vera V. Dement’eva, Tassilo Schmitt (Hg.), Volk und Demokratie im Altertum, Göttingen 2010, 189–208.
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V. Politische Theorie der Zweiten Sophistik
praktischer Philosoph stilisiert, der erfolgreich die Aufgabe übernommen habe, die Welt mit Hilfe der griechischen Paideia zu vereinen.44 Insofern Alexander unterstellt werden konnte, Macht und Paideia miteinander verbunden zu haben, konnte er zu einem Vorbild römischer Kaiser stilisiert werden, von denen man ebenfalls die Unterstützung der griechischen Paideia erwartete. Die ambivalenten Darstellungsformen Alexanders als Philosoph und Gewaltherrscher nutzten die Sophisten sowohl zur Äußerung von Kritik als auch zur Artikulation ihrer Erwartungen. Je nachdem mit welcher Seite Alexanders ein Kaiser identifiziert wurde, enthielt der Vergleich eine jeweils unterschiedliche politische Botschaft. Es lag in der Entscheidungsfreiheit eines jeden Kaisers, sich zu einem Gewaltherrscher zu entwickeln oder die Maßstäbe der Paideia zu respektieren. Mit welchem Bild die Akzeptanz seiner Herrschaft verbunden war, war hingegen klar definiert.45 Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die Tyrannisreden mehr waren als „the trivial jeux of the idle rich […] rather, they kept alive the ancient memory of tyrants to serve the ideological needs of the present.“46 Der Bezug auf die Vergangenheit war weder nur ein herrschaftspolitisches Instrument der Römer noch besaß er ausschließlich für die städtischen Eliten die Funktion, die kulturelle Überlegenheit der Griechen gegenüber der römischen Vorherrschaft zu begründen. Da der bedeutendste Lehrstuhl für Rhetorik mittlerweile in Rom war, die griechischen Schriftsteller fast ausnahmslos das römische Bürgerrecht besaßen47 und die griechische Geschichte zu einem Teil der römischen Geschichte geworden war48, kann die alte, von der Forschung immer wieder beschworene Opposition zwischen der kulturellen Macht der Griechen und der politischen Macht der Römer nicht mehr aufrecht erhalten bleiben.49 Vielmehr gelang es in dem Maße, in dem die Römer griechisch wurden, auch den Griechen, sich als Römer zu bezeichnen, ohne dadurch in Konflikt mit ihrer eigenen Identität zu geraten.50 44 45
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In der Schrift De Alexandri magni fortuna aut virtute zeigt Plutarch, dass virtus das Handeln Alexanders leitete. Andrew Erskine hat am Beispiel des Romgedichtes des Stobaeus gezeigt, dass die Griechen auch mit dem Namen der Stadt Rom einer ambivalenten Haltung gegenüber der römischen Herrschaft Ausdruck verleihen konnten. Der griechische Begriff ῥώμη, der mit dem deutschen Wort ‚Strenge‘ zu übersetzen ist, konnte sowohl verwendet werden, um an die militärische Macht, mit der sich die Römer die hellenistische Welt unterworfen haben, als auch an die Schutz und Sicherheit garantierende Strenge zu erinnern. Andrew Erskine, Rome in the Greek World. The Significance of a Name, in: Anton Powell (Hg.), The Greek World, London, New York 1995, 368–383, 368 ff., 374 f., 379. Whitmarsh, The Second Sophistic, 73. Whitmarsh, Greek Literature and the Roman Empire, 300, vgl. 279. Die Theorie des Dionysios von Halikarnassos führt die Geschichte der Römer auf einen griechischen Ursprung zurück. Bei Aelius Aristides wird die Welt nicht mehr in Griechen und Barbaren, sondern in Römer und Nichtrömer eingeteilt. Vgl. dazu Paolo Desideri, The Meaning of Greek Historiography of the Roman Imperial Age, in: Erik Nis Ostenfeld (Hg.), Greek Romans and Roman Greeks. Studies in Cultural Interaction, Aarhus 2002, 216–224, 222 f.; Zu den Affinitäten der Gegenwart zu vergangenen Epochen sowie zum Begriff des Funktionsgedächtnisses vgl. Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, 54 ff.
3. Dion Chrysostomos
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Nicht die Herstellung einer kulturellen Distanz war das Ziel der Vertreter der Zweiten Sophistik, sondern die Etablierung eines Diskurses zwischen den städtischen Eliten und den römischen Kaisern, mit dem ein Raum für ständige Aushandlungsprozesse um politische Einflusschancen geschaffen wurde. Wie Tim Whitmarsh gezeigt hat, gehörten auch Fragen der Identität zu den zwischen Römern und Griechen stattfindenden Aushandlungsprozessen. Die Frage, wie sich diese Herrschaftstheorie entwickelte und welche politischen Funktionen sie übernahm, werden die folgenden Kapitel anhand verschiedener Vertreter der Zweiten Sophistik erläutern. 3. DION CHRYSOSTOMOS51 – HIERARCHISCHE UND REZIPROKE HERRSCHAFTSSTRUKTUREN „oderint, dum metuant“.52 Mit diesem Ausspruch, der auf die von dem Dichter L. Accius geschriebene Tragödie „Atreus“ zurückgeht, soll noch Caligula das Selbstverständnis seiner Herrschaftspraxis zusammengefasst haben. Caligula war erst der dritte Kaiser und die Erfahrungen mit dem Prinzipat noch nicht so umfassend, dass es nicht noch einen Spielraum gegeben hätte, die Grenzen der Macht erneut zu vermessen. Dass metus (Furcht) keine Voraussetzung für eine stabile Herrschaft und es noch nie jemandem gelungen sei, eine Gewaltherrschaft lange aufrecht zu erhalten, hätten nach dem Urteil Philostrats jedoch bereits die Kaiser der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts gewusst. Philostrat bezeichnet Vespasian als den ersten Kaiser, dessen Herrschaftsprinzipien auf anderen Voraussetzungen als der Erzeugung von Furcht beruht hätten. μετὰ γὰρ τὸν πρῶτον αὐτοκράτορα, ὑφ’ οὗ τὰ Ῥωμαίων διεκοσμήθη, τυραννίδες οὕτω χαλεπαὶ ἴσχυσαν ἐπὶ πεντήκοντα ἔτη, ὡς μηδὲ Κλαύδιον τὰ μέσα τούτων τρισκαίδεκα ἄρξαντα χρηστὸν δόξαι· […] Ἀπολλώνιος δὲ παραπλησίως μὲν Εὐφράτῃ καὶ Δίωνι περὶ τούτων ἔχαιρε […].53 51
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Auch die res gestae divi Augusti und die Rede de clementia von Seneca gehören zu den kaiserzeitlichen Fürstenspiegeln. Diese müssen leider unberücksichtigt bleiben, da sie nicht in den engeren Kontext der Zweiten Sophistik gehören. In dieser Arbeit soll lediglich nach der Funktion gefragt werden, die die peri basileias-Reden innerhalb der Zweiten Sophistik übernommen haben. Allgemein zur antiken Fürstenspiegelliteratur vgl. J. Manuel Schulte, Speculum Regis. Studien zur Fürstenspiegel-Literatur in der griechisch-römischen Antike, Münster, Hamburg, London 2001, 184 ff.; zu Seneca vgl. Traute Adam, Clementia Principis. Der Einfluß hellenistischer Fürstenspiegel auf den Versuch einer rechtlichen Fundierung des Principats durch Seneca, Stuttgart 1970. Dass zentrale Elemente der peri basileias-Reden – dies gilt insbesondere für die Gegenüberstellung von Königtum und Tyrannis – auch während der Spätantike noch von hoher Relevanz waren, haben bereits Helmut Berve und Alfred Heuß beobachtet. Vgl. dazu Helmut Berve, Die Tyrannis bei den Griechen, München 1967 (2 Bde.), Bd. 1, 482 ff.; zu Helmut Berve vgl. Stefan Rebenich, Alte Geschichte zwischen Demokratie und Diktatur. Der Fall Helmut Berve, in: Chiron 31, 2001, 29–34; Alfred Heuß, Alexander der Große und die politische Ideologie des Altertums, in: ders., Gesammelte Schriften in drei Bänden, Bd. 1, Stuttgart 1995, 147–186, 154 ff. Suet. Cal. 30,1: „Sollen sie [mich] doch hassen, wenn sie [mich] nur fürchten!“ Philostrat. vit. Apoll. 5,27: „Seitdem der erste Kaiser die römischen Angelegenheiten geordnet
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V. Politische Theorie der Zweiten Sophistik
Es waren zwei Merkmale, die die politische Theorie prägten. Zum einen sollten die Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten auf reziproken Machtstrukturen beruhen. Zum anderen war das von den Vertretern der Paideia propagierte Bild des Philosophenherrschers ein zentrales Medium der von ihnen geforderten reziproken Herrschaftsverhältnisse, auf die sich Herrscher und Beherrschte gleichermaßen bezogen. Ein zentraler Gedanke, auf den die Paideia Bezug nahm, war das ἄρχειν καὶ ἄρχεσθαι der griechischen Herrschaftstheorie, die in den bereits genannten Demokratie- und Tyrannisreden, die seit dem Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. die Kommunikation zwischen den römischen Kaisern und den städtischen Eliten strukturierten, ihren deutlichsten Ausdruck fand. Mit diesem Diskurs versuchten die Vertreter der Zweiten Sophistik die Kaiser kontinuierlich zu konfrontieren, um auf diese Weise auf die Machtstrukturen, in denen sie lebten, produktiv Einfluss nehmen zu können. Ein zentraler Text, in dem dieses Herrschaftsmodell entwickelt wurde, sind die vermutlich an Trajan gerichteten vier „Königsreden“ des Dion Chrysostomos.54 Die erste und die dritte Rede sollen Trajan in Rom direkt vorgetragen worden sein, wobei die zweite und die vierte Rede, die beide in Dialogform verfasst sind, vermutlich schriftlich an den Kaiser gerichtet wurden.55 Plutarch, Aelius Aristides und Philostrat setzten den herrschaftstheoretischen Diskurs fort. Philostrat war ebenso wie Marc Aurel von Dion beeinflusst und verwendete die Königsreden als Modell seiner Vita Apollonii.56 Die Frage, wie ein Kaiser herrschen soll, ist das zentrale Thema, das sich durch den gesamten Diskurs zieht. Die städtischen Eliten, die jeden Kaiser neu herausforderten, und die integrativen Leistungsanforderungen, die mit der zunehmenden Größe des römischen Weltreiches ständig anstiegen, machten diese Frage zu einem drängenden Problem. Im Kapitel „Königtum und Tyrannis“ stellt Dion dem Kaiser Trajan die Königsherrschaft als eine große Herausforderung vor Augen: Καὶ μὴν εἴ τις ἑνὸς ἀνδρὸς οὐχ οἷός τε ἄρχειν ἐστί, […] οὐδὲ αὖ μίαν ψυχὴν κατευθύνειν τὴν αὑτοῦ, πῶς ἂν δύναιτο βασιλεύειν μυριάδων ἀναριθμήτων πανταχοῦ διεσπαρμένων, ὥσπερ σύ [λέγεις], καὶ πολλῶν γε οἰκούντων ἐπὶ πέρασι γῆς, ὧν οὐδὲ ἑώρακε τοὺς πλείστους οὐδ’ ἂν ἴδοι ποτὲ οὐδὲ τῆς φωνῆς ξυνήσει;57
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hatte, waren nun während fünfzig Jahren schlimme Herrscher an die Macht gelangt. Selbst Claudius, der fünfzehn Jahre davon regiert hatte, stand nicht im Rufe, ein guter Herrscher gewesen zu sein. […] Wie Dion und Euphrates freute sich auch Apollonios über diesen Umschwung der Dinge.“ – Die an Vespasian gerichtete Verfassungsdebatte wird auf den Seiten 168 f. ausführlicher behandelt. Vgl. dazu Swain, Hellenism and Empire, 388 f. Da die folgenden Ausführungen nicht das Handeln einzelner Kaiser, sondern einen Diskurs rekonstruieren wollen, werden sie nicht mit Vespasian, über den der im 3. Jahrhundert schreibende Philostrat berichtet, beginnen, sondern mit Dion Chrysostomos. Swain, Hellenism and Empire, 192. Whitmarsh, Greek Literature and the Roman Empire, 246. Dion. 62,1: „Wahrhaftig, wenn jemand nicht imstande ist, über einen einzigen Menschen zu herrschen […] und eine einzige Seele, nämlich seine eigene, zu lenken, wie sollte der König sein können, wie du es bist, über ungezählte Tausende, die in alle Himmelsrichtungen zerstreut sind, die zum großen Teil am Ende der Welt wohnen, von denen er die meisten nicht einmal gesehen hat und niemals wird sehen können, deren Sprache er nicht versteht?“
3. Dion Chrysostomos
151
In seinen Königsreden zeigt Dion, wie es einem Kaiser gelingen kann, Distanz und fehlende Akzeptanz, die seine Herrschaft durchaus bedrohen können, zu überwinden. Auch Dion bemüht die Gegenüberstellung von Königtum und Tyrannis, um vor dem Hintergrund des negativ dargestellten Tyrannen die Voraussetzungen, an die das Handeln des guten Königs gebunden ist, umso deutlicher hervortreten zu lassen. Wie klar sich die beiden Regierungsformen voneinander unterscheiden, zeigt Dion mit der Fabel von Herakles, der von Hermes an einen Berg herangeführt wird.58 Je weiter Herakles den Berg erklimmt, desto klarer erkennt er, dass sich der Berg wie ein Scheideweg spaltet, sodass sich, wie er auf den ersten Blick vermutet, nicht ein, sondern zwei Gipfel auftun. Auf den Gipfeln sitzt jeweils eine Frauengestalt, von denen die eine die Königsherrschaft, die andere die Tyrannis verkörpert. Noch bevor sie zu einer der beiden Frauen gelangen, wird anhand der Verschiedenartigkeit der Wege, die zu ihnen führen, der erste grundlegende Unterschied zwischen den beiden politischen Systemen verdeutlicht. Der ‚gute König‘ zeichnet sich durch seine Zugänglichkeit aus. Der Weg zu ihm ist breit, sodass man sich ihm ohne Gefahren nähern kann. Der Tyrann, der den Menschen enthoben bleibt, versucht hingegen durch enge und gefährliche Wege, den Zugang zu sich zu erschweren. Während die Königsherrschaft, die für das Wohl ihrer Untertanen Sorge trägt, bewundert und geliebt wird, bleibt der Tyrannis, die sich an ihren Untertanen bereichert und alle von sich abweist, nur der Hass der Menschen. Als Reaktion darauf ist die Tyrannis ständig darum bemüht, es mit Gewalt der Königsherrschaft gleichzutun, indem sie ihren Thron immer höher bauen und ihn immer reicher verzieren lässt. Letztlich sind jedoch alle ihre Bemühungen vergeblich, da ihr Thron auf keinem festen Boden steht. Das Prinzip ihres Handelns bezeichnet Dion gleich zu Beginn seiner Darstellung als das größte Übel: Der Gebrauch von Macht ohne Klugheit.59 Dion will davon überzeugen, dass nur der ‚kluge‘ König auf einem sicheren Fundament steht, da er sich durch die Bereitschaft auszeichnet, sich in seinem Regierungshandeln beraten zu lassen. Auch dies verdeutlicht er mit den beiden Frauengestalten. Die Königsherrschaft umgibt sich mit drei weiteren Frauen, die „Gerechtigkeit“, „Rechtsordnung“ und „Frieden“ verkörpern sowie mit einem Mann, der „Gesetz“ oder auch „Rechtssinn“, „Ratgeber“ und „Beisitzer“ genannt wird und ohne den die Frauen nichts tun und planen. Auch die Tyrannis wird von Begleiterinnen umgeben, die der kleinen Schar um die Königsherrschaft jedoch in keiner Weise gleichen. Die Namen ihrer Begleiterinnen sind Grausamkeit (Ὠμότης), Unverschämtheit (Ὕβρις), Gesetzlosigkeit (Ἀνομία) und Aufruhr (Στάσις), die sie alle zu vernichten und ins Verderben zu stürzen drohen.60 Bereits hier wird am Beispiel des Mannes, der der Königsherrschaft beratend zur Seite gestellt wird, die von Dion propagierte ideale Herrschaftsform erkennbar. 58 59 60
Dion. 1,64–84. Dion. 1,76. Dion. 1,82.
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V. Politische Theorie der Zweiten Sophistik
Die Königsreden, die nach den Voraussetzungen stabiler Herrschaftsformen fragen und nicht zuletzt mit konkreten Interessen der Sophisten verbunden waren, gehen weit über die in ihnen angelegte moralische Argumentation hinaus. Mit dem innerhalb der Zweiten Sophistik äußerst zentralen Bild eines Kaisers, der sich von Philosophen beraten lässt, versuchten die Sophisten, auf den Kaiser Einfluss zu nehmen, um an seiner Herrschaft beteiligt zu werden. Dass die Sophisten nur solche Kaiser akzeptieren wollten, die bereit waren, sich auf die Herstellung reziproker Herrschaftsstrukturen einzulassen, war somit klar definiert.61 Besonderen Nachdruck verliehen die Sophisten ihren Forderungen, indem sie den Kaiser daran erinnerten, dass Gewaltherrschaften letztlich auch für ihn eine politische Gefahr darstellten und noch nie dauerhaft bestanden hätten.62 Dieses Argument greift auch Dion in seinen Königsreden auf, in denen er erklärt, dass der gute König, der wegen seiner Vortrefflichkeit bekannt sei, von allen geschützt werde und in niemandem einen Feind zu sehen brauche, wohingegen der Tyrann in ständiger Unsicherheit lebe.63 Sein Gewaltregiment, so Dion, erzeuge Furcht, und Furcht sei zu Hass und Flucht nur allzu bereit.64 Der Entzug von Akzeptanz sei schließlich die Ursache von Verschwörungen, die den Herrscher bedrohen, vergleichbar den Begleiterinnen der Tyrannis, die ihr unablässig nach dem Leben trachten.65 Der Loyalität der Menschen könne sich ein Herrscher hingegen nur gewiss sein, solange es ihm gelingt, die Menschen davon zu überzeugen, dass ihm mehr als an seinem eigenen Wohl an dem der übrigen Menschheit gelegen sei.66 Um dem Kaiser zu verdeutlichen, dass er sich nicht mit Erfolg über die an ihn gerichteten Erwartungen der Menschen hinwegsetzen kann, entfaltet Dion ein Szenario, in dem der Kaiser schonungslos den auf ihn gerichteten Blicken der ganzen Welt ausgeliefert wird. Die ganze Menschheit, so Dion, gehöre zu seiner Zuschau-
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Vgl. dazu Dion. 49,3. Auch in diesem Abschnitt betont Dion, dass jede machtausübende Person, die anderen Weisungen erteilt, sich selbst von ihren Ratgebern weisen lassen muss. – Dass die Vorstellung von einem allmächtigen Kaiser bereits vor dem Hintergrund der Größe des Weltreiches anzuzweifeln ist, bestätigen auch die Ausführungen von Werner Eck: „The bulk of our sources […] give the impression that the Roman emperor was all-powerful and always busy. […] In reality the emperor relied on others in almost all aspects of his decision-making and actions. He needed advice and was dependent on his advisers; indeed he could not operate without them.“ Werner Eck, The Emperor and his Advisers, in: Alan K. Bowman, Peter Garnsey, Dominic Rathbone (Hg.), The High Empire. A.D. 70–192 (The Cambridge Ancient History), Cambridge 2000, 195–213, 195. Dion. 3,58: Καὶ τοίνυν τὴν μὲν ἀνδρείαν καὶ τὴν ἐγκράτειαν καὶ τὴν φρόνησιν ἀναγκαίας νομίζει καὶ τοῖς ἀμελοῦσι τοῦ δικαίου καὶ βουλομένοις τυραννεῖν, εἰ μὴ τάχιστα ἀπολοῦνται […]. – „Ferner hält er Tapferkeit, Selbstdisziplin und Klugheit gerade für die notwendig, die das Recht vernachlässigen und gerne als Tyrann auftreten, wenn sie nicht in kürzester Zeit untergehen wollen […].“ Dion. 1,35. Die unmittelbare Verknüpfung von Sicherheit und einem der Tugend untergeordneten Leben zieht sich als roter Faden durch die gesamten Königsreden. Vgl. Dion. 3,58; 3,123; 1,35. Dion. 1,25. Dion. 1,82. Dion. 1,72.
3. Dion Chrysostomos
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erschaft und nichts könne im Verborgenen bleiben.67 Damit wollte Dion den Kaiser wohl auch vor der Figur des perfiden Herrschers warnen, der nur zum Schein das Wohl der Menschen berücksichtigt, letztlich jedoch nicht in Sicherheit und Frieden leben könne.68 Die unablässig auf den Kaiser gerichteten Augen und die allein mit ihren Verschwörern umgebene Tyrannis waren Bilder, mit denen die Sophisten die Kaiser nicht nur an die Grenzen ihrer Macht erinnern, sondern auch die Vorteile reziproker Herrschaftsstrukturen verdeutlichen wollten. Vertrauen und Akzeptanz als wichtigste Ressourcen einer stabilen Herrschaft könne jedoch nur der erlangen, der anderen ebenfalls Macht zugesteht und sich wie der ideale Herrscher von Philosophen beraten und beeinflussen lässt. Eine unmittelbare Verknüpfung zwischen der Königsherrschaft und reziproken Machtstrukturen stellt Dion explizit in dem Dialog „Agamemnon oder von der Königsherrschaft“ her. Dort heißt es, dass ein König seine Herrschaft nicht durch Befehle, sondern durch seine Bereitschaft erhält, rechenschaftspflichtig zu sein und andere an seinen Entscheidungen teilhaben zu lassen: οὐκ ἄρα ὑπῆρχε βασιλεὺς τῆς Σπάρτης Ἀγησίλαος, ὃς ὑπήκουεν ἑτέροις ἄρχουσιν;69 Nach der Interpretation von Simon Swain habe Dion aufgrund seiner Erfahrung des Exils und der Verbannung von Philosophen unter Domitian eine feindselige Haltung gegenüber Rom entwickelt, die auch seine Schriften nicht unbeeinflusst gelassen habe. Dieser Lesart wird von Tim Whitmarsh widersprochen, der die Königsreden nicht als Ausdruck einer antirömischen Haltung verstehen will,70 sondern in ihnen den Versuch erkennt, eine Identität als pepaideumenos in dem Spannungsfeld der politischen und kulturellen Machtbeziehungen zwischen Rom und Griechenland herzustellen, indem Dion das eine Mal die Rolle des Oppositionellen und das andere Mal die Rolle des kaiserlichen Beraters hätte übernehmen können.71 Obwohl es in dieser Arbeit nicht um die Herstellung von Identitäten geht, lässt sich im Anschluss an Tim Whitmarsh feststellen, dass die in dem hybriden Raum der Zweiten Sophistik entstandenen Königsreden und das in ihnen entwickelte Bild eines von Philosophen beratenen Kaisers die Funktion übernahmen, solche Herr-
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Dion. 3,11. Vgl. dazu auch Frevert, Vertrauen, 12: „‚Zu großes Mißtrauen‘ mache einen Fürsten ‚unerträglich‘, wusste Macchiavelli.“ Von der Notwendigkeit, Vertrauen herzustellen vgl. insbesondere die Kapitel 17–20 bei Machiavelli. Niccolò Machiavelli, Il principe. Der Fürst, italien.-dt., übers. u. hg. v. Philipp Rippel, Stuttgart 1986. Dion. 56,7: „War Agesilaos deswegen etwa nicht mehr König von Sparta, weil er sich der Macht anderer gefügt hatte?“ – In diesem Abschnitt zeigt sich insbesondere eine Kritik an hierarchischen Machtstrukturen. Vgl. auch 56,5;10;16. Für die folgenden Ausführungen vgl. Whitmarsh, Greek Literature and the Roman Empire, 214 ff. Tim Whitmarsh bezeichnet insbesondere die Literatur über das Exil, wie sie von Musonius, Dion Chrysostomos und Favorinus verfasst wurde, als einen zentralen Ort für die Herstellung kultureller Identität. Das Exil wird von diesen Autoren nicht als ein Makel, sondern als eine Auszeichnung dargestellt. Tim Whitmarsh, „Greece is the World“. Exile and Identity in the Second Sophistic, in: Simon Goldhill (Hg.), Being Greek under Rome. Cultural Identity, the Second Sophistic and the Development of the Empire, Cambridge 2001, 269–305. Whitmarsh, Greek Literature and the Roman Empire, 215. Vgl. dazu auch S. 141 f.
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V. Politische Theorie der Zweiten Sophistik
schaftsbeziehungen zu begründen, in denen auch die Vertreter der Paideia einen Platz finden sollten. 4. PLUTARCH – MACHT ZWISCHEN ZENTRUM UND PERIPHERIE Die politischen Texte Plutarchs setzen den Diskurs über die von den Sophisten geforderte Herstellung reziproker Machtstrukturen fort. Im Zentrum seiner Ausführungen stehen die Beziehungen zwischen Rom und den städtischen Eliten der Provinzen. Ebenso wie Dion entwickelt auch Plutarch durch die Gegenüberstellung von Königtum und Tyrannis das Idealbild eines „guten“ Kaisers, der sich dadurch auszeichnet, dass er sich von Philosophen beraten lässt und für das Wohl seiner Untertanen Sorge trägt. Die Vorstellung von einem idealen Königtum entwickelt Plutarch außer in dem Buch Praecepta gerendae rei publicae in den Schriften Ad principem eruditum und Maxime cum principibus philosopho esse disserendum. Nach der Auffassung Plutarchs ist die Stabilität eines Herrschaftssystems ebenfalls von der Akzeptanz der Beherrschten abhängig, die durch kaiserliche Fürsorge und reziproke Machtbeziehungen hergestellt werden muss. Wie die anderen Vertreter dieses Diskurses versucht Plutarch den Kaiser von der Notwendigkeit zu überzeugen, dass die Herstellung und Berücksichtigung reziproker Machtstrukturen letztlich seine Macht stärken werde: Niemand kann herrschen, der nicht selbst beherrscht wird.72 Zur Unterstützung seiner Herrschaftstheorie greift Plutarch auf das Bild vom machtlosen Tyrannen zurück. Der Preis, den ein Tyrann, der sich um sein eigenes, nicht aber um das Wohl der Menschen kümmert, zahlen müsse, sei ein Leben in ständiger Angst. Um dieser Angst zu entkommen, müsse er seine Macht immer weiter ausbauen. Deshalb wirkten viele Herrscher mächtig wie Kolossalstatuen, seien innerlich aber zerbrechlich.73 Unerschütterlich sei hingegen die Macht derjenigen Könige, die sich nicht mit Zepter und Blitzen, sondern mit einer sie beratenden Schar von Philosophen
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Für eine ausführlichere Darstellung dieses Gedankens vgl.: ἀλλ᾿ οἱ πολλοὶ κακῶς φρονοῦντες οἴονται πρῶτον ἐν τῷ ἄρχειν ἀγαθὸν εἶναι τὸ μὴ ἄρχεσθαι […] Τίς οὖν ἄρξει τοῦ ἄρχοντος; – „Die meisten Menschen denken aber falsch, wenn sie meinen, dass der größte Vorteil des Herrschens darin bestehe, nicht beherrscht zu werden. […] Wer aber soll über den Herscher herrschen?“ (Plut. ad princ. inerud. 780 C) τῷ γὰρ ὄντι δεδίασιν οἱ βασιλεῖς ὑπὲρ τῶν ἀρχομένων, οἱ δὲ τύραννοι τοὺς ἀρχομένους· διὸ τῇ δυνάμει τὸ δέος συναύξουσι· πλειόνων γὰρ ἄρχοντες πλείονας φοβοῦνται. – „Denn in Wirklichkeit haben die Könige Angst um ihre Untertanen, die Tyrannen haben Angst vor ihren Untertanen. Und deshalb mehren sie mit ihrer Macht ihre Furcht. Denn wenn sie über mehr Untertanen herrschen, haben sie auch mehr Menschen zu fürchten.“ (Plut. ad princ. inerud. 781 E) […] οὐδ᾿ ὁτιοῦν τῶν κολοσσικῶν διαφέροντες ἀνδριάντων, οἳ τὴν ἔξωθεν ἡρωικὴν καὶ θεοπρεπῆ μορφὴν ἔχοντες ἐντός εἰσι γῆς μεστοὶ καὶ λίθου καὶ μολίβδου· – „[…] und sie unterscheiden sich nicht einmal von den Kolossalstatuen, die außen eine heroische und gottgleiche Gestalt haben, innen aber mit Lehm, Stein und Blei angefüllt sind.“ (Plut. ad princ. inerud. 780 A)
4. Plutarch – Macht zwischen Zentrum und Peripherie
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schmücken.74 Auf diese Weise versucht Plutarch den Kaiser davon zu überzeugen, dass Macht, die auf Machtteilung beruhe, wesentlich effektiver sei als eine Alleinherrschaft und höhere Chancen habe, auf die Akzeptanz der Menschen zu stoßen, die wünschenswerter sei als der Reichtum des Kroisos. Zur Veranschaulichung seiner Theorie der Herrschaftsteilung verwendet Plutarch das Beispiel einer Hand, die ebenfalls durch die Teilung in Finger nicht schwächer, sondern geschickter werde.75 In den Praecepta gerendae rei publicae schreibt Plutarch, ein Herrscher müsse sich in den Charakter seiner Untertanen einfühlen, um zu wissen, wodurch die Menschen zufriedengestellt werden können. Ein weiterer Abschnitt, in dem er dieses Handeln genauer definiert und in dem Plutarch betont, dass ein Herrscher nicht so weit gehen dürfe, die Interessen seiner Untertanen nachzuahmen, liest sich zunächst wie eine Anleitung zu erfolgreicher Demagogie. Wie aus dem Kontext hervorgeht, wollte Plutarch den Kaiser jedoch nicht über weitere Möglichkeiten effektiver Machtausübung aufklären, sondern ihm die Vorteile realer Machtteilung näher bringen. Auch das von Plutarch propagierte Bild eines von Philosophen beratenen Kaisers ist letztlich mit der Absicht verbunden, den Kaiser davon zu überzeugen, dass er seine Macht nur dann erfolgreich ausüben kann, wenn er andere an seiner Macht beteiligt.76 Obwohl Plutarch im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Dion von Prusa kein kaiserlicher Berater wurde, stand er doch in engem Kontakt zu Kaisern und wichtigen Personen der stadtrömischen Elite.77 Die Frage, welche Haltung Plutarch gegenüber der römischen Herrschaft eingenommen hat, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Sein hoher gesellschaftlicher Status, den er in erster Linie römischer Patronage zu verdanken hatte, wurde zunächst mit einer grundsätzlich positiven Einstellung gegenüber Rom in Verbindung gebracht. Diese Ansicht vertritt auch Christopher Jones, der davon ausgeht, dass Personen, die ähnlich positioniert waren wie Plutarch, keine Gründe gehabt hätten, Rom nicht zu akzeptieren.78 „[…] as a member of a class whose position depended on external support, he had no reason to welcome the removal of Roman control.“79 Folglich habe es auch 74 75
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Plut. ad princ. inerud. 780 F. οὐ γὰρ μόνον, τῆς δυνάμεως εἰς πολλοὺς διανέμεσθαι δοκούσης, ἧττον ἐνοχλεῖ τῶν φθόνων τὸ μέγεθος, ἀλλὰ καὶ τὰ τῶν χρειῶν ἐπιτελεῖται μᾶλλον. ὡς γὰρ ὁ τῆς χειρὸς εἰς τοὺς δακτύλους μερισμὸς οὐκ ἀσθενῆ πεποίηκεν ἀλλὰ τεχνικὴν καὶ ὀργανικὴν αὐτῆς τὴν χρῆσιν, οὕτως ὁ πραγμάτων ἑτέροις ἐν πολιτείᾳ μεταδιδοὺς ἐνεργοτέραν ποιεῖ τῇ κοινωνίᾳ τὴν πρᾶξιν· – „Denn wenn die Macht in der Gestalt erscheint, dass sie auf viele verteilt wird, wird nicht nur das Ausmaß des Neides weniger zur Last fallen, sondern auch die notwendigen Dinge werden sich besser verwirklichen. Denn wie die Teilung der Hand in die (einzelnen) Finger diese nicht schwach, sondern ihren Gebrauch kunstfertig und geschickt macht, so macht der Politiker, der anderen einen Anteil am Gemeinwesen gibt, das Handeln durch das gemeinsame Vorgehen noch wirksamer.“ (Plut. Praec. 812 D-E) Dies hat bereits Isokrates so gesehen, der den königlichen Ratgeber nicht nur als moralische Instanz versteht, sondern als den nützlichsten Besitz, über den ein Herrscher verfügt. Isokrat. ad Nic. 53. Christopher P. Jones, Plutarch and Rome, Oxford 1971, 122. Jones, Plutarch and Rome, 125 ff. Ebd. 120.
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V. Politische Theorie der Zweiten Sophistik
keinen Konflikt zwischen der römischen Macht und den städtischen Eliten gegeben, wie Jones konstatiert: „the interests of Rome and of the Greek upper classes were convergent.“ Das positive Bild, das Plutarch von der römischen Herrschaft entwickelt, scheint die Auffassung von Jones zu bestätigen. So erinnert ein immer wiederkehrender Gedanke in den Schriften Plutarchs an die Herstellung von Sicherheit und Homonoia, die die Griechen den Römern zu verdanken hätten.80 Nach der Einschätzung von Jones habe Plutarch von der römischen Macht profitiert und insofern keinen Grund besessen, die griechischen Institutionen vor dem Einfluss der römischen Herrschaft zu schützen. Mehr noch habe er von Rom verordnete Restriktionen zur Kontrolle der Provinzstädte sogar willkommen geheißen.81 Von dieser Lesart distanziert sich am deutlichsten Simon Swain, der die positive Darstellung der römischen Herrschaft für ideologisches Beiwerk hält, das auch in den Schriften Dions von Prusa und des Aelius Aristides zu finden sei. Wenn Plutarch Rom als Werkzeug Gottes bezeichnet, sei dies lediglich ein religiöser Legitimationsversuch, der jedoch nur den theoretischen, nicht aber den praktischen Überzeugungen Plutarchs entsprochen habe: „He valued Rome as god’s agent in securing peace on earth. This was how he theorized Rome’s success. In practice he wanted Greeks to retain as much power as possible.“82 Plutarch sei es also vornehmlich darum gegangen, den Einfluss der römischen Macht auf die griechischen Städte so weit es ging zu reduzieren.83 Als Beleg führt Swain die negativen Bemerkungen über den Verlauf von Karrieren innerhalb der römischen Reichsverwaltung an, wie sie in De tranquillitate animi von Plutarch formuliert werden: Θάσιος γὰρ ἦν ἐκεῖνος· ἄλλος δέ τις Χῖος, ἄλλος δὲ Γαλάτης ἢ Βιθυνὸς οὐκ ἀγαπῶν, εἴ τινος μερίδος ἢ δόξαν ἢ δύναμιν ἐν τοῖς ἑαυτοῦ πολίταις εἴληχεν, ἀλλὰ κλαίων ὅτι μὴ φορεῖ πατρικίους· ἐὰν δὲ καὶ φορῇ, ὅτι μηδέπω στρατηγεῖ Ῥωμαίων· εὰν δὲ καὶ στρατηγῇ, ὅτι μὴ ὑπατεύει·84 80 81
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Plut. Praec. 824 B-C. Vgl. Swain, Hellenism and Empire, 161, 149. Jones, Plutarch and Rome, 121. Auch Lin Foxhall geht von einer grundsätzlich positiven Haltung der Griechen gegenüber der römischen Macht aus. Die von den Römern errichtete Ordnung hätte letztlich auch in ihrem Interesse gelegen. Solange in den Städten Frieden herrschte, sei man der römischen Aufmerksamkeit entzogen gewesen und hätte sich auf diese Weise ein Maximum an politischer Autonomie und Freiheit sichern können, auch wenn es sich hierbei nur um eine Form negativer Freiheit handelte. Die Anpassung an Rom sei darüber hinaus ein positiver Wert gewesen, der unter bestimmten Umständen wichtiger sein konnte als die Aufrechterhaltung der griechischen Kultur. Bereits die Kinder seien mit den Lebensformen der Römer vertraut gemacht worden, um sie auf diese Weise für ein erfolgreiches Leben innerhalb der römischen Welt vorzubereiten. Vgl. dazu Lin Foxhall, Social Control, Roman Power and Greek Politics in the World of Plutarch, in: David Cohen (Hg.), Demokratie, Recht und soziale Kontrolle im klassischen Athen, München 2002, 173–188, 179 ff., 181, 188; Vgl. auch Gerhard J. D. Aalders, Plutarch’s Political Thought, Amsterdam, Oxford, New York 1982, 54 ff. Swain, Hellenism and Empire, 183. Nach der Auffassung von Swain war Plutarch „at heart a non-integrationist“. Swain, Hellenism and Empire, 185, 186. „‚Denn jener war ein Thasier‘, mag jemand sagen. Irgendein anderer ist Chier, Galatier oder Bithynier, der nicht zufrieden ist, wenn er auch nur irgendeinen Anteil an Ehre oder Macht unter seinen Mitbürgern erlost hat, sondern weint, weil er nicht den patrizischen Schuh trägt.
4. Plutarch – Macht zwischen Zentrum und Peripherie
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Mit moralisierenden Äußerungen dieser Art habe Plutarch die Menschen davon überzeugen wollen, dass es besser sei, als Politiker in den Heimatgemeinden zu bleiben, als in Rom eine Karriere anzustreben: „His own advice is to stay at home and, in brief, not to integrate.“85 Plutarch reagiert mit dieser Schrift auf die in seiner eigenen Zeit immer weiter ansteigende Zahl von Personen, die eine Karriere außerhalb ihrer Heimatstädte anstrebten. Einige von ihnen wurden Ritter oder Senatoren in Rom. Andere, und dies waren vor allem Sophisten, zogen in die großen kulturellen Zentren, in denen sie hofften, höhere Aufmerksamkeit als in ihren Heimatstädten erlangen zu können. Vermutlich waren die Adressaten Standesgenossen Plutarchs, die nur geringe Erfolgsaussichten auf eine Karriere in Rom hatten. Noch in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts habe es kaum Senatoren aus dem griechischen Osten gegeben. Diejenigen, die Erfolg hatten, waren fast alle Nachfahren italischer Kolonisten. Obwohl es Angehörigen der mächtigen Königshäuser von Pergamon und Galatien schon unter Vespasian gelang, in Rom aufzusteigen, brachten die anderen großen Städte der Westküste und des nahen Binnenlandes, wenn überhaupt, erst recht spät im 2. Jahrhundert, während der Zeit des Marc Aurel und des Commodus, Senatoren hervor. Der erste griechische Senator, der aus Bithynien kam, war Flavius Arrianus, dessen Karriere sich nicht vor dem Ende der Regierungszeit Trajans oder zu Beginn der Herrschaft Hadrians entfaltete. Vermutlich war er Suffektkonsul im Jahre 129 n. Chr. Aus Chios, deren Einwohner ebenfalls zu dem Adressatenkreis Plutarchs gehörten, ist kein Senator bekannt.86 Meines Erachtens hatten die Ausführungen Plutarchs, der die Freundschaft mit den Römern und den aus ihr resultierenden Nutzen für die Heimatstädte der Griechen explizit befürwortete, nicht den Zweck, seinen Standesgenossen von der Planung einer Karriere in Rom grundsätzlich abzuraten, wie von Swain behauptet wird.87 Christopher Jones gelangt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass Plutarch Karriereplanungen nicht als solche kritisieren wollte. Nach seiner Auffassung habe Plutarch mit seiner Kritik auf die zunehmende Abwanderung von Personen und die damit verbundenen Konsequenzen, nämlich den sich abzeichnenden Mangel geeigneter Personen innerhalb der munizipalen Verwaltung, reagiert.88 Es sind noch zwei weitere Gründe vorstellbar, die die Argumentation Plutarchs erklären können. Wenn es richtig ist, dass Plutarch sich an Personen wandte, die nur geringe Chancen hatten, in Rom zu reüssieren, hätte die negative Darstellung der
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Wenn er ihn aber trägt, (weint er), weil er noch nicht römischer Prätor ist. Wenn er aber Prätor ist, weil er nicht Konsul ist.“ (Plut. de tranq. an. 470 C) Swain, Hellenism and Empire, 171. Frances B. Titchener vertritt die These, dass das Beispiel derjenigen Philosophen, die verbannt oder hingerichtet worden sind, Plutarch zu seiner ablehnenden Haltung gegenüber Rom veranlasste. Frances B. Titchener, Plutarch and Roman(ized) Athens, in: Erik Nis Ostenfeld (Hg.), Greek Romans and Roman Greeks. Studies in Cultural Interaction, Aarhus 2002, 136–141, 138 f. Vgl. dazu Helmut Halfmann, Die Senatoren aus dem östlichen Teil des Imperium Romanum bis zum Ende des 2. Jh. n. Chr., Göttingen 1979, 48 f., 58 f., 146.; Swain, Hellenism and Empire, 169 ff., Jones, Plutarch and Rome, 116 f. Plut. Praec. 814 C. Jones, Plutarch and Rome, 116 f.
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V. Politische Theorie der Zweiten Sophistik
Karrieren auch den Zweck erfüllen können, sie auf einen möglichen Misserfolg vorzubereiten, um sie auf diese Weise vor schweren Enttäuschungen zu schützen. Diese Form der Interpretation ist durchaus vereinbar mit dem stoischen Begriff der Politik, der in der Kaiserzeit weite Verbreitung fand. Wie bereits im dritten Teil der Arbeit ausgeführt wurde, interpretierten die Stoiker die politische Karriere immer dann als einen „gleichgültigen“ (ἀδιάφορον) oder negativen Gegenstand, wenn es abzusehen war, dass ihnen kein Erfolg beschieden sein würde.89 Vorstellbar wäre darüber hinaus aber auch, dass Plutarch mit dem negativ gezeichneten Bild von den allgemeinen Aufstiegsbedingungen versuchte, mögliche Konkurrenten um die knappen Ressourcen in Rom von ihren Karriereplänen abzubringen. Die verschiedenen einander gegenübergestellten Argumente sprechen nicht dafür, dass Plutarch seine Schriften aus einer antirömischen Gesinnung heraus verfasst und demzufolge sämtliche Integrationsbestrebungen zu verhindern versucht hätte. Plutarch lässt sich weder auf eine entweder ablehnende oder grundsätzlich positive Haltung gegenüber Rom festlegen. Seine Schriften über den idealen princeps, die genau erklären, unter welchen Bedingungen die römische Herrschaft zu akzeptieren sei, dokumentieren stattdessen, dass auch Plutarch jene Prozesse mit vorantrieb, in denen die Vertreter der griechischen Paideia mit den römischen Machthabern über politische Einflusschancen und die Durchsetzung des griechischen Verständnisses von Politik, das archein kai archesthai, miteinander in Verhandlungen traten. 5. AELIUS ARISTIDES – KRITIK UND AFFIRMATIVES LOB Das Zeitalter der Antoninen gilt als ein Zeitalter des Ausgleichs.90 Weshalb in dieser Zeit der herrschaftstheoretische Diskurs der Zweiten Sophistik, der sich gegen Versuche hierarchischer bzw. imperialer Machtausübung richtete, trotzdem fortgesetzt wurde, soll am Beispiel der vermutlich an Antoninus Pius gerichteten Romrede des Aelius Aristides gezeigt werden. Obwohl es sich bei dem Text um einen Panegyrikos handelt, hatte die Rede nicht nur den Zweck, die römische Macht zu verbrämen. Dass es Merkmale gibt, die für einen Panegyrikos unüblich sind, haben zuerst diejenigen Autoren entdeckt, die nach der politischen Funktion der Rede fragten.91 89 90 91
Zum Begriff des ἀδιάφορον vgl. Kapitel III.2.2.-2.3. Brown, Peter, Die letzten Heiden. Eine kleine Geschichte der Spätantike, Frankfurt am Main 1995; Stamm, Caroline, Vergangenheitsbezug in der Zweiten Sophistik? Die Varia des Claudius Aelianus, Frankfurt am Main u. a. 2003. In der Forschung richtete sich seit dem 19. Jahrhundert das Interesse an der Romrede lediglich auf ihre Form und nicht auf den Inhalt, der, wie man glaubte, als eine unzusammenhängende Ansammlung von Gemeinplätzen nicht berücksichtigt werden müsse. Auch der Aristidesbiograph Hermann Baumgart, Aelius Aristides als Repräsentant der sophistischen Rhetorik des zweiten Jahrhunderts der Kaiserzeit, Leipzig 1874, bes. 39 und Ulrich v. Wilamowitz, Der Rhetor Aristides, in: SPAW.PH 1925, 333–353, 341 standen in der Tradition der philologischen Forschung von Wilhelm Schmid, Der Attizismus in seinen Hauptvertretern. Von Dionysius von
5. Aelius Aristides – Kritik und affirmatives Lob
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Wie Simon Swain bemerkt, sei es besonders auffällig, dass Aristides sich auf die gegenwärtige Größe Roms beschränke, auf die Darstellung einer ruhmreichen römischen Vergangenheit aber verzichte.92 Richard Klein, der zu der gleichen Beobachtung gelangt, vermutet, Aristides habe mit diesem Vorgehen der Peinlichkeit entgehen wollen, das Fehlen römischer Dichter, Redner und Historiker, die den Vertretern des griechischen Geistes gleichwertig gewesen wären, benennen zu müssen. Zugleich sei Aristides mit dieser Argumentation aber auch das Wagnis eingegangen, sich von Rom zu distanzieren und die Überlegenheit der griechischen Kultur zu demonstrieren.93 Auch Simon Swain gelangt zu der Auffassung, dass Aristides letztlich nicht für Rom, sondern als Vertreter der griechischen Kultur gesprochen habe. Wenn Aristides die römische Vergangenheit ignoriert, sei dies lediglich als ein Indiz seines Desinteresses gegenüber der römischen Weltmacht zu deuten.94 Bis hierher erscheint die Argumentation der beiden Autoren als durchaus plausibel. Unklar bleibt jedoch, wie sie die positive Bewertung der gegenwärtigen römischen Verfassung innerhalb der Romrede mit der Aristides zuvor attestierten Ablehnung imperialer Macht vereinbaren wollen. Klein gelangt zu dem Ergebnis, Aristides habe einen Gegensatz konstruieren wollen zwischen Rom als einem primär „politischen und wirtschaftlichen Zentrum“ und Athen, dessen „künstlerische[n] und zivilisatorische[n] Errungenschaften aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart hinein ausstrahlen“95: „Unüberbrückbar bleibt das Gegenüber von Geist und Macht, von Pflege der Wissenschaften und materiellem Wohlstand, von kultureller Sendung und administrativer Herrschaftsausübung, von eigener Tradition und Wahrung fremden Erbes.“96
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Halikarnass bis auf den zweiten Philostrat (3 Bde.), Bd. 1.2, Stuttgart 1889, 1 ff. und Eduard Norden, Die antike Kunstprosa. Vom 4. Jh. v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance (2 Bde.), Bd.1, Leipzig, Berlin 1909, 401 f. Sie bemühten sich vor allem darum, die rhetorisch-stilistische Vorlage zu ermitteln, die man bei Isokrates und Polybios, Dionysios von Halikarnassos und Plutarch vermutete. Michael I. Rostovtzeff, Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich (2 Bde.), Neudruck der Ausgabe Leipzig 1931, Aalen 1985 hat die Rede erstmalig unter einer politischen Fragestellung untersucht. Eine Neuübersetzung und ein ausführlicher Kommentar, der von dem amerikanischen Philologen James H. Oliver, The Ruling Power. A Study of the Roman Empire in the Second Century after Christ through the Roman Oration of Aelius Aristides (Americ. Philos. Soc.), Philadelphia 1953 stammt, dokumentieren das gewachsene Interesse an der Romrede. Die politischen Interpretationsansätze fragen in erster Linie nach der Zielsetzung, mit der Aristides die Rede verfasst haben soll. Während Oliver und Jonas Palm, Rom, Römertum und Imperium in der griechischen Literatur der Kaiserzeit, Lund 1959 behaupten, die Rede versuche das römische Weltreich zu idealisieren, wird Aristides in der aktuellen Forschung als griechischer Rhetor in den Vordergrund gestellt, der die griechischen Interessen gegenüber Rom verteidigen wollte. Swain, Hellenism and Empire, 275. Richard Klein, Zum Kultur- und Geschichtsverständnis in der Romrede des Aelius Aristides, in: Barbara Kühnert, Volker Riedel, Rismag Gordesiani (Hg.), Prinzipat und Kultur im 1. und 2. Jahrhundert, Bonn 1995, 290. Swain, Hellenism and Empire, 275. Klein, Zum Kultur- und Geschichtsverständnis, 286. Ebd. 290. Dass Aristides nur die materiellen Vorteile und administrativen Erfolge des römischen Reiches in den Blick nehme, ist eine These, die auf Boulanger zurückgeht.
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Simon Swain folgt einer vergleichbaren Argumentation, die ihn zu dem Ergebnis führt, dass Aristides sich lediglich aufgrund der materiellen Gewinne, vor allem der Immunität, die er der römischen Regierung zu verdanken hatte, loyal gegenüber Rom verhalten habe. Dabei habe es sich jedoch um nichts anderes als eine „politico-administrative loyalty“97 gehandelt. Kein Zweifel bestehe darüber, „that his real loyalties, his cognative and spiritual identity, lay firmly in Greece.“98 Swain unterstellt dem Redner geradezu eine dezidierte Ablehnung gegenüber der römischen Macht, wenn er behauptet, Aristides „had no interest in Roman history or culture, and wanted no part in the system he praised […]“.99 Die Vorstellung, dass Aristides an Rom nur die erfolgreichen Verwaltungsstrukturen geschätzt bzw. als Folie verwendet habe, um vor ihrem Hintergrund die griechische Kultur umso positiver hervortreten lassen zu können, erzeugt eine Gegenüberstellung von Macht und Kultur, die meines Erachtens weder mit der Zielsetzung des Panegyrikos noch mit der historischen Realität übereinstimmt. Vielmehr wurden von Aristides die administrativen Errungenschaften und die Philanthropia der Römer gelobt.100 Diese Aussage stellt Aristides in die Tradition derjenigen Autoren, die, wie Dionysios von Halikarnass101 oder Appian102, Rom als Hüterin des kulturellen Erbes der Griechen beschreiben.103 In Abschnitt 96 gelangt Aristides zu der Feststellung: διατελεῖτε δὲ τῶν μὲν Ἑλλήνων ὥσπερ τροφέων ἐπιμελόμενοι […].104 Dass die materielle Fürsorge der Römer auch den Bereich der Kultur umfasst, betont er im nächsten Abschnitt, in dem er auf die Förderung von Gymnasien, Brunnen, Vorhallen, Tempeln, Werkstätten und Schulen verweist.105 Einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Macht und Paideia stellt Aristides auch in den Schriften Μονῳδία ἐπὶ Σμύρνῃ und Εἰς βασιλέα her. In der Rede Εἰς βασιλέα ist es vermutlich der Kaiser Marc Aurel, dem als Anhänger und Förderer der griechischen Kultur ein besonderes Lob ausgesprochen wird.106 Wie Richard Klein bemerkt, sei es Aristides in der Romrede in erster Linie um die Darstellung von Herrschaftsprinzipien gegangen und um die Behandlung der Frage, wie sich die Römer gegenüber ihren Untertanen verhalten sollten.107 Diese Herrschaftsprinzipien, die in den Ausführungen von Richard Klein als zentrale Bestandteile der Romrede bezeichnet, aber nur marginal berücksichtigt werden, sollen zum Ausgangspunkt für die folgende Interpretation verwendet werden. Aelius Aris97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107
Swain, Hellenism and Empire, 279. Ebd. 297. Ebd. 297. Ael. Aristid. 66,98. (Die Romrede wird im Folgenden nach der Ausgabe von Richard Klein, Die Romrede des Aelius Aristides, Darmstadt 1983, zitiert.) Dionys. 1,4 ff. Vgl. im Prooemium seines Geschichtswerkes. Richard Klein, Die Romrede des Aelius Aristides. Einführung, Darmstadt 1981, 126 ff. Ael. Aristid. 96: „Fortwährend sorgt ihr für die Griechen wie für eure Pflegeeltern […].“ Ebd. 97. Der Adressat der Rede konnte bisher nicht eindeutig bestimmt werden. Ebenso unklar ist, ob die Rede Aelius Aristides überhaupt zugeschrieben werden kann. Klein, Einführung, 129. Klein entwickelt diesen Gedanken im Anschluss an Bleicken.
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tides war insofern ein Vertreter des hier rekonstruierten Diskurses, als es auch ihm vornehmlich um die Begründung reziproker bzw. demokratischer Herrschaftsprinzipien ging.108 Im Gegensatz zu den bisher behandelten Sophisten wird der Kaiser als Adressat der Rede aber nicht mehr mit dem Bild des idealen princeps konfrontiert. Stattdessen wird er von Aelius Aristides als idealer Kaiser identifiziert, so als sei es ihm gelungen, die an ihn gerichteten Forderungen der Sophisten bereits erfolgreich in die Wirklichkeit umzusetzen. τι δὲ καὶ τοῦτο πρὸ τῶν ἄλλων εῖ σαφῶς, ὅτι τοὺς τῆς ἀρχῆς κοινωνοὺς οὓς οἰκείους ἔχει παῖδας ὁμοίους ἑαυτῷ … πλείους ἢ τῶν πρὸ αὐτοῦ τις.109 Ein besonders hohes Lob wird dem Kaiser bereits in Abschnitt 60 zuteil, in dem es heißt, es habe sich unter seiner Herrschaft, die als die beste bezeichnet wird, eine „allgemeine Demokratie“ herausgebildet.110 Es scheint, als habe eine langwierige Auseinandersetzung mit tyrannischen Herrschern endlich einen positiven Ausgang genommen. In der Tat gab es unter den antoninischen Kaisern keine Vorkommnisse, die das Reich wesentlich erschüttert hätten, und doch gilt Aristides der Frieden nicht als etwas Unverbrüchliches, wie aus dem Abschnitt 29 deutlich wird: ὥσπερ αὐλὸς ἐκκεκαθαρμένος, οὕτως ἅπασα ἡ οἰκουμένη χοροῦ ἀκριβέστερον ἓν φθέγγεται, συνευχομένη μένειν τὸν ἅπαντα αἰῶνα τήνδε τὴν ἀρχήν·111 Aristides hat die politische Situation seiner Zeit trotz ihrer hohen Blüte als eine fragile Ordnung wahrgenommen.112 Insofern er die politische Stabilität nicht als garantierten Dauerzustand, sondern als 108 Zur Funktion des kaiserzeitlichen Demokratiebegriffes vgl. die Seiten 146 ff. 109 Ael. Aristid. 107: „Dies aber kann man vor allem deutlich sehen, daß es eine größere Anzahl von Männern gibt, die an seiner Herrschaft teilhaben, als sie jemals ein Kaiser vor ihm hatte, die er wie eigene Söhne hält, welche ihm selbst ähnlich sind.“ 110 Ael. Aristid. 60. Wichtiger als die von Suzanne Saїd, The Rewriting of the Athenian Past. From Isocrates to Aelius Aristides, in: dies., David Konstan (Hg.), Greek on Greekness. Viewing the Greek Past under the Roman Empire, Cambridge 2006, 47–60, 55 ff. hervorgehobene Mischverfassung, die Aelius Aristides in Rom verwirklicht sieht, ist meines Erachtens die mit dem Begriff der Demokratie verbundene reziproke Herrschaftsauffassung. – Die Bezeichnung der römischen Verfassung als Demokratie findet sich besonders häufig auch bei Appian. Appian. bell. civ. 1, 146, 463, 478; 2, 448, 514, 540, 576; 3, 11 f.; 4, 150, 293, 394, 560, 580; 5, 50, 176. Es ist anzunehmen, dass seine Ausführungen, die denen des Aelius Aristides sehr ähnlich sind, ebenfalls die Funktion übernehmen, mit dem Lob der römischen Verfassungen zugleich entsprechende Erwartungen zu artikulieren. Schließlich ist auch dem aus Alexandria stammenden Appian ein sehr erfolgreicher Aufstieg in Rom gelungen, sodass es ebenfalls in seinem Interesse gelegen haben mag, auf jene Strukturen Einfluss zu nehmen. Bisher konnte diese Frage noch nicht abschließend geklärt werden, denn wie Jürgen von Ungern-Sternberg konstatiert, ließe Appian die Leser hinsichtlich der Frage nach der Absicht seines Werkes noch „etwas ratlos“. Jürgen von Ungern-Sternberg, Appians Blick auf Rom, in: Marie-Laure Freyburger, Doris Meyer (Hg.), Visions grecques de Rome, Paris 2007, 213–230, 228, 222 ff. 111 Ael. Aristid. 29: „Wie eine Flöte, die gründlich gereinigt ist, lässt der ganze Erdkreis, sorgfältiger als ein Chor, nur einen einzigen Ton erschallen, nämlich das gemeinsame Gebet, dass euer Reich ewig bestehen möge.“ 112 Weshalb die politische Ordnung von Aristides nicht als stabil wahrgenommen wurde, hat die Forschung verunsichert. Normalerweise wurden die stabilen Verhältnisse für das bedingungslose Lob gegenüber Rom verantwortlich gemacht: Papaevangelou-Varvaroussi, Aelios Aristeides, 233, Anm. 143; Swain, Hellenism and Empire, 260. Tatsächlich fürchtete Aristides nichts so sehr wie einen allgemeinen Unfrieden sowie die staseis, die Städterivalitäten in Kleinasien:
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eine immer wieder neu herzustellende Ordnung beschrieb, hat sein Lob nicht nur affirmative, sondern vor allem auch appellative Funktionen übernommen.113 Dass die Begründung reziproker Machtstrukturen auch zu seiner Zeit noch notwendig war, zeigen die von ihm vielfach verwendeten historischen Vergleiche, in denen eine „gute“ durch Rom repräsentierte Herrschaftsform „schlechten“ Herrschaftstypen gegenübergestellt wird. Diese Vergleiche knüpfen unmittelbar an den Diskurs über den Gegensatz von Königtum und Tyrannis an. Die „Kunst des Herrschens“ – gemeint ist auch hier die Herstellung von Reziprozität – war nach der Auffassung des Aelius Aristides eine Erfindung der Römer. Diese These soll durch einen Vergleich mit anderen Herrschaftssystemen begründet werden, die er negativ von Rom abgrenzt. Einen deutlichen Gegensatz zu Rom stelle die Herrschaft der Perser dar, die Aristides ebenfalls als Tyrannis konzipiert. In der gleichen Weise wie Dion und Plutarch konstruiert auch Aristides einen kausalen Zusammenhang zwischen Gewaltherrschaften und dem Verlust politischer Stabilität. Wie er weiter ausführt, stießen Gewaltherrscher, die sich über die Interessen der Menschen hinwegsetzten, fortwährend auf Hass und Intrigen, Bürgerkriege und unaufhörliche Rivalitäten.114 Stabil sei ihre Herrschaft nie gewesen, da sie ihre Untertanen mehr als ihre Feinde fürchten mussten: ἐξ ὧν μισοῦντές τε καὶ μισούμενοι διῆγον·115 Auch die Griechen, die Aristides ansonsten so positiv darstellt, werden aufgrund ihrer Herrschaftspraxis der negativen Seite der Unterscheidung zugeordnet. Sie, die überall Gewalt und Zwang angewendet und es nicht verstanden hätten, ihre Untertanen zu integrieren, seien letztlich gescheitert. Die Menschen, die sie einerseits für den Krieg brauchten, sollten andererseits nicht zu mächtig werden, sodass sie am Ende gar nicht mehr gewusst hätten, was sie mit ihnen anfangen sollten. Papaevangelou-Varvaroussi, Aelios Aristeides 304, 306; Swain, Hellenism and Empire, 260, 288. 113 Auch hier zeigt sich, dass die von der älteren Forschung vertretene Dichotomie zwischen Rhetorik und Philosophie im Rahmen der hier vorgeschlagenen Lesart der Quellen nicht bestätigt werden kann, da sich nicht nur mit der παρρησία der Philosophen, sondern auch mit dem Lob der Rhetoren eine kritische Haltung verbinden lässt. Elizabeth Rawson bestätigt hingegen die Unterscheidung trotz der einschränkenden Worte, wenn sie behauptet: „What rhetors and sophists did was, primarily, to praise – though that might provide a model for the ruler to follow; what envoys did was to request (and praise too). Philosophers might warn.“ Elizabeth Rawson, Roman Rulers and Philosophic Adviser, Miriam Griffin, Jonathan Barnes (Hg.), Philosophia Togata. Essay on Philosophy and Roman Society, Oxford 1989, 233–257, 253. Eine Ursache für diese Unterscheidung liegt darin begründet, dass den Philosophen ein höherwertiger moralischer bios zugeschrieben wurde, der mit der Aufgabe verbunden gewesen sei, den Kaiser zu einem tugendhaften Menschen zu erziehen: „The fundamental principle was that kingship could only be justified as the rule of a supremely good man.“ Rawson, Roman Rulers and Philosophic Adviser, 253. Zu einem ähnlichen Urteil gelangt Flinterman, Sophists and Emperors, 374: „Whereas the ethical expertise claimed by philosophers extended to the emperor’s behaviour as a ruler, at least in this respect sophists tended to be more modest. Und 375: „[…] the way in which sophists defined their role vis-à-vis emperors was markedly different from the self-definition of philosophers.“ 114 Ael. Aristid. 19 f. 115 Ael. Aristid. 22: „So kam es, dass sie immerfort hassten und gehasst wurden.“
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Von jeder historischen Form tyrannenähnlicher Herrschaft unterscheidet er die römischen Kaiser, die ihren Untertanen gegenüber immer zugänglich gewesen seien und es ihnen ermöglicht hätten, an der Herrschaft teilzuhaben.116 Durch die Aufhebung des Untertanenverhältnisses von Herrschern und Beherrschten seien Frieden und Sicherheit an die Stelle von Neid und Hass getreten.117 Den Römern sei es im Gegensatz zu den Griechen gelungen, die Teile ihres Reiches erfolgreich zu integrieren, wobei Aristides als besondere Leistung die Vergabe des Bürgerrechtes anerkennt, das aus Untertanen Verwandte der Römer machte: ξένος δ᾿ οὐδεὶς – Keiner ist ein Fremder […].118 Auch in der 42. Rede Περὶ ὁμονοίας ταῖς πόλεσιν wird behauptet, dass die Untertanen das allgemeine Wohl so schätzen, als wäre es ihr eigenes.119 In Abschnitt 65 lobt er die Statthalter, die nicht wie „über Fremde“ regieren, sondern wie über Landsleute (οἰκείων)“.120 Ein Zusammenhang mit den Gedanken der oikeiosis-Lehre wird hier offensichtlich. Sogar in dem Panathenaikos, mit dem Aelius Aristides nach der Auffassung von Richard Klein sein Selbstwertgefühl als Grieche behauptet habe, wird letztlich die Überlegenheit der römischen Verfassung gegenüber den Verfassungen aller bisherigen Weltreiche hervorgehoben.121 Die lobenden Worte des Aelius Aristides, mit denen er die Römer als diejenigen Machthaber preist, denen es gelang, tyrannenähnliche Herrschaftsstrukturen abzubauen und stattdessen Vertrauen herzustellen, gehören – dies haben die bisherigen Ausführungen gezeigt – nicht nur zur Form der Panegyrik. Da mit der Romrede zugleich dem Wunsch Ausdruck verliehen werden sollte, dass die gegenwärtige Ordnung auch in Zukunft noch bestehen möge, war mit dem Lob zugleich ein Appell an den Kaiser verbunden, er möge die Interessen der Menschen und die griechische Paideia auch weiterhin repräsentieren.122 Der Diskurs über die Reziprozität von Herrschaftsstrukturen war notwendigerweise so lange fortzusetzen, als es möglich war, dass sich ein ‚guter‘ Kaiser zu einem ‚schlechten‘ Kaiser entwickeln konnte.
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Vgl. Ael. Aristid. 65, 107. Vgl. Ael. Aristid. 65, 99, 100. Ael. Aristid. 60. Ael. Aristid. 23,11. Vgl. dazu Papaevangelou-Varvaroussi, Aelios Aristeides, 256. Klein, Zum Kultur- und Geschichtsverständnis, 290, 285 ff. Ael. Aristid. Panathen. 299 D. Hartmut Kugler, Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters, München 1986, 31, hat bereits darauf hingewiesen, dass eine Lobrede immer ein Spannungsverhältnis von Textwirklichkeit und Stadtwirklichkeit erzeuge, wobei der Stadt, wie sie ist, durch den Text eine Stadt gegenübergestellt werde, wie sie sein soll. Das Städtelob liefere keine einfachen Beschönigungen, es sei immer beschreibend und normierend. Dieser auch an den Kaiser gerichtete „erzieherische“ Aspekt der Lobrede, der ihn daran erinnern soll, dass seine Herrschaft nur mit entsprechender Anerkennung rechnen dürfe, solange er die Interessen der Menschen respektiert, findet sich in dem Traktat ‚Peri epideiktikon‘ des Menander Rhetor, der unmittelbar an Aelius Aristides anknüpft.
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6. DIE VITA APOLLONII DES PHILOSTRAT – EINE KLASSISCHE VERFASSUNGSDEBATTE UND DIE BEGRÜNDUNG EINER NEUEN HERRSCHAFTSFORM Philostrat verfasste zu Beginn des dritten Jahrhunderts, in den Jahren zwischen 203 und 217 n. Chr., die Lebensbeschreibung des Apollonios von Tyana. Dieses Werk enthält eine klassische Verfassungsdebatte, deren Ziel es ist, die Figur des demokratischen Königtums als die beste Herrschaftsform zu empfehlen. Der Adressat der miteinander streitenden Philosophen ist Vespasian, der sich zu dieser Zeit in Alexandria aufgehalten haben soll, nachdem er am 1. Juli 69 von dem Präfekten von Ägypten, Ti. Iulius Alexander, zum Imperator proklamiert worden war. Dort habe er sich ratsuchend mit der Frage, wie er in Zukunft regieren solle, an die Philosophen Apollonios, Euphrates und Dion Chrysostomos gewandt.123 Als erster spricht Euphrates, der von Vespasian mit unmissverständlichen Worten fordert, er möge den Römern die Demokratie zurückgeben und der Alleinherrschaft ein Ende setzen. Dion, der zweite Redner, nimmt demgegenüber eine weitaus skeptischere Haltung ein. Der Forderung des Euphrates, dass die mit der Person des Vitellius verbundene wieder aufkeimende Tyrannis zu verhindern sei, schließt sich Dion zwar grundsätzlich an. Zweifel hat er jedoch an der Fähigkeit der Römer zur Demokratie, weshalb er Vespasian den Rat gibt, er solle die Menschen zwischen Monarchie und Demokratie wählen lassen. Nachdem beide Philosophen ihre Redebeiträge beendet haben, setzt Apollonios zu einer Gegenrede an. Er versucht Dion und Euphrates davon zu überzeugen, dass es keinen Sinn habe, Vespasian von der Herrschaftsübernahme abzuhalten, da nicht die Beseitigung der Monarchie das Ziel sein könne, sondern es allein um die Frage gehe, wie der zukünftige Kaiser herrschen werde. Schließlich, und dies ist bemerkenswert, empfiehlt auch Apollonios Vespasian die Demokratie, doch verbindet er im Unterschied zu seinen beiden Vorrednern damit keine Verfassungs-, sondern eine Herrschaftsform bzw. eine ideale Form der Machtausübung124, die sich am ehesten innerhalb der Strukturen eines demokratischen Königtums realisieren ließe: […] ὥσπερ γὰρ εἷς ἀρετῇ προὔχων μεθίστησι τὴν δημοκρατίαν ἐς τὸ ἑνὸς ἀνδρὸς τοῦ ἀρίστου ἀρχὴν φαίνεσθαι, οὕτως ἡ ἑνὸς ἀρχὴ πάντα ἐς τὸ ξυμφέρον τοῦ κοινοῦ προορῶσα δῆμός ἐστιν.125 Die Ratschläge, die Apollonios Vespasian mit auf den Weg gibt, heben die mit dem Bild des demokratischen Herrschers verbundenen und von den Sophisten verteidigten reziproken Machtstrukturen hervor. Zunächst rät er ihm, seinen Reichtum nicht um seiner selbst willen anzuhäufen. Entsprechend den Vorstellungen der stoischen Philosophie erklärt 123 Philostrat. vit. Apoll. 5,30–32; Vgl. Thomas Schirren, Philosophos Bios. Die antike Philosophenbiographie als symbolische Form. Studien zur Vita Apollonii des Philostrat, Heidelberg 2005, 258–271. 124 Philostrat. vit. Apoll. 5,35: Ἐμοὶ πολιτείας μὲν οὐδεμιᾶς μέλει, […]. – „Ich persönlich kümmere mich um keine Verfassung […].“ 125 Philostrat. vit. Apoll. 5,35: „[…] denn wie ein einziger Mann, der sich durch Tugend auszeichnet, die Demokratie so gestalten kann, daß sie zur Alleinherrschaft des Besten wird, so wird eine Monarchie, die in allem das gemeinsame Wohl bedenkt, zur Demokratie.“
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er dem zukünftigen Herrscher, dass Reichtum weder gut noch schlecht, sondern allein dessen „richtiger Gebrauch“ maßgebend sei.126 Dasselbe gelte für die Freiheit, die sich ebenfalls durch weisen Gebrauch und nicht durch Schrankenlosigkeit verwirkliche. Auch rät er ihm, die hohen und überragenden Ähren nicht abzuschneiden, womit er versucht, Vespasian zu verdeutlichen, wie wichtig es sei, die Aristokratie nicht von der Herrschaft auszuschließen.127 Die in der Monarchie angelegten tyrannischen Strukturen würden aber vor allem durch ein Gesetz eingehegt, das Herrscher und Beherrschte gleichermaßen binde.128 Bereits vor Beginn der eigentlichen Verfassungsdebatte erklärt Vespasian sich bereit, seine Regierungspraxis auf das Ideal des Philosophenherrschers auszurichten, das in gleicher Weise wie die Figur des demokratischen Königs mit reziproken Machtstrukturen verbunden wurde: „ὦ Ζεῦ“ ἔφη „σοφῶν μὲν ἐγὼ ἄρχοιμι, σοφοὶ δὲ ἐμοῦ.“129 Nach der Beendigung der Debatte wird Vespasian auch äußerlich als demokratischer Herrscher bestätigt, da er sich bereitwillig der Autorität des Apollonios unterordnet und sich von diesem Dion und Euphrates als Ratgeber seiner zukünftigen Herrschaft zur Seite stellen lässt. In der jüngeren Forschung wurde insbesondere die Frage nach der Fiktionalität der Vita Apollonii diskutiert, da es für den Bericht des Philostrat, der mehr als 100 Jahre nach dem Tod des Apollonios entstanden ist, keine außertextlichen Kontrollmöglichkeiten gibt.130 Dies betrifft auch die Verfassungsdebatte und die überaus positive Präsentation Vespasians. Die Darstellung des vorbildlichen Verhältnisses zwischen Monarch und den ihn beratenden Philosophen wurde als besonders problematisch empfunden, da es in anderen kaiserzeitlichen Berichten keine Bestätigung finde. Dort
126 Philostrat. vit. Apoll. 5,36. Vgl. dazu S. 75 f. 127 Nach den Erläuterungen von Vroni Mumprecht sei diese Stelle eine Anspielung auf den von Herodot berichteten Rat, den Thrasybulos dem Periandros gab, als dieser ihm befahl, die besten Bürger zu töten. (Hdt. 5,92; Liv. 1,54) Vgl. Vroni Mumprecht, Philostratos. Das Leben des Apollonios von Tyana, gr.-dt., hg., übers. und erläut. von Vroni Mumprecht, München, Zürich 1983, 1083, Anm. 86. 128 Philostrat. vit. Apoll. 5,36: νόμος, ὦ βασιλεῦ, καὶ σοῦ ἀρχέτω· Wie Flinterman bemerkt, war für Philostrat ebenso wie für Dion Chrysostomos „the attitude to the law […] a central criterium in deciding whether a monarch is a tyrant or a king: the king respects the laws, the tyrant scorns and breaks them.“ Jaap-Jan Flinterman, Power, Paideia and Pythagoreanism. Greek Identity, Conceptions of the Relationship between Philosophers and Monarchs and Political Ideas in Philostratus’ Life of Apollonius, Amsterdam 1995, 211. 129 Philostrat. vit. Apoll. 5,28: „Mein Zeus, laß mich über weise Männer herrschen und von weisen Männern beherrscht werden.“ 130 Schirren, Philosophos Bios, 1 ff.; auf den Seiten 38–51 wird die Dichotomie von ‚fiktional‘ und ‚faktual‘ aufgehoben, da eine Fiktion dem Leser eine Weltversion liefern soll, die dieser trotz ihrer Fiktionalität für real halten wird. Vgl. dazu auch Flinterman, Power, Paideia and Pythagoreanism, 5–14, 138 ff., 144 f.; Graham Lucian Anderson, Philostratus. Biography and Belles Lettres in the Third Century A.D., London u. a. 1986, 291–296; Friedrich Solmsen, s. v. Philostratos (Nr. 9–12), in: RE 20.1, 1941, 124–177; Whitmarsh, Greek Literature and the Roman Empire, 229 ff.
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werde überliefert, dass Vespasian im Gegensatz zu Nero nicht nur einige, sondern alle Philosophen und Astrologen aus Rom verbannt habe. Es ist also zu fragen, weshalb sich Philostrat im Unterschied zu Dion Chrysostomos dazu entscheidet, nicht Trajans, sondern bereits Vespasians Regierungszeit als eine Zäsur zu beschreiben, die ein Ende der Herrschaftspraxis aller vorherigen Kaiser markiere, die in der Vita Apollonii durchgängig mit dem Vorwurf der Tyrannis belegt werden.131 Die Annahme einer solchen Zäsur wird schließlich auch durch die auf Vespasian folgende Herrschaft Domitians erschwert, die auch der Vita Apollonii als Inbegriff der Tyrannis gilt. Im Folgenden soll untersucht werden, wie sich das von Philostrat entworfene Idealbild Vespasians zu den Berichten anderer kaiserzeitlicher Quellen verhält, die zunächst ein eher widersprüchliches Bild des Kaisers zu zeichnen scheinen, da neben die Erwähnung der zahlreichen Verbannungen von Philosophen ein weitaus positiveres Bild tritt, mit dem Vespasian als Förderer der griechischen Paideia verehrt wird.132 Wie Sueton berichtet, habe Vespasian Schriftstellertalente und Künstler unterstützt und als erster Kaiser lateinischen und griechischen Rhetoren ein Jahresgehalt von hunderttausend Sesterzen bewilligt.133 Es gibt auch sonst kein Indiz für die ihm immer wieder unterstellte grundsätzlich feindselige Haltung gegenüber den Philosophen seiner Zeit. Stattdessen ist zu beobachten, dass er deren Kritik stets gelassen hingenommen habe.134 Vespasian soll sogar beabsichtigt haben, das über Helvidius Priscus vollstreckte Todesurteil wieder rückgängig zu machen.135 Da in den Quellen behauptet wird, es sei niemand ohne Schuld bestraft worden, stellt sich die Frage, wie es zu den in der Überlieferung bezeugten Verbannungen von Philosophen und Astrologen kam und welche Faktoren es waren, die der Vespasian zugeschriebenen Toleranz dann doch eindeutige Grenzen setzten. Es ist bemerkenswert, dass bei Cassius Dio die Verbannungen an keiner Stelle auf die Initiative Vespasians zurückgeführt werden. Als Urheber wird stattdessen der ehrgeizige Mucianus erwähnt, während Vespasian entlastet wird. Vespasian sei durch das Handeln der Philosophen, die ihren eigenen Untergang heraufbeschworen, gleichsam gezwungen worden, sie mit der Verbannung zu bestrafen.136 Wie Cassius Dio berichtet, wurden auch nicht alle Philosophen bestraft, sondern nur diejenigen, die die bestehende Ordnung angriffen, einen Umsturz planten und die Monarchie durch die Demokratie zu ersetzen versuchten.137 In diesem Zusammenhang ist sicherlich die Demokratie als Verfassungsform gemeint, mit deren Einführung auch die Herr-
131 Schirren, Philosophos Bios, 258 ff., 263 behauptet, dass Philostrat geneigt gewesen sei, bei Vespasian den Makel des Philosophenfeindes zu übergehen. 132 Cass. Dio 65 (66),9; 65 (66),13; Suet. Vespasian. 13–15; 18–19. Vgl. dazu Schirren, Philosophos Bios, 258 f. 133 Suet. Vespasian. 18; Cass. Dio 65 (66),12 (Zon. 11,17 p. 494, 12–17 B; p. 53, 29–54, 3D) 134 Suet. Vespasian. 13,1. 135 Suet. Vespasian. 15. 136 Cass. Dio 65 (66),13. 137 Cass. Dio 65 (66),12,2.
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schaft Vespasians beendet worden wäre, nicht aber eine besondere Form der Herrschaftsausübung.138 Für die in der Forschung beobachteten Widersprüche in dem Verhalten Vespasians ist meines Erachtens das Bild vom demokratischen Königtum und ein Blick auf das sich verändernde Verhältnis der Philosophen gegenüber der kaiserlichen Macht aufschlussreich. Wie Apollonios mit seiner Gegenrede bekräftigte, sollten die herrschaftspolitischen Forderungen der Philosophen nicht mehr mit der Beseitigung der Monarchie, sondern mit dem Ziel verbunden werden, die Kaiser auf die Einhaltung demokratischer Machtstrukturen zu verpflichten, die auch den Beherrschten einen Anteil an der Herrschaft zusichern sollten.139 Dieses Bild wird durch die kaiserzeitlichen Quellen durchaus bestätigt, die das Verhalten Vespasians in einer Weise schildern, als habe er versucht, dem Bild des demokratischen Kaisers möglichst eindeutig zu entsprechen. Denn vom tyrannischen Herrschertypus unterscheidet sich Vespasian durch seine Zugänglichkeit und sein prosenatorisches Verhalten sowie durch seine Bereitschaft, sich von Philosophen beeinflussen und auch kritisieren zu lassen.140 In dem Verhalten Vespasians scheinen sich die Forderungen des Apollonios sogar sehr genau widerzuspiegeln, gerade weil er nicht bereit war, die radikalen Forderungen jener Philosophen hinzunehmen, die nicht nur die Beteiligung an der Herrschaft verlangten, sondern darüber hinaus auf die vollständige Beseitigung der Monarchie drängten, selbst einer demokratisch verfassten. Vielmehr ist sein Handeln eine Bestätigung des neuen von Kaisern und Philosophen gemeinsam etablierten Diskurses, der beiden Parteien konkrete Verhaltensänderungen abverlangte, den Kaisern den Verzicht auf autokratische Herrschaftsstrukturen und den Philosophen den Verzicht, weiterhin auf der Abschaffung der Monarchie zu insistieren. Was im Rahmen dieses Diskurses erlaubt und nicht erlaubt war, veranschaulicht die Reaktion Vespasians gegenüber Demetrius, der auch unter Strafandrohungen nicht von seinen Plänen abließ, und deshalb von Vespasian die Antwort erhielt: σὺ μὲν πάντα ποιεῖς ἵνα σε ἀποκτείνω, ἐγὼ δὲ κύνα ὑλακτοῦντα οἰ φονεύω.141 Ausgehend vom Bild des demokratischen Königtums, das nach den Aussagen Philostrats und anderer kaiserzeitlicher Autoren ein Vorbild für die Regierungspraxis Vespasians wurde und eine Veränderung für das Verhältnis zwischen Herrschern und Beherrschten bewirkte, wäre es berechtigt, die Herrschaft dieses Kaisers als eine Zäsur innerhalb der Kaisergeschichte zu deuten. Für diese Annahme gibt es noch ein weiteres Indiz.
138 Vgl. dazu Seite 146 f. 139 Dass die Demokratie innerhalb der Verfassungsdebatte nur als Verfassungs-, nicht aber als Herrschaftsform zurückgewiesen wird, sieht Thomas Schirren (264) nicht: „Apollonios tritt also für ein gut ausbalanciertes Sowohl-als-Auch ein: zwar sei unter philosophischer Perspektive die Demokratie das Erstrebenswerte, aber unter den gegebenen Bedingungen dürfe der Philosoph die Politiker nicht vor den Kopf stoßen.“ 140 Tac. hist. 4,3,4; Suet. Vespasian. 21; Cass. Dio 65 (66),10,4. 141 Cass. Dio 65 (66),13,3: „Du tust alles, daß ich dich töten soll, ich aber bringe einen bellenden Hund nicht um.“
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Im Zusammenhang mit der Verfassungsdebatte erklärte Apollonios dem zukünftigen Kaiser, dass ein wesentlicher Garant für die Stabilität demokratischer Strukturen ein Gesetz sei, das Herrscher und Beherrschte gleichermaßen binde. Ein Gesetz, das der Forderung des Apollonios entsprochen haben könnte, ist die lex de imperio Vespasiani. Auch innerhalb der modernen Forschung wird die These vertreten, dass durch diese lex eine Zäsur bewirkt worden sei. Auf der Grundlage dieses Gesetzes sei es dem Kaisertum schließlich gelungen, sich als neuer, eigenständiger Verfassungstyp zu institutionaliseren. So markierte nach dem Urteil von Parsi und Brunt die lex de imperio Vespasiani einen Wandel von der Republik zur Monarchie, oder anders gewendet, von der monarchie modérée zur monarchie absolue142. Andere Autoren, die das Gesetz einer republikanischen Lesart unterzogen, begrenzten seine Gültigkeit auf Zeiten eines Staatsnotstandes.143 Diesen beiden Positionen soll nun ein alternativer Interpretationsansatz gegenübergestellt werden, der die Inschrift als rechtlichen Ausdruck des von den Philosophen propagierten Bildes des demokratischen Königtums interpretiert, das zur Konsolidierung der Doppelherrschaft von Herrschern und Beherrschten beitragen sollte. Bereits in Kapitel II.1. wurde am Beispiel der Interpretation von Aloys Winterling dargelegt, weshalb das Gesetz weder auf eine monarchische noch auf eine republikanische Lesart reduziert werden kann. Aloys Winterling hat die ianusköpfige Gestalt des Dokumentes nicht durch die Einebnung von Widersprüchen erklärt, sondern damit, dass der Gesetzestext die in der sozialen und politischen Realität vorhandenen Paradoxien reproduziere. Dies werde erkennbar, wenn zwischen dem Inhalt des Textes einerseits, der insbesondere durch die sog. diskretionäre Klausel in Paragraph 6 die Allmacht des Kaisers bestätigen soll, und dem bloßen Vorhandensein des Textes andererseits unterschieden wird, mit dem signalisiert werde, dass der Kaiser aus sich selbst heraus nicht allmächtig sei, solange der Senat die Instanz ist, die ihm seine Allmacht verleiht. Die hier aufgestellte Vermutung, dass durch ein Gesetz der Figur des demokratischen Herrschers bzw. den durch sie repräsentierten reziproken Machtstrukturen eine rechtliche Grundlage verschafft werden sollte, wird meines Erachtens bereits durch die inhaltliche Ebene bestätigt. Als ein Manifest der Autokratie wurde der Paragraph 6, die sog. „diskretionäre Klausel“, definiert: Utique quaecunque ex usu reipublicae maiestate divinarum humanarum publicarum privatarumque rerum esse censebit, ei agere facere ius potestasque sit, […].144 Als eine Generalbevoll142 Vgl. dazu Blanche Parsi, Désignation et investiture de l’empereur Romain, Paris 1963, 107 ff.; Peter A. Brunt, Lex de imperio Vespasiani, in: JRS 67, 1977, 95–116, 109, 114 f. 143 Otto Schulz, Das Wesen des römischen Kaisertums der ersten zwei Jahrhunderte, Paderborn 1916, 31, Anm. 63; ders., Vom Prinzipat zum Dominat, Paderborn 1919, 264; Johannes Kromayer, Die rechtliche Begründung des Prinzipats (Diss.), Straßburg 1888, 49; Helmut Castritius, Der römische Prinzipat als Republik, Husum 1982. Zur Diskussion der Forschung vgl. auch Angela Pabst, „… ageret faceret quaecumque e re publica censeret esse.“ – Annäherungen an die lex de imperio Vespasiani, in: Werner Dahlheim u. a. (Hg.), Festschrift für Robert Werner zu seinem 65. Geburtstag, Konstanz 1989, 125–148, 125 ff. 144 CIL VI 930 = ILS 244, 17–19: „[…] daß er das Recht und die Vollmacht haben solle, alle Maßnahmen, die nach seiner Ansicht im Interesse der res publica liegen und der Erhabenheit der göttlichen, menschlichen und privaten Dinge angemessen sind, einzuleiten und zu treffen, […].“
7. Zusammenfassung
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mächtigung kann dieser Paragraph nur dann interpretiert werden, wenn das eigenmächtige Handeln des Kaisers nicht durch die Bedingung eingeschränkt würde, dass sich sein gesamtes Handeln am Interesse der res publica orientieren solle. „An genau dieses Postulat, i. e. die erforderliche Kongruenz zwischen dem Tun der Herrschenden und dem, was für die Beherrschten gut ist, gemahnt das ‚ex usu rei publicae esse censere‘“145, das – und dies ist hier zu ergänzen – von den Sophisten unablässig von den Kaisern gefordert wurde. Auch wenn sich der Kaiser frei gefühlt haben mag, autonom das Wohl der res publica zu definieren und sich über die Interessen der Menschen hinwegzusetzen, ist doch die Tatsache, dass seinem Handeln ein allgemeiner Maßstab verordnet wird, ein Indiz für die Grenzen schrankenloser Machtausübung, die an dieser Stelle festgeschrieben wurden. Als legitim sollte schließlich nur die Herrschaft jener Kaiser anerkannt werden, die bereit waren, ihr Handeln am Interesse der res publica zu orientieren. Selbst die sanctio ist vor diesem Hintergrund keine dem Kaiser übertragene Pauschalvollmacht. Sie besagt, dass niemand, der wegen dieses Gesetzes gegen andere Gesetze verstößt, belangt werden soll. Wenn sich also der Kaiser über bestehende Gesetze hinwegsetzt, ist dies solange kein Ausdruck autokratischen Handelns, als es auf der Grundlage dieses Gesetzes erfolgt, das das kaiserliche Handeln an die res publica bindet. Wenn durch die lex de imperio reziproke Machtstrukturen festgeschrieben werden sollten, kann dies als ein Versuch betrachtet werden, das von den Philosophen und von Apollonios in der Verfassungsdebatte geforderte Gesetz, das Herrscher und Beherrschte gleichermaßen bindet, in die politische Realität umzusetzen. Unter der Voraussetzung dieser Interpretation liest sich der Gesetzestext als eine unmittelbare Widerspiegelung der von Apollonios an Vespasian gerichteten Mahnung, er solle die Freiheit, alles tun zu können, was er wolle, fürchten, damit er einen weiseren Gebrauch von ihr machen würde.146 Insofern ist es auch aus rechtlicher Perspektive möglich, die Herrschaft Vespasians als eine Zäsur zu beschreiben, die jedoch nicht einen Wandel von der monarchie modérée zur monarchie absolue markiert, sondern ganz im Gegensatz dazu einen Übergang von autokratischen zu reziproken Machtstrukturen initiiert. 7. ZUSAMMENFASSUNG Anhand der ausgewählten Texte von Dion Chrysostomos, Plutarch, Aelius Aristides und Philostrat konnte gezeigt werden, dass die Begründung und die Verteidigung reziproker Herrschaftsstrukturen ein gemeinsames Interesse dieser Autoren war. 145 Pabst, Annäherungen an die lex de imperio Vespasiani, 129. An späterer Stelle (135) schreibt Angela Pabst, dass die Normen der lineae 17/18 zum Kriterium „für die Trennung von guten und schlechten Kaisern“ wurden. Darüber hinaus verweist sie auf die republikanischen Formeln, die in dem Gesetz aufgenommen wurden und die Kompetenz der Kaiser an die Kompetenz der Konsuln in republikanischer Zeit zurückbinden. Vgl. dazu 135 ff., bes. 137. 146 Philostrat. vit. Apoll. 5,36.
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V. Politische Theorie der Zweiten Sophistik
Mit dem Begriff der „Demokratie“, der ein zentraler Bestandteil ihrer Reden war, versuchten die Autoren nicht, die bestehenden monarchischen Strukturen zu beseitigen, sondern ihre eigenen Macht- und Einflusschancen durchzusetzen. Dies gelang insofern, als der Demokratiebegriff nicht mehr an verfassungs-, sondern an machtpolitische Forderungen gebunden wurde, mit denen hierarchische durch reziproke Strukturen ersetzt werden sollten. Nicht die klassischen Institutionen der athenischen Demokratie, sondern die peri basileias-Reden der griechischen Autoren des fünften und vierten Jahrhunderts bildeten einen Anknüpfungspunkt innerhalb ihres politischen Diskurses. Mit der intensiven Bezugnahme auf die Vergangenheit waren durchaus konkrete Interessen an der Gegenwart verbunden, auch wenn die Demokratie hierbei nicht mehr als Verfassungsform gedacht wurde. Die von den Autoren intendierten demokratischen Herrschaftsstrukturen sahen diese idealiter in der Figur des Philosophenherrschers realisiert, die ihnen als potentiellen Beratern der Kaiser entsprechende Partizipationschancen in Aussicht stellte. Ein besonders eindrückliches Bild einer idealen Herrschaftsform hat Dion Chrysostomos gezeichnet, der den Gegensatz zwischen Tyrannis und Basileia personifiziert und dadurch die den verschiedenen Herrschaftsformen zugrunde liegenden anthropologischen und normativen Vorstellungen hervorkehrt. Auch anhand der von Philostrat referierten klassischen Verfassungsdebatte wurde erkennbar, dass die Frage nach konkreten Verfassungsformen überlagert wurde durch die Frage, wie politische Macht auszuüben sei. Wie die Ausführungen zu Plutarch ergeben haben, hatte die von den Sophisten eingeforderte Herrschaftsform insbesondere für die munizipalen Aristokratien eine hohe Bedeutung, denen sich unter dem Dach der Paideia Wege in die römischen Machtstrukturen eröffneten. In dem Maße, in dem das römische Weltreich zunehmend griechischer wurde, ergaben sich auch für die peregrinen Eliten vielfältige Wege, sich politisch zu integrieren, ohne dabei die traditionelle Identität aufgeben zu müssen. Durch diese integrative Macht der Paideia entstand gewissermaßen eine städteübergreifende, allgemeine Aristokratie, die den Gegensatz von stadtrömischen und munizipalen Eliten obsolet werden ließ. Dies konnte bereits durch die Romrede des Aelius Aristides bestätigt werden, in der die Dichotomien zwischen römischer Macht und griechischer Kultur ebenfalls keine Berücksichtigung mehr finden. Überall habe sich, so Aristides, eine Art zu leben herausgebildet und keiner müsse dem anderen mehr ein Fremder sein. Da jedoch der Rückfall in hierarchische Herrschaftsstrukturen weiterhin als eine latent vorhandene Gefahr empfunden wurde, galt die demokratisch verfasste Monarchie, die von vielen Rednern als ideale Staatsform gepriesen wurde, letztlich als eine fragile Ordnung. Die zahlreichen Tyrannisvorwürfe, die nicht nur gegen Kaiser, sondern auch gegen Personen der Aristokratie gerichtet wurden, wie am Beispiel des Dion Chrysostomos erkennbar war, sind letztlich als ein Symptom dieser Befürchtungen zu verstehen. Inwieweit es Marc Aurel gelang, sich in das von den Sophisten propagierte Weltbild einzufügen und der politischen Ordnung im Medium der Paideia Akzeptanz und Stabilität zu verleihen, soll der Gegenstand des letzten Kapitels sein.
VI. MARC AUREL UND DIE GESELLSCHAFTLICHE WIRKLICHKEIT DER ZWEITEN SOPHISTIK 1. MARC AUREL – DER PHILOSOPH AUF DEM KAISERTHRON Das Ende von Marc Aurels Herrschaft sei nach der Auffassung des griechischen Historikers Cassius Dio zugleich das Ende eines „goldenen Zeitalters“ gewesen.1 Diese positive Wahrnehmung geht letztlich darauf zurück, dass Marc Aurel als ein Kaiser wahrgenommen wurde, der die von der Zweiten Sophistik entwickelten Erwartungen an einen Kaiser erfolgreich in sein Handeln integrierte. Die Herrschaftsauffassung Marc Aurels fasst der Paragraph 14 aus dem Ersten Buch der „Selbstbetrachtungen“ zusammen: Παρὰ [τοῦ ἀδελφοῦ μου] Σεουήρου τὸ φιλοίκειον καὶ φιλάληθες καὶ φιλοδίκαιον· καὶ τὸ δι᾿ αὐτὸν γνῶναι Θρασέαν, Ἑλβίδιον, Κάτωνα, Δίωνα, Βροῦτον καὶ φαντασίαν λαβεῖν πολιτείας ἰσονόμου κατ᾿ ἰσότητα καὶ ἰσηγορίαν διοικουμένης καὶ βασιλείας τιμώσης πάντων μάλιστα τὴν ἐλευθερίαν τῶν ἀρχομένων· καὶ ἔτι [παρὰ τοῦ αὐτοῦ] τὸ ἐμμελὲς καὶ ὁμότονον ἐν τῇ τιμῇ τῆς φιλοσοφίας· καὶ τὸ εὐποιητικὸν καὶ τὸ εὐμετάδοτον ἐκτενῶς· καὶ τὸ εὔελπι καὶ τὸ πιστευτικὸν περὶ τοῦ ὑπὸ τῶν φίλων φιλεῖσθαι·2
Marc Aurel distanziert sich von dem in der Zweiten Sophistik immer wieder mit Nero identifizierten Bild des Tyrannen, indem er Thrasea und Helvidius, die die sog. stoische Senatsopposition gegen Nero anführten, als Vorbilder seiner Regierungspraxis aufführt.3 Dass er seine Herrschaft an den Erwartungen der Aristokratie ausrichten will, deuten auch die anderen Namen in Paragraph 14 an. Cato galt ebenso wie der Caesarmörder Brutus in der Kaiserzeit als Idealgestalt der römischen Republik. An welche Person Marc Aurel mit dem Namen Dion erinnern wollte, ist in der Forschung umstritten. Einerseits hätte er an Dion von Syrakus, 1 2
3
Cass. Dio 72 (71),36,4. M. Aur. ad se ipsum 1,14,1–5: „Bei Severus (erlebte ich, was es heißt), seine Familie, die Wahrheit und die Gerechtigkeit zu lieben. Durch ihn lernte ich Thrasea, Helvidius, Cato, Dion und Brutus kennen und gewann eine Vorstellung von einem Gemeinwesen, in dem alle die gleichen Rechte und Pflichten haben und der im Sinne der Gleichheit und allgemeinen Redefreiheit verwaltet wird, und von einer Monarchie, die vor allem die Freiheit der Bürger achtet. Außerdem (sah ich) bei ihm die Ausgeglichenheit und die Ausdauer in der Achtung vor der Philosophie, das Bedürfnis, Gutes zu tun und immer wieder freigebig zu sein, die Hoffnung und das Vertrauen darauf, von den Freunden geliebt zu werden […].“ – Vgl. dazu auch Klaus Rosen, Marc Aurel und das Ideal des civilis princeps, in: Stimuli. Exegese und ihre Hermeneutik in Antike und Christentum. Festschrift für Ernst Dassmann (JbAC, Erg.-Bd. 23), Münster 1996, 154–160, 156 ff. Inwieweit die Senatsopposition durch die Stoa beeinflusst wurde, hat Kurt A. Raaflaub untersucht. Kurt A. Raaflaub, Grundzüge, Ziele und Ideen der Opposition gegen die Kaiser im 1. Jh. n. Chr. Versuch einer Standortbestimmung, in: ders. u. a. (Hg.), Opposition et résistance à l’empire d’Auguste à Trajan, Genf 1986, 1–63.
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VI. Marc Aurel und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Zweiten Sophistik
einen Freund Platons, denken können, der der Gegner des Tyrannen Dionysios II. war und 354 v. Chr. ermordet wurde. Andererseits hätte dieser Name aber auch für Dion Chrysostomos stehen können. Beide Deutungen sind letztlich nachvollziehbar, insofern mit beiden Namen die Kritik an tyrannischen Herrschaftsformen assoziiert wurde. Wenn dieser Paragraph jedoch ein Bekenntnis zur Herrschaftstheorie der Zweiten Sophistik sein sollte, ist es wahrscheinlicher, dass Marc Aurel an Dion Chrysostomos gedacht hat.4 Der Wunsch Marc Aurels, an diese Herrschaftskonzeption anzuknüpfen, wird schließlich auch durch die Begriffe ἰσονομία, ἰσηγορία und ἐλευθερία demonstriert. Mit diesen Ausdrücken erklärt Marc Aurel, die von den Sophisten propagierten Herrschaftsstrukturen des klassischen Athen sollten auch ein Vorbild seiner Regierung sein. Wie bereits im letzten Kapitel gezeigt wurde, war mit dem Begriff „Demokratie“ nicht in erster Linie eine Verfassungsform verbunden, sondern das Ziel, reziproke Machtstrukturen zwischen Herrschern und Beherrschten, d. h. zwischen Kaiser und Aristokratie, herzustellen. Marc Aurel knüpft an diesen Gedanken an, wenn er verlangt, dass die Königsherrschaft die Freiheit der Beherrschten (τὴν ἐλευθερίαν τῶν ἀρχομένων) respektieren soll. Zu diesem Prinzip bekennt er sich ausführlich in Paragraph 16, in dem er an seinen Adoptivvater Antoninus Pius erinnert. In den „Selbstbetrachtungen“ verkörpert Antoninus Pius das Ideal des demokratischen Herrschers. Wie wir erfahren, zeichnet er sich dadurch aus, dass er die Interessen der anderen stets mit Nachsichtigkeit und Wohlwollen (τὸ παραχωρητικὸν ἀβασκάνως) respektiert.5 Er macht anderen den Rang nicht streitig und bemüht sich darum, jedem einzelnen die seinen Vorzügen entsprechende Anerkennung entgegenzubringen.6 Marc Aurel distanziert sich mit diesem Paragraphen explizit von den Eigenschaften des Tyrannen, der τυραννικὴ βασκανία, die er in Paragraph 11 erwähnt.7 Marc Aurel stellt mit diesen beiden Paragraphen der Eifersucht des Tyrannen die Zugänglichkeit des „guten“ Herrschers gegenüber. Schließlich gelingt es ihm in Paragraph 14, an das von den Sophisten propagierte Bild des von Philosophen beratenen Herrschers anzuknüpfen. Die Philosophie bildet, vertreten durch den Peripatetiker Severus, der zu Beginn und am Ende des Absatzes noch einmal ausführlich erwähnt wird, die Klammer seiner Herrschaftsauffassung. Von ihm habe er gelernt, dass die politische Theorie der Zweiten Sophistik, die mit der Akzeptanz der Beherrschten rechnen dürfe, die Voraussetzung einer stabilen Herrschaft sei: καὶ τὸ εὐποιητικὸν καὶ τὸ εὐμετάδοτον ἐκτενῶς· καὶ τὸ εὔελπι καὶ τὸ πιστευτικὸν περὶ τοῦ ὑπὸ τῶν φίλων φιλεῖσθαι.8 Dieser Passus zeigt in besonderer Deutlichkeit die politische Funktion der 4 5 6 7 8
Die von Dion Chrysostomos entwickelte Herrschaftsauffassung wurde in dieser Arbeit in Kapitel V.3. entwickelt. M. Aur. ad se ipsum 1,16,21. […] ἵνα ἕκαστοι κατὰ τὰ ἴδια προτερήματα εὐδοκιμῶσι· – „[…] daß jeder einzelne die seinen Vorzügen entsprechende Anerkennung erhielt.“ (M. Aur. ad se ipsum 1,16,21) M. Aur. ad se ipsum 1,11. Auch in 4,28 distanziert er sich von der Tyrannis. Die letzte und vermutlich auch die schlechteste der dort aufgeführten Eigenschaften ist der tyrannische Charakter. M. Aur. ad se ipsum 1,14,4–6: „[…] sein Bedürfnis, Gutes zu tun und immer wieder freigebig zu sein, die Hoffnung und das Vertrauen darauf, von den Freunden geliebt zu werden […].“
1. Marc Aurel – Der Philosoph auf dem Kaiserthron
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Herrschertugenden, die allesamt auf die Herstellung reziproker Strukturen (ὑπὸ τῶν φίλων φιλεῖσθαι) ausgerichtet sind.9 Marc Aurel führt sich in diesem Absatz in konzentrierter Form anhand einzelner Namen und Begriffe, die an politische Ideale der römischen Republik und des demokratischen Athen erinnern, die Erwartungen der römischen und griechischen Elite seiner Zeit vor Augen, denen er er gerecht zu werden versuchte. Der Wunsch Marc Aurels, die Akzeptanz der Aristokratie durch die Herstellung reziproker Beziehungssysteme zu festigen, wird auch in den weiteren Quellen dokumentiert. Wie die Historia Augusta berichtet, habe er nicht nur die militärischen, sondern alle politischen Angelegenheiten mit den optimates beraten, da es nach seiner Auffassung gerechter sei, ut ego tot talium amicorum consilium sequar, quam ut tot tales amici meam unius voluntatem sequantur.10 Auch verstand er es, Aufgaben zu delegieren. So übertrug er dem Senat in zahlreichen Rechtsfällen die Entscheidung und vertraute vielen nicht mehr im Amt befindlichen ehemaligen Prätoren und Konsuln Rechtsgeschäfte an, mit dem Ziel, ihr Ansehen durch diese Tätigkeit entsprechend zu steigern.11 Kuratoren aus der Mitte des Senats vertraute er die Getreideversorgung in anderen Städten an und der Aristokratie brachte er Fürsorge und Respekt entgegen, indem er die Verantwortung dafür übernahm, dass verarmte Senatoren wieder ihre frühere Würde erhielten.12 Zum Bild des senatsfreundlichen Kaisers gehörte schließlich eine von außen erkennbare Distanzierung von der Rolle des Kaisers.13 Mit den üblichen Gesten des Verzichts soll Marc Aurel bereits auf seine Adoption durch Antoninus Pius reagiert haben, da er sich über den Eintritt in den kaiserlichen Palast und den ihm 9
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In dieser Arbeit geht es weniger um den allgemeinen Wert kaiserlicher Tugenden sowie damit verbundene propagandistische Zwecke, die den Tugenden in der Forschung immer wieder unterstellt wurden. Stattdessen geht es um die Frage, welche Tugenden die auf Reziprozität zielenden Kommunikationsstrukturen zwischen Kaiser und Aristokratie stützen konnten. Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Beobachtungen von Hans Kloft zur liberalitas der Kaiser gegenüber den Senatoren. Deutlich wird, dass die Freigebigkeit die vermutlich wichtigste Ressource für die Akzeptanz des Kaisers gegenüber dem Volk bildet. Gegenüber den Senatoren wurde die kaiserliche liberalitas, obwohl sie ebenfalls von ihr profitierten, hingegen nicht hervorgehoben, sondern eher verschwiegen: „Der Senator von des princeps Gnaden paßt schlecht in das ideologische Konzept des Prinzipates, das mit dem Schlagwort von der libera res publica restituta nicht zuletzt eine gewisse Selbständigkeit und Würde des Senatorenstandes mit umfaßt.“ Kloft, Liberalitas, 79. Die hierarchische Struktur der liberalitas, die es dem sozial Schwächeren unmöglich machte, den materiellen Wert der empfangenen Geschenke zurückzuerstatten, war auf die Senatoren, die auf politischer Machtbeteiligung bestanden, nicht anwendbar. Damit werden wiederum die in Kapitel 2.1 herausgestellten hybriden Herrschaftsstrukturen zwischen Kaiser und Senat bestätigt, in denen sich eine Figur wie die des starken, absoluten Kaisers nicht etablieren konnte. Im Verlauf dieses Kapitels wird deutlich, dass die Aristokratie von den Kaisern vielmehr die Tugend der Bescheidenheit erwartete. Hist. Aug. Marc. 22,4: „Es ist gerechter (aequius est), dass ich den Rat so vieler hervorragender Freunde befolge, als dass so viele hervorragende Freunde sich meinem alleinigen Entschluss beugen.“ Hist. Aug. Marc. 10,1 f. Hist. Aug. Marc. 10,4. Für eine ausführlichere Darstellung akzeptanzerzeugender Rituale, wie der recusatio imperii, vgl. S. 32 ff.
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VI. Marc Aurel und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Zweiten Sophistik
damit vorgezeichneten Lebensweg keineswegs erfreut gezeigt hatte. Als seine Umwelt ihn nach der Ursache seiner trüben Stimmung fragte, habe er sie über die mit der Herrschaft verbundenen Nachteile aufgeklärt. Missfallen habe Marc Aurel besonders, dass er nun auch mit den äußeren und sichtbaren Zeichen seines neuen Ranges, dem aulicum fastigium, dem „Pomp einer Hofhaltung“ ausgestattet wurde.14 Später heißt es, Marc Aurel sei von den Senatoren genötigt worden, die Herrschaft zu ergreifen. Wie bei einer üblichen recusatio imperii konnte Marc Aurel die Menschen davon überzeugen, dass er selbst keinen Anspruch auf die Rolle des Herrschers erheben werde, da sie ihm ja bloß von außen angetragen worden sei. Dies soll der häufig zitierte Traum vermutlich ebenfalls zum Ausdruck bringen, in dem Marc Aurel sich selbst mit Schultern aus Elfenbein gesehen haben soll, die aber, nachdem man sie auf ihre Tragfähigkeit hin überprüft habe, als ungewöhnlich stark erwiesen hätten.15 Darüber hinaus versuchte Marc Aurel, sich über die bestehenden Differenzen zwischen Kaiser und Aristokratie hinwegzusetzen. Bevor er während der täglich stattfindenden salutationes zu Antoninus Pius ging, habe er die nach Ansehen herausragenden Persönlichkeiten in seinem Haus begrüßt, wobei er auf die standesgemäße Kleidung verzichtete und sich wie ein einfacher „Privatmann“ kleidete.16 Auch später als Kaiser habe er den Spitzen der Gesellschaft die Erlaubnis erteilt, Gastmähler mit derselben Ausstattung und mit ähnlicher Aufwartung zu geben wie er selbst.17 Und vor dem Senat betonte er, dass er so wenig über eigenen Besitz verfüge, ὥστε καὶ ἐν τῇ ὑμετέρᾳ οἰκίᾳ οἰκοῦμεν.18 Antoninus Pius bringt er besonderen Dank entgegen, da er ihm gezeigt habe, dass man auch ohne exklusive Kleider oder Kronleuchter, große Gemälde und mit dem Hofleben üblicherweise verbundenen Prunk leben könne.19 Derartige Aussagen, die eine Gleichberechtigung oder eine Annäherung zwischen Aristokratie und Kaisertum suggerieren sollen, haben jedoch nicht die Funktion, bestehende Differenzen aufzuheben, sondern jenen Unterschieden Akzeptanz zu verschaffen. Denn schließlich ist die Forderung, ohne die oben genannten Reichtümer leben zu wollen, erst dann möglich, wenn diese normalerweise in beträchtlichem Maße existieren. Auch die Gleichsetzung des Kaiserhofes mit einem aristokratischen Haus war eine normative Aussage, die der Herstellung von Akzeptanz diente und verdeutlichen sollte, dass das Volk von
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Hist. Aug. Marc. 6,3. Wie Gregor Weber herausgestellt hat, hatten auch Träume die Funktion, die nicht auf Dauer herzustellende Akzeptanz zu erzeugen. Gregor Weber, Kaiser, Träume und Visionen in Prinzipat und Spätantike, in: HZ 270.1, 2000, 99–117, 107, 115. Cass. Dio 72 (71),35,4. Hist. Aug. Marc. 17,6. Cass. Dio 72 (71),33,2–3: „[…] dass selbst das Haus, in dem wir wohnen, euer ist […].“ M. Aur. ad se ipsum 1,17,5: […] ὅτι δυνατόν ἐστιν ἐν αὐλῇ βιοῦντα μήτε δορυφορήσεων χρῄζειν μήτε ἐσθήτων σημειωδῶν μήτε λαμπάδων καὶ ἀνδριάντων τοιῶνδέ τινων καὶ τοῦ ὁμοίου κόμπου […]. – „[…] daß es möglich ist, am Hofe zu leben, ohne Leibwächter zu benötigen oder auffallende Kleidung, Kronleuchter, Standbilder, andere Dinge dieser Art und ähnlichen Prunk […].“
2. Herausforderungen prosenatorischer Politik
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Rom unter der Herrschaft Marc Aurels nicht anders behandelt worden sei, als es in der Republik behandelt worden war.20 Inwieweit es Marc Aurel gelungen ist, den an ihn gerichteten Erwartungen gerecht zu werden, soll nun anhand der verschiedenen Rollen, die er als Kaiser und als Philosoph bekleiden musste, untersucht werden. Im nächsten Teil wird am Beispiel seines politischen Handelns erläutert, wie es ihm gelang, Akzeptanz für seine Herrschaft herzustellen. Als Ausgangspunkt dient ein Prozess, den die Athener gegen Herodes Atticus anstrengten, sowie der Aufstand des Avidius Cassius, der die wohl größte Herausforderung für Marc Aurels prosenatorisches Herrschaftsideal darstellte. Das Kapitel „Marc Aurel und die Paideia“ wirft die Frage auf, wie es Marc Aurel erreichte, in der aristokratischen Öffentlichkeit als Philosoph und Förderer der Paideia wahrgenommen zu werden. Dass die Philosophie eine integrative Funktion für die Politik übernommen hat, wird im daran anschließenden Kapitel am Beispiel des Hofes gezeigt, der zugleich ein Symbol für die von der Zweiten Sophistik propagierten Herrschaftsformen war. Im letzten Kapitel wird anhand von Herodian und Berichten der unmittelbaren Nachwelt ausgeführt, weshalb sich Marc Aurel zu einem idealen Herrschertypus entwickeln konnte, an dem noch die späteren Kaiser gemessen werden sollten. 2. HERAUSFORDERUNGEN PROSENATORISCHER POLITIK 2.1. Der Prozess gegen Herodes Atticus Ein Beispiel, wie es Marc Aurel gelang, die Akzeptanz der städtischen Eliten herzustellen, war der Prozess der Athener gegen Herodes Atticus. Worum ging es bei dem Prozess, der in Sirmium vor Marc Aurel stattfand? Philostrat berichtet, dass vor der athenischen Volksversammlung gegen Herodes Atticus der Vorwurf der Tyrannis erhoben wurde.21 Da die schriftlichen Quellen über den genauen Inhalt des Vorwurfs keine Auskunft geben, ist in Analogie zu anderen kaiserzeitlichen Tyrannisvorwürfen zunächst allgemein zu vermuten, dass auch in diesem Fall die Missachtung aristokratischer Interessen die Anklage gegen Herodes begründete, der das Leben der Stadt aufgrund seiner hohen Einflusschancen zu kontrollieren drohte.22 Die Anklage führten die Quintilii, zwei Brüder aus Alexandreia Troas. Die beiden Griechen, die im Jahr 151 consules ordinarii waren, wurden von Marc Aurel zu 20 21
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Hist. Aug. Marc. 12,1. τὼ ἄνδρε τούτω, ὁπότε ἄμφω τῆς ῾Ελλάδος ἠρχέτην, καλέσαντες ἐς τὴν ἐκκλησίαν Ἀθηναῖοι φωνὰς ἀφῆκαν τυραννουμένων πρὸς τὸν Ἡρώδην ἀποσημαίνοντες καὶ δεόμενοι ἐπὶ πᾶσιν ἐς τὰ βασίλεια ὦτα παραπεμφθῆναι τὰ εἰρημένα. – „Als diese beiden Männer über Griechenland herrschten, riefen die Athener sie in ihre Versammlung und sprachen mit lauten Stimmen, dass sie von einem Tyrannen beherrscht würden, wobei sie auf Herodes deuteten, und sie verlangten, das Gesagte an die Ohren des Königs weiterzuleiten.“ (Philostrat. Vita Sophist. 559) Vgl. Jennifer Tobin, Herodes Attikos and the City of Athens. Patronage and Conflict under the Antonines, Amsterdam 1997, 286; Ameling, Herodes Atticus, 143.
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VI. Marc Aurel und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Zweiten Sophistik
konsularischen correctores bestimmt und mit weiteren Befugnissen für den innerstädtischen Bereich ausgestattet.23 Außerdem waren an dem Prozess noch Claudius Demostratus, Aelius Praxagoras, Valerius Mamertimus und die Claudii von Melite beteiligt.24 Die politische Konkurrenz zwischen den Quintilii und Herodes Atticus war nach Philostrat die Hauptursache für den Prozess. Ohnehin schon bestehende Differenzen – es war offensichtlich zu Meinungsverschiedenheiten während eines musischen Agons zur Zeit der pythischen Spiele gekommen – hätten sich schließlich dadurch zugespitzt, dass Herodes mit einer spöttischen Bemerkung die Quintilii vor dem Kaiser kompromittierte. Wie groß die Tragweite einer solchen Invektive war, wird deutlich, wenn man sich daran erinnert, wie überaus empfindlich und unmittelbar die politischen Machtchancen auf die Reputation einer Person reagierten. Auch nach dem Urteil Philostrats hatte die gegen die Quintilii eingesetzte Rhetorik nicht nur den Zweck, sie zu provozieren, sondern war zugleich mit dem Versuch verbunden, sie in ihrem politischen Fortkommen zu behindern. Als Marc Aurel die Quintilii in die höchsten Ämter befördern wollte, reagierte Herodes erwartungsgemäß mit einer abschätzigen Bemerkung: ἐγὼ […] καὶ τὸν Δία μέμφομαι τὸν Ὁμηρικόν, ὅτι τοὺς Τρῶας φιλεῖ.25 Dies bedeutete implizit: Um wie viel mehr also bist Du, Marcus, zu tadeln, „weil Du diese neuen Trojaner immer noch protegierst“.26 Die Quintilii waren keine beliebigen Gegner. Dies beweist nicht zuletzt ihr gesellschaftlicher Status, der mit dem des Herodes Atticus durchaus vergleichbar war. Ihre hohen Ämter sprechen dafür, dass es sich bei ihnen um ungefähr gleichrangige Konkurrenten handelte. Dies wurde symbolisch noch durch ihre räumliche Nähe bekräftigt, die auf hohen Reichtum schließen ließ, insofern beide Familien es sich leisten konnten, Grundbesitz am 5. Meilenstein der Via Appia zu unterhalten, der prominentesten Wohngegend der Stadt.27 Der Grund für die von der Aristokratie hervorgebrachten Anschuldigungen gegenüber Herodes Atticus konnte durch eine neue inschriftliche Quelle konkretisiert werden, die im Jahr 1970 von James H. Oliver ediert wurde. Hierbei handelt es sich um einen Brief, den Marc Aurel im Anschluss an den Prozess im Jahre 175 nach Athen schickte, und der dort auf zwei Marmorplatten inschriftlich veröffentlicht wurde.28 Der Brief enthält verfassungsrechtliche Bestimmungen, die die Zulassung zu den politischen Institutionen, dem Areopag, dem panhellenischen Synhedrion und der Boule sowie die Entscheidungen des Kaisers über verschiedene Appellationsverfahren an athenischen Gerichten regeln sollten. Während Walter Ameling einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den in dem Brief dokumentierten Verfahren und dem bei Philostrat dargestellten Prozess gegen Herodes Atticus anzweifelt, hat Nigel M. Kennell 1997 im Anschluss an die Beobachtungen von James 23 24 25 26 27 28
Walter Ameling, Herodes Atticus. Biographie, Hildesheim, Zürich, New York 1983, 142, 108 f. Philostrat. Vita Sophist. 559–560. Philostrat. Vita Sophist. 559. Ameling, Herodes Atticus, 109. CIL XIV 2261/2; vgl. dazu Ameling, Herodes Atticus, 109. James H. Oliver, Marcus Aurelius. Aspects of Civic and Cultural Policy in the East, Princeton, New Jersey 1970.
2. Herausforderungen prosenatorischer Politik
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H. Oliver sämtliche Einzelargumente zusammengetragen, die einen deutlichen Bezug zwischen den beiden Quellen unterstützen.29 Ein besonders sicheres Indiz für einen Zusammenhang sei die conclusio des Gesetzestextes, die Herodes Atticus namentlich erwähnt: ἡγοῦμαι δεδηλῶσθαι, δι᾿ ὧν ἀπεφηνάμην, ὅτι ἕκαστα π[ρ]οιδόμην ο[ὐ διὰ] πε[ρ]ιουσίας μᾶλλον ἢ φροντίδος, ἵνα πρὸς τὸ μέλλον Ἡρώιδηι τε ὑπάρχοι παρὰ Ἀθηναίοις συνευφρ[οσύ-] νηι περί τε τὰ θεῖα καὶ τὰ ἀνθρωπίνα ἔχειν σὺν τῆι εὐκλεεῖ περὶ παιδείαν σπουδῆι, καὶ Ἀθηναῖοι τῆς πρόσ[θεν] γνωστῇς εἰς αὑτοὺς εὐποιίας τοῦ κρ(ατίστου) Ἡρώιδου μεμνημένοι τὸ θάρσος τῆς πρότερον περὶ ἀλλήλους [οἰκει-] ότητος ἀνανεώσαιντο, δι᾿ ἣν οὐδὲ ἐμοῦ διαλλακτοῦ δέονται.30
Marc Aurel betont in diesem Absatz, dass er vermittelnd in den Streit zwischen Herodes und den Athenern eingegriffen habe. Wie Nigel M. Kennell vermutet, habe sich die Anklage der Athener gegen die Beförderungspraxis des Herodes Atticus gerichtet, der versucht habe, Freigelassene mit Ämtern zu versorgen, die normalerweise Aristokraten vorbehalten waren. Die von Philostrat erwähnten Freigelassenen, die Herodes Atticus nach Sirmium begleiteten, sind nach den Ergebnissen von Kennell dieselben Personen, die auch der Gesetzestext erwähnt.31 Die „milde“ Strafe, die die Freigelassenen des Herodes Atticus nach dem Bericht Philostrats erhielten, habe darin bestanden, ihnen den Zugang zu den höchsten politischen Institutionen, den Herodes ihnen verschaffen wollte, zu verwehren.32 Die Athener, die die Anklage erhoben, befürchteten offensichtlich, dass die Bildung von Faktionen den Frieden der Stadt und somit auch ihre eigene Position gefährden würde. Schon immer war die Angst vor Faktionen mit dem Vorwurf der Tyrannis eng verbunden, wie eine Rede des Dion Chrysostomos vor den Bürgern in Prusa belegt. In dieser Rede versucht Dion den Verdacht zu zerstreuen, Personen auf sich verpflichtet zu haben: ἢ τοὐναντίον οὐκ ἔλαττον ἑκατὸν βουλευτῶν καταλεγέντων ἕτεροι μὲν εἰσήγαγον φίλους αὑτῶν καὶ παρεσκεύασαν ὅπως ἕξουσι τοὺς συναγωνιζομένους καὶ βοηθοῦντας οἷς ἄν ποτε ἐθέλωσιν· ἐγὼ δὲ οὔτ᾿ ἐποίησα τοιοῦτον οὐδὲν οὔτε διελέχθην τοιοῦτον, ὡς ἐμοὶ προσθεμένων, εἰ ἐβουλόμην, ἢ ἄλλῳ τινί. μάλιστα μὲν γὰρ ἠξίουν μηδὲ ἕτερον μηδένα τοιοῦτον ἔθος εἰσάγειν μηδὲ καθ᾿ ἑταιρείας πολιτεύεσθαι μηδ᾿ 29 30
31 32
Ameling, Herodes Atticus, 145 ff., bes. 149. Nigel M. Kennell, Herodes Atticus and the Rhetoric of Tyranny, in: CPH 92.4, 1997, 346–362. Vgl. auch C. P. Jones, A Letter of Marcus Aurelius to the Athenians, in: ZPE 8, 1971, 161–183. Übers. Ameling, Inschriftenkatalog, 200: „Ich glaube, durch das, was ich sagte, klar gemacht zu haben, dass ich jedes Detail bedachte, nicht so sehr aus Gefallen am Überflüssigen als vielmehr aus Vorsorge, damit für die Zukunft auch in den Augen des Herodes bei den Athenern dieses fröhliche Bemühen um Göttliches und Menschliches zusammen mit ihrem berühmten Eifer für die Bildung existiert, und sich die Athener an die bekannten, ihnen früher von Seiten des hochwohlgeborenen Herodes erwiesenen Wohltaten erinnern, und sie die Zuversicht ihrer früheren Freundschaft gegeneinander erneuern, wodurch sie dann auch mich nicht mehr als Vermittler benötigen.“ – Der griechische Text folgt ebenfalls der Ausgabe von Ameling, Inschriftenkatalog, 199. Vgl. Oliver, Aspects of Civic and Cultural Policy, 8, Zeile 87–91. Kennell, Herodes Atticus, 351. Ebd.
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VI. Marc Aurel und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Zweiten Sophistik εἰς μέρη διασπᾶν τὴν πόλιν· εἰ δ᾿ οὖν, αὐτὸς ἀπέχεσθαι τῶν τοιούτων ἁμαρτημάτων, […].33
Der Verdacht, dass die Sorge vor wachsenden Faktionen möglicherweise die Ursache für die Anklage bildete, wird schließlich durch die von Lukian verfasste Götterversammlung erhärtet, die als eine Parodie auf die Beförderungspraxis des Herodes interpretiert wird.34 In dieser Versammlung wird beschlossen, dass nicht die politischen Aufsteiger zu bestrafen seien, sondern diejenigen, die sie befördern und daraus einen persönlichen Vorteil zu ziehen versuchen. Zu Beginn der Versammlung legt Momus seinen Ärger darüber dar: Φημὶ τοίνυν δεινὰ ποιεῖν ἐνίους ἡμῶν, οἷς οὐκ ἀπόχρη θεοὺς ἐξ ἀνθρώπων αὐτοῖς γεγενῆσθαι, ἀλλ᾿, εἰ μὴ καὶ τοὐς ἀκολούθους καὶ θεράποντας αὐτων ἰσοτίμους ἡμῖν ἀποφανοῦσιν, οὐδὲν μέγα οὐδὲ νεανικὸν οἴονται εἰργάσθαι.35 Am Ende seiner Rede fasst er noch einmal zusammen, weshalb dieses Verhalten nicht zu akzeptieren sei: Πολλοὶ γάρ, φημί, οὐκ ἀγαπῶντες ὅτι αὐτοὶ μετέχουσι τῶν αὐτῶν ἡμῖν ξυνεδρίων καὶ εὐωχοῦνται ἐπ᾿ ἴσης, καὶ ταῦτα θνητοὶ ἐξ ἡμισείας ὄντες, ἔτι καὶ τοὺς ὑπηρέτας καὶ θιασώτας τοὺς αὐτῶν ἀνήγαγον ἐς τὸν οὐρανὸν καὶ παρενέγραψαν, καὶ νῦν ἐπ᾿ ἴσης διανομάς τε νέμονται καὶ θυσιῶν μετέχουσιν, οὐδὲ καταβαλόντες ἡμῖν τὸ μετοίκιον.36
Im Folgenden wird die Frage interessieren, wie sich Marc Aurel in dem Prozess, der ihm keine neutrale Rolle gestattete, verhalten hat. Die Anklage der Athener stellte sein politisches Handeln vor eine große Herausforderung, insofern von der Frage, wie er den Prozess entschied, letztlich nichts Geringeres als sein Ansehen bei der athenischen Bevölkerung abhängig war.37 Die Claudii, die den Prozess führten, 33
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36
37
Dion. 45,7–8: „Oder waren es nicht vielmehr die anderen, die – es wurden ja nicht weniger als hundert Mitglieder in den Rat gewählt – ihre eigenen Freunde hineinbrachten und es einzurichten wussten, dass sie bei allen ihren Vorhaben Parteigänger und Helfershelfer hatten? Ich dagegen habe dergleichen weder getan noch besprochen in der Annahme, dass man sich mir, wenn ich nur wollte, eher als einem anderen anschlösse. Denn ich war unbedingt dafür, dass auch niemand anders eine solche Praxis einführe, dass die Politik nicht von politischen Klubs gemacht und die Stadt in Parteien zerrissen werde. Wenn es aber schon nicht anders sein konnte, wollte ich zumindest von solchen Vorwürfen frei sein […].“ Wolfgang Spickermann, Lukian von Samosata und die Volksversammlungen, in: Vera V. Dement’eva, Tassilo Schmitt (Hg.), Volk und Demokratie im Altertum, Göttingen 2010, 159– 173, 171, vgl. auch 162 ff. Lukian. deor. conc. 2: „Ich sage also, es sei etwas Abscheuliches von einigen unter uns, daß sie nicht zufrieden, für ihre eigene Person aus Menschen Götter geworden zu sein, sich aus jugendlichem Übermut einbilden, ihre neue Würde gebe ihnen ein Recht, auch ihr Gefolge und Gesinde auf eine Stufe mit uns zu setzen.“ Lukian. deor. conc. 3: „Ich sage also, viele von uns, die sich wohl daran begnügen könnten, für sich selbst den Beisitz bei uns erhalten zu haben und die Rechte der Göttertafel auf gleichen Fuß mit uns zu teilen, da sie doch zur Hälfte sterblich sind, seien so weit gegangen, auch ihre Dienerschaft, ja sogar ihre Zechbrüder mit sich in den Himmel heraufzubringen und verstohlenerweise in unser Bürgerbuch einzuschwärzen, so daß diese Eingeschlichenen nun bei allen Austeilungen und Opfern gleiche Portion mit uns andern bekommen, wiewohl sie uns nicht einmal Schutzgeld bezahlen.“ Der Prozess wurde nicht, wie Herodes selbst beabsichtigte, vor ein prokonsularisches Gericht, sondern direkt vor den Kaiser gebracht.
2. Herausforderungen prosenatorischer Politik
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beriefen sich, wie Philostrat berichtet, auf die „demokratische“ Haltung des Kaisers.38 Nach den oben dargestellten Ausführungen zum Demokratiebegriff bedeutet dies, dass Marc Aurel als Repräsentant der griechischen Kultur, vor allem aber als Vertreter nicht des Volkes, sondern als Vertreter aristokratischer Interessen angesprochen wurde.39 Mit der Berufung auf die „demokratische“ Haltung des Kaisers war somit der Appell verbunden, er möge die Angelegenheiten und Interessen der athenischen Aristokratie auch in diesem Fall respektieren. Die Worte sollten ihre Wirkung nicht verfehlen. In dem Brief, den Marc Aurel später an die Athener schickte, versprach er ihnen, um seinen Ruf als „demokratischer“ Kaiser nicht zu verspielen: ὅσην εἰσφέρομαι σπουδὴν ὑπὲρ τὴς δόξης τῶν Ἀθηνῶν, ὡς τῇς παλαιᾶς αὐτὴ[ν ἐ-] πικρατεῖν σεμνότητος […].40 In den Zeilen 57–80, in denen Marc Aurel die Zugangsvoraussetzungen zum Areopag festlegt, erklärt er, dass die von ihm erlassenen verfassungsrechtlichen Bestimmungen trotz manch einer notwendigen Modifizierung in Übereinstimmung mit dem alten Recht stehen sollen.41 So müsse die Drei-Generationen-Regel, die von Panhellenen42 und Areopagiten den Nachweis der freien Geburt bis zum Großvater verlangte, zwar modifiziert werden, gleichzeitig sollten aber die Abweichungen von dem Inhalt des traditionellen Rechts nur minimal sein. Obwohl es nach den neuen Bestimmungen für den Zugang zum Areopag ausreichend sei, von einem freigeborenen Vater abzustammen, sollten diejenigen, deren Herkunft auf einen freigelassenen Vater zurückgeht, weiterhin ausgeschlossen bleiben. Aus dem Areopag sollten hingegen in Zukunft nur diejenigen einen Zutritt zum Panhellenion haben, die im Besitz der trigonia seien. Für die Boule sollte hingegen der Nachweis genügen, frei geboren zu sein.43 Trotz der Zugeständnisse in einigen Fällen hatten die Beschlüsse, die insbesondere die Zugangschancen zum Areopag und zum Panhellenion in ihrer Exklusivität 38 39 40 41
42 43
Philostrat. Vita Sophist. 560. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel V.2. die Seiten 146 f. Ameling, Inschriftenkatalog Nr. 189, Zeile 57: Wieviel Interesse ich der Ehre Athens entgegenbringe, damit es wieder seine alte Würde erreiche […]. Bereits in den Zeilen 33–34 hat Marc Aurel betont, dass auch die Frage nach der Abstammung der Athener nach den Gesetzen und der heimatlichen Überlieferung entschieden werden solle: εἰς δὲ τὸ μέλλο[ν κατὰ] τοὺς νόμους καὶ κατὰ τὰ πάτρια ἔθη παραφυλαχθήσεται καὶ δοκιμασθήσεται εἴ τις ἐκ γένους [Ἀθηναῖ-] ός έστιν. Der Begriff „Panhellene“ umfasst alle Personen und Städte, denen es gelang, im sogenannten Städtebund des Panhellenion Mitglied zu werden. Zur Funktion des Panhellenion vgl. die folgenden Ausführungen und insbesondere die Anmerkung 45. Ἑάν τινες ἐξ Ἀρεοπαγειτῶν ἐν τοῖς [Πανέλ]λησιν ὄντες τήμερον καταλημφθῶσιν τὴν τριγονίαν παρασχεῖν μὴ δυνάμενοι, οὐ διὰ τοῦτο ἀπ[οδιω] χθήσονται τοῦ συνεδρίου· πρὸς δὲ τὸ μέλλον οὐδεὶς ἄλλος ἐξ Ἀρεοπαγειτῶν τοῖς Πανέλλησιν ἐνγρ[αφή] σεται ἢ ὅσοι πρὸς τὰς χειροτονίας ἀφικνεῖσθαι δύνανται τὴν τριγονίαν ἔχοντες. – „Wenn es heute einige Areopagiten als Panhellenen gibt, die keine drei Generationen freier Geburt nachweisen können, so sollen sie deshalb nicht aus der Versammlung ausgeschlossen werden. In Zukunft sollen aber keine anderen Areopagiten unter die Panhellenen aufgenommen werden als die, die mit dem Nachweis der Trigonie zu den Wahlen kommen können.“ (Oliver, Aspects of Civic and Cultural Policy, 8, Zeile 76–79)
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VI. Marc Aurel und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Zweiten Sophistik
unterstützten, insgesamt doch die Funktion, die Interessen der Aristokratie zu stärken.44 Bemerkenswert ist, dass die trigonia für den Zutritt ins Panhellenion verlangt wurde, während es für die Wahl zum Areopagiten ausreichte, von einem freigeborenen Vater abzustammen. Meines Erachtens war mit dieser Entscheidung der Versuch verbunden, die Kommunikation zwischen Kaiser und Aristokratie, die sich im Panhellenion institutionalisierte, zu intensivieren.45 Auch hier wird erkennbar, dass der Demokratiebegriff, obwohl er nicht auf die Wiederherstellung demokratischer Verfassungsstrukturen abzielte, kein leerer Begriff war. Mit dem Appell an die „demokratische“ Haltung des Kaisers war vielmehr die politische Funktion verbunden, den Einflusschancen der Aristokratie innerhalb der Strukturen des Kaiserreiches Geltung zu verschaffen. 44
45
Beat Näf, Die attische Demokratie in der römischen Kaiserzeit. Zu einem Aspekt des Athenbildes und seiner Rezeption, in: Peter Kneissl, Volker Losemann (Hg.), Imperium Romanum. Studien zu Geschichte und Rezeption. Festschrift für Karl Christ zum 75. Geburtstag, Stuttgart 1998, 552–570, 567. Zunächst stellt die schwierige Quellenlage zum Panhellenion ein Problem für jede Definition dieser Institution dar. Es gibt außer von Cassius Dio, der zudem keine Aussage über die Funktion des Panhellenion trifft, keine literarischen Quellen. Es gibt lediglich das inschriftliche Material, das jedoch durchaus aufschlussreich ist. Vgl. dazu Dietrich Willers, Hadrians panhellenisches Programm. Archäologische Beiträge zur Neugestaltung Athens durch Hadrian, Basel 1990, 54–67, 97–99; Christopher P. Jones, The Panhellenion, in: Chiron 26, 1996, 29–56, 29, 34. Im Anschluss an neuere Arbeiten soll das Panhellenion hier als eine Institution verstanden werden, die die Funktion hatte, die durch die Zweite Sophistik erzeugte kulturelle Identität zu etablieren. Wie Panagiotis N. Doukellis gezeigt hat, wurde der vom Kaiser geforderte Nachweis einer griechischen Abstammung nicht ethnisch, sondern kulturell gedeutet. „It is wellknown that since the fourth century BC, the idea that ‚Hellenicity‘ was a property that could be acquired by an individual, a community, or a city, independently of its own biological origins, had began to be accepted. The concept of Hellenicity was directly connected with education and the acceptance of Greek culture and way of life.“ Panagiotis N. Doukellis, Hadrian’s Panhellenion. A Network of Cities?, in: MHR 22.2, 2007, 295–308, 298. Nach der Auffassung von Ilaria Romeo waren in Hinblick auf die Zugangschancen zum Panhellenion sowohl Eugeneia (griechische Herkunft) und Euglottia als zwei miteinander konkurrierende Elemente als auch die Verbindungen zu Rom wichtige Voraussetzungen. Ilaria Romeo, The Panhellenion and Ethnic Identity in Hadrianic Greece, in: CPH 97.1, 2002, 21–40, 31 f.; Am Beispiel des Panhellenion wird erkennbar, wie eng Kultur und Politik miteinander verbunden waren, da es der Kaiser als Vorsitzender des Panhellenion war, der darüber entschied, wer über eine in ausreichendem Maße vorhandene griechische Kultur verfügte. Es gab innerhalb der Städtekonkurrenz starke Bemühungen, entsprechende Mythen zu finden bzw. zu erfinden, da diese unmittelbare Auswirkungen auf das Prestige der Städte, auf den Zugang zum Panhellenion und damit auf die kaiserliche Gunst hatten, von der letztlich der politische Status der Städte abhängig war. Vgl. dazu Schmitz, Bildung und Macht, 184 f. Vgl. darüber hinaus zum Panhellenion Christa Frateantonio, Religion und Städtekonkurrenz. Zum politischen und kulturellen Kontext von Pausanias’ Periegese, Berlin 2009, 123–129; Näf, Die attische Demokratie in der römischen Kaiserzeit, 567. James H. Oliver, Panachaeans and Panhellenes, in: Hesperia 47, 1978, 185–191. Vgl. auch Martin Hose, Erneuerung der Vergangenheit. Die Historiker im Imperium Romanum von Florus bis Cassius Dio, Stuttgart 1994, 147 f. Der Begriff der „Kulturautonomie“, den Martin Hose im Anschluss an Bengtson, Griechische Geschichte, 540 verwendet, scheint insofern nicht adäquat zu sein, als mit ihm die Wechselseitigkeit politischer und kultureller Interessen überdeckt wird.
2. Herausforderungen prosenatorischer Politik
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Im Gegensatz zu den bisherigen Ausführungen behauptet Walter Ameling, Marc Aurel habe in dem Prozess letztlich nicht die Athener, sondern Herodes Atticus begünstigt. Die negative Darstellung des Rhetors bei Philostrat sei, so Ameling, auf die tendenziösen Quellen Philostrats zurückzuführen, der sich auf die verleumderischen Behauptungen des Claudius Demostratus bezogen habe.46 Auch habe der Prozess nicht mit der Bestrafung der von Herodes begünstigten Freigelassenen geendet, „wie Philostrat romanhaft glauben machen will“47. Betrachtet man ausgehend von den bisherigen Überlegungen die politischen Interessenlagen zwischen den am Prozess beteiligten Personen, so ergibt sich hingegen ein etwas anderes Bild. Anzunehmen ist, dass es sich Marc Aurel gegenüber den Athenern nicht leisten konnte, eine Person, die von der athenischen Bevölkerung als Tyrann angeklagt worden war, zu verteidigen, ohne einen Verlust seines Ansehens zu riskieren. Obwohl Marc Aurel sicherlich kein Interesse daran hatte, den berühmtesten Redner und Vertreter der griechischen Paideia, der zugleich sein Lehrer und eine ihm vertraute Person war, anzuklagen, so mochten die Machtposition des Herodes sowie der gegen ihn gerichtete Vorwurf der Tyrannis, und dies wird in der Forschung nur selten bedacht, möglicherweise auch für ihn einen Anlass zur Beunruhigung gebildet haben. Die Beförderungspraxis des Herodes Atticus wird von Marc Aurel ebenfalls nicht begrüßt worden sein, insofern mit der Begünstigung von Personen eines geringen sozialen Status Loyalitätsverhältnisse geschaffen wurden, die mit der Herstellung quasihöfischer Strukturen vergleichbar waren. Die Gefahr, wegen tatsächlicher oder angeblicher Machtprätentionen verdächtigt und eventuell beseitigt zu werden, war für Personen, die, wie Herodes Atticus, über einen besonders hohen gesellschaftlichen Einfluss verfügten, während der gesamten Kaiserzeit vorhanden.48 Wie Philostrat an anderer Stelle berichtet, war Herodes sich dieser Gefahr durchaus bewusst. Jenes von ihm geplante Isthmus-Projekt sei irgendwann aus dem Grunde nicht mehr weiterverfolgt worden, da Herodes sich nicht getraut hatte, den Kaiser für sein Vorhaben um Erlaubnis zu bitten. Er habe befürchtet, so Philostrat weiter, von dem Kaiser wegen seines ambitionierten Strebens angeklagt zu werden.49 Unter diesen Voraussetzungen wäre denkbar, dass die Anklage der Athener für Marc Aurel nicht einmal ein ganz unwillkommener Anlass war, erlaubte sie ihm doch, ohne Herodes Atticus direkt beschuldigen zu müssen, ihn an die Grenzen seiner Macht zu erinnern.
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49
Ameling, Herodes Atticus, 145. Ebd. 148. Vgl. dazu Winterling, Aula Caesaris, 138 ff., der diese Machtmechanismen aus den innerrömischen Verhältnissen ableitet. Raimund Schulz hat hingegen gezeigt, dass bereits in republikanischer Zeit die Statthalter ihre Macht gegenüber Rom ausbauten und in ihren Provinzen „ProtoHöfe“ etablierten. Raimund Schulz, Herrschaft und Regierung. Roms Regiment in den Provinzen in der Zeit der Republik, Parderborn 2007. Philostrat. Vita Sophist. 551.
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VI. Marc Aurel und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Zweiten Sophistik
Schließlich lässt der Bericht Philostrats aber auch keine eindeutige Tendenz gegen Herodes erkennen, da Marc Aurel von der Notwendigkeit einer klaren Positionierung suspendiert wird. Benannt werden vor allem äußere Gründe, die dazu führten, dass Herodes den Athenern im Prozess unterlag. Die positive Haltung Marc Aurels gegenüber den Athenern führt Philostrat auf die gute Beziehung zu dem Ankläger Demostratus zurück, der ebenfalls in Sirmium war und schon länger ein freundschaftliches Verhältnis zum Kaiser pflegte. Darüber hinaus werden die Familienangehörigen für die Entscheidung des Kaisers verantwortlich gemacht, der sich von ihren Bitten, die Athener zu verschonen, beeinflussen ließ. Schließlich schwächte Herodes seine Position in dem Prozess selbst, indem er die Rede, die eigentlich eine Verteidigung seines Verhaltens sein sollte, in der Form einer gegen den Kaiser gerichteten Anschuldigung vorbrachte. Philostrat unterstreicht diesen Kontrollverlust mit der Bemerkung, dass Herodes während seiner Rede sämtliche Regeln der Rhetorik vergessen habe. Herodes hat mit dieser Rede offensichtlich sein eigenes Urteil gesprochen, denn die existentiellen Folgen, die zur Zeit der Zweiten Sophistik selbst ein kleiner Verstoß gegen die sprachliche Norm zur Folge haben konnte, waren, wie bereits erwähnt, beträchtlich. Dass sich das Verhältnis zwischen Marc Aurel und seinem Rhetoriklehrer nach dem Prozess trotzdem wieder konsolidiert hat, ist ein Indiz für die grundsätzlich positive Haltung ihm gegenüber.50 Während des Prozesses war es für Marc Aurel notwendig, dass er sich von Herodes Atticus – eigene Bedenken gegenüber dessen Machtpolitik mögen dabei ebenfalls eine Rolle gespielt haben – distanzierte, da er ansonsten die Interessen der Athener nicht glaubhaft hätte verteidigen können. Nach dem Prozess, als er sich mit Herodes Atticus wieder versöhnt hatte, war er frei, als Vermittler in dem Streit zwischen Herodes und den Athenern tätig zu werden und die politische Stabilität in Athen wiederherzustellen. Wie dieser Fall und insbesondere die Zugangsvoraussetzungen, die Marc Aurel für das Panhellenion geltend machte, zeigen, war Marc Aurel vor allem daran interessiert, die Interessen der athenischen Aristokratie zu respektieren und zu fördern, um sein Bild als demokratischer Kaiser nicht zu gefährden. 2.2. Der Aufstand des Avidius Cassius Eine weitere Herausforderung für die prosenatorische Haltung des Kaisers war der sogenannte Aufstand des Avidius Cassius, der sich im Jahr 175 n. Chr. durch das Heer zum Kaiser proklamieren ließ. Der Grund seines Handelns soll eine Nachricht gewesen sein, die ihm den Tod Marc Aurels mitteilte. Nach der Auffassung des Cassius Dio sei das unverzügliche Handeln des Avidius Cassius jedoch nicht als 50
Auch das Exil des Redners war nach der Auffassung von Ameling eine verleumderische Behauptung der Claudii gewesen. Fest steht, dass Herodes nicht unmittelbar nach dem Prozess zurück nach Athen ging. Inwieweit es sich bei seinem Aufenthalt um ein Exil handelte, ist hingegen fraglich. Möglicherweise hatte der Aufenthalt die Funktion, das Verhältnis zwischen Herodes und den Athenern zu entspannen.
2. Herausforderungen prosenatorischer Politik
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eine unmittelbare Reaktion auf diese Mitteilung zu verstehen, sondern vielmehr als ein Indiz für seine usurpatorischen Pläne, die bereits von langer Hand vorbereitet gewesen seien.51 In diesem Zusammenhang wird Faustina als Drahtzieherin ins Spiel gebracht. Die Frau Marc Aurels und Tochter des Antoninus Pius soll befürchtet haben, ihren Status innerhalb der kaiserlichen Familie zu verlieren, da der schlechte Gesundheitszustand ihres Mannes einen nahen Tod erwarten ließ und ihr Sohn Commodus noch zu jung für die Nachfolge war.52 Um diesem Schicksal zu entgehen, habe sie Avidius Cassius überredet, sich im Falle von Marc Aurels Tod zum Kaiser ausrufen zu lassen und sie zu heiraten.53 Stefan Priwitzer hat unlängst gezeigt, dass die Darstellung der Faustina, die dem Topos der ‚Königsmacherin‘ folgt, sowie die Nachricht über Marc Aurels bevorstehendes Ende, die sich später als Fehlinformation erwies, allein die Funktion hatten, Avidius Cassius von seinem spontanen und letztlich misslungenen Aufstand zu entlasten. Eine aktive Rolle habe Faustina in dem Aufstand vermutlich nicht übernommen. Im Gegensatz zur senatorischen Geschichtsschreibung, die ein Interesse daran hat, das ideale Bild von der Herrschaft Marc Aurels nicht durch den Bericht über geplante Usurpationen zu trüben, geht Stefan Priwitzer davon aus, dass Avidius Cassius seine Machtposition im Osten tatsächlich ausnutzen oder womöglich einer bereits drohenden Absetzung vorgreifen wollte.54 51 52
53
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Avidius Cassius hätte nach der Auffassung von Dio der Nachricht zunächst als Gerücht misstrauen und auf eine weitere Bestätigung der Meldung warten sollen. Vgl. Cass. Dio 72 (71),23,1. Sie fürchtete einen „Rücktritt ins Privatleben“: Cass. Dio 72 (71),22,3; Hist. Aug. Avid. 7,1. Vgl. dazu Jürgen Spieß, Avidius Cassius und der Aufstand des Jahres 175, München 1975, 33. Die Berichte der Historia Augusta werden aufgrund ihrer als topisch, abhängig und tendenziös geltenden Inhalte vergleichend anderen Quellen gegenübergestellt. Aussagen, die ausschließlich in den SHA vorkommen, werden nur dann übernommen, wenn sie mit der anderen Überlieferung in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen sind. Vgl. dazu Ernst Hohl, Über die Glaubwürdigkeit der Historia Augusta, Berlin 1953; Johannes Straub, Studien zur Historia Augusta, Bern 1952, 15; Ronald Syme, The secondary vitae (BHAC 1968/9), Bonn 1970, 285 ff.; Winterling, Aula Caesaris, 11. Cass. Dio 72 (71),22,3; Hist. Aug. Marc. 24,6: Hist. Aug. Avid. 7,1. Zur impliziten Kritik an dieser Überlieferung: Hist. Aug. Avid. 9,9: hic autem apparet Faustinam ista necisse[t], cum dicat Marius infamari eam cupiens, quod es conscia Cassius imperium sumpsisset. – Hieraus geht klar hervor, daß Faustina von den Umtrieben nichts gewußt hat, während Marius in der Sucht, sie zu verleumden, behauptet, Cassius habe im Einvernehmen mit ihr nach der Krone gegriffen. Stefan Priwitzer, Faustina Minor – Ehefrau eines Idealkaisers und Mutter eines Tyrannen. Quellenkritische Untersuchungen zum dynastischen Potential, zur Darstellung und zu Handlungsspielräumen von Kaiserfrauen im Prinzipat, Bonn 2009, 206 f., 199 ff.; Stefan Priwitzer gibt darüber hinaus einen detaillierten Überblick über die verschiedenen Motive der einzelnen am Prozess beteiligten Personen. Zum Begriff der Königsmacherin vgl. 34 ff. – Jürgen Spieß folgt entgegen seiner eigenen Absicht gewissermaßen der tendenziösen Berichterstattung der Quellen, wenn er versucht, positive Beweggründe für das Handeln des Avidius Cassius geltend zu machen. Vorstellbar sei, so Spieß, dass Avidius Cassius, der im Jahr 175 n. Chr. Statthalter in Syrien und mit dem Oberbefehl über die östlichen Provinzen ausgestattet war, lediglich versucht habe, in einer prekären Situation verantwortlich zu handeln. Die Nachricht vom Tod des Kaisers habe Avidius Cassius durchaus veranlassen können, schnell zu reagieren. Die un-
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VI. Marc Aurel und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Zweiten Sophistik
In den Ausführungen des Cassius Dio und in dem Bericht der Historia Augusta ist es insbesondere der junge Avidius Cassius, der eine entsprechende negative Darstellung erfährt. So beschreibt ihn Cassius Dio beispielsweise als einen „von Natur aus“ Aufständischen.55 Auch die Historia Augusta unterstützt diese Sicht, wenn sie berichtet, dass Lucius Verus sich durch den herrschsüchtigen Cassius bedroht gefühlt und verlangt habe, ihn einer strengen Kontrolle zu unterstellen.56 Dieses Bild des Avidius Cassius erfährt jedoch im weiteren Bericht eine Veränderung. Als Usurpator wird er, wie bereits gezeigt, durch die Diffamierung der Faustina entlastet. Mit dieser Strategie ist jedoch nicht allein das Ziel verbunden, Avidius Cassius zu exkulpieren, vielmehr geht es darum, jeden Verdacht auf eine Opposition während Marc Aurels Herrschaft zu zerstreuen. Auch die unmissverständliche Ablehnung, mit der der Senat auf den Usurpationsversuch reagierte57, ist nicht nur als eine offene Kritik am Usurpator zu verstehen, sondern impliziert gleichzeitig auch eine positive Bewertung der Herrschaft Marc Aurels. Die Frage, inwieweit es berechtigt ist, diese Reaktion des Senats als ein Zeichen tatsächlich vorhandener Akzeptanz zu verstehen, ist letztlich nicht eindeutig zu beantworten, insofern aus machtpolitischer Perspektive diese Reaktion auch als opportunistische Reaktion des Senats gegenüber dem noch in Rom herrschenden Kaiser gedeutet werden kann, oder als ein nachträglicher Versuch, Marc Aurels Herrschaft zu idealisieren. Unter Berücksichtigung der zahlreichen Versuche Marc Aurels, die Akzeptanz der Senatsaristo-
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geklärte Frage, wer die Nachfolge Marc Aurels einmal übernehmen sollte, habe ebenso wie die fortdauernden Spannungen zu den Parthern eine Bedrohung für die Stabilität der politischen Verhältnisse dargestellt. Die Parther hatten dem römischen Reich bereits durch Vologaeses III. im Jahr 161 n. Chr. den Krieg erklärt. Sie, die stets eine Gefahr für Rom blieben, hätten erneute Unruhen sofort zu weiteren kriegerischen Handlungen nutzen können. Vgl. Spieß, Avidius Cassius, 37 ff. sowie Hist. Aug. Marc. 8,6. Zur ungeklärten Frage der Nachfolge vgl. auch Josef Keil, Kaiser Marcus und die Thronfolge, in: Klio 31, 1963 (1938), 293–300, der zu dem Ergebnis gelangt, „dass Marcus die Nachfolge seines Sohnes als die natürlichste und gerade unter den gegebenen Familienverhältnissen wohl auch am meisten Sicherheit bietende Lösung des Problems der Nachfolge angesehen hat.“ Ohnehin war die Frage, ob man einen leiblichen Sohn übergehen könne, etwas völlig Neues, insofern die vorherigen Kaiser über keine leiblichen Nachkommen verfügten. Keil vertritt darüber hinaus die Ansicht, dass auch die Schwiegersöhne, deren soziale Herkunft insgesamt zu niedrig gewesen sei, letztlich keine zufriedenstellende Option darstellten. Diese Auffassung müsste noch einmal vor dem hier erbrachten Nachweis über den sozialen Status der Schwiegersöhne überdacht werden. Nach der Auffassung von Keil sei es letztlich nicht unwahrscheinlich gewesen, dass Marc Aurel auch Avidius Cassius in Betracht gezogen habe, obwohl dieser verheiratet gewesen und als Schwiegersohn nicht mehr in Frage gekommen sei. Bei Cassius Dio 72, (71),24,2 wird Cassius als engster Freund Marc Aurels bezeichnet. Die Historia Augusta bestätigt, dass Cassius ein der res publica unentbehrlicher Mann gewesen sei, der Marc Aurel selbst viel gegolten habe (cum illum summum virum et necessarium rei p. adserit et apud ipsum praevalidum). Hist. Aug. Avid. 1,2. Cass. Dio 72 (71),22 (Johann. Antioch. Fr. 118, Mueller v.1–7). Hist. Aug. Avid. 1,4–9. Der Senat erklärte Avidius Cassius zum hostis. Darüber hinaus habe er das Vermögen des Usurpators einziehen und Münzen mit der beschwörenden Aufschrift securitas publica herausgeben lassen, um das drohende Unheil abzuwenden. Über die Angehörigen und diejenigen, die der Mittäterschaft verdächtigt wurden, verhängte der Senat die Todesstrafe. Hist. Aug. Avid. 7,6–7.
2. Herausforderungen prosenatorischer Politik
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kratie zu gewinnen, wäre es zumindest nicht unwahrscheinlich, wenn der Senat mit einer entsprechenden positiven Reaktion auf sein Handeln reagiert hätte. Die positive Haltung Marc Aurels gegenüber dem Senat wird in der Forschung häufig als eine nachträgliche Konstruktion der senatorischen Geschichtsschreibung interpretiert, die ein Interesse daran hatte, ein Idealbild von Marc Aurels Herrschaft zu zeichnen, das den Herrschern des dritten Jahrhunderts, die sich offen über die Interessen des Senats hinwegsetzten, gegenübergestellt werden sollte.58 Anhand der Herrschaftstheorie, die sich innerhalb der Zweiten Sophistik entwickelt hatte, konnte hingegen gezeigt werden, dass bereits im zweiten Jahrhundert die von den Sophisten konstruierten Herrscherbilder innerhalb der politischen Auseinandersetzung zwischen den Kaisern und den gebildeten Oberschichten Verwendung fanden, um den Herrschern mitzuteilen, welche Erwartungen an sie gerichtet wurden. Wie bereits zu beobachten war, versuchte Marc Aurel diesen Erwartungen zu entsprechen, um dem potentiellen Akzeptanzdefizit seitens der Aristokratie entgegenzuwirken, das die Herrschaft eines jeden römischen Kaisers verunsichern konnte. Wenn die Zweite Sophistik als Kontext für Marc Aurels Handeln berücksichtigt wird, stellt sich seine prosenatorische Politik nicht allein als das Resultat einer nachträglichen Idealisierung dar, sondern bereits als eine Folge gegenwärtiger machtpolitischer Überlegungen. Wie Cassius Dio berichtet, hat die Nachricht von dem Aufstand Marc Aurel in hohem Maße verunsichert. Die militärische Bedrohung war zweifellos eine Ursache hierfür, da es für römische Kaiser immer eine Gefahr darstellte, wenn Provinzstatthalter mit großer militärischer Macht ausgestattet waren. Um zu verhindern, dass Einzelne die Legionen auf ihre Person verpflichteten und wie am Ende der Republik die politische Macht in Rom usurpieren konnten, wurde das römische Reich in senatorische und kaiserliche Provinzen unterteilt. Dabei wurden die Provinzen, die über viel Militär verfügten, an Personen vergeben, die ihre militärische Laufbahn der kaiserlichen Gunst zu verdanken hatten und von denen insofern in besonderem Maße ein loyales Verhalten gegenüber dem Kaiser erwartet werden konnte.59 Auch die militärische Macht des Avidius Cassius war somit durchaus eine reale Gefahr, da sich die Provinzen südlich des Taurus und vor allem das für die Getreideversorgung Roms unentbehrliche Ägypten ihm bereits angeschlossen hatten.60 Nur die Provinzen Kappadokien und Bithynien weigerten sich, Avidius Cassius zu unterstützen. Zudem wurde Avidius Cassius dadurch gestärkt, dass er selbst aus der nordsyrischen Stadt Kyrrhos kam, die insbesondere seine militärischen Erfolge gegen die Parther und Bukolen zu schätzen wussten.61 Dass die 58
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Eine abschätzige Darstellung erfahren insbesondere die Kaiser Commodus, Caracalla und Elagabal. Vgl. dazu Lukas de Blois, Emperor and Empire in the Works of Greek-speaking Authors of the Third Century AD, in: ANRW II, 34.4, 1998, 3391–3443, 3405–3415, 3413 f.; Hose, Erneuerung der Vergangenheit, 427–432. Vgl. dazu Eric Birley, The Roman Army (Papers 1929–1986), Amsterdam 1988, 75–93; Géza Alföldy, Römische Heeresgeschichte (Beiträge 1962–1985), Amsterdam 1987, hier bes. die Seiten 19 ff., die eine kritische Auseinandersetzung mit der Argumentation von J. P. Campbell enthalten. Vgl. dazu Cass. Dio 72 (71),23,1; Spieß, Avidius Cassius, 49. Spieß, Avidius Cassius, 53.
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VI. Marc Aurel und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Zweiten Sophistik
Herkunft für Avidius Cassius ein wichtiger Legitimitätsfaktor war, wird ex negativo durch ein Gesetz bestätigt, das Marc Aurel kurz nach dem Aufstand erließ, wonach niemand eine Statthalterschaft über eine Provinz erhalten sollte, aus der er selber stammte.62 Obwohl Marc Aurel entsprechende Maßnahmen traf, um Rom vor dem Angriff des Cassius zu schützen – er schickte eine illyrische Hilfstruppe nach Rom, sowie weitere Einheiten bestehend aus Markomannen, Noristen und Quaden in den Osten, um Martius Verus, den Legaten Kappadokiens gegen den numerisch überlegenen Gegner zu unterstützen –, war es nicht allein die militärische Bedrohung, die Marc Aurel verunsicherte. Empörungen und Usurpationen wurden von Marc Aurel, aber auch von der Herrschaftstheorie der Zweiten Sophistik als Symptom tyrannenähnlicher Herrschaftsstrukturen und als Zeichen für den Verlust von Akzeptanz interpretiert. Ein eindrückliches Bild hierfür war die von Dion Chrysostomos entworfene Figur der Tyrannis, deren Begleiterinnen ausschließlich danach trachteten, sie zu vernichten.63 Der Aufstand stellte die bisherige Akzeptanz Marc Aurels und damit auch die politische Stabilität seiner Herrschaft in Frage. Um einem möglichen Akzeptanzdefizit entgegenzuwirken, reagierte Marc Aurel auf die militärische Bedrohung mit einem wiederholt proklamierten Gewaltverzicht. Die Häufigkeit, mit der der beabsichtigte Gewaltverzicht vorgetragen wird, hat zur Folge, dass in den Quellen der Sorge um Cassius wesentlich mehr Raum gegeben wird als den tatsächlichen militärischen Vorkehrungen. Mit der Artikulation des Gewaltverzichts waren jedoch nicht nur ideelle, sondern auch konkrete machtpolitische Überlegungen verbunden. Marc Aurel fürchtete vor allem, die äußeren Umstände könnten ihn zwingen, der Gewalt mit Gegengewalt begegnen zu müssen, womit er sich selbst dem Vorwurf ausgesetzt hätte, wie ein Tyrann zu handeln. Was Marc Aurel besonders fürchtete, war der Tod oder der Selbstmord des unter Druck geratenen Cassius: μὴ ἤτοι αὐτὸς ἑαυτὸν ἀποκτείνῃ, αἰσχυνθεὶς ἐς τὴν ἡμετέραν ὄψιν ἐλθεῖν, ἢ ἕτερός τις μαθὼν ὅτι τε ἥξω καὶ ὅτι ἐπ᾿ αὐτὸν ὁρμῶμαι τοῦτο ποιήσῃ.64 Um dies zu verhindern, wollte Marc Aurel die Auseinandersetzung mit Cassius vor dem Senat verhandeln. Dass Marc Aurel die Möglichkeit politischer Verhandlungen militärischen Lösungen vorzog, vollzieht Jürgen Spieß offenbar nicht nach, wenn er lapidar fragt: „Mark Aurel bot Cassius Gespräche an. Doch worüber hätten sich die beiden unterhalten sollen?“ Werden die mit der prosenatorischen Politik verbundenen machtpolitischen Absichten berücksichtigt, so stellt sich auch die Marc Aurel wiederholt attestierte clementia als mehr als nur eine nachträgliche Konstruktion dar, die den Kaiser in ein positives Bild rücken sollte. Mit der Hervorhebung seines mildtätigen Handelns waren letztlich herrschaftspolitische Überlegungen verbunden, deren Ziel es war, tyrannische Formen der Machtausübung zu vermeiden, die für die Herstellung stabiler Herrschaftsstrukturen keine geeignete Voraussetzung bildeten. In einem Brief an Faustina, die ihren 62 63 64
Cass. Dio 72 (71),31,1. Vgl. S. 151. Cass. Dio 72 (71),26,1–2: „Cassius kann Selbstmord begehen, weil er sich schämt, uns vor Augen zu treten, oder ein anderer wird ihn töten, wenn er von meinem Kommen und bereits erfolgten Aufbruch hört.“
2. Herausforderungen prosenatorischer Politik
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Mann zuvor aufgefordert hatte, sich an Cassius zu rächen, schreibt Marc Aurel: non enim quicquam est, quod imperatorem Romanum melius commendet gentibus quam clementia.65 Um seinen Ruf bzw. seine Akzeptanz nicht zu gefährden, war Marc Aurel allein an einer friedlichen Lösung des Aufstandes interessiert.66 Auch aus diesem Grund beschwörte er den Senat immer wieder, seine Regierung rein von jeglichem Senatorenblut zu halten.67 Wenn ihm diese Bitte nicht erfüllt werde, so lässt Cassius Dio Marc Aurel erklären, werde er eilends seinem Tod zugehen.68 Marc Aurel wusste, dass es ein schlechtes Bild auf seine Regierung geworfen hätte, wenn er mit Gewalt gegen Cassius vorgegangen wäre. Zur Bestätigung dieses Gedankens wird auch hier wiederum an die sogenannten „schlechten“ Kaiser wie Nero oder Caligula erinnert, die die Gewalt, die ihnen entgegenschlug, durch ihre eigene Gewaltherrschaft provoziert hätten.69 Im Gegensatz dazu stehen die „guten“ Herrscher, die noch nie von einem Gegenkaiser besiegt worden seien. Während die clementia in den Quellen als Voraussetzung kaiserlicher Beliebtheit Erwähnung findet, wird der Einsatz kaiserlicher Gewalt stets mit einem unmittelbaren Verlust an Akzeptanz gleichgesetzt. Clementia machte Caesar zum Gott, verhalf auch Augustus zur Apotheose und brachte dem Vater Marc Aurels den Ehrennamen Pius ein.70 Auch die clementia Marci sollte nicht nur, wie Stefan Priwitzer überzeugend bemerkt, Auskunft über das Biographisch-Historische geben, son-
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Hist. Aug. Avid. 11,5: „Gibt es doch nichts, was einen römischen Kaiser den Untertanen wirkungsvoller empfiehlt als Milde.“ 66 Wie sehr Marc Aurel insgesamt um seinen Ruf besorgt war, belegt die folgende Quelle: erat enim famae suae curiosissimus, requirens ad verum, quid quisque de se diceret, emendans quae bene reprehensa viderentur. „Er war nämlich gar sehr um seinen Ruf besorgt, indem er alle von irgendeiner Seite über ihn gemachten Äußerungen auf ihren Wahrheitsgehalt hin prüfte und alles abstellte, was als berechtigter Vorwurf erschien.“ (Hist. Aug. Marc. 20,5) 67 Hist. Aug. Marc. 25,6: […] ne qui senator tempore principatus sui occideretur, ne eius pollueretur imperium […]. – „[…] dass kein Senator während seiner Regierung hingerichtet werde, damit seine Herrschaft unbefleckt bleibe […].“ – Wie wichtig Marc Aurel dieses Anliegen war, wird schließlich auch an der vielfachen Wiederholung dieses Wunsches deutlich. Dass die prosenatorischen Handlungen, wie Monti behauptet, auf die ethisch-moralischen Überzeugungen Marc Aurels zurückzuführen seien, die aus der Ehrfurcht vor dem in den Senatsbeschlüssen zum Ausdruck kommenden Willen der Götter hervorgehen, ist eine Vermutung, die durch die oben genannte Erklärung nicht ausgeschlossen wird. In diesem Zusammenhang geht es jedoch nicht um die Aufdeckung der „wahren“ Gesinnung des Kaisers, die sich jeder historischen Überprüfbarkeit entzieht, sondern um die Frage nach den politischen Funktionen seines Verhaltens. 68 Cass. Dio 72 (71),30,2: ἂν μὴ τούτου τύχω, σπεύσω πρὸς τὸν θάνατον. – An dieser Stelle soll durch den Todesgedanken sicherlich die Furcht vor einer möglichen Destabilisierung seiner Herrschaft symbolisiert werden. Vgl. dazu Kapitel III.1. – Dass sich die Suche nach Anerkennung in erster Linie auf die höheren gesellschaftlichen Schichten bezog, bestätigt die Historia Augusta, wenn sie behauptet, dass diejenigen an dem Aufstand Beteiligten verschont wurden, die dem Senatoren- und Ritterstand angehörten. (Hist. Aug. Avid. 10,9) Cassius Dio berichtet im Gegensatz dazu, dass er niemanden hinrichten ließ, „seien es einfache, seien es angesehene Leute“. Vgl. Cass. Dio 72 (71),27,3. 69 Hist. Aug. Avid. 8,3–4. 70 Hist. Aug. Avid. 11,6.
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VI. Marc Aurel und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Zweiten Sophistik
dern als Gegenbild zur crudelitas des Usurpators verstanden werden.71 Die bisherigen Ausführungen lassen vermuten, dass Marc Aurels Interesse vornehmlich darin bestand, den Einsatz von Gewalt, der zur Abwehr der geplanten Usurpation notwendigerweise vorbereitet worden war, zu vermeiden, um den Vorwurf der Tyrannis von sich abzuwenden. Um jeder schlechten Nachrede vorzugreifen, verschonte Marc Aurel alle Verwandten und Komplizen des Cassius. vivant igitur securi scientes sub Marco vivere. vivant in patrimonio parentum pro parte donato, auro, argento, vestibus fruantur, sint divites, sint securi, sint vagi et liberi et per ora omnium ubique populorum circumferant meae, circumferant vestrae pietatis exemplum.72 Cassius selbst konnte er nicht mehr begnadigen, da dieser bereits von seinen Anhängern getötet worden war.73 Marc Aurel konnte nur noch diejenigen Senatoren verschonen, die auf der Seite des Cassius gestanden hatten.74 Sie habe er nicht vor sein eigenes Gericht, sondern vor den Senat geladen.75 Schriftliches Beweismaterial habe er aus der Sorge heraus vernichten lassen, auf Aussagen zu stoßen, die ihn veranlassen könnten, irgendjemanden doch beschuldigen zu müssen.76 Vixeruntque non quasi tyranni pignora, sed quasi senatorii ordinis in summa securitate – so sollten die Verwandten des Cassius leben.77 Den Nachkommen des Avidius Cassius soll Marc Aurel sogar den Zutritt zur Ämterlaufbahn verschafft haben.78 Da Marc Aurel alle Provinzen, die auf der Seite des Cassius gestanden hatten, verschonte, erlangte er besonders in Alexandria und Antiochia höchste Anerkennung. Aus der Perspektive der innerhalb der Zweiten Sophistik entwickelten Herrschaftstheorie, die den strukturellen Rahmen für Marc Aurels Handeln bildete, wird erkennbar, dass mit seiner prosenatorischen Politik stets auch machtpolitische Interessen verbunden waren. Um seine Akzeptanz nicht zu gefährden, versuchte Marc Aurel auf den einzigen Usurpationsversuch, der seine Herrschaft verunsicherte, nicht mit dem Einsatz von Gewalt zu reagieren. Auch sein Wunsch, keinen Senator 71 72
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Priwitzer, Faustina Minor, 203. Hist. Aug. Avid. 12,7: „Mögen sie also unbehelligt weiterleben in dem Bewusstsein, daß sie unter Marcus’ Regierung leben. Sie mögen leben im Besitz des angestammten Vermögens, der ihnen geschenkt wurde, mögen sich ihres Goldes, ihres Silbers, ihrer Kleider erfreuen, mögen reich sein und unangefochten, ungebunden und frei; sie mögen allenthalben auf Erden in der Leute Mund kommen als Beispiel meines, Eures frommen Sinnes.“ Die Vermutung, Marc Aurel habe Avidius Cassius eventuell zum Selbstmord zwingen wollen ebenso wie Nero den Corbulo, der ebenfalls ein imperium im Osten innehatte, kann durch den hier vorliegenden Erklärungsansatz nicht bestätigt werden. Vgl. Priwitzer, Faustina Minor, 204 f. Cass. Dio 72 (71),28,2. Cass. Dio 72 (71),28,2. Cass. Dio 72 (71),28,4; vgl. auch 72,29,2. Hist. Aug. Avid. 9,4: „Sie lebten nicht wie Angehörige eines Gegenkaisers, sondern wie Mitglieder des Senatorenstandes in völliger Sicherheit.“ Vgl. 9,2–4; 11,4–5; 12,6–7. Hist. Aug. Avid. 13,6. Jörg Fündling gelangt zu einer anderen Einschätzung. Marc Aurel habe mit seiner Hilfe, die eigentlich keine gewesen sei, den Angehörigen des Cassius einschärfen wollen, wie sehr sie von seiner Gnade abhängig waren. Meines Erachtens versuchte Marc Aurel genau dies, nämlich wie ein Gewaltherrscher wahrgenommen zu werden, zu vermeiden. Vgl. Jörg Fündling, Marc Aurel, Darmstadt 2008, 146.
3. Marc Aurel und die Paideia
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während seiner Regierungszeit mit dem Tod zu bestrafen79, der ihm im Unterschied zu allen anderen Kaisern erfüllt werden konnte, folgte letztlich diesem politischen Kalkül sowie dem Ziel der Herrschaftsstabilisierung. Marc Aurel gelang es jedoch nicht nur in Krisenzeiten, den Vorwurf der Tyrannis von sich abzuwenden, wie die folgenden Ausführungen zeigen. 3. MARC AUREL UND DIE PAIDEIA dabat se Marcus totum et philosophiae, amorem civium adfectans.80 Marc Aurel konnte seiner Herrschaft auch durch die Philosophie Akzeptanz verschaffen, insofern die gebildeten Oberschichten des zweiten Jahrhunderts in dem Handeln der Kaiser Macht und Paideia verbunden sehen wollten.81 Von einem „guten“ Kaiser erwarteten sie die Herstellung reziproker Machtstrukturen, die auch ihnen einen Platz innerhalb der Herrschaftsstrukturen zusicherten. Diese Erwartung wurde von den Vertretern der Zweiten Sophistik mit dem Bild eines ‚demokratischen‘ Kaisers bzw. mit dem Bild eines von Philosophen beratenen Kaisers propagiert.82 Ein Beispiel hierfür ist eine bei Philostrat geschilderte sogenannte Wagenszene, die einen Maßstab für das Verhältnis zwischen Herrschern und Philosophen setzen sollte. Dort wird berichtet, dass Dion und Trajan gemeinsam auf einem goldenen Wagen durch Rom fuhren, auf denen die Kaiser ihre Triumphe feierten. Während dieser Fahrt habe sich der Kaiser zu dem hinter ihm sitzenden Philosophen umgewandt und gesagt: τί μὲν λέγεις, οὐκ οἶδα, φιλῶ δέ σε ὡς ἐμαυτόν.83 Das Nichtverstehen Trajans ist in der Forschung sehr unterschiedlich beurteilt worden. Einerseits wurde vermutet, dass Trajan Dion wirklich nicht verstand, ein Verdacht, der jedoch mit dem Hinweis auf Trajans griechische Erziehung ausgeräumt werden konnte. 79 80 81
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Hist Aug. Marc. 26,13; 25,6; Cass. Dio 72 (71),30,2. Hist. Aug. Marc. 8,3: „Marcus gab sich ganz der Philosophie hin und warb um die Liebe seiner Mitbürger.“ Ael. Aristid. 23,73. Auch in der Anrede des Commodus in dem onomastikon des Pollux werden Bildung und Kaisertum miteinander verbunden: ὦ παῖ πατρὸς ἀγαθοῦ, πατρῷόν σοι κτῆμα κατ᾿ ἴσον βασιλεία τε καὶ σοφία. τῆς δὲ σοφίας τὸ μέν τι ἐν τῇ τῆς ψυχῆς ἀρετῇ, τὸ δ᾿ ἐν τῇ χρείᾳ τῆς φωνῆς. – „Sohn eines guten Vaters, Kaiserwürde und Weisheit sind dir gleichermaßen vom Vater ererbte Besitztümer.“ (Poll. Onom. 1,1) – Die enge Verbindung zwischen Macht und Philosophie wird deutlich anhand der von Themistios am Ende des vierten Jahrhunderts entwickelten Traditionslinie. Die von ihm ins Gedächtnis zurückgerufenen Personen zeigen jeweils einen von einem Philosophen beratenen Herrscher: Philipp und Aristoteles, Augustus und Areios, Tiberius und Thrasyllos, Titus und Musonius, Trajan und Dion, Marcus und Rusticus bzw. Sextus. Die Reihe wird von Themistios bis in seine eigene Zeit fortgesetzt (Themist. or. 5,63d; 11,145b; 13,173c). Paul Zanker, Prinzipat und Herrscherbild. Mit Tafeln I–XII, in: Gymnasium 86, 1979, 353–368, 364 erläutert am Beispiel der Bildniskunst, dass ein sich selbst als Philosoph stilisierender Kaiser die an ihn gestellten Erwartungen reproduziert: „Nobilitas und Bildung werden als wesentliche Eigenschaften des vollkommenen Princeps gesehen.“ Vgl. dazu Kapitel V.2. Philostrat. Vita Sophist. 488: „Ich verstehe zwar nicht, was du sagst, aber ich liebe dich wie ich mich selbst liebe.“
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VI. Marc Aurel und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Zweiten Sophistik
Andererseits wäre es möglich, dass Trajan den Sinn dessen, was Dion sagte, nicht verstand. Vielleicht hat Trajan sich aber auch nur ignorant über die an ihn gerichteten Inhalte der griechischen Paideia hinwegsetzen wollen. Wie Versnel herausgestellt hat, saß normalerweise ein Sklave hinter dem Kaiser, der die Aufgabe hatte, den Kaiser an seine Sterblichkeit zu erinnern: respice post te, hominem te esse memento.84 In Analogie dazu habe der Philosoph den Kaiser an die weltlichen Grenzen seiner Macht erinnern wollen. Gegenüber dem ersten Satzteil, der auf das Nichtverstehen Trajans hinweist und möglicherweise eine Kritik am Kaiser impliziert, die aber vermutlich gar nicht intendiert war, ist der zweite Satzteil, der das freundliche Einvernehmen zwischen Kaiser und Philosoph zum Ausdruck bringen soll, vermutlich sehr viel wichtiger gewesen. Mit der Aussage, dass Trajan, obwohl er den Philosophen nicht versteht, diesen ebenso achten will wie sich selbst, versuchten die Sophisten mitzuteilen, wie sie sich das Verhältnis zwischen Kaiser und Philosoph idealiter vorstellten. Wichtiger als der Appell an philosophische Normen war schließlich die von den Kaisern geforderte Bereitschaft, die Philosophen wieder in das gesellschaftliche und politische Leben zu integrieren. Offenbar sollte auch mit diesem Bild, das an die Verfolgung von Philosophen unter Domitian anknüpft, der von den Kaisern verlangte Respekt vor den Vertretern der griechischen Paideia begründet werden.85 Es gab innerhalb der Zweiten Sophistik eine sehr klare Vorstellung, wie die Beziehungen zwischen Kaisern und Philosophen beschaffen sein sollten. Das selbstbewusste Verhalten des Redners Polemon, dem sogar Herodes Atticus seine Reverenz erwies, muss beispielhaft gewesen sein. Wenn er sprach, habe er Städte wie Untergebene, Kaiser nicht wie Überlegene und Götter als Gleiche behandelt.86 Er habe es verweigert, Königen87, die nach Smyrna kamen, zur Begrüßung entgegenzueilen. Wenn er gebeten wurde, den König aufzusuchen, kam er der Bitte nicht nach, sondern verzögerte den Termin immer weiter, bis er den König schließlich zwang, zu ihm zu kommen. Dass sich Marc Aurels Handeln in die hier skizzierte Erwartungshaltung der Sophisten einfügte, zeigt das folgende Beispiel über seinen Aufenthalt in Kleinasien. Marc Aurel besuchte im Jahr 176 Smyrna, um dort die pepaideumenoi der Stadt88 zu treffen, zu denen auch Aelius Aristides gehörte.89 Wie es für einen Kaiserbesuch üblich war, kamen viele zur Begrüßung herbei – nur Aristides nicht. Marc Aurel wartete nicht weniger als drei Tage, bis er sich nach dem Verbleib des Aristides bei den Quintilii, den angesehensten und bedeutendsten Kulturträgern der 84 85
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Hendrik S. Versnel, Triumphus. An Inquiry into the Origin, Development and Meaning of the Roman Triumph, Leiden 1970, 57. John L. Penwill, Expelling the Mind. Politics and Philosophy in Flavian Rome, in: A. J. Boyle, W. J. Dominik (Hg.), Flavian Rome. Culture, Image, Text, Boston 2003, 345–368, 368 betont die Vorteile, die dem Kaiser aus seinem Verhalten gegenüber den Philosophen erwachsen: „I’m not interested in anything you’re trying to tell me, but your presence here does wonders for my image.“ Philostrat. Vita Sophist. 535. Hier: Könige vom Bosporus unter römischem Protektorat. Dies wird von Sopater erwähnt, der ebenfalls von diesem Zusammentreffen berichtet. Philostrat. Vita Sophist. 582–583.
3. Marc Aurel und die Paideia
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Stadt erkundigte.90 Als der Kaiser Aristides fragte, weshalb er ihn so lange habe warten lassen, antwortete er: θεώρημα […], ὦ βασιλεῦ, ἠσχόλει, γνώμη δὲ θεωροῦσά τι μὴ ἀποκρεμαννύσθω οὗ ζητεῖ.91 Die Prioritäten waren somit klar definiert. Im Folgenden erfährt der Leser, dass die Antwort Marc Aurel jedoch keineswegs verärgerte. Er akzeptierte die Entscheidung des Aristides, der die Paideia der Ehre der Begrüßung, die dem Kaiser zugestanden hätte, überordnete. Darüber hinaus scheint die Antwort auch die lange Wartezeit, die Marc Aurel in Kauf nehmen musste, zu entschuldigen, denn die Tatsache, dass Aristides über seine Studien die Welt um sich herum vergaß, wird von Marc Aurel nicht nur hingenommen, sondern in besonderem Maße sogar gelobt. Denn auch im folgenden Gespräch gibt Marc Aurel den Wünschen des Aristides nach, indem er ihm erlaubt, nicht sofort, sondern erst am nächsten Tag vorzutragen und seine Studenten mitzubringen, damit sie ihrem Rhetor applaudieren könnten.92 Die Bereitschaft Marc Aurels, sich der Paideia unterzuordnen, wurde schließlich durch das Verhalten gegenüber seinen Lehrern dokumentiert. Wie Philostrat berichtet, sei er als Kaiser noch immer persönlich zu seinen Lehrern gegangen, statt sie an seinen Hof kommen zu lassen: καλὸν […] καὶ γηράσκοντι τὸ μανθάνειν· εἶμι δὴ πρὸς Σέξτον τὸν φιλόσοφον μαθησόμενος, ἃ οὔπω οἶδα.93 Als Caesar habe er es nie versäumt, seinen Lehrern nach der morgendlichen salutatio einen Besuch abzustatten.94 Er ließ ihnen besondere Ehren zuteil werden, indem er ihre goldenen Bilder in seiner Hauskapelle aufstellte, ihre Gräber regelmäßig aufsuchte und mit Opferspenden und Blumenschmuck bedachte.95 Schließlich waren auch die Selbstbetrachtungen ein Versuch, den Erwartungen der Sophisten gerecht zu werden. Bereits die Tatsache, dass ein Kaiser auf griechisch schrieb, war eine politische Aufwertung der Paideia. Betrachtet man darüber hinaus den Aufbau der Selbstbetrachtungen, so stellen auch sie ein Symbol für die Bereitschaft Marc Aurels dar, seine Herrschaft der Paideia unterzuordnen.96 Tim 90 91
Bowersock, Greek Sophists, 87. Philostrat. Vita Sophist. 582: „Ein Lehrsatz […], mein Kaiser, hat mich beschäftigt, und wenn der Verstand etwas betrachtet, darf er sich nicht ablenken von dem, was er erforscht.“ 92 Dass die Beeinflussung seines Publikums eine gewagte letztlich aber erfolgreiche Methode für die Reputation des Redners war, hat Martin Korenjak, Unbelievable Confusion. Weshalb sind die „Hieroi logoi“ des Aelius Aristides so wirr?, in: Hermes 133, 2005, 215–234, 233 f. nachgewiesen. – Eine weitere Erklärung für die unerhört lange Wartezeit, die Aelius Aristides Marc Aurel zugemutet hat, kommt von Fernando Gasco. Die Freundschaft zwischen Aelius Aristides und Heliodorus, dem Vater des Avidius Cassius, habe den Verdacht erregen können, dass auch Aelius Aristides mit den usurpatorischen Plänen sympathisiert habe. Der immer wieder verzögerte Auftritt des Redners sei letztlich ein Ausdruck seiner Furcht gewesen. Fernando Gasco, The Meeting between Aelius Aristides and Marcus Aurelius in Smyrna, in: AJPH 110.3, 1989, 471–478, 477 f. 93 Philostrat. Vita Sophist. 557; vgl. Cass. Dio 71,1,2. Hist. Aug. Marc. 3,1: Auch für jemanden, der alt wird, ist es gut, Wissen zu erwerben. Ich gehe zu Sextus, dem Philosophen, um zu lernen, was ich noch nicht weiß. 94 Cass. Dio 72 (71),35,4. 95 Hist. Aug. Marc. 3,5. 96 Wie entscheidend die nach außen demonstrierte Tugendhaftigkeit eines Herrschers für die Legitimität und die Ausübung der politischen Macht war, beschreibt Foucault, Sexualität und
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VI. Marc Aurel und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Zweiten Sophistik
Whitmarsh bezeichnet das Erste Buch der Selbstbetrachtungen als eine rite de passage, die den Übergang von der Erziehung zur Selbsterziehung markiere, insofern an dieser Stelle das Gespräch zwischen Schüler und Lehrer in einen inneren Dialog verwandelt werde. Mit dem Ersten Buch beende Marc Aurel die Phase seiner Erziehung, indem er sich bei allen Personen, die für seine eigene Entwicklung wichtig waren, bedankt. In den folgenden elf Büchern übernehme er die ratgebende Funktion der Philosophen, um sie auf sich selbst anzuwenden. Dies ist vor allem anhand der im Rahmen einer formalen Analyse der Selbstbetrachtungen bereits genannten Imperative sowie der protreptischen und konditionalen Sätze zu erkennen, die einen wichtigen Bestandteil der psychagogischen Literatur bilden.97 Die Bereitschaft, sich von Philosophen beeinflussen zu lassen, fand ihren sichtbarsten Ausdruck jedoch in dem am Hof institutionalisierten Beraterkreis von Philosophen, die ihm, wie Iunius Rusticus, in politischen und militärischen Fragen zur Seite standen. Dass es Marc Aurel gelang, von seinen Zeitgenossen als Philosoph wahrgenommen zu werden, belegen die Worte des Biographen der vita Marci, der ein in jeder Hinsicht an den Grundsätzen der Philosophie orientiertes Persönlichkeitsbild Marc Aurels entwickelt: Marco Antonino, in omnia vita philosophanti viro et qui sanctitate vitae omnibus principibus antecellit […].98 Marc Aurel habe bereits in seiner Kindheit ein eher ruhiges Wesen gehabt, das auf eine Entwicklung zum Philosophen schließen ließ. Sobald er das entsprechende Alter erreicht hatte, habe er sich nicht nur von Philosophen unterrichten lassen, sondern auch einen philosophischen Habitus übernommen: nam duodecimum annum ingressus habitum philosophi sumpsit et deinceps tolerantiam, cum studeret in pallio et humi cubaret, vix autem matre agente instrato pellibus lectulo accubaret.99 Cassius Dio will anhand der schwachen körperlichen Konstitution Marc Aurels, die er als Ausdruck seiner philosophischen Anstrengungen interpretiert, beweisen, dass Marc Aurel ganz der Philosophie lebte: Ἐκ δ᾿ οὖν τῆς πολλῆς ἀσχολίας τε καὶ ἀσκήσεως ἀσθενέστατον τὸ σῶμα ἔσχε, καίτοι τοσαύτῃ εὐεξίᾳ ἀπ᾿ ἀρχῆς […].100 Marc Aurel ging es vor allem darum, die Akzeptanz der Aristokratie Wahrheit, 120 ff.: „Und als Marc Aurel zu Beginn seiner Selbstbetrachtungen ein ausführliches Porträt des Antoninus zeichnet, welches ihm selbst als Lebensregel dient, zeigt er, wie eben diese Prinzipien seine Machtausübung lenkten.“ – Zu beachten ist, dass ein Tugendkatalog nicht nur dem Aufbau einer äußeren Fassade diente. Vielmehr war mit den Werten, die ein Kaiser für sich beanspruchte, eine Selbstbindung stets unmittelbar verknüpft. 97 Vgl. dazu Kapitel III.3.4. Auch Catharine Edwards, Self-Scrutiny and Self-Transformation in Seneca’s Letters, in: G&R 44, 1997, 23–38, 31 spricht hier im Anschluss an Christopher Gill von einer „interiorization of interpersonal dialogue“. 98 Hist. Aug. Marc. 1,1: „Marcus Antoninus, in allen Lebenslagen als Philosoph bewährt und durch unsträflichen Wandel allen Kaisern überlegen […].“ 99 Hist. Aug. Marc. 2,6: „Trug er sich doch nach dem Eintritt in sein zwölftes Jahr wie ein Philosoph und übte in der Folge auch die entsprechende Askese, indem er im Mantel studierte und auf dem Fußboden nächtigte und nur schwer von seiner Mutter dazu zu bewegen war, auf einem mit Fellen belegten Lager zu schlafen.“ 100 Cass. Dio 72 (71),36,1–2: „Infolge seines immensen Fleißes und Studiums bekam er einen sehr schwächlichen Körper, obwohl er anfänglich so kräftig gewesen war […].“
3. Marc Aurel und die Paideia
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zu erlangen. Dies wird ex negativo schließlich dadurch bestätigt, dass die philosophische Lebensführung beim Volk auf keine Zustimmung stieß. Man belustigte sich über einen Kaiser, der die Gewohnheit hatte, bei Vorführungen im Zirkus zu lesen, Vorträge zu hören und Unterschriften zu erteilen. Ein philosophierender Kaiser rief beim Volk offenbar Misstrauen hervor, denn es wurde befürchtet, Marc Aurel würde die Unterhaltungskultur einschränken, da er Gladiatoren zum Kriegsdienst einzog und die Anweisung gab, Pantomimen erst zu später Stunde auftreten zu lassen, damit der Geschäftsverkehr nicht beeinträchtigt werde.101 Darüber hinaus kursierte im Volk das Gerücht, dass gewisse Leute unter der Philosophenmaske das Gemeinwesen und Privatpersonen drangsalierten.102 Als Beispiel für die philosophische Gesinnung des Kaisers werden aber auch besondere humanitäre Maßnahmen Marc Aurels hervorgehoben. So habe er im täglichen Leben jede Art von Gewalt so sehr verachtet, dass er Gladiatoren nur mit stumpfen Messern kämpfen ließ und Seiltänzern verbot, ohne Netz aufzutreten.103 Wie das folgende Zitat belegt, wurde Marc Aurel jedoch nicht nur in Rom wegen seiner philosophischen Gesinnung sehr geschätzt: omnibus orientalibus provinciis carissimus fuit. apud multas etiam philosophiae vestigia reliquit. apud Aegyptios civem se egit et philosophum in omnibus studiis, templis, locis.104 Seine kulturpolitischen Maßnahmen konzentrierten sich vor allem in Athen, das durch Marc Aurel wieder als ein kulturelles Zentrum etabliert wurde. Als der Kaiser im Jahr 176 n. Chr. Athen besuchte, gründete er, wie Cassius Dio und Philostrat berichten, vier Lehrstühle für Philosophie, und zwar für die Vertreter der unterschiedlichen Schulen: Platoniker, Aristoteliker, Stoiker und Epikureer. Diesen habe er ein Jahresgehalt von zehntausend Drachmen bewilligt.105 Marc Aurel hat jedoch nicht nur die verschiedenen Lehrstühle, sondern auch ein Gremium geschaffen, das sowohl über die Auswahl der Kandidaten entschied als auch für die finanzielle Versorgung der Lehrstuhlinhaber verantwortlich war. Dieses Gremium war die ebenfalls im Jahr 176 n. Chr. gegründete „Heilige Gerusia“, die im allgemeinen für die Ausrichtung der Panathenaeen, die Feste für die Schutzgöttin der Stadt Athena und 101 102 103 104
Hist. Aug. Marc. 15,1; 23,5–6. Ebd. 23,9. Cass. Dio 72 (71),29,3. Hist. Aug. Marc. 26,2–3: „Alle Provinzen des Ostens schätzten ihn aufs höchste. In vielen hinterließ er auch Spuren seiner philosophischen Gesinnung. Bei den Ägyptern gab er sich in allen Bildungsstätten, Tempeln und allerwärts als Bürger und Philosoph.“ – Die offiziellen Bildnistypen des Kaisers und seiner Familie haben, so Zanker, im ganzen Reich Verbreitung gefunden. Sie waren auf allen Plätzen, in allen Tempeln und öffentlichen Gebäuden, auf Triumphbögen und Ehrensäulen, ja selbst in Privathäusern zu erblicken. Mit diesen Bildnissen war eine eminent politische Aussagekraft verbunden, da ihre Funktion darin bestand, den Kaiser so zu zeigen, wie er gesehen werden wollte. Vgl. Zanker, Prinzipat und Herrscherbild, 361, 364. 105 SIG3 872. (vgl. Avotins, 314.) Cass. Dio 72 (71),31,3; Philostrat. Vita Sophist. 566; Der Rhetoriklehrstuhl wurde schon früher, vermutlich im Jahr 174, gegründet. Der erste, der den Rhetoriklehrstuhl innehatte, war Theodotus, der 176 von Hadrian abgelöst wurde. Über die Besetzung des Lehrstuhls vgl. Ivars Avotin, The Holders of the Chairs of Rhetoric at Athens, in: HSPH 79, 1975, 313–324, 315 ff., 324.
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VI. Marc Aurel und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Zweiten Sophistik
den Kaiserkult verantwortlich war.106 Die Ausrichtung von Feiern, die zu der Zeit des Streites zwischen Herodes und den Athenern aufgrund finanzieller Schwierigkeiten zu einem Problem geworden war, sollte so wieder sichergestellt werden. Vorrangig war die Gerusia jedoch für die Aufrechterhaltung der Bildungsinstitutionen in Athen verantwortlich. Neben inschriftlichen Belegen unterstützt eine Bemerkung Lukians die These, dass es ein Gremium mit der Funktion gab, die in Athen tätigen Professoren auszuwählen.107 Lukian berichtet, wie sich die für den gerade vakant gewordenen Lehrstuhl der peripatetischen Philosophie vorgeschlagenen Kandidaten vor einem Komitee bewarben.108 Nach Philostrat habe Marc Aurel Herodes Atticus die Aufgabe übertragen, die Kandidaten für die Philosophie auszuwählen, während er selbst die Bewerber um den Rhetoriklehrstuhl beurteilen wollte.109 Mit dieser Entscheidung habe Marc Aurel das Ziel verfolgt, den Auswahlprozess möglichst unparteiisch und fair zu gestalten.110 Außer Marc Aurel und Herodes Atticus, die vermutlich den Vorsitz über dieses Gremium hatten111, werden als Mitglieder bei Lukian die ἄριστοι, die πρεσβύτατοι und die σοφώτατοι erwähnt.112 Die Gerusia war somit nicht nur ein weiterer Ort, an dem sich die Kommunikation zwischen Marc Aurel und den Vertretern der Paideia verfestigte, sondern auch ein Symbol, das Marc Aurel als Förderer der griechischen Paideia nach außen sichtbar machte.113 106 James H. Oliver, New Fragments of Sacred Gerusia 24 (I. G., II 2, 1108), in: Hesperia 30.4, 1961, 402–403, 402; James H. Oliver, Marcus Aurelius and the Philosophical Schools at Athens, in: AJPH 102.2, 1981, 213–225, 216 f.; Oliver, Aspects of Civic and Cultural Policy, 84. 107 Oliver, Aspects of Civic and Cultural Policy, 84; Oliver, Philosophical Schools at Athens, 217, 222. James H. Oliver vermutet einen direkten Zusammenhang zwischen dem Kult für die Göttin Athena und der Paideia. Dieses Argument sichert Oliver durch die Beobachtung, dass die für die griechische Erziehung verantwortliche Institution in Rom als Athenaeum bezeichnet wurde. 108 δίκη δὲ ὅμως συνειστήκει καὶ δικασταὶ ψηφοφοροῦντες ἦσαν οἱ ἄριστοι καὶ πρεσβύτατοι καὶ σοφώτατοι τῶν ἐν τῇ πόλει […]. – „Gleichwohl ist ein Verfahren eingeleitet worden und die Richter, die mit Stimmrecht ausgestattet waren, waren die angesehensten, ältesten und weisesten Männer der Stadt […].“ (Lukian. Eunuch 2) 109 τοὺς μὲν Πλατωνείους καὶ τοὺς ἀπὸ τῆς Στοᾶς καὶ τοὺς ἀπὸ τοῦ Περιπάτου καὶ αὐτοῦ Ἐπικούρου προσέταξεν ὁ Μάρκος τῷ Ἡρώδῃ κρῖναι, […]. – „Marc Aurel übertrug Herodes die Aufgabe, die platonischen Philosophen auszuwählen sowie die Stoiker, die Peripatetiker und die Epikureer […].“ (Philostrat. Vita Sophist. 566) 110 Oliver, Philosophical Schools at Athens, 222 f. 111 Vgl. dazu den Kommentar von Hans Floerke, Lukian. Sämtliche Werke. Mit Anmerkungen, nach der Übersetzung von C. M. Wieland, bearb. und ergänzt von Hans Floerke, München, Leipzig 1911, 285, Anm. 3. Nach der Auffassung von Oliver habe Marc Aurel vermutlich versucht, vermittelnd in die Beziehungen zwischen Herodes und den Athenern einzugreifen. Vgl. Oliver, Aspects of Civic and Cultural Policy, 84. 112 Wie James H. Oliver betont, habe zur Zeit Marc Aurels eine Aristokratisierung der Gerusia stattgefunden. James H. Oliver, The Sacred Gerusia and the Emperor’s Consilium, in: Hesperia 36.3, 1967, 329–335, 330. 113 Nach der Auffassung von Oliver habe sich in diesem Gremium, das nicht nur die εὐγενεῖς erwähnt, parallel zu der Aristokratie, die sich über politische Ämter und Wohlstand auszeichnete, eine intellektuelle Elite etabliert: „Marcus preserved the old community with its great traditions but he founded also a new community to supplement it and to foster education.“ Mit der Gerusia habe sich Marc Aurel den philosophischen Traum von der Schaffung einer „wahren Aris-
4. Der Kaiserhof – Symbol einer neuen Herrschaftsform
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4. DER KAISERHOF – SYMBOL EINER NEUEN HERRSCHAFTSFORM Ὅρα, μὴ ἀποκαισαρωθῇς, μὴ βαφῇς· γίνεται γάρ. […] ἀγώνισαι, ἵνα τοιοῦτος συμμείνῃς, οἷόν σε ἠθέλησε ποιῆσαι φιλοσοφία. αἰδοῦ θεούς, σῷξε ἀνθρώπους.114 Nicht zu „verkaisern“ – dies bedeutete für Marc Aurel die vorbildliche Lebensführung seines Adoptivvaters Antoninus Pius zu übernehmen. Von ihm habe er gelernt, ὅτι δυνατόν ἐστιν ἐν αὐλῇ βιοῦντα μήτε δορυφορήσεων χρῄζειν μήτε ἐσθήτων σημειωδῶν μήτε λαμπάδων καὶ ἀνδριάντων τοιῶνδέ τινων καὶ τοῦ ὁμοίου κόμπου, ἀλλ᾿ ἔξεστιν ἐγγυτάτω ἰδιώτου συστέλλειν ἑαυτὸν […]·115 Mit dieser Distanzierung von den am Hof geltenden Lebensformen nimmt Marc Aurel die Hofkritik der senatorischen Geschichtsschreibung auf. Der Hof, der sich allmählich aus den aristokratischen Häusern ausdifferenzierte und bereits unter der Herrschaft des Nero den Palatin vollständig okkupiert hatte116, wurde der Aristokratie zum sichtbaren Zeichen ihres politischen Machtverlustes. Dementsprechend konnte der aufwendige Lebensstil einiger Kaiser immer wieder als Gegenstand aristokratischer Kritik verwendet werden.117 Bereits Augustus wurde vorgeworfen, dass er maßlos versessen auf kostbaren Hausrat und korinthisches Gefäß gewesen sei.118 Je demonstrativer ein Kaiser seinen materiellen Reichtum pflegte, desto stärker war auch der gegen ihn gerichtete Spott der oberen Schichten. Die bekanntesten Beispiele waren Caligula und Nero. Von Caligula, der in kaltem und warmem Salböl badete, in Essig aufgelöste wertvolle Perlen schlürfte und seinen Gästen Brot und Speisen servierte, die mit einer Goldglasur überzogen waren, wird berichtet, dass seine Schwelgerei alles übertroffen habe, was man sich bisher an Verschwendung hatte einfallen lassen. In nicht einmal einem Jahr habe er das Erbe des Tiberius, das nicht weniger als 2,7 Milliarden Sesterzen betragen hatte, ausgegeben. „Demonstrativer Konsum“119 wurde von Caligula untrennbar mit der Rolle des Kaisers verbunden.120 Auch Nero behauptete, dass Reichtum zu nichts anderem da
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tokratie“ erfüllt. Oliver ist bis auf die Tatsache, dass es eine Dichotomie zwischen einer politischen und einer kulturellen Elite nicht gab, zuzustimmen. Vgl. Oliver, Aspects of Civic and Cultural Policy, 91. M. Aur. ad se ipsum 6,30,1–4: „Achte darauf, dass du dich nicht zum Caesar machen und entsprechend färben lässt. Denn das kann geschehen. […] Kämpfe darum, dass du so bleibst, wie dich die Philosophie haben wollte.“ M. Aur. ad se ipsum 1,17,5: „[…] daß es möglich ist, am Hofe zu leben, ohne Leibwächter zu benötigen oder auffallende Kleidung, Kronleuchter, Standbilder, andere Dinge dieser Art und ähnlichen Prunk, sondern daß es möglich ist, sich fast wie ein Privatmann zu geben […].“ Winterling, Aula Caesaris, 47 ff. bes. 67. Ebd. 76 ff. Suet. Aug. 70,2. Zum Begriff des „demonstrativen Konsums“ (conspicuous consumption) vgl. Thorstein Veblen, The Theory of the Leisure Class. An Economic Study of Institutions, New York 1899, 68 ff. Vgl. dazu Winterling, Aula Caesaris, 79. Nepotatus sumptibus omnium prodigorum ingenia superavit, commentus novum balnearum usum, portentosissima genera ciborum atque cenarum, ut calidis frigidisque unguentis lavaretur, pretiosissima margarita aceto liquefacta sorberet, convivis ex auro panes et obsonia apponeret, aut frugi hominem esse oportere dictitans aut Caesarem. – „In seiner Schwelgerei
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VI. Marc Aurel und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Zweiten Sophistik
sei, als verschwendet zu werden.121 Als seine domus aurea fertiggestellt war, bemerkte er, erst jetzt fange er an, wie ein Mensch zu wohnen.122 Dem „demonstrativen Konsum“ der ‚schlechten‘ Kaiser setzten die ‚guten‘ Kaiser demonstrativen Verzicht entgegen. Im Gegensatz zu Caligula oder Nero distanzierte sich Marc Aurel von einem aufwendigen Lebensstil. Indem er sich die Kritik der Aristokratie zu eigen machte, signalisierte er, die Differenzen zur Aristokratie, die durch den zur Schau gestellten Reichtum offenkundig wurden, beseitigen zu wollen. „ἡμεῖς γάρ,“ ἔφη πρὸς τὴν βουλὴν λέγων, „οὕτως οὐδὲν ἴδιον ἔχομεν ὥστε καὶ ἐν τῇ ὑμετέρᾳ οἰκίᾳ οἰκοῦμεν.“123 Selbstverständlich bestanden die materiellen Grenzen zwischen einem aristokratischen Haus und dem kaiserlichen Palast weiter fort. Dennoch gelang es den Kaisern, die sich durch Gesten des Verzichts von dem am Hof stattfindenden Aufwand distanzierten, den Differenzen zwischen Haus und Hof Akzeptanz zu verschaffen. So habe Augustus die gegen ihn gerichteten Anschuldigungen und seinen üblen Ruf widerlegt, indem er alle goldenen Gefäße einschmelzen ließ.124 Später sei das Mobiliar seines Haus so schlicht gewesen, dass es nicht einmal den Ansprüchen eines Privatmannes genügt hätte.125 Obwohl sich der Hof im 2. Jahrhundert zu einer Größe sui generis entwickelt hatte, sich sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht „grundsätzlich von allen anderen aristokratischen Häusern“ unterschied und zu einem „äußere[n] Zeichen des Kaisertums“ geworden war126, wurde seine herausgehobene Position auf der semantischen Ebene weiterhin negiert. Marc Aurel knüpft an diese Formen der Kommunikation zwar an, geht aber gleichzeitig über sie hinaus. Auch er versuchte dem Kaiserhof Akzeptanz zu verschaffen, indem er sich von den dort geltenden Verhaltensformen distanzierte. Andererseits hegte er aber den Wunsch, den Kaiserhof durch die Verbindung der philosophischen mit der höfischen Lebensform zu einer akzeptierten Größe zu entwickeln. Denn wie der folgende Paragraph beweist, beabsichtigte Marc Aurel, Hof und Philosophie miteinander zu arrangieren: Εἰ μητρυιάν τε ἅμα εἶχες καὶ μητέρα, ἐκείνην ἂν ἐθεράπευες καὶ ὅμως ἡ ἐπάνοδός σοι πρὸς τὴν μητέρα συνεχὴς ἐγίνετο. τοῦτό σοι νῦν ἐστιν ἡ αὐλὴ καὶ ἡ φιλοσοφία· ὧδε
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übertraf er alles, was man sich bisher an Verschwendung hatte einfallen lassen. Er erfand eine neue Art von Bädern, die abstrusesten Gerichte und Speisen; er badete z. B. in warmem und kaltem Salböl, schlürfte die wertvollsten Perlen in Essig aufgelöst, setzte seinen Gästen Brote und Speisen mit einer Goldglasur vor, wobei er oft bemerkte, man müsse entweder ein sparsamer Mann oder Kaiser sein.“ (Suet. Cal. 37,1) Vgl. dazu auch Winterling, Aula Caesaris, 79 ff. sowie die Caligulabiographie: Aloys Winterling, Caligula. Eine Biographie, München 2003. Auch hier wird Caligula im Spiegel der Kommunikationsstrukturen betrachtet, die sich zwischen Kaiser und Aristokratie entwickelt haben. Suet. Nero 30,1. […] ut se diceret quasi hominem tandem habitare coepisse. (Suet. Nero 31,2) Cass. Dio 72 (71),33,2: „‚Was uns angeht‘, betonte er vor dem Senat, ‚haben wir so wenig einen eigenen Besitz, dass selbst das Haus, in dem wir wohnen, euer ist.‘“ Suet. Aug. 71,1. Suet. Aug. 73. Winterling, Aula Caesaris, 75.
4. Der Kaiserhof – Symbol einer neuen Herrschaftsform
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πολλάκις ἐπάνιθι καὶ προσαναπαύου ταύτῃ, δι᾿ ἣν καὶ τὰ ἐκεῖ σοι ἀνεκτὰ φαίνεται καὶ σὺ ἐν αὐτοῖς ἀνεκτός.127
Während zu Beginn des Zitates zwischen dem Kaiserhof und der Philosophie eine Differenz erzeugt wird, indem Marc Aurel die Philosophie mit einer Mutter und den Hof mit einer Stiefmutter vergleicht, behauptet er mit dem letzten Satz, dass er sich mit Hilfe der Philosophie die höfischen Strukturen aneignen wolle.128 Das Leben am Hof, das ihm zuvor nicht erträglich war, soll auf diesem Weg verändert und seinen Vorstellungen angeglichen werden. Marc Aurel hat mit der Einbindung der Philosophie in das höfische Leben offensichtlich einen Zuwachs an Akzeptanz verbunden, wenn er ebenfalls im letzten Satz behauptet, auch er werde aufgrund der Philosophie am Kaiserhof erträglicher werden. Die aristokratische Hofkritik und die kaiserliche Distanzierung von den höfischen Lebensformen ließen den Hof zu einem Symbol der zwischen Kaiser und Aristokratie bestehenden strukturellen Probleme werden. Während der Hof für die Aristokratie zu einem Spiegel ihres politischen Machtverlustes geworden ist, stellte er für den Kaiser ein Zeichen potentieller Nichtakzeptanz dar, insofern der Hof all das repräsentiert, was aristokratischen Erwartungen widerspricht. Mit der Integration der Philosophie in das höfische Leben versuchte Marc Aurel, den Hof zu einer Institution zu entwickeln, die der Aristokratie nicht mehr nur äußerlich war. So versuchte er mit dem folgenden Argument sich und andere davon zu überzeugen, dass die Philosophie, deren Ziel das εὖ ζῆν ist, auch mit dem Kaiserhof vereinbar sei: […] ὅπου ζῆν ἐστιν, ἐκεῖ καὶ εὖ ζῆν· ἐν αὐλῇ δὲ ζῆν ἐστιν· ἔστιν ἄρα καὶ εὖ ζῆν ἐν αὐλῇ.129 Hierbei handelte es sich um einen zentralen Gedanken, denn schließlich ist dies eines der wenigen Argumente, das von formallogischen Prinzipien Gebrauch macht und nicht nur gnomisch reproduziert wird. Marc Aurel ist es schließlich auch über die sich für Philosophen am Hof eröffnenden Karrierechancen gelungen, das höfische Leben den Erwartungen der Aristokratie anzupassen. Die hohe integrative Funktion, die die Philosophie am Hof besaß, bestätigen Cassius Dio und die Historia Augusta. Sie berichten von Leuten, die nur so taten, als betrieben sie Philosophie, […] ἵν᾿ ὑπ᾿ αὐτοῦ πλουτίζωνται.130 Auch Herodian bestätigt, dass die Zahl der Gelehrten, die sich den Vorlieben des Kaisers anzupassen pflegten, während der Regierungszeit Marc Aurels beträchtlich angestiegen sei.131 Die Bildniskunst ist ebenfalls ein Indikator für das hier beschriebene Phänomen, denn die zahlreichen Privatporträts, die sich das Kaiserporträt zum Vorbild
127 M. Aur. ad se ipsum 6,12: „Wenn du gleichzeitig eine Stiefmutter und eine Mutter hättest, dann würdest du jener zwar mit Achtung begegnen, aber trotzdem würde dein Weg immer wieder zu deiner Mutter zurückführen. Das ist für dich jetzt einerseits der Kaiserhof, andererseits die Philosophie. Deshalb kehre möglichst oft zu dieser zurück und schöpfe neue Kraft aus ihr, wodurch dir die Dinge dort erträglich erscheinen und du dort erträglich bist.“ 128 Auch hier wird der Einfluss der oikeiosis-Lehre auf die Philosophie Marc Aurels erkennbar. 129 M. Aur. ad se ipsum 5,16,2: „Wo es möglich ist zu leben, da kann man auch gut leben. Am Kaiserhof kann man leben. Also kann man am Kaiserhof auch gut leben.“ 130 Cass. Dio 72 (71),35,2: „[…] um auf diese Weise durch den Kaiser reiche Leute zu werden.“ 131 Herodian. 1,2,3.
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VI. Marc Aurel und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Zweiten Sophistik
nahmen, zeigen, wie groß die Bemühungen waren, sich den nach außen demonstrierten Eigenschaften der Kaiser anzupassen.132 Durch die Verbindung der Philosophie mit dem höfischen Leben versuchte Marc Aurel nicht nur, den Hof den konkreten Erwartungen der Aristokratie anzupassen, sondern ihn in ein allgemein anerkanntes Weltbild zu integrieren. Dies lässt sich am Beispiel des stoischen Begriffes der Kosmopolis nachweisen, der ein zentraler Bestandteil der Selbstbetrachtungen ist und ein ideales politisches Gemeinwesen repräsentiert. Diskrepanzen zwischen Philosophie und Politik, zwischen der Rolle des Philosophen und der Rolle des Kaisers gibt es hier nicht: Εἰ τὸ νοερὸν ἡμῖν κοινόν, καὶ ὁ λόγος, καθ’ ὃν λογικοί ἐσμεν, κοινός· εἰ τοῦτο, καὶ ὁ προστακτικὸς τῶν ποιητέων ἢ μὴ λόγος κοινός· εἰ τοῦτο, καὶ ὁ νόμος κοινός· εἰ τοῦτο, πολῖταί ἐσμεν· εἰ τοῦτο, πολιτεύματός τινος μετέχομεν· εἰ τοῦτο, ὁ κόσμος ὡσανεὶ πόλις ἐστί.133
An einer anderen Stelle heißt es, dass in diesem Gemeinwesen, in dem Philosophie und Politik identisch sind, keiner dem anderen „fremd“ sei.134 Auch am Beispiel der 132 Vgl. Paul Zanker, Herrscherbild und Zeitgesicht, in: WZBERLIN 31.2.3, 1982, 307–312, 308 ff. 133 M. Aur. ad se ipsum 4,4,1: „Wenn uns das Denkvermögen gemeinsam ist, dann ist uns auch die Vernunft, durch die wir vernünftig sind, gemeinsam. Wenn dies zutrifft, dann ist auch die Vernunft, die bestimmt, was zu tun ist oder nicht, uns allen gemeinsam. Trifft dies zu, so ist auch das Gesetz uns allen gemeinsam. Wenn dies richtig ist, dann sind wir alle Bürger. In diesem Fall haben wir teil an einer Art von politischem Gemeinwesen. Wenn dies zutrifft, dann ist der Kosmos gewissermaßen ein Stadtstaat.“ – Eine Trennung zwischen Kosmos und Stadtstaat war im stoischen Naturbegriff nicht vorgesehen. Der Naturrechtsbegriff kennt keine Unterscheidung zwischen positivem Recht und Naturrecht, zwischen Sein und Sollen. Vgl. dazu die folgenden stoischen Definitionen des Rechts: […] lex est ratio summa, insita in natura, quae iubet ea, quae facienda sunt, prohibetque contraria. (Cic. de leg. 1,18; SVF 3,315) Dieser Zusammenhang wurde auch von den Begründern der Stoa festgestellt: Zeno naturalem legem divinam esse censet eamque vim obtinere recta imperantem prohibentemque contraria. – Das Naturgesetz ist ein göttliches Gesetz und besitzt als solches die Macht, zu regeln, was Recht ist und Unrecht. (SVF I, 162) Und Chrysipp: καὶ … ιαν ὀν(ομάζεσ)θαι τὸν Δία καὶ τὴν κοινὴν πάντων φύσιν καὶ εἱμαρμ(έ)νην καὶ ἀνά(γ)κην. καὶ τὴν αὐτὴν εἶναι καὶ εὐνομίαν καὶ δίκην (κ)αὶ ὁμόνοιαν κα(ὶ ε)ἰρήνην καὶ τὸ παρ(α)πλήσιον πᾶν. – „Ein und dasselbe nennen wir Zeus, die gemeinsame Natur von allem, Schicksal, Notwendigkeit; und das ist auch die Gerechtigkeit und das Recht, die Einheit und der Friede.“ (SVF II, 1076); beide Übersetzungen von Hirschberger, Geschichte der Philosophie, 263. Vgl. dazu auch R. Brandt, Naturrecht, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 6, 1984, 560–571, 563 f.; Graeser, Stoa, 134; Hirschberger, Geschichte der Philosophie, 264 f.; über den Zusammenhang zwischen Recht und Moral vgl. Józefowicz, Les idées politiques, 252: „Le droit naturel est en pratique l`ensemble des règles fixant le caractère général d`une vie bien comprise et d`un conduite juste.“ Schließlich bestätigen auch die anthropologischen Aussagen der Selbstbetrachtungen, dass die Rolle des Philosophen und die Rolle des Kaisers gleichwertig waren: ἔστι δὲ τὸ λογικὸν εὐθὺς καὶ πολιτικόν. – „Das vernunftbegabte ist zugleich aber auch ein politisches Lebewesen.“ (M. Aur. ad se ipsum 10,2,3) Auch Rolf Rilinger, Seneca und Nero. Konzepte zur Legitimation kaiserlicher Herrschaft, in: Klio 78.1, 1996, 130–157, 140 hebt hervor, dass die Legitimation des Königtums ein in der Stoa angelegter Gedanke war: „Das Universum wird für den Stoiker wie ein Königreich von einem Gottkönig beherrscht gedacht; das römische Kaiserreich spiegelte somit die Ordnung der Natur wider.“ 134 Vgl. M. Aur. ad se ipsum 7,9.
5. Die Nachwelt und die Idealisierung eines Herrschers
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Oikeiosislehre ließ sich bereits die Aufhebung von Fremdheit als ein zentrales Anliegen Marc Aurels beobachten, das sich nicht nur innerhalb der kosmologischen Vorstellungen, sondern auch in seinem Handeln Ausdruck verschaffte. So kann auch die Verbindung der Philosophie mit dem Kaiserhof als ein Versuch verstanden werden, den Hof nach dem Vorbild der Kosmopolis zu einem Ort zu entwickeln, der nicht mehr als fremd, sondern als ein Symbol des von Herrschern und Beherrschten gemeinsam angenommenen Weltbildes wahrgenommen werden konnte.135 Die Kommunikation zwischen dem Kaiser und den gebildeten Oberschichten, die sich am Hof institutionalisierte, war sicherlich eine wesentliche Voraussetzung dafür, um aus Fremdheit Akzeptanz und Vertrauen herstellen zu können. Obwohl Marc Aurel wusste, dass sich das Ideal der Kosmopolis nicht vollkommen verwirklichen ließ, blieb es als regulative Idee für sein Handeln maßgebend: μὴ τὴν Πλάτωνος πολιτείαν ἔλπιζε, ἀλλὰ ἀρκοῦ, εἰ τὸ βραχύτατον πρόεισι, καὶ τούτου αὐτοῦ τὴν ἔκβασιν, ὡς μικρόν τί ἐστι, διανοοῦ.136 5. DIE NACHWELT UND DIE IDEALISIERUNG EINES HERRSCHERS Die Erinnerungen an Marc Aurel lassen keinen Zweifel daran, dass es ihm auch über seine eigene Zeit hinaus gelungen ist, als Herrscher und Philosoph Akzeptanz zu gewinnen. denique, priusquam funus conderetur, ut plerique dicunt, quod numquam antea factum fuerat neque postea, senatus populusque non divisis locis sed in una sede propitium deum dixit.137 Ohne Ausnahme seien ihm von jedem Rang, von jedem Geschlecht und jeder Altersklasse göttliche Ehren zuteil geworden.138 Auch Herodian berichtet von dieser Einmütigkeit: τελευτήσαντος δὲ Μάρκου, ἐπειδὴ διεφοίτησεν ἡ φήμη, πᾶν τε τὸ παρὸν στρατιωτικὸν καὶ τὸ δημῶδες πλῆθος ὁμοίως πένθει κατείχετο, οὐδέ τις ἦν ανθρώπων τῶν ὑπὸ τὴν Ῥωμαίων ἀρχὴν ὃς ἀδακρυτὶ τοιαύτην ἀγγελίαν ἐδέχετο. πάντες δ᾿ ὥσπερ ἐκ μιᾶς φωνῆς, οἳ μὲν πατέρα χρηστόν, οἳ δ᾿ ἀγαθὸν βασιλέα, γενναῖον δὲ ἕτεροι στρατηγόν, οἳ δὲ σώφρονα καὶ κόσμιον ἄρχοντα ἀνεκάλουν, καὶ οὐδεὶς ἐψεύδετο.139 135 Dies gilt auch für ihn selbst: Μηκέτι σου μηδείς ἀκούσῃ καταμεμφομένου τὸν ἐν αὐλῇ βίον μηδὲ σὺ σεαυτοῦ. – „Niemand soll dich mehr das Hofleben tadeln hören, auch du dich selbst nicht.“ (M. Aur. ad se ipsum 8,9) 136 M. Aur. ad se ipsum 9,29,5: „Hoffe nicht auf Platons ‚Staat‘, sondern gib dich damit zufrieden, wenn auch nur in den geringsten Kleinigkeiten etwas vorankommt, und betrachte dieses Resultat nicht als unwesentlich.“ (Hervorhebung CH) 137 Hist. Aug. Marc. 18,3: „So haben ihn nach dem Bericht vieler noch vor der Beisetzung Senat und Volk, was nie zuvor und nie wieder geschehen ist, nicht in getrennten Versammlungen, sondern in gemeinsamer Aktion zu ihrem Schutzgott erklärt.“ 138 Hist. Aug. Marc. 18,5 f. 139 Herodian. 1,4,8: „Als Marc Aurel gestorben war und sich die Kunde davon verbreitete, wurden das gesamte Militär, das bei ihm war, und das einfache Volk gleichermaßen von Trauer ergriffen, und es gab keinen Menschen im Herrschaftsbereich der Römer, der diese Nachricht ohne Tränen aufgenommen hätte. Alle aber priesen ihn mit einer Stimme, teils als einen lieben Vater, teils als guten Kaiser, andere als mustergültigen Heerführer, wieder andere als einen zurückhaltenden und edlen Regenten – und alle meinten es ganz ehrlich.“
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VI. Marc Aurel und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Zweiten Sophistik
Am Eingang zu seiner „Geschichte des Kaisertums“ erhebt sich, so die treffende Darstellung von Thomas Hidber, eindrucksvoll die Figur des Marc Aurel. Rasch werde dem Leser die „besonders hervorgehobene Stellung“, die Marc Aurel zukommt, klar.140 Die positive Darstellung des Kaisers war jedoch nicht nur ein bloßer Vorspann. Er wurde dem Geschichtswerk als Ideal vorangestellt, an dem noch die späteren Kaiser beurteilt werden sollten. Nach der Auffassung von Hidber habe die Besonderheit Marc Aurels darin bestanden, dass sich sämtliche von einem Kaiser erwarteten Tugenden in Marc Aurel inkarniert hätten und er ein gleichsam überzeitliches und absolutes Herrscherideal begründet hätte. Meines Erachtens war das Ideal, zu dem Marc Aurel sich entwickelte, mehr als nur die Summe seiner Tugenden. Wie der Bericht Herodians zeigt, waren es die innerhalb der Zweiten Sophistik entwickelten Herrschaftsprinzipien, die Marc Aurel erfolgreich realisierte und die seine spätere Idealisierung bewirkten. Wie unmittelbar Marc Aurel an die Herrschaftstheorie der Zweiten Sophistik anknüpfte, wird letztlich auch durch die von Herodian referierte Totenbettrede des Kaisers bestätigt.141 Im Zentrum der Darstellung steht die Frage nach den Bedingungen politischer Stabilität, die durch Kriege und Unruhen in den Provinzen, durch Erdbeben und Seuchen, vor allem aber durch die labilen Machtstrukturen im Innern ständig bedroht blieb. Die Rede, die sich an die Commodus zur Seite gestellten Ratgeber richtete, ist das politische Vermächtnis Marc Aurels. Die wichtigsten Herrschaftsprinzipien der Zweiten Sophistik werden in der Rede noch einmal zusammengefasst und als Richtschnur an die folgenden Kaiser weitergegeben. Auch in dieser Rede dient die Figur des Tyrannen als Folie, von der sich das Bild des ‚idealen‘ Herrschers umso deutlicher abheben kann.142 Wie Herodian berichtet, erinnerte Marc Aurel der Reihe nach an die Tyrannen der Geschichte. Doch mehr noch als die Tyrannen der griechischen Geschichte beunruhigten ihn die Beispiele der jüngeren Zeit. Er dachte an die Gewaltherrschaften Neros und Domitians. Dabei zeigt sich, dass es nicht nur normative, sondern letztlich auch wieder machtpolitische Gründe waren, die in der Geschichte dazu führten, einer anderen Herrschaftsform als der Tyrannis den Vorzug zu geben. Gewalt und politischer Zwang seien schon immer ein Nährboden für Rebellionen gewesen, mahnt Marc Aurel am Ende seines Lebens vom Totenbett aus. Deshalb könnten nur diejenigen Herrscher, deren Bürger frei von Argwohn seien, mit langen und gefahrlosen Regierungszeiten rechnen. Ein hinreichender Schutz für eine stabile Herrschaft sei allein die Akzeptanz der Menschen, während große 140 Thomas Hidber, Herodians Darstellung der Kaisergeschichte nach Marc Aurel, Basel 2006, 195, 188 ff. 141 Hidber gelangt zu dem Ergebnis, dass Xenophons Kyrupaedie und das Bellum Iugurthinum des Sallust die literarische Vorlage und die Tradition der von Herodian verfassten Rede des Marc Aurel bildete. In diesen Totenbettreden versucht ebenfalls ein sterbender König die Anwesenden auf ihre Zukunft, die er ihnen überlässt, vorzubereiten. Vgl. Hidber, Herodian, 196 ff. Zur Frage nach der Authentizität der Rede vgl. S.190, Anm. 4. 142 Wie sich weitere Schriftsteller der Spätantike an Marc Aurel als basileus erinnerten, wird von Stephen A. Stertz in einem kurzen Überblick zusammengefasst: Stephen A. Stertz, Marcus Aurelius as Ideal Emperor in Late-Antique Greek Thought, in: CW 70.7, 1977, 433–439, 436.
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Leibwachen Zeichen tyrannischer Machthaber seien, die sich vor ihren Untertanen verschanzen müssten: οὔτε γὰρ χρημάτων πλῆθος οὐδὲν αὔταρκες πρὸς τυραννίδος ἀκρασίαν, οὔτε δορυφόρων φρουρὰ ἱκανὴ ῥύεσθαι τὸν ἄρχοντα, εἰ μὴ προσυπάρχοι ἡ τῶν ὑπηκόων εὔνοια. μάλιστα δὲ ἐκεῖνοι ἐς ἀρχῆς μῆκος ἀκινδύνως ἤλασαν, ὅσοι μὴ φόβον ἐξ ὠμότητος, πόθον δὲ τῆς αὑτῶν χρηστότητος ταῖς τῶν ἀρχομένων ψυχαῖς ἐνέσταξαν. οὐ γὰρ οἱ ἐξ ἀνάγκης δουλεύοντες, ἀλλ᾿ οἱ μετὰ πειθοῦς ὑπακούοντες ἀνύποπτα καὶ ἔξω κολακείας προσποιήτου δρῶντές τε καὶ πάσχοντες διατελοῦσι καὶ οὐδέ ποτε ἀφηνιάζουσιν, ἢν μὴ βίᾳ καὶ ὕβρει ἐπὶ τοῦτο ἀχθῶσι.143
Ebenso wie im ersten Buch der „Selbstbetrachtungen“ wird auch in dieser Rede das Prinzip der Reziprozität – das gegenseitige Wohlwollen – der Darstellung seiner Herrschaftstheorie als grundlegendes Prinzip vorangestellt.144 Nur solche Herrschaftstrukturen, die sich nicht in dem Einsatz von Gewalt, sondern in Ehrungen und Förderungen manifestieren, könnten mit entsprechender Akzeptanz rechnen.145 Nach den Worten Herodians ist es Marc Aurel gelungen, dem Bild des „guten“ Herrschers, der sich durch Zugänglichkeit auszeichnet, zu entsprechen, da er Bittsteller immer zu sich kommen ließ und der Leibwache verboten habe, diejenigen zu verjagen, die zu ihm wollten.146 Der institutionelle Rahmen, in dem sich die auf Reziprozität beruhenden Herrschaftsstrukturen realisieren, ist auch bei Herodian das den Kaiser umgebende Ratgebergremium. Dies wird schließlich anhand der äußeren Form der Rede erkennbar, die sich nicht an Commodus, sondern an seine Ratgeber richtete. Die Existenz eines solchen Gremiums gilt nicht nur als Kennzeichen einer ‚guten‘ Regierung, sie wird auch zum Maßstab für die Beurteilung der folgenden Kaiser.147 Commodus, Caracalla, Elagabal und Maximinus, die sich über den Rat dieses Gremiums hinwegsetzten oder es sogar beseitigten, werden nicht zuletzt deshalb mit dem Typus des Tyrannen identifiziert. Commodus verdrängte bereits nach kurzer Zeit die Berater, die Marc Aurel ihm zur Seite gestellt hatte.148 Einen Teil von ihnen ließ er ermorden.149 Andere, die ihn an die Paideia, die Ideale seines Vaters erinnerten, ließ 143 Herodian. 1,4,4–5: „Denn weder ist eine Menge Geld gegen tyrannische Willkür ein genügender Schutz, noch kann eine Leibwache den Herrscher hinreichend schützen, wenn nicht die Zuneigung seiner Untertanen hinzukommt. Vor allem aber verlebten diejenigen Herrscher gefahrlos eine lange Regierungszeit, die in die Herzen ihrer Untertanen keine Furcht wegen Grausamkeit, sondern Liebe aufgrund ihrer Tüchtigkeit einpflanzten. Denn nicht die durch Zwang geknechteten, sondern die aus Überzeugung willigen Bürger sind in ihrem Tun und Leiden auf Dauer frei von verdächtigem Argwohn und von geheuchelter Schmeichelei; und sie lehnen sich nicht rebellisch auf, wenn sie nicht durch frevelhafte Gewaltherrschaft dazu gedrängt werden.“ 144 Herodian. 1,4,2–3. 145 Herodian. 2–3. 146 Herodian. 1,2,4. 147 Barbara Kuhn-Chen, Geschichtskonzeptionen griechischer Historiker im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. Untersuchungen zu den Werken von Appian, Cassius Dio und Herodian, Frankfurt am Main 2002; Paul M. M. Leunissen, Herrscher und senatorische Elite. Regierungsstil und Beförderungspraxis im Zeitraum von 180–235 n. Chr., in: SIFC 10, 1992, 946–954. 148 Herodian. 1,8,1–3. 149 Herodian. 1,8,8.
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VI. Marc Aurel und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Zweiten Sophistik
er als Verräter vom Hof verbannen und durch Possenreißer und Komödianten ersetzen.150 Auch Caracalla ließ seinen eigenen Erzieher umbringen.151 Elagabal hörte außer auf seine Schmeichler auf niemanden.152 Maximinus, der ebenfalls mit Gewalt gegen Senatoren vorging, ließ sich allenfalls von Denunzianten beraten.153 Auch wenn viele Kaiser, wie Pertinax, Septimius Severus und Macrinus, versprachen, dem Ideal Marc Aurels nachzueifern, war Alexander Severus der Einzige, der dies wirklich vermochte. Er holte wieder die durch Alter und Bildung herausragenden Personen als Ratgeber an seinen Hof. Seitdem habe er nichts unternommen, was er nicht zuvor mit ihnen besprochen hatte.154 An dieser Stelle verdient ein semantischer Befund besondere Beachtung. Verschiedene Kaiser, die sich von dem Typus des Tyrannen distanzierten und sich Marc Aurel sowie die von ihm praktizierten reziproken Herrschaftsformen zum Vorbild nahmen, bezeichneten ihr politisches System als eine Aristokratie. Dieser Befund ist ein Indiz dafür, dass es ihm in besonders hohem Maße gelungen ist, die Erwartungen der Aristokratie zu reproduzieren. Wie bereits gezeigt werden konnte, hat sich der Hof Marc Aurels aufgrund der dort praktizierten Philosophie zu einem wichtigen Medium aristokratischer Integration entwickelt. Durch die Intensivierung der Kommunikation mit den intellektuellen Eliten, die nicht auf den kaiserlichen Hof begrenzt war, konnte Vertrauen generiert werden, das sowohl identitätsstiftende als auch herrschaftsstabilisierende Funktionen übernahm. Die Philosophie darf als ein Medium seiner Herrschaftspraxis betrachtet werden, insofern es Marc Aurel aufgrund seiner Weisheit, Milde und Bildung gelungen ist, ein Vorbild für die Philosophen seiner Zeit zu werden, wie Aurelius Victor bemerkt.155 Das politische System Marc Aurels wurde somit zu einem Symbol für die Herrschaft der gebildeten Oberschichten. Bestätigung findet dieses Bild durch den bekannten Satz Platons, dass entweder die Philosophen Könige oder die Könige Philosophen sein sollen, mit dem man sich an Marc Aurel erinnerte. 156
150 151 152 153 154 155 156
Herodian.1,13,8. Herodian. 3,15,4. Herodian. 5,5,6. Herodian. 7,3,1–3. Herodian. 6,1–2. Aurelius Victor, 16,9 f. Plat. polit. 473c-d. Vgl. auch Hist. Aug. Marc. 27,7.
VII. SCHLUSS – MACHT UND VERTRAUEN Der Auffassung des Oxforder Gräzisten Eric-R. Dodds, der das zweite Jahrhundert als „Zeitalter der Angst“ beschrieben hat, konnte im Verlauf dieser Arbeit nur bedingt zugestimmt werden. Obwohl das Empfinden, in einer „fremden“ Welt zu leben, welches Herrscher und Beherrschte gleichermaßen überkommen konnte, durch die zu Beginn untersuchten philosophischen und medizinischen Diskurse bestätigt wurde, waren gleichzeitig über dieses Empfinden hinausgehende Strategien zu beobachten, die die Herstellung von Vertrauen möglich machen sollten. Dies wurde insbesondere anhand der Ausführungen zur Oikeiosislehre erkennbar. Parallel zu den medizinischen Diskursen, die der Medizin die Aufgabe zuwiesen, den kranken Körper zu heilen, wurde innerhalb der philosophischen Diskurse der Philosophie die Funktion beigemessen, den Menschen auf die Herausforderungen seiner Umwelt vorzubereiten. Für die Aristokratie bedeutete dies, dass die Philosophie ihr Wege eröffnete, die ein durch den politischen Machtverlust zunächst verunsichertes gesellschaftliches Leben im Kaiserreich wieder praktikabel machten. Insofern die Philosophie durch den Erfolg der Zweiten Sophistik ein zentrales Medium der gesellschaftlichen Distinktion geworden war, bot sie der Aristokratie eine Möglichkeit, auf die bestehenden Machtstrukturen einzuwirken und sich in ihnen wieder einen Platz zu verschaffen. Doch auch für den Kaiser hat die Philosophie entscheidende herrschaftspolitische Funktionen übernommen. Für Marc Aurel war sie letztlich ein geeignetes Instrument, um das aus den labilen Machtstrukturen resultierende potentielle Akzeptanzdefizit seitens der Aristokratie überwinden zu können. Anhand dieser handlungspraktischen Implikationen der Philosophie war erkennbar, dass die kaiserzeitliche Stoa nicht mehr ausschließlich die Funktion einer Rückzugsphilosophie übernommen hat. Nicht der Bau einer citadelle intérieur, in die der Mensch sich zurückziehen solle, war das Ziel der Philosophie. Stattdessen sollte sie dem Menschen zeigen, wie er sein Leben mit äußeren Umständen arrangieren kann, die seinen Interessen zunächst zu widersprechen scheinen. Ein Rückzug aus der Politik wurde von den Stoikern nicht per se, sondern nur dann unterstützt, wenn die politische Tätigkeit mit Gefahren verbunden war. In einem solchen Fall rieten die Stoiker dazu, die Politik als ein adiaphoron, als eine „gleichgültige“ Sache, zu bezeichnen, damit der Mensch nicht allzu sehr unter seiner Exklusion zu leiden habe. Schließlich konnte auch den literarisch nur schwer zu bestimmenden Selbstbetrachtungen durch die Zuordnung zur Oikeiosis-Lehre innerhalb der Philosophiegeschichte ein eindeutigeres Profil verliehen werden. Deutlich wurde, dass die Selbstbetrachtungen in den Bereich der Lebenskunst gehören, da ihr vornehmliches Prinzip nicht mehr darin besteht, Behauptungen argumentativ zu rechtfertigen (λόγον διδόναι), sondern Lehrsätze in Handlungen umzusetzen.
204
VII. Schluss – Macht und Vertrauen
Eine strukturelle Ursache für das Gefühl der Entfremdung waren die auf Konkurrenz und Rivalität beruhenden Beziehungen zwischen Kaiser und Aristokratie. Ob es der Philosophie bzw. der Paideia gelang, dieser Entfremdung entgegenzuwirken, und welche sozialen und politischen Funktionen sie in diesem Zusammenhang übernommen hat, wurde im IV. Kapitel anhand von Aufstiegschancen innerhalb der gesellschaftlichen Rangordnung und der höfischen Hierarchie untersucht. Festzustellen war, dass die Paideia, die sich im zweiten Jahrhundert zu einem gesellschaftlich anerkannten Wert entwickelt hat, zwar ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium aristokratischer Zugehörigkeit war, da ein erfolgreicher Aufstieg letztlich doch von dem Nachweis einer traditionellen Ämterlaufbahn und materiellem Wohlstand abhängig blieb. Es ist hier also keine Aufhebung, sondern eher eine Überlagerung der alten republikanischen Strukturen zu beobachten, die sich gegenüber den neuen Werten der Paideia immer wieder Geltung verschafften. Am Kaiserhof hat die Philosophie für das spannungsreiche Verhältnis zwischen Kaiser und Aristokratie hingegen eine mediatisierende Funktion übernommen. Wie anhand prosopographischer Untersuchungen gezeigt werden konnte, gelang es vor allem Philosophen mit einem vergleichsweise hohen gesellschaftlichen Status, am Hof zu reüssieren, Marc Aurel beratend zur Seite zu stehen und insofern über beträchtliche Macht- und Einflusschancen zu verfügen. Marc Aurel setzte sich mit dieser Beförderungspraxis über bisherige machtstrategische Mechanismen hinweg, indem er nicht nur Personen mit einem geringen sozialen Status, die keine Gefahr für den Kaiser darstellten, sondern auch Aristokraten den Zugang zu seiner engsten Umgebung erlaubte. Doch nicht nur am Hof Marc Aurels wurden die mediatisierenden Funktionen der Paideia sichtbar, sondern auch anhand des hybriden Kommunikationsraumes, der durch die Zweite Sophistik konstituiert wurde. Dieser Raum bot nicht nur den stadtrömischen, sondern auch den gebildeten städtischen Eliten des Imperium die Möglichkeit, Macht- und Einflusschancen zu gewinnen.1 Durch die vielfältigen Interaktionsprozesse wurde die Differenz zwischen griechischer Kultur und römischer Politik in der historischen Realität des zweiten Jahrhunderts allmählich obsolet. Zu den kulturellen Zentren gehörten nicht mehr nur die Städte Griechenlands und Kleinasiens, sondern auch die Stadt Rom, die über einen Rhetoriklehrstuhl verfügte, der mittlerweile die höchste Stufe einer sophistischen Karriere darstellte. Schließlich war auch Marc Aurel ein Beispiel für die Aufhebung der Differenzen zwischen Macht und Kultur, indem er die Rolle des römischen Kaisers und die des griechisch schreibenden Philosophen untrennbar in seiner Person zusammenführte. Die Zweite Sophistik wurde weder als ein Herrschaftsinstrument der Römer noch als ein Medium griechischer Emanzipationsbestrebungen interpretiert. Stattdessen stellte sie sich als ein hybrider, in der jüngeren Forschung auch als contactzone beschriebener Raum dar, in dem sowohl kulturelle Werte als auch Macht- und Einflusschancen verhandelt werden konnten. 1
Auch hier wurden Anknüpfungspunkte der modernen Kulturwissenschaft an Mommsen gesehen, der zu der Auffassung gelangte, dass der Prinzipat „einen hybriden zwischen Republik und Monarchie die Mitte haltenden Charakter“ hatte. StR II/2, 796.
VII. Schluss – Macht und Vertrauen
205
Als ein zentrales Medium dieser Aushandlungsprozesse erwiesen sich die in Kapitel V untersuchten sophistischen Reden, deren Vorbild die peri basileias-Reden aus der Zeit des klassischen Athen waren. Mit diesen Reden konfrontierten die gebildeten Eliten die Kaiser mit ihren Erwartungen an einen optimus princeps. Die Konsequenz, mit der sie dies taten, führte zur Ausbildung eines herrschaftspolitischen Diskurses, der den Kaisern unmissverständlich deutlich machte, dass nur solche Herrschaftsstrukturen zu akzeptieren seien, in denen auch die Interessen der gebildeten Oberschichten Berücksichtigung fänden. Diese von den Sophisten propagierten reziproken Machtstrukturen erhielten ihren deutlichsten Ausdruck in dem Bild des Philosophenherrschers. Die von einem Kaiser erwartete Integrationsbereitschaft konnte sich beispielweise darin äußern, dass er Philosophen als Berater am Hof zuließ, wodurch diese nicht nur die Möglichkeit erhielten, auf die Entscheidungen des Kaisers einzuwirken, sondern auch mit wichtigen Funktionen ausgestattet zu werden. Auch für Marc Aurel, der sich in seinen Selbstbetrachtungen explizit von der imago des tyrannischen Herrschers distanziert, wurde das Bild der Philosophenherrschaft eine entscheidende Grundlage seiner Akzeptanz. Durch die Integration der Philosophie in das höfische Leben gelang es ihm, auf die Erwartungen der Sophisten zu reagieren und den Kaiserhof als ein Symbol des sophistischen Herrschaftsideals zu repräsentieren. Die kulturwissenschaftliche Perspektive lenkte den Blick auf weitere Institutionen, durch die Marc Aurel im Medium der von ihm in besonderer Weise geförderten Paideia eine Aufhebung der machtpolitisch begründeten Distanz zwischen Kaiser und Aristokratie bewirkte. Es waren insbesondere die kulturpolitischen Tätigkeiten Marc Aurels in Athen, die mit dem Ziel verbunden waren, die Bildung einer kulturellen Elite zu unterstützen. Die Einrichtung von Lehrstühlen und eines Ratgebergremiums, das für die Auswahl der Lehrstuhlinhaber verantwortlich war, sowie die Einführung von Konkurrenzprüfungen2, waren konstitutive Bestandteile dieser Politik. Ein weiteres Beispiel war das Panhellenion. Auch mit Hilfe dieser Institution versuchte Marc Aurel, die Kommunikation mit der Aristokratie zu intensivieren, indem er die Zugangschancen zum Panhellenion in ihrer Exklusivität stärkte. All dies kann als eine weitere machtstrategische Überlegung verstanden werden, als ein Versuch Marc Aurels, die Akzeptanz seiner Herrschaft zu steigern, indem er den Interessen der Aristokratie wieder Respekt verschaffte. Möglicherweise wurde durch den gemeinsamen Bezug auf die Paideia aber auch dem Wunsch Ausdruck verliehen, einen Raum zu schaffen, in dem die für die Herstellung einer politischen Stabilität notwendige Generierung von Vertrauen möglich werden sollte.
2
Eunap. Prob. 487. Sie sind den heutigen italienischen concorsi bzw. den französischen concours vergleichbar.
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IX. REGISTER 1. SACH- UND ORTSREGISTER Actium 31 A. 62 Ägypten 164, 185 Africa 129, 111, 127 A. 80, 130 A. 103 adhortatio 99, 100 adiaphoron 73 m. A. 106, 75, 78-80, 92, 203 Agon 141, 176 Akademie 141 Alexandreia Troas 145, 175 Alexandria 62 A. 59, 161 A. 110, 164, 188 Alleinherrschaft 27, 29, 31-33, 147 A. 42, 155, 164 m. A. 125 Altruismus 58f., 65, 69, 72f. amicus 121, 125 A. 77, 126 A. 77, 129 A. 87, 173 Andere 48, 57 A. 33, 95-97 Aneignung 56-58, 72f., 92, 102, 105f., 109 Angst (Furcht) 29, 53, 73 A. 105, 88, 93f., 108 A. 262, 143, 149 m. A. 52, 152, 154 m. A. 73, 161f., 169f., 177, 181, 183 m. A. 52, 186f., 191 A. 92, 193, 201 A. 143, 203 Antiochia 188 Apotheose 187 archein kai archesthai 158 Areopag 176, 179f. Argos 140 ars vitae 16 A. 21 Arzt 50f., 55 m. A. 26, 111, 121f. Asia 26 A. 40, 134 Askese 113, 192 A. 99 Asklepios, -kult 51f., 54 m. A. 23 – Asklepieion 145 Athen 49, 80f., 140f., 143, 145f., 159, 170, 172f., 175-179, 181f., 193f., 205 Attizismus 114f., 118, 146 auctoritas 23, 29, 80, 118, 134 Babylon 130 A. 98, 144 basileia 170 basileus 191, 200 A. 142 Bildung (siehe auch Paideia), Ausbildung 15, 34 m. A. 72, 55, 110f., 113-115, 117-124, 127, 129f., 132-138, 177 A. 30, 189 A. 81, 202, 205 – Bildungs-, Philosophenbüste 112f.
– Bildungsideal 114 – Bildungsinstitutionen 194 – Bildungsritual 118 – Bildungsstätten 193 A. 104 – Bildungsthemen 115, 120 Bithynien 156 A. 84, 157, 185 Boulé 141, 176, 179 Caesar 12, 187, 191 Chaironeia 81 Chios 156f. Christentum 16 A. 18, 53, 105 A. 248 civilitas 28, 33 clementia 28, 149 A. 51, 186f. consilium 173 Cos 51 decennalia 32 Deklamation 142 A. 19 Delphi 145 Demokratie, demokratisch 19 A. 6, 32 A. 62, 142f., 146f., 150, 161 m. A. 108 u.110, 164-168, 170, 172f., 179f., 182, 189 – Demokratiediskurs 142-149 – Demokratiereden 33 A. 69, 142-149 Determinismus, deterministisch 60 m. A. 50, 61, 66 Diatribe 49, 99f., 102, 104 dignitas 12, 23 Distinktion 55, 109f., 113-116, 121, 123f., 203 domus aurea 144, 196 Dyarchie, dyarchisch 15 m. A. 17, 18-23, 26f. – Dyarchiebegriff 18, 20 A. 9, 27 – Dyarchiethese 12, 15, 20 A. 9 Egoismus 58f., 63, 65, 72 A. 100 u. 103 Ehre 23, 51, 53f., 80, 90, 92 A. 187, 109f., 119, 125, 127 m. A. 80, 135, 156 A. 84, 179 A. 40, 191, 199 – Ehrenname 187 – Ehrensäule 193 A. 104 – Ehrgefühl 144 – Ehrungen 54, 201 Eklektizismus 58, 106 A. 249, 113 m. A. 24 Eleusis 145 Entfremdung 16 A. 18, 63 A. 60, 204
1. Sach- und Ortsregister Ephesos 49, 144 Epideiktik 121, 163 A. 122 Epikur, epikureisch 63, 107, 193f. ab epistulis graecis 34 Erdbeben 13 A. 10, 112, 200 Erinnerung 88, 93, 106, 121, 139-141, 146, 199 – Erinnerungspraktiken (siehe auch Mnemotechnik) 108 Erziehung, erzieherisch 36f., 105 m. A. 246, 108, 127 A. 80, 132f., 162 A. 113, 163 A. 122, 189, 192, 194 A. 107 – Erzieher 133, 202 – Selbsterziehung 105 A. 246, 192 euergetisch 124 Eurymedon 147 A. 41 Exemplum 101, 188 Exklusion, Exklusionskriterium 35, 80, 119, 136, 203 Freigelassene 23 A. 24, 38, 134 m. A. 126, 136f., 177, 179, 181 Freiheit 32, 39 A. 97, 60f., 143, 145, 147f., 156 A. 81, 165, 169, 171f. – Entscheidungsfreiheit 148 – Redefreiheit (siehe auch parrhēsia) 171 A. 2 – Wahlfreiheit 66 Fremdheit, fremd 15f., 32, 47f., 55-58, 61-63, 72, 77, 80, 83, 91f., 95f., 98 A. 214, 101f., 104f., 118 A. 49, 147, 159, 163, 170, 198f., 203f. – Fremdherrschaft 145 Freundschaft 69f., 126 m. A. 77, 132, 134, 136, 145, 157, 177 A. 30, 191 A. 92 – Freundschaftsbeziehungen 97 – Gastfreundschaft 67 A. 81 Furcht (siehe Angst) Fürstenspiegel (siehe Reden, peri basileiasReden) Galatien 156f. Gastmahl (convivium) 116 m. A. 37, 119-121, 174 Gegenwart (als Erfahrungs- bzw. Erwartungshorizont) 88, 93f., 99, 139-142, 148 A. 50, 159, 170 Geometrieunterricht 127 A. 80 Gerechtigkeit 66 A. 75, 75, 83 A. 150, 151, 171 A. 2, 198 A. 133 Gerusia 193f. Gesandtschaft, Gesandte 46, 73 A. 107, 112 Gesetzgebung 36, 38f., 73 A. 107, 82 A. 143 – Gesetzlosigkeit 151 Gesinnungsethik 37 A. 87, 95 m. A. 200
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Gewalt 20 A. 9, 24, 28, 31 A. 62, 44 A. 118, 143, 148f., 151f., 162, 186-188, 193, 200f., 202 – Gewaltherrschaft 149, 152, 162, 187, 200, 201 A. 143 – Gewaltmonopol 19 A. 5 – Gewaltverzicht 186 Gleichheit 40, 143f., 171 A. 2 Glück 73, 75-77 – Glücksphilosophie 16 A. 21 Grammatik 118 – Grammatiklehrer 130 m. A. 103 Gran 11 gratiarum actiones 32 m. A. 65 Griechenland 46, 49, 121, 139f., 146 A. 38, 153, 175 A. 21, 204 Gunst 12, 17, 48, 110, 124, 128, 130-132, 134-137, 180f., 185 – Gunsthierarchie 134 – Günstlinge 130 Gute, das - 64f., 68 m. A. 85-87, 71 A. 100, 76-78, 108 Gymnasion 144 A. 26, 160 Handlungspostulat 61, 95, 97, 101 – handlungsfähig 84, 98, 145 Hausphilosophen 110, 121-124 Heiligtum (siehe auch Tempel) 52, 140 Hellenismus (Hellenism) 48, 52, 81f., 105 A. 248, 112, 147f., 176 Hofkritik 12, 195, 197 Homonoia 156 Hybrid, Hybridität 15, 23f., 42 m. A. 110, 45 m. A. 120, 49, 57 A. 33, 141, 153, 173 A. 9, 204 m. A. 1 Hypothetiker 119 A. 57 Identität 48f., 55, 64 A. 69, 68 A. 87, 71f., 80, 129, 140, 148f., 153 m. A. 70, 170, 180 A. 45, 202 – Identitätsthese 64 A. 69 Indifferenz 64 A. 69, 75f., 78-81, 92 Inklusion 35, 119, 136 Integration 11f., 17 A. 23, 37, 47, 54f., 57 A. 33, 62, 73, 79-82, 109, 112, 122, 125f., 128 A. 80, 140, 150, 156-158, 162f., 170f., 175, 190, 197f., 202, 205 Isthmus 145, 181 Kaiserkult 194 Kappadokien 49, 185f. Kleinasien 46, 49, 144, 161 A. 112, 190, 204 Königsreden (siehe Reden, peri basileiasReden) Körper, körperlich 51-56, 70, 77f., 85 A. 158, 92 A. 187, 113, 192 A. 100, 203
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IX. Register
Konsolationsliteratur 99 Kontemplation 58, 103, 106f. Konversion, Bekehrung 14 A. 14, 132f. Korinth 145 Kosmos, Kosmologie 39, 56, 58-60, 70f., 85 m. A. 160, 89-98, 101, 198f. – Kosmopolis 70 A. 93, 74, 81f., 198f. Krankheit, Kranksein 50-55, 75f., 78, 101, 134f., 203 Krieg 11, 13 A. 10, 16 A. 18, 23 A. 24, 40, 56 A. 28, 81 (stasis), 97, 101, 128 A. 83, 131, 139, 162 m. A. 54, 193, 200 Krise 16 A. 18, 81, 189 Kyniker 87 A. 167, 113, 122 Kyrrhos 185 Lebensform, -führung, -stil (bios) 11, 16f., 37, 50, 52, 76 A. 122, 80, 83-85, 95, 98f., 106 A. 249, 113, 116, 122 A. 67, 136, 156 A. 81, 174, 192f., 195-197, 203 – Lebenskunst 16 m. A. 21, 17 A. 22, 84, 85 A. 160, 98, 103, 106, 108, 113, 124 A. 73, 203 – lebenspraktisch 83, 85, 116 Lehrer (v. Marc Aurel) 50, 76, 104f., 111, 118 A. 49, 127-134, 145, 181f., 191f. lex de imperio Vespasiani 22 m. A. 23, 168 liberalitas 28 A. 50, 173 A. 9 Libertiner, liberti 36, 122, 134 Logik, formallogisch 12, 41-43, 68 A. 86, 84-86, 98f., 197 Logos 86 Makedonien, makedonisch 139, 145 Marathon 147 A. 41 Markomannen 11, 40, 186 Medizin, medizinisch 14f., 50-52, 54-56, 101, 112, 203 Megariker 118 Metöken 80 Milet 49, 144 Militär, militärisch 19 m. A. 5, 20 A. 9, 24-26, 148 A. 45, 173, 185f., 192, 199 A. 139 – Militärämter 22 – Militärmonarchie 19 A. 5 Mitschüler (Marc Aurels) 23, 127, 130f. Mnemotechnik 106 Moral, -lehre, moralphilosophisch 34-36, 70 A. 93, 72, 74, 79, 81-83, 108f., 142 A. 21, 152, 155 A. 76, 157, 162 A. 113, 187 A. 67, 198 A. 133 Muße 108 A. 262 Natur, natürlich 37 m. A. 88, 42f., 58-60, 62-70, 74, 76f., 87 A. 168, 90f., 95 A. 199, 97f., 100 A. 228, 101, 117, 129, 184
– göttliche Natur 60 – kosmische Natur 59, 66 A. 75 – Naturbegriff 60f., 64 m. A. 64, 70, 97 m. A. 211, 198 A. 133 – Naturgesetz 198 A. 133 – Naturrecht 40, 68 A. 85, 198 A. 133 – naturtheologisch 59 Neapel 51 Noristen 186 Norm, normativ 14, 22 A. 19, 26, 30, 35, 40, 63 A. 63, 64f., 67f., 70-73, 115, 118, 123, 163 A. 122, 169 A. 145, 170, 174, 182, 190, 200 – Normbegründung 87 A. 168 – Normfindung 87 A. 168 – Normverstoß 118 Nutzen, nützlich 52 A. 14, 56 A. 31 u. 32, 58 A. 40, 64 A. 69, 66, 67-72, 75-80, 86, 89-93, 96-98 Odeion 145 Olympia 145 Opposition, senatorische 37 A. 86, 171 m. A. 3, 184 optimus princeps 33, 205 Pädagogik, pädagogisch 35f., 74, 108 Paideia (siehe auch Bildung) 12, 14-17, 27, 33, 45, 49, 55, 83, 109 A. 1, 111-114, 120 A. 61, 124, 127, 138, 148, 150, 154, 158, 160, 163, 166, 170, 175, 181, 189-191, 194 m. A. 107, 201, 204f. Palatin 195 Panegyrik, Panegyrikos 31, 33 m. A. 67 u. 68, 158, 160, 163 Panhellenion, panhellenisch 140, 176, 179f., 182, 205 Pannonien 131 Paränese, paränetisch 99f. parrhēsia (siehe auch Redefreiheit) 109 A. 1 Parther 184f. pater patriae 27 A. 40 pater senatus 27 A. 40 Patronage, Maklerpatronage 111f., 135, 155 pepaideumenos 109 A. 1, 111, 113f., 121, 153, 190 Pergamon 52, 111, 145, 157 Peripatetiker, Peripatos, peripatetisch 58f., 63f., 68 A. 87, 110, 127 A. 80, 130, 135, 137, 172, 194 m. A. 109 Philanthropia 160 Philhellenen, philhellenisch 48f. Philosophenbart 41 Philosophenkaiser, -herrscher 12, 14, 36, 44, 150, 165, 170, 205
1. Sach- und Ortsregister Philosophenmantel 41, 113 Plataiai 147 A. 41 Platon, platonisch 16 A. 18, 58f., 63, 74, 81, 85 A. 160, 102 m. A. 240, 111, 113 A. 24, 127 A. 80, 129, 141, 146, 172, 193f., 199 A. 136, 202 plebs, plebs urbana 27, 31 A. 61 Polis, Polisbegriff 73f., 81f., 97 Popularphilosophie, popularphilosophisch 99, 116 A. 40 populus Romanus 26, 199 Praxis, lebenspraktisch 13, 38f., 61 A. 54, 74, 77, 83-85, 98, 103, 106f., 116, 119 Prestige 15, 23, 40 m. A. 102, 47, 51, 114-117, 123f., 136, 180 A. 45 princeps 12, 20f., 24-26, 28 A. 45 u. 50, 33, 147, 158, 161, 171 A. 2, 173 A. 9, 189 A. 81 – civilis princeps 12 – optimus princeps 33, 205 protreptisch 74, 192 Provinz Asia 26 A. 40, 134 Prusa 143, 144, 177 Psychagogik, psychagogisch 84, 99, 102, 192 Quaden 11, 186 Rang, -ordnung 12, 15-17, 23, 25 A. 35, 33f., 37, 54, 79, 109-111, 115-117, 119, 121, 125f., 128, 131, 134, 136-138, 172, 174, 176, 199, 204 – Rangstreit 15, 109f., 115f., 121 Ratgeber, -gremium 151f., 155 A. 76, 165, 200-202, 205 recusatio imperii 30-32, 174 Rede, Stegreifrede 30, 33 m. A. 68, 45 A. 121, 53f., 61 A. 54, 73 A. 107, 114 A. 27, 116-119, 121, 139, 141-143, 145-153, 158-161, 163f., 167, 170, 177f., 182, 200f., 205 – peri basileias-Rede 142f., 149 A. 51, 170, 205 – Totenbettrede 200 Reichtum 34, 75, 90, 92, 122-124, 136, 144, 155, 164f., 174, 176, 195f. Religion, religiös 16 A. 21, 58f., 64, 156 Republik, republikanisch 12, 17-19, 21-26, 28 m. A. 50, 45, 54, 109f., 118 A. 37, 130f., 168f., 171, 173, 175, 181 A. 48, 185, 204 m. A. 1 res publica 30 A. 59, 69 A. 92, 80, 169, 173 A. 9 Reziprozität, reziprok 26, 32, 46, 49, 147, 150, 152-154, 161-165, 168-170, 172f., 189, 201f., 205
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Rhamnous 145 Rhetorik, rhetorisch 15 A. 14, 52 A. 13, 118, 127 A. 80, 128 A. 81, 132f., 134, 145, 148, 162 A. 113, 176, 182 – Rhetoriklehrer 131f., 182 – Rhetoriklehrstuhl 49, 134, 193f., 205 rite de passage 192 Ritual 15, 27, 30, 32, 42, 44, 116 A. 41, 118 Rom 11, 24 A. 31, 28-30, 32, 46-49, 110f., 121f., 140, 146, 148 m. A. 45, 150, 153-162, 166, 175, 180f., 184-186, 189, 193f., 204 Rückzug, Rückzugsphilosophie 15f., 37-39, 62, 73f., 80f., 95, 107, 109, 141, 203 salutatio 126 A. 77, 128, 174, 191 Selbst, -bewusstsein (siehe auch Subjekt) 48, 59 m. A. 44, 80, 96, 98, 103, 105, 119, 163 – Selbsterhaltung 59, 63, 69 A. 92, 71 A. 100, 72, 97 – Selbsterziehung 105 A. 246, 192 – Selbstgespräch 103 – Selbstinszenierung 30, 113 – Selbstinteresse 62, 64f., 67-69, 77 m. A. 127, 97f. – Selbstkontrolle, -disziplin 29, 152 A. 62 – Selbstregulierung 52 – Selbstsorge 64, 96 m. A. 105, 105 A. 246, 108 A. 263 Seleukeia 131 Sicherheit 98 A. 213, 148 A. 45, 153, 156, 163, 188 A. 77 Sinnkonzept, -vorstellung 44f. Sirmium 175, 177, 182 Skepsis, pyrrhonische 16 A. 21, 84 Sklave, Sklaverei 36, 38f., 122f., 190 Smyrna 49, 53 m. A. 21, 111f., 144, 190 Sparta 81, 140f., 153 A. 69 Städtelob 163 A. 122 Stadion 145 Stasis 151 Subjektivität, Subjektivitätsbegriff 38, 52, 104f. superbia 29 Syllogismus 118 Synhedrion 176 Synkretismus 115 Taurus 185 Teleologie, teleologisch, Telos 59, 63 Tempel (siehe auch Heiligtum) 145, 160, 193 A. 104 Theologie 59 A. 45, 60, 64 A. 64, 70 A. 93 Thrakien 51
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IX. Register
Tod, Todesgedanken 55, 91 A. 184, 93, 102, 187 A. 68 toga virilis 127 A. 80 Totenbettrede (siehe Rede) Tradition 12, 14, 29 m. A. 53, 45, 47, 59, 71 A. 93, 85, 87, 105, 113 A. 24, 123f., 129f., 140, 142 A. 20, 158-160, 170, 179, 189 A. 81, 194 A. 113, 200 A. 141, 204 trigonia 179, 180 Tugendkatalog 28 m. A. 50, 33, 192 A. 96 Tyrann, Tyrannis 12, 33, 35, 143 m. A. 24, 146f., 149 A. 51, 150-154, 161f., 164-167, 170, 172 m. A. 7, 175, 177, 181, 186, 188f., 200f., 205 – Tyrannisdiskurs 33, 35, 142-149 – Tyrannisreden 142-149, 150 – Tyrannisvorwurf 145 A. 36, 170, 175 – Tyrannenmörder 143 – Tyrannentopik 143f. Übung, geistige 84 A. 154, 85 A. 157, 88 m. A. 171, 107
Urteilsvermögen 77, 86 Usurpation, usurpatorisch 13 A. 10, 20, 24 A. 32, 183f., 186, 188 Utilitarismus 58, 67 m. A. 84, 70 A. 93, 73 Vereinsamung 69 m. A. 91 Vergangenheit (als Erfahrungs- bzw. Erwartungshorizont) 47, 88, 93f., 120 A. 61, 139-142, 146 A. 40, 148 m. A. 50, 159, 170 Verschwörung 12f., 28, 56, 152f. Vertrauen 16 m. A. 19, 56, 61, 73, 92, 121, 153 m. A. 68, 163, 171 A. 2, 172 A. 8, 199, 202f., 205 vita activa 37 m. A. 89, 103 m. A. 241 vita contemplativa 37, 103 m. A. 241 Weisheit, Weisheitsliebe 36, 76 m. A. 122, 84 m. A. 154, 114 A. 27, 189 A. 81, 202 – Weisheitslehrer 76 Zirkus, -spiele 27 A. 42, 193 Zukunft (als Erfahrungs- bzw. Erwartungshorizont) 33, 93f., 163f., 200 A. 141
2. PERSONENREGISTER Die Kaisernamen werden in der gebräuchlichen, alle übrigen Personen werden in der lateinischen oder griechischen Form verzeichnet. L. Accius 149 Aelius Aristides 52, 53 m. Anm. 21, 54 m. Anm. 23, 111, 112, 141 Anm. 13, 142 Anm. 18, 148 Anm. 49, 150, 156, 158 m. Anm. 91, 159 m. Anm. 91 und 96, 160 m. Anm. 100, 161 m. Anm. 110 und 112, 162, 163 m. Anm. 122, 169, 170, 190, 191 Aelius Praxagoras 176 Aeschines 45 Anm. 121, 146 Agaclytus 134, 136, 137 Agesilaos 153 Anm. 69 Agrippa (siehe M. Vipsanius Agrippa) Alexander (der Große) 81, 102, 139, 147, 148 m. Anm. 44 Alexander von Kotiaion (grammaticus) 127 Anm. 80, 132 Alexander Severus 202 Alexandros (ident. mit Alexander von Kotiaion) 118 Anm. 49 Alexandros von Seleukeia (Platoniker) 127 Anm. 80, 131 Andron 127 Anm. 80, 128 Anm. 81 Aninius Macer 127 Anm. 80, 128 Anm. 81
L. Annaeus Seneca 78, 79, 80 m. Anm. 137, 96, 101, 107, 120, 149 Anm. 51 Annia Aurelia Galeria Faustina (Tochter Marc Aurels) 137 Annia Aurelia Galeria Lucilla (Tochter Marc Aurels) 135 Annia Galeria Faustina I. (Frau des Antoninus Pius) 145 Annia Galeria Faustina II. (Frau Marc Aurels) 135, 183, 184, 186 Antisthenes 83 Anm. 151 L. Antistius Burrus 137 Antoninus Pius 29, 111, 145, 172, 173, 174, 187, 192 Anm. 96 M. Antonius (Triumvir) 145 Anm. 36 Antonius Musa 51 Apollonios von Chalkedon 111, 127 Anm. 80, 129, 130 Apollonios von Tyana 150 Anm. 53, 164, 165, 167, 168 Appian 160, 161 Anm. 110 Apuleius 113 Areios 189 Anm. 81
2. Personenregister Aretaeus 51 Aristides (siehe Aelius Aristides) Aristogeiton 143 Ariston 76, 132 m. Anm. 120 Aristoteles 27, 74, 97 m. Anm. 212, 129, 189 Anm. 81 Arrian (siehe L. Flavius Arrianus) Athenaios 120 Anm. 60 und 61 C. Aufidius Victorinus 131 Augustinus (von Hippo) 103 Augustus 20 Anm. 9, 23, 28 m. Anm. 45 und 49, 29 m. Anm. 53, 30, 31 m. Anm. 61 und 62, 32 m. Anm. 62 und 63, 51, 125 Anm. 75, 147 Anm. 42, 187, 189 Anm. 81, 195, 196 L. Aurelius Agaclytus 137 S. Aurelius Victor 202 C. Avidius Cassius 13, 135, 175, 182, 183 m. Anm. 53 und 54, 184 m. Anm. 54, 185, 186, 187, 188, 191 Anm. 92 Baebius Longus 131 Bassaeus Rufus 134, 136 Brutus (siehe Marcus Iunius Brutus Caepio) C. Plinius Caecilius Secundus 33 Calenus 131 Caligula 13, 137 Anm. 150, 149, 187, 195, 196 Caninius Celer 127 Anm. 80, 131 Caracalla 135, 185 Anm. 58, 201, 202 Cassius Dio Cocceianus 23, 31 Anm. 62, 32 Anm. 62 und 63, 127, 131, 134, 139 Anm. 2, 166, 171, 180 Anm. 45, 182, 184, 185, 192, 193, 197 Cato (d.J.) 35, 76, 171 m. Anm. 2 Ceionia Fabia 135 Ceionius Barbarus 135 Chrysipp 59, 60, 62, 63, 64, 66, 67, 70 Anm. 93, 73 m. Anm. 107, 74, 81, 82 Cicero (siehe Marcus Tullius Cicero) Cinna Catulus 127 Anm. 80, 129 Claudii von Melite (siehe auch Ti. Claudius Demostratos) 176 Claudius 23 Anm. 24, 51, 150 Anm. 53 Ti. Claudius Atticus Herodes 117 Anm. 44, 119, 127 Anm. 80, 132, 133 Anm. 122, 134, 140, 145, 175, 176, 177 m. Anm. 30, 178 m. Anm. 37, 181, 182 m. Anm. 50 Ti. Claudius Demostratus 176, 181, 182 Claudius Maximus 127 Anm. 80, 129 Ti. Claudius Pompeianus 135 Cn. Claudius Severus (Schwiegersohn Marc Aurels) 110, 130, 135, 137 Cn. Claudius Severus Arabianus
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(Peripatetiker) 127 Anm. 80, 130, 137, 171 Anm. 2, 172 Clemens von Alexandria 62 Anm. 59, 67 M. Clodius Macrinius Vindex Hermogenianus 134 P. Clodius Thrasea Paetus 171 m. Anm. 2 Coedes 134 Commodus 23 Anm. 24, 34 Anm. 72, 112, 126, 131, 157, 182, 185 Anm. 58, 189 Anm. 81, 200, 201 Corbulo 188 Anm. 73 Cordus Cremutius 28 Cn. Cornelius Cinna 28 M. Cornelius Fronto 50, 51, 53, 83, 111, 127 Anm. 80, 132, 133 m. Anm. 122, 134 m. Anm. 125 Cornificia (Tochter Marc Aurels) 137 Critos 51 Demetrius 167 Demokrit 91 Anm. 184, 102 Demosthenes 117 Anm. 44, 141, 145 m. Anm. 36, 146 m. Anm. 36 Diocletian 20 Anm. 9 Diogenes Laertius 62 Anm. 59, 63, 66, 67, 68 m. Anm. 86, 75 Diognetus 127 Anm. 80, 128 Anm. 81 Dion Chrysostomos 143, 144, 145, 146, 149, 150 m. Anm. 53 und 54, 151, 152, 153 m. Anm. 70, 154, 155, 156, 162, 164, 165 m. Anm. 128, 166, 169, 170, 171 m. Anm. 2, 172 m. Anm. 4, 177, 183 Anm. 51, 186, 189 m. Anm. 81, 190 Dion von Syrakus 171 Dionysios II. 172 Dionysios von Halikarnassos 148 Anm. 48, 159 Anm. 91, 160 Domitian 21, 33, 37 Anm. 86, 128, 146, 153, 166, 190, 200 Eclectus 134, 136 Q. Egrilius Plarianus 111 Elagabal 185 Anm. 58, 201, 202 Epiktet 36, 49, 76, 77, 92, 101, 102 Anm. 240, 104, 106, 119, 122, 133 Anm. 122 Eudemos 110, 111 m. Anm. 19 Euphorion 127 Anm. 80, 128 Anm. 81 Euphrates 150 Anm. 53, 164, 165 Euripides 102 m. Anm. 240 Fabius Persicus 32 Fadilla 137 Faustina (siehe Annia Galeria Faustina) Favorinus 110, 153 Anm. 70 L. Flavius Arrianus 49, 104, 157
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IX. Register
Flavius Boethus 110, 135 Flavius Philostratos 45 Anm. 121, 53, 112, 117, 145, 149, 150 m. Anm. 54, 159 Anm. 91, 164, 165 m. Anm. 128, 166 m. Anm. 131, 167, 169, 170, 175, 176, 177, 179, 181, 182, 189, 191 Galen 51, 111, 116, 121 Anm. 60 A. Gellius 62 Anm. 59, 110, 118, 120 Anm. 60 Geminus 127 Anm. 80, 128 Anm. 81, 134 Hadrian 49, 110, 112, 117 Anm. 44, 126 m. Anm. 77, 140, 141, 157, 193 Anm. 105 Harmodios 143 Heliodorus 191 Anm. 92 Helvidius Priscus 166, 171 m. Anm. 2 Herakleides 117 Herakles 151 Heraklit 91 Anm. 184, 102 Herodes Atticus (siehe Ti. Claudius Atticus Herodes) Herodian 13, 136, 175, 190, 194, 197, 199, 200 m. Anm. 141, 201 Herodot 165 Anm. 127 Hierokles 62, 69, 70 m. Anm. 93, 71 m. Anm. 100, 72, 82 Homer 102 David Hume 87 Anm. 168 Isokrates 142 Anm. 21, 159 Anm. 91 Iulia 137 Ti. Iulius Alexander 164 Iulius Aquilinus 111 C. Iulius Caesar 102 M. Iunius Brutus Caepio 171 m. Anm. 2 Q. Iunius Rusticus 127 Anm. 80, 128, 129, 134, 136, 189 Anm. 81 Julian Apostata 127 Anm. 79 Kleanthes 69, 73 Anm. 107, 82 Kroisos 155 C. Licinius Mucianus 166 Livia 30 Lucius 104 Lukian 123, 142, 143, 147, 178, 194 Niccolò Macchiavelli 153 Anm. 68 Macrinius Vindex (siehe M. Clodius Macrinius Vindex Hermogenianus) Macrinus 202 C. Maecenas 28 Anm. 49 Martius Verus 186 Maximinus 202 Maximus von Tyros 116 Anm. 40 Menander Rhetor 163 Anm. 122 Menemachus 147 Anm. 41 Monimus 87 Anm. 167
C. Musonius Rufus 101, 104, 153 Anm. 70, 189 Anm. 81 Narcissus 23 Anm. 24 Nero 13, 45 Anm. 121, 144, 145 m. Anm. 31, 166, 171, 187, 188 Anm. 73, 195, 196, 200 Nicetes von Smyrna 45 Anm. 121 Nikokles 142 Anm. 21 M. Peducaeus Plautius Quintillus 137 Periandros 165 Anm. 127 Perikles 141 Pertinax 202 M. Petronius Sura Mamertinus (Schwiegersohn Marc Aurels) 137 Philipp II. 117 Anm. 44, 139, 146, 189 Anm. 81 Philostrat (siehe Flavius Philostratos) Platon 74, 102 m. Anm. 240, 129, 141, 146, 172, 199, 202 Plutarch 66, 70 Anm. 93, 73, 107, 120 Anm. 60, 147 Anm. 41, 148 Anm. 44, 150, 154, 155, 156 m. Anm. 83, 157 m. Anm. 85, 158, 159 Anm. 91 Polemon 145, 190 Pollux 189 Anm. 81 Polybios 159 Anm. 91, 162, 169, 170 Cn. Pompeius Magnus (Triumvir) 102 Tuticius Proculus von Sicca Veneria in Nordafrika 127 Anm. 80, 130 m. Anm. 103 Regilla (Frau des Herodes Atticus) 145 Rufus 51 C. Sallustius Crispus 200 Anm. 141 Seius Fuscianus 131 Semiramis 144 m. Anm. 29, 145 Seneca (siehe L. Annaeus Seneca) Septimius Severus 202 L. Sergius Paullus 110, 135 Sextus aus Chaironeia 111, 127 Anm. 80, 130, 189 Anm. 81, 191 Anm. 93 Sextus Empiricus 62 Anm. 59, 77 Simplikios 62 Anm. 59 Sokrates 102 Soranus 51 Baruch de Spinoza 31 Anm. 62, 97 Anm. 213 P. Papinius Statius 107 Anm. 258 C. Stertinius Xenophon 51 Stobaeus 62 Anm. 59, 70, 77 m. Anm. 128, 79, 148 C. Suetonius Tranquillus 28, 29, 137 Anm. 150, 166 Teles 104 Themistios 130, 189 Anm. 81 Theodoros 104 Theodotus 193 Anm. 105
3. Quellenregister Thrasea (siehe P. Clodius Thrasea Paetus) Thrasybulos 165 Anm. 127 Thrasyllos 189 Anm. 81 Tiberius 32, 147 Anm. 42, 189 Anm. 81, 195 Titus 189 Anm. 81 Trajan 33, 51, 150, 157, 166, 189 m. Anm. 81, 190 Trosius Aper von Pola 127 Anm. 80, 128 Anm. 81 M. Tullius Cicero 62 m. Anm. 59, 64, 65, 67, 69 m. Anm. 92, 73, 145 Anm. 36, 146 Anm. 36 Valerius Mamertimus 176 C. Velleius Paterculus 31 Anm. 62
225
Lucius Verus 51, 53, 110, 134, 137, 145 Vespasian 150 Anm. 54, 157, 164, 165, 166 m. Anm. 131, 167, 168, 169 M. Vetulenus Civica Barbarus 110 Vibia Aurelia Sabina (Tochter Marc Aurels) 137 M. Vipsanius Agrippa 23, 137, 147 Anm. 42 L. Vitellius 32 L. Volusius Maecianus 127 Anm. 80, 131 Xenophon 142 Anm. 21, 200 Zenon 64, 67, 74, 79, 80, 81, 82
3. QUELLENREGISTER Zur Zitierweise: Die Reden des Aelius Aristides werden zitiert nach der Edition von Dindorf: Aelius Aristides, Aristides, 3 Bde., ed. Wilhelm Dindorf, Hildesheim 1964 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1829), während die Nummerierung der Reden der Bucheinteilung von Charles A. Behr folgt: P. Aelius Aristides, The Complete Works, 2 Bde., ed. Charles A. Behr, Leiden 1981. Die Romrede des Aelius Aristides wird nach der Ausgabe von Richard Klein, Die Romrede des Aelius Aristides, Darmstadt 1983 zitiert. Cassius Dio wird zitiert nach der Edition von Boissevain: Cassius Dio, Historiarum Romanarum quae supersunt, 3 Bde., ed. Urs Philipp Boissevain, Berlin 1885-1901. In Klammern wird zusätzlich die traditionelle Bucheinteilung nach Leonclavius angegeben, sofern Boissevain von dieser abweicht. Die Briefe Frontos werden nach der Edition von van den Hout zitiert: Marcus Cornelius Fronto, M. Cornelii Frontonis epistulae, ed. Michael Petrus Josephus van den Hout, Leipzig 1988. In den Fußnoten wird in Klammern sowohl auf die Seitenzahlen dieser Ausgabe als auch auf die Seitenzahlen der Ausgabe von Haines verwiesen, in der die Briefe mit abweichender Zählung zitiert werden: Marcus Cornelius Fronto, The correspondence of Marcus Cornelius Fronto with Marcus Aurelius Antoninus, Lucius Verus, Antoninus Pius and various friends, 2 Bde., ed. Charles Reginald Haines, Cambridge (Mass.) 1962-1963. Hierokles wird nach der Ausgabe von Francesco Adorno, Corpus dei papiri filosofici greci e latini. Testi e lessico nei papiri di cultura greca e latina, Bd. 1.2, Florenz 1992 zitiert. Die Selbstbetrachtungen Marc Aurels werden zitiert nach der Textausgabe von Dalfen: Marci Aurelii Antonini. Ad se ipsum, libri XII, ed. Joachim Dalfen, Leipzig 1979. Die SVF werden nach der Ausgabe von Hans v. Arnim, Stoicorum veterum fragmenta, 3 Bde., Stuttgart 1978-1979 zitiert. Aëtios Prooem. 1,2: 56 A. 32
64: 129 A. 89 Flor. 7,9: 113 A. 27
Apul. apol. 1: 129 A. 89 11: 129 A. 89 25: 129 A. 89 36: 129 A. 89 38: 129 A. 89 41: 129 A. 89
Appian. bell.civ. 1,146: 161 A. 110 1,463: 161 A. 110 1,478: 161 A. 110 2,448: 161 A. 110 2,514: 161 A. 110 2,540: 161 A. 110
226 2,576: 161 A. 110 3,11f.: 161 A. 110 4,150: 161 A. 110 4,293: 161 A. 110 4,394: 161 A. 110 4,560: 161 A. 110 4,580: 161 A. 110 5,50: 161 A. 110 5,176: 161 A. 110 Arist. Εἰς Ῥώμην 19f.: 162 A. 114 22: 162 A. 115 29: 161 A. 111 60: 161 A. 110, 163 A. 118 65: 163 A. 116 u. 117 66: 160 A. 100 96: 160 A. 104 97: 160 A. 105 98: 160 A. 100 99: 163 A. 117 100: 163 A. 117 107: 161 A. 109, 163 A. 116 or. 19: 112 A. 21 23,11: 163 A. 119 23,16: 52 A. 14 23,73: 189 A. 81 32,13ff.: 132 A. 116 47,46-49: 53 A. 20 50,14: 54 A. 24 50,50-51: 54 A. 23 Aristot. an. 427b24-26: 87 A. 165 pol. 1253 a3: 97 A. 212 1301 a 19-24: 27 A. 44 1312 b14-16: 27 A. 44 1312 b18ff.: 27 A. 44 Aug. res gest. 5: 28 A. 45 34: 30 A. 59 Aur. Vict. Caes. 3,3: 28 A. 50 16,9f.: 202 A. 155
IX. Register Cass. Dio 51,19: 31 A. 62 52,1-41: 147 A. 43 52,4,5: 147 A. 42 52,5,1: 147 A. 42 52,8,7: 23 A. 24 53,2,6: 32 A. 63 53,3-10: 30 A. 59 53,4,3: 30 A. 59 53,6,2: 30 A. 60 53,8,6-7: 30 A. 60 53,9,6: 30 A. 59 53,11,1-4: 31 A. 62 53,12,1: 32 A. 62 53,24,1: 32 A. 64 53,30,3: 51 A. 8 54,1,1-5: 28 A. 45 55,7,1: 28 A. 49 55,22,1: 28 A. 49 57,11,3: 147 A. 42 60,19,2f.: 23 A. 24 65 (66),9: 166 A. 132 65 (66),10,4: 167 A. 140 65 (66),12: 166 A. 133 u. 137 65 (66),13: 166 A. 132 u. 136, 167 A. 141 71,1,2: 111 A. 15 u. 16, 130 A. 96, 191 A. 93 72 (71),5,2: 135 A. 134 72 (71),15-17: 40 A. 100 72 (71),19,1: 40 A. 101 72 (71),22: 184 A. 55 72 (71),22,3: 135 A. 145, 183 A. 52 u. 53 72 (71),23,1: 183 A. 51, 185 A. 60 72 (71),24,2: 184 A. 54 72 (71), 26,1-2: 186 A. 64 72 (71), 27,3: 187 A. 68 72 (71),28,2: 188 A. 74 u. 75 72 (71),28,4: 188 A. 76 72 (71),29,3: 193 A. 103 72 (71),30,2: 187 A. 68, 189 A. 79 72 (71),31,1: 186 A. 62 72 (71), 31,3: 193 A. 105 72 (71),33,2-3: 174 A. 18, 196 A. 123 72 (71), 35,1: 128 A. 82 72 (71),35,2: 127 A. 79, 197 A. 130 72 (71),35,4: 174 A. 16, 191 A. 94 72 (71),36,1-2: 192 A. 100 72 (71),36,4: 171 A. 1 73 (72),11,2: 131 A. 107 74 (73),3,4: 147 A. 42 Cic. de nat. deorum 2,37: 59 A. 46
3. Quellenregister 2,58: 67 A. 80 3,66: 67 A. 81 de fin. 3,21: 65 A. 71 3,22: 65 A. 72 u.73 3,50: 76 A. 122 3,63: 69 A. 90 3,65: 69 A. 90 u. 91 de leg. 1,18: 198 A. 133 de off. 2,73: 69 A. 92 Tusc. 3,6: 101 A. 234 5,40: 73 A. 105 CIL III p. 1978: 129 A. 87 VI 858: 129 A. 87 VI 930 = ILS244: 22 A. 21, 168 A. 144 VI 1008: 130 A. 100 VIII 1625: 130 A. 103 VIII 18068: 135 A. 137 IX 4970: 135 A. 137 XIV 2261/2: 176 A. 27 XV 678: 130 A. 100 XV 3863: 130 A. 100 Clemens. Alex. paedagogus 1,8,63,1-2: 68 A. 85 Digesta Iustiniani 49,1,1,3: 129 A. 87 Diod. 2,13,5: 144 A. 29 Diog. Laert. 6,6: 84 A. 151 7,75,79: 68 A. 86 7,82: 119 A. 52 7,85: 63 A. 60 u. 61 7,85,2: 69 A. 89 7,87: 63 A. 62, 64 A. 66 u. 68 7,88: 64 A. 65 7,94: 68 A. 86 7,98-99: 68 A. 87 7,101-105: 75 A. 116 u. 118 7,104: 75 A. 117 7,124: 69 A. 92 7,148: 67 A. 82 7,187: 119 A. 53
Dion. 1,25: 152 A. 64 1,35: 152 A. 63 1,64-84: 151 A. 58 1,72: 152 A. 66 1,76: 151 A. 59 1,82: 151 A. 60 u. 65 3,11: 153 A. 67 3,58: 152 A. 62 u. 63 3,123: 152 A. 63 7,66: 146 A. 38 7,93: 146 A. 38 45,7-8: 178 A. 33 47,9: 146 A. 38 47,13: 144 A. 25 47,17: 144 A. 26 47,20: 144 A. 27 49,3: 152 A. 61 49,6: 146 A. 38 50,6: 146 A. 38 56,5: 153 A. 69 56,7: 153 A. 69 56,10: 153 A. 69 56,16: 153 A. 69 62,1: 150 A. 57 66,12: 146 A. 38 77,8: 146 A. 38 77,28: 146 A. 38 Epiktet diss. 1,1-2: 92 A. 187 1,1,7: 78 A. 131 1,1,25: 106 A. 255 1,19,13: 72 A. 103 1,26,9: 119 A. 57 3,24,103: 106 A. 255 4,12,7f.: 107 A. 258 Ench. 1: 77 A. 123 u. 124 1,1: 90 A. 179 u. 180 5: 77 A. 125, 86 A. 161, 88 A. 172 3,2,1: 85 A. 157 329: 77 A. 126 Eunap. Prob. 487: 205 A. 2 Eusebius praep. evang. 15,15,3-5: 70 A. 93
227
228
IX. Register
Eutr. 7,8: 28 A. 50 FDS 636a: 69 A. 92 Fronto ad Ant. de eloqu. 1-4: 133 A. 122 ad M. Caes. 4,8: 50 A. 3 u. 4 4,13: 132 A. 120 5,27: 50 A. 2 5,28: 50 A. 1 ad amicos 1,4: 111 A. 13 1,15: 133 A. 122 Galen 2,218: 110 A. 6 12,445: 51 A. 10 14,216: 51 A. 5 14,612: 110 A. 4 14,613: 135 A. 142 14,621: 121 A. 62 14,627ff.: 111 A. 19, 135 A. 142 14,647: 135 A. 142 14,653-656: 135 A. 142 14,657ff.: 112 A. 20 19,13: 110 A. 7 19,53: 116 A. 35 Gellius 1,2: 133 A. 122 9,2: 133 A. 122 18,1,1: 111 A. 11 19,12: 133 A. 122 Herodian 1,1,4: 13 A. 10 1,2,2: 136 A. 149 1,2,3: 197 A. 131 1,2,4: 201 A. 146 1,4,2-3: 201 A. 144 u. 145 1,4,4-5: 201 A. 143 1,4,8: 199 A. 139 1,8,1-3: 201 A. 148 1,8,8: 201 A. 149 1,13,8: 202 A. 150 3,15,4: 202 A. 151 1
5,5,6: 202 A. 152 6,1-2: 202 A. 154 7,3,1-3: 202 A. 153 π. βαρβ.1: 118 A. 47 Hierokles 9,1: 71 A. 99 9,3-4: 71 A. 94 9,4-5: 71 A. 96 9,5-7: 71 A. 97 9,8-10: 71 A. 98 11,14-18: 69 A. 92 11,15-16: 72 A. 104 Hippolyt. Refutatio omnium haeresium 1,21: 60 A. 50 Hist. Aug. Ant. P. 10,4: 111 A. 14, 130 A. 96 Avid. 1,2: 184 A. 54 1,4-9: 184 A. 56 7,1: 135 A. 145, 183 A. 52 u. 53 7,6-7: 184 A. 57 8,3-4: 187 A. 69 9,2-4: 188 A. 77 9,4: 188 A. 77 9,9: 183 A. 53 10,9: 187 A. 68 11,4-5: 188 A. 77 11,5: 187 A. 65 11,6: 187 A. 70 12,6-7: 188 A. 77, 188 A. 72 13,6: 188 A. 78 Comm. 6,2: 23 A. 24 Claud. 2,3: 28 A. 50 Marc. 1,1: 192 A. 98 2,2: 127 A. 80, 128 A. 81 2,3: 127 A. 80, 128 A. 81, 130 A. 101, 132 A. 115 2,4: 127 A. 80, 128 A. 81, 131 A. 113, 131 A. 113 2,5: 130 A. 102 2,6: 192 A. 99
π. βαρβ., in: A. Nauck (Hg.), Lexicon Vindobonense, Hildesheim 1965, 294 f.
3. Quellenregister 2,7: 127 A. 80, 130 A. 95 3,1: 111 A. 15, 130 A. 96, 191 A. 93 3,2: 127 A. 80, 129 A. 88 u. 92, 130 A. 94 3,3: 127 A. 80, 128 A. 81, 130 A. 99 3,4: 128 A. 84-86 3,5: 127 A. 80, 191 A. 95 3,6: 127 A. 80, 131 A. 110, 131 A. 110 3,8: 23 A. 25, 131 A. 104 6,3: 174 A. 14 8,3: 189 A. 80 8,6: 184 A. 54 10,1f.: 173 A. 11 10,4: 173 A. 12 10,10: 38 A. 93 12,1: 175 A. 20 15,1: 193 A. 101 15,2: 134 A. 126, 137 A. 155 17,6: 174 A. 17 18,3: 199 A. 137 18,5f.: 199 A. 138 20,5: 187 A. 66 22,4: 173 A. 10 23,5-6: 193 A. 101 23,9: 193 A. 102 24,6: 135 A. 145, 183 A. 53 25,6: 187 A. 67 26,2-3: 193 A. 104 26,13: 189 A. 79 27,7: 202 A. 156, 202 A. 156 Verus 9,6: 134 A. 126 u. 131 10,1-5: 136 A. 147 IGR 4, 855: 51 A. 11 Isokrat. ad Nic. 53: 155 A. 76 Lukian deor. conc. 2: 178 A. 35 3: 178 A. 36 Eunuch. 2: 194 A. 108 merc. cond. 1: 123 A. 71 5: 123 A. 71 23: 123 A. 72 30: 123 A. 72 tyrann. 6: 143 A. 22
229
6ff.: 147 A. 42 9: 143 A. 22 10: 143 A. 22 M. Aur. ad se ipsum 1,5: 127 A. 80 1,6: 128 A. 81 1,6,5: 128 A. 80 1,7: 127 A. 80, 128 A. 82 1,8: 127 A. 80, 130 A. 95 1,9: 88 A. 171, 130 A. 94, 127 A. 80 1,10,1-2: 118 A. 49, 132 A. 115 1,11: 13 A. 11, 16 A. 18, 83 A. 148, 132 A. 119, 172 A. 7 1,12: 127 A. 80, 131 A. 112 1,13: 127 A. 80, 129 A. 92 1,14: 127 A. 80, 130 A. 99 1,14,1-5: 171 A. 2 1,14,4-6: 172 A. 8 1,15: 127 A. 80, 129 A. 88 1,16,21: 172 A. 5 u. 6 1,17,5: 29 A. 55, 174 A. 19, 195 A. 115 1,17,10f.: 128 A. 82, 129 A. 91 1,17,23: 11 A. 2 2,1: 15 A. 18, 83 A. 147 2,1,1: 100 A. 227 2,1,4: 56 A. 30 2,2f.: 61 A. 54 2,5: 99 A. 216 2,11,2: 91 A. 183 2,11,2f.: 91 A. 183 2,11,4: 106 A. 254 2,14: 95 A. 198 2,15: 87 A. 166, 87 A. 167 2,17: 93 A. 190 2,17,2: 16 A. 18, 56 A. 28, 101 A. 232 2,17,3: 83 A. 149 3,3,4f.: 102 A. 237 3,4,3: 97 A. 212 3,5: 99 A. 216 3,5,4: 100 A. 226 3,9: 87 A. 166 3,13,1: 55 A. 26 4,1: 101 A. 231 4,3,1f.: 107 A. 258 4,3,3: 88 A. 170, 107 A. 259 4,3,5: 91 A. 183 4,3,10: 87 A. 166 4,3,10-12: 86 A. 163 4,4,1: 198 A. 133 4,8: 102 A. 254 4,24,1: 97 A. 212
230 4,26: 99 A. 216 4,26,5: 99 A. 224 4,28: 172 A. 7 4,29: 98 A. 214 4,32: 102 A. 238 4,33: 102 A. 238 4,44: 55 A. 25 4,45: 91 A. 185 4,47: 95 A. 198 4,50: 95 A. 198 4,50,4: 99 A. 225 5,6: 101 A. 233 5,8: 92 A. 186 5,9,1: 55 A. 27, 101 A. 234 5,12: 92 A. 187 5,16,2: 11 A. 5, 197 A. 129 5,28: 99 A. 217, 100 A. 229 6,10: 91 A. 183 6,11: 107 A. 258 6,12: 197 A. 127 6,12,1-2: 11 A. 4 6,12,2: 12 A. 6 6,13,1-3: 89 A. 174 6,25: 95 A. 197 6,30: 99 A. 216, 222, 223 u. 224 6,30,1-3: 11 A. 1 6,30,1-4: 195 A. 114 6,30,2-4: 83 A. 150 6,30,3-4: 99 A. 221 6,41: 90 A. 179 6,42,1: 97 A. 209 6,46: 94 A. 195 u. 196 6,47,3: 102 A. 237 7,8: 93 A. 191 7,9: 56 A. 29, 198 A. 134 7,9,1: 91 A. 185, 96 A. 208 7,12: 99 A. 225 7,13: 96 A. 206 7,29,6: 99 A. 224 7,29-31: 99 A. 222 u. 223 7,29-31,3: 99 A. 216 7,31,2ff.: 99 A. 220 7,32: 91 A. 183 7,32-51: 102 A. 240 7,58: 101 A. 236 8,3: 102 A. 237 8,5: 102 A. 238 8,9: 199 A. 135 8,10: 96 A. 206 8,12: 97 A. 212 8,24: 94 A. 194 8,25: 102 A. 238, 131 A. 113 8,27: 85 A. 159
IX. Register 8,31: 102 A. 238 8,34: 98 A. 214 8,36,2-3: 94 A. 193 8,37: 102 A. 238 8,51,1: 99 A. 216 9,1,1f.: 96 A. 208 9,1,2: 91 A. 185 9,5: 96 A. 204 9,6: 87 A. 167, 95 A. 202 9,7: 99 A. 216 9,9,4: 69 A. 92, 97 A. 213 9,9,5: 98 A. 214 9,9,12: 98 A. 214 9,11: 92 A. 187 9,13: 92 A. 187 u. 189 9,16: 96 A. 202, 97 A. 212 9,28,3: 99 A. 225 9,29,5: 199 A. 136 9,31,2: 97 A. 212 9,37,1: 99 A. 225 9,39: 91 A. 183 10,1f.: 173 A. 11 10,2,3: 198 A. 133 10,6: 56 A. 30, 97 A. 210 10,6,1: 91 A. 183, 96 A. 207 10,6,1-2: 90 A. 182 10,6,4-5: 56 A. 31 10,6,5: 98 A. 214 10,7: 92 A. 186 10,11: 107 A. 257 10,16: 61 A. 54 10,27: 93 A. 190, 102 A. 238 10,31,6: 101 A. 231 10,35: 101 A. 234 10,36: 16 A. 18 10,61,1: 67 A. 84 11,4: 96 A. 206 11,6,3: 95 A. 199 11,8: 56 A. 30 11,15,2: 100 A. 229 11,16: 95 A. 199 11,18,2: 91 A. 183 11,18,8f.: 87 A. 167 11,18,9: 88 A. 169 11,22-39: 102 A. 240 11,26: 101 A. 235 12,1,5: 101 A. 232 12,3,4: 94 A. 193 12,8: 87 A. 166 12,20,1: 99 A. 225 12,20,2: 96 A. 203 12,22: 86 A. 162, 87 A. 166, 101 A. 230 12,23: 95 A. 198
3. Quellenregister 12,26,2: 87 A. 166 12,28: 91 A. 183 12,36: 99 A. 217, 100 A. 228 12,36,1: 100 A. 229 Marcianus 1: 70 A. 93 Muson. diatr. 1,4-9: 101 A. 234 Philostrat. Vita Sophist. 481: 45 A. 121, 142 A. 20 488: 189 A. 83 489: 110 A. 10 507: 45 A. 121 511: 45 A. 121 535: 190 A. 86 536: 119 A. 55 551f.: 145 A. 30, 181 A. 49 557: 130 A. 96, 191 A. 93 559-560: 175 A. 20, 176 A. 24 u. 25, 179 A. 38 566: 193 A. 105, 194 A. 109 571: 131 A. 112 582-83: 112 A. 21, 190 A. 89, 191 A. 91 586: 119 A. 54 614: 117 A. 43 vit. Apoll. 1,28: 130 A. 98 1,37ff.: 130 A. 98 2,27ff.: 130 A. 98 5,27: 149 A. 53 5,33: 145 A. 31, 147 A. 42 5,36: 169 A. 146 6,29ff.: 130 A. 98 7,8: 130 A. 98 Phrynichos ecl. 394: 34 A. 72 PIR2 A 452: 134 A. 128, 137 A. 155 A 502: 132 A. 115 A 503: 131 A. 112 A 606: 128 A. 81 A 716: 135 A. 144 A 929: 130 A. 95 A 1393: 131 A. 106 B 19: 131 A. 108 B 69: 134 A. 133
231
C 221: 131 A. 109 C 388: 131 A. 113 C 602: 135 A. 141 C 612: 135 A. 146, 136 A. 147 C 737: 129 A. 92 C 802: 132 A. 118 C 933: 129 A. 88 C 934: 129 A. 90 C 973: 135 A. 136 C 1022: 130 A. 99 C 1024: 110 A. 8, 135 A. 138 u.142, 137 A. 152 C 1236: 134 A. 129 C 1364: 132 A. 117 D 98: 128 A. 81 E 3: 134 A. 130 E 120: 128 A. 81 F 229: 135 A. 140 G 161: 128 A. 81 G 162: 134 A. 127 I 814: 128 A. 82 M 25: 134 A. 132 P 229: 137 A. 154 P 356: 137 A. 153 P 358: 137 A. 153 S 488: 130 A. 94 S 823: 51 A. 10 S 824: 51 A. 11 S 377: 135 A. 139 V 657: 131 A. 110 Plat. polit. 473c-d: 202 A. 156 Plut. de Stoic. repugn. 1035 C: 66 A. 75, 67 A. 83 1035 D: 66 A. 76 1050 B: 64 A. 67 2,1033 B: 82 A. 146 2,1033 B-C: 73 A. 107 de Alexandri virtute 329 A f.: 82 A. 143 Praec. 812 D-E: 155 A. 75 814 C: 147 A. 41, 157 A. 87 824 B-C: 156 A. 80 ad princ. inerud. 780 A: 154 A. 73 780 C: 154 A. 72 780 F: 155 A. 74 781 E: 154 A. 73
232 de tranq. an. 470 C: 157 A. 84 Poll. Onom. 1,1: 189 A. 81 Sen. de clem. 1,9,11: 28 A. 49 de otio 3,2: 79 A. 132 3,3: 80 A. 138 ep. 2,16,3: 61 A. 53 2,20,2: 61 A. 54 6,48,2: 96 A. 205 6,55,4f.: 108 A. 262 6,55,8: 107 A. 258 7,64,2: 120 A. 59 17/18,104,7: 107 A. 25 92,12: 78 A. 130 121,17: 72 A. 103 S. Emp. adv. eth. 168ff.: 16 A. 21 pyrrh. hyp. 3,273-279: 16 A. 21 adv. math. 11,22-23: 77 A. 129 11,66: 75 A. 119 SIG2 872: 193 A. 105 Stobaeus 2,7,6a,12-13: 77 A. 127 2,7,11m,89-93: 79 A. 134 2,83,10-84,2: 77 A. 128 2,103,14-17: 69 A. 92 4,671,7-673,11: 82 A. 144 2,7,11m,89-93: 79 A. 134 Suet. Aug. 35,1: 28 A. 46 35,2: 28 A. 47 52-53: 31 A. 61 58,2: 31 A. 62 65,2: 30 A. 56 70,2: 195 A. 118 71,1: 196 A. 124
IX. Register 73: 196 A. 125 84,2: 30 A. 57 Cal. 23,1: 137 A. 150 30,1: 149 A. 52 37,1: 196 A. 120 Nero 30,1: 196 A. 121 31,1: 29 A. 54 31,2: 196 A. 122 Vespasian. 13-15: 166 A. 132 u. 134 u. 135 18-19: 166 A. 132 u. 133 21: 167 A. 140 SVF 1,27: 73 A. 107, 82 A. 146 1,162: 198 A. 133 1,262: 82 A. 143 1,271: 79 A. 132 1,361: 75 A. 119 1,365: 76 A. 122 1,587: 69 A. 92 2,35: 56 A. 32 2,528: 70 A. 93 2,975: 60 A. 50 2,1076: 198 A. 133 2,1116: 68 A. 85 3,68: 66 A. 76, 67 A. 83 3,119: 75 A. 117 3, 124: 77 A. 129 3,314: 70 A. 93 3,315: 198 A. 133 3,326: 66 A. 75 3,631: 69 A. 92 3,690: 79 A. 134 Tac. ann. 1,3,1: 137 A. 150 12,61: 51 A. 9 hist. 4,3,4: 167 A. 140 Themist. or. 5,63d: 189 A. 81 11,145b: 130 A. 97, 189 A. 81 13,173c: 130 A. 97, 189 A. 81 Vell. 2,89,1: 31 A. 62 2,94,3: 28 A. 45
HISTORIA
–
EINZELSCHRIFTEN
Herausgegeben von Kai Brodersen, Mortimer Chambers, Martin Jehne, François Paschoud und Aloys Winterling.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0341–0056
92. Joachim Ott Die Beneficiarier Untersuchungen zu ihrer Stellung innerhalb der Rangordnung des Römischen Heeres und zu ihrer Funktion 1995. 246 S., kt. ISBN 978-3-515-06660-0 93. Andrew Drummond Law, Politics and Power Sallust and the Execution of the Catilinarian Conspirators 1995. 136 S., kt. ISBN 978-3-515-06741-6 94. Heinrich Schlange-Schöningen Kaisertum und Bildungswesen im spätantiken Konstantinopel 1995. VIII, 189 S., kt. ISBN 978-3-515-06760-7 95. Mogens Herman Hansen / Kurt Raaflaub (Hg.) Studies in the Ancient Greek Polis (Papers from the Copenhagen Polis Centre 2) 1995. 219 S., kt. ISBN 978-3-515-06759-1 96. Martin Jehne (Hg.) Demokratie in Rom? Die Rolle des Volkes in der Politik der römischen Republik 1995. VII, 141 S., kt. ISBN 978-3-515-06860-4 97. Valerie M. Warrior The Initiation of the Second Macedionian War An Explication of Livy Book 31 1996. 118 S., kt. ISBN 978-3-515-06853-6 98. Raimund Friedl Der Konkubinat im kaiserzeitlichen Rom Von Augustus bis Septimius Severus 1996. 417 S., kt. ISBN 978-3-515-06871-0 99. Christopher Tuplin Achaemenid Studies 1996. 226 S., kt.
ISBN 978-3-515-06901-4 100. Marlis Weinmann-Walser (Hg.) Historische Interpretationen Gerold Walser zum 75. Geburtstag dargebracht von Freunden, Kollegen und Schülern 1995. 212 S., 3 Taf., kt. ISBN 978-3-515-06739-3 101. Leonhard A. Burckhardt Bürger und Soldaten Aspekte der politischen und militärischen Rolle athenischer Bürger im Kriegswesen des 4. Jahrhunderts v. Chr. 1996. 300 S., kt. ISBN 978-3-515-06832-1 102. Julia Heskel The North Aegean Wars, 371–360 B.C. 1997. 186 S., kt. ISBN 978-3-515-06917-5 103. Lukas Thommen Lakedaimonion Politeia Die Entstehung der spartanischen Verfassung 1996. 170 S, kt. ISBN 978-3-515-06918-2 104. Luisa Prandi Fortuna e realtà dell’opera di Clitarco 1996. 203 S., kt. ISBN 978-3-515-06947-2 105. Jerzy Linderski (Hg.) Imperium sine fine T. Robert S. Broughton and the Roman Republic 1996. X, 234 S., 1 Taf., kt. ISBN 978-3-515-06948-9 106. Karl Christ Griechische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte 1996. 238 S., 7 Taf., kt. ISBN 978-3-515-06915-1 107. Eric W. Robinson The First Democracies Early Popular Government Outside Athens 1997. 144 S., kt.
ISBN 978-3-515-06951-9 108. Mogens Herman Hansen / Kurt Raaflaub (Hg.) More Studies in the Ancient Greek Polis (Papers from the Copenhagen Polis Centre 3) 1996. 196 S., kt. ISBN 978-3-515-06969-4 109. Victor Parker Untersuchungen zum Lelantischen Krieg 1997. 189 S., kt. ISBN 978-3-515-06970-0 110. Ulrich Gotter Der Diktator ist tot! Politik in Rom zwischen den Iden des März und der Begründung des Zweiten Triumvirats 1996. 316 S., kt. ISBN 978-3-515-06815-4 111. François Paschoud / Joachim Szidat (Hg.) Usurpationen in der Spätantike Akten des Kolloquiums „Staatsstreich und Staatlichkeit“, 6.–10. März 1996, Solothurn/Bern 1997. 174 S., kt. ISBN 978-3-515-07030-0 112. Ulrich Huttner Die politische Rolle der Heraklesgestalt im griechischen Herrschertum 1997. IX, 385 S., kt. ISBN 978-3-515-07039-3 113. Robert E. A. Palmer Rome and Carthage at Peace 1997. 152 S., kt. ISBN 978-3-515-07040-9 114. Hans Beck Polis und Koinon Untersuchungen zur Geschichte und Struktur der griechischen Bundesstaaten im 4. Jahrhundert v. Chr. 1997. 320 S., kt. ISBN 978-3-515-07117-8 115. Heinz Bellen Politik – Recht – Gesellschaft Studien zur Alten Geschichte. Hg. von Leonhard Schumacher 1997. VIII, 323 S., 24 Taf., kt. ISBN 978-3-515-07150-5 116. Carsten Drecoll Die Liturgien im römischen Kaiserreich des 3. und 4. Jahrhunderts n. Chr.
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Untersuchung über Zugang, Inhalt und wirtschaftliche Bedeutung der öffentlichen Zwangsdienste in Ägypten und anderen Provinzen 1997. 401 S., kt. ISBN 978-3-515-07151-2 Thomas Heine Nielsen (Hg.) Yet More Studies in the Ancient Greek Polis (Papers from the Copenhagen Polis Centre 4) 1997. 258 S., kt. ISBN 978-3-515-07222-9 Gerold Walser Bellum Helveticum 1998. 192 S., kt. ISBN 978-3-515-07248-9 Frank Bernstein Ludi publici Untersuchung zur Entstehung und Entwicklung der öffentlichen Spiele im republikanischen Rom 1998. 408 S., kt. ISBN 978-3-515-07301-1 Robert J. Buck Thrasybulus and the Athenian Democracy The Life of an Athenian Statesman 1998. 141 S., kt. ISBN 978-3-515-07221-2 Gocha R. Tsetskhladze (Hg.) The Greek Colonisation of the Black Sea Area Historical Interpretation of Archaeology 1998. 336 S. mit 44 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07302-8 Josef Wiesehöfer (Hg.) Das Partherreich und seine Zeugnisse Beiträge des internationalen Colloquiums, Eutin (27.–30. Juni 1996) 1998. 570 S. mit zahlr. Abb., kt. ISBN 978-3-515-07331-8 Jeffrey D. Lerner The Impact of Seleucid Decline on the Eastern Iranian Plateau 1999. 139 S., kt. ISBN 978-3-515-07417-9 Attilio Mastrocinque Studi sulle guerre mitridatiche 1999. 128 S., kt. ISBN 978-3-515-07418-6 Fabio Mora Fasti e schemi cronologici La riorganizzazione annalistica del passato
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Marc Aurel ist als „Philosoph auf dem Kaiserthron“ in die Geschichte eingegangen. Die Frage, inwieweit es ihm gelungen ist, Philosophie und Politik miteinander zu vereinbaren, behandelt Claudia Horst nicht als ein biographisches, sondern erstmals als ein strukturgeschichtliches Problem. Die Beschäftigung mit der Philosophie erlebte zur Zeit Marc Aurels eine Konjunktur. Doch war es nicht die kontemplative Auseinandersetzung um inhaltliche Fragen, die hierbei im Vordergrund
stand. Die Kultur der Römischen Kaiserzeit, die sog. Zweite Sophistik, stellte sich vielmehr als ein zentraler Kommunikationsraum zwischen dem Kaiser und den gebildeten städtischen Eliten dar, in dem kulturelle Bedingungen des Zusammenlebens ebenso wie Machtfragen verhandelt wurden. Für Marc Aurel war die Philosophie ein entscheidendes Medium der politischen Integration. Durch sie ist es ihm letztlich gelungen, das Akzeptanzdefizit seitens der Aristokratie, das die Stabilität seiner Herrschaft stets bedrohte, zu überwinden und Vertrauen zu generieren.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
isbn 978-3-515-10280-3