Magie und Liminalität: ›seiðr‹ in der altnordischen Überlieferung 9783110678772, 9783110678727

The Old Norse magic known as seiðr is associated in various ways with the phenomenon of liminality. This study traces th

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German Pages 381 [382] Year 2020

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Einführung
II. Wirkungsspektrum und Praktizierende des seiðr
III. Das altnordische Weltbild – fremd versus vertraut
IV. Liminalität in der Ritualtheorie
V. Liminale Aspekte innerhalb der Darstellung menschlicher seiðr-Praktizierender
VI. seiðr im Kontext biographischer Schwellenerfahrungen
VII. Eigenschaften des Schwellenzustands und seiðr: Ortsunfestigkeit
VIII. Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität in den altnordischen Quellen
IX Schlussbetrachtungen
Abkürzungsverzeichnis
Bibliographie
Register
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Magie und Liminalität: ›seiðr‹ in der altnordischen Überlieferung
 9783110678772, 9783110678727

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Christina Kunstmann Magie und Liminalität

Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde

Herausgegeben von Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

Band 122

Christina Kunstmann

Magie und Liminalität seiðr in der altnordischen Überlieferung

ISBN 978-3-11-067872-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067877-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067882-6 ISSN 1866-7678 Library of Congress Control Number: 2020941879 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Jahr 2017 von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Ohne vielfältige Unterstützung ist die Entstehung einer umfangreichen wissenschaftlichen Arbeit nicht möglich. So standen mir auf dem langen Weg zum Doktortitel viele Menschen zur Seite, denen ich von ganzem Herzen danken möchte. Zuallererst gilt mein Dank meinem Doktorvater, Professor Dr. Wilhelm Heizmann. Als inspirierender Lehrer und Mentor hat er mich mit unermüdlicher Unterstützung durch Studium und Promotion begleitet. In all den Jahren lieferte er mir wertvolle Denkanstöße, hatte stets ein offenes Ohr für Probleme und bot mir und seinen anderen Doktoranden ein Forum für anregende fachliche Diskussionen. Ich bedanke mich auch sehr herzlich dafür, dass er die Aufnahme meiner Arbeit in die Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde in die Wege geleitet hat. Meine Zweitgutachterin PD Dr. Alessia Bauer stand mir stets hilfsbereit und motivierend zur Seite, ich danke ihr sehr für ihre engagierte Betreuung. Dem Institut für Nordische Philologie der LMU München fühle ich mich tief verbunden, es ist während meines Studiums und meiner Promotion zu einer zweiten Heimat geworden und ich denke sehr gerne an die vielen dort verbrachten Stunden zurück. Großen Dank schulde ich dem Institut auch für die Förderung meiner Dissertation mit einem Promotionsabschlussstipendium, das mir die Fertigstellung der Arbeit wesentlich erleichtert hat. Besonderer Dank gilt Andrea Tietz, die meinen Text als Korrekturleserin mit speziellem Augenmerk auf die Übersetzungen aus dem Altnordischen kritisch durchgesehen hat. Den Herausgebern der Ergänzungsbände möchte ich für die Aufnahme meiner Arbeit in ihre Reihe danken. Beim Verlag De Gruyter bedanke ich mich für die gute Zusammenarbeit und die angenehme Betreuung während der Drucklegung. Sehr herzlich möchte ich meiner Familie für ihre fortwährende Unterstützung danken, insbesondere meinen Eltern Angelika und Wolfgang Kiesewetter, die mir mein Studium ermöglicht haben und mir immer mit Rat und Tat zur Seite stehen. Last but not least gilt mein ganz besonderer Dank meinem Ehemann Grischa Kunstmann, der immer für mich da ist, mich in all den Jahren immer wieder ermutigt und die Entstehung der Arbeit mit konstruktiven Gesprächen begleitet hat. Er fungierte nicht nur als sorgfältiger Korrekturleser, sondern hat mir obendrein mit seinem unermüdlichen Einsatz rund um Haushalt und Betreuung unseres Sohnes den Rücken für die Fertigstellung und Drucklegung meiner Dissertation freigehalten. Vielen Dank für all deine Liebe! München, im Mai 2020 Christina Kunstmann

https://doi.org/10.1515/9783110678772-202

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

I 1 2 3 4 5 6

Einführung 1 Vorbemerkungen 1 Methode und Aufbau der Arbeit 2 Quellen 3 Forschungsgeschichtlicher Überblick 5 Magie: Begriff und Definition 8 Magie im mittelalterlichen Skandinavien: seiðr in Abgrenzung zu anderen Erscheinungsformen der altnordischen Magie 10

II 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.2.1 2.2.2

Wirkungsspektrum und Praktizierende des seiðr 13 Das Wirkungsspektrum des seiðr 13 Vorbemerkungen 13 Divinatorischer seiðr 15 Beeinflussung der natürlichen Umwelt 17 Einwirken auf menschliche Psyche und Körper 18 Verzauberung von Waffen und Kampfmagie 18 Fazit 20 Die Ausübenden des seiðr 20 Menschliche seiðr-Praktizierende 20 seiðr-praktizierende Frauen 20 seiðr-praktizierende Männer 24 Göttliche seiðr-Praktizierende 26 Óðinn 26 Freyja 31

III 1 2

Das altnordische Weltbild – fremd versus vertraut 35 Vorbemerkungen 35 Raumwahrnehmung und Weltmodell im mittelalterlichen Skandinavien 35 Dichotomie von miðgarðr- und útgarðr-Sphäre 35 Innen- und Außenraum im Alltagserleben der mittelalterlichen Skandinavier 38 Grenzüberschreitungen 40 Mythologisch – Götter und Riesen 40 Mensch und útgarðr-Sphäre 44 seiðr-Praktizierende als Grenzgänger zwischen miðgarðr- und útgarðr-Sphäre 49

2.1 2.2 3 3.1 3.2 3.3

VIII

IV 1 2

V

Inhaltsverzeichnis

Liminalität in der Ritualtheorie 51 Rites de passage – Arnold van Genneps Konzept der Übergangsriten 51 Liminalität und Communitas – die Ritualtheorie Victor Turners 52

2.1 2.2

Liminale Aspekte innerhalb der Darstellung menschlicher seiðr-Praktizierender 55 Liminale Merkmale innerhalb der Darstellung menschlicher seiðr-Praktizierender 55 Einführung: seiðr-Praktizierende als Schwellenpersonen? 55 seiðr-Praktizierende und Peripherie 56 Die ethnogeographische Herkunft seiðr-Praktizierender in den altnordischen Quellen 56 Tötung und Bestattung seiðr-Praktizierender in peripheren Gebieten 61 Physische Devianz: Der besondere Blick seiðr-Praktizierender 66 Besonderer Beruf: Der „dämonische“ Schmied Þorgrímr nef? 70 Bezüge seiðr-Praktizierender zu nicht-menschlichen Wesen 74 Fazit 84 Interaktionen menschlicher seiðr-Praktizierender mit der útgarðr-Sphäre 85 Beeinflussung der natürlichen Umwelt in destruktiver Absicht 85 Beeinflussung der natürlichen Umwelt in positiver Absicht 87

VI 1 2 2.1 2.2 2.3 2.4 3 3.1 3.2 3.3 3.4 4 4.1 4.2 4.3 5

seiðr im Kontext biographischer Schwellenerfahrungen Vorbemerkungen 93 Geburt 94 Episoden 94 Freyja 100 Óðinn 106 Fazit 108 Jugend und Heranwachsen 108 Episoden 108 Freyja 118 Óðinn 126 Fazit 135 Schlaf und Tod 136 Episoden 136 Freyja 146 Óðinn 151 Fazit 158

1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.4 1.5 1.6 2

93

Inhaltsverzeichnis

VII 1 2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.4 3 4 VIII 1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 2.4 3 3.1 3.2 3.3 4 4.1 4.1.1

Eigenschaften des Schwellenzustands und seiðr: Ortsunfestigkeit 161 Ortsunfestigkeit als liminales Phänomen 161 Ortsunfestigkeit bei seiðr-Praktizierenden 162 Konnotationen von Nichtsesshaftigkeit und Zaubermacht im Mittelalter: Fahrendes Volk, fahrende Frauen 162 Ortsunfestigkeit bei menschlichen seiðr-Praktizierenden 165 Ortsunfestigkeit bei göttlichen seiðr-Praktizierenden 172 Óðinn 172 Freyja 186 Fähigkeit zu Seelenreise und Gestaltwandel 195 Durch seiðr evozierte Ruhelosigkeit und Ortsunfestigkeit 203 Fazit 210 Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität in den altnordischen Quellen 213 Vorbemerkungen 213 seiðr und die Überschreitung der Geschlechternormen als liminales Phänomen 213 Das Geschlechterverhältnis Magiepraktizierender in den altnordischen Quellen 214 Der „unmännliche“ seiðmaðr 216 Das Konzept ergi – geschlechtliche Konventionen der altnordischen Gesellschaft 221 Definition des Begriffs ergi 221 Geschlechtliche Konventionen der altnordischen Gesellschaft 227 Zuständigkeitsbereiche von Mann und Frau 227 Kleidungsnormen 228 Verhaltenskonventionen 232 Grenzüberschreitungen 234 ergi und níð 241 Einstellung zur männlichen Homosexualität 247 Die Konnotation von seiðr und ergi in den altnordischen Quellen 260 Vorbemerkungen 260 Eddische Dichtung 260 Sagaliteratur 275 Die Darstellung seiðr-Praktizierender in den altnordischen Quellen im Hinblick auf geschlechtliche Liminalität 290 Männer 290 290 Menschliche männliche seiðr-Praktizierende

IX

X

Inhaltsverzeichnis

Mythologisch – Óðinn 300 Frauen 306 Menschliche weibliche seiðr-Praktizierende 306 Mythologisch – Freyja 314 Zusammenschau: Was ist „argr“ an seiðr? 319 Die Konnotation von ergi und seiðr: rituell induzierte geschlechtliche Liminalität im Kontext vegetationskultischer Praktiken? 321 seiðr als vegetationskultische Praktik 321 ergi und seiðr: Liminale geschlechtliche Identität in der altnordischen Kultpraxis 324

4.1.2 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 5

5.1 5.2

IX

Schlussbetrachtungen

Abkürzungsverzeichnis Bibliographie Register

365

347

343

335

I Einführung 1 Vorbemerkungen Zu Beginn der Ynglinga saga, welche den Auftakt seiner um das Jahr 1230 verfassten Heimskringla bildet, vermittelt Snorri Sturlusons Beschreibung des seiðr einen Eindruck davon, wie man sich die Charakteristika dieser Magieform im Island des 13. Jahrhunderts vorstellte:1 Óðinn kunni þá íþrótt, svá at mestr máttr fylgði, ok framði sjálfr, er seiðr heitir, en af því mátti hann vita ørlǫg manna ok óorðna hluti, svá ok at gera mǫnnum bana eða óhamingju eða vanheilendi, svá ok at taka frá mǫnnum vit eða afl ok gefa ǫðrum. En þessi fjǫlkynngi, er framið er, fylgir svá mikil ergi, at eigi þótti karlmǫnnum skammlaust við at fara, ok var gyðjunum kennd sú íþrótt.2 Óðinn beherrschte die Kunst, welcher die meiste Macht folgte, und übte sie selbst aus, die seiðr heißt, und durch sie konnte er das Schicksal der Menschen und ungeschehene Dinge in Erfahrung bringen, ebenso den Menschen Tod oder Unglück oder Krankheit zuteilwerden lassen, und den Menschen Verstand oder Körperkraft nehmen und sie anderen geben. Aber dieser Zauberkunst folgt, wenn sie ausgeübt wird, so viel ergi, dass es den Männern nicht schien, dass sie sie ohne Schande über sich zu bringen betreiben konnten, und so wurden die Priesterinnen3 in dieser Kunst unterwiesen.4

Demzufolge kann seiðr also sowohl zur Divination als auch als Schadenszauber eingesetzt werden und wer sich seiner bedient, dem verhilft er zu enormem Machtzuwachs. Doch alles hat seinen Preis: Laut Snorri ist die Ausübung des seiðr mit so viel ergi verbunden, dass es als unpassend und sogar schändlich erachtet wird, wenn Männer sich dieser Magieform widmen – eine Stigmatisierung, vor der offenbar nicht einmal der Götterfürst Óðinn gefeit ist. Dabei hat der Begriff ergi, welcher hier so eng mit der Praxis des seiðr assoziiert wird, es wahrlich in sich: Im Altnordischen gibt es kaum einen anderen Vorwurf, der ähnlich dazu geeignet wäre, die Ehre eines Mannes anzugreifen und seine Männlichkeit in Frage zu stellen.5 Vorläufig kann ergi

1 Vgl. Mayburd, Miriam: „‚Helzt þóttumk nú heima í millim . . . ‘ A reassessment of Hervör in light of seiðr’s supernatural gender dynamics“, in: ANF, 129, 2014, S. 130. 2 „Ynglinga saga“, in: Bjarni Aðalbjarnason (Hg.): Heimskringla, Bd. 1. Reykjavík, 1941 (Íslenzk Fornrit, 26), Kap. 7, S. 19. 3 Gyðja kann sowohl ‚Priesterin‘ als auch ‚Göttin‘ bedeuten; aufgrund der stark euhemeristisch geprägten Darstellung der Ynglinga saga ergibt sich hierbei jedoch ohnehin eine Bedeutungsvermischung: So wird im gleichen Text z. B. die vermenschlichte Freyja als blótgyðja (vgl. Hkr I, Yngl saga, Kap. 4, ÍF 26, S. 13) bezeichnet. 4 Sofern nicht anders gekennzeichnet, stammen die in der vorliegenden Arbeit verwendeten Übersetzungen von der Verfasserin. 5 S. Ström, Folke: Níð, ergi and Old Norse moral attitudes. The Dorothea Coke Memorial Lecture in Northern Studies delivered at University College London 10 May 1973. London, 1974, S. 4: „Ergi, https://doi.org/10.1515/9783110678772-001

2

I Einführung

als ‚Unmännlichkeit‘ definiert werden, wenngleich der Bedeutungsgehalt dieses komplexen Phänomens noch weiter greift und zu einem späteren Zeitpunkt der vorliegenden Untersuchung detailliert betrachtet werden soll.6 Anhand von Snorris berühmter Beschreibung des seiðr wird in jedem Fall deutlich, dass die Ausübung dieser Magieform mit einem eklatanten Verstoß gegen die in der altnordischen Gesellschaft7 vorherrschenden Geschlechternormen konnotiert wurde. Der seiðr beinhaltet also ein Element der Grenzüberschreitung, welches wiederum charakteristisch für diese Zauberkunst gewesen sein muss, da dies für keine andere der zahlreichen magischen Praktiken, welche in der altnordischen Überlieferung erwähnt werden, zu verzeichnen ist. Daher liegt die Vermutung nahe, dass sich das Transgressionspotential des seiðr nicht nur auf geschlechtliche Konventionen erstreckt, sondern vielmehr als integraler Bestandteil auch anhand anderer Aspekte dieser Magieform sichtbar werden und sich zudem innerhalb der Darstellung seiðr-Praktizierender in den altnordischen Quellen manifestieren dürfte. Diesen Thesen nachzugehen und dadurch neue Perspektiven auf den seiðr und nicht zuletzt seine Konnotation mit ergi eröffnen zu können, ist das Ziel der vorliegenden Untersuchung.

2 Methode und Aufbau der Arbeit Um den grenzüberschreitenden Charakter des seiðr näher zu ergründen, soll das durch die Ritualtheorien Arnold van Genneps und Victor Turners begründete Konzept der Liminalität (von lat. limen ‚Schwelle‘, ‚Türschwelle‘)8 für die altnordischen Belege zu seiðr und seinen Praktizierenden fruchtbar gemacht werden. Dabei wird nach einem einführenden Überblick über das Wirkungsspektrum des seiðr sowie die wichtigsten Merkmale seiner menschlichen und göttlichen Praktizierenden zunächst untersucht, welches Weltbild der Überlieferung des mittelalterlichen Islands zugrundeliegt. Ein besonderes Augenmerk gilt hierbei der Konzeption von (mythischen) Räumen und ihrer Abgrenzung voneinander, um bereits an dieser Stelle Hinweisen darauf nachzugehen, inwiefern die Ausübung des seiðr mit der Überschreitung eines limen assoziiert wurde. Danach soll die Analyse liminaler Charakteristika innerhalb der Darstellung menschlicher seiðr-Praktizierender Aufschluss darüber geben, ob und inwieweit diese Figuren in der altnordischen Literatur

like the adjective argr from which it is formed, has a strong pejorative sense: It is scarcely an exaggeration to say that no other Norse word was able to provoke such violent feelings and reactions.“ 6 Vgl. dazu Kapitel VIII 2 der vorliegenden Arbeit. 7 Die linguistischen und kulturellen Verbindungen zwischen Norwegen und Island waren im Mittelalter so eng, dass man von einer gemeinsamen ‚altnordischen‘ Kultur sprechen kann; vgl. dazu auch Meulengracht Sørensen, Preben: The Unmanly Man. Concepts of sexual defamation in early Northern Society. Translated by Joan Turville-Petre. Odense, 1983 (Viking Collection, 1), S. 15. 8 Vgl. Gehlen, Rolf: Art. „Liminalität“, in: HrwG, Bd. 4. Stuttgart, Berlin, Köln, 1998, S. 58.

3 Quellen

3

als Grenzgänger und Schwellenwesen präsentiert werden. Der nächste Abschnitt widmet sich der gedanklichen Verknüpfung des seiðr mit den biographischen Schwellenerfahrungen Geburt, Adoleszenz und Tod, wobei nicht nur entsprechende Episoden der altnordischen Literatur, sondern auch Berührungspunkte der göttlichen seiðr-Meister Óðinn und Freyja mit den jeweiligen Themengebieten eingehend besprochen werden. Im Anschluss werden die überaus bedeutsamen Verbindungslinien zwischen seiðr sowie seinen Praktizierenden und dem zur liminalen Phase gehörigen Phänomen der Ortsunfestigkeit erörtert, ehe die Arbeit mit einer detaillierten Analyse der Konnotation von seiðr mit ergi schließt. Die Betrachtung von ergi als Erscheinungsform geschlechtlicher Liminalität soll zudem der Beschäftigung mit diesem Themenkomplex neue Impulse geben.

3 Quellen Da die altnordischen Quellen leider so gut wie keine Beschreibungen der mit seiðr verbundenen rituellen Praktiken enthalten, welche Auskunft bezüglich eventuell darin vorkommender Normverstöße geben könnten, ist eine nähere Untersuchung der grenzüberschreitenden Charakteristika dieser Magieform nur mit Hilfe eines breiten Quellenkorpus möglich. Dabei gilt es, die in der altnordischen Literatur weit verstreuten Belege zu seiðr mit Material aus der gemeingermanischen Überlieferung in Bezug zu setzen. Die in der vorliegenden Arbeit verwendete Primärliteratur umfasst in erster Linie die eddische Dichtung sowie Isländer- und Königssagas, da diese Zeugnisse die meisten Nennungen des seiðr und seiner Praktizierenden beinhalten. Es werden jedoch auch skaldische Verse, Meldungen der Snorra Edda sowie Belegstellen aus Vorzeitsagas berücksichtigt. Die Grundlage für die getroffene Textauswahl bildet die von Dag Strömbäck im Rahmen seiner Dissertation Sejd. Textstudier i nordisk religionshistoria9 (1935) vorgelegte Materialsammlung. Um das Phänomen seiðr in einem größeren Gesamtkontext betrachten zu können, stellen zudem die um das Jahr 1200 in lateinischer Sprache verfassten Gesta Danorum des dänischen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus eine wertvolle Quelle dar, welche aus einer christlichen Perspektive Mythen als Vorgeschichte präsentieren und so eine Vielzahl altnordischer Sagen bewahren, von denen wir ansonsten keine Kenntnis hätten. Auch ausländische Werke, wie insbesondere die um das Jahr 98 nach Christus verfasste Germania des römischen Historikers Tacitus oder die Gesta Hammaburgensis

9 In der vorliegenden Untersuchung zitierte Ausgabe dieses Textes: Strömbäck, Dag: Sejd och andra studier i nordisk själsuppfattning av Dag Strömbäck. Med Bidrag av Bo Almqvist, Gertrud Gidlund, Hans Mebius. Redaktör Gertrud Gidlund. Uppsala, 2000 (Acta Academiae Regiae Gustavi Adolphi, 72).

4

I Einführung

Ecclesiae Pontificum des um 1080 verstorbenen deutschen Kirchenhistorikers Adam von Bremen, beinhalten durch ihre Schilderung vorchristlicher Gebräuche interessante Aspekte in Hinblick auf das Thema der vorliegenden Arbeit, weswegen einige ihrer Mitteilungen für die Analyse mit herangezogen werden. Anhand von Quellen, welche in mittelalterlichen Handschriften – Generationen nach der Christianisierung – schriftlich fixiert wurden, Aussagen über eine so spezifische Erscheinungsform der altnordischen Magie wie den seiðr, die untrennbar mit paganen Traditionen verbunden ist, treffen zu wollen, wird immer ein schwieriges, jedoch nicht hoffnungsloses Unterfangen bleiben. Denn die Tatsache, dass ein Text aus christlicher Zeit stammt, muss nicht gleichzeitig bedeuten, dass er kein heidnisches Material behandeln kann. Obgleich sicherlich ein christlicher Standpunkt die Niederschrift der entsprechenden Zeugnisse beeinflusste, waren insbesondere auf Island, wo die altnordische Überlieferung fast ausschließlich aufgezeichnet wurde, die Bedingungen für eine Bewahrung paganer Traditionen günstig, denn die relativ späte und weitgehend friedliche Annahme des Christentums per Beschluss auf dem Althing wurde nicht von größeren Veränderungen im sozialen Gefüge begleitet.10 Die gesellschaftliche Elite Islands, welche schon in der heidnischen Ära über die politische und ökonomische Macht verfügte und auch den Kulten vorstand, blieb vielmehr auch nach dem Religionswechel tonangebend: Angehörige der mächtigsten Familien besetzten die zentralen Positionen der Kirche und hatten die Bistümer im südlichen Skálholt (seit 1056) und in Hólar im Norden (seit 1106) inne, wobei die Bischöfe auf dem Althing gewählt und erst anschließend geweiht wurden.11 Auch die Prioren in Islands frühesten Klöstern rekrutierten sich aus den mächtigsten Geschlechtern. Dieser Personenkreis besaß ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein und nutzte die mit dem Christentum nach Island gekommene Schriftkultur zur Bewahrung seiner bis in die heidnische Zeit zurückreichenden Familientraditionen und Genealogien, um durch diese „Erinnerungspolitik“ seinen Machtanspruch zu untermauern.12 Dabei war das Hauptanliegen der Sagaautoren nicht das Erschaffen rein fiktionaler und unterhaltsamer Texte, sondern vielmehr Sinn- und Identitätsstiftung13 „auf sozialer, politischer und kultureller Ebene“14. Gerade die Isländersagas rekurrieren oftmals stark auf die Regionalgeschichte und haben daher einen nicht zu unterschätzenden Realitätsanspruch, da allzu viele Abweichungen von tatsächlichen geschichtlichen Ereignissen von den Rezipienten, die sich eine glaubhafte Wiedergabe

10 Vgl. Böldl, Klaus: Götter und Mythen des Nordens. Ein Handbuch. München, 2013, S. 37. 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. Böldl, Klaus: Eigi einhamr. Beiträge zum Weltbild der Eyrbyggja und anderer Isländersagas. Berlin, New York, 2005 (Ergänzungsbände zum RGA, 48), S. 46. 14 Ebd.

4 Forschungsgeschichtlicher Überblick

5

der Sagazeit erwartet haben dürften,15 sicherlich nicht gut aufgenommen worden wären.16 Diese Gegebenheiten boten der Erinnerung an einheimische Traditionen einen weitaus besseren Rahmen, als dies auf dem Kontinent der Fall war.17 Begünstigend auf die Entwicklung der Schriftkultur auf Island und damit verbunden für die Bewahrung vorchristlicher Überlieferung wirkte sich zudem die Dominanz der Benediktinerklöster auf Island aus, deren Bestreben im hohen Maß auf Gelehrsamkeit und Archivierung ausgelegt war.18 Diesen günstigen Voraussetzungen ist es zu verdanken, dass das, was die altnordischen Quellen zu berichten wissen, im Kern vielfach auf oralen Überlieferungen beruht, die ein weit höheres Alter aufweisen als die Handschriften, in welchen diese Texte bewahrt sind, und somit auch Einblicke in vorchristliche Traditionen zu geben vermag.

4 Forschungsgeschichtlicher Überblick Die vorliegende Arbeit möchte der Erforschung des seiðr neue Impulse geben und beteiligt sich dabei an einem nunmehr seit Jahrzehnten andauernden wissenschaftlichen Diskurs, dessen wesentliche Positionen und ihre Vertreter im Folgenden vorgestellt werden sollen. Bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurde seiðr auf seine Ähnlichkeiten mit schamanistischen Praktiken hin untersucht: 1877 stellte Johan Fritzner in seiner Schrift „Lappernes Hedenskab og Trolddomskunst sammenholdt med andre Folks isaer Nordmändernes Tro og Overtro“ einen Vergleich zwischen dieser Erscheinungsform der altnordischen Magie und dem samischen Schamanismus an.19 Erneut aufgegriffen wurde diese These einige Jahrzehnte später, als Dag Strömbäck 1935 seine wegweisende Dissertation Sejd. Textstudier i nordisk religionshistoria veröffentlichte. Diese beinhaltete erstmalig eine umfassende Belegstellensammlung zum Thema seiðr, die in der Neuausgabe des Werkes im Jahr 2010 von Bo Almqvist in seinem Beitrag

15 Vgl. Böldl, Klaus: „Die Religion in den Isländersagas“, in: Böldl, Klaus; Vollmer, Andreas; Zernack, Julia (Hgg.): Isländersagas. Texte und Kontexte. Frankfurt am Main, 2011 (Isländersagas, 5), S. 142. 16 Vgl. Böldl, Eigi einhamr, S. 58. 17 Vgl. Böldl, Klaus: Der Mythos der Edda. Nordische Mythologie zwischen europäischer Aufklärung und nationaler Romantik. Tübingen, Basel, 2000, S. 289. 18 Böldl, Götter und Mythen, S. 39. 19 S. Fritzner, Johann: „Lappemes Hedenskab og Trolddomskunst sammenholdt med andre Folks isaer Nordmändernes Tro og Overtro“, in: Historisk Tidsskrift, 4, 1877, S. 135–217. Vgl. dazu Dillmann, François-Xavier: Les magiciens dans l’Islande ancienne. Études sur la répresentation de la magie islandaise et de ses agents dans les sources littéraires norroises. Uppsala, 2006 (Acta Academiae regiae Gustavi Adolphi, 92), S. 269 f.

6

I Einführung

„I marginalen til Sejd“20 wertvolle Ergänzungen erfuhr. Strömbäck zeigte die konstituierenden Elemente des seiðr auf und kam mittels einer komparativen Methode zu dem Schluss, dass es sich bei dieser Magieform um eine Entlehnung aus dem samischen Bereich handeln müsse. Aufgrund seiner ekstatischen Züge und der daran anschließenden Seelenreise, die wichtige Elemente des seiðr darstellten, klassifizierte Strömbäck ihn als eine Art von Schamanismus.21 Strömbäcks Thesen stießen vor allem bei Åke Ohlmarks auf heftige Kritik,22 welcher eine Betrachtung des seiðr als „klassische“ schamanistische Praktik rigoros ablehnte. Ohlmarks hatte eine Unterscheidung zwischen ‚arktischem‘ und ‚subarktischem Schamanismus‘ vorgenommen, wobei er Ersteren als das ursprünglichere „große Schamanieren“23 bezeichnete. Der ‚arktische Schamanismus‘ beinhalte eine tiefe Ekstase, Seelenreisen und kataleptische Trancezustände, während beim ‚subarktischen Schamanismus‘ keine derartig tiefe Ekstase auftrete und die Trance nur künstlich mit Hilfe von psychotropen Substanzen, Trommeln oder Gesang hervorgerufen werde. Demnach falle der seiðr in die Kategorie des ‚subarktischen Schamanismus‘ und könne nicht als klassische schamanistische Praktik gedeutet werden.24 Die Frage, ob seiðr als schamanistische Praktik oder gar als ‚Schamanismus des alten Skandinaviens‘ schlechthin betrachtet werden kann, ist ein quasi nie versiegendes Thema in der Forschung. Auch Dillmann widmet dieser Fragestellung ein langes Kapitel seiner Monographie Les magiciens dans l’Islande ancienne,25 wobei er zu dem Ergebnis kommt, dass seiðr schamanistische Züge vermissen lasse – insbesondere fehlten Hinweise auf Ekstasezustände der Praktizierenden.26 Diesbezüglich optimistischer ist Thomas DuBois, der seiðr in Nordic Religions in the Viking Age konträr zu Dillmann als schamanistische Praktik interpretiert, die auch mit dem Hervorrufen von Trancezuständen einhergehe.27 In seiner Arbeit Shamanism in Norse Myth and Magic befasst sich auch Clive Tolley mit der Verbindung zwischen

20 S. Almqvist, Bo: „I marginalen til Sejd“, in: Strömbäck, Dag: Sejd och andra studier i nordisk själsuppfattning av Dag Strömbäck. Med Bidrag av Bo Almqvist, Gertrud Gidlund, Hans Mebius. Redaktör Gertrud Gidlund. Uppsala, 2000 (Acta Academiae Regiae Gustavi Adolphi, 72), S. 237–272. 21 S. Strömbäck, Sejd, S. 192: „[. . .] härvid utgående ifrån att sejden närmast vore att uppfatta såsom ett slags schamanism.“ Vgl. dazu Gardeła, Leszek: Entangled worlds. Archaeologies of Ambivalence in the Viking Age, Bd. 1: Text. Aberdeen, 2012, S. 32 sowie Dillmann, Magiciens, S. 271. 22 S. Ohlmarks, Åke: „Arktischer Schamanismus und altnordischer seiðr“, in: Archiv für Religionwissenschaft, 36, 1939, S. 171–180. 23 Ohlmarks, Arktischer Schamanismus, S. 174. 24 Vgl. Gardeła, Entangled worlds, Bd. 1, S. 32. 25 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 269–308. 26 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 307 f. 27 S. DuBois, Thomas A.: Nordic Religions in the Viking Age. Pennsylvania, 1999, S. 128.

4 Forschungsgeschichtlicher Überblick

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seiðr und Schamanismus, stellt jedoch fest: „The functional correspondence between seiðr and shamanism is minimal.“28 Die Erforschung seiner von der binären Geschlechternorm abweichenden Eigenschaften kann als ein zweiter thematischer Schwerpunkt innerhalb der wissenschaftlichen Beschäftigung mit seiðr betrachtet werden. Allerdings wird die Überschreitung der Geschlechtergrenzen im seiðr bzw. seine Konnotation mit ergi oftmals ebenfalls als ein schamanistischer Zug dieser Magieform interpretiert, da ein ritueller Geschlechtswandel ein häufig anzutreffendes Phänomen im nordeurasischen Schamanismus ist.29 Insbesondere die norwegische Archäologin Britt Solli vertritt diese Ansicht30 und untersucht die mit seiðr assoziierten geschlechtlichen Transgressionen in ihrer Monographie Seid. Myter, sjamanisme og kjønn i vikingens tid31 im Lichte der queer theory. Verschiedene Essays der jüngeren Zeit behandeln ebenfalls die von der Geschlechternorm abweichenden Züge des seiðr; zu nennen sind hier besonders „The Trollish Acts of Þorgrímr the Witch: The Meanings of Troll and Ergi in Medieval Iceland“32 und „Óðinn as mother. The Old Norse deviant patriarch“33 von Ármann Jakobsson sowie Miriam Mayburds „‚Helzt þóttumk nú heima í millim . . . ‘ A reassessment of Hervör in light of seiðr’s supernatural gender dynamics“34. Eldar Heide bringt die Ausübung des seiðr mit Spinnen und Weben in Verbindung. Da es sich hierbei um charakterische Frauenarbeiten handle, sei darin die Ursache für die Konnotation des seiðr mit „Unmännlichkeit“ zu suchen.35 Heides Interpretation gründet sich darauf, dass im seiðr-Ritual durch die oder den Praktizierenden symbolisch oder tatsächlich ein „mind emmissary“36 gesponnen werde, der „could be conceived as something spun, a thread“37. Seit Ende der neunziger Jahre ist seiðr auch verstärkt in den Fokus der Archäologie gerückt, was interdisziplinäre Studien zu diesem Thema hervorgebracht

28 Tolley, Clive: Shamanism in Norse Myth and Magic, Bd. 1. Helsinki, 2009 (Folklore Fellows Communications, 296), S. 142. 29 So auch bereits Strömbäck, Sejd, S. 195. Vgl. hierzu Kapitel VIII 5.2 der vorliegenden Arbeit. 30 Vgl. dazu aber auch z. B. Grambo, Ronald: „Unmanliness and seiðr: Problems concerning the change of sex“, in: Hoppál, Mihály; von Sadovszky, Otto (Hgg.): Shamanism. Past and Present, Bd. 1. Budapest, Los Angeles et al., 1989, S. 103–113. 31 S. Solli, Brit: Seid. Myter, sjamanisme og kjønn i vikingenes tid. Oslo, 2002. 32 S. Ármann Jakobsson: „The Trollish Acts of Þorgrímr the Witch: The Meanings of Troll and Ergi in Medieval Iceland“, in: Ármann Jakobsson: Nine Saga Studies. The Critical Interpretation of the Icelandic Sagas. Reykjavík, 2013, S. 93–123. 33 S. Ármann Jakobsson: „Óðinn as mother. The Old Norse deviant patriarch“, in: ANF, 126, 2011, S. 5–16. 34 S. Mayburd, Helzt þóttumk nú, S. 121–164. 35 S. Heide, Eldar: Gand, seid og åndevind. Avhandling til graden dr. art. Bergen, 2006. 36 Heide, Eldar: „Spinning seiðr“, in: Andrén, Anders; Jennbert, Kristina; Raudvere Catharina (Hgg.): Old Norse religion in long-term perspectives. Origins, changes, and interactions. An international conference in Lund, Sweden, June 3–7, 2004. Lund, 2006 (Vägar till Midgård, 8), S. 165. 37 Heide, Spinning seiðr, S. 164.

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I Einführung

hat: Insbesondere Neil Price38 und Leszek Gardeła39 setzen die altnordische Schriftüberlieferung zu seiðr in Beziehung zu Grabfunden. Im Fokus stehen hierbei vor allem deviant burials: Sonderbestattungen von Individuen, die als Ritualspezialisten interpretiert und aufgrund der mit ihnen bestatteten Objekte womöglich als seiðrPraktizierende angesprochen werden können. Besonderes Interesse erwecken die in derartigen Grablegungen entdeckten Stäbe, da die altnordischen Quellen den Stab wiederholt als charakteristisches Utensil der vǫlur40 nennen.

5 Magie: Begriff und Definition Ehe wir uns näher mit den spezifischen Eigenschaften des seiðr beschäftigen, ist es notwendig, den Magiebegriff als solchen zu präzisieren, um somit auch die den altnordischen Magievorstellungen zugrundeliegenden Konzepte besser verstehen zu können. Eine eindeutige Definition der Magie zu geben, ist allerdings ein nicht zu bewerkstelligendes Unterfangen – allenfalls eine Annäherung an dieses komplexe Phänomen erscheint möglich.41 Der Magiebegriff wurde von der anthropologischen, ethnologischen sowie der religions- und sozialgeschichtlichen Forschung bislang nur unscharf erfasst.42 Etymologisch geht das Wort ‚Magie‘ auf griech. mageia zurück, was sich wiederum von mágoi herleitet. Bei den mágoi handelte es sich um einen medisch-persischen Stamm oder eine Kaste von Priestern, die sich mit der Deutung von Vorzeichen beschäftigten und als Heilkundige betätigten. Einige dieser Priester gelangten offenbar ab dem 5. Jahrhundert oder früher in den Mittelmeerraum und kamen dort mit den Griechen in Berührung. Was genau die Praktiken der mágoi umfassten, blieb den Griechen und Römern jedoch weitgehend verborgen.43 Der Terminus ‚Magie‘ war also bereits in früher Zeit „einigermaßen unklar“44 und eher negativ konnotiert: „An den Begriff der Magie hefteten sich starke Emotionen, er war schon früh von zahlreichen Nebenbedeutungen umgeben: Magie war etwas Verdächtiges, etwas Bedrohliches.“45 Rasch

38 S. Price, Neil: The Viking way: religion and war in late Iron Age Scandinavia. Uppsala, 2002 (Aun, 31). 39 Ausführlich in Gardeła, Entangled worlds, passim; aber auch in zahlreichen seiner Aufsätze. 40 In der altnordischen Literatur werden Frauenfiguren, die seiðr zur Divination einsetzen, oftmals als vǫlur bezeichnet. Obwohl die prophetischen Aktivitäten der vǫlur nicht immer auch explizit als seiðr angesprochen werden, besteht eine enge Verbindung zwischen vǫlur und seiðr. Vgl. hierzu Kapitel II 2.1.1 der vorliegenden Arbeit. 41 Vgl. Kippenberg, Hans G.: Art. „Magie“, in: HrwG, Bd. 4. Stuttgart, Berlin, Köln, 1998, S. 85 f. 42 Vgl. Petzoldt, Leander: Art. „Magie“, in: Wilhelm Brednich et al. (Hgg.): Enzyklopädie des Märchens, Bd. 9. Berlin, New York, 1999, Sp. 3. 43 Vgl. Kieckhefer, Richard: Magie im Mittelalter. München, 1992, S. 19. 44 Ebd. 45 Ebd.

5 Magie: Begriff und Definition

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verlor das griechische mágoi seine begrenzte Bedeutung und wurde zur Bezeichnung von ‚Zauberern‘ im Allgemeinen verwendet.46 Von christlichen Autoren wurde später besonderes Gewicht auf die negativen Untertöne des Magiebegriffs gelegt.47 Leander Petzold beschreibt die Magie des abendländisch-christlichen Kulturraumes, deren Ursprünge bis in vorgeschichtliche Zeiten zurückreichen,48 als „gewissermaßen ein empirisches präwiss[enschaftliches; C. K.] System, das der antiken mediterranen Welt durch griech. schreibende Gelehrte aus Babylonien vermittelt wurde.“49 Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Entwicklungsstränge in der Geschichte der abendländischen Magie ausmachen, die bis in die Neuzeit hinein Bestand haben: Der erste ist dämonologischer Ausprägung und umfasst den Hexen- und Teufelsglauben, Spiritismus und Okkultismus sowie die auf diesen Phänomenen fußende Hexenverfolgung und Inquisition. Die zweite Entwicklungslinie beinhaltet magisch-naturphilosophische Vorstellungen und bereitete über die Alchemie den Weg für die moderne Naturwissenschaft, wobei sich eine Trennung von Magie und Naturwissenschaft erst ab dem 18. Jahrhundert vollzieht.50 Der Naturmagie als positivem und heilendem Prinzip stand dabei seit Anbeginn „eine Tradition zauberischer ‚Vulgärmagie‘“51 gegenüber, die sich dem Schadenszauber und der Aktivierung dämonischer und schadenbringender Mächte verschrieben hatte.52 Dabei sind Magie und Religion nicht klar voneinander abzugrenzen, sondern stehen vielmehr in einem genetischen Zusammenhang. Als Kriterium zur Unterscheidung der beiden Phänomene wurde die Haltung des Menschen gegenüber den von ihm in Anspruch genommenen Kräften herangezogen: Die demütige Bitte an eine höhere Macht wäre demnach ein Kennzeichen der Religion, welchem das Aufzwingen des eigenen Willens sowie die Kontrolle über die angerufene(n) Wesenheit(en) als Merkmale der Magie gegenüberstünden.53 Diese Differenzierung ist indessen nur sehr begrenzt aussagefähig und zeigt schon, dass letztlich beiden Varianten der Interaktion bzw. Anrufung etwas viel Wesentlicheres gemeinsam ist: Der Glaube an die Existenz einer übernatürlichen Macht an sich, die als wirkmächtig in Bezug auf Schicksal und Wünsche der Menschen betrachtet wird.54

46 Vgl. Kippenberg, Magie, S. 85 sowie Schmalzer, Sabine: Aspekte der magischen Weisheit in den epischen Liedern der Edda und der finnisch-karelischen Volksdichtung. München, 2017 (Münchner Nordistische Studien, 29), S. 34. 47 Vgl. Kieckhefer, Magie, S. 19 sowie van Nahl, Jan Alexander: Snorri Sturlusons Mythologie und die mittelalterliche Theologie. Berlin, Boston, 2013 (Ergänzungsbände zum RGA, 81), S. 171. 48 Vgl. Petzoldt, Magie, (Enzykl. d. Märchens), Sp. 3. 49 Ebd. 50 Vgl. ebd., Sp. 3 f. sowie Schmalzer, Aspekte der magischen Weisheit, S. 35. 51 Petzoldt, Magie, (Enzykl. d. Märchens), Sp. 4. 52 Ebd. sowie Schmalzer, Aspekte der magischen Weisheit, S. 35. 53 Vgl. Petzoldt, Leander: Art. „Magie“, in: RGA, Bd. 19. Berlin, New York, 2001, S. 145; Schmalzer, Aspekte der magischen Weisheit, S. 36. 54 Vgl. Petzoldt, Magie, (RGA), S. 145.

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I Einführung

Bei archaischen Gesellschaften ist denn auch eine Trennung zwischen Magie und Religion nicht zu beobachten, vielmehr besteht dort eine Synthese von Magie, Religion und Medizin. Mit Hilfe dieses in sich geschlossenen Systems begegnet der Mensch seinen Krankheiten und Ängsten.55 Die Grundlage dieser Vorstellungen bildet ein gemeinsames Denksystem, das den Kosmos als von sympathetischen Strukturen durchzogen begreift, durch welche Mikro- und Makrokosmos, Mensch, Natur und höhere Mächte miteinander verbunden sind.56 Damit geht zum einen die Annahme einer Umweltbeseelung einher, die das Nicht-Antropomorphe (Natur, Gegenstände) personalisiert57, zum anderen jedoch auch die Tendenz dazu, unzulässige Kausalzusammenhänge herzustellen, die letztlich jeden Zufall ausschließen, und hinter den Ereignissen des menschlichen Lebens das Wirken übernatürlicher Mächte zu vermuten.58 Dabei hat die Magie ursprünglich durchaus soziale Funktion im alltäglichen Leben und ist nicht von der religiösen Kultausübung getrennt.59 Das eigentlich definierende Merkmal der Magie liegt in ihrem instrumentalen Charakter, der Anwendung bestimmter Rituale, Worte, Mittel und Gebärden, die Veränderungen einer Situation bzw. der Umwelt herbeiführen sollen. In erster Linie will die Magie also „bewirken und verändern und ist in diesem Sinn eindeutig kausal-instrumental.“60 Die entsprechenden rituellen Handlungen sind indessen nur innerhalb eines kollektiven Glaubenssystems wirksam,61 welches wiederum im magischen Ritual affirmiert wird. Ein solches „magisches Denken“, das nicht klar von Religionsausübung abzugrenzen ist, begegnet auch in der altnordischen Literatur.

6 Magie im mittelalterlichen Skandinavien: seiðr in Abgrenzung zu anderen Erscheinungsformen der altnordischen Magie Im Zuge der Christianisierung wurden von Kirche und weltlichen Herrschern gesetzliche Bestimmungen gegen Zauberei erlassen.62 Dies geschah auch im Norden

55 Vgl. Schulz, Monika: Magie oder die Wiederherstellung der Ordnung. Frankfurt, 2000 (Beiträge zur Europäischen Ethnologie und Folklore, 5), S. 41; Schmalzer, Aspekte der magischen Weisheit, S. 37. 56 Vgl. Petzoldt, Magie, (Enzykl. d. Märchens), Sp. 4. 57 Vgl. Petzoldt, Magie, (RGA), S. 146 sowie Birkhan, Helmut: Magie im Mittelalter. München, 2010, S. 18–20. 58 Vgl. Petzoldt, Magie, (RGA), S. 146 sowie Birkhan, Magie im Mittelalter, S. 17 f. 59 Vgl. Petzoldt, Magie, (RGA), S. 145. 60 Schulz, Magie, S. 388 f. 61 Vgl. Petzoldt, Magie, (RGA), S. 145. 62 Vgl. Kieckhefer, Magie im Mittelalter, S. 204. Für einen Überblick über Verbot und Verfolgung der Magie im Mittelalter vgl. ebd., S. 202–230.

6 Magie im mittelalterlichen Skandinavien

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Europas. So setzen die im 12. Jahrhundert abgefassten norwegischen Gulaþingslǫg, welche bis zur zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Kraft waren,63 Folgendes fest: En sa annarr er ferr með galldra oc gerningar. oc verða at þvi kunnir oc sanner. þeir scolo fara or landeign konongs várs. þvi eigu menn eigi at lyða. En ef þeir lyða. þa hava þeir firigort hverium penningi fiár sins. En þeir scolo kost eiga at ganga til skripta oc beota við Krist.64 Und derjenige, der sich mit Zauberliedern und Zauberei befasst, und von dem dies bekannt und der dessen überführt wird, die sollen den Grundbesitz unseres Königs verlassen, denn das haben Männer nicht zu befolgen. Aber wenn sie sie [die Zauberei] befolgen, dann haben sie jede Münze aus ihrem Besitz verwirkt. Aber sie sollen die Möglichkeit haben, zur Beichte zu gehen und vor Christus Buße zu tun.65

Auch die Grágás – eine Sammelbezeichnung für die schriftliche Überlieferung altisländischen Rechtsstoffes, die in zwei auf das späte 13. Jahrhundert datierten Manuskripten, der Konungsbók und der Staðarhólsbók, tradiert ist66 – notiert ein ähnliches Verbot: Ef maþr ferr með galldra eþa gørningar. eþa fiolkýngi. þa ferr hann með fiolkyngi. ef hann queðr þat eþa kennir. eþa lætr queða, at ser eþa fe sinu. þat varðar honum fiorbaugs Garþ.67 Wenn ein Mann sich mit Zauberliedern oder Zauberei befasst, oder Zauberkunst. Da verwendet er Zauberkunst, wenn er sie spricht oder kennt [oder auch: lehrt] oder sprechen lässt, auf sich oder seinen Besitz bezogen. Dafür wird er mit der geringeren Acht bestraft.68

Zur Zeit der Verschriftlichung der altisländischen Literatur war das Praktizieren von Magie also bereits bei Strafe verboten, gehörte aber dennoch ebenso zur Lebensrealität der Sagaautoren des 13. und 14. Jahrhunderts wie zu derjenigen ihrer paganen Vorfahren, deren Erlebnisse sie niederschrieben. Dies ist von entscheidender Bedeutung für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Magie in der altnordischen Literatur: Obschon es sich bei den literarischen Quellen des mittelalterlichen Skandinaviens um aus christlicher Perspektive geschriebene Texte handelt, werden die verschiedenen Erscheinungsformen der Magie von den Sagaautoren nie als bloßer Aberglaube

63 Vgl. Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 15. 64 Norges Gamle Love indtil 1387, herausgegeben von Rudolf Keyser und Peter Andreas Munch, Bd. 1. Norges Love ældre end Kong Magnus Haakonssöns Regjerings-Tiltrædelse i 1263. Christiana, 1846, S. 17. 65 Vgl. zur Übersetzung van Nahl, Snorri, S. 173. 66 Vgl. hierzu Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 16 sowie Naumann, Hans-Peter: Art. „Grágás“, in: RGA, Bd. 12. Berlin, New York, 1998, S. 569 f. 67 Islændernes Lovbog i Fristatens Tid, udgivet efter det Kongelige Bibliotheks Haandskrift og oversat af Vilhjálmur Finsen, for det nordiske Literatur-Samfund. Anden Del. Text II. Kjøbenhavn, 1852 [=GrgKon], S. 22. 68 Vgl. zur Übersetzung van Nahl, Snorri, S. 173.

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I Einführung

ihrer heidnischen Ahnen abgetan.69 Selbst wenn der pagane Charakter des Zaubers fast immer hervorgehoben und somit eine Distanz dazu aufgebaut wird, steht seine Effektivität außer Frage: Zauberhandlungen erzielen stets die gewünschten Resultate und erscheinen somit als real wirksam.70 Auffallend ist dabei die enorme Vielfalt an magischen Praktiken, von welchen die Quellen zu berichten wissen: Altnordische Texte enthalten diverse Begriffe zur Denotation magischer Phänomene, wie bereits anhand der oben zitierten Passagen aus den Gulaþingslǫg und der Grágás ersichtlich wurde. So begegnen u. a. die Termini fjǫlkynngi, frœði, galdr, gerningar, trolldómr und tǫfr, die allesamt mit ‚Zauberei‘ übersetzt werden können,71 ohne dass dem heutigen Rezipienten klar wird, worin sich die dahinterstehenden magischen Praktiken im Einzelnen unterschieden haben könnten. Eine derartige Fülle an Umschreibungen für Zauberhandlungen zeugt von der großen Bedeutung der Magie in der altnordischen Überlieferung, die offensichtlich unterschiedlichen Deutungen und Wertungen unterlag und Differenzierungen aufwies, die uns heute nicht mehr zugänglich sind.72 Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf seiðr und berücksichtigt in erster Linie Belege, in denen dieser Begriff sowie das dazugehörige Verb síða wörtlich erwähnt werden. Ebenfalls inkludiert werden Zeugnisse, bei welchen es diskutabel ist, ob sie als zum seiðr-Komplex gehörig gewertet werden können. Zudem wird bisweilen Vergleichsmaterial herangezogen, das keine Nennung von seiðr beinhaltet, aber dennoch einen Erkenntnisgewinn für die Erforschung des seiðr-Komplexes bereithält. Angesichts der eben angesprochenen terminologischen Unschärfe altnordischer Magie mag sich die Frage stellen, ob eine derartige Fokussierung von seiðr überhaupt möglich und nicht allzu willkürlich ist – handelt es sich doch dabei anscheinend nur um einen weiteren Begriff, der wie die oben genannten zur Bezeichnung von Zauberhandlungen in altnordischen Texten verwendet wird. Dies ist jedoch damit zu rechtfertigen, dass seiðr über sehr spezifische Eigenschaften verfügt, welche ihn von anderen Spielarten der altnordischen Magie abheben. Im weiteren Verlauf dieser Untersuchung werden diese Charakteristika eingehend besprochen; den Anfang macht ein Überblick über das Wirkungsspektrum sowie die Praktizierenden des seiðr.

69 Böldl, Religion in den Isländersagas, S. 167. 70 Ebd. 71 Eine Nuancierung ist z. B. im Fall der Begriffe galdr und frœði zu beobachten, die beide eher ein Zauberlied oder eine Zauberformel zu bezeichnen scheinen (vgl. Baetke, Walter: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur. 8., unveränderte Auflage. Berlin, 2005 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, phil.-hist. Klasse 111/1,2), S. 166 und S. 180). Sobald galdr allerdings als Bestandteil von Komposita begegnet, ist eine derartige Differenzierung nicht mehr zu erkennen: So bedeutet z. B. galdrmaðr genau wie tǫframaðr ‚Zauberer‘ (vgl. Baetke, Wörterbuch, S. 180 und S. 671). 72 Vgl. van Nahl, Snorri, S. 173.

II Wirkungsspektrum und Praktizierende des seiðr 1 Das Wirkungsspektrum des seiðr 1.1 Vorbemerkungen Obgleich die eingangs vorgestellte Beschreibung des seiðr in der Ynglinga saga (Kap. 7) keine Aussage über die Methoden und Techniken trifft, die mit seiner Ausübung verbunden waren, liefert sie wertvolle Informationen hinsichtlich des Wirkungsspektrums des seiðr.1 Demzufolge ist es Óðinn einerseits möglich, mithilfe dieser Magieform einen Blick in die Zukunft zu werfen und Kenntnis über das Schicksal der Menschen zu erlangen2, andererseits vermag er sich des seiðr aber auch als Schadensmagie zu bedienen, um Tod, Unglück und Krankheit bei den Menschen auszulösen oder ihnen Verstand und Körperkraft zu rauben3. Gemäß dieser Darstellung handelt es sich bei seiðr also um eine magische Praktik, die gleichermaßen zur Zukunftsschau als auch in schadenbringender Intention eingesetzt werden kann. Dementsprechend unterscheidet Dag Strömbäck in seiner Monographie Sejd zwischen „vit sejd“, der vornehmlich zur Divination dient und seinem Pendant, dem zu destruktiven Zwecken genutzten „svart sejd“.4 In den Quellen finden sich eine solch eindeutige Abgrenzung und die damit verbundenen Bezeichnungen jedoch nicht. Eine Distinktion von „weißer“ und „schwarzer“ Magie muss in Bezug auf den altnordischen Bereich sicherlich sehr differenziert vorgenommen werden.5 Im vorchristlichen Skandinavien ordnete man magische Handlungen nicht von vorneherein den Kategorien „Schwarz“ und „Weiß“ zu; ausschlaggebende Kriterien für die Distinktion zwischen positivem Zauber und Schadensmagie waren vielmehr die Intention und das Resultat der Zauberhandlung selbst.6 Diese Haltung scheint typisch für den germanischen Bereich gewesen zu sein, denn in den ältesten germanischen Rechten wurde nur der durch Zauberei verursachte Schaden, nicht aber das Praktizieren

1 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 33. 2 S. Hkr I, Yngl saga, Kap. 7, ÍF 26, S. 19: „[. . .] en af því mátti hann vita ørlǫg manna ok óorðna hluti [. . .].“ / „[. . .] und durch sie konnte er das Schicksal der Menschen und ungeschehene Dinge in Erfahrung bringen [. . .].“ 3 S. ebd.: „[. . .] svá ok at gera mǫnnum bana eða óhamingju eða vanheilendi, svá ok at taka frá mǫnnum vit eða afl ok gefa ǫðrum.“ / „[. . .] ebenso den Menschen Tod oder Unglück oder Krankheit zuteilwerden lassen, und den Menschen Verstand oder Körperkraft nehmen und sie anderen geben.“ Dass mittels seiðr Verstand oder physische Kraft eines Zauberzieles auf ein anderes übertragen werden kann, ist ansonsten nirgends belegt. 4 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 142. 5 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 136. 6 Vgl. Petzoldt, Magie, (RGA), S. 147. https://doi.org/10.1515/9783110678772-002

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II Wirkungsspektrum und Praktizierende des seiðr

von Magie als solches geahndet.7 Obschon sich dies in den frühen skandinavischen Gesetzestexten, deren Niederschrift in die Phase des Christianisierungsprozesses um 1100 fällt, ändert und dort alle Arten von Zauber – wenn auch in Abstufungen – unter Strafe stehen,8 zeigt sich in der altnordischen Literatur durchgängig die oben beschriebene Bewertung einer Zauberhandlung als negativ oder positiv anhand des durch sie hervorgerufenen Schadens oder Nutzens. Zudem spezialisieren sich Magiepraktizierende in den altnordischen Quellen oftmals nicht auf eine bestimmte Variante des Zaubers: Ein und dieselbe Person kann im Verlauf des jeweiligen Textes sowohl Schadensmagie als auch positive Zauber wirken.9 So bedient sich etwa der Skalde Egill in einer Episode der Egils saga Skalla-Grímssonar der Runenmagie, um ein junges Mädchen von einer durch einen fehlgeleiteten Liebeszauber induzierten Krankheit zu heilen,10 fixiert jedoch im späteren Verlauf der Saga mit Runen seine Verwünschungen gegen das norwegische Königspaar auf einer níðstǫng.11 Ebenso fügt die Zauberin Katla in der Eyrbyggja saga zwar dem jungen Gunnlaugr Þorbjarnason schwere Verletzungen zu,12 ist aber andererseits dazu in der Lage, ihren eigenen Sohn durch die Anfertigung eines Gewandes zu beschützen, das keine Waffen zu durchdringen vermögen,13 sowie ihn durch Magie vor den Augen seiner Verfolger zu verbergen14. Aus den vorgenannten Gründen erscheint es auch in Bezug auf seiðr nicht opportun, eine Differenzierung in „schwarze“ und „weiße“ Magie vorzunehmen, weswegen Strömbäcks Terminologie von „weißem“ und „schwarzem“ seiðr für die weitere Untersuchung nicht beibehalten wird. Im Folgenden gebe ich einen Überblick über die 7 Vgl. Simek, Rudolf: Religion und Mythologie der Germanen. Darmstadt, 2003, S. 213. 8 Vgl. ebd. 9 Vgl. hierzu Dillmann, Magiciens, S. 136. 10 Vgl. Egils saga Skalla-Grímssonar, herausgegeben von Sigurður Nordal. Reykjavík, 1933 (Íslenzk Fornrit, 2), Kap. 72, S. 229 f. 11 Vgl. Eg, Kap. 57, ÍF 2, S. 171. 12 In der Eyrbyggja saga heißt es, dass Gunnlaugr von seinem Vater bewusstlos und schwer verwundet vor dem Haus gefunden wird und er aufgrund der Schwere der Verletzungen den gesamten Winter über krank darniederliegt, wohingegen er der in der Landnámabók überlieferten Version dieser Episode zufolge durch die übernatürliche Attacke getötet wird (vgl. „Eyrbyggja saga“, in: Einar Ólafur Sveinsson; Matthías Þórðarson (Hgg.): Eyrbyggja saga. Grœnlendinga sǫgur. Reykjavík, 1935 (Íslenzk Fornrit, 4), Kap. 16, S. 29 und Landnámabók Íslands Udgiven efter de gamle Håndskrifter af det Kongelige Nordiske Oldskriftselskab. København, 1925, S. 55, Anm.). 13 Vgl. Eb, Kap. 18, ÍF 4, S. 34 und S. 36: Katla fertigt für ihren Sohn einen neuen Rock an; im kurz darauffolgenden Kampf kann er nicht durch Waffen verletzt werden (ekki festi vápn á Oddi Kǫtlusyni). Zur Anfertigung von Kleidung mit magischen Eigenschaften durch Zauberinnen vgl. auch Sauckel, Anita: Die literarische Funktion von Kleidung in den Íslendingasǫgur und Íslendingaþættir. Berlin, Boston, 2014 (Ergänzungsbände zum RGA, 83), S. 94 ff. 14 Durch Katlas Zauber sind Oddrs Verfolger nicht in der Lage, ihn zu entdecken, sondern sehen an seiner statt zunächst einen Spinnrocken, dann einen Ziegenbock und zuletzt einen Eber. Diese sehr bekannte und symbolträchtige Zauberepisode findet sich in Eb, Kap. 20, ÍF 4, S. 50–53. Vgl. dazu auch Klaus Böldls aufschlussreiche Analyse dieser Passage im Hinblick auf vegetationskultische Elemente in Böldl, Eigi einhamr, S. 247 f.

1 Das Wirkungsspektrum des seiðr

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verschiedenen Anwendungsgebiete des seiðr, wobei die einzelnen Belegstellen erst im weiteren Verlauf der Arbeit ausführlich besprochen werden. Einzig der Abschnitt 1.5 „Verzauberung von Waffen und Kampfmagie“ stellt einige Textpassagen detaillierter vor, da dieser Anwendungsbereich des seiðr nicht im Fokus der vorliegenden Arbeit steht und somit nur an dieser Stelle aufgegriffen werden kann.

1.2 Divinatorischer seiðr Das wohl prominenteste Anwendungsgebiet des seiðr bildet die Divination. Die altnordische Überlieferung kennt eine Vielzahl von Methoden, um die Zukunft vorherzusagen, wobei sich jedoch im Wesentlichen zwei Varianten unterscheiden lassen: Einerseits die Weissagung durch Deutung bestimmter Vorzeichen, welche in der Forschungsliteratur oftmals als „induktive Mantik“ bezeichnet wird,15 zum anderen die Prophetie, die als „inspirierte Mantik“ angesprochen werden kann.16 Letztere verlässt sich für die Zukunftsschau nicht auf die Interpretation von Zeichen, vielmehr werden dabei Vorhersagen durch eine darauf spezialisierte Person – in der altnordischen Literatur zumeist eine Frau – getroffen, die in direktem Kontakt mit dem Numinosen zu stehen scheint und daraus ihre Eingebungen bezieht.17 Um eine solche Kontaktaufnahme herbeizuführen, nutzten die alten Skandinavier verschiedene prophetische Techniken,18 welche mit der Durchführung bestimmter Rituale verbunden waren. Eine dieser Methoden stellt die útiseta dar. Dieses „Draußensitzen“ – so die wörtliche Übersetzung – beschreibt eine zumeist nachts ausgeführte Zauberhandlung, mit Hilfe derer der oder die Ritualpraktizierende in meditativer Einsamkeit in Kontakt mit Geistern oder kosmischen Kräften zu treten versucht, um verborgenes Wissen zu erlangen. Die útiseta begegnet sowohl in den Sagas als auch in den norwegischen Gulaþingslǫg. Dieser Gesetzestext verzeichnet das „Draußensitzen, um Trolle zu wecken“19 als Straftat, wobei der Aspekt der Kontaktaufnahme mit anderweltlichen Wesen klar zum Ausdruck kommt.20

15 Dillmann verzeichnet unter den im Corpus der Isländersagas und der Landnámabók erwähnten Techniken induktiver Mantik das Losorakel, die Ornithomantie, die Wassermantik sowie die Palpation. Vgl. hierzu Dillmann, Magiciens, S. 46–52 mit diversen Beispielen. 16 S. z. B. Dillmann, Magiciens, S. 37–52 sowie Starý, Jiří: „Induktive, intuitive und inspirierte Mantik in klassischen und altnordischen Quellen der germanischen Religion.“, in: Heizmann, Wilhelm; Böldl, Klaus; Beck, Heinrich (Hgg.): Analecta Septentrionalia. Beiträge zur nordgermanischen Literatur und Kulturgeschichte. Berlin, New York, 2009 (Ergänzungsbände zum RGA, 65), S. 607 f. 17 Eine solche Kategorisierung der Divinationsformen erweist sich jedoch als nicht unproblematisch: So nimmt etwa die Traumdeutung eine Sonderstellung ein, da sich hierbei Ausdeutung und ein gewisser Grad von Inspiration verbinden (vgl. Starý, Mantik, S. 635). 18 Vgl. Starý, Mantik, S. 636. 19 S. NGL, Bd. 1, S. 19: „utisetu at vekja troll upp.“ 20 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 70 f. Zur Praxis der útiseta siehe auch: Dillmann, Magiciens, S. 42–44.

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II Wirkungsspektrum und Praktizierende des seiðr

Die zweite bedeutende magische Praktik, um Divination durchzuführen, ist der seiðr. Die Praxis des seiðr zur Weissagung – ausgeübt von einer Seherin oder vǫlva im Rahmen einer Séance – ist in der altnordischen Literatur häufig anzutreffen; entsprechende Episoden finden sich in mehreren Isländer- und Vorzeitsagas.21 Das damit verbundene Ritual wird in den Quellen jedoch stets nur andeutungsweise geschildert;22 stattdessen liegt das Hauptaugenmerk der Darstellung auf dem Auftreten der Seherin bzw. vǫlva und dem Empfang seitens ihrer Gastgeber, den Vorbereitungen, die für das Ritual getroffen werden, sowie natürlich den Prophezeiungen, welche die Seherin den Teilnehmern der divinatorischen Sitzung mitteilt. Da sich die entsprechenden Episoden sehr ähneln, entwickelt Strömbäck ein Schema für den Ablauf eines solchen Besuchs der vǫlva: Die Seherin zieht von Hof zu Hof und kommt Einladungen zum Gastmahl nach, in deren Rahmen sie ihre Kunst ausübt. Sie wird respektvoll empfangen und alles wird in die Wege geleitet, damit sie sich wohl fühlt. Die am Gastmahl Teilnehmenden gehen zu ihr, um ihre Weissagungen zu erfahren;23 schließlich erhält die Seherin für ihre Dienste Gaben, als sie den Hof verlässt.24 Die starken motivlichen Übereinstimmungen der betreffenden Passagen legen nahe, dass es sich hierbei um ein Erzählmuster handelt, dessen sich die Sagaautoren bedienten, um bei ihren Rezipienten bestimmte Erwartungshaltungen hinsichtlich der Schilderung einer Zukunftsbefragung mittels seiðr zu erfüllen.25 Die detailreichste Schilderung eines Besuchs der Seherin samt anschließender seiðr-Séance liefert die Episode um Þorbiǫrg lítil-vǫlvas Divination auf dem grönländischen Hof Heriólfsnes im vierten Kapitel der im frühen 13. Jahrhundert entstandenen Eiríks saga rauða, welche Strömbäck als locus classicus des seiðr bezeichnet: In einem Jahr der Missernte prophezeit die auf einem Zaubergerüst positionierte vǫlva, unterstützt durch einen speziellen magischen Gesang, der Hofgemeinschaft eine positive Entwicklung ihrer Angelegenheiten.26 Vergleichbare Darstellungen einer Zukunftsschau mithilfe

21 Vgl. Haid, Oliver; Dillmann, François-Xavier: Art. „Zauber“, in: RGA, Bd. 35. Berlin, New York, 2007, S. 860. 22 Vgl. Horst, Simone: Merlin und die völva – Weissagungen im Altnordischen. München, 2010 (Münchner Nordistische Studien, 5), S. 32. 23 Im Altnordischen steht hierfür in der Regel die mit dem Femininum frétt ‚Befragung‘, ‚Erkundigung‘, ‚Orakel‘ gebildete Wendung ganga til frétta(r) (við e-n) mit der Bedeutung ‚befragen‘, ‚um Rat fragen‘, ‚Auskunft holen im Orakel‘ (vgl. Baetke, Wörterbuch, S. 162). Vgl. dazu auch Horst, völva, S. 19. 24 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 142–144. 25 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 142 und Haid; Dillmann, Zauber, S. 861. 26 S. „Eiríks saga rauða“, in: Einar Ólafur Sveinsson; Matthías Þórðarson (Hgg.): Eyrbyggja saga. Grœnlendinga sǫgur. Reykjavík, 1935 (Íslenzk Fornrit, 4), Kap. 4, S. 206–209. Vgl. hierzu auch Strömbäck, Sejd, S. 49 sowie Böldl, Götter und Mythen, S. 70.

1 Das Wirkungsspektrum des seiðr

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von seiðr finden sich u. a. in der Vatnsdœla saga27, der Ǫrvar-Odds saga28 sowie in der Hrólfs saga kraka29. Den Quellen zufolge wird divinatorischer seiðr genutzt, um Wissen über den weiteren Verlauf des persönlichen Schicksals einer Person zu erlangen oder eine Prognose hinsichtlich der Witterungsbedingungen, insbesondere in einem Jahr der Missernte, zu erstellen. Dabei lässt sich den meisten Schilderungen entnehmen, dass die Divination mittels seiðr von den Gastgebern der vǫlva sowie den dem Ritual beiwohnenden Personen ausdrücklich gewünscht wird30 und demnach im Auftrag und zum Wohl der Gemeinschaft geschieht.

1.3 Beeinflussung der natürlichen Umwelt Neben der Zukunftsschau bildet die Beeinflussung des Wetters und der natürlichen Umwelt einen weiteren wichtigen Anwendungsbereich des seiðr. Diese kann sowohl in positiver als auch in destruktiver Absicht erfolgen, wobei seiðr-Praktizierende in der Sagaliteratur ihre Fähigkeit zur Kontrolle der Elemente oftmals als Schadenszauber einsetzen: Stürme und Unwetter werden heraufbeschworen, um die jeweiligen Zauberziele zu schädigen bzw. sie zu Tode zu bringen. Beispiele für eine negativ intendierte Einflussnahme auf die natürliche Umwelt mittels seiðr finden sich u. a. in der Laxdœla saga31, der Gísla saga Súrssonar32 sowie der Óláfs saga Tryggvasonar33. Von einer positiven Beeinflussung der natürlichen Umwelt durch seiðr berichten eine Passage der Landnámabók, wonach die Landnehmerin Þuríðr sundafyllir mit Hilfe

27 S. „Vatnsdœla saga“, in: Einar Ólafur Sveinsson (Hg.): Vatnsdœla saga. Hallfreðar saga. Kórmaks saga [. . .]. Reykjavík, 1939 (Íslenzk Fornrit, 8), Kap. 10, S. 29. Die gleiche Séance findet sich auch in der Landnámabók; hier wird allerdings nicht explizit seiðr als Mittel zur Divination genannt. Vgl. dazu auch Haid; Dillmann, Zauber, S. 861. 28 Ǫrvar-Odds saga, herausgegeben von Richard Constant Boer. Halle a. S., 1892 (Altnordische Saga-Bibliothek, 2), Kap. 2, S. 7–10. 29 „Hrólfs saga kraka“, herausgegeben von Desmond Slay. Copenhagen, 1960 (Editiones Arnamagnæanæ, Series B, 1), Kap. 3, S. 9–11. 30 Eine Ausnahme bilden z. B. die Ziehbrüder Ingimundr und Grímr in der Vatnsdœla saga, welche keinen Wert auf die Weissagungen der zauberkundigen Finnin legen: „Þeir fóstbrœðr sátu í rúmum sínum ok gengu eigi til frétta; þeir lǫgðu ok engan hug á spár hennar.“ / „Die Ziehbrüder saßen auf ihren Plätzen und befragten das Orakel nicht; sie hatten keinen Gefallen an ihren Prophezeiungen.“ (s. Vatn, Kap. 10, ÍF 8, S. 29). 31 S. „Laxdœla saga“, in: Einar Ólafur Sveinsson (Hg.): Laxdœla saga. Halldórs þættir Snorrasonar. Stúfs þáttr. Reykjavík, 1934 (Íslenzk Fornrit, 5), Kap. 35, S. 99 f. 32 Nur in einer der beiden Redaktionen der Gísla saga ist der Sturm magisch verursacht, siehe dazu daher: „Gísla saga Súrssonar“, in: Loth, Agnete (Hg): Membrana Regia Deperdita ved Agnete Loth, København, 1960. (Editiones Arnamagnæanæ, Series A, 5) [=Redaktion S], Kap. 18, S. 32. 33 „Óláfs saga Tryggvasonar“, in: Bjarni Aðalbjarnason (Hg.): Heimskringla, Bd. 1. Reykjavík, 1941 (Íslenzk Fornrit, 26), Kap. 63, ÍF 26, S. 312.

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II Wirkungsspektrum und Praktizierende des seiðr

des seiðr die Fjorde des norwegischen Hálogaland mit Fischen füllte und somit eine Hungersnot abwendete,34 sowie die Eiríks saga rauða.35

1.4 Einwirken auf menschliche Psyche und Körper In der altnordischen Literatur wird seiðr häufig zur Einflussnahme auf die Psyche und den Körper eines Menschen eingesetzt. Schwermut, Unruhe und ein daraus resultierendes friedloses, getriebenes Dasein sind gemäß den Quellen die Folgen, welche eine mit dieser Form des seiðr belegte Person zu erleiden hat. Häufig geht diese destruktive Erscheinungsform des seiðr mit einer attrahierenden Komponente einher: Die Betroffenen werden unweigerlich zu der seiðr ausübenden Person gelockt und weitgehend willenlos gemacht. Diese Variante des seiðr zielt darauf ab, den Verzauberten zu manipulieren: oftmals, um ihm nachhaltig zu schaden oder ihn – im schlimmsten Fall – zu Tode zu bringen. Beispiele hierfür finden sich u. a. in der Laxdœla saga36, der Egils saga Skalla-Grímssonar37, der Ynglinga saga38 sowie in der Gǫngu-Hrólfs saga39.

1.5 Verzauberung von Waffen und Kampfmagie Neben seinen bereits besprochenen Funktionen spielt seiðr auch im Bereich der Verzauberung von Waffen oder um eine Person unverwundbar zu machen eine wichtige Rolle in der altnordischen Literatur – ein Anwendungsbereich der Magie, der aufgrund der zahlreichen gewaltsamen Konflikte, welche die Handlung insbesondere der Isländer- und Vorzeitsagas prägen, vielfach in den Textzeugnissen anzutreffen ist.40 So wird gemäß Sǫgubrot (af nokkrum fornkonungum) – ein ca. auf das Jahr 1300 datiertes Fragment, das von legendären dänischen Königen berichtet und vermutlich auf der verloren gegangenen Skjöldunga saga beruht41 – König Haraldr hilditönn in jungen

34 Ldn, S. 83. Vgl. hierzu Haid; Dillmann, Zauber, S. 861 sowie Strömbäck, Sejd, S. 77 f. 35 S. Eir, Kap. 4, ÍF 4, S. S. 206–209. Dass die im Zuge einer Hungersnot konsultierte seiðr-Praktizierende Þorbiǫrg lítil-vǫlva den Bewohnern des Hofes Heriólfsnes nicht nur die Zukunft vorhersagt, sondern vielmehr positiv auf diese einwirkt und so die Hungersnot abzuwenden vermag, werde ich in Kapitel V 2.2 darlegen. 36 S. Laxd, Kap. 37, ÍF 5, S. 105 f. 37 S. Eg, Kap. 59, ÍF 2, S. 176 f. 38 S. Hkr I, Yngl saga, Kap. 13, ÍF 26, S. 28–32. 39 S. „Gǫngu-Hrólfs saga“, in: Rafn, Carl Christian (Hg.): Fornaldar sögur Nordrlanda, Bd. 3. Kaupmannahöfn, 1830, Kap. 28, S. 318 f. 40 Vgl. Almqvist, I marginalen til Sejd, S. 255. 41 Vgl. Simek, Rudolf; Hermann Pálsson: Lexikon der altnordischen Literatur. Die mittelalterliche Literatur Norwegens und Islands. Zweite, wesentlich vermehrte und überarbeitete Auflage von Rudolf Simek.

1 Das Wirkungsspektrum des seiðr

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Jahren mittels seiðr gegen Waffen gefeit gemacht. Dies geschieht auf einen Beschluss seiner Gefährten hin, die um das Leben des jung an die Macht gekommenen und äußerst kriegerischen Königs fürchten: Haralldr uar þa .XV. uetra, er hann uar til Rikis tekinn; ok með þui at uinir hans uissu, at hann mundi æiga miok herskat[t] at ueria Rikit, er hann var ungr at alldri, þa var þat rað gert, at aflat var at seið miklum, ok uar seiðat at Haralldi konungi, at hann skylldi æigi bita iarn, ok sua var si[ð]an, at hann hafði alldregi hlif i orrostu, ok festi þo eKi vapn a honum.42 Haraldr war damals fünfzehn Winter alt, als er an die Macht kam; und da seine Freunde wussten, dass er sehr kriegerisch sein würde, um das Reich zu verteidigen, da er in jungen Jahren war, da wurde der Entschluss gefasst, dass ein großer Zauber [seiðr] ausgeübt wurde und König Haraldr wurde so verzaubert, dass er gegen Eisen gefeit sein sollte, und so war es fortan, dass er in der Schlacht nie einen Schutz trug, und dennoch haftete keine Waffe an ihm.

Dass der König siegreich aus vielen Schlachten hervorgeht und ein hohes Alter erreicht, ist dem Fragment zufolge also im Wesentlichen der Verzauberung mittels seiðr geschuldet.43 Bei der in der oben zitierten Passage verwendeten Formulierung e-n bíta ekki járn handelt es sich um eine Standardwendung im Altnordischen: Wörtlich übersetzt bedeutet sie „jemanden beißt kein Eisen“ – derjenige ist also durch Waffen nicht verwundbar. Ein solcher Effekt lässt sich, wie im bereits in Kapitel II 1.1 angesprochenen Beispiel der Eyrbyggja saga,44 zum einen durch das Anlegen magischer Kleidung bewirken, kann aber auch durch die direkte Verzauberung einer Person erreicht werden. Zudem können auch Waffen mit Hilfe von seiðr magisch verändert werden: So besitzt in der Njáls saga ein Wikinger namens Hallgrímr einen Speer, der mittels seiðr dergestalt verzaubert ist, dass Hallgrímr nur durch diese Waffe getötet werden kann. Der Speer verfügt darüber hinaus über eine weitere besondere Fähigkeit: Er beginnt zu „singen“, bevor mit ihm ein tödlicher Stoß ausgeführt wird: Hallgrímr hefir atgeir þann, er hann hefir látit seiða til, að honum skal ekki vápn at bana verða nema hann, þat fylgir ok, at þegar veit, er víg er vegit með atgeirinum, því at þá syngur í honum áðr hátt; svá hefir hann náttúru mikla með sér.45

Stuttgart, 2007, S. 354f. sowie Jónas Kristjánsson: Eddas und Sagas. Die mittelalterliche Literatur Islands. Übertragen von Magnús Pétursson und Astrid van Nahl. Hamburg, 1994, S. 366f. 42 „Sǫgubrot (af nokkrum fornkonungum)“, in: af Petersens, Carl; Olson, Emil (Hgg.): Sǫgur Danakonunga. 1. Sǫgubrot af fornkonungum. 2. Knytlinga saga. København, 1919–1925 (Samfund til Udgivelese af Gammel Nordisk Litteratur, 46), Kap. 4, S. 13. 43 Vgl. dazu Strömbäck, Sejd, S. 102. 44 Vgl. Eb, Kap. 18, ÍF 4, S. 34 und S. 36. 45 Brennu-Njáls saga, herausgegeben von Einar Ólafur Sveinsson. Reykjavík, 1954 (Íslenzk Fornrit, 12), Kap. 30, S. 80.

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II Wirkungsspektrum und Praktizierende des seiðr

Hallgrímr besitzt einen Speer46, den er so verzaubern hat lassen, dass ihn keine andere Waffe töten kann, außer ihm [dem Speer], damit ist auch verbunden, dass er sogleich anzeigt, wenn ein Totschlag mit dem Speer verübt wird, weil es dann in ihm vorher laut singt; soviel Zauberkraft besitzt er.

In der Tat gelingt es Gunnarr af Hlíðarendi nicht, den Wikinger im Kampf mit seinem eigenen Schwert zu verletzen,47 erst als er den verzauberten Speer zu fassen bekommt, kann er seinen Widersacher damit töten und die magische Waffe fortan mit sich führen. In der altnordischen Literatur wird seiðr also sowohl offensiv bei der Verzauberung von Waffen für den Angriff als auch defensiv zum Schutz des Körpers vor Verwundungen eingesetzt.

1.6 Fazit Wie die vorangegangenen Abschnitte gezeigt haben, wird dem seiðr in der altnordischen Überlieferung ein breit gefächertes Wirkungsspektrum zugeschrieben. Seine Einsatzmöglichkeiten umfassen sowohl der Gemeinschaft dienliche Zauberhandlungen wie die Divination als auch teils äußerst destruktiven Schadenszauber. Im Folgenden sollen die Personen, welche in der altnordischen Literatur seiðr ausüben, genauer vorgestellt werden.

2 Die Ausübenden des seiðr 2.1 Menschliche seiðr-Praktizierende 2.1.1 seiðr-praktizierende Frauen Wie bereits festgestellt, bildet die Divination eine der Hauptaktivitäten seiðr betreibender Frauenfiguren in der altnordischen Literatur. Oftmals werden diese als vǫlur angesprochen: Seherinnen, welche ihre Fähigkeiten zur Weissagung im Rahmen halböffentlicher Rituale für Hofgemeinschaften einsetzen. Der Begriff vǫlva wird üblicherweise von dem für die Ausstattung dieser Ritualspezialistinnen charakteristischen Stab, dem vǫlr hergeleitet – die vǫlva ist demnach „die Stabtragende“48. Problematisch an dieser Deutung ist

46 Der atgeirr war gemäß Hjalmar Falk ein Hauspeer, der als Stoß- und Hiebwaffe eingesetzt werden konnte. Eine mit atgeirr bezeichnete Waffe kann auch als Wurfspeer dienen, dies soll jedoch wohl eine ungewöhnliche Stärke seitens des Werfenden anzeigen, da es sich um eine schwere, mit beiden Händen zu führende Waffe handelte. Vgl. dazu Falk, Hjalmar: Altnordische Waffenkunde. Kristiania, 1914 (Videnskapsselskapets Skrifter. II. Hist.–Filos. Klasse. 1914, 6), S. 82 f. 47 Vgl. Nj, Kap. 30, ÍF 12, S. 81: Auch an dieser Stelle begegnet wieder die bereits angesprochene Wendung, denn es heißt: en sverðit beit ekki („aber das Schwert biss nicht“). 48 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 70.

2 Die Ausübenden des seiðr

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jedoch, dass Stäbe mit magischem Potential in der altnordischen Literatur nicht als vǫlr, sondern vielmehr als stafr – in den entsprechenden Komposita seiðstafr, járnstafr, krókstafr etc. – bezeichnet werden.49 Dies gilt gerade auch für die Stäbe der vǫlur selbst: So hat Þorbiǫrg lítil-vǫlva in der Eiríks saga rauða lediglich einen „staf í hendi“50 („einen Stab in der Hand“) und ein im Grab einer vǫlva gefundener Stab in der Laxdœla saga wird als „seiðstafr mikill“51 („großer Zauberstab“) bezeichnet. Als vǫlr angesprochene Stäbe weisen hingegen meist sehr viel prosaischere Anwendungsbereiche auf.52 Lotte Motz lehnt daher die Ableitung des Begriffs vǫlva von vǫlr ab und schlägt stattdessen vor, das Wort von der idg. Wurzel *ṷel mit der Bedeutung ‚kreisförmige Bewegung‘ herzuleiten. Im Zusammenhang mit der vǫlva sei laut Motz allerdings eine zweite Übersetzungsmöglichkeit dieser Wurzel zu favorisieren, nämlich „ein schützendes oder abgeschlossenes Gebiet“.53 Somit wäre vǫlva eher mit „die Versteckte“54 oder „die von den geheimen Orten“55 zu übersetzen, was durchaus plausibel erscheint56, da „the prophetess is a secret being, marked off and concealed from the common folk by her costume or dwelling; by the very nature of her powers she has access to the regions which are locked to ordinary men.“57 Neben den menschlichen Seherinnen der Sagas spielen auch in den mythologischen Texten der eddischen Dichtung als vǫlur bezeichnete Frauengestalten eine wichtige Rolle, wie z. B. die vǫlva in Baldrs draumar, welche Óðinn von den Toten erweckt, um von ihr das Schicksal seines Sohnes zu erfahren.58 Diese „mythischen“ vǫlur59 werden mit Riesinnen in Verbindung gebracht und sind somit eher als anderweltliche Wesen denn als menschliche Figuren zu betrachten: So wurde die

49 Vgl. Gardeła, Entangled worlds, Bd. 1, S. 237. 50 Eir, Kap. 4, ÍF 4, S. 206. 51 Laxd, Kap. 76, ÍF 5, S. 224. 52 Vgl. hierzu Motz, Lotte: „Old Icelandic völva: A New Derivation“, in: Indogermanische Forschungen 85, 1980, S. 197. 53 Vgl. Motz, Old Icelandic völva, S. 200. 54 Vgl. Horst, völva, S. 31. 55 Vgl. ebd. 56 Vgl. hierzu Horst, völva, S. 30 f. 57 Motz, Old Icelandic völva, S. 200. Clive Tolley schlägt eine Verbindung des Wortes vǫlva zu der proto-indoeuropäischen Wurzel *wel- ‚sehen‘ vor. Die Wurzel begegnet z. B. in dem lat. Begriff vultus ‚Aussehen‘, ‚äußere Erscheinung‘, dem irischen fili ‚Seher‘ sowie im Namen bzw. Titel der germanischen Seherin Veleda. Dieser Etymologie nach hätte der Begriff vǫlva die sehr transparente und mit der Funktion der vǫlur in der altnordischen Literatur konformgehende Bedeutung ‚Seherin‘, die jedoch zur Zeit der Niederschrift der Sagas nicht mehr geläufig gewesen sein dürfte. Vgl. hierzu Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 536 f. 58 S. Baldrs draumar, Neckel; Kuhn, Edda, S. 277 ff. 59 Vgl. Horst, völva, S. 43.

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II Wirkungsspektrum und Praktizierende des seiðr

Sprecherin der Vǫluspá von Riesen aufgezogen,60 während die vǫlva in Baldrs draumar sich „fyr austan dyrr“61 („östlich der Tür“) aufhält, wobei der Osten in der altnordischen Überlieferung als typische Sphäre der Riesen anzusehen ist.62 Wie die Riesinnen verfügen die vǫlur der eddischen Dichtung über Kenntnis der Zukunft und Geheimwissen. Das prominenteste Beispiel hierfür bildet sicherlich die Sprecherin der Vǫluspá, welche dem Gott Óðinn im Rahmen einer Vision eine „kosmische Gesamtschau“63 vermittelt. Ist in der altnordischen Literatur von einer vǫlva die Rede, müssen ihre prophetischen Aktivitäten allerdings nicht zwangsläufig auch explizit als seiðr angesprochen werden. Beschränkt man sich bei der Untersuchung dieser Magieform nur auf Belegstellen, in welchen der Begriff seiðr auch tatsächlich vorkommt, können also strenggenommen nicht alle Zeugnisse, die vǫlur erwähnen, für die Analyse herangezogen werden. Dennoch wird eine enge Verbindung zwischen vǫlur und seiðr in der Forschung häufig konstatiert: So weist etwa Finnur Jónsson zwar darauf hin, dass die Begriffe vǫlva und seiðkona nicht synonym verwendet werden sollten, räumt jedoch zugleich ein, dass sich vǫlur innerhalb der Sagas zumeist des seiðr bedienen: „En hitt er eins víst, að vǫlurnar hafa líka kunnað og iðkað seið, að minnsta kosti optast nær, eptir því sem sögur vorar segja.“64 Auch Gro Steinsland stellt fest, dass „den kvinnelige seidutøveren kalles for volve“65 und bezeichnet sogar seiðr-kundige Männer als „volvens maskuline motstykke“66. Die in den Quellen zu beobachtende Assoziation der vǫlur mit der Ausübung von seiðr veranlasste augenscheinlich auch Dag Strömbäck dazu, bei seiner Untersuchung des Erzählmusters des ‚Besuchs der vǫlva‘ Textstellen aus dem Norna-Gests þáttr und dem Orms þáttr Stórólfssonar miteinzubeziehen,67 in denen der Begriff seiðr überhaupt nicht erwähnt wird und die somit der Materialsammlung seiner Monographie Sejd eigentlich nicht hätten hinzugefügt werden dürfen. Auch in der vorliegenden Untersuchung soll der Blick in Bezug auf die vǫlur weiter 60 S. Vsp, Str. 2, Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern. Bd. 1: Text, herausgegeben von Gustav Neckel und Hans Kuhn. 5., verbesserte Auflage von Hans Kuhn. Heidelberg, 1983, S. 1: „Ec man iotna, / ár um borna, / þá er forðom mic / fœdda hǫfðo [. . .].“/ „Ich erinnre mich der Riesen, / der ehedem gebornen, / die mich einst / aufgezogen haben [. . .].“ (Übersetzung nach: Die Götter- und Heldenlieder der Edda. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Arnulf Krause. Stuttgart, 2004, S. 14). 61 Bdr, Str. 4, Neckel; Kuhn, Edda, S. 277. 62 Vgl. dazu auch Horst, völva, S. 43 sowie McKinnell, John: Meeting the Other in Norse Myth and Legend. Woodbridge, Suffolk, 2005, S. 102 f. 63 Böldl, Götter und Mythen, S. 69. 64 Finnur Jónsson: „Um galdra, seið, seiðmenn og völur“, in: Finnur Jónsson, Valtýr Guðmundsson, Bogi Th. Melsteð (Hgg.): Þrjár ritgjörðir, sendar og tileinkaðar Herra Páli Melsteð, sögufræðingi og sögukennara, á áttatugasta fæðingardegi hans þ. 13 nóvember 1892, af þremur lærisveinum hans [. . .]. Kopenhagen, Gad, 1892, S. 28. 65 Steinsland, Gro: Norrøn Religion. Myter, Riter, Samfunn. Oslo, 2005, S. 308. 66 Steinsland, Norrøn Religion, S. 324. 67 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 142–144.

2 Die Ausübenden des seiðr

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gefasst und auch Belege berücksichtigt werden, die zwar Divinationen durch vǫlur erwähnen, diese jedoch nicht explizit mit einer Ausübung von seiðr in Verbindung bringen. In der altnordischen Literatur finden sich neben den vǫlur auch lediglich als seiðkona angesprochene Frauengestalten, wie Hulð in der Ynglinga saga oder Gríma in der Laxdoela saga. Diese Frauen setzen seiðr häufig als Schadensmagie ein, was mit einer entsprechend negativen Darstellung in den jeweiligen Quellen – analog zur destruktiven Intention ihrer Zauberhandlungen – verknüpft ist. In diesem Umstand sieht Dillmann eine gewisse Zögerlichkeit seitens der Sagaautoren begründet, die sich mit der divinatorischen, gesellschaftlich akzeptierten Variante des seiðr befassenden vǫlur explizit als ‚seiðkonur‘ zu bezeichnen – was er einer generell eher negativen Konnotation dieser Magieform durch die altnordische Gesellschaft zuschreibt – obgleich sie oftmals eindeutig seiðr ausüben. Als Beispiele nennt er unter anderem Þorbjǫrg lítil-vǫlva und Þuríðr sundafyllir, die beide nicht als seiðkonur klassifiziert werden, obwohl sie „exerçaient assurément le seiðr“.68 Dillmann hält es darüber hinaus für wahrscheinlich, dass der Begriff seiðr ursprünglich nur im Zusammenhang mit destruktiver Magie benutzt wurde, ehe er eine breitere Anwendung erfuhr.69 Ein Blick auf das Gesamtkorpus der altnordischen Literatur bestätigt diese These jedoch nicht, da die Begriffe seiðkona, vǫlva, spákona und vísindakona mitunter paritätisch nebeneinander stehen und ein und dieselbe Person bezeichnen können. Dies trifft besonders auf die Vorzeitsagas zu, in welchen die Termini seiðkona und vǫlva oftmals austauschbar erscheinen, wie z. B. in der Ǫrvar Odds saga („hon var vǫlva ok seiðkona“70 / „Sie war eine vǫlva und Zauberin [seiðkona]“) oder der Hrolfs saga kraka („Vǫlua ein var þar kominn [. . .].“71; „Fr(odi) k(onungr) herdir nu ad seidk(onunni) fast [. . .].“72 / „Eine vǫlva war dorthin gekommen [. . .].“; „König Frodi bedrängt die Zauberin [seiðkona] nun sehr [. . .].“). Zwar könnte dies dem Umstand geschuldet sein, dass die Vorzeitsagas mit ihren vielen phantastischen Elementen sich der Darstellung realistischer Verhältnisse nicht sonderlich verpflichtet sahen und daher auch in Bezug auf die Seherinnen zu einer unscharfen Begriffsbildung neigten; ein späteres Entstehungsdatum sowie eine daraus resultierende mangelnde Vertrautheit mit Erscheinungsformen und Bezeichnungen heidnischer Magie kann allerdings zumindest im Fall der Ǫrvar Odds saga nicht die Ursache dafür sein: Der Text muss vor dem Jahr 1314 entstanden sein und ist somit nicht jünger als die meisten Isländersagas.

68 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 137. 69 S. ebd: „Avant que le vocable seiðr n’en vienne à designer les operations magiques les plus diverses, et à être utilize comme un simple synonyme de fiǫlkynngi, il est vraisemblable que cette catégorie de la sorcellerie norroise ait uniquement servi des fin maléfiques [. . .].“ 70 Ǫrv, Kap. 2, S. 7. 71 Hrólf, Kap. 3, EA B 1, S. 9. 72 Hrólf, Kap. 3, EA B 1, S. 11.

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II Wirkungsspektrum und Praktizierende des seiðr

Vor diesem Hintergrund und angesichts des breiten Wirkungsspektrums des seiðr, das sowohl nutzbringende als auch destruktive Magie umfasst, lässt sich meines Erachtens nicht schlussfolgern, dass seiðr ursprünglich generell negativ konnotiert wurde.73 Möglicherweise wurden Frauen, die divinatorischen seiðr praktizierten, in erster Linie als vǫlur angesehen und somit auch bevorzugt als vǫlva und nicht unbedingt als seiðkona tituliert. Die Bezeichnung vǫlva wäre somit also als eine Art Spezifizierung zu interpretieren: Es handelt sich eben nicht „einfach nur“ um eine seiðr-Praktizierende, sondern um eine Frau, die ganz konkret divinatorischen seiðr ausübt. Dies trifft im Fall der Þorbjǫrg lítil-vǫlva eindeutig zu und gilt im Umkehrschluss auch für die meisten der bloß als seiðkona angesprochenen Frauengestalten, da diese keine Divination durchführen74 – wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Bezeichnung seiðkona zugleich etwas Negatives anhaftete. 2.1.2 seiðr-praktizierende Männer In den altnordischen Quellen werden nur sehr wenige Männer explizit als seiðmaðr bezeichnet. Im Wesentlichen sind dies: Þorgrímr nef (Gísla saga Súrssonar), Kotkell und seine beiden Söhne Stígandi und Hallbjǫrn slíkisteinsauga (Laxdœla saga) sowie die in mehreren Königssagas erwähnten seiðr-Praktizierenden Rǫgnvaldr réttilbeini (ein Sohn König Haraldr hárfagris) und Eyvindr kelda. Auch in Vorzeitsagas figurieren Männer, die seiðr ausüben. Hierbei handelt es sich – dem von phantastischen Elementen geprägten Charakter dieser Gattung entsprechend – oftmals um dämonisch anmutende, nahezu unbesiegbare Schurken, welche teils auch als Berserker75

73 Auch Clive Tolley widerspricht Dillmanns These, dass ursprünglich nur Schadensmagie als seiðr bezeichnet wurde: „Dillmann [. . .] suggests that seiðr may orginally have referred exclusively to maleficent magic. The evidence scarcely supports this.“ (Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 141). 74 Eine Ausnahme zu dieser Regel bildet allerdings das Beispiel der bereits erwähnten Landnehmerin Þuríðr sundafyllir: Sie nutzt zwar keinen divinatorischen seiðr, wird jedoch dennoch offensichtlich als vǫlva betrachtet, da ihr Sohn den Namen Vǫlu-Steinn trägt, s. Ldn, S. 83. 75 Bei den Berserkern handelt es sich um ekstatisch kämpfende Krieger, die in ihrer Raserei Unverwundbarkeit erlangen. Erstmalig erwähnt werden sie im Haraldskvæði, einem Preisgedicht des Skalden Þórbjǫrn hornklofi auf den norwegischen König Haraldr Hárfagri nach dessen siegreicher Entscheidungsschlacht am Hafrsfjord (um 872), an welcher die Berserker teilgenommen hätten: „[. . .] grenjuðu berserkir, / guðr vas þeim á sinnum, / emjuðu ulfheðnar / ok ísǫrn dúðu.“ (Þhorn Harkv 8, Skj Bd. B I, S. 23) / „[. . .] Berserks bellowed; battle was under way for them; wolf-skins [beserks] howled and brandished iron spears.“ (Übersetzung nach R. D. Fulk, in: Whaley, Diana (Hg.): Skaldic Poetry of the Scandinavian Middle Ages, Bd. 1: Poetry from the Kings’ Sagas 1: From Mythical Times to c. 1035. Part 1. Turnhout, 2012, S. 102). In der altnordischen Sagaliteratur erscheinen die Berserker entweder als in Gruppen – oftmals zu zwölft – agierende Elitekrieger oder als notorische, vagabundierende Unruhestifter, welche Bauern zum Zweikampf herausfordern und als Siegerpreis oftmals deren Töchter oder Frauen beanspruchen. Anhand der Etymologie des Begriffs berserkr (gebildet aus bersi ‚(männlicher) Bär‘ und serkr ‚Hemd‘, ‚Obergewand‘) und der Parallele zu den häufig zusammen mit ihnen erwähnten ulfheðnar ‚Wolfspelzen‘ wird deutlich, dass es sich bei den Berserkern um Krieger in Fellverkleidungen gehandelt haben dürfte, wie sie auch auf bildlichen Darstellungen von Tierkriegern (z. B. auf den in

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angesprochen werden. Die Zauberkraft dieser Figuren steht dabei häufig im Verbund mit Kampfmagie und Waffenzauber – wie bereits in Kapitel II 1.5 gezeigt ein typisches Sujet der Vorzeitsagas. Eine solche Gestalt ist z. B. Grímr ægir, einer der Beserker, mit denen sich der Seekönig Eirekr in der auf das frühe 14. Jahrhundert datierten GǫnguHrólfs saga umgibt. Der Saga zufolge ist Grímr (bei dem es sich bezeichnenderweise um ein von einer vǫlva namens Gróa aufgezogenes Findelkind handelt)76 in der Lage, sowohl im Meer als auch in anderen Gewässern zu gehen – eine Fähigkeit, die ihm seinen Beinamen ægir (‚Meer‘)77 eingetragen hat.78 Damit nicht genug, verfügt Grímr über ein ganzes Konglomerat an unheilvollen, phantastisch übersteigerten Eigenschaften: Er verleibt sich rohes Fleisch und Blut von Mensch und Tier ein, sein Atem ist so heiß, dass sein Gegenüber trotz Rüstung daran zu verbrennen vermeint, und er kann sogar Gift und Feuer spucken.79 In ähnlicher Weise berichtet die Ectors saga – eine originale Rittersaga, die vermutlich auf das 14. Jahrhundert datiert werden kann80 – von einem Berserker mit Namen Kaldanus, der in der Lage ist, die Waffen seiner Feinde stumpf werden zu lassen und nur durch eine von Zwergen gefertigte Waffe besiegt werden kann. Von ihm heißt es, er sei ein „galldra madur og seidskratti“81 – also Zauberer und ein [seiðr-wirkender] Hexer82. Kaldanus̕ Beschreibung gipfelt ähnlich der Grímr ægirs darin, dass er einem Troll ähnlicher als einem

Torslunda gefunden Helmblechen aus dem 6. / 7. Jh.) zu sehen sind. Die ältere Forschung hatte ber- als ‚nackt‘, ‚bloß‘ aufgefasst und als Zeichen der Unverwundbarkeit der Berserker gedeutet, die sogar gänzlich ohne Rüstung kämpfen könnten, wobei jedoch der in Richtung des Tierkriegertums weisenden Etymologie des Begriffs eindeutig der Vorzug zu geben ist (vgl. zu diesem Überblick Simek, Rudolf: Lexikon der germanischen Mythologie. 3., völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart, 2006, S. 49 ff.). Vgl. zu den Berserkern ausführlich Samson, Vincent: Les Berserkir. Les guerriers-fauves dans la Scandinavie ancienne, de l’Âge de Vendel aux Vikings (VIe–XIe siècle). Villeneuve d’Ascq, 2011 sowie Dale, Roderick Thomas Duncan: Berserkir: a re-examination of the phenomenon in literature and life. PhD thesis, University of Nottingham. Nottingham, 2014. 76 S. GHr, Kap. 2, FAS 2, S. 241. 77 Zugleich ist Ægir der Name des Meeriesen in der altnordischen Mythologie, der die Züge eines Meeresgottes annimmt; vgl. Simek, Lexikon der germanischen Mythologie, S. 3. 78 Hierauf wird in Kapitel V 1.5 der vorliegenden Arbeit genauer eingegangen. 79 S. GHr, Kap. 2, FAS 2, S. 241 f. 80 Vgl. zur Ectors saga Simek; Hermann Pálsson, Lexikon der altnordischen Literatur, S. 67 f. Hierbei handelt es sich um eine der auf Island entstandenen, „originalen“ Rittersagas, welche nicht auf einer Übersetzung kontinentaler Vorlagen beruhen. Diese haben, was Motive und Schwarz-WeißZeichnung der Charaktere angeht, sehr viel mit den Vorzeitsagas gemeinsam; ihre Schauplätze sind jedoch zumeist entlegene Länder. Siehe zu den originalen Rittersagas auch Jónas Kristjánsson, Eddas and Sagas, S. 337 ff. 81 „Ectors saga“, in: Loth, Agnethe (Hg.): Late Medieval Icelandic Romances I. Victors saga ok Blávus, Valdimars saga, Ectors saga. Copenhagen, 1962 (Editiones Arnamagnæanæ, Series B, 20), Kap. 6, S. 99. 82 Bei dem Begriff seiðskratti (hier: seidskratti) handelt es sich um eine pejorative Bezeichnung für einen seiðr-Praktizierenden; seine Implikationen werden in Kapitel VIII 3.3 der vorliegenden Untersuchung näher erläutert.

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Menschen sei und Pferdefüße habe. Die Figur des Kaldanus erscheint somit eher als monströses, der übernatürlichen Sphäre zuzurechnendes Wesen denn als zauberkundiger Mensch. Anhand dieser beiden Beispiele wird bereits deutlich, dass die Darstellung seiðrpraktizierender Männer in den Vorzeit- und Rittersagas von stark überzeichnetem und schablonenhaftem Charakter ist. Aufgrund ihrer differenzierteren Ausgestaltung sollen daher in der vorliegenden Arbeit vorwiegend die in den Isländer- und Königssagas erwähnten seiðr-betreibenden Männer im Fokus stehen. Auch für diese mit höherem Realitätsanspruch porträtierten Figuren lässt sich indessen eine zumeist negative Darstellung als gefährliche Schadenszauberer konstatieren. Zudem wurde das Praktizieren des seiðr als für einen Mann unpassende Aktivität empfunden und mit ergi („Unmännlichkeit“), einem Verstoß gegen die Geschlechternormen der altnordischen Gesellschaft, assoziiert. Dieser Aspekt wird in Kapitel VIII noch eingehend untersucht werden.

2.2 Göttliche seiðr-Praktizierende 2.2.1 Óðinn Wie in den beiden vorangegangenen Kapitel erörtert, kann seiðr gemäß den altnordischen Quellen von menschlichen Ritualspezialisten beiderlei Geschlechts praktiziert werden. Ihren Ursprung hat diese Magieform jedoch in der Welt der Götter,83 weswegen es für ein besseres Verständnis des Phänomens seiðr unerlässlich ist, auch die Charakteristika und Wirkungsfelder der mit seiner Ausübung konnotierten Gottheiten in die Analyse mit einzubeziehen. Im altnordischen Pantheon tritt insbesondere Óðinn als Meister des seiðr hervor. Es handelt sich hierbei um eine äußerst vielschichtige Gottheit, die unter einer Fülle von Beinamen bekannt ist.84 Die Funktionen und Wesenszüge Óðinns sind vielfältig und nicht leicht zu erfassen, zumal das Bild des Gottes nicht statisch ist, sondern vielmehr im Lauf der etwa tausend Jahre, in denen Óðinn von den germanischen Völkern verehrt wurde, einem starken Wandel unterworfen war.85 Einer der wichtigsten Aspekte Óðinns ist seine Eigenschaft als Kriegs- und Totengott. Eine Reihe von skaldischen Kenningar assoziiert den Gott mit dem Krieg, welcher

83 Vgl. Steinsland, Norrøn Religion, S. 307: „Til tross for at vi omtalar seid som magi, hadde den sitt opphav i gudenes verden“. 84 Hjalmar Falk verzeichnet in seiner Monographie Odensheite 169 Beinamen des Gottes (s. Falk, Hjalmar: Odensheite. Kristiania, 1924 (Videnskapsselskapets Skrifter. II. Hist.-Filos. Klasse. 1924, 10)). 85 Vgl. Hultgård, Anders: Art. „Wotan-Odin“, in: RGA, Bd. 35, Berlin, New York, 2007, S. 759 sowie Böldl, Götter und Mythen, S. 150 f.

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u. a. mit Yggjar leikr86 (‚[=Óðinns]87 Spiel‘) umschrieben werden kann. Dementsprechend empfiehlt Snorri auch in seinem Dichterhandbuch Skáldskaparmál, Waffen und Rüstungen unter Bezugnahme auf Kampf oder Óðinn zu umschreiben.88 In seinen gegen Ende des 11. Jahrhunderts entstandenen Gesta Hammaburgensis Ecclesiae Pontificum (dt. Hamburgische Kirchengeschichte) beschreibt Adam von Bremen das Götterbild und die Funktion Wodans bzw. Óðinns im Rahmen seiner Schilderung des heidnischen Tempels von Uppsala, der offenbar zu Lebzeiten des deutschen Kirchenhistorikers – sein Tod wird ca. auf das Jahr 1080 datiert – noch genutzt wurde, folgendermaßen: „Wodan, id est furor, bella gerit hominique minstrat virtute contra inimicos.“89 / „Wodan, das ist Raserei, er führt Kriege und verschafft dem Menschen Tapferkeit gegenüber seinen Feinden.“ Dem Gott werde geopfert, wenn Krieg drohe. Adams von Bremen frühe Interpretation des Namens Wodan bzw. Óðinn teilt auch die moderne Forschung und geht davon aus, dass sich der Name analog zu an. óðr ‚rasend‘ und ahd. wuot ‚Wut‘ von einem substantivierten germanischen Adjektiv *wōða ableitet. Entsprechend gebildet sind auch got. wods, woþs und ae. wōd; jeweils in der Bedeutung ‚verrückt‘, ‚besessen‘. Daneben besteht auch eine Verbindung des Namens Óðinn zu an. óðr ‚Erregtheit‘, ‚Dichtkunst‘ und dem etymologisch verwandten lateinischen vātes bzw. altkeltischen vātis ‚Prophet‘, ‚Seher‘, ‚Dichter‘.90 Seine Etymologie verbindet diesen Götternamen also mit ekstatischen Zuständen, die sich zum einen als Raserei im Kampf manifestieren, jedoch auch mit dem Erlangen eines höheren Bewusstseinszustandes und der daraus erwachsenden Inspiration konnotiert sind. Diese Funktionen prägen denn auch das Bild Óðinns in der altnordischen Mythologie: Er ist

86 Plácítusdrápa 34, Skj Bd. B I, S. 615. 87 Yggr ist einer der Beinamen Óðinns und bedeutet ‚der Schreckliche‘, vgl. Falk, Odensheite, S. 34 sowie Sveinbjörn Egilsson: Lexicon poeticum antiquæ linguæ septentrionalis. Ordbog over det norsk-islandske skjaldesprog. Oprindelig forfattet af Sveinbjörn Egilsson. 2. udgave ved Finnur Jónsson. København, 1931, S. 632. 88 S. Snorri Sturluson: Edda: Skáldskaparmál, Bd. 1: Introduction, Text and Notes, herausgegeben von Anthony Faulkes. London, 1998, 49, S. 67: „Vápn ok herklæði skal kenna til orrostu ok til Óðins [. . .].“ /„Waffen und Rüstung sollen durch den Kampf oder Óðinn beschrieben werden [. . .].“ Vgl. hierzu auch Motz, Lotte: The King, the Champion and the Sorcerer. A Study in Germanic Myth. Wien, 1996 (Studia Medievalia Septentrionalia, 1), S. 73. 89 Adam von Bremen: Hamburgische Kirchengeschichte, herausgegeben von Bernhard Schmeidler. Unveränderter Nachdruck der 3. Aufl. (Hannover, 1917). Hannover, 1977 (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, 7), Lib. IV, Kap. 26, S. 258. 90 Vgl. zur Etymologie des Namens ‚Óðinn‘ Hultgård, Wotan-Odin, S. 773; Heusler, Andreas: Die altgermanische Dichtung. Berlin, 1923, S. 38; de Vries, Jan: Altnordisches Etymologisches Wörterbuch. Leiden, 1961, S. 416 sowie Zimmer, Stefan: „Wotans Wurzeln“, in: Reichert, Hermann; Scheungraber, Corinna (Hgg.): Germanische Altertumskunde: Quellen, Methoden, Ergebnisse: Akten des Symposiums anlässlich des 150. Geburtstags von Rudolf Much, Wien, 28.–30. September 2012. Wien, 2015 (Philologica Germanica, 35), S. 371–390.

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sowohl der Gott der Dichtkunst, welcher den Skaldenmet aus der Welt der Riesen akquiriert,91 als auch der kriegerische Gott, der die gefallenen Kämpfer für sich erwählt.92 Nach ihrem Tod erwartet er sie in seinem Wohnsitz Valhǫll (‚Halle der Gefallenen‘), wo sie als einherjar (‚die allein Kämpfenden‘93) bewirtet werden und sich im Kampf üben, um dereinst bei den ragnarǫk an der Seite Óðinns in die Schlacht gegen den Fenriswolf zu ziehen. Óðinns enge Bindung zu den Verstorbenen steht in Zusammenhang mit einer weiteren charakteristischen Eigenschaft des Gottes, nämlich seinem ständigen Streben nach neuem, numinosem Wissen.94 Dieses erwirbt er vornehmlich durch den Kontakt mit den Toten und Reisen in jenseitige Sphären, denn im mythischen Kontext umfasst Weisheit, wie Óðinn sie anstrebt, Wissen, „das aus dem Jenseits stammt“95: Durch ihre Verbindung mit dem Jenseits, in dem „die Geheimnisse des Kosmos und auch die zukünftigen Geschehnisse offenbar sind“96, verfügen Tote und Sterbende gemäß weit verbreiteter Vorstellungen über besonderes Wissen und Hellsicht.97 Laut Ynglinga saga besitzt Óðinn die Fähigkeit zur Totenbeschwörung,98 derer er sich u. a. im Eddalied Baldrs draumar bedient, um im Totenreich Hel eine vǫlva wiederzuerwecken und von ihr das Schicksal Baldrs zu erfahren.99 Die Konnotation Óðinns mit dem Tod manifestiert sich nicht zuletzt in der im Zuge seines Selbstopfers erlebten Todesnähe

91 Da die Dichtung gerade in mündlichen Kulturen wie der des vorchristlichen Skandinaviens ein Medium bildet „in dem Wissen, namentlich Vergangenheitswissen, gespeichert und weitergetragen wird“ (Böldl, Götter und Mythen, S. 182), zählt auch die Gewinnung des Skaldenmets letztlich zu den Taten, die Óðinn vollbringt, um Wissen und Weisheit zu erlangen. Eine vollständige Version des Mythos vom Erwerb des Skaldenmets findet sich nur in den Skáldskaparmál, wenn Snorri den Ursprung der Dichtkunst zu erklären sucht (vgl. Skáldsk G55–G58, Faulkes, Bd. 1, S. 1–5; ansonsten nehmen die Strophen 104–110 der Hávamál (s. Neckel; Kuhn, Edda, S. 33 f.) sowie skaldische Kenningar darauf Bezug (vgl. hierzu Hultgård, Wotan-Odin, S. 764 f.). 92 Hiervon künden auch Odinsnamen wie Valfǫðr ‚Vater der Gefallenen‘; Valkjósandi ‚Wähler der Gefallenen‘ und Valþognir ‚Empfänger der Gefallenen‘ (vgl. Falk, Odensheite, S. 32 f.). 93 Vgl. Beck, Heinrich: Art. „Einherier“, in: RGA, Bd. 7. Berlin, New York, 1989, S. 22 f. 94 Vgl. Schjødt, Jens-Peter: Initiation between Two Worlds. Structure and Symbolism in Pre-Christian Scandinavian Religion. Translated by Victor Hansen. [Odense], 2008 (The Viking Collection, 17), S. 451: „It seems incontrovertible to state that a crucial characteristic of Óðinn, as he appears in the sources, [. . .] is his numinous knowledge [. . .]“ 95 Böldl, Götter und Mythen, S. 172. 96 Ebd. 97 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 172 f. 98 S. Hkr I, Yngl saga, Kap. 7, ÍF 26, S. 18: „[. . .] stundum vakði hann upp dauða menn ór jǫrðu eða settisk undir hanga.“ / „[. . .] manchmal erweckte er tote Menschen aus der Erde oder setzte sich unter die Gehenkten.“ 99 Vgl. Bdr, Str. 4, Neckel; Kuhn, Edda, S. 277: „Þá reið Óðinn fyr austan dyrr, / þar er hann vissi vǫlo leiði; / nam hann vittugri valgaldr qveða, / umz nauðig reis, nás órð um qvað [. . .].“ / „Da ritt Odin östlich der Tür, / wo er wusste das Grab der Seherin; / er begann der Zauberkundigen Totenzauber zu sagen, / bis sie unter Zwang aufstand, einer Leiche Worte sprach [. . .]“ (Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 182).

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des Gottes, welche ihm die Kenntnis der Runen offenbart.100 Dieser Mythos zeigt zudem, dass Óðinn in der Lage ist, den Tod zu überwinden und somit auch regeneratives Potential besitzt. Mit der eben angesprochenen Fähigkeit zur Erneuerung ist insbesondere Óðinns Rolle als heilkundiger Gott verbunden. Obwohl dieses Wirkungsfeld Óðinns in der altnordischen Literatur nur vereinzelt aufscheint,101 handelt es sich um ein sehr wichtiges und frühes Merkmal des Gottes, das einer der Gründe für die bei römischen Autoren zu beobachtende Gleichsetzung Óðinns/Wotans mit Hermes/Merkur gewesen sein dürfte, welcher ebenfalls mit Heilkunde assoziiert wurde.102 Dass Óðinn mit der Fähigkeit zur Regeneration konnotiert ist, wird in der altnordischen Überlieferung zudem anhand des in seinem Besitz befindlichen Rings Draupnir (‚der Tropfer‘)103 deutlich, von dem jede neunte Nacht acht ebenso schwere Ringe tropfen.104 Neben seinen Fähigkeiten als Heiler kommt dem Götterfürsten überdies eine wichtige Rolle als Schöpfer und Lebensspender bei der Entstehung des Kosmos zu, den er in einer primordialen Vorzeit gemeinsam mit seinen Brüdern Vili und Vé aus dem Körper des von ihnen getöteten Urriesen erschaffen hat.105 Snorris Gylfaginning zufolge ist dieselbe Brüdertrias überdies verantwortlich für die Erschaffung des ersten Menschenpaares;106 wohingegen Óðinn in der Vǫluspá im Verbund mit zwei anderen Gottheiten (Lóðurr und Hœnir) die ersten Menschen mit Leben erfüllt.107 Von besonderem Interesse für die Beschäftigung mit seiðr ist natürlich Óðinns Eigenschaft als göttlicher Magier. In den altnordischen Quellen wird ihm die Kenntnis einer enormen Vielfalt an magischen Praktiken zugeschrieben; von allen Göttern gilt er als der zauberkundigste, was seine Bezeichnung als galdrs faðir (‚Vater der Zauberei‘) in Baldrs draumar108 verdeutlicht. Óðinns immenses magisches Wissen manifestiert sich insbesondere in den eddischen Hávamál: In den als ljóðatal

100 Davon berichtet Óðinn als Sprecher der Hávamál in den Strophen 138–141 dieses Eddaliedes (s. Neckel; Kuhn, Edda, S. 40). 101 In der altnordischen Literatur begegnet Óðinn als Heil- und insbesondere Kräuterkundiger in der Ynglinga saga, wo er das Haupt Mímirs mithilfe von Kräutern konserviert (s. Hkr I, Yngl saga, Kap. 4, ÍF 26, S. 13) und in der Vǫlsunga saga, wo er Sigmundr zu einem Wunden heilenden Blatt verhilft (s. „Vǫlsunga saga“, in: Olsen, Magnus (Hg.): Vǫlsunga saga ok Ragnars saga loðbrókar. København, 1906–1908 (STUAGNL, 36), S. 16). Auf beide Episoden wird in Kapitel VII 2.3.1 näher eingegangen. 102 Vgl. hierzu ausführlich Kapitel VII 2.3.1. 103 Vgl. Simek, Lexikon der germanischen Mythologie, S. 78. 104 Vgl. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 2. 2., völlig neu bearb. Aufl. Berlin, 1957, S. 78 f. Der Besitz des Ringes wird von Snorri in den Skáldskaparmál (s. Skáldsk 5, Faulkes, Bd. 1, S. 17) aber auch Óðinns Sohn Baldr zugeschrieben, vgl. Simek, Lexikon der germanischen Mythologie, S. 79. 105 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 156 f. 106 S. Gylf 9, Faulkes, SnE, S. 13. 107 S. Vsp, Str. 17–18, Neckel; Kuhn, Edda, S. 4 f. Vgl. hierzu Motz, King, Champion, Sorcerer, S. 77 f. 108 Bdr, Str. 3, Neckel; Kuhn, Edda, S. 277.

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(‚Zauberlieder‘) bekannten Strophen 146–163 rühmt sich der Gott achtzehn Zaubersprüche zu kennen, die von Liebeszaubern bis Kampfmagie ganz unterschiedliche Bereiche umfassen – wobei allerdings jeweils nur der Zweck des Zaubers, nicht aber die dazugehörige magische Formel genannt wird. Zudem gibt Snorri in Kapitel 7 der Ynglinga saga einen Überblick über die magischen Fähigkeiten des vermenschlichten Óðinn: Demnach ist er in der Lage seine Gestalt zu wandeln und als Tier innerhalb weniger Augenblicke in weit entfernte Länder zu reisen, hat Macht über die Elemente und vermag es, Feuer, Wind und die See zu kontrollieren. Das überragende Geheimwissen des Gottes speist sich aus verschiedenen Quellen: Neben dem Besitz von Mímirs Haupt109, das ihm Neuigkeiten aus anderen Welten mitteilt und den Erkenntnissen, mit welchen ihn seine beiden Raben Huginn (‚Gedanke‘; zu an. hugr bzw. hugi) und Muninn (‚Erinnerung‘; zu an. muna) versorgen, enthüllt sich Óðinn jenseitiges Wissen vor allem durch seinen bereits angesprochenen Kontakt mit den Toten. Erst im Anschluss an diese Passage wird auch seiðr in den Katalog Óðinns magischer Kenntnisse aufgenommen; bemerkenswert ist hierbei die Charakterisierung des seiðr als machtvollste Magieform, deren Ausübung den Gott allerdings zugleich mit ergi, d. h. „Unmännlichkeit“, in Verbindung bringt. Diesen Vorwurf muss Óðinn sich auch von Loki gefallen lassen, welcher den Götterfürsten in der Lokasenna110 spöttisch mit einer vǫlva vergleicht und der Unmännlichkeit bezichtigt. Wie bereits erwähnt, vermag Óðinn mittels seiðr Einblicke in zukünftiges Geschehen zu nehmen; darüber hinaus kann er diese Magieform allerdings auch zur Manipulation von Körperkraft und Psyche der Menschen einsetzen. Interessanterweise fügt Snorri dem Wirkungsspektrum des seiðr in der Ynglinga saga also weder die Beeinflussung der Elemente hinzu, welche in der restlichen Sagaliteratur einen prominenten Einsatzbereich dieser Magieform darstellt, noch den Gestaltwandel, der – wie noch zu zeigen sein wird111 – ebenfalls zu den Fähigkeiten seiðr-Praktizierender gehört. Bei Óðinn handelt es sich also um eine äußerst vielschichtige Göttergestalt. Mehr als jeder andere Asengott ist er mit Allmacht und Herrschaft, zugleich jedoch in seinem Bezug zum Jenseits und dessen Geheimnissen mit dem „Ehrfurchtgebietenden

109 In der altnordischen Mythologie erlangt Óðinn mit Hilfe von Mímir auf zwei unterschiedliche Arten Weisheit: Einer Version der Mythe zufolge opfert er sein Auge, um aus Mímirs Quelle trinken zu dürfen (s. Vsp 27–28, Neckel; Kuhn, Edda, S. 6 f.); nach einer anderen ist Óðinn im Besitz des von ihm selbst einbalsamierten Hauptes Mímirs, der als weiser Ratgeber bekannt war und von den Wanen enthauptet wurde, als diese sich im Zuge des Geiselaustauschs nach dem Asen- und Wanenkrieg betrogen fühlten (vgl. Hkr I, Yngl saga, Kap. 4, ÍF 26, S. 13); vgl. hierzu Hultgård, Wotan-Odin, S. 766 f. Unabhängig von der genauen Ausgestaltung dieses Mythos bleiben die zentralen Elemente jeweils die gleichen: Mímir ist eine Gestalt, die für ihre große Weisheit bekannt ist und deren Wissen Óðinn sich aneignet. Vgl. hierzu auch Schjødt, Initiation, S. 127: „[. . .] the transmission of knowledge from Mímir to Óðinn is a constant theme, irrespective of the interpretation of the details in the Mímir-complex.“ 110 S. Lks, Str. 24, Neckel; Kuhn, Edda, S. 101. 111 Vgl. hierzu Kapitel VII 2.4 der vorliegenden Arbeit.

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und Schauervollen“112 verbunden. Die herausragendsten Merkmale Óðinns sind seine intellektuellen Qualitäten: Sein unaufhörliches Streben nach numinosem Wissen, seine magischen und heilkundlichen Fähigkeiten sowie seine Assoziation mit Ekstase und Inspiration. Er bringt die Dichtkunst (in Form des Skaldenmets) sowie die Runenschriftzeichen in die diesseitige Welt und fungiert auch in seiner Eigenschaft als Kriegsgott eher als Ratgeber und Stratege, denn als Kämpfer. Zugleich ist sein enormes regeneratives Potential ein wesentliches Charakteristikum des Gottes.113 2.2.2 Freyja Obschon Óðinn als Meister der Magie im nordischen Pantheon schlechthin gilt, bildet der seiðr Snorri zufolge keinen ursprünglichen Bestandteil seines Arsenals magischer Fähigkeiten. Laut der Ynglinga saga ist es vielmehr die Wanin Freyja, welche die Asen als Erste in dieser magischen Praktik unterweist: Dóttir Njarðar var Freyja. Hon var blótgyðja. Hon kenndi fyrst með Ásum seið, sem Vǫnum var títt.114 Njǫrðrs Tochter war Freyja. Sie war eine Opferpriesterin. Sie brachte den Asen als erste seiðr bei, der bei den Wanen üblich war.

Bei seiðr handelt es sich demnach offenbar um eine Spezialität bzw. nachgerade eine Sitte des Göttergeschlechts115 der Wanen (sem Vǫnum var títt), welche neben den Asen im vorchristlichen Skandinavien offiziell kultisch verehrt wurden.116 Der primäre Zuständigkeitsbereich der Wanen sind Fruchtbarkeit und damit eng verbundene Aspekte wie Sexualität, Prosperität und Frieden.117 Als zu den Wanen gehörig nennen die Quellen Njǫrðr sowie seine Kinder Freyr und Freyja.118 Beide Göttergruppen unterscheiden sich deutlich von einander, denn für die Wanen gelten andere Normen als für die Asen: Sie praktizieren Inzest, was für die Asen inakzeptabel ist.

112 Böldl, Götter und Mythen, S. 142. 113 Vgl. zu dieser Zusammenfassung ebd. 114 Hkr I, Yngl saga, Kap. 4, ÍF 26, S. 13. 115 Snorri vermenschlicht in seiner euhemeristischen Darstellung die beiden Gruppen und stellt sie als benachbarte Völker vor. 116 Insbesondere in Kontinentalskandinavien sind zahlreiche theophore Ortsnamen belegt, die in Verbindung zu den Wanen stehen und von der weiten Verbreitung ihres Kults im vorchristlichen Skandinavien zeugen, vgl. Maier, Bernhard: Art. „Fruchtbarkeitskulte“, in: RGA, Bd. 10. Berlin, New York, 1998, S. 131. 117 Vgl. Schjødt, Initiation, S. 383. 118 Dies zeigt sich auch in Freyjas Bezeichnung mit Begriffen wie vanagoð, vanadís und vanabruðr; vgl. Heizmann, Wilhelm: „Freyja“, in: Müller, Ulrich; Wunderlich, Werner (Hgg.): Verführer, Schurken, Magier. St. Gallen, 2001 (Mittelalter Mythen, 3), S. 279 sowie Böldl, Götter und Mythen, S. 255.

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II Wirkungsspektrum und Praktizierende des seiðr

So zeugte Njǫrðr der Ynglinga saga zufolge Freyr und Freyja mit seiner eigenen Schwester119, was den Gepflogenheiten der Wanen entsprach: Þá er Njǫrðr var með Vǫnum, þá hafði hann átta systur sína, þvi at þat váru þar lǫg. Váru þeira bǫrn Freyr ok Freyja. En þat var bannat með Ásum at byggja svá nait at frændsemi.120 Als Njǫrðr bei den Wanen war, war er mit seiner Schwester verheiratet, weil das dort geltendes Recht war. Ihre Kinder waren Freyr und Freyja. Doch es war bei den Asen verboten, so nahe Blutsverwandte zu heiraten.

Eben jener dubiose Charakter der Wanen, der sich insbesondere auch in den magischen Kräften dieses Göttergeschlechts manifestiert, scheint die unausgesprochene Begründung dafür zu sein, dass die Asen ihnen die Anerkennung verweigern. So kommt es zu einem langen Krieg zwischen den beiden Göttergruppen, von dem sowohl die Vǫluspá als auch die Ynglinga saga berichten.121 Im Zuge des schließlich erreichten Friedensschlusses kommen Njǫrðr sowie seine beiden Kinder Freyr und Freyja – die einzigen namentlich in den Quellen genannten wanischen Gottheiten – als Geiseln zu den Asen.122 Freyja, die gemäß der Ynglinga saga also als erste Meisterin des seiðr gelten kann, tritt in der mythischen Überlieferung vornehmlich in ihrer Funktion als Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin in Erscheinung: Beinamen wie Sýr (‚Sau‘)123 oder Gefn124 (‚die Gebende‘ bzw. ‚die Geberin‘; von an. gefa ‚geben‘) kennzeichnen sie als segenspendende Göttin der Fruchtbarkeit und der Fülle. Wie die Wanen generell wird Freyja mit der Vorstellung von materiellem Wohlstand und speziell Gold assoziiert:125 Sie ist die Besitzerin des Kleinods Brísingamen, weint goldene Tränen um ihren absenten Gatten126 119 Dass auch das Geschwisterpaar Freyr und Freyja ein Liebensverhältnis unterhält, kann Lokis gegen Freyja gerichteten Schmähungen in der Lokasenna entnommen werden: „síztic at brœðr þínom stóðo blíð regin / oc mundir þú þá, Freyja, frata“ (Lks, Str. 32, Neckel; Kuhn, Edda, S. 103) / „seit dich bei deinem Bruder die milden Ratenden überraschten / und da musstest du, Freyja, furzen“ (Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 152). 120 Hkr I, Yngl saga, Kap. 4, ÍF 26, S. 13. 121 Vgl. Vsp, Str. 21–24, Neckel; Kuhn, Edda, S. 5 f. sowie Hkr I, Yngl saga, Kap. 4, ÍF 26, S. 12. 122 Die Ynglinga saga (Kap. 4, ÍF 26, S. 12) erwähnt als Geiseln zwar nur Njǫrðr und Freyr namentlich, Freyja zählt in der Folge jedoch immer zu den Asinnen (s. z. B. Snorri Sturluson: Edda: Prologue and Gylfaginning, herausgegeben von Anthony Faulkes. Oxford, 1982, S. 24: „En Freyja er ágætust af Ásynjum“ / „Doch Freyja ist die vornehmste der Asinnen“); vgl. dazu Heizmann, Freyja, S. 279. 123 S. Gylf 35, Faulkes, SnE, S. 29 sowie Þul IV h 3, Skj Bd. B I, S. 661. 124 Ebd. 125 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 260. 126 S. Gylf 35, Faulkes, SnE, S. 29 sowie Skáldsk 37, Faulkes, Bd. 1, S. 44: „Til allra heita Freyju er rétt at kenna grátinn ok kalla svá gullit, ok á marga lund er þessum kenningum breytt, kallat hagl eða regn eða él eða dropar eða skúrir eða forsar augna hennar eða kinna eða hlýra eða brá eða hvarma.“ / „Es ist richtig ‚Tränen‘ mit allen Namen Freyjas zu umschreiben und so das Gold zu benennen, und auf viele Arten sind diese Umschreibungen abgewandelt, es wird Hagel oder Regen oder Sturm oder

2 Die Ausübenden des seiðr

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und hat zwei Töchter mit Namen Hnoss (‚Kleinod‘, ‚Kostbarkeit‘) und Gersimi127, welche Snorri zufolge von so großer Schönheit sind, dass nach ihnen alle kostbaren Dinge benannt werden. Freyja ist Objekt der Begierde von Riesen (z. B. Þrymskviða) und Zwergen (Sǫrla þáttr); vier Angehörigen der letzteren Gruppe gewährt die Göttin im Austausch gegen einen kostbaren goldenen Halsschmuck (gullmen), welcher mit dem Brísingamen identisch sein dürfte, sogar jeweils eine Liebesnacht.128 Auch sonst ist Freyja für ihr überaus aktives Liebesleben berüchtigt: In der Lokasenna hält Loki der Göttin vor, mit allen in Ægirs Halle anwesenden Asen und Alben intim gewesen zu sein („ása oc álfa, er hér inni ero, / hverr hefir þinn hór verið“129 / „von den Asen und Alben, die hier drinnen sind, / ist jeder dein Geliebter gewesen“130) und auch die Riesin Hyndla verhöhnt Freyja in den Hyndluljóð wegen ihrer zahlreichen amourösen Abenteuer („scutuz þér fleiri und fyrirscyrto“131 / „mehrere schlüpften dir unter die Schürze“132).133 Jedoch verfügt Freyja zugleich über kriegerische Aspekte und steht in Bezug zum Tod. So bewohnt die Göttin nach ihrer Ankunft bei den Asen in Ásgarðr einen Ort namens Fólkvangr (‚Feld des Kampfes‘ bzw. ‚Feld der Heerscharen‘). Auch reitet sie selbst in die Schlacht und nimmt die Hälfte der gefallenen Krieger zu sich („ok hvar sem hon ríðr til vígs þá á hon hálfan val“134 / „und wo auch immer sie zum Kampf reitet, da gehört ihr die Hälfte der Gefallenen“), während die andere Hälfte bei Óðinn135 in Valhǫll Aufnahme findet: Fólcvangr er inn níundi, enn þar Freyja ræðr sessa kostom i sal, hálfan val hon kýss hverian dag, enn hálfan Óðinn á.136 Folkwang ist der neunte, über die Sitze im Saal;

und dort entscheidet Freyja

Tropfen oder Regenschauer oder Wasserfälle ihrer Augen oder Wangen [kinn und hlýr sind praktisch bedeutungsgleich und wurden daher nicht einzeln übersetzt] oder Wimpern oder Augenlider genannt.“ 127 S. Hkr I, Yngl saga, Kap. 8, ÍF 26, S. 25. Im Altnordischen bedeutet hnoss ‚Kleinod‘, ‚Kostbarkeit‘; ‚Gersimi‘ leitet sich von an. gersemi mit derselben Bedeutung ab, vgl. Heizmann, Freyja, S. 280. 128 Vgl. „Sǫrla þáttr“ in: Guðbrandur Vigfússon; Unger, C. R. (Hgg.): Flateyjarbók: En Samling af norske Konge-Sagaer med indskudte mindre Fortællinger om Begivenheder i og udenfor Norge samt Annaler. Bd. 1, Christiania, 1860, S. 275. 129 Lks, Str. 30, Neckel; Kuhn, Edda, S. 102. 130 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 151. 131 Hdl, Str. 47, Neckel; Kuhn, Edda, S. 296. 132 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 209. 133 Vgl. Heizmann, Freyja, S. 280. 134 Gylf 24, Faulkes, SnE, S. 24. 135 S. ebd. 136 Grm, Str. 14, Neckel; Kuhn, Edda, S. 60.

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II Wirkungsspektrum und Praktizierende des seiðr

die Hälfte der Gefallenen wählt sie jeden Tag, die andere Hälfte gehört Odin.137

Eine solche Verknüpfung von Tod und Fruchtbarkeit ist oft bei Vegetationsgottheiten zu beobachten, die sowohl mit Vergänglichkeit als auch Fruchtbarkeit verbunden sein und beide Aspekte als Teile des Lebenskreislaufs in sich vereinen können.138 Des Weiteren tritt Freyja natürlich als göttliche Magierin in Erscheinung, indem sie, wie eingangs erwähnt, die Asen in der Ausübung des seiðr unterrichtet. Doch auch an anderen Stellen der mythischen Überlieferung wird die Göttin mit Zauberkünsten in Verbindung gebracht: u. a. verunglimpft Loki sie in der Lokasenna als Hexe („þú ert fordæða / oc meini blandin mioc“139/ „Du bist eine Hexe / und sehr mit Unheil vermischt“). Eine Überschneidung von regenerativer Magie und Kampf weist Freyjas Rolle im Sǫrla þáttr auf, wo sie unter dem Namen Gǫndul einen niemals endenden Kampf zwischen den Heeren zweier Könige entfacht.140 Wie schon für Óðinn konstatiert, ergibt sich auch für Freyja das Bild einer vielschichtigen Gottheit. Ihre herausragenden Wirkungsfelder, nämlich Sexualität, Fruchtbarkeit und Fülle einerseits sowie der Tod auf der anderen Seite lassen sich jedoch gut mit ihrer Eigenschaft als Vegetationsgöttin in Einklang bringen. Zugleich ist auch für Freyja – wenngleich in weniger ausgeprägtem Maße als dies bei Óðinn der Fall ist – eine Assoziation mit dem Bereich der Magie zu verzeichnen.

137 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 94. 138 Vgl. dazu Massenzio, Marcello; Cancik-Lindemaier, Hildegard (Übers.): Art. „Vegetationskult“, in: HrwG, Bd. 5. Stuttgart, Berlin, Köln, 2001, S. 309. 139 Lks, Str. 32, Neckel; Kuhn, Edda, S. 103. Der Begriff fordæða bedeutet eigentlich ‚Übeltäterin‘, ‚Unheilstifterin‘. In der altnordischen Literatur sowie in den altnorwegischen Rechtstexten bezeichnet er in der Regel eine böswillige Zauberin und kann mit ‚Hexe‘ wiedergegeben werden. Vgl. dazu ausführlich von See, Klaus et al.: Kommentar zu den Liedern der Edda, Bd. 2: Götterlieder. Skírnismál, Hárbarðslióð, Hymiskviða, Lokasenna, Þrymskviða. Heidelberg, 1997, S. 447 f. 140 S. Sǫrla, Flat, Bd. 1, S. 278 ff. Hier wird auf die Legende vom Hjaðningavíg, dem immerwährenden Kampf zwischen den Kriegern Hǫgnis und Heðinns, rekurriert. Laut dieser erweckt Hildr – die von Heðinn entführte Tochter Hǫgnis, um welche der Streit der beiden Parteien entbrannt ist – durch einen Zauber jede Nacht die Gefallenen, was sich bis zu den ragnarǫk fortsetzen wird. Diese Erzählung ist Bestandteil der Hildesage und auch auf bildlichen Darstellungen, wie dem gotländischen Bildstein Lärbro Stora Hammars I, bezeugt (vgl. zu diesem Bildstein Lindqvist, Sune: Gotlands Bildsteine. Gesammelt und untersucht von Gabriel Gustafson und Fredrik Nordin [. . .], Bd. 2. Stockholm, 1942, S. 83 − 87). Für eine neue Auswertung der gotländischen Bildsteine mittels Methoden der digitalen Archäologie vgl. Oehrl, Sigmund: Die Bildsteine Gotlands – Probleme und neue Wege ihrer Dokumentation, Lesung und Deutung. Friedberg, 2019 (Studia archaeologiae medii aevi, 3).

III Das altnordische Weltbild – fremd versus vertraut 1 Vorbemerkungen Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln das Wirkungsspektrum des seiðr sowie seine menschlichen und mythischen Praktizierenden näher vorgestellt wurden, ist es an der Zeit zu ergründen, in welches Weltbild die mit Zauberei und ihren Ausführenden verbundenen Konnotationen eingebettet sind. Da eine Verknüpfung von seiðr und Liminalität im Fokus der vorliegenden Untersuchung steht, gilt es, hierbei insbesondere die Raumwahrnehmung sowie die Konzeption von (mythischen) Räumen im mittelalterlichen Skandinavien näher zu beleuchten. Vor allem ist der Frage nachzugehen, welche Grenzen zwischen den einzelnen Bereichen etabliert werden und in welcher Form es zu einer Überschreitung derselben kommt.

2 Raumwahrnehmung und Weltmodell im mittelalterlichen Skandinavien 2.1 Dichotomie von miðgarðr- und útgarðr-Sphäre Eine wichtige Konstituente des altnordischen Weltbildes bildet die von einer starken Differenzierung zwischen Innen- und Außenraum geprägte Raumwahrnehmung. Besonders greifbar wird dies innerhalb der mythischen Überlieferung des mittelalterlichen Skandinaviens, welche die Welt als in konzentrische Kreise gegliedert beschreibt: In der Mitte einer kreisförmigen, innerhalb eines Urozeans gelegenen und von der Midgardschlange (an. miðgarðsormr) umgürteten Landmasse1 befindet sich der von den Menschen bewohnte Bereich miðgarðr – der ‚Hof in der Mitte‘2 –, in dessen Zentrum wiederum Ásgarðr, der Wohnsitz der Götter, verortet

1 S. Gylf 47, Faulkes, SnE, S. 43: „Miðgarðsormr er liggr um lǫnd ǫll“ / „Die Midgardschlange, die um alle Länderein liegt“; vgl. hierzu Böldl, Götter und Mythen, S. 114. 2 Miðgarðr bedeutet eigentlich sowohl ‚Hof in der Mitte‘ als auch ‚Zaun in der Mitte‘. Dies hängt damit zusammen, dass der Wortbestandteil -garðr ursprünglich im Sinne von ‚Zaun‘, ‚Mauer‘, ‚Einfriedung‘ verwendet wurde. Zunächst war damit also die Umzäunung des Hofes und des dazugehörigen kultivierten Landes gegen die umgebende Wildnis gemeint. Später wurde -garðr jedoch auch für das umhegte Gebiet selbst verwendet und bezeichnet somit die Hofanlage als solche; der Begriff kann im Altnordischen analog dazu auch ‚Stadt‘ bedeuten. Vgl. dazu Böldl, Klaus: Art. „Miðgarðr und Útgarðr“, in: RGA, Bd. 20. Berlin, New York, 2002, S. 10 sowie Böldl, Götter und Mythen, S. 115f. https://doi.org/10.1515/9783110678772-003

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III Das altnordische Weltbild – fremd versus vertraut

wird. Umgeben wird dieser Bereich von útgarðr3, einer von Riesen und anderen Chaosmächten bevölkerten Sphäre.4 Der Sitz der Götter und der Menschen bildet hierbei den Kulturraum, der einer beständigen Bedrohung durch die von außen hereindrängenden Chaoskräfte ausgesetzt ist und seine Grenzen gegen diese verteidigen muss. Die altnordische Raumkonzeption beschränkt sich indessen nicht allein auf diese horizontale Struktur, sondern wird durch ein vertikales Element ergänzt, das sich auf mythologischer Ebene im Weltenbaum Yggdrasill manifestiert. Dieser verbindet als axis mundi5, d. h. als eine in der Mitte der Welt befindliche Weltachse, die verschiedenen ober- und unterweltlichen Sphären des Kosmos – also den Himmel, die Erde und die Unterwelt – miteinander. Die Vorstellung einer solchen Weltachse, oftmals in der Variante eines Weltenbaumes, ist in zahlreichen und insbesondere in schamanistisch geprägten Kulturen verbreitet. Zentrale Bedeutung kommt hierbei der Möglichkeit zu, entlang der Weltachse in verschiedene Realitätsebenen reisen und mit ihnen in Kontakt treten zu können.6 In Kirsten Hastrups strukturalistisch geprägter Analyse der altnordischen Kosmologie7 bildet der Weltenbaum Yggdrasill die Grundstruktur eines mit den horizontalen Raumvorstellungen koexistierenden vertikalen Raummodells. Hierbei wird der Wohnsitz der Götter in der oberen Ebene des Weltenbaumes angenommen; in der Mitte Yggdrasills liegt die von den Menschen bewohnte Sphäre, während sich an seinen Wurzeln Hel, das Reich der Toten, befindet.8

3 Während der Begriff miðgarðr sowohl in der Liederedda als auch in der Snorra Edda gebraucht wird und Parallelen dazu – ebenfalls in der Grundbedeutung ‚Welt‘ bzw. ‚Erde‘ – auch in anderen germanischen Sprachen zu finden sind (vgl. altengl. middangeard, ahd. mittilgart), erscheint das Wort útgarðr nicht in der Dichtung, sondern wird lediglich in Snorris Gylfaginning (s. Gylf 45, Faulkes, SnE, S. 39) verwendet, wo es das jenseits des Meeres befindliche Territorium des Útgarðr-Loki denotiert. Vgl. hierzu Böldl, Miðgarðr und Útgarðr, S. 10 sowie Clunies Ross, Margaret: Prolonged echoes: Old Norse myths in medieval Northern society, Bd. 1: The myths. Odense, 1994 (The Viking Collection, 7), S. 51. 4 Vgl. Böldl, Miðgarðr und Útgarðr, S. 10; Böldl, Eigi einhamr, S. 95; Steinsland, Gro: „The late Iron Age Worldview and the Concept of ‛Utmark’“, in: Holm, Ingunn; Innselset, Sonja; Øye, Ingvild (Hgg.): ‛Utmark’. The Outfield as Industry and Ideology in the Iron Age and the Middle Ages. Bergen, 2005 (UBAS, International University of Bergen Archaelogical Series, 1), S. 138; Hastrup, Kirsten: Island of Anthropology. Studies in past and present Iceland. Odense, 1990 (The Viking Collection, 5), S. 26 f. 5 Die Vorstellung einer Weltachse ist bei den meisten alteuropäischen Kulturen verbreitet und kann auch für den germanischen Bereich als gesichert angenommen werden. Dies zeigt u. a. das Beispiel der Irminsul, eines Heiligtums der Sachsen, das von Karl dem Großen im Jahr 722 im Zuge der Sachsenkriege zerstört wurde und von dem Mönch Rudolf von Fulda (gest. 865) in seinem Bericht über die Übertragung der Gebeine des hl. Alexander (Translatio Alexandri) als „universalis columna, quasi sustens omnia“, also „eine gewaltige Säule, die gleichsam alles trägt“, beschrieben wird. Vgl. dazu Springer, Matthias: Art. „Irminsul“, in: RGA, Bd. 15. Berlin, New York, 2000, S. 504 f. 6 Vgl. Schjødt, Jens-Peter: Art. „Weltenbaum“, in: RGA, Bd. 33. Berlin, New York, 2006, S. 452 f. 7 Vgl. Hastrup, Island of Anthropology, S. 25–43, besonders S. 26–32. 8 Vgl. ebd., S. 30 f.

2 Raumwahrnehmung und Weltmodell im mittelalterlichen Skandinavien

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Tatsächlich erweist sich jedoch die Verortung mythischer Bereiche und Wesenheiten entlang der „vertikalen Achse“9, wie Hastrup sie vornimmt, als recht problematisch. Dies bedingt schon der entscheidende Faktor, dass weder in der Liederedda noch in der skaldischen Dichtung bis zum Jahr 1000 Hinweise darauf existieren, dass der Wohnsitz der Götter tatsächlich im Himmel, also in der oberen Sphäre, situiert worden wäre. Gerade die eddischen Gedichte Vǫluspá, Grímnismál und Vafþruðnismál, die zahlreiche kosmologische Vorstellungen überliefern, erwähnen keine himmlische Wohnstätte der Götter.10 Die in der Snorra Edda anzutreffende Positionierung der Asen im Himmel ist also aller Wahrscheinlichkeit nach kein originär heidnischer Zug, sondern eher dem Einfluss einer christlichen Kosmologie geschuldet.11 Letztlich ist es jedoch aufgrund der Komplexität der altnordischen Mythologie ohnehin nicht möglich, ein konsistentes Raummodell zu rekonstruieren und darin mythische Wesen und Orte exakt zu verorten. Viele gerade durch die Vermischung horizontaler und vertikaler Elemente entstandene Widersprüchlichkeiten sind nicht aufzulösen und existierten – für ursprünglich mündliche Überlieferungen typisch – offenbar nebeneinander.12 Bei der wissenschaftlichen Annäherung an das altnordische Weltbild sollte man also von übertriebenen Systematisierungsversuchen Abstand nehmen, um nicht Gefahr zu laufen „to systemize and rationalize what was most likely never systemized and rationalized in the pre-Christian period“13. Dennoch weist das eingangs vorgestellte horizontale Modell mit seiner Dichotomisierung von miðgarðr und útgarðr derart viele Entsprechungen innerhalb der Lebensrealität der alten Skandinavier auf, dass es als das die altnordische Raumwahrnehmung

9 Die Bezeichnung der Konstituenten des altnordischen Weltmodells als „horizontale“ bzw. „vertikale Achsen“ hat erstmals der russische Historiker Aaron Y. Gurevich vorgenommen (vgl. Gurevich, Aaron Y.: „Space and Time in the Weltmodell of the Old Scandinavian Peoples“, in: Mediaeval Scandinavia, 2. Turnhout, 1969, S. 44). In der Folge haben diese Begriffe durchgängig Einzug in die Forschungsliteratur zum altnordischen Weltbild gefunden, siehe z. B. Schjødt, Jens-Peter: „Horizontale und vertikale Achsen in der vorchristlichen skandinavischen Kosmologie“, in: Ahlbäck, Tore (Hg.): Old Norse and Finnish Religions and Cultic Place-Names. Based on papers read at the Symposium on Encounters between Religions in Old Nordic Times and on Cultic Place-Names held at Åbo, Finland, on the 19th–21st of August 1987. Åbo, Stockholm, 1990 (Scripta Instituti Donneriani Aboensis), S. 35–57. 10 Vgl. Schjødt, Horizontale und vertikale Achsen, S. 40 ff. mit einer Reihe von Belegen, welche auf die Prävalenz eines horizontalen Weltmodells in Vsp, Grm und Vm hindeuten. Siehe hierzu insbesondere S. 41 f.: „Viele andere Beispiele könnten noch genannt werden, die mehr oder weniger indizieren, dass wir es eindeutig mit einer horizontal orientierten Kosmosauffassung zu tun haben. Selbst in den Beschreibungen von Yggdrasill in Vsp und Grm gibt es nicht die geringste Andeutung einer himmlischen Wohnstatt für die Asen.“ 11 Vgl. auch Böldl, Götter und Mythen, S. 117. 12 Vgl. ebd., S. 116 f. 13 Wellendorf, Jonas: „Homogeneity and heterogeneity in Old Norse cosmology“, in: Andrén, Anders; Jennbert, Kristina; Raudvere, Catharina (Hgg.): Old Norse religion in long-term perspectives. Origins, changes, and interactions. An international conference in Lund, Sweden, June 3–7, 2004. Lund, 2006 (Vägar till Midgård, 8), S. 52.

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III Das altnordische Weltbild – fremd versus vertraut

dominierende Strukturmerkmal betrachtet werden kann, wie bereits Gurevich in seinem 1969 veröffentlichten Artikel „Space and Time in the Weltmodell of the Old Scandinavian Peoples“ konstatierte: The Old Scandinavian cosmos is imbued with mythological concepts. On the whole it is amorphous and it is only with great difficulty that it can be analyzed in spatial terms. If, nevertheless, one tries to single out its dominating “force lines”, they could be arranged in one horizontal plane rather than vertically, unlike the hierarchical cosmos of medieval Christianity.14

Im folgenden Abschnitt soll die Konzeption von Innen- und Außenraum in der Lebensrealität der mittelalterlichen Skandinavier näher untersucht werden.

2.2 Innen- und Außenraum im Alltagserleben der mittelalterlichen Skandinavier Der horizontale Weltentwurf mit seinem Dualismus zwischen Innen- und Außenraum prägte die alltägliche Raumwahrnehmung der mittelalterlichen Skandinavier auf vielfältige Weise. So wurde die Hofanlage und das dazugehörige kultivierte Ackerland als Zentrum der Welt konzipiert oder versinnbildlichte sogar die Welt in ihrer Gesamtheit. Diese Auffassung wird im altnordischen Spachgebrauch anhand des Begriffs heimr gut ersichtlich, der sowohl ‚Heim‘, ‚Wohnsitz‘ als auch ‚bewohnte Erde‘, ‚irdische Welt‘ bedeutet15 und somit zeigt, wie stark die heimische, strukturierte Sphäre mit der Welt an sich gleichgesetzt wurde.16 Dem gegenüber stand der Außenraum, also das die Hofanlage umgebende, unbewirtschaftete Land. Auch anhand der Organisation des menschlichen Wohnraums selbst lässt sich eine Differenzierung zwischen ‚innen‘ und ‚außen‘ gut erkennen, denn innerhalb der Hofanlage wurde eine Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Gebäuden (innihús bzw. útihús) vorgenommen. Zudem wurden alle zum Hof gehörigen Bereiche in ihrer Gesamtheit als innangarðs, innerhalb der Umzäunung gelegen, bezeichnet und als bewohnte Sphäre von dem differenziert, was útangarðs, außerhalb der Umzäunung lag – dem wilden Naturraum.17 In seinem „konkreten, nicht-mythologischen Wortsinn“18 kann der Terminus útgarðr sowohl für die Einzäunung des gesamten bebauten Landes verwendet werden als auch für den dadurch abgegrenzten Außenraum. Dies korrespondiert mit dem auch im heutigen norwegischen Sprachgebrauch verwendeten Begriff utmark,

14 Gurevich, Space and Time, S. 44. Dass das horizontale Raummodell bedeutsamer für das Erleben der alten Skandinavier war, wird in der Forschung mehrheitlich angenommen. Vgl. z. B.: Böldl, Eigi einhamr, S. 95; Steinsland, The late Iron Age Worldview, S. 142; Schjødt, Horizontale und vertikale Achsen, S. 41 f. 15 Vgl. Baetke, Wörterbuch, S. 243. 16 Vgl. Böldl, Miðgarðr und Útgarðr, S. 11. 17 Vgl. Böldl, Eigi einhamr, S. 95 f. sowie Hastrup, Island of anthropology, S. 28. 18 Böldl, Eigi einhamr, S. 96.

2 Raumwahrnehmung und Weltmodell im mittelalterlichen Skandinavien

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der sich im Deutschen wohl am ehesten mit ‚Außenraum‘ wiedergegeben lässt. Im Gegensatz zum Innenraum (innmark) umfasst utmark naturgeographische Gegebenheiten wie Wälder, Moorgebiete, Berge oder Küstenregionen.19 Eine Dichotomisierung von Innen- und Außenraum zeigt sich auch in der altnordischen Rechtssprechung, die mit innangarðs und útangarðs zwischen menschlichem Lebensraum und rechtsfreier Außenwelt unterscheidet: Wird die strenge Acht bzw. Friedlosigkeit über einen Delinquenten verhängt, bedeutet dies seinen Ausschluß aus dem Rechtsverband der Siedlergemeinschaft und den Verstoß in die Außensphäre, die als von feindlichen Wesenheiten bevölkert imaginiert wird.20 Als útlagi, jemand der außerhalb des Gesetzes steht, kann der Betreffende von jedermann ungestraft getötet werden. Die symbolträchtigen altnordischen Bezeichnungen skógarmaðr (‚Waldmann‘) und vargr21 (‚Wolf‘) für einen Geächteten verbalisieren eindrucksvoll die weitreichende Dimension seines Statusverlustes: Als Feind der Rechtsgemeinschaft wird der Delinquent nicht nur in den Außenraum verbannt, sondern zugleich damit assoziiert; er büßt also gleichsam seine Menschlichkeit ein und gleicht fortan einem Wesen der Außensphäre.22 Das Wortglied ‚Wald‘ im Kompositum skógarmaðr steht hierbei als pars pro toto für die den menschlichen Lebensraum umgebenden Wildnis: „Concerning the skógr to which the outlaw was supposed to flee, we are forced to conclude, then, that the term must have referred to uninhabited – and uninhabitable – places in general.“23 Die mit der Friedlosigkeit verbundenen Konzepte lassen folglich eine Gleichsetzung von rechsfreiem Raum und unbeeinflusstem Naturraum – einem Bereich, in dem menschliche Gesetze nicht mehr gelten – erkennen und heben die Signifikanz des oben angesprochenen Dualismus zwischen Natur und Kultur innerhalb des altnordischen Weltbildes besonders deutlich hervor. Auf sozialer Ebene zeigt sich eine Differenzierung von ‚innen‘ und ‚außen‘ bzw. von ‚fremd‘ und ‚eigen‘ zudem in der ausgeprägten Neigung der mittelalterlichen Skandinavier zur Bildung von im Zentrum verorteten we-groups, wohingegen das Fremde in der Peripherie situiert wird.24

19 Vgl. Holm, Ingunn; Innselset, Sonja; Øye, Ingvild (Hgg.): ‛Utmark’. The Outfield as Industry and Ideology in the Iron Age and the Middle Ages. Bergen, 2005 (UBAS, International University of Bergen Archaelogical Series, 1), S. 9. Die Unterscheidung zwischen innmark und utmark ist in manchen skandinavischen Regionen, beispielsweise auf den Färöern, bis heute ein strukturgebendes Merkmal in der Topographie; vgl. dazu Böldl, Eigi einhamr, S. 96. 20 Vgl. Böldl, Miðgarðr und Útgarðr, S. 11. 21 S. hierzu Lundgreen, Michael: Art. „Friedlosigkeit“, in: RGA, Bd. 9. Berlin, New York, 1995, S. 620: Aufgrund seiner „Zivilisationsfeindlichkeit“ stellt der Wolf besonders in altenglischen und altnordischen Quellen „eine typische Metapher für den Geächteten“ dar. 22 Vgl. Böldl, Miðgarðr und Útgarðr, S. 11. Zur Friedlosigkeit im altnordischen Bereich vgl. auch Strauch, Dieter: Art. „Waldgänger“, in: RGA, Bd. 33. Berlin, New York, 2006, S. 123 sowie Lundgreen, Friedlosigkeit, S. 618–621. 23 Hastrup, Island of Anthropology, S. 36. 24 Vgl. ebd. sowie Böldl, Eigi einhamr, S. 95.

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III Das altnordische Weltbild – fremd versus vertraut

Die oben genannten Beispiele verdeutlichen, wie viele Ebenen der Lebensrealität der alten Skandinavier der horizontale Weltentwurf mit seinem Dualismus zwischen Innen- und Außenraum beeinflusste. Kirsten Hastrup konstatiert daher eine sehr enge Beziehung zwischen der altnordischen Kosmologie und dem Alltagserleben, bei dem sich beide wechselseitig bestätigten: [. . .] it is of little surprise that the horizontal model of the cosmos would catch the imagination of the Icelanders, and that it would outlive the social significance of the mythology as such. There was such a close fit between the ancient Scandinavian cosmology and the spatial and social realities of Iceland that each level of reality reaffirmed the others.25

Mit miðgarðr- und útgarðr-Sphäre sind die die altnordische Mythologie und Lebensrealität konstituierenden Räume somit definiert. Es stellt sich nunmehr die Frage, wo es zu einer Überschreitung ihrer Grenzen und zu Wechselbeziehungen zwischen beiden Bereichen kommt und mit welchen Konnotationen dies verbunden ist.

3 Grenzüberschreitungen 3.1 Mythologisch – Götter und Riesen Trotz ihrer Bipolarität stehen sich miðgarðr und útgarðr und die jeweils mit ihnen assoziierten ordnungsstiftenden bzw. chaotischen Prinzipien nicht „im Sinne eines starren Antagonismus“26 gegenüber wie das Gute und das Böse in der christlichen Tradition.27 Vielmehr kommt es zu Wechselbeziehungen zwischen miðgarðr- und útgarðr-Sphäre, die auf mythologischer Ebene in Form der Interaktion zwischen Göttern und Riesen Ausdruck finden. Bereits was die Abstammung einiger altnordischer Gottheiten – darunter kein geringerer als der Götterfürst Óðinn – angeht, wird die Unterscheidung zwischen Göttern und Riesen in der altnordischen Überlieferung unscharf, da sich unter ihren Vorfahren auch Riesen befinden: So ist Óðinns Mutter eine Riesin namens Bestla,28 weswegen der Gott also sowohl mit der útgarðr-Sphäre konnotiertes riesisches als auch asisches Potential in sich vereint. Diese ambivalente Abstammung teilt Óðinn allem Anschein nach mit seinem Blutsbruder29 Loki, welcher der Sohn

25 Hastrup, Island of Anthropology, S. 29. 26 Böldl, Eigi einhamr, S. 142. 27 Vgl. ebd. 28 S. Gylf 6, Faulkes, SnE, S. 11. 29 Vgl. Ls, Str. 9, Neckel; Kuhn, Edda, S. 98: „Mantu þat, Óðinn, er við í árdaga / blendom blóði saman [. . .].“ / „Erinnerst du dich daran, Odin, dass wir in Urtagen / gemeinsam das Blut mischten [. . .].“ (Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 146).

3 Grenzüberschreitungen

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des Riesen Fárbauti und einer weiblichen Gestalt namens Laufey bzw. Nál ist,30 die jedoch nicht eindeutig klassifiziert werden kann.31 Auch die zwischen Göttern und Riesen geschlossenen oder angebahnten Eheverbindungen, von denen die mythische Überlieferung zu berichten weiß, zeugen von den Bestrebungen, das Potential der Chaoskräfte für die strukturgebenden Mächten zu nutzen bzw. in Form ihrer Repräsentanten in die miðgarðr-Sphäre zu integrieren. Interessanterweise gehen jedoch lediglich die wanischen Götter Freyr und sein Vater Njǫrðr tatsächlich Ehen mit Riesinnen ein bzw. streben diese an,32 während es zwischen männlichen Asen und Riesinnen nur zu sexuellen Beziehungen unverbindlicheren Charakters kommt: Sehr prominent figuriert hier Óðinn, der u. a. die Affäre mit der Riesentochter Gunnlǫð dazu nutzt, um in den Besitz des von ihr bewachten Skaldenmets zu gelangen33 oder sich mittels seiðr Rindrs bemächtigt, um mit ihr einen Rächer für seinen Sohn Baldr zu zeugen.34 Margaret Clunies Ross schreibt dieses Ungleichgewicht dem Umstand zu, dass die wanischen Geiseln sich im Zuge ihrer Eingliederung in Ásgarðr den dort geltenden moralischen Maßstäben zu beugen gehabt hätten und somit auf die bei ihnen üblichen inzestuösen Verbindungen verzichten mussten. Da die Asen die dominierende Gruppe innerhalb des nordischen Pantheons darstellten, sei davon auszugehen, dass die Wanen eine ihnen untergeordnete Stellung innehatten. Clunies Ross schließt daraus, dass die wanischen Götter nicht die Möglichkeit hatten, eine der höherrangigen Asinnen zur Frau zu nehmen und folglich mangels anderer Optionen auf exogame Heiraten mit Riesinnen ausweichen mussten – eine These, die angesichts dessen, dass die altnordische Überlieferung in der Tat keine Eheverbindungen zwischen Asinnen und Wanen erwähnt, durchaus plausibel erscheint.35 Laut Clunies Ross haben die Wanen daher in

30 Sowohl in der Húsdrápa des Ulfr Uggason (s. Húsdr 2, Skj Bd. B I, S. 128) als auch in der Haustlǫng (s. Haustl 5, Skj Bd. B I, S. 15) des Þjóðólfr ór Hvíni wird Loki mit Fárbauta mǫgr (‚Sohn des Fárbauti‘) umschrieben; Snorri nennt als Eltern Lokis Fárbauti und Laufey bzw. Nál (s. Gylf 33, Faulkes, SnE, S. 26). 31 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 134. 32 Die Skírnismál berichten von der Eheanbahnung zwischen Freyr und der Riesin Gerðr (s. Skm, Neckel; Kuhn, Edda, S. 69–77). Auch Freyrs Vater Njǫrðr geht eine Verbindung mit einer Riesin namens Skaði ein, die allerdings als glücklose Ehe zu bezeichnen ist, da die gebirgsverbundene Riesin und der Meeresgott sich nicht auf einen gemeinsamen Wohnort einigen können (s. Gylf 23, Faulkes, SnE, S. 23 f.). 33 In den Hávamál räumt der Götterfürst selbst ein, Gunnlǫðs Zuneigung als Mittel zum Zweck ausgenutzt zu haben: „Gunnlǫð mér um gaf gullnom stóli á / drycc ins dýra miaðar; / ill iðgiold lét ec hana eptir hafa / síns ins heila hugar / síns ins svára sefa.“ / „Gunnlöd gab mir auf goldnem Stuhl / einen Trunk des trefflichen Mets; / üble Vergeltung ließ ich ihr danach / für ihre ganze Zuneigung / für ihr betrübtes Herz.“ (Hav, Str. 105, Neckel; Kuhn, Edda, S. 33; Übersetzung nach Krause, Götter und Heldenlieder, S. 56). 34 Vgl. zu Óðinns Verbindungen mit Riesinnen Schulz, Katja: Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga. Heidelberg, 2004 (Skandinavistische Arbeiten, 20), S. 73–75. 35 Vgl. dazu Clunies Ross, Prolonged Echoes, Bd. 1, S. 97.

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III Das altnordische Weltbild – fremd versus vertraut

der Mythologie eine Position zwischen Riesen und Göttern inne: „The Vanir, who for certain purposes are a sub-group of the gods but in other respects share characteristics with the giants, occupy an intermediate position and overlap semantic fields.“36 Ob Eheschließung oder Affäre – die Verbindung eines männlichen Gottes mit einer Riesin ist in beiden Ausprägungen offenbar eine akzeptierte Konstellation, wohingegen die häufig in den Mythen anzutreffenden Annäherungsversuche männlicher Riesen gegenüber den Göttinnen nicht toleriert und entschieden abgewehrt werden. Diese Weigerung der Asen, die zu ihrer Gruppe gehörigen Frauen mit Riesen (und offenbar auch mit Wanen) zu verheiraten, unterstreicht ihre dominante Position innerhalb des sozialen Gefüges der altnordischen Mythologie.37 Insbesondere die Wanin Freyja – nach ihrem Einzug in Ásgarðr zum Machtbereich der Asen gehörig – wird oftmals zum Objekt riesischer Begierde: Der Riesenbaumeister fordert die Göttin sowie die Sonne und den Mond als Lohn für den Bau Ásgarðrs ein,38 was nur durch eine List Lokis abgewendet werden kann, während in der Þrymskviða der Gott Þórr den Zorn Freyjas durch das Ansinnen auf sich zieht, sie einem Riesen zur Frau zu geben, um dafür im Austausch den gestohlenen Hammer Mjǫllnir zurückzuerlangen. Letztlich muss der Gott selbst, als Frau verkleidet, die Brautfahrt antreten und den Hammer wieder in seinen Besitz bringen.39 Anhand der geduldeten Ehekonstellationen wird ein deutliches soziales Gefälle zwischen Göttern und Riesen erkennbar:40 Bei den Interaktionen beider Gruppen handelt es sich nicht wirklich um einen Austausch; vielmehr behalten die Götter als kulturstiftende Macht stets die Oberhand. Dabei bilden jedoch riesische Frauen nicht das einzige für die Götter attraktive Potential der útgarðr-Sphäre, sondern auch Wissen41 und materielle Besitztümer (z. B. der Kessel des Riesen Hymir42). Daneben wecken auch andere, mehr abstrakte riesische Ressourcen das Begehren der Götter, wie die in Form des Skaldenmets von den Riesen gehütete Dichtkunst oder die Bierbraukunst, für welche die Kesselgewinnung der Hymiskviða steht. Clunies Ross subsumiert all diese Güter der Riesen unter dem Begriff „natural resources“43, derer sich

36 Ebd., S. 187. 37 Vgl. ebd., S. 100. 38 Dieser Mythos ist in der Gylfaginning überliefert; s. Gylf 42, Faulkes, SnE, S. 34–36. 39 S. Þrym Str. 13, Neckel; Kuhn, Edda, S. 113. Vgl. hierzu auch Schulz, Riesen, S. 77. 40 Vgl. Schulz, Riesen, S. 78. 41 Insbesondere primordiales Wissen, über welches die Riesen als älteste Weltbewohner verfügen. S. Schulz, Riesen, S. 61: „Da die Riesen die ältesten mythischen Wesen sind, sind sie prädestiniert, über die Vorzeit zu berichten. Sie kennen die Welt von ihren Anfängen her, kennen sie in allen ihren mythischen Zusammenhängen und können insbesondere Auskunft geben über genealogische Zusammenhänge im mythischen, aber auch im menschlichen Bereich“. Vgl. dazu auch Horst, völva, S. 288 f. 42 Vgl. zur Kesselgewinnung Hymiskviða, Neckel; Kuhn, Edda, S. 88–95. 43 Clunies Ross, Prolonged Echoes, Bd. 1, S. 68.

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die Götter als Rohmaterial bemächtigen, um sie anschließend – Kraft der ihnen innewohnenden strukturgebenden Fähigkeiten – in Kulturgüter umzuwandeln: [. . .] the gods covet important natural resources which the giants own, then steal them and turn them to their own advantage by utilising them to create culture, that is, they put the giants’ raw materials to work for themselves. [. . .] According to the dominating ideology of Old Norse myth, which takes a divine perspective, there is a sense in which the gods are justified in their predatory attitude towards the giants’ wealth, in that they, by means of their superior intelligence and forethought, can put their enemies’ natural resources to good use, whereas these would not realise their potential in giantland.44

Die útgarðr-Kräfte stellen also ein enormes Potential dar, durch dessen Aneignung die Götter in der Lage sind, dem Ordnungssystem neue Impulse und Kulturgüter hinzuzufügen.45 Anhand der Interaktionen und insbesondere der verwandtschaftlichen sowie amourösen Beziehungen zwischen Göttern und Riesen wird deutlich, dass die Grenzen zwischen miðgarðr- und útgarðr-Sphäre in der altnordischen Mythologie offenbar durchlässig und ihre jeweiligen Repräsentanten einander nicht so unähnlich sind, wie dies zunächst den Anschein hat. Auch strukturell unterscheiden sich miðgarðr- und útgarðr-Sphäre nicht völlig voneinander: Ähnlich wie die Götter leben die Riesen in Familienverbänden, bewohnen Gehöfte und feiern Gelage in ihren Hallen. Dennoch stellen die útgarðr-Mächte zugleich eine konstante Bedrohung für die miðgarðr-Sphäre dar, gegen die sich die Ökumene zu schützen versucht.46 Als Verteidiger von miðgarðr schlechthin tritt in der altnordischen Mythologie der Gott Þórr in Aktion, welcher unermüdlich auszieht, um gegen die Riesen als Antagonisten der Götter anzutreten und sie mithilfe seines Hammers Mjǫllnir in Schach zu halten.47 Þórrs Rolle als Verteidiger des Kosmos gegen die Chaosmächte gipfelt in seinem Kampf gegen die Midgardschlange, die er bei den ragnarǫk zwar erschlägt, dabei jedoch selbst durch den giftigen Atem des Ungeheuers umkommt.48

44 Clunies Ross, Prolonged Echoes, Bd. 1, S. 68. Vgl. hierzu auch Schulz, Riesen, S. 84. 45 Vgl. Böldl, Eigi einhamr, S. 143. 46 Vgl. Schjødt, Horizontale und vertikale Achsen, S. 43 f. 47 Als Beschützer des durch Ásgarðr und miðgarðr repräsentierten Kulturraums tritt Þórr bereits in einem auf das 10. Jh. datierten Gedichtfragment des Skalden Þórbjǫrn dísarskáld in Erscheinung, wo der Gott als Verteidiger Ásgarðrs bezeichnet wird: „Þórr hefr Yggs með ǫrum / Ásgarð af þrek varðan.“ (Skj Bd. B I, S. 135) / „Thor hat zusammen mit Yggs Boten / Asgard kräftig verteidigt.“ (Übersetzung nach Schulz, Riesen, S. 91). Vgl. zu Þórrs Funktion als Riesenbekämpfer Schulz, Riesen, S. 91 f. sowie Heizmann, Wilhelm: „Midgardschlange“, in: Müller, Ulrich; Wunderlich, Werner (Hgg.): Dämonen, Monster, Fabelwesen. St. Gallen, 1999 (Mittelalter Mythen, 2), S. 413. 48 S. Gylf 51, Faulkes, SnE, S. 50 sowie Vsp, Str. 56, Neckel; Kuhn, Edda, S. 13. Vgl. hierzu Heizmann, Midgardschlange, S. 413 sowie Böldl, Götter und Mythen, S. 222. Clunies Ross betrachtet die Midgardschlange und den Fenriswolf als eine separate, monströse Untergruppe der Götterfeinde, die in der nordischen Mythologie in noch höherem Maße als die antropomorphen Riesen Naturkräfte verkörperten, sich jeder Kontrolle entzögen und somit stärker als die Riesen für das den

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III Das altnordische Weltbild – fremd versus vertraut

Abschließend kann festgehalten werden, dass die Ordnungs- und Chaosmächte der altnordischen Mythologie in stetigem Kontakt zueinander stehen. Dabei ist das Verhältnis zwischen diesen beiden Kräften zwiespältiger Natur: Während das von den Göttern repräsentierte Ordnungssystem einerseits bestrebt ist, sich das Potential der riesischen Sphäre zu Nutze zu machen, um zu prosperieren, sieht es sich gleichzeitig einer fortwährenden Bedrohung durch die Chaosmächte ausgesetzt, gegenüber denen es die Oberhand behalten muss. Besonders eindrucksvoll drückt sich diese Ambivalenz in der bereits in der frühen Skaldik reich belegten Vorstellung eines die Welt umgürtenden, im Meer liegenden Ungeheuers aus – der Midgardschlange, wie das Untier in auf das 12. Jahrhundert zu datierenden Belegen bezeichnet wird.49 Die Symbolik dieser alten und weitverbreiteten Vorstellung von der sich in den Schwanz beißenden Schlange (Ouroboros), welche das bewohnbare Land umschließt,50 kündet von der komplizierten Synthese, in welcher Ordungssystem und chaotisches Prinzip auch in der altnordischen Vorstellungswelt miteinander verbunden sind.

3.2 Mensch und útgarðr-Sphäre Die in der altnordischen Mythologie reflektierten Wechselbeziehungen zwischen miðgarðr- und útgarðr-Sphäre spielten auch im Alltagserleben der alten Skandinavier eine bedeutsame Rolle. Dieses war von einer für das Mittelalter typischen „archaischen“51 Mentalität geprägt, gemäß derer der Mensch „sein Leben als Wirkungsfeld mächtiger Kräfte, vor denen er sich schützen muß oder um die er sich bemühen muß “52

Kulturraum bedrohende chaotische Prinzip stünden (vgl. Clunies Ross, Prolonged Echoes, Bd. 1, S. 258). Eine Differenzierung zwischen den monströsen Götterfeinden und den Riesen vorzunehmen, ist zwar sicherlich berechtigt; allerdings sind die Unterschiede zwischen diesen beiden Verkörperungen der Chaosmächte kleiner, als es auf den ersten Blick den Anschein hat: Sowohl der Fenriswolf als auch die Midgardschlange entspringen der Verbindung Lokis – der wiederum seinerseits mindestens väterlicherseits riesischer Abstammung ist – mit der Riesin Angrboða. Zudem ziehen auch die Riesen selbst der Schilderung der Vǫluspá zufolge bei den ragnarǫk als Gegner der Götter in die Schlacht. 49 Vgl. Heizmann, Midgardschlange, S. 428 sowie von See, Kommentar, Bd. 2, S. 323. 50 Vgl. Heizmann, Midgardschlange, S. 428. 51 Die Charakterisierung des Mittelalters als eine archaische Epoche ist in der Mediävistik seit den siebziger Jahren gängig. So hält Arno Borst in seinen Lebensformen im Mittelalter fest, dass „vieles, was uns Heutigen als mittelalterlich erscheint, in Wirklichkeit archaisch schlechthin“ sei (Borst, Arno: Lebensformen im Mittelalter. Frankfurt am Main, Berlin, 1973, S. 25) und Gurjewitsch erinnern die „äußerst archaischen Glaubensvorstellungen“ der mittelalterlichen Menschen an „Rituale der Urvölker“ (Gurjewitsch, Aaron J.: Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen. 5., unveränderte Auflage. München, 1997, S. 378 und 380). Vgl. hierzu Böldl, Eigi einhamr, S. 88 f. 52 Schäferdiek, Knut; Haubrichs, Wolfgang et al.: Art. „Christentum der Bekehrungszeit“, in: RGA, Bd. 4. Berlin, New York, 1981, S. 547.

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wahrnahm. Régis Boyer charakterisiert das Universum des vorchristlichen Nordens dementsprechend als eine „doppelte Welt“, in welcher der Alltagsraum stetig von „anderweltlichen“53 Einflüssen durchdrungen wird.54 Diese Anderwelt verfügt über eine beachtliche Fülle an Population: Neben asischen und wanischen Gottheiten kennt die altnordische Überlieferung eine beeindruckende Vielfalt an der sogenannten „niederen“ Mythologie zuzurechnenden Wesenheiten, darunter z. B. Alben, Zwerge, Disen, Nornen, Walküren, Fylgjen und vættir.55 Da in der altnordischen Vorstellungswelt das von Menschen unbewohnte Land in seinem Urzustand als von „mehr oder minder dämonischen Naturmächten“56 bevölkert angesehen wurde, war es bereits zur Formierung menschlichen Lebensraumes überhaupt nötig, mit diesen Wesenheiten in Kontakt zu treten. Dementsprechend ist der Akt der Landnahme57 mit verschiedenen rituellen Handlungen verbunden, die eine Interaktion mit den landvættir, den „primären antropomorphen Manifestationen der Naturmächte“58, von denen das unbewohnte Land in der altnordischen Vorstellung beherrscht wurde, herstellen sollten. So wurde beispielsweise durch das Umschreiten des Landes mit Feuer der Versuch unternommen, die Naturmächte jenseits des zu besiedelnden Bereiches zu halten.59 Das prominenteste Beispiel für

53 Der Begriff ‚Anderwelt‘ wird in der vorliegenden Untersuchung zur Beschreibung altnordischer Konzepte gebraucht. Primär im Zusammenhang mit Vorstellungen der keltischen Mythologie verwendet, bezeichnet er den Aufenthaltsort mythischer Wesen sowie Jenseitsorte, welche auf einer anderen Ebene als der Alltagswelt der Menschen existieren. Sims-Williams fasst Genese und Problematik des Begriffs prägnant zusammen: „Our useful, but probably misleading, modern term ‚Otherworld‘ seems to derive partly from unconscious analogy with the Christian dichotomy of this world / the other world and partly from a calque on orbis alius in Lucan’s account of the druidic doctrine that souls survived not in Hades but orbe alio.“ (Sims-Williams, Patrick: Irish Influence on Medieval Welsh Literature. Oxford [et al.], 2011, S. 54) Vgl. hierzu auch Egeler, Matthias: Avalon, 66º Nord. Zur Frühgeschichte und Rezeption eines Mythos. Berlin, Boston, 2015 (Ergänzungsbände zum RGA, 95), S. 11, Anm. 35. 54 Vgl. dazu Boyer, Régis: Le monde du double. La magie chez les anciens Scandinaves. Paris, 1986, S. 29–31. Boyer hält in Bezug auf das alte Skandinavien fest, dass: „[p]ersonne ne révoque en doute l’existence d’un autre monde, d’un univers des esprits qui, sans relâche, interfere avec le nôtre.“ (Ebd., S. 31.) Vgl. hierzu auch Böldl, Eigi einhamr, S. 115 f. 55 Vgl. Boyer, monde du double, S. 30. 56 Böldl, Eigi einhamr, S. 147. 57 Im Altisländischen wird der Begriff landnám nur für die Niederlassung auf zuvor unbesiedeltem Land, das jedoch nicht zwingend menschenleer sein muss, verwendet und ist daher semantisch nicht vollkommen identisch mit dem deutschen, im 18. Jh. wahrscheinlich aus dem Isländischen übernommenen Terminus ‚Landnahme‘, der auch gewaltsame Inbesitznahmen von Land umfasst. Vgl. dazu Beck, Heinrich: „Skandinavische Landnahme im atlantischen Bereich aus literaturhistorischer Sicht“, in: Müller-Wille, Michael; Schneider, Reinhard (Hgg.): Ausgewählte Probleme europäischer Landnahmen des Frühen- und Hochmittelalters, Bd. 2. Sigmaringen, 1994, S. 198; Böldl, Eigi einhamr, S. 134 f.; Corradini, Richard: Art. „Landnahme“, in: RGA, Bd. 17. Berlin, New York, 2001, S. 602. 58 Böldl, Eigi einhamr, S. 154. 59 Der Einsatz von Feuer als Symbol für menschliche Kultur spielt eine wichtige Rolle in Landnahmeritualen; eine Besprechung dazu findet sich in Böldl, Eigi einhamr, S. 150–153. Es könnte zur

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ein friedliches Interagieren mit den landvættir bildet sicherlich die in der Landnámabók enthaltene Paraphrase der frühmittelalterlichen Úlfljótslǫg,60 welche anordnen, beim Ansteuern des Landes die Stevenköpfe eines Drachenschiffes abzunehmen, um die landvættir nicht zu erschrecken. Daran wird ersichtlich, dass diese Wesenheiten als Schutzgeister des Landes oftmals positiv besetzt waren: Ihren günstigen Einfluss auf die Prosperität von Mensch und Vieh wollte man sich erhalten.61 Die Aufnahme eines derartigen Passus in das erste, mündlich tradierte Gesetz Islands zeigt zudem, welch hohen Stellenwert der Glaube an Naturmächte und an die Möglichkeit, mit ihnen in Kontakt zu treten, im vorchristlichen Skandinavien besaß. Als Manifestationen der Naturkräfte ist die Zugehörigkeit der landvættir zum Außenraum bzw. der útgarðr-Sphäre deutlich erkennbar. Dass der Außenraum in seiner Alterität zur Lebenswelt der Menschen zugleich als eine „andere“, von übernatürlichen Wesenheiten bevölkerte Zone betrachtet wurde, stellt eine für archaische Gesellschaften typische Auffassung dar: Ein Charakteristikum der traditionsgebundenen Gesellschaften ist der ihnen selbstverständliche Gegensatz zwischem dem Gebiet, das sie bewohnen, und dem unbekannten und unbestimmten Raum, der dieses umgibt. Ihr Gebiet ist die „Welt“ (genauer gesagt: „unsere Welt“), der Kosmos; das übrige ist nicht mehr ein Kosmos, sondern eine Art „andere Welt“, ein fremder, chaotischer Raum, in dem Gespenster, Dämonen und „Fremde“ (die den Dämonen und den Seelen der Toten gleichgesetzt werden) hausen.62

Dennoch kann útgarðr nicht generell als „die altnordische Anderwelt“ identifiziert werden. Für das vorchristliche Skandinavien müssen wir – wie bei den meisten anderen traditionellen Kulturen – vielmehr von der Existenz verschiedener anderweltlicher Bereiche ausgehen, statt von einer einzigen Anderwelt.63 Man denke in diesem Zusammenhang nur an die hohe Diversität altnordischer Jenseitsorte, welche ganz unterschiedlich situiert sind: Neben den in Ásgarðr befindlichen Totenreichen Valhǫll

Abschreckung der Naturmächte eingesetzt worden sein, die man dadurch vom bewohnten Bereich fernhalten wollte. Vgl. dazu Böldl, Eigi einhamr, S. 155 sowie Solheim, Svale: Art. „Landvette“, in: KLNM, Bd. 10. København, 1965, Sp. 301. 60 S. Ldn, S. 139, Anm. 61 Vgl. Solheim, Landvette, Sp. 301: „[. . .] dei kunne gje lykke og trivnad, o gelles hjelpa landnåmsmannen.“ 62 Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. 2. Auflage. Frankfurt am Main, 1985 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben, 2), S. 30. 63 S. Schjødt, Jens-Peter: „Wilderness, Liminality, and the Other in Old Norse Myth and Cosmology“, in: Feldt, Laura (Hg.): Wilderness in Mythology and Religion. Approaching Religious Spatialities, Cosmologies and Ideas of Wild Nature. Boston, Berlin, 2012 (Religion and Society, 55). S. 184 f.: „[. . .] we most often meet at least two ‚otherworlds‘ in religion, namely that of the benevolent gods, the positive forces, and that of the demons, the negative forces. But this rough division may be refined in an infinite number of ways. [. . .] most cultures have several other worlds.“ Auch für den altnordischen Bereich geht Schjødt in dem oben zitierten Beitrag von der Existenz verschiedener Anderwelten aus, s. S. 186–201 und passim.

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und Fólkvangr existiert noch die chthonische Hel und das Reich der Rán, in welchem die Ertrunkenen Aufnahme finden.64 Gleichzeitig ist in der altnordischen Überlieferung jedoch auch die laut Simek „älteste Vorstellung von einem Aufenthaltsort der Toten“65 anzutreffen, derzufolge die Verstorbenen in ihrem Grabhügel als haugbúar (‚Hügelbewohner‘) gleichsam „heima í millim“66, zwischen den Welten, wie es in der Totenbeschwörung der Hervararkviða67 in der Heiðreks saga heißt, fortbestehen. Den Außenraum bzw. die útgarðr-Sphäre als „die Anderwelt“ in der altnordischen Überlieferung schlechthin zu bezeichnen, greift also entschieden zu kurz. Vielmehr ist der útgarðr-Raum nur einer der diversen anderweltlichen Bereiche, der jedoch offenbar in besonders hohem Maße die Möglichkeit zur Begegnung und Interaktion mit dem Numinosen und somit neben seiner Gefährlichkeit für die Menschen auch durchaus attraktives Potential bietet.68 Es handelt sich bei der útgarðr-Sphäre also eher um eine Kontaktzone, zu deren näherer Charakterisierung wohl am besten das Konzept der „wilderness“ bzw. „Wildnis“ herangezogen werden kann. In Mythologie und magisch-religiösen Vorstellungen fungiert die „Wildnis“ als ein multivalenter Bereich der Begegnungen zwischem dem Menschen und dem Übernatürlichen: People go to the wilderness to meet themselves, their demons and their gods; it is simultaneously framed as a refuge, paradise, waste land, and hell; it is where you can be lead [sic] astray, into idolatry or death, or where you can discover a new subjectivity, where you may find the deepest wisdom or great ignorance. [. . .] Wilderness mythology is probably one of the most abiding creations in the history of religions. It delimits the presence of “the world” and verbalizes a natural/ imagined frontier. Wilderness in mythology and religion is a space of encounter – between the human self and supernatural others, and between humans and a natural alterity.69

64 Vgl. Simek, Lexikon der germanischen Mythologie, S. 342. 65 Simek, Religion der Germanen, S. 207. 66 Das Zusammentreffen mit ihrem verstorbenen Vater an dessen Grabhügel erscheint Hervǫr in der auch als Hervarar saga ok Heiðreks konungs bekannten Heiðreks saga als ein Erlebnis „zwischen den Welten“; s. Heiðreks saga. Hervarar saga ok Heiðreks konungs, herausgegeben von Jón Helgason. København, 1924 (Samfund til Udgivelese af Gammel Nordisk Litteratur, 48), S. 33. Bei diesem Textzeugnis handelt es sich um eine aus dem 13. Jh. stammende Vorzeitsaga, die in drei zum Teil erheblich voneinander abweichenden Versionen (R, H und U) tradiert ist (vgl. Simek; Pálsson: Lexikon der altnordischen Literatur, S. 164). Die hier zitierte Ausgabe von Jón Helgason gibt alle drei Redaktionen wieder; aufgrund der Divergenzen zwischen den Versionen verzichte ich bei Zitaten aus der Heiðreks saga im Folgenden auf die Angabe von Kapitelnummern. 67 In der Hervararkviða fordert Hervǫr von ihrem toten Vater Angantýr, den sie aus seinem Grabhügel heraufbeschwört, die Herausgabe des fluchbeladenen Schwertes Tyrfingr, welches mit ihm beerdigt worden war. 68 Diese Ambivalenz kennzeichnet jenseits mythologischer Implikationen auch den real existierenden Außenraum, der für die Menschen zwar zahlreiche Gefahren, jedoch auch dringend benötigte Rohstoffe und Nahrung birgt, vgl. Schjødt, Wilderness, S. 185 f. 69 Feldt, Laura: „Wilderness in Mythology and Religion“, in: Feldt, Laura (Hg.): Wilderness in Mythology and Religion. Approaching Religious Spatialities, Cosmologies and Ideas of Wild Nature. Boston, Berlin, 2012 (Religion and Society, 55), S. 1 f.

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In der rituellen Praxis des alten Skandinaviens ist eine solche Funktion des Außenraumes als Kontaktbereich zwischen Mensch und Anderwelt sehr gut anhand der bereits in Kapitel II 1. 2 erwähnten mantischen Praktik der útiseta erkennbar. Schon die Bezeichnung dieses Rituals als ‚Draußensitzen‘ zeigt an, dass der Ausführende hierbei in einem nicht näher konkretisierten „Draußen“, das deutlich nicht dem Alltagsraum zuzurechnen ist, in meditativer Einsamkeit und zumeist nachts Kontakt mit übernatürlichen Kräften aufnimmt.70 In der altnordischen Literatur können insbesondere auch die Toten als Repräsentanten einer „anderen Welt“ starken Einfluss auf das Diesseits nehmen: Sei es als schreckenverbreitende Wiedergänger oder als haugbúar (‚Hügelbewohner‘), die in ihrem Grabhügel fortleben. Die Begegnung mit solchen haugbúar, welche bereits zu Lebzeiten oftmals als „unsoziale Wesen, Berserker, Holmgangsmänner, Wikinger“71 charakterisiert werden, wird in den altnordischen Quellen meist seitens der Lebenden durch das Aufbrechen des Grabhügels initiiert. Ein solcher haugbrot, der für den Protagonisten als Bewährungsprobe und Gelegenheit zur Aneignung von im Grab befindlichen Schätzen fungiert, ist ein gerade in den Vorzeitsagas überaus beliebtes Sujet.72 Hinsichtlich der Funktion des útgarðr-Raumes als Ort der Interaktion zwischen dem Menschen und dem Anderweltlichen gilt es zu bedenken, dass der Begriff útgarðr im Altnordischen – analog zu miðgarðr – sowohl das außerhalb des Lebensbereichs der Menschen liegende Gebiet bezeichnet als eben gerade auch die Umzäunung (-garðr) selbst,73 also die Grenzlinie zwischen Kulturraum und Naturraum74 – ein liminales Gebiet mit allen Möglichkeiten, mit den útgarðr-Kräften in Berührung zu kommen. Die alten Skandinavier waren sich der besonderen Qualität dieser Grenzlinie zwischen menschlicher Sphäre und Naturraum allem Anschein nach überaus bewusst: Dass sie auch als Übergangszone zwischen Diesseits und Jenseits angesehen wurde, legt beispielsweise die Positionierung der zum Totengedenken errichteten gotländischen Bildsteine nahe, die teilweise in gerade diesem Grenzbereich aufgestellt wurden. Der Archäologe Anders Andrén interpretiert die Bildsteine im Anschluss an Birgit Arrhenius als „Türsymbole“; sie könnten somit „ha markerat gränserna till den ‚vilda‘ utmarken och till den dödas värld“.75

70 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 42. 71 Beck, Heinrich: „Haugbrot im Altnordischen“, in: Jankuhn, Herbert et al. (Hgg.): Zum Grabfrevel in vor- und frühgeschichtlicher Zeit. Untersuchungen zu Grabraub und „haugbrot“ in Mittel- und Nordeuropa. Göttingen, 1978 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, 3, 113), S. 217. 72 Vgl. Beck, Haugbrot, S. 215. 73 Vgl. hierzu Böldl, Miðgarðr und Útgarðr, S. 10 sowie Kapitel III, Anmerkung 2. 74 Vgl. Böldl, Eigi einhamr, S. 96. 75 Andrén, Anders: „Dörrar till förgångna myter – en tolkning av de gotländska bildstenarna“, in: Andrén, Anders (Hg.): Medeltidens födelse. Lund, 1989 (Symposier på Krapperups Borg, 1), S. 294. Vgl. dazu auch Böldl, Eigi einhamr, S. 96 f.

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Das Alltagserleben der mittelalterlichen Skandinavier ist also von eben jenem ambivalenten Verhältnis zwischen miðgarðr und útgarðr geprägt, welches in der altnordischen Mythologie reflektiert wird: Der Mensch steht in einer konstanten und ambivalenten Verbindung zur Anderwelt, von der es sich einerseits abzugrenzen und deren bedrohlichen Erscheinungsformen (beispielsweise Wiedergängern) es sich zu erwehren gilt, deren Potential – etwa in Form von verborgenem Wissen (angestrebt in der Divination) oder wohlwollendem Einfluss auf die Vegetation (s. das Beispiel der landvættir) – jedoch auch für den Menschen nutzbar gemacht werden kann.

3.3 seiðr-Praktizierende als Grenzgänger zwischen miðgarðr- und útgarðr-Sphäre Der vorangegangene Abschnitt hat aufgezeigt, dass die Menschen im vorchristlichen Skandinavien ihr Leben als von anderweltlichen Einflüssen durchdrungen empfanden und dementsprechend auf einen Austausch mit der Anderwelt angewiesen waren. Die Begegnung mit dem Numinosen – das in Form von Wiedergängern und unheilvollen Vorzeichen auch ganz unvermittelt in den Alltagsraum der Menschen und somit in die in den Sagas erzählte Welt hereinbrechen kann76 – ist für den Durchschnittsmenschen allerdings in der Regel überaus gefährlich: Begibt er sich in die anderweltliche Sphäre des útgarðr-Raumes, kann dies oftmals sogar letale Folgen haben. Mit Hilfe von Opferhandlungen oder magischen Ritualen wie der útiseta oder dem seiðr ist es jedoch auch möglich, planvollen Kontakt zur Anderwelt herzustellen, die ihr innewohnenden Energien zu kanalisieren und ihr Potential für die Lebenswelt der Menschen zu nutzen.77 Um diese Aufgabe zu erfüllen, werden Ritualspezialisten benötigt, die in der Lage sind, die Interaktion mit dem Übernatürlichen unbeschadet vorzunehmen und somit als Mittler zwischen Alltagsund Anderwelt zu fungieren. Wie anhand des Wirkungsspektrums des seiðr bereits erkennbar wurde, zählt sowohl die Beeinflussung der natürlichen Elemente als auch die Divination zu den Anwendungsgebieten dieser Magieform – beides Praktiken, bei denen eine derartige Interaktion bzw. Kontaktaufnahme mit den anderweltlichen (bzw. útgarðr-) Kräften angestrebt wird. Es ist also davon auszugehen, dass es sich beim seiðr um eine mit der Überschreitung eines limen assoziierte Magieform handelt. Auch die seiðr-Praktizierenden als Ritualspezialisten, welche die anderweltlichen Einflüsse den Menschen dienstbar machen oder gegen diese verwenden können, müssten dementsprechend über liminale Charakteristika verfügen. Die Konnotation des seiðr und seiner Ausübenden

76 Vgl. Böldl, Eigi einhamr, S. 116. 77 Vgl. ebd.

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III Das altnordische Weltbild – fremd versus vertraut

mit Liminalität wird in den folgenden Kapiteln zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden. Zunächst gilt es, sich den theoretischen Hintergrund mit Hilfe von Arnold van Genneps und Victor Turners Forschungen zur Liminalität zu vergegenwärtigen, ehe die grenzüberschreitenden Charakteristika des seiðr und seiner Praktizierenden anhand von Belegstellen der altnordischen Literatur erforscht werden sollen.

IV Liminalität in der Ritualtheorie 1 Rites de passage – Arnold van Genneps Konzept der Übergangsriten Die Grundlage für das später von dem schottischen Sozialanthropologen Victor Turner weiterentwickelte Konzept der Liminalität bildete das 1909 erschienene Werk Les rites de passages des Ethnologen Arnold van Gennep.1 In dieser Studie untersuchte van Gennep rituelle Handlungen unterschiedlicher traditioneller Kulturen, welche lebenszyklische Umbrüche wie Schwangerschaft, Geburt, Pubertät/Initiation, Heirat und Tod, aber auch soziale Veränderungen, wie beispielsweise eine Häuptlingsweihe2, begleiten. Im Zuge all dieser Ereignisse bzw. Erfahrungen muss das Individuum „den Übergang von einem Zustand in einen anderen oder von einer kosmischen bzw. sozialen Welt in eine andere“3 bewältigen. Als Modell für diese Übergangserfahrungen dienen van Gennep räumliche Übergänge, wie das Überqueren einer Schwelle oder das Überschreiten einer Grenze.4 Um den Wechsel von einem Zustand in den anderen unbeschadet zu überstehen, ist eine Absicherung durch den Vollzug spezieller Rituale notwendig, die van Gennep als ‚Übergangsriten‘ (rites de passage) klassifizierte. Diese Übergangsriten weisen eine charakteristische Abfolge dreier Stadien auf: Einer durch Trennungsriten (rites de séparation) begleiteten Phase der Ablösung folgt eine mit Schwellen- oder Umwandlungsriten (rites de marge) verbundene Schwellen- bzw. Umwandlungsphase, in welcher sich das Individuum zwischen altem und neuem Zustand befindet. Den Übergang des rituellen Subjektes in seinen neuen Status bzw. zur neuen sozialen Identität, also die Integrationsphase, markieren schließlich Angliederungsriten (rites d’agrégration).5 Dieses „Strukturschema der Übergangsriten“6 liegt darüber hinaus auch Ritualen zugrunde, welche kalendarische Übergänge, also „den Jahres-, Jahreszeiten- und Monatswechsel begleiten oder herbeiführen sollen“7. In der Folge erkannte Victor Turner die hohe Relevanz von van Genneps dreiphasigem Modell der Übergangsriten und baute dessen Theorien im Zuge seiner eigenen Ritualforschung, die im nächsten Abschnitt vorgestellt werden soll, systematisch aus.8

1 Vgl. zu diesem Abschnitt auch Gehlen, Liminalität, S. 58. 2 Vgl. hierzu Brunotte, Ulrike: Art. „Initiation“, in: Auffarth, Christoph; Bernard, Jutta; Mohr, Hubert (Hgg.): Metzler Lexikon Religion, Bd. 2. Stuttgart, Weimar, 2005, S. 96. 3 Gennep, Arnold van: Übergangsriten (Les rites des passage). Aus dem Französischen von Klaus Schomburg und Sylvia M. Schomburg-Scherff. Mit einem Nachwort von Sylvia M. SchomburgScherff. 3., erweiterte Auflage 2005. Frankfurt am Main, New York, 2005, S. 21. 4 S. ebd., S. 15. Vgl. dazu auch Gehlen, Liminalität, S. 58. 5 S. van Gennep, Übergangsriten, S. 21. 6 Ebd., S. 179. 7 Ebd., S. 171. 8 Vgl. Gehlen, Liminalität, S. 58. https://doi.org/10.1515/9783110678772-004

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IV Liminalität in der Ritualtheorie

2 Liminalität und Communitas – die Ritualtheorie Victor Turners Während seiner Feldforschungen in Zentralafrika bemerkte Victor Turner den hohen Stellenwert von Ritualen und der damit verbundenen Symbolik im sozialen Leben der Ndembu, welche Konfliktsituationen und Krisen durch die Durchführung bestimmter Rituale bewältigten.9 Aufbauend auf den bei der Erforschung des Ritualsystems der Ndembu gewonnenen Erkenntnissen entwickelte Turner seine Ritualtheorie, die auf van Genneps dreistufiges Ablaufschema der Übergangsriten rekurriert und Rituale als transformative Prozesse mit zentraler Bedeutung für die Entwicklung einer Gesellschaft betrachtet. Turners besonderes Interesse galt dabei der mittleren Schwellenphase, welche die Möglichkeit für kulturelle Innovationen und die Veränderung bestehender sozialer Strukturen in sich birgt.10 In diesem Stadium befinden sich die rituellen Subjekte in einem mehrdeutigen, unbestimmten Zustand „betwixt and between“11 – so der bezeichnende Titel eines 1964 erstmals erschienenen Aufsatzes Turners –, da sie zwar ihre alte Rolle bzw. Position verlassen, ihren zukünftigen Status jedoch noch nicht erreicht haben. Für diesen Schwellenzustand prägte Turner den Begriff der liminal period12 bzw. ‚Liminalität‘13. In The ritual process. Structure and Anti-structure (dt. Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur) beschreibt Turner die Merkmale der liminalen Phase bzw. von Schwellenpersonen folgendermaßen: Die Eigenschaften des Schwellenzustands (der „Liminalität“) oder von Schwellenpersonen („Grenzgängern“) sind notwendigerweise unbestimmt, da dieser Zustand und diese Personen durch das Netz der Klassifikationen, die normalerweise Zustände und Positionen im kulturellen Raum fixieren, hindurchschlüpfen. Schwellenwesen sind weder hier noch da; sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den von Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen.14

9 Vgl. ebd., S. 59. Rituale bilden einen integralen Bestandteil des für Turners Ritualtheorie bedeutenden Konzepts des social drama, das sich in vier Phasen vollzieht: Normverstoß, Krise, Versuch der Konfliktlösung mithilfe von Ritualen, Wiedereingliederung bzw. Abspaltung von der Gemeinschaft. Vgl. dazu Turner, Victor: From Ritual to Theatre. The Human Seriousness of Play. New York, 1982, S. 68 f. 10 S. Turner, From Ritual to Theatre, S. 85: „Ritual liminality, therefore, contains the potentiality for cultural innovation, as well as the means of effecting structural transformations within a relatively stable sociocultural system.“ 11 Turner, Victor: „Betwixt and between. The Liminal Period in Rites de Passages“, in: Turner, Victor: The Forest of Symbols. Aspects of Ndembu Ritual. Ithaca, New York, 1967, S. 93–111. Die Erstveröffentlichung dieses Beitrags erfolgte 1964; vgl. Turner, Betwixt and between, S. 93. 12 Turner, Betwixt and between, S. 93. 13 Vgl. Gehlen, Liminalität, S. 59. 14 Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Aus dem Englischen von Sylvia M. Schomburg-Scherff. Mit einem Nachwort von Eugene Rochberg-Halton. Frankfurt, New York, 1989, S. 95.

2 Liminalität und Communitas – die Ritualtheorie Victor Turners

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Die rituellen Subjekte sind während der Schwellenphase der Übergangsriten als „liminal personae“15 durch eine Reihe von Eigenschaften gekennzeichnet, die ihre Indetermination widerspiegeln: dazu zählen u. a. Rang-, Status- und Besitzlosigkeit, Gleichheit der rituellen Subjekte untereinander, Minimierung der Geschlechterunterschiede, Demut und Sakralität.16 Da die Schwellenpersonen in der Übergangsphase nicht länger der strukturierten Gesellschaft17 angehören, sind sie für diese quasi nicht länger existent und werden meist für die Dauer der liminalen Phase räumlich von der Alltagssphäre separiert – auch um die von ihnen ausgehende Bedrohung für die Gemeinschaft und insbesondere diejenigen, die nicht dieselben Riten durchlaufen haben, abzuwenden.18 Symbolisch drückt sich die Undefiniertheit des Schwellenzustandes in vielen Gesellschaften durch seine Gleichsetzung u. a. mit dem Tod, mit Unsichtbarkeit und Bisexualität aus: Viele Gesellschaften, die soziale und kulturelle Übergänge ritualisieren, verfügen deshalb über eine Vielzahl von Symbolen, die diese Ambiguität und Unbestimmtheit des Schwellenzustandes zum Ausdruck bringen. So wird der Schwellenzustand häufig mit dem Tod, mit dem Dasein im Mutterschoß, mit Unsichtbarkeit, Dunkelheit, Bisexualität, mit der Wildnis und mit einer Sonnen- oder Mondfinsternis gleichgesetzt.19

Die „strukturelle Unsichtbarkeit“20 ritueller Subjekte während der liminalen Phase kann durch Maskierung und Körperbemalung, Nacktheit und die Verpflichtung zum Schweigen angezeigt werden.21 Oftmals müssen die Neophyten während der Schwellenphase körperliche Torturen durchleiden; sie werden im Zuge der Übergangsriten gleichsam „in eine Art menschliche prima materia“22 umgewandelt, „damit sie neu geformt und mit zusätzlichen Kräften ausgestattet werden können, die sie in die Lage versetzen, mit ihrer neuen Station im Leben fertig zu werden.“23 Die Schwellenpersonen befinden sich für die Dauer der liminalen Phase also in einem Zustand „außerhalb der weltlichen Sozialstruktur“24, in dem alle Statusunterschiede zwischen ihnen aufgehoben sind und sie zur Reflexion über die Normen und Werte ihrer Gesellschaft angehalten werden.25

15 Turner, Betwixt and between, S. 96. 16 Vgl. Turner, Ritual, S. 105 sowie Gehlen, Liminalität, S. 59. 17 Vgl. Gehlen, Liminalität, S. 60. 18 Vgl. Turner, Betwixt and between, S. 96 f., besonders S. 97: „[. . .] liminal personae nearly always and everywhere are regarded as polluting to those, who have never been, so to speak, ‚inoculated‘ against them, through having been themselves initiated into the same state. “ 19 Turner, Ritual, S. 95. 20 Ebd., S. 162. 21 Vgl. ebd., S. 162 sowie S. 95. 22 Ebd., S. 162. 23 Ebd., S. 95. 24 Ebd., S. 96. 25 Vgl. Gehlen, Liminalität, S. 60.

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IV Liminalität in der Ritualtheorie

Die rituellen Subjekte bilden in der Schwellenphase eine „Gemeinschaft Gleicher“26, welche Turner als ‚Communitas‘ bezeichnet. Diese ist durch ihre Homogenität gekennzeichnet und birgt laut Turner als Gegenpol zur Sozialstruktur das Potential zur Veränderung und Erneuerung der Gesellschaft in sich. Neben der Liminalität sind jedoch auch Randständigkeit und Inferiorität Ausdrucksformen der Communitas und des mit ihr verbundenen anarchischen Elements27: Communitas dringt in der Liminalität durch die Lücken der Struktur, in der Marginalität an den Rändern der Struktur und in der Inferiorität von unterhalb der Struktur ein. Sie gilt beinahe überall auf der Welt als sakral oder „heilig“, vielleicht weil sie die Normen, die strukturierte und institutionalisierte Beziehungen leiten, überschreitet oder aufhebt und von der Erfahrung beispielloser Kraft begleitet ist.28

Turner zufolge kann ohne den „dialektischen Prozess“29 von innerhalb der Übergangsriten erlebter Communitas und Rückkehr in den Strukturzustand keine Gesellschaft auskommen; der Wechsel von Struktur und Anti-Struktur ist somit wesentlicher Bestandteil gesellschaftlicher Entwicklung. Neben der bloß für die Dauer der Schwellenphase in Übergangsritualen bestehenden Liminalität definiert Turner auch Formen institutionalisierter, „permanenter Liminalität“30, wie sie in Ordensgemeinschaften anzutreffen ist, und überträgt seine Konzepte damit auch auf komplexere Gesellschaften. Demnach teile gerade das Klosterleben mit seiner Abkehr vom Weltlichen die zentralen Eigenschaften des liminalen Zustandes wie Gleichheit, Marginalität, Demut, Besitzlosigkeit, Redebeschränkung und sexuelle Enthaltsamkeit31 mit den Schwellenwesen traditioneller Gesellschaften.

26 Turner, Ritual, S. 96. 27 Vgl. Gehlen, Liminalität, S. 60. 28 Turner, Ritual, S. 125. 29 Vgl. ebd., S. 126. 30 Ebd., S. 140. 31 Vgl. ebd., S. 106 sowie Gehlen, Liminalität, S. 60.

V Liminale Aspekte innerhalb der Darstellung menschlicher seiðr-Praktizierender 1 Liminale Merkmale innerhalb der Darstellung menschlicher seiðr-Praktizierender 1.1 Einführung: seiðr-Praktizierende als Schwellenpersonen? Aufbauend auf van Genneps und Turners Ritualtheorien sollen nunmehr liminale Charakteristika innerhalb der Darstellung seiðr-praktizierender Personen in der altnordischen Literatur untersucht werde. Als Ritualpraktizierende, die zwischen Alltags- und Anderwelt zu vermitteln verstehen, müssten die seiðr-Wirker sich in einem Zustand permanenter Liminalität befinden und sollten daher über diverse Merkmale verfügen, die sie als Schwellenpersonen kennzeichnen. In Les magiciens dans l’Islande ancienne konstatiert Dillmann jedoch, dass sich die Darstellung Magiepraktizierender im Korpus der Isländersagas nur geringfügig von derjenigen der restliche Bevölkerung unterscheide:1 So stammten die Magiker genau wie die meisten anderen Isländer großteils aus Norwegen und zeichneten sich nicht durch eine besondere ethnogeographische Herkunft aus. Zudem seien sie in allen sozialen Schichten des alten Islands vertreten und – zumeist als freie Bauern wie ihre Nachbarn mit landwirtschaftlichen Tätigkeiten befasst2 – in die bäuerliche Gemeinschaft gut integriert. Ein Topos des „Zauberer als Fremden“ sei somit in den Isländersagas nicht erkennbar;3 darüber hinaus fehlten innerhalb der Beschreibung der Magiker in den Isländersagas sowohl die etwa aus den Vorzeitsagas bekannten monströsen äußeren Merkmale4 zauberkundiger Personen als auch ihre Situierung an verlassenen, unwirtlichen oder peripheren Orten.5 Lediglich die in den Isländersagas oftmals anzutreffende Charakterisierung Magiepraktizierender als Persönlichkeiten mit hohen intellektuellen Fähigkeiten, energischem Auftreten und übersinnlicher Wahrnehmung hebe sie vom Rest der Bevölkerung in stärkerem Maße ab.

1 Vgl. zu diesem Abschnitt Dillmanns Zusammenfassung seiner Untersuchungsergebnisse in Magiciens, S. 590–595; besonders S. 590 f. 2 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 322–328. 3 Vgl. ebd., S. 388 f., besonders S. 399: „[. . .] l’assimilation de la figure de l’étranger ethnique à celle du magicien ne s’est pas faite [. . .] dans les sources littéraires [. . .].“ 4 Vgl. ebd., S. 174–182. 5 S. ebd., S. 414 f.: „[. . .] on n’hésitera pas à conclure que non seulement les adeptes de la magie ne sont pas décrits dans les Íslendingasögur et la Landnámabók comme résidant en des „lieux impossible“, dans les contrées inhospitalières de l´intérieur du pays, ou à l’inverse dans des îles, ces territories singuliers, souvent isolés et manifestement regardés comme differents du reste du pays, mais que leurs demeures présentaient les mêmes caractéristiques topographiques que l’ensemble des autres bœir d’Islande [. . .].“ https://doi.org/10.1515/9783110678772-005

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V Liminale Aspekte innerhalb der Darstellung menschlicher seiðr-Praktizierender

Betrachtet man nun jedoch speziell die Darstellung seiðr-Praktizierender als Untergruppe der Magiker und bezieht bei der Analyse die Gattung der Königssagas mit ein, welche zahlreiche Belege für diese Magieform enthält, zeigen sich deutliche Abweichungen zu Dillmanns Befund: Gerade innerhalb der Ausgestaltung von seiðr-Wirkern tauchen immer wieder Marker auf, welche die Alterität dieser Ritualspezialisten und ihre Aberration vom Alltäglichen betonen. Diese Andersartigkeit bzw. „Außeralltäglichkeit“ seiðr-Praktizierender ist wiederum als ein Ausdruck der Liminalität dieses Personenkreises zu interpretieren6 und soll in den folgenden Kapiteln näher vorgestellt werden.

1.2 seiðr-Praktizierende und Peripherie 1.2.1 Die ethnogeographische Herkunft seiðr-Praktizierender in den altnordischen Quellen Angesichts der von einer starken Differenzierung zwischen Eigenem und Fremdem geprägten Raumauffassung der mittelalterlichen Skandinavier und ihrer Tendenz, den Außenraum als einen mit übernatürlichen Wesen bevölkerten, anderweltlichen Bereich wahrzunehmen, verwundert es nicht, dass in der Peripherie gelegene Regionen und ihre Bewohner innerhalb der altnordischen Überlieferung mit einem besonderen magischen Potential assoziiert werden. Diese Konnotation geht mit der mittelalterlichen Denkweise konform, am Rande der bewohnten Sphäre gelegene Gebiete mit Wundervölkern und monströsen Wesen auszustatten: When medieval Scandinavians peopled distant lands with wondrous beings and strange beasts, they were following not only the lead of learned writers everywhere in Europe but also their own world view, which knew that “other” beings lurked in the woods and streams beyond the boundaries of the farm.7

Dieser gedanklichen Verknüpfung des Fremden mit dem Übernatürlichen dürfte die in archaischen Gesellschaften weit verbreitete Vorstellung zugrunde liegen, dass ein Fremder der „sakralen Sphäre“ angehöre8 und somit „ein heiliges, mit

6 Young-Mi Lee definiert in ihrer Dissertation Grenzüberschreitungen. Wanderradikalismus und Liminalität im frühen Christentum die „Außeralltäglichkeit“ als ein „wesentliches Charakteristikum der Liminalität“, da Personen in der liminalen Phase nicht mehr „mit den normativen Verhaltensweisen und Denkweisen der alltäglichen Gesellschaft“ zu erfassen seien (Lee, Young-Mi: Grenzüberschreitungen. Wanderradikalismus und Liminalität im frühen Christentum. Inauguraldissertation zur Erlangung der Würde eines Doktors der Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn. Ludwigshafen, 2004, S. 25). 7 Lindow, John: „Supernatural Others and Ethnic Others: A Millenium of Worldview“ in: Scandinavian Studies, 67, 1995, S. 18. 8 Vgl. van Gennep, Übergangsriten, S. 35.

1 Liminale Merkmale innerhalb der Darstellung menschlicher seiðr-Praktizierender

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magisch-religiösen Kräften ausgestattetes Wesen, dessen übernatürliche Kräfte sowohl Positives als auch Negatives bewirken können“9, sei. Nach altnordischer Auffassung besonders stark mit Zauber assoziierte Regionen sind zum einen die von den Samen durchstreiften Gebiete, welche sich noch bis ins Hochmittelalter bis in den Südosten Norwegens und in Schweden bis nach Uppland erstreckten.10 Auch das nördliche Norwegen und insbesondere Hálogaland – als nördlichste Provinz eine wichtige Kontaktzone zu den Samen – wird allem Anschein nach gerade aufgrund seines liminalen Charakters als Grenzbereich zwischen zwei Kulturen für eine Region mit erhöhtem magischen Potential gehalten: Den Bewohnern Nordnorwegens attestiert bereits Adam von Bremen in seinen Gesta Hammaburgensis Ecclesiae Pontificum eine gesteigerte Affinität zur Magie, welche bei den übrigen, „äußerst christlichen“ Norwegern nicht zu beobachten sei: Omnes vero sunt christianissimi, qui in Norvegia degunt, exceptis illis, qui trans arctoam plagam circa occeanum remoti sunt. Eos adhuc ferunt magicis artibus sive incantationibus in tantum prevalere, ut se scire fateantur, quid singulis in toto orbe geratur; tunc etiam potenti murmure verborum grandia cete maris in littoral trahunt, et alia multa, quae de malificis in Scriptura leguntur, omnia illis ex usu facilia sunt.11 Alle aber, die in Norwegen leben, sind sehr christlich gesinnt, ausgenommen die, welche jenseits des nördlichen Striches um den Ocean herum wohnen. Diese sollen noch heutigen Tages in magischen Künsten und Beschwörungen so stark sein, daß sie erklären, sie wüßten, was jeder Mensch auf dem ganzen Erdkreise thue. Ferner ziehen sie auch mit mächtigem Gemurmel von Worten große Walfische an das Gestade des Meeres, und vieles andere, was man von den Zauberern in der Schrift liest, ist ihnen durch Uebung leicht.12

Auch die Inselgruppe der Hebriden, im Altnordischen als Suðreyjar (Südinseln) bezeichnet, wird stark mit Zauber konnotiert, was daran liegen dürfte, dass es sich bei den Hebriden – ähnlich wie bei Hálogaland – ebenfalls um eine Kontaktzone handelt; in diesem Fall zwischen dem skandinavischen und dem gälischen Bereich. Wie bereits erwähnt, resümiert Dillmann jedoch, dass die Mehrzahl der in den Isländersagas und in der Landnámabók genannten Magiker nicht aus Hálogaland oder von den Hebriden abstammen bzw. aus diesen Gegenden stammende Personen überwiegend

9 Ebd., S. 35. 10 Vgl. Rydving, Håkan: Art. „Samen“, in: RGA, Bd. 26. Berlin, New York, 2004, S. 383 f. sowie Böldl, Götter und Mythen, S. 273. 11 Adam von Bremen, Hamburgische Kirchengeschichte, Lib. IV, Kap. 32, S. 265 f. 12 Übersetzung nach: Adam’s von Bremen Hamburgische Kirchengeschichte. Nach der Ausgabe der Monumenta Germaniae übersetzt von Johann Christian Laurent. 2. Aufl. neu bearbeitet von Wilhelm Wattenbach. Leipzig, 1893, S. 229. Laut Adam von Bremen sind das Wahrsagen sowie die Beeinflussung der natürlichen Umwelt charakteristische Einsatzgebiete der Magie in Nordnorwegen, wobei bei Letzterer ein attrahierendes Element (hier in Form des Anlockens von Walen) auffällt. Die Beschreibung ähnelt also auffallend den Anwendungsgebieten und Wirkungsweisen, die seiðr in der altnordischen Literatur zugeschrieben werden.

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nicht mit Magie in Verbindung gebracht werden.13 Dass die Hebriden verhältnismäßig oft Herkunftsgebiet Magiepraktizierender bzw. Schauplatz magischer Episoden seien, läge daran, dass in diesem Gebiet generell viele landnámsmenn ihre Wurzeln hätten und infolgedessen unter ihnen auch vermehrt Magiker zu finden seien.14 Hinsichtlich der ethnogeographischen Herkunft seiðr-Praktizierender kann dieser Befund indessen nicht vollumfänglich bestätigt werden, denn innerhalb dieses Figurenarsenals stammen sogar recht viele Personen aus eben jenen vorgenannten peripheren Gebieten bzw. stehen in Verbindung zu diesen:15 So ist die in der Laxdœla saga figurierende, zauberkundige Familie des Kotkell ursprünglich auf den Hebriden beheimatet, von woher diese seiðmenn gerade erst nach Island gekommen sind: Kotkell hét maðr, er þá hafði út komit fyrir litlu. Gríma hét kona hans; þeira synir váru þeir Hallbjǫrn slíkisteinsauga ok Stígandi. Þessir menn váru suðreyskir. Ǫll váru þau mjǫk fjǫlkunnig ok inir mestu seiðmenn.16 Kotkell hieß ein Mann, der vor kurzem nach Island gekommen war. Gríma hieß seine Frau; ihre Söhne waren Hallbjǫrn slíkisteinsauga und Stígandi. Diese Leute stammten von den Hebriden. Alle waren sie sehr zauberkundig und die größten Zauberer [seiðmenn].

Aus dem norwegischen Hálogaland stammt die seiðr-praktizierende Landnehmerin Þuríðr sundafyllir.17 Von einer Assoziation des seiðr mit in der Peripherie gelegenen Gebieten zeugt ebenfalls, dass sich letztlich auch die berühmte seiðr-Episode der Eiríks saga rauða an einem entlegenen Schauplatz, nämlich der grönländischen Kolonie abspielt. Oftmals üben Personen samischer Herkunft – die finnar, wie sie in den Quellen meist genannt werden18 – in der altnordischen Literatur seiðr aus. Wie intensiv die Samen in der altnordischen Überlieferung mit Magie assoziiert werden, zeigt insbesondere das Kapitel De Finnis der Historia Norvegiae: Dort werden die Samen als Zauberer und Schamanen par excellence beschrieben, die sich durch Prophetie, die Fähigkeit, verlorene Gegenstände auch über weite Distanzen aufzuspüren und ihre Befähigung zu Seelenreisen auszeichnen.19 Dass auch die alten norwegischen Gesetze es verbieten

13 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 390–393. 14 Vgl. ebd., S. 392 f. 15 Diese These vertritt auch Thomas A. DuBois: „Seiðr practitioners are frequently depicted as foreigners, people with Sámi or Finnish connections or (more rarely) links to the British Isles.“ (DuBois, Nordic Religions, S. 128). 16 Laxd, Kap. 35, ÍF 5, S. 95. 17 Ldn, S. 83. Vgl. hierzu Haid; Dillmann, Zauber, S. 861 sowie Strömbäck, Sejd, S. 77 f. 18 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 273. 19 S. Historia Norwegie, edited by Inger Ekrem and Lars Boje Mortensen. Translated by Peter Fisher. Copenhagen, 2003, Kap. 4, S. 58–63.

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at fara á Finnmerkr at spyrja spá20 – also sich die Zukunft von Samen weissagen zu lassen –, ist bezeichnend dafür, wie tief verankert die Konnotation der Samen mit Zauberkunst und Divination im Bewusstsein der alten Skandinavier war.21 Besonders häufig wird der Topos des samischen Zauberers in den Vorzeit- und Königssagas eingesetzt. Innerhalb dieser Textzeugnisse findet sich eine ganze Reihe von seiðr-Praktizierenden mit samischen Wurzeln oder anderweitigem Bezug zu den Samen. So beauftragt die samische Prinzessin Drífa, als ihr Mann, König Vanlandi, entgegen seines Versprechens nicht zu ihr zurückkehrt, eine seiðkona namens Hulð damit, Vanlandi mittels ihrer Zauberkünste wieder zurück nach Finnland zu holen oder ihn andernfalls zu töten.22 Auch König Haraldr hárfagri lernt die Schattenseiten samischer Magie kennen, als er in Liebe zu Snæfríðr, der Tochter des Samen Svási, entbrennt – wobei diese Gefühle wohl in erster Linie durch den Genuss eines von der schönen Samin angereichten Bechers Met, bei dem es sich um einen Zaubertrank handeln dürfte, ausgelöst werden.23 So sehr verfällt der König Snæfríðr, dass er sich nach ihrem Tod weigert, sie beerdigen zu lassen und über die stetige Wache an ihrem Totenbett seine Regierungsgeschäfte vernachlässigt. Dem samischen Zauber ist es zuzuschreiben, dass die Leiche Snaefríðrs nicht verwest und Haraldr in den Glauben verfällt, sie lebe noch. Erst als einer seiner Ratgeber den König überzeugen kann, dass seine Gemahlin frische Laken benötige und umgebettet werden müsse,

20 So z. B. das Ældre Borgarþings Kristenret, s. NGL, Bd. 1, S. 362: „Þat er ubota verk ef maðr fær a fin merkr at spyria spa.“ / „Das ist ein Verbrechen, wenn ein Mann nach Finland fährt, um Weissagungen zu erfragen.“ 21 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 204 f. Strömbäck betont jedoch zugleich, dass die finnar in altnordischen Texten nicht a priori als Zauberkundige aufgefasst werden dürfen und dem Begriff nicht automatisch die sekundäre Bedeutung ‚zauberkundig‘ zugeschrieben werden kann (vgl. Strömbäck, Sejd, S. 205). 22 S. Hkr I, Yngl saga, Kap. 13, ÍF 26, S. 28 f. Klaus Böldl weist darauf hin, dass bereits die winterlichen Namen der samischen Figuren in dieser seiðr-Episode (Drífa bedeutet,Schneewehe‘; der Name ihres Vaters, König Snjár,,Schnee‘) deutlich machen, „dass es hier um den Einbruch der feindlichen, unkontrollierbaren Naturkräfte in den von der Königsmacht repräsentierten Kulturraum geht.“ (Böld, Götter und Mythen, S. 275). Die Praxis des seiðr wird also auch durch dieses Detail mit der útgarðr-Sphäre in Verbindung gebracht. 23 In der Haralds saga ins hárfagra heißt es, als der König unmittelbar nach dem Genuss des Mets Snæfríðrs Hand ergreift, fühle er sich, als ob ihn Feuer durchströme. Sein plötzliches, heftiges Verlangen nach der Samin dürfte somit wohl durch eine Zauberwirkung des Mets induziert sein. S. „Haralds saga ins hárfagra“, in: Bjarni Aðalbjarnason (Hg.): Heimskringla, Bd. 1. Reykjavík, 1941 (Íslenzk Fornrit, 26), S. 126: „Þar stóð upp Snæfríðr, dóttir Svása, kvinna fríðust, ok byrlaði konungi ker fullt mjaðar, en hann tók allt saman ok hǫnd hennar ok þegar var sem eldshiti kvæmi í hǫrund hans og vildi þegar hafa hana á þeirri nótt.“ / „Da stand Snæfríðr, die Tochter Svásis auf, die schönste aller Frauen, und kredenzte dem König ein Gefäß voll Met, und er trank alles und nahm ihre Hand und sogleich war es, als ob glühende Hitze in seinen Körper gefahren wäre und er wollte sie in dieser Nacht besitzen.“ Ein pikantes Detail dieser Passage ist, dass der altnordische Begriff hǫrund nicht nur in den Bedeutungen ,Haut‘,,menschlicher Köper‘ verwendet wird, sondern auch als Umschreibung für das männliche Glied (vgl. Baetke, Wörterbuch, S. 300). Der Trank entfaltet also unmittelbar seine erotische Wirkung.

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wird der Bann gebrochen: Der Leichnam beginnt Verwesungsgeruch zu verströmen und als er schließlich verbrannt wird, entweichen aus ihm Schlangen, Würmer, Kröten und anderes Ungetier.24 Ist hier zwar von samischem Zauber, jedoch noch nicht von seiðr die Rede, ändert sich dies in der nächsten Generation: Rǫgnvaldr réttilbeini, ein Sohn König Haraldrs aus der Ehe mit eben jener Snæfríðr, erlernt gemäß der Haralds saga ins hárfagra die Zauberkunst und widmet sich dem seiðr in einer ihm unterstellten (allerdings nicht in einem Randgebiet gelegenen) Provinz.25 Es steht zu vermuten, dass die magische Begabung des Königssohnes sich auf seine Abstammung von der mit Magie assoziierten samischen Mutter gründet.26 Auch der in manchen Überlieferungen an Rǫgnvaldr réttilbeini angesippte27 seiðmaðr Eyvindr kelda gehört in den entsprechenden Texten noch zu den Nachfahren Snaefríðrs und steht somit für eine Konnotation des seiðr mit dem Samischen. Diese wird auch anhand der Vorgeschichte der in der altisländischen Überlieferung berüchtigten norwegischen Königin Gunnhildr greifbar: Die Begleiter ihres späteren Mannes und zukünftigen Königs Eiríkr blóðøx treffen sie in der Finnmark an, wohin Gunnhildr sich begeben hatte, um bei zwei Samen Zauberkünste zu erlernen. Ursprünglich stammt die zukünftige Königin allerdings ebenfalls aus einer für ihr erhöhtes magisches Potential bekannten Gegend: dem nordnorwegischen Hálogaland. Durch eine List gelingt es Gunnhildr, sich ihrer Lehrmeister zu entledigen und den Männern Eíríkrs zu ihrem künftigen Mann zu folgen.28 Dass auch die divinatorische seiðr-Sequenz in der Vatnsdœla saga durch eine „Finna ein fjǫlkunnig“29 („eine zauberkundige Samin“) vorgenommen wird, verdeutlicht, dass in den Isländersagas ebenfalls eine gedankliche Verknüpfung zwischen der Ausübung von seiðr und Personen samischer Herkunft zu beobachten ist. Die vorgestellten Belege haben gezeigt, dass seiðr-Praktizierende in den altnordischen Quellen durchaus mit der Peripherie assoziiert werden. Ihre liminale Position drückt sich dabei insbesondere darin aus, dass es sich bei ihnen eben nicht um völlig andersartige, „exotische“ Fremde handelt, sondern um sowohl aus den Randgebieten

24 S. Hkr I, Haralds saga hárf, Kap. 25, ÍF 26, S. 125–127. 25 Hkr I, Haralds saga hárf, Kap. 34, ÍF 26, S. 138: „Rǫgnvaldr réttilbeini átti Haðaland. Hann nam fjǫlkynngi ok gerðisk seiðmaðr.“ / „Rǫgnvaldr réttilbeini hatte die Befehlsgewalt über Haðaland. Er lernte die Zauberkunst und wurde ein Zauberer [seiðmaðr].“ 26 Der Historia Norvegiae nach wird Rǫgnvaldr allerdings in Haðaland von einer Zauberin großgezogen und widmet sich wie diese der Magie; s. HistNorv, Kap. 11, S. 80: „Rogualdus Recilbein a quadam fetonissa in prouincia Hatlandia nutritus est et in eadem arte mira ut nutrix operatus est“ / „Ragnvald Rettilbeine [. . .] was reared by a sorceress in Hadeland county and wrought miraculous achievements in the same art as his foster-mother“ (Übersetzung nach ebd., S. 81). Man beachte die hier tradierte Namensvariante ‚Recilbein‘. 27 S. Hkr I, ÓT, Kap. 62, ÍF 26, S. 311: „Hann var sonarsonr Rǫgnvalds réttilbeina, sonar Haralds hárfagra.“ / „Er war der Enkel von Rǫgnvaldr réttilbeini, des Sohnes von Haraldr hárfagri.“ 28 S. Hkr I, Haralds saga hárf, Kap. 32, ÍF 26, S. 135 f. 29 Vatn, Kap. 10, ÍF 8, S. 29.

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als auch aus den Kontaktzonen der altnordischen Welt zu angrenzenden Gebieten stammende Personen. Dies trifft letztlich auch auf die im Zusammenhang mit seiðr in den oben genannten Belegen figurierenden Samen zu, welche zwar ein fremdes Element in der altnordischen Literatur verkörpern, als Ethnie aber zugleich in regem kulturellen Austausch mit der skandinavischen Bevölkerung stehen.30 Wenngleich also kein regelrechter Topos „der Zauberer als Fremder“ innerhalb der Darstellung seiðrPraktizierender vorliegt, zeigt sich anhand der ethnogeographischen Herkunft dieser Figuren ganz deutlich ihre liminale Positionierung zwischen ‚fremd‘ und ‚vertraut‘. 1.2.2 Tötung und Bestattung seiðr-Praktizierender in peripheren Gebieten Der marginale Charakter seiðr-Praktizierender wird innerhalb der altnordischen Literatur vor allem auch in Zusammenhang mit ihren Todesumständen und der Art ihrer Bestattung sichtbar. Wenn beides in den Quellen Erwähnung findet, geschieht dies in der Regel im Kontext von Tötungen seiðr-Praktizierender, welche als Vergeltung für die von ihnen verübten Schadenszauber durch die jeweiligen geschädigten Parteien vollzogen werden. Besonders häufig erfolgen derlei Exekutionen durch Steinigung31, wobei es sich um eine im indoeuropäischen Bereich weit verbreitete Form der Kollektivstrafe handelt, die „most closely corresponds to the simple demands of ungoverned popular justice.“32 In mittelalterlichen Strafgesetzen gilt die Steinigung zumeist als Bestrafung für Frauen, laut Folke Ström ist diese geschlechtsspezifische Distinktion jedoch innerhalb der altnordischen Sagaliteratur nicht zu beobachten.33 Unter den Magikern, welche in der altnordischen Literatur auf diese Weise ihr Ende finden, ist auch eine Reihe von seiðr-Wirkern anzutreffen. So wird in der Laxdœla saga der seiðmaðr Kotkell gemeinsam mit seiner Frau Gríma gesteinigt: Þau Kotkell ok Gríma urðu áhend á hálsinum milli Haukadals ok Laxárdals; váru þau þar barið grjóti í hel ok var þar gǫr at þeim dys ór grjóti [. . .].34

30 DuBois spricht dem seiðr-Ritual „intercultural dimensions“ zu und begreift es sogar als „a dynamic process of religious exchange operating in the Viking Age in which individual ritual elements – and sometimes even practitioners – crossed cultural and economic lines [. . .].“ (DuBois, Nordic Religions, S. 137). 31 Die Hinrichtungen seiðr-Praktizierender in der altnordischen Literatur tragen eher den Charakter von Lynchjustiz als den offizieller Exekutionen; s. Ström, Folke: On the Sacral Origin of the Germanic Death Penalties. Stockholm, 1942 (Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademiens Handlingar, 52), S. 103: „As is generally the case with executions in Iceland during the saga-period, we find that in the Icelandic sagas stoning has the character of a private killing.“ 32 Ström, Germanic Death Penalties, S. 102. 33 Vgl. ebd., S. 103 f., besonders Anm. 22, S. 104: „In the Icelandic sagas stoning is used both for men and women without distinction.“ 34 Laxd, Kap. 37, ÍF 5, S. 106 f.

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Kotkell und Gríma wurden auf dem Höhenrücken zwischen dem Haukadalr und dem Laxárdalr gefasst; dort wurden sie zu Tode gesteinigt und dort wurde ein kleiner Steinhaufen über sie geschichtet [. . .].

Auch ihr Sohn Stígandi wird wenig später auf die gleiche Art getötet.35 Ein weiteres Beispiel für die Steinigung eines seiðr-Wirkers beinhaltet die Gísla saga Súrssonar, welche in zwei Hauptredaktionen überliefert ist, die sich vor allem zu Beginn erheblich von einander unterscheiden. Die kürzere Redaktion M ist in der Handschrift AM 556a, 4° bewahrt, welche auf die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts datiert wird. Die längere Redaktion S ist in einigen Papierhandschriften überliefert, die auf einer heute verlorenen Handschrift der Gísla saga basieren. Vermutlich entstand diese vor der Mitte des 14. Jahrhunderts.36 Die meisten Editionen der Gísla saga beruhen auf M, es ist jedoch im Rahmen dieser Untersuchung unerlässlich, auch die längere Fassung S zu berücksichtigen. In beiden Redaktionen der Gísla saga wird der seiðmaðr Þorgrímr nef vom Titelhelden gesteinigt: Ok er þetta er liðit, ferr Gísli heiman ok kemr á Nefsstaði ok tekr Þorgrím nef hǫndum ok fœrir á Saltnes, ok er dreginn belgr á hǫfuð hánum ok er barðr grjóti til bana ok er kasaðr hjá systur sinni, á hryggnum milli Haukadals ok Meðadals.37 Und als das vorüber ist, geht Gísli von daheim los und kommt nach Nefsstaðir und nimmt Þorgrímr nef gefangen und bringt ihn nach Saltnes, und es wird ihm ein Sack aus Tierhaut über den Kopf gezogen und er wurde dort zu Tode gesteinigt und neben seiner Schwester verscharrt, auf dem Bergrücken zwischen Haukadalr und Meðadalr.

Die obigen Belege haben gezeigt, dass die Hinrichtung und die anschließende Bestattung von seiðr-Praktizierenden in den Sagas oftmals an entlegenen Orten stattfinden: So werden Kotkell und Gríma auf einem háls (einem zum isländischen Hochland gehörigen Höhenzug) getötet, wohin die beiden Magiker sich vor ihren Verfolgern geflüchtet hatten. Auch die Steinigung Þorgrímr nefs und seiner zwar mit Schadenszauber, nicht jedoch explizit mit der Ausübung von seiðr assoziierten Schwester Auðbjǫrg wird auf einem Bergrücken vollzogen. Eine besondere Bedeutung als Ort der Hinrichtung von (Schadens-)Zauberern kommt im alten Skandinavien indessen dem Meeresufer zu. Meeresnahe Bereiche besitzen liminalen Charakter, was insbesondere auf die Gezeitenzone zutrifft, innerhalb derer sich die Grenze zwischen Land und Wasser durch den Wechsel von Ebbe und Flut ständig verschiebt. Um einen ebensolchen Bereich zwischen Wasser und Land handelt es sich auch bei der Schäre, auf welcher König Óláfr

35 S. Laxd, Kap. 38, ÍF 5, S. 109: „Siðan berja þeir Stígandi grjóti í hel [. . .].“ / „Dann steinigen sie Stígandi zu Tode [. . .].“ 36 Vgl. hierzu Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 45. 37 „Gísla saga Súrssonar“, in: Björn K. Þórólfsson; Guðni Jónsson (Hgg.): Vestfirðinga sǫgur. Reykjavík, 1943 (Íslenzk Fornrit, 6) [=Redaktion M], Kap. 19, S. 60. Auch in Redaktion S wird Þorgrímr nef von Gísli gesteinigt, vgl. Gíslx, Kap. 21, EA A 5, S. 40.

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den seiðr-Wirker Eyvindr kelda und seine Begleiter gefesselt aussetzen lässt, damit sie bei einsetzender Flut ertrinken:38 Síðan lét konungr taka þá alla ok flytja í flœðisker ok binda þá þar. Lét Eyvindr svá líf sitt ok allir þeir.39 Danach ließ der König sie alle gefangennehmen und zu einer Schäre, die zur Flutzeit unter Wasser lag, schaffen und dort festbinden. So ließen Eyvindr und sie alle ihr Leben.

Innerhalb dieser Episode ist zudem ein Bemühen der Vollstrecker zu erkennen, in möglichst wenig direkten Kontakt mit den hinzurichtenden seiðr-Praktizierenden zu geraten und ihren Tod nicht selbst herbeizuführen, sondern ihn den – freilich im Vorfeld ausweglos gestalteten – Umständen zu überlassen.40 Dass bevorzugt liminale und peripher gelegene Gebiete wie die oben beschriebenen für die Hinrichtung und Bestattung von Magikern und insbesondere auch seiðr-Wirkern gewählt wurden, hängt mit der im Bewusstsein der alten Skandinavier stark verankerten Furcht vor Wiedergängertum zusammen, für welches eine durch ihre destruktiven Zauberkräfte äußerst anderweltaffine Personengruppe wie die seiðr-Praktizierenden geradezu prädestiniert war.41 Folke Ström zufolge dürften diese Befürchtungen zudem noch durch die in archaischen Gesellschaften weit verbreitete Vorstellung intensiviert worden sein, dass sich im Augenblick des Todes das magische Potential eines Menschen steigert und entlädt42 – was einen Schadenszauber betreibenden Magiker natürlich zum Zeitpunkt seines Todes extrem gefährlich und sogar noch bedrohlicher als schon zu Lebzeiten erscheinen lässt.43 Bei dem im Fall der Aussetzung auf der Schäre zu beobachtenden Versuch, möglichst wenig mit den zauberkundigen Delinquenten zu interagieren, sowie bei der Wahl eines entlegenen Ortes für die Hinrichtung mit derartigen Kräften ausgestatteter Personen handelt es sich also um apotropäische Maßnahmen. Ihr Zweck ist es, den schädlichen Einfluss der Magiker von der Gemeinschaft fernzuhalten – sei es im Augenblick ihres Todes oder als potentielle Wiedergänger danach. Dabei soll dem Wiedergängertum offenbar gerade durch eine Bestattung in der Gezeitenzone entgegengewirkt werden: Da diese Gebiete weder klar dem Meer noch dem Land zugehörig sind, wird den Wiedergängern der Rückweg in die Welt der Lebenden erschwert. Nach ähnlichem

38 Wie bei den meisten indoeuropäischen Völkern war das Ertränken als Todesstrafe auch im germanischen Bereich stark verbreitet (vgl. Ström, Germanic Death Penalties, S. 171). Neben der Steinigung ist das Ertränken die häufigste an seiðr-Praktizierenden vollzogene Form der Exekution in der altnordischen Literatur. Ähnlich den bereits erwähnten Belegen aus der Heimskringla und der Laxdœla saga wird gemäß der Darstellung der Historia Norvegiae auch Rǫgnvaldr réttilbeini auf Befehl seines Vaters hin ertränkt (HistNorv, Kap. 15, S. 86). 39 S. Hkr I, ÓT, Kap. 63, ÍF 26, S. 312. 40 Vgl. Ström, Germanic Death Penalties, S. 177. 41 Vgl. Böldl, Eigi einhamr, S. 116. 42 Vgl. Ström, Germanic Death Penalties, S. 244 f. 43 Laxd, Kap. 38, ÍF 5, S. 109.

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Prinzip setzen die norwegischen Gulaþingslǫg fest, dass auch Übeltäter bzw. Verbrecher (udaða menn) – zu denen Betrüger, Vertragsbrecher, Diebe, Mörder und Selbstmörder gezählt werden – an der Flutgrenze, „where sea and green turf meet“44 beigesetzt werden sollen:45 Þat er nu því nest at mann hvern scal til kirkiu fœra er dauðr verðr. oc grava i iorð helga. nema udaða menn. drottens svica. oc morðvarga. Tryggrova. oc þiova. oc þa menn er sialver spilla ond sinni. [. . .] scal grava i flœðar male. þar sem særr mœtosc oc grœn torva.46 Das ist nun das nächste, dass jeder Mann zur Kirche gebracht und in heiliger Erde begraben werden soll, wenn er tot ist. Außer Verbrecher. Betrüger ihres Herrn. Und (friedlose) Mörder. Vertragsbrecher. Und Diebe und Leute, die sich selbst das Leben genommen haben. [. . .] [Sie] sollen an der Flutgrenze begraben werden. Dort wo das Meer und der grüne Torf sich treffen.

Diese Vorgehensweise entspricht dem im Mittelalter gängigen Umgang mit als potentiell gefährlich eingestuften Verstorbenen, die als Verbrecher, Zauberer, Selbstmörder oder ungetauft Verstorbene aus der (christlichen) Gemeinschaft ausgeschlossen waren oder deren Todesumstände anderweitig von der Norm abwichen: The available Medieval written accounts and much later folklore inform us that criminals, sorcerers, suicides, unbaptized children, and some individuals who died what is regarded as a ‘bad death’ were often buried in places spatially and/or conceptually separated from the rest of the society.47

Eine entsprechende apotropäische Maßnahme wird – allerdings ohne Erfolg – zumindest im Fall des seiðr-praktizierenden Hallbjǫrn slíkisteinsauga ergriffen, dem zweiten Sohn von Kotkell und Gríma, welchen Hrútr und seine Söhne als Rache für den Mord an Kári Hrútsson ertränken.48 Nachdem der seiðmaðr mit einem Stein um den Hals auf dem Meeresboden versenkt wurde, wird er wieder an Land gespült und anschließend auf einer Landzunge namens Knarrarnes begraben. Dennoch treibt Hallbjǫrn slíkisteinsauga in der Folge als Wiedergänger sein Unwesen: Hallbjǫrn slíkisteinsauga rak upp ór brimi litlu síðar en honum var drekkt. Þar heitir Knarrarnes sem hann var kasaðr ok gekk hann aptr mjǫk.49 Hallbjǫrn slíkisteinsauga wurde kurz nachdem er ertränkt worden war von der Brandung an Land geworfen. Wo er verscharrt wurde, heißt es Knarrarnes, und er ging danach sehr um.

44 Ström, Death Penalties, S. 107. 45 Vgl. ebd., S. 106 f. 46 NGL, Bd. 1, S. 13. 47 Gardeła, Leszek: Death in the margin. The landscape context of Viking-Age ‘deviant burials’, in: Bedyński, Wojciech; Povedak, Istvan (Hgg.): Landscape as a factor in creating identity. International conference. Jarosław 22–24 June 2012. Warsaw, 2014, S. 63. 48 S. Laxd, Kap. 37, ÍF 5, S. 107: „Síðan drekkuðu þeir honum ok reru til lands.“ / „Danach ertränkten sie ihn und ruderten an Land.“ 49 Vgl. ebd, S. 109.

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In der altnordischen Überlieferung wird der Leichnam des Delinquenten nach seiner Hinrichtung – wie im obigen Zitat beschrieben – oftmals nur oberflächlich mit Steinen bedeckt. Die hierfür verwendeten Begriffe sind kasa (‚Erde und Steine auf jemanden häufen‘, ‚oberflächlich begraben‘, ‚verscharren‘)50 und dysja (‚mit Steinen bedecken‘, (‚unter einem Steinhaufen) begraben‘)51. Auf diese Art wird jedes Mitglied von Kotkells seiðr-praktizierender Familie bestattet, ebenso wie Þorgrímr nef in der kurzen Redaktion M der Gísla saga52. Ström geht davon aus, dass das Bedecken des Leichnams mit Steinen zugleich eine apotropäische Funktion erfüllt. Durchgeführt wird diese Maßnahme erneut aufgrund der erhöhten Gefahr, die von zauberkundigen Personen auch noch nach ihrem Tod ausgeht. Sie zielt darauf ab, diese Individuen zu bannen und sie, im wahrsten Sinne des Wortes, im Grab zu halten:53 It is evident that we must see the covering of corpses with stones against the background of the notion of the dangerousness of certain dead people; it is a method that is employed against individuals of whom it is feared that they will return as ghosts, notoriously evil and criminal persons. The practice is clearly a part of a consistent endeavour to obviate the harm that such persons were considered capable of causing after their death.54

Dass seiðr-Praktizierenden noch aus ihrem Grab heraus die Fähigkeit zugeschrieben wird, die Lebenden zu beeinflussen und daher ein besonderer Umgang mit ihren sterblichen Überresten erforderlich ist, zeigt auch folgende Episode der Laxdœla saga: Herdís, Guðruns Enkelin, erscheint im Traum eine Frau von „nicht angenehmem

50 S. Baetke, Wörterbuch, S. 319. 51 S. ebd., S. 98. 52 Laut Redaktion S der Gísla saga wird Þorgrímr nef neben seiner Schwester beerdigt, wofür der Begriff jarða verwendet wird, der kein oberflächliches Verscharren indiziert; s. Gíslx, Kap. 21, EA A 5, S. 40: „[. . .] oc er hann barðr grioti i hel oc jarðar þar hia systr sinne [. . .].“ / „[. . .] und er wird gesteinigt und neben seiner Schwester beerdigt [. . .].“ 53 Tatsächlich existiert eine Reihe wikingerzeitlicher Grablegungen, bei denen Steine unmittelbar auf den Körpern der Toten platziert wurden. So z. B. das 1981 entdeckte wikingerzeitliche Grab von Gerdrup, in welchem ein Mann und eine Frau bestattet worden waren. Der Körper der Frau wurde mit zwei großen Steinen bedeckt, während das gebrochene Genick des Mannes einen Tod durch Erhängen nahelegt (vgl. hierzu und für weitere Beispiele: Gardeła, Leszek: „Buried with Honour and Stoned to Death? The Ambivalence of Viking Age Magic in the Light of Archaeology“, in: Sławomir Kadrow, Włodzimierz Rączkowski (Hgg.): Things, Sources, Interpretations. Rzeszów, 2011 (Analecta Archaeologica Ressoviensia, 4), S. 339). Auch wenn es problematisch ist, derartige Sonderbestattungen eindeutig als Grabstätten von Ritualspezialisten zu interpretieren, bilden sie dennoch materielle Zeugnisse, die mit den Schilderungen der Bestattungen von Schadenszauberern und anderen Delinquenten in der altnordischen Literatur in Einklang gebracht werden können. Leszek Gardeła resümiert: „Perhaps the only thing we may say is that the presence of stones and other features in these graves, when compared with textual evidence, points to some connections with how sorcerers were treated. To argue that these people were really sorcerers is problematic, but we might suppose that those responsible for the funeral may have wanted to remember them as such.“ (Gardeła, Buried with Honour, S. 351). 54 Ström, Germanic Death Penalties, S. 107.

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Äußeren“55, die sich darüber beschwert, dass Guðrun auf ihrer Grabstätte allnächtlich bete. Als Guðrun daraufhin die Dielen des Kirchenbodens entfernen und darunter graben lässt, werden dort „schwarze und grässliche Gebeine“56, ein Amulett sowie ein großer Zauberstab entdeckt.57 Die Leute deuten den Fund aufgrund dieser Insignien als Begräbnisstätte einer vǫlva. Schließlich werden die sterblichen Überreste an einen entlegenen Ort verbracht, an dem kaum jemals Menschen vorbeikommen.58 Als Überbleibsel der paganen Vergangenheit wirken die Knochen der Zauberin unter der Kirche besonders deplatziert; dementsprechend negativ und bedrohlich fällt denn auch ihre Bezeichnung als „schwarz und grässlich“ aus, was mit der Beschreibung der vǫlva in Herdís’ Traum als unansehnliche Erscheinung korrespondiert. Dass die Gebeine der Seherin an einem fernab des Alltagsraumes gelegenen Ort erneut beigesetzt werden, betont die Exklusion, welcher seiðr-Wirker als für die Gemeinschaft bedrohliche Individuen noch nach ihrem Tod unterworfen waren. Tötung und Bestattung von seiðrPraktizierenden in der altnordischen Literatur geben also einen deutlichen Hinweis auf die liminalen Charakteristika dieses Personenkreises.

1.3 Physische Devianz: Der besondere Blick seiðr-Praktizierender Ein weiteres außeralltägliches und charakteristisches Merkmal magiebegabter Personen in den altnordischen Quellen ist der ihnen oftmals attestierte „besondere Blick“. Den Hintergrund für diese Zuschreibung bildet die ubiquitäre Vorstellung, dass dem Blick von Wesen, die außerhalb der Alltagsordnung stehen, eine spezielle Kraft innewohnt, was sowohl von Göttern und Riesen, aber auch von Helden und Magikern angenommen wurde.59 Dementsprechend können die Augen eines Menschen ihren Träger oftmals selbst dann noch verraten, wenn dieser in Verkleidung auftritt. Dieses Motiv ist in der altnordischen Dichtung äußerst beliebt; beispielsweise wird in der eddischen Helgakviða Hundingsbana ǫnnor der in den Kleidern einer Magd seinen Verfolgern zu entkommen suchende Helgi aufgrund seiner „edlen Augen“ erkannt.60 Ein scharfer, intensiver Blick gilt in der altnordischen Literatur nämlich häufig als Zeichen edler Abstammung und ist insbesondere auch

55 S. Laxd, Kap. 76, ÍF 5, S. 223: „ekki syndisk henni kona sviplig“ / „die Frau erschien ihr nicht von angenehmem Aussehen“. 56 S. ebd., S. 224: „Þar fundusk undir bein; þau váru blá ok illilig [. . .].“ / „Dort wurden Gebeine gefunden, sie waren schwarz und grässlich [. . .].“ 57 S. ebd. 58 S. ebd. 59 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 183 f. 60 HH II, Str. 2, Neckel; Kuhn, Edda, S. 151: „Hvǫss eru augo í Hagals þýjo, / era þat karls ætt, er á qvernom stendr; / steinar rifna, støccr lúðr fyrir.“ / „Scharf sind die Augen von Hagalls Magd, / es ist kein Knechts Abkömmling, der an der Mühle steht; / die Steine zerspringen, der Mahlkasten stürzt zusammen.“ (Übersetzung nach Krause, Götter und Heldenlieder, S. 281).

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ein charakteristisches Merkmal des Vǫlsungengeschlechts.61 Jedoch können sich schlechte Eigenschaften ebenso anhand der Augen eines Menschen offenbaren: So bezeichnet Hrútr in der Laxdœla saga die Augen der jungen Hallgerðr als „Diebesaugen“ („þjófsaugu“62) – eine Einschätzung, die im weiteren Verlauf der Saga durch Hallgerðrs Taten sowie ihr problematisches Naturell bestätigt wird. Auch die seiðr-Praktizierende Þórveig in der Kormáks saga kann ihre wahre Natur nicht verbergen und ist selbst in ihrer Verwandlung als hrossvalr noch an ihren Augen zu erkennen.63 Die Augen und ihr Blick sind der altnordischen Vorstellung zufolge also Ausdruck der Persönlichkeit eines Menschen. Da es sich im Fall von Magiepraktizierenden um von der Norm abweichende Menschen mit einer außergewöhnlichen Persönlichkeit handelt, wird ihrem Blick in der altnordischen Literatur oftmals eine dementsprechend ungewöhnliche Qualität zugeschrieben.64 Auch seiðr-Praktizierende können sich durch dieses Attribut auszeichnen: Dass dem Blick Hallbjǫrn slíkisteinsaugas etwas Besonderes anhaften muss, beweist schon sein Beiname, welcher auf die Augen des seiðmaðr rekurriert und diese in Bezug mit einer speziellen Art von Stein, einem slíkisteinn, setzt. Worin bestehen nun dessen Besonderheiten und was lässt sich daraus für die mit diesem Beinamen verbundenen Konnotationen ableiten? Am naheliegendsten ist es, den Begriff slíkisteinn mit ‚Schleifstein‘ zu übersetzen, woraus sich ergeben würde, dass hiermit auf die Schärfe und Intensität von Hallbjǫrns Blick angespielt wird.65 Jan de Vries gibt in seinem altnordischen etymologischen Wörterbuch den Begriff slíkisteinn ebenfalls mit ‚Schleifstein‘ wieder, stellt ihn jedoch auch zu ae. slician ‚glätten‘.66 Tatsächlich könnte mit dem Wort auch eine Art Polierstein bezeichnet worden sein, welcher im Kontext der Metallbearbeitung nicht zum Schärfen, sondern zum Glätten verwendet wurde. Einar Ólafur Sveinsson interpretiert in den Anmerkungen zur Íslenzk Fornrit-Edition der Laxdœla saga den slíkisteinn allerdings als einen Stein, der zum Glätten von Leinen in der Stoffverarbeitung eingesetzt wurde.67 Diese Deutung

61 Vgl. hierzu mit ausführlichen Beispielen Klaus von See et al.: Kommentar zu den Liedern der Edda, Bd. 4: Heldenlieder. Helgakviða Hundingsbana I, Helgakviða Hiǫrvarðssonar, Helgakviða Hundingsbana II. Heidelberg, 2004, S. 652 f. sowie Jahnkuhn, Herbert; Ranke, Kurt: Art. „Auge und Augendarstellung“, in: RGA, Bd. 1. Berlin, New York, 1973, S. 484 f. 62 Vgl. Nj, Kap. 1, ÍF 12, S. 7. 63 S. „Kormáks saga“, in: Einar Ólafur Sveinsson (Hg.): Vatnsdœla saga. Hallfreðar saga. Kormáks saga [. . .]. Reykjavík, 1939 (Íslenzk Fornrit, 8), Kap. 18, S. 265. Diese Episode wird in Kapitel VII 2.4 der vorliegenden Arbeit besprochen. 64 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 187. 65 Dieser Interpretation scheint sich auch Dillmann anzuschließen, vgl. Dillmann, Magiciens, S. 185. 66 Vgl. de Vries, Etym. Wörterbuch, S. 515. Im Altenglischen bedeutet das Adjektiv slīc zudem ‚listig‘, was vielleicht auch für das Altnordische auf eine zusätzliche Bedeutungsdimension des Beinamens schließen lässt. 67 S. Laxd, Kap. 35, ÍF 5, S. 95, Anm. 1: „[. . .] hafa það verið steinar, sem hafðir voru til að slétta lín.“

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beinhaltet den interessanten Aspekt, dass es sich bei einem derartigen Plättstein natürlich um ein Objekt handelt, das qua seiner Verwendung innerhalb der Stoffverarbeitung stark mit der weiblichen Sphäre konnotiert ist.68 Sollte dies die intendierte Bedeutung des Beinamens sein, wäre damit möglicherweise eine Anspielung auf als unmännlich empfundene Aspekte seines Trägers verbunden. Was genau man sich unter einem slíkisteinn vorzustellen hat, kann also nicht eindeutig entschieden werden. Vielleicht wird mit dem Beinamen slíkisteinsauga tatsächlich in erster Linie eine besondere Härte des Blickes seines Trägers impliziert, was den Eigenschaften sowohl eines Schleifsteines als auch eines Polier- bzw. Plättsteines entsprechen würde. In jedem Fall nimmt der Beiname jedoch die außergewöhnliche Qualität von Hallbjǫrns Blick vorweg, welche sich im Zusammenhang der Tötung dieses seiðmaðrs offenbart: Bereits bei seiner Gefangennahme wird ihm zum Schutz vor seinem Blick ein Sack über den Kopf gezogen. Als Hrútr und seine Söhne anschließend in der Absicht, ihn zu ertränken, mit ihrem Gefangenen auf das Meer hinaus rudern, nehmen sie Hallbjǫrn den Sack jedoch ab, um ihm einen Stein um den Hals zu binden. Prompt richtet der seiðmaðr seinen Blick auf das Land zurück und spricht einen Fluch aus, welcher laut der Saga auch in Erfüllung geht:69 Hrútr ok synir hans fóru til sjávar með Hallbjǫrn: Þeir settu fram skip og reru frá landi með hann; síðan tóku þeir belg af hǫfði honum, en bundu stein við hálsinn. Hallbjǫrn rak þá skyggnur á landit, ok var augnalag hans ekki gott. Þá mælti Hallbjǫrn: „Ekki var oss þat tímadagr, er vér frændr kómum á Kambsnes þetta til móts við Þorleik. Þat mæli ek um,“ segir hann, „at Þorleikr eigi þar fá skemmtanardaga héðan í frá ok ǫllum verði þungbýlt, þeim sem í hans rúm setjask.“ Mjǫk þykir þetta atkvæði á hafa hrinit. Síðan drekktu þeir honum og reru til lands.70 Hrútr und seine Söhne fuhren mit Hallbjǫrn aufs Meer hinaus: Sie ließen ein Boot zu Wasser und ruderten mit ihm vom Land fort; danach zogen sie den Sack von seinem Kopf und banden ihm einen Stein um den Hals. Da warf Hallbjǫrn einen Blick auf das Land und der Ausdruck seiner Augen war nicht gut. Da sprach Hallbjǫrn: „Dies war für uns kein Glückstag, als wir Verwandten auf dieses Kambsnes zum Treffen mit Þorleikr kamen. Dies bestimme ich“, sagt er, „dass Þorleikr dort von jetzt an keine vergnüglichen Tage haben soll und dass es allen schwer wird, dort zu wohnen, die sich an seine Stelle setzen.“ Man glaubt, dass diese Verwünschung in hohem Maß in Erfüllung gegangen ist. Danach ertränkten sie ihn und ruderten an Land.

68 Auch William Sayers deutet den Beinamen entsprechend: „Thus the image of slíkisteinsauga, used of the brother Hallbjǫrn and drawn from women’s sphere of work, is associated with destructive magic.“ (Sayers, William: „Sexual Identity, Cultural Integrity, Verbal and Other Magic in Episodes from Laxdœla saga and Kormáks saga“, in: ANF, 107, 1992, S. 138). 69 Der Glaube an die besondere Gefährlichkeit Sterbender drückt sich laut Ström gerade auch darin aus, dass von ihnen geäußerte Verwünschungen eintreten. Vgl. Ström, Germanic Death Penalties, S. 246 f. 70 Laxd, Kap. 37, ÍF 5, S. 107.

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Anhand dieser Episode zeigt sich deutlich die Angst vor dem „bösen Blick“ des seiðmaðr, welcher durch das Verhüllen des Kopfes abgewehrt werden soll. War der Blick von Delinquenten ohnehin schon gefürchtet, potenzierte sich dies noch im Fall von Magiepraktizierenden und erst recht im Moment ihres Todes.71 Die weit verbreitete Vorstellung von der Zauberkraft des „bösen Blickes“ und seiner schadenbringenden Eigenschaften beruht auf der bis in die Antike zurück verfolgbaren Annahme, dass das Sehen keine passive Aufnahme von Eindrücken, sondern vielmehr ein aktiver Prozess sei, bei welchem das Auge Strahlen nach außen aussende.72 Die Furcht vor dem „bösen Blick“ ist in der altnordischen Literatur im Zusammenhang mit der Tötung seiðr-Praktizierender vielfach anzutreffen. Hierbei wird als apotropäische Maßnahme, wie in der oben zitierten Passage der Laxdœla saga, zumeist der Kopf des jeweiligen Magikers verhüllt. Genauso wird auch in der Gísla saga bei der Hinrichtung Þorgrímr nefs verfahren.73 Um nicht den gleichen Fehler wie zuvor bei der Tötung Hallbjǫrn slíkisteinsaugas zu begehen, wird seinem Bruder Stígandi in der Laxdœla saga vor der Steinigung ein zuvor übergezogener Sack nicht vom Kopf genommen. Die Abwehrmaßnahme greift allerdings dennoch nicht, da sich in dem Sack ein Loch befindet, durch welches der Blick Stígandis auf einen Hang fällt. Daraufhin zieht ein Wirbelwind herauf und wühlt die Erde derart auf, dass an der betreffenden Stelle nie wieder Gras wächst: Fara þeir til Stíganda ok rœða um með sér, at hann skal eigi fara sem bróðir hans, at hann skyldi þat mart sjá, er þeim yrði mein at; taka nú belg og draga á hǫfuð honum. Stígandi vaknaði við þetta ok bregðr nú engum viðbrǫgðum, þvi at margir menn váru nú um einn. Rauf var á belgnum, ok getur Stígandi sét ǫðrum megin í hlíðina; þar var fagrt landsleg ok grasloðit; en því var líkast; sem hvirfilvindr komi at; sneri um jǫrðunni, svá at aldregi síðan kom þar gras upp. Þar heitir nú á Brennu. Síðan berja þeir Stíganda grjóti í hel ok þar var hann dysjaður.74 Sie gehen zu Stígandi und besprechen dabei miteinander, dass es mit ihm nicht wie mit seinem Bruder gehen solle, dass er so viel sehen könne, dass ihnen Schaden entstehen würde; sie nehmen nun einen Sack und ziehen ihn ihm über den Kopf. Stígandi erwacht dadurch und macht nun keine Bewegung, da viele Männer jetzt gegen einen waren. Es war ein Riss im Sack, und Stígandi konnte die andere Seite des Abhangs sehen; dort war ein schönes Stück Land und dicht mit Gras bewachsen; aber da schien es, als ob ein Wirbelwind aufkäme; er grub die Erde um, so dass dort von da an niemals wieder Gras wuchs. Die Stelle heißt nun Brenna. Danach steinigen sie Stígandi zu Tode und er wurde dort mit Steinen bedeckt.

71 Vgl. Ström, Germanic Death Penalties, S. 243: „But if the looks of evil-doers possessed a magical dangerousness already under normal conditions, this power was still further increased in the moment of death.“ 72 Vgl. Seligmann, Siegfried: Art. „Auge“, in: HdA, Bd. 3. Berlin, Leipzig, 1927, S. 679 f. Vgl. zum Phänomen des „bösen Blickes“ umfassend Seligmann, Siegfried: Der böse Blick und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte des Aberglaubens aller Zeiten und Völker. 2 Bände. Berlin, 1910. 73 S. Gísl, Kap. 19, ÍF 6, S. 60. 74 Laxd, Kap. 38, ÍF 5, S. 109.

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Die in diesem Kapitel vorgestellten Belege haben gezeigt, dass seiðr-Praktizierenden in der altnordischen Literatur oftmals ein außergewöhnlicher Blick von besonderer Wirkmächtigkeit zugeschrieben und dieser als „böser Blick“ gefürchtet wird. Wie insbesondere anhand des Beinamens von Hallbjǫrn slíkisteinsauga ersichtlich, werden Augen und Blick bei seiðr-praktizierenden Personen also als ein von der Norm abweichendes Merkmal konzipiert und können als liminales Element innerhalb ihrer Darstellung gewertet werden.

1.4 Besonderer Beruf: Der „dämonische“ Schmied Þorgrímr nef? Als ein liminaler Zug innerhalb seiner Darstellung könnte auch die Konnotation des seiðmaðr Þorgrímr nef mit dem Schmiedehandwerk zu interpretieren sein, welche auf seiner Beteiligung am Schmiedeprozess der magischen Waffe Grásíða (‚Grauseite‘) in der Gísla saga basiert. In archaischen Gesellschaften wird die Schmiedekunst oftmals mit dem Bereich des Übernatürlichen und der Ausübung von Magie assoziiert, weswegen Schmiede eine Sonderstellung im Sozialgefüge innehatten: Aufgrund ihrer metallurgischen Kenntnisse bzw. Fähigkeiten, Schmuck, Werkzeug und Waffen zu produzieren, hatten Schmiede in archaischen Sozietäten eine besondere Stellung. Man begegnete ihnen mit einer Mischung aus Wertschätzung, Respekt und Furcht, mitunter wurden Schmiede auch mit Magie in Zusammenhang gebracht, und nicht selten lebten Schmiede daher außerhalb der Gemeinschaft.75

Diese Vorstellungen existierten freilich auch im germanischen Bereich, wie besonders die große Popularität und weite Verbreitung des Sagenstoffes um Wieland den Schmied zeigt, der in zahlreichen Bild- und Textquellen überliefert ist und sich bis ins 8. Jahrhundert zurückverfolgen lässt.76 In der altnordischen Mythologie gelten insbesondere Alben und Zwerge als kunstfertige Schmiede,77 was ein weiterer Grund

75 Insley, John: Art. „Wieland“, in: RGA, Bd. 33. Berlin, New York, 2006, S. 610. Vgl. hierzu auch Grünzweig, Friedrich E.: Das Schwert bei den Germanen. Kulturgeschichtliche Studien zu seinem „Wesen“ vom Altertum bis ins Hochmittelalter. Wien, 2009 (Philologica Germanica, 30), S. 399. 76 Bildzeugnisse der Wielandfabel wie auf dem Kästchen von Auzon und dem gotländischen Bildstein Ardre VIII reichen bis ins 8. Jh. zurück; früheste schriftliche Anspielungen auf den Stoff finden sich im altenglischen Deor (10. Jh.) sowie im Waltharius, einem lateinischen Text oberdeutscher Herkunft (10. Jh.); vgl. dazu Klaus von See [et al.]: Kommentar zu den Liedern der Edda, Bd. 3: Götterlieder. Vǫlundarkviða, Alvíssmál, Baldrs draumar, Rígsþula, Hyndlolióð, Grottasǫngr. Heidelberg, 2000, S. 112–117. 77 Zwischen Zwergen und Alben bestehen in der altnordischen Mythologie zahlreiche Überschneidungen. Es scheint, als wäre die enorme Kunstfertigkeit ursprünglich eine Eigenschaft der Alben im Allgemeinen gewesen, bevor sie schließlich ganz auf die Zwerge überging. Diese These vertritt u. a. Ursula Dronke im Zusammenhang mit der Bezeichnung Wielands des Schmieds als Albe in der Vǫlundarkviða: „I would suggest that the titles of Vǫlundr, álfa lióði, vísi álfa, relate to an old tradition in which álfar were subtle smiths, before the popularity of the dwarfs as underground metal

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für die Assoziation ihrer irdischen Gegenstücke mit dem Anderweltlichen sein dürfte. Im mittelalterlichen Island gab es jedoch kein professionelles Schmiedehandwerk in dem Sinne, wie es auf dem Kontinent der Fall war: Die meisten Bauernhöfe verfügten vielmehr über eine angegliederte Schmiede, in welcher die Besitzer laut den Isländersagas oftmals selbst Schmiedearbeiten verrichteten.78 Die Vorstellung vom dämonischen, fernab der Gesellschaft seinem geheimnisvollen Handwerk frönenden Schmied fand auf Island also kaum reale Entsprechungen im Alltagsleben. Vor diesem Hintergrund muss auch der eingangs erwähnte Anteil des seiðmaðr Þorgrímr nef am Schmiedeprozess der Waffe Grásíða betrachtet werden. Die Gísla saga berichtet bereits von deren unheilvoller Vorgeschichte, bevor der zauberkundige Mann überhaupt ins Spiel kommt: Zunächst handelt es sich bei Grásíða um ein Schwert mit magischen Eigenschaften, welche der längeren Redaktion S zufolge daher rühren, dass es von Zwergen geschmiedet wurde.79 Laut der kurzen Redaktion M der Saga verhilft es demjenigen, der es führt, zum Sieg im Kampf. Besitzer dieses wundersamen Schwertes ist eigentümlicherweise ein einfacher Knecht namens Kolr, von dem ein Vorfahr des Gísli Súrsson – der ebenfalls den Namen Gísli trägt – das Schwert für einen Holmgang ausleiht. Als Kolr es zurückfordert, weigert sich Gísli jedoch, die Waffe zurückzugeben und tötet stattdessen damit den Knecht. Dabei zerspringt allerdings auch das magische Schwert und Gísli findet bei dieser Auseinandersetzung selbst den Tod.80 Der verhängnisvolle Einfluss der magischen Waffe auf das Schicksal des Gísli Súrsson und der Seinen entfaltet seine volle Wirkung, als Gíslis Bruder Þorkell die ererbten Bruchstücke des Schwertes Grásíða zu einem Speer umschmieden lässt, mit welchem in der Folge sowohl Gíslis Freund und Schwager Vésteinn als auch sein anderer Schwager, Þorgrímr Þórsteinsson, getötet werden.81 Der gängigen Interpretation der Saga zufolge ist es kein anderer als der seiðmaðr Þorgrímr nef, welcher aus den Fragmenten des Schwertes Grásíða den gleichnamigen, verhängnisvollen Speer anfertigt82 – ein Umstand, der diese Figur zu einem Paradebeispiel für die Existenz der Konnotation ‚Zauberer-Schmied‘ in der altnordischen

workers made the elves’ title forgotten.“ (Dronke, Ursula: The Poetic Edda, Bd. 2: Mythological Poems. Oxford, 1997, S. 262). 78 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 353 f. 79 Vgl. Gíslx, Kap. 2–3, EA A 5, S. 4–7. 80 Vgl. Gísl, Kap. 1, ÍF 6, S. 5 f. 81 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 54. 82 So z. B. Buchholz, Peter: Schamanistische Züge in der altisländischen Überlieferung. InauguralDissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Saarbrücken, 1968, S. 73: „In der Gísla saga [. . .] schmiedet der Zauberer Þorgrímr nefr [sic] das Schwert Grásíða um.“ Diese Aussage macht auch Rolf Heller: „Thorgrim ist nicht nur der Schmied der Unglückswaffe Grauseite, er ist es auch, der den Fluch über Thorgrims (Thorsteinssohnes) Mörder ausspricht, der nach den Worten der Saga Gislis ruheloses Umherirren bewirkte.“ (Heller, Rolf: „Gísla saga Súrssonar und Laxdœla saga“, in: Rudolph, Kurt; Heller,

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Literatur machen würde83. Dillmann bezweifelt allerdings, dass tatsächlich Þorgrímr nef derjenige ist, welcher die Schmiedehandlung durchführt: Seiner These zufolge könnte es sich beim Schöpfer des Speers vielmehr um Þorgrímr Þórsteinsson, den Widersacher Gíslis, handeln.84 In der Tat ist anhand der entsprechenden Passage in Redaktion M nicht klar ersichtlich, welcher der beiden Männer mit Namen Þorgrímr die neue Waffe anfertigt: Maðr hét Þorgrímr ok var kallaðr nef. [. . .] Hann var fullr af gørningum ok fjǫlkynngi, ok var seiðskratti, sem mestr mátti verða. Hánum bjóða þeir Þorgrímr ok Þorkell til sín, því at þeir hǫfðu þar ok bóð inni. Þorgrímr var hagr á járn, ok er þess við getit, at þeir ganga til smiðju, báðir Þorgrímarnir ok Þorkell, ok síðan byrgja þeir smiðjuna. Nu eru tekin Grásíðubrot, er Þorkell hafði hlotit ór skiptinu þeira brœðra, ok gerir Þorgrímr þar af spjót, ok var þat algǫrt at kveldi; mál váru í ok fœrt í hepti spannar lang.85 Ein Mann hieß Þorgrímr und wurde ‚nef‘ [Nase] genannt. [. . .] Er war voll von Zauberkünsten und Zauberei und war der größte Hexer [seiðskratti], den es geben kann. Ihn luden Þorgrímr und Þorkell zu sich ein, weil auch sie ein Fest bei sich abhielten. Þorgrímr war geschickt mit Eisen und es wird berichtet, dass sie zur Schmiede gehen, die beiden Þorgrímar und Þorkell, und dann verschließen sie die Schmiede. Nun werden die Bruchstücke von Grásíða genommen, die Þorkell aus der Teilung [des Besitzes] der Brüder erhalten hatte, und Þorgrímr fertigt daraus einen Speer, und er war am Abend vollendet; Verzierungen waren darauf und ein eine Spanne langer Schaft wurde eingesetzt.

Dillmann liefert mehrere einleuchtende Argumente, die zur Skepsis hinsichtlich der Identität des Schmiedes in der fraglichen Episode mahnen: So befindet sich zum einen die Schmiede, welche die drei Männer in der oben genannten Passage aufsuchen, auf dem Hof Sæból und gehört somit zur Domäne des Þórgrimr Þórsteinsson. Dass dieser sich daher selbst gut auf das Bearbeiten von Metall versteht und die Zuschreibung „Þorgrímr var hagr á járn“ folglich auch auf ihn statt auf Þorgrímr nef Bezug nehmen könnte, legt zudem die in der Saga zu beobachtende Parallelisierung von Þórgrimr Þórsteinsson und Gísli nahe: Als Gíslis Rivale ist Þorgrímr mit ähnlichen Fähigkeiten wie dieser ausgestattet86, was möglicherweise auch die Gísli attestierte Kenntnis der Schmiedekunst87 mit einschließt. Dillmann führt weiter an, dass, wenn innerhalb einer Episode der Saga sowohl von Þorgrímr Þórsteinsson als auch von dem Magiker Þorgrímr nef die Rede ist, bei Letzterem stets sein Beiname

Rolf; Walter, Ernst (Hgg.): Festschrift Walter Baetke. Dargebracht zu seinem 80. Geburtstag am 28. März 1964. Weimar, 1966, S. 185 f.). 83 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 356. 84 Vgl. dazu Dillmann, Magiciens, S. 355–358. 85 Gísl, Kap. 11, ÍF 6, S. 37 f. 86 Vgl. dazu Dillmann, Magiciens, S. 357. 87 Vgl. Gísl, Kap. 8, ÍF 6, S. 29: „Ok einn morgin ríss Gísli upp ok gengr til smiðju; hann var allra manna hagastr ok gǫrr at sér um alla hluti.“ / „Und eines Morgens steht Gísli auf und geht zur Schmiede; er war der geschickteste von allen Männern und verstand sich auf alle Dinge.“

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(‚nef‘) zur Unterscheidung der beiden Personen ergänzt wird. Hingegen entfällt bei Þorgrímr Þórsteinsson als einem der Hauptprotagonisten die Hinzufügung des Patronymikons oder seines – in der längeren Redaktion der Saga verwendeten – Beinamens ‚Freysgoði‘ oftmals. Erst später in der Saga, wenn Þorgrímr Þórsteinsson bereits tot und eine Verwechslung zwischen den beiden Figuren nicht mehr möglich ist, verwendet der Verfasser der Gísla saga den Beinamen ‚nef‘ zur Kennzeichnung des zauberkundigen Þorgrímr nicht mehr. Dies würde nahelegen, dass es sich auch in der oben zitierten Passage bei der Figur namens Þorgrímr, deren Name alleine steht und welcher metallurgische Fähigkeiten zugeschrieben werden, um Þorgrímr Þórsteinsson, den Hausherrn von Sæból, handelt. Das stärkste Argument für Dillmanns These besteht jedoch darin, dass die längere Redaktion der Gísla saga direkt Þorgrímr Þórsteinsson unter seinem Beinamen Þorgrímr Freysgoði als geschickten Schmied bezeichnet. Welcher Þorgrímr also über herausragende Kenntnisse in der Metallverarbeitung verfügt, geht aus dieser Fassung ganz deutlich hervor. Somit kann gefolgert werden, dass in dieser Version der Saga Þorgrímr Þórsteinsson selbst das Umschmieden der magischen Waffe vornimmt: Maðr er nefndr Þorgrimr nef [. . .], hann var fullr up galldra oc gerninga, hann var oc seiðskratti þessum manni buðu þeir Þorgrimr oc Þorkell til sin [. . .] Þorgrimr Freys goði var maðr velhagr a jarn, fara þeir nu iij saman, Þorgrimar ij oc Þorkell, þa tekr Þorkell brotinn af Grasiðu [. . .], Þorgrimr gerði þar or spiot [. . .].88 Ein Mann wird Þorgrimr nef genannt [. . .], er war voller Zauberlieder und Zauberkünste, er war auch ein Hexer [seiðskratti]. Diesen Mann luden Þorgrimr und Þorkell zu sich ein [. . .] Þorgrimr Freysgoði war ein Mann, der sehr geschickt mit Eisen war, sie gehen nun zu dritt, die zwei Þorgrimar und Þorkell, da nimmt Þorkell die Bruchstücke von Grásiða [. . .], Þorgrimr machte daraus einen Speer [. . .].

Es gibt also durchaus gute Gründe, die in der Forschungsliteratur zur Gísla saga übliche Interpretation, welche in der Gestalt des zauberkundigen Þorgrímr nef den Schmied des Speeres Grásíða sieht, kritisch zu hinterfragen. Festgehalten werden kann zumindest, dass Þorgrímr nef unzweifelhaft bei der Umschmiedung von Grásíða anwesend ist. Wie groß sein eigener Anteil am Schmiedeprozess ist, kann aufgrund der mehrdeutigen Formulierung der kurzen Redaktion sowie der Abweichung zwischen den beiden Versionen der Gísla saga leider nicht mit Gewissheit festgestellt werden. Dass hier überhaupt eine magische Beeinflussung der Waffe durch seiðr vorliegt, lässt sich letztlich lediglich aus der Präsenz des als seiðr-Praktizierender eingeführten Þorgrímr nef beim Schmiedevorgang folgern. Selbst wenn Þorgrímr nef den Speer nicht selbst anfertigt, muss allerdings die Anwesenheit des seiðmaðr bei der Umarbeitung der magischen Waffe wohl doch erforderlich oder zumindest erwünscht gewesen sein: Wäre Þorgrímr Þórsteinsson der eigentliche Schmied des Speeres und bei der Herstellung gänzlich unabhängig von 88 Gíslx, Kap. 16, EA A 5, S. 24.

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den Zauberkünsten Þorgrímr nefs, hätte er sicher andere Gelegenheiten gefunden, um sein Werk auch ohne dessen Beisein zu vollbringen. Auch die Tatsache, dass die Bruchstücke binnen einer Nacht zu einer derart perfekten neuen Waffe verarbeitet werden, sowie die durch das Verschließen der Schmiede signalisierte heimliche Vorgehensweise der drei Männer in der kurzen Redaktion der Saga lassen den Einsatz von Magie vermuten. Bedenkt man zudem die bereits erwähnte unheilvolle Wirkung auf Gíslis Leben, welche den Zaubern Þorgrímr nefs in der Saga zugeschrieben wird, ist der Einfluss des seiðmaðr auf den Schmiedeprozess des Speeres, der sowohl Vésteinn als auch Þórgrimr Þorsteinsson selbst das Leben kosten wird, sicherlich nicht zu unterschätzen. Eine Verbindung Þorgrímr nefs zum Schmiedehandwerk besteht folglich durchaus; sie ist jedoch weniger stark ausgeprägt, als in der Forschungsliteratur zumeist angenommen wird. Dass sie als ein außeralltäglicher Zug betrachtet werden kann, der die entsprechende Figur als Grenzgänger zum Anderweltlichen kennzeichnet, kann unabhängig von den realen Gegebenheiten auf Island aufgrund der weiten Verbreitung der Konnotation der Schmiedekunst mit dem Übernatürlichen im gesamten germanischen Bereich angenommen werden.

1.5 Bezüge seiðr-Praktizierender zu nicht-menschlichen Wesen Neben den bereits vorgestellten liminalen Charakteristika, mit welchen seiðr-Praktizierende innerhalb der altnordischen Literatur ausgestattet werden, fließen in die Darstellung dieser Figuren immer wieder auch Elemente ein, die ihnen Züge nichtmenschlicher Wesen verleihen bzw. sie in Beziehung zu derartigen Wesen setzen. Bis hin zur Monstrosität auf die Spitze getrieben wird dies in den Vorzeit- und Rittersagas, wie die in Kapitel II 2.1.2 erwähnten Beispiele des pferdefüßigen Kaldanus in der Ectors saga sowie des Gift und Feuer speienden seiðmaðr Grímr ægir in der Gǫngu-Hrólfs saga illustrieren. Jedoch finden sich auch innerhalb der Ausgestaltung seiðr-praktizierender Figuren in den realitätsbezogeneren Gattungen der altnordischen Literatur immer wieder Berührungspunkte mit nicht-menschlichen Wesen, insbesondere den mit der útgarðr-Sphäre assoziierten Riesen. Das ist insofern wenig verwunderlich, da den Riesen in der altnordischen Überlieferung selbst magische Fähigkeiten zugeschrieben werden, was auch der Grund dafür sein dürfte, dass eine Bezeichnung für Riese im Altnordischen, nämlich trǫll, ebenso für zauberkundige Menschen verwendet werden kann. Wie stark ausgeprägt die Konnotation der Riesen mit Magie war, zeigt sich anhand von Komposita wie trǫlldomr und trǫllskapr, welche im Altnordischen in der Bedeutung ‚Zauberkraft‘ gebraucht werden.89 89 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 170 f. sowie Schulz, Riesen, S. 45 f. Darüber hinaus sind die Riesen auch für ihr Wissen bekannt – ein Merkmal, das sie mit Magiepraktizierenden offenbar teilen, bedenkt man, dass gerade ‚zauberkundig sein‘ im Altnordischen mit dem Besitz besonderen Wissens gleichgesetzt wurde, wie Begriffe wie margkunnigr und fjǫlkunnigr zeigen.

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Ein offensichtliches Beispiel für die Assoziation seiðr-Praktizierender mit den Riesen bildet der Beiname Grímr ægirs in der Gǫngu-Hrólfs saga, da Ægir zugleich der Name des Meerriesen in der altnordischen Mythologie ist.90 Auch über den Ort, an dem Grímr ægir als Kind von einer vǫlva gefunden wird, wird ein Bezug zu eben jenem Meerriesen etabliert: [. . .] ekki vissu menn kynferði hans eða ætt, því Gróa völva hafði fundit hann í flæðarmáli í Hlésey [. . .].91 [. . .] die Leute kannten weder seine Herkunft noch seine Familie, da die vǫlva Gróa ihn an der Flutgrenze auf Hlésey gefunden hatte [. . .].

Denn der Name „Hlésey“ bedeutet „Insel des Hlér“ – und Hlér ist ein weiterer, in der Literatur selten vorkommender Name des Meerriesen Ægir. Da die Namen Hlér und Ægir in Kenningar austauschbar erscheinen, lässt sich schließen, dass es sich um dieselbe mythische Gestalt handeln muss: So werden die Wellen ‚Töchter Hlérs‘ oder ‚Töchter Ægirs‘ und das Gold entweder Hlés viti 92 oder Ægirs eldr (Ægirs Feuer) genannt.93 Grímr ægir, der im Wasser wie an Land zu gehen vermag, wird also sehr stark an die Riesen angeschlossen. Zudem unterstreicht sein in zweifacher Hinsicht peripher gelegener Fundort (an der Gezeitenlinie, auf einer Insel) als Findelkind überdeutlich die liminalen, mit dem Anderweltlichen korrespondierenden Eigenschaften des seiðmaðr. Daneben kann auch der Name des in der Laxdœla saga figurierenden seiðmaðr Stígandi als Hinweis auf die Riesen verstanden werden, da ‚Stígandi‘ in den Þulur als Name eines Riesen erscheint94 und seinen Träger dadurch mit diesen mythologischen Wesen in Verbindung bringt. Die Bedeutung des Namens, ‚der Kletterer‘, ist dabei wohl als Anspielung auf die Riesen als Bergbewohner zu verstehen.95 Angesichts dessen, dass der Magiker Stígandi in der Lage ist, durch seinen bloßen Blick einen Wirbelwind von zerstörerischer Gewalt zu entfesseln96, erscheint ein Riesenname als äußerst passende Wahl für diese Figur: Wie auch die Riesen ist der seiðmaðr mit enormen Naturkräften assoziiert, welche in der entsprechenden Episode

90 Vgl. Simek, Lexikon der germanischen Mythologie, S. 3. 91 GHr, Kap. 2, FAS 2, S. 241. 92 An. viti bedeutet eigentlich ‚Zeichen‘. Der Begriff kann auch für einen Holzstapel verwendet werden, der verbrannt wird, um ein Signal zu geben, und dann die Bedeutung ‚Feuerzeichen‘ annehmen. Er wird in Kenningar für Gold verwendet; vgl. Baetke, Wörterbuch, S. 751 sowie Sveinbjörn Egilsson, Lexicon poeticum, S. 621. 93 Vgl. de Vries, Jan: Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 1. 2., völlig neu bearb. Aufl. Berlin, 1956, S. 251. 94 S. Þul IV b, Skj Bd. B I, S. 659. 95 Vgl. Simek, Lexikon der germanischen Mythologie, S. 396. In der Landnámabók und der Vatnsdœla saga ist Stígandi der Name eines Schiffes; vgl. dazu Snorri Sturluson: Edda: Skáldskaparmál, Bd. 2: Glossary and Index of Names, herausgegeben von Anthony Faulkes. London, 1998, S. 509. 96 S. Laxd, Kap. 38, ÍF 5, S. 109.

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bezeichnenderweise nicht erst durch ein magisches Ritual kanalisiert werden müssen, sondern ihm bzw. seinem Blick unmittelbar innewohnen. Auch die Seherin Þorbjǫrg lítil-vǫlva in der Eiríks saga rauða wird durch einige Details ihrer Darstellung in die Nähe anderweltlicher Wesen gerückt. So heißt es bei der Einführung dieser Figur, sie habe neun Schwestern gehabt, die alle Seherinnen gewesen wären und deren letzte Überlebende sie sei: Sú kona var þar í byggð, er Þorbjǫrg hét; hon var spákona og var kǫlluð lítil-vǫlva. Hon hafði átt sér níu systr, ok váru allar spákonur, en hon ein var þá lífi.97 Es war eine Frau in der Gegend, die Þorbjǫrg hieß; sie war eine Seherin und wurde lítil-vǫlva [‚kleine vǫlva‘] genannt. Sie hatte neun Schwestern gehabt, und alle waren sie Seherinnen gewesen, doch sie allein war damals noch am Leben.

Þorbjǫrgs Zugehörigkeit zu dieser mit magischen Fähigkeiten ausgestatteten Schwesternschar, welche ohne jegliche Erwähnung männlicher Verwandter den einzigen genealogischen Kontext dieser Figur bildet, hat eine Signalwirkung, die den Rezipienten der Saga nicht entgangen sein dürfte, wie Klaus Böldl anhand ähnlicher Merkmale innerhalb der Darstellung der Zauberin Katla in der Eyrbyggja saga aufgezeigt hat: Da Katla in einer weiblich dominierten Hofgemeinschaft lebe und keinen genealogischen Kontext aufweise, nehme sie Böldl zufolge „eine den nichtmenschlichen Wesen strukturell analoge Position ein“98. Innerhalb der Darstellung Katlas sei insbesondere ein Bezug zu den Disen99 erkennbar – weiblichen Kollektivwesen der altnordischen Mythologie, deren kultische Verehrung mehrfach literarisch belegt ist. Auch im Fall Þorbjǫrg lítil-vǫlvas manifestieren sich Ähnlichkeiten mit den Disen und den Nornen, weswegen die Charakteristika dieser Wesenheiten im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen. Beide Gruppen, deren Funktionen einander berühren, treten als anonyme Frauenkollektive und schicksalsbestimmende Mächte auf.100 Die Disen leisten Beistand bei der Geburt101, was laut einer schwer

97 Eir, Kap. 4, ÍF 4, S. 206. 98 Böldl, Eigi einhamr, S. 247. Man beachte in diesem Zusammenhang, dass von dem seiðmaðr Grímr ægir ebenfalls berichtet wird, er sei ein Findelkind, dessen Abstammung unbekannt sei: „ekki vissu menn kynferði hans eða ætt“ (GHr, Kap. 2, FAS 2, S. 241) / „die Leute kannten weder seine Herkunft noch seine Familie“. 99 Vgl. Böldl, Eigi einhamr, S. 247 ff. 100 Darin ähneln die Disen und Nornen allerdings auch anderen weiblichen Kollektivwesen der altnordischen Mytholgie, nämlich den Fylgjen und Walküren; vgl. Naumann, Hans-Peter: Art. „Disen“, in: RGA, Bd. 5. Berlin, New York, 1984, S. 495. 101 So heißt es in den eddischen Sigrdrífomál, dass die Disen bei der Geburt um Beistand angerufen werden sollen: „Biargrúnar scaltu kunna, ef þú biarga vilt / oc leysa kind frá konom; / á lófa þær scal rísta oc liðo spenna / oc biðia þá dísir duga.“ (Sd, Str. 9, Neckel; Kuhn, Edda, S. 191) / „Geburtsrunen musst du kennen, wenn du entbinden / und Kinder von Frauen lösen willst; / auf die Handflächen muss man sie ritzen und das Handgelenk umspannen / und die Disen muss man bitten zu

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zu deutenden Strophe der Fáfnismál102 offenbar gleichermaßen für die Nornen gilt103. Allerdings könnte die Betätigung der Nornen als Geburtshelferinnen von einer Vermischung mit der Rolle der Disen herrühren,104 denn zumeist treten die Nornen bei der Geburt eines Menschen eher insofern in Erscheinung, als sie dessen Schicksal festlegen: So bestimmen laut Strophe 20 der Vǫluspá die drei Schicksalsfrauen Urðr, Verðandi und Skuld – deren Namen seit Jacob Grimm als die ‚Gewordene‘, die ‚Werdende‘ und die ‚Werdensollende‘ interpretiert werden105 – das Schicksal der Menschenkinder und legen die Zeitspanne fest, die jeder Mensch zu leben hat.106 Darin ähneln diese Frauengestalten, die in der Vǫluspá allerdings nicht als Nornen bezeichnet werden, den griechischen Moiren bzw. römischen Parzen.107 Die eddische Helgakviða Hundingsbana in fyrri beschreibt die Nornen als Spinnerinnen, welche „mit Macht die Schicksalsfäden knüpfen“ („snero þær af afli ǫrlǫgþátto“108).109 Ihr großer Einfluss auf das Schicksal der Menschen begründet die enge Konnotation der Nornen mit dem Tod, denn ihr Urteilsspruch setzt dem Leben der Menschen ein Ende – eine Gemeinsamkeit, welche die Nornen wiederum mit den Walküren verbindet, die auf dem Schlachtfeld diejenigen Toten erwählen,

helfen.“ (Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 343). Vgl. dazu auch Naumann, Disen, S. 495. 102 S. Fm, Str. 12, Neckel; Kuhn, Edda, S. 182: „[. . .] hveriar ro þær nornir, er nauðgǫnglar ro / oc kiósa mœðr frá mǫgom?“ / „[. . .] Welche sind die Nornen, die in der Not kommen / und die Kinder von den Müttern lösen?“ (Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 330). 103 Vgl. Dillmann, François-Xavier: Art. „Nornen“, in: RGA, Bd. 21. Berlin, New York, 2002, S. 392. 104 Vgl. ebd. 105 Vgl. Grimm, Jakob: Deutsche Mythologie. Bearbeitet und eingeleitet von Karl Hans Strobl. Wien, Leipzig, 1939, S. 261: „Von den drei Schicksalsgöttinnen enthält die Edda einen abgeschlossenen, tiefsinnigen Mythus [sic]. Sie heißen gemeinschaftlich Nornir, einzeln aber Urdr, Verdandi, Skuld. [. . .] In den drei Eigennamen sind die Formen begrifflicher Zeitwörter unmöglich zu verkennen. Es ist also sehr passend das Gewordene, Werdende und Werdensollende, oder Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bezeichnet und jede der drei Parzen in einer dieser Richtungen aufgestellt.“ 106 S. Vsp, Str. 20, Neckel; Kuhn, Edda, S. 5: „[. . .] Urð héto eina, aðra Verðandi / – scáro á scíðí –, Sculd ina þriðio; / þær lǫg lǫgðo, þær líf kuro / alda bornom, ørlǫg seggia.“ / „[. . .] Urd hieß man die eine, die andre Werdandi, / – sie ritzten ins Holz –, Skuld die dritte; / sie legten Bestimmungen fest, sie wählten das Leben / den Menschenkindern, das Schicksal der Männer.“ (Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 19); vgl. dazu Dillmann, Nornen, S. 391 sowie Böldl, Götter und Mythen, S. 266 f. 107 Vgl. Dillmann, Nornen, S. 389. 108 HH I, Str. 3, Neckel; Kuhn, Edda, S. 130. 109 Vgl. Dillmann, Nornen, S. 391.

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die anschließend Aufnahme in Valhǫll finden.110 Während Snorri in der Gylfaginning zwischen guten und bösen Nornen unterscheidet, je nachdem welche Konsequenzen ihr Urteil auf das Leben der Menschen hat,111 wird den Nornen in eddischer und skaldischer Dichtung zumeist pauschal eher Grausamkeit attestiert.112 Ähnlich wie Nornen und Walküren können auch die Disen den Tod bringen und sind folglich ebenfalls als Schicksalsmächte zu betrachten.113 So verkündet Óðinn in den Grímnismál den bevorstehenden Tod König Geirrǫðrs mit Verweis auf die Feindseligkeit der Disen.114 Auch Strophe 24 der Reginsmál warnt vor den tödlichen Gefahren, welche von diesen Wesenheiten ausgehen:115 Þat er fár mikit, ef þú fœti drepr, þars þú at vígi veðr: tálar dísir standa þér á tvær hliðar oc vilia þic sáran siá.116 Große Gefahr besteht, wenn du mit dem Fuße strauchelst, wo du zum Kampfe gehst: Trugdisen stehen dir auf beiden Seiten und wolln dich verwundet sehn.117

Das in der oben zitierten Strophe erwähnte Straucheln oder Stolpern scheint charakteristisch für den plötzlichen Tod zu sein, welchen die Disen einem Menschen bereiten können, wie folgende Passage der Ynglinga saga zeigt: Aðils konungr var at dísablóti ok reið hesti um dísarsalinn. Hestrinn drap fótum undir honum ok fell ok konungr af fram, ok kom hǫfuð hans á stein, svá at haussinn brotnaði, en heilinn lá á steininum. Þat var hans bani.118

110 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 267. 111 Gylf 15, Faulkes, SnE, S. 18: „Góðar nornir ok vel ættaðar skap góðan aldr, en þeir menn er fyrir óskǫpum verða, þa vallda því illar nornir.“ / „Gute Nornen und aus vornehmem Geschlecht stammende erschaffen ein gutes Leben, aber die Männer, die ein schlimmes Unglück trifft, das bewirken die bösen Nornen.“ 112 So erwähnen z. B. die Reginsmál eine „aumlig norn“ („elende Norne“); s. Rm, Str. 2, Neckel; Kuhn, Edda, S. 174. Vgl. dazu Dillmann, Nornen, S. 390. 113 Vgl. dazu Naumann, Disen, S. 495: „In der altnordischen Überlieferung treten die Disen unter verschiedenen Aspekten auf und stehen als schicksalsbestimmende Mächte, als Totenführerinnen oder als Schutzgeister teilweise in Funktionsberührung mit anderen übernatürlichen Wesen wie Nornen, Walküren und Fylgjen.“ 114 S. Grm, Str. 53, Neckel; Kuhn, Edda, S. 68: „úfar ro dísir“ / „feindselig sind die Disen“. Vgl. hierzu Naumann, Disen, S. 495. 115 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 269. 116 Rm, Str. 24, Neckel; Kuhn, Edda, S. 179. 117 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 325. 118 Hkr I, Yngl saga, Kap. 29, ÍF 26, S. 57 f.

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König Aðils war beim Disenopfer und ritt mit dem Pferd um den Disensaal. Das Pferd strauchelte unter ihm und fiel und der König stürzte vornüber hinunter und sein Kopf traf so auf einen Stein, dass der Schädel brach und das Hirn auf dem Stein lag. Das war sein Tod.

Auch im Þiðranda þáttr ok Þórhalls führen die Disen den Tod eines Menschen herbei:119 Der junge Þiðrandi stirbt durch das Eingreifen von neun berittenen, schwarzgekleideten Frauen, als er entgegen vorheriger Warnungen am Abend des zu Beginn des Winters stattfindenen Opferfestes vor die Tür des väterlichen Hofes tritt. Die übernatürlichen Wesen, welche Þiðrandi erblickt – den neun schwarzgekleideten Frauen stehen neun weißgewandete gegenüber – werden im þáttr als fylgiur120 bzw. diser (der Text nimmt hier keine Unterscheidung vor) bezeichnet; aus der Njáls saga kann ergänzend der Hinweis gezogen werden, dass es sich bei Þiðrandis Angreiferinnen um Disen handelt („Þiðrandi, þann er sagt er, at dísir vægi“121 / „Þiðrandi, von dem gesagt wird, dass er von den Disen getötet wurde“). Der mit Þiðrandis Vater Síðu-Hallr befreundete spámaðr Þórhallr deutet die Tötung des jungen Mannes als Vergeltungsakt der schwarzen Disen, welche die ob des Glaubenswechsels zum Christentum bevorstehende Trennung von der Familie, deren Schutzgeister sie bislang waren, nicht ohne entsprechenden Tribut einzufordern hinnehmen wollten.122 Die Disen können also äußerst ungehalten werden und sich in todbringende Gestalten verwandeln, wenn man ihren Zorn erregt, besitzen komplementär dazu jedoch eine mit Prosperität und Fruchtbarkeit assoziierte Seite, die sich in ihrem bereits angesprochenen Auftreten als Geburtshelferinnen manifestiert.

119 Vgl. „Þiðranda þáttr ok Þórhalls“, in: Guðbrandur Vigfússon; Unger, C. R.: (Hgg.): Flateyjarbók: En Samling af norske Konge-Sagaer med indskudte mindre Fortællinger om Begivenheder i og udenfor Norge samt Annaler. Bd. 1, Christiania, 1860, S. 418–421. 120 Der Begriff fylgja, wörtlich ‚Folgerin‘, bezeichnet ein Folgewesen bzw. einen Schutzgeist (zu an. fylgja ‚folgen‘). In den altnordischen Quellen finden sich zwei Erscheinungsformen dieser Wesenheiten: Tiergestaltige Fylgjen und Fylgjen in Frauengestalt. Während Erstere zumeist als Manifestationen des Wesens eines Menschen aufgefasst worden zu sein scheinen, fungieren frauengestaltige Fylgjen in der Regel als Schutzgeister eines Einzelnen oder einer Familie. Als mit dem Bereich der Seelen- und Schicksalsvorstellungen verbundene Wesenheiten überschneiden und berühren die Fylgjen sich mit anderen übernatürlichen Wesen wie den Disen. Vgl. hierzu Röhn, Hartmut: Art. „Fylgja“, in: RGA, Bd. 10. Berlin, New York, 1998, S. 287 f. sowie Mundal, Else: Fylgjemotiva i norrøn litteratur. Oslo, 1974 passim. 121 Vgl. Nj., Kap 96, ÍF 12, S. 239. 122 S. ÞÞ, S. 420: „nu munu þær æigi una þui at hafa ònguan skatt af ydr adr þær skiliazst vid ok munu þær hafva þetta j sinn hlut.“ / „nun werden sie sich wohl nicht damit zufriedengeben, von euch keinen Tribut zu bekommen ehe sie sich von euch trennen, und sie werden wohl dies im Sinn gehabt haben.“

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Wie die obigen Ausführungen gezeigt haben, sind die Unterschiede zwischen Nornen, Disen und Walküren überaus unscharf123 – letztlich können sie alle mit der Göttin Freyja in Zusammenhang gebracht werden.124 Alle drei Gruppen wirken als Schicksalsmächte, wobei die Nornen die Länge des Lebens eines Menschen bei dessen Beginn bestimmen, während insbesondere die Walküren, aber auch die Disen das Schicksal eines Menschen durch einen – oftmals jähen – Tod entscheiden. Häufig kommt es dabei auch zu Begriffsüberschneidungen; beispielsweise kann die Bezeichnung dísir auch für Walküren verwendet werden.125 Einzig für die Disen, nicht jedoch für andere weibliche Kollektivwesen ist eine Verehrung in vegetationskultischem Kontext in den altnordischen Quellen mehrfach bezeugt, welche auch anhand von skandinavischen Ortsnamen wie Disin (von *Dísavin), Diseberg oder Disåsen nachgewiesen werden kann.126 Das Disenopfer (an. dísablót) fand in Norwegen und auf Island im Spätherbst bzw. zu Beginn des Winters, at vetrnóttum („in den Winternächten“) – d. h. ungefähr Mitte Oktober – statt. Es handelte sich bei diesem Opferfest, das im Kreis von Angehörigen und Freunden gefeiert wurde, um einen Teil des privaten Kultlebens eines Hofes.127 Kein Wunder also, dass die rächenden Disen den Tod des jungen Þiðrandi gerade am Abend eines spätherbstlichen Opferfestes herbeiführen, das zeitlich mit dem heidnischen Disenopfer korrespondiert: Offenbar holen sich die verschmähten Wesenheiten das ihnen ob des Glaubenswechsels vorenthaltene Opfer in Form des jungen Mannes kurzerhand selbst. Neben privaten Kulthandlungen zu Ehren der Disen wurde im Monat Gói (zwischen Mitte Februar und Mitte März) auch ein überregionales Disenopfer öffentlichen Charakters in Uppsala abgehalten.128 Obgleich die eigentlichen Kulthandlungen jeweils nicht bekannt sind, weist alles darauf hin, dass die Disenopfer sich auf die Sphäre der Fruchtbarkeit und der Vegetation bezogen, analog zu den herbstlichen

123 Dies betont auch Lotte Motz: „The figures are closely linked with one another in form as well as function, and no clear line of demarcation can be drawn. Valkyries may be designated as dísir [. . .] and a Norn may fulfill the task of a Valkyrie [. . .].“ (s. Motz, Lotte: The Beauty and the Hag. Female Figures of Germanic Faith and Myth. Wien, 1993 (Philologica Germanica, 15), S. 74 f.). Vgl. dazu auch Egeler, Matthias: Walküren, Bodbs, Sirenen. Gedanken zur religionsgeschichtlichen Anbindung Nordwesteuropas an den mediterranen Raum. Berlin, New York, 2011 (Ergänzungsbände zum RGA, 71), S. 32 f.; insbesondere Anm. 52, S. 32. 124 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 267. 125 So heißt es in den Krákumál, einem wohl im 12. Jh. entstandenen, anonym überlieferten Sterbelied der altnordischen Literatur, das dem legendären Ragnarr loðbrók in den Mund gelegt wird: „heim bjóða mér dísir, / þær’s frá Herjans hǫllu / hefr Óðinn mér sendar“ (Krák 29, Skj Bd. B I, S. 656) / „die Disen laden mich zu sich ein, / von der Halle des Herren / hat Óðinn sie mir geschickt“. Hier treten ganz offensichtlich die Disen an die Stelle der Walküren und sollen den Helden zu Óðinn nach Valhǫll geleiten (vgl. zu den Krákumál auch Simek; Pálsson, Lexikon der altnordischen Literatur, S. 236 f.). 126 Vgl. Naumann, Disen, S. 496 sowie Böldl, Götter und Mythen, S. 267. 127 Vgl. Naumann, Disen, S. 495 f. 128 Vgl. ebd., S. 496 sowie Böldl, Götter und Mythen, S. 267.

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Opferfesten til árs ok til friðar („für gute Ernte und Frieden“) für den Gott Freyr.129 Es existiert also eine starke Verbindung zwischen Disen und Wanen, die ihren prägnantesten Ausdruck darin findet, dass Freyja durch ihre Bezeichnung als vanadís (‚Dis der Wanen‘) aus dem ansonsten namenlosen Kollektiv der Disen herausgelöst wird: Such considerations lead us to suspect that the dísir were, from one aspect, goddesses of fertility. This suspicion grows stronger when we remember that the fertility goddess, Freyja, is called Vanadís (dís of the Vanir); she is the surpreme dís, whose help is to be sought in love.130

Zudem sind die Disen eng mit Pferden und dem Reiten assoziiert, wie die Schicksale König Aðils und Þiðrandis zeigen131− ein gemeinsames Merkmal mit den Wanen, denn auch Freyr wird in der altnordischen Überlieferung mit Pferden in Verbindung gebracht: In den Skírnismál stattet er seinen Diener mit einem Pferd aus, welches in der Lage ist, den Feuerwall zu überwinden, der das Reich des Riesen Gymir umgibt.132 In der Lokasenna wird Freyr als der „beste aller kühnen Reiter“ („beztr allra ballríða“133) in Ásgarðr bezeichnet und laut den Þulur besitzt er ein Pferd mit Namen Blóðughófi (‚der mit dem blutigen Huf‘)134. Neben diesen aus der mythologischen Tradition stammenden Belegen wird der Wanengott auch in der Sagaliteratur mit Pferden assoziiert. So berichtet die Hrafnkels saga Freysgoði von einem mit Freyr verbundenen Pferdekult: Der Freyrpriester Hrafnkell besitzt ein dem Gott geweihtes Pferd namens Freyfaxi und gelobt, jeden zu töten, der es zu reiten wagt.135 Als ein Knecht sich über dieses Verbot hinwegsetzt, erschlägt ihn Hrafknell dementsprechend. Für diese Tat wird Hrafnkell verklagt und verliert all seine Habe sowie seine gesellschaftliche Position. Als Schützling Freyrs erhält er im Verlauf der Saga jedoch beides wieder zurück und triumphiert über seine Gegner. Auch in der Vatnsdœla saga wird ein dem Wanengott geweihtes Pferd namens Freyfaxi erwähnt, das von seinem Besitzer Brandr angebetet wird.136 Des Weiteren soll Óláfr Tryggvason

129 S. Turville-Petre, Gabriel: Myth and Religion of the North. The Religion of Ancient Scandinavia. London, 1964, S. 224: „It was the custom to offer sacrifice to Freyr for fruitful harvest and peace (til árs ok friðar) [. . .].“ Vgl. hierzu auch Naumann, Disen, S. 496. 130 Turville-Petre, Myth and Religion, S. 224. 131 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 268. 132 Skm, Str. 8, Neckel; Kuhn, Edda, S. 71. 133 Lks, Str. 37, Neckel; Kuhn, Edda, S. 104. 134 S. Skáldsk 58, v327, Faulkes, Bd. 1, S. 89. Allerdings geht hieraus nicht eindeutig hervor, ob das Pferd Freyr oder Óðinn gehört (vgl. Faulkes, Skáldskaparmál, Bd. 2, S. 449). 135 S. „Hrafnkels saga Freysgoða“, in: Jón Jóhannesson (Hg.): Austfirðinga sǫgur. Reykjavík, 1950 (Íslenzk Fornrit, 11), Kap. 3, S. 100. 136 Vatn, Kap. 34, ÍF 8, S. 90. Vgl. dazu Polomé, Edgar Charles: Art „Freyr“, in: RGA, Bd. 9. Berlin, New York, 1995, S. 589.

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laut der Flateyjarbók auf einem seiner Missionszüge ein Heiligtum Freyrs entweiht haben, indem er bewusst einen dort befindlichen, dem Gott geweihten Hengst ritt.137 Dass der Hengst – wie auch Hrafnkells Pferd Freyfaxi – von einer Stutenherde begleitet wurde (auf welchen wiederum die Gefolgsleute des Königs ritten, um sie gleichfalls zu entweihen), lässt in beiden Fällen auf eine kultische Verehrung der Pferde im Rahmen von Fruchtbarkeitsriten schließen.138 Diese Belege machen deutlich, dass Freyr neben dem Eber auch mit dem Pferd in Verbindung gebracht wurde, das zum einen als wichtiges Statussymbol der Oberschicht galt, zugleich jedoch im Fruchtbarkeitskult eine wichtige Rolle spielte, was sich auch anhand des kirchlichen Verbots des Verzehrs von Pferdefleisch zeigt.139 Worin bestehen nun genau die Berührungspunkte zwischen Þorbjǫrg lítil-vǫlva und nicht-menschlichen Wesen, insbesondere den Disen bzw. Nornen, abgesehen davon, dass diese seiðr-Praktizierende aufgrund ihrer Schwesternschar als einem Frauenkollektiv angehörig betrachtet werden kann? Da Þorbjǫrg als vǫlva tituliert wird, ist ihr Bezug zu den Nornen am einfachsten erkennbar: Eine Vermischung der Nornen mit den spákonur und vǫlur ist in der altnordischen Literatur nämlich des Öfteren zu beobachten140 und rührt sicherlich daher, dass auch die vǫlur im Rahmen ihrer Divination das Schicksal der Menschen voraussagen. Angesichts der engen Verbindungen zwischen den Riesinnen und den vǫlur in der altnordischen Mythologie lässt sich darüber hinaus für die Gestalt der Seherin Þorbjǫrg ein Bezug zu den Riesen feststellen. Dieser verstärkt sich dadurch, dass die Neunzahl ihrer bereits verstorbenen Schwestern Reminiszenzen an die neun Mütter des Gottes Heimdallr weckt, welche in den Hyndluljóð (Str. 35) als Riesinnen („iotna meyjar“141) bezeichnet werden. Sebastian Cöllen zeigt in seiner Monographie über Heimdallr auf, dass es sich bei den neun riesischen Müttern Heimdallrs um die neun Töchter des Riesen Ægir handeln muss. Als Personifizierung des Meeres treten diese neun Töchter in der Skaldendichtung als Verkörperungen der Wellen auf.142 Wie bei den

137 S. „Óláfs saga Tryggvasonar“, in: Guðbrandur Vigfússon; Unger, C. R. (Hgg): Flateyjarbók: En Samling af norske Konge-Sagaer med indskudte mindre Fortællinger om Begivenheder i og udenfor Norge samt Annaler. Bd. 1, Christiania, 1860, S. 401. 138 Vgl. Polomé, Freyr, S. 589. 139 Vgl. zu diesem Überblick über die Bezüge Freyrs zu Pferden Böldl, Götter und Mythen, S. 253 f. 140 Besonders ausgeprägt ist diese Vermischung im Norna-Gests þáttr, bei dem die Bezeichnungen norn, spákona und vǫlva nahezu synonym verwendet werden; s. „Norna-Gests þáttr“, in: Ólafur Halldórsson (Hg.): Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, Bd. 3. København, 2000 (Editiones Arnamagnæanæ, Series A, 3), Kap. 10, S. 36: „þar foro þa vm land volvvr er kalladar voro spakonvr ok spaðv monnum ǫrlǫg.“ / „Damals zogen vǫlur durchs Land, die Seherinnen genannt wurden und den Menschen das Schicksal vorhersagten.“). Eine dieser Seherinnen wird in derselben Passage als en yngsta nornín („die jüngste Norne“) tituliert. Vgl. hierzu Horst, völva, S. 41 f. 141 S. Hdl, Str. 35, Neckel; Kuhn, Edda, S. 294. 142 Vgl. Cöllen, Sebastian: Heimdallr – der rätselhafte Gott. Eine philologische und religionsgeschichtliche Untersuchung. Berlin, Boston, 2015 (Ergänzungsbände zum RGA, 94), S. 137–149.

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seiðr-praktizierenden Männern Grímr ægir und Stígandi wäre somit auch im Fall Þorbjǫrgs eine gedankliche Verknüpfung von unkontrollierten Naturkräften, Riesen und seiðr-Praktizierenden zu beobachten. Die Verbindung Þorbjǫrgs mit den Disen offenbart sich indessen anhand der vegetationskultisch aufgeladenen Details innerhalb der Schilderung ihrer Divination in der Eiríks saga rauða: So wird auf die Fähigkeiten der Seherin gerade in einem Jahr der Missernte zurückgegriffen. Zudem beinhaltet Þorbjǫrgs minutiös beschriebene Gewandung auch eine mit weißem Katzenfell gefütterte Haube sowie Handschuhe aus Katzenfell.143 Da sich ansonsten zumindest im Textkorpus der Isländersagas und Íslendingaþættir kein anderes Beispiel für eine Unterfütterung von Kleidungsstücken mit Katzenfell finden lässt,144 wird die Erwähnung des Katzenfells kaum ohne Bedeutung sein. Vielmehr wird hierdurch eine Verbindung der Ritualspezialistin mit der Göttin Freyja etabliert, da die Katze als dämonisches und für seine leidenschaftliche Paarung bekanntes Tier145 nach Snorri mit dieser Gottheit assoziiert ist.146 Ein Bezug zwischen Þorbjǫrgs Aktivitäten und vegetationskultischen Handlungen wird im Sagatext des Weiteren dadurch hergestellt, dass sie ihrer seherischen Tätigkeit in den Winternächten und damit zu genau der Zeit nachgeht, in welcher auch die Opferfeierlichkeiten für die Disen und Freyr abgehalten wurden. Dieser Aspekt soll zu einem späteren Zeitpunkt noch eingehend zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden.147 In die Darstellung menschlicher seiðr-Praktizierender fließt also eine Reihe von Elementen ein, welche sie in die Nähe nicht-menschlicher Wesen rücken. Überaus bedeutsam erscheint hierbei die Konnotation seiðr-Praktizierender mit Naturmächten: Einerseits stehen sie den mit unkontrollierten Naturkräften assoziierten Riesen nahe, andererseits werden in der altnordischen Literatur auch intensive Verbindungen seiðr-Wirkender zu den mit Vegetation und Fruchtbarkeit konnotierten Disen und Wanen etabliert. Dies kann als Ausdruck davon gewertet werden, dass das Wirkungsspektrum des seiðr sowohl eine Beeinflussung der Natur in destruktiver als auch in positiver Absicht umfasst. Abschließend lässt sich festhalten, dass im Fall

143 Vgl. Eir, Kap. 4, ÍF 4, S. 206 f.: „[. . .] hon hafði [. . .] lambskinnskofra svartan á hǫfði ok við innan katskinn hvít [. . .]. Hon hafði á hǫndum sér kattskinnsglófa, ok váru hvítir innan [. . .].“ / „[. . .] sie hatte [. . .] eine schwarze Lammfellmütze auf dem Kopf und innen war weißes Katzenfell [. . .]. Sie trug Handschuhe aus Katzenfell an ihren Händen, und sie waren innen weiß [. . .].“ 144 Vgl. Sauckel, Kleidung, S. 96. 145 Vgl. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 2, S. 312. 146 S. z. B. Freyjas Fahrt mit einem Katzengespann zum Scheiterhaufen Baldrs in Gylf 49, Faulkes, SnE, S. 47: „En Heimdallr reið hesti þeim er Gulltoppr heitir, en Freyja kǫttum sínum.“ / „Und Heimdallr ritt mit dem Pferd, das Gulltoppr heißt, aber Freyja mit ihren Katzen.“ Vgl. hierzu auch Ström, Folke: Diser, nornor, valkyrior. Fruktbarhetskult och sakralt kungadöme i Norden. Stockholm, 1954 (Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademiens Handlingar, filolog.-filosof. Serien, 1), S. 60. 147 S. dazu Kapitel VII 2.2 und VIII 5.1 der vorliegenden Untersuchung.

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der seiðr-Praktizierenden oftmals keine klare Grenze zwischen zauberkundigem Menschen und anderweltlichem Wesen gezogen wird und diese Figuren dadurch eine Zwischenposition einnehmen können.

1.6 Fazit In den vorangegangenen Kapiteln konnten diverse liminale Charakteristika innerhalb der Darstellung von seiðr-Praktizierenden herausgearbeitet werden: So weisen die altnordischen Quellen ihnen wiederholt eine Abstammung aus den Randgebieten des Nordens zu, die mit erhöhtem magischen Potential assoziiert wurden. Dabei handelt es sich häufig um Kontaktzonen zu anderen Völkern und Kulturen, wie im Fall der Hebriden oder dem nordnorwegischen Hálogaland. Des Weiteren werden Augen und Blick seiðr-betreibender Personen vielfach besondere Qualitäten und große Wirkmächtigkeit zugeschrieben, die sich in der Furcht vor ihrem „bösen Blick“ niederschlägt. Als gefährliche Individuen werden insbesondere seiðr als Schadenszauber ausübende Magiker betrachtet, deren Hinrichtungen und Beisetzungen an liminalen Orten stattfinden, um die Gemeinschaft vor einer Rückkehr der Delinquenten als Wiedergänger zu schützen. Wiederholt wird im Zuge der Tötungen von seiðr-Praktizierenden zudem deren Blick durch das Überziehen eines Sacks verdeckt – eine apotropäische Maßnahme, die dem magischen und destruktiven Potential ihres Blicks besonders im Augenblick ihres Todes entgegenwirken soll. Des Weiteren wurde der Bezug Þorgrímr nefs zu dem mit dem Anderweltlichen assoziierten Schmiedehandwerk kritisch hinterfragt und konstatiert, dass dieser zwar vorhanden, jedoch nicht so stark ausgeprägt ist wie oftmals in der Forschung angenommen. Zuletzt konnte festgestellt werden, dass die Grenze zwischen menschlichem und anderweltlichem Wesen innerhalb der Darstellung von seiðrWirkenden oftmals unscharf erscheint: So bestehen Affinitäten zwischen diesen Figuren und den Riesen, insbesondere jedoch Überschneidungen zwischen den vǫlur als weiblichen seiðr-Praktizierenden und den als Schicksalsmächten auftretenden und mit Fruchtbarkeit sowie dem Tod assoziierten Disen und Nornen. All diese Hinweise zeigen, dass menschliche seiðr-Praktizierende in der altnordischen Literatur als liminale Personen porträtiert werden, die aufgrund ihrer magischen Fähigkeiten weder komplett zur Alltagswelt der Menschen noch gänzlich zur Anderwelt gehören. Im nächsten Abschnitt soll nun untersucht werden, inwieweit seiðr-Praktizierende in den altnordischen Quellen das Potential ihrer Zwischenposition aktiv nutzen und als Mittler zwischen diesen beiden Sphären agieren.

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2 Interaktionen menschlicher seiðr-Praktizierender mit der útgarðr-Sphäre 2.1 Beeinflussung der natürlichen Umwelt in destruktiver Absicht Die liminalen Züge, mit denen seiðr-Praktizierende in den altnordischen Quellen ausgestattet werden, sollten sie in besonderem Maße dazu befähigen, die Grenzen zwischen der Welt der Menschen und anderweltlichen Bereichen zu überwinden. Doch inwiefern genau treten seiðr-Praktizierende in der altnordischen Literatur in Interaktion mit der Anderwelt und nutzen deren Potential? Besonders gut erkennbar wird dies im Kontext eines zentralen Anwendungsgebietes des seiðr: Der Beeinflussung des Wetters und der Elemente – also von Phänomenen und Kräften, welche der die Lebenswelt der Menschen umgebenden útgarðr-Sphäre zugehörig sind. Sehr häufig geschieht eine solche Einflussnahme auf die ungezähmte Natur in destruktiver Absicht: Stürme und Unwetter werden durch die Ausübenden des seiðr heraufbeschworen, um denjenigen, gegen die sich ihre Zauber richten, zu schaden bzw. sie zu Tode zu bringen. Hierfür finden sich zahlreiche Belegstellen in der altnordischen Literatur, von denen im Folgenden nur einige genannt werden sollen. So lässt in der Laxdœla saga die Familie des Kotkell, deren sämtliche Mitglieder in der Praktik des seiðr bewandert sind,148 durch ihre Magie ein großes Unwetter heraufziehen, um einen Schiffbruch und damit den Tod Þórðr Ingunnarsons und seiner Mutter zu verursachen: Síðan lét Kotkell gera seiðhjall mikinn; þau fœrðusk þar á upp ǫll; þau kváðu þar harðsnúin frœði; þat váru galdrar. Þvi næst laust á hrið mikilli. Þat fann Þórðr Ingunnarson ok hans fǫrunautar, þar sem hann var á sæ staddr, ok til hans var gǫrt veðrit. [. . .] Síðan reis boði skammt frá landi, sá er engi maðr munði, at fyrr hefði uppi verit, ok laust skipit svá, at þegar horfði upp kjǫlrinn. Þar drukknaði Þórðr ok allt fǫruneyti hans [. . .].149 Dann ließ Kotkell ein großes Zaubergerüst [seiðr-Gerüst] errichten, sie stiegen alle hinauf; dort sprachen sie starke Zauberformeln, das waren Zaubergesänge. Gleich darauf kam plötzlich ein großes Unwetter auf. Da merkten Þórðr Ingunnarson und seine Begleiter, dort wo sie sich auf See befanden, dass der Sturm gegen sie gerichtet war. [. . .] Darauf erhob sich kurz vor dem Ufer eine Klippe, von der sich niemand erinnerte, dass sie zuvor vorhanden gewesen sei, und traf das Schiff so, dass sogleich der Kiel nach oben zeigte. Dort ertranken Þórðr und alle seine Begleiter [. . .].

Auf diese Weise entledigt sich die seiðr-kundige Familie Þórðrs und dessen Mutter Ingunn, da Þórðr aufgrund der Klage seiner Mutter Kotkell und die Seinen wegen

148 S. Laxd, Kap. 35, ÍF 5, S. 95: „Ọll váru þau mjǫk fjǫlkunnig ok inir mestu seiðmenn.“ / „Alle waren sie sehr zauberkundig und die größten Zauberer [seiðmenn].“ 149 Ebd., S. 99 f.

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Diebstahls und Zauberei ächten lassen wollte.150 Dass ein durch seiðr evoziertes Unwetter auch wesentlichen Anteil am Tod eines Sagaprotagonisten haben kann, ohne diesen jedoch direkt zu verursachen, zeigt eine Episode der längeren Redaktion S der Gísla saga Súrssonar. In dieser zeichnet Þorgrímr nef mittels seiðr für die Entstehung des folgenschweren Unwetters verantwortlich, welches erst die Voraussetzung dafür schafft, dass der Mord an Vésteinn – Gíslis Freund und Schwager – in Gíslis Abwesenheit durchgeführt werden kann: Sva er sagt at illviðri þvi hinu mikla hefir valdit Þorgrímr nef með golldrum sinom ok gerningum, oc framit til seið at nockorn veg yrðe þess, at þat færi gæfiz a Vest(eini), at G(isli) væri eigi viðstaddr, þviat þeir treystuz eigi a hann at raða, ef G(isli) væri hia, enn Þorgrímr Freyssgoði [sic] for siþan til verksins oc vo Vestein, eptir þvi sem aðr var sagt.151 So wird erzählt, dass Þorgrímr nef jenes große Unwetter mit seinen Zauberliedern und Zauberkünsten bewirkt hatte und seiðr ausübte, damit es auf irgendeine Weise geschehe, dass Vésteinn sich einem Angriff aussetzen würde [und], dass Gísli nicht anwesend wäre, weil sie nicht wagten, ihn anzugreifen, wenn Gísli in der Nähe wäre, und Þorgrímr Freysgoði machte sich danach ans Werk und tötete Vésteinn, so wie es zuvor berichtet wurde.

Redaktion M enthält die ensprechende Episode ohne eine Erwähnung von Zauberei: Eines Nachts zerstört ein starker Sturm die Hälfte des Daches auf dem Hof Hóll. Daraufhin bricht Gísli mit nahezu allen seinen Leuten auf, um die Heuvorräte zu retten, während Vésteinn mit seiner Schwester und einem Knecht, der den wenig Hilfe versprechenden Beinamen ‚der Mutlose‘ (inn huglausi) trägt, allein im Wohngebäude zurückbleibt. Da es immer mehr in das Gebäude hineinregnet, versetzen die Geschwister ihre Bettstätten an die Längsseite des Hauses, wo Vésteinn wenig später durch einen Speerstoß getötet wird.152 Die längere Überlieferungsvariante der Gísla saga betont also den starken Einfluss, welchen Þorgrímr nefs magische Fähigkeiten auf das Schicksal Gíslis haben, indem sein Zauber erst den Boden für den Mord an Vésteinn bereitet.153 Neben den häufig evozierten Stürmen können auch andere Wettererscheinungen mittels seiðr erzeugt werden: So wird von dem seiðr-Praktizierenden Eyvindr kelda

150 Vgl. ebd., S. 98 f. Þórðr möchte die strenge Acht (skóggangr) über die magiekundige Familie verhängen lassen. Jedoch wurde im altisländischen Recht lediglich der Tatbestand des Diebstahls mit der strengen Acht bestraft; die Zauberei hingegen nur, wenn es sich dabei dezidiert um Schadensmagie handelte. Ansonsten wird Zauberei lediglich mit beschränkter Acht, also einer dreijährigen Landesverweisung (fjǫrbaugsgarðr), bestraft. Da Kotkells Familie allerdings die gesamte Saga hindurch ausschließlich negativ charakterisiert und als mit Schadenszaubern befasst dargestellt wird, kann wohl davon ausgegangen werden, dass es sich auch bei dem von Ingunn vorgebrachten Vorwurf der fjǫlkynngi um Schadenszauber handelt. Vgl. dazu Laxd, Kap. 35, ÍF 5, S. 98, Anm. 2 sowie zur Unterscheidung der beiden Formen der Friedlosigkeit Lundgreen, Friedlosigkeit, S. 618. 151 Gíslx, Kap. 18, EA A 5, S. 32. 152 Gísl, Kap. 13, ÍF 6, S. 43. 153 Vgl. zu dieser Episode der Gísla saga auch Dillman, Magiciens, S. 91.

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unter anderem in der Óláfs saga Tryggvasonar der Heimskringla berichtet, dass er dichten Nebel bzw. eine durch Nebel verursachte Dunkelheit (þokumyrkr) heraufbeschwört, um sich selbst und sein Gefolge von „seiðmenn og annat fjǫlkynngisfólk“154 zu verhüllen und so König Óláfr unvermutet attackieren zu können: Gerði Eyvindr þeim huliðshjálm ok þokumyrkr svá mikit, at konungr ok lið hans skyldi eigi mega sjá þá.155 Eyvindr machte sie unsichtbar und erschuf einen so dichten Nebel, dass der König und sein Gefolge sie nicht sehen konnten.

Für ihre Wetterzauber machen sich seiðr-Praktizierende also das Potential der útgarðr-Sphäre zunutze und verstehen es, die unkontrollierten Naturkräfte – in der Regel zum Schaden der Gemeinschaft – zu kanalisieren. Die Elemente können von seiðr-Wirkenden allerdings nicht allein durch spezielle Rituale und Zaubergesänge manipuliert werden, wie das Beispiel des seiðmaðr Stígandi in der Laxdœla saga zeigt: Sein bloßer Blick entfacht einen zerstörerischen Wirbelwind,156 ohne dass davon die Rede ist, dass sich der Magiker dazu überhaupt eines Zaubers bedienen muss – er selbst verfügt offenbar über zerstörerische Naturgewalt.

2.2 Beeinflussung der natürlichen Umwelt in positiver Absicht Die natürliche Umwelt lässt sich mittels seiðr jedoch auch in positiver Weise und zu Gunsten der Siedlergemeinschaft beeinflussen, wie das Beispiel der Landnehmerin namens Þuríðr sundafyllir in der Landnámabók verdeutlicht. Diese Magikerin trägt ihren Beinamen, da sie in einem hallæri die Fjorde des norwegischen Hálogaland mithilfe des seiðr mit Fischen füllte und somit eine Hungersnot abzuwenden vermochte:157 Þuríðr sundafyllir ok Vǫlu-Steinn son hennar fór af Hálogalandi til Íslands ok nam Bolungarvík, ok bjǫggu í Vatnesi; hon var því kǫlluð sundafyllir, at hon seiddi til þess í hallæri á Hálogalandi at hvert sund var fullt af fiskum [. . .].158 Þuríðr sundafyllir und ihr Sohn Vǫlu-Steinn fuhren von Hálogaland nach Island und nahmen die Bolungarvík in Besitz und wohnten auf Vatnes. Sie wurde ‚syndafyllir‘ genannt, da sie während einer Hungersnot in Hálogaland durch seiðr bewirkte, dass jeder Sund voll von Fischen war [. . .].

Die Interaktion der seiðr-Praktizierenden mit der útgarðr-Sphäre besteht dieser Schilderung zufolge in ihrer Einflussnahme auf Tiere, welche sie mittels ihrer Magie

154 155 156 157 158

Hkr I, ÓT, Kap. 63, ÍF 26, S. 312. Ebd. Vgl. Laxd, Kap. 38, ÍF 5, S. 109. Vgl. hierzu Haid; Dillmann, Zauber, S. 861 sowie Strömbäck, Sejd, S. 77 f. Ldn, S. 83.

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zu sich heranzulocken vermag. Dieses attrahierende Element stellt ein charakteristisches Merkmal des seiðr dar.159 Auch in der berühmten seiðr-Episode der Eiríks saga rauða spielt eine Beeinflussung der natürlichen Umwelt sowie das Anlocken von Wesen der útgarðr-Sphäre eine zentrale Rolle. Dabei entspricht der Anlass für das von Þorbjǫrg lítil-vǫlva auf dem grönländischen Hof Heriólfsnes vollzogene seiðr-Ritual dem in der vorgenannten Passage der Landnámabók, denn auch auf Þorbjǫrgs Zauberkunst wird in einem Jahr der Hungersnot zurückgegriffen:160 Die Seherin soll der Hofgemeinschaft des Bauern Þorkell im Rahmen einer Einladung zum Gastmahl prognostizieren, wann die schlechten Zeiten vorüber sein werden. Obschon Þorbjǫrg also auf den ersten Blick zum Zweck der Divination eingeladen zu sein scheint, wird bei näherer Betrachtung der Episode schnell ersichtlich, dass die Aktivitäten der Seherin mehr als nur das Wahrsagen umfassen müssen. Dies legt schon allein der Umstand nahe, dass der Gastgeber Þorbjǫrg bittet, einen Blick über alles, was der Hofgemeinschaft angehört, zu werfen: „Þorkell bað hana þá renna þar augum yfir hjú ok hjǫrð, ok svá hýbýli.“161 („Da bat Þorkell sie, einen Blick auf den gesamten Haushalt und das Vieh und auch die zum Haus gehörenden Leute zu werfen.“). Auch werden ihr als Speise die Herzen aller Tierarten, die es auf dem Hof gibt, vorgesetzt162 – angesichts der herrschenden Nahrungsknappheit eine gewaltige Investition seitens der Bewohner von Heriólfsnes, von der man sich sicherlich einen entsprechend positiven Effekt auf die missliche Lage erwartete. Die Seherin geht also anhand ihres Blickes und des Verzehrs der Tierherzen eine ganz intensive, physische Verbindung mit all dem ein, was dem Hof – und damit der miðgarðr-Sphäre der erzählten Welt – zugehörig ist, ehe sie das seiðr-Ritual durchführt. Eine Prognose für die Zukunft der Hofgemeinschaft will die vǫlva erst abgeben, nachdem sie eine Nacht auf Heriólfsnes geschlafen hat163 – ein weiterer Hinweis darauf, dass zunächst eine Verbindung zwischen ihr und den Bewohnern des Hofes etabliert werden muss. Auch Folke Ström vertritt aufgrund dieser aufschlussreichen Details die Ansicht, dass Þorbjǫrg lítil-vǫlva Einfluss auf die kritische Situation der Hofbewohner nimmt, statt ihnen nur die Zukunft vorherzusagen: Skildringen i Eriks rödes saga synes mig antyda en djupare innebörd hos sejden än den rent magiskt-divinatoriska. [. . .] I den nödsituation, som föranledde tillkallandet av volvan, kann

159 Vgl. Almqvist, I marginalen til Sejd, S. 249 sowie S. 258. 160 S. Eir, Kap. 4, ÍF 4, S. 206: „Í þenna tíma var hallæri mikit á Grœnlandi [. . .].“ / „Zu dieser Zeit war eine große Hungersnot auf Grönland [. . .].“ 161 Eir, Kap. 4, ÍF 4, S. 207. 162 S. ebd.: „[. . .] ok matbúin hjǫrtu ór ǫllum kykvendum, þeim er þar váru til.“ / „[. . .] und als Mahl wurden [ihr] Herzen von allen Tieren zubereitet, die es dort gab.“ 163 S. ebd.: „Hon kallask ekki munu segja fyrr en um morginn eptir, er hon hafði áðr sofit um nóttina.“ / „Sie sagt, dass sie es nicht eher sagen werde als am nächsten Morgen, wenn sie zuvor die Nacht über geschlafen habe.“

2 Interaktionen menschlicher seiðr-Praktizierender mit der útgarðr-Sphäre

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man knappast i första hand har varit betjänt av en rent faktiskt visshet om vad framtiden bar i sitt sköte. [. . .] Att hon ansetts stå i högre, livsfrämjande makters tjänst framgår av den till henne riktade uppmaningen att låta blickarna vila på folket, boskapen och hela gården. Här ligger en tydlig anvisning om att hennes närvaro inneburit något positivt, för den hemsökta gårdens trivsel befrämjande.164

Damit schließlich das eigentliche seiðr-Ritual überhaupt vollzogen werden kann, bedarf es der Beteiligung von Frauen, welche ein varðlok(k)ur genanntes Zauberlied singen. Es kostet einige Mühe, eine Frau zu finden, die diesen speziellen Gesang beherrscht; schließlich erklärt sich jedoch die Christin Guðríðr widerwillig zum Vortrag der varðlok(k)ur bereit und das seiðr-Ritual kann seinen Lauf nehmen. Diesem Gesang kommt nun eine zentrale Bedeutung für die seiðr-Séance zu, denn durch seinen schönen Klang werden der Seherin zufolge viele Geisterwesen angelockt, welche sich zuvor von der Hofgemeinschaft abgewandt hatten: Hon bað ok fá sér konur þær, er kynni frœði þat, sem til seiðsins þarf ok Varðlokur hétu. En þær konur fundusk eigi. Þá var að leitat at um bœinn, ef nǫkkur kynni. Þá segir Guðríðr: „Hvárki em ek fjǫlkunnig né vísindakona, en þó kenndi Halldís, fóstra mín, mér á Íslandi þat kvæði, er hon kallaði Varðlokur.“ Þorkell segir: „Þá ertu happfróð.“ Hon segir: „Þetta er þat eitt atferli, er ek ætla í engum atbeina at vera, því at ek em kristin kona.“ Þorbjǫrg segir: „Svá mætti verða, at þú yrðir mǫnnum at liði hér um, en þú værir þá kona ekki verri en aðr; en við Þorkel mun ek meta at fá þá hluti til, er hafa þarf.“ Þorkell herðir nú að Guðríði, en hon kvezk gera mundu sem hann vildi. Slógu þá konur hring um hjállinn, en Þorbjǫrg sat á uppi. Kvað Guðríðr þá kvæðit svá fagrt ok vel, at engi þóttisk heyrt hafa með fegri rǫdd kvæði kveðit, sá er þar var hjá. Spákonan þakkar henni kvæðit ok kvað margar þær náttúrur nú til hafa sótt ok þykkja fagrt at heyra, er kvæðit var svá vel flutt, – „er áðr vildu við oss skiljask ok enga hlýðni oss veita. En mér eru nú margir þeir hlutir auðsýnir, er áðr var ek dulið, ok margir aðrir. En ek kann þer þat at segja, Þorkell, at hallæri þetta mun ekki haldask lengr en í vetr, ok mun batna árangr sem várar. [. . .]“165 Sie verlangte auch, Frauen zu bekommen, die das Zauberlied kannten, dessen es zum seiðr bedurfte und das Varðlokur heiße. Aber diese Frauen fanden sich nicht. Da wurde auf dem Hof danach gesucht, ob es irgendjemand könne. Da sagt Guðríðr: „Ich bin weder zauberkundig noch eine Weissagerin, aber dennoch lehrte mich Halldís, meine Ziehmutter, auf Island dieses Lied, das sie Varðlokur nannte.“ Þorkell sagt: „Da bist du im Besitz nützlichen Wissens.“ Sie sagt: „Dies ist ein Vorgang, bei dem ich nicht helfen will, denn ich bin Christin.“ Þorbjǫrg sagt: „So mag es geschehen, dass du den Menschen hier eine Hilfe sein würdest, und du wärest dann keine schlechtere Frau als zuvor; aber ich werde es Þorkell überlassen, dass ich die Dinge bekomme, die ich zu haben benötige.“ Þorkell bedrängt Guðríðr nun, und sie sagt, dass sie es tun würde, wie er wollte. Da bildeten die Frauen einen Kreis um das (Zauber-)Gerüst, und Porbjǫrg saß oben darauf. Da trug Guðríðr das Lied so schön und gut vor, dass keiner glaubte, das Lied mit einer schöneren Stimme vorgetragen gehört zu haben, der dort dabei war. Die Seherin dankt ihr für das Lied und sagte, dass viele Geister sich nun eingefunden

164 Ström, Diser, Nornor, Valkyrjor, S. 59. 165 Eir, Kap. 4, ÍF 4, S. 207 f.

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V Liminale Aspekte innerhalb der Darstellung menschlicher seiðr-Praktizierender

hätten und es schön zu hören fänden, dass das Lied so gut vorgetragen war – „die sich vorher von uns trennen und uns keinen Gehorsam erweisen wollten. Und mir sind nun viele solche Dinge sichtbar, von denen ich zuvor keine Kenntnis hatte und viele andere. Und ich kann dir dies sagen, Þorkell, dass diese Hungersnot nun nicht mehr länger anhalten wird als den Winter über und die Ernte wird sich bessern, sowie es Frühling wird. [. . .]“

Durch den Gesang und das von der vǫlva durchgeführte, nicht näher beschriebene Ritual werden also náttúrur angezogen und wohlwollend gestimmt – Geisterwesen, die der útgarðr-Sphäre angehören. Da sie sich laut Þorbjǫrgs Einschätzung zuvor widerspenstig und der Hofgemeinschaft abgeneigt gezeigt hatten und es der Seherin nunmehr möglich ist, ihren Gastgebern ein Ende der Hungersperiode anzeigen, liegt die Interpretation mehr als nahe, dass eben gerade aufgrund dieser durch seiðr hergestellten Kommunikation mit den náttúrur eine Besserung der Situation herbeigeführt wurde. Das wiedererlangte Wohlwollen der Naturmächte liefert somit überhaupt erst die Voraussetzung dafür, dass die natürliche Umwelt der Siedler wieder prosperieren kann. Was es genau mit dem für die Interaktion mit der Geisterwelt so wichtigen Zaubergesang varðlok(k)ur auf sich hat, ist wiederholt in der Forschung diskutiert worden. Die ursprüngliche Form des zweiten Bestandteils des Kompositums varðlok(k)ur ist unsicher: Je nach Handschrift findet sich entweder -lokur (zu an. loka ‚verschließen‘) oder lokkur (zu an. lokka ‚locken‘). Da auch hinsichtlich der Interpretation des ersten Elements varð- (zu an. vǫrðr ‚Wache‘, ‚Wacht‘) Uneinigkeit herrscht, sind die Deutung des Begriffs varðlok(k)ur und die Funktion dieses Zauberliedes nach wie vor umstritten. Ein zentraler Diskussionspunkt ist hierbei vor allem, ob es sich bei den varðlok(k)ur um einen Gesang handelt, welcher der freien Seele166 der im Rahmen des seiðr-Rituals in Ekstase geratenen vǫlva helfen soll, in ihren Körper zurückzufinden, oder ob die varðlok(k)ur dazu dienen, Geisterwesen anzulocken.167 Erstere Interpretation vertritt insbesondere Strömbäck, der unter anderem darauf aufbauend eine starke Merkmalsgleichheit zwischen seiðr und dem samischen Schamanismus konstatiert.168 Dillmann lehnt diese These jedoch ab, da in der Darstellung der seiðrSéance der Eiríks saga rauða nichts darauf schließen lasse, dass die vǫlva in einen wie auch immer gearteten ekstatischen Zustand gerät.169

166 Die hier zugrundeliegenden altnordischen Seelenvorstellungen werden detaillierter im Kontext der Befähigung seiðr-Praktizierender zu Seelenreise und Gestaltwandel in Kapitel VII 2.4 besprochen. 167 Clive Tolley deutet die Funktion des Gesangs dahingehend, dass dadurch die der vǫlva selbst innewohnende spirituelle Kraft bzw. ihr Schutzgeist gebunden und verstärkt werden soll; vgl. Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 501–507. 168 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 139: „Varðlokkur syftar på den speciella sång, som användes för att återkalla den schamanerandes själ till den i extatisk utmattning liggande kroppen.“ 169 Vgl. Haid; Dillmann, Zauber, S. 864 sowie Dillmanns ausführliche Besprechung der entsprechenden Textstelle in Magiciens, S. 275–308, insbesondere 298 f.: „[. . .] pour ingénieuse et érudite qu’elle soit, l’interprétation par le „chamanisme“ du récit de l’Eiríks saga rauða que proposa le grand philologue et folkloriste suédois ne peut emporter l’adhésion. Comme les autres tentatives

2 Interaktionen menschlicher seiðr-Praktizierender mit der útgarðr-Sphäre

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Ich möchte mich Dillmanns Interpretation insoweit anschließen, dass innerhalb des seiðr-Rituals der Eiríks saga rauða eine Trance der vǫlva in der Tat nicht wirklich ersichtlich ist, jedoch den wichtigen Hinweis von Bo Almqvist aufgreifen, dass sowohl die Interaktion mit Geisterwesen als auch die Rückführung der Seele des in Trance geratenen Schamanen zentrale Züge des Schamanismus darstellen und somit unabhängig davon, welcher Interpretation des Begriffs varðlok(k)ur man den Vorzug gibt, durchaus Parallelen zwischen schamanistischen Praktiken und der Beschreibung des seiðr-Rituals in Eiríks saga rauða gezogen werden können.170 Darüber hinaus gilt es hinsichtlich der Interpretation der varðlok(k)ur zu beachten, dass im Text explizit erwähnt wird, dass durch diesen Gesang Geisterwesen, nämlich die náttúrur, angezogen und in wohlwollenden Zustand versetzt werden. Sie sind also möglicherweise die ‚Wächter‘ (s. den ersten Bestandteil des Kompositums) der Hofgemeinschaft und für deren Wohlergehen verantwortlich; ob sie nun durch den Zauber ‚angelockt‘ (-lokkur) bzw. – in etwas „martialischerer“ Vorgehensweise – ‚gebunden‘ (-lokur) werden sollen, spielt letztlich eine untergeordnetere Rolle. Angesichts einer der wichtigsten Hypothesen in Bezug auf die umstrittene Etymologie des Wortes seiðr, welche den Begriff zu an. sími ‚Band‘ stellt und ihn aufgrund seiner Verwendung in Kenningar zur Bezeichnung der Midgardschlange als ‚Band, Gürtel‘ interpretiert171, kann sowohl davon ausgegangen werden, dass die Geister mit Hilfe dieser Magieform attrahiert, als auch dass sie magisch gebunden werden sollen, handelt es sich doch insbesondere beim Heranziehen um eine typische Funktion des seiðr.172 Abschließend kann festgehalten werden, dass Þorbjǫrg in der seiðr-Episode der Eiríks saga rauða in der Tat als Mittlerin zwischen der Welt der Menschen und der Anderwelt fungiert. Offenbar ist wesentlicher Bestandteil dieses Vermittelns, dass die Seherin zuvor die Essenz der Hofgemeinschaft durch ihren Blick und den Verzehr der Tierherzen in sich aufgenommen hat und diese somit quasi als Medium innerhalb des seiðr-Rituals der Geisterwelt gegenüber repräsentieren kann. Mit Hilfe des Zaubergesanges varðlok(k)ur können im Zuge des seiðr-Rituals der útgarðr-Sphäre angehörige Geisterwesen angelockt und ihr Wohlwollen errungen werden, was letztlich eine positive Zukunft für die von Hungersnot geplagte Hofgemeinschaft sichert. Innerhalb dieser Episode überschreitet der divinatorische seiðr deutlich die Grenze von prädikativer zu effektiver Magie. similaires, elle a dû contourner le fait central: l’absence de toute mention d’une transe ou d’une léthargie au sujet de Þorbjǫrg lítil-vǫlva pendant l’acte de seiðr.“ 170 Vgl. Almqvist, I marginalen til Sejd, S. 264 f. 171 Vgl. Haid; Dillmann, Zauber, S. 859 sowie de Vries, Etym. Wörterbuch, S. 467 f. 172 Vgl. hierzu besonders auch Heide, Spinning seiðr, S. 164: „A straightforward etymology for seiðr could then be ‘snare, cord, string, halter’. The problem is what sense this would make. One suggestion has been that seiðr was about binding, but binding is not very characteristic of seiðr. However, with a cord one can not only bind but also attract things, and this is characteristic of seiðr [. . .]. In perhaps half of the prose sources, the effect of seiðr is that desired objects, persons or resources, like fish, are drawn to the sorcerer.“

VI seiðr im Kontext biographischer Schwellenerfahrungen 1 Vorbemerkungen Bislang konnten innerhalb der Darstellung der seiðr-Praktizierenden in den altnordischen Quellen erfolgreich liminale Elemente nachgewiesen sowie ein Agieren dieser Ritualspezialisten als Mittler und Grenzgänger zwischen miðgarðr- und útgarðr-Sphäre aufgezeigt werden. Diese Beobachtungen werden in den folgenden Abschnitten durch eine Untersuchung der Konnotation der Magieform seiðr mit Übergangserfahrungen und Schwellenzuständen ergänzt und vertieft. Dabei steht die Verbindung des seiðr mit den biographischen Schwellenerfahrungen Geburt, Adoleszenz bzw. Initiation und Tod im Fokus. Zugleich wird auch der Bezug der göttlichen seiðr-Praktizierenden Freyja und Óðinn mit den jeweiligen Themenbereichen erörtert. Nicht eigens in die Analyse mit einbezogen wird die Heirat als lebenszyklische Übergangserfahrung, da sich in der altnordischen Überlieferung kaum Konnotationen von seiðr mit diesem biographischen Ereignis finden1 und auch eine spezielle Assoziation der seiðr-praktizierenden Gottheiten mit diesem Thema nicht vorhanden ist2.

1 Einzig in der Kormáks saga, welche von der verhinderten Liebe zwischen dem Skalden Kormákr und Steingerðr handelt, besteht eine Verbindung zwischen seiðr und Heirat: Die seiðr-Praktizierende Þorveig spricht die folgenschwere Verwünschung aus, dass Kormákr niemals glücklich mit Steingerðr werden solle: „[. . .] þú skalt Steingerði aldri njóta.“ (Korm, Kap. 5, ÍF 8, S. 222) / „[. . .] du sollst Steingerðr niemals genießen können.“ In der Tat kommt eine Heirat zwischen dem Liebespaar nicht zustande, da Kormákr plötzlich das Interesse daran verliert, was der Sagaautor als Resultat von Þorveigs Fluch wertet: „Nú fara orð á milli þeira, ok verða í nǫkkurar greinir um fjárfar, ok svá veik við breytiliga, at síðan þessum ráðum var ráðit, fannsk Kormáki fátt um, en þat var fyrir þá sǫk, at Þórveig seiddi til, at þau skyldi eigi njótask mega.“ (Korm, Kap. 6, ÍF 8, S. 223) / „Nun werden Gespräche zwischen ihnen geführt und es gibt einige Meinungsverschiedenheiten über Vermögensangelegenheiten, und seltsamer Weise kam es so, dass, nachdem die Eheschließung vereinbart worden war, Kormákr wenig daran lag und das war aufgrund dessen, dass Þórveig durch Zauber [seiðr] bewirkt hatte, dass sie einander nie genießen können sollten.“ 2 Für Freyja kann zwar ein Bezug zum Thema Heirat durch ihre Eigenschaft als Liebesgöttin und Wanin hergestellt werden, es ist jedoch ihr Bruder Freyr, dem laut Adam von Bremen im Zusammenhang mit Eheschließungen geopfert wird. Vgl. Adam von Bremen, Hamburgische Kirchengeschichte, Lib. IV, Kap. 27, S. 259. https://doi.org/10.1515/9783110678772-006

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VI seiðr im Kontext biographischer Schwellenerfahrungen

2 Geburt 2.1 Episoden Obschon es auf den ersten Blick recht wenige Belege für eine Verbindung zwischen seiðr und der Geburt als biographischer Übergangserfahrung zu geben scheint, begegnet die Ausübung von seiðr in der altnordischen Literatur wiederholt im Kontext von Zeugungen exzeptioneller Helden. Auf diese Spur führt die einzige Stelle der Skaldendichtung, in welcher der Begriff seiðr erwähnt wird: Die Halbstrophe „seið Yggr til Rindar“3 der ca. im Jahr 960 zu Ehren des Ladejarls Sigurðr Hákonarson entstandenen Sigurðardrápa des Kormákr Ǫgmundarson. Hier wird auf eine mythologische Begebenheit angespielt, in der es Óðinn (= Yggr) mit Hilfe der Ausübung von seiðr gelingt, eine weibliche Gestalt namens Rindr zu vergewaltigen, um mit ihr den Rächer seines Sohnes Baldr zu zeugen. Anhand einiger Indizien kann erschlossen werden, dass es sich bei Rindr wohl um eine Riesin handeln dürfte: Obwohl sie nirgends eindeutig als solche bezeichnet wird, kann die übernatürliche Stärke ihres mit Óðinn gezeugten Sohnes Váli, der bereits im Alter von einer Nacht offenbar erwachsen und in der Lage ist, an Hǫðr Rache für die Tötung Baldrs zu nehmen4, als Hinweis auf dessen riesische Abstammung gewertet werden.5 Zudem könnte sich laut Schulz auch anhand der Positionierung Rindrs innerhalb der Aufzählung der Asinnen in der Gylfaginning folgern lassen, dass es sich bei ihr nicht um ein genuines Mitglied der Gruppe der Asen handelt: Die Nennung schließlich der Rindr wie auch der Jǫrð in Gylf. k.22 (36) ganz am Ende der Aufzählung der Asinnen, nach den Walküren und unmittelbar vor Gerðr – einer Riesin, die in die Asenschar aufgenommen wurde – könnte bestätigen, daß beide eben keine ‚gebürtigen Asinnen‘ waren, sondern sekundär hinzugezählt (talþar með asynium) wurden.6

3 Skáldsk 2, v12/4, Faulkes, Bd. 1, S. 9. 4 S. Bdr, Str. 11, Neckel; Kuhn, Edda, S. 278: „Rindr berr Vála í vestrsǫlum, / sá man Óðins sonr einnættr vega [. . .].“ / „Rind gebärt Wali in den Westsälen, / dieser Sohn Odins wird, eine Nacht alt, kämpfen [. . .].“ (Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 184). 5 Vgl. Schulz, Riesen, S. 74. 6 Ebd., S. 74 f. Gegen eine Identifizierung Rindrs als Riesin spricht laut Schulz die in Bdr Str. 11 getätigte Aussage, Rindr habe Váli í vestrsǫlum („in den Westsälen“) zur Welt gebracht, da der Westen – im Gegensatz zum Osten als Wohnsitz der Riesen – in der altnordischen Mythologie eindeutig zur Sphäre der Götter zu rechnen sei (vgl. Schulz, Riesen, S. 75, Anm. 192). Dies muss meines Erachtens aber nicht gegen eine ursprüngliche Zugehörigkeit Rindrs zu den Riesen sprechen, da es sich hierbei lediglich um den Ort handelt, an dem Rindr Váli gebiert, nicht jedoch um ihren Herkunftsort. Zwar wird damit Vális Geburtsstätte im Westen, also dem der im Osten lokalisierten Riesengebieten entgegengesetzten Bereich, situiert, dies dient jedoch – wie Schulz auch selbst anführt – in erster Linie dazu, Váli als zu den Göttern zugehörig zu kennzeichnen. Im Fall Rindrs ist die Verortung in den Westsälen eher Ausdruck ihrer mit einem Ortswechsel verbundene Statusänderung, welche das Resultat ihrer unfreiwilligen Verbindung mit Óðinn darstellt.

2 Geburt

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Nicht als Riesin, sondern als menschliche Prinzessin begegnet Rindr in Saxo Grammaticus’ um das Jahr 1200 in lateinischer Sprache verfasster Chronik Gesta Danorum. Wenngleich sie kaum noch etwas von dem ursprünglich zweifellos vorhandenen mythologischen Charakter der Episode bewahrt hat,7 gibt Saxos Paralleldarstellung genauer Aufschluss über Óðinns bzw. Othinus̕ Vorgehensweise bei der Zeugung des Rächers, als dessen Mutter in spe ihm ein finnischer Seher Rindr genannt hatte. Um die Prinzessin für sich zu gewinnen, zieht Óðinn/Othinus alle Register und bedient sich unterschiedlicher Identitäten. Es gelingt ihm jedoch weder durch kriegerische Großtaten noch durch meisterliche Schmiedekünste, Rindr für sich einzunehmen. Vielmehr weist die Prinzessin den hartnäckigen Werber vehement zurück, was sogar in körperlicher Gewaltausübung gipfelt: Dreimal versucht Óðinn/Othinus, seine widerspenstige Angebetete zu küssen, was sie jeweils mit einer Ohrfeige, Schlägen auf seine Ohren und zuletzt einem überraschend kräftigen Stoß abwehrt, welcher Óðinn/ Othinus zu Fall bringt.8 Aus Zorn über die Abweisung berührt Óðinn/Othinus Rindr mit einem „cortex carminibus adnotatus“9 („a piece of bark inscribed with spells“10), wodurch es ihm gelingt, sie „einer Wahnsinnigen gleich“ zu machen („lymphanti similem reddidit“11). Dieses Detail erinnert stark an den mit Runen versehenen gambanteinn (‚kostbarer (?) Zweig‘ / ‚Zauberzweig‘ (?))12 der Skírnismál, mittels

7 Vgl. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 2, S. 80. 8 Vgl. Saxonis Gesta Danorum. Recognoverunt et editerunt J. Olrik & H. Ræder. Tomus I. Textum continens. Hauniae, 1931, Lib. III, S. 70 f. Möglicherweise kann die ungewöhnliche physische Kraft der Prinzessin in den Gesta Danorum als Echo einer Zugehörigkeit Rindrs zu den für ihre Stärke bekannten Riesen gewertet werden? 9 Ebd., S. 71. 10 Übersetzung nach Saxo Grammaticus. The History of the Danes, Bd. 1: English Text. Translated by Peter Fisher. Edited by Hilda Ellis Davidson. Cambridge, New Jersey, 1979, S. 77. 11 Gesta Danorum, Lib. III, S. 71. 12 Das Wort gambanteinn kommt nur in den Skírnismál und den Hárbarðsljóð vor. Der zweite Bestandteil des Kompositums -teinn bedeutet ‚Zweig‘ oder ‚Trieb‘ und meint also einen Teil eines lebenden Baumes (vgl. Cleasby, Richard; Gudbrand Vigfusson: An Icelandic-English Dictionary. Second Edition with a Supplement by Sir William A. Craigie. Oxford, 1957, S. 672). Die Bedeutung des ersten Elementes ist hingegen unklar: Anzunehmen ist, dass gamban- in etwa ‚kostbar, kostspielig, prächtig‘ bedeutet; in der Lokasenna steht gambansumbl für ein Gastmahl der Götter (vgl. Cleasby; Vigfusson, Icelandic-English Dictionary, S. 188). Üblicherweise wird gamban- jedoch als „magische Potenz“ gedeutet; vgl. dazu de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 1, S. 320 sowie von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 126. Auf jeden Fall ist eindeutig, dass es sich bei dem gambanteinn um ein Zaubermittel, konkreter eine Art Zauberstab handeln muss. Aufgrund seiner Beschaffenheit könnte er in Zusammenhang mit dem bei Baum- und Fruchtbarkeitskulten oftmals anzutreffenden „Schlag mit der Lebensrute“ stehen, von dem man annahm, er könne die Lebenskraft junger Zweige auf den Geschlagenen übertragen (vgl. dazu Hoenn, Karl: Artemis. Gestaltwandel einer Göttin. Zürich, 1946, S. 35 und S. 183 (Anmerkung 23); Nilsson, Martin P.: Geschichte der griechischen Religion, Bd. 1. Die Religion Griechenlands bis auf die griechische Weltherrschaft. Zweite, durchgesehene und ergänzte Auflage. München, 1955 (Handbuch der Altertumswissenschaft 5:2.1), S. 487; de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte Bd. 1, S. 320; vgl. auch Kapitel VI 3.2 dieser Arbeit). Obwohl der Zweig in den Skírnismál wie auch das

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VI seiðr im Kontext biographischer Schwellenerfahrungen

dessen es Skírnir gelingt, die Riesin Gerðr gefügig zu machen.13 In den Hárbarðsljóð rühmt sich Óðinn selbst des Besitzes des gambanteinn, welchen er von dem Riesen Hlebarðr erhalten habe, den er anschließend – wohl mit Hilfe eben jenes Zweiges – um den Verstand gebracht habe („gaf hann mér gambantein, / en ek vélta hann ór viti“14 / „er gab mir den Zauberzweig / und ich brachte ihn mit Täuschung um den Verstand“). Der ‚Zauberzweig‘ dient sowohl hier als auch in den Skírnismál – genau wie das mit Zaubersprüchen versehene Stück Baumrinde in Saxos Version der Rindr-Episode – „als Willensbrecher, indem er Wahnsinn oder Sinnesverwirrung hervorruft“15. Allerdings führt der Einsatz des Runenholzes in den Gesta Danorum nicht unmittelbar dazu, dass Óðinn/Othinus sich Rindrs bemächtigen kann – der Gott muss erst noch zu einer letzten List greifen, um sein Ziel zu erreichen: Nachdem sämtliche Annäherungsversuche gescheitert sind, legt Óðinn/Othinus schließlich Frauenkleidung an und gibt sich als Heilkundige mit dem Namen Wecha aus. In dieser Verkleidung ist er in der Lage, sich Zugang zu der kranken Rindr zu verschaffen und sie unter dem Vorwand fesseln zu lassen, dass sie eine überaus bittere Medizin benötige, welche ihr nur auf diese Weise verabreicht werden könne. Durch diese List gelingt es Óðinn/Othinus letztlich, die wehrlose Rindr zu vergewaltigen und mit ihr den Rächer Baldrs zu zeugen: Qui quod muliebriter propemodum cultus esset, a plerisque femina credebatur. Ceterum se vocabulo Wecham, arte medicam testabatur [. . .]. Medicus namque, Veneris occasione sumpta, mutato curationis officio, prius ad exercendæ libidinis quam pellendæ valetudine usus, cuius inimicam sibi incolumitatem fuerat.16 Because he was dressed more or less like a woman, the majority imagined him to be one. He called himself Vecha and swore he was a female physician [. . .]. Her physician stopped attending on her and seized the opportunity to make love, rushing to wreak his lust before he dispelled her fever, and finding that where in sound health she had been antagonistic, he could now take advantage of her indisposition.17

Dass es sich bei Saxos Darstellung nicht nur um Anleihen bei einem „mittelalterlichen Novellenmotiv (der Werber in Frauenkleidern)“18, sondern um eine Bezugnahme auf eine mythologische Begebenheit höheren Alters handeln muss, lässt sich anhand der Korrespondenz mit Kormákrs Skaldenstrophe erschließen. In Saxos Zauberholz in Saxos Version der Rindr-Episode eher der Verwünschung dienen, sind beide doch in einen fruchtbarkeitsbezogenen Kontext eingebettet: Skírnir möchte Gerðrs Widerstand brechen, um die Riesin als Braut für Freyr zu gewinnen, während Óðinn sich Rindrs bemächtigen will, um mit ihr einen Sohn zu zeugen. 13 Vgl. Skm, Str. 32–37, Neckel; Kuhn, Edda, S. 75 f. 14 Hrbl, Str. 20, Neckel; Kuhn, Edda, S. 81. 15 Vgl. von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 203. 16 Gesta Danorum, Lib. III, S. 71 f. 17 Übersetzung nach Davidson; Fisher, Saxo, Bd. 1, S. 77 f. 18 De Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 2, S. 80, Anm. 1.

2 Geburt

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Version wird Óðinns/Othinus’ Verhalten von den anderen Göttern als moralisch untragbar bewertet und führt zu seiner Ächtung.19 Es ist davon auszugehen, dass nicht in erster Linie die Vergewaltigung Rindrs den eigentlichen Tabubruch innerhalb dieser Episode darstellt, sondern vielmehr der Auftritt des Gottes in Frauenkleidern. Diese eklatante Überschreitung der Geschlechternormen wird obendrein noch zur Initiierung des Geschlechtsaktes eingesetzt und bleibt wohl auch währenddessen in Teilen bestehen. Dass einige Personen gerade wegen Óðinns/Othinus̕ Täuschungsmanövern und seinem Agieren in weiblicher Rolle nicht mit der Entscheidung der Götter einverstanden sind, ihn nach Ablauf eines zehnjährigen Exils zu rehabilitieren, erhärtet die Vermutung, dass nicht die Vergewaltigung selbst, sondern das Cross-Dressing als Normverstoß abgelehnt wird: Iam enim superioris infamiæ notam medii temporis intervallum exederat. Existere tamen, qui ipsum recuperandæ dignitatis aditu indignum censerent, quod scænicis artibus et muliebris officii susceptione tæterrimum divini nominis opprobrium edidisset.20 By now the passage of time had rubbed away the brand of his past disgrace. There were some, however, who believed he did not deserve permission to be reinstated in his rank because, through actor’s tricks and women’s duties, he had brought the foulest of slurs to their reputation.21

Die Verbindung zwischen dem Götterfürsten und Rindr ist in Saxo Grammaticus’ Version also durch ein ganzes Konglomerat von nicht mit den Normen der Strukturgesellschaft konformen Aspekten wie dem Einsatz von Gewalt in sexuellem Kontext, Täuschung, Zauber und Cross-Dressing-Elementen durchzogen. Ähnliches kann auch für die dieser Episode zugrundeliegende mythologische Begebenheit angenommen werden, zumal gerade der Einsatz von seiðr, von dem Kormákrs Skaldenstrophe berichtet, in der altnordischen Überlieferung aufs Engste mit Transgression in Form des Überschreitens von Geschlechterkonventionen verbunden ist.22 In beiden Erzählvarianten führt somit ein von Grenzüberschreitungen geprägter Zeugungsakt zur Geburt von Baldrs Rächer, welcher zumindest in der mythologischen Version23 über exzeptionelle Kräfte und Fähigkeiten verfügt.

19 Gesta Danorum, Lib. III, S. 72: „At dii [. . .] Othinum variis maiestatis detrimentes divinitatis gloriam maculasse cernentes collegio suo submovendum duxerunt.“ / „Now the gods [. . .] perceived that Odin had tarnished the honour of his divinity by these various lapses from dignity and decided he should quit their fraternity.“ (Übersetzung nach Davidson; Fisher, Saxo, Bd. 1, S. 78). 20 Gesta Danorum, Lib. III, S. 72. 21 Übersetzung nach Davidson; Fisher, Saxo, Bd. 1, S. 78. 22 Die Episode wird unter diesem Gesichtspunkt in Kapitel VI 2.3 sowie insbesondere in Kapitel VIII 4.1.2 näher besprochen. 23 Die Gesta Danorum berichten zwar davon, dass ein Sohn namens Bo aus der Verbindung von Rindr und Othinus hervorgeht und es ihm gelingt, Rache an Balders Mörder zu nehmen, er verfügt jedoch offenbar über keinerlei herausragende bzw. übernatürliche Fähigkeiten. Vgl. Gesta Danorum, Lib. III, S. 73.

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Eine weitere Belegstelle erwähnt seiðr im Kontext eines mit einem Tabubruch behafteten Zeugungsaktes: In Kapitel 7 der Vǫlsunga saga wechselt Signý die Gestalt mit einer seiðkona, die daraufhin Signýs Platz im Bett ihres Mannes, König Siggeirs, einnimmt, während Signý selbst in Gestalt der seiðkona ihren Zwillingsbruder Sigmundr aufsucht. Dieser ergibt sich seinem Verlangen für die vermeintlich unbekannte Schöne und zeugt mit ihr einen Sohn, mit dessen Hilfe die wieder zurückverwandelte Signý sich an ihrem Mann Siggeir für die Ermordung der gesamten Völsungen-Familie zu rächen beabsichtigt: Þess er nu vid getid eitthvert sinn, þa er Signy sat i skemmu sinne, at þar kom til hennar ein seidkona fiolkunnig harla miok. Þa talar Signy vid hana: „Þat villda ek,“ segir hun, „at vid skiptum homum.“ Hun segir seidkonan: „Þu skallt fyrir rada.“ Ok nu giorir hun sva af sinum brogdum, at þer skipta litum, ok sezt seidkonan nu i rum Signyiar at radi hennar og féR i rekkiu hia konungi um kvelldit, ok ecki finnr hann, at eigi se Signy hia honum. Nu er þat fra Signyiu at segia, at hun féR til iardhuss brodurs sins ok bidr hann veita ser herbergi um nottina [. . .]. Nu féR hun i herbergi til hans, ok setiazt til matar. Honum vard opt litid til hennar, ok lizt konan vęn ok frid. Enn er þau eru mett, þa segir hann henni, at hann vill, at þau hafe eina reckiu um nottina, enn hun bryzt ecki vid þvi, ok leggr hann hana hia ser III nętr samt.24 Das wird nun berichtet, dass einmal, als Signý in ihrem Gemach saß, eine äußerst zauberkundige Zauberin [seiðkona] zu ihr kam. Da sagte Signý zu ihr: „Ich wollte“, sagt sie, „dass wir die Gestalt tauschen.“ Die Zauberin [seiðkona] sagt: „Du sollst darüber bestimmen.“ Und nun bringt sie es so mit ihren Zauberkünsten zustande, dass sie das Aussehen wechseln, und die Zauberin [seiðkona] setzt sich auf Signýs Rat hin auf deren Platz und geht am Abend mit dem König zu Bett, und er merkt nicht, dass nicht Signý bei ihm ist. Nun ist von Signý zu erzählen, dass sie zum Erdhaus ihres Bruders geht und ihn bittet, ihr Unterkunft für die Nacht zu gewähren [. . .]. Nun geht sie mit ihm in seine Wohnstätte und sie setzen sich zum Essen. Sein Blick fiel oft auf sie, und die Frau erschien ihm schön und stattlich. Und als sie satt sind, da sagt er ihr, dass er will, dass sie das Lager in der Nacht miteinander teilen, und sie widersetzt sich dem nicht, und er schläft insgesamt drei Nächte mit ihr.

Das „Produkt“ dieses durch Täuschung herbeigeführten Inzests ist Sinfjǫtli, in dem sich die herausragenden Eigenschaften der Völsungen potenzieren: Er kennt keinen Schmerz, besitzt eine Immunität gegen äußerlich angewandte Gifte25 und ist bereits in jungen Jahren in der Lage, alleine elf Männer zu töten26. Später vollzieht er, ganz wie Signý es sich erhofft hatte, unbeirrbar die Rache an König Siggeir, wobei er auch nicht davor haltmacht, die verbleibenden gemeinsamen Kinder Signýs und des Königs umzubringen.27 Wie auch im Falle Vális begründet also offenbar der bei seiner Zeugung in Form von Inzest begangene Tabubruch Sinfjǫtlis außergewöhn-

24 Vǫls, Kap. 7, STUAGNL 36, S. 13 f. 25 S. Vǫls, Kap. 7, STUAGNL 36, S. 15: „[. . .] Sinfiotla hlydde þat, at eitr kęmi utan a hann, en eigi hlyddi honum at eta þat ne drecka.“ / „[. . .] Sinfjǫtli ertrug es, dass Gift von außen her an ihn herankam, aber es war ihm weder möglich es zu essen noch es zu trinken.“ 26 Vgl. Vǫls, Kap. 8, STUAGNL 36, S. 16. 27 Vgl. Vǫls, Kap. 8, STUAGNL 36, S. 17 f.

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liche Fähigkeiten, denn gerade die Missachtung des praktisch universell verbreiteten Inzestverbotes unter rituellen Umständen hält nach weit verbreiteter Auffassung eine besondere Wirkmächtigkeit bereit und verleiht außerordentliche Kräfte28: Zur vollen Wirkungsmächtigkeit gehört ein „Über den Gesetzen Stehen“. Und dazu gehört auch die geschlechtliche Mischung der Nächstverwandten. Das ist durchaus gleichzustellen den betonten Obszönitäten im Ritual, dem rituellen Koitus, der rituellen Promiskuität usw. Und überall scheint nur der Grundgedanke maßgeblich zu sein, daß diese höhere Macht nur gewonnen werden kann durch die Magie des doppelten Geschlechtes im Menschen, das Zusammenlegen beider Geschlechtspotenzen nicht in der gegebenen sozialen Ordnung, sondern in der alle Maße überschreitenden Zersprengung der Banden einer Gesellschaft.29

Ähnlich wie bei der Verbindung zwischen Rindr und Óðinn sind auch die Ereignisse rund um Sinfjǫtlis Zeugung mit dem Einsatz von Gewalt verbunden, die sich vor allem im Zuge von Signýs radikaler Fokussierung auf die Rache an Siggeir manifestiert: Um ihr Ziel zu erreichen, betrachtet sie die gemeinsam mit dem König gezeugten Söhne lediglich als Waffen und Mittel zum Zweck und scheut – allen gesellschaftlichen Normanforderungen an mütterliches Verhalten widersprechend – beim Testen ihrer Tapferkeit nicht davor zurück, ihren Söhnen Schmerzen zuzufügen30 und bei „Versagen“ deren Tötung zu befehlen, welche Sigmundr in seiner Schwester kaum nachstehender Härte vollstreckt.31 Darüber hinaus wird die Zeugung Sinfjǫtlis durch eine Täuschung herbeigeführt, ebenso wie auch die Zeugung von Baldrs Rächer nur durch Óðinns List und das Vorgeben einer anderen Identität initiiert werden kann. Wenn also in der altnordischen Überlieferung seiðr-Episoden im Kontext der Geburt vorkommen, so sind damit stets Tabubrüche verbunden, welche bestehende soziale Normen aufs Schärfste in Frage stellen: Brutalität, Vergewaltigung, Kindstötung, Inzest, Cross-Dressing, Zauber, Täuschung und das Vorgeben falscher Identitäten. Den „Gewinn“ aus diesen mehrheitlich sehr drastischen Transgressionen stellt die Aktivierung außerordentlicher Fähigkeiten und großen Machtpotentials bei denjenigen Helden dar, die im Zuge einer derartigen Missachtung aller Konventionen gezeugt wurden. Gerade diese Außeralltäglichkeit, das „außergewöhnliche Handeln“32, ist wiederum typisch für die Fürsten- und Kriegeraristokratie der Heldensage, welche eigenen Verhaltensregeln folgt, „die mit den volkstümlichen Regeln des Rechts und

28 So z. B. schamanistische Kräfte, vgl. Baumann, Herrmann: Das doppelte Geschlecht. Ethnologische Studien zur Bisexualität in Ritus und Mythos. Berlin, 1955, S. 75 f. 29 Ebd., S. 76. 30 In Kapitel 7 der Vǫlsunga saga wird davon berichtet, dass Signý ihren Söhnen zur Erprobung von deren Schmerzempfindlichkeit und Tapferkeit die Ärmel am Handgelenk festgenäht hatte, ehe sie sie jeweils zu Sigmundr schickte. Einzig Sinfjǫtli kann diesen Test mit stoischem Gleichmut bestehen. (Vgl. Vǫls, Kap. 7, STUAGNL 36, S. 14). 31 Vgl. Vǫls, Kap. 6, STUAGNL 36, S. 13. 32 von See, Klaus: Germanische Heldensage. Stoffe, Probleme, Methoden. Eine Einführung von Klaus von See. 2., unveränderte Auflage. Wiesbaden, 1981, S. 171.

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der Moral in Konflikt geraten können und sie gelegentlich außer Kraft setzen“33. Kein Wunder also, dass gerade die Zeugung außergewöhnlicher Rächer wie Váli und Sinfjǫtli mit derartigen Tabubrüchen konnotiert wird – ein deutlicher Hinweis darauf, dass auch die Ausübung von seiðr in der altnordischen Überlieferung mit einem hohen Transgressionspotential assoziiert wurde.

2.2 Freyja Wie für eine Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin zu erwarten, handelt es sich bei der Geburt um einen Themenbereich, der stark mit Freyja assoziiert ist. So konnte die Göttin den altnordischen Quellen zufolge offenbar im Kontext des Geburtsvorgangs um Beistand angerufen werden: Im eddischen Oddrúnargrátr erbittet Borgný nach der Entbindung ihrer Kinder die Hilfe Freyjas und Friggs für Oddrún – in diesem um 1200 entstandenen Heldenlied34 eine Schwester Atlis –, die ihr wiederum mit Zaubersprüchen bei der schwierigen Geburt ihrer Kinder zur Seite gestanden hatte. Da Oddrúns Kummer aus ihrer tragischen Liebe zu Gunnarr und dem Verlust ihres Geliebten durch dessen Tod in der Schlangengrube erwächst, werden Frigg und Freyja hier allerdings wohl in erster Linie in ihrer Funktion als Liebesgöttinnen35 und nicht als Geburtshelferinnen erwähnt. Die oftmals anzutreffende Interpretation, nach welcher die beiden Göttinnen im Oddrúnargrátr direkt um ihren Beistand für die Gebärende angerufen würden,36 ist bei näherer Betrachtung des Textes nicht korrekt, da es Borgný ist, welche nach der erfolgreichen Entbindung voller Dankbarkeit den Schutz Friggs und Freyjas für ihre Geburtshelferin Oddrún erfleht und nicht umgekehrt Oddrún selbst, welche die Göttinnen um Hilfe für die werdende Mutter Borgný beim Gebärvorgang anruft: Knátti mær oc mǫgr born þau in blíðo

moldveg sporna við bana Hǫgna;

33 Ebd. 34 Vgl Simek; Pálsson, Lexikon der altnordischen Literatur, S. 285. 35 Zu Frigg als Liebesgöttin s. z. B. Böldl, Götter und Mythen, S. 264: „Als Göttin der Liebe wurde Frigg bereits in der Spätantike mit Venus identifiziert, wie sich an unserem Wochentagsnamen < Freitag > (althochdeutsch < frîatac > für lateinisch dies Veneris) zeigt; so hat man den Namen der Göttin auch mit dem altindischen Wort prija, das „Geliebte“, aber auch „Ehefrau“ bedeutet, in Verbindung gebracht.“ 36 So z. B. Kreutzer, Gert: Kindheit und Jugend in der altnordischen Literatur, Teil I: Schwangerschaft, Geburt und früheste Kindheit. Münster, 1997 (Münstersche Beiträge zur Deutschen und Nordischen Philologie, 2), S. 117 f.: „Das eigentliche Wirkungsmittel Oddruns sind aber wiederum kräftige Zaubersprüche, die sich hier u. a. an die Göttinnen Frigg und Freyja richten [. . .].“ Ähnlich auch bereits de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 2, S. 311: „Frigg und Freyja sollen die Kreißenden um Hilfe anrufen (Oddr 9), hier zeigt die Göttin ihre Macht in der Stunde der Geburt.“

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þat nam at mæla svá at hon ecci qvað ‘Svá hiálpi þér Frigg oc Freyja sem þú feldir mér

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mær fiorsiúca orð iþ fyrra: hollar vættir, oc fleiri goð, fár af hǫndum.’37

Eine Maid und ein Knabe konnten den Erdweg beschreiten, die lieblichen Kinder von Högnis Töter; da begann die schwer kranke Frau zu sprechen, so sagte sie das erste Wort: „So mögen dir helfen huldvolle Wesen, Frigg und Freyja und weitere Götter, wie du die Not von mir nahmst.“38

Auch wenn es also eher Oddrúns Liebesleid ist, bei dem Frigg und Freyja ihren Beistand gewähren sollen, bildet natürlich die Geburtshilfe den Erzählrahmen des Oddrúnargrátr, weswegen die Anrufung der beiden Göttinnen in diesem Textzeugnis letztlich dennoch zumindest im Kontext der Geburt erfolgt. Zuverlässiger kann Freyjas Verbindung zu Geburt und Geburtshilfe anhand der Funktion ihres charakteristischen Schmuckstückes, des Brísingamen, erschlossen werden. Etymologisch ist die Bezeichnung des Kleinods wohl zu an. brísingr ‚Feuer‘ und norweg. brisa ‚leuchten‘, ‚glänzen‘, ‚flammen‘ zu stellen.39 In der tradierten Form bedeutet sein Name ‚Halsschmuck der Brisinge‘, wobei allerdings nicht klar wird, um wen es sich bei den Brisingen (Brísingar) eigentlich handelt40 – immerhin jedoch ist der Begriff anhand des Suffix -inga als Stammesbezeichnung identifizierbar.41 In der Regel wird das Brísingamen als ein um den Hals getragenes Schmuckstück interpretiert. Eindeutig als ein solcher Hals- bzw. Brustschmuck erkennbar ist das sicherlich mit dem Brísingamen gleichzusetzende gullmen des aus dem späten 14. Jahrhundert stammenden Sǫrla þáttr, welches Loki Freyja entwendet, indem er sich in einen Floh verwandelt und die schlafende Göttin in die Wange sticht. Als sie sich daraufhin umdreht, ist Loki in der Lage, den Verschluss des Geschmeides zu öffnen und es an sich zu nehmen.42

37 Od, Str. 8–9, Neckel; Kuhn, Edda, S. 235. 38 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 407. 39 Vgl. Klingenberg, Heinz: Art. „Brisingamen“, in: RGA, Bd. 3. Berlin, New York, 1978, S. 464; Heizmann, Freyja, S. 284; von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 544 f.; Simek, Lexikon der germanischen Mythologie, S. 61; de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 2, S. 311 f. 40 Vgl. Heizmann, Freyja, S. 283. 41 Vgl. von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 544. Im altenglischen Beowulf (v. 1199) wird ebenfalls ein Halsschmuck namens Brōsinga mene erwähnt (vgl. ebd.). 42 Vgl. Sǫrla, Flat, Bd. 1, S. 276.

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Der hier angesprochene Mythos vom Raub des Brísingamen reicht bis in die heidnische Zeit zurück,43 denn offenkundig nimmt bereits der Skalde Þjóðólfr ór Hvíni darauf Bezug, wenn er in seiner im 9. Jahrhundert verfassten Haustlǫng Loki mit der Kenning Brísings girðiþjófr (‚Dieb von Brísingrs Gürtel‘)44 bezeichnet. In diesem frühen Zeugnis wird Freyjas berühmtes Schmuckstück jedoch offensichtlich nicht als ein Halsgeschmeide, sondern vielmehr als Gürtel verstanden (an. girði, ‚Gurt‘, ‚Gürtel‘)45. Noch ein weiteres skaldisches Zeugnis überliefert den Mythos vom Diebstahl des Brísingamen: In dem um 983 entstandenen Gedicht Húsdrápa beschreibt der Skalde Ulfr Uggason in einer schwer zu interpretierenden Strophe eine holzgeschnitzte Darstellung in der Halle des Óláfr pái, welche den Kampf Lokis mit dem Gott Heimdallr um Freyjas Kleinod abbildet: Ráðgegninn bregðr ragna rein at Singasteini frægr við firna slœgjan Fárbauta mǫg vári; móðǫflugr ræðr mœðra mǫgr hafnýra fǫgru, kynnik, áðr ok einnar átta, mærðar þǫttum.46 Der ratkluge, berühmte Grenzwächter der Götter [Heimdallr] kämpft mit Fárbautis überaus gerissenem Sohn [Loki] beim Singasteinn [eine Schäre]. Dann aber besitzt der mutig-kraftvolle Sohn von acht Müttern und einer [Heimdallr] die schöne Meerniere [das Brísingamen]. Das tue ich in Abschnitten des Gedichtes kund.47

Auf ebendiese Episode bezieht sich Snorri in den Skáldskaparmál, wenn er die Möglichkeiten aufzählt, Heimdallr poetisch zu umschreiben: Hvernig skal Heimdall kenna? Svá at kalla hann son níu mœðra, [. . .] Lóka dólg, mensœkir Freyju. Hann er ok tilsœkir Vágaskérs ok Singasteins; þá deildi hann við Loka um Brísingamen.48 Wie soll man Heimdallr umschreiben? So, dass man ihn Sohn von neun Müttern nennt, [. . .] Feind Lokis, Sucher von Freyjas Halsschmuck. Er ist auch der Besucher der Vágaskér und des Singasteinns; da stritt er sich mit Loki um das Brísingamen.

43 Vgl. Heizmann, Freyja, S. 286. 44 Haustl 9, Skj Bd. B I, S. 16. 45 Vgl. Sveinbjörn Egilsson, Lexicon poeticum, S. 183. 46 Húsdr 2, Skj Bd. B I, S. 128. 47 Übersetzung nach Heizmann, Wilhelm: „Der Raub des Brísingamen, oder: Worum geht es in Húsdrápa 2?“, in: Heizmann, Wilhelm; Böldl, Klaus; Beck, Heinrich (Hgg.): Analecta Septentrionalia. Beiträge zur nordgermanischen Literatur und Kulturgeschichte. Berlin, New York, 2009 (Ergänzungsbände zum RGA, 65), S. 521. Sebastian Cöllen bestätigt diese Übersetzung mit kleineren Korrekturen in seiner Monographie Heimdallr − der rätselhafte Gott; vgl. Cöllen, Heimdallr, S. 118 ff. 48 Skáldsk 8, Faulkes, Bd. 1, S. 19.

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Snorri berichtet weiter, die beiden Kontrahenten seien in Gestalt von Seehunden gegeneinander angetreten („þeir váru í sela líkjum“49) was in den Strophen der Húsdrápa jedoch keine Erwähnung findet. Zweifellos fasst Snorri den Singasteinn der Skaldenstrophen als den Ort der Auseinandersetzung auf, weswegen das Objekt, um welches die beiden Götter kämpfen, nurmehr die hafnýra, die ‚Meerniere‘ sein kann. Der Begriff hafnýra kann zum einen als Kenning für ‚Stein‘ oder ‚Klippe‘ verwendet werden,50 steht jedoch womöglich an dieser Stelle in konkreterem Sinne für die Früchte und Samen westindischer Pflanzen, welche der Golfstrom bisweilen an die Küsten Europas und Skandinaviens führt. Diese rotbraunen, nierenförmigen Früchte bzw. Samen wurden auf den Färöern und in Norwegen vettenyrer (‚Wichtnieren‘) bzw. søbønner (‚Seebohnen‘) genannt. Von größtem Interesse für den vorliegenden Kontext ist ihr Einsatz in der Volksmedizin: Als Amulette verwendet sollten sie die Geburt erleichtern und wurden zu diesem Zweck einer Gebärenden an die Hüfte oder die Oberschenkel gebunden, weswegen man diese ‚Meernieren‘ auch als løsningsstene (isl. lausnarsteinar); ‚Geburtssteine‘ bezeichnete.51 Wenn Snorri nun also die hafnýra der Húsdrápa mit dem Brísingamen Freyjas identifiziert, bedeutet dies, dass Freyjas Kleinod als ein Geburtsamulett zu interpretieren ist, welches – wie auch die Bezeichnung Lokis als Brísings girðiþjófr in der Haustlǫng nahelegt – an einem Gürtel um die Hüften getragen wurde. Aufgrund des Alters der skaldischen Belege könnte es sich bei dieser Überlieferungsvariante – „das Brísingamen als an einem Gürtel getragenes Geburtsamulett“ bzw. „das Brísingamen als Gürtel, an dem Geburtssteine befestigt waren“52 – sogar um die ursprünglichere Erscheinungsform von Freyjas Kleinod handeln, was jedoch freilich nicht mit Gewissheit zu entscheiden ist.53 In jedem Fall kündet der Besitz eines derartig mit Regeneration konnotierten Schmuckstückes von Freyjas enger

49 Ebd. 50 Vgl. Sveinbjörn Egilsson, Lexicon poeticum, S. 219. 51 Vgl. hierzu Pering, Birger: Heimdall. Religionsgeschichtliche Untersuchungen zum Verständnis der altnordischen Götterwelt. Lund, 1941, S. 217 ff.; de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 2., S. 260; Klingenberg, Brisingamen, S. 464 f.; Heizmann, Freyja, S. 288 f.; Näsström, Britt-Mari: Freyja – the Great Goddess of the North. Lund, 1995 (Lund Studies in History of Religions, 5), S. 184. 52 Vgl. Heizmann, Freyja, S. 289. 53 Ganz abgesehen davon, dass es immer problematisch ist, eine Überlieferungsvariante einer anderen als die „ursprünglichere“ vorzuziehen, muss sich letztlich die Beschreibung des Brísingamen als Brustschmuck oder Gürtel nicht so stark widersprechen, wie dies für den modernen Rezipienten zunächst den Anschein haben mag: Verschiedene antike Götterstandbilder zeigen Tragevarianten, bei denen ein Gürtel über der Brust verläuft. So trägt beispielsweise die Göttin auf der späthellenistischen Marmorstatuette der Artemis Kindyas von Bargylia „ein auf der Brust gekreuztes Band, dessen Mittelpunkt mit einer runden ‚Brosche‘ oder einer Fibel geschmückt ist“ (Schopphoff, Claudia: Der Gürtel. Funktion und Symbolik eines Kleidungsstücks in Antike und Mittelalter. Köln, Weimar, Wien, 2009 (Pictura et Poesis, 27), S. 144), wobei „die Enden rechts und links der Taille vorbei nach hinten geführt und verknotet“ (ebd.) sind. Inwieweit solche Tragevarianten auch die literarischen Beschreibungen von Freyjas charakteristischem Schmuckstück in den altnordischen Quellen beeinflusst haben könnten, lässt sich

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Verbindung mit dem Bereich Geburtshilfe und Geburtsmagie. Dies gilt umso mehr für die Überlieferungsvariante, welche das Brísingamen als Gürtel anspricht: Gerade der Gürtel – „als sexuelles Reizmittel sowie als Jungfräulichkeit implizierender Gegenstand“54 ein durchaus ambivalentes Symbol – ist nicht nur ein weit verbreitetes Attribut verschiedener Liebesgöttinnen55 und wäre somit eine äußerst passende Erscheinungsform von Freyjas Regenerationskleinod, sondern spielt zudem eine wichtige Rolle im Bereich der Geburtsmagie. So wurde in Griechenland die Göttin Artemis unter dem Beinamen Eileithyia als „Lösende“ oder „den Gürtel Lösende“ um ihren Beistand für Schwangere angerufen; in Athen lösten die Frauen bei der ersten Geburt den Gürtel und weihten ihn im Tempel der Artemis.56 Beides verweist auf die Funktion des Gürtels bei Analogiezaubern, welche die Geburt erleichtern sollten: Das Lösen des Gürtels – wobei der Gebärenden oftmals in Versinnbildlichung des Zeugungsaktes der Gürtel des Mannes angelegt und wieder geöffnet bzw. ihr Gürtel durch den Mann gelöst wurde57 – sowie generell das Öffnen von allem Verknotetem im Haus sowie der Haare der Kreißenden58 sollte gemäß bis in die Neuzeit verbreitetem Volksglauben59 dem Kind ermöglichen, ungehindert zur Welt zu kommen; also im wahrsten Sinne des Wortes leichter „ent-bunden“ werden zu können. Diese Vorstellungen sind auch in der altnordischen Literatur anzutreffen: So kann im eingangs besprochenen Oddrúnargrátr das von Oddrún bei ihrer Ankunft vorgenommene schnelle Lösen des Sattels („svipti hon sǫðli“60) möglicherweise als „lösendes Sympathiemittel“61 gedeutet werden. Eine besondere Rolle im Kontext der Geburtsmagie kommt einem Gürtel im Óláfs þáttr Geirstaðaálfs zu: In diesem in der FlateyjarbókVersion der Óláfs saga hins helga überlieferten Text ist nur mit Hilfe eines Gürtels aus dem Grabhügel des nach glücklicher Herrschaft in Geirstaðr begrabenen Königs Óláfr Guðrøðarson die Geburt des König Óláfr inn helgi überhaupt möglich, da dessen Mutter ohne diese „Reliquie“ nicht in der Lage ist, ihr Kind zu entbinden.62 Es ist sicherlich natürlich nicht sagen, jedoch weitet es den Blick dafür, dass ‚Gürtel‘ und ‚Brustschmuck‘ zumindest in der antiken Vorstellungswelt durchaus etwas miteinander gemein haben konnten. 54 Schopphoff, Gürtel, S. 142. 55 Am bekanntesten ist sicherlich der Gürtel der Aphrodite bzw. Venus. Der Gürtel ist u. a. auch ein charakteristisches Attribut der phönikisch-syrischen Göttin Astarte, welche oftmals nur mit einem Schleier und Gürtel bekleidet dargestellt wurde (vgl. dazu Schopphoff, Gürtel, S. 142). 56 Vgl. Schopphoff, Gürtel, S. 128; Jungbauer, Gustav: Art. „Gürtel“, in: HdA, Bd. 3. Berlin, Leipzig, 1931, Sp. 1210–1230, besonders Sp. 1218; Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, Bd. 1, S. 494 f.; Heizmann, Freyja, S. 289. 57 Vgl. Jungbauer, Gürtel, Sp. 1217 f. sowie Schopphoff, Gürtel, S. 211. 58 Vgl. Strerath-Bolz, Ulrike: Art. „Geburt und Geburtshilfe“, in: RGA, Bd. 10. Berlin, New York, 1998, S. 517 sowie Schopphoff, Gürtel, S. 128 und S. 211 f. 59 Vgl. Jungbauer, Gürtel, Sp. 1219 f. 60 Od, Str. 3, Neckel; Kuhn, Edda, S. 234. 61 Kreutzer, Kindheit und Jugend, S. 117. 62 Vgl. Egeler, Matthias: Celtic Influences in Germanic Religion. A Survey. München, 2013 (Münchner Nordistische Studien, 15), S. 67. Die in der Flateyjarbók bewahrte Version der Óláfs saga hins

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kein Zufall, dass gerade dem aus dem Grab des Óláfr Geirstaðaálfrs stammenden Gürtel eine derartige Wirkmächtigkeit zugeschrieben wird, denn der legendäre König steht in besonderem Bezug zur Fruchtbarkeit: Nach seinem Tod opfert die Bevölkerung an seinem Grabhügel, um dadurch Prosperität für das Land zu erlangen.63 Sein Beiname sowie die an seinem Grabmal verrichteten Opferhandlungen verbinden den König eng mit den Alben, Kollektivwesen der niederen Mythologie, welche mit Fruchtbarkeit sowie mit Totenkult und Ahnengeistern assoziiert wurden.64 Die in diesem Kapitel vorgestellten Belege haben Freyjas Bezug zum Bereich der Geburt und der Geburtsmagie veranschaulicht. Dabei rückt insbesondere die in der Skaldik anzutreffende Beschreibung ihres Regenerationskleinods als Gürtel Freyja in die Nähe der aus dem mediterranen Raum bekannten „gürtellösenden“, bei der Geburt helfenden Göttinnen. Neben ihrer in der altnordischen Überlieferung betonten Rolle als sexuell freizügige Liebesgöttin scheint Freyja womöglich stärker als Geburtshelferin verehrt worden zu sein, als es die auf uns gekommenen Texte abbilden. Dies lässt sich auch anhand von Freyjas Bezug zum Kollektiv der Disen erkennen, aus welchem sie allein als vanadís herausgelöst wird, da die Disen (wie auch die Nornen) als Geburtshelferinnen angerufen wurden.65 Wie die mit

helga deutet zudem an, dass Óláfr der Heilige der wiedergeborene König Óláfr Geirstaðaálfr ist, was natürlich die Regenerationsthematik dieser Episode ungleich verstärken und erklären würde, wieso einzig der Gürtel aus dem Grabhügel des Óláfr Geirstaðaálfr die Geburt König Óláfrs des Heiligen in die Wege leiten kann. Vgl. dazu Egeler, Celtic Influences, S. 67 f. Vgl. zur Gürtel-Episode des Óláfs þáttr Geirstaðaálfs auch Heizmann, Wilhelm: „Die heiligen Wikingerkönige: Norwegische Königsbiographien der Missionszeit im Spannungsfeld zwischen Heiligenvita, Heldensage und Heidentum“, in: Hammer, Andreas; Seidl, Stephanie (Hgg.): Helden und Heilige. Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters. Heidelberg, 2010, S. 111 f. 63 „Óláfs þáttr Geirstaðaálfs“, in: Guðbrandur Vigfússon; Unger, C. R. (Hgg.): Flateyjarbók: En Samling af norske Konge-Sagaer med indskudte mindre Fortællinger om Begivenheder i og udenfor Norge samt Annaler. Bd. 2, Christiania, 1862, S. 7: „var þa þat rad tekit at þeir blotudu Olaf konung til árs ser ok kolludu hann Geirstada alf.“ / „da wurde der Beschluss gefasst, dass sie König Óláfr für ein gutes Jahr für sich opferten und sie nannten ihn ‚Albe von Geirstaðir‘.“ 64 Zudem stehen die Alben in Verbindung mit dem Gott Freyr – und somit zum Göttergeschlecht der Wanen –, welcher den Grímnismál zufolge den Ort Álfheimr von den Göttern als Zahngeschenk erhielt: „Álfheim Frey / gáfo í árdaga / tívar at tannfé“ / „Albenheim gaben Freyr in Urtagen / die Götter als Zahngabe“ (s. Grm, Str. 5, Neckel; Kuhn, Edda, S. 58; Übersetzung nach Krause, Götterund Heldenlieder, S. 96). 65 S. Kapitel V 1.5 der vorliegenden Arbeit. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit insbesondere mit den Nornen ist es verlockend, eine Funktion der vǫlur als Geburtshelferinnen anzunehmen und diese ebenfalls als Beweis für die Verbindung von seiðr mit dem Themenbereich der Geburt heranzuziehen. Es gibt jedoch keine altnordische Textpassage, in welcher seiðr im Kontext von Geburtshilfe oder Geburtsmagie erwähnt wird. Simone Horst nennt zudem nur ein Beispiel, in dem eine vǫlva nicht nur die Zukunft eines Neugeborenen vorhersagt, sondern tatsächlich auch Geburtshilfe leistet (auch hier ohne dass der Begriff seiðr erwähnt würde): Es handelt sich dabei um die Ambalés saga, eine Ende des 17. Jh.s. entstandene isländische Version des Hamlet-Stoffes (vgl. Simek; Pálsson, Lexikon der altnordischen Literatur, S. 10), also um ein äußerst junges Zeugnis (vgl. Horst, völva, S. 42 f.).

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ihr assoziierten Kollektivwesen vereint auch Freyja die Macht über Leben und Tod und somit über das Schicksal der Menschen. Möglicherweise besteht hier eine Parallele zu der griechischen Aphrodite, welche in Athen die älteste der Moiren genannt wurde66 – also die älteste der Schicksalsgöttinnen, welche bei der Geburt eines Menschen erscheinen. Könnte folglich auch Freyjas Bezeichnung als vanadís in diesem Sinne verstanden werden?

2.3 Óðinn Obschon Óðinns Verbindung zum Themengebiet der Geburt auf den ersten Blick nicht besonders stark ausgeprägt zu sein scheint, verfügt der Götterfürst durchaus über lebensspendende Aspekte. Hiervon zeugt beispielsweise das in seinem Besitz befindliche Regenerationskleinod Draupnir; sie manifestieren sich jedoch auch in seiner Funktion als göttlicher Heiler.67 Óðinns Agieren als Heilkundiger und die Zeugung eines Nachkommen treffen in verzerrter Form in der bereits in Kapitel VI 2.1 besprochenen Rindr-Episode der Gesta Danorum zusammen, in welcher sich der Gott als Ärztin ausgibt, um ein Kind mit Rindr zeugen zu können. Es konnte bereits konstatiert werden, dass dieser Zeugungsakt mit Tabubrüchen in Form von CrossDressing – also einer Überschreitung der Geschlechternormen – Brutalität, Täuschung und Vergewaltigung verbunden ist. Die Snorra Edda berichtet indessen von einem weiteren Normverstoß, den Óðinn im Zusammenhang mit der Zeugung eines Nachkommen begeht, nämlich einer inzestuösen Verbindung mit Jǫrð, der personifizierten Erde, welcher der Gott Þórr entspringt: „Jǫrðin var dóttir hans ok kona hans. Af henni gerði hann fyrsta soninn, en þat er Ásaþórr.“68 / „Jǫrð war seine Tocher und seine Frau. Mit ihr zeugte er seinen ersten Sohn, und das war Ásaþórr.“69 Óðinns Zeugungskraft wird in der altnordischen Überlieferung also offenbar oftmals mit der Überschreitung eines limen assoziiert, wodurch außergewöhnliches Potential bei den aus diesen Zeugungsakten hervorgehenden Nachkommen freigesetzt wird. Zudem wird die lebensspendende Funktion Óðinns auch anhand seiner Rolle bei der Weltschöpfung und der Entstehung der Menschen greifbar: Der Gylfaginning zufolge setzen der Gott und seine Brüder Vili und Vé in einer primordialen Vorzeit durch die Tötung und Zerstückelung des Urriesen Ymir die eigentliche Weltschöpfung in Gang, indem sie aus dessen Körperteilen das Universum erschaffen.70 Auch die Schöpfung des ersten Menschenpaares erfolgt laut Snorris Gylfaginning durch die-

66 S. Nilsson, Griechische Religion, Bd. 1, S. 524. 67 Vgl. zu diesem Aspekt Kapitel VII 2.3.1. 68 Gylf 9, Faulkes, SnE, S. 13. 69 Interessanterweise steht dies völlig im Widerspruch zu Snorris Aussage in der Ynglinga saga, dass die Asen den bei den Wanen gebräuchlichen Inzest ablehnen (vgl. Hkr I, Yngl saga, Kap. 4, ÍF 26, S. 13). 70 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 105.

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selbe Brüdertrias, während Óðinn der Vǫluspá71 zufolge gemeinsam mit zwei anderen Gottheiten namens Lóðurr und Hœnir die ersten Menschen zum Leben erweckt. Dementsprechend trägt Óðinn laut Snorra Edda den Namen Alfǫðr (‚Vater aller‘):72 Ok fyrir því má hann heita Alfǫðr at hann er faðir allra goðanna ok manna ok alls þess er af honum ok hans krapti var fullgert.73 Und daher kann er Allvater genannt werden, weil er der Vater aller Götter und Menschen und all dessen ist, was von ihm und durch seine Kraft vollendet wurde.

Als göttlicher Patriarch wurde Óðinn insbesondere von der Fürsten- und Kriegeraristokratie verehrt: Mehrere Völker und Fürstenhäuser führen ihre Abstammung auf Óðinn/Wotan als Urahn zurück, was als eine weitere Verbindung des Gottes zum Bereich der Geburt interpretiert werden kann. Dazu zählen u. a. die Goten, welche laut der in der Mitte des 6. Jahrhunderts entstandenen Getica des Jordanes eine Gestalt namens Gapt als ihren Urahn beanspruchen, deren Name in der Forschung als Variante des vielfach bezeugten Ódinsnamens Gautr betrachtet wird und die somit als Óðinn identifiziert werden kann.74 Auch Hengist und Horsa, die legendären Gründer der englischen Nation, stammen gemäß der auf das erste Drittel des 8. Jahrhunderts datierten Historia ecclesiastica gentis Anglorum des Beda Venerabilis von Uoden ab.75 Daneben fungiert Óðinn als Ahnherr der dänischen Skjöldungen und der norwegischen Ladejarle und zahlreiche in der Anglosaxon Chronicle überlieferte Königslisten nennen Woden als göttlichen Stammvater.76 Nicht zuletzt ist Óðinn auch der Urahn und Beschützer des Völsungengeschlechts: Von Sigi, dem Ersten in der Ahnenreihe der Völsungen, heisst es laut Vǫlsunga saga, er sei der Sohn Óðinns gewesen.77 Der namensgebende Stammherr des Geschlechtes, Vǫlsungr, verdankt seine Existenz sogar einem von Óðinn an seine Mutter gesandten Apfel, durch dessen Genuss diese schwanger wurde78 – das Übersenden des Apfels kann hier also als geburtsmagisches Wirken Óðinns interpretiert werden.

71 S. Vsp, Str. 17 und 18, Neckel; Kuhn, Edda, S. 4 f. 72 Vgl. hierzu Turville-Petre, Myth and Religion, S. 55. 73 Gylf 9, Faulkes, SnE, S. 13. 74 Vgl. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 2, S. 41 f. 75 S. Bede’s Ecclesiastical History of the English People. Edited by Bertram Colgrave and R.A.B. Mynors. Oxford, 1969, Lib. I, S. 50: „Erant autem filii Uictgisli, / cuius pater Uitta, cuius pater Uecta, cuius pater Uoden, de cuius stripe multarum prouinciarum regium genus originem duxit.“ / „They were the sons of Wihtgisl, son of Witta, son of Wecta, son of Woden, from whose stock the royal families of many kingdoms claimed their descent.“ (Übersetzung ebd., S. 51). Vgl. hierzu TurvillePetre, Myth and Religion, S. 70. 76 Vgl. hierzu Turville-Petre, Myth and Religion, S. 56. 77 S. Vǫls, Kap. 1, STUAGNL, S. 1: „[. . .] Sige er nefndr ok kalladr, at heti son Odins.“ / „[. . .] Er wird Sigi genannt und man sagt, er wurde Sohn des Óðinn genannt.“ 78 S. ebd., S. 5. Vgl. hierzu auch Turville-Petre, Myth and Religion, S. 200.

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2.4 Fazit Wenn seiðr im Kontext der Geburt in der altnordischen Literatur erwähnt wird, begleitet seine Ausübung dieses biographische Übergangsereignis nicht etwa rituell, um drohende Gefahren abzuwehren und die Lebenskräfte zu stärken,79 wie man es vielleicht hätte annehmen können. Im Kontext der Geburtshilfe spielt seiðr keine Rolle in den Quellen, vielmehr berichten sie von mittels seiðr initiierten Zeugungsakten, die mit Tabubrüchen wie Inzest, Cross-Dressing und Vergewaltigung konnotiert werden und mit Täuschung und/oder eklatanter Gewaltausübung einhergehen. Durch diese Transgressionen wird besonderes Potential bei den aus diesen Zeugungsakten hervorgehenden Nachkommen aktiviert. Im Kontext der Geburt wird seiðr somit als eine mit deutlichen Normverstößen verbundene Magieform dargestellt. Die beiden göttlichen seiðr-Meister Freyja und Óðinn sind beide mit dem Bereich der Geburt verbunden: Freyja fungiert als Geburtshelferin, wobei dieser Zug der Göttin möglicherweise ursprünglich stärker ausgeprägt war, als die altnordischen Quellen es erkennen lassen. Óðinns lebensspendendes Potential manifestiert sich in seinen Eigenschaften als Weltschöpfer, göttlicher Ahnherr und Heilkundiger. Zugleich begeht der Gott enorme Tabubrüche, um exzeptionelle Nachkommen zeugen zu können und erweist sich folglich auch in seiner Konnotation mit dem Themenbereich der Geburt als Grenzgänger.

3 Jugend und Heranwachsen 3.1 Episoden Als Nächstes soll untersucht werden, inwiefern seiðr in der altnordischen Literatur mit der Schwellenerfahrung der Adoleszenz in Verbindung steht. Der Zeitraum, über den sich das Erlangen der Geschlechtsreife erstreckt, lässt sich in Hinblick auf beide Geschlechter nur schwerlich genau definieren, weswegen die Übergangsriten, welche diese Phase in vielen Gesellschaften begleiten, nur selten tatsächlich zeitlich mit der körperlichen Pubertät zusammenfallen und sich auch über mehrere Jahre hinziehen können.80 Aus diesem Grund hielt van Gennep es für angebrachter, „zwischen physiologischer Pubertät und sozialer Pubertät zu unterscheiden“81 und rituelle Handlungen, welche den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenstatus unterstützen, eher mit dem weiter gefassten Begriff ‚Initiationsriten‘ denn als

79 Vgl. Baumann, Das doppelte Geschlecht, S. 47. 80 Vgl. van Gennep, Übergangsriten, S. 73. 81 Ebd.

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‚Pubertätsriten‘ zu bezeichnen.82 Abgeleitet vom lateinischen initium (‚Eintritt‘) bedeutet Initiation soviel wie ‚Einführung‘, ‚Einweihung‘:83 Der Begriff benennt eine Reihe von rituellen Handlungen, Verhaltensvorschriften und Unterweisungen, die eine radikale Umwandlung des sozialen und religiösen Status eines Individuums oder einer Gruppe gestalten. Es kann sich dabei um so unterschiedliche Formen wie die kollektive Initiation in eine Altersklasse, die Initiation in Totemgruppen, Geheimbünde, Mysterien oder Bruderschaften, ebenso jedoch um die Berufung eines religiösen Spezialisten wie eines Schamanen, Magier, Propheten oder Heiler handeln.84

Die Adoleszenz ist in traditionellen Gesellschaften eine Phase einer solchen, zumeist kollektiv erfolgenden „Initiation der Jungen“85, durch welche sich der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenstatus vollzieht.86 Obschon es in der altnordischen Sprache keinen Begriff für Pubertät bzw. Adoleszenz gibt, kannte freilich auch die Kultur der mittelalterlichen Skandinavier eine Übergangsphase zwischen Kindheit und Jugend.87 Tatsächliche Initiationsriten für Heranwachsende werden zwar in den altnordischen Quellen nicht beschrieben,88 dennoch lassen sich einige „rite-of-passage–Elemente“89 im Sinne der Liminalitätstheorie Victor Turners auch innerhalb der Sagaliteratur ausmachen: So stellt etwa die erste Auslandsfahrt eines jungen Mannes, die ihn aus der Sphäre seiner Kindheit fortführt und selbstständiges Handeln in der Welt der erwachsenen Männer mit all ihren Gefahren und Chancen erfordert, eine wichtige Übergangserfahrung dar, die vom Abschied von der Heimat bis hin zur Rückkehr des Sagaprotagonisten die typischen Phasen der Trennung, des Schwellenzustandes sowie der Wiedereingliederung in die Gesellschaft beinhaltet.90 Hinsichtlich des Zusammenhanges von seiðr mit der Phase der Adoleszenz ist zunächst auffallend, dass Jugendliche offenbar als Ritualhelfer bei der Ausübung von seiðr fungieren können. So bringt die vǫlva Heiðr in der Ǫrvar-Odds saga ein aus jeweils fünfzehn Jünglingen und Mädchen – die Verwendung der Begriffe sveinar und meyjar für die Begleiter der Seherin zeigt deutlich an, dass es sich bei ihnen 82 Vgl. ebd., S. 71–74. 83 Vgl. Brunotte, Initiation, S. 95. 84 Ebd., S. 95 f. 85 Ebd., S. 96. 86 Eliade, Mircea: Das Mysterium der Wiedergeburt. Zürich, Stuttgart, 1961, S. 20. 87 Vgl. Larrington, Carolyne: „Awkward Adolescents: Male Maturation in Norse Literature“, in: LewisSimpson, Shannon (Hg.): Youth and Age in the Medieval North. Leiden, Boston, 2008 (The Northern World, 42), S. 151. 88 Vgl. ebd., S. 151. Dieselbe Beobachtung findet sich auch bei Schjødt, Initiation, S. 330: „It is paradoxical that puberty rituals are hardly represented in the Scandinavian source material, even though these particular rituals have been of the greatest interest within the history of religion and social anthropology in general.“ 89 Vgl. Larrington, Awkward Adolescents, S. 152. 90 Vgl. ebd.

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um Heranwachsende handelt – bestehendes Gefolge mit, das als raddlið91 bezeichnet wird und dessen Aufgabe es ist, die magischen Handlungen der vǫlva mit ihrem Gesang zu begleiten bzw. zu unterstützen: Kona er nefnd Heiðr, hon var vǫlva ok seiðkona ok vissi fyrir úorðna hluti af fróðleik sínum. [. . .] Hon hafði með sér XXX manna: XV sveina ok XV meyjar. Þat var raddlið mikit, þvíat þar skyldi vera kveðandi mikil, sem hon var.92 Eine Frau wird Heiðr genannt, sie war eine vǫlva und Zauberin [seiðkona] und wusste um ungeschehene Dinge durch ihre Zauberkunst. [. . .] Sie hatte dreißig Personen bei sich: Fünfzehn Jünglinge und fünfzehn Mädchen. Das war ein großer „Chor“, da dort, wo sie war, viel Gesang sein sollte.

Dass die Seherin sich gerade mit einer Entourage von jugendlichen Ritualhelfern umgibt, welche offensichtlich noch nicht den Status Erwachsener besitzen,93 ist ein hochinteressantes Detail: Der Text transportiert an dieser Stelle offenbar eine Reminiszenz dessen, dass Schwellenpersonen aufgrund ihres indeterminierten Zustands in nahezu allen Kulturen besonderes magisch-religiöses Potential zugesprochen wird.94 Da Heranwachsende noch nicht die Geschlechtsreife erlangt haben bzw. noch nicht als vollwertiger Mann oder vollwertige Frau in die Gesellschaft der Erwachsenen aufgenommen wurden, befinden sie sich in einer Übergangsphase zwischen der „asexuellen Welt“95 der Kindheit und der „sexuellen Welt“96 der Erwachsenen – einer Welt, die gerade im alten Skandinavien durch das Vorhandensein von klar voneinander abgegrenzten Geschlechterrollen gekennzeichnet wird.97 Die besondere magisch-religiöse Kraft Heranwachsender als Schwellenpersonen liegt

91 Von an. rǫdd ‚Stimme‘, ‚Laut‘. 92 Ǫrv, Kap. 2, S. 7. 93 Obschon im Gefolge der vǫlva in der Ǫrvar-Odds saga zwar Personen beiderlei Geschlechts zu gleichen Teilen vertreten sind, kommt der Tatsache, dass es sich bei ihnen allen um Heranwachsende vor dem Erlangen der Geschlechtsreife handelt, weitaus größere Bedeutung zu als ihrem physiologischen Geschlecht. Dies wird besser verständlich, wenn man sich die Ausführungen der Eiríks saga rauða hinsichtlich der Helfer beim seiðr-Ritual der Þorbjǫrg lítil-vǫlva vergegenwärtigt: Dort verlangt die Seherin ausdrücklich nur nach Frauen, welche den für das Ritual benötigten Gesang varðlok(k)ur vortragen sollen (vgl. Eir, Kap. 4, ÍF 4, S. 207: „Hon bað ok fá sér konur þær, er kynni frœði þat, sem til seiðsins þarf ok Varðlokur hétu.“) und es sind in der Folge wiederum lediglich Frauen, welche einen Kreis um die vǫlva bilden (vgl. Eir, Kap. 4, ÍF 4, S. 208: „Slógu þá konur hring um hjállinn, en Þorbjǫrg sat á uppi.“). Geschlechtsreife Männer jedoch kommen in der altnordischen Literatur offenbar niemals als Helfer bei seiðr-Ritualen in Frage. Deshalb kann in Bezug auf die Jünglinge, welche die vǫlva in der Ǫvar-Odds saga begleiten, gefolgert werden, dass ihr unbestimmter Status als heranwachsende Personen vor der Geschlechtsreife das dominierende Merkmal sein muss, welches sie als Ritualhelfer qualifiziert, und nicht ihr männliches Geschlecht, welches ja ein Ausschlusskriterium darstellen würde. 94 Vgl. Turner, Das Ritual, S. 107. 95 Van Gennep, Übergangsriten, S. 72. 96 Ebd. 97 Hierauf wird in Kapitel VIII 2.2 der vorliegenden Untersuchung noch ausführlich eingegangen.

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also gerade darin, dass sie noch keine eindeutige Geschlechtsidentität aufweisen und somit die Potenzen beider Geschlechter in sich vereinen. Dieses „Nichtvorhandensein einer sexuellen Polarität“98 ist ein charakteristisches Merkmal von Schwellenpersonen, welchem in den Initiationsriten zahlreicher Kulturen durch einen Kleidertausch Ausdruck verliehen wird, im Zuge dessen die Jugendlichen Kleidung bzw. Schmuck des jeweils anderen Geschlechts anlegen.99 Eng assoziiert mit dem Übergangsstadium zwischen Kindheit und Erwachsensein ist die Jungfräulichkeit, deren Verlust den Übertritt vom Kind zum sexuell aktiven Erwachsenen und damit den Anfang einer neuen Lebensphase markiert.100 Wie der Adoleszenz generell wird auch der Jungfräulichkeit im Kult sowie im Volksglauben eine besondere Wirkmächtigkeit zugeschrieben. Gerade innerhalb von Volksbräuchen, die Fruchtbarkeitszaubern nahestehen, spielen Jungfrauen – insbesondere weiblichen Geschlechts – eine wichtige Rolle.101 Jungfräulichen Personen wurden zudem Heilkräfte attestiert: Diverse Krankheiten lassen sich diesen Vorstellungen zufolge durch die Berührung einer Jungfrau oder den Kontakt mit von ihr hergestellten Gegenständen (z. B. gesponnener Faden) heilen. Auch vom Geburtsvorgang, bei dem es sich ja ebenfalls um eine biographische Schwellenerfahrung handelt, wurde angenommen, dass er erleichtert werden könne, indem eine Jungfrau über die Gebärende schreite und dabei ihren Gürtel fallen lasse.102 Diese „Einsatzmöglichkeiten“ von Jungfrauen in einem regenerativen Kontext verwundern angesichts der in der abendländischen Vorstellungswelt weit verbreiteten Assoziation von (wiederum vor allem weiblicher) Jungfräulichkeit mit Lebenskraft wenig: Jungfrauen wurden als Mädchen an der Schwelle zum Frausein betrachtet – reif und fruchtbar, bereit sich zu paaren und zu vermehren. Sie sind jung (vom Tod entfernt) und unschuldig (von körperlicher wie geistiger Krankheit frei) und haben doch schon das volle sexuelle Potential.103

Das Figurieren heranwachsender Personen als Ritualhelfer der vǫlva in der ǪrvarOdds saga dürfte also auf ebenjenem mit Adoleszenz und Jungfräulichkeit konnotierten magischen und heilkräftigen Potential beruhen. Sie sollen die vǫlva bei der Ausübung des seiðr unterstützen, welcher als den Wanen zugeschriebene Magieform mit Vegetationsgottheiten assoziiert ist und insbesondere auch zur Beeinflussung

98 Turner, Das Ritual, S. 103. 99 Baumann, Das doppelte Geschlecht, S. 57. 100 S. dazu Bernau, Anke: Mythos Jungfrau. Die Kulturgeschichte weiblicher Unschuld. Berlin, 2007, S. 125: „Der Jungfräulichkeitsverlust spielt nicht zuletzt deshalb in der Erinnerung eine wichtige Rolle, weil er jahrhundertelang wichtige Grenzen markierte: die zwischen Kindheit und Erwachsensein, Unschuld und Erfahrung, Männern und Frauen, Leben und Tod.“ 101 Vgl. Kummer, Bernhard: Art. „Jungfrau“ in: HdA, Bd. 4. Berlin, Leipzig, 1931/1932, Sp. 847 f. 102 Vgl. ebd., Sp. 849 f. 103 Bernau, Mythos Jungfrau, S. 117.

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der Fruchtbarkeit der natürlichen Umwelt eingesetzt werden kann. Wer könnte hierfür besser geeignet sein als Heranwachsende, die aufgrund ihrer Eigenschaften als Schwellenpersonen nach traditioneller Vorstellung die Potenzen beider Geschlechter in sich vereinen? In der altnordischen Literatur wird jedoch auch erkennbar, dass in einer liminalen Phase befindliche Personen aufgrund ihres undefinierten Zustands zugleich äußerst anfällig gegenüber schädlichen Einflüssen sind: Sie werden oftmals zum Ziel von Schadenszaubern, was auf eine erhöhte Vulnerabilität dieser Personengruppe gegenüber magischen Attacken verweist. Der Tod Kári Hrútssons, der von den Zaubergesängen der seiðr-kundigen Familie in der Laxdœla saga aus dem Haus seines Vaters gelockt und umgebracht wird, illustriert auf prägnante Weise die Anfälligkeit eines Jugendlichen gegenüber als Schadenszauber eingesetztem seiðr: En litlu síðar gera þau heimanferð sína, Kotkell ok Gríma ok synir þeira; þat var um nótt. Þau fóru á bœ Hrúts ok gerðu þar seið mikinn. En er seiðlætin kómu upp, þá þóttusk þeir eigi skilja, er inni váru, hverju gegna myndi; en fǫgr var sú kveðandi at heyra. Hrútr einn kenndi þessi læti ok bað engan mann út sjá á þeiri nótt, – „ok haldi verr vǫku sinni, er má, ok mun oss þá ekki til saka, ef svá er með farit.“ En þó sofnuðu allir menn. [. . .] Kári hét sonr Hrúts, er þá var tólf vetra gamall, ok var hann efniligastr sona Hrúts. Hann unni honum mikit. Kári sofnaði nær ekki, því at til hans var leikr gǫrr; honum gerðisk ekki mjǫk vært. Kári spratt upp ok sá út; hann gekk á seiðin ok fell þegar dauðr niðr.104 Und etwas später brachen Kotkell und Gríma und ihre Söhne von daheim auf; das geschah in der Nacht. Sie gingen zum Hof Hrútrs und übten dort großen seiðr aus. Und als die seiðlæti [seiðr-Laute; -Töne] hörbar wurden; da verstanden diejenigen, die drinnen waren nicht recht, was das zu bedeuten habe; aber schön war dieser Gesang anzuhören. Hrútr alleine erkannte diese Laute und befahl, dass niemand diese Nacht hinaussehen solle, – „und jeder halte sich wach, der kann, und wenn wir uns so verhalten, dann wird es uns nicht schaden.“ Und doch schliefen alle ein. [. . .] Kári hieß ein Sohn Hrútrs, der damals zwölf Winter alt war, und er war der vielversprechendste der Söhne Hrútrs. Er liebte ihn sehr. Kári schlief fast nicht, denn gegen ihn war das Tun gerichtet; er fand keine rechte Ruhe. Kári sprang auf und sah hinaus; er ging dem seiðr entgegen und fiel sofort tot danieder.

Wegen des gegen ihn gerichteten Zaubers kann Kári keinen Schlaf finden und verfällt in einen somnambulen Zustand zwischen Wachen und Schlafen. Es ist ihm somit nicht möglich, sich dem Sog des magischen Angriffs zu entziehen und dem Verbot seines Vaters, das Haus nicht zu verlassen, Folge zu leisten, was ihm letztendlich zum tödlichen Verhängnis wird. Dieser Beleg steht indessen nicht singulär in der altnordischen Literatur, sondern hat zwei weitere, motivisch sehr ähnliche Parallelen. Obschon in beiden seiðr keine Erwähnung findet, sollen sie für ein besseres Verständnis der Kári-Episode dennoch im Folgenden vorgestellt werden. Es handelt sich zum einen um das in der Eyrbggyja saga und – verkürzt und mit starken Abweichungen – in der Landnámabók überlieferte Schicksal des jungen Gunnlaugr 104 Laxd, Kap. 37, ÍF 5, S. 105 f.

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Þorbjarnarson, welcher auf dem nächtlichen Heimweg zum Opfer einer magischen Attacke wird, zum anderen um den Tod Þiðrandis im Þiðranda þáttr ok Þórhalls.105 Die Eyrbyggja saga gibt den Angriff auf Gunnlaugr folgendermaßen wieder: Gunnlaugr kom eigi heim um kveldit, ok var um rœtt, at hans skyldi leita fara, en eigi varð af. Um nóttina, er Þorbjǫrn sá út, fann hann Gunnlaug, son sinn, fyrir durum; lá hann þar ok var vitlauss. Þá var hann borinn inn, ok dregin af honum klæði; hann var blóðrisa um herðarnar, en hlaupit holdit af beinunum; lá hann allan vetrinn í sárum, ok var margrœtt um hans vanheilsu; flutti þat Oddr Kǫtluson, at Geirríðr mun hafa riðit honum; segir, at þau hefði skilit í stuttleikum um kveldit, ok þat hugðu flestir menn, at svá væri. Þetta vár um stefnudaga reið Þorbjǫrn í Mávahlíð ok stefndi Geirríði um þat, at hon væri kveldriða ok hon hefði valdit meini Gunnlaugs.106 Gunnlaugr kam am Abend nicht nach Hause, und es wurde besprochen, dass man nach ihm suchen sollte, aber daraus wurde nichts. In der Nacht, als Þorbjǫrn nach draußen sah, fand er Gunnlaugr, seinen Sohn, vor der Tür; er lag dort und war bewusstlos. Da wurde er hineingetragen, und die Kleidung wurde ihm ausgezogen, und er war an den Schultern ganz mit Blutstriemen bedeckt und das Fleisch löste sich von den Knochen; er lag den ganzen Winter an seinen Wunden darnieder; und es wurde viel über seine Krankheit gesprochen; Oddr Kǫtluson verbreitete, dass Geirríðr ihn wohl geritten haben werde; er sagt, dass sie sich am Abend unfreundlich getrennt hätten, und die meisten Leute dachten, dass es so wäre. Es war zur Zeit der gesetzlichen Vorladungstage, dass Þorbjǫrn nach Mávahlíð ritt und Geirríðr vor Gericht lud, weil sie eine Nachtreiterin sei und Gunnlaugrs Leiden verursacht habe.

Der Angriff auf den jungen Mann, dessen zunächst die Witwe Geirríðr zu Unrecht bezichtigt wird – Verursacherin ist in Wahrheit die Zauberin Katla, auf deren sexuelle Avancen Gunnlaugr nicht eingegangen war –, erfolgt hier nicht durch seiðr, sondern in Form von „Nachtreiterei“. Als kveldriður („Abend-, Nachtreiterinnen“) oder myrkriður („Dunkelreiterinnen“) bezeichnete Hexenfiguren begegnen häufiger in der altnordischen Überlieferung: Dahinter steckt die Vorstellung, dass solche Frauen in der Lage sind, ihre Frei- bzw. Exkursionsseele (hugr) auszusenden und Gestalt (hamr) annehmen zu lassen,107 um Schadenszauber zu verüben, indem sie auf dem jeweiligen Zauberziel „reiten“. Der Glaube an die Nachtreiterei war offenbar so präsent, dass diesem Tatbestand strafrechtliche Relevanz zukam, wie eine

105 Vgl. zu den Ähnlichkeiten zwischen der Kári-Episode und dem Tod Þiðrandis bereits Strömbäck, Sejd, S. 66. Die ansonsten in der Forschung wenig beachteten motivischen Parallelen zwischen der Gunnlaugr-Episode und dem Þiðranda þáttr ok Þórhalls untersucht Klaus Böldl in seiner Habilitationsschrift; vgl. Böldl, Eigi einhamr, S. 246–250, besonders S. 246 f. 106 Eb, Kap. 16, ÍF 4, S. 29. 107 Auch für die altnordischen Seelenvorstellungen lässt sich die bei vielen traditionellen Kulturen anzutreffende Unterscheidung zwischen einer Vitalseele (an. fjǫr; ‚Leben‘), deren Verlust zum Tod führt, und einer Freiseele (hugr), die dem Menschen Ich-Bewusstsein verleiht, feststellen. Die Freiseele kann im Schlaf, aber auch willentlich durch Ritualspezialisten ausgesendet werden, weswegen sie auch als Exkursionsseele bezeichnet werden kann. Vgl. hierzu Hasenfratz, Hans-Peter: Art. „Seelenvorstellungen“, in: RGA, Bd. 28. Berlin, New York, 2005, S. 36–39. Dieses Thema wird unter Kapitel VII 2.4 der vorliegenden Arbeit genauer besprochen.

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Passage des älteren Christenrechts des Eidsivathings – einer altnorwegischen Rechtsquelle, deren Niederschrift im Zeitraum von 1067–1111 oder auf das Jahr 1120 datiert wird108 – zeigt: Ef þat er kænnt kono. at hon ride manne. eda þionom hans. ef hon uaerdr sonn at þui. þa er hon saek iij morkum [. . .].109 Wenn eine Frau verklagt wird, dass sie einen Mann oder seine Knechte reitet, und man es ihr nachweisen kann, ist sie schuldig drei Mark (Strafe zu zahlen) [. . .].110

Dies geht konform damit, dass Geirríðr in der Eyrbyggja saga wegen Nachtreiterei angeklagt wird. Ein bevorzugtes Opfer der kveldriður scheinen junge Männer gewesen sein, was den magischen Aktivitäten dieser Hexenfiguren eine sexuelle Komponente verleiht: Kveldriður or myrkriður were evil-disposed, detested women, who could be called the first witches in Scandinavian folklore and who were obviously able to let their hugr take hamr and thus in materialized shape hurt their objects, mostly by riding on them. An interesting feature in their practice is that they so often try to get hold of young men. It seems as if something libidinous was connected with these witch-activities [. . .].111

Während Gunnlaugr in der Eyrbyggja saga aufgrund der Schwere der Verletzungen den gesamten Winter über krank darniederliegt, überliefert die Landnámabók, dass der junge Mann an den Folgen des übernatürlichen Angriffs stirbt: Þorbjǫrn enn digri stefndi Geirríði Bægifótsdóttur um fjǫlkynngi eptir þat er Gunnlaugr son hans dó af meini því, er hann tók, þá er hann fór at nema froðleik at Geirríði [. . .].112 Þorbjǫrn der Dicke lud Geirríðr Bægifótsdóttur wegen Zauberei vor Gericht, weil Gunnlaugr, sein Sohn, an den Verletzungen starb, die er davontrug, als er ging, um Zauberkunst bei Geirríðr zu erlernen.113

108 Vgl. hierzu Strauch, Dieter: Mittelalterliches nordisches Recht bis ca. 1500. Eine Quellenkunde. 2., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Berlin, Boston, 2016 (Ergänzungsbände zum RGA, 97), S. 137. 109 NGL, Bd. 1, S. 390. 110 Übersetzung nach Strömbäck, Dag: „Ein Beitrag zu den älteren Vorstellungen von der mara“, in: Arv, 32–33, 1976–77, S. 282. 111 Strömbäck, Dag: „The Concept of the Soul in Nordic Tradition“, in: Strömbäck, Dag: Sejd och andrar studier i nordisk själsuppfattning av Dag Strömbäck. Med Bidrag av Bo Almqvist, Gertrud Gidlund, Hans Mebius. Redaktör Gertrud Gidlund. Uppsala, 2000 (Acta Academiae Regiae Gustavi Adolphi, 72), S. 233 f. 112 Ldn, S. 55, Anm. 113 Es handelt sich bei Gunnlaugr interessanterweise also nicht um einen völlig Unwissenden, was die Magie anbelangt, da er selbst bei der Witwe Geirríðr die Zauberkunst erlernt; vgl. auch Eb, Kap 15, ÍF 4, S. 28: „Gunnlaugr [. . .] nam kunnáttu at Geirríði Þórolfsdóttur, því at hon var margkunnig.“ / „Gunnlaugr [. . .] erlernte die Zauberei von Geirríðr Þórolfsdóttur, weil sie zauberkundig war.“

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Starke motivische Übereinstimmungen mit der Kári-Episode der Laxdœla saga weist auch der bereits erwähnte Tod Þiðrandis im Þiðranda þáttr ok Þórhalls auf. Auch hier ist nicht von seiðr die Rede; der junge Þiðrandi stirbt vielmehr durch das Eingreifen der Disen, die als berittene, schwarzgekleidete Frauen in Erscheinung treten, als er entgegen vorheriger Warnungen am Abend eines zu Beginn des Winters (at vetrnóttum) stattfindenden Opferfestes vor die Tür des väterlichen Hofes tritt. Die vorgestellten Belege verfügen über auffallende Gemeinsamkeiten: In jeder der drei Episoden wird ein junger Mann Opfer eines nächtlichen magischen Angriffs. Diese Attacken sind zudem in allen drei Fällen – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung – mit einer sexuellen Komponente, genauer gesagt mit aggressiver weiblicher Sexualität konnotiert. Am deutlichsten wird dies in der Eyrbyggja saga, wo Katlas Eifersucht auf Gunnlaugrs Bekanntschaft mit Geirríðr sowie dessen Weigerung, auf Katlas sexuelle Avancen einzugehen114, in dem Angriff der Zauberin durch die per se schon erotisch konnotierte Nachtreiterei gipfelt. Im Fall von Þiðrandis Tod ist ein solches erotisches Moment weniger offensichtlich, jedoch wird durch die Benennung seiner übernatürlichen Angreiferinnen als „Disen“ unmittelbar deren Konnotation mit Fruchtbarkeit, Geburt und Vegetation aufgerufen.115 Die Parallelen zwischen diesen beiden Textzeugnissen und der seiðr-Episode um Káris Tod lassen auch hinsichtlich der als unwiderstehlich schöner „Sirenengesang“ beschriebenen Zauberweisen der seiðr-Praktizierenden in der Laxdœla saga eine sexuelle Komponente erwarten. Dies wird zwar in der betreffenden Passage nicht weiter elaboriert, allerdings dürfte für den zeitgenössischen Rezipienten bereits die Erwähnung von seiðr angesichts der starken Verbindung dieser Magieform mit – wie in der vorliegenden Untersuchung noch zu zeigen sein wird – insbesondere weiblicher (aggressiver)

114 Vgl. Eb, Kap 15, ÍF 4, S. 28: „Oddr Kǫtluson fór opt með Gunnlaugi í Mávahlíð; en er þeim varð síð aptr farit, bauð Katla Gunnlaugi opt þar at vera, enn hann fór jafnan heim.“ / „Oddr Kǫtluson ging oft mit Gunnlaugr nach Mávahlíð; und wenn es spät wurde, dass sie zurückkehrten, lud Katla Gunnlaugr oft ein, zu bleiben, aber er ging jedes Mal nach Hause.“ sowie Eb, Kap 16, ÍF 4, S. 29: „Katla var þá komin í rekkju sína; hon bað Odd bjóða Gunnlaugi þar at vera; hann sagðisk þat gǫrt hafa, – ‚ok vill hann heim fara‘, segir hann. ‚Fari hann þá, sem hann hefir fyrir sér gǫrt‘, segir hon.“ / „Katla war da schon zu Bett gegangen; sie bat Oddr, Gunnlaugr zum Bleiben aufzufordern; er sagte, das habe er schon getan – ‚und er will nach Hause gehen‘, sagt er. ‚Dann soll es ihm so ergehen, wie er es sich bereitet hat‘, sagt sie.“ 115 Auffälligerweise ist zudem der magische Angriff sowohl in der Eyrbgyggja saga als auch im Þiðranda þáttr ok Þórhalls mit dem „Motiv des nächtlichen Reitens“ (Böldl, Eigi einhamr, S. 247) verknüpft: In der Eyrbgyggja saga sucht Katla als Nachtreiterin Gunnlaugr heim, während der tödliche Angriff im Þiðranda þáttr ok Þórhalls von den als Disen bzw. Fylgjen angesprochenen berittenen Frauengestalten ausgeht (vgl. Böldl, Eigi einhamr, S. 247). Auf den ersten Blick scheint Káris Tod in der Laxdœla saga keine derartige Konnotation mit nächtlichem Reiten aufzuweisen, jedoch spielen innerhalb der Vorgeschichte dieser seiðr-Episode Pferde eine eigentümliche Rolle. Dies soll in Kapitel VIII 3.3 noch eingehend besprochen werden.

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VI seiðr im Kontext biographischer Schwellenerfahrungen

Sexualität und sexueller Transgression der fatalen Begegnung des heranwachsenden Kári mit dem Übernatürlichen einen erotischen Subtext verliehen haben. Es scheint, als wären die jugendlichen Protagonisten der drei vorgestellten Episoden aufgrund ihres liminalen, noch nicht klar definierten Status nicht in der Lage, den übernatürlichen und mit (weiblicher) Sexualität konnotierten Angriffen etwas entgegenzusetzen. Von ihnen kann allerdings nur Kári, dessen Alter mit zwölf Jahren angegeben wird, eindeutig noch als Heranwachsender eingestuft werden. Obgleich keine genaue Altersgrenze im mittelalterlichen Island den Übergang zum Erwachsensein markierte, werden in der Grágás sechzehn Jahre häufig als das Alter genannt, in welchem ein männlicher Jugendlicher hinsichtlich seiner Rechte und Pflichten als selbstbestimmter, erwachsener Mann angesehen wurde: The text [=Grágás, C.K.] frequently assigns sixteen as a key age for Icelandic men. This is evident from the fact that it was often the age at which the responsibilities of kin, foster-parent or legal administrator, towards maintenance and representation of the child, ceased. That an Icelandic male was considered a ‘man’ at the age of sixteen is further supported by the many laws which refer to his rights of property. Sixteen was the age at which a youth could claim his inheritance, and begin to administer the property of others. It was also the age at which he attained the right of self-determination. [. . .] Similarly, this was the age at which he could decide where to live, an issue which would have been decided for him up to that point. Moreover, a sixteen-year-old could participate in the arrangement of his widowed mother’s betrothal and remarriage. This constituted a significant reversal of the child and adult relationship in a legal sense.116

Bildeten sechzehn Jahre nach altisländischer Auffassung also die Grenze zum Übertritt in den Erwachsenenstatus und somit quasi den Endpunkt der Adoleszenz, so war interessanterweise gerade der zwölfte Geburtstag für männliche Jugendliche im mittelalterlichen Island ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zum Erwachsenwerden, der den Beginn der Übergangsphase zum Erwachsenenstatus markierte: Twelve was a very significant milestone birthday for a male Icelander, and it could be argued that this was when an Icelandic male began to leave his childhood behind. A twelve-year-old male was considered physically mature, in that his labour counted as a ‘man’s’ in legal terms. Moreover, a twelve-year-old could be judged sufficiently mature to commit, prosecute, or even judge a capital crime. Legally, any physical harm caused by a male over the age of twelve was something for which he could be held fully accountable in the courts.117

Es dürfte also wohl kein Zufall sein, dass in der Laxdœla saga Káris Alter ausdrücklich mit zwölf Jahren angegeben wird (er þá var tólf vetra gamall): Kári wird damit für den damaligen Rezipienten eindeutig als Person klassifiziert, die gerade beginnt, die Kindheit hinter sich zu lassen und nunmehr in die Phase der Adoleszenz

116 Percivall, Nic: „Teenage Angst: The Structures and Boundaries of Adolescence in Twelfth- and Thirteenth-Century Iceland“, in: Lewis-Simpson, Shannon (Hg.): Youth and Age in the Medieval North. Leiden, Boston, 2008 (The Northern World, 42), S. 134 f. 117 Ebd., S. 135 f.

3 Jugend und Heranwachsen

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eintritt, diese jedoch noch nicht vollendet hat – also als eine Schwellenperson, deren Anfälligkeit gegenüber der magischen Attacke mittels seiðr bereits durch die Nennung dieser Altersgrenze antizipiert wird. Obwohl das exakte Alter Gunnlaugrs weder in der Landnámabók noch in der Eyrbyggja saga erwähnt wird, enthält seine Darstellung in der Eyrbyggja saga Elemente, die auch ihn als noch nicht vollständig erwachsen und somit in einer Übergangsphase befindlich ausweisen: So ist Gunnlaugr zwar offenbar bereits alt genug, um zum Ziel der Begehrlichkeiten Katlas zu werden, scheint aber gleichzeitig noch Mitglied der elterlichen Hofgemeinschaft zu sein, deren Verlassen im altnordischen Bereich oftmals den Übergang ins Erwachsenalter markiert118. Zudem kann auch Gunnlaugrs Eigenschaft als „Magieadept“ als ein liminal zu bewertender Initiantenstatus interpretiert werden. Die Beschreibung Þiðrandis im Þiðranda þáttr ok Þórhalls beinhaltet allerdings keinerlei Marker, die ihn als in der Adoleszenz befindliche Person kennzeichnen würden – vielmehr hat er die Schwelle zum Erwachsensein bereits überwunden: Þiðrandi ist der älteste der Söhne Síðu-Hallrs, sein Alter wird mit immerhin schon achtzehn Jahren angegeben und seine Bezeichnung als „manna vænstr ok efniligazstr“119 („der Schönste und Vielversprechendste aller Männer“) zeigt, dass er zum Kreis der erwachsenen Männer gezählt wird.120 Auch hat Þiðrandi bereits Auslandsfahrten unternommen („Þidrande for landa medal þegar hann hafde alldr til“121/ „Þiðrandi unternahm Auslandsfahrten, sobald er das Alter dazu hatte“) – wie schon erwähnt ein für den Übertritt in die Welt der Erwachsenen wichtiger Faktor in der altnordischen Gesellschaft. Þiðrandis Tod lässt also zwar aufgrund der motivischen Parallelen wertvolle Rückschlüsse auf ein unterschwelliges erotisches Moment der seiðr-Episode um Káris Tod zu, letztlich ist die Aussagekraft des Beleges hinsichtlich der Anfälligkeit Jugendlicher gegenüber Schadenszaubern jedoch begrenzt, da der Protagonist trotz seiner Jugend bereits als erwachsener Mann betrachtet werden muss. Abschließend lässt sich festhalten, dass anhand der vorgestellten Belege eine Konnotation von seiðr-Episoden mit der Schwellenphase der Adoleszenz in der altnordischen Literatur durchaus nachgewiesen werden kann. Hierbei zeigt sich ein ambivalentes Bild, da der liminale Zustand, in dem sich die Heranwachsenden

118 Vgl. Kreutzer, Kinder, S. 532. Ármann Jakobsson sieht Gunnlaugr ebenfalls als Heranwachsenden und bezeichnet ihn als „desirable teenager“ (s. Ármann Jakobsson: „Two Wise Women and their Young Apprentice: A Miscarried Magic Class“, in: Ármann Jakobsson: Nine Saga Studies. The Critical Interpretation of the Icelandic Sagas. Reykjavík, 2013, S. 84). 119 S. ÞÞ, Flat, Bd. 1, S. 419. 120 Zwar könnte man die Passage auch mit „schönster und vielversprechendster aller Menschen“ übersetzen; doch wäre dies eine äußerst ungebräuchliche Formulierung, weil bei derartigen Lobpreisungen in der altnordischen Literatur stets auf das Geschlecht des bzw. der Gerühmten Bezug genommen wird. Bei Frauen heißt die stereotype Wendung dann beispielsweise „schönste aller Frauen“. Es wäre analog also sehr ungewöhnlich, wenn bei der Beschreibung Þiðrandis nicht auch die Bedeutung „schönster und vielversprechendster aller Männer“ intendiert wäre. 121 ÞÞ, Flat, Bd. 1, S. 419.

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VI seiðr im Kontext biographischer Schwellenerfahrungen

befinden, einerseits offenbar mit einem erhöhten magisch-religiösen Potential der Jugendlichen assoziiert wird (weswegen sie als Ritualhelfer bei der Ausübung von seiðr fungieren können), anderseits jedoch mit einer gesteigerten Vulnerabilität dieser Personengruppe gegenüber Schadenszaubern verbunden ist. Dementsprechend figurieren Jugendliche in seiðr-Episoden einerseits auf Seiten der Zaubernden, können aber auch selbst zum Zauberziel werden.

3.2 Freyja Der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenstatus stellt in traditionellen Gesellschaften eine Phase der Initiation der Heranwachsenden dar, im Zuge derer sie „in die grundlegenden mythischen Traditionen, die rituellen Handlungsmuster und das Geheimwissen der Ethnie“122 eingeweiht werden. Um die Konnotation der göttlichen seiðr-Meister Freyja und Óðinn mit der Schwellenphase der Adoleszenz besser ergründen zu können erscheint es daher lohnend zu fragen, inwieweit sie mit dem Bereich der Initiation in Verbindung stehen. Während eine Konnotation von Óðinn mit der Initiation allein schon aufgrund seines Selbstopfers gut nachvollzogen werden kann,123 ist Freyjas Assoziation mit dieser Übergangserfahrung in der altnordischen Überlieferung eher wenig präsent. Die Göttin tritt jedoch immerhin einmal in der Rolle als Wissensvermittlerin und Initiatorin auf, und zwar in den Hyndluljóð. Dieses eddische Lied, welches nicht im Codex regius, sondern in der Flateyjarbók sowie davon abhängigen Papierhandschriften aus dem 17. und 18. Jahrhundert überliefert ist,124 stellt ein Wissensgespräch zwischen der Göttin Freyja – nur an dieser Stelle der altnordischen Überlieferung bildet eine weibliche Gottheit einen der Gesprächspartner – und der Riesin Hyndla dar. Der eigentliche Adressat der Belehrung ist jedoch ein Mensch und Schützling Freyjas: ein ansonsten unbekannter junger Held fürstlicher Abstammung125 namens Óttar Innsteinsson.126 Die Hyndluljóð lassen sich in zwei Abschnitte gliedern, wobei die Strophen 12–28 Heldengenealogien beinhalten, wohingegen die Strophen 29–44 Genealogien mythologischer Wesen aufzählen127. Diese heterogenen Genealogien werden dadurch miteinander verknüpft, dass sie alle auf die Figur Óttar bezogen werden, da jede der genannten

122 Brunotte, Initiation, S. 96. 123 Dies soll im anschließenden Kapitel VI 3.3 zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden. 124 Vgl. von See, Klaus et al.: Kommentar zu den Liedern der Edda, Bd. 3: Götterlieder. Vǫlundarkviða, Alvíssmál, Baldrs draumar, Rígsþula, Hyndlolióð, Grottasǫngr. Heidelberg, 2000, S. 668. 125 Vgl. ebd., S. 686. 126 Vgl. ebd., S. 674 f. 127 Vgl. ebd., S. 679.

3 Jugend und Heranwachsen

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Personen mit ihm verwandt sei.128 Der junge Mann benötigt das genealogische Wissen, um im Streit um eine Erbschaft gegen seinen Kontrahenten zu bestehen, „[d]enn um den Anspruch auf ein Erbe zu untermauern, muß man wissen, wie die Welt zusammenhängt und wie man selbst damit verknüpft ist“129. Um an die gewünschten Informationen zu gelangen, begibt sich Freyja in Begleitung des in einen Eber verwandelten Óttar zu der in einer Höhle hausenden Hyndla, die als Riesin über das entsprechende, bis in die Vorzeit reichende Wissen verfügt. Die Wissensvermittlung in den Hyndluljóð kann aufgrund mehrerer Elemente als eine Initiation des Helden interpretiert werden: So handelt es sich zum einen bei den auch mythische Wesen umfassenden Genealogien um geheimes Wissen, welches durch die Befragung einer Riesin erlangt werden muss und von dieser offenbar nicht allzu gerne preisgegeben wird, da sie sich zunächst weigert, Óttar einen Gedächtnistrank zu verabreichen, damit dieser die zahlreichen Namen auch in Erinnerung behalten kann.130 Das Aufsuchen der Riesin an ihrem chthonischen Wohnort kann zudem als eine Reise in die Unterwelt und somit als symbolischer Tod Óttars gedeutet, zumindest jedoch als Prüfung angesehen werden, welche er bestehen muss, um an geheime Erkenntnisse zu gelangen.131 Schließlich wird das Wissen um die bis ins Mythische reichenden Zusammenhänge seiner Abstammung es dem jungen Mann ermöglichen, sein Erbe anzutreten und somit seinen rechtmäßigen Platz innerhalb der langen Reihe seiner Ahnen einzunehmen: Mit anderen Worten befähigt es Óttar zu einem Statuswechsel vom uneingeweihten Jugendlichen hin zum eingeweihten Erwachsenen. Gerade das „Nichtwissen“ Óttars wird innerhalb des Gedichtes stark betont: In einem immer wiederkehrenden Refrain bezeichnet ihn die Riesin Hyndla als heimskr,132 wobei das altnordische Adjektiv zwar an sich ‚wenig herumgekommen‘ bedeutet, letzten Endes jedoch weniger schmeichelhaft mit ‚dumm‘, ‚unvernünftig‘ oder ‚einfältig‘ zu übersetzen ist.133 ‚Dummheit vs. Klugheit‘ bildet nach Victor Turners Auflistung in Das Ritual. Struktur und Antistruktur eines der binären Gegensatzpaare, welche Eigenschaften des Schwellenzustandes denen des Statussystems gegenüberstellen.134 Das wiederholte Erwähnen von Óttars „Dummheit“ kann zudem als Erscheinungsform der Demütigungen aufgefasst werden, welchen Neophyten in Initiationsritualen

128 Vgl. ebd. 129 Vgl. ebd. 130 S. Hdl, Str. 45–50, Neckel; Kuhn, Edda, S. 295 f. 131 So interpretiert auch Näsström die Hdl: „An initiation of this kind often takes the form of a journey to the Realm of the Dead, representing a symbolic death on the part of the neophytes [. . .]. They must learn secret knowledge while receiving instruction about their own lineage and the origin of society.“ (Näsström, Freyja, S. 163). 132 Der Refrain „alt er þat ætt þín, / Óttarr heimsci“ / „all dies ist dein Geschlecht, / Óttar, du Einfältiger“. durchzieht die Hdl; das erste Mal begegnet er in Hdl, Str. 16, Neckel; Kuhn, Edda, S. 290. 133 Vgl. Baetke, Wörterbuch, S. 243. 134 Vgl. Turner, Ritual, S. 105.

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VI seiðr im Kontext biographischer Schwellenerfahrungen

typischerweise ausgesetzt werden.135 Zuletzt enthebt die Metamorphose in einen Eber Óttar von seiner Verbindung zur Welt der Menschen – nicht nur ist dem jungen Mann sein Status aufgrund von mangelndem genealogischen Wissen nicht vollumfänglich bewusst und kann daher von ihm auch nicht im Erbschaftsstreit eingefordert werden, er besitzt darüberhinaus in der Tierverwandlung nicht einmal mehr einen menschlichen Status, wobei Statuslosigkeit wiederum typisch für den Schwellenzustand eines Initianden ist136. Zugleich manifestiert sich in der Verwandlung Óttars in einen Eber die starke Affinität zu seiner Beschützerin Freyja, welche u. a. den Beinamen Sýr (‚Sau‘) trägt, sowie den Wanen im Allgemeinen, da auch Freyrs Attributtier ein Eber namens Gullinborsti ist, auf welchem er zu Baldrs Begräbnis reitet.137 Mit dem Eber, welcher als Symbol eine prominente Rolle als Helmzier einnahm, wurden im germanischen Bereich indessen nicht nur Fruchtbarkeit, sondern auch Aggression und Kampfkraft assoziiert138 – Elemente, die sich auch in der Verbindung zwischen der Göttin und ihrem Schützling Óttar manifestieren: Zu Beginn der Hyndluljóð streitet Freyja ab, in Begleitung Óttars zu sein, den Hyndla als „Freyjas Mann“ und somit als deren Geliebten bezeichnet. Es handle sich bei ihrem Eber lediglich um das von Zwergen gefertigte Reittier Hildisvíni (‚Kampfschwein‘): ‚[. . .] Flá ertu, Freyja, er þú freistar mín vísar þú augom á oss þannig, er þú hefir ver þinn í valsinni, Óttar iunga, Innsteins bur.‘ ‚Dulin ertu, Hyndla, er þú qveðr ver minní þár er gǫltr glóar,

draums ætlig þér, valsinni, gullinbursti,

135 Vgl. dazu auch Näsström, Freyja, S. 163: „Furthermore, the neophytes are usually humiliated in the liminal state which characterises the rite of passage – in this case belonging neither to boyhood nor to manhood.“ 136 Vgl. Turner, Ritual, S. 105. 137 Vgl. Gylf 49, Faulkes, SnE, S. 47 sowie Húsdr 7 (Skj Bd. B I, S. 129). Vgl. dazu Böldl, Götter und Mythen, S. 239. 138 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 240: „Der Eber nimmt in der germanischen Tiersymbolik eine prominente Stellung ein. Mit dem Bild eines Ebers verzierte Helme hat man unter anderem in Vendel (Uppland, Schweden), auf der Ostseeinsel Öland, und in dem berühmten Schiffsgrab von Sutton Hoo (East Anglia) gefunden. Diese Funde stammen alle aus dem 6. oder 7. Jahrhundert, und nicht viel jünger dürften die im altenglischen Beowulf-Epos verarbeiteten Überlieferungen sein, in dem solche mit einem Eberzeichen am Kamm verzierten Helme mehrfach erwähnt werden (swín ofer helme). Ein Helm mit dem Namen Hildigölt (‚Kampfeber‘) wird in den Skáldskaparmál dem mythischen Norwegerkönig Ali zugeschrieben; dessen Kontrahent Adils verfügt über den berühmten Ring Svíagríss (‚Schwedenferkel‘). Auch wenn man zumindest die archäologischen Funde nicht mit letzter Sicherheit Freyr zuordnen kann (bei einigen ist der Borstenkamm aber immerhin vergoldet, was auf das Motiv des Leuchtens verweist), so zeigt sich jedenfalls, dass man mit dem Eber nicht nur Fruchtbarkeit, sondern auch Aggression und Kampfkraft assoziierte.“

3 Jugend und Heranwachsen

Hildisvíni, dvergar tveir,

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er mér hagir gørðo, Daínn oc Nabbi. [. . .]‘139

„[. . .] Falsch bist du, Freyja, dass du mich versuchst, du richtest die Augen so auf uns, wo du deinen Mann auf dem Walweg hast den jungen Ottar, Innsteins Sohn.“ „Töricht bist du, Hyndla, im Traum bist du, glaub ich, wenn du sagst, mein Mann sei auf dem Walweg, wo der Eber glänzt, der goldborstige, Hildiswini, den mir Kunstfertige schufen, zwei Zwerge, Dainn und Nabbi. [. . .]“140

Als Freyja die Riesin jedoch anweist, ihrem Eber den Gedächtnistrank zu verabreichen,141 damit dieser sich die Namen seiner Vorfahren merken kann, wird klar, dass es sich bei Hildisvíni um keinen anderen als den verwandelten Óttar handeln kann. Der Name symbolisiert hierbei offenbar Óttars Assoziation mit der Aggressivität eines Ebers und somit das kriegerische Potential des jungen Mannes. Dass Óttar in seiner Metamorphose in ein Schwein jedoch auch von der Liebesgöttin geritten wird, entbehrt nicht einer deutlich erotischen Komponente. Freyja begleitet und ermöglicht in den Hyndluljóð also Óttars Initiation in den Status eines erwachsenen Kriegers, indem sie ihm Zugang zu geheimem Wissen verschafft – ein Beleg, der eine Verbindung der Göttin zur Schwellenphase der Adoleszenz als Zeit der Initiation klar bestätigt. Angesichts ihrer Funktion als Liebesgöttin mutet ein weiterer Anknüpfungspunkt Freyjas zur Phase des Heranwachsens, nämlich die Jungfräulichkeit, zunächst weit weniger nachvollziehbar an. Auf den ersten Blick scheint ausgerechnet Freyja alles andere als eine mit Jungfräulichkeit assoziierte Göttin zu sein, fällt sie doch durch ihre hohe sexuelle Aktivität auf. Überdies ist sie mit dem Gott Óðr verheiratet, dessen fortwährende Absenz sie zwar in Trauer versetzt, nicht aber von amourösen Abenteuern abhält. Ausgelebte Sexualität und Jungfräulichkeit müssen jedoch gerade im mythischen Bereich nicht unbedingt eine Unvereinbarkeit darstellen: Weibliche Jungfräulichkeit wird hier oftmals nicht im Sinne der physischen Unberührtheit einer virgo intacta verstanden, sondern meint vielmehr eine sexuell autarke, von männlichem Einfluss unabhängige Frau142 – Eigenschaften, welche

139 Hdl, Str. 6 und Str. 7, Neckel; Kuhn, Edda, S. 289. 140 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 199 f. 141 S. Hdl, Str. 45, Neckel; Kuhn, Edda, S. 295: „‚Ber þú minnisǫl mínom gelti / svát hann ǫll muni orð at tína / þessar rœðo [. . .]‘“ / „‚Bring Erinnerungsbier meinem Eber / so dass er alle Worte erzählen werde / von dieser Rede [. . .]‘“ (Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 209). 142 Vgl. Præstgaard Andersen, Lise: „On Valkyries, shield-maidens and other armed women – in Old Norse literature and Saxo Grammaticus“, in: Simek, Rudolf; Heizmann, Wilhelm (Hgg.): Mythological

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Freyja durchaus auszeichnen. Darin ähnelt sie der jungfräulichen Göttin Artemis bzw. ihrem römischen Gegenstück Diana,143 welche trotz ihrer Jungfräulichkeit zugleich Merkmale einer Fruchtbarkeitsgöttin aufweist. Bei Artemis/Diana handelt es sich um eine sehr komplexe Göttin, welche mit ähnlich ambivalenten Konnotationen wie Freyja verbunden ist: Als jungfräuliche Jägerin verfügt Artemis/Diana über einen kriegerischen Aspekt, gilt zugleich aber auch als Beschützerin der Frauen bei der Geburt144. Insbesondere die bei Nemi gefundenen Weihegaben an die Diana Aricia (Vulven, Phallen, Mütter mit Säuglingen) verdeutlichen die starke Verbindung dieser Göttin mit der Weiblichkeit und künden von ihrer Verehrung als „Schützerin des weiblichen Lebens und seiner Funktionen“145. Somit tritt Artemis/Diana gleichzeitig als „Förderin und Vernichterin des Lebens“146 in Erscheinung – eine Ambiguität, die auch Freyja kennzeichnet. Interessanterweise spielen gerade jugendliche Adoranten und das Vergießen ihres Blutes eine wichtige Rolle im Kult der spartanischen Artemis Orthia, welcher eine jährlich stattfindende, rituelle Auspeitschung147 von Epheben am Altar der Göttin beinhaltete. Diese Flagellation ist vielleicht als

Women. Studies in Memory of Lotte Motz 1922–1997. Wien, 2002 (Studia Medievalia Septentrionalia, 7), S. 297: „[. . .] the word ‚virgin‘ in this connection was not meant to provoke associations with the concept ‚virgo intacta‘ but rather with the concept ‚proud, unmarried woman, who is full of potential‘ – and is at the very least without the need for protection by a man.“ Vgl. dazu auch Näsström, Freyja, S. 101; Heizmann, Wilhelm: „Gefjon: Metamorphosen einer Göttin“, in: Simek, Rudolf; Heizmann, Wilhelm (Hgg.): Mythological Women. Studies in Memory of Lotte Motz 1922–1997. Wien, 2002 (Studia Medievalia Septentrionalia, 7), S. 228 sowie Böldl, Götter und Mythen, S. 263. 143 Diana wurde bereits sehr früh mit Artemis gleichgesetzt, vgl. dazu Eisenhut, Werner: Art. „Diana“, in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike, Bd. 1. Stuttgart, 1964, Sp. 1512. 144 Siehe dazu auch das bereits in Kapitel VI 2.2 angesprochene Beispiel der Artemis Eileithyia, welche von Schwangeren als Beistand bei der Geburt angerufen wurde. Vgl. Fauth, Wolfgang: Art. „Artemis“, in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike, Bd. 1. Stuttgart 1964, Sp. 621. 145 Eisenhut, Diana, Sp. 1511. 146 Fauth, Artemis, Sp. 620 f. 147 Bemerkenswerter- und passenderweise erfolgte die rituelle Flagellation im Kult der spartanischen Artemis Orthia mit einer Lygosrute (vgl. Fauth, Artemis, Sp. 623; Hoenn, Artemis, S. 35; Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, Bd. 1, S. 487). Artemis Orthia wurde auch ‚Lygodesma‘ – ‚Lygosgebunden‘ genannt, da ihr Götterbild angeblich von Zweigen umwunden in einem Lygosgestrüpp gefunden wurde. Nun handelt es sich bei dem Lygosgestrüpp um die im Mittelmeergebiet und Westasien beheimatete Pflanze Vitex agnus castus: den Mönchspfeffer. Name und Anwendung dieser Pflanze gründen sich auf die Anlehnung der griechischen Bezeichnung agnos an das griechische hagnos ‚heilig‘, ‚rein‘, ‚keusch‘). Der Gleichklang mit lat. agnus (Lamm) als Symbol der Keuschheit führte im christlichen Mittelalter zur Entstehung der Namen agnus castus bzw. käusch lamp und legte es nahe, die Samen des Mönchspfeffers als Anaphrodisiakum einzusetzen (vgl. Müller, Irmgard: Art. „Mönchspfeffer“, in: LexMA, Bd. 6. München, 1993, Sp. 747). Des Weiteren erfahren die Früchte des Mönchspfeffers seit der Antike insbesondere im Bereich der Frauenheilkunde eine arzneiliche Verwendung: Der Eintritt der Regelblutung soll damit gefördert und der Milchfluss unterstützt werden können. Zugleich wird dem Mönchspfeffer auch in der heutigen Pflanzenheilkunde ein günstiger Einfluss auf Symptome attestiert, die mit einem Überwiegen an Östrogenen und einem Mangel an Gelbkörperhormonen zusammenhängen; er soll bei Zyklusstörungen und

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Substitut eines Menschenopfers aus dem der Göttin eigentlich schutzbefohlenen Personenkreis zu deuten;148 es könnte sich dabei aber auch um eine Variante des innerhalb von Baum- und Fruchtbarkeitskulten häufig anzutreffenden „Schlag mit der Lebensrute“ handeln, mit Hilfe dessen man glaubte, die Lebenskraft junger Zweige auf den Geschlagenen übertragen zu können149. Zugleich beinhaltet die Auspeitschung jedoch auch Züge eines Initiationsrituals,150 bei dem die Fähigkeit im Ertragen physischer Schmerzen erprobt wurde. Neben ihrer Assoziation mit Geburt und Tod teilt Artemis/Diana mit Freyja auch die Konnotation mit dem Bereich der Magie: Schon seit dem frühen Mittelalter wird Diana als dämonische Anführerin nachtfahrender Frauen angesehen,151 wobei der nächtliche Zug der Adorantinnen Dianas als eine Variante der ‚Wilden Jagd‘ gedeutet werden kann.152 Bei Letzterer handelt es sich um „ein durch die Lüfte jagendes Toten- oder Geisterheer“153, welches sich vornehmlich aus den Seelen Verstorbener

unerfülltem Kinderwunsch helfen (vgl. hierzu: Enne, Diether; Deuter, Hans D.: Lexikon der Pflanzenheilkunde. Wirkung, Anwendung, Botanik, Geschichte. Stuttgart, 1998, S. 264 f.). 148 Vgl. Fauth, Artemis, Sp. 623. 149 Vgl. dazu Hoenn, Artemis, S. 35 und S. 183, Anm. 23 sowie Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, Bd. 1, S. 487. 150 Vgl. van Gennep, Übergangsriten, S. 168: „Rituelles Auspeitschen ist ein wichtiger Bestandteil vieler Initiationszeremonien [. . .].“ 151 Frühestes Zeugnis dieser Vorstellungen ist eine um das Jahr 906 von Regino von Prüm zusammengestellte Sammlung von Anweisungen für Bischöfe und ihre Vertreter, die nach ihrem Textbeginn als Canon episcopi bezeichnet wird. Sie enthält eine Liste abergläubischer Vorstellungen und Praktiken, welche die Kirchenmänner in ihren Gemeinden bekämpfen sollten. Dort heißt es: „Auch dies darf nicht übergangen werden, dass einige verruchte, wieder zum Satan bekehrte Frauen von den Vorspiegelungen und Hirngespinsten böser Geister verführt sind und glauben und behaupten, sie ritten zur nächtlichen Stunde mit Diana, der Göttin der Heiden, und einer unzähligen Menge von Frauen auf gewissen Tieren und legten in der Stille der tiefen Nacht weite Landstrecken zurück und gehorchten ihren (Dianas) Befehlen wie denen einer Herrin und würden in bestimmten Nächten zu ihrem Dienst herbeigerufen“ (Übersetzung nach: Das Sendhandbuch des Regino von Prüm. Unter Benutzung der Edition von F. W. H. Wasserschleben herausgegeben und übersetzt von Wilfried Hartmann. Darmstadt, 2004 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherrvom-Stein-Gedächtnisausgabe, 42), S. 421; vgl. hierzu auch Ginzburg, Carlo: Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte. Aus dem Italienischen von Martina Kemper. Berlin, 1990, S. 91 f.). Der Text erfuhr eine breite Rezeption und wurde mit geringfügigen Änderungen in das hundert Jahre später entstandene Decretum des Burchard von Worms aufgenommen. Sowohl Regino als auch Burchard gelten die nachtfahrenden Frauen als verblendet und ihre Glaubensvorstellungen als Einbildungen und Wahnvorstellungen. Die Anführerinnen der nachtfahrenden Frauen variieren im Lauf der Jahrhunderte und in verschiedenen Regionen: Neben Diana führen auch Herodias, Minerva, Venus oder einheimische Gestalten wie Frau Habonde, Holda oder Perchta ihren nächtlichen Zug an. Vgl. hierzu Ginzburg, Hexensabbat, S. 91–101 sowie Heizmann, Gefjon, S. 216–218. 152 Vgl. Ginzburg, Carlo: Die Benandanti. Feldkulte und Hexenwesen im 16. und 17. Jh. Aus dem Italienischen von Karl Friedrich Hauber. Frankfurt am Main, 1980, S. 63. 153 Berger, Karl Christoph: Art. „Wilde Jagd und Wildes Heer“, in: RGA, Bd. 34. Berlin, New York, 2007, S. 84.

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rekrutiert. Diese Totenschar umfasst wiederum in erster Linie gerade vorzeitig Verstorbene, Kinder sowie die Opfer eines gewaltsamen Todes154 – kurzum ruhelose und gefährliche Tote, deren Wiederkehr man gemeinhin besonders fürchtete. Die Wilde Jagd tritt insbesondere in den Übergangszeiten des (christlichen) Jahres (vor allem in den Rauhnächten) in Erscheinung, die als Tage galten, in denen eine Kontaktaufnahme zwischen Diesseits und Jenseits möglich war, und die daher traditionell für Orakel genutzt wurden.155 Es lässt sich also festhalten, dass die Wilde Jagd und in ähnlicher Form auch der Zug der nachtfahrenden Frauen in mehrfacher Hinsicht liminale Phänomene darstellen – in Form des Zwischenzustandes der Toten, die keine Ruhe finden sowie der kalendarischen Übergangszeit, zu welcher die Schar denn auch nur folgerichtig bevorzugt in Kontakt mit der Welt der Menschen tritt. Dass Artemis/Diana bereits in der Antike als Anführerin einer Schar von Nymphen galt, mit welcher sie Jagd auf Eber und Hirsche macht, ähnelt stark den mit der Wilden Jagd verbundenen Vorstellungen in den Volksmythen, was die heidnische Göttin somit zu einer geeigneten Gestalt machte, um den gespenstischen Zug nachtfahrender Frauen anzuführen.156 Trotz ihrer Ähnlichkeiten mit Artemis/Diana ist es in der übersetzten altnordischen Literatur dennoch nicht Freyja, sondern die Göttin Gefjon, welche mit Artemis/ Diana gleichgesetzt wird, während Freyja überwiegend an Stelle der Liebesgöttin Venus steht.157 Diese interpretatio norroena beruht vor allem darauf, dass es sich bei Gefjon der Gylfaginning zufolge um eine Jungfrau handelt, welcher die jungfräulich verstorbenen Mädchen dienen: „Hon er mær, ok henni þjóna þær er meyjar andask.“158 Wie bei Artemis/Diana ist jedoch auch die Jungfräulichkeit Gefjons nicht als physische Unberührtheit, sondern vielmehr im Sinne von sexueller Unabhängigkeit jenseits patriarchalischer Strukturen zu interpretieren, wie die Darstellung der Göttin in den altnordischen Quellen erkennen lässt: So tritt Gefjon zum Auftakt der Gylfaginning als eine farandi kona (‚fahrende Frau‘) in Erscheinung, welche als Belohnung für die ‚skemtunar‘ – also ‚Vergnügungen‘ bzw. den ‚Zeitvertreib‘159, die sie König Gylfi berei-

154 Vgl. Ginzburg, Benandanti, S. 63 sowie Motz, King, Champion, Sorcerer, S. 79: „In some tales the host is peopled by the dead. Geiler von Kaisersberg [sic] names them as those who died before their time.“ 155 Vgl. Berger, Wilde Jagd, S. 84. 156 Vgl. Heizmann, Gefjon, S. 215 ff., besonders S. 216 f., Anm. 69 sowie Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, Bd. 1, S. 499. 157 Vgl. Heizmann, Freyja, S. 293. 158 Gylf 35, Faulkes, SnE, S. 29. Anne Holtsmark hat indessen drauf aufmerksam gemacht, dass hiermit auch gemeint sein könnte, dass der Dienst an Gefjon mit einer lebenslangen Aufrechterhaltung der Jungfräulichkeit verbunden war (vgl. Holtsmark, Anne: Studier i Snorres Mytologi. Oslo, 1964, S. 71). 159 Die Grundbedeutung des Wortes ist ‚Zeitvertreib‘ bzw. ‚Vergnügung‘ (zu an. skammr ‚kurz‘, vgl. de Vries, Etym. Wörterbuch, S. 482), allerdings wird damit in der altnordischen Literatur ein breitgefächertes Bedeutungsspektrum abgedeckt, welches neben Sport, Jagd, Gedichtvortrag oder

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tet, von diesem ein Stück Land erhält (der König ahnt nicht, wie teuer ihn dieser Tauschhandel tatsächlich zu stehen kommen wird, da es Gefjon durch den Einsatz ihrer vier ochsengestaltigen, mit einem Riesen gezeugten Söhnen gelingt, die ganze Insel Seeland loszupflügen).160 Dass die Vergnügungen, die Gefjon König Gylfi angedeihen lässt, sexueller Natur sind, kann anhand der Bezeichnung Gefjons als farandi kona recht eindeutig erschlossen werden, denn solche umherziehenden Frauen wurden nach altisländischem Recht nicht durch das Gesetz vor erzwungenem Beischlaf beschützt – sie standen außerhalb der Gesellschaft und waren „praktisch sexuell frei verfügbar“161. Auch Lokis Spott in der Lokasenna zielt auf die erotische Freizügigkeit Gefjons ab.162 Zwischen Freyja und Gefjon lassen sich somit große Übereinstimmungen konstatieren: Beide Göttinnen sind mit Magie und Sexualität assoziiert; sie treten als nicht-sesshafte Frauen in Erscheinung und gelangen im Austausch gegen sexuelle Dienste in den Besitz von Land bzw. eines Schmuckstückes.163 Zudem ähnelt der Name Gefjons auffallend Freyjas Beiname Gefn; wie dieser leitet auch der Name Gefjon sich von an. gefa ‚geben‘ ab und weist die Göttin als ‚Gebende‘, also eine segensspendende Fruchtbarkeitsgöttin aus.164 Diese zahlreichen Gemeinsamkeiten haben in der Forschung wiederholt Anlass dazu gegeben, Gefjon als eine Hypostase Freyjas – d. h. einen Aspekt einer ursprünglich einheitlichen Gottheit, der sich abgespalten und zu einer eigenen Gestalt verdichtet hat – zu interpretieren.165 Ginge man von dieser Hypothese aus, ließe sich natürlich ob Gefjons Gleichsetzung mit Artemis/Diana in der altnordischen Übersetzungsliteratur auch für Freyja ein starker Bezug zur Jungfräulichkeit und, damit verbunden, der Phase der Adoleszenz herstellen. Allerdings ist die Interpretation der Gestalt der Gefjon als Hypostase Freyjas zu unsicher, als dass sie zur Grundlage einer Deutung Freyjas im Kontext

sogar im euphemistischen Sinne Kampf auch verschiedenste erotische Betätigungen vom Flirt bis zum Geschlechtsakt beinhaltet. Vgl. hierzu ausführlich mit Belegstellen Heizmann, Gefjon, S. 201 f. 160 Vgl. Gylf 1, Faulkes, SnE, S. 7: „Gylfi konungr réð þar lǫndum er nú heitir Svíþjóð. Frá honum er þat sagt at hann gaf einni farandi konu at launum skemtunar sinnar eitt plógsland í ríki sínu þat er fjórir øxn drœgi upp dag ok nótt. En sú kona var ein af Ása ætt. Hon er nefnd Gefjun.“/ „König Gylfi herrschte damals über das Land, das nun Schweden heißt. Von ihm wird erzählt, dass er einer fahrenden Frau als Lohn für ihre Vergnügungen ein Stück Ackerland in seinem Reich überließ, welches vier Ochsen innerhalb eines Tages und einer Nacht umpflügen würden. Und diese Frau war eine aus dem Geschlecht der Asen. Sie hieß Gefjun.“ 161 Heizmann, Gefjon, S. 206. Von einer sexuellen Bedeutung der durch Gefjon bereiteten skemtunar gehen auch Näsström (vgl. Näsström, Freyja, S. 100) und Holtsmark (Holtsmark, Snorres Mytologi, S. 69) aus. 162 S. Ls, Str. 20, Neckel; Kuhn, Edda, S. 100. 163 Vgl. Kapitel II 2.2.2 der vorliegenden Untersuchung: Freyja zieht auf der Suche nach Óðr umher und erwirbt laut Sǫrla þáttr das Brísingamen im Austausch gegen sexuelle Gefälligkeiten von Zwergen. 164 Vgl. Zernack, Julia: Art. „Gefjon, Gefn“, in: RGA, Bd. 10. Berlin, New York, 1998, S. 529. 165 Vgl. Heizmann, Freyja, S. 292.

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von Jungfräulichkeit und Adoleszenz gemacht werden könnte. Es bleibt nur, die starken Ähnlichkeiten zwischen Freyja und Gefjon festzuhalten und angesichts dieser Affinitäten auf die Züge zu verweisen, welche auch Freyja mit Artemis/Diana verbinden. Berücksichtigt werden kann folglich streng genommen lediglich, dass auch Freyja als sexuell autarke Göttin in Erscheinung tritt, und somit im mythologischen Kontext Charakteristika einer jungfräulichen Göttin besitzt. Durchaus für eine Verbindung Freyjas zur Schwellenphase der Adoleszenz herangezogen werden kann jedoch ihr Fungieren als Initiatorin und Wissensvermittlerin in den eddischen Hyndluljóð.

3.3 Óðinn Wie bereits im vorangegangenen Kapitel für Freyja aufgezeigt, erschließt sich auch Óðinns Verbindung zur Schwellenphase der Adoleszenz angesichts des Umstands, dass diese in traditionellen Gesellschaften mit der Initiation der Heranwachsenden einhergeht. Im Zuge ihrer Initiation werden die Jugendlichen in unterschiedlichen Kategorien geheimen Wissens ihrer Ethnie unterwiesen, sie erfahren beispielsweise mehr über Mythen, Stammesrecht und rituelle Handlungsweisen.166 Insbesondere vor dem Hintergrund dessen, dass die damit verbundenen Riten oftmals das Erdulden körperlicher Schmerzen und den symbolischen Tod des Initianden beinhalten,167 kann durchaus ein Bezug zwischen der Rolle des Neophyten und Óðinn als dem Gott des altnordischen Pantheons „who suffers in order to gain“168 hergestellt werden. Gleich einem Initianden erduldet Óðinn in verschiedenen mythischen Begebenheiten der altnordischen Überlieferung Schmerzen und Verlust, um mit dem Numinosen in Kontakt zu treten und geheimes Wissen zu akquirieren: So opfert er sein Auge, um aus Mímirs Brunnen,169 der unter der Weltesche gelegenen Quelle der Weisheit, trinken zu können170 und wird – als Zauberer verdächtigt und unerkannt – in den eddischen Grímnismál von

166 Vgl. Brunotte, Initiation, S. 96. 167 Eliade, Das Mysterium der Wiedergeburt, S. 13 f.: „Die meisten Initiationsprüfungen umfassen auf mehr oder weniger erkennbare Weise einen rituellen Tod, auf den eine Auferstehung oder Wiedergeburt folgt. Das zentrale Erlebnis jeder Initiation wird durch die Zeremonie dargestellt, die den Tod des Neophyten und seine Rückkehr zu den Lebenden symbolisiert. Aber er kommt als neuer Mensch ins Leben zurück, der eine andere Seinsweise auf sich genommen hat. Der Initiationstod bedeutet gleichzeitig das Ende der Kindheit, der Unwissenheit und des profanen Zustandes.“ 168 Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 427. 169 Vgl. Simek, Lexikon der germanischen Mythologie, S. 267 f. 170 S. Gylf 15, Faulkes, SnE, S. 17: „En undir þeiri rót er til hrímþursa horfir, þar er Mímis brunnr, er spekð ok mannvit er í fólgit, ok heitir sá Mímir er á brunninn. Hann er fullr af vísindum fyrir því at hann drekkr ór brunninum af horninu Gjallarhorni. Þar kom Alfǫðr ok beiddisk eins drykkjar af brunninum, en hann fekk eigi fyrr en hann lagði auga sitt at veði.“ / „Und unter der Wurzel, die zu den Reifriesen zeigt, dort ist Mímirs Brunnen, in dem Weisheit und Verstand verborgen sind, und der

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König Geirrǫðr acht Nächte lang ohne Nahrung zwischen zwei Feuer gesetzt171, wodurch er zur Weitergabe mythischen Wissens an den König gezwungen wird. Allerdings kann diese ‚Feuerprobe‘ Óðinns auch weniger im Sinne eines Initiationsritus, denn als eine bloße Marter gedeutet werden, die den Gott in einen Trancezustand versetzt, in welchem er eine Vision mythischer Orte und Begebenheiten erlebt und schließlich – so Jan de Vries’ Interpretation – „durch das Aussprechen seiner Kultnamen die Kraft erlangt, seine Fesseln zu zerreißen und in seiner göttlichen Majestät zu erscheinen“.172 Die stärkste Analogie zu einem Initiationsritus, der mit einem Scheintod verbunden ist und in einer Wiedergeburt gipfelt, weist freilich Óðinns Selbstopfer zur Gewinnung der Runenkenntnis auf, von welchem der Gott als Sprecher der Hávamál berichtet: Veit ec, at ec hecc vindgameiði á nætr allar nío, geiri undaðr oc gefinn Óðni, siálfr siálfom mér, á þeim meiði, er mangi veit, hvers hann af rótom renn.

heißt Mímir, dem der Brunnen gehört. Er ist voll von Weisheit, weil er aus dem Brunnen mit dem Horn Gjallarhorn trinkt. Dorthin kam Alfǫðr [= Óðinn] und begehrte einen Schluck aus dem Brunnen trinken zu dürfen, aber es wurde ihm nicht erlaubt, ehe er sein Auge als Pfand gab.“ Von diesem Opfer Óðinns berichtet auch die Vsp, Str. 28, Neckel; Kuhn, Edda, S. 7: „‘[. . .] alt veit ec, Óðinn, hvar þú auga falt: / í inom mæra Mímis brunni.’ / Dreccr mioð Mímir morgin hverian / af veði Valfǫðrs [. . .].“ / „‚[. . .] Schon weiß ich, Odin, wo du das Auge verbargst / in dem berühmten Brunnen Mimirs.‘ / Met trinkt Mimir jeden Morgen / aus dem Pfand Walvaters [. . .].“ (Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 21). 171 S. Grm, Str. 2, Neckel; Kuhn, Edda, S. 57: „Átta nætr sat ec milli elda hér, / sva at mér mangi mat né bauð [. . .].“ / „Acht Nächte saß ich hier zwischen den Feuern, / sodass mir niemand Speise anbot [. . .].“ (Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 91). 172 De Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 1, S. 502. Eine andere Ansicht vertritt Jens-Peter Schjødt: Das Ziel der Folter zwischen den Feuern sei, den vermeintlichen Zauberer zu martern und seine Weigerung zu sprechen zu durchbrechen. Elemente eines Initiationsritus lägen in den Grímnismál abseits des Erduldens physischer Qualen nicht vor. Schjødt bewertet somit die Parallellen zwischen Óðinns Hängeopfer in den Hávamál, welches er als Initiationsritus interpretiert, und der ‚Feuerprobe‘ der Grímnismál als zu oberflächlich (vgl. Schjødt, Jens-Peter: „The ‘fire ordeal’ in the Grímnismál – initiation or annihilation?“, in: Mediaeval Scandinavia, 12, 1988, S. 29–43, besonders S. 36–42). Auch wenn ich mich Schjødt dahingehend anschließe, dass Óðinns Selbstopfer zur Runengewinnung in sehr viel höherem Maß Züge eines Initiationsritus trägt, kann meines Erachtens durchaus auch die ‚Feuerprobe‘ der Grímnismál im Kontext von Initiation gedeutet werden. Sehr überzeugend erscheint mir diesbezüglich die u. a. von de Vries aufgezeigte Ähnlichkeit von Óðinns Qual zwischen den Feuern mit dem indischen dīkšā-Ritual, das dem Somaopfer vorangeht und im Zuge dessen ein Initiand hungernd und in ein Antilopenfell gehüllt nahe dem Opferfeuer Wache halten muss. Durch das Erdulden der Hitze soll ein erweiterter Bewusstseinszustand, der Zugang zur sakralen Sphäre ermöglicht, erzeugt und der Neophyt auf das kommende Opfer vorbereitet werden. (vgl. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 1, S. 502 sowie zur ‚magischen Hitze‘ Eliade, Wiedergeburt, S. 151 ff.).

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Við hleifi mic sældo né við hornigi, nýsta ec niðr; nam ec upp rúnar, œpandi nam, fell ec aptr þaðan.173 Ich weiß, dass ich hing am windigen Baum neun ganze Nächte, vom Speer verwundet und Odin geopfert, selber mir selbst, an dem Baum, von dem niemand weiß, aus welchen Wurzeln er wächst. Weder Brot reichten sie mir noch Trinkhorn, ich blickte nach unten; ich nahm die Runen auf, nahm sie schreiend, ich fiel wieder herab.174

Durch Fasten und das Ertragen der durch Aufgehängtwerden und Speerwunde verursachten körperlichen Schmerzen erreicht der Gott einen höheren Bewusstseinszustand und ist somit bereit, Einblick in geheimes Wissen (in Form der Runen) zu erhalten.175 In der Mythologie nimmt Óðinn also oftmals die Rolle eines Initianden ein, wenn er sich selbst bzw. Teile seines Körpers opfert, körperliche Qualen erduldet sowie durch symbolisches Sterben und Wiedergeburt eine neue Bewusstseinsstufe erreicht. Er kann somit als mythischer Prototyp des Initianden betrachtet werden, wie bereits Jan de Vries im Kontext von Óðinns Selbstopfer aufgezeigt hat: „Der Gott tritt hier, wie das auch sonst in Mysterienkulten der Fall ist, als der erste Eingeweihte auf, indem an ihm der Ritus vollzogen wird und er gleichsam sich selbst zum Opfer darbringt.“176 Es ist ebendieses Fungieren als „göttlicher Initiand“, welches Óðinn in Bezug zur Adoleszenz als einer Phase der Initiation setzt. Óðinn agiert jedoch in der altnordischen Überlieferung zugleich in der Rolle des Initiators, der geheimes Wissen an ihm besonders verbundene Helden weitergibt.177 Vor allem Krieger aus dem Geschlecht der Völsungen, dessen namensgebender Stammherr seine Existenz dem Einwirken Óðinns verdankt,178 kommen in der Vǫlsunga saga

173 Háv, Str. 138 f., Neckel; Kuhn, Edda, S. 40. 174 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 65. 175 Vgl. dazu Böldl, Götter und Mythen, S. 175f. sowie de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 1, S. 500. Eine ausführliche Besprechung von Óðinns Hängeopfer im Kontext von Initiationsriten findet sich bei Schjødt, Initiation, S. 173–206. 176 De Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 1, S. 500. 177 Vgl. dazu Schjødt, Initiation, S. 454: „Óðinn plays two different roles in initiation myths, since he partly corresponds to the initiand, as the one who benefits from the acquired knowledge, and partly, in other myths, occupies the role of initiator, because he instructs the subject [. . .].“ 178 Ein von Óðinn gesandter Apfel verhilft laut Vǫlsunga saga der Mutter des Vǫlsungr zur Schwangerschaft, vgl. Kapitel VI 2.3.

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und den ihr zugrundeliegenden eddischen Heldenliedern wiederholt in den Genuss von Hilfestellungen und Unterweisungen durch den sich ihnen zeigenden Gott. Dabei wird die enge Bindung zwischen dem Völsungengeschlecht und Óðinn insbesondere in der Vǫlsunga saga gut erkennbar, in welcher der Gott wiederholt mit verschiedenen Vertretern des Geschlechtes interagiert und zum Bestimmer über deren Schicksal wird: So stattet Óðinn den jungen Sigmundr mit einem vortrefflichen Schwert aus,179 verursacht jedoch im späteren Verlauf der Saga durch sein Einwirken die Zerstörung ebendieses Schwertes, was Sigmundrs Kampfgeschick wendet und zu dessen Tod führt: Ok er orosta hafdi stadit um hrid, þa kom madr i bardagann med sidan hátt ok heklu bla. Hann hafdi eitt auga ok geiR i hendi. Þessi madr kom a mot Sigmundi konungi ok bra upp geirinum fyrir hann, ok er Sigmundr konungr hio fast, kom sverdit i geiRinn, ok brast i sundr i tva luti. Siþan sneri mannfallinu, ok voru Sigmundi konungi horfinn heill, ok fell miok lidit fyrir honum. Konungrinn lifde ser ecki ok eggiar miok lidit. Nu er sem męllt, at eigi ma vid margnum. [. . .] I þesse orostu fell Sigmundr konungr [. . .].180 Und als der Kampf eine Weile angedauert hatte, da kommt ein Mann in die Schlacht mit einer weit herab reichenden Kapuze und einem blauen181 Mantel. Er hatte ein Auge und einen Speer in der Hand. Dieser Mann griff König Sigmundr an und hob schnell den Speer vor ihm empor, und als König Sigmundr heftig zuschlug, traf das Schwert auf den Speer und brach in zwei Teile auseinander. Danach wendete sich das Sterben, und das Glück hatte König Sigmundr

179 Der junge Sigmundr ist, ähnlich wie Artus, als Einziger in der Lage, das Schwert aus einem Baumstamm in der Halle seines Vaters zu ziehen, in welchen es der in Gestalt eines alten Mannes bei einem Festmahl erscheinende Óðinn gestoßen hatte. Der unbekannte Besucher ist dabei allein schon anhand seiner Einäugigkeit eindeutig als der Gott Óðinn zu erkennen. Vgl. Vǫls, Kap. 3, STUAGNL 36, S. 6 f. 180 Vǫls, Kap. 11 u. 12, STUAGNL 36, S. 27 f. 181 Der blaue Mantel ist ein wiederkehrendes Attribut Óðinns in der altnordischen Überlieferung. Was man sich unter der Farbbezeichnung dieses Kleidungsstückes vorzustellen hat, ist nicht ganz eindeutig: Der Begriff blár kann sowohl mit ‚blau‘ als auch mit ‚dunkelblau‘ und ‚schwarz‘ übersetzt werden (vgl. z. B. Baetke, Wörterbuch, S. 56). Aller Wahrscheinlichkeit nach „handelt es sich bei dieser Farbe um ein sehr dunkles, künstlich gefärbtes Blau oder Blauschwarz. Letzteres lässt sich durch Überfärben von dunkelbrauner Schafwolle mit einem Blauton erzielen.“ (Sauckel, Kleidung, S. 115). Da ein reiner Schwarzton beim Färben kaum erreicht werden konnte, entsprach das Adjektiv blár zur Beschreibung dunkler Kleidung konzeptuell am ehesten der Farbe, die im Deutschen mit ‚schwarz‘ bezeichnet wird (vgl. Brückmann, Georg C.: Altwestnordische Farbsemantik. München, 2012 (Münchner Nordistische Studien, 11), S. 17)). Anita Sauckel konstatiert, dass blauschwarze Kleidungsstücke in den Isländersagas und den Íslendingaþættir „oftmals ein erhöhtes Aggressionspotential sowie Gefahren für Leib und Leben von Protagonisten und Sagafiguren“ anzeigen; sehr häufig stünden sie „mit kriegerischen Handlungen wie beispielsweise Rachetotschlägen in Verbindung.“ (Sauckel, Kleidung, S. 128). Die Farbe blár kann somit – nicht zuletzt da sie auch zur Beschreibung der Hel verwendet wird („Hon er blá hálf en hálf með hǫrundar lit“ (Gylf 33, Faulkes, SnE, S. 27) / „Sie ist halb blau und halb fleischfarben“) – mit Aggressivität und dem Tod in Verbindung gebracht werden. Ein Mantel in dieser Färbung stellt also ein äußerst passendes Kleidungsstück für Óðinn da, der gleichermaßen mit Kampf und Krieg sowie dem Tod assoziiert ist und diesen auch selbst ankündigen oder herbeiführen kann, wie in der oben zitierten Passage aus der Vǫlsunga saga.

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verlassen, und viele seiner Leute fielen vor ihm. Der König schonte sich nicht und spornt seine Leute sehr an. Nun geschieht es, wie man sagt, dass keiner etwas gegen viele auszurichten vermag. [. . .] In dieser Schlacht fiel König Sigmundr [. . .].

Von besonderem Interesse im Zusammenhang mit Óðinns Rolle als Initiator sind diejenigen Passagen der Völsungenüberlieferung, in welchen der Gott Ratschläge und spezielles Wissen an Mitglieder des Völsungengeschlechts weitergibt. So trifft der junge Sigurðr (der Sohn Sigmundrs) in der Vǫlsunga saga im Wald auf einen alten Mann, den er um Rat bei der Auswahl eines Pferdes bittet. Der Alte rät Sigurðr, die Pferde in einen Fluss zu treiben. Nur eines von ihnen schwimmt nicht wieder zurück an Land, woraufhin der Fremde Sigurðr mitteilt, dass es von Sleipnir abstamme – Óðinns achtbeinigem Pferd, welches in der Lage ist, die Grenze zur unterweltlichen Hel zu überwinden. Sigurðr entscheidet sich nach dieser Erprobung für das unerschrockene Tier und gibt ihm den Namen Grani. Obschon die Hinweise auf die Identität von Sigurðrs Ratgeber bereits mehr als deutlich sind, wird der Fremde in der Saga schließlich auch explizit als Óðinn benannt („Oþinn hafde hann hittan.“182 / „Er hatte Óðinn getroffen.“).183 Auf der Fahrt zum Kampf gegen die Hundingssöhne, an denen er Rache für die Tötung seines Vaters nehmen will, begegnet Sigurðr erneut einem alten Mann, der während eines schweren Sturms darum bittet, von Sigurðr an Bord seines Schiffes genommen zu werden. Sobald der Fremde – der sich unter den Namen Hnikarr, Feng und Fjǫlnir vorstellt und schon allein durch diese Vielfalt an Pseudonymen dem Rezipienten klar als Óðinn erkennbar wird – das Schiff besteigt, legt sich der Sturm: ein weiterer Hinweis auf die wahre Identität des neuen Passagiers und zugleich ein Zeichen davon, dass Sigurðr unter dem besonderen Schutz des Gottes steht. Diese Episode findet sich sowohl in den eddischen Reginsmál als auch in verkürzter Form in der Vǫlsunga saga.184 Zumindest in den Reginsmál scheint auch Sigurðr den Fremden als Óðinn zu erkennen, da er sich auf dessen Allwissenheit beruft und ihn nach Vorzeichen fragt, auf die es beim Kampf zu achten gilt. Daraufhin erteilt der Gott Sigurðr Ratschläge, die einem Krieger in der Schlacht zum Erfolg verhelfen können. Diese sind nur in den Reginsmál (Str. 20–25) wiedergegeben185 und umfassen neben dem pragmatischen Hinweis, dass man, um siegreich aus einer Schlacht hervorzugehen, beim Kämpfen nicht direkt gegen die Sonne blicken sollte, auch Mitteilungen, die durchaus als Geheimwissen bezeichnet werden können: So warnt Óðinn Sigurðr vor trügerischen Disen, welche ihm den Tod bescheren wollen, und nennt ihm die Begleitung eines Raben und das Heulen eines Wolfes als günstige Omen für den glücklichen Ausgang

182 183 184 185

Vǫls, Kap. 13, STUAGNL 36, S. 32. S. ebd., S. 31 f. S. Vǫls, Kap. 17, STUAGNL 36, S. 39 sowie Rm, 15 pr. – 18 pr., Neckel; Kuhn, Edda, S. 177 f. S. Rm, Str. 20–25, Neckel; Kuhn, Edda, S. 178 f.

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eines Kampfes.186 In der Folge ist es Sigurðr möglich, den Sieg gegen die Hundingssöhne zu erlangen und somit seinen Vater zu rächen – die Ratschläge Óðinns können also ein wichtiges Element auf Sigurðrs Weg zum erfolgreichen Kriegerdasein und somit als Bestandteil seiner Initiation zum Krieger gedeutet werden. Eine Parallele zu der Unterweisung Sigurðrs findet sich in Saxos Gesta Danorum, in welchen Óðinn/ Othinus seinem Schützling Hadingus – welchem er bereits zuvor in Gestalt eines alten, einäugigen Wanderers geholfen hatte187 – ganz ähnliche Belehrungen erteilt: Auch Hadingus nimmt einen unbekannten, alten Mann an Bord, welcher dem Helden detaillierte Anweisungen zur Aufstellung seiner Truppen gibt und ihm anschließend auch im Kampf zur Seite steht, wo er durch einen Wetterzauber seinerseits ein von Hadingus’ Gegnern magisch erzeugtes Unwetter abwehrt. So gelingt es Hadingus, den Sieg zu erringen. Der zweifellos als Óðinn zu identifizierende Fremde verlässt Hadingus mit einer Prophezeiung dessen Tod betreffend188 – er offenbart somit neben militärischen Ratschlägen auch verborgenes Wissen. In der altnordischen Überlieferung fungiert Óðinn also wiederholt als Initiator von herausragenden Herrschern und Kriegern. Durch die Weitergabe von numinosem Wissen verhilft er ihnen zu Erfolg in der Schlacht. Jens Peter Schjødt stellt die schlüssige These auf, dass diese auserwählten Krieger und Herrscher im Zuge dieser Unterweisung durch den Gott selbst gleichsam in seine Gefolgschaft aufgenommen werden, damit sie dereinst ihre Rolle als Kämpfer an seiner Seite bei den ragnarǫk einnehmen können: When Óðinn appears in a variety of mythic contexts as the god of kings or warriors, or at least certain warriors, namely the members of men’s bands [. . .], it is highly likely that the main reason for this is that these kings and warriors are initiated to him. In the world of myth, Óðinn is first and foremost characterised as a god who is in possession of numinous knowledge, which he has acquired through a series of initiation-like scenarios, but in his relationship to the world of human beings he is characterised by being the one who, as initiator, gives certain social categories a range of numinous knowledge and thereby makes them suitable to assume the position that they have in the final phase.

Bei den von Schjødt im obenstehenden Zitat erwähnten „men’s bands“, den Männerbünden, handelt es sich um eine oftmals bei archaischen Gesellschaften anzutreffende soziale Erscheinung, welche eine Sonderform der Geheimbünde darstellt und nur männlichen Mitgliedern vorbehalten ist.189 Auch wenn dieses Phänomen

186 Bei Rabe und Wolf handelt es sich um mit Óðinn in seiner Eigenschaft als Kriegs- und Totengott besonders assoziierte Walstatt-Tiere, deren Erscheinen in diesem Kontext bedeuten soll, dass der siegreiche Krieger ihnen in Form der Leichen seiner Gegner reichliche Beute liefern wird. Vgl. dazu von See, Klaus et. al.: Kommentar zu den Liedern der Edda, Bd. 5: Heldenlieder. Frá dauða Sinfiǫtla, Grípisspá, Reginsmál, Fáfnismál, Sigrdrífumál. Heidelberg, 2006, S. 332–336. 187 S. Gesta Danorum, Lib I, S. 23. 188 S. ebd., S. 30 f. 189 Meier, Mischa: Art. „Männerbund“, in: RGA, Bd. 19. Berlin, New York, 2001, S. 105.

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in der vorliegenden Untersuchung nicht in extenso besprochen werden kann, soll es aufgrund seiner engen Bezüge zur Verbindung Óðinns mit der Initiationsthematik an dieser Stelle kurz vorgestellt werden: Der Eintritt in den Männerbund erfolgt zumeist beim Übertritt vom Jugend- in den Erwachsenenstatus und wird durch einen spezifischen Initiationsritus vollzogen.190 Die Zeit der Mitgliedschaft in einem Männerbund entspricht der liminalen Phase von van Genneps dreistufigem Schema der Übergangsriten, „in der die Initianden visuell (z. B. durch Nacktheit, Maskengebrauch), rituell, räumlich und strukturell (Totenstatus) von der Gemeinschaft separiert werden, besondere Ausbildungen erhalten (z. B. zu Elitekriegern) und mit den Traditionen und Mythen ihrer Gemeinschaft vertraut gemacht und damit letztlich zur Reflexion über diese gezwungen werden“191. Für die Mitglieder des Männerbundes gelten die Regeln der Gemeinschaft nur mehr eingeschränkt oder gar nicht (oftmals besitzen Männnerbünde im Zuge ihrer rituellen Freiheiten z. B. Stehlrecht). Der Männerbund kann dennoch auch zum Schutz der Gemeinschaft fungieren, indem er Elitekrieger stellt, die Einhaltung der gesellschaftlichen Normen überwacht und von seinem Rügerecht Gebrauch macht, um Normverstöße zu bestrafen.192 Von der Existenz derartiger Männerbünde im germanischen Bereich zeugen verstreute Einzelbelege, denen insbesondere von Otto Höfler193 im Anschluss an Lily Weiser194 eine große Tragweite beigemessen wurde. Als konstituierendes und sich kontinuierlich weiterentwickelndes Element germanischer Gesellschaften, wie ihn besonders die nationalsozialistische Ideologie gerne gesehen hätte, lässt sich der Männerbund sicherlich nicht nachweisen.195 Dennoch gibt es durchaus Zeugnisse, die das Vorhandensein von Männerbünden im germanischen Raum belegen können – wie zum Beispiel die Meldung des Tacitus über die jungen Krieger der Chatten, welche ihr Haupt- und Barthaar so lange wild wachsen ließen, bis sie den ersten Feind erschlagen hätten. Zudem trügen die ‚Allertapfersten‘ unter ihnen einen eisernen Ring als Zeichen 190 Vgl. ebd. 191 Meier, Männerbund, S. 105 f. 192 Vgl. Höfler, Otto: Kultische Geheimbünde der Germanen, Bd. 1. Frankfurt am Main, 1934, S. 259 f. sowie Meier, Männerbund, S. 106 und S. 109. 193 Vgl. Höfler, Kultische Geheimbünde der Germanen, Bd. 1, passim. 194 Vgl. Weiser, Lily: Altgermanische Jünglingsweihen und Männerbünde. Ein Beitrag zur deutschen und nordischen Altertums- und Volkskunde. Bühl (Baden), 1927 (Bausteine zur Volkskunde und Religionswissenschaft, Heft 1), passim. 195 Vgl. Meier, Männerbund, S. 108. Kris Kershaw verteidigt in ihrer Untersuchung Odin. Der einäugige Gott und die indogermanischen Männerbünde die Forschungsergebnisse Otto Höflers trotz dessen Annäherung an den Nationalsozialismus, da es sich bei den Männerbünden in der Tat um ein bedeutendes, im gesamten indogermanischen Raum verbreitetes Phänomen handele (vgl. Kershaw, Kris: Odin. Der einäugige Gott und die indogermanischen Männerbünde. UhlstädtKirchhasel, 2003, S. 36 ff. und passim). Mischa Meier bewertet die Männerbünde hingegen als „eine soziale Erscheinung, die grundsätzlich in archaischen Ges[ellschaften, C. K.] beobachtet werden kann“ (Meier, Männerbünde, S. 108) und somit nicht als spezielles, gemeingermanisches Phänomen zu werten sei (vgl. ebd.).

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der Schande, welchen sie ebenfalls erst mit der Tötung eines Feindes entfernen dürften: [. . .] apud Chattos in consensum vertit, ut primum adoleverint, crinem barbamque submittere nec nisi hoste caseo exuere votivum obligatumque Virtuti oris habitum. [. . .] (fortissimus quisque ferreum insuper anulum – ignominiosum id genti – velut vinculum gestat, donec se caede hostis absolvat).196 [. . .] bei den Chatten dagegen hat es sich als allgemeiner Brauch durchgesetzt, dass sie, sobald sie erwachsen sind, die Haupt- und Barthaare wild wachsen lassen und diese Haartracht, die ein Gelöbnis und zugleich eine Verpflichtung der Tapferkeit gegenüber enthält, erst ablegen, nachdem sie einen Feind erschlagen haben. [. . .] (Die Allertapfersten tragen außerdem einen eisernen Ring wie eine Art Fessel – dies gilt bei ihnen als eine Schande –, bis sie nach der Tötung eines Feindes davon befreit werden).197

Offenbar bildeten die jungen Krieger bis zur Tötung des ersten Feindes „einen altersklassenabhängigen, kultisch fundierten Bund [. . .], dessen erfolgreiche Absolvierung Voraussetzung für die Anerkennung als vollwertige erwachsene Mitglieder der Gemeinschaft gewesen sein dürfte“198. Innerhalb der altnordischen Überlieferung können insbesondere die Berserker als männerbündischer Zusammenschluss gedeutet werden. Diese in ekstatischer Wut kämpfenden, als unverwundbar geltenden Tierkrieger treten in Gruppen von oftmals zwölf Personen in Erscheinung. Sie werden mit Hunden, Wölfen und Bären verglichen und nehmen somit eine Position zwischen Mensch und Tier ein. Snorri Sturluson beschreibt die Berserker als dem Gott Óðinn zugehörig: [. . .] en hans menn fóru brynjulausir ok váru galnir sem hundar eða vargar, bitu í skjǫldu sína, váru sterkir sem birnir eða griðungar. Þeir drápu mannfólkit, en hvártki eldr né járn orti á þá. Þat er kallaðr berserksgangr.199 [. . .] aber seine [=Óðinns] Männer gingen ohne Brünnen und waren toll wie Hunde oder Wölfe. Sie bissen in ihre Schilde und waren stark wie Bären oder Stiere. Sie erschlugen die Menschen, und weder Feuer noch Eisen konnte ihnen etwas anhaben. Man nennt dies Berserkergang.

Die Berserker gehören Óðinn demnach offenbar in besonderer Weise an, möglicherweise sind sie dem Gott geweiht, was ihre Bezeichnung als „seine“ Männer in der oben zitierten Passage nahelegt. Óðinn wäre demnach als Kultgott derartiger Kriegerverbände200 aufzufassen, mit welchen er die Fähigkeit zur Tierverwandlung sowie

196 P. Cornelius Tacitus. Germania. Interpretiert, herausgegeben, übertragen und kommentiert und mit einer Bibliographie versehen von Allan A. Lund. Heidelberg, 1988, Kap. 31, S. 95. 197 Übersetzung nach Lund, Germania, S. 95. 198 Meier, Männerbünde, S. 108 f. 199 Hkr I, Yngl saga, ÍF 26, S. 17. 200 Vgl. Maier, Bernhard; Meier, Mischa: Art. „Initiation- und Initiationsriten“, in: RGA, Bd. 15. Berlin, New York, 2000, S. 441.

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die Assoziation mit ekstatischer Wut201 teilt. Zudem künden zahlreiche Odinsnamen von den Affinitäten zwischen Óðinn und den Berserkern: Grímr und Grímnir202 zeigen das Tragen einer Maske, Loðungr203 das einer Kapuze an; zugleich beziehen sich mehrere Odinsnamen entweder direkt (Bjarki204, Bjǫrn205) oder in tabuisierender Form (z. B. Hrjótr206 oder Jólfr207) auf den Bären.208 In seiner Verbindung zu den männerbündischen Kriegerverbänden wäre Óðinn also ebenfalls eng mit dem Themengebiet der Initiation assoziiert, auch wenn sich im Fall der Berserker nicht klar entscheiden lässt, ob es sich dabei um einen zeitlich begrenzten Zusammenschluss jugendlicher Krieger in einer Übergangsphase oder eher ein lebenslang andauerndes Elitekriegertum und somit lebenslange Liminalität handelte. Vielleicht existierte auch beides nebeneinander, wie bei den Chatten – denn in der oben zitierten Passage der Germania heißt es weiter, dass viele von ihnen den erwähnten Eisenring und die lange Haar- und Bartracht nicht nach der Tötung des ersten Feindes entfernen, sondern ein Leben lang behalten und als Elitekrieger agieren, womit als liminal zu bewertende Phänomene wie Heimatlosigkeit und Besitzlosigkeit209 einhergehen: plurimis Chattorum hic placet habitus, iamque canent insignes et hostibus simul suisque monstratir. omnium penes hos initia pugnarum; haec prima semper acies, visu nova: nam ne in pace quidem vultu mitiore mansuescunt. nulli domus aut ager aut aliqua cura: prout ad quemque venere, aluntur, prodigi alieni, contemptores sui, donec exsanguis senectus tam durae virtuti impares faciat.210 Sehr vielen Chatten gefällt dieses Äußere,211 und so werden sie alt und grau, für Freund wie für Feind leicht auszumachen. Sie eröffnen immer den Kampf, und sie bilden immer die erste Schlachtreihe und bieten einen schockierenden Anblick. Denn nicht einmal im Frieden geben sie sich ein sanftes Aussehen. Keiner von ihnen hat Haus oder Äcker oder sonstige Pflichten. Sie lassen sich, je nachdem, wo sie sind, verpflegen, und sie sind Verschwender fremden und Verächter eigenen Eigentums, bis das blutlose Greisenalter sie für dies so harte Heldenleben unfähig macht.212

201 S. Adams von Bremen frühe Interpretation des Wesens des Gottes (Wodan id est furor) sowie die Etymologie des Namens von óðr ‚rasend‘. 202 Falk, Odensheite, S. 14. 203 Ebd., S. 23. 204 Ebd., S. 4. 205 Ebd. 206 Ebd., S. 18: „[. . .] til hrjóta ‚brumme (f.e. om bjørnen)‘“. 207 Ebd., S. 20: „Jólfr er en sammentrukket form av *Jóolfr, egentl. hesteulv, d.v.s. bjørn (jfr. jórekr ‚bjørn‘).“ 208 Vgl. Samson, Berserkir, S. 189. 209 Vgl. Turner, Ritual, S. 105. 210 Tacitus, Germania, Kap. 31, S. 94. 211 D. h. die lange Haar- und Barttracht. 212 Übersetzung nach Lund, Germania, S. 95.

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Die Berserker können also nicht eindeutig als jugendliche Krieger identifiziert werden, ihre enge Verbindung zu Óðinn ist jedoch ein weiterer Hinweis auf die Rolle des Gottes als göttlicher Initiator. Óðinn ist also sowohl durch seine in der altnordischen Überlieferung reich belegte Rolle als prototypischer Initiand wie auch als Initiator eng mit der Schwellenphase der Adoleszenz, dem Übergang des Jugendlichen bzw. des jugendlichen Kriegers zum vollwertigen Erwachsenen, assoziiert.

3.4 Fazit Die nähere Betrachtung der Verbindung des seiðr und seiner Praktizierenden mit der Schwellenphase der Adoleszenz hat einerseits ergeben, dass heranwachsende Personen als Ritualhelfer bei der Ausübung des seiðr fungieren können. Dies dürfte darin begründet sein, dass Jugendlichen aufgrund ihres Schwellenzustands zwischen Kind und Erwachsenem ein erhöhtes magisches und insbesondere regeneratives Potential zugeschrieben wurde. Andererseits sind Heranwachsende jedoch gerade aufgrund ihres liminalen Zustandes überaus anfällig für Schadenszauber, was sich in der Episode um Káris Tod in der Laxdœla saga deutlich zeigt. Aufgrund der motivischen Parallelen mit den zum Vergleich herangezogenen magischen Attacken auf junge Männer in der Eyrbyggja saga und dem Þiðranda þáttr ok Þórhalls konnte außerdem auch für den durch seiðr verursachten Tod Káris ein erotisches Element festgestellt werden: In den beiden erstgenannten Zeugnissen fällt jeweils ein männlicher Jugendlicher bzw. ein junger Mann dem Angriff weiblicher Wesenheiten (Nachtreiterin bzw. Disen) zum Opfer. Diese Attacke ist insbesondere im Fall Gunnlaugrs in der Eyrbyggja saga eindeutig sexuell motiviert. Daher kann wohl auch für den gegen Kári gerichteten seiðr, der mit schönen Zaubergesängen verlockt, ein erotisches Moment gefolgert werden. In der altnordischen Überlieferung lässt sich für beide göttliche seiðr-Meister eine Assoziation mit der Übergangserfahrung der Adoleszenz und der damit verbundenen Phase der Initiation konstatieren. So tritt Freyja in den Hyndluljóð als göttliche Initiatorin in Erscheinung; zudem wurde erwogen, ob Freyja aufgrund ihrer sexuellen Ungebundenheit, die sich mit dem mythologischen Konzept der Jungfräulichkeit in Einklang bringen ließe, und wegen ihrer Ähnlichkeit mit Artemis/Diana als jungfräuliche Göttin betrachtet werden kann. Beides wären Hinweise auf eine Anbindung Freyjas an die Phase der Adoleszenz, da diese in engem Bezug zur Jungfräulichkeit steht. Dieser Aspekt wurde allerdings als zu wenig aussagefähig für eine Konnotation Freyjas mit dieser biographischen Übergangserfahrung bewertet, so dass lediglich ihr Agieren als göttliche Initiatorin in den Hyndluljóð als Beleg hierfür gewertet werden kann. Die Verbindung Óðinns zur Adoleszenz als Zeitraum der Initiation ist in der altnordischen Überlieferung besonders stark ausgeprägt: Als Gott, der stetig nach numinosem Wissen strebt, erfüllt er zum einen

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die Rolle des prototypischen Initianden und betätigt sich zugleich oftmals als Initiator der von ihm ausgewählten Helden. Das nächste Kapitel schließt mit dem Tod als der finalen Übergangserfahrung innerhalb des Lebenszyklus die Betrachtung der Verbindungslinien zwischen seiðr, seinen göttlichen wie menschlichen Praktizierenden und biographischen Schwellenerfahrungen ab.

4 Schlaf und Tod 4.1 Episoden In mehreren Episoden der altnordischen Literatur führen seiðr-Praktizierende mittels ihrer Magie den Tod einer Person herbei. Dieser kann indirekt durch das Heraufbeschwören entsprechend fataler Begleitumstände – insbesondere eines Unwetters213 – verursacht werden; jedoch kann auch, wie das Beispiel des jungen Kári zeigt, eine direkte Einflussnahme auf Körper und Psyche des jeweiligen Zauberziels mittels seiðr in der Tötung desselben kulminieren. Auffallend ist, dass magische Attacken durch seiðr, die den Tod der betroffenen Person zur Folge haben, in den altnordischen Quellen wiederholt mit dem Evozieren von Schlaf einhergehen bzw. dadurch vorbereitet werden, weswegen beide Phänomene in diesem Kapitel gemeinsam besprochen werden sollen. Bei der hier zu beobachtenden gedanklichen Verknüpfung von Schlaf und Tod handelt es sich um ein in der abendländischen Tradition weit verbreitetes Phänomen: So sind etwa in der griechischen Mythologie Hypnos und Thanatos, Schlaf und Tod, Zwillingsbrüder214 und der Schlaf fungiert gemäß ubiquitärer Vorstellungen als gängiges Symbol für den Tod, was sich im Deutschen auch im heutigen Sprachgebrauch noch in Wendungen wie „Todesschlaf“ und der Bezeichnung der Verstorbenen als „Entschlafene“ manifestiert. Die Konnotation von Schlaf und Tod dürfte zudem damit korrelieren, dass nach traditioneller Anschauung die Freiseele eines Menschen im Schlaf seinen Körper verlässt und es zum Tode führt, wenn sie nicht von ihrer Traumexkursion in den entseelt gedachten Körper des Menschen zurückfindet.215 Eine Kombination aus Schlaf induzierendem und todbringendem seiðr beinhaltet die bereits in Kapitel V 1.2.1 vorgestellte Episode vom Tod König Vanlandis in der Ynglinga saga: Als Vanlandi sein Versprechen bricht, nach drei Wintern zu seiner in Finnland verbliebenen Frau, der samischen Prinzessin Drífa, zurückzukehren, beauftragt diese eine seiðkona namens Hulð, ihren säumigen Ehemann mittels

213 Vgl. die Beispiele in Kapitel V 2.1 der vorliegenden Untersuchung. 214 Vgl. Assmann, Jan: Tod und Jenseits im alten Ägypten. München, 2003, S. 158 f. 215 Vgl. Hasenfratz, Seelenvorstellungen, S. 37.

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Magie wieder nach Finnland zurückzubringen oder ihn zu töten, falls er nicht zu kommen gewillt sei. Durch den seiðr der Hulð wird König Vanlandi zunächst von einem großen Verlangen (an. fýsi) nach Finnland zu reisen befallen. Da sie hinter dem plötzlichen Wunsch des Königs zu Recht das Einwirken von Zauber vermuten, halten ihn seine Freunde und Ratgeber jedoch davon ab, die Fahrt zu unternehmen. Daraufhin überkommt Vanlandi ein unwiderstehliches Schlafbedürfnis, was ihm – da ihn während des Schlafs ein Mahr (an. mara) heimsucht – zum tödlichen Verhängnis wird: Vanlandi hét sonr Sveigðis, er ríki tók eptir hann ok réð fyrir Uppsalaauð. Hann var hermaðr mikill, ok hann fór víða um lǫnd. Hann þá vetrvist á Finnlandi með Snjá inum gamla, ok fekk þar dóttur hans, Drífu. En at vári fór hann á brott, en Drífa var eptir, ok hét hann at koma aptr á þriggja vetra fresti, en hann kom eigi á tíu vetrum. Þá sendi Drífa eptir Hulð seiðkonu, en sendi Vísbur, son þeirra Vanlanda, til Svíþjóðar. Drífa keypti at Huld seiðkonu, at hon skyldi síða Vanlanda til Finnlands eða deyða hann at ǫðrum kosti. En er seiðr var framiðr, var Vanlandi at Uppsǫlum. Þá gerði hann fúsan at fara til Finnlands, en vinir hans ok ráðamenn bǫnnuðu honum ok sǫgðu, at vera myndi fjǫlkyngi Finna í fýsi hans. Þá gerðisk honum svefnhǫfugt, ok lagðisk hann till svefns. En er hann hafði lítt sofnat, kallaði hann ok sagði, at mara trað hann. Menn hans fóru til ok vildu hjálpa honum. En er þeir tóku uppi til hǫfuðsins, þá trað hon fótleggina, svá at nær brotnuðu. Þá tóku þeir til fótanna, þá kafði hon hǫfuðit, svá at þar dó hann.216 Vanlandi hieß Sveigðirs Sohn, der die Herrschaft nach ihm übernahm und über den Uppsalareichtum herrschte. Er war ein großer Krieger und er reiste weit herum. Er bezog Winterquartier in Finnland bei Snjár dem Alten und bekam dort seine Tochter Drífa zur Frau. Im Frühling fuhr er fort, doch Drífa blieb zurück und er versprach, nach einer Frist von drei Wintern wiederzukommen. Doch er kam in zehn Wintern nicht wieder. Da schickte Drifa nach der Zauberin [seiðkona] Hulð und sie sandte Vísburr, den Sohn den sie mit Vanlandi hatte, nach Schweden. Drífa bezahlte die Zauberin [seiðkona] Hulð dafür, dass sie Vanlandi nach Finnland zaubern oder ihn andernfalls töten solle. Und als der seiðr gewirkt worden war, war Vanlandi in Uppsala. Da überkam ihn ein großes Verlangen, nach Finnland zu fahren. Doch seine Freunde und Berater verboten es ihm und sagten, dass Finnenzauber in seinem Fernweh liegen könne. Da wurde er sehr müde und legte sich schlafen. Aber als er ein wenig geschlafen hatte, schrie er und sagte, dass ein Mahr ihn trete. Seine Männer eilten herbei und wollten ihm helfen; aber als sie nach oben zu seinem Haupt griffen, da trat sie [der Mahr]217 seine Unterschenkel, dass sie fast brachen; dann griffen sie nach den Beinen, da drückte sie sein Haupt nieder [wörtlich: „da tauchte sie sein Haupt“], so dass er starb.

Die Hauptquelle für Snorris Ynglinga saga bildet das Ynglingatal des Skalden Þjóðólfr ór Hvíni aus dem 9. Jahrhundert, ein genealogisches Gedicht, welches die sagenhafte Urgeschichte Skandinaviens behandelt und von den schwedischen Vorzeitkönigen

216 Hkr I, Yngl saga, Kap. 13, ÍF 26, S. 28 f. 217 An. mara ist ein Femininum.

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des Ynglingengeschechts erzählt.218 Snorris Prosaversion des magischen Angriffs auf König Vanlandi beruht auf folgender Strophe dieses Skaldengedichtes: En á vit Vilja bróður vitta véttr Vanlanda kom, þás trollkund of troða skyldi liðs grímhildr ljóna bága; ok sá brann a beði Skút menglǫtuðr, es mara kvalði.219

Alfred Noreen übersetzt folgendermaßen: Ett trollväsen kom Vanlande att besöka Viles broder, och en trollboren kvinna med höljt huvud fick trampa ljonerna (ett folkslag; liverna?) härskaras motståndere, och den halsbands-slösare (dvs. Furste), som maran kvävde, brändes på Skutåns flodbädd.220

Im Ynglingatal ist also zwar ebenfalls von einem Mahr die Rede, welcher den Tod des Königs verursacht, nicht jedoch explizit von seiðr. Auch in der Historia Norvegiae, die eine weitere Prosavariante von Vanlandis Tod liefert, führt ein Angriff durch einen Mahr zum Tod des Ynglingenkönigs, wobei seiðr wiederum nicht erwähnt wird: [. . .] Wanlanda, qui in sompno a demone suffocates interiit. Quod genus demoniorum Norwaico sermone ‚mara‘ uocatur.221 [. . .] Wanlandi, der im Schlaf erstickt von einem Dämon umkommt. Diese Art von Dämonen wird in der norwegischen Sprache ‚mara‘ genannt.

Bei einem Mahr handelt es sich um einen nächtlichen Druckgeist, welcher im Volksglauben zumeist weiblichen Geschlechts ist (der altnordische Begriff mara ist ebenfalls ein Femininum), jedoch auch in männlicher Gestalt auftreten kann. In der Regel werden die Opfer von einem Druckgeist des jeweils anderen Geschlechtes heimgesucht222, was auf einen erotischen Zug der unfreiwilligen Begegnung zwischen

218 Vgl. Simek; Pálsson, Lexikon der altnordischen Literatur, S. 432 f. 219 Ynglingatal 3, Skj Bd. B I, S. 7. 220 Noreen, Alfred: Ynglingatal. Text, översättning och kommentar av Adolf Noreen. Stockholm, 1925, S. 199. 221 HistNorv, Kap. 9, S. 74. 222 Vgl. Petzoldt, Leander: Art. „Mahr(t)“, in: RGA, Bd. 19. Berlin, New York, 2001, S. 176.

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Mensch und Mahr schließen lässt (allerdings können auch Tiere Mahren zum Opfer fallen). Charakteristisch für die Heimsuchung durch einen Mahr ist, dass der Dämon sich im Schlaf auf einen Menschen setzt, ihn niederdrückt bzw. auf ihm reitet und ihm dadurch Schaden zufügt223. Der Glaube an derartige Dämonen ist ubiquitär verbreitet und lässt sich bis in die Antike (Succubus bzw. Incubus) zurückverfolgen.224 Die Erwähnung des Mahrs bzw. der mara im Ynglingatal bildet die erste schriftlich fixierte Nennung dieses Begriffs im nordischen Bereich.225 In den oben genannten Versionen von Vanlandis Tod fügt der Mahr dem König nicht nur Verletzungen zu, sondern erstickt ihn jeweils (Ynglingatal: „mara kvalði“, Historia Norvegiae: „demone suffocatus“, Ynglinga saga: „þá kafði hon hǫfuðit“) – offensichtlich steckt dahinter die Vorstellung, dass das dämonische Wesen sich über den Kopf und den Mund des Opfers zu legen vermag bzw. dessen Kopf niederdrückt, bis es erstickt.226 Bei der altnordischen mara handelt es sich demnach um einen auf seinen Opfern reitenden Druckgeist, den Dag Strömbäck jedoch weniger als eine isoliert zu betrachtende dämonische Wesenheit deutet, sondern vielmehr als „eine vom lebendigen Menschen ausgehende Gestalt [. . .], eine Art ‚hamn‘ oder ‚sending‘, die den betreffenden Menschen vertritt und seine Wünsche und Absichten ausführt.“227 Die mara ist Strömbäck zufolge also eine Art Manifestation der Frei- bzw. Exkursionsseele einer zauberkundigen Person, namentlich einer kveldriða.228 Demnach würde die seiðkona in der Ynglinga saga Vanlandi nicht nur mit Hilfe ihres Zaubers in Schlaf versetzen und so der mara den Weg bereiten, sondern ihn vielmehr selbst durch die Aussendung ihrer Seele, welche sich in Gestalt der mara manifestiert, töten. Diese Vorstellung transportiert bereits das Snorris Prosaschilderung zugrunde liegende Ynglingatal, denn auch dort steckt hinter der Attacke auf den König eine als vitta véttr (‚Zauberin‘; wörtlich etwa ‚(übernatürliches) Wesen der Zauberei/Zaubermittel‘)229 und grímhildr bezeichnete, zauberkundige weibliche Gestalt. Noreen übersetzt grímhildr mit „kvinna med höljt huvud“230, also „Frau mit verhülltem Kopf“. Namen wie Grímhildr und Gríma werden in der altnordischen Literatur stereotypisch

223 Daher stammt auch die dt. Bezeichnung ‚Albdruck‘ für einen Albtraum (wobei allein schon im Wort ‚Albtraum‘ der Bezug zu einer übernatürlichen Wesenheit klar erkennbar wird). Noch offensichtlicher wird die Konnotation in dt. ‚Nachtmahr‘ sowie engl. ‚nightmare‘. 224 Vgl. Petzoldt, Mahr(t), S. 175 f. Vgl. zur mara auch Tillhagen, Carl-Herman: Art. „Mara“, in: KLNM, Bd. 11. København, 1966, Sp. 343–345. 225 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 36. 226 Vgl. ebd. 227 Strömbäck, mara, S. 282. 228 Vgl. ebd. sowie Ármann Jakobsson, Two Wise Women, S. 83. Vgl. zur Gestalt der kveldriða und den dem Glauben an die Nachtreiterei zugrunde liegenden Seelenvorstellungen auch Kapitel VI 3.1. 229 Yt 21, Skj Bd. B I, S. 11; vgl. zur Übersetzung Sveinbjörn Egilsson, Lexikon Poeticum, S. 612 und Heizmann, Freyja, S. 294. 230 Noreen, Ynglingatal, S. 199.

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für Zauberinnen vergeben231; analog zum Odinsnamen Grímr bedeuten sie ‚die Maskierte‘, ‚die Vermummte‘ (von an. gríma ‚Gesichtsmaske‘) und beziehen sich auf ein Verschleiern der Identität232 und damit verbunden auf die Fähigkeit ihres Trägers, sich zu verbergen bzw. im Verborgenen zu agieren. Zugleich implizieren diese Namen auch eine magische und/oder seherische Begabung des so Benannten, die durch den Verlust der Sicht (Verhüllen des Kopfes) verstärkt wird, da das Wegfallen des physischen Sehvermögens gleichsam den „spirituellen Blick“ intensiviert.233 Der Name Hulð, den Snorri der seiðkona in der Ynglinga saga gibt, gehört ebenfalls zu dieser Kategorie für Zauberinnen verwendeter stereotyper Bezeichnungen und kann zu an. hylja ‚einhüllen‘, ‚bedecken‘; ‚verhüllen‘, ‚verbergen‘ gestellt werden. Dies ließe sich auch sehr gut mit der von Lotte Motz vorgeschlagenen Bedeutung der Bezeichnung vǫlva als „die Versteckte“234 in Einklang bringen. Hierbei würde dann allerdings weniger auf verborgene Aufenthaltsorte der vǫlva235 als auf ihre Verhüllung und somit ihre gesteigerten seherischen Fähigkeiten abgezielt. Dass Snorri das Erscheinen der mara als Einziger mit seiðr in Verbindung bringt, könnte ein Hinweis darauf sein, dass er die Befähigung, seine Seele auszusenden – mit anderen Worten: zur Seelenreise – als eng mit der Ausübung dieser Magieform verbunden betrachtete. Die starke Müdigkeit, welche Vanlandi in der Ynglinga saga überkommt, bildet zwar die Grundvoraussetzung dafür, dass der tödliche Angriff durch die mara bzw. die Exkursionsseele der seiðkona auf den schlafenden König überhaupt erfolgen kann, jedoch spricht einiges dafür, dass das übermächtige Schlafbedürfnis des Königs überhaupt erst durch die bevorstehende Ankunft der mara (bzw. der ausgesandten Seele der Zauberin) ausgelöst wird: In der altnordischen Sagaliteratur kündigen sich herannahende Feinde oftmals gerade dadurch an, dass derjenige, dem der Angriff gilt bzw. der sich in Gefahr befindet, plötzlich von einer starken Müdigkeit erfasst wird. Häufig ist dies mit der Vorstellung verbunden, dass

231 Vgl. Ström, Diser, nornor, valkyrior, S. 46. 232 Vgl. Falk, Odensheite, S. 14. 233 Man vergleiche hierzu auch das Motiv des blinden Sehers, dessen wohl bekanntester Vertreter der Seher Teiresias der griechischen Überlieferung ist, der seine prophetischen Fähigkeiten erst erhält, nachdem er mit Blindheit geschlagen wurde (vgl. Motz, Lotte: „Óðinn’s vision“, in: MM, 1998/ 1999, S. 16). Eine Kopfbedeckung ist zudem ein weit verbreitetes Element der Gewandung von Schamanen und steht auch hier für eine gesteigerte spirituelle Sicht. Vgl. hierzu Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 520: „The cloth used by the Sámi shaman, and the handkerchief of the Samoyeds [. . .], appear to symbolize the obscuring of physical sight in favour of spiritual sight; similar examples are widespread, such as the tassles dangling over the eyes of the Chulym Turk shaman [. . .]. The idea reaches its climax in the notion expressed by the Nganasan shaman Dyukhadiye, that in shamanising he used new eyes given to him by the blacksmith spirits at his initiation, and had his natural eyes bound up so that he could, for example, find lost objects better [. . .].“ 234 Vgl. Horst, völva, S. 31. 235 Vgl. Motz, Old Icelandic völva, S. 200.

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die Fylgjen „als Manifestation des Wesens eines Menschen“236 diesem gewissermaßen vorauseilen und durch ihren Einfluss Schläfrigkeit bei dessen Gegner auszulösen vermögen. So erhält in der Sturlunga saga – einer Kompilation ursprünglich eigenständiger Gegenwartssagas, die sich vor allem mit den Kämpfen zwischen verschiedenen isländischen Geschlechtern im Zeitraum von 1117 bis zum Verlust der isländischen Unabhängigkeit in den Jahren 1262–64 befassen237 – ein Mann namens Hallr von seiner Schwiegermutter die Warnung, den Hof zu verlassen, da sie die Präsenz der Fylgjen ihrer Feinde spüre. Hallr antwortet ihr daraufhin, dass er sich sehr müde fühle. Es gelingt ihm nicht mehr aufzustehen und er sinkt in Schlaf: [. . .] bað móðir konu hans hann verða í brottu, kvað þar fara óvina fylgjur. Hann kvað sik syfja mjök. Ok er hann vildi upp standa, fell hann af út sofinn.238 [. . .] die Mutter seiner Frau bat ihn, sich davonzumachen, sie sagte, dort zögen Fylgjen der Feinde ihrer Wege. Er sagte, ihn überkomme eine große Müdigkeit. Und als er aufstehen wollte, fiel er eingeschlafen nieder.

In der Tat kommen wenig später Angreifer zum Hof und töten Hallr, der sich – wieder erwacht – zwar noch verteidigen kann, jedoch letztlich unterliegt.239 Auch in der Njáls saga schreibt Svanr Bjarnarson240 seine unvermittelt aufkommende Müdigkeit dem Angriff der Fylgjen des Ósvífr zu, welcher mit seinen Männern auf dem Weg zu ihm ist, um Vergeltung für den Totschlag seines Sohn zu suchen: „Nú tók Svanr til orða ok geispaði mjǫk: ‚Nú sœkja at fylgjur Ósvífrs.‘“241 („Nun ergriff Svanr das Wort und gähnte sehr: ‚Nun greifen die Fylgjen Ósvífrs an.‘“). Wie diese Beispiele zeigen,242 kann auch für die Episode um den Tod König Vanlandis davon ausgegangen werden, dass der König nicht nur durch den seiðr der Hulð in Schlaf versetzt wird, sondern vielmehr die Müdigkeit des Königs unmittelbar durch das Herannahen der mara bzw. der ausgesandten Seele der Zauberin verursacht wird.243 Letztlich ist

236 Röhn, Fylgja, S. 288. 237 Vgl. Simek; Palsson, Lexikon der altnordischen Literatur, S. 368 f. 238 „Sturlunga saga“, in: Jón Jóhannesson; Magnús Finnbogason; Kristján Eldjárn (Hgg.): Sturlunga saga, Bd I–II. Reykjavík, 1946, S. 287. 239 S. ebd. 240 Da er selbst als zauberkundig und schwierig im Umgang beschrieben wird („Svanr var fjǫlkunnigr mjǫk [. . .], hann var ódæll ok illr viðreignar.“ (Nj, Kap 10, ÍF 12, S. 32)), ist wohl von einer erhöhten Affinität Svanrs gegenüber dem Übernatürlichen auszugehen. Wie das Beispiel aus der Sturlunga saga gezeigt hat, sind jedoch in der altnordischen Literatur auch Menschen ohne übersinnliche Fähigkeiten dazu in der Lage, die Präsenz von Fylgjen wahrzunehmen. 241 Nj, Kap. 12, ÍF 12, S. 37. 242 Vgl. zur durch das Herannahen von Fylgjen verursachten Müdigkeit Strömbäck, Concept of the soul, S. 220–222 mit den bereits genannten und zusätzlichen Beispielen. 243 S. Strömbäck, Sejd, S. 153: „Då Vanlandi häftigt ansättes av fýsi eller av den starka, obetvingliga sömnlusten, medan Huld sitter någonstädes fjärran från Uppsala och sejdar, då är det enligt denna tro en mer eller mindre tänkt emanation, som utgår från den sejdande mot föremålet.“

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VI seiðr im Kontext biographischer Schwellenerfahrungen

innerhalb der Ynglinga saga-Version von Vanlandis Tod der evozierte Schlaf also als Teil des magischen Angriffs einer seiðr-Praktizierenden zu bewerten, der durch das Aussenden ihrer Seele, die als mara Gestalt annimmt, bewirkt wird. Eine Verbindung von durch seiðr hervorgerufenem Schlaf und der Tötung eines Zauberziels weist auch die bereits in Kapitel VI 3.1 näher vorgestellte Episode der Laxdœla saga auf, in welcher der junge Kári Hrútsson durch seiðr nachts aus dem elterlichen Hof gelockt und getötet wird. Die magischen Gesänge der seiðr-praktizierenden Familie des Kotkell haben hierbei nicht nur eine attrahierende Wirkung auf Kári, sondern versetzen die gesamte Hofgemeinschaft in Schlaf, wogegen auch Hrútrs Warnung, dass sich alle wachhalten mögen, nichts auszurichten vermag:244 Hrútr einn kenndi þessi læti ok bað engan mann út sjá á þeiri nótt, – „ok haldi verr vǫku sinni, er má, ok mun oss þá ekki til saka, ef svá er með farit.“ En þó sofnuðu allir menn.245 Hrútr alleine erkannte diese Laute und befahl, dass niemand diese Nacht hinaussehen solle, – „und jeder halte sich wach, der kann, und wenn wir uns so verhalten, dann wird es uns nicht schaden.“ Und doch schliefen alle ein.

Das Schlaf induzierende Potential des seiðr hat also interessanterweise einen ambivalenten Effekt, denn als das eigentliche Ziel des Zaubers kann Kári im Gegensatz zu den übrigen Anwesenden gerade keine Ruhe finden: Kári sofnaði nær ekki, því at til hans var leikr gǫrr; honum gerðisk ekki mjǫk vært. Kári spratt upp ok sá út; hann gekk á seiðin ok fell þegar dauðr niðr.246 Kári schlief fast nicht, denn gegen ihn war das Tun gerichtet; er fand keine rechte Ruhe. Kári sprang auf und sah hinaus; er ging dem seiðr entgegen und fiel sofort tot danieder.

Auch in der Laxdœla saga geht der Tötung des Zauberziels durch seiðr folglich ein magisches Hervorrufen von Schlaf voraus, wobei anhand der Formulierung Kári sofnaði nær ekki erkennbar wird, dass Kári durch den seiðr offenbar nicht direkt in Schlaf, sondern in einen somnambulen, tranceartigen Zustand versetzt wird.247 Allerdings finden sich keine Hinweise darauf, dass der Schlaf der Hofgemeinschaft bzw. die „Trance“ Káris, wie im Fall König Vanlandis, durch ein Aussenden der seelischen Potenzen der seiðr-Praktizierenden evoziert würden. Beide Zustände werden vielmehr direkt durch die magischen Gesänge verursacht und dienen einerseits dazu, Káris Beschützer

244 William Sayers weist darauf hin, dass sich der Name Kotkell möglicherweise zum Irischen cotlud mit der Bedeutung ‚schlafend‘ stellen lässt. Zudem zeigt er eine potentielle Verknüpfung zwischen der hebridischen Herkunft der Zauberfamilie und der schlafinduzierenden Wirkung ihrer magischen Gesänge auf: „Irish tradition had three strains of music, one of which, súantraide, imposed sleep, but this need not necessarily be a touch of local colour, although we may have a hint in the name Kotkell (cf. Ir. cotlud ‚sleeping‘).“ (Sayers, Sexual Identity, S. 137). 245 Laxd, Kap. 37, ÍF 5, S. 106. 246 Ebd. 247 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 152.

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auszuschalten, während sie zugleich die Vulnerabilität des Jungen gegenüber dem magischen Angriff durch ein Versetzen in einen Schwellenzustand zwischen Wachen und Schlafen erhöhen, ehe die eigentliche tödliche Attacke erfolgt. Der schlafwandlerische Schwellenzustand des Zauberziels ist jedoch nur eines der zahlreichen liminalen Elemente, mit denen die Ausgestaltung der seiðr-Episode um Káris Tod aufwartet: Zugleich ist, wie schon im vorangegangenen Kapitel ausgeführt, das Opfer der magischen Attacke ein Heranwachsender, also eine in einer Schwellenphase befindliche Person, welche aufgrund ihres noch nicht klar definierten Zustandes ohnehin in besonders hohem Maß empfänglich für die Einwirkung des seiðr ist. Unter dem Einfluss der Magie missachtet Kári die väterliche Warnung, nicht hinaus zu sehen; der seitens des „Lieblingssohnes“ Kári248 eigentlich zu erwartende Gehorsam gegenüber der Autorität des Vaters und Oberhauptes der Hofgemeinschaft bleibt also aus, was ebenfalls als ein Element der Grenzüberschreitung in Form des Bruchs einer Verhaltenskonvention gedeutet werden kann. Da er sich dem Zauberbann nicht zu entziehen vermag, übertritt Kári schließlich durch das symbolträchtige Verlassen des elterlichen Hofes die Schwelle des sicheren Innenraums hin zum Außenraum, wo er übernatürlichen Angriffen – hier in Form des todbringenden seiðr der zauberkundigen Hebridenfamilie – schutzlos ausgesetzt ist. Für eine bessere Verortung der Kári-Episode empfiehlt es sich an dieser Stelle erneut, die bereits im Kontext der Verbindung zwischen seiðr und der Übergangserfahrung der Adoleszenz zum Vergleich herangezogenen, motivisch ähnlichen Abschnitte aus der Eyrbggja saga und dem Þiðranda þáttr ok Þórhalls bei der Analyse zu berücksichtigen: Auch in diesen Zeugnissen (die seiðr jedoch nicht erwähnen) sind es jeweils junge Männer249, die unter Missachtung eines Verbots bzw. entgegen der Warnungen erwachsener Personen250 nachts alleine den Außenraum bzw.

248 „[. . .] var hann efniligastr sona Hrúts. Hann unni honum mikit.“ / „[. . .] er war der vielversprechendste der Söhne Hrútrs. Er liebte ihn sehr.“ (Laxd, Kap. 37, ÍF 5, S. 106). 249 Wie bereits in Kapitel VI 3.1 erläutert, kann allerdings nur der zwölfjährige Kári eindeutig als Heranwachsender eingestuft werden. 250 Ein interessantes Detail ist, dass diese Warnungen in beiden Zeugnissen von Personen mit starker Affinität zum Numinosen ausgesprochen werden: Im Þiðranda þáttr ok Þórhalls hält der von unheilvollen Vorahnungen geplagte Seher Þórhallr die Hofgemeinschaft dazu an, in der Nacht des Herbstopfers nicht vor die Tür zu gehen. Da Þiðrandis Vater, Síðu-Hallr, seinen Leuten die Anweisung gibt, den Worten des Sehers Folge zu leisten, übertritt Þiðrandi letztlich genau wie Kári ein väterliches Verbot. In der Eyrbggja saga warnt die zauberkundige Witwe Geirríðr den jungen Gunnlaugr davor, den nächtlichen Heimweg allein anzutreten, da ihm feindseelige Geisterwesen, die sie als marlíðendr bezeichnet, gefährlich werden könnten. Dieser Begriff wurde zumeist mit dem poetischen altnordischen Ausdruck marr für ‚Meer‘ verknüpft und dementsprechend mit ‚Meerwesen‘ (so bei Böldl, Eigi einhamr, S. 246) bzw. ‚über das Meer Ziehende‘ übersetzt (vgl. Cleasby; Vigfusson, Icelandic-English Dictionary, S. 413: marlíðendr ‚sea-sliders‘, ‚sea-farers‘). Strömbäck setzt das Wort jedoch überzeugenderweise direkt mit dem Phänomen der mara und der Seelenreise in Bezug: „Das Verb líða, ‚gleiten‘, ‚schweben‘, passt indessen ausgezeichnet zu dem, der sich im Schlaf oder in der Trance als mara aufmacht, um in dieser Gestalt das Opfer zu reiten, und dann in

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VI seiðr im Kontext biographischer Schwellenerfahrungen

die útgarðr-Sphäre betreten und dort zum Opfer übernatürlicher Attacken werden. Sowohl in der Laxdœla saga als auch im Þiðranda þáttr ok Þórhalls wird die fatale Grenzüberschreitung der jungen Protagonisten seitens der útgarðr-Sphäre initiiert: Kári wird durch die anziehende Wirkung des betörend schönen seiðr-Gesangs dazu verlockt, den schützenden Innenraum in Form seines Elternhauses zu verlassen. Auf ähnliche Weise veranlasst ein mysteriöses Klopfen251 Þiðrandi dazu, vor die Tür des elterlichen Hofes zu treten, da er annimmt, es könnten noch Gäste zu den Opferfeierlichkeiten gekommen sein. Als guter Gastgeber will er diese nicht nur aufgrund der Warnungen des Sehers Þórhallr in der Kälte ausharren lassen,252 wodurch es zur tödlichen Begegnung mit den übernatürlichen Reiterinnen (bzw. Disen) kommt. Einzig Gunnlaugr in der Eyrbyggja saga sucht bewusst den Kontakt zu der magiekundigen Geirríðr, um von ihr die Zauberkunst zu erlernen. Im Zuge der Besuche bei seiner Lehrmeisterin macht er zudem oftmals Halt auf dem Hof der Zauberin Katla und lässt sich wiederholt von deren Sohn Oddr auf dem Weg zu Geirríðr begleiten. Gunnlaugrs Kontaktaufnahme mit dem Übernatürlichen und seinen Repräsentanten geht also stark von ihm selbst aus, wird ihm letztlich aber doch zum Verhängnis, als er eines Abends Geirríðrs Warnung nicht berücksichtigt und sich, nachdem er nicht auf Katlas Avancen eingegangen ist, alleine auf den Heimweg (durch den Außenraum) machen muss, wo ihn die verschmähte Zauberin in Gestalt einer kveldriða attackiert und je nach Überlieferungsvariante schwer verwundet (Eyrbyggja saga)253 bzw. tötet (Landnámabók).254 Sowohl in der seiðr-Episode um Káris Tod als auch in den anderen beiden Zeugnissen markiert die Türschwelle bzw. die Tür des elterlichen Hofes den Grenzbereich zwischen der menschlichen, strukturierten Sphäre und dem unkontrollierbaren, gefährlichen Außenraum: Kári wird am nächsten Morgen „nicht weit von der Tür tot aufgefunden“ („fannsk hann ørendr skammt frá durum“255) und auch Gunnlaugrs Vater entdeckt seinen schwer verletzten und bewusstlosen Sohn vor der Tür liegend („fann hann Gunnlaug, son sinn, fyrir durum; lá hann þar ok var vitlauss“256). Als Þiðrandi – durch das geheimnisvolle Klopfen vor die Tür gelockt – die geisterhaften

den schlafenden Körper zurückkehrt. [. . .] Das substantivierte präs. part. líðandi, pl. líðendr, bedeutet also ‚der Gleitende oder (Ent-)schwebende‘ und das erste Glied mar- muss meines Erachtens als eine alte Zusammensetzungsform zu mara gedeutet werden [. . .]. Marlíðandi bedeutet also ‚der als mara Dahinschwebende‘.“ (Strömbäck, mara, S. 286). 251 Bei der Ausgestaltung dieses Details spielte vermutlich auch die im Volksglauben oftmals anzutreffende Vorstellung eine Rolle, dass Krankheit und Tod sich durch ein Klopfen an die Tür, bei deren Öffnen sich jedoch niemand findet, ankündigen. Vgl. dazu Olbrich, Karl: Art. „Tür“, in: HdA, Bd. 8. Berlin, Leipzig, 1936/1937, Sp. 1205 f. 252 S. ÞÞ, Flat, Bd. 1, S. 420. 253 Vgl. Eb, Kap. 15 und 16, ÍF 4, S. 28 f. 254 Ldn, S. 55, Anm. 255 Laxd, Kap. 37, ÍF 5, S. 106. 256 Eb, Kap. 16, ÍF 4, S. 29.

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Reiterinnen erblickt, will er zunächst ins Haus zurückkehren und seinen Leuten davon berichten („Þa uillde Þiðrande snua inn aftr ok segia monnum synina.“257), was durch den unmittelbaren Angriff der schwarz gewandeten Frauen jedoch vereitelt wird. Auch Þiðrandi wird schwer verletzt aufgefunden und ins Haus getragen, wo er in der Morgendämmerung258 verstirbt („Þeir fundu Þiðranda liggia særdan ok uar hann borinn jnn. [. . .] Hann andadizst þann sama morgin j lysing [. . .].“259). Die Tür samt Türschwelle bildet als Ein- und Ausgang eines Wohnhauses eine wichtige Grenze zwischen dem vertrauten, häuslichen Bereich und dem oftmals als fremd und feindlich empfundenen Außenraum. Die Türschwelle fungiert somit einerseits als eine „Barriere für negative Kräfte“260, wurde aber auch kulturübergreifend als ein sensibler Ort verstanden, an dem sich feindlich gesinnte Geisterwesen versammeln und daher durch zahlreiche apotropäische Riten und Handlungen zu schützen versucht.261 Kein Wunder, dass die Türschwelle gerade auch bei Übergangsriten, welche die biographischen Schwellenerfahrungen Geburt, Hochzeit und Tod begleiten, eine wichtige Rolle spielt: Als Grenzbereich versinnbildlicht sie die Trennung vom alten Zustand bzw. Lebensabschnitt und das Übergehen in einen neuen (vgl. das traditionelle „Über–die–Schwelle–Tragen“ der Braut, welche die Schwelle beim Einzug in ihr neues Zuhause nicht betreten darf).262 Auch in der Kári-Episode und den beiden ähnlichen Belegen fungiert die Türschwelle bzw. die Tür als Symbol des Übertritts der jungen Protagonisten von der miðgarðr- in die útgarðr-Sphäre. Der seiðr der hebridischen Zauberer – die bereits durch ihre Herkunft und mehr noch durch ihre Magiebegabung als liminale Personen gekennzeichnet sind und dadurch mit der vertrauten miðgarðr-Sphäre von Káris Elternhaus stark kontrastiert werden – lockt den Jungen in den útgarðr-Raum. Káris nächtliche Kontaktaufnahme mit der útgarðr-Sphäre kann durchaus mit einem Initiationserlebnis eines Heranwachsenden verglichen werden, was schon allein die oben beschriebene enorme Dichte liminaler Elemente innerhalb der Ausgestaltung dieser Episode nahelegt. Hierbei handelt es sich jedoch – genau wie bei den Grenzüberschreitungen in den beiden Parallelüberlieferungen – um alles andere als eine geglückte Übergangserfahrung: Der Aufbruch aus dem elterlichen Zuhause und die Kontaktaufnahme mit der útgarðr-Sphäre enden vielmehr mit

257 ÞÞ, Flat, Bd. 1, S. 420. 258 Dass der Todeszeitpunkt gerade auf die Morgendämmerung, also den Übergang von der Nacht zum Tag, fällt, könnte ebenfalls ein die Übergangsthematik dieser Episode indizierendes Detail sein. 259 ÞÞ, Flat, Bd. 1, S. 420. 260 Haid, Oliver: Art. „Tür und Türschwelle“, in: RGA, Bd. 31. Berlin, New York, 2006, S. 320. Vgl. dazu auch Weiser-Aall, Lily: Art. „Schwelle“, in: HdA, Bd. 7. Berlin, Leipzig, 1935/1936, Sp. 1510 und passim. 261 Dies gilt auch für den skandinavischen Raum: So wurden z. B. in Südschweden noch bis ins 19. Jh. „Schlangen als Schwellenschutz“ (Haid, Tür und Türschwelle, S. 321) eingesetzt, indem man die Tiere in vorgebohrten Löchern der Türschwelle verschloss (vgl. ebd.). 262 Vgl. hierzu Weiser-Aall, Schwelle, Sp. 1519 ff.

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dem jähen, durch seiðr verursachten Tod des Jungen. Die Verletzungen und Tode der jungen Protagonisten in der Kári-Episode sowie in den verwandten Zeugnissen fallen somit in das Spektrum dessen, was ein missglücktes Übergangserlebnis beinhalten kann: Der Durchbruch zu einem Außerordentlichen kann daran scheitern, dass der Überschreitende an dieser Bewegung zerbricht. Hierher gehört die ganze Skala erlittenen Leidens, beginnend mit leichten Verletzungen und endend in der Vernichtung durch den Tod.263

Für die Verbindung von seiðr mit der biographischen Schwellenerfahrung des Todes lässt sich also konstatieren, dass seiðr in den entsprechenden Episoden nicht etwa mit einem natürlichen Tod als gelungener Übergangserfahrung assoziiert wird oder diesen gar rituell begleitet, sondern vielmehr in Form aggressiven Schadenszaubers einen jähen, unerwarteten Tod auslöst. Zudem kann ein durch seiðr verursachter Tod, wie das Beispiel Káris und die der verwandten Zeugnisse der Eyrbyggja saga und des Þiðranda þáttr ok Þórhalls zeigen, sogar die Konsequenz einer missglückten Fühlungnahme mit dem Übernatürlichen und der útgarðr-Sphäre sein.

4.2 Freyja Neben ihrer Funktion als göttliche Geburtshelferin und Liebesgöttin bildet Freyjas Herrschaft über die Toten einen besonders wichtigen Aspekt der Göttin.264 Jedoch ist Freyja nicht etwa nur für die verstorbenen Frauen zuständig, wie eine Episode der Egils saga vermuten lassen könnte: Dort verkündet Egills Tochter Þorgerðr – die ihren Vater glauben machen will, dass sie mit ihm gemeinsam aus Trauer sterben möchte –, bis zu ihrer Ankunft bei Freyja im Jenseits nichts mehr essen zu wollen.265 Vielmehr offenbart sich innerhalb von Freyjas Konnotation mit dem Tod ein kriegerischer Aspekt der Göttin, denn in ihrem Wohnsitz Fólkvangr (‚Feld des

263 Waldenfels, Bernhard: Ordnung im Zwielicht. 2., um ein neues Vorwort ergänzte Auflage. München, 2013 (Übergänge, 61), S. 182. 264 Vgl. Heizmann, Freyja, S. 292 f. Weder für Freyja noch für Óðinn lässt sich innerhalb der altnordischen Überlieferung eine spezielle Verbindung zum Thema Schlaf feststellen, weswegen dieser Aspekt nicht in die Besprechung der Konnotation der beiden göttlichen seiðr-Praktizierenden mit dem Tod einfließt. 265 S. Eg, Kap. 78, ÍF 2, S. 244: „Þorgerðr segir hátt: ‚Engan hefi ek náttverð haft, ok engan mun ek, fyrr en at Freyju [. . .] vil ek ekki lifa eptir fǫður minn ok bróður.‘“ / „Þorgerðr sagt laut: ‚Ich habe kein Abendessen gehabt und ich werde keines haben, bevor ich bei Freyja bin [. . .] ich will meinen Vater und Bruder nicht überleben.‘“

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Kampfes‘ bzw. ‚Feld der Kriegerscharen‘) nimmt sie die Hälfte der im Kampf Gefallenen zu sich, während die übrigen Óðinn zugesprochen werden: Fólcvangr er inn níundi, enn þar Freyja ræðr sessa kostom i sal, hálfan val hon kýss hverian dag, enn hálfan Óðinn á.266 Folkwang ist der neunte, und dort entscheidet Freyja über die Sitze im Saal; die Hälfte der Gefallenen wählt sie jeden Tag, die andere Hälfte gehört Odin.267

Das Verhältnis der Göttin zu den Toten ist zudem bei Weitem kein rein passives, vielmehr reitet Freyja selbst in die Schlacht („ok hvar sem hon ríðr til vigs“268/ „und wo auch immer sie in die Schlacht reitet“). Auch der Name ihres Reitebers Hildisvíni (‚Kampfschwein‘) in den Hyndluljóð (bei dem es sich freilich in Wahrheit um ihren in ein Schwein verwandelten Günstling Óttar handelt), zeugt von den kriegerischen, walkürenhaften Zügen Freyjas. Bei den bereits im Rahmen der Besprechung der Ähnlichkeiten zwischen seiðr-Praktizierenden und nicht-menschlichen Wesen in Kapitel V 1.5 kurz erwähnten Walküren handelt es sich – wie bei den schwer von ihnen zu unterscheidenden Disen und Nornen – um weibliche Kollektivwesen der niederen Mythologie. Das Kompositum valkyrja setzt sich zusammen aus dem altnordischen Wort valr ‚Gefallene(r) auf dem Schlachtfeld‘ und einer Ableitung von an. kjósa ‚wählen‘. Die valkyrjur (‚Walküren‘) sind also die ‚Wählerinnen der Gefallenen‘ bzw. die ‚Wählerinnen derjenigen, die fallen sollen‘.269 Die Darstellung der Walküren in den altnordischen Quellen bietet ein vielschichtiges und uneinheitliches Bild; eine nähere Betrachtung dieses Komplexes ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung aber leider nicht möglich. Deswegen soll als grobe Charakteristik der Walküren in der Mythologie an dieser Stelle nur genannt werden, dass es sich bei ihnen zwar nicht um Göttinnen handelt, jedoch um übernatürliche Wesen, die in engem Bezug zu Óðinn stehen. Als Dienerinnen des Gottes reiten die valkyrjur in die Schlacht, um die zum Tod Bestimmten auszuwählen,270 wobei nicht ganz klar ist, ob sie lediglich Befehle ausführen oder auch selbst Entscheidungen über Leben und Tod der Kämpfenden treffen.271

266 Grm, Str. 14, Neckel; Kuhn, Edda, S. 60. 267 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 94. 268 Gylf 24, Faulkes, SnE, S. 24. 269 Vgl. Zimmermann, Ute: Art. „Walküren“, in: RGA, Bd. 35. Berlin, New York, 2007, S. 595. 270 S. Gylf 36, Faulkes, SnE, S. 30: „Þessar heita valkyrjur. Þær sendir Óðinn til hverra orrustu. Þær kjósa feigð á menn ok ráða sigri.“ / „Diese heißen Walküren. Óðinn sendet sie zu jeder Schlacht. Sie bestimmen den Menschen den Tod und entscheiden über den Sieg.“ 271 Vgl. zu Darstellung und Aufgaben der valkyrjur Zimmermann, Walküren, S. 598 ff. sowie Præstgaard Andersen, On Valkyries, S. 292.

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VI seiðr im Kontext biographischer Schwellenerfahrungen

Eine weitere Aufgabe der Walküren scheint der Empfang der Gefallenen in Valhǫll sowie die Bewirtung der dort verweilenden einherjar zu sein.272 Dargestellt werden die Walküren als „gepanzerte, bewaffnete und teilweise berittene Figuren“273, die den Kampf zwar indirekt beeinflussen, indem sie mittels übernatürlicher Fähigkeiten einzelne Krieger beschützen oder ihren Tod bestimmen, aber nicht selbst als Kämpfende an der Schlacht teilnehmen. Die walkürenhaften Züge Freyjas begegnen in besonders ausgeprägter Form im Sǫrla þáttr, wo die Göttin mittels ihrer magischen Fähigkeiten und Intrigen den immerwährenden Kampf Hjaðningavíg entfacht,274 bei welchem die gefallenen Krieger – wie in einem ins Negative verkehrten Zerrbild der einherjar in Valhǫll275 – stets wieder zum Leben erweckt werden und weiter kämpfen müssen.276 Ähnlich wie die Walküren untersteht Freyja in diesem Zeugnis dem Befehl Óðinns und tritt sogar unter dem Namen Gǫndul in Erscheinung, welcher sonst in Liederedda und Skaldik als Walkürenname277 aufgeführt wird. Im Sǫrla þáttr werden Freyjas Entscheidungsgewalt über den Tod und damit verbunden ihr (wenn auch im Kontext der nie endenden Schlacht eher bizarres, negativ konnotiertes)278 regeneratives Potential betont, da die Göttin mit Hilfe ihrer Magie die Toten wieder auferstehen zu lassen vermag. Freyja vereint in sich also die beiden Bereiche Fruchtbarkeit und Tod, was ein charakteristisches Merkmal von Vegetationsgottheiten darstellt und gerade von den Großen Göttinnen des Vorderen Orients bekannt ist: Ein gutes Beispiel hierfür ist die akkadische Ishtar, die sowohl als Göttin des Krieges als auch der geschlechtlichen Liebe verehrt wurde.279 Die für Freyja charakteristische Synthese von Fruchtbarkeit und Tod zeigt sich neben ihrer Affinität zu den Walküren insbesondere anhand ihrer engen Verbundenheit mit den Disen. Wie schon erwähnt handelt es sich bei den Disen um „lokale Prosperitätsgöttinnen“280, die jedoch zugleich den Tod verursachen können. Ihnen wurde kultische Verehrung zuteil, die auch Opferhandlungen umfasste. Neben lokalen Opferriten wurden auch große Opferfeierlichkeiten in Uppsala, dem bedeutendsten Zentrum der Wanenverehrung in Skandinavien,281 abgehalten.

272 S. Grm, Str. 36, Neckel; Kuhn, Edda, S. 64: „[. . .] þær bera einheriom ǫl.“/ „[. . .] sie bringen den einherjar Bier.“ 273 Zimmermann, Walküren, S. 600. 274 Vgl. Heizmann, Freyja, S. 293. 275 Vgl. Egeler, Walküren, S. 45. 276 S. Sǫrla, Flat, Bd. 1, S. 278 ff. 277 So in Hákonarmál 1, Skj Bd. B I, S. 57 und Vsp, Str. 30, Neckel; Kuhn, Edda, S. 7. 278 Eine negative Konnotation von Freyjas magischen Fähigkeiten verwundert allerdings angesichts der im Sǫrla þáttr zu Tage tretenden christlichen Perspektive wenig: Schließlich kann erst ein Christ den Bann brechen und die ewig Kämpfenden erlösen. 279 Vgl. Hultgård, Anders: Art. „Mythische Stätten, Tod und Jenseits“, in: RGA, Bd. 20. Berlin, New York, 2002, S. 473 sowie Böldl, Götter und Mythen, S. 266. 280 Böldl, Götter und Mythen, S. 267. 281 Vgl. ebd., S. 269.

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In diesem Kontext werfen nun die Todesarten einiger der frühen Ynglingenkönige ein besonderes Licht auf die Konnotation Freyjas mit Fruchtbarkeit und Tod: Snorri berichtet in der Ynglinga saga vom Ausbruch einer großen Hungersnot zu Zeiten des schwedischen Vorzeitkönigs Dómaldi. Nachdem keine anderen Opfer eine Verbesserung der Situation herbeizuführen vermögen, wird schließlich der König selbst – den man nach damaligem Glauben für gute oder schlechte (Ernte-)Jahre verantwortlich machte – geopfert und der Altar mit seinem Blut gerötet:282 Þá áttu hǫfðingjar ráðagørð sína, ok kom þat ásamt með þeim, at hallærit myndi standa af Dómalda, konungi þeira, ok þat með, at þeir skyldi honum blóta til árs sér ok veita honum atgǫngu ok drepa hann ok rjóða stalla með blóði hans, ok svá gerðu þeir.283 Da hielten die Anführer ihren Rat ab, und kamen überein, dass die Hungersnot ihren Ursprung in Dómaldi, ihrem König, habe, und dass sie ihn für ein fruchtbares Jahr für sich opfern und ihn angreifen und töten und den Altar mit seinem Blut röten sollten, und so machten sie es.

Genaueren Aufschluss über die Durchführung und den Empfänger dieses Opfers gibt die Historia Norvegiae: Dort ist von einem Hängeopfer an die Göttin Ceres die Rede,284 womit zweifellos eine nordische Entsprechung der römischen Göttin der Fruchtbarkeit und des Ackerbaus, also eine ideale Adressatin für eine gute Ernte und das Abwenden einer Hungersnot, gemeint sein muss. Ähnliches spielt sich in der Heiðreks saga ab: Auch hier bedroht eine Hungersnot das Land, zu deren Abwendung der Junge von vornehmster Geburt im Land geopfert werden soll.285 König Heiðrekr opfert nun aber nicht etwa seinen eigenen Sohn, sondern tötet stattdessen seinen Schwiegervater sowie einen großen Teil von dessen Mannschaft und weiht sie Óðinn, woraufhin sich seine Frau im dísarsalr, einem Kultgebäude einer einzelnen Dise (also einer weiblichen Vegetationsgottheit), erhängt286. Trotz der offensichtlichen Unterschiede folgen beide Episoden dennoch dem gleichen Muster, denn auch in der Heiðreks saga wird eine Opferhandlung zur Abwendung einer Hungersnot mit dem Tod einer königlichen Person durch Erhängen verknüpft. In beiden Zeugnissen wird ein Bezug zu Fruchtbarkeitsgottheiten hergestellt. Neben dem bereits genannten

282 Vgl. Heizmann, Freyja, S. 293. 283 Hkr I, Yngl saga, Kap. 15, ÍF 26, S. 31 f. 284 S. HistNorv, Kap. 9, S. 74: „Cuius filium Domald Sweones suspendentes pro fertilitate frugum Cereri hostiam obtulerunt.“ / „Dessen Sohn Domald wurde von den Schweden Ceres als Opfer für die Fruchtbarkeit der Feldfrüchte dargeboten.“ 285 S. Heiðr, STUAGNL 48, S. 41 f. 286 S. Heiðr, STUAGNL 48, S. 209: „KoNa hans uar suo reíd eptir fall foþur sins, at hon hengþi sik sialf i dísar sal.“ / „Seine Frau war so zornig nach dem Tod ihres Vaters, dass sie sich selbst im dísarsalr erhängte.“ Man beachte zudem die innerhalb dieser Episode aufscheinende Verbindung zwischen Óðinn, den Disen und einem für eine gute Ernte, also Fruchtbarkeit und Prosperität, dargebrachten Königsopfer – in diesem Fall König Haraldr, den Heiðrekr Óðinn statt seines eigenen Sohnes opfert.

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Dómaldi lässt noch ein weiterer Ynglingenkönig im Rahmen eines Opfers an Vegetationsgottheiten sein Leben: König Aðils stirbt beim Disenopfer durch einen Sturz vom Pferd, als er um den dísarsalr reitet.287 Laut Historia Norvegiae ist der Adressat dieser Opferhandlung die Göttin Diana288, vor deren Tempel der König den tödlichen Sturz erlitten habe: „Adils ante edem Diane, dum ydolorum sacrificia faceret, equo lapsus expiraiut“289 („Adils gave up the ghost after falling from his horse before the temple of Diana, while he was performing the sacrifices made to idols“290). Das Disenopfer, im Zuge dessen Aðils zu Tode kommt (möglicherweise liegt hier ein Echo einer rituellen Handlung in Form des Umreitens des Tempels im Rahmen eines Königsopfers vor), ist also offenbar wiederum ein Opfer an eine spezielle Dise, was auch das der Ynglinga saga zugrunde liegende Ynglingatal bestätigt: Dort ist es ebenfalls nur eine singuläre, als vitta véttr bezeichnete Gestalt,291 die Aðils Tod verursacht. Der anonyme Autor der Historia Norvegiae identifiziert diese einzelne Dise mit der Göttin Diana, während König Dómaldi Ceres als Opfer dargebracht wird. Es ist nicht zu gewagt, hinter beiden Göttinnen, die laut der Historia Norvegiae in Uppsala als zentralem Ort der Wanenverehrung Opfer empfangen, jeweils Freyja zu vermuten: Die Göttin wird aus dem Kollektiv der Disen als vanadís, als „Dis der Wanen“, herausgelöst, wodurch der dísarsalr als Ort der Opferhandlungen mit ihr in Bezug gesetzt werden kann. Zudem ist Freyja durch ihre Zugehörigkeit zum Geschlecht der Wanen eng

287 Hkr I, Yngl saga, Kap. 29, ÍF 26, S. 57 f. 288 An dieser Stelle sei erneut auf die bereits in Kapitel VI 3.2 erörterte Möglichkeit einer Identifikation Freyjas mit Artemis/Diana hingewiesen. Möglicherweise wählte der Verfasser der Historia Norvegiae an dieser Stelle als Entsprechung der fraglichen nordgermanischen Gottheit Diana gerade deswegen, weil sie in dieser Episode mit einem plötzlichen Tod – in Form des Sturzes vom Pferd – verbunden wird. Artemis/Diana und die mit ihr assoziierte Nymphenschar sind nämlich auch Überbringerinnen des Todes, bei dem es sich jedoch nicht etwa um ein Dahinsiechen oder Entschlafen, sondern um ein jähes Ende (durch Pfeilschuss der Göttin) handelt, das offenbar dennoch als „sanft“ empfunden wurde. Vgl. hierzu Nilsson, Griechische Religion, Bd. 1, S. 482: „[. . .] man darf sich nicht verleiten lassen, an den Tod im Wochenbett zu denken, weil Artemis auch Geburtsgöttin ist. Der Tod, den Artemis sendet, ist ein plötzlicher, nicht ein durch lange Krankheit oder äußere Gewalt herbeigeführter, und ein sanfter, was für die Menschen dieser Zeit auf dasselbe hinauskam. Sie naht sich ihnen und sendet den Tod mit ihren sanften Pfeilen.“ 289 HistNorv, Kap. 9, S. 76 und 78. 290 Übersetzung nach Fisher, HistNorv, S. 77 und 79. 291 Yt 21, Skj Bd. B I, S. 11. Zudem tritt vitta véttr bereits in der 3. Strophe des Ynglingatal in Erscheinung: Bezeichnenderweise wird dort, wie schon in Kapitel VI 4.1 ausgeführt, dieser Ausdruck für die Zauberin verwendet, die als mara König Vanlandi zu Tode bringt. Sollte sich hinter vitta véttr jeweils die Göttin Freyja als prototypische Zauberin verbergen, wäre dies einmal mehr ein Beleg für die enge Konnotation des seiðr mit Freyja, denn in Snorris Ynglinga saga ist die als Nachtmahr agierende Zauberin eine seiðr-Praktizierende (s. Hkr I, Yngl saga, Kap. 13, ÍF 26, S. 28 f.). Vgl. hierzu auch Heizmann, Freyja, S. 294, Anm. 141 sowie Ström, Diser, nornor, valkyrior, S. 45 ff., welcher in der seiðkona Hulð eine Erscheinungsform Freyjas sieht.

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mit den Ynglingen assoziiert, die ihre Abstammung von Yngvi-Freyr herleiten.292 Möglicherweise wurde Freyja im Rahmen der Opferhandlungen in Uppsala zugleich als lebensspendende Fruchtbarkeitsgöttin wie auch als Repräsentantin des Todes verehrt293 und mit (Menschen-)Opfern bedacht.294 Schließlich bezeichnet Snorri Freyja als prototypische ‚Opferpriesterin‘ (blótgyðja)295 der Schweden und auch die eddischen Hyndluljóð lassen die Göttin von zu ihren Ehren dargebrachten Opfern berichten: Hǫrg hann mér gerði, hlaðinn steinom, nú er griót þat at gleri orðit; rauð hann í nýio nauta blóði, æ trúði Óttarr á ásynior.296 Einen Altar macht’ er mir, aufgeschichtet aus Steinen, nun ist das Gestein zu Glas geworden; er rötete’s mit frischem Blut von Rindern, immer vertraute Ottarr den Asinnen.297

Die obigen Ausführungen haben die große Bedeutung des Todes als Aspekt der Göttin Freyja gezeigt. Wie viele andere Vegetationsgottheiten verbinden sich auch in ihr Fruchtbarkeit und Tod als Elemente des Lebenszyklus’, was womöglich schon anhand des Namens der mit ihr assoziierten Jenseitsstätte Fólkvangr transportiert wird: Aufgrund der Bedeutung des zweiten Bestandteils des Kompositums kann dieser Jenseitsort nämlich als ‚grünendes Feld‘ interpretiert werden298 und dürfte somit beides, Tod und Leben, in sich vereinen.

4.3 Óðinn In Snorris Ynglinga saga als „draugadróttin eða hangadróttin“299 („Herr der Geister oder Herr der Gehenkten“) bezeichnet und in der Snorra Edda mit dem Beinamen Hangaguð (‚Gott der Gehenkten‘)300 versehen, ist seine intensive Verbindung zum Tod, den Sterbenden und den Toten eines der hervorstechendsten Merkmale Óðinns. Als Totengott herrscht Óðinn über die im Kampf Gefallenen; in der Gylfaginning wird er nachgerade 292 Vgl. Naumann, Hans-Peter: Art. „Ynglingar“, in: RGA, Bd. 34. Berlin, New York, 2007, S. 382. 293 Vgl. Naumann, Disen, S. 497 sowie Heizmann, Freyja, S. 295. 294 Vgl. zu der Verbindung Freyjas und den (Opfer-)Toden der frühen Ynglingenkönige Heizmann, Freyja, S. 293 ff. sowie Böldl, Götter und Mythen, S. 266–269. 295 Hkr I, Yngl saga, Kap. 4, ÍF 26, S. 13. 296 Hdl, Str. 10, Neckel; Kuhn, Edda, S. 289. 297 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 200. 298 Vgl. Hultgård, Mythische Stätten, S. 473. 299 Hkr I, Yngl saga, Kap. 7, ÍF 26, S. 18. 300 S. Gylf 20, Faulkes, SnE, S. 21; vgl. Falk, Odensheite, S. 15.

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als deren Vater bezeichnet: „Hann heitir ok Valfǫðr, þvíat hans óskasynir eru allir þeir er í val falla.“301 („Er heißt auch ‚Vater der Gefallenen‘, weil seine Adoptivsöhne alle die sind, die im Kampf fallen.“) Óðinns enger Verbindung mit dem Tod und insbesondere den in der Schlacht Gefallenen tragen auch weitere Beinamen des Gottes wie Valkjósandi (‚Erwähler der auf dem Schlachtfeld Gefallenen‘) oder Valtamr (‚der an die auf dem Schlachtfeld Gefallenen Gewohnte‘) Rechnung.302 Zudem schlägt sie sich in der Skaldik nieder, welche den Tod durch Wendungen wie „fara með Óðni“303 (‚mit Óðinn reiten‘) paraphrasiert.304 Nach ihrem Tod schart Óðinn die Gefallenen in Valhǫll (‚Halle der Gefallenen‘) um sich, seiner im Zentrum der Götterwelt befindlichen Wohnstätte. Dort werden sie, nunmehr als einherjar (‚die allein Kämpfenden‘305) bezeichnet, aus nie versiegenden Quellen fürstlich bewirtet und üben sich immerfort im Kampf – obschon sie den ganzen Tag gegeneinander antreten, sitzen die Krieger abends alle wieder unversehrt beisammen306 –, um dereinst bei den ragnarǫk an der Seite Óðinns in die Schlacht gegen den Fenriswolf und die Chaosmächte zu ziehen. Als älteste Zeugnisse für den Empfang der Gefallenen in Valhǫll gelten die Darstellungen auf den gotländischen Bildsteinen Ardre VIII und Alskog Tjängvide I (beide um 800)307, die jeweils im oberen Bildfeld die Ankunft eines auf einem achtbeinigen Pferd befindlichen Reiters an einer Halle zeigen. Auf dem Bildstein von Tjängvide wird der Reiter von einer Frauengestalt mit Trinkhorn begrüßt, bei der es sich nach allgemeiner Auffassung um eine Walküre handeln dürfte, die den Toten im Jenseits mit einem Begrüßungstrunk empfängt. Da die Bildsteine im Zusammenhang mit dem Totengedenken stehen und das achtbeinige Pferd mit Sicherheit auf Óðinns Pferd Sleipnir verweist, kann davon ausgegangen werden, dass hier auf die Ankunft des Toten in Valhǫll Bezug genommen wird.308 Auch die Skaldendichtung zeugt mit den nach der Mitte des 10. Jahrhunderts zu Ehren der verstorbenen Könige Eiríkr blóðøx und

301 Gylf 20, Faulkes, SnE, S. 21. 302 Vgl. hierzu Falk, Odensheite, S. 32 f. mit den o. g. und weiteren Beispielen. 303 Eyv Hák 1, Skj Bd. B I, S. 57. 304 Vgl. Motz, King, Champion, Sorcerer, S. 72. 305 Vgl. Beck, Einherier, S. 22 f. 306 S. Vm, Str. 41, Neckel; Kuhn, Edda, S. 52: „Allir einheriar Óðins túnom í / hǫggvaz hverian dag; / val þeira kiósa oc ríða vígi frá, / sitia meirr um sáttir saman.“ / „Alle Einherjer schlagen sich in Odins / Hof jeden Tag; / sie wählen die Gefallenen aus und reiten vom Kampf, / sie sitzen versöhnt zusammen.“ (Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 83). 307 Vgl. zu Ardre VIII Lindqvist, Bildsteine, Bd. 2, S. 22 − 24; vgl. zu Alskog Tjängvide I Lindqvist, Bildsteine, Bd. 2, S. 15 − 17. 308 Vgl. Böldl, Götter und Mythen. S. 159. Die Deutung der Szene auf Alskog Tjängvide I als Ankunft des Kriegers in Valhǫll kann als gesichert gelten; vgl. hierzu Heizmann, Wilhelm: „Das adventusMotiv auf dem langen Horn von Gallehus (1639)“, in: Heizmann, Wilhelm; Oehrl, Sigmund (Hgg.): Bilddenkmäler zur Germanischen Götter- und Heldensage. Berlin, Boston, 2015 (Ergänzungsbände zum RGA, 91), S. 95 f.

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Hákon góði entstandenen Preisliedern Eiríksmál bzw. Hákonarmál bereits von der Vorstellung, dass auf die gefallenen Krieger nach ihrem Tod die Aufnahme in Óðinns Gefolge in Valhǫll wartet.309 Beide Gedichte schildern den ehrenvollen Empfang des verstorbenen Herrschers in Valhǫll, setzen dabei jedoch unterschiedliche Akzente: Während König Eiríkr in ein glanzvolles, einladendes Kriegerparadies Einzug halten kann, steht Hákon blutüberströmt vor Valhǫll und fürchtet Óðinns Zorn, da ihm sein Tod als böswilliger Eingriff des Gottes erscheint: Ræsir þat mælti, vas frá rómu kominn, stóð allr í dreyra drifinn: illúðigr mjǫk þykkjumk Óðinn vesa, séumk vér hans of hugi.310 The ruler [Hakon] said that [this] – he had come from battle, stood all drenched in blood –: ‘Óðinn appears to us [me] to be very hostile; we [I] fear his intentions.’311

Letztlich können aber beide Könige ihren Platz im auserwählten Gefolge Óðinns einnehmen.312 Hákon fürchtet nicht nur Óðinns Zorn, sondern fragt sich auch, warum der Gott ihm seine Gunst entzogen hat. In den Eiríksmál beantwortet Óðinn selbst diese Frage damit, dass er den von ihm geschätzten Herrscher bei den ragnarǫk an seiner Seite Wissen will.313 Die beiden Gedichte transportieren also die Vorstellung, dass der jähe Tod eines Kriegers bzw. Helden in der Schlacht nur vermeintlich damit zu tun hat, dass Óðinn das Schlachtenglück zu dessen Ungunsten verändert und sich von ihm abwendet – vielmehr wird ein solcher Tod als Ausdruck der Hochschätzung des Gottes gedeutet, der die besten Krieger für die Schlacht um das Schicksal der Götter an seine Seite ruft:314 Hví namt hann sigri þá, es þér þótti snjallr vesa? Óvíst’s at vita, sér ulfr enn hǫsvi [greypr] á sjǫt goða.315

309 Vgl. Hultgård, Wotan-Odin, S. 768 sowie Böldl, Götter und Mythen, S. 159–162. 310 Eyv Hák 15, Skj Bd. B I, S. 59. 311 Übersetzung nach R. D. Fulk, in: Whaley, Skaldic Poetry, Bd. 1, Part 1, S. 189. 312 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 161 f. 313 Vgl. ebd., S. 161. 314 Eine plötzliche Abkehr Óðinns von einem seiner besonderen Schützlinge wurde bereits in Kapitel VI 3.3 angesprochen: In der Vǫlsunga saga stattet Óðinn den jungen Sigmundr mit einem vortrefflichen Schwert aus, zerstört dieses jedoch später durch sein Einwirken, woraufhin sich Sigmundrs Kampfgeschick wendet und er in der Schlacht stirbt. (vgl. Vǫls, Kap. 3, STUAGNL 36, S. 6 f. sowie Kap. 11 u. 12, STUAGNL 36, S. 27 f.) 315 Anon Eirm 7, Skj Bd. B I, S. 165.

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‘Why did you deprive him of victory then, when he seemed to you to be valiant?’ ‘Because it cannot be known for certain when the grey wolf will attack the home of the gods.’316

Besonders detailliert wird Óðinns Kriegerparadies in den eddischen Grímnismál317 geschildert, welche Vorstellungen des Spätheidentums bewahrt haben dürften und die Snorri zur Grundlage seiner Darstellung Valhǫlls in der Gylfaginning machte.318 Dort wird Gangleri insbesondere die Frage nach der Verpflegung der einherjar in den Mund gelegt: Angesichts der ungeheuren Menge an Gefallenen, die seit Anbeginn der Welt Aufnahme in Valhǫll gefunden haben, wundert er sich, wie diese versorgt werden können. Es folgt die Erklärung Hárrs, dass die einherjar sich an dem sich stets erneuernden Fleisch des Ebers Sæhrímnir sowie dem nie versiegenden Metstrom aus dem Euter der Ziege Heiðrún gütlich tun können:319 Eine regenerative Motivik bestimmt also in auffälliger Weise diesen von Óðinn beherrschten Jenseitsort, neben den sich stets reproduzierenden bzw. nie versiegenden Nahrungsmitteln besonders prägnant erkennbar anhand des stetigen Wiederauferstehens der gegeneinander kämpfenden einherjar. Die Beschreibung Valhǫlls in der eddischen und skaldischen Dichtung lässt somit das Bild einer mythisch überhöhten Herrscherhalle erstehen – eines für die wikingerzeitliche Kriegeraristokratie überaus erstrebenswerten Jenseitsortes.320 Óðinns enge Bindung zu den Verstorbenen ist insbesondere auch im Kontext seines ständigen Strebens nach verborgenem Wissen zu betrachten, welches er oftmals gerade durch den Kontakt mit den Toten und auf seinen Reisen in jenseitige Sphären erwirbt. Die Ynglinga saga attestiert Óðinn die Fähigkeit zur Totenbeschwörung und zur Zwiesprache mit den Toten;321 in den eddischen Hávamál rühmt sich der Gott selbst der Kenntnis von Runenzeichen, die es ihm erlauben, die Gehenkten wieder zum Leben zu erwecken und mit ihnen zu sprechen: Þat kann ec iþ tólpta, ef ec sé á tré uppi váfa virgilná: svá ec ríst oc í rúnom fác, at sá gengr gumi oc mælir við mic.322

316 Übersetzung nach R. D. Fulk, in Whaley, Skaldic Poetry, Bd. 1, Part 2, S. 1011. 317 Schilderungen, die Valhǫll betreffen, finden sich in den Str. 18–26 sowie 36 der Grímnismál. 318 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 162. 319 Gylf 38–41, Faulkes, SnE, S. 32–34. 320 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 164. 321 S. Hkr I, Yngl saga, Kap. 7, ÍF 26, S. 18: „[. . .] stundum vakði hann upp dauða menn ór jǫrðu eða settisk undir hanga.“ / „[. . .] manchmal erweckte er tote Menschen aus der Erde oder setzte sich unter die Gehenkten.“ 322 Háv, Str. 157, Neckel; Kuhn, Edda, S. 43.

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Einen zwölften kenn ich, wenn ich oben am Baum eines Gehängten Leiche baumeln seh: Dann ritz ich und färb die Runen, dass dieser Mann kommt und mit mir spricht.323

Diese Fähigkeiten setzt Óðinn beispielsweise in Baldrs draumar ein, um im Totenreich Hel eine vǫlva von den Toten wiederzuerwecken und sie nach dem Schicksal seines Sohnes zu befragen.324 Der Götterfürst ist demnach in der Lage, mithilfe seines achtbeinigen Pferdes Sleipnir die Unterwelt – eine jenseitige, im Gegensatz zu Ásgarðr jedoch chthonische Sphäre – zu betreten und dort Wissen zu akquirieren: eine Kontaktaufnahme mit dem „Anderweltlichen“, welche Sterbliche in der Regel nicht unbeschadet überstehen können und die daher neben mythischen Gestalten Ritualspezialisten wie den seiðr-Praktizierenden vorbehalten bleibt. Zudem manifestiert sich Óðinns Konnotation mit dem Tod auch gerade in seiner Fähigkeit, diesen zu überwinden: Nach seinem Selbstopfer kehrt der Gott mit neuem Wissen – nämlich der Runenkenntnis – ins Leben zurück. Das Motiv des Durchbohrens mit einem Speer sowie das Opfer des Gottes durch Erhängen in den Strophen 138–141 der Hávamál stellen dabei Tötungsarten dar, die in der altnordischen Überlieferung generell eng mit Óðinn assoziiert werden und „die vielleicht auch symbolisch im Rahmen von Odinsweihen durchgeführt wurden“325. So zeigt der auf das 8. oder 9. Jahrhundert datierte gotländische Bildstein von Lärbro Stora Hammars I eine Szene, die allem Anschein nach als odinisches Opfer oder aber als die Weihe eines Kriegers an den Gott (im Zuge eines Initiationsritus) zu interpretieren ist: Im linken Bildrand steht ein mit einem Schild ausgestatteter Mann, um dessen Hals eine Schlinge liegt, welche wiederum an einem herabgezogenen Ast befestigt ist. Die Füße des Mannes berühren zwar den Boden, würde der Ast jedoch losgelassen, würde dies zum Erhängen des Mannes führen. Auf einem daneben befindlichen Gerüst, das vielleicht als Altar zu interpretieren ist, liegt eine weitere Person, hinter welcher ein Mann mit einem Speer steht, was als (symbolisches) Durchbohren mit einem Speer gedeutet werden kann. Über und hinter dem „Altar“ befinden sich große Vögel, die möglicherweise als Adler anzusprechen sind und einen weiteren Bezug zu Óðinn darstellen könnten.326

323 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 69. 324 Vgl. Bdr, Str. 4, Neckel; Kuhn, Edda, S. 277: „Þá reið Óðinn fyr austan dyrr, / þar er hann vissi vǫlo leiði; / nam hann vittugri valgaldr qveða, / umz nauðig reis, nás órð um qvað [. . .].“ / „Da ritt Odin östlich der Tür, / wo er wusste das Grab der Seherin; / er begann der Zauberkundigen Totenzauber zu sagen, / bis sie unter Zwang aufstand, einer Leiche Worte sprach [. . .].“ (Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 182). 325 Böldl, Götter und Mythen, S. 174. 326 Vgl. ebd., S. 175.

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In einer dieser bildlichen Darstellung auffallend ähnelnden Episode der Gautreks saga, einer im 13. Jahrhundert verschriftlichten Vorzeitsaga,327 endet ein Scheinopfer an den Götterfürsten wider Erwarten tödlich: Um günstigen Fahrtwind zu bekommen, soll König Víkarr Óðinn geopfert werden. Die Zeremonie wird jedoch zur todbringenden Realität, als sich die dabei verwendeten, harmlos anmutenden Requisiten durch das Eingreifen einer übernatürlichen Macht verwandeln: Aus einem Rohrstengel wird ein Speer und aus Kalbsgedärmen ein fester Strick, wodurch Víkarr erhängt, durchbohrt und somit tatsächlich Óðinn geopfert wird.328 Es lässt sich schwer beurteilen, inwieweit diese legendarischen und mythischen Odinsopfer auf eine wirkliche, mit der kultischen Verehrung des Gottes verbundene Opferpraxis oder rituelle Odinsweihen zurückgehen,329 jedoch werden aufgrund der wichtigen Rolle des Erhängens im Mythos des Gottes auch die laut den Gesta Hammaburgensis alle neun Jahre in einem Hain nahe des großen Tempels von Uppsala durch Erhängen vollzogenen Opferungen von Menschen, Pferden und Hunden330 als Odinsopfer interpretiert.331 Abschließend soll als letzter Aspekt der Verbindung Óðinns zum Themengebiet des Todes seine Funktion als Anführer toter Heerscharen angesprochen werden: So steht der Gott zum einen in der altnordischen Überlieferung den einherjar vor, zum anderen tritt er im späteren Volksglauben als Anführer der insbesondere die Seelen ruheloser Verstorbener umfassenden Wilden Jagd auf. Im skandinavischen Raum ist dieser geisterhafte Zug als Oskoreia – einer Ableitung von ásgardsreið; etwa ‚der asgardische Zug‘, ‚Fahrt nach Ásgarðr‘ – oder Oensjaegeren (‚Odinsjäger‘) bekannt332, was bereits deutlich auf Óðinn als Schirmherren der Wilden Jagd in nordischen Bereich verweist. Obschon Óðinn also sowohl in der altnordischen Überlieferung wie auch im Volksglauben als Anführer der Verstorbenen in Erscheinung tritt, ist der Gott kein klassischer Psychopompos wie der griechische Gott Hermes333, denn Óðinn 327 Vgl. Simek; Pálsson, Lexikon der altnordischen Literatur, S. 98. 328 „Gautreks saga“, in: Ranisch, Wilhelm (Hg.): Die Gautrekssaga in zwei Fassungen. Berlin, 1900 (Palaestra, 11), Kap. 7, S. 30 f. Vgl. zur Opferung König Víkarrs besonders die Einleitung von Robert Nedoma: Gautreks saga konungs. Die Saga von König Gautrek. Aus dem Altisländischen übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Robert Nedoma. Göppingen, 1990 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 529), S. 35. 329 Vgl. Hultgård, Wotan-Odin, S. 770. 330 S. Adam von Bremen, Hamburgische Kirchengeschichte, Lib. IV, Kap. 27, S. 260. 331 Vgl. Maier, Bernhard: Die Religion der Germanen. Götter – Mythen – Weltbild. München, 2003, S. 75. 332 Vgl. ebd. sowie Kershaw, Odin, S. 35 und Eicke, Christine: Sozialformen der männlichen Jugend Altnorwegens. Wien, 1978 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie, 5), S. 197 ff. 333 S. Nilsson, Griechische Religion, Bd. 1, S. 508 f.: „Er [Hermes, C. K.] heiß oft Chthonios; das Epitheton Psychopompos wird in moderner Zeit oft gebraucht, um ihn in dieser seiner speziellen Funktion zu bezeichnen. Er ist nämlich der Seelenführer, der den Toten den Weg in die Unterwelt weist [. . .]. Er ist der Wegweiser und daher geeignet, den Seelen den Weg in das Totenreich zu

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geleitet die Seelen der Verstorbenen nicht vom Diesseits ins Jenseits. Er fungiert nicht als Begleiter der Menschen bei dieser finalen biographischen Übergangserfahrung, sondern bestimmt vielmehr durch seine Wahl, wann ihre Zeit zu sterben gekommen ist, und erwartet sie im Jenseits. Eine Ausnahme zu dieser Regel klingt lediglich in der Vǫlsunga saga an, wo ein Unbekannter, bei dem es sich um Óðinn handeln muss, als Fährmann den Leichnam des toten Sinfjǫtli – als Angehöriger des Völsungengeschlechts ein besonderer Schützling des Gottes – übersetzt:334 Sinfiotli dreckr ok fellr þegar nidr. Sigmundr ris upp, ok geck harmr sinn nęr bana, ok tok likit i fang ser ok feR til skogar ok kom lox at einum firde. Þar sa hann mann a einum bate litlum. Sa madr spyR, ef hann villde þiggia at honum far yfir fiordinn. Hann iattar þvi. Skipit var sva litid, at þat bar þa eigi, ok var likit fyrst flutt, enn Sigmundr geck med firdinum. Ok þvi nęst hvarf Sigmundi skipit ok sva madrinn.335 Sinfjǫtli trinkt und fällt sogleich nieder. Sigmundr erhob sich, und ging an seiner Trauer nahezu zugrunde, und nahm die Leiche in seine Arme und ging in den Wald und kam schließlich an einen Fjord. Dort sah er einen Mann auf einem kleinen Boot. Der Mann fragt, ob er von ihm eine Überfahrt über den Fjord annehmen wolle. Er willigt darin ein. Das Schiff war so klein, dass es sie nicht trug, und die Leiche wurde zuerst übergesetzt, aber Sigmundr ging den Fjord entlang. Und als nächstes entschwand das Schiff genau wie der Mann Sigmundrs Blicken.

Die Affinität Óðinns zum Tod und zu den Sterbenden ist einer der wichtigsten Züge dieses Gottes überhaupt. Dabei bildet Óðinns Fähigkeit, mit den Toten zu interagieren und sogar die unterweltliche Hel zu bereisen, eine zentrale Quelle für das von dem Gott stets angestrebte verborgene Wissen. Zudem ist Óðinn in der Lage, die Grenze des Todes selbst zu überwinden, wie sein Hängeopfer zeigt. All dies birgt deutliche Hinweise auf die grenzüberschreitenden Eigenschaften des Götterfürsten. Zudem zeigt sich innerhalb der Verbindung Óðinns mit dem Tod auch ein starkes Regenerationspotential des Gottes, welches sowohl für sein Selbstopfer zu konstatieren ist als auch Ausdruck in der nie endenden Fülle findet, mit welcher die einherjar in Valhǫll bewirtet werden.

weisen.“ Obwohl er also keine wirkliche Psychopompos-Funktion erfüllt, könnte Óðinns Verbindung mit den Toten dennoch ein weiteres Mosaikteil gewesen sein, welches zu seiner bis in die Antike zurückreichenden Gleichsetzung mit Hermes/Merkur führte. 334 Vgl. hierzu Motz, King, Champion, Sorcerer, S. 87: „The role of guide of the dead is not strongly marked in Óðinn. It appears when he accepts the body of the dead Sinfjǫtli to ferry him in his boat across the sea (Vols. Ch. 10). He is not a psychopomp in tales of the Wild Hunt, for his host is not allowed to find a habitation. “ 335 Vǫls, Kap. 10, STUAGNL 36, S. 25 f.

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5 Fazit Die Analyse des seiðr im Kontext der biographischen Schwellenerfahrungen Geburt, Adoleszenz und Tod hat wertvolle Erkenntnisse in Bezug auf diese Magieform und insbesondere ihre göttlichen Praktizierenden geliefert: So konnte dargelegt werden, wie stark Óðinn und Freyja in der altnordischen Überlieferung mit den Übergangserfahrungen des menschlichen Lebens konnotiert sind. Für Freyja als Fruchtbarkeitsgöttin mag ihre in den vorangegangenen Kapiteln aufgezeigte enge Verbindung mit dem Anfang und dem Ende des Lebens nicht überraschen, weniger Beachtung erfährt jedoch zumeist das Wirken der Göttin als Initiatorin in den Hyndluljóð. Eine ähnliche Schwerpunktbildung lässt sich auch für das Bild Óðinns konstatieren: Während gerade sein Auftreten als göttlicher Initiator sowie als protoypischer Initiand im Mythos des Götterfürsten überaus prominent ist, steht seine recht ausgeprägte Verbindung mit dem Bereich der Geburt sowie sein schöpferisches Potential hingegen oftmals hinter diesen Aspekten zurück. Besonders präsent in der altnordischen Überlieferung ist die Affinität Óðinns zum Tod und den Verstorbenen, wobei sich auch hier wiederum ein regeneratives Potential des Gottes offenbart: In Form seiner Fähigkeit zur Überwindung des Todes sowie anhand der Fülle und regenerativen Elementen, welche das ihm unterstehende Kriegerparadies Valhǫll kennzeichnen. Seine Verbindungen zu den biographischen Schwellenerfahrungen haben zudem Óðinns Eigenschaften als Grenzgänger deutlich werden lassen: Zur Zeugung außergewöhnlicher Helden begeht er Tabubrüche und Verstöße gegen die Geschlechternormen (Inzest, Cross-Dressing) und um geheimes Wissen zu gewinnen, überwindet er die Grenze zwischen Leben und Tod. Die Betrachtung von seiðr-Episoden im Lichte biographischer Übergangserfahrungen zeigte erneut das enorme Transgressionspotential, das dieser Magieform in der altnordischen Überlieferung zugeschrieben wird: seiðr begleitet diese kritischen Lebensereignisse nicht etwa rituell im Sinne einer positiv intendierten Magie, sondern greift gerade dann gerne als Schadenszauber an, wenn ein Zauberziel aufgrund seines Schwellenzustandes besonders vulnerabel für magische Beeinflussung ist. So wird der heranwachsende Kári in der Laxdœla saga zum Ziel von destruktivem seiðr; die motivisch ähnlichen Belege aus der Eyrbyggja saga, der Landnámabók und dem Þiðranda þáttr ok Þórhalls veranschaulichen zudem, dass der durch (insbesondere) weibliche übernatürliche Wesen verursachte Tod eines jungen Mannes generell ein beliebtes Sujet der altnordischen Überlieferung zu sein scheint. Dies könnte bereits als ein Hinweis darauf gewertet werden, dass auch seiðr stark mit (aggressiver) weiblicher Sexualität assoziiert wurde. Gerade wegen ihres Schwellenstatus kann bei Jugendlichen nicht nur erhöhte Vulnerabilität gegenüber Schadenszaubern, sondern auch ein gesteigertes magisches und regeneratives Potential festgestellt werden, weswegen es nicht verwundert, dass sich die vǫlva in der Ǫrvar-Odds saga mit jugendlichen Ritualhelfern umgibt.

5 Fazit

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Die Kári-Episode kann darüber hinaus als ein missglücktes Initiationserlebnis interpretiert werden, bei dem die Fühlungnahme eines Jugendlichen mit dem Übernatürlichen zu dessen Tod führt. Verlockt seiðr in diesem Beleg also dazu, Grenzen zu überschreiten, ist der Einsatz dieser Magieform gerade im Kontext der Zeugung und der Geburt mit eklatanten Tabubrüchen und Normverstößen konnotiert. Von Inzest über Cross-Dressing bis Vergewaltigung wird dabei nichts ausgelassen, um besondere Fähigkeiten bei den aus diesen nonkonformen Zeugungsakten hervorgehenden Nachkommen zu erwecken. In den folgenden Abschnitten werden nunmehr zwei besonders mit seiðr und seinen menschlichen wie auch göttlichen Praktizierenden assoziierte Eigenschaften des Schwellenzustandes vorgestellt: Die Ortsunfestigkeit und die Minimierung der Geschlechterunterschiede bzw. die geschlechtliche Liminalität.

VII Eigenschaften des Schwellenzustands und seiðr: Ortsunfestigkeit 1 Ortsunfestigkeit als liminales Phänomen Die Ortsunfestigkeit ist ein mit der liminalen Phase verbundenes Phänomen, welches in engem Zusammenhang mit der ebenfalls als Charakteristikum des Schwellenzustandes zu wertenden Heimat- und Besitzlosigkeit steht.1 Sie „stellt eine radikale Trennung von der vertrauten Umgebung dar, sowohl vom Ort als auch von seinen Menschen“2, und geht dementsprechend mit dem Verlust von sozialer Zugehörigkeit und einem undefinierten Status bis hin zur (auch als Merkmal der liminalen Phase zu deutenden) Statuslosigkeit seitens des nichtsesshaften Individuums einher. Dabei kann sich die Ortsunfestigkeit zum einen als „ziellose Reise“3 oder „Reise zu einem fremden Ziel“4 manifestieren und – etwa im Fall der ‚Fahrenden‘ im Mittelalter – die Erscheinungsform einer lang andauernden bis permanenten Liminalität annehmen; sie kann aber auch als zeitlich begrenztes „Unterwegssein“ im Ritual oder im Rahmen einer Pilgerreise5 auftreten, im Zuge dessen sich das Individuum für eine bestimmte Zeitspanne aus dem Alltag der Strukturgesellschaft löst und zu einem entfernten Ziel aufbricht. Als ein sowohl mit den menschlichen wie auch den göttlichen seiðr-Praktizierenden der altnordischen Überlieferung eng verbundenes liminales Phänomen soll die Ortsunfestigkeit in den folgenden Kapiteln zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden.

1 In seiner Auflistung der Eigenschaften des Schwellenzustandes vs. derer des Statussystems führt Turner allerdings nur die Besitzlosigkeit, nicht aber die Heimatlosigkeit an, obwohl er im weiteren Verlauf seiner Untersuchung auch auf die liminale Qualität der Pilgerschaft aufmerksam macht; vgl. Turner, Ritual, S. 105 f. 2 Lee, Grenzüberschreitungen, S. 153. 3 Schüttepelz, Erhard: „Der Trickster“, in: Eßlinger, Eva et al. (Hgg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Berlin, 2010, S. 221. 4 Ebd. 5 Der Begriff Pilger leitet sich von mlat. pere-/pelegrini (wörtlich ‚der Fremdling‘) ab, was bereits den Verlust von Zugehörigkeit und den Aufbruch in die Fremde anzeigt. Vgl. Dinzelbacher, Peter (Hg.): Sachwörterbuch der Mediävistik. Stuttgart, 1992, S. 635 sowie Walde, Alois: Lateinisches Etymologisches Wörterbuch. 3., neubearbeitete Auflage von J. B. Hofmann. Bd. 2. Heidelberg, 1954, S. 286. https://doi.org/10.1515/9783110678772-007

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VII Eigenschaften des Schwellenzustands und seiðr: Ortsunfestigkeit

2 Ortsunfestigkeit bei seiðr-Praktizierenden 2.1 Konnotationen von Nichtsesshaftigkeit und Zaubermacht im Mittelalter: Fahrendes Volk, fahrende Frauen Um die innerhalb der Darstellung seiðr-Praktizierender in der altnordischen Überlieferung zu beobachtende Konnotation von Ortsunfestigkeit und Zaubermacht in einen größeren Kontext einordnen zu können, sind zunächst einige Vorbemerkungen zu den Implikationen von Nichtsesshaftigkeit im Mittelalter notwendig. In seiner Untersuchung Fahrendes Volk im Mittelalter bezeichnet Ernst Schubert die Mobilität als „gesellschaftliche Grunderfahrung“6 dieser Epoche, welche soziale Schichten übergreifend eine große Zahl von Menschen betraf: So stehen beispielsweise der profitorientierten Mobilität eines Kaufmanns, der seine Waren begleitet,7 die durch Armut und der Suche nach Erwerbstätigkeit erzwungene Mobilität eines Tagelöhners gegenüber. Zugleich wurde im Mittelalter jedoch an den mönchischen Idealen der Stabilität (lat. stabilitas) und Beständigkeit (lat. constantia) festgehalten – Sesshaftigkeit sowie Haus- und Grundbesitz waren Vorbedingungen für das Erlangen des Bürgerrechts8: [D]as Bürgerrecht beruhte auf Seßhaftigkeit, Haus- und Grundbesitz, auf der Mitgliedschaft in einer Zunft oder Bruderschaft. Marginalisiert wurden all diejenigen, die keiner Grundherrschaft, keiner Pfarrgemeinde, keinem Konvent, keiner Gilde oder Zunft oder sonst irgendeiner geachteten gesellschaftlichen Korporation angehörten.9

Ein Phänomen innerhalb der großen, inhomogenen Gruppe nichtsesshafter Personen der mittelalterlichen Gesellschaft bilden die sogenannten Fahrenden. Die Sammelbezeichnung „Fahrende“ bzw. „fahrendes Volk“ (von mhd. varn ‚umherziehen‘) wird für Nichtsesshafte aus verschiedenen Gruppen der Bevölkerung verwendet.10 Hierzu gehören Gaukler, Spaßmacher, Schauspieler, Musikanten, Sänger und Dichter (also Spielleute), Krämer, Quacksalber und herumziehende Bettler; aber auch umherziehende Studenten und Kleriker (Vaganten) sowie Dirnen.11 Oftmals bestritten die Fahrenden ihren Lebensunterhalt durch Betteln, insbesondere verdienten sie ihn sich aber auch durch die Unterhaltung der Menschen, indem sie ihre vielfältigen Dienste an Höfen, in Städten und auf Jahrmärkten anboten.12 Ihr gemeinsames Merkmal ist das Nichtvorhandensein eines ständigen Wohnsitzes.13 Den unterschiedlichen volkssprachigen

6 Schubert, Ernst: Fahrendes Volk im Mittelalter, Bielefeld, 1995, S. 29. 7 Ebd., S. 31. 8 Meier, Frank: Gaukler, Dirnen, Rattenfänger. Außenseiter im Mittelalter. Ostfildern, 2005, S. 11. 9 Ebd. 10 Vgl. Dinzelbacher, Sachwörterbuch der Mediävistik, S. 235 sowie Graus, František: Art. „Fahrende, fahrendes Volk“, in: LexMA, Bd. 4. München, Zürich, 1989, Sp. 231. 11 Vgl. Dinzelbacher, Sachwörterbuch der Mediävistik, S. 235. 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. Graus, Fahrende, Sp. 231.

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Bezeichnungen des gesamteuropäischen Phänomens der Fahrenden entsprechen die lateinischen Begriffe vagabundus, vagans und vagus14 (zu lat. vagare ‚umherstreifen‘, ‚umherschweifen‘). Die Fahrenden standen großteils15 außerhalb der mittelalterlichen Ständegesellschaft, sie zählten als Angehörige der sog. „unehrlichen“16 Berufe zu deren Randgruppen und erfuhren damit einhergehend eine starke Einschränkung ihrer Rechte sowie Diskriminierung und soziale Stigmatisierung.17 Dies wird besonders am Beispiel der Prostituierten gut ersichtlich, die vom Bürgerrecht ausgeschlossen und somit Körperverletzung und Vergewaltigung schutzlos ausgeliefert waren, durch Kleidervorschriften (Tragen von Bändern, Schuhen und Schleiern in den Schandfarben Rot, Gelb und Grün) stigmatisiert und mit Berührungstabus (Verbot des Berührens von Lebensmitteln) belegt wurden.18 Die Fahrenden können somit durchaus als liminale Personen im Sinne Victor Turners verstanden werden. Die Konnotation von Nichtsesshaftigkeit und Zaubermacht, die auch in der altnordischen Überlieferung zu beobachten ist, geht vermutlich zumindest zum Teil auf die den Fahrenden nachgesagten übernatürlichen Kräfte zurück: In ihren Reihen befanden sich nicht nur Taschenspieler und Gaukler, deren Tricks und beeindruckende Kunststücke (man denke z. B. an das Feuerschlucken) in den Augen der Bevölkerung teilweise wie Zauberei angemutet haben dürften, sondern auch Wahrsager, Traum- und Zeichendeuter, denen eine übernatürliche (prophetische) Begabung zugeschrieben wurde. Zudem dürfte die Präsenz der Ärzte und Quacksalber unter den Fahrenden, die ihre – mehr oder minder seriösen – Heilkünste und Arzneien feilboten, zu einer auch im altnordischen Bereich deutlich hervortretenden Assoziation von Nichtsesshaftigkeit mit Heilkunde beigetragen haben.19

14 Vgl. Dinzelbacher, Sachwörterbuch der Mediävistik, S. 235. 15 Eine Ausnahme bilden z. B. umherziehende Kleriker und Studenten; im späten Mittelalter wurde zudem eine Differenzierung zwischen „ehrlichen“ Hof- und Stadtmusikern und umherziehenden Gelegenheitskünstlern vorgenommen (vgl. Hergemöller, Bernd-Ulrich; Magdalino, Paul; Faroqhi, Suraiya: Art. „Randgruppen“, in: LexMA, Bd. 7. München, 1995. Sp. 433). 16 Gemeint ist „ehrlos“, „unehrenhaft“. Die Theologen warfen insbesondere den Spielleuten vor, „Gut für Ehre“ zu nehmen, also gegen Bezahlung „ihren gottebenbildl[ichen; C. K.] Körper zu entstellen sowie die vagierende Form der Existenz der stabilen vorzuziehen“ (Hergemöller; Magdalino; Faroqhi, Randgruppe, Sp. 433). „Unehrlicher“ zu sein, war im Allgemeinen mit einer ganzen Reihe von Einschränkungen und Benachteiligungen verbunden: Verlust des aktiven und passiven Wahlrechts, der Testierfähigkeit, des Zugangs zu Zünften und Gilden, des Rechts der freien Partnerwahl sowie des ungehinderten Zutritts zu Trinkstuben und Tanzhäusern. Neben den Spielleuten zählen zu den unehrlichen Berufen u. a. Dirnen, Henker, Abdecker, Bader und Badermägde, Barbiere, Heilkünstler und Leineweber (vgl. Hergemöller; Magdalino; Faroqhi, Randgruppen, Sp. 433 f.). 17 Vgl. Meier, Gaukler, S. 14 f. 18 Vgl. Hergemöller, Bernd-Ulrich; Kislinger, Ewald: Art. „Prostitution“, in: LexMA, Bd. 7. München, 1995, Sp. 268. 19 Vgl. hierzu Jungwirth, Ernst: Art. „fahrendes Volk“, in: HdA, Bd. 2, Berlin, Leipzig, 1929/1930, Sp. 1129 f.

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Von besonderem Interesse für die Beschäftigung mit seiðr sind die fahrenden Frauen, da sie zahlreiche Berührungspunkte mit den vǫlur aufweisen.20 Der Begriff ‚fahrende Frau‘ ist in einer Reihe von germanischen Sprachen belegt (z. B. mhd. varnde frouwen, varnde wîp, varnde töhter21) und wird sowohl in der Bedeutung ‚Landstreicherin‘ als auch ‚Hure‘ verwendet. Im Altnordischen findet sich für ‚fahrende Frau‘ der Ausdruck farandi kona sowie die ähnlichen Begriffe farandkona, farkona, fǫrukona, faranda vif oder gǫngukona, womit nichtsesshafte Frauen bezeichnet werden, die auf der untersten Stufe der isländischen Gesellschaft stehen.22 Die Grágás bestimmt ausdrücklich, dass Geschlechtsverkehr mit diesen umherziehenden Frauen ohne strafrechtliche Konsequenzen bleibt: „Ef legit er með gongo kono. þá varðar eigi við lög. ef maðr gengr igögn legorðeno [. . .].“23 / “If a man lies with a vagrant woman, he is under no legal penalty if he admits the intercourse [. . .].”24 Die faranda konur wurden also nicht durch das Gesetz vor Vergewaltigungen beschützt; da sie zu keiner Hofgemeinschaft gehörten und somit nicht dem Schutz eines Mannes unterstanden, wurde kein Bußgeld für an ihnen begangene Sexualdelikte fällig. Zudem gab es niemanden, der Rache für ein Vergehen gegenüber einer solchen fahrenden Frau hätte nehmen können. Aus diesen Gründen waren die faranda konur quasi sexuell frei verfügbar und wurden damit einhergehend mit sexueller Freizügigkeit (auch in Form von Prostitution) assoziiert,25 was erklärt, wieso die Bezeichnung farandi kona bedeutungsgleich mit ‚Hure‘ verwendet werden konnte.26 Obschon die Funktion der faranda konur in den Isländersagas zumeist darin besteht, die „Handlung durch ihr boshaftes Geschwätz voranzutreiben“27, begegnen sie auch als Heilkundige. So betätigt sich in einer Passage der Sturlunga saga eine farkona namens Kristrún als Heilerin, indem sie die Wunden der beim Überfall auf den Hof Sauðfell Verletzten verbindet und mit einer Salbe behandelt28

20 Vgl. Heizmann, Gefjon, S. 225. 21 Vgl. Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 3. Leipzig, 1878, Sp. 24. 22 Vgl. Heizmann, Gefjon, S. 205. 23 GrgKon, S. 48. 24 Übersetzung nach: Laws of early Iceland: Grágás. The Codex Regius of Grágás with material from other manuscripts. Translated and edited by Andrew Dennis, Peter Foote, Richard Perkins, Bd. 2. Winnipeg, 2000 (University of Manitoba Icelandic studies, 5), S. 71. 25 Vgl. Mazo Karras, Ruth: „Servitude and sexuality in medieval Iceland“, in: Gísli Pálsson (Hg.): From Sagas to Society. Comparative Approaches to Early Iceland. Enfield Lock, 1992, S. 297 f. 26 Vgl. Heizmann, Gefjon, S. 206. 27 Ebd., S. 205. Siehe z. B. Nj, Kap. 44, ÍF 12, S. 112: „Sá atburður varð, at farandkonur kómu til Hlíðarenda frá Bergþórshváli. Þær váru málgar og heldr orðillar.“ / „Es geschah, dass fahrende Frauen von Bergþórshváll nach Hlíðarendi kamen. Sie waren schwatzhaft und ziemlich schmähsüchtig.“ Die farandkonur sind wesentlich an der Entstehung der die Männlichkeit der Verhöhnten in Frage stellenden Spottverse über den „bartlosen“ Njáll und seine „mistbärtigen“ Söhne beteiligt, die letztlich dazu führen, dass die Njálssöhne Gunnars Verwandten Sigmundr, der die Strophen verfasst hatte, töten. 28 Heizmann, Gefjon, S. 206.

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(„sagði þó hlut sarra manna yfrit þungan, þótt hon næði um at binda ok smyrslum á at riða“29 / „sie sagte, dass sie, obgleich es einem Teil der verwundeten Männer sehr schlecht gehe, dennoch in der Lage sei, sie zu verbinden und sie mit einer Salbe einzureiben“). Die Konnotation fahrender Frauen mit Zauberei ist – wie auch die oben angesprochene Zuschreibung übernatürlicher Fähigkeiten, mit der Angehörige des fahrenden Volkes im Mittelalter im Allgemeinen bedacht wurden und die sich auch auf fahrende Frauen erstreckt haben dürfte – ein sehr alter und gemeingermanischer Zug, was gleichermaßen für die Assoziation fahrender Frauen mit Hurerei zutrifft. Dies zeigt sich anhand der Malbergischen Glossen, volkssprachigen Einschüben in dem lateinischen Gesetzestext der bereits im 6. Jahrhundert entstandenen Lex Salica, die jeweils durch ein „mallobergo, d. h. ‚im Gericht‘ oder ‚in der Gerichtssprache‘“30 eingeleitet werden: Unter diesen Glossen findet sich auch der Ausdruck faras, der für das lateinische stria aut meretrix („Hexe oder Hure“) eingesetzt wird.31 Zudem steht der Begriff ‚fahrende Frau‘ im Zusammenhang mit der in der Volksüberlieferung sehr weit verbreiteten Vorstellung vom Zug der nachtfahrenden Frauen, als deren Anführerinnen verschiedene mythische Frauengestalten fungieren – darunter Diana, Herodias, Minerva, Venus oder (aus der kontinentalgermanischen und slawischen Mythologie) Holda und Perchta.32 Bei der Verbindung von Nichtsesshaftigkeit mit sexueller Freizügigkeit, Zauberei und Heilkunde handelt es sich also um einen gemeingermanischen Komplex hohen Alters, an dem insbesondere fahrende Frauen Anteil haben. Diese Vorstellungen sind auch in der altnordischen Überlieferung anzutreffen und weisen deutliche Übereinstimmungen mit der Gestalt der vǫlva auf, weshalb sie für die Untersuchung der Konnotation von seiðr und Ortsunfestigkeit von großer Bedeutung sind.

2.2 Ortsunfestigkeit bei menschlichen seiðr-Praktizierenden Umherziehende Bettler und Landstreicher beiderlei Geschlechts (gǫngumenn, gǫngukonur) waren offensichtlich auch im mittelalterlichen Island durchaus ein vertrautes

29 Stu, Bd. I, S. 328. 30 Schmied-Wiegand, Ruth: Art. „Malbergische Glossen“, in: HRG, Bd. 3. Berlin, 1984, Sp. 211. 31 S. Pactus Legis Salicae, herausgegeben von Karl August Eckhardt. II: 1. 65 Titel-Text. Göttingen, Berlin, Frankfurt, 1955 (Germanenrechte Neue Folge, Westgermanisches Recht 2:1), S. 350 f. (Text und Übersetzung): „Si quis mulierem ingenuam striam clamaverit aut meretricem, mallobergo faras, sicut superius diximus, in triplo conponant.“ / „Wenn einer ein freies Weib Hexe oder Hure – gerichtlich ‚Fahrende‘– schilt, büße er, wie wir oben gesagt haben, dreifach.“ Vgl. dazu auch Heizmann, Gefjon, S. 209 f. 32 Vgl. Heizmann, Gefjon, S. 223.

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Phänomen.33 Dillmann konstatiert in Les magiciens dans l’Islande ancienne jedoch, dass kein Magiepraktizierender in den Isländersagas mit den Begriffen gǫngusveinn/ gǫngumaðr bzw. gǫngukona/farandkona bezeichnet wird; vielmehr erfolgt die Einführung der meisten Magiker unter Angabe ihres Wohnortes (meist der eigene Hof), womit sie als sesshaft einzustufen sind.34 Dieser Befund kann auch hinsichtlich der seiðrPraktizierenden bestätigt werden: Weder in den Isländersagas noch in den anderen Gattungen der Sagaliteratur treten sie als Bettler oder Vagabunden in Erscheinung. Es scheint also zunächst, als könne Ortsunfestigkeit überhaupt nicht als wichtiges Merkmal seiðr-Praktizierender in den altnordischen Quellen kategorisiert werden. Dennoch ist gerade die Figur der vǫlva – und damit sozusagen das Klischeebild der weiblichen seiðr-Praktizierenden in der altnordischen Literatur35 – aufs engste mit Nichtsesshaftigkeit assoziiert. So ist oftmals die Rede davon, dass die vǫlur über das Land ziehen, z. B. in folgenden Belegstellen:36 Norna-Gests þáttr: þar foro þa vm land volvvr er kalladar voro spakonvr [. . .].37 es zogen damals vǫlur über das Land, die Seherinnen genannt wurden [. . .]. Orms þáttr Stórólfssonar: [. . .] at konur þær fóru yfir land, er völur váru kallaðar, ok sögðu mönnum fyrir örlög sín, árferð ok aðra hluti, þá er menn vildu vísir verða.38 [. . .] dass solche Frauen übers Land zogen, die vǫlur genannt wurden, und den Menschen ihr Schicksal vorhersagten, da wo die Leute [es] erfahren wollten.

Auch innerhalb der restlichen Zeugnisse, welche vom Besuch dieser Seherinnen berichten, ist die Figur der vǫlva mit Ortsunfestigkeit verbunden – und zwar im Rahmen ihrer rituellen Tätigkeit. Denn die Quellen berichten einhellig davon, dass die

33 Vgl. zu den Bettlern und Landstreichern auf Island – die im Übrigen genauso rechtlos wie ihre Pendants auf dem Kontinent waren – Þórkell Jóhannesson: Die Stellung der freien Arbeiter in Island bis zur Mitte des 16. Jhs. Reykjavík /Kopenhagen, 1933, S. 177–192, besonders S. 181 f. 34 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 402 f. 35 Wie bereits in Kapitel II 2.1.1 erörtert, werden die prophetischen Aktivitäten der vǫlur zwar nicht durchweg als seiðr bezeichnet, jedoch sind die vǫlur in der altnordischen Literatur so eng mit der Ausübung dieser Magieform konnotiert, dass auch sie als weibliche seiðr-Praktizierende betrachtet werden können. 36 Die folgenden Belege erwähnen zwar die vǫlur, allerdings nicht explizit, dass sie seiðr ausüben. 37 Norn, Kap. 10, EA A 3, S. 36. 38 „Orms þáttr Stórólfssonar“, in: Þórhallur Vilmundarson; Bjarni Vilhjálmsson (Hgg.): Harðar saga [. . .]. Reykjavík, 1991 (Íslenzk Fornrit, 13), Kap. 5, S. 405.

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vǫlur von Hof zu Hof reisen, um ihre Divination im Rahmen von dort veranstalteten Gastmählern vorzunehmen:39 Eiríks saga rauða: Þat var háttr Þorbjargar um vetrum, at hon fór at veizlum, ok buðu þeir menn henni mest heim, er forvitni var á at vita forlǫg sín eða árferð [. . .].40 Es war Þorbjǫrgs Gewohnheit im Winter, dass sie zu Gastmählern ging, und es luden sie meist Leute ein, die neugierig auf ihr Schicksal waren oder mehr über die Ernte wissen wollten [. . .]. Ǫrvar Odds saga: Kona er nefnd Heiðr, hon var vǫlva ok seiðkona ok vissi fyrir úorðna hluti af fróðleik sínum. Hon fór á veizlur víða um landit, er bœndr buðu henni til; sagði hon mǫnnum forlǫg sín ok vetrarfar eða aðra hluti.41 Eine Frau heißt Heiðr, sie war eine vǫlva und eine Zauberin [seiðkona] und wusste von ungeschehenen Dingen aufgrund ihrer Zauberkunst. Sie ging weit und breit im Land zu Gastmählern, zu denen Bauern sie einluden; sie sagte den Menschen ihr Schicksal und den Verlauf des Winters und andere Dinge voraus. Vatnsdœla saga: Þeir Ingjaldr efna þar seið eptir fornum sið, til þess at menn leitaði eptir forlǫgum sínum. Þar var komin Finna ein fjǫlkunnig. Ingimundr og Grímr kómu til veizlunnar með miklu fjǫlmenni. Finnan var sett hátt og búit um hana vegliga [. . .].42 Ingjaldr und die Seinen ließen dort seiðr nach altem Brauch ausüben, damit die Menschen nach ihrem Schicksal fragen konnten. Da war eine zauberkundige Samin gekommen. Ingimundr und Grímr kamen zum Gastmahl mit großer Mannschaft. Die Samin wurde ‚hoch gesetzt‘ und es wurde prächtig für sie gesorgt [. . .]. Norna-Gests þáttr: þvi bvdv margir menn þeim heím ok gerdv þeim veízlor ok gafv þeim goda gripí at skilnaði.43 Deshalb luden viele Menschen sie zu sich ein und bereiteten ihnen Gastmähler und gaben ihnen gute Kostbarkeiten zum Abschied. Orms þáttr Stórólfssonar: [. . .] var völunni þar vel fagnat, því at þar var veizla in bezta. [. . .] Síðan var völvan þar svá lengi sem ætlat var, ok leyst í burt með góðum gjöfum.44 [. . .] die vǫlva wurde dort gut empfangen, weil dort das beste Festmahl war. [. . .] Dann war die vǫlva dort so lange, wie es gewünscht wurde, und wurde mit Geschenken verabschiedet.

39 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 142–144. 40 Eir, Kap. 4, ÍF 4, S. 206. 41 Ǫrv, Kap. 2, S. 7. 42 Vatn, Kap. 10, ÍF 8, S. 28 f. 43 Norn, Kap. 10, EA A 3, S. 36. 44 OStór, Kap. 5, ÍF 13, S. 405 f.

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Die vǫlur kommen also als Gäste und somit fremdes Element zu der jeweiligen Hofgemeinschaft – in der Regel auf deren Einladung hin. Dieses „Fremdsein“ kann dabei unterschiedliche Ausprägungen annehmen: Eine Fremde im ethnogeographischen Sinne, nämlich eine Samin (Finna ein fjǫlkunnig), ist die vǫlva in der Vatnsdœla saga. Eine andere Qualität des Fremden weisen Þorbjǫrg lítil-vǫlva in der Eiríks saga rauða und insbesondere die vǫlur im Norna-Gests þáttr auf, welche aufgrund verschiedener Elemente innerhalb ihrer Darstellung in die Nähe nicht-menschlicher Kollektivwesen, namentlich der Disen und Nornen gerückt werden: Þorbjǫrgs einziger genealogischer Kontext ist eine Neunschar von mittlerweile verstorbenen Schwestern, während im Norna-Gests þáttr die Bezeichnungen norn und vǫlva für die drei Frauen, welche Gestrs Schicksal bei seiner Geburt vorhersagen sollen, nahezu synonym verwendet werden. Die Jüngste unter ihnen wird sogar als „en yngsta nornín“45 („die jüngste Norne“) tituliert.46 Hieran lässt sich die liminale Position der vǫlur gut erkennen: Sie gehören nicht zur Hofgemeinschaft, welche in der jeweiligen Episode die miðgarðr-Sphäre bzw. die in-group repräsentiert, werden von dieser jedoch in Diensten genommen, um „jenseitiges Wissen“, nämlich Einblicke in die Zukunft, zu erlangen. Somit erfüllen die vǫlur die Funktion eines Mediums zwischen Diesseits bzw. miðgarðr-Sphäre und der Anderwelt bzw. útgarðr-Sphäre. Dies konnte anhand von Þorbjǫrg lítil-vǫlvas seiðr-Ritual in der Eiríks saga rauða bereits aufgezeigt werden: Ihre magischen Aktivitäten gehen weit über bloße Divination hinaus, da sie gleich einem Medium als Vermittlerin zwischen der Hofgemeinschaft (deren Essenz sie über ihren Blick und den Verzehr der Tierherzen vor der Durchführung des seiðr-Rituals in sich aufgenommen hat) und den náttúrur, Geisterwesen der útgarðr-Sphäre, agiert. Auf diese Weise vermag sie das Ende der die Hofgemeinschaft bedrohenden Hungersnot nicht nur zu prophezeien, sondern zu erwirken.47 Die Ortsunfestigkeit der vǫlur scheint eben dieser Vermittlerfunktion Rechnung zu tragen. Ihr Agieren zwischen Diesseits und Jenseits findet dabei seinen Ausdruck in einer rituell bedingten Nichtsesshaftigkeit – einem symbolischen „Wandern zwischen den Welten“, als dessen Reminiszenz das Ziehen von Hof zu Hof und Gastmahl zu Gastmahl betrachtet werden kann. Zudem sind die rituellen Besuche der vǫlur aufschlussreicherweise saisonal begrenzt und fallen in eine ganz bestimmte Zeit des Jahres: Wiederholt ist die Rede davon, dass die vǫlur im Winter („Þat var háttr Þorbjargar um vetrum, at hon fór at veizlum [. . .].“48) oder zu Beginn des Winters („Hon fór á veizlur [. . .]; sagði hon mǫnnum forlǫg sín ok vetrarfar [. . .].“49) zu Gastmählern geladen werden, um dort ihre Divinationen vorzunehmen. Dieser Zeitpunkt deutet auf eine Verbindung der Aktivi-

45 Norn, Kap. 10, EA A 3, S. 36. 46 Vgl. hierzu Horst, völva, S. 41 f. und Kapitel V 1.5 der vorliegenden Arbeit. 47 Vgl. Kapitel V 2.2. 48 Eir, Kap. 4, ÍF 4, S. 206. 49 Ǫrv, Kap. 2, S. 7; der Verlauf des Winters müsste aller Wahrscheinlichkeit nach kurz vor Winterbeginn vorausgesagt werden.

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täten der vǫlur mit kultischen Feierlichkeiten des altskandinavischen Heidentums, namentlich dem vetrnáttablót hin. Im Rahmen dieses im Spätherbst (also vor Winteranfang) stattfindenden Festes wurde auf den Höfen für ein gutes Jahr bzw. eine gute Ernte (an. ár) geopfert.50 Snorri erwähnt derartige Opferfeierlichkeiten in der Ynglinga saga und der Óláfs saga helga: „Þá skyldi blóta í móti vetri til árs [. . .].“51 („Da sollte gegen Winter für ein gutes Jahr geopfert werden [. . .].“); „En þat er siðr þeira at hafa blót á haust ok fagna vetri [. . .].“52 („Und es ist ihr Brauch, dass sie im Herbst ein Opfer abhalten, um den Winter zu begrüßen [. . .].“). Als Übergangszeit des Jahres – nach der Ernte und vor Einbruch des Winters – dürften die „Winternächte“ als günstige Zeit zur Kontaktaufnahme mit jenseitigen Sphären und somit auch für die Divination durch die vǫlur gegolten haben53. Snorri zufolge wurde in der Mitte des Winters noch ein weiteres Fest mit Vegetationsbezug gefeiert, da man zu dieser Zeit für gutes Wachstum opferte („at miðjum vetri blóta til gróðrar“54). Wenn der Besuch der vǫlur also vor der oder zur Winterzeit erfolgte, ergibt sich ein auffallender Bezug zu paganen Opferfeierlichkeiten, welche für das gute Gedeihen der Vegetation und somit letztlich für die Fruchtbarkeit von Land, Mensch und Tier abgehalten wurden. Der Spätherbst wäre zudem genau der Zeitraum des Disenopfers (an. dísablót), welches auch zu Beginn des Winters in privatem Rahmen gefeiert wurde und sich, wie die herbstlichen Opferfeste til árs ok til friðar für den Gott Freyr55, ebenfalls auf Vegetation und Fruchtbarkeit bezog. Diese Hinweise und die bereits mehrfach im Verlauf dieser Untersuchung konstatierte Nähe der vǫlur zu gerade den mit Fruchtbarkeit assoziierten Disen erhärten die These, dass die von den Seherinnen durchgeführten magischen Handlungen – in einer Vielzahl der Fälle direkt als seiðr angesprochen – im kultischen Kontext, namentlich innerhalb von Fruchtbarkeitsritualen, stattfanden. Darauf deuten auch die gute Bewirtung und die Geschenke hin, welche die vǫlur für ihre Dienste empfangen. Laut Eiríks saga rauða entspricht eine gastfreundliche Aufnahme der vǫlva den damaligen Gepflogenheiten im Umgang mit Seherinnen: Býðr Þorkell spákonunni heim, ok er henni vel fagnat, sem siðr var til, þá er við þess háttar konur skyldi taka.56 Þorkell lädt die Seherin zu sich nach Hause ein, und sie wird gut aufgenommen, wie es Brauch war, wenn solche Frauen empfangen werden sollten.

50 Vgl. zum vetrnáttablót auch Turville-Petre, Myth and Religion, S. 166 f. sowie Sundqvist, Olof; Kaliff, Anders: Art. „Rituale“, in: RGA, Bd. 25. Berlin, New York, 2003, S. 39. 51 Hkr I, Yngl saga, Kap. 8, ÍF 26, S. 20. 52 „Óláfs saga helga“, in: Bjarni Aðalbjarnason (Hg.): Heimskringla, Bd. 2. Reykjavík, 1945 (Íslenzk Fornrit, 27), Kap. 109, S. 180. 53 Vgl. Kaliff; Sundqvist, Rituale, S. 39. 54 Hkr I, Yngl saga, Kap. 8, ÍF 26, S. 20. 55 Vgl. Turville-Petre, Myth and Religion, S. 224 sowie Naumann, Disen, S. 495 f. 56 Vgl. Turville-Petre, Myth and Religion, S. 224.

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Dabei wird den vǫlur den Zeugnissen der Eiríks saga rauða sowie der Ǫrvar-Odds saga zufolge sogar die besondere Ehre zuteil, vom Hausherrn selbst in die Halle geleitet zu werden.57 Frauen, welche divinatorischen seiðr praktizieren und ihre Zauberkünste in den Dienst der Gemeinschaft stellen, werden in den entsprechenden Belegen also ehrfurchtsvoll behandelt – wobei der ihnen entgegengebrachte Respekt sicherlich auch mit einer gewissen Furcht vor ihren magischen Fähigkeiten verbunden sein dürfte.58 Ob der oftmals geschilderte großzügige Empfang der Seherinnen seitens ihrer Gastgeber in den altnordischen Texten allerdings als stets rein freiwillig motiviert angesehen werden darf, könnte angesichts des folgenden Zeugnisses aus der Víga-Glúms saga hinterfragt werden: Kona sú fór þar um herað, er Oddbjǫrg hét, gleðimaðr, fróð og framsýn. Þótti mikit undir, at húsfreyjur fagnaði henni vel um heraðit; sagði nǫkkut vilhallt, sem henni var beini veittr.59 Dort zog damals eine Frau durch den Bezirk, die Oddbjǫrg hieß, ein zu Scherzen aufgelegter Mensch, reich an Wissen und zukunftskundig. Es wurde viel Wert daraufgelegt, dass die Hausfrauen in der Gegend sie gut empfingen; sie richtete ihre Rede je nach dem aus, ob ihr Gastfreundschaft erwiesen wurde.

Diese etwas skurril anmutende Beschreibung gibt zunächst Anlass zu einigem Zweifel am Wahrheitsgehalt der Prognosen Oddbjǫrgs, die anscheinend positiv beeinflussen kann, wer die Seherin nur gut genug bewirtet. Darüber hinaus ist die Belegstelle jedoch bezeichnend für die Einschätzung, durch eine wohlwollende Haltung der Seherin die Chancen auf eine günstige Zukunftsprognose ganz erheblich steigern zu können. Obgleich Oddbjǫrg weder direkt als vǫlva angesprochen noch ihre Prophetie mit der Ausübung von seiðr verbunden wird, zeigt dieses Beispiel er-

57 S. Eir, Kap. 4, ÍF 4, S. 207: „Tók Þorkell bóndi í hǫnd vísendakonunni, ok leiddi hana til þess sætis, er henni var buit.“ / „Der Bauer Þorkell reichte der Weissagerin die Hand und führte sie zu dem Platz, der für sie bereitet worden war.“ sowie Ǫrv, Kap. 2, S. 8: „Ingjaldr gengr í mót henni með fjǫlmenni ok leiðir hana í skála [. . .].“ / „Ingjaldr geht ihr mit vielen Leuten entgegen und führt sie in die Halle [. . .].“ 58 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 192 sowie Steinsland, Norrøn Religion, S. 308. Ein derart hohes Ansehen der vǫlur würde nicht zuletzt die germanische Tradition forsetzen, derzufolge Seherinnen von großer politischer Wichtigkeit waren: Die antike Überlieferung berichtet von mehreren germanischen Seherinnen, die über enormen Einfluss innerhalb ihres Stammes verfügten. Das prominenteste Beispiel dafür bildet sicherlich die von Tacitus erwähnte prophetisch begabte Veleda, welche eine wichtige Rolle bei der von Civilis angeführten Revolte der Bataver gegen die Römer spielte (s. P. Cornelius Tacitus: Historiae [lat. u. dt.] Historien, herausgegeben von Joseph Borst unter Mitarbeit von Helmut Hross und Helmut Borst. 3. Aufl. München, 1977, Lib. IV 61 und 65, S. 468 f. und S. 474 f. sowie Lib. V 22 und 24, S. 542 f. und S. 544 f.). Vgl. hierzu auch Starý, Mantik, S. 609–612 sowie mit ausführlichen Beobachtungen zu Veleda und weiteren germanischen Seherinnen Horst, völva, S. 22–27. 59 „Víga-Glúms saga“, in: Jónas Kristjánsson (Hg.): Eyfirðinga sǫgur. Reykjavík, 1956, (Íslenzk Fornrit, 9), Kap. 12, S. 41.

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neut, dass den Seherinnen offenbar Einfluss auf die tatsächliche Entwicklung der Zukunft jenseits bloßer Vorhersagen zugeschrieben wurde. Geschenke und eine gute Bewirtung der vǫlur erschaffen eine mit Fruchtbarkeit assoziierte Fülle, die selbst dann noch aufgeboten wird, wenn (wie in der Eiríks saga rauða) eine Missernte eigentlich derartige Feierlichkeiten verbieten würde. Nach dem Analogieprinzip soll hier offenbar Prosperität angezogen und das Wohlwollen der vǫlva als Vermittlerin und wohl auch Repräsentantin von mit der Fruchtbarkeit des Landes assoziierten (göttlichen) Wesenheiten hergestellt werden. In diesem Zusammenhang sei erneut auf Þorbjǫrg lítil-vǫlvas mit weißem Katzenfell gefütterte Haube und ihre Handschuhe aus Katzenfell60 hingewiesen, die einen Bezug der Ritualspezialistin zur Göttin Freyja unterstreichen. Es ist zudem auffallend, welch starke Parallelen das altnordische Erzählmotiv vom Besuch der vǫlva mit den Phänomenen der Wilden Jagd und insbesondere dem Zug der nachtfahrenden Frauen aufweist: Die Wilde Jagd tritt ebenfalls gerade zu den Übergangszeiten des Jahres in Erscheinung, in denen Kontakt zum Jenseits aufgenommen werden konnte und somit auch bevorzugt Orakel durchgeführt wurden. Zudem sind die Wilde Jagd wie auch der Zug der nachtfahrenden Frauen trotz ihrer furchterregenden Aspekte zugleich mit einem positiven Einfluss auf die Fruchtbarkeit von Feldern und Tieren assoziiert.61 Dabei stehen besonders die einer weiblichen Anführerin unterstehenden Scharen im Volksglauben in dem Ruf, Wohlstand und Prosperität zu bringen, wenn man sich ihnen gegenüber gastfreundlich zeigt. So heißt es von der in französischen Quellen des 13. Jahrhunderts erwähnten dame Abonde (‚Frau Abundia‘), dass sie mit ihren Anhängerinnen des Nachts durch Häuser und Keller streife und dort, wo sie Speisen und Getränke vorfinde, dem Haus und seinen Bewohnern Wohlstand und Überfluss (lat. abundantia) angedeihen lasse, sich andernfalls jedoch entferne und ihren Schutz versage.62 Christa Agnes Tuczay zählt die dame Abonde zu den Feengestalten und weist darauf hin, dass sich bei diesen die Funktion der Gabenspenderin, der Zauberin sowie die einer schicksalsbestimmenden Macht verbinden. Auch verfügten Feengestalten über die Fähigkeit zur Weissagung: In der Bezeichung Fee – romanisch von fata abgeleitet, englisch fay, mhd. feie – steckt ein starker Bezug zur Magie, zum (Ver-)Zaubern. Im anglo-keltischen Kulturkreis steht der Begriff Fee für Wesen der niederen Mythologie mit starkem Schicksalsbezug, dem fatum, damit auch

60 Vgl. Eir, Kap. 4, ÍF 4, S. 206 f. 61 Vgl. Höfler, Kultische Geheimbunde, Bd. 1, S. 286–289. Grund hierfür ist laut Höfler „der bei vielen Völkern verbreitete Glaube, dass die Toten über die Fruchtbarkeit gebieten“ (ebd., S. 289). Siehe dazu auch Kershaw, Odin, S. 36: „Und trotz der schreckenerregenden Natur dieses Umzugs von Geistern und Dämonen erwarteten die Menschen sie freudig, da ihr Erscheinen Fruchtbarkeit über Feld und Vieh brachte.“ 62 Vgl. Ginzburg, Benandanti, S. 63 sowie Erich, Oswald A.; Beitl, Richard: Wörterbuch der deutschen Volkskunde. 3. Aufl. neu bearb. von Richard Beitl, unter Mitarbeit von Klaus Beitl. Stuttgart, 1974, S. 3.

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zu den Verkörperungen des Schicksals, also den antiken Schicksalsgöttinnen. [. . .] Die mütterlichen Züge der Feengestalten verbinden diese mit dem Fruchtbarkeitskult der italienischen Diana, haben aber auch zur Frau Holle und den Frühlings- und Erdgöttinnen Relationen. Die bekannte Funktion der Fee als Gabenspenderin mit dem Füllhorn besitzt schon die Dame Abonde, eine regionale Anführerin der Nachtfrauen, die z. B. der französische Rosenroman erwähnt, und sie bringt Glück ins Haus. Ein weiteres Charakteristikum [. . .] ist ihre Fähigkeit zur Weissagung.63

Diese Merkmalskombination von Zauber, schicksalsbestimmender Macht/Weissagung sowie Einfluss auf das Gedeihen von Mensch, Vieh und Vegetation lässt sich auch bei den vǫlur beobachten. Zudem sind deutliche Parallelen zwischen der Bereitstellung von Speisen für die dame Abonde und ihre nachtfahrende Schar und der großzügigen Bewirtung der vǫlur in den Sagas sowie den Bemühungen, ihr Wohlwollen zu erringen, um eine günstige Zukunftsprognose zu erhalten, zu verzeichnen. Liegt bei den Einladungen der vǫlur zum Gastmahl ein Echo an Speiseopfer für übernatürliche Wesenheiten (Disen?) vor? Sind die vǫlur der Sagaliteratur als Reminiszenzen an Kultdienerinnen derartiger Fruchtbarkeitsgottheiten zu interpretieren? Diese Fragen werden im weiteren Verlauf der Untersuchung noch aufzugreifen sein. Bereits jetzt wird jedoch klar, dass hinter der Ortsunfestigkeit der vǫlur ein enormes Überlieferungsgeflecht teils sehr alter Vorstellungen steckt, die letztlich in eine vegetationskultische Richtung weisen. Zum Schluss soll noch eine eher durch weltliche Schwierigkeiten verursachte Variante der Ortsunfestigkeit bei der seiðr-praktizierenden Familie des Kotkell in der Laxdœla saga zur Sprache gebracht werden: Nachdem sie durch ein Unwetter den Tod von Þórðr Ingunnarson verursacht haben, werden die Magiker von ihren Nachbarn nicht mehr länger geduldet und müssen umsiedeln.64 Da sie ohnehin erst von den Hebriden nach Island gekommen waren, kann durchaus von einem von Rastlosigkeit und Ortsunfestigkeit geprägten Leben dieser seiðr-Praktizierenden gesprochen werden, wenngleich das Motiv nicht sonderlich stark ausgearbeitet erscheint.

2.3 Ortsunfestigkeit bei göttlichen seiðr-Praktizierenden 2.3.1 Óðinn Als Óðinn die Halle des Riesen in den eddischen Vafþrúðnismál erreicht, stellt er sich mit folgenden Worten vor: ‚Gagnráðr ec heiti; nú emc af gǫngo kominn þyrstr til þinna sala;

63 Tuczay, Christa Agnes: Geister, Dämonen – Phantasmen. Eine Kulturgeschichte. Wiesbaden, 2015, S. 87. 64 Vgl. Laxd, Kap. 36, ÍF 5, S. 101.

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laðar þurfi hefi ec lengi farit oc þinna andfanga, iotun.‘65 „Gagnrad heiß ich; nun bin ich von der Reise durstig in deinen Saal gekommen; ich bin lang gereist, bedürftig der Einladung und deiner Aufnahme, Riese.“66

Der Gott präsentiert sich hier als Wanderer und Reisender, wobei er zugleich seine wahre Identität hinter dem Decknamen Gagnráðr verbirgt, was wörtlich ‚Siegrater‘ oder ‚Gegenrater‘ bedeutet. Da Óðinn in den Vafþrúðnismál jedoch in der refrainartig wiederkehrenden Wendung „Fiolð ec fór, fiolð ec freistaðac“67 („Viel zog ich herum, viel erfuhr ich“68) auf sein häufiges Umherziehen Bezug nimmt, wurde der Name bisweilen zu dem aus den Þulur der Snorra Edda bekannten Odinsheiti Gangráðr69 mit der Bedeutung ‚der Wegkundige‘ konjiziert.70 Zahlreiche weitere Beinamen Óðinns tragen dieser Rastlosigkeit Rechnung: So heißt er häufig nur Gestr71 (‚Fremder‘, ‚Besucher‘, ‚nicht geladener Gast‘), aber auch Gangleri72 (‚Landstreicher‘, ‚Vagabund‘) oder Vegtamr73(‚der Weggewohnte‘). Gerade das Reisen sowie das Auftreten in verschiedensten Identitäten und Vermummungen ist ein charakteristisches Merkmal des Gottes, was auch die ihm in den Grímnismál in den Mund gelegte Strophe hervorhebt: „[. . .] eino nafni hétomc aldregi, / síz ec með fólcom fór.“74 / „[. . .] mit nur einem Namen nannte ich mich nie, / seit ich unter den Menschen reise.“ 65 Vaf, Str. 8, Neckel; Kuhn, Edda, S. 46. 66 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 74 f. 67 Vm, Str. 44 ff., Neckel; Kuhn, Edda, S. 53–55. 68 Aufgrund der unterschiedlichen Bedeutungen des Verbs freista sind verschiedene Übersetzungen des zweiten Halbsatzes denkbar, z. B. „viel versuchte ich“; „viel erlebte ich“. Ich habe eine der Varianten gewählt, welche den Erfahrungsgewinn Óðinns auf seinen Reisen deutlich zum Ausdruck bringen. 69 S. Skj Bd. B I, S. 672; vgl. Falk, Odensheite, S. 11. 70 Vgl. Falk, Odensheite, S. 11. Diese Konjektur ist jedoch nicht unbedingt notwendig, auch wenn ein Beiname wie Gangráðr (‚der Wegkundige‘) im Kontext der Vafþrúðnismál besonders stimmig erscheint. Lotte Motz hat darauf hingewiesen, dass die seine Identität verbergenden Beinamen Óðinns oftmals auf seine Funktion in den jeweiligen Erscheinungen anspielen, weswegen Gagnráðr (‚Gegenrater‘) – im Sinne von „Disputant“ – ein durchaus passender Deckname für den an einem Wissenswettstreit teilnehmenden Gott in den Vafþrúðnismál wäre: „The concealing name may show his function or appearance in the episode: he is Gagnráðr, the disputant, in Vafþrúðnismál where he holds a dispute with a giant. He is Vegtamr, accostumed to the road, in Baldrs draumar, where he indeed has travelled to the underworld. He is Grímnir, the masked, in Grímnismál, where he purposely tricks the king to reveal the full blaze of his glory in the end.“ (Motz, Óðinns vision, S. 14). 71 Vgl. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 2, S. 80 sowie Falk, Odensheite, S. 13. 72 S. Skj Bd. B I, S. 672; vgl. Falk, Odensheite, S. 11. 73 Vgl. Falk, Odensheite, S. 33. 74 Grm, Str. 48, Neckel; Kuhn, Edda, S. 67.

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Lotte Motz konstatiert angesichts der zahlreichen Episoden der altnordischen Literatur, in denen Óðinn als Reisender in Erscheinung tritt, dass „[t]he god is rarely seen at rest.“75 Dieses häufige Unterwegssein, die Ortsunfestigkeit des Götterfürsten, umfasst einerseits seinen bereits erwähnten Ritt zum Jenseitsort Hel in Baldrs draumar sowie die Reisen, welche Óðinn in die Sphäre der Riesen unternimmt (z. B. zum Wissenswettstreit in den Vafþrúðnismál oder zur Gewinnung des Skaldenmets76). Beide Varianten dienen dem Erwerb bzw. Austausch von Wissen oder der Gewinnung riesischer Ressourcen. Daneben berichten die Quellen jedoch auch häufig von Óðinns Reisen in die Welt der Menschen: So sucht er unter dem Namen Grímnir (‚der Maskierte‘, ‚der Vermummte‘)77, gekleidet mit einem blauen Mantel,78 in den Grímnismál König Geirrǫðr auf, um ihn im Zuge einer Wette mit Frigg zu prüfen. Der König erkennt allerdings nicht die wahre Identität seines Besuchers: Da er zuvor durch eine Dienerin Friggs vor der Ankunft eines zauberkundigen Mannes gewarnt wurde, welcher ihn behexen könnte, lässt er den Fremden acht Nächte lang zwischen zwei Feuern festsetzen und misshandelt ihn zusätzlich durch Nahrungsentzug.79 Schließlich gibt Óðinn sich jedoch zu erkennen und verkündet Geirrǫðr, dass er nunmehr seine Gunst verloren habe und sterben müsse: Eggmóðan val nú mun Yggr hafa, þitt veit ec líf um liðit; úfar ro dísir – nú knáttu Óðin siá, nálgaztu mic, ef þú megir!80 Den waffenmüden Gefällten wird jetzt Ygg haben, dein Leben weiß ich verlorn; feindlich sind die Disen – nun kannst du Odin sehn, komm zu mir, wenn du kannst!81

75 Motz, King, Champion, Sorcerer, S. 75. 76 Als zusammenhängende Erzählung findet sich dieser Mythos nur in den Skáldskaparmál (Skáldsk G58, Faulkes, Bd. 1, S. 4); vgl. dazu Hultgård, Wotan-Odin, S. 764. 77 Vgl. Falk, Odensheite, S. 14. 78 „Sá var í feldi blám oc nefndiz Grímnir, oc sagði ecci fleira frá sér, þótt hann væri at spurðr.“ / „Dieser trug einen blauen Mantel und nannte sich Grímnir, und sagte nicht mehr über sich, obwohl er gefragt wurde.“ (Grm, Prosaeinleitung „Frá sonom Hrauðungs konungs“, Neckel; Kuhn, Edda, S. 56). 79 Vgl. Grm pr., Neckel; Kuhn, Edda, S. 56 f. 80 Grm, Str. 53, Neckel; Kuhn, Edda, S. 68. 81 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 103.

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Als Geirrǫðr seines Irrtums gewahr wird und Óðinn von den Feuern fortführen will, strauchelt er und stürzt in sein Schwert.82 Ebenso fatale Folgen hat die Begegnung mit dem seine Identität verbergenden Gott für König Heiðrekr in der Heiðreks saga: Hier gibt sich Óðinn als Gestumblindi aus – ein Feind des Königs, mit welchem der Gott zuvor die Rollen getauscht hatte83 – und tritt in dieser Rolle zu einem Rätselwettstreit84 gegen den Herrscher an. Als Gestumblindi Heiðrekr nach einer Reihe von Rätseln schließlich mit der Frage konfrontiert, was Óðinn Baldr auf dem Scheiterhaufen ins Ohr geflüstert habe, durchschaut der König, wen er in Wahrheit vor sich hat, da niemand anderes als Óðinn selbst die Antwort darauf wissen kann.85 Da Heiðrekr den Gott in seinem Zorn beschimpft und mit dem Schwert attackiert, verflucht dieser ihn zur Strafe für den Angriff: Gestumblindi mælti: „Segþu þat þá fyrst86, ef þu ert huerium konungí uítrari: huat mællti Oþinn i eyra Balldri, adr hann uæri a bal hafdr?“ Heidrekr konungr segir: „þat ueítztu eíNn, raug uætr87“; ok þa bregdr Heidrekr Tyrfingi ok haggr til hans, eNn Oþinn brazt þa i uals likí ok flo a brott, eN konungr hío eptir ok af honum ueli fiþrit

82 S. Grm pr., Neckel; Kuhn, Edda, S. 68. Wie bereits unter Kapitel V 1.5 angemerkt, erwähnt Óðinn bei der Verkündung von Geirrǫðrs immanentem Tod, dass diesem die Disen nunmehr feindlich gesinnt seien. Auch in den Grímnismál verursacht ein Sturz bzw. ein Straucheln das Ableben des Königs, was in der altnordischen Überlieferung häufig mit einem durch das Einwirken der Disen herbeigeführten jähen Tod verbunden wird. 83 Hierbei kommt es zu einem kompletten Tausch der Identität, da Óðinn nicht nur die Kleider mit Gestumblindi tauscht, sondern sich diesem ebenfalls unter dem Namen Gestumblindi vorstellt, so dass der menschliche Gestumblindi sich einer Art Alter Ego in Form des göttlichen Gestumblindi gegenübersieht; s. Heiðr, STUAGNL 48, S. 55. 84 Diese auch Heiðreks gátur genannten Rätsel sind die einzigen in der altnordischen Literatur überlieferten. Die Rahmenerzählung verbindet zwei auch an anderen Stellen der altnordischen Quellen anzutreffende Motive miteinander: Die Haupteslösung und den Wissenswettstreit zwischen Óðinn und einem weisen Gegner (so z. B. auch in Grímnismál und Vafþrúðnismál). Vgl. hierzu Reifegerste, E. Matthias: Die Hervarar saga. Eine kommentierte Übersetzung und Untersuchungen zur Herkunft und Integration ihrer Überlieferungsgeschichten. Leverkusen, 1989 (Altnordische Bibliothek, 6), S. 173. 85 Dieselbe Frage beendet auch in den Vafþrúðnismál den Wissenswettstreit und lässt den sich dadurch zu erkennen gebenden Óðinn als Sieger daraus hervorgehen. Dass sie – obgleich eigentlich kein Rätsel – den Rätselwettstreit beschließt, dürfte daran liegen, dass die Frage danach, was Óðinn seinem Sohn auf dem Scheiterhaufen ins Ohr flüsterte, in der altnordischen Überlieferung zur unbeantwortbaren Frage schlechthin avanciert war (vgl. hierzu Tolkien, Christopher (Hg.): The Saga of King Heidrek the Wise. Translated from the Icelandic with Introduction, Notes and Appendices by Christopher Tolkien. London, 1960, S. 20). 86 Vermutlich ist hier eine Konjektur von fyrst („als Erstes“) in hinzt („als Letztes“) nötig; vgl. Heiðr, STUAGNL 48, S. 83, Anm. 1. 87 Óðinn wird hier mit exakt denselben Worten beschimpft, mit denen auch Þórr den Unruhestifter Loki in der Lokasenna anherrscht (s. Lks, Str. 63, Neckel; Kuhn, Edda, S. 109: „Þegi þú, rǫg vættr!“).

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aptan, ok þui er ualr suo ueli stuttr ááualt siþan. Oþinn mællti þa: „firi þat, Heidrekr konungr, er þu rett til míN ok uilldir drepa mik saklasan, skolo þer inir uerstu þrælar at bana uerda.“88 Da sprach Gestumblindi: „Dann sag mir das als Erstes, wenn du weiser als jeder [andere] König bist: was sagte Óðinn Baldr ins Ohr, eher er auf den Scheiterhaufen getragen wurde?“ König Heiðrekr sagt: „Das weißt du alleine, weibischer Wicht“; und dann zieht Heiðrekr Tyrfingr und schlägt nach ihm, aber Óðinn nahm schnell die Gestalt eines Falken an und flog davon; doch der König hieb nach ihm und schlug ihm die Schwanzfedern ab, und deshalb hat der Falke seitdem für immer so einen kurzen Schwanz. Da sprach Óðinn: „Weil du, König Heiðrekr, mich angegriffen hast und mich schuldlos töten wolltest, sollen dich die geringsten Knechte töten.“

Wenig später bewahrheitet sich der Fluch: König Heiðrekr findet ein unrühmliches Ende, indem er von neun seiner Sklaven im Schlaf ermordet wird.89 Besonderes Augenmerk verdient im Zusammenhang mit Óðinns verdecktem Auftreten in der Welt der Menschen das von ihm während des Rätselwettstreits verwendete Pseudonym Gestumblindi (‚blinder Gast‘). Hierbei handelt es sich nämlich um alles andere als einen gewöhnlichen Namen: Er ist vielmehr als Odinsheiti aufzufassen90, dessen Bedeutung eine tiefergreifende semantische Ebene zugrundeliegt. Die Wurzel blind- ist Bestandteil mehrerer Beinamen des Gottes; so finden sich neben Gestumblindi auch Tvíblindi (‚der zweifach Blinde‘)91, Herblindi (‚der Heeresblender‘)92 und Gunnblindi (‚der Blender im Kampf‘)93. Dass diese Kategorie

Dass Heiðrekr, sobald er in seinem Gegenüber Óðinn erkennt, diesen als „weibischen Wicht“ verunglimpft, verdient besondere Aufmerksamkeit, weil diese Beleidigung auf die Konnotation Óðinns mit dem ergi-Komplex abzielt. Da dies das erste Merkmal ist, auf welches der König Bezug nimmt, als er die wahre Identität seines Gegners durchschaut, ist anzunehmen, dass die Konnotation mit ergi ein für den Gott charakteristischer Zug gewesen sein dürfte, welcher dem Sagaautor geläufig war. Zugleich zeigt sich durch die parallele Verwendung der Beschimpfung rǫg vættr sowohl für Loki als auch für Óðinn eine Übereinstimmung beider Götter, was von der Geschlechternorm abweichende Eigenschaften angeht. 88 Heiðr, STUAGNL 48, S. 82 f. 89 S. Heiðr, STUAGNL 48, S. 84. 90 Vgl. Reifegerste, Hervarar saga, S. 170 f. sowie Falk, Odensheite, S. 13. Eine Gestalt namens Gestiblindus erscheint auch in den Gesta Danorum (Lib. V, S. 134 f.). Dort handelt es sich um einen alten Herrscher, der militärischen Beistand vom dänischen König Frotho III erbittet. Dies führt letztlich dazu, dass Ericus – ein Gefolgsmann des Frotho – anstelle von Gestiblindus ein Duell gegen den Schwedenkönig Alricus ausficht und diesen dabei tötet. (Vgl. dazu Davidson; Fisher, Saxo, Bd. 1, S. 113–116 sowie 149 f.). 91 Vgl. Falk, Odensheite, S. 29. 92 Vgl. ebd., S. 16. 93 Vgl. ebd., S. 14.

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von Odinsnamen auf eine tatsächlich vorhandene physische Blindheit des Gottes abzielt, darf bezweifelt werden, denn obschon Óðinn als einäugig bezeichnet wird94 und die Snorra Edda von der Opferung seines Auges (um im Gegenzug aus Mímirs Brunnen trinken zu dürfen) berichtet, verfügt der Gott trotz dieser Einschränkung in der altnordischen Überlieferung durchgängig über Sehvermögen.95 Wenngleich mit den Namen Herblindi und Gunnblindi offenbar auf die Óðinn in der Ynglinga saga zugeschriebene Fähigkeit, seine Feinde blenden zu können,96 angespielt wird, gilt es zu beachten, dass der Wortbestandteil -blind in verschiedenen germanischen Sprachen noch eine zweite, weniger verbreitete Bedeutung besitzt, und zwar ‚verdeckt‘, ‚versteckt‘, ‚unsichtbar‘ – sozusagen blind im aktiven wie im passiven Sinn.97 Auch für das an. blindr verzeichnet Baetke neben ‚blind‘ die Bedeutung „dunkel, unklar; unbekannt, verborgen“98. Cleasby und Vigfússon verweisen darauf, dass „the Germans call blind what is hidden and cannot be seen“99 und nennen mit der Anmerkung, dass diese Verwendung im Isländischen selten anzutreffen sei, als Beispiel den Begriff blind-sker: „a hidden skerry (rock) in the sea“100. Ganz ähnlich dazu wird im modernen Englischen der ‚tote Winkel‘, also ein vor allem im Kontext des Straßenverkehrs nicht einsehbarer Bereich, als blind spot bezeichnet,101 während im Deutschen beispielsweise der „blinde Passagier“ einen geläufigen Ausdruck darstellt.102 Angesichts dieser Bedeutungsvariante und in Analogie zu den zahlreichen Namen Óðinns, die auf das Verhüllen insbesondere seines Gesichtes und somit das für den Gott typische Verbergen seiner

94 S. Þhorn Harkv 12, Skj Bd. B I, S. 24: „eineygja frigiar faðmbyggvi“ / „einäugiger Bewohner von Friggs Umarmung“; vgl. Motz, Óðinn’s vision, S. 15. 95 Vgl. hierzu Lotte Motz’ Fazit in „Óðinn’s vision“, S. 12 ff.; insbesondere S. 14: „In two of the cited episodes the power of Óðinn’s sight is noted; in others neither its absence nor its presence is described. It could be argued that a god of many forms might be sighted in some of his epiphanies and blind in others. There is, however, no indication to show that the god is ever blind. He is never seen to stumble, fumble, or to fall. The quality of blindness is not observed in Óðinn.“ 96 S. Hkr I, Yngl saga, Kap. 6, ÍF 26, S. 17: „Óðinn kunni svá gera, at í orrostu urðu óvinir hans blindir eða daufir eða óttarfullir [. . .].“/ „Óðinn konnte bewirken, dass seine Feinde im Kampf blind oder taub oder furchtsam wurden [. . .].“ So interpretiert auch Falk diese Beinamen, vgl. Falk, Odensheite, S. 16. 97 Vgl. Ginzburg, Hexensabbat, S. 135. 98 Baetke, Wörterbuch, S. 58. Diese Zweitbedeutung des an. blindr verzeichnen de Vries und Fritzner allerdings nicht (vgl. de Vries, Etym. Wörterbuch, S. 44; Fritzner, Johan: Ordbog over det gamle norske sprog. Nytt uforandret opptryk av 2. utgave (1883–1896). Med et bind tillegg og rettelser redigert av Didrik Arup Seip og Trygve Knudsen. 4 Bände. Oslo, 1954, Bd. 1, S. 156). 99 Vgl. Cleasby; Vigfusson, Icelandic-English Dictionary, S. 69. 100 Vgl. ebd. 101 Vgl. Hornby, Albert Sydney: Oxford Advanced Learner’s Dictionary of Current English. 6. ed. by Sally Wehmeier. Oxford, 2000, S. 119. 102 Die obigen Ausführungen folgen der Argumentation von Lotte Motz; vgl. Motz, Óðinn’s vision, S. 12.

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wahren Identität Bezug nehmen (neben Grímnir/Grímir (‚der Maskierte‘) auch (Sið-) Hǫttr (‚der eine/n lang herab reichende/n Kapuze/Hut trägt‘)103 und Fjǫlnir (‚der Verborgene‘))104, sind Odinsnamen wie Gestumblindi und Tvíblindi folglich nicht einfach als ‚blinder Gast‘ bzw. ‚der zweifach Blinde‘, sondern vielmehr als ‚der verborgene Gast‘ bzw. ‚der zweifach Verborgene‘ zu interpretieren. Dies geht wiederum völlig konform mit der von Lotte Motz vorgeschlagenen Deutung der Bezeichnung vǫlva als ‚die Versteckte‘105 und wird auch im Falle Óðinns auf eine gesteigerte spirituelle Sicht des Götterfürsten und seine verstärkte Fähigkeit zur Kontaktaufnahme mit dem Numinosen verweisen. In den beiden oben genannten Fällen führt die Begegnung der menschlichen Könige mit Óðinn jeweils zu deren Tod: Sobald der Gott seine wahre Identität offenbart, ist ihr Schicksal besiegelt. Auch Sigmundr in der Vǫlsunga saga findet den Tod, als Óðinn ihm in seiner typischen Verkleidung (einer weit herab reichenden Kapuze und einem blauen Mantel)106 auf dem Schlachtfeld gegenübertritt: Das Schwert des Königs, das durch Óðinns Hilfe überhaupt erst in Sigmundrs Besitz gelangt war, zerschellt an dem Speer des Gottes, woraufhin das Schlachtenglück Sigmundr verlässt.107 Dass Sigmundr genau wie Geirrǫðr und Heiðrekr erkannt hat, wer ihm in Wahrheit entgegengetreten ist, verraten die Worte, welche der sterbende König wenig später an seine Frau richtet: „‚[. . .] Vill Oþinn ecki, at ver bregdum sverdi, sidan er nu brotnadi. Hefi ek haft orostur, medan honum likadi.‘“108 / „‚[. . .] Óðinn will nicht, dass wir das Schwert schwingen, weil es zerbrochen ist. Ich schlug Schlachten, solange es ihm gefiel.‘“ Neben den Episoden, in denen Óðinn als Schicksalsmacht Menschenleben beendet, agiert der Gott, wie bereits im Zusammenhang mit seiner Rolle als göttlicher Initiator in Kapitel VI 3.3 gezeigt, auf seinen Reisen in der Welt der Menschen aber auch oftmals als Unterstützer und Ratgeber: So hilft er in Gestalt eines alten Mannes mit langem Bart109 dem jungen Sigurðr (Sigmundrs Sohn) dabei, ein Pferd auszuwählen. Als der Held später auszieht, um seinen Vater zu rächen, geht Óðinn wiederum als alter Mann an Bord von Sigurðrs Schiff, woraufhin sich ein bedrohlicher Sturm legt.110

103 Vgl. Falk, Odensheite, S. 20 und S. 25. 104 Vgl. ebd., S. 9. Der Name leitet sich ab von an. fela ‚verstecken‘, ‚verbergen‘; vgl. dazu auch Motz, Óðinn’s vision, S. 15. 105 Vgl. dazu Kapitel II 2.1.1. 106 „med sidan hátt ok heklu bla“; s. Vǫls, Kap. 11, STUAGNL 36, S. 28. 107 Vgl. ebd; s. dazu auch Kapitel VI 3.3 der vorliegenden Arbeit. 108 Vgl. Vǫls, Kap. 12, STUAGNL 36, S. 28 f. 109 S. Vǫls, Kap. 13, STUAGNL 36, S. 32: „[. . .] for Sigurdr til skogar ok mętir einum gaumlum manne med sidu skegge.“ / „[. . .] Sigurðr ging in den Wald und trifft einen alten Mann mit langem Bart.“ 110 S. Vǫls, Kap. 17, STUAGNL 36, S. 39 sowie Rm, 15 pr. – 18 pr., Neckel; Kuhn, Edda, S. 177 f.

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Gemäß der in den Reginsmál überlieferten Variante dieser Episode erteilt der Fremde alias Óðinn Sigurðr anschließend Ratschläge für einen Erfolg in der Schlacht.111 Als alter, einäugiger Wanderer112 nimmt Óðinn sich des jungen Hadingus’ in den Gesta Danorum an und verhilft ihm später in Gestalt eines alten Mannes durch strategische Ratschläge und Zauber zum Sieg, eher er den Helden mit einer Prophezeiung dessen Tod betreffend113 wieder verlässt. Diese Liste ließe sich noch weiter fortsetzen, es wird jedoch bereits erkennbar, dass Óðinns Auftreten in der Welt der Menschen von ambivalenter Qualität ist: Während er sich einerseits gerade im Bereich der Heldensage als Helfer und Initiator jugendlicher Protagonisten betätigt und diesen wertvolles Wissen vermittelt, kann sein Auftreten gleichzeitig den jähen Tod eines Menschen verursachen.114 Dies geht einher mit für den Schwellenzustand typischerweise zu beobachtenden Statusumkehrungen: Óðinn, der mächtigste der Götter, verbirgt seine wahre Identität hinter der Gestalt eines alten Wanderers, also einer im Tiefstatus befindlichen Randfigur der Strukturgesellschaft. Dennoch vermag er auch in dieser Verkleidung Könige zu Fall zu bringen. In Bezug auf die Herrscher Heiðrekr, Geirrǫðr und Sigmundr ist zudem auffällig, dass gerade ab dem Moment, in dem die Männer die wahre Identität des vermeintlich unbedeutenden Fremden erkennen, ihr Tod zur unabwendbaren Tatsache wird. Die Ortsunfestigkeit Óðinns ist in diesem Zusammenhang ebenso wie seine Verkleidungen und Pseudonyme Teil eines Merkmalskomplexes, der Óðinn als Schwellenwesen kennzeichnet.115 Diese liminalen Charakteristika sind aufs engste damit verbunden, was Lotte Motz als wichtige Funktion des Gottes formuliert hat: Óðinns Auftreten in der Welt der Menschen steht für die Begegnung mit dem Übernatürlichen, die Segen oder Fluch mit sich bringen, inspirieren oder vernichten kann. Er fungiert als eine Schicksalsmacht, deren Gunst veränderlich und ungewiss ist, die unerkannt und unerwartet in die Sphäre der Menschen treten und ihnen sowohl Hilfe gewähren als auch den Tod bringen kann: Óðinn stands for the divine epiphany, the irruption of the sacred, of the mysterium tremendum, into secular existence. He is the unknown and the unknowable, and there is no defence. Walls and doors do not contain the spirit, and the sword held in human hands falls to pieces when it

111 Vgl. Rm, Str. 20–25, Neckel; Kuhn, Edda, S. S. 178 f. 112 S. Gesta Danorum, Lib I, S. 23. 113 S. ebd., S. 30 f. 114 So auch bei Motz, King, Champion, Sorcerer, S. 86: „Óðinn, as we have noted, interacts, more than other gods, with humans whom he visits from afar to help, to counsel or to destroy.“ 115 Vgl. Turner, Ritual, S. 105 sowie S. 107–109; insbesondere S. 108 f. zur mit Statusumkehrungen verbundenen „Macht der Schwachen“: „In der Volksliteratur wimmelt es von symbolischen Figuren wie „heiligen Bettlern“, „dritten Söhnen“, „kleinen Schneiderleins“ und „Einfaltspinseln“, die die Inhaber eines hohen Ranges ihres Dünkels berauben und sie auf das Maß allgemeiner Menschlichkeit und Moral reduzieren.“ Es lässt sich unschwer erkennen, dass in den Grímnismál sowie im Rätselwettstreit der Heiðreks saga eine vergleichbare Demontage der beiden Könige geschieht, wobei Óðinn als Götterfürst in die Rolle eines marginalen Fremden bzw. in der Heiðreks saga eines unterlegenen Feindes, der unter dem sprechenden Namen „verborgener Gast“ auftritt, schlüpft.

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meets the magic spear. [. . .] These considerations lead us to understand why Þórr became the trusted friend of men while Óðinn remained the ‘terrible’ – Yggr. Þórr reified men’s confidence in their own strength, while Óðinn reified the awareness of their insufficiency. He provided, however, the flash of sacrality, the moments to sear or bless, when men are lifted above themselves to transports in which they overcome their limited condition.116

Hierzu passt, dass Óðinn in der altnordischen Literatur in der Regel ebenso unvermittelt wieder aus der Welt der Menschen verschwindet, wie er dort in Erscheinung getreten ist: Das Verb hverfa (‚(den Blicken) entschwinden‘, ‚verschwinden‘) beschreibt den Abgang des Gottes in zahlreichen Episoden.117 Dass Óðinns Assoziation mit Ortsunfestigkeit in der germanischen Überlieferung weit zurückreicht, bezeugt zumindest eine der beiden möglichen Lesarten der Inschrift eines um 1850 nahe des dänischen Køge gefundenen, runologisch als Seeland II bezeichneten völkerwanderungszeitlichen Brakteaten, der heute unter der Bezeichnung IK 98, Raum Køge-C/Seeland-II118 geführt wird. Die zum C-Typ119 gehörige Bilddarstellung des Amuletts zeigt das Haupt Wotan-Óðinns über einem als Pferd zu deutenden Vierbeiner und gehört somit in den Kontext des Sturzes des Balderfohlens. Die linksläufige Inschrift des Brakteaten lautet in der Transkription: Hariūha haitika, fara-/fārawīsa, gibu auja. Dass es sich bei der Sprecherfigur um Óðinn handeln muss, kann zum einen anhand der Ikonographie erschlossen werden, zum anderen gilt das aus den Gliedern Hari- (zu germ. *harja- ‚Heer‘) und ūha120 gebildete Hariūha als typischer Odinsname, welcher sich mit ‚der Heer-Hohe‘ wiedergeben lässt. Der ebenfalls als Beiname Óðinns zu interpretierende Begriff farauisa hat zwei Lesarten, wobei es weder graphematisch noch linguistisch möglich ist, einer von beiden den Vorzug zu

116 Motz, King, Champion, Sorcerer, S. 99 f. 117 S. Grm pr., Neckel; Kuhn, Edda, S. 68: „Óðinn hvarf þá.“ / „Óðinn verschwand da.“; Vǫls, Kap. 13, STUAGNL 36, S. 32: „Madrinn hverfr þa.“ / „Da verschwindet der Mann.“ 118 Vgl. Hauck, Karl et al. (Hgg.): Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit, Bd. 1,2: Ikonographischer Katalog (IK 1, Text). München, 1985, S. 175 f. 119 Bei den C-Brakteaten handelt es sich um den größten Teil dieser Amulette. Ähnlich wie die Brakteaten der Gruppe A zeigen sie in der Nachfolge spätantiker Kaiserbildprägungen einen Männerkopf im Profil, jedoch befindet sich unter diesem Haupt bei C-Brakteaten stets ein Vierbeiner (Pferd, Fohlen), mehrfach mit Begleittieren. Im Zuge der umfassenden Studien Karl Haucks und anderer Forscher zur Brakteaten-Ikonologie gelang es mehr und mehr, die Bildchiffren der Brakteaten zu entschlüsseln und die Identität der auf den verschiedenen Brakteaten-Gruppen abgebildeten Gestalt zu erschließen: „Die dargestellte Figur erweist sich als Wodan-Odin, der in verschiedenen Rollen (Mars, göttlicher Arzt) auftreten kann und auf den A-Brakteaten in der Kaiserbild-Nachfolge als Götterfürst abgebildet wird. Auf den C-Brakteaten erscheint er als göttlicher Heiler von Balders gestürztem Fohlen, dem tiergestaltige Helfer zur Seite stehen.“ (Düwel, Klaus: Runenkunde. 4. überarb. u. akt. Aufl. Stuttgart, 2008, S. 45). 120 Für diesen zweiten Bestandteil existieren verschiedene Erklärungsansätze, als am vielversprechendsten wird in der Forschung der Hinweis auf got. auhuma ‚höher‘ bewertet; vgl. dazu Düwel, Klaus; Nyman, Eva; Thrane, Henrik: Art. „Seeland“, in: RGA, Bd. 28. Berlin, New York, 2005, S. 32.

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geben.121 Er kann entweder – mit langem ā – mit ‚der Gefährliches Wissende‘/‚der Gefahrenkundige‘ oder – mit einem kurzen a – als ‚der Fahrtenkundige‘122 übersetzt werden, so dass die Inschrift entweder „Hariūha heiße ich, der Gefährliches Wissende, [ich] gebe Glück (oder: Schutz)“ oder „Hariūha heiße ich, der Fahrtenkundige, [ich] gebe Glück (oder: Schutz)“123 lauten kann. Vielleicht ist diese Doppelbedeutung sogar intendiert,124 denn beide Varianten würden als Beinamen gut zu Óðinn passen, zumal der Gott ja gerade im Zuge seiner Reisen (verborgenes) Wissen akquiriert. Dass in der späteren literarischen Überlieferung der mittelalterlichen Skandinavier ein ausgedehntes Umherziehen mit gesteigertem Kenntnisreichtum assoziiert und beides als Merkmal Óðinns betrachtet wurde, zeigen die Hávamál, in welchen Óðinn alias Hárr die Sentenz in den Mund gelegt wird, dass nur derjenige, der weit herumgekommen sei, über wahre Menschenkenntnis verfüge: Sá einn veit, er víða ratar oc hefir fiolð um farið, hverio geði stýrir gumna hverr, sá er vitandi er vitz.125 Der allein weiß, der weit wandert und viel umhergezogen ist, welchen Sinn jeder Mann hat, der, welcher selbst Verstand besitzt.126

Der Brakteat Seeland II kann also zumindest gemäß einer, wenn nicht beider Lesarten seiner Inschrift (wenn man die These der beabsichtigten Doppelbedeutung akzeptiert), als ein Beleg dafür gewertet werden, dass Ortsunfestigkeit schon zur Völkerwanderungszeit als charakteristischer Zug Óðinns angesehen wurde. Diese Merkmalszuschreibung dürfte jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach sogar noch älter sein, denn Óðinns Umherstreifen bildet einen der Aspekte, deretwegen er gemäß einer bis in die Antike zurückzuverfolgenden Überlieferung mit dem Gott Hermes/Merkur gleichgesetzt wurde. Laut Tacitus verehrten die Germanen Merkur als höchste Gottheit127, wobei die bis ins 4. Jahrhundert zurückreichenden Wochentagsnamen unzweifelhaft zeigen, auf welchen germanischen Gott diese interpretatio romana abzielt: Dem lateinischen dies Mercurii entsprechen ahd. Wuotanestac, aengl. Wôdnesdæg (nengl. Wednesday) und

121 Vgl. hierzu Düwel; Nyman; Thrane, Seeland, S. 31 f. 122 Man vergleiche dazu das Odinsheiti Vegtamr (‚der Weggewohnte‘), das praktisch dieselbe Bedeutung hat. 123 Vgl. Düwel, Runenkunde, S. 49. 124 Diesen Hinweis verdanke ich Professor Wilhelm Heizmann. 125 Háv, Str. 18, Neckel; Kuhn, Edda, S. 19. 126 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 39. 127 S. Tacitus, Germania, Kap. 5, S. 76: „Deorum maxime Mercurium colunt [. . .].“

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an. Óðinsdagr. Auch eine Reihe späterer Zeugnisse, darunter die Vita Columbani128 aus dem 7. Jahrhundert sowie die Historia Langobardorum des Paulus Diaconus (8. Jh.)129, belegen die Gleichsetzung Wotans/Óðinns mit Merkur.130 Die Identifikation beider Gottheiten resultiert aus mehreren Berührungspunkten zwischen Wotan/ Óðinn und Hermes/Merkur. Zunächst ist beiden die Ortsunfestigkeit gemeinsam: Hermes/Merkur galt als wandernder Gott und Beschützer der Wanderer und Wegfahrer. Sein Name lässt sich auf agriech. herma (ἕρμα) zurückführen, was ‚Steinhaufen‘ bedeutet; der Gott wäre demnach als „die Personifikation eines polylithischen Hügelmals bzw. des urspr. aus ihm herausragenden monolithischen Pfeilers“131 zu deuten. Als ‚Hermen‘ bezeichnete Pfeilerschäfte fungierten im alten Griechenland als Wegzeichen und Grenzmarkierungen:132 Sie gehen auf schlichte, entlang von Wegen errichtete Steinhaufen zurück, ursprünglich wohl oftmals Grabmäler,133 weswegen Hermes/Merkur nicht nur zum Schutzherr der Wanderer, sondern auch (als der Grenzgänger schlechthin) zum Hüter der Türen und Tore und Geleiter der Menschen auch ins Jenseits wurde.134 Wotan/Óðinn und Hermes/Merkur galten zudem in ihren jeweiligen Kulturen als Erfinder der Schrift.135

128 S. „Ionae Vitae Columbani liber primus“, in: Haupt, Herbert; Kusternigg, Andreas (Hgg. u. Übers.): Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts. Darmstadt, 1982 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, 4a), Kap. 27, S. 484: „Illi aiunt se Deo Vodano nomine, quem Mercurium, ut alii aiunt, autumnant, velle litare.“ / „Sie erwiderten, sie wollten ihrem Gotte namens Wodan, den sie, wie andere berichten, auch Merkur nannten, ein Opfer darbringen.“ (Übersetzung ebd., S. 485). 129 Pauli Historia Langobadorum. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1878. Hannover, 1978 (Monumenta Germaniae Historica, 48), Lib. I, Kap. 9, S. 59: „Wotan sane [. . .] ipse est qui apud Romanons Mercurius dicitur et ab universis Germaniae gentibus ut deus adoratur [. . .].“ / „Wotan ist in der Tat [. . .] derselbe, der bei den Römern Mercurius genannt wird und von allen germanischen Völkern als Gott verehrt wird [. . .].“ 130 Vgl. hierzu Heizmann, Wilhelm: „Die Formelwörter der Goldbrakteaten“, in: Heizmann, Wilhelm; Axboe, Morton (Hgg.): Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Auswertung und Neufunde. Berlin, New York, 2011 (Ergänzungsbände zum RGA, 40), S. 571 f.; de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 2, S. 27 sowie zu den Wochentagsnamen Ernst, Peter: Art. „Woche und Wochentagsnamen“, in: RGA, Bd. 34. Berlin, New York, 2007, S. 171. 131 Fauth, Wolfgang: Art. „Hermes“, in: Der Kleine Pauly, Lexikon der Antike, Bd. 2. Stuttgart, 1967, Sp. 1070. 132 Vgl. Nilsson, Griechische Religion, Bd. 1, S. 505. 133 Vgl. Fauth Hermes, Sp. 1070. 134 Dies gilt insbesondere für den griechischen Hermes, vgl. Fauth, Hermes, Sp. 1070 sowie Nilsson, Griechische Religion, Bd. 1, S. 508 f. Beide Gottheiten teilen zudem Stab und Kopfbedeckung als Attribute. 135 Vgl. Heizmann, Formelwörter, S. 572 sowie Bremmer, Rolf H.: „Hermes-Mercury and WodenOdin as Inventors of the Alphabets: A Neglected Parallel“, in: Bammesberger, Alfred (Hg.): Old English Runes and their Continental Background. Heidelberg, 1991 (Anglistische Forschungen, 217), S. 412, 417 f. und passim.

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Ein weiterer bedeutsamer Faktor für ihre Gleichsetzung ist, dass beide Gottheiten mit Magie136 und der Heilkunst in Verbindung stehen.137 Hier zeigt sich, wie weit die bereits angesprochene Merkmalskombination von Ortsunfestigkeit – Zauber – Heilkunde zurückreicht: Hermes/Merkur wird neben seiner Eigenschaft als wandernde Gottheit und seinem Bezug zur Magie nämlich auch Kräuterwissen zugeschrieben. Er verfügt über die Zauberpflanze Moly, in der antiken Überlieferung ein Gegengift par excellence, das zugleich als Abwehrmittel gegen Magie fungiert (Hermes gibt es Odysseus als Mittel gegen die Zauber der Kirke).138 Wie Hermes/ Merkur tritt Wotan/Óðinn ebenfalls als Heiler und Kräuterkundiger in Erscheinung: Insbesondere mit der Inschrift laukaR (an. laukr ‚Lauch‘) versehene Goldbrakteaten preisen Heilfähigkeit und Kräuterwissen des Gottes,139 wobei mit dem Formelwort laukaR die „Heil- und Regenerationskräfte des Lebenskrautes Lauch“140, seine Funktion als Antidot und Apotropaion sowie seine libido- und fruchtbarkeitssteigernde Wirkung aufgerufen wird.141 Oftmals bilden Goldbrakteaten mit dem Formelwort laukaR, aber auch Brakteaten mit anderen Inschriften (wie der oben vorgestellte Brakteat Seeland II) eine mythische Begebenheit ab, auf die auch der auf das 10. Jahrhundert datierte Zweite Merseburger Zauberspruch rekurriert: Die Heilung des gestürzten Balderfohlens durch Wotan/Óðinn.142 Die historiola des Zauberspruches erzählt, wie Wodan und Phol143 sich in den Wald begeben und Wodan

136 Zur Konnotation von Hermes mit Magie vgl. Nilsson, Griechische Religion, Bd. 1, S. 509. 137 Vgl. Heizmann, Formelwörter, S. 572. 138 Vgl. Ziegler, Konrat: Art. „Moly“, in: Der Kleine Pauly, Bd. 3. Stuttgart, 1969, Sp. 1403 sowie Heizmann, Formelwörter, S. 572 f. 139 Vgl. Düwel, Runenkunde, S. 45. 140 Heizmann, Formelwörter, S. 573. Lauch gilt auch in der altnordischen Überlieferung als Antidot, das zudem in der Lage ist, Leben zu erhalten, vgl. dazu ebd., S. 550–573, besonders S. 556–561. 141 Vgl. Heizmann, Formelwörter, S. 556 f. 142 Dass das Wort laukaR auf C-Brakteaten erscheint, welche die Rettung von Balders Pferd durch den heilmächtigen Gott Wotan/Óðinn abbilden, ist schlüssig, da dem Lauch im Kontext der Pferdeheilung von der Antike bis in die Neuzeit große Bedeutung zukam; s. Heizmann, Formelwörter, S. 561 f.: „Von der Antike bis in unser Jahrhundert hinein fanden nämlich in ungebrochener Tradition nicht nur Segens- und Zaubersprüche im Bereich der Pferdeheilkunde, insbesondere im Bereich der Verletzungen und Erkrankungen der Extremitäten, Anwendung, sondern in gleicher Weise auch bestimmte rationale Heilverfahren. Von allen Heilpflanzen, die in diesem Zusammenhang genannt werden, stehen die verschiedenen Spezies der Gattung Allium an erster Stelle. [. . .] Das Formelwort laukaR steht damit in engster Beziehung zum Inhalt des bildlich Dargestellten und entspricht so der ganzen Mehrschichtigkeit der Bildformel: im Bereich der Erfahrungsmedizin als Äquivalent zu rationalen Heilverfahren, auf der Ebene der vom Gott geübten Zaubermedizin als Lebenskraut par excellence.“ 143 Welche Gestalt sich dahinter verbirgt, wurde in der Forschung kontrovers diskutiert, auf alle Fälle wird es sich um eine göttliche Figur handeln, da auch die anderen Protagonisten des Zweiten Merseburger Zauberspruches als Gottheiten identifiziert werden können. Welcher Gott (Baldr? Freyr?), genau gemeint ist, ist für das Verständnis der historiola jedoch nicht von vorrangigem Belang, vgl. dazu Beck, Wolfgang: Die Merseburger Zaubersprüche. Wiesbaden, 2003 (IMAGINES MEDII AEVI. Interdisziplinäre

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anschließend „wie er es gut verstand“ (so he uuola conda) durch Besprechen/Besingen das verletzte Pferd Balders heilt144: Phol ende uuodan uuorun zi holza du uuart demo balderes uolon sin uuoz birenkict thu biguol en sinhtgunt · sunna era suister thu biguol en friia uolla era suister thu biguol en uuodan so he uuola conda sose benrenki sose bluotrenki sose lidirenki ben zi bena bluot zi bluoda lid zi geliden sose gelimida sin145 Fol und Wodan zogen in den Wald. Da wurde dem Pferd Balders sein Fuß verrenkt. Da besang ihn Sinhtgunt mit Sunna, ihrer Schwester. Da besang ihn Frija mit Folla, ihrer Schwester. Da besang ihn Wodan, wie er’s vortrefflich konnte. „Wie die Knochenverrenkung, wie die Blutverrenkung, wie die Gelenkverrenkung – Knochen zu Knochen, Blut zu Blut, Gelenk zu den Gelenken –, so seien sie zusammengefügt!146

Bildformeln und Inschriften der auf diese Machttat Wotans/Óðinns verweisenden Brakteaten belegen also bereits früh die im gesamten germanischen Bereich verbreitete Assoziation des Gottes mit Heil- und Kräuterkunde. Neben dem Zweiten Merseburger Zauberspruch stellt noch ein weiteres germanisches Textzeugnis, nämlich der altenglische Nine Herbs Charm (Neunkräutersegen)147 Wotan/Óðinn als

Beiträge zur Mittelalterforschung, 16), S. 101–120 sowie Beck, Heinrich; Lundgreen, Michael: Art. „Merseburger Zaubersprüche“, in: RGA, Bd. 19. Berlin, New York, 2001, S. 602 f. 144 Vgl. Beck, Merseburger Zaubersprüche, S. 124. 145 Zitiert nach Meineke, Eckhard: „Ein verrenkter Pferdefuß und seine Heilung. Zum Zweiten Merseburger Zauberspruch“, in: Bartsch, Nina; Schultz-Balluff, Simone (Hgg.): PerspektivWechsel oder: Die Wiederentdeckung der Philologie. Band 2: Grenzgänge und Grenzüberschreitungen. Zusammenspiele von Sprache und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin, 2016, S. 110. 146 Übersetzung nach ebd., S. 148. 147 Überliefert in einer Handschrift aus dem späten 11. Jh.; vgl. van Kirk Dobbie, Elliott: The Anglo-Saxon minor poems. New York, 1942, Introduction, S. 130.

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göttlichen Arzt vor, welcher eine Giftschlange mittels neun machtvoller Zweige, die in sich die Kraft von neun Kräutern tragen,148 zu töten vermag:149 Wyrm com snican, toslat he man; ða genam Woden VIIII wuldortanas, sloh ða þa næddran, þæt heo on VIIII tofleah.150 Eine Schlange kam gekrochen, tötete einen Mann; da nahm Woden neun Zauber-Zweige, schlug die Natter, so daß sie in neun Stücke zerstob.151

Auch in den später als die beiden Zaubersprüche verschriftlichten altnordischen Quellen spielt das enorme Kräuterwissen des Gottes wiederholt eine Rolle. Die Heimskringla berichtet davon, wie Óðinn das abgeschlagene Haupt Mímirs mit Kräutern bestreicht und es mit Zaubern bespricht, um es dergestalt einzubalsamieren: „Óðinn tók hǫfuðit ok smurði urtum þeim, er eigi mátti fúna, ok kvað þar yfir galdra [. . .].“152 / „Óðinn nahm das Haupt und bestrich es mit solchen Kräutern, dass es nicht verfaulen konnte, und sprach Zaubersprüche darüber [. . .].“ In der Vǫlsunga saga bringt ein Rabe – der sicherlich mit Óðinn in Verbindung zu bringen ist, welcher oftmals in das Geschehen dieser Saga eingreift153 − Sigmundr ein Blatt, das die Wunde seines Sohnes Sinfjǫtli zu heilen vermag: Sigmundr ser einn dag, hvar hreysekettir II voru, ok bitr annaR i barkann odrum, ok rann sa til skogar ok hefir eitt blad og fęrir yfir sarid, ok spretr upp hreysikattrinn heill. Sigmundr gengr ut ok ser, hvar hrafn flygr med bladit og fęrdi honum.154 Sigmundr sah eines Tages, wo zwei Wiesel waren, und eines beißt dem anderen in die Kehle, und jenes rannte in den Wald und hat ein Blatt und legte es über die Wunde und das Wiesel springt gesund auf. Sigmundr geht hinaus und sieht, wo ein Rabe mit dem Blatt fliegt und es ihm brachte.

Schließlich rühmt sich Óðinn in den Hávamál der Kenntnis eines Zauberspruchs, welchen „der Menschen Söhne brauchten, / die ein Leben als Ärzte führen wollen“ („er þurfto ýta synir, / þeir er vilia læcnar lifa“155). Die obigen Belege haben veranschaulicht, auf welch alte Traditionen die Konnotation Óðinns mit Nichtsesshaftigkeit, Heilkunde und Zauberei zurückgeht. Saxo bezeichnet ihn als „viator indefessus“156, als „unermüdlichen Wanderer“: In der Tat

148 Vgl. Heizmann, Formelwörter, S. 571. 149 Vgl. Beck, Merseburger Zaubersprüche, S. 124. 150 Van Kirk Dobbie, Anglo-Saxon minor poems, S. 119 f. 151 Übersetzung nach Beck, Merseburger Zaubersprüche, S. 124. 152 Hkr I, Yngl saga, Kap. 4, ÍF 26, S. 13. 153 Vgl. Heizmann, Formelwörter, S. 570 f. 154 Vǫls, Kap. 8, STUAGNL 36, S. 16. 155 Háv, Str. 147, Neckel; Kuhn, Edda, S. 42. 156 Gesta Danorum, Lib III, S. 71.

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ist gerade Óðinns Umherziehen bzw. seine Ortsunfestigkeit ein bedeutsames Charakteristikum des Gottes, das im Verbund mit seiner stetig wechselnden Erscheinungsform und dem Verbergen seiner wahren Identität als eine liminale Eigenschaft des Gottes definiert werden kann. Dabei haftet Óðinns Umherschweifen in der altnordischen Literatur oftmals eine bedrohliche Komponente als Agieren einer den Tod mit sich bringenden, unvermittelt intervenierenden Schicksalsmacht an. Zugleich ist mit Óðinns Ortsunfestigkeit jedoch ein vor allem in den älteren Überlieferungsschichten anzutreffendes regeneratives, heilendes und unheilabwehrendes Potential des Gottes verbunden. Beide Aspekte vereinen sich schließlich im Volksglauben, wenn Wotan/ Óðinn als Anführer der Wilden Jagd fungiert und somit einem Geisterheer vorsteht, dessen Erscheinen die Lebenden einerseits fürchten, dem andererseits jedoch positive Wirkung auf die Fruchtbarkeit der Felder zugeschrieben wird.157 2.3.2 Freyja Züge von Nichtsesshaftigkeit lassen sich auch bei Freyja ausmachen, wenngleich Ortsunfestigkeit auf den ersten Blick keine so bedeutende Rolle im Mythos der Göttin spielt, wie dies bei Óðinn der Fall ist. Snorri berichtet davon, wie Freyja auf der Suche nach ihrem Gemahl Óðr, der sich auf lange Reisen begeben habe, unter einer Vielzahl von Namen zu unbekannten Völkern gelangt sei und dabei goldene Tränen geweint habe:158 Óðr fór í braut langar leiðir, en Freyja grætr eptir, en tár hennar er gull rautt. Freyja á mǫrg nǫfn, en sú er sǫk til þess at hon gaf sér ýmis heiti er hon fór með ókunnum þjóðum at leita Óðs. Hon heitir Mardǫll ok Hǫrn, Gefn, Sýr.159 Óðr machte sich zu langen Reisen auf, und Freyja weint ihm nach, und ihre Tränen sind rotes Gold. Freyja hat viele Namen und der Grund dafür ist, dass sie sich verschiedene Namen gab, als sie Óðr unter unbekannten Völkern suchte. Sie heißt Mardǫll und Hǫrn, Gefn, Sýr.

Dieses Agieren Freyjas als Wanderin unter verschiedenen Pseudonymen stellt eine bemerkenswerte Analogie zu Óðinns Umherziehen und seinen zahlreichen Namen dar.160 Tatsächlich bedeutet selbst der Name ‚Freyja‘ – korrespondierend mit dem ihres Bruders Freyr – nur ‚Herrin‘, es handelt sich also um einen Tabunamen, wie er in vielen Religionen anzutreffen ist.161 Warum die Namen des Geschwisterpaares

157 Vgl. Höfler, Kultische Geheimbunde, Bd. 1, S. 286–289 sowie Kershaw, Odin, S. 36. 158 Heizmann, Freyja, S. 279. 159 Gylf 35, Faulkes, SnE, S. 29. Die Skaldendichtung nimmt ebenfalls auf diese mythische Begebenheit Bezug, vgl. z. B. Þul IV h 3, Skj Bd. B I, S. 661. 160 Vgl. Näsström, Freyja, S. 85: „We have observed that Freyja is the female counterpart of Óðinn in his magico-religious function as well as in his role as the sovereign; but there are other resemblances, too. Like him she bears many different names and travels far, according to Snorri, who connects this itineration with her search for Óðr.“ 161 Vgl. Turville-Petre, Myth and Religion, S. 177 sowie Böldl, Götter und Mythen, S. 238.

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nicht mehr ausgesprochen werden durften, lässt sich schwerlich sagen;162 im Verbund mit der Verwendung von Pseudonymen verweist ein derartiger Tabuname jedoch ganz ähnlich wie bei Óðinn auf eine zumindest bisweilen verdeckte Identität Freyjas. Im Zusammenhang mit ihrer Gattensuche weist somit auch Freyja die liminalen Elemente der Ortsunfestigkeit sowie des unklaren Status (als Resultat der durch Namenswechsel verborgenen Identität) auf, die bereits bei Óðinn begegneten. Die Trauer um ihren abwesenden Ehemann und – zumindest in einigen Fäl163 len – auch die Suche nach diesem teilt Freyja mit einer Reihe von Göttinnen des Vorderen Orients wie Kybele, Isis, Ishtar oder Inanna,164 in deren Zuständigkeitsbereich ebenfalls die Fruchtbarkeit von Mensch und Tier sowie das Gedeihen der Vegetation fallen. Allerdings sind die Gefährten dieser Göttinnen zumeist dem Typus des „sterbenden Gottes“ zuzurechnen (Attis–Kybele; Osiris–Isis; Tammu–Ishtar; Dumuzi–Inanna), dessen Tod „mit der Vegetationspause zusammengebracht wird, die nach der die Ernte entsteht“165, was sich aus der kurzen Bemerkung Snorris über Freyjas Gattensuche für den Gott Óðr nicht entnehmen lässt. Obwohl bei näherer Betrachtung also deutliche Unterschiede zwischen Freyja und den oben genannten vorderorientalischen Göttinnen zutage treten,166 ist Freyjas Umherziehen mit Sicherheit ebenfalls in erster Linie im Kontext ihrer Funktion als Vegetationsgöttin zu deuten. In diese Richtung weist ein häufig bei der Verehrung von Vegetationsgottheiten anzutreffendes Ritual, nämlich die kultische Umfahrt. Hiermit wird ein rituelles Fahren oder Reiten bezeichnet, welches für gewöhnlich mehrere Orte oder Stationen mit einbezieht. Die Fahrt kann dabei sowohl auf einem Wagen, als auch mit einem Schiff oder Boot unternommen werden. In verschiedenen Religionen des alten Europas und West-Asiens war die kultische Umfahrt ein Ritual von herausragender Bedeutung, so z. B. beim großen Frühlingsfest der Magna Mater (Kybele) in Rom, im Zuge dessen ein Kultbild der Göttin auf einem von Rindern gezogenen Wagen zum Fluss Almo gefahren wurde. Dort endete das Frühlingsfest mit der Waschung (lat. lavatio) des Götterbildes.167 Auch für den germanischen Bereich, nämlich bei einigen im heutigen Schleswig-Holstein und in Süddänemark168 zu verortenden

162 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 238. 163 So begibt sich etwa Isis auf die Suche nach Osiris. 164 Vgl. Heizmann, Freyja, S. 279. 165 Massenzio; Cancik-Lindemaier, Vegetationskult, S. 306. 166 Vgl. dazu Heizmann, Freyja, S. 279 sowie Näsström, Freyja, S. 25–27, die einen Einfluß aus dem Vorderen Orient vor allen Dingen aufgrund des Unterschieds ablehnt, dass der Mythos der o. g. vorderorientalischen Göttinnen „fundamentally concerned with the issue of life versus death“ (Näsström, Freyja, S. 27) sei. Dahingegen lasse die von Snorri überlieferte Gattensuche Freyjas keine derartigen Züge erkennen (vgl. ebd.). 167 Vgl. Hultgård, Anders: Art. „Kultische Umfahrt“, in: RGA, Bd. 17. Berlin, New York, 2001, S. 437 f. 168 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 236.

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Stämmen, ist die kultische Umfahrt durch Tacitus’ Schilderung entsprechender Riten zu Ehren der Göttin Nerthus überliefert: nec quicquam notabile in singulis, nisi quod in commune Nerthum, id est Terram matrem, colunt eamque intervenire rebus hominum, invehi populis arbitrantur. Est in insula Oceani castum nemus, dicatumque in eo vehiculum, veste contectum; attingere uni sacerdoti concessum. is adesse penetrali deam intellegit vectamque bubus feminis multa cum veneratione prosequitur. laeti tunc dies, festa loca, quaecumque adventu hospitioque dignatur. non bella ineunt, non arma sumunt; clausum omne ferrum; pax et quies tunc tantum nota, tunc tantum amata, donec idem sacerdos satiatam conversatione mortalium deam templo reddat. mox vehiculum et vestis et, si credere velis, numen ipsum secreto lacu abluitur. servi ministrant, quos statim idem lacus haurit. arcanus hinc terror sanctaque ignorantia, quid sit illud, quod tantum perituri vident.169 Im einzelnen gibt es bei ihnen nichts Bemerkenswertes, außer, daß sie gemeinsam die Nerthus, d. h. die Mutter Erde, verehren und glauben, daß sie in die Angelegenheiten der Menschen eingreift und daß sie ihre Stämme in einem Wagen besucht. Auf einer Insel im Ozean ist ein heiliger Hain. In diesem steht ein geweihter Wagen, der mit einem Tuch überdeckt ist. Diesen Wagen zu berühren ist nur einem Priester erlaubt. Er bemerkt, wann die Göttin im Allerheiligsten anwesend ist, und er begleitet sie voller Ehrfurcht, wenn sie auf ihrem von Kühen gezogenen Wagen fährt. Dann gibt es fröhliche Tage, und festlich geschmückt sind alle Orte, die die Göttin während ihres Besuches und Aufenthaltes würdigt. Dann gehen die Stämme nicht in den Krieg, und dann greifen sie nicht zu den Waffen; alle Schwerter sind eingeschlossen. Dann kennt man nur den Frieden, dann liebt man nur die Ruhe, bis der nämliche Priester die Göttin, die des Verkehrs mit Menschen satt geworden ist, zu ihrem Tempel zurückbringt. Dann werden der Wagen und das Tuch, und, wenn man dem Glauben schenken will, die Gottheit selbst in einem entlegenen See gewaschen. Diese Arbeit wird von Sklaven verrichtet, die bald darauf von demselben See verschlungen werden. Daher stammt das geheime Grauen und die fromme Unwissenheit, was das für ein Wesen sei, das nur Todgeweihte schauen dürfen.170

Wenngleich hier freilich eine interpretatio romana vorliegt und von römischen Reisenden gemachte Beobachtungen möglicherweise an den Kult der Magna Mater angeglichen wurden,171 lässt sich immerhin anhand der Gleichsetzung der Nerthus mit der römischen Erdgöttin bzw. Mutter Erde erschließen, dass es sich bei der beschriebenen kultischen Umfahrt um ein Fruchtbarkeitsritual handeln muss.172 Darauf deuten auch das Fungieren eines männlichen Priesters als Begleiter (Gemahl/Gefährte?) der Göttin sowie das Einhalten des Festfriedens173 während des „Besuchs“ der Nerthus hin. Da man den Namen des wanischen Gottes Njǫrðr von urgerm. *Nerþuz ableiten kann174, wurde angenommen, dass es sich bei Njǫrðr und Nerthus (deren Name dann eine latinisierte Form zu *Nerþuz darstellen würde) um dieselbe Gottheit 169 Tacitus, Germania, Kap. 40, S. 100. 170 Übersetzung nach Lund, Germania, S. 101. 171 Vgl. Hultgård, Kultische Umfahrt, S. 439. 172 Vgl. ebd. sowie Maier, Fruchtbarkeitskulte, S. 130. 173 Vgl. Turville-Petre, Myth and Religion, S. 172: „The days when Nerthus was present on her Island were days of peace (pax et quies). The days of Freyr [. . .] were days of peace (friðr) and prosperity (ár).“ 174 Hultgård, Anders: Art. „Nerthus und Nerthuskult“, in: RGA, Bd. 21. Berlin, New York, 2002, S. 85.

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handle, die im Quellenmaterial zu zwei unterschiedlichen Zeitepochen erwähnt wird.175 Tacitus’ Bericht über den Nerthuskult könnte somit als ein frühes Zeugnis der Wanenverehrung gedeutet und mit Freyja in Verbindung gesetzt werden. Diese These stößt jedoch aufgrund verschiedener Problematiken auf Kritik: So bestehe neben der großen zeitlichen Distanz beider Phänomene auch eine topographische; der Nerthuskult müsste sich also über weite Teile Skandinaviens ausgebreitet haben oder mehr oder weniger bei allen nordgermanischen Völkern verbreitet gewesen sein, was Tacitus jedoch offenbar nicht gewusst oder falsch interpretiert hätte.176 Überdies sei auch die Etymologie des Namens ‚Nerthus‘ selbst unsicher, da sich neben der handschriftlich am besten bezeugten Lesart nerthum auch herthum in Ausgaben der Germania findet.177 Als Schwierigkeit wird ebenfalls angesehen, dass der altnordischen Njǫrðr als männliche Gottheit dargestellt wird, während Nerthus bei Tacitus eine Göttin ist.178 Ohne an dieser Stelle die zahlreichen Theorien zur Lösung dieses Problems referieren zu wollen,179 sei jedoch darauf hingewiesen, dass man bei Fruchtbarkeitsgottheiten häufig Geschwisterpaaren begegnet. Dies kann darin begründet sein kann, dass es sich ursprünglich um ein androgynes Wesen handelte, welches sich im Lauf der Zeit in zwei unterschiedliche, aber miteinander in Bezug stehende Gottheiten aufspaltete. Diese Paare tragen häufig identische Namen, wie es in der altnordischen Mythologie bei Freyr und Freyja der Fall ist, den ebenfalls in einem inzestuösen Verhältnis zueinander stehenden Kindern des Njǫrðr und seiner nicht näher erwähnten Schwester. Angesichts des bereits erwähnten Umstands, dass die Namen ‚Freyr‘ und ‚Freyja‘ Tabunamen darstellen und nicht mehr als ‚Herr‘ und ‚Herrin‘ bedeuten, ist es zudem gut möglich, dass es sich bei beiden Generationen letztlich um ein und dasselbe Geschwisterpaar handelt, wobei das jüngere noch weitere Aspekte hinzugewonnen hat.180 Zumindest dürfte eine weibliche

175 Hultgård, Anders: Art. „Njörðr“, in: RGA, Bd. 21. Berlin, New York, 2002, S. 235. 176 Vgl. ebd. 177 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 237 sowie Hultgård, Nerthus, S. 85 f. Allan A. Lund spricht sich für die Bevorzugung der Lesart herthum bzw. Hertham aus: „Angenommen, Tacitus habe Nerthum geschrieben, ist dies als eine interpretatio Romana im Sinn von „römischer Verdolmetschung“ zu verstehen, weil er dann die Göttin Nerthus mit dem universellen Numen Terra mater identifiziert. Hat Tacitus dagegen Hertham geschrieben, ist dies auch als eine interpretatio Romana zu verstehen, weil Hertha gleichfalls mit der universellen Göttin Terra mater identifiziert wird. Allerdings gibt es den bemerkenswerten Unterschied zwischen den beiden Lesarten Nerthum bzw. Hertham, daß Terra mater gleichzeitig eine wortwörtliche Übersetzung des Namens der Göttin ins Lateinische ist, d. h., die Lesart Hertham ist eine interpretatio Latina, denn Hertha bzw. Ertha (h/H ist stumm) ist germanisch für Erde (vgl. eng. Earth). Es soll hinzugefügt werden, daß sich Tacitus darüber wohl kaum Gedanken gemacht hat und daß die Herstellung der Textstelle unsicher ist und bleibt.“ (s. Lund, Allan A.: „Zur interpretatio Romana in der ‚Germania‘ des Tacitus“, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 59 (4), 2007, S. 306 f.) 178 Vgl. Hultgård, Njörðr, S. 235. 179 Vgl. hierzu den Überblick bei Hultgård, Njörðr, S. 235–237. 180 Vgl. hierzu Böldl, Götter und Mythen, S. 236 sowie S. 238.

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Namensvariante zu Njǫrðr im nordgermanischen Bereich existiert haben, denn unter den zahlreichen mit ‚Njǫrðr‘ gebildeten teophoren Ortsnamen in Schweden, Norwegen und Dänemark, die von der großen Bedeutung des Gottes und der weiten Verbreitung seines Kultes im nordischen Heidentum zeugen, finden sich auch solche, die aus weiblichen Namensformen gebildet zu sein scheinen: so z. B. das aschwed. *N(i)ærdhastafer (in Urkunden aus dem 14. Jahrhundert Nærthastaff; heute Nälsta bei Stockholm).181 Bei der unbekannten Schwester des Njǫrðr in der eddischen Überlieferung könnte es sich also durchaus um eine Gestalt Namens Njǫrð/Njærð handeln,182 die sich wie ihr männliches Pendant aus einer ursprünglich androgynen Gottheit herausgebildet hat. Unabhängig von einer etwaigen Verbindung des Nerthuskultes mit der Wanenverehrung begegnet zwar nicht im Zusammenhang mit Freyja selbst, jedoch immerhin mit ihrem Bruder Freyr auch in der altnordischen Literatur das Motiv der kultischen Umfahrt, nämlich im Ǫgmundar þáttr dytts aus dem 13. Jahrhundert.183 Da der Isländer Gunnarr helmingr einen Totschlag begangen hat, flieht er von Norwegen nach Schweden und gelangt an eine Tempelstätte („hofstaðr“184), wo zu Ehren Freyrs ein großes Opferfest gefeiert wird. Gunnarr findet Aufnahme bei einer jungen Frau, die dem Tempel und dem dort praktizierten Kult vorsteht und als Gemahlin des lebendig gedachten Gottes185 („konu Freys“186) betrachtet wird. Der Isländer bleibt den Winter über dort und als die Zeit gekommen ist, in der Freyr und seine Gattin – vertreten von der wohl als Priesterin einzustufenden Frau – für eine gute Ernte zu Gastmählern herumgefahren werden,187 nimmt schließlich Gunnarr den Platz des Gottes ein. Er schwängert die Freyr-Priesterin, was von der Bevölkerung als mächtiges Zeichen von Freyrs Wohlwollen gewertet wird. Schließlich holt Gunnarrs Bruder ihn im Auftrag des Königs wieder nach Norwegen zurück, wo Gunnarr und die junge Priesterin – die König Óláfr taufen lässt – zum „rechten Glauben“, sprich dem Christentum, finden.188 Wenngleich das schwedische Heidentum in dieser Erzählung offensichtlich karrikiert wird und sie sich mit ihrer Polemik gut in die Legenden um Óláfr Tryggvason einfügt, bewahrt der

181 Vgl. ebd., S. 237 sowie Hultgård, Njörðr, S. 239. 182 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 238. 183 Vgl. ebd., S. 251. 184 S. „Ǫgmundar þáttr dytts“, in: Jónas Kristjánsson (Hg.): Eyfirðinga sǫgur. Reykjavík, 1956 (Íslenzk Fornrit, 9), S. 112. 185 S. Ǫgm, ÍF 9, S. 112: „[. . .] var þat átrúnaðr landsmanna, at Freyr væri lifandi [. . .].“ / „[. . .] es war der Glaube der Landesbewohner, dass Freyr lebendig wäre [. . .].“ 186 S. ebd. 187 S. Ǫgm, ÍF 9, S. 113: „Vel líkar mǫnnum til þin, ok þykkir mér ráð, at þú sér hér í vetr ok farir á veizlur með okkr Freyr, þá er hann skal gera mǫnnum árbót [. . .].“ / „Die Menschen mögen dich gern, und ich halte es für ratsam, dass du im Winter hier wärst und mit Freyr und mir zu Gastmählern fährst, wo er den Menschen einen besseren Ernteertrag geben soll [. . .].“ 188 Die ganze Episode findet sich in Ǫgm, ÍF 9, S. 112–115; zu der hier gegebenen Zusammenfassung vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 251 sowie Hultgård, Kultische Umfahrt, S. 440 f.

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Ǫgmundar þáttr dytts mit dem Motiv der kultischen Umfahrt dennoch aller Wahrscheinlichkeit nach einen religionsgeschichtlich authentischen Kern,189 der auf realer Kultausübung beruhen könnte, wie sie im Fall der Nerthus für den nordgermanischen Bereich belegt ist. Es ist durchaus möglich, dass solche Umfahrten auch im Kontext der kultischen Verehrung Freyjas durchgeführt und damit der Mythos ihrer Gattensuche rituell rekreiert wurde. Immerhin dient der Göttin laut Snorri ein von Katzen gezogener Wagen als Transportmittel („En er hon ferr, þá ekr hon kǫttum tveim ok sitr í reið.“190 / „Und wenn sie reist, dann fährt sie mit einem von zwei Katzen gezogenen Gespann und sitzt am Zügel.“) – ein Merkmal, welches sie mit der vorderorientalischen Göttin Kybele teilt, deren Wagen von Löwen gezogen wird. Ob es sich hierbei um eine Entlehnung oder ein originäres Attribut Freyjas handelt, lässt sich nicht entscheiden; bedeutend erscheint in diesem Zusammenhang jedoch, dass auch die überaus reichen Verzierungen des im Oseberggrab bei Oslo gefundenen Kultwagens Katzenornamentik aufweisen.191 Des Weiteren ist ein ebenfalls in diesem Grab befindlicher Schlitten mit Katzenköpfen ausgestattet.192 Unter den Beigaben gefundene Fragmente eines Wandteppichs zeigen zudem Szenen mit Pferden, Wagen und Personen, die Speere, Stäbe und Schwerter tragen, was als Abbildung einer kultischen Umfahrt interpretiert werden kann.193 Das Oseberggrab, eines der reichsten wikingerzeitlichen Gräber überhaupt, war die letzte Ruhestätte zweier Frauen und vieles deutet daraufhin, dass beide oder zumindest eine von ihnen priesterliche Funktionen ausübte, die mit dem Kult Freyjas in Verbindung standen.194 Teils wird das Oseberggrab sogar als Grab einer vǫlva interpretiert, da sich darin auch ein 107 cm langer Stab befand, der in einer Truhe deponiert worden war.195 In jedem Fall zeigen die Beigaben des Oseberggrabes, dass kultische Umfahrten auch im alten Skandinavien Bestandteil der Kultausübung gewesen sein dürften, und bestätigen somit den Wahrheitsgehalt der burlesken Freyr-Umfahrt im Ǫgmundar þáttr dytts. Neben den vorgenannten Belegen weisen noch weitere Mosaikstücke der altnordischen Überlieferung Freyja als eine mit Ortsunfestigkeit assoziierte Gottheit aus: So unternimmt sie in den Hyndluljóð eine Reise in chthonische Sphären, nämlich zu dem in einer Höhle gelegenen Wohnort der Riesin Hyndla, um von dieser

189 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 252. 190 Gylf 24, Faulkes, SnE, S. 25. 191 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 257 sowie Ingstad, Anne Stine: „The interpretation of the Oseberg-find“, in: Crumlin-Pedersen, Ole; Munch Thye, Birgitte (Hgg.): The Ship as Symbol in Prehistoric and Medieval Scandinavia. Papers from the International Research Seminar at the Danish National Museum, Copenhagen, 5th–7th May 1994. Copenhagen, 1995 (Publications from the National Museum / Studies in archaeology & history, 1), S. 144. 192 Vgl. Ingstad, Oseberg-find, S. 146. 193 Vgl. ebd., S. 142 f. 194 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 257 f. 195 Vgl. Ingstad, Oseberg-find, S. 141 f.

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genealogisches Wissen für ihren Schützling Óttar zu erfragen. Hier spielt Freyja einen ganz ähnlichen Part wie Óðinn, der sich normalerweise in der eddischen Überlieferung als Wissenssuchender zu den Riesen begibt.196 Außerdem dürfte die Vǫluspá einen Hinweis auf Elemente der Ortsunfestigkeit im Mythos Freyjas bereithalten, denn einiges spricht dafür, dass Freyja identisch mit der rätselhaften Frauengestalt Gullveig/Heiðr ist, welche das eddische Lied im Zusammenhang mit der Vorgeschichte des Krieges zwischen Asen und Wanen in den schwer zu interpretierenden Strophen 21 und 22 erwähnt. Der Name Gullveig ist nur an dieser Stelle belegt und bedeutet wahrscheinlich „the ‘power’, the ‘drink’, even the ‘the drunkenness of gold’, and hence the madness and corruption caused by this precious metal“197, was die Zugehörigkeit seiner Trägerin zu den Wanen unterstreicht und stark in Richtung Freyjas weist: Die Namensglieder gull (‚Gold‘) und veig ((poet.)‚Rauschtrank‘, ‚Stärke‘) wecken Reminiszenzen an Freyjas engen Bezug zu Gold und Zauber(tränken)198 sowie an ihr kriegerisches Potential. Da Gullveig weder durch den Einsatz von Speeren noch durch Feuer verletzt werden kann, scheitert der Versuch der Asen, sie zu töten: Þat man hon fólcvíg fyrst í heimi, er Gullveigo geirom studdo oc í hǫll Hárs hána brendo; þrysvar brendo, þrysvar borna, opt, ósialdan, þó hon enn lifir.199 Sie erinnert sich des ersten Kampfes in der Welt, als sie Gullweig mit Speeren stießen und sie in der Halle des Hohen [Óðinn] verbrannten; dreimal brannten sie die dreimal Geborne, oft, nicht selten, doch sie lebt noch.200

Aufgrund ihres enormen regenerativen Potentials erweist sich die unsterbliche und somit unkontrollierbare wanische Frauengestalt als immense Bedrohung für die Asen.201 Der Angriff auf Gullveig markiert den Anfang des Konflikts zwischen den beiden Göttergeschlechtern, welcher der Vǫluspá zufolge in einer lange währenden kriegerischen Auseinandersetzung kulminiert. Da es den Asen in der Folge nicht gelingt, 196 S. Hdl, Neckel; Kuhn, Edda, S. 287–296. 197 Turville-Petre, Myth and Religion, S. 159. 198 Im Sǫrla þáttr manipuliert Freyja alias Gǫndul das Erinnerungsvermögen Heðinns durch einen Trank (vgl. Sǫrla, Flat, Bd. 1, S. 280); in den Hyndluljóð bringt sie die Riesin Hyndla dazu, Óttar einen Erinnerungstrank zu reichen, und kann dessen Vergiftung und die Verwünschungen Hyndlas unschädlich machen (vgl. Hdl, Str. 48–50, Neckel; Kuhn, Edda, S. 296); vgl. hierzu Heizmann, Freyja, S. 295 f. 199 Vsp, Str. 21, Neckel; Kuhn, Edda, S. 5. 200 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 19. 201 Vgl. Heizmann, Freyja, S. 296.

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die über einen speziellen Zauber namens vígspá verfügenden Wanen zu besiegen, muss der Konflikt schließlich durch Verhandlungen gelöst werden. Was genau dieser Zauber beinhaltet, wird nicht erwähnt, anhand des fehlgeschlagenen Versuchs, Gullveig zu töten, und der offensichtlichen Unbesiegbarkeit der Wanen kann jedoch davon ausgegangen werden, dass hiermit enorme magische Kräfte der Wiederbelebung gemeint sein müssen. In der unmittelbar darauffolgenden Strophe der Vǫluspá ist die Rede von einer vǫlva namens Heiðr, welche mittels seiðr den Kult der Asen zu unterminieren scheint: Heiði hana héto, hvars til húsa kom, vǫlo velspá, vitti hon ganda; seið hon, hvars hon kunni, seið hon hug leikinn, æ var hon angan illrar brúðar.202 Heid hießen sie sie, wo sie ins Haus kam, die wohl weissagende Seherin, sie trieb Zauber; sie zauberte, wo sie konnte, sie zauberte besinnungslos, stets war sie die Freude schlechter Frauen.203

Da sich dieser Name vom Adjektiv heiðr ableiten lässt und mit ‚die Heitere‘, ‚die Strahlende‘ wiedergegeben werden kann204, handelt es sich hierbei um ein Echo des Namens Gullveig und wohl sogar ein und dieselbe Gestalt.205 Sowohl Gullveig als auch Heiðr sind also aller Wahrscheinlichkeit nach Personifikationen oder Pseudonyme der Göttin Freyja, der Erzzauberin der primordialen Vorzeit,206 welche „now in human form with a human vǫlva’s name, Heiðr“207, die Häuser der Menschen aufsucht und dort ihre mit Prophetie (vǫlo velspá), Trance (seið hon hug leikinn)208 und dem Aussenden von Geistern (ganda)209 assoziierte Magie zur „Freude schlechter 202 Vsp, Str. 22, Neckel; Kuhn, Edda, S. 5 f. 203 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 19. 204 Eine andere Interpretation stellt den Namen zum Substantiv heiðr in der Bedeutung „‚Heide‘, ödes, unbebautes Hochland“ (s. Baetke, S. 239; vgl. hierzu McKinnell, Meeting the Other, S. 90), mit anderen Worten ‚Wildnis‘. Diese Variante setzt den Namen in engen Bezug mit der útgarðrSphäre; Dronke sieht auch in dieser Herleitung einen „fitting name for a follower of the Vanir cult“ (Dronke, Poetic Edda, Bd. 2, S. 131). 205 Zudem wird Heiðr in der altnordischen Literatur stereotyp als Name für vǫlur verwendet (vgl. McKinnell, Meeting the Other, S. 90) und ist wohl als eine Art Funktionsname zu deuten (vgl. Heizmann, Freyja, S. 296). 206 Vgl. Heizmann, Freyja, S. 296. 207 Dronke, Poetic Edda, Bd. 2, S. 42. 208 Vgl. Strömbäcks Interpretation der Strophe in Sejd, S. 18–21, besonders S. 19: „Uttrycket syftar, enligt min tanke, på den extas, som sejdutövaren försatte sig i vid sejdens utförande.“ 209 Es ist unklar, was man sich genau unter gandr vorzustellen hat. Am wahrscheinlichsten ist eine Deutung als Geisterwesen, welches der bzw. die seiðr-Praktizierende aussenden und wieder zu sich rufen kann, um Informationen zu erhalten. Diese Informationen beziehen sich zum einen auf zukünftige Geschehnisse (vgl. Dronke, Poetic Edda, Bd. 2, S. 132 f.), zum anderen sind sie jedoch

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Frauen“ (angan illrar brúðar) ausübt.210 Ursula Dronke deutet die Passage so, dass es Heiðr durch dieses (zumindest aus Sicht der Asen) negativ konnotierte Treiben gelingt, die Menschen für ihren Kult – den Kult der Wanen – zu begeistern: The second scene from the Æsir-Vanir war recalls the insidious passage of [. . .] Heiðr [. . .] through the homes of men, as vǫlva and seiðkona, prophesying prosperity, seducing human society into allegiance to her cult – the cult of the Vanir – by fascination of the occult practices of seiðr and the ribaldries of its ritual.211

Akzeptiert man die Gleichsetzung Freyjas mit Gullveig/Heiðr, so fungiert die Göttin in der Vǫluspá als prototypische vǫlva, die von Haus zu Haus zieht und ist somit auch in diesem Zeugnis mit Ortsunfestigkeit konnotiert. In Freyjas Mythos ist das Element der Ortsunfestigkeit also durchaus vorhanden und eng mit ihrer Funktion als Vegetationsgöttin sowie ihrer Zugehörigkeit zum Geschlecht der Wanen verbunden. Wie Óðinn agiert auch Freyja unter zahlreichen Pseudonymen und unternimmt weite Reisen. Der Vǫluspá lässt sich zudem entnehmen, dass das Umherziehen Freyjas mit der Ausübung von Magie einhergeht, was bereits als typische Merkmalskombination festgehalten werden konnte.

auch dienlich, um Schaden zu verursachen (vgl. Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 271). Dronke betrachtet die gandir dementsprechend als „informative spirits“ (Dronke, Poetic Edda, Bd. 2, S. 133). Vom gandr wurde offenbar angenommen, dass er Tiergestalt annehmen konnte; er galt als gefährlich und schadenverursachend. Der Begriff gandr kann allerdings auch ‚Stab‘ bedeuten; sein Derivat gǫndull bedeutet sowohl Zauberstab als auch Penis (vgl. de Vries, Etym. Wörterbuch, S. 199), was auf eine mit den gandir bzw. ihrem Aussenden verknüpfte sexuelle Komponente hindeutet (vgl. Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 271). Eldar Heide zufolge könnte dies mit dem Phänomen der phallischen Aggression zusammenhängen (vgl. Heide, Spinning seiðr, S. 167 f.). Die gandir stellen also womöglich ein sexuelles Element innerhalb der Ausübung des seiðr dar. Ein interessantes Detail hierbei ist, dass Freyja im Sǫrla þáttr unter dem (sonst für Walküren belegten) Namen Gǫndul in Erscheinung tritt und Gǫndlir zugleich zu den Odinsnamen zählt (vgl. Falk, Odensheite, S. 14 sowie de Vries, Etym. Wörterbuch, S. 199) – beide göttlichen seiðr-Wirker wären in diesem Punkt also mit dem Bedeutungsfeld Geisterwesen-Stab-Penis assoziiert. Die gandir scheinen in jedem Fall Ähnlichkeiten mit den Hilfsgeistern (samischer) Schamanen zu haben: In der Historia Norvegiæ wird ein Ritual geschildert, in dem samische Schamanen, denen prophetische Kräfte zugeschrieben werden, einen gandus aussenden (s. HistNorv, Kap. 4, S. 62; vgl. hierzu Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 271; Dronke, Poetic Edda, Bd. 2, S. 132 f.). Der christliche Autor betrachtet den gandus eindeutig als einen bösen Geist („ille diabolicus gandus“; s. HistNorv, Kap. 4, S. 62); seine Einschätzung lässt sich folgendermaßen subsumieren: Es handelt sich um einen dämonischen Geist; er hilft dem Schamanen, indem er ihm die Zukunft oder aktuelle Geschehnisse offenbart oder es ihm ermöglicht, weit entfernte Schätze zu bergen; wenn dem gandus etwas zustößt, trifft dies auch denjenigen, der ihn ausgesandt hat; er kann die Seelen von Menschen stehlen; er reist mit Tieren, Schiffen, Schneeschuhen; er kann die äußere Gestalt von Walen/Wassertieren sowie die anderer Objekte annehmen (s. HistNorv, Kap. 4, S. 62; vgl. zu diesem Überblick auch Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 264 f.). 210 Vgl. Heizmann, Freyja, S. 296. 211 Dronke, Poetic Edda, Bd. 2, S. 41 f.

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2.4 Fähigkeit zu Seelenreise und Gestaltwandel Eine weitere wichtige Erscheinungsform der Ortsunfestigkeit, mit welcher seiðr und seine Praktizierenden in der altnordischen Literatur in Verbindung gebracht werden, ist die Fähigkeit zur Seelenreise. Diese ist im Kontext der altnordischen Seelenvorstellungen zu betrachten, die bereits im Zusammenhang mit den Phänomenen der Nachtreiterei und der mara verschiedentlich in der vorliegenden Untersuchung angesprochen wurden. Wie zahlreiche andere traditionelle Kulturen kennt auch die altnordische diverse „seelische Epiphanien“212, die jedoch im begrenzten Rahmen dieser Dissertation nicht detailliert vorgestellt werden können. Am bedeutendsten für das Verständnis der altnordischen Vorstellungen zur Seelenreise ist die Unterscheidung zwischen folgenden beiden Erscheinungsformen der Seele: Zum einen besitzt der Mensch eine ‚Vitalseele‘ (an. fjǫr, ‚Leben‘)213, die für seine Lebenskraft steht bzw. ihm überhaupt erst menschliches Leben verleiht und bei deren Verlust der Tod eintritt, zum anderen eine ‚Freiseele‘, welche den Menschen mit Ich-Bewusstsein ausstattet und ihm „Erkenntnis-, Erinnerungsvermögen, Willenskraft“214 verleiht. Als altnordisches Äquivalent der Freiseele kann der Begriff hugr betrachtet werden215, der sich auf die kognitiven Fähigkeiten des Menschen, also sein Vermögen zu denken und zu planen, bezieht.216 Baetke verzeichnet in seinem Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur eine ganze Fülle an Übersetzungsmöglichkeiten für hugr, die in ihrer Gesamtheit ebenfalls in Richtung der kognitiven Fähigkeiten eines Menschen weisen. Demnach kann an. hugr u. a. mit „Sinn; Seele, Herz, Gemüt; Gesinnung; [. . .] Ansicht; Gedanken; Gedächtnis; innere Stimme, Ahnung“217 wiedergegeben werden. Während die Vitalseele als „das Prinzip vegetativ-animalischen Lebens im Menschen“218 eng an dessen Körper gebunden ist, ist die Verbindung der Freiseele mit dem Körper – wie ihr Name schon sagt – sehr viel loser: Im Schlaf verlässt sie diesen und geht im Traum auf Exkursion, weswegen sie auch als ‚Exkursionsseele‘ bezeichnet

212 Hasenfratz, Seelenvorstellungen, S. 38. 213 Vgl. zur Gleichsetzung von an. fjǫr mit der Vitalseele Hasenfratz, Seelenvorstellungen, S. 39. 214 Ebd., S. 37. 215 Vgl. ebd. sowie Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 187. 216 Hasenfratz und Tolley führen an, dass es sich bei hugr mehr um eine Ichseele als eine Freiseele (Tolley) bzw. um beides gleichermaßen (Hasenfratz) handelt, da die Ichseele typischerweise als der Sitz des Denkens, des Willens und der Emotionen betrachtet wird (vgl. Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 187; Hasenfratz, Seelenvorstellungen, S. 39). Da aber die Frei- bzw. Exkursionsseele auch als Ichseele fungieren kann, wenn der Mensch schläft und träumt und dann sozusagen anstelle der Ichseele die Kontrolle übernimmt (vgl. Hasenfratz, Seelenvorstellungen, S. 37), habe ich in der obigen Darstellung auf diese exaktere Unterteilung und die daraus resultierende Präzisierung des Bedeutungsgehalts von hugr verzichtet. 217 Baetke, Wörterbuch, S. 279. 218 Hasenfratz, Seelenvorstellungen, S. 37.

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werden kann. Dabei wird der Körper des Schläfers gemäß universell verbreiteter Vorstellungen als „entseelt“ betrachtet:219 Weckt man einen Schlafenden plötzlich oder bewegt man ihn im Schlaf, so kann es dazu kommen, dass seine Freiseele nicht mehr zurück in den Körper findet (bzw. sich nicht in diesen zurückzukehren traut), was zum Tod des Schlafenden führt.220 Auch bei großem Schrecken, übermäßiger Erregung („Außersichsein“) oder Ohnmacht verlässt die Freiseele dieser Anschauung nach den Körper, der deswegen in einen Zustand der Regungslosigkeit verfällt.221 Das Austreten der Freiseele aus dem Körper kann jedoch von Ritualspezialisten bzw. Ritualspezialistinnen durch bestimmte Techniken auch bewusst herbeigeführt werden: Sie sind in der Lage, ihre Seelen vom Körper zu trennen und auf Exkursion zu schicken. Dies geschieht einerseits, um zum Wohl der Gemeinschaft bestimmte Aufgaben wie eine Divination durchzuführen oder Kontakt mit Geisterwesen, Göttern oder Ahnen aufzunehmen, kann jedoch auch in destruktiver Absicht erfolgen, um ungebunden an einen physischen Körper anderen Menschen Schaden an Leib und Seele zuzufügen. Erstere Variante fällt unter die Kategorie der schamanistischen Praktiken bzw. des Schamanismus, die zweitere ist dem Schadenszauber bzw. der Hexerei zuzuordnen.222 Bereits hier zeichnet sich ab, dass sich auch die Intention der Seelenreise mittels seiðr (analog zu den Einsatzmöglichkeiten dieser Magieform sowohl als Schadenszauber wie auch zum Nutzen der Gemeinschaft) zwischen diesen beiden Polen bewegen dürfte. Mit altnordischen Seelenbegrifflichkeiten ausgedrückt, lässt sich die Seelenreise so beschreiben, dass eine Person ihre Freiseele (hugr) aussendet, um sie Gestalt (hamr) annehmen zu lassen. Der Begriff hamr bezieht sich auf die äußere Erscheinung, sozusagen die „Hülle“ eines Menschen.223 In seiner Grundbedeutung bezeichnet hamr das Fell eines Tieres, insbesondere ein Vogelfell – also die abgezogene Haut eines Vogels samt Befiederung.224 Vergleichbar sind gotisch gahamon ‚sich ankleiden‘ und althochdeutsch hamo ‚Haut‘, ‚Schale‘, ‚Kleidung‘.225 In der Eyrbyggja saga dient die Wendung „eigi einhamr“226 („nicht von einer Gestalt“) zur Charakterisierung der Nebenfigur Þrandr und bedeutet, dass dieser nicht nur auf eine immer mit sich selbst identische äußere Erscheinungsform festgelegt ist, sondern auch andere Gestalt anzunehmen vermag.227 Jemand, der auf diese Weise beschrieben wird, kann sich mittels magischer oder schamanistischer Praktiken zeitweise ein anderes Äußeres verleihen

219 Vgl. ebd. 220 Vgl. ebd. 221 Vgl. ebd. 222 Vgl. ebd. 223 Vgl. Böldl, Eigi einhamr, S. 109. 224 Vgl. Cleasby; Vigfusson, Icelandic-English Dictionary, S. 236. 225 Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 193. 226 Eb, Kap. 61, ÍF 4, S. 165. 227 Vgl. Böldl, Eigi einhamr, S. 109.

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und sich etwa in ein Tier verwandeln.228 Zur Beschreibung einer solchen Transformation werden im Altnordischen die Ausdrücke hamask, skipta hǫmum und vixla hǫmum gebraucht.229 Zu diesem Konzept gehören auch die Begriffe hamfar („Zauber-, Hexenfahrt, -ritt“230), hamramr („fähig, die Gestalt zu wechseln; über übermenschliche, Berserkerkräfte verfügend“231) sowie hamhleypa („Wesen, das seine Gestalt vertauscht hat“232). Ursprünglich bedeutete hamhleypa offenbar „der, der seinen hamr laufen läßt“233; aus den konkreten Erzählzusammenhängen lassen sich Strömbäck zufolge die Bedeutungen „menschliches oder dämonisches Wesen, das von einer zauberkundigen Person ausgeht“234 bzw. „hamr einer zauberkundigen Person, der sich anderen offenbart“235, ableiten.236 Wie oben dargelegt, ist die zugrundeliegende Vorstellung dabei, dass ein gewisser Personenkreis dazu fähig ist, sich in einen Zustand der Trance oder Ekstase zu versetzen, in dem seine Freiseele sich vom Körper löst und dann in anderer Erscheinungsform auf Reisen gehen kann. Die Seelenreise und der Gestaltwandel sind somit nur zwei Aspekte desselben Phänomens237 – und beide Ausprägungen zählen zu den Fähigkeiten menschlicher seiðr-Praktizierender sowie zu denen des göttlichen seiðr-Wirkers Óðinn. Letzteren präsentiert die Ynglinga saga als meisterlichen Beherrscher der Seelenreise und der mit ihr assoziierten Tierverwandlung: Óðinn skipti hǫmum. Lá þá búkrinn sem sofinn eða dauðr, en hann var þá fugl eða dýr, fiskr eða ormr ok fór á einni svipstund á fjarlæg lǫnd at sínum ørendum eða annarra manna.238 Óðinn wechselte die Gestalt. Sein Körper lag dann wie schlafend oder tot, aber er war da ein Vogel oder wildes Tier, ein Fisch oder eine Schlange und er reiste in einem einzigen Augenblick in seiner oder anderer Leute Anliegen in weit entfernte Länder.

Während der vermenschlichte Óðinn wie schlafend oder tot daliegt, geht seine Seele also in Tiergestalt auf Reisen239 – ungebunden an Zeit und Raum240, weil sie enorme Distanzen in einem kurzen Augenblick zurückzulegen vermag. Da diese Schilderung stark an die rituelle Ekstase eines Schamanen erinnert sowie aufgrund weiterer Züge des Gottes, die „sich zu einem Vergleich mit nördlichen eurasischen Religionsformen

228 Vgl. ebd. 229 Vgl. ebd., S. 109 f. sowie de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 1, S. 222 f. 230 Baetke, Wörterbuch, S. 229. 231 Ebd. 232 Ebd. 233 Böldl, Eigi einhamr, S. 110. 234 Ebd. 235 Ebd. 236 Vgl. ebd. sowie Strömbäck, Sejd. S. 162 f., Anm. 4. 237 Vgl. Hasenfratz, Seelenvorstellungen, S. 38. 238 Hkr I, Yngl saga, Kap. 7, ÍF 26, S. 18. 239 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 21. 240 Vgl. Hasenfratz, S. 37.

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hergeben“241, wird Óðinn in der Forschung häufig als schamanistischer Gott verstanden oder zumindest im Kontext des nordeurasischen Schamanismus betrachtet, um sein Wesen besser erklären zu können.242 Ebenfalls besteht eine starke Tendenz dazu, den seiðr, immerhin eine Magieform, derer sich Óðinn bedient, als schamanistische Praxis zu interpretieren.243 Hierbei steht neben diversen Vergleichsmomenten – unter anderem der Zweck der Weissagung der Zukunft sowie die zentrale Rolle des Gesangs für die Durchführung des Rituals – vor allen Dingen die Frage nach dem ekstatischen Charakter der Ausübung des seiðr im Mittelpunkt der Diskussion. Wie bereits in Kapitel V 2.2 erörtert, herrscht insbesondere Uneinigkeit darüber, ob die vǫlva in der berühmten seiðr-Episode in Kapitel 4 der Eiríks saga rauða in Trance gerät: Strömbäcks Deutung der varðlok(k)ur als Gesang, welcher der Freiseele der im Rahmen des seiðrRituals in Ekstase geratenen Þorbjǫrg lítil-vǫlva helfen soll, in ihren Körper zurückzufinden244, wird insbesondere von Dillmann abgelehnt.245 Selbst wenn in dieser seiðrEpisode auch meines Erachtens ein ekstatischer Zustand der vǫlva nicht ersichtlich wird, deuten andere Belege darauf hin, dass die Praxis des seiðr durchaus mit dem Evozieren von Trancezuständen verbunden gewesen sein dürfte: So heißt es von der prototypischen vǫlva Heiðr in der Vǫluspá „seið hon hug leikinn“246. Dieser Ausdruck bedeutet nichts anderes, als dass sich die Freiseele (hugr) Heiðrs bei ihrer Ausübung des seiðr frei bewegt, spielt bzw. tanzt (leika) – hiermit scheint ein entrückter Trancezustand der vǫlva impliziert zu werden.247 Krause übersetzt den Begriff hugleikin(n) mit „besinnungslos“248, während Turville-Petre die betreffende Wendung mit „she cast spells in a trance“249 wiedergibt. Zudem wird in der Hrólfs saga kraka von einer ebenfalls Heiðr genannten vǫlva berichtet, dass sie gähnt, ehe sie ihre Prophezeiung offenbart, welche regelrecht über sie zu kommen scheint und nicht aktiv von der Seherin selbst getroffen wird: „Hun slær þä j sundur kiaptinum og geyspar miǫg og vard liodur áá munni.“250 / „Da öffnet sie ihren Kiefer und gähnt sehr, und es entstand ein Vers in ihrem Mund.“ Das Gähnen der seiðr-Praktizierenden ist ein unverkennbares Anzeichen dafür, dass sie sich in einen Trancezustand begibt; ist doch der Mund nach weit verbreiteter Vorstellung der Ort, an dem die Seele eines Menschen aus dem Körper tritt. Darüber hinaus wird deutlich, dass die vǫlva keine bewusste Kontrolle

241 Hultgård, Wotan-Odin, S. 778. 242 Vgl. ebd. 243 Vgl. hierzu den forschungsgeschichtlichen Überblick in Kapitel I.4 der vorliegenden Untersuchung sowie Dillmann, Magiciens, S. 269–308. 244 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 139. 245 Vgl. Haid; Dillmann, Zauber, S. 864 sowie Dillmann, Magiciens, S. 275–308. 246 Vsp, Str. 22, Neckel; Kuhn, Edda, S. 5 f. 247 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 18–21 sowie Heizmann, Freyja, S. 296; zum Begriff leika im Kontext von Seelenreise vgl. auch Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 189 f. 248 Vgl. Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 19. 249 Turville-Petre, Myth and Religion, S. 157. 250 Hrólf, Kap. 3, EA B 1, S. 10.

2 Ortsunfestigkeit bei seiðr-Praktizierenden

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über die Verse hat, die sie im Rahmen dieser seiðr-Séance spricht. Diese Hinweise genügen in meinen Augen durchaus, um seiðr als eine mit dem Erzeugen von Ekstase – welche ja letztlich überhaupt die Voraussetzung für die Fähigkeit zur Seelenreise darstellt – verbundene magische Praktik zu werten. Eine Tierverwandlung Óðinns ohne Hinweise auf eine veritable Seelenreise des Gottes spielt im Mythos von der Gewinnung des Skaldenmets eine wichtige Rolle:251 Gemäß der in den Skáldskaparmál tradierten Version verwandelt sich der unter dem Pseudonym Bǫlverkr agierende Gott zunächst in eine Schlange, um zu Gunnlǫð, der riesischen Bewacherin des Mets, zu gelangen, und später in einen Adler, um mit dem begehrten Trank zu entkommen: Þá brask Bǫlverkr í orms líki ok skreið í nafars raufina [. . .]. Fór Bǫlverkr þar til sem Gunnlǫð var ok lá hjá henni þrjár nætr, ok þá lofaði hon honum at drekka af miðinum þrjá drykki. Í inum fyrsta drykk drakk hann alt ór Óðreri, en í ǫðrum ór Boðn, í in˂um˃ þriðja ór Són, ok hafði hann þá allan mjǫðinn. Þá brask hann í arnaham ok flaug sem ákafast.252 Da nahm Bǫlverkr schnell die Gestalt einer Schlange an und kriecht in das Bohrloch [. . .]. Bǫlverkr begab sich dorthin, wo Gunnlǫð war und teilte drei Nächte das Lager mit ihr, und sie versprach ihm, drei Züge vom Met trinken zu dürfen. Beim ersten Schluck trank er alles aus Óðrerir, beim zweiten aus Boðn, beim dritten aus Són, und da hatte er den ganzen Met. Da verwandelte er sich schnell in Adlergestalt und flog so schnell es ging [davon].

Bei Freyja, der weiblichen göttlichen seiðr-Meisterin, wird eine Fähigkeit zur Seelenreise oder zum Gestaltwandel indessen kaum erkennbar: Sie besitzt zwar ein Federgewand (fjaðrhamr), welches seinen Träger in ein Tier verwandeln könnte, verwendet dieses jedoch nie selbst. In der Þrymskviða leiht Loki sich Freyjas fjaðrhamr aus, um nach Jǫtunheimr zu fliegen.253 Das Gewand verleiht also Flugfähigkeit – ob und zu welchem Grad es auch die Gestalt desjenigen verändert, der es anlegt, wird jedoch nicht erwähnt. Es scheint allerdings die Vorstellung damit verbunden zu sein, dass das Fell bzw. die Haut eines Tieres dessen Natur in sich birgt und dessen Eigenschaften somit beim Anlegen von Tierfell bzw. -haut übertragen werden. So werden auch Sigmundr und Sinfjǫtli in der Vǫlsunga saga durch das Überstreifen von Wolfspelzen (úlfahamir) zu Wölfen.254 Eine mögliche Verbindung Freyjas zu Trance und Ekstase ergibt sich dann, wenn man sie mit der Zauberin Heiðr der Vǫluspá identifiziert, von der es heißt, sie betriebe seiðr in ekstatischem Zustand. Beide Hinweise sind jedoch zu wenig ausgeprägt, um die Fähigkeit zu Seelenreise und Gestaltwandel als eine charakteristische Eigenschaft Freyjas bezeichnen zu können.

251 252 253 254

Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 164. Skáldsk G58, Faulkes, Bd. 1, S. 4. S. Þrk, Str. 3–4; Neckel; Kuhn, Edda, S. 111. S. Vǫls, Kap. 8, STUAGNL 36, S. 15 ff.

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VII Eigenschaften des Schwellenzustands und seiðr: Ortsunfestigkeit

Für Gestaltwandel und Seelenreise menschlicher seiðr-Praktizierender finden sich in der altnordischen Literatur nur wenige vollwertige Belege,255 von denen zwei im Folgenden näher vorgestellt werden sollen. In Kapitel 18 der Kormáks saga kommt es zu einer Konfrontation zwischen Kormákr und einem als hrossvalr bezeichneten Meereswesen, welches neben seinem Schiff auftaucht. Als Kormákr den hrossvalr mit einer Wurfwaffe verletzt, versinkt dieser. Die Seeleute meinen, die Augen des Untiers als die der Zauberin Þórveig erkannt zu haben. In der Tat stirbt diese wenig später, wobei deutlich impliziert wird, dass sie den Verletzungen erliegt, welche sie auf ihrer Seelenreise in Gestalt des hrossvalr erlitten hat:256 Þá er þeir brœðr létu ór læginu, kom upp hjá skipinu hrosshvalr. Kormákr skaut til hans pálstaf, ok kom á hvalinn, ok søkkðisk. Þóttusk menn þar kenna augu Þórveigar. Þessi hvalr kom ekki upp þaðan í frá, en til Þórveigar spurðisk þat, at hon lá hætt, ok er þat sǫgn manna, at hon hafi af því dáit.257 Als die Brüder vom Ankerplatz ablegten, tauchte neben dem Schiff ein hrossvalr auf. Kormákr warf eine schwere Wurfwaffe nach ihm, und traf den Wal, und der versank. Da schien es den Männern, als ob sie Þórveigs Augen erkannten. Dieser Wal tauchte von da an nicht mehr auf, aber von Þórveig erzählte man sich, dass sie schwer verletzt darniederlag und die Leute erzählen, dass sie daran gestorben sei.

Dillmann hat aufgezeigt, dass es sich bei dem hrossvalr nicht etwa um ein Walross oder eine Art Wal258 handelt, sondern vielmehr um ein Fabeltier der altnordischen Überlieferung, das dafür bekannt ist, Schiffe derart heftig zu attackieren, dass diese havarieren. Charakteristisches Merkmal dieses Meeresungeheuers sind seine enorm großen Augen, weswegen Þórveigs Metamorphose in ebendiese Gestalt wiederum als Verweis auf den seiðr-Praktizierenden sowie Magikern generell in der altnordischen Literatur zugeschriebenen besonderen Blick gewertet werden kann.259 Das zweite aussagekräftige Beispiel für eine Seelenreise seiðr-Praktizierender findet sich in der Friðþjófs saga frækna: Hier üben zwei Frauen seiðr aus und erscheinen andernorts auf einem Wal reitend auf dem Meer, wo sie den Titelhelden angreifen. Dieser erschlägt

255 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 160. Als ein indirekter Beleg wäre hier besonders der Gestalttausch Signýs mit der seiðkona in Vǫls, Kap. 7, STUAGNL 36, S. 13 f. zu nennen. 256 Vgl. Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 196. 257 Korm, Kap. 18, ÍF 8, S. 265 f. 258 Vgl. die Übersetzungsvorschläge bei Baetke, Wörterbuch, S. 276. 259 Vgl. dazu Dillmann, Magiciens, S. 247–258; s. auch Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 196 und Kapitel V 1.3 der vorliegenden Arbeit.

2 Ortsunfestigkeit bei seiðr-Praktizierenden

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die Erscheinungen mit dem Resultat, das die beiden seiðr-Wirkerinnen mit gebrochenem Rücken von ihrem Zaubergerüst stürzen:260 Þá fór Friðþjófr í tré upp ok sagði félǫgum sínum, er hann kom ofan: „Ek leit mjǫk undarliga sýn. Stórhveli lagðiz í hring um skipit, ok er mér grunr, at vér munum komnir nærri landi einhverju, ok mun hann vilja banna oss landit. [. . .] Konur sé ek II á baki hvalnum, ok munu þær valda þessum úfriðarstormi með sínum versta seið ok gǫldrum. [. . .] Síðan skaut hann forkinum at annarri hamhleypunni, en barð Elliða kom á hrygg annarri ok brotnaði hryggrinn í baðum. [. . .] Þá tók at kyrra veðrit, en skipit marði.261 Da kletterte Friðþjófr auf den Mast hinauf und sagte seiner Mannschaft, als er herunterkam: „Ich sah eine sehr merkwürdige Erscheinung. Ein großer Wal lag rund um das Schiff, und ich vermute, dass wir nahe an irgendein Land herangekommen sind, und er uns das Land verbieten will. [. . .] Ich sehe zwei Frauen auf dem Rücken des Wals, und sie mögen diesen Unfriedenssturm mit ihrem schlimmsten seiðr und Zauberliedern bewirkt haben.“ [. . .] Dann schleudert er den Bootshaken auf die eine Gestaltwandlerin, und der Vordersteven von Elliði [= Friðþjófrs Schiff] traf auf den Rücken der anderen und beiden brach der Rücken. [. . .] Da legte sich das Unwetter, und das Schiff trieb davon. [. . .] En er þær systr váru at seiðnum, duttu þæ ofan af seiðhjallinum, ok brotnaði hryggrinn í báðum.262 Und als die Schwestern dabei waren, seiðr zu wirken, stürzten sie vom Zaubergerüst [seiðr-Gerüst], und beiden brach der Rücken.

Die Zauberinnen verwandeln sich in dieser Episode allerdings nicht selbst in Tiere, sondern reiten vielmehr auf einem, vergleichbar der Nachtreiterei der kveldriður sowie dem damit verwandten Phänomen der mara.263 Ein interessantes Detail ist, dass bei der Verwandlung der seiðr-Praktizierenden in beiden Episoden ein Bezug zu Meerestieren hergestellt wird: Þórveig erscheint als ein Meeresungeheuer, das von der Gestalt her einem Walross ähneln dürfte,264 während die beiden Zauberinnen in der Friðþjófs saga frækna auf einem Wal reiten. Aufgrund seiner körperlichen Dimensionen und seinem regelmäßigen Auftauchen an der Wasseroberfläche kann der Wal wie eine Landmasse im Meer anmuten, was beispielsweise einer in der Navigatio Sancti Brendani (vermutlich im 9. Jahrhundert 260 Nur die längere Redaktion der Saga aus dem späten 15. Jh. bringt die Seelenreise der beiden Frauen mit seiðr in Verbindung, in der kürzeren Fassung ist hingegen nur von trolldómr die Rede (vgl. Tolley, Clive: Shamanism in Norse Myth and Magic, Bd. 2: Reference Materials. Helsinki, 2009 (Folklore Fellows Communications, 297), S. 141–144). 261 Friðþjófs saga ins frækna, herausgegeben von Ludvig Larsson. Halle, 1901 (Altnordische SagaBibliothek, 9), Kap. 6, S. 25–27. 262 Frið, Kap. 8, S. 33. 263 Vgl. Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 196. 264 Vgl. dazu die Abbildungen von Meeresungeheuern (aus der Abhandlung Um Íslands aðskiljanlegar náttúrur des Jón Guðmundsson; 17. Jh.) bei Dillmann, Magiciens, S. 256 f.

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VII Eigenschaften des Schwellenzustands und seiðr: Ortsunfestigkeit

entstanden) überlieferten Legende nach dazu führt, dass der irische Mönch St. Brendan der Reisende mit seinen Gefährten vermeintlich eine baumlose Insel betritt, die sich als Wal entpuppt.265 Zeichnet sich hier also schemenhaft ein liminaler Status des Wals zwischen „Landverkörperung“ und Meeressäuger ab, gelten robbenartige Tiere wie das Walross und insbesondere Seehunde vielen Kulturen nahezu als Verkörperung der Liminalität,266 da sie sowohl dem Land als auch dem Wasser zugehörig sind und sich oftmals gerade am Übergang von Land zu Wasser aufhalten.267 Solche Vorstellungen sind auch im altnordischen Bereich anzutreffen268 und dürften der Grund dafür sein, dass der zauberkundigen Katla in der Eyrbyggja saga vor ihrer Hinrichtung ein Seehundbalg über den Kopf gezogen wird: Gerade die Haut dieses mit Liminalität assoziierten Tieres soll wohl über besondere apotropäische Kräfte gegen den bösen Blick der sterbenden Magierin verfügen – kein Wunder, dass die ebenfalls magiebegabte Geirríðr um diese Wirkmächtigkeit der Seehundhaut weiß und ein entsprechendes Hilfsmittel bei Katlas Gefangennahme mit sich führt.269 Die vorangegangenen Beobachtungen haben gezeigt, dass die Fähigkeit zu Gestaltwandel und Seelenreise eine wichtige Eigenschaft Óðinns, nicht jedoch Freyjas ist. Die strittige Frage, ob seiðr in der altnordischen Literatur mit dem Evozieren ekstatischer Zustände einhergeht, welche überhaupt erst die Voraussetzung für eine Seelenreise bilden, konnte anhand einschlägiger Belege zustimmend entschieden werden. In Bezug auf menschliche seiðr-Praktizierende sind allerdings verhältnismäßig wenig konkrete Zeugnisse für Seelenreise und Gestaltwandel überliefert; wo sie begegnen, wird wiederholt eine Verbindung zu Meerestieren etabliert, die wohl auf liminalen Eigenschaften dieser Tiere beruht.

265 S. Sankt Brendans Meerfahrt. Ein lateinischer Text und seine drei deutschen Übersetzungen aus dem 15. Jahrhundert. herausgegeben von Karl A. Zaenker. Stuttgart, 1987 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, 191), S. 42–44. 266 Vgl. Odner, Knut: „Þórgunna’s testament: a myth for moral contemplation and social apathy“, in: Gísli Pálsson (Hg.): From Sagas to Society. Comparative Approaches to Early Iceland. Enfield Lock, 1992, S. 135. Vgl. dazu auch Böldl, Eigi einhamr, S. 129. 267 Vgl. Odner, Þórgunna’s testament, S. 135: „[. . .] in many cultures it is common that animals or other beings which combine features of several domains are used to ‘think’ marginality [. . .].“ 268 So kämpfen Heimdallr und Loki laut Snorris Interpretation der 2. Strophe der Húsdrápa in seinen Skáldskaparmál in Seehundgestalt auf einer Schäre um Freyjas Brísingamen („þeir váru í sela líkjum“ (Skáldsk 8, Faulkes, Bd. 1, S. 19)). Dies geht zwar aus den überlieferten Strophen der Húsdrápa nicht hervor, unterstreicht jedoch perfekt den liminalen Charakter des Schauplatzes an der Grenze von Land und Meer. Es ist fraglich, ob dieses äußerst passende Detail eine reine Erfindung Snorris darstellt oder ob Snorri heute verlorene Strophen des Gedichtes bekannt waren, denen er diese Information entnommen haben könnte. Zumindest erwähnt Snorri, dass die Seehundgestalt der beiden Kontrahenten in der Húsdrápa selbst genannt wird („er þess þar [= Húsdrápa] getit er“ (Skáldsk 8, Faulkes, Bd. 1, S. 19)). Vgl. hierzu Heizmann, Raub des Brísingamen, S. 508. 269 S. Eb, Kap. 20, ÍF 4, S. 53: „Geirríðr varp af sér skikkjunni ok gekk at Kǫtlu ok tók selbelg, er hon hafði haft með sér, ok fœrði hann á hǫfuð Kǫtlu [. . .].“ / „Geirríðr warf den Mantel von sich und ging auf Katla zu und nahm den Seehundbalg, den sie bei sich getragen hatte, und zog ihn Katla über den Kopf [. . .].“

3 Durch seiðr evozierte Ruhelosigkeit und Ortsunfestigkeit

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Die Fähigkeit zur Seelenreise und Gestaltwandel ermöglicht es denjenigen, die über sie verfügen, nicht mehr an einen Körper oder eine einzige Gestalt gebunden zu sein. Die Grenzen zwischen Mensch und Tier werden dabei aufgehoben, ebenso wie Distanzen keine Rolle mehr spielen, da sie bei der Seelenreise mühelos und in kürzester Zeit überwunden werden können. Ebenfalls ist es dem Ritualpraktizierenden somit möglich, an zwei Orten gleichzeitig zu sein: Sein in Trance befindlicher Körper bleibt zurück, während seine Seele umherschweift. Beide bleiben jedoch miteinander verbunden: Verletzungen, die der Freiseele zugefügt werden, betreffen auch den physischen Leib des Seelenreisenden. Es wird also deutlich, dass Seelenreise und Tierverwandlung ein Ausdruck von Liminalität schlechthin sind: Mit ihrer Hilfe ist es Ritualpraktizierenden wie den seiðr-Wirkern der altnordischen Überlieferung möglich, die physischen Grenzen des Körpers sowie die Trennlinie zwischen Mensch und Tier hinter sich zu lassen. Gleichzeitig verleiht die Fähigkeit zur Seelenreise ihnen Ortsunfestigkeit par excellence – keine räumlichen Distanzen können sie mehr aufhalten.

3 Durch seiðr evozierte Ruhelosigkeit und Ortsunfestigkeit Das Auslösen von Ruhelosigkeit ist ein charakteristischer Effekt von als Schadenszauber eingesetztem seiðr.270 Beabsichtigt wird damit oftmals das Heranziehen einer Person, die durch einen mittels seiðr evozierten psychischen Unruhezustand dazu veranlasst werden soll, sich auf die Reise zum Zauberwirkenden zu begeben – das Zauberziel wird also in einen Zustand der Ortsunfestigkeit versetzt. Auf diese Weise gelingt es Königin Gunnhildr in der Egils saga Skalla-Grímssonar, den Skalden Egill in ihren Machtbereich zu bringen: Svá er sagt, at Gunnhildr lét seið efla, ok lét þat seiða, at Egill Skalla-Grímsson skyldi alldri ró biða á Íslandi, fyrr enn hon sæi hann.271 So wird berichtet, dass Gunnhildr seiðr ausüben und dies mittels seiðr bewirken ließ, dass Egill Skalla-Grímsson niemals auf Island Ruhe finden sollte, bevor sie ihn sehe.

Der Zauber entfaltet wenig später die gewünschte Wirkung: Egill wird im Winter von so starker Melancholie ergriffen, dass ihn nichts mehr auf Island hält und er beschließt, nach England zu segeln. Vor der Küste von Northumbria erleidet der Skalde Schiffbruch und gelangt so schließlich an den Hof des Königs Eiríkr blóðøx und seiner Frau Gunnhildr in York:272 [. . .] enn þann vetr annan, er hann bjó at Borg eptir andlát Skalla-Gríms, þá gerðisk Egill ókátr, ok var því meiri ógleði hans, er meir leið á vetrinn. Og er sumar kom, þá lýsti Egill yfir því, að

270 Vgl. Kapitel II 1.4. 271 Eg, Kap. 59, ÍF 2, S. 176. 272 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 150 f. und Haid; Dillmann, Zauber, S. 862.

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hann ætlar að búa skip sitt til brottfarar um sumarið; tók hann þá háseta; hann ætlar þá að sigla til Englands [. . .].273 [. . .] doch im zweiten Winter, als er nach dem Tod von Skalla-Grímr auf Borg wohnte, da wurde Egill missgelaunt und seine Traurigkeit wurde umso stärker, je mehr der Winter verstrich. Und als der Sommer kam, gab Egill zu erkennen, dass er sein Schiff zur Abfahrt im Sommer bereit machen will, er nahm Ruderer dafür, er will dann nach England segeln [. . .].

Auch in der bereits in Kapitel VI 4.1 besprochenen Episode der Ynglinga saga um den Tod König Vanlandis wird durch seiðr Fernweh bzw. ein starkes Verlangen zu reisen beim Zauberziel hervorgerufen. Ein ungewöhnlich glückliches Ende findet das Erzeugen eines Unruhezustands durch seiðr hingegen in der wohl erst im 15. Jahrhundert entstandenen274 Gunnars saga Keldugnúpsfífls. Hier setzt eine Frau namens Þórdís die Magieform aus Zorn gegen Gunnarr ein, da dieser sich weigert, Buße für die Tötung ihres Bruders zu zahlen: Þórdísi þótti mikið fráfall bróður síns og tók að efla seið mikinn að Gunnari, svó að hann mátti eigi um kyrrt sitja, hvórki heima né annars staðar.275 Þórdís ging der Tod ihres Bruders sehr nahe und sie macht sich daran, großen seiðr gegen Gunnarr auszuüben, so dass er nicht still zu sitzen vermochte, weder daheim noch anderswo.

In der Folge sucht Gunnarr seinen Vater auf und bittet ihn um Rat, wie er sich in der Angelegenheit verhalten solle. Dieser empfiehlt ihm, zu zahlen, was immer Þórdís verlangt. Gunnarr befolgt nun diesen Ratschlag und erzielt eine Einigung mit Þórdís; beide werden, nachdem die Streitigkeiten dergestalt beigelegt sind, gute Freunde.276 Obgleich seiðr auch hier Rastlosigkeit in Gunnarr auslöst, erscheint der Zauber deutlich harmloserer Natur als in den vorgenannten Beispielen: Er fungiert in der Saga eher als „Motivationshilfe“, um Gunnarr dazu zu bewegen, Þórdís gegenüber das Richtige zu tun und eine Lösung des Streits herbeizuführen, mit der offenbar beide zufrieden sind.277 Das Erzeugen von Ruhelosigkeit durch seiðr muss jedoch nicht immer den Zweck verfolgen, eine Person zum Zaubernden zu locken, sondern kann auch rein in der Absicht eingesetzt werden, Geist und Physis des Zauberziels durch diesen

273 Eg, Kap. 59, ÍF 2, S. 176 f. 274 Vgl. Simek; Pálsson, Lexikon der altnordischen Literatur, S. 127. 275 „Gunnars saga Keldugnúpsfífls“, in: Jóhannes Halldórsson (Hg.): Kjalnesinga saga [. . .]. Reykjavík, 1959 (Íslenzk Fornrit, 14), Kap. 11, S. 377. 276 GunnK, Kap. 11, ÍF 14, S. 377 f. 277 Dies gilt allerdings nicht für die ebenfalls in der Íslenzk Fornrit-Ausgabe wiedergegebene Redaktion AM 554 i, 4to: Hier wird die von Þórdís eingesetzte Magie nicht als seiðr, sondern als fjölkynngi bezeichnet und hat keinen negativen Effekt auf Gunnarr, s. GunnK, Kap. 10, ÍF 14, S. 376; vgl. hierzu auch Tolley, Shamanism, Bd. 2, S. 146.

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Ausnahmezustand zu zerstören und somit den Charakter eines Fluchs annehmen. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel hierfür bildet die Gísla saga Súrssonar. In dieser Saga haben, wie bereits angesprochen, die Zauberkünste des seiðmaðr Þorgrímr nef eine verheerende Wirkung auf den Protagonisten Gísli. Nach dem Mord an Þorgrímr Þorsteinsson wird der seiðr-kundige Mann beauftragt, mittels seiner Magie denjenigen, der die Tat verübt hat, nirgends im Land mehr Sicherheit und Frieden finden zu lassen: Þat er næst til tíðenda, at Bǫrkr kaupir at Þorgrími nef, at hann seiddi seið, svá at þeim manni yrði ekki at bjǫrg, er Þorgrím hefði vegit, þó at menn vildi duga hánum.278 Das geschah als nächstes, dass Bǫrkr Þorgrímr nef dafür bezahlte, dass er seiðr wirkte, so dass dem Mann, der Þorgrímr [Þorsteinsson] getötet hatte, kein Schutz gewährt würde, wenn ihm auch Männer beistehen wollten.

In Redaktion S findet sich die Ergänzung „oc hann megi ser hvergi ro eiga a landi“279 („und dass er nirgendwo im Land Ruhe finden möge“). Als Mörder des Þorgrímr Þorsteinsson ist es Gísli, den der Zauber trifft: Fortan muss er als Friedloser, geplagt von unheilvollen Träumen und Ahnungen, herumirren. Nicht einmal durch die Tötung des Þorgrímr nef gelingt es Gísli, den ihm auferlegten Bann zu brechen, denn der Zauber ist über den Tod des seiðmaðr hinaus wirksam.280 Sogar der Umstand, dass Gísli eine verhältnismäßig lange Zeit in Frieden auf dem Hof des Ingjaldr verbringen kann, wird in der Saga einer Ungenauigkeit Þorgrímr nefs bei der Formulierung seines Zaubers zugeschrieben: So habe er es versäumt, die Außeninseln in seine Verwünschungen einzubinden.281 Im weiteren Verlauf der Gísla saga wird mehrmals ausdrücklich betont, dass der gegen Gísli gerichtete seiðr des Þorgrímr nef für das tragische Schicksal des Helden verantwortlich ist:282 Svá er sagt, at Gísli var þrjá vetr í Geirþjófsfirði, en stundum með Þorkatli Eiríkssyni, en aðra þrjá vetr ferr hann alt um Ísland ok hittir hǫfðingja ok biðr sér liðs. En sakar þess trollskapar, er Porgrímr hafði haft í seiðinum, ok atkvæða, þá verðr þess eigi auðit, at hǫfðingjar tœki við honum, ok þó at stundum þœtti þeim eigi svá ólíkliga horfa, þá bar þó alstaðar nǫkkut við.283 So wird erzählt, dass Gísli drei Winter im Geirþjófsfjord war, und eine Weile bei Þorkell Eiríksson, und weitere drei Winter reist er in ganz Island herum und sucht einflussreiche Männer auf und erbittet sich Beistand. Aber aufgrund der Zauberkraft und Verwünschung, die Þorgrímr bei dem seiðr angewendet hatte, war es ihm nicht beschieden, dass einflussreiche Män-

278 Gísl, Kap. 18, ÍF 6, S. 56. 279 Gíslx, Kap. 20, EA A 5, S. 37. 280 Vgl. hierzu auch Strömbäck, Sejd, S. 61 f. 281 Vgl. Gísl, Kap. 6, ÍF 6, S. 25. Siehe dazu auch Strömbäck, Sejd, S. 62. 282 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 77 f. 283 Gísl, Kap. 21, ÍF 6, S. 68 f.

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ner ihn aufnahmen, und obgleich es ihnen bisweilen nicht so aussichtslos erschien, so trat doch überall irgendetwas hindernd dazwischen.

Strömbäck verweist allerdings darauf, dass Þorgrímr nefs Zauber trotz seiner zentralen Bedeutung für die Handlung der Gísla saga nur im Prosatext, nicht jedoch in den zahlreichen Strophen erwähnt wird. Es könnte sich bei den seiðr-Passagen also um eine spätere Hinzufügung des Sagaschreibers handeln, der dadurch Gíslis melancholische und unruhige Disposition zu erklären versuchte.284 Selbst wenn dies der Fall sein sollte, wäre es dennoch überaus aufschlussreich, dass Gíslis Rastlosigkeit und seine düsteren Vorahnungen beim Verfasser der Saga offenbar die Assoziation mit einer Beeinflussung durch seiðr weckten: Das Auslösen innerer Zerrissenheit und Ruhelosigkeit könnte somit noch zum Zeitpunkt der Verschriftlichung der Sagas als besonders charakteristischer Effekt dieser Magieform angesehen worden sein. In jedem Fall offenbart sich anhand der enormen Wirkmächtigkeit, welche dem seiðr in der Gísla saga zugeschrieben wird, das für archaische Gesellschaften typische magische Denken, welches hinter Unglücksfällen und Erkrankungen eine „außernatürliche Kausalität“285 vermutet: Vordergründig führt natürlich der von Gísli begangene Mord an Þorgrimr Þórsteinsson zur Ächtung des Sagaprotagonisten, während das Leben als Geächteter wiederum eine ausreichende Erklärung für Gíslis rastloses Dasein und seine melancholische Befindlichkeit bietet. Zusätzlich durchzieht jedoch der im Hintergrund wirkende Einfluss von seiðr die gesamte Handlung der Gísla saga: So schafft in der längeren Redaktion überhaupt erst ein vom seiðmaðr Þorgrímr nef heraufbeschworenes Unwetter die Voraussetzungen für den Mord an Vésteinn, den Gísli später seinerseits durch die Tötung Þorgrimr Þórsteinsson rächen wird. Auch an der Umschmiedung der unheilvollen Waffe Grásíða, mit welcher schließlich sowohl Vésteinn als auch Þorgrimr Þórsteinsson getötet werden, ist der seiðmaðr beteiligt286 und seine Verwünschungen sind es, die Gísli nach der Mordtat keine Ruhe mehr finden lassen. Die „außernatürliche Kausalität“ hinter all den Ereignissen und Handlungsweisen, die Gíslis Schicksal als Geächteter herbeiführen und seine Ruhelosigkeit auslösen, ist seiðr. Monika Schulz betont in ihrer Monographie Magie oder die Wiederherstellung der Ordnung die zentrale Bedeutung, welche diesem „Prinzip einer doppelten Ursache“287 für das Verständnis magischen Denkens zukommt und verweist in diesem Zusammenhang auf Beobachtungen, die der Sozialanthropologe Edward E. Evans-Pritchard im Rahmen seiner Feldforschungen bei der ethnischen Gruppe der Azande machte und in seiner Untersuchung Witchcraft, oracles and magic among the Azande veröffentlichte. Demzufolge bildete für die Azande die

284 285 286 287

Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 62 f. Schulz, Magie, S. 21. Vgl. Kapitel V 1.4 der vorliegenden Untersuchung. Schulz, Magie, S. 22.

3 Durch seiðr evozierte Ruhelosigkeit und Ortsunfestigkeit

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Hexerei als „zweiter Speer“ die hinzutretende außernatürliche Ursache für Unglücksfälle und Erkrankungen: As a matter of fact Azande thought expresses the notion of natural and mystical causation quite clearly by using a hunting metaphor to define their relations. Azande always say of witchcraft that it is the umbaga or second spear. When Azande kill game there is a division of meat between the man who first speared the animal and the man who plunged a second spear into it. These two are considered to have killed the beast and the owner of the second spear is called the umbaga. Hence if a man is killed by an elephant Azande say that the elephant is the first spear and that witchcraft is the second spear and that together they killed the man. If a man spears another in war the slayer is the first spear and witchcraft is the second spear and together they killed him.288

Eine ganz ähnliche Denkweise lässt sich also hinsichtlich der Schadensmagie – in diesem Fall zu destruktiven Zwecken eingesetztem seiðr – für den altnordischen Bereich konstatieren. In den bisher vorgestellten Belegstellen wurde Ruhelosigkeit stets von seiðr-Praktizierenden über andere Personen verhängt. Dass diese jedoch auch die Zaubernden selbst treffen kann, zeigt eine Episode der Gǫngu-Hrólfs saga, in welcher eine Gruppe von seiðmenn versucht, die Protagonisten Hrólfr und Stefnir mittels ihrer Magie davon abzuhalten, in Garðaríki an Land zu gehen um den dort herrschenden König Eirekr anzugreifen. Durch ihren Zauber beabsichtigen sie, die beiden Männer geistig derart zu verwirren, dass diese sich selbst töten. Hrólfrs Begleiter, der Zwerg Möndull, durchschaut aber dieses Ansinnen und vermag es, den Zauber gegen seine Verursacher zu wenden. Von Panik ergriffen fliehen die feindlich gesinnten seiðmenn und kommen so schließlich selbst zu Tode: [. . .] en nú á þetta ofan eru komnir 12 menn í skóginn skamt hèðan, er Grímr hefir sendt Eireki konúngi; þeir eru ofan af Ormalandi, ok eru nú at efla seið, ok skulu seið ætlat ykkr Hrólfi ok Stefni, svâ þið skulið sjálfir drepa ykkr. Nú skulum vèr fara 7 saman móti þeim, ok sjá, hvat ígerist. Gerðu þeir nú svâ, unst þeir komu í skóginn, sáu þeir hús eitt, var þángat at heyra ill læti, er þeir frömdu seiðit. Gengu þeir síðan inní húsit, ok sjá þar hjall háfan, ok undir fjóra stólpa. Möndull fór inn undir hjallinn, ok reist þeim seiðvillur með þeim atkvæðum, at þeim hrifi sjálfum seiðmönnum; gengu þeir síðan útí skóginn, ok námu (staðar) um hríð, en seiðmönnunum brá svâ við, at þeir brutu ofan seiðhjallinn, ok hlupu beljandi útaf húsinu á sinn veg hverr þeirra, sumir hlupu í fen eða sjó, en sumir fyrir björg ok hamra, ok drápu sik allir með þessum hætti. [. . .] Þá mælti Möndull: [. . .] ykkr Stefni var þessi dauði ætlaðr, sem nú sáuð þèr, at seiðmennirnir fengu.289 „[. . .] und nun sind obendrein noch zwölf Männer in den Wald nicht weit von hier gekommen, die Grímr König Eirekr geschickt hat; sie sind von oben aus Ermland und sind nun dabei, seiðr auszuüben, und der seiðr soll euch, Hrólfr und Stefni, bestimmt sein, so dass ihr euch selbst töten werdet. Nun wollen wir sieben zusammen ihnen entgegentreten und sehen, was

288 Evans-Pritchard, Edward E.: Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande. Oxford, 1937, S. 74. 289 GHr, Kap. 28, FAS 2, S. 318 f.

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VII Eigenschaften des Schwellenzustands und seiðr: Ortsunfestigkeit

geschieht.“ So machten sie es, bis sie in den Wald gelangten, sie sahen ein Haus, von dort waren schlimme Laute zu hören, wo sie seiðr ausübten. Sie gingen dann in das Haus hinein und sehen dort ein hohes Gerüst und darunter vier Pfosten. Möndull ging unter das Gerüst hinein und ritzt Gegenzauber mit derartigen Verwünschungen, dass die Zauberer [seiðmenn] selbst von ihnen betroffen sind; sie gingen dann hinaus in den Wald und machten eine zeitlang Halt, aber die Zauberer [seiðmenn] geraten so in Bewegung, dass sie das Zaubergerüst [seiðr-Gerüst] abreißen und schreiend aus dem Haus laufen, jeder von ihnen seines Weges, die einen laufen in einen Sumpf oder ins Meer, und die anderen über Felsen und Klippen und es töteten sich alle mit diesem Verhalten. [. . .] Da sprach Möndull: „[. . .] dir und Stefnir war dieser Tod bestimmt, den ihr nun die Zauberer [seiðmenn] habt finden sehen.“

Die durch seiðr induzierte Sinnesverwirrung, welche die Zauberer Hrólfr und Stefnir zugedacht hatten, wendet sich also mit aller Gewalt gegen diese selbst und veranlasst ihre panische Flucht.290 Die Orte, an denen die seiðmenn letztlich zu Tode kommen, sind dabei sehr vielsagend: Es handelt sich bei Sumpf, Meer, Felsen und Klippen zwar einerseits natürlich per se um potentiell gefährliche Gebiete, welche demjenigen, der sich auf unkontrollierte Weise dorthin begibt, sehr leicht zum Verhängnis werden können, andererseits sind es jedoch zugleich liminale Orte. Gemäß gemeingermanischer Tradition wurden dort Todesstrafen vollzogen und Tote bestattet, die als Bedrohung für die Gesellschaft galten (Selbstmörder, Verbrecher, Magiker etc.) und vor deren Rückkehr als Wiedergänger man sich zu schützen versuchte.291 Die Unruhe, welche in dieser Episode der Gǫngu-Hrólfs saga durch seiðr verursacht und durch den Gegenzauber des Zwerges gegen die Zaubernden selbst gerichtet wird, erreicht extrem starke Ausmaße und mündet in einem kompletten Kontrollverlust seitens der Betroffenen, der sie dazu bringt, in den sicheren Tod zu laufen. Wenngleich die Gǫngu-Hrólfs saga als typische Vorzeitsaga mit zahlreichen phantastischen Elementen aufwartet, beruht die Vorstellung, dass seiðr derartige Wahnzustände auszulösen vermag, auf älteren Traditionen: Immerhin bezeichnet bereits die ca. im Jahr 960 entstandene Strophe „seið Yggr til Rindar“292 den Zauber, mit dessen Hilfe sich Óðinn Rindrs bemächtigen kann, als seiðr. Was man sich genau darunter vorzustellen hat, erhellt die bereits vorgestellte Paralleldarstellung in den Gesta Danorum: Óðinn (bzw. Othinus) gelingt es, Rindr durch die Berührung mit einem mit Runen versehenen Stück Baumrinde „einer Wahnsinnigen gleich“ („lymphanti similem“293) zu machen. Die Skaldenstrophe und die entsprechende Darstellung bei Saxo Grammaticus nehmen also 290 Dass seiðr dazu verwendet werden kann, Feinde zu verwirren und in die Flucht zu schlagen, erinnert an die in der Ynglinga saga Óðinn zugeschriebene Fähigkeit, seine Feinde blind, taub und furchterfüllt zu machen, wenngleich diese dort nicht mit der Ausübung von seiðr assoziiert wird (vgl. dazu Hkr I, Yngl saga, Kap. 6, ÍF 26, S. 17). In der Njáls saga findet sich eine Parallele zu der Sinnesverwirrung, welche die seiðmenn in der Gǫngu-Hrólfs saga erfasst: Der zauberkundige Svanr wehrt den Angriff Ósvífrs und seiner Männer mittels seiner (wiederum nicht als seiðr bezeichneten) Magie ab, so dass diese orientierungslos flüchten (vgl. Nj, Kap. 12, ÍF 12, S. 38). 291 Vgl. Kapitel V 1.2.2 der vorliegenden Arbeit. 292 Skáldsk 2, v12/4, Faulkes, Bd. 1, S. 9. 293 Gesta Danorum, Lib. III, S. 71.

3 Durch seiðr evozierte Ruhelosigkeit und Ortsunfestigkeit

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Bezug auf eine mythologische Episode, derzufolge Óðinn durch seiðr Rindrs Verstand und Befinden manipuliert294 und sie so willenlos gegenüber seinen Avancen macht. Dass hiermit zudem eine sexuelle Komponente des bei Rindr hervorgerufenen Wahnsinns – im Sinne von magisch induziertem sexuellem Verlangen – verbunden ist, macht die Parallele zum Runenzauber der Skírnismál, wo der mit Runen versehene gambanteinn gegen die Riesin Gerðr eingesetzt wird, durchaus wahrscheinlich. Anhand der oben vorgestellten Belege kann das Auslösen von psychischen Unruhezuständen bis hin zum Wahnsinn als eine der zentralen Wirkungsweisen von als Schadenszauber eingesetztem seiðr betrachtet werden. Oftmals wird dabei aus durch seiðr evozierter Unruhe eine Rastlosigkeit, die dazu führt, dass das Zauberziel seine gewohnte Umgebung verlässt und sich in Richtung des Zaubernden aufmacht: Mit anderen Worten resultiert durch Magie entfachte psychische Unruhe häufig in physischer Ortsunfestigkeit. Nun ist jedoch in archaischen Gesellschaften wie der altnordischen der Verlust von Zugehörigkeit, wie er durch Ortsunfestigkeit ausgelöst wird, äußerst angstbesetzt. Dabei gaben sicherlich weniger die realen Gefahren einer Reise den Ausschlag, die offensichtlich der immensen Mobilität der alten Isländer, welche sie immerhin bis nach Vínland brachte, keinen Abbruch taten. Vielmehr sind es die mit magisch induzierter Ortsunfestigkeit verbundenen Konzepte: Wie schon bei der Verbindung von als Schadenszauber eingesetztem seiðr mit dem Hervorrufen von Schlaf konstatiert, wird auch durch die von seiðr erzeugte Rastlosigkeit das Opfer in einen liminalen und somit vulnerablen Zustand versetzt. Dabei wird es nicht selten durch die Magie in die útgarðr-Sphäre gelockt, welche sich als „Wildnis“ in den Sagas in Gestalt von Sümpfen, Klippen, Außeninseln oder auch nur in Form des Bereiches außerhalb des elterlichen Hofes manifestieren kann. An diesen Orten ist das Zauberziel übernatürlichen Wesenheiten und deren Angriffen weitgehend schutzlos ausgeliefert, da es keine vollständige bzw. im Extremfall überhaupt keine Kontrolle über seine Emotionen und Handlungen mehr hat und so zum Spielball des seiðr-Wirkenden wird. Ein derartiger Kontrollverlust ist freilich auch aus der Sicht des heutigen Sagarezipienten ein sehr unangenehmer Effekt, der das Kriterium der Schadensmagie vollauf erfüllt. Für die mittelalterlichen Skandinavier dürfte diese negative Wirkung des destruktiven seiðr jedoch noch eine weitaus größere Dimension angenommen haben, denn Machtlosigkeit, der Verlust des freien Willens und der Handlungsfähigkeit waren nach altnordischer Auffassung überaus gefürchtete Zustände, die Carol Clover als das bezeichnet, „[w]hat finally excites fear and loathing in the Norse mind“295. Angesichts der noch im Kontext der Verbindung von seiðr und geschlechtlicher Liminalität eingehend zu besprechenden Geschlechternormen der altnordischen Gesellschaft ist es mit Sicherheit kein Zufall, dass – abgesehen von

294 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 151 f. 295 Clover, Carol: „Regardless of Sex: Men, Women, and Power in Early Northern Europe“, in: Speculum, 68, 1993, S. 379.

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VII Eigenschaften des Schwellenzustands und seiðr: Ortsunfestigkeit

Rindr in der mythologischen Überlieferung – die „Opfer“ von durch seiðr evozierter Unruhe in der Sagaliteratur durchweg männlichen Geschlechts sind: Da insbesondere Männer als entschluss- und tatkräftig aufzutreten hatten, verwundert es nicht, dass gerade der magisch erzeugte Kontrollverlust eines Mannes als besonders bedrohliche und schädigende Zauberwirkung betrachtet wurde.296

4 Fazit In den vorangegangenen Abschnitten konnte die Kombination von Ortsunfestigkeit, Zauberei und Heilkunde als weit zurückreichender Merkmalskomplex innerhalb der germanischen Überlieferung identifiziert werden, welcher auch im alten Skandinavien anzutreffen ist. Insbesondere begegnet er im Mythos Óðinns, wobei dessen Betätigung als göttlicher Arzt vor allem in älteren Überlieferungsschichten sichtbar wird. Auch Freyja weist Bezüge zur Ortsunfestigkeit auf, die mit ihrer Funktion als Vegetationsgöttin und ihrem Agieren als prototypischer vǫlva in Verbindung stehen. Sowohl Óðinn als auch Freyja unternehmen ausgedehnte Reisen, die sie in jenseitige Sphären (dies gilt vornehmlich für Óðinn), aber auch in die Welt der Menschen führen. Beide Gottheiten verbergen ihre wahre Identität durch die Verwendung von Pseudonymen; Óðinn verschleiert sie zudem durch Verkleidungen. Damit einhergehend konnten ein bisweilen unklarer Status bzw. Statusumkehrungen als weitere liminale Merkmale beider Gottheiten verzeichnet werden. Óðinns Auftreten als Wanderer und Besucher in der Welt der Menschen ist eng mit seinem Agieren als Schicksalsmacht verbunden, welche in die Geschicke der Menschen eingreift und ihnen Unterstützung, aber auch den Tod zuteilwerden lassen kann, während Freyjas Ortsunfestigkeit sich – wie bereits erwähnt – vor allem auf ihre Funktion als Vegetationsgöttin zurückführen lässt. Jedoch sind nicht nur die beiden göttlichen seiðr-Meister aufs Engste mit Ortsunfestigkeit assoziiert: Auch die Darstellung ihrer menschlichen Gegenstücke in der Sagaliteratur weist Elemente von Nichtsesshaftigkeit auf, was am deutlichsten bei der Figur der vǫlva greifbar wird. Hier vereinen sich Funktionen der Ortsunfestigkeit, welche jeweils im Mythos Óðinns und Freyjas begegnen: So nehmen die menschlichen vǫlur durch ihre Prophezeiung Einfluss auf das Schicksal der Menschen; sind aber vor allem offenbar in der Lage, mittels ihrer Magie die Vegetation positiv zu beeinflussen. Auffälligerweise werden sie insbesondere zum Zeitpunkt des spätherbstlichen vetrnáttablót gerufen, bei dem für eine gute Ernte geopfert wurde – die Gastmähler, in deren Rahmen die vǫlur agieren, erscheinen dadurch als literarische Reminiszenzen derartiger Opferfeste. Somit könnten die vǫlur und der von ihnen

296 Diese Konzepte werden uns in Kapitel VIII noch detailliert beschäftigen.

4 Fazit

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praktizierte seiðr also durchaus mit der Ausübung eines Vegetationskultes in Verbindung gestanden haben und ihre Darstellung in den Sagas als Echo davon aufzufassen sein. Des Weiteren zeugt die sowohl bei Óðinn als auch bei menschlichen seiðr-Praktizierenden in der altnordischen Literatur belegte Fähigkeit zu Seelenreise und Gestaltwandel von einer Konnotation des seiðr mit Ortsunfestigkeit sowie mit dem Erzeugen von ekstatischen Zuständen. Nicht zuletzt konnte das Auslösen von Unruhezuständen und Ortsunfestigkeit als charakteristisches Merkmal von als Schadenszauber eingesetztem seiðr definiert werden: Dieser magischen Praktik wurde in der altnordischen Überlieferung die Wirkung zugeschrieben, den Schwellenzustand der Ortsunfestigkeit bei Zauberzielen hervorrufen zu können. All diese Elemente lassen die Ortsunfestigkeit als eine integrale Eigenschaft von seiðr und seinen Praktizierenden deutlich hervortreten, was einmal mehr den liminalen Charakter dieser Magieform und ihrer Ausübenden betont.

VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität in den altnordischen Quellen 1 Vorbemerkungen 1.1 seiðr und die Überschreitung der Geschlechternormen als liminales Phänomen Es ist nunmehr an der Zeit, sich dem wohl prominentesten Merkmal des seiðr in der altnordischen Überlieferung zu widmen: dem mit der Ausübung dieser Magieform assoziierten Überschreiten der Geschlechterkonventionen der altnordischen Gesellschaft. Wie schon in Kapitel IV 2 angesprochen, definiert Turner die Minimierung der Geschlechterunterschiede als eine dem Schwellenzustand bzw. Schwellenpersonen zugehörige Eigenschaft, welche im Gegensatz zu der für Statusgesellschaften (aus welchen die Schwellenpersonen entweder aufgrund einer lebenslangen Liminalität oder für die Dauer einer Übergangsphase ausgeschlossen sind) charakteristischen Maximierung der Geschlechterunterschiede steht.1 Ein Aufweichen der Geschlechterrollen, welches die Grenzen zwischen den Kategorien „männlich“ und „weiblich“ verwischt, kann folglich im Sinne einer Minimierung der Geschlechterunterschiede, einem „Nichtvorhandensein einer sexuellen Polarität“2, interpretiert werden. Die folgenden Kapitel werden aufzeigen, dass es sich bei dem mit seiðr eng konnotierten Phänomen ergi um eine solche Minimierung der Geschlechterunterschiede handelt – insbesondere dann, wenn ein Mann sich der Ausübung des seiðr widmet. Somit stellt die Konnotation von seiðr und ergi ein weiteres liminales Charakteristikum dieser Magieform und ihrer Praktizierenden dar. In den nachfolgenden Abschnitten erfolgt zunächst eine Betrachtung der geschlechterspezifischen Besonderheiten des seiðr im Unterschied zu anderen Erscheinungsformen der altnordischen Magie. Anschließend wird das Konzept ergi vor dem Hintergrund der Geschlechterkonventionen der altnordischen Gesellschaft näher beleuchtet, bevor die Verbindung von seiðr und ergi in den altnordischen Quellen eingehend analysiert werden soll.

1 Vgl. Turner, Ritual, S. 105. 2 Ebd., S. 103. https://doi.org/10.1515/9783110678772-008

214

VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

1.2 Das Geschlechterverhältnis Magiepraktizierender in den altnordischen Quellen In den altnordischen Quellen begegnen sowohl weibliche als auch männliche Magiekundige. Dillmann kommt zu dem Ergebnis, dass die in der Forschung weit verbreitete Annahme, Frauen würde in der altnordischen Literatur eine stärkere Affinität zur Magie zugesprochen als Männern,3 mit Hinblick auf das tatsächliche Zahlenverhältnis der in den Quellen genannten Magiepraktizierenden für den altisländischen Bereich nicht haltbar ist: Au total, le nombre des Islandaises de l’époque ancienne qui, selon les sources norroises, étaient versées dans la magie à un titre ou un autre s’approche de la quarantaine, tandis que celui des protagonistes de sexe masculin dépasse peu ou prou la trentaine. Cette répartition presque égale des compétences magiques entre les hommes et les femmes de l’Islande ancienne apporte un démenti aux affirmations trop générales, trop péremptoires [. . .] selon lesquels les femmes auraient été «reconnues partout comme plus aptes à la magie que les hommes», affirmations que l’on rencontre également, avec plus ou moins de nuances, sous la plume de bons connaisseurs de l’ancienne religion scandinave et de la littérature norroise [. . .].4

Zudem betont Dillmann, dass dieser Befund nicht nur für Landnámabók und Isländersagas, sondern vielmehr in Bezug auf das gesamte Corpus der altnordischen Literatur konstatiert werden kann: Auf ca. 110 weibliche Zauberinnen kommen ungefähr 100 männliche Magiekundige.5 Das Ausüben von Magie als solches war gemäß den Quellen im alten Skandinavien also nicht vom Geschlecht des Praktizierenden abhängig. Anhand einer Reihe von Beispielen gelingt es Dillmann darüber hinaus zu zeigen, dass männliche und weibliche Magiepraktizierende ihre Fähigkeiten sehr häufig zu identischen Zwecken und auf die gleiche Art und Weise einsetzen: So nehmen beispielsweise Magiekundige beiderlei Geschlechts in der altnordischen Literatur Einfluss auf Wetter und Umwelt, bedienen sich der Runenmagie oder fügen durch ihre Zauberkünste ihren Kontrahenten Schaden zu. Lediglich im Bereich der Kampfmagie und Waffenverzauberung ist eine mit den altnordischen Geschlechternormen konformgehende Spezialisierung der Zauberkundigen zu verzeichnen: Die Verzauberung von Waffen

3 Vgl. hierzu z. B. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 1, S. 324: „In der Überlieferung treten als zauberkundig besonders Weiber hervor.“ Den Ursprung für die weite Verbreitung dieser Annahme bildet vermutlich die Aussage des Buchs 8 der Germania des Tacitus, derzufolge die Germanen glauben, dass „den Frauen etwas Heiliges und Seherisches innewohnt“ (s. Tacitus, Germania, Kap. 8, S. 76 f.; (Übersetzung nach Lund, Germania, S. 77). 4 Dillmann, Magiciens, S. 157. 5 Vgl. ebd., S. 157, Anm. 15: „Dans l’ensemble des sources littéraires norroises (Íslendingasögur, Landnámabók, Konungasögur, Fornaldrarsögur, etc.), la proportion est sensiblement la même: nous y dénombrons environ cent dix magiciennes pou un peu plus d’une centaine de magiciens.“

1 Vorbemerkungen

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ist eine Domäne der Männer, während schützende Kleidung von Frauen angefertigt wird.6 Der seiðr bildet hierbei jedoch eine deutliche Ausnahme: Obwohl in den Quellen sowohl von weiblichen als auch männlichen Praktizierenden dieser Magieform die Rede ist, setzen beide Geschlechter seiðr nicht generell zu denselben Zwecken ein und werden hinsichtlich ihres Handelns sehr unterschiedlich bewertet. So scheint die Divination mittels seiðr in erster Linie den Frauen vorbehalten gewesen zu sein. Zwar begegnen in den altnordischen Quellen durchaus auch weissagende männliche Personen, ihre Einsichten in zukünftige Entwicklungen gründen jedoch oftmals nicht auf dem Gebrauch von Magie, sondern werden vielmehr ihrer großen Weisheit zugeschrieben.7 Zudem werden ihre Fähigkeiten nie explizit mit dem Begriff seiðr in Verbindung gebracht – eine Zukunftsbefragung mit Hilfe des seiðr im Rahmen eines öffentlich zugänglichen Rituals, wie wir es von den vǫlur kennen, wird in keinem Textzeugnis überliefert. Einige Belege geben allerdings zum Zweifel Anlass, ob die Vorrangstellung von Frauen bei der Ausübung des divinatorischen seiðr im alten Skandinavien als so gesichert betrachtet werden kann, wie in der Forschung zumeist angenommen wird: So dient bezeichnenderweise der Ausdruck spámaðr (‚Seher‘, ‚Prophet‘) in dem in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts8 entstandenen Ágrip af Nóregskonunga sǫgum gerade dazu, den Begriff seiðmaðr zu präzisieren.9 Dort heißt es von Rǫgnvaldr, dem magiekundigen Sohn des Königs Haraldr hárfagri: „[. . .] var hann kallaðr seiðmaðr, þat er spámaðr“10 / „[. . .] er wurde seiðmaðr genannt, das ist ein Seher“. Demzufolge scheint der Verfasser die Ausübung von seiðr seitens eines Mannes durchaus mit einer Betätigung als Seher zu konnotieren, wenn er den Begriff spámaðr wählt, um seinen Rezipienten nahezubringen, worum es sich eigentlich bei einem seiðmaðr handelt. Simone Horst weist unter Bezugnahme auf Dillmann darauf hin, dass die Verwendung des Terminus spámaðr in der altnordischen Prosaliteratur zumeist nahelegt, dass ein so titulierter Mann Magie nutzt, um Einsicht in zukünftiges Geschehen zu erhalten. Hiermit ist oftmals eine negative Konnotation verbunden. Ansonsten bezeichnet der Begriff auch in der Übersetzung von Bibeltexten und hagiographischer Literatur des alten Skandinaviens den Propheten, also eine Person, die sich der inspirierten Mantik bedient und dazu mit einer numinosen Quelle – sei sie göttlichen oder magischen Ursprungs – in Kontakt tritt11. Die divinatorischen Aktivitäten eines spámaðr sind demnach

6 Vgl. hierzu mit ausführlichen Beispielen ebd., S. 158 f. 7 So verhält es sich z. B. bei der Gestalt des Gestr Oddleifson, der sowohl in der Laxdœla saga als auch in der Njáls saga als weiser Ratgeber fungiert; s. dazu Horst, völva, S. 49 ff. 8 Jónas Kristjánsson, Eddas und Sagas, S. 156. 9 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 33. 10 „Ágrip af Nóregskonunga sǫgum“, in: Bjarni Einarsson (Hg.): Ágrip af Nóregskonunga sǫgum. Fagrskinna – Nóregs konunga tal. Reykjavík, 1984 (Íslenzk Fornrit, 29), S. 5. 11 Vgl. hierzu Horst, völva, S. 51 f. sowie Dillmann, Magiciens, S. 33 f.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

dergleichen Kategorie zuzurechnen wie diejenigen der vǫlur. In diesem Zusammenhang ist auch eine Passage der ca. auf das Jahr 1200 datierten12 Orkneyinga saga von besonderem Interesse, die von Aktionen eines spámaðr berichtet, die mit denen der vǫlur übereinstimmen: Þá er Hákon Pálsson var í Svíþjóð, hafði hann frétt til, at þar í landi var sá maðr, er fór með vísendi ok spádom, hvárt er hann hafði til þess fjǫlkynngi eða aðra hluti. [. . .] Fór hann þar at veizlum ok sagði bóndum um árferð ok aðra hluti.13 Als Hákon Pálsson in Schweden war, hatte er erfahren, dass im Land ein Mann war, der sich mit übernatürlichem Wissen und Weissagen befasste, ob er dazu Zauberei oder andere Dinge verwendete. [. . .] Er ging damals zu Gastmählern und berichtete den Bauern über die Ernte und andere Dinge.

Die Formulierung Fór hann þar at veizlum ok sagði bóndum um árferð ok aðra hluti bildet eine ganz offensichtliche Parallele zu den Aktivitäten der vǫlur, die ja oftmals die Ausübung des seiðr beinhalten oder zumindest stark damit assoziiert werden. Auch wenn es sich bei der oben zitierten Episode um eine singuläre Erscheinung in der altnordischen Literatur handelt und der Verfasser das bekannte Erzählmuster vom Besuch der vǫlur möglicherweise nur für seine Darstellung eines männlichen Sehers entlehnt hat, mag also die Vorstellung, ein Mann könnte wie eine vǫlva ebenfalls von Hof zu Hof ziehen und Prophetie im Rahmen von Einladungen zu Gastmählern betreiben, die damaligen Sagarezipienten nicht allzu sehr befremdet haben. Obschon in den altnordischen Quellen ansonsten nur Frauen Zukunftsschau mittels seiðr im Rahmen eines öffentlichen Rituals praktizieren, legen die o. g. Belege nahe, dass auch männliche seiðr-Praktizierende in ähnlicher Funktion in Erscheinung treten konnten. Der bedeutsamste Unterschied zwischen männlichen und weiblichen seiðr-Praktizierenden liegt jedoch darin, dass die Ausübung dieser Magieform in Hinblick auf Männer in weitaus stärkerem Maß mit ergi, einem Verstoß gegen die Geschlechternormen, assoziiert und verurteilt wird, als dies bei Frauen der Fall ist.

1.3 Der „unmännliche“ seiðmaðr Im Kontrast zu dem von Dillmann konstatierten, weitgehend ausgewogenen Zahlenverhältnis von männlichen und weiblichen Magiekundigen in den altnordischen Quellen werden überraschend wenige Männer explizit als seiðmaðr bezeichnet. Ohne die monströsen seiðmenn der Vorzeitsagas mit einzubeziehen, sind dies lediglich Þorgrímr nef (Gísla saga Súrssonar), Kotkell und seine beiden Söhne Stígandi

12 Kristjánsson, Eddas und Sagas, S. 164. 13 „Orkneyinga saga“, in: Finnbogi Guðmundsson (Hg.): Orkneyinga saga [. . .]. Reykjavík, 1965 (Íslenzk Fornrit, 34), Kap. 36, S. 90.

1 Vorbemerkungen

217

und Hallbjǫrn slíkisteinsauga (Laxdœla saga) sowie die in mehreren Königssagas erwähnten seiðr-Praktizierenden Rǫgnvaldr réttilbeini und Eyvindr kelda. Zumeist üben diese Figuren die schadensverursachenden Varianten des seiðr aus und erfahren eine entsprechend negative Darstellung: Þorgrímr nef ist in den Mordanschlag auf Vésteinn verstrickt14 und beeinflusst Gíslis Leben durch seine Verwünschungen auf destruktive Weise, Kotkell und seine Söhne verursachen einen Schiffbruch, der u. a. Þórðr Ingunnarson zum Verhängnis wird, und töten den jungen Kári Hrutsson mittels seiðr, Eyvindr kelda nutzt seine Zauberkünste, um König Óláfr angreifen zu können. Somit agieren männliche seiðr-Praktizierende als Antagonisten bzw. als Helfer der Antagonisten der Sagahelden. Das soziale Ansehen magiekundiger Personen im Skandinavien der vorchristlichen Epoche richtete sich stark danach, ob sie ihre Zauberkräfte für oder gegen die Gemeinschaft einsetzten.15 Da männliche seiðr-Praktizierende in der altnordischen Literatur als überwiegend mit Schadensmagie befasst dargestellt werden, korrespondiert damit eine entsprechend negative Haltung und geringe Akzeptanz der Gesellschaft gegenüber diesen Figuren: Eine wertschätzende Behandlung, wie sie die vǫlur von ihren Gastgebern erwarten konnten, wird seiðr-betreibenden Männern in den altnordischen Quellen in der Regel nicht zuteil. Eine Ausnahme bildet jedoch das Beispiel des Þorgrímr nef in der Gísla saga, der von Þorgrímr Þorsteinsson und dessen Freund Þorkell Súrsson zu einem Fest eingeladen wird.16 Aus dem Kontext geht hervor, dass es sich hierbei um Feierlichkeiten anlässlich des vetrnáttablót handeln dürfte, denn auch Gísli trifft zeitgleich, entsprechend den allgemeinen Gepflogenheiten, Vorbereitungen für ein Gastmahl zu diesem Anlass, obwohl er das Opfern an sich aufgegeben hat: Ok líðr nú svá sumarit, ok kemr at vetrnóttum. Þat var þá margra manna siðr at fagna vetri í þann tíma, ok hafa þá veizlur ok vetrnáttablót; en Gísli lét af blótum siðan hann var í Vébjǫrgum í Danmǫrku, en hann helt þó sem áðr veizlum ok allri stórmennsku.17 Und so vergeht nun der Sommer, und es geht auf die Winternächte zu. Es war damals bei vielen Leuten üblich, zu dieser Zeit den Winter festlich zu begrüßen, und dann Gastmähler und Winternächteopfer abzuhalten; aber Gísli ließ das Opfern sein, seit er in Viborg in Dänemark gewesen war, und doch hielt er wie früher an Gastmählern und aller Großzügigkeit fest.

Man kann davon ausgehen, dass dieses auf den Höfen begangene Opferfest, zu welchem Angehörige und Freunde eingeladen wurden, ein gesellschaftliches Ereignis

14 Zum einen ist er am Schmiedeprozess der Mordwaffe beteiligt, zum anderen ist Þorgrímr nef laut längerer Redaktion S der Gísla saga der Verursacher des Unwetters, welches überhaupt erst die Voraussetzungen für den Mord geschaffen hat. 15 Vgl. Buchholz, Schamanistische Züge, S. 65: „Die soziale Stellung des Magiers ist ganz uneinheitlich, je nachdem er der Gemeinschaft nach der Ansicht der in ihr Maßgeblichen nützt oder schadet.“ 16 S. Gísl, Kap. 9, ÍF 6, S. 37. 17 Gísl, Kap. 10, ÍF 6, S. 36.

218

VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

von größerer Wichtigkeit darstellte. Die Tatsache, dass auch Þorgrímr nef ausdrücklich zu dieser Feierlichkeit geladen wird, zeigt deutlich, dass seine Gastgeber offenbar keinerlei Probleme damit haben, sich öffentlich mit dem seiðmaðr zu zeigen, und ihm wohl eng verbunden sind: Das Verhältnis der drei Männer geht über ein heimliches Erkaufen von magischen Diensten eindeutig hinaus und ist durchaus von gegenseitigem Respekt geprägt. Es ist folglich zu vermuten, dass Þorgrímr nef nicht weniger Gastfreundschaft anlässlich des Opferfestes zu erwarten hat als die anderen Beteiligten.18 Eine solche respektvolle Aufnahme eines seiðmaðr muss jedoch als Ausnahmeerscheinung in der altnordischen Literatur betrachtet werden, zudem lässt sie sich nur aus dem Kontext der Gísla saga erschließen und wird nicht etwa – entsprechend den Darstellungen des Besuches der vǫlva – detailliert geschildert. Weitaus häufiger berichten die Quellen hingegen von Feindseligkeit gegenüber männlichen Praktizierenden des seiðr. In der Regel sterben diese Männer eines gewaltsamen Todes:19 Kotkell wird – gemeinsam mit seiner Frau Gríma – gesteinigt;20 das gleiche Schicksal widerfährt seinem Sohn Stígandi21 sowie Þorgrímr nef22. Hallbjǫrn slíkisteinsauga wird durch Hrútr und dessen Söhne ertränkt23, während König Óláfr Eyvindr kelda und seine Gefährten gefesselt auf einer Schäre aussetzen lässt, wo sie bei einsetzender Flut ertrinken24. Rǫgnvaldr réttilbeini wird laut der Heimskringla verbrannt; in der um 1220 verfassten Historia Norvegiae, welche auf einer anderen Tradition als die Heimskringla beruht,25 wird auch er auf Befehl seines Vaters hin ertränkt. Hierbei muss jedoch festgehalten werden, dass in nahezu allen diesen Fällen die Gewaltanwendung gegenüber den seiðmenn in unmittelbarem Bezug zu den durch ihre Magie begangenen Verbrechen steht, die Mord bzw. versuchten Mord umfassen. Die in den Isländersagas geschilderten Tötungen seiðrpraktizierender Männer muten zwar wie offizielle Hinrichtungen an, tragen jedoch eher den Charakter von privater Rache und Lynchjustiz seitens der verletzten Parteien aufgrund des ihnen zugefügten Schadens,26 als Zeugnis über eine generelle Verfolgung dieser Männer geben zu können. Bestrafungen für das Ausüben von destruktivem seiðr

18 Vgl. zur Einladung des Þorgrímr nef Dillmann, Magiciens, S. 570 f. mit dem Hinweis, dass die altnordischen Vorstellungen hinsichtlich der Gastfreundschaft es nicht erlauben würden, den seiðmaðr als Beteiligten an den Feierlichkeiten zum vetrnáttablót schlechter als die übrigen Gäste zu behandeln. 19 Vgl. hierzu Kap. V 1.2.2 der vorliegenden Untersuchung. 20 Vgl. Laxd, Kap. 37, ÍF 5, S. 106 f. 21 Vgl. Laxd, Kap. 38, ÍF 5, S. 109. 22 Vgl. Gísl, Kap. 19, ÍF 6, S. 60. 23 Vgl. Laxd, Kap. 37, ÍF 5, S. 107. 24 Vgl. Hkr I, ÓT, Kap. 63, ÍF 26, S. 312. 25 Wahrscheinlich stellt die Historia Norvegiae die ursprünglichere Version dar; vgl. dazu Strömbäck, Sejd, S. 42 sowie Ström, Níð, ergi, S. 9, Anm. 1. 26 Vgl. hierzu Ström, Germanic Death Penalties, S. 55 sowie Heusler, Andreas: Das Strafrecht der Isländersagas. Leipzig, 1911, S. 37.

1 Vorbemerkungen

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werden zudem unabhängig vom Geschlecht des Delinquenten27 vollzogen und treffen durchaus auch Frauen, die Schadenszauber praktiziert haben.28 Die Tötung Eyvindr keldas und seiner Anhänger in der Óláfs saga Tryggvasonar ist hingegen als Hinrichtung aufzufassen, wobei selbstverständlich auch hier die destruktive Intention der ausgeübten Magie die Bestrafung motiviert. Auffallend ist in diesem Zusammenhang allerdings die in mehreren Texten überlieferte Episode um die Tötung des seiðmaðr Rǫgnvaldr réttilbeini und seines Gefolges von seiðmenn. Rǫgnvaldr hatte gemäß der Version der Haralds saga ins hárfagra von König Haraldr, seinem Vater, die Befehlsgewalt über Haðaland erhalten, erlernte die Zauberkunst und widmete sich dem seiðr.29 Dies bleibt indessen nicht ungeahndet: Auf Befehl König Haraldrs verbrennt30 Eiríkr blóðøx seinen Halbbruder und achtzig weitere seiðr-Praktizierende31 – eine Tat, die positiv bewertet wird,32 obwohl die Saga nirgends davon berichtet, dass Rǫgnvaldr und sein Gefolge sich dezidiert der Schadensmagie gewidmet hätten. Als Motivation für die Hinrichtung Rǫgnvaldrs und seiner zauberkundigen Entourage nennt die Haralds saga ins hárfagra zum einen die lakonische Formulierung „Haraldi konungi þótti illir seiðmenn“33 („König Haraldr mochte keine Zauberer [seiðmenn]“); eine Abneigung seitens des Königs, die angesichts der Vorgeschichte mit seiner finnischen Frau Snǽfríðr – laut der Heimskringla enstammt Rǫgnvaldr ja eben dieser Verbindung –, welche ihn mit einem Zauberbann belegte,34 nicht weiter überrascht. Zum anderen geht es dem König jedoch sicherlich an dieser Stelle darum, ein Exempel zu statuieren, da andere Personen glauben, dem Beispiel Rǫgnvaldrs gefahrlos folgen zu können. Diese Problematik wird anhand einer Skaldenstrophe, auf deren Basis Snorri diese Episode der Haralds saga ins hárfagra ausgearbeitet zu haben scheint,35 ersichtlich. Die betreffende Strophe ist Vitgeirr – einem seiðmaðr in Hǫrðaland – in den Mund gelegt, der sich mit dem Verweis darauf, dass auch der Sohn des Königs ungestraft seiðr praktiziert, weigert, dem Befehl des Königs nachzukommen und diese Magieform nicht mehr auszuüben: Þat’s vǫ lítil, at vér síðim, karla bǫrn

27 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 192: „Mot dem, som bedrevo svart sejd, tillgrep samhället sina hårdaste och mest vanäranade straff.“ 28 So z. B. Gríma, die mit ihrem Mann Kotkell gesteinigt wird, vgl. Laxd, Kap. 37, ÍF 5, S. 106 f. 29 S. Hkr I, Haralds saga hárf, Kap. 34, ÍF 26, S. 138. 30 Mit brenna inni ist das Verbrennen von in einem Gebäude befindlichen Personen (also ein Mordbrand) gemeint, nicht etwa auf einem Scheiterhaufen. 31 Hkr I, Haralds saga hárf, Kap. 34, ÍF 26, S. 139. 32 Vgl. Jónsson, um galdra, S. 24. 33 Hkr I, Haralds saga hárf, Kap. 34, ÍF 26, S. 138. 34 S. Hkr I, Haralds saga hárf, Kap. 25, ÍF 26, S. 125–127; vgl. dazu Kapitel V 1.2.1. 35 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 40 f.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

ok kerlinga, es Rǫgnvaldr síðr réttilbeini, hróðmǫgr Haralds, á Haðalandi.36 Das ist wenig verwunderlich, wenn wir seiðr ausüben, Kinder von einfachen Kerlen und Weibern, wenn Rǫgnvaldr réttilbeini, Haraldrs berühmter Sohn, in Haðaland seiðr betreibt.

Diese Weigerung bildet der Darstellung der Heimskringla zufolge den eigentlichen Auslöser für die Ermordung Rǫgnvaldrs und seiner achtzig seiðmenn. Obwohl Rǫgnvaldrs Tun also offenbar die Autorität des Königs untergräbt, verwundert doch die Härte, mit der Haraldr hárfagri an dieser Stelle gegen seinen eigenen Sohn vorgeht. Anscheinend genügt allein die Tatsache, dass Rǫgnvaldr und seine Gefährten seiðr als solchen praktizieren, um ihr Schicksal zu besiegeln. Denn dass der Königssohn und die ihn umgebenden Personen ihre Magie zu schadensbringenden Zwecken eingesetzt hätten, wird in der Heimskringla nicht erwähnt:37 För de makthavandes reaktion mot sejdfolk är särskilt Heimskringlas berättelse om Ragnvald rettilbeinis sejd och hans sejdmän belysande. Haraldr hårfager, som sannerligen icke kann ha stått oförstånde och helt ofördragsam mot samtidens övertro och magiska praxis, ingriper här på ett förvånande hårdhänt sätt mot sin son och dennes skar av sejdmän, och detta utan att något nämnes om denna sejd såsom av särskillt illasinnat slag.38

Auch die Historia Norvegiae äußert sich nicht hinsichtlich einer etwaigen destruktiven Natur Rǫgnvaldrs magischer Fähigkeiten, betont jedoch explizit, dass er durch ihre Ausübung Schande und schlechten Ruf über sich gebracht habe: [. . .] sed Regualdus Retilbein ob usitatam | inertissime artis ignominiam infamatus iussu patris in Hatlandia fertur ingurgitas.39

36 Hkr I, Haralds saga hárf, Kap. 34, Str. 57, ÍF 26, S. 138 f. 37 Tatsächlich geht dies aus keinem der Texte hervor, die diese Episode überliefern; über die Intention der von Rǫgnvaldr und seinen Gefährten ausgeübten Magie schweigen die jeweiligen Darstellungen. 38 Strömbäck, Sejd, S. 192. Auch Folke Ström interpretiert den Tod des Rǫgnvaldr als „an example of what could befall a male practitioner of seiðr even if he was of royal birth.“ (Ström, Níð, ergi, S. 9). 39 HistNorv, Kap. 15, S. 86.

2 Das Konzept ergi – geschlechtliche Konventionen der altnordischen Gesellschaft

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[. . .] but Ragnvald Rettilbeine, who was branded with the dishonour which usually comes to those who dabble in the idle arts of magic, is reported to have been drowned in Hadeland on the orders of his father.40

Die Beschäftigung mit seiðr als Schadenszauber kann demnach nicht der einzige Grund für die negative Einstellung gegenüber Männern sein, die sich dieser Magieform widmen. Gerade das Zeugnis der Historia Norvegiae scheint vielmehr darauf hinzuweisen, dass in Rǫgnvaldrs Fall eher der Ehrverlust, den er durch das Ausüben des seiðr über sich bringt, aufs Schärfste verurteilt und geahndet wird. Entscheidend ist diesem Beleg zufolge also nicht, dass ein Mann seiðr als Schadensmagie einsetzt, sondern in erster Linie die Tatsache, dass er sich einer Magieform widmet, deren Ausübung Schande über ihn bringt. Im Licht der eingangs zitierten Passage der Ynglinga saga kann davon ausgegangen werden, dass mit dem schändlichen Charakter, welcher in der Historia Norvegiae Rǫgnvaldrs magischen Praktiken zugeschrieben wird, ergi („Unmännlichkeit“ oder „Perversion“) gemeint ist. Dillmann sieht darüber hinaus in eben der Tatsache, dass sich die seiðmenn einer mit Unmännlichkeit konnotierten Magieform widmen, eine Begründung dafür, dass die altnordischen Quellen sie nahezu durchweg mit seiðr als Schadenszauber beschäftigt präsentieren: Die positive Darstellung eines seiðmaðr entspricht offenbar nicht dem Erwartungshorizont der altnordischen Rezipienten und findet somit auch keinen Eingang in die literarische Überlieferung; vielmehr wird die Praktik des seiðr als für einen Mann unpassend und mit ergi behaftet empfunden. Was genau haben wir uns nun aber unter dem Begriff ergi vorzustellen und worauf beruht die enge Konnotation des seiðr, insbesondere in seiner Ausübung durch Männer, mit diesem Phänomen?

2 Das Konzept ergi – geschlechtliche Konventionen der altnordischen Gesellschaft 2.1 Definition des Begriffs ergi Das Nomen ergi hat, ebenso wie die ihm verwandten Adjektive argr und ragr – letzteres stellt, ebenso wie die Substantivform regi, eine ursprünglich vermutlich euphemisierende Metathese dar41 – eine extrem pejorative Bedeutung: Nahezu kein anderer Ausdruck im Altnordischen vermag es, die Ehre eines Mannes stärker zu verletzen42 und seine Männlichkeit in Frage zu stellen. Denn in Bezug auf einen Mann verwendet drückt ergi eine Tendenz oder Disposition seitens des Betreffenden aus, sich in eine mit dem Weiblichen assoziierte Rolle zu begeben. Dies hat zumeist sexuelle Implikatio-

40 Übersetzung nach Fisher, HistNorv, S. 87. 41 Vgl. Halvorsen, Eyvind Fjeld: Art. „Ergi“, in: KLNM, Bd. 4. København, 1959, Sp. 10. 42 Vgl. Ström, Níð, ergi, S. 4.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

nen: „The man who is argr is willing or inclined to play or interested in playing the female part in sexual relations.“43 In diesem Zusammenhang wird ergi also mit rezeptiver männlicher Homosexualität konnotiert. Der Vorwurf von ergi unterstellt dem Beschuldigten jedoch nicht nur ein als „unmännlich“ kategorisiertes Verhalten im Bereich der Sexualität, sondern auch hinsichtlich seiner Moralvorstellungen und seines Charakters: Der als argr diffamierte Mann wird somit zugleich der „Unmännlichkeit“ im Sinne von Feigheit bezichtigt.44 Zudem wird argr im Hinblick auf Snorris Beschreibung des seiðr in der Ynglinga saga und unter Berufung auf die Definition Johan Fritzners45 in der Forschung häufig als Äquivalent zu ‚zauberkundig‘ betrachtet.46 Wie an späterer Stelle noch zu zeigen sein wird, erscheint eine solche Gleichsetzung der beiden Begriffe jedoch nicht gerechtfertigt: ‚zauberkundig‘ ist weder gleichbedeutend mit argr noch sollte diese Fähigkeit automatisch zu den Komponenten des ergi-Komplexes gezählt werden.47 Im Wesentlichen trifft die im bisherigen Verlauf der vorliegenden Untersuchung gegebene Definition des Begriffs ergi, wenn er in Bezug auf einen Mann verwendet wird, als „Unmännlichkeit“ zu, denn gemeint ist damit eine als feminin empfundene Disposition, die einen Mann sowohl in mentaler als auch in physischer Hinsicht „unmännlich“ erscheinen lässt:48 „According to the opinion of the time, the application to a man of the term argr [. . .] meant that he was ‘unmanly’ in various ways, and in particular that he was a coward and a homosexual.“49 Jedoch geht der Bedeutungsgehalt von ergi über „Unmännlichkeit“ hinaus, denn auch eine Frau kann den altnordischen Quellen zufolge als ǫrg bezeichnet werden,50 was ihr schamloses, lüsternes Verhalten bis hin zur Nymphomanie unterstellt. So wird z. B. in einem Abschnitt der im frühen 14. Jahrhundert aufgezeichneten Hauksbók die Göttin Venus mit diesem Begriff in Verbindung gebracht, wenn ihr sexuelle Ausschweifungen und sogar Inzest – also ein Verstoß gegen sexuelle Tabus par excellence – nachgesagt werden: En hon var sua mann giorn. oc sua org sua ill at hon la með feðr sínum. oc með morgum monnum oc hafðezt sua sem port kona.51

43 Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 18. 44 Ström, Níð, ergi, S. 4. 45 Fritzner verzeichnet für an. argr neben den Übersetzungsmöglichkeiten „umandig, uvirksom” auch die Variante „som giver sig af med Trolddom.“ (Fritzner, Ordbog, Bd. 1, S. 71). 46 So zum Beispiel auch Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 19: „‘Perversity in sexual matters’ is one branch of meaning in the ergi-complex. Another is ‘versed in witchcraft’.“ 47 Vgl. auch Dillmann, Magiciens, S. 441. 48 Vgl. Ström, Níð, ergi, S. 17. 49 Ebd., S. 4. 50 Dass die weibliche Form des Adjektivs argr Anwendung im Sprachgebrauch findet, gibt letztlich bereits Anlass zu der Frage, ob ‚unmännlich‘ wirklich die angemessene Übersetzung dieses Begriffs sein kann. 51 Hauksbók. Udgiven efter de Arnamagnæanske håndskrifter No. 371, 544 og 675, 4°, samt forskellige papirhåndskrifter af det Kongelige Nordiske Oldskrift-Selskab. København, 1892–96, S. 159. Vgl. dazu auch Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 18 und Ström, Níð, ergi, S. 4.

2 Das Konzept ergi – geschlechtliche Konventionen der altnordischen Gesellschaft

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Und sie war so mannstoll und so pervers [=ǫrg] und so schlecht, dass sie mit ihrem Vater schlief und mit vielen Männern und sie verhielt sich so wie eine Hure.

Im Hinblick auf Frauen ist der Terminus ergi also mit freizügiger Sexualität, Promiskuität und Inzest assoziiert – er zielt somit auf ein tabuloses, unkontrolliertes und unkontrollierbares Sexualverhalten ab, das eindeutig gegen das gesellschaftlich sanktionierte Verhaltensmodell für Frauen verstößt. Cleasby und Vigfússon übersetzen den Begriff denn auch mit „lewdness, lust“52. Der Vorwurf von ergi stellt demnach auch für Frauen eine Ehrverletzung dar. Die nähere Betrachtung der Implikationen des Begriffs ergi, wenn er in Bezug auf Frauen verwendet wird, zeigt somit eine weitere wichtige Komponente des ergi-Komplexes auf: Er ist mit einem Kontrollverlust, hervorgerufen durch ein übersteigertes sexuelles Verlangen, konnotiert, das keine Tabus und Regeln mehr zu kennen scheint und nicht einmal vor Inzest haltmacht. Wie bereits in Kapitel VII 3 im Zusammenhang mit durch seiðr evozierter Ruhelosigkeit festgehalten, sind gerade der Verlust von Kontrolle über die eigenen Aktionen und Emotionen und damit die Beschränkung der Handlungsfreiheit und des freien Willens von den mittelalterlichen Skandinaviern überaus gefürchtete Zustände. Sehr gut erkennbar wird die enge konzeptuelle Verbindung von Kontrollverlust und ergi am Beispiel der eddischen Skírnismál, als Freyrs Diener Skírnir der Riesin Gerðr damit droht, gegen sie gerichtete (Zauber-/Fluch-)Runen zu ritzen, welche sie mit unkontrollierbarer Lust belegen sollen. Dabei befindet sich unter den Runen ein direkt für ergi stehendes bzw. ergi auslösendes Schriftzeichen: Þurs ríst ek þér oc þriá stafi, ergi oc œði oc óþola; svá ec þat af ríst, sem ec þat á reist, ef goraz þarfar þess.53 Einen þurs ritze ich dir und zwar drei Stäbe, [einmal für] Geilheit und [einmal] für Raserei und [einmal] für unerträgliche Pein; so werde ich das abritzen, wie ich es eingeritzt habe, wenn es erforderlich ist.54

Auch innerhalb dieses Zaubers wird ergi aufschlussreicherweise mit einem Unruhezustand (œði) kombiniert. Gerðr gibt angesichts dieser Fluchandrohung Skírnirs aggressiver Brautwerbung nach55 – und willigt damit in eine zukünftige sexuelle Verbindung mit Freyr ein, die in dem Ordnungsprinzip entsprechenden, gesellschaftlich akzeptablen Bahnen verlaufen wird. Nicht nur mythologische Texte, sondern auch im mittelalterlichen Skandinavien tatsächlich verwendete Liebeszauber, wie ihn die

52 53 54 55

Cleasby; Vigfusson, Icelandic-English Dictionary, S. 133. Skm, Str. 36, Neckel; Kuhn, Edda, S. 76. Übersetzung nach von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 133. S. Skm, Str. 37, Neckel; Kuhn, Edda, S. 77.

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folgende auf das späte 14. Jahrhundert datierte Zauberinschrift aus Bergen bewahrt hat, belegen die Androhung von ergi und óþoli gegen eine Frau, welche sie in unkontrollierbare „Liebe“ zu dem Urheber der Strophen entbrennen lassen sollen: Ríst ek bótrunar, / ríst ek bjargrúnar, / einfalt við alfum, tvífalt við trollum, þrífalt við þursum / [. . .] ek sendi þér, / ek síða þér, / ylgjar ergi ok úþola. / Á þér renni úþoli / ok ioluns móð. / Sittu aldri, / sof þú aldri / . . . ant mér sem sjálfri þér.56 Ich ritze Besserungsrunen, / ich ritze Bergungsrunen, / einmal gegen die Alben, zweifach gegen die Trolle, dreifach gegen die Riesen / [. . .] ich sende dir, / ich zaubere dir, / ‚Wölfinnen‘-Geilheit und unerträgliche Pein. / Möge unerträgliche Pein dich überkommen / und ioluns-Elend57. / Sitz du niemals, / schlaf du niemals / . . . Lieb mich wie dich selbst.58

Man beachte an dieser Stelle erneut die starke Unruhe („sitz du niemals, schlaf du niemals“), welche der Liebeszauber offenkundig als Ergebnis des übersteigerten sexuellen Verlangens auszulösen vermag.59 Nach allem, was wir bisher über Wirkungsweise und Charakteristika des seiðr beobachten konnten, überrascht es nicht, dass der Urheber 56 Zitiert nach von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 136 f. 57 Die genaue Bedeutung dieses Begriffs ist nicht bekannt. Es ist verlockend, ihn in Bezug zu jǫtunn, also Riese, zu interpretieren (vgl. Liestøl, Aslak: „Runer frá Bryggen“, in: Viking, 27, 1964, S. 49 f.), was allerdings eine Emendation der Runeninschrift nötig machen würde. 58 Übersetzung nach von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 137. Vgl. für die Analyse dieser Runeninschrift und den Parallelen in den Skírnismál Liestøl, Runer frá Bryggen, S. 41–50, besonders S. 49. 59 Von See et al. (vgl. von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 137) und Ursula Dronke (Dronke, Poetic Edda, Bd. 2, S. 413) weisen zudem daraufhin, dass die Wendung œði oc óþola in der Duggals leiðsla vorkommt – einer spätestens zu Beginn des 13. Jh.s entstandenen Übersetzung der im 11. Jh. verfassten Visio Tugnaldi bzw. Tunaldi, in welcher ein irischer Ritter eine Traumreise durch Fegefeuer, Himmel und Hölle durchlebt (vgl. Simek; Pálsson, Lexikon der altnordischen Literatur, S. 67). Dort beschreibt sie die Höllenqualen der Unkeuschen: „Þar var [. . .] ædi og oþoli j þeim stodum likams þeira sem skop þeira hofdu uerit [. . .].“ (s. Duggals leiðsla, edited by Peter Cahill. With an English Translation. Reykjavík, 1983 (Stofnun Árna Magnússonar á Íslandi, 25), S. 50 f.) / „Da war [. . .] Raserei und unerträgliche Pein an den Stellen ihrer Körper, wo die Geschlechtsteile gewesen waren.“ (Übersetzung nach von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 137). Eine andere Handschrift der Duggals leiðsla ersetzt óþoli durch óþolanligur bryne, „unerträgliches Brennen“, um die spezielle Bedeutung des Begriffs klarer zu umreißen (vgl. Dronke, Poetic Edda, Bd. 2, S. 413). Auch óþoli dürfte also in den sexuellen Bereich verweisen. Ein weiteres gutes Beispiel für einen Zauber, welcher eine Kombination der eng miteinander verbundenen Phänomene ergi, Unruhe und Kontrollverlust auszulösen vermag, findet sich im Þorleifs þáttr Jarlsskálds: Der sich als Kaufmann betätigende Þorleifr nimmt mit Hilfe von (níð-)Gedichten, denen eine magische Wirkung innewohnt, Rache am Ladejarl Hákon, da dieser zuvor Þorleifrs Waren hatte rauben und seine gesamte Mannschaft ermorden lassen. In Verkleidung und unter falschem Namen gelangt der Isländer an den Hof des Jarls und trägt dort bei einem Gelage zunächst ein Gedicht vor, welches bei seinem Gastgeber einen unerträglichen Juckreiz an pikanter Stelle auslöst, so dass dieser sich nicht stillhalten kann: „En er á leið kvæðit, þá bregðr jarli nǫkkut undarliga við, at óværi og kláði hleypr svá mikill um allan búkinn á honum ok einna mest um þjóin, at hann mátti hvergi kyrr þola, ok svá mikil býsn fylgdi þessum óværa, at hann lét hrífa sér með kǫmbum, þar sem þeim kom at; en þar sem þeim kom eigi at, lét hann taka strigadúk ok ríða á þrjá knúta ok draga tvá menn milli þjóanna á sér.“ („Þorleifs þáttr Jarlsskálds“, in: Jónas

2 Das Konzept ergi – geschlechtliche Konventionen der altnordischen Gesellschaft

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der oben zitierten Runeninschrift aus Bergen für sein Zauberwirken das Verb síða ‚seiðr ausüben‘ verwendet. Als weitere wichtige Elemente, um den Bedeutungsgehalt von ergi zu erfassen, erscheinen sowohl die durch die Verwendung der Fluchrune Þurs (Riese) in den Skírnismál etablierte gedankliche Verbindung von ergi mit übernatürlichen Wesen (hier Riesen) sowie die in der Bergener Runenschrift belegte Konnotation des Begriffes mit einem weiblichen, „mit chaotischer, monströser Macht und Zerstörung“60 assoziiertem Tier, nämlich einer Wölfin (ylgjar ergi, „Wölfinnen-Geilheit“). Damit sind entscheidende Komponenten des ergi-Komplexes erfasst, nämlich die enge gedankliche Verknüpfung von ergi mit übersteigerter und unkontrollierbarer weiblicher Sexualität61 („feminine desire for a man, normal feminine lust driven to excess“62), woher auch die Implikationen von „Unmännlichkeit“ und rezeptiver Homosexualität rühren, wenn der Begriff in Bezug auf einen Mann verwendet wird. Clive Tolley interpretiert den Bedeutungsgehalt von ergi in Hinblick auf beide Geschlechter als die Bereitschaft, sich auf unangemessene Formen des Geschlechtsverkehrs und insbesondere der Penetration einzulassen, was die „maskuline Natur“ eines Mannes signi-

Kristjánsson (Hg.): Eyfirðinga sǫgur. Reykjavík, 1956 (Íslenzk Fornrit, 9), Kap. 5, S. 222) / „Und während des Gedichtes; da geschieht dem Jarl etwas Seltsames, dass Unruhe und ein so starker Juckreiz ihm über den ganzen Körper jagt und am meisten am Hintern, dass er es nirgends ruhig aushalten konnte, und etwas so Seltsames folgte dieser Unruhe, dass er sich mit Kämmen dort kratzen ließ, wo sie hingelangten, aber da wo sie nicht hingelangten, ließ er ein Tuch aus grober Leinwand nehmen und drei Knoten hinein schlingen und zwei Männer es zwischen seinen Arschbacken durchziehen.“ Dass der immense Juckreiz gerade zwischen den Gesäßhälften des Jarls auftritt, ist mit eindeutigen Implikationen von ergi verbunden und lässt ihn die Kontrolle über sich selbst verlieren. Mit einem anschließenden Spottgedicht, den Þokuvísur (‚Nebelstrophen‘) fügt Þorleifr der Männlichkeit seines Widersachers noch weiteren Schaden zu, der sich im Bedeutungsfeld von ergi bewegt: Der Gedichtvortrag führt dazu, dass der Jarl ohnmächtig wird (Kontrollverlust, Passivität, Schwäche) und ihm sowohl sein Bart als auch ein Teil seines Haars ausfällt, wobei letzterer nie wieder nachwächst (s. ebd, S. 223). Das Ausfallen von Haupthaar und Bart steht hierbei ganz klar für den Verlust von Männlichkeit und Potenz seitens des Jarls. 60 Jón Hnefill Aðalsteinsson: Art. „Wolf“, in RGA, Bd. 34. Berlin, New York, 2007, S. 206. Man denke an den Fenriswolf und dessen Rolle bei den ragnarǫk, um sich den enorm destruktiven und bedrohlichen Symbolgehalt der Assoziation mit gerade diesem Tier im altnordischen Kontext zu vergegenwärtigen. 61 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass Frauen in Mittelalter und Früher Neuzeit ein stärkeres Verlangen nach Sex als Männern sowie mangelnde Kontrolle über ihre Triebe zugeschrieben wurde. Vgl. hierzu Bernau, Mythos Jungfrau, S. 144: „Während im Mittelalter und der Frühen Neuzeit Frauen ein stärkerer sexueller Appetit zugeschrieben wurde als Männern, änderte sich dies im 18. und 19. Jahrhundert, als Frauen zunehmend entsexualisiert und zu ‚Hausengeln‘ stilisiert wurden.“ 62 Dronke, Poetic Edda, Bd. 2, S. 413.

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fikant verändere und dem Weiblichen annähere, während ergi in Bezug auf Frauen verwendet eher graduelle Abweichungen von der Geschlechternorm indiziere: Ergi must, I think, be viewed as meaning, in physical terms, “opening oneself up for sexual penetration by an inappropriate person” (which is not so far away from simple lasciviousness) and appropriating to oneself the concomitant shame; in a man’s case this means penetration by anyone, and in a woman’s case by anyone outside a licit relationship, and especially indiscriminately. For a man, this signifies a change in his essential nature, which ought to be one that does not allow penetration, whereas for a woman it is more a matter merely of the degree of her sexual openness.63

In jedem Fall stellt als ergi klassifiziertes Verhalten sowohl für Männer als auch für Frauen einen enormen Verstoß gegen gesellschaftliche Normvorstellungen dar. Der Begriff kann insofern als „Perversion“ gedeutet werden,64 da mit ihm Tabubrüche im sexuellen Bereich (Inzest, Mann in Frauenrolle, Cross-Dressing, Promiskuität) assoziiert werden. Zugleich wird ergi mit der Unfähigkeit konnotiert, seinen Sexualtrieb zu kontrollieren, was mit diesem Begriff bezeichnete Personen in letzter Konsequenz aus der Kategorie des Menschlichen enthebt und sie sowohl Tieren als auch mit dem chaotischen Potential der útgarðr-Sphäre assoziierten, übernatürlichen Wesenheiten wie Trollen oder Riesen annähert: [. . .] control of sexual impulses was regarded as the “human” way of doing things, that is, as the form of behaviour culturally sanctioned by the in-group. Animals and supernatural beings show no such restraint, and humans who failed to do so would be, like solitary witches, shifted toward the supernatural [. . .].65

Ergi impliziert also zwar vielfach „Unmännlichkeit“, ist jedoch im Grunde ein weiter reichendes Konzept, welches verschiedene Kategorien von Verstößen gegen vorherrschende Geschlechternormen, insbesondere im Bereich des Sexualverhaltens, umfasst. In jüngerer Zeit setzt sich in der Forschung daher vermehrt eine Definition des Begriffs ergi und des dazugehörigen Adjektivs argr/ǫrg als ‚queerness‘ bzw. ‚queer‘ durch, womit dem mit ergi assoziierten Überschreiten der (heteronormativ geprägten) Geschlechterkonventionen besser Rechnung getragen werden kann, als es die Übersetzung mit ‚Unmännlichkeit‘ ermöglicht.66 In der altnordischen Literatur spielt das Phänomen ergi, insbesondere in seiner Verbindung zum Konzept níð, eine enorm wichtige Rolle. Hierauf soll später genauer

63 Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 158. 64 Eyvind Fjeld Halvorsen definiert ergi sowohl für Männer als auch für Frauen als „sexuelle Perversion“, sprich ein Verhalten im sexuellen Bereich, das von der vorherrschenden Norm abweicht: „Ergi [. . .] betyder i de eldste kilder alltid seksuell perversitet, hos kvinner nymfomani, hos menn det å la seg bruke som kvinne, homoseksualitet.“ (Halvorsen, Ergi, Sp. 9). 65 Lindow, Supernatural Others, S. 27. 66 S. Ármann Jakobsson, Trollish Acts, S. 117: „[. . .] ergi does mean sexual deviance, and ‘queerness’ is thus a good translation [. . .].“ sowie Mayburd, Helzt þóttumk nú, S. 131: „In recent years, however, there has been a departure from regarding ergi in its strict specificity as unmanliness in favor of interpreting it within broader frames of transgression and perversion [. . .].“

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eingegangen werden, zunächst stellt sich jedoch die Frage, worin die geschlechtlichen Konventionen der altnordischen Gesellschaft bestanden, deren Verletzung der Begriff ergi impliziert. Ein solcher Vorwurf kann nicht nur als rein literarisches Motiv betrachtet werden, er muss in engem Bezug zu den Moralvorstellungen gestanden haben, welche die Lebensrealität der Rezipienten der betreffenden Texte prägte.67

2.2 Geschlechtliche Konventionen der altnordischen Gesellschaft 2.2.1 Zuständigkeitsbereiche von Mann und Frau Die literarischen Quellen, welche uns Auskunft über die geschlechtlichen Konventionen im Norden der Wikingerzeit und des frühen Mittelalters geben können – insbesondere Gesetzestexte sowie die Isländersagas – stammen vornehmlich aus dem 13. und 14. Jahrhundert, lassen aber durchaus Rückschlüsse auf frühere Epochen zu.68 So kann für die altnordische Gesellschaft zunächst eine klare Trennung zwischen männlichem und weiblichem Zuständigkeitsbereich konstatiert werden. Hierbei lagen die Aufgaben einer Frau innan stokks, also innerhalb des Hauses.69 Dies belegt unter anderem eine Passage der Grágás: Þar er samfarar hiona ero. oc scal hann raða fyrir fe þeirra oc kavpom. Eigi er kono scyllt at eiga ibúe nema hon vile. enn ef hon á i bue með honom. þa á hon at raða bú ráþom. fyrir inan stock ef hon vill oc smala nyt.70 Where a man and a wife are in wedlock, then he shall have charge over their property and buying and selling. It is not required of a wife that she should own a share in the household, but if she has a share in the household with him, then she is to run the indoor household if she wishes and the dairying.71

Auch in den Isländersagas kommt die Wendung vera fyrir innan stokks („dem Hauswesen vorstehen“)72 häufig vor.73 Innerhalb der häuslichen Domäne hatte die Frau eine wichtige Position und einiges an Entscheidungsgewalt inne, was sich durch das Tragen von Schlüsseln an ihrem Gürtel ausdrückte.74 Zu ihren Arbeiten zählte

67 Vgl. Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 14. 68 Vgl. Ebel, Else: Art. „Frauenarbeit“, in: RGA, Bd. 9. Berlin, New York, 1995, S. 509. 69 Vgl. Jochens, Jenny: Women in Old Norse Society. Ithaca, London, 1995, S. 117. 70 Grágás efter det Arnamagnæanske Haandskrift Nr. 334 fol. Staðarhólsbók, udgivet af Kommissionen for det Arnamagnæanske Legat. Kjøbenhavn, 1879, [=GrgStað], S. 173. 71 Übersetzung nach Dennis; Foote; Perkins, Grágás, Bd. 2, S. 66. 72 Vgl. Baetke, Wörterbuch, S. 607. 73 Vgl. hierzu die Beispiele bei Ebel, Frauenarbeit, S. 509. 74 Vgl. Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 20 f.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

die Erziehung der Kinder, die Verwaltung der Vorräte, die Zubereitung von Mahlzeiten, das Bedienen der Männer bei Tisch, das Waschen der Wäsche sowie Weben und Spinnen. Auch das Melken von Nutztieren wie Schafen und Kühen fiel in den weiblichen Aufgabenbereich.75 Aufschlussreich sind in dieser Hinsicht die Grabbeigaben wikingerzeitlicher Frauengräber, welche zahlreiche Gerätschaften, die zur Verrichtung von Haushaltspflichten nötig waren, umfassen.76 Die Pflichten des Mannes lagen hingegen útan stokks, außerhalb des Hauses. Dazu gehörten Aufgaben wie Jagd, Fischfang, Ackerbau, Viehwirtschaft und Handel.77 Der Mann repräsentierte seinen Haushalt in rechtlichen Belangen, ihm oblag die Verteidigung seiner selbst und seiner Familie gegen die Außenwelt.78 2.2.2 Kleidungsnormen Auch die Kleidungsnormen der altnordischen Gesellschaft zeigen eine deutliche Distinktion der Geschlechter. So war es Frauen nicht erlaubt, Männerkleidung zu tragen, ihr Haar wie ein Mann zu schneiden, Waffen anzulegen oder sich allgemein wie ein Mann zu benehmen: Ef konor geraz sva af siða at þær ganga ikarlfötom eða hverngi carla sið er þær hafa fyrir breytne sacir oc sva carlar þeir er kuenna sið hafa huernge veg er þat er. þa varðar þat fiorbaugs Garð. huarom sem þat gera.79 If women become so deviant that they wear men’s clothing, or whatever male fashion they adopt in order to be different, and likewise if men adopt women’s fashion, whatever form it takes, then the penalty for that, whichever of them does it, is lesser outlawry.80

Wie oben ersichtlich war es auch Männern nicht gestattet kvenna sið anzunehmen, ein entsprechender Erlass verbot es ihnen außerdem, Frauenkleidung anzulegen: „Slict er mælt um karla af þeir klæðaz kuenna klæðnaðe“81 / „Das gleiche wird für Männer festgesetzt, wenn sie Frauenkleidung anziehen“.82 Das Tragen von Kleidung des jeweils anderen Geschlechts wurde sogar mit dreijähriger Landesverweisung, also einer drakonischen Strafe, geahndet.83

75 Vgl. zu den Aufgaben der Frau Virtanen, E. A.: Art. „Kvinnearbeid“, in: KLNM, Bd. 9, København, 1964, Sp. 565–570 sowie Jochens, Women in Old Norse Society, S. 121–140. 76 Vgl. Virtanen, Kvinnearbeid, S. 566. 77 Vgl. zur Männerarbeit ausführlich Jochens, Women in Old Norse Society, S. 118–120. 78 Vgl. Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 21. 79 GrgKon, S. 47. 80 Übersetzung nach Dennis; Foote; Perkins, Grágás, Bd. 2, S. 69 f. 81 GrgKon, S. 204. 82 Vgl. hierzu auch Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 22. 83 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 208.

2 Das Konzept ergi – geschlechtliche Konventionen der altnordischen Gesellschaft

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Eine Verletzung der Kleidernormen galt zudem als Scheidungsgrund. Dies wird besonders eindrücklich in der Laxdœla saga geschildert: Um sich scheiden lassen und einander heiraten zu können, bezichtigen Guðrún und Þórðr ihre unliebsamen Ehepartner jeweils, Kleidungsstücke angezogen zu haben, welche die geltenden Konventionen hinsichtlich Männer- und Frauenkleidung verletzen. So beschuldigt Þórðr Ingunnarson seine Frau Auðr, Männerhosen84 getragen zu haben: [. . .] þá mælti Guðrún: „Hvárt er þat satt, Þórðr, at Auðr, kona þín, er jafnan í brókum, ok setgeir í, en vafit spjǫrrum mjǫk í skúa niðr?“ Hann kvazk ekki hafa til þess fundit. „Lítit bragð mun þá at,“ segir Guðrún, „ef þú finnr eigi, ok fyrir hvat skal hon þá heita Bróka-Auðr?“ [. . .] Einn dag spurði Þórðr Ingunnarson Guðrúnu, hvat konu varðaði, ef hon væri í brókum jafnan svá sem karlar. Guðrún svarar: „Slíkt víti á konum at skapa fyrir þat á sitt hóf sem karlmanni, ef hann hefir hǫfuðsmátt svá mikla, at sjái geirvǫtur hans berar, brautgangssǫk hvárttveggja.“ [. . .] Þá spratt Þórðr þegar upp ok gekk til Lǫgbergs ok nefndi sér vata, at hann segir skilit við Auði, ok fann þat til saka, at hon skarsk í setgeirabrœkr sem karlkonur.85 [. . .] da sprach Guðrún: „Ist es wahr, Þórðr, dass Auðr, deine Frau, immer Hosen mit einem Zwickel und Wadenbändern bis zu den Schuhen hinunter trägt?“ Er sagte, das habe er nicht bemerkt. „Wenig wird es damit auf sich haben“, sagt Guðrún, „wenn du es nicht bemerkst, und weswegen soll sie dann Bróka-Auðr genannt werden?“ [. . .] Eines Tages fragte Þórðr Ingunnarson Guðrún, was für eine Strafe eine Frau zu erwarten habe, wenn sie immer Hosen wie Männer trüge. Guðrún antwortet: „Dieselbe Strafe erhalten Frauen dafür, wie ein Mann, wenn er einen so großen Halsausschnitt hat, dass man seine Brustwarzen entblößt sieht, ein Scheidungsgrund in beiden Fällen.“ [. . .] Da sprang Þórðr sofort auf und ging zum Gesetzesfelsen und benannte Zeugen, dass er sich von Auðr trenne, und gab als Grund an, dass sie Hosen mit Zwickel trage wie Mannweiber.

Die Scheidung wird aufgrund dieser Anschuldigung bewilligt. Zuvor war bereits Guðrún dem Rat Þórðrs gefolgt, um sich ihres Mannes Þorvaldr zu entledigen: Sie fertigte für ihn ein Hemd mit einem „Halsausschnitt, der einen Scheidungsgrund darstellte“86, und konnte durch den Vorwurf, ihr Mann würde ein solch anstößiges Hemd tragen, die Scheidung von ihm erwirken.87 Anhand der oben zitierten Passage muss man sich unter dem verpönten und als effeminiert eingestuften Kleidungsstück wohl ein so weit ausgeschnittenes Hemd vorstellen, dass die Brustwarzen sichtbar waren.88

84 Hierbei stellt nicht das Tragen von Hosen an sich einen Bruch der Konventionen dar, sondern der Umstand, dass diese mit einem setgeiri, also einem Zwickel, sowie spjarrar (‚Wadenbinden‘) versehen sein sollen, was sie zu einem dezidiert männlichen Kleidungsstück macht. Vgl. hierzu auch Falk, Hjalmar: Altwestnordische Kleiderkunde mit besonderer Berücksichtigung der Terminologie. Kristiania, 1919 (Videnskapsselskapets Skrifter. II. Hist.-Filos. Klasse. 1918, 3), S. 122 u. S. 127 sowie Sauckel, Kleidung, S. 12. 85 Laxd, Kap. 35, ÍF 5, S. 95 f. 86 Vgl. Laxd, Kap. 34, ÍF 5, S. 94: „brautgangssǫk hǫfuðsmátt“. 87 Vgl. ebd. 88 Dies dürfte mit der Vorstellung verbunden sein, dass die Brustwarzen einen weiblich konnotierten Körperteil darstellen und sozusagen das Weibliche im Mann zeigen; vgl. dazu auch Baumann, Das dop-

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Ein weiterer literarischer Beleg für die strengen Kleidernormen der altnordischen Gesellschaft und die Implikationen, welche mit ihrer Verletzung einhergingen, entstammt der Njáls saga. In der betreffenden Episode soll mithilfe einer hohen Bußleistung für Hǫskuldr, den die Njálssöhne getötet haben, eine Blutfehde zwischen den betroffenen Familien verhindert werden. Das Silber liegt bereit, um von den Verwandten des Hǫskuldr entgegengenommen zu werden, als Njáll ein seidenes Kleidungsstück auf den Geldhaufen legt: Njáll tók þá fé þat, er hann hafði, ok var þat annat hundrað silfrs. [. . .] Njáll tók silkislœður ok bóta ok lagði á ofan á hrúguna.89 Njáll nahm da das Geld, das er hatte, und das war ein zweites Hundert an Silbermünzen. [. . .] Njáll nahm die seidenen slœður [ein seidenes Schleppgewand] und Stiefel und legte sie oben auf den Haufen.

Bei den slœður handelt es sich um ein Gewand, das gleichermaßen von Mann und Frau getragen werden konnte, wie entsprechende Belegstellen aus der altnordischen Literatur zeigen.90 Im eigentlichen Wortsinn müsste damit ein Schleppgewand gemeint sein, allerdings dürfte damit im Allgemeinen ein langes, tunikaartiges Kleidungsstück, vergleichbar dem kyrtill bezeichnet worden sein. Oftmals werden die slœður als besonders prachtvoll und – wie in der Njáls saga – von kostbarem Stoff, insbesondere Seide, beschrieben. Diese Gabe des Njáll führt nun zum Eklat: Flosi und Skarpheðinn, ein Sohn Njálls, geraten ob des Gewandes in heftigen Streit, der Vergleich kommt nicht zustande. Im darauffolgenden Racheakt der Verwandten des Hǫskuldr verlieren Njáll und seine Familie ihr Leben. Die entsprechende Passage lautet wie folgt: Síðan tók hann [Flosi; C. K.] upp slœðurnar ok spurði, hverr til mundi hafa gefit [. . .]. Skarpheðinn mælti: „Hvar ætlar þú, hverr til hafi gefit?“ Flosi mælti: „Ef þú vill þat vita, þá mun ek segja þér, hvat ek ætla: þat er mín ætlan, at til hafi gefit faðir þinn, karl inn skegglausi – því at margir vitu eigi, er hann sjá hvárt hann er karlmaðr eða kona.“ Skarpheðinn mælti: „Illa er slíkt gǫrt at sneiða honum afgǫmlum, er engi hefir áðr til orðit dugandi maðr. Meguð þér þat vita, at hann er karlmaðr, því at hann hefir sonu getit við konu sinni. Hafa fáir várir frændr legit óbœttir hjá garði, svá at vér hafim eigi hefnt.“ Síðan tók Skarpheðinn til sín slœðurnar, en kastaði brókum blám til Flosa ok kvað hann þeira meir þurfa. [. . .] „Því þá – ef þú ert brúðr Svínfellsáss, sem sagt er, hverja ina

pelte Geschlecht, S. 378. Obschon kaum davon auszugehen ist, dass das ebenfalls als „Hemd“ bezeichnete Unterkleid der Frau die Brustwarzen nicht bedeckte, belegen archäologische Funde jedoch immerhin, dass es wesentlich weiter ausgeschnitten war als das der Männer; vgl. Sauckel, Kleidung, S. 105. 89 Nj, Kap. 123, ÍF 12, S. 312. 90 In der Egils saga (Kap. 79, ÍF 2, S. 274) trägt Egills Sohn unerlaubterweise die slœður seines Vaters zum Althing, während sie in Rígsþula Str. 29 (s. Neckel; Kuhn, Edda, S. 284) von einer Frau getragen werden. Vgl. zu den slœður auch Falk, Kleiderkunde, S. 160 f. sowie Dronke, Ursula: The Role of Sexual Themes in Njáls Saga. The Dorothea Coke Memorial Lecture in Northern Studies delivered at University College London 27 May 1980. London, 1981, S. 12 f.

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níundu nótt ok geri hann þik konu.“ Flosi hratt þá fénu ok kvazk þá engan penning skyldu af hafa ok sagði, at vera skyldi annat hvárt: Hǫskuldr skyldi vera ógildr, ella skyldi þeir hefna hans.91 Dann hob er [Flosi] die slœður hoch und fragte, wer sie dazugegeben habe [. . .]. Skarpheðinn sprach: „Was meinst du, wer sie dazugegeben hat?“ Flosi sagte: „Wenn du das wissen willst, dann will ich dir sagen, was ich glaube: Das ist meine Vermutung, dass dein Vater sie dazugelegt hat, der bartlose Kerl – denn viele, die ihn sehen, wissen nicht, ob er ein Mann oder eine Frau ist.“ Skarpheðinn sagte: „Schlimm ist das getan, einen so alten Mann zu verspotten, wo sich zuvor kein rechtschaffener Mann dazu hergegeben hat. Du magst erkennen, dass er ein Mann ist, weil er Söhne mit seiner Frau gezeugt hat. Wenige von unseren Verwandten sind ungesühnt beim Hof gelegen, so dass wir sie nicht gerächt hätten.“ Dann nahm Skarpheðinn die slœður an sich und warf ihm ein paar blaue Hosen zu und sagte, dass er ihrer mehr bedürfe. [. . .] „Deshalb, wenn du, wie man sagt, jede neunte Nacht die Braut des Svínfellsáss bist und er dich zur Frau macht.“ Da versetzte Flosi dem Geld[haufen] einen Stoß und sagte, er wolle keine Münze davon haben, und sagte, dass eines von beidem eintreten solle: Hǫskuldr sollte ungebüßt bleiben, oder sie sollten ihn rächen.

Dass das Schenken eines an sich harmlosen – und überdies noch äußerst wertvollen, da aus Seide gefertigten92 – Kleidungsstücks als derartiger Affront aufgefasst wird, erscheint für den heutigen Leser der Saga zunächst verwunderlich, im Hinblick auf die geschlechtlichen Konventionen der altnordischen Gesellschaft ist dies jedoch durchaus nachvollziehbar: Für Flosi implizieren die silkislœður den Vorwurf von ergi. Das Gewand muss in diesem Fall also entweder feminin konnotiert gewesen sein – was bei einem weit fallenden, einem Frauenkleid nicht unähnlichen Schleppgewand leicht vorstellbar ist – oder aufgrund seiner Verwendbarkeit für beide Geschlechter zumindest ein dubioses Licht auf das männliche Erscheinungsbild und damit die Maskulinität seines Trägers als solche geworfen und somit ergi im Sinne einer nicht eindeutig zuzuordnenden, liminalen Geschlechtsidentität suggeriert haben. Denkbar wäre auch, dass die silkislœður eine Assoziation mit ergi hervorriefen, weil sie aufgrund ihres wertvollen Materials und ihres Schnittes die Bewegungs- und damit verbunden auch die Handlungsfreiheit des Trägers stark eingeschränkt haben dürften: In einem derartigen Gewand sind keine großen körperlichen Aktivitäten möglich; ein Kampf wäre darin etwa nur schwerlich auszufechten. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass man mit einem derart kostbaren Kleidungsstück schonend umging und alles vermied, was es zerstören könnte. Das Tragen der silkislœður impliziert also eine passive Haltung und das Agieren in einer häuslichen, mit Weiblichkeit assoziierten Sphäre, was für einen Mann gemäß altnordischer Geschlechterkonventionen durchaus ein gewisses Maß an ergi beinhaltet. In der Tat hat Flosi, indem er seinen Verwandten nicht gerächt hat, ein Versäumnis begangen, welches ihm als ergi zur Last gelegt werden kann: Seine Bereitschaft zu

91 Nj, Kap. 123, ÍF 12, S. 313 f. 92 Vgl. Sauckel, Kleidung, S. 111.

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einer friedlichen Lösung durch den Vergleich steht hier gegen die Verpflichtung zur Rache und wird durch Skarpheðinn ebenfalls mit einer unmännlichen bzw. feigen Haltung in Verbindung gebracht. Im Gegenzug bezichtigt nun Flosi Njáll, den er zu Recht hinter diesem Geschenk vermutet, der Unmännlichkeit und unterstreicht dies noch mit einer höhnischen Bemerkung in Bezug auf dessen fehlenden Bartwuchs. Der Schlagabtausch zwischen Flosi und Skarpheðinn fällt insbesondere gegen Ende, als Flosi sexuelle Beziehungen mit einem Troll vorgeworfen werden, in den Bereich des níð, auf den später noch genauer eingegangen werden soll.93 Hinsichtlich der altnordischen Kleidungskonventionen fällt somit ebenfalls eine strenge Abgrenzung von männlicher und weiblicher Sphäre auf, deren Überschreitung erhebliche Sanktionen nach sich ziehen konnte. 2.2.3 Verhaltenskonventionen Hinsichtlich des Verhaltens von Mann und Frau war die altnordische Gesellschaft ebenfalls von ganz bestimmten Vorstellungen geprägt. An dieser Stelle sollen jedoch nur zwei Phänomene herausgegriffen werden: Konventionen bezüglich der Gefühlsäußerungen von Mann und Frau, wie sie uns in den altnordischen Quellen begegnen, sowie Verhaltenskonventionen im Zusammenhang mit dem Komplex der Rache. Das offene Ausleben von Gefühlen wurde dem Zeugnis der Quellen zufolge für einen Mann als nicht passend empfunden. So berichtet die Njáls saga davon, wie Gunnarr af Hlíðarendi gemeinsam mit seinem Bruder das Freundespaar Otkell und Samkell sowie sechs weitere Männer tötet, weil diese ihm vorwerfen, öffentlich geweint zu haben, als Otkell absichtlich über ihn hinweg ritt und ihn mit seinen Sporen nahe des Ohrs verletzte.94 Da das Weinen als Ausdruck von Effemination betrachtet wurde, stellt dieser Vorwurf eine enorme Kränkung dar; Gunnarr muss seine Ehre durch den Totschlag also wiederherstellen. Gefühlsäußerungen von Männern werden in der altnordischen Literatur eher indirekt umschrieben. So stehen physische Veränderungen, wie zum Beispiel das Wechseln der Gesichtsfarbe oder das Anschwellen des Körpers, als äußere Anzeichen für starke Emotionen bei Männern. In der Njáls saga reagiert Flosi heftig auf Hildigunnrs Forderung, ihren Mann zu rächen, wenn er nicht als hvers manns níðingr (d. h. als ehrloser, von aller Welt verachteter Mann) gelten will.95 Der Aufruhr seiner Gefühle wird durch eine rasch wechselnde Gesichtsfarbe ausgedrückt: Flosa bra svá við, at hann var í andliti stundum rauðr sem blóð, en stundum fǫlr sem gras, en stundum blár sem hel.96

93 Vgl. zu diesem Beispiel aus der Njáls saga auch Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 9–11. 94 Vgl. Nj, Kap. 53 u. 54, ÍF 12, S. 133–136. 95 Vgl. Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 31 f. Auf den níð-Komplex wird in Kapitel VIII 2.3 der vorliegenden Untersuchung noch genauer eingegangen. 96 Nj, Kap. 116, ÍF 12, S. 292.

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Flosi war so erregt, dass er im Gesicht bald rot wie Blut, bald bleich wie Gras97 und blau wie Hel wurde.

Egills Trauer um den Tod seines Sohnes Bǫðvar äußert sich nach dessen Beerdigung durch ein so heftiges Anschwellen des Körpers, dass Egills Kleidung zerreißt: En svá er sagt, þá er þeir settu Bǫðvar niðr, at Egill var búinn: hosan var strengð fast at beini; hann hafði fustanskyrtil rauðan, þrǫngvan upphlutin ok láz at síðu; en þat er sǫgn manna, at hann þrútnaði svá, at kyrtillinn rifnaði af honum ok svá hosurna.98 Und es wird erzählt, dass Egill so gekleidet war, als man Bǫðvar begrub: Seine Strümpfe waren fest am Bein gebunden, er hatte ein Obergewand aus rotem Baumwollstoff an, mit enganliegendem Oberteil und an der Seite mit einem Band geschnürt; und das erzählen die Leute, dass er so anschwoll, dass das Obergewand an ihm zerriss und auch die Strümpfe.

Diese äußeren Anzeichen verraten also, dass ein Mann sich in einem sehr emotionalen Zustand befindet; es wird von Männern jedoch offenbar eine gewisse Kontrolle über ihre Gefühlsäußerungen erwartet. Allerdings ist es nicht die Fähigkeit, tiefe Gefühle zu empfinden, die als unmännlich empfunden wird, sondern das offene zur Schau Tragen derselben.99 Für Frauen gilt diese Einschränkung anscheinend nicht: Die altnordische Literatur porträtiert weibliche Gefühlsäußerungen sehr viel direkter als die der Männer. Hier soll als kurzes Beispiel nur Hildigunnrs Verhalten in der bereits erwähnten Passage der Njáls saga genannt werden. Im Gegensatz zu Flosi zeigt Hildigunnr offen ihre Emotionen, wobei sie ihre Tränen den Blicken Flosis sogar absichtlich enthüllt: „Þá kom Hildigunnr í stofuna ok gekk fyrir Flosa ok greiddi hárit frá augum sér ok grét.“100 / „Da kam Hildigunnr in die Stube und trat vor Flosi und strich sich das Haar aus der Stirn und weinte.“ Ehre und soziales Ansehen waren in dem stark männlich geprägten Wertesystem der altnordischen Gesellschaft von enormer Wichtigkeit. Dementsprechend hatte ein Mann die Verpflichtung, Ehrverletzungen zu rächen. Oftmals sind es in der altnordischen Literatur jedoch Frauen, die zögerliche Männer an diese Pflicht erinnern müssen:101 Die Aufreizung eines Mannes zur Rache durch frýjur, also Vorwürfe und Anschuldigungen insbesondere seitens einer Frau, ist ein sehr häufig gebrauchtes Motiv der altnordischen

97 Das altnordische Adjektiv fǫlr ist mit ‚bleich‘, ‚fahl‘ zu übersetzen und indiziert ein Verblassen der ursprünglichen Farbe. Dass Flosi in der oben zitierten Passage blass wird, ist auch für den heutigen Rezipienten der Saga sehr gut nachvollziehbar, jedoch verwundert der Vergleich mit Gras, da ‚fahl‘ als ein ungewöhnliches Farbattribut für Pflanzen erscheint und eher ‚grün‘ zu erwarten wäre. Gemeint ist vielleicht ausgebleichtes, verwelktes oder von Natur aus eher blassgelbes/blassgrünes Gras. De Vries setzt fǫlr etymologisch in Bezug zu schwed. fǫlna ‚verwelken‘, ‚blass werden‘, was offensichtlich ebenfalls zur Beschreibung von Pflanzen eingesetzt werden kann; vgl. de Vries, Etym. Wörterbuch, S. 150. 98 Eg, Kap. 78, ÍF 2, S. 243 f. 99 Vgl. hierzu auch Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 21. 100 Nj, Kap. 116, ÍF 12, S. 290. 101 Vgl. Præstgaard Andersen, On Valkyries, S. 304.

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Literatur. Die vorherrschende maskuline Ethik wird in diesem Fall durch die „Hetzerin“ bestätigt und verteidigt.102 Was die Rache für Ehrverletzungen angeht, teilen Mann und Frau den Quellen zufolge also dieselben Wertvorstellungen, allerdings sind ihre Rollen hinsichtlich deren Umsetzung klar voneinander getrennt: Frauen können in der Regel nicht selbst Rache nehmen, wohl aber Männer verbal dazu anstacheln. Gerade in Verbindung mit dem Komplex der Rache besteht aber zuweilen die Möglichkeit für eine Frau, in eigentlich dem Mann zugedachter Rolle zu agieren. 2.2.4 Grenzüberschreitungen Das Übertreten der geschlechtlichen Konventionen durch eine Frau ist ein weit verbreitetes Motiv in der altnordischen Literatur, das in unterschiedlichen Kontexten verwendet wird. So kann, wie oben bereits erwähnt, die Frau als Rächerin auftreten, insbesondere wenn die Männer in ihrer Umgebung dieser Verpflichtung nicht nachkommen. In der Laxdœla saga nimmt Auðr, da ihre beiden Brüder keinerlei Anstalten dazu machen, selbst Rache an Þórðr, der sich unter dem Vorwand, sie würde Männerkleidung tragen, von ihr hatte scheiden lassen: [. . .] ok nǫkkuru fyrir sólarfall sté Auðr á bak, ok var hon þá at vísu í brókum. Smalasveinn reið ǫðrum hesti ok gat varla fylgt henni, svá knúði hon fast reiðina. [. . .] Hon gekk í lokrekkjuna, en Þórðr svaf ok horfði í lopt upp. Þá vakði Auðr Þórð, en hann snerisk á hliðina, er hann sá, at maðr var kominn. Hon brá þá saxi ok lagði at Þórði ok veitti honum áverka mikla, ok kom hon á hǫndina hœgri; var hann sárr á báðum geirvǫrtum; svá lagði hon til fast, at saxit nam í beðinum staðar.103 [. . .] und kurz vor Sonnenuntergang stieg Auðr zu Pferde, und sie trug da tatsächlich Hosen. Der Hütejunge ritt ein weiteres Pferd und konnte ihr kaum folgen, so schnell ritt sie. [. . .] Sie ging in die Schlafkammer, doch Þórðr schlief mit dem Gesicht nach oben. Da weckte Auðr Þórðr, aber er drehte sich auf die Seite, als er sah, dass jemand gekommen war. Da zog sie den Sax und hieb nach Þórðr und fügte ihm schwere Verletzungen zu, sie traf auch den rechten Arm; er wurde an beiden Brustwarzen verwundet; so fest schlug sie zu, dass der Sax im Bettrahmen stecken blieb.

Im Rahmen ihrer Rache begeht Auðr also ganz bewusst den Konventionsbruch, der ihr vorgeworfen worden war: Sie verwundet Þórðr schwer mit einem Schwert104 und trägt, wie die Saga ausdrücklich betont, diesmal in der Tat Männerkleidung. Auðrs Handlungsweise wird positiv bewertet und nicht einmal Þórðr selbst will sie dafür bestrafen, da sie nur getan habe, was sie tun musste („sagði hana slíkt hafa at gǫrt, sem 102 Vgl. Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 21. 103 Laxd, Kap. 35, ÍF 5, S. 98. 104 Dass Auðr ihren geschiedenen Mann gerade an den Brustwarzen schwer verletzt, scheint in Bezug zu der Intrige um das weit ausgeschnittene Hemd zu stehen, welches Guðrún als Vorwand zur Scheidung einsetzte. In diesem Kontext könnte die Art der Verletzung eine passende Rache für die Anschuldigung, die Geschlechterkonventionen gebrochen zu haben, darstellen und einen gegen Þórðr gerichteten Vorwurf der Unmännlichkeit implizieren.

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hon átti“105). Eine weitere wichtige Frauengestalt der Laxdœla saga, Unnr djúpúðga, agiert ebenfalls in Männerrolle, wenn auch aus ganz anderen Beweggründen als Auðr.106 Nach dem Tod ihres Vaters und ihres Sohnes ergreift die bereits verwitwete Unnr die Initiative und beschließt, mit ihren verbleibenden Verwandten von Schottland nach Island überzusiedeln. Dies wird auch in der Saga selbst als außergewöhnliche Leistung für eine Frau dargestellt: Eptir þat lætr hon gera knǫrr í skógi á laun, ok er skipit var algǫrt, þá bjó hon skipit ok hafði auð fjár. Hon hafði brott með sér allt frændlið sitt, þat er á lífi var, ok þykkjask menn varla dœmi til finna, at einn kvenmaðr hafi komizk í brott ór þvílíkum ófriði með jafnmiklu fé ok fǫruneyti; má af því marka, at hon var mikit afbragð annarra kvenna.107 Daraufhin ließ sie heimlich im Wald einen Knörr bauen, und als das Schiff fertiggestellt war, da machte sie das Schiff zur Ausfahrt bereit und sie hatte einen Überfluß an Hab und Gut. Sie nahm all ihre Verwandten mit sich fort, die am Leben waren, und es schien den Menschen kaum ein Beispiel dafür zu finden zu sein, dass eine Frau aus solchem Unfrieden mit so viel Besitz und Begleitung davongekommen sei; daran kann man erkennen, dass sie sich weit vor anderen Frauen auszeichnete.

Im Folgenden nimmt Unnr Land und wird voll und ganz zum respektierten Oberhaupt ihrer Familie mit allen damit verbundenen Pflichten, wie etwa der Verheiratung ihrer Enkeltöchter und ihres Enkelsohnes. Unnr wird durchweg positiv, als tatkräftige und hervorragende Frau beschrieben. Sie übernimmt die sozialen Funktionen eines männlichen Familienoberhauptes, da die Männer, welche sie hätten ausführen können, bereits verstorben sind. In der Tat genossen verwitwete Frauen eine gewisse Selbstständigkeit in der altnordischen Gesellschaft.108 Auðr und Unnr verletzen also beide die für ihr Geschlecht geltenden Normvorstellungen, werden dabei jedoch positiv bewertet: Sie sind Ausnahmefrauen in Ausnahmesituationen, die an Stelle der Männer das tun, was getan werden muss. Insbesondere im Bereich der Götter- und Heldensagen spielt das Motiv der kriegerischen Frauen, der valkyrjur (‚Walküren‘) und skjaldmeyjar (‚Schildmaiden‘), eine sehr wichtige Rolle. Wenngleich bisweilen die Begriffe valkyrja und skjaldmær zu einem gewissen Grad austauschbar erscheinen – so wird in den eddischen Heldenliedern Brynhildr sowohl als valkyrja als auch als skjaldmær tituliert109 –, zeigt sich doch ein erheblicher Unterschied zwischen den valkyrjur und den skjaldmeyjar der Vorzeitsagas: Letztere agieren in Männerrolle und nehmen aktiv am Kampfgeschehen teil. Die in einigen Heldenliedern der Edda feststellbare Vermischung der 105 Laxd, Kap. 35, ÍF 5, S. 98. Vgl. dazu Jesch, Judith: Women in the Viking Age. Woodbridge, 1991, S. 193 f. und Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 22. 106 Bei Unnr handelt es sich um keine rein fiktive Gestalt: Sie wird auch in der Landnámabók unter dem Namen Auðr enna djúpauðgu erwähnt, s. Ldn, S. 31. 107 Laxd, Kap. 4, ÍF 5, S. 7. 108 Vgl. auch Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 21 f. 109 Vgl. Præstgaard Andersen, On Valkyries, S. 292.

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Vorstellungen von valkyrjur und skjaldmeyjar beruht vermutlich auf einer Ausweitung des Walkürenbegriffs auf Sagenfiguren, die ursprünglich keine Walküren darstellten.110 Diese „weltlichere“ Variante der valkyrjur vereint bisweilen traditionelle Tugenden beiderlei Geschlechter: So wird Brynhildr in der Vǫlsunga saga zum einen als kriegerische Frau beschrieben, zugleich wird jedoch auch ihre Schönheit und ihr großes Geschick in Handarbeiten gepriesen: Enn Brynhilldr for med hialm ok brynju ok geck at vighum. Var hun þvi kaullut Brynhilldr. [. . .] Þa var heim kominn til Heimis Brynhilldr fostra hans. Hun sat i eine skemu vid meygiar sinar. Hun kunne meiRa hagleik en adrar konur. [. . .] Þa ser hann eina fagra konu ok kennir, at þar er Brynhilldr.111 Doch Brynhildr ging in Helm und Brünne und zog in den Kampf. Daher wurde sie Brynhildr genannt. [. . .] Da war Brynhildr, Heimirs Ziehtochter, heim zu ihm gekommen. Sie saß in einem Frauengemach mit ihren Mädchen. Sie verstand sich mehr auf kunstvolle Handarbeiten als andere Frauen. [. . .] Da sieht er eine schöne Frau und erkennt, dass es Brynhildr ist.

Repräsentiert Brynhildr einen skjaldmeyjar-Typus, der in der Lage ist männliche und weibliche Qualitäten zu vereinen und Männern ganz und gar nicht abgeneigt ist,112 porträtieren die Vorzeitsagas mit Vorliebe kämpferische Frauen, die ganz in einer maskulinen Rolle aufgehen und keinerlei Interesse an Beziehungen zu Männern – bzw. konkreter an einer ehelichen Verbindung – zu hegen scheinen. Als eine solche Schildmaid stellt sich die Gestalt der Hervǫr in der Heiðreks saga dar. Der Text weist zahlreiche Namensgleichheiten der Hauptpersonen auf, weswegen auch zwei verschiedene Frauen mit Namen Hervǫr in der Saga eine Rolle spielen; bei beiden handelt es sich um skjaldmeyjar. Die erste Hervǫr wird als schöne Frau beschrieben, sie übt sich allerdings von Jugend an im Gebrauch von Waffen und betätigt sich darüber hinaus sogar als Wegelagerer.113Ausgerüstet wie ein Mann und unter Männernamen geht sie schließlich obendrein auf Wikingfahrt: Siþan bíoz hon i brot ein saman ok tok ser karllmaNz gíorfi ok uopN ok sottí þar til, er uikingar nockurer uoru, ok for med þeim um hrid ok nefndíz Heruardr.114 Dann brach sie allein auf und verschaffte sich die Kleidung eines Mannes und Waffen und begab sich dorthin, wo einige Wikinger waren, und fuhr eine zeitlang mit ihnen und nannte sich Hervarðr.

Auch die zweite Hervǫr, eine Gestalt der in der Heiðreks saga überlieferten Hlǫðskviða, lässt als Schildmaid bei der Verteidigung einer Grenzfestung gegen das hunnische

110 Vgl. Zimmermann, Walküren, S. 597 und S. 600. 111 Vǫls, Kap. 24 (23) u. 24 (25), STUAGNL 36, S. 57 f. 112 Vgl. Præstgaard Andersen, On Valkyries, S. 309. 113 Heiðr, STUAGNL 48, S. 15. 114 Heiðr, STUAGNL 48, S. 17.

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Heer ihr Leben;115 auf sie soll jedoch an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Ebenfalls ganz in Männerrolle regiert Königin Ólǫf in der Hrólfs saga kraka über Saxland: Hun var áá þä leid sem herkongar. Hun för med skiǫlld og bryniu og suerdi girt og hialm áá hǫfdi. Þanninn var henni hättad, væn ad jferliti enn grimm j skapi ok störmannlig.116 Sie war da nach Art der Heerkönige unterwegs. Sie zog mit Schild und Brünne und umgegürtetem Schwert und einem Helm auf dem Kopf. So war es um sie bestellt, von schönem Aussehen, aber grimmigem Wesen und nach der Art eines großartigen Mannes.

Eine Heirat lehnt die wehrhafte Königin ab.117 Hiermit nähern wir uns einer in den Vorzeit- und Rittersagas überaus beliebten Variante des Motivs der Geschlechterkonventionen überschreitenden Frau, nämlich dem des meykóngr (‚Mädchenkönig‘), einer kriegerischen Herrscherin, deren maskuline Seite von einem Mann überwunden werden muss, um sie zu einer den Normvorstellungen entsprechenden „weiblichen“ Frau zu machen.118 Dabei impliziert der Begriff meykóngr bereits „the inherent incompatibility of female sexuality and the male behaviour necesseray for warriors and rulers.“119 Bemerkenswert ist, dass auf die ‚Mädchenkönige‘ in den jeweiligen Quellen mit männlichem Personalpronomen Bezug genommen wird. Die Überschreitung der geschlechtlichen Konventionen ist innerhalb der betreffenden Texte also auch grammatikalisch umgesetzt. Obgleich Þornbjǫrg in der Hrólfs saga Gautrekssonar nicht als meykóngr bezeichnet wird, lassen sich die charakteristischen Züge des Motivs anhand dieses Beispiels gut aufzeigen. Hrólfr wirbt um die Königstochter, die allerdings keinerlei Interesse daran hat, zu heiraten. Als unverheiratete Frau herrscht sie über ein Drittel von Schweden, nimmt dabei jedoch die Position eines männlichen Herrschers ein: Sie führt den Männernamen Þórbergr und lehnt es ab, auch nur als Frau bezeichnet zu werden. Verschiedene Brautwerber hat Þornbjǫrg bereits töten, verstümmeln oder kastrieren lassen, da sie ihr Werben als Angriff auf ihre „Männlichkeit“ und somit als Beleidigung wertet.120 115 Vgl. Hunn (= Hlǫðskviða), Str. 16–21, Neckel; Kuhn, Edda, S. 307 f. 116 Hrólf, Kap. 6, EA B 1, S. 16 f. 117 S. Hrólf, Kap. 6, EA B 1, S. 17: „enn hun villdi þö ǫnguan mann eiga“ / „und dennoch wollte sie mit keinem Mann verheiratet sein“. 118 Nach Lise Præstgaard Andersen gehört das Motiv zum Gesamtkorpus von Märchen- und Erzählmotiven von der Zähmung der hochmütigen, männerfeindlichen Frau: „Fortælleren indfører det motiv, der i den internationale eventyrforskning går under betegnelsen AT 900 König Drosselbart (efter Grimms eventyr af dette navn), også kendt fra Shakespeares Trold kan tæmmes eller Drachmanns Der var engang, om den hovodmodige prinsesse, der afviser sine bejlere for til sidst at blive overvundet og ydmyget af én af dem.“ (Præstgaard Andersen, Lise: Skjoldmøer. En kvindemyte. København, 1982, S. 98). 119 Jochens, Jenny: Old Norse Images of Women. Philadelphia, 1996, S. 102. 120 S. „Hrólfs saga Gautrekssonar“, in: Rafn, Carl Christian (Hg.): Fornaldar sögur Nordrlanda, Bd. 3. Kaupmannahöfn, 1830, Kap. 6, S. 75. Vgl. hierzu Meulengracht Sørensen, Unmanly Man,

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

Hrólfr und seinem Bruder Ketill gelingt es jedoch, Þornbjǫrg zu besiegen. Im Kampf verpasst Ketill ihr mit der Breitseite seines Schwertes einen klámhǫgg – einen entehrenden Schlag – aufs Gesäß,121 mit dem höhnischen Kommentar, sie so von ihrem lendakláði (‚Lendenjucken‘, ‚sexuelles Begehren‘) zu befreien: Ketill var þá svâ nær kominn konúngi þeirri, at hann sletti flö u sverði um lendar konúngi, ok greip hann, ok mælti: frú! segir hann, sva lokkum vèr af yðr lendakláðann, ok kalla ek þetta klámhögg.“122 Ketill war so nahe an ihren König herangekommen, dass er mit dem flachen Schwert über die Lenden des Königs schlug, ihn packte und sprach: „Herrin“, sagt er, „so nehmen wir Euch das Lendenjucken und das nenne ich einen Schandhieb.“

Meulengracht Sørensen weist darauf hin, dass an dieser Stelle die gleiche sexuell aufgeladene Symbolik benutzt wird, um die Herrscherin in Männerrolle zu beleidigen, wie sie gegen einen in biologischer Hinsicht „echten“ Mann verwendet werden würde, um ihn in seiner Männlichkeit und Ehre zu kränken. Das Ziel ist auch hier, Þornbjǫrgs „Männlichkeit“ anzufechten, denn immerhin wollen die Brüder, dass sie ihre maskuline Rolle verwirft: Ketills klámhǫgg is here to be understood not only as humiliation of a conquered adversary, but also as the symbolic indication that he means to deprive her of the man’s role she has adopted. [. . .] In the vulgar expression ‘loin-itch’ (lendakláði) the sexual import of the action is clearly brought out.123

Schlussendlich gibt Þornbjǫrg ihren Widerstand auf, sie heiratet Hrólfr, legt ihre Waffen vor ihrem Vater nieder und widmet sich – dergestalt gezähmt – gemeinsam mit ihrer Mutter in den Frauengemächern Handarbeiten.124 Angesichts der recht strengen Trennung der Geschlechter in der altnordischen Gesellschaft ist die weite Verbreitung des Motivs der Geschlechterkonventionen überschreitenden Frau in der altnordischen Literatur durchaus bemerkenswert. Seine Beliebtheit mag zum einen dadurch begründet sein, dass Werte der dominierenden maskulinen Ethik125 wie Kampfbereitschaft, Aktivität und Ehrenhaftigkeit durch solche Frauengestalten hervorgehoben und bestätigt werden, was sogar (wie im Fall Auðrs in der Laxdœla saga) weibliches Cross-Dressing akzeptabel machen kann. Dies scheint insbesondere auf den realistischeren Bereich der altnordischen Literatur zuzutreffen, wie die aus Isländersagas entnommenen Beispiele der Frau in Männerrolle zeigen. Zum anderen liegt die Begründung vielleicht darin, dass Motive wie das des meykóngr S. 69: „When Hrólfr seeks to marry Princess Þornbjǫrg, she regards it as an affront of the same degree as when a man is accused of effeminacy.“ 121 Vgl. zum klámhǫgg Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 68 f. 122 HG, Kap. 13, FAS 3, S. 102. 123 Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 69. 124 S. HG, Kap. 13, FAS 3, S. 104. 125 Vgl. Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 23.

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männliche Phantasien von der Unterwerfung einer rebellischen Frau durch den Mann befriedigten. Zudem stellen Frauenfiguren des meykóngr-Typus durch ihre Unabhängigkeit und ihr völliges Aufgehen in der Männerrolle die Strukturen der patriarchalischen Gesellschaft in Frage. Ihre Subversivität wird somit zur Bedrohung der Ordnung, welche durch „der Widerspenstigen Zähmung“ wiederhergestellt und bestätigt werden muss: Frauengemeinschaften und kriegerische Jungfrauen wurden allerdings nicht nur gelobt. Dieselben Eigenschaften, die ihnen Bewunderung einbrachten, wurden auch angesichts der lange vorherrschenden Überzeugung, Frauen müssten einem Mann gehören, sei er nun Vater, Ehemann oder Geliebter, als Bedrohung wahrgenommen. Während diese Frauen also einerseits für ihren „Mannesmut“ gepriesen wurden, machte er sie zugleich zu gefährlichen und problematischen Individuen. Frauen, die sich heterosexuellen Spielregeln verweigerten und damit hierarchische Grundvoraussetzungen der Gesellschaft in Frage stellten, wurden eines unweiblichen und unnatürlichen Verhaltens beschuldigt – Zuschreibungen, die in der Karikatur der vermännlichten, männerhassenden Feministin fortleben.126

Angesichts der in der altnordischen Literatur immer wieder begegnenden starken, unabhängigen und Verhaltenskonventionen durchbrechenden Frauen erörtert Carol Clover in ihrem Artikel „Regardless of Sex: Men, Women, and Power in Early Northern Europe“ die These, dass die altnordische Gesellschaft eher als ein „one-sex model“127 zu betrachten sei, in welchem eine maskuline Ethik nicht nur vorherrsche, sondern in dem männliche Werte und letztendlich ein am ehesten als männlich zu erfassendes Gender der einzig existierende Maßstab seien, an dem sich sowohl Männer als auch Frauen messen lassen müssen: „[. . .] it seems likely that Norse society operated according to a one-sex model – that there was one ‘gender’, one standard by which persons were judged adequate or inadequate, and it was something like masculine.“128 Erstrebenswert sei in den Augen der mittelalterlichen Skandinavier somit nicht unbedingt „Männlichkeit“ an sich, genauso wenig wie „Weiblichkeit“ per se verpönt sei; es gehe mehr um die mit dem jeweiligen Geschlecht bzw. Gender assoziierten positiv oder negativ bewerteten Konzepte: Selbstbestimmung, Macht, Freiheit, Aktivität auf der „maskulinen“, Abhängigkeit, Machtlosigkeit, Unfreiheit und Passivität auf der „femininen“ Seite: What finally excites fear and loathing in the Norse mind is not femaleness per se, but the condition of powerlessness, the lack or loss of volition, with which femaleness is typically, but neither inevitably nor exclusively, associated. By the same token, what prompts admiration is not maleness per se, but sovereignty of the sort enjoyed mostly and typically and ideally, but not solely, by men.129

126 127 128 129

Bernau, Mythos Jungfrau, S. 111 f. Clover, Regardless of Sex, S. 379. Ebd. Ebd.

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Innerhalb dieses Systems kann ein Mann, der sich entgegen der maskulinen Ethik verhält und dem ergi vorgeworfen wird, absteigen, sowie eine Frau durch ihren Mut und ihre Tatkraft aufsteigen kann, obwohl sie aufgrund ihres biologischen Geschlechtes sozusagen mit einem Malus behaftet ist.130 Die tatsächlich vorherrschende Dichotomie innerhalb der altnordischen Gesellschaft sei Clover zufolge somit weniger anhand der Gegensätze zwischen maskulin und feminin orientiert, sondern nehme eine Unterscheidung zwischen starken und schwachen Individuen vor: Let me take this a step further and propose that to the extent that we can speak of a social binary, a set of two categories into which all persons were divided, the fault line runs not between males and females per se, but between able-bodied men (and the exceptional woman) on one hand, and on the other, a kind of rainbow coalition of everyone else (most women, children, slaves, and old, disabled or otherwise disenfranchised men). Even the most casual reader of Norse literature knows how firmly drawn is that line, for it suggests itself all over the lexical and documentary map, including in the laws themselves, which distinguish clearly and repeatedly between úmegð (singular úmagi) “dependents” (literally, those who cannot maintain themselves: “children, aged people, men disabled by sickness, paupers, etc.”), on one hand and “breadwinners” (magi/megð) on the other. What I am suggesting is that this is the binary, the one that cuts most deeply and the one that matters: between strong and weak, powerful and powerless or disempowered, swordworthy and unswordworthy, honored and unhonored and dishonored, winners and losers.131

Egal, ob und inwieweit man sich Clovers These vom „one-sex/one-gender model“ der altnordischen Gesellschaft anschließt – vollumfänglich kann ich das angesichts der doch sehr klar umrissenen und voneinander differenzierten Verhaltenskonventionen sowie Zuständigkeitsbereiche für Männer und Frauen, die doch wohl als Belege einer Existenz zweier Gender gelten müssen, nicht tun –, werden hier essentielle Aussagen darüber getroffen, welche Elemente das Konzept ergi ausmachen und welchen Idealvorstellungen – nämlich der Selbstbestimmtheit, der Tatkraft und auch der bereits oben angesprochenen Affektkontrolle – diese zuwiderlaufen. Erneut wird klar, dass eine bloße Definition von ergi als „Unmännlichkeit“ nicht ausreicht, um dem Bedeutungsgehalt dieses Konzepts gerecht zu werden. Dass in jedem Fall eine maskuline Ethik innerhalb der patriarchalischen Gesellschaft des mittelalterlichen Skandinaviens vorherrschte, wird indessen dadurch bestätigt, dass ein positiv konnotierter Bruch der Geschlechterkonventionen nur seitens einer Frau in der altnordischen Literatur zu verzeichnen ist.132 Das Überschreiten der geschlechtlichen Normen durch einen Mann ist hingegen nicht akzeptabel und wird in den Quellen stets mit ergi in Verbindung gebracht: „The mere suggestion of a man in a female role was enough to symbolize unmanliness.“133 So fürchtet beispielsweise

130 Vgl. ebd. 131 Ebd., S. 380. 132 Vgl. Jochens, Images of Women, S. 213 und Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 23. 133 Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 23.

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auch der Gott Þórr in der eddischen Þrymskviða Verachtung – und ganz konkret den Vorwurf von ergi – seitens der anderen Götter, als er in ein Brautgewand gekleidet werden soll, um durch diese List dem Riesen Þrymr den gestohlenen Hammer wieder abzunehmen:134 Þá qvað Þórr, ‚Mic muno æsir ef ec bindaz læt

þrúðugar áss: argan kalla, brúðar líni. ‘135

Da sprach Þórr dies, der kraftvolle Ase: „Mich werden die Asen argr [unmännlich/pervers] nennen, wenn ich mir das Brautleinen umbinden lasse.“

Da das Motiv der kriegerischen Frau also zur Bekräftigung der maskulinen Ethik genutzt werden kann, erfährt es als literarischer Topos durchaus Akzeptanz, während der Mann in Frauenrolle zum Ziel von Spott und Verachtung wird. Im nächsten Abschnitt werde ich mich mit níð, einer spezifischen Variante der Schmähungen, die der „unmännliche Mann“ zu erwarten hatte, näher beschäftigen.

2.3 ergi und níð Das Konzept níð stellt sich als äußerst komplex und schwer zu definieren dar. In den altnordischen Quellen bezeichnet der Begriff gefürchtete und mit hohen Strafen belegte Vorwürfe und Unterstellungen in verbaler (tunguníð) oder bildlicher Form (tréníð, níðstǫng), die darauf abzielen eine Person zu diffamieren und sie als moralisch nicht tragbar aus der Gesellschaft auszuschließen.136 Die Etymologie des altnordischen Wortes níð ist unklar, es wird jedoch angenommen, dass es sich gemeinsam mit u. a. gotisch neiþ ‚Neid‘, altenglisch nīð ‚Feindschaft‘, ‚Kampf‘, althochdeutsch nīd ‚Kampfeseifer‘, ‚Zorn‘, ‚Neid‘ und altirisch nīth ‚Kampf‘, ‚Elend‘ von urgermanisch *nīþa herleitet.137 In der Regel lässt sich das altnordische níð verhältnismäßig klar von anderen, weniger schweren Formen des Hohns und der Satire abgrenzen.138

134 Vgl. ebd. 135 Þrk, Str. 17, Neckel; Kuhn, Edda, S. 113. Vgl. zur Übersetzung dieser Strophe auch von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 552 f. 136 Vgl. Almqvist, Bo: Art. „Níð“, in: RGA, Bd. 21. Berlin, New York, 2002, S. 139. 137 Vgl. Almqvist, Bo: Norrön niddiktning. Traditionshistoriska studier i versmagi. I. Nid mot furstar. With an English Summary. Stockholm, Göteborg, Uppsala, 1965 (Nordiska Texter och undersökningar, 21), S. 35 und de Vries, Etym. Wörterbuch, S. 409. 138 Vgl. Almqvist, Níð, S. 139.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

Wie bereits in den vorherigen Kapiteln besprochen, herrschte in der patriarchalischen Gesellschaft des mittelalterlichen Skandinaviens eine klare Distinktion zwischen den Geschlechtern und damit verbunden eine starke Betonung maskuliner Wertvorstellungen. Die entsprechend dieser Voraussetzungen definierte „Männlichkeit“ eines Mannes muss hierbei zugleich als der Punkt betrachtet werden, an dem er am leichtesten zu verletzen war und der sich dementsprechend am besten dazu eignete, seine Ehre anzugreifen.139 Um einen Mann als unmännlich zu diffamieren, bedient sich níð einer sexuellen Symbolik, die in engem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Tabus hinsichtlich der Überschreitung der Grenze vom Männlichen zum Weiblichen seitens eines Mannes stehen: Also genau dessen, was das Konzept ergi umfasst. Níð und ergi stehen folglich in sehr enger konzeptueller Verbindung zueinander.140 Wie ernst solche Schmähungen genommen wurden und dass sie anscheinend häufig vorkamen, lässt sich den altnordischen Rechtstexten entnehmen. So enthalten sowohl die Gulaþingslǫg als auch die Grágás Verordnungen zur Ahndung von níð. Beiden Gesetzestexten zufolge wurde níð mit Friedlosigkeit bestraft, was einem Todesurteil gleichkam, da der mit útlagr bzw. útlegð Belegte aus dem Rechts- und Sozialverband ausgeschlossen wurde und somit von der beleidigten Partei jederzeit getötet werden konnte.141 Unter der Rubrik Ef maðr niðir annan findet sich in den Gulaþingslǫg folgende Passage: Engi maðr scal gera tungu nið um annan. ne trénið. En ef hann verðr at þvi kunnr oc sannr. at hann gerir þat. þa liggr hanom utlegð við. syni með settar eiði. fellr til utlegðar ef fellr. Engi scal gera yki um annan. æða fiolmæle. þat heiter yki ef maðr mælir um annan þat er eigi ma væra. ne verða oc eigi hever verit. kveðr hann væra kono niundu nott hveria. oc hever barn boret. oc kallar gylvin. þa er hann utlagr. ef hann verðr at þvi sannr. syni með settar eiði. fellr til utlegðar ef fellr.142 Nobody is to make verbal níð about another person, nor “timber-níð” either. If he becomes known for this and is found guilty of it, his penalty is outlawry. Let him deny it with a six-man oath. Outlawry is the outcome if the oath fails. No one is to make an “exaggeration” (ýki) about another or a libel. It is called an “exaggeration” if someone says something about another man which cannot be, nor come to be, nor have been: declares he is a woman every ninth night or has born a child or calls him gylfin (a werewolf, an unnatural monster?). He is outlawed if he is found guilty of that. Let him deny it with a six-man oath. Outlawry is the outcome if the oath fails.143

139 Vgl. Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 24; Ström, Níð, ergi, S. 19 sowie Solli, Seid, S. 145: „[. . .] mannligheten i kulturer der maskulinitet er knyttet til makt og kontroll [er] også en sårbar mannlighet.“ 140 Vgl. hierzu auch Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 24 und 29 sowie Ström, Níð, ergi, S. 5. 141 Vgl. Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 16 sowie Lundgreen, Friedlosigkeit, S. 614. 142 NGL, Bd. 1, S. 57. 143 Übersetzung nach Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 15 f.

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Der korrespondierende Abschnitt der Grágás bezüglich níð entspricht inhaltlich dem westnorwegischen Gesetzestext und hält zudem ausdrücklich das Recht des durch níð Diffamierten fest, sich für die erlittene Ehrverletzung mit Totschlag zu rächen: Þav ero orð þriú ef sva mioc versna máls endar manna. er scog gang varða avll. Ef maðr kallar man ragan eða stroðinn. eða sorðinn. Oc scal sva søkia sem avnnor full rettis orð. enda a maðr vígt igegn þeim orðum þrimr.144 There are three words – should exchanges between people ever reach such dire limits – which all have full outlawry as penalty: if a man calls another ragr, stroðinn or sorðinn. And they are to be prosecuted like other fullrettísorð and, what is more, a man has the right to kill in retaliation for these three words.145

Somit wird níð, was das Strafmaß anbelangt, auf eine Stufe mit Verbrechen wie Totschlag, Vergewaltigung und Ehebruch gestellt und schlimmer als beispielsweise Körperverletzung eingestuft.146 Anhand der Auszüge aus den beiden altnordischen Gesetzestexten geht der bereits erwähnte Tabubruch, dessen sich die als níð bezeichneten Vorwürfe bedienen, nämlich die Bezichtigung eines Mannes, die Grenzen zwischen Männlichem und Weiblichem überschritten zu haben, klar hervor. Von besonderem Interesse sind hierbei die Verordnungen hinsichtlich Diffamierungen, die als ýki, also ‚Übertreibung‘ bezeichnet werden. Laut den Gulaþingslǫg bedeutet ýki „wenn ein Mann über einen anderen etwas sagt, was nicht sein kann, weder sein wird noch gewesen sein kann: sagt, dass er jede neunte Nacht eine Frau sei oder ein Kind geboren habe oder ihn einen gylfin147 nennt.“148 Auch die Grágás versteht darunter „wenn ein Mann das von einem anderen Mann oder seinem Eigentum behauptet, was nicht sein kann und dies tut, um ihn zu verhöhnen.“149 Hierbei wird der Verlust der Männlichkeit durch die Anschuldigung, ein Mann würde eine komplette Verwandlung in eine Frau oder ein weibliches Tier – einschließlich der damit verbundenen sexuellen und biologischen Funktionen, wie insbesondere das Gebären von Kindern – durchlaufen bzw. seine Menschlichkeit vollends aufgeben und zu einer Monstrosität mutieren, auf die Spitze getrieben. Man beachte zudem die hier erneut sichtbar werdende Kontrastierung zwischen miðgarðr, der Welt der Menschen, und útgarðr, der Anderwelt oder Wildnis als Sphäre, in welcher ein

144 GrgStað, S. 392. 145 Übersetzung nach Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 17. 146 Vgl. hierzu Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 17. 147 Meulengracht Sørensen übersetzt gylfin unter Vorbehalt mit „a werewolf, an unnatural monster“ (Unmanly Man, S. 15 f.). Bei Jan de Vries (Etym. Wörterbuch, S. 196) wird gylfin mit ‚Unhold‘ wiedergegeben. Auf jeden Fall scheint es sich hierbei um eine Art Monstrosität zu handeln. 148 NGL, Bd. 1, S. 57: „þat heiter yki ef maðr mælir um annan þat er eigi ma væra. ne verða oc eigi hever verit. kveðr hann væra kono niundu nott hveria. oc hever barn boret. oc kallar gylvin.“ 149 GrgStað, S. 392: „[. . .] þat er yki ef maðr segir þat fra avðrom manne sem eða fra eign hans nokorre er eigi ma vera oc gørir þat til háþungar honom.“

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

„Unwesen“ wie der gylfin gedanklich zu verorten ist. Geschlechtswandel bzw. die Verwandlung in ein weibliches Tier – beides starke Symbole für ergi seitens eines Mannes – stehen altnordischen Konzeptionen zufolge also paritätisch neben einem kompletten Verlust der Menschlichkeit. Die als ýki bezeichneten Beleidigungen können demnach nicht nur die Männlichkeit, sondern zugleich die menschliche Natur eines Mannes als solches in Frage stellen. Gerade der formelhafte Charakter derartiger Schmähungen („Verwandlung in eine Frau jede neunte Nacht“) deutet daraufhin, dass es dabei eher darum geht, die Männlichkeit des Beschuldigten durch eine gewisse Symbolik anzugreifen und ihn so zu einer entsprechenden Reaktion zu zwingen, als ihm tatsächlich eine feminin konnotierte sexuelle Disposition zu unterstellen.150 Bemerkenswert ist hierbei, dass die altnordische Gesetzgebung die als ýki bezeichneten Vorwürfe, namentlich den Geschlechtswandel eines Mannes, derart ernst nimmt. Die damit verbundene Symbolik war augenscheinlich fester Bestandteil der damaligen Vorstellungswelt und ließ heute eher absurd anmutende Unterstellungen zu effektiven Waffen werden, um die Ehre und das soziale Ansehen eines Mannes anzugreifen.151 In der altnordischen Literatur finden sich zahlreiche Beispiele für ýki. So provoziert Skarpheðinn in der bereits in Zusammenhang mit den altnordischen Kleiderkonventionen zitierten folgenschweren níð-Episode der Njáls saga seinen Kontrahenten Flosi mit dem Vorwurf, er wäre jede neunte Nacht die „Braut des Svínfellsáss“ (d. h. eines übernatürlichen Wesens) und würde von ihm „zur Frau gemacht“ – mit anderen Worten sexuell gebraucht – werden: „[. . .] ef þú ert brúðr Svínfellsáss, sem sagt er, hverja ina níundu nótt ok geri hann þik konu.“152 Auch im Þorvalds þáttr viðfǫrla und der damit korrespondierenden Kristni saga wird die Anschuldigung des Geschlechtswandels in einer níð-Strophe gegen die beiden ersten christlichen Missionare auf Island, den Isländer Þorvaldr und den deutschen Bischof Friðrekr, verwendet. Die in beiden Texten zitierte Strophe lautet wie folgt:153 Hefir bǫrn borit byskup níu, þeira allra Þorvaldr faðir.154

150 Vgl. Ström, Níð, ergi, S. 20: „As a rule the formulaic expressions (‘woman every ninth night’ and similar clichés) point to established symbols rather than to a genuine belief in the female sexual role of the accused. The symbols and the phrases were intended to strike a man where he was most vulnerable.“ 151 Vgl. Ström, Níð, ergi, S. 7. 152 Nj, Kap. 123, ÍF 12, S. 314. 153 Vgl. dazu auch Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 54. 154 „Kristni saga“, in: Sigurgeir Steingrímsson; Ólafur Halldórsson; Foote, Peter (Hgg.): Biskupa sögur I. Síðari hluti – sögutextar. Reykjavík, 2003 (Íslenzk Fornrit, 15, 2), Kap. 4, S. 12.

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Neun Kinder hat der Bischof geboren, ihrer aller Vater ist Þorvaldr.

Um sich für diese Diffamierung zu rächen, tötet Þorvaldr in beiden Quellen zwei Männer, die dafür verantwortlich sind. Auf die Frage des Bischofs – der eine christliche Ethik vertritt, die im Widerspruch zur Racheverpflichtung steht –, wieso Þorvaldr diesen Totschlag begangen habe, antwortet dieser in der Kristni saga mit „Því at þeir sǫgðu okkr eiga bǫrn saman“155 / „Weil sie sagten, dass wir Kinder miteinander haben“, während er im Þorvalds þáttr viðfǫrla seine Tat mit „Því at ek þolða eigi at þeir kǫlluðu okkr raga“156 / „Weil ich nicht duldete, dass sie uns unmännlich/pervers [= ragir] nannten“ rechtfertigt. Während Þorvaldr also in der Version der Kristni saga direkt auf den in der Strophe genannten Vorwurf der gemeinsamen Kinder und der damit implizierten sexuellen Beziehung zwischen ihm und dem Bischof Bezug nimmt, zeigt seine Antwort in der Kristni saga die bereits festgestellte enge Assoziation der Vorstellungen von Effemination (Gebären von Kindern) und Homosexualität (Þorvaldr ist der Vater der Kinder, die der Bischof geboren hat) mit dem Begriff ergi: Letzten Endes bilden diese Vorwürfe den symbolischen Ausdruck für die „unmännliche“, „ehrlose“ Disposition und – angesichts der Friedfertigkeit des Bischofs – wohl auch der Passivität und Feigheit, welche den als ragir Beschuldigten unterstellt wird. Þorvaldr verhält sich letztlich so, wie es den Erwartungen der altnordischen Gesellschaft an einen Mann entspricht, indem er die Ehrverletzung rächt und durch den (gesetzlich sanktionierten) Totschlag das unter dem Begriff ergi zu subsumierende Konglomerat an Vorhaltungen entkräftet. Die Gulaþingslǫg werten die als ýki bezeichneten Diffamierungen als fullréttisorð, als verbale Vergehen, für die volle Kompensation geleistet werden muss: Orð ero þau er fullrettis orð heita. þat er eitt ef maðr kveðr at karlmanne oðrom. at hann have barn boret. þat er annat. ef maðr kveðr hann væra sannsorðenn. þat er hit þriðia ef hann iamnar hanom við meri. æða kallar hann grey. æða portkono. æða iamnar hanom við berende eitthvert.157 There are certain expressions known as fullréttisorð. One is if a man says to another that he has given birth to a child. A second is if a man says of another that he is sannsorðinn (demonstrably used sexually by another man). The third is if he compares him to a mare, or calls him a bitch or a harlot, or compares him with the female of any kind of animal.158

155 Ebd. 156 „Þorvalds þáttr viðfǫrla II“, in: Sigurgeir Steingrímsson; Ólafur Halldórsson; Foote, Peter; (Hgg.): Biskupa sögur I. Síðari hluti – sögutextar. Reykjavík, 2003 (Íslenzk Fornrit, 15, 2), Kap. 2, S. 96. 157 NGL, Bd. 1, S. 70. 158 Übersetzung nach Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 16.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

Auffällig ist hierbei wiederum, dass alle in den Gulaþingslǫg aufgeführten Beleidigungen einem Mann Effemination unterstellen: [. . .] these Norwegian examples are all taken from a range of meanings relying on the antithesis masculine: feminine. Some add to the sense ‘feminine’ the sense of ‘animal’, so that the contrast which carries the allegation becomes ‘masculine + human’ vs. ‘feminine + animal’.159

Wie bereits anhand der weiter oben zitierten Passage ersichtlich, verzeichnet die Grágás als fullréttisorð die drei Begriffe ragr, stroðinn und sorðinn. Die Bedeutung des Adjektivs ragr, einer Metathese von argr, wurde bereits in Kapitel VIII 2.1 näher untersucht. Auch die Begriffe stroðinn, sorðinn und sannsorðinn gehören zum semantischen Bereich der Sexualität, wobei es sich bei sorðinn und stroðinn um Partizipialadjektive des Verbs serða und seiner Metathese streða handelt.160 Diese Verben sind von stark obszönem Charakter und bezeichnen den penetrierenden Part im Geschlechtsakt. In Bezug auf einen Mann verwendet, drücken die Adjektive stroðinn und sorðinn folglich auf äußerst vulgäre Weise aus, dass er sich von einem anderen Mann hat penetrieren lassen bzw. dass er die rezeptive Rolle in einem homosexuellen Akt eingenommen hat. In der Sagaliteratur kommen die beiden Begriffe – wohl aufgrund ihres obszönen Charakters – nur sehr selten vor und sind in der Regel mit Anschuldigungen der Homosexualität verbunden; sie können jedoch auch im Zusammenhang mit heterosexuellem Geschlechtsverkehr verwendet werden. Der im norwegischen Gesetzestext gebrauchte Ausdruck sannsorðinn hat dieselbe Bedeutung wie die in der Grágás genannten Formen; sie wird durch das Präfix sann- (‚wirklich‘, ‚nachweislich‘) allerdings noch intensiviert. Meulengracht Sørensen weist darauf hin, dass die Adjektive stroðinn und sorðinn nur wiedergeben, dass ein Mann den rezeptiven Part in einem homosexuellen Geschlechtsakt einnimmt, nicht jedoch ob dies freiwillig oder unfreiwillig (also im Kontext einer Vergewaltigung) geschieht. Im Gegensatz dazu drücken argr und seine verwandten Formen, wie schon erwähnt, die bereitwillige Tendenz eines Mannes aus, sich in eine weibliche Rolle zu begeben. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im níð der Verlust von Männlichkeit durch die Gleichsetzung eines Mannes mit einer Frau bzw. einem weiblichen Tier oder einer Disposition zur passiven Homosexualität, also durch den Vorwurf von ergi im sexuellen Bereich, ausgedrückt wird. Die enge Korrespondenz zwischen den Konzepten níð und ergi geht nicht nur aus entsprechenden Belegstellen der altnordischen Literatur, sondern auch aus dem Zeugnis der Gesetzestexte klar hervor: Argr, sorðinn und ihre Metathesen bilden streng geahndete Tabuwörter, derer sich níð bedient, um die Männlichkeit des Beschuldigten in Frage zu stellen; sie implizieren „what a man must not be, since in that case he is no man.“161 Wenn die im 159 Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 16. 160 Vgl. zur Bedeutung der Begriffe stroðinn und sorðinn ausführlich Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 17 f. 161 Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 24.

2 Das Konzept ergi – geschlechtliche Konventionen der altnordischen Gesellschaft

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níð erhobenen Anschuldigungen schließlich durch entsprechende Vergeltungsmaßnahmen des Diffamierten widerlegt werden, wird dem vorherrschenden Männlichkeitsideal entsprochen, weswegen níð durch den Vorwurf des Tabubruchs letzten Endes dazu dient, die maskuline Ethik zu bekräftigen. Die nähere Betrachtung des níð bestätigt demnach die Definition von ergi als ‚queerness‘ im Sinne eines von den Geschlechterkonventionen abweichenden, und sogar die Grenzen dessen, was für Menschen generell akzeptabel wäre, überschreitenden Verhaltens.

2.4 Einstellung zur männlichen Homosexualität Anhand der im níð gebräuchlichen Diffamierungen ist deutlich geworden, dass Homosexualität eine sehr wichtige Komponente des ergi-Komplexes darstellt, weswegen es lohnenswert erscheint, die Einstellung der altnordischen Gesellschaft zur männlichen Homosexualität an dieser Stelle näher zu betrachten. Hierbei muss jedoch zunächst die Begrifflichkeit geklärt werden: Im Hinblick auf Antike, Mittelalter und selbst Frühe Neuzeit kann nicht von einem Konzept der Homosexualität, wie es heutigen Auffassungen entspricht, ausgegangen werden. Daher bezieht sich der Begriff ‚Homosexualität‘ in vorliegender Untersuchung lediglich auf sexuelle Handlungen zwischen zwei Männern.162 Im níð finden sich neben den als ýki bezeichneten Vorwürfen des Geschlechtswandels seitens eines Mannes („Frau jede neunte Nacht“) sehr häufig auch Diffamierungen, die dem Beschuldigten rein homosexuelle Aktivitäten unterstellen. Diese können, dem Zeugnis der Quellen nach zu urteilen, sehr derben Charakter annehmen. Als Beispiel hierfür eignet sich unter anderem der Ǫlkofra þáttr, der in der auf die Mitte des 14. Jahrhunderts datierten Mǫðruvallabók überliefert ist. Den Höhepunkt dieser Erzählung bildet eine níð-Episode: Broddi Bjarnason, der dem Protagonisten Ǫlkofri zu seinem Recht verhelfen will, beleidigt nacheinander dessen mächtige Kontrahenten.163 Zunächst bezeichnet Broddi die – ohnehin sehr mager ausfallende – Kompensationsleistung, welche die sechs Goden als Ausgleich dafür erhalten, dass Ǫlkofri versehentlich ein in ihrem Besitz befindliches Waldstück niedergebrannt hat, als argaskattr.164 Dieses Wort ist sonst nirgends in den altnordischen Quellen belegt und bedeutet etwa ‚Tribut/

162 Vgl. auch Gade, Kari Ellen: „Homosexuality and Rape of Males in Old Norse Law and Literature“, in: Scandinavian Studies, 58, 1986, S. 136, Anm. 1. 163 Vgl. zur níð-Episode des Ǫlkofra þáttr Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 34–38. Bemerkenswert ist auch, dass die Namen der diffamierten Goden historisch belegt sind, allerdings waren sie – im Gegensatz zur Darstellung des Ǫlkofra þáttr – keine Zeitgenossen. Auch der Umstand, dass Broddi nicht für seinen Hohn gegen die mächtigen Männer zur Rechenschaft gezogen wird, zeigt den fiktiven Charakter der Erzählung. 164 Vgl. „Ǫlkofra þáttr“, in: Jón Jóhannesson (Hg.): Austfirðinga sǫgur. Reykjavík, 1950 (Íslenzk Fornrit, 11), Kap. 3, S. 91: „Slíkt kalla ek argaskatt.“

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

Zahlung an unmännliche/perverse Männer‘; gemeint sind damit offensichtlich Bezahlungen für sexuelle Dienste, die solche Männer zu leisten bereit waren.165 Auch die Beleidigungen, die Broddi anschließend gegen die einzelnen Goden vorbringt, unterstellen ihnen eine als unmännlich und somit moralisch verwerflich angesehene Disposition. Hierbei enthält insbesondere die an Guðmundr Eyjólfsson gerichtete Schmährede den Vorwurf von Homosexualität. Auf die Frage Guðmundrs, ob Broddi durch den Gebirgspass von Ljósavatn nach Hause reiten wird, antwortet dieser folgendermaßen: Efna skal þat, eða ætla þú, Guðmundr, at verja mér skarðit? Allmjǫk eru þér þá mislagðar hendr, ef þú varðar mér Ljósavatnaskarð, svá at ék mega þar eigi fara með fǫrunautum mínum, en þú varðar þat eigi it litla skarðit, sem er í milli þjóa þér, svá at ámælislaust sé.166 Das werde ich durchführen, oder willst du, Guðmundr, mir den Zugang zum Pass verwehren? Da handelst du sehr verkehrt, wenn du den Ljósavatnapass gegen mich verteidigst, so dass ich nicht mit meinen Begleitern dort passieren kann, aber nicht die kleine Spalte zwischen deinen Arschbacken verteidigst, so dass es tadellos wäre.

In der Ljósvetninga saga erfährt Guðmundr Eyjólfsson eine ähnliche Ehrverletzung: Einer seiner Kontrahenten, Þorkell hákr, hat über ihn das Gerücht verbreitet, er sei argr. Als Rache für diese Diffamierung greift Guðmundr Þorkell im späteren Verlauf der Saga mit einer großen Übermacht an und tötet ihn. Während des Kampfes stolpert Guðmundr jedoch über einen Milcheimer, was sein Kontrahent mit Gelächter und einer derben Bemerkung kommentiert:167 Nú kveð ek, [at] rassinn þinn hafi áðr leitat flestra lœkjanna annarra, en mjólkina hygg ek hann eigi fyrr drukkit hafa.168 Nun sage ich, [dass] dein Arsch bereits die meisten anderen Quellen [Bäche] versucht hat, aber ich glaube, Milch hat er noch nie zuvor getrunken.

Wie bereits in Kapitel VIII 2.3 angesprochen, beschränkt sich níð nicht allein auf verbale Vorwürfe, sondern umfasst auch tréníð, womit unter anderem geschnitzte Figuren gemeint gewesen sein dürften.169 Dabei scheint die bildliche Darstellung eines homosexuellen Geschlechtsaktes ein bevorzugtes Symbol gewesen zu sein, um einen Mann der Unmännlichkeit zu bezichtigen. In der Bjarna saga Hítdœlakappa spielt ein solches tréníð eine wichtige Rolle. Die beiden Protagonisten der Saga, Bjǫrn Arngeirsson und Þórðr Kolbeinsson, leben in Feindschaft zueinander, da sich Þórðr zuvor Bjǫrns Freund-

165 Vgl. Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 35. 166 Ǫlk, Kap. 4, ÍF 11, S. 94. 167 Vgl. Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 37. 168 „Ljósvetninga saga“, in: Björn Sigfússon (Hg.): Ljósvetninga saga með þáttum. Reykdæla saga ok Víga-Skútu. Hreiðars þáttr. Reykjavík, 1940 (Íslenzk Fornrit, 10), Kap. 9, S. 52. 169 Vgl. Almqvist, Níð, S. 139.

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schaft erschlichen hatte, um durch eine Intrige Oddný, Bjǫrns Verlobte, selbst heiraten zu können. In einer Episode der Saga treffen die beiden Männer auf einer Insel aufeinander: Bjǫrn findet Þórðr in einem Gebüsch versteckt, lässt ihn und seine Gefährten am Leben, nimmt ihnen jedoch ihr Schiff, allen Besitz sowie ihre Kleider ab.170 Die Demütigungen, die Bjǫrn Þórðr zufügt, finden ihren Höhepunkt allerdings in der späteren Errichtung eines tréníð, das wie folgt beschrieben wird: Þess er nú við getit, at hlutr sá fannsk í hafnarmarki Þórðar, er þvígit vinveittligra þótti; þat váru karlar tveir, ok hafði annarr hǫtt blán á hǫfði, þeir stóðu lútir, ok horfði annarr eptir ǫðrum. Þat þótti illr fundr, ok mæltu menn, at hvárskis hlutr væri góðr, þeira er þar stóðu, ok enn verri þess, er fyrir stóð.171 Dies wird nun berichtet, dass sich auf der Grenze von Þórðrs Landbesitz eine Sache fand, die keineswegs von Freundschaft zu zeugen schien; das waren zwei Männer und einer von beiden trug einen blauen Hut auf dem Kopf, sie standen vornübergebeugt, und der eine stand dicht hinter dem anderen. Das schien eine schlimme Zusammenkunft, und die Leute sagten, dass die Lage von keinem der beiden gut wäre, die dort standen, aber doch schlimmer für den, der vorne stand.

Die kompromittierende Position, in der die beiden Männer abgebildet sind, ist eindeutig. Interessant ist hierbei, wie die Darstellung von der Gemeinschaft beurteilt wird. In Bezug auf beide Beteiligten wird die Abbildung als etwas Unehrenhaftes und Schändliches empfunden, schlimmer erscheint sie der Allgemeinheit jedoch für den, „der vorne steht“, also denjenigen, welcher den rezeptiven Part in dem homosexuellen Akt einnimmt. Da sich das tréníð auf der Grenze zu Þórðrs Landbesitz befindet und er bereits bei der Konfrontation auf der Insel eine nicht gerade tapfere Haltung an den Tag gelegt hat, ist offensichtlich, dass die passive Figur ihn darstellen soll. So wird die Skulptur auch in der Saga selbst aufgefasst, und Bjǫrn wird als der Urheber des níð zur Verantwortung gezogen. Weniger eindeutig ist jedoch, wie man den penetrierenden Part im tréníð der Bjarna saga Hítdœlakappa zu deuten hat. Eine Möglichkeit wäre, die Darstellung nur auf Þórðr bezogen zu werten; es ginge dann lediglich darum, ihn als den Passiven in einem homosexuellen Akt zu zeigen, ohne dass dem „hinter ihm stehenden“ Mann überhaupt eine eigene Identität zugeschrieben würde. Hingegen deutet Kari Ellen Gade den Umstand, dass die aktive Figur des trénið einen dunklen (blár) Hut trägt, als einen Bezug zum Gott Óðinn, der eine starke Verbindung zum seiðr und zum Komplex ergi aufweist und häufig in Verkleidungen und mit Kopfbedeckung auftritt.172 Ganz schlüssig scheint eine solche verunglimpfende Anspielung auf einen Gott innerhalb des níð zunächst jedoch nicht zu sein, zumal das Tragen eines Hutes auch allgemein zur Verhüllung der Identität genutzt werden kann und nicht zwangsläufig als Attribut

170 Vgl. „Bjarna saga Hítdœlakappa“, in: Sigurður Nordal; Guðni Jónsson (Hgg.): Borgfirðinga sǫgur. Reykjavík, 1938 (Íslenzk Fornrit, 3), Kap. 7, S. 126–130; vgl. dazu auch Ström, Níð, ergi, S. 13. 171 BjH, Kap 17, ÍF 3, S. 154 f. 172 S. Gade, Homosexuality, S. 134: „[. . .] one of them was wearing a hat, the attribute of Óðinn, a god charged with homosexual behavior.“

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

Óðinns gewertet werden muss. Auch Meulengracht Sørensen und Folke Ström gehen in ihren Interpretationen der níð-Episode der Bjarna saga Hítdœlakappa nicht auf dieses Detail ein. Allerdings weist Dronke in ihrer Einführung zur Lokasenna darauf hin, dass in einigen griechischen Zauberpapyri Schmähungen gegen Götter insbesondere in Zusammenhang mit Liebeszaubern als Quelle magischer Kraft verwendet wurden. Hierbei sollten durch das Sakrileg rächende Geister bzw. daimones angezogen werden, welche die Verunglimpfung der Götter dadurch zu vergelten suchten, dass sie die vom Zauberwirkenden begehrte (und als Urheberin des Sakrilegs hingestellte) Frau dazu trieben, diesen aufzusuchen und ihm ihre Liebe anzubieten.173 Führt man sich vor Augen, dass auch die von Egill aufgestellte níðstǫng zur Provokation der landvættir errichtet wird, welche das Königspaar Eiríkr und Gunnhildr aus dem Land vertreiben sollen,174 wäre eine verunglimpfende Darstellung Óðinns im tréníð also durchaus denkbar: In diesem Kontext könnte eine schmähliche und mit Sexualität verbundene Abbildung des Gottes nicht nur darauf abzielen, Þórðr als argr zu demütigen, sondern zugleich dazu dienen, den Zorn von Geisterwesen gegen den Diffamierten heraufzubeschwören und in ihm womöglich eine ähnliche Ruhelosigkeit zu wecken, wie die daimones der griechischen Zauberpapyri und die landvættir sie offenbar bei ihren Opfern auszulösen vermögen.175 Meulengracht Sørensen interpretierte die níð-Episode der Bjarna saga Hítdœlakappa ursprünglich dahingehend, dass der „hinten stehende“ Mann keine spezielle Identität besäße, revidierte seine Meinung jedoch zugunsten der von Folke Ström vertretenen Ansicht, dass das tréníð die beiden Hauptcharaktere der Saga in einem homosexuellen Akt abbilde, wobei die hintere Figur Bjǫrn, den Urheber des níð, als den aktiven Part verkörpere. Dies erscheint im Kontext der Saga durchaus plausibel, denn in den Streit der beiden Protagonisten sind keine weiteren Personen verwickelt, auf welche die Darstellung anspielen könnte.176 Der Geschlechtsakt zwischen den beiden Figuren wird somit zu einem Ausdruck von Aggression und verstärkt noch die Demütigung Þórðrs, der offenbar in der Skulptur von Bjǫrn, seinem Kontrahenten, penetriert wird. Meulengracht Sørensen deutet die Reaktion der Allgemeinheit auf das tréníð ebenfalls dahingehend: It is possible to read the “people’s” opinion as a commentary on ergi in the case of Þórðr and on phallic aggression in the case of Bjǫrn. The aggression is then disapproved, not only because it is thought shameful, but also because it is uncivilised, savage. If we read the passage

173 Vgl. Dronke, Poetic Edda, Bd. 2, S. 350 f. 174 Vgl. Eg, Kap. 57, ÍF 2, S. 171. 175 Es ist höchst bemerkenswert, dass gerade seiðr ebenfalls Rastlosigkeit bei Personen, gegen die er gerichtet wird, hervorrufen kann – ein Hinweis für die Verbindung dieser Magieform mit dem Heraufbeschwören von Geisterwesen und ein weiterer Beleg dafür, dass das Überschreiten von Tabus einen integralen Bestandteil des seiðr darstellt? 176 Vgl. Ström, Níð, ergi, S. 14.

2 Das Konzept ergi – geschlechtliche Konventionen der altnordischen Gesellschaft

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in this way the effigy not only demonstrates that Þórðr is not a man, it also manifests that Bjǫrn is.177

Ob erzwungener homosexueller Verkehr im altnordischen Bereich als Mittel dazu eingesetzt wurde, einen Kontrahenten zu demütigen und sein soziales Ansehen zu zerstören, ihm also gewissermaßen seine Männlichkeit durch eine Vergewaltigung zu rauben, muss spekulativ bleiben. Im Hinblick auf die im níð üblichen Schmähungen und auf die Tatsache, dass dies in zahlreichen anderen Kulturen gebräuchlich war, erscheint eine solche Praxis jedoch nicht unwahrscheinlich:178 The aspect of homosexuality which finds expression in níð can be best understood from the concept of “phallic aggression”. It is recognised that the sexual act can be impelled by aggression rather than libido; and phallic aggression in a homosexual situation is well known both in nonChristian cultures – where at times it was an officially recognised phenomenon – and in subcultures within our own environment. In these cultures sexual subjugation of a man can serve as a symbol of the submission of the one subdued and as a means of humiliation; and conversely, any homosexual activity can acquire this symbolic meaning in a culture of this sort.179

Auch in der senna180 der eddischen Helgakviða Hundingsbana in fyrri zeigt sich eine aggressive Verwendung homosexueller Anspielungen im kriegerischen Kontext: Vor dem Kampf zwischen Helgi und den Söhnen des Granmarr kommt es zum verbalen Schlagabtausch zwischen Helgis Halbbruder Sinfjǫtli und Guðmundr, einem der Söhne Granmarrs. Beide Männer beleidigen den jeweils anderen mit den für níð typischen Anschuldigungen, er habe sich in ein weibliches Tier oder eine Frau verwandelt und Kinder bekommen. Bemerkenswert ist dabei, dass auch hier der jeweilige Wortführer sich als den aktiven Part in sexuellen Verbindungen mit dem Angegriffenen darstellt. So brüstet sich Sinfjǫtli, von dem in eine vǫlva verwandelten Guðmundr181 sexuell begehrt worden zu sein und erklärt sich kurz darauf zum Vater der Wölfe182, die der gewandelte Guðmundr geboren habe: Þú vart vǫlva scollvís kona,

í Varinseyjo, bartu scrǫc saman;

177 Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 57. 178 Vgl. dazu Ström, Níð, ergi, S. 14; Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 26 ff.; Gade, Homosexuality, S. 133 f. 179 Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 27. 180 Ein verbales Duell bzw. Streitgespräch, charakteristischerweise zwischen zwei Beteiligten: Ausgetauscht werden Drohungen, Beleidigungen und stereotype Vorwürfe im Kontext von ergi. Vgl. zur senna auch Ármann Jakobsson: Art. „Senna“, in: RGA, Bd. 28. Berlin, New York, 2005, S. 168–172 sowie von See et. al., Kommentar, Bd. 4, S. 127 f. 181 Ein Vorwurf, der die starke Verbindung von ergi und der Praxis des seiðr unterstreicht. 182 Man beachte auch hier die Bezugnahme auf den Wolf als mit chaotischen Kräften assoziiertem Tier im Kontext von níð und ergi, welche in ähnlicher Weise bereits in der Bergener Zauberinschrift begegnete (vgl. Kapitel VIII 2.1).

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

qvatzu engi mann segg bryniaðan,

eiga vilia, nema Sinfiotla.183

Du warst eine Seherin auf Varinsey, eine ränkekundige Frau, trugst Lügen zusammen; Du sagtest keinen Mann haben zu wollen, keinen brünnenbekleideten Krieger, außer Sinfiǫtli.184 [. . .] Nío átto við úlfa alna,

á nesi Ságo ec var einn faðir þeira.185

Neun Wölfe hatten wir auf dem Vorgebirge der Sága gezeugt, ich allein war deren Vater.186

Guðmundr kontert mit der Aussage, Sinfjǫtli wäre die Braut des Hengstes Grani, also eine Stute gewesen und in dieser Gestalt von ihm, Guðmundr, „geritten“ worden: Þú vart brúðr Grana gullbitluð, vart hafða ec þér móðir svangri und sǫðli,

á Brávelli, gor til rásar; mart sceið riðit; simul forbergis.187

Du warst Granis Braut auf Brávǫllr, mit goldenem Zaumzeug versehen, bereit zum Lauf; ich hatte dich müde geritten manche Wegstrecke; ermattet unter dem Sattel, Ungeheuer, bergab.188

Der Zweck dieses verbalen Gefechtes ist eindeutig: Vor der eigentlichen Schlacht soll die gegnerische Partei als unmännlich und daher leicht zu besiegen verhöhnt werden, da von einem Mann, der die „weibliche Rolle“ in einem homosexuellen Akt eingenommen hat, kein wehrhaftes Verhalten zu erwarten ist.189 Auch wenn sie literarischen Werken entnommen sind, lassen sich anhand der bisher genannten Belegstellen Rückschlüsse auf die Einstellung der altnordischen Gesellschaft zur männlichen Homosexualität ziehen, da ohne entsprechende Wertvorstellungen die im níð gebrauchten Diffamierungen sicherlich nicht den gewünsch-

183 184 185 186 187 188 189

HH I, Str. 37, Neckel; Kuhn, Edda, S. 136. Übersetzung nach von See et. al., Kommentar, Bd. 4, S. 290. HH I, Str. 39, Neckel; Kuhn, Edda, S. 136. Übersetzung nach von See et. al., Kommentar, Bd. 4, S. 304. HH I, Str. 42, Neckel; Kuhn, Edda, S. 136. Übersetzung nach von See et. al., Kommentar, Bd. 4, S. 314. Vgl. Ström, Níð, ergi, S. 15 f.

2 Das Konzept ergi – geschlechtliche Konventionen der altnordischen Gesellschaft

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ten Effekt erzielt hätten.190 So geht aus dem Zeugnis der Quellen deutlich hervor, dass in der altnordischen Gesellschaft aktive und passive männliche Homosexualität unterschiedlich bewertet wurden. Nur die rezeptive Rolle in einem homosexuellen Geschlechtsakt wurde in vollem Maß als „schändlich“ angesehen und mit ergi konnotiert: The line of thought behind this association (which is not confined to the Old Icelandic world) is that a man who subjects himself to another in sexual affairs will do the same in any other respect; and fusion between the notions of sexual unmanliness and unmanliness in a moral sense stand at the heart of níð.191

Homosexueller Verkehr beinhaltete demnach für den penetrierenden Partner weit weniger Ehrverlust, denn er tat nichts, was im Widerspruch zu seiner Männlichkeit stand und handelte somit nicht gegen die vorherrschenden Moralvorstellungen.192 Dies wird umso deutlicher, als in zahlreichen níð-Episoden der „Angreifer“ offensichtlich keinerlei Probleme damit hat, sich selbst als den aktiven Part in einer homosexuellen Verbindung darzustellen. Hier zeigt sich ein Widerspruch zu christlichen Moralvorstellungen, wie sie z. B. aus dem Zeugnis der um das Jahr 1200 datierten isländischen Homiliubók hervorgehen, in der Homosexualität zwischen Männern ohne eine solche Unterscheidung zwischen aktivem und rezeptivem Partner generell als Perversion und schwere Sünde aufgefasst und mit erheblicher Bußleistung belegt wird.193 Innerhalb der altnordischen Literatur finden sich auffallend wenige Zeugnisse dafür, dass auch aktive männliche Homosexualität als ehrenrührig empfunden worden wäre. Meulengracht Sørensen verweist in diesem Zusammenhang auf die bereits in VIII 2.3 zitierte Episode der Kristni saga und des Þorvalds þáttr viðfǫrla, in der Þorvaldr, der ja als der aktive Part einer homosexuellen Verbindung verhöhnt wird, diese Ehrverletzung mit Totschlag rächt. Meulengracht Sørensen nimmt jedoch an,

190 Vgl. ebd., S. 15. 191 Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 20. 192 S. hierzu Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 26 f.: „In the underlying idea behind níð it is mainly or only the passive role which is despicable, as an expression of effeminancy. The active participant in the act behaved like a man and was therefore exempted from the defamation of the symbolism of níð.“ Diese Ansicht vertritt bereits der anonyme Verfasser des 1902 erschienenen Aufsatzes „Spuren der Konträrsexualität bei den alten Skandinaviern. Mitteilungen eines norwegischen Gelehrten“: „Schließlich muss aber ausdrücklich hervorgehoben werden, dass sämtliche nordische, vom Heidentume stammende Quellen nur äusserst vereinzelte und schwache Andeutungen davon enthalten, dass die sogenannten aktiven Päderasten Gegenstand derselben Verachtung waren [. . .] wie die passiven.“ ([Anonymus]: „Spuren der Konträrsexualität bei den alten Skandinaviern. Mitteilungen eines norwegischen Gelehrten“, in: Hirschfeld, Magnus (Hg.): Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen mit besonderer Berücksichtigung der Homosexualität, Bd. 4. Leipzig, 1902, S. 259). 193 Vgl. Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 26.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

dass diese Episode als „an expression of Christian thought in the high Middle Ages, rather than of heathen or early Christian attitude“194 betrachtet werden kann. Allein daran gemessen, wie häufig die Anschuldigungen von Homosexualität im níð verwendet wurden, dürften homosexuelle Handlungen zwischen Männern ein durchaus bekanntes Thema in der altnordischen Gesellschaft gewesen sein.195 Diesen Eindruck bestätigt auch eine Passage der Gulaþingslǫg, die Kompensationsleistungen für sexuellen Verkehr (legorð)196 mit einem Sklaven oder einer Sklavin auflistet, welche an den jeweiligen „Besitzer“ als Ersatz für den Schaden an dessen „Eigentum“ zu entrichten waren: Slican rett a hverr a þrælom sinum sem a ambattar legorðe. At armannaz rette scal bœta ef maðr ofundar mán konongs þat er firi bui hanns vinnr. þræll a baugs helge a ser. ef hann fylgir drotne sinum til þings. æða til kirkiusoknar æða til oldrhús oc er hann boðrs þingat. þvi at þar eycst hverium manne rettr at holfo i þeim þrim stœðum.197 Every man has the same right to compensation for carnal intercourse on behalf of his thralls as on behalf of his bondwomen. A man who abuses a king’s thrall employed in his household shall pay compensation according to the bailiff’s right. A thrall has the protection of a baugr [ring, payment of wergild] if he accompanies his master to the assembly or to church service or the ale house and [when, C. K.] he goes on command. For in those places the compensation of every man increases to the double.198

Die explizite Erwähnung von unerlaubtem Geschlechtsverkehr mit einem nicht im eigenen Besitz befindlichen männlichen Sklaven und die dafür anfallende Bußleistung in den Gulaþingslǫg zeigt, dass derartigen Übergriffen immerhin strafrechtliche Relevanz zugeschrieben wurde und sie somit wohl keinen absoluten Seltenheitswert hatten. Aufschlussreich ist zudem, dass homosexueller Verkehr zwischen einem freien Mann und einem Sklaven offenbar per se nicht negativ bewertet wird, sondern erst dann als problematisch erscheint, wenn dadurch die „Eigentumsrechte“ des Besitzers des jeweiligen Sklaven verletzt werden. Dies geht mit Clovers Interpretation der altnordischen Genderkonzeptionen konform, wonach ein männlicher Sklave aufgrund seines niedrigen Status und seiner Unfreiheit wohl ohnehin nicht als maskulin angesehen worden wäre und eher in der Nähe des Weiblichen rangiert hätte. Sexueller Verkehr mit einem Sklaven wäre daher nicht in gleicher Weise bewertet worden wie

194 Vgl. ebd., S. 56. 195 Dieser Meinung ist auch John Boswell: „It would hardly seem that a mocking reference could have such a power if the practice to which it alluded were very rare among the peoples who employed it.“ (Boswell, John: Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality. Gay people in Western Europe from the Beginning of the Christian Era to the Fourteenth Century. Chicago, London, 1980, S. 184). 196 Die genaue Bedeutung von legorð ist ‚außerehelicher Beischlaf‘; vgl. Baetke, Wörterbuch, S. 370. 197 NGL, Bd. 1, S. 70 f. 198 Übersetzung nach Gade, Homosexuality, S. 136.

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sexuelle Handlungen zwischen zwei freien Männern; zudem dürfte der in der Passage der Gulaþingslǫg zu Bußleistungen verpflichtete freie Mann ohnehin als Aggressor und somit in einer aktiven, seine eigene Männlichkeit nicht verletzenden Rolle aufgetreten sein. Obgleich sie insbesondere für den rezeptiven Part mit enormem Ansehensverlust einherging, wurden generelle Strafbestimmungen gegen Homosexualität im nordgermanischen Bereich erst mit der Einführung des Christentums erlassen.199 Unter Berufung auf Wilda weist Ström in seiner Untersuchung On the Sacral Origin of the Germanic Death Penalties darauf hin, dass es im gesamten Korpus der germanischen Rechtsquellen keine einzige Passage „that indicates punishment of pederasty“200 gibt. Auch Gade bestätigt diesen Befund: None of the Leges Barbaorum contains provisions against homosexual behavior, and the Carolingian legislation, following the forged capitulary of Benedictus Levita (848–50) contains general admonitions to stay away from this sin but enacts no severe punishments for it.201

Als einziger Abschnitt im mittelalterlichen skandinavischen Gesetz, der homosexuelles Verhalten strafrechtlich verfolgt, wird in der Forschung Kapitel 32 der Gulaþingslǫg betrachtet. Diese Passage war Teil der neuen Verordnungen, die von König Magnús Erlingsson und Erzbischof Eysteinn im Jahr 1164 eingeführt wurden.202 Darin heißt es: En ef karlar tveir blandasc likams losta saman oc verða kunnir oc sanner at því. þa ero þeir baðer ubotamenn. En ef þeir synia oc er þo heraðrs fleytt. þa syni með iarnbuði. En ef þeir verða sannr at soc. þa a konongr fe þeirra halft. en biscop halft.203 Und wenn zwei Männer sich in Fleischeslust vereinen und dafür bekannt und dessen überführt werden, dann sind sie beide Geächtete. Und wenn sie es abstreiten und es doch in der ganzen Gegend bekannt wird, dann sollen sie es mit dem Tragen von glühendem Eisen abstreiten. Und wenn sie der Sache für schuldig befunden werden, sollen der König und der Bischof jeweils eine Hälfte ihres Besitzes erhalten.

Da sich in isländischen Rechtstexten jedoch keine entsprechenden Verordnungen finden lassen204 und sich eine frühere strafrechtliche Verfolgung von homosexuellem Verhalten nicht nachweisen lässt, erscheint es unwahrscheinlich, dass Strafbestimmungen gegen Homosexualität einen ursprünglichen Zug nordgermanischer Rechtsvorstellungen repräsentieren. Wie verträgt sich dieser Sachverhalt nun aber mit Tacitus’ Aussagen

199 Vgl. Ström, Germanic Death Penalties, S. 54. 200 Ebd. 201 Gade, Homosexuality, S. 126. 202 Vgl. ebd., S. 124. 203 NGL, Bd. 1, S. 20. 204 Vgl. Gade, Homosexuality, S. 131.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

über die Art von Verbrechen, welche bei germanischen Stämmen mit dem Tod bestraft wurden? Im zwölften Kapitel der Germania wird Folgendes berichtet: Licet apud concilium accusare quoque et discrimen capitis intendere. distinctio poenarum ex delicto: proditores et transfugas arboribus suspendunt, ignavos et imbelles et corpore infames caeno ac palude, iniecta insuper crate, mergunt. diversitas supplicii illuc respicit, tamquam scelera ostendit oporteat dum punitur, flagitia abscondi.205 Vor der Volksversammlung darf man auch Anklage erheben und die Todesstrafe begehren. Die Art der Vollstreckung dieser Strafe richtet sich nach dem Vergehen. Denn Verräter und Überläufer hängt man an Bäumen auf; aber Feiglinge, Kriegsscheue und solche, die ihren Leib entehrt haben, ertränkt man in sumpfigen Mooren, wonach man ein Flechtwerk aus Reisig über ihnen anbringt. Die Verschiedenartigkeit der Hinrichtung basiert auf der Vorstellung, dass man Verbrechen bei der Vollstreckung der Strafe zur Schau stellen muss, wogegen Schandtaten verborgen bleiben müssen.206

Nathaniel Beckman vertritt die These, dass es sich bei den Personen, die laut der Germania durch Versenken im Moor exekutiert werden, nicht um drei verschiedene Gruppen von Delinquenten handelt, sondern dass ignavos et imbelles et corpore infames Männer bezeichnet, deren Verhalten unter die Kategorie ergi fällt: Homosexuelle, die aufgrund ihrer Veranlagung nicht in der Lage zu kämpfen waren.207 In der Tat umfassen die Vergehen, die Tacitus in der oben zitierten Passage als flagitia (‚Schandtaten‘) anführt, exakt die Vorstellungen, aus denen sich das Konzept ergi zusammensetzt: Als unmännlich empfundenes Verhalten in sexueller Hinsicht (rezeptive Homosexualität); „Unmännlichkeit“ in Bezug auf den Kampf (kriegsscheu) sowie Feigheit im Allgemeinen.208 Tacitus’ Angaben lassen sich zudem anhand von Moorleichenfunden archäologisch weitgehend verifizieren: The details of the finds frequently show a far–reaching agreement with Tacitus’ descripition of the penal procedure. So, for example, many of the corpses found in swamps are covered or fastened in the turf with the branches of trees, poles or such like.209

205 Tacitus, Germania, Kap. 12, S. 78 und 80. 206 Übersetzung nach Lund, Germania, S. 79 u. S. 81. 207 Vgl. Ström, Níð, ergi, S. 17. 208 Vgl. Beckman, Nathaniel: „Ignavi et imbelles et corpore infames“, in: ANF, 52, 1936, S. 81: „At det är män av den typen, som avses hos Tacitus, synes mig påtagligt.“ Vgl. dazu auch Ström, Níð, ergi, S. 16 f. sowie Ström, Germanic Death Penalties, S. 53 f. 209 Ström, Germanic Death Penalties, S. 179. Nach Ström (Germanic Death Penalties, S. 187 f.) wurde das Versenken im Moor nicht in erster Linie angewandt, um den schändlichen Charakter eines Vergehens zu betonen – obwohl dies natürlich mit dieser Form der Exekution einhergeht –, sondern vielmehr als prophylaktische Maßnahme, um zu verhindern, dass der Exekutierte als Wiedergänger zurückkehrt. Darauf deuten zweifellos die schon bei Tacitus erwähnten Vorkehrungen hin, die getroffen wurden, um den Körper des Delinquenten im Moor zu fixieren (Astgeflechte, Pfähle und dergleichen). Vgl. zu diesen apotropäischen Maßnahmen gegen Wiedergängertum auch Kapitel V 1.2.2 der vorliegenden Arbeit.

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Trotzdem kann die viel diskutierte Passage der Germania nicht als Beleg dafür gewertet werden, dass Homosexualität bei germanischen Stämmen mit dem Tod bestraft wurde, da, wie oben erwähnt, Strafbestimmungen gegen homosexuelles Verhalten keinen ursprünglichen Bestandteil germanischer Rechtsprechung bilden. Wollte Tacitus also seinen römischen Zeitgenossen lediglich einen Spiegel vorhalten und ihnen anhand des Beispiels der sittenstrengen Germanen ihre eigene Dekadenz vor Augen führen? Ström kommt zu dem Fazit, dass die bei Tacitus beschriebenen Exekutionen als Strafe für Verbrechen vollzogen wurden, die eine Loyalitätsverletzung gegenüber der Gemeinschaft darstellten, „thus a homogeneous category of crimes against the interests of the society, whose vital nature is at once obvious if one thinks of the character of the Germanic community and the war-like relations between the tribes.“210 Die ignavos et imbelles et corpore infames bilden dabei in der Tat eine einheitliche Gruppe von Delinquenten, welche sich durch einen „complete lack of martial courage“211 des passiven Verrates an der Gemeinschaft schuldig gemacht hat, wohingegen die proditores et transfugas wegen aktiven Verrates, wie Überlaufen zum Feind, belangt werden. Beckmans These, dass ignavos et imbelles et corpore infames analog zu dem altnordischen Konzept ergi betrachtet werden kann, ist folglich berechtigt, wenngleich es nicht ausreicht, hierin in erster Linie eine Beschreibung homosexueller Männer zu sehen. Das zwölfte Kapitel der Germania kann vielmehr als Beleg dafür gedeutet werden, dass ergi ein moralisch verwerfliches und der Gemeinschaft schadendes Verhalten – nämlich die passive, unkriegerische Haltung eines Mannes, welche mit Effemination und passiver Homosexualität konnotiert wurde – ausdrückt, und wir es hierbei mit einer alten Schicht von Wertvorstellungen zu tun haben, die in patriarchalischen (Krieger-)Gesellschaften ubiquitär anzutreffen ist: There can be no doubt that the ideas on which Norse níð are founded is ancient in origin. [. . .] Meanwhile it is proper to add that ideas about homosexuality and effeminacy, in whatever culturally determined context it may be, are commonly linked to ideas of cowardice, immorality or other despicable qualities, in every society with a pronounced masculine ethos, and especially when this ethos is combined with the requirements of warfare.212

Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass sich trotz der Tatsache, dass der Vorwurf von Homosexualität im Rahmen des níð eine enorme Ehrverletzung darstellte, in der altnordischen Literatur durchaus auch Belege für einen humoristischen Umgang mit diesem tabuisierten Thema finden lassen. Ein Beispiel hierfür bildet die Áns saga Bogsveigis, eine Vorzeitsaga, deren älteste Handschrift auf das frühe 15. Jahrhundert datiert wird. Án – ein klassischer Spätentwickler des kólbitr-Typus213 – kommt im

210 Ström, Germanic Death Penalties, S. 56. 211 Ebd., S. 52. 212 Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 85. 213 Wörtl. bedeutet kólbitr ‚Kohlenbeißer‘. Dieser Ausdruck steht in der Sagaliteratur für einen jungen Mann, der arbeitsscheu ist und stattdessen lieber faul am heimischen Feuer liegt. Der kólbitr ist

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

Verlauf der Erzählung an den Hof des schwedischen Königs Ingjaldr und durchschaut im Gegensatz zu seinem Bruder Þórir die Machenschaften des Königs. In einer Passage der Saga spricht Án eine Strophe mehrdeutigen Inhalts: Vel þèr selja! stendr þú sjó nær laufguð harla vel; maðr skekkr af þèr morgun döggvar, en ek at þegni þrey nátt sem dag.214 Wohl dir Weide! du stehst nah am Meer sehr schön belaubt; man schüttelt von dir Morgentau, doch ich sehne mich nach dem Þegn Tag und Nacht.

Das darauffolgende Rätselraten seiner Begleiter, was Án damit ausdrücken will, beruht auf einem Wortspiel mit der mehrfachen Bedeutung des Begriffs þegn innerhalb des Textes. Zum einen ist dies der Name des Schwertes von Áns Bruder, der ihm versichert, dass er gerne bereit sei, Án das Schwert zu geben, um ihn von seiner Sehnsucht zu befreien: „Þórir mælti: eigi skaltu þess þurfa, því ek mun gefa þèr sverðit Þegn.“215 / „Þórir sprach: Das sollst du nicht brauchen, weil ich dir das Schwert Þegn geben werde.“ Ketill, ein Begleiter der Brüder, deutet die Strophe jedoch ganz anders: „ek ætla, at þú þreyir karlmanni nökkurum, ok villtu serða hann“216 / „ich glaube, du sehnst dich nach irgendeinem Mann, und willst ihn beschlafen“. Diese spöttische Interpretation ergibt sich aus der eigentlichen Bedeutung des altnordischen Begriffs þegn, nämlich ‚freier, unabhängiger Mann‘217, sowie aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem sexuellen Innuendo, welches das Abschütteln des Morgentaus von einer Weide wohl darstellt – immerhin ist es in der altnordischen Dichtung üblich, einen Mann mit Kenningar vom Typ

ein Spätentwickler, wortkarg und schwächlich. Er trägt oft schlechte und unangemessene Kleidung, ist wenig beliebt und zu boshaften Streichen aufgelegt. Im Lauf der Handlung vollbringt er jedoch eine heldenhafte Tat, legt daraufhin sein unpassendes Verhalten ab und wird zu einem geschätzten Mann. Den kólbitr-Typus verkörpern z. B. Grettir Ásmundarson sowie der Titelheld der Gunnars saga Keldugnúpsfífls. Vgl. hierzu Dehmer, Heinz: Primitives Erzählgut in den ÍslendingaSögur. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der philosophischen Fakultät der Universität zu Frankfurt am Main. Leipzig, 1927, S. 6–12 sowie Sauckel, Kleidung, S. 60 f. 214 „Áns saga Bogsveigis“, in: Rafn, Carl Christian (Hg.): Fornaldar sögur Nordrlanda, Bd. 2. Kaupmannahöfn, 1830, S. 323–362, Kap. 4, S. 336. 215 Án, Kap. 4, FAS 2, S. 336 f. 216 Án, Kap. 4, FAS 2, S. 337. 217 Vgl. Baetke, Wörterbuch, S. 767.

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„Baum des Kampfes“ zu umschreiben. Wenn Án also eine Weide um das morgendliche Abschütteln von Tau beneidet, würde dies recht deutlich in den sexuellen Bereich verweisen. Nachdem Ketills Kommentar für allerlei Spott und Hohn gesorgt hat, klärt Án das Ganze auf: Seine Strophe bezog sich auf seinen Bruder, der aufgrund des Namens seines Schwerts ‚Þórir þegn‘ genannt wird. Ulrike Strerath-Bolz kommentiert in ihrer Übersetzung der Áns saga Bogsveigis diese Passage damit, dass die Äußerung Ketills „ein schwerwiegender Vorwurf und eine tödliche Beleidigung“218 sei, die nur aufgrund von Áns Gutmütigkeit nicht mit Rache geahndet werde. Dies wird jedoch der Aussage des Textes nicht vollkommen gerecht, denn die Formulierung ok viltu serða hann stellt Án ganz klar als den aktiven Part einer homosexuellen Verbindung dar, was, wie bereits festgestellt werden konnte, bei Weitem nicht als so ehrenrührig empfunden und mit ergi konnotiert wurde wie das Einnehmen der rezeptiven Rolle. Anders verhält es sich mit den im Sneglu-Halla þáttr219 überlieferten Anekdoten um den scharfzüngigen Sneglu-Halli am Hof des norwegischen Königs Haraldr harðráði: Hier finden sich derbe Anspielungen sowohl auf aktive wie auch passive Homosexualität. Bemerkenswerterweise bleibt dabei nicht einmal der König selbst ungeschoren: Eines Tages trägt Haraldr harðráði eine prachtvolle Axt bei sich, von der Sneglu-Halli die Augen kaum abwenden kann. Als der König dessen Interesse bemerkt, fragt er den Isländer, ob er bereit wäre sich beschlafen zu lassen, um in den Besitz der Axt zu gelangen („Villtu láta serðask til øxarinnar?“220) Sneglu-Halli erwidert, dass er das nicht wolle: „‚Eigi‘, segir Halli, ‚en várkunn þykki mér yðr, at þer vilið selja sem keyptuð.‘“221 / „‚Nein‘, sagt Halli, ‚aber es scheint mir nicht verwunderlich von Euch, dass Ihr so verkaufen wollt, wie Ihr gekauft habt.‘“ So kommt es, dass der König ihm die Axt schenkt, denn er selbst hatte sie ebenso als Geschenk erhalten. Zudem bleibt ihm letztlich nichts anderes übrig, um dem durch Sneglu-Hallis listige Formulierung implizierten Verdacht zu entgehen, er selbst hätte mit sexuellen Diensten für die Axt bezahlt. Obwohl Sneglu-Halli gewiss einen Sonderstatus ähnlich dem eines Hofnarren einnimmt und der König ihn gerade wegen seiner spitzen Zunge222 schätzt, zeigt sich hier doch deutlich, dass es innerhalb der altnordischen Literatur durchaus auch möglich war, mit dem Thema Homosexualität scherzhaft umzugehen.223 Als Fazit dieses Abschnittes im Hinblick auf die Analyse des Begriffs ergi lässt sich konstatieren, dass nach altnordischer Auffassung rezeptive männliche Homosexualität 218 Vgl. Strerath-Bolz, Ulrike (Hg.): Isländische Vorzeitsagas. Bd. 1. Die Saga von Asmund Kappabani [u. a.]. München, 1997, S. 303. 219 Die ÍF-Ausgabe gibt zwei Redaktionen des Sneglu-Halla þáttr wieder, die Zitate der vorliegenden Untersuchung stammen aus der in der Flateyjarbók überlieferten Version. 220 „Sneglu-Halla þáttr“, in: Jónas Kristjánsson (Hg.): Eyrfirðinga sǫgur. Reykjavík, 1956 (Íslenzk Fornrit, 9), S. 294. 221 Ebd. 222 S. Snegl, ÍF 9, S. 265: „‚Þú munt vera orðhákr mikill‘, segir konungr.“ / „‚Du bist wahrhaftig ein Mann derber Worte‘, sagt der König.“ 223 Vgl. hierzu auch Turville-Petre, Myth and Religion, S. 131.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

einen Ausdruck von Effemination und Schwäche darstellte: Von einem Mann, der bereit war, sich sexuell in eine weiblich konnotierte Rolle zu begeben und sich einem anderen Mann somit zu „unterwerfen“, wurde angenommen, dass er auch in anderen Belangen passiv bleiben und damit „unmännlich“ handeln würde. Auf diesen Assoziationen beruhen die im níð sehr häufig verwendeten Bezichtigungen homosexuellen Verhaltens, denn der Verlust der Männlichkeit bedeutete in der altnordischen Gesellschaft zugleich den Verlust von sozialem Ansehen.224 Somit bestätigt auch die Betrachtung der Einstellung der altnordischen Gesellschaft zur Homosexualität im Wesentlichen eine Definition des Begriffs ergi als Überschreitung der Geschlechternormen.

3 Die Konnotation von seiðr und ergi in den altnordischen Quellen 3.1 Vorbemerkungen Nachdem im vorhergehenden Abschnitt das Konzept ergi sowie die geschlechtlichen Konventionen der altnordischen Gesellschaft, vor deren Hintergrund man dieses Phänomen betrachten muss, analysiert wurden, ist es an der Zeit, wieder zum Ausgangspunkt dieses Exkurses zurückzukehren: Der gedanklichen Verbindung des seiðr mit dem ergi-Komplex. Im Folgenden sollen Belegstellen für diese Konnotation ausgewertet werden, um Rückschlüsse darauf zu ziehen, inwiefern gerade die Ausübung dieser Magieform mit ergi assoziiert wurde. Ein besonderer Fokus liegt in den folgenden Kapiteln vor allem auf der Frage, ob die Darstellung seiðr-Praktizierender in den altnordischen Quellen sich mit den im vorherigen Kapitel als Elemente des Komplexes ergi definierten Eigenschaften vereinen lässt.

3.2 Eddische Dichtung Hinsichtlich der Konnotation von seiðr und ergi sollen zunächst Zeugnisse der eddischen Dichtung näher untersucht werden. In der Liederedda wird seiðr lediglich zweimal erwähnt: In Strophe 22 der Vǫluspá – hier jedoch ohne Bezug zum Konzept ergi – sowie in

224 Auch der Spott, den der gealterte Egill von den Frauen in Kauf nehmen muss (vgl. Eg, Kap. 85, ÍF 2, S. 294 f.) sowie der in Hrafnkels saga Freysgoða (vgl. Hrafnk, Kap. 8, ÍF 11, S. 126) einer Magd in den Mund gelegte Ausspruch svá ergisk hverr sem eldisk (etwa: „so wird jeder weibisch/weichlich, der altert“) zeigen deutlich die Verbindung zwischen dem Verlust von Männlichkeit – hier mangelnde Potenz im Alter – und der Einbuße sozialen Ansehens in der altnordischen Vorstellungswelt (vgl. hierzu auch Solli, Seid, S. 145).

3 Die Konnotation von seiðr und ergi in den altnordischen Quellen

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Strophe 24 der Lokasenna, welche nur im um das Jahr 1270 datierten Codex regius sowie in von diesem abhängigen Papierhandschriften des 17. und 18. Jahrhunderts überliefert ist.225 Schauplatz der Lokasenna bildet ein großes Festmahl der Götter in der Halle Ægirs, in dessen Verlauf der – aufgrund der Tötung von Ægirs Diener Firmafengr – zuvor des Festes verwiesene Loki nacheinander die versammelten Götter beschimpft, indem er ihnen ihre Schwächen, Verfehlungen und insbesondere ihre sexuellen Eskapaden vorhält. Hierbei versucht jedes Mal eine der Gottheiten einzugreifen, zieht dadurch Lokis Aufmerksamkeit auf sich, und wird so zum nächsten Opfer seiner Scharfzüngigkeit. Auf diese Weise wird auch Óðinn zur Zielscheibe von Lokis Spott, als er versucht die Göttin Gefjon zu verteidigen.226 Nach einem einleitenden verbalen Schlagabtausch zwischen den beiden Göttern wirft Óðinn Loki Folgendes vor: [. . .] átta vetr vartu fyr iorð neðan kýr molkandi oc kona, oc hefir þú þar born borit, oc hugða ec þat args aðal.227 [. . .] acht Winter warst du unter der Erde Kühe melkend und eine Frau, und dort hast du Kinder geboren, und das hielt ich für die Art eines unmännlichen/perversen Mannes.

Óðinns Bezichtigungen entsprechen den im níð üblichen formelhaften, gegen einen Mann gerichteten Anschuldigungen der Verwandlung in eine Frau und – je nachdem für welche Interpretation der Formulierung kýr molkandi oc kona man sich entscheidet, denn grammatikalisch ist sowohl eine Übersetzung mit „Kühe melkend und eine Frau“ als auch mit „eine milchgebende Kuh und eine Frau“ möglich228 – in ein weibliches Tier sowie des Gebärens von Kindern. Da das Loki unterstellte Verhalten zweifellos die Bedeutung ‚effeminiert‘ im Sinne von ‚die männliche Geschlechtsrolle überschreitend‘ besitzt, muss der Begriff argr hier folglich ebendies bezeichnen und ‚effeminiert‘, ‚unmännlich‘ bzw. ‚queer‘ bedeuten.229 Óðinn nimmt in der oben zitierten Strophe Bezug auf ein nur in der Lokasenna erwähntes Ereignis aus Lokis mythologischer Vergangenheit: Einen Aufenthalt in der Unterwelt – sehr wahrscheinlich bei den für ihre derbe und ungezügelte Sexualität notorischen Riesen und Trollen230 – währenddessen er

225 Vgl. La Farge, Beatrice: Art. „Lokasenna“, in: RGA, Bd. 18. Berlin, New York, 2001, S. 579. 226 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 443. 227 Ls, Str. 23; Neckel; Kuhn, Edda, S. 100. 228 Vgl. von See et al.: Kommentar, Bd. 2, S. 427 f.; Dillman, Magiciens, S. 443 und Dronke, Poetic Edda, Bd. 2, S. 361. Meine Übersetzung orientiert sich an den Interpretationen von Dillmann und Dronke und gibt ebenfalls der Bedeutung ‚Kühe melkend‘ den Vorzug. 229 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 443. 230 Vgl. Meulengracht Sørensen, Unmanly Man, S. 24. Von einem Troll bzw. Riesen sexuell gebraucht worden zu sein, war eine im níð häufig vorgebrachte Diffaminierung.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

wohl nicht nur eine in der altnordischen Gesellschaft feminin konnotierte Tätigkeit, das Melken von Kühen, ausgeführt, sondern sich darüber hinaus in eine Frau verwandelt und in dieser Gestalt Kinder geboren hat.231 Gestalt- und Geschlechtswandel sind charakteristisch für den Gott Loki, dem es als Trickster-Figur möglich ist, gesellschaftliche wie geschlechtliche Grenzen und Verhaltenskonventionen zu überschreiten.232 Auch andere Quellen erwähnen Begebenheiten, in denen der Gott eine sexuelle Metamorphose233 vollzieht: So wird in Strophe 41 der Hyndluljóð davon berichtet, wie Loki das halbversengte Herz einer kona ill („bösen Frau“)234 verzehrt, daraufhin schwanger und so zur „Ahnfrau aller Hexen“235 wird: Loki át af hiarta fann hann hálfsviðinn varð Loptr qviðugr þaðan er á foldo

lindi brendo hugstein kono; af kono illri, flagð hvert komit.236

Loki aß vom Herzen, dem mit Lindenholz gebrannten, er hatte einen halbverbrannten Sinnes-Stein einer Frau gefunden; Loptr237 wurde schwanger von einer bösen Frau; davon ist auf Erden jedes Trollwesen238 gekommen.239

231 Vgl. ebd. 232 Vgl. Dronke, Poetic Edda, Bd. 2, S. 361 mit Verweis auf de Vries, Jan: The Problem of Loki. Helsinki, 1933 (Folklore Fellows Communications, 110), Kap. 10 und 12, S. 201–224 und S. 251–281. 233 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 443. 234 Es ist unklar, auf wen sich die Bezeichnung kona ill bezieht; in Vsp Str. 22 wird allerdings die vǫlva Heiðr angan illar brúðar („die Freude einer böse Frau“ bzw. als Kollektiv „die Freude böser Frauen“) genannt, weshalb ein Bezug der kona ill zu Zauberei und seiðr angenommen werden kann (vgl. dazu von See et al., Kommentar, Bd. 3, S. 806 f. sowie Mundal, Else: „Austr sat in aldna . . . Giantesses and female powers in Vǫluspá“, in: Simek, Rudolf; Heizmann, Wilhelm (Hgg.): Mythological Women. Studies in Memory of Lotte Motz 1922–1997. Wien, 2002 (Studia Medievalia Septentrionalia, 7), S. 193. 235 Von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 429. 236 Hdl, Str. 41, Neckel; Kuhn, Edda, S. 294. 237 Ein in der eddischen Dichtung und der Skaldik wiederholt anzutreffender Beiname Lokis; vgl. dazu von See et al., Kommentar, Bd. 3, S. 806. 238 Der Begriff flagð steht für „ein bösartiges, übermenschliches Wesen und wird zuweilen auf Riesinnen [. . .], gelegentlich auch auf Riesen bezogen“ (von See et al., Kommentar, Bd. 3, S. 806). Da jedoch in Hdl Str. 33 Ymir als der Stammvater aller Riesen bezeichnet wird („iotnar allir frá Ymi komnir“ / „die Riesen sind alle von Ymir gekommen“; Hdl, Str. 33, Neckel; Kuhn, Edda, S. 293), muss flagð sich hier auf übel gesinnte, mit dem chaotischen Potential der útgarðr-Sphäre assoziierte übernatürliche Wesen anderer Kategorien beziehen, weswegen von See et al. den Begriff mit ‚Trollwesen‘ übersetzen (vgl. von See et al., Kommentar, Bd. 3, S. 806 f.). 239 Übersetzung nach von See et al., Kommentar, Bd. 3, S. 803.

3 Die Konnotation von seiðr und ergi in den altnordischen Quellen

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Darüber hinaus gebiert Loki, in eine Stute verwandelt, Óðinns Pferd Sleipnir;240 in der Baldr-Episode241, welche den Auftakt zu den ragnarǫk bildet, sucht er in Frauengestalt Frigg auf, um das Geheimnis von Baldrs Verwundbarkeit zu erfahren, und verhindert später in Gestalt der Riesin Þǫkk242 die Rückkehr des Gottes aus Hel.243 Es muss eben diese Fähigkeit Lokis zum Gestalt- und insbesondere Geschlechtswandel, zum Überschreiten der Kategorien „Mann“ und „Mensch/von menschlicher Gestalt“244 sein, die Óðinn in der Lokasenna als args aðal bezeichnet245, da diese Transgressionen (wie bereits in Kapitel VIII 2.1 konstatiert) Elemente des ergi-Komplexes darstellen. Loki kontert nun mit einem entsprechenden Gegenvorwurf: Enn þic síða kóðo Sámseyo í, oc draptu á vétt sem vǫlor; vitca líki fórtu verþióð yfir, oc hugða ec þat args aðal.246 Aber du, sagte man, zaubertest auf Sámsey, und du schlugst auf die Zaubertrommel wie die vǫlur; In Gestalt eines Zauberes zogst du durch die Welt der Menschen, und das halte ich für die Art eines unmännlichen/perversen Mannes.

Die Interpretation dieser Strophe bereitet allerdings zahlreiche Schwierigkeiten. Zum einen findet sich im Codex regius in der ersten Verszeile nicht das Verb síða (‚seiðr betreiben‘, ‚zaubern‘), sondern síga (‚sinken‘, ‚hinabgleiten‘). Die meisten Textausgaben übernehmen zwar die Emendation in síða,247 jedoch stellt sich die Frage, ob ein solches Eingreifen in den Text notwendig ist. Verzichtet man nämlich auf diese Korrektur, ergibt sich eine Lesart, die Óðinns magische Handlungen auf der Insel Sámsey in Bezug zu Vorstellungen von Seelenreisen (hamfǫr) setzt: Das Niedersinken des Gottes könnte demnach das Versinken in einen tranceartigen Zustand implizieren, was durchaus im Rahmen der Óðinn zugeschriebenen Fähigkeit zur Seelenreise in

240 Vgl. Hdl, Str. 40, Neckel; Kuhn, Edda, S. 294: „Ól úlf Loki gat við Angrboðo, / enn Sleipni gat við Svaðilfara [. . .].“ / „Den Wolf zeugte Loki mit Angrboda, / aber Sleipnir erzeugt’ er mit Swadilfari [. . .].“ (Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 207). 241 Vgl. Gylf 49, Faulkes, SnE, S. 45–48. 242 Zur Identifikation von Þǫkk mit Loki vgl. Dumézil, Georges: Loki. Aus dem Französischen übersetzt von Inge Köck. Paris, 1959, S. 54 f. 243 Vgl. Ström, Folke: Loki. Ein mythologisches Problem. Göteborg, 1956 (Acta Universitatis Gothoburgensis/ Göteborgs Universitets Årsskrift, 62, 1956, 8), S. 70. 244 Natürlich ist Loki kein Mensch, sondern ein Gott. Jedoch haben Götter, Alben und Riesen in der altnordischen Überlieferung menschliche Gestalt, welche durch die Verwandlung in ein Tier abgelegt wird. 245 Im weiteren Verlauf des Liedes empört sich auch der Gott Njǫrðr über die Anwesenheit des áss ragr, der Kinder geboren habe (s. Ls, Str. 33, Neckel; Kuhn, Edda, S. 103). 246 Ls, Str. 24, Neckel; Kuhn, Edda, S. 101. 247 Vgl. von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 430 f.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

ritueller Ekstase läge.248 Behält man also die handschriftliche Lesart síga bei, so müsste die erste Verszeile der Lokasenna 24 am sinnvollsten als Anspielung auf ein Versinken in Trance seitens Óðinn interpretiert werden. Problematisch ist hierbei aber, dass es keine weiteren Belege für eine Verwendung des Verbs síga im Sinne von ‚in Ohnmacht fallen, das Bewusstsein verlieren‘ gibt.249 Die Frage nach der Notwendigkeit der Emendation ist natürlich auch insofern von Bedeutung, als letztlich an dieser Stelle ansonsten überhaupt keine direkte Erwähnung des seiðr vorläge – ein Grund, weswegen Dillmann diese Strophe als Belegstelle für seiðr als „nicht beweiskräftig“250 einstuft. Die Tatsache, dass Loki hier Óðinns – wie auch immer geartetes – magisches Tun auf der Insel mit dem der vǫlur vergleicht (draptu á vétt sem vǫlor), lässt sich jedoch als Kriterium dafür anführen, dass die 24. Strophe der Lokasenna durchaus bei einer Beschäftigung mit seiðr als Quelle herangezogen werden kann, unabhängig davon, ob man der handschriftlichen Lesart oder der Änderung in síða den Vorzug gibt: Wie wir bereits gesehen haben, beschäftigen sich die vǫlur charakteristischerweise mit der Divination, welche wiederum in den Quellen in der Regel mittels seiðr erfolgt. Es erscheint also durchaus legitim, die vǫlur als Praktizierende des seiðr zu deuten, wobei die von ihnen ausgeübte Divination dem Zeugnis der Quellen zufolge vornehmlich ein Privileg der Frauen gewesen sein dürfte. Dies ist der Grund, weswegen Loki in erster Linie Óðinns Verhalten als args aðal, entgegen der Natur eines Mannes, verspottet: Selon Loki, Óðinn aura donc agi à Samsey «comme les devineresses, les sorcières». Ainsi c’est la pratique féminine d’une variété bien spécifique de la sorcellerie scandinave qui permet à Loki de lancer à la face d’ Óðinn l’accusation infamante d’ergi.251

Die Beantwortung der Frage, ob nun síga oder síða die korrekte Lesart der ersten Verszeile der Lokasenna 24 darstellt, ist meines Erachtens eher geeignet, Auskunft über die Natur der magischen Handlung Óðinns zu geben, als über die eigentliche Legitimation der Verwendung dieser Passage als Belegstelle für seiðr zu entscheiden, da im Gesamtkontext der Strophe durch die Bezugnahme auf die vǫlur ohnehin eine Ausübung von seiðr seitens des Gottes impliziert wird. Ein weiteres Problem bei der Interpretation der fraglichen Strophe stellt der Ausdruck drepa á vétt dar, da die Form vétt ansonsten unbekannt ist. Aus dem Kontext geht hervor, dass hiermit ein für die Zauberpraktik der vǫlur typisches Element gemeint sein muss. Strömbäck fasst vétt als eine ältere Form von vætt auf – einem Neutrum, das Fritzner mit „halvrundt eller ophøiet Laag (paa Kiste)“252 wiedergibt – und deutet den Begriff als „en norrön benämning på en trolltrumma eller ‚runebom‘, föranledd av 248 Vgl hierzu Kapitel VII 2.4 der vorliegenden Untersuchung. 249 Vgl. hierzu von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 430 f. 250 Haid; Dillmann, Zauber, S. 860. 251 Dillmann, Magiciens, S. 445; vgl. hierzu auch Ström, Loki, S. 71. 252 S. Fritzner, Ordbog, Bd. 3, S. 981.

3 Die Konnotation von seiðr und ergi in den altnordischen Quellen

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den sistnämnades kupiga form eller annan likhet med ett lock“.253 Für die Formulierung drepa á vétt würde sich somit die Bedeutung „auf die Zaubertrommel schlagen“ ergeben, wodurch sich dieser Teil eines magischen Rituals der vǫlur wiederum in Bezug zu schamanistischen Séancen setzen ließe.254 Trotz ihrer Plausibilität ist diese Interpretation jedoch nicht eindeutig gesichert. Was Lokis Spott betrifft, erscheint eine Anmerkung Dronkes hinsichtlich der Charakteristik des vétt sehr passend: „If the vétt was a poorer style of instrument, that would suit Loki’s scornful tone well.”255 Unsicher ist auch, wie man die Formulierung fortu verþióð yfir im fünften Vers der Lokasenna 24 zu deuten hat: Hiermit kann sowohl gemeint sein, dass sich Óðinn über die Menschen hinweg – im Sinne eines magischen Fluges – oder unter den Menschen, also in ihrer bzw. durch ihre Welt hindurchbewegt. Dies geschieht vitka líki, was wiederum Raum für Spekulationen bietet: Muss líki als Dativ Singular des Adjektivs líkr im Sinne von ‚gleich, ähnlich‘ oder eher als entsprechende Dativform des Substantivs lík ‚Körper, Gestalt‘ aufgefasst werden? Kann die Lesart vitka des Codex regius, eine Form des selten belegten Maskulinum vitki (‚Zauberer‘), beibehalten werden oder ist es vielmehr notwendig, hier in eine nicht belegte feminine Form *vitku (‚Zauberin‘) zu emendieren?256 Beide Interpretationen der Wendung fortu verþióð yfir sind denkbar. Strömbäck bevorzugt die Deutung im Sinne eines magischen Fluges des Gottes über die Welt der Menschen, was im Kontext zu den in Ynglinga saga 7 geschilderten Fähigkeiten Óðinns zur Seelenreise und Trance durchaus plausibel erscheint und ähnlichen Charakter wie die Luftfahrten der in Hávamál 155 erwähnten túnriður aufweist:257 Þat kann ec iþ tíunda, ef ec sé túnriðor leica lopti á: ec svá vinnc, at þeir villir fara sinna heim hama, sinna heim huga.258 Das kann ich als zehntes [Lied], wenn ich Zaunreiterinnen sich frei in der Luft bewegen sehe: So bringe ich es zustande, dass sie irregehen

253 Strömbäck, Sejd, S. 24. 254 Vgl. Strömbäcks Erläuterungen in Sejd, S. 22–25. Die Schamanentrommel bildet ein zentrales Element der Ausrüstung sibirischer und samischer Schamanen und „ist mit einer Reihe von wesentlichen Komponenten des schamanistischen Komplexes verbunden: mit der Ekstase (ihre monotone Musik ist ein wichtiges Hilfsmittel zum Hervorrufen des ekstatischen Zustandes), mit der Initiation [. . .], mit der Kosmologie [. . .], mit der Jenseitsfahrt [. . .].“ (Vajda, László: „Zur phaseologischen Stellung des Schamanismus“, in: Ural-Altaische Jahrbücher, Bd. 31. Wiesbaden, 1959, S. 475). 255 Dronke, Poetic Edda, Bd. 2, S. 362. 256 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 445. 257 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 26. 258 Háv, Str. 155, Neckel; Kuhn, Edda, S. 43.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

vom Heim ihrer Gestalten, vom Heim ihrer Seelen.259

Wie genau man diese Strophe der Hávamál zu verstehen hat, ist äußerst umstritten; es kann jedoch mit ziemlicher Sicherheit davon ausgegangen werden, dass hier wiederum die Vorstellung von Seelenreise ausgedrückt wird, zu der die túnriður (‚Zaunreiterinnen‘), welche derselben Kategorie altnordischer Hexengestalten wie die kveldriður, myrkriður oder trollriður angehören, in der Lage sind.260 Ein interessantes Detail ist hierbei, dass auf die túnriður der Hávamál nicht – wie es zu erwarten wäre – mit dem weiblichen Personalpronomen þær und der dementsprechenden Formulierung fara villar, sondern mit den maskulinen Formen þeir und villir Bezug genommen wird. Obwohl hier eine Emendation möglich ist, stellt sich doch die Frage, ob die handschriftliche Lesart nicht beibehalten werden kann, da zum einen das verwandte trollriða altnordischen Gesetzestexten zufolge auch Männer bezeichnen kann261 – somit könnten in Hávamál 155 ebenfalls zauberkundige Personen beiderlei Geschlechts gemeint sein – und es zum anderen auch denkbar wäre, dass hiermit eine liminale geschlechtliche Identität der túnriður ausgedrückt werden soll: Es könnte sich dann bei den túnriður um männliche Zauberer in Frauengewand oder -gestalt, also mit anderen Worten um Zauberer handeln, deren Tun und Auftreten sich hervorragend als argr bezeichnen ließe. Gerade da Lokis Worte darauf abzielen, Óðinns Tun als args aðal zu verhöhnen und dieser Vorwurf beinhaltet, dass ein Mann geschlechtliche Konventionen überschreitet, wäre eine solche Implikation durchaus denkbar.262 Bei den den túnriður verwandten Hexenfiguren der altnordischen Vorstellungswelt liegt zudem, wie bereits in Kapitel VI 3.1 festgehalten, stets eine starke Sexualisierung vor, da sie sich bevorzugt junge Männer als Opfer aussuchen und diesen durch „Reiten“ Schaden zufügen. Allerdings muss mit der Wendung fortu verþióð yfir nun nicht unbedingt auf einen magischen Flug oder eine Seelenreise Óðinns angespielt werden: Es kann durchaus

259 Die Übersetzung dieser Strophe ist sehr umstritten und problematisch, ich habe einen Versuch unternommen, der sich an den Anmerkungen zu der betreffenden Stelle in Hávamál, edited by David A. H. Evans. London, 1986 (Viking Society for Northern Research, 7), S. 139 f. orientiert. Da die Vorstellung von Ruhelosigkeit und Herumirren ein häufig verwendeter Bestandteil altnordischer Fluchformeln ist – man beachte an dieser Stelle wiederum die Überschneidung mit Ruhelosigkeit verursachendem seiðr – kann das Einwirken Óðinns auf die hamfǫr der túnriður wohl am sinnvollsten als das Auslösen eines in die Irregehens, welches die Freiseelen der Zaubernden daran hindert, in ihre Körper zurückzukehren (und somit wohl zu deren Tod führen würde), interpretiert werden. 260 Vgl. dazu Evans, Hávamál, S. 139 f. Das altnordische túnriða entspricht also den althochdeutschen Bezeichnungen für Hexe, nämlich hagazussa (‚Zaunweib‘), zunrite bzw. walriderske (‚Zaunreiterin‘), die Lily Weiser-Aall als Tabunamen auffasst (vgl. Weiser-Aall, Lily: Art. „Hexe“, in: HdA, Bd. 3. Berlin, Leipzig, 1930/1931, Sp. 1838 sowie Erich; Beitl, Wörterbuch der deutschen Volkskunde, S. 357). 261 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 182 sowie Strömbäck, Concept of the Soul, S. 234. 262 Vgl. hierzu Almqvist, I marginalen til Sejd, S. 265.

3 Die Konnotation von seiðr und ergi in den altnordischen Quellen

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auch ein bloßes Umherziehen unter den Menschen gemeint sein, da ja gerade das Auftreten in verschiedensten Identitäten und Vermummungen in der Welt der Menschen ein wesentliches Charakteristikum des Gottes darstellt und Ausdruck seiner Verbindung zu dem gemeingermanischen Merkmalskomplex der Nichtsesshaftigkeit, Zauberei, Heilkunde und sexuellen Freizügigkeit263 ist, an dem auch die faranda konur und vǫlur der altnordischen Überlieferung Anteil haben.264 Lokis spöttischer Vergleich scheint sich eben dieses Assoziationspotential des Gottes mit fahrenden Zauberinnen zunutze zu machen. Insbesondere da mit dem Komplex der faranda konur die Vorstellung sexueller Freizügigkeit verbunden ist, welche – gerade auch in Bezug auf Frauen – eine Assoziation mit ergi nach altnordischer Auffassung voll und ganz berechtigt, bekommt Lokis Vorwurf eine besondere Spitze: Denn charakteristische Züge Óðinns wie das Umherziehen und das Beherrschen magischer Fähigkeiten bieten sich nicht nur zum Vergleich des Gottes mit den vǫlur an, sondern erwecken per se schon die Konnotation einer ausschweifenden Sexualität, welche nicht der Norm entspricht. Eine Interpretation der Formulierung fortu verþióð yfir als Anspielung auf Óðinns Betätigung als „fahrender Zauberer“ erscheint daher besonders vielversprechend. Eine weitere Deutungsmöglichkeit der Verszeile vitca líki fórtu verþióð yfir besteht darin, sie als eine Anspielung auf Óðinns Verkleidung als Ärztin Wecha in der Rindr-Episode, wie sie bei Saxo Grammaticus überliefert ist,265 aufzufassen. Dronke und Bugge betrachten den Namen Wecha als eine Ableitung zu der ansonsten nicht belegten femininen Form *vitka.266 Wie Strömbäck hält Dronke jedoch eine Änderung von vitki in *vitka in Lokasenna 24 nicht für notwendig, da „Óðinn is performing seiðr as a wizard by pretending to be female“267. Die Ausübung des seiðr in dieser Episode muss hierbei allerdings durch die Information aus Kormákrs Skaldenstrophe seið Yggr til Rindar ergänzt werden. Auffällig sind die starken Übereinstimmungen der Rindr-Episode bei Saxo mit dem oben erwähnten Komplex der faranda konur: Óðinn (der Wanderer) gibt sich als Frau (deren Name Reminiszenzen zum Begriff ‚Zauberer‘ bzw. ‚Zauberin‘ aufweist) und Heilkundige aus, verwendet Magie – nach Kormákr seiðr – um seine sexuellen Gelüste zu befriedigen und – mehr noch – mit dem erklärten Ziel, durch diesen Akt einen Sohn zu zeugen. Sämtliche Elemente, die zum Komplex der fahrenden Frauen gehören (Umherziehen, Zauber, Sexualität und Fruchtbarkeit) sind also in dieser Episode enthalten.268 In Saxos Version wird Óðinns Verhalten von den anderen Göttern als moralisch untragbar bewertet und führt zu seiner Ächtung,269 was

263 Vgl. Heizmann, Gefjon, S. 222. 264 Vgl. hierzu insbesondere Kapitel VII 2.1 der vorliegenden Arbeit. 265 Vgl. hierzu auch von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 433 f. 266 Vgl. Dronke, Poetic Edda, Bd. 2, S. 362: „ON *Vekka < *Vetka < *Vitka, ‘sorceress’, fem. Forms of vitki, ‘wizard’, not elsewhere recorded in ON.“ 267 Ebd. 268 Vgl. Heizmann, Gefjon, S. 223. 269 Gesta Danorum, Lib. III, S. 72.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

als eine Parallele zum Vorwurf von ergi, den Loki in der Lokasenna an den Gott richtet, betrachtet werden kann. Unabhängig davon, ob Lokis Bemerkung nun direkt auf Óðinns Verführung der Rindr Bezug nimmt oder nicht, wird klar, dass in Lokasenna 24 auf Züge und Handlungsweisen Óðinns angespielt wird, die ihn in die Nähe zu weiblichen Zauberinnen – namentlich vǫlur – rücken. Trotz aller Deutungsschwierigkeiten lassen sich hinsichtlich der Phänomene ergi und seiðr somit folgende Rückschlüsse aus der Lokasenna ziehen: Entscheidend ist zunächst, dass die Bemerkung oc hugða ec þat args aðal, mit der Loki seine Schmähstrophe abschließt, dieselbe Bedeutung haben muss wie in der vorangegangenen Strophe, in der Óðinn seinerseits Lokis sexuelle Metamorphosen als args aðal bezeichnet hatte: Dans les deux cas, le même terme, placé dans la même position, désigne la même notion: un comportement féminin de la part d’un être masculin. Là, un dieu est accusé de s’être métamorphosé en vachère et d’avoir donné naissance à des enfants; ici, un autre dieu est raillé pour sa conduite semblable à celle d’une vǫlva, pour avoir accompli des pratiques de sorcellerie ressenties comme spécifiquement féminines.270

Neben der bloßen Ausübung einer mit Tabubrüchen und deviantem Verhalten (‚queerness‘) konnotierten Magieform und dem Vergleich mit ihren weiblichen Praktizierenden erstreckt sich der Vorwurf von ergi in der Lokasenna aller Wahrscheinlichkeit nach auch auf eine Fähigkeit Óðinns zum Gestalt- und Geschlechtswandel, die dieser mit seinem Blutsbruder271 Loki teilt. Diesbezüglich sehr entschieden äußert sich de Vries: „The transformation of these gods into women is an undeniable fact and in itself it seems not to be incompatible with the respect due to a deity, as Othin himself is not exempt from this evil.“272 Laut Schjødt könnte Óðinn gerade durch die Blutsbrüderschaft mit Loki dessen liminale Züge, namentlich das Vermögen, Gestalt und Geschlecht zu wandeln, hinzugewonnen haben. Der Austausch von Blut schafft nicht nur eine enge Verbindung zwischen den Blutsbrüdern, sondern geht in der altnordischen Überlieferung mit der Übertragung von Fähigkeiten und Eigenschaften einher, woraus in der Folge ein gewisser Grad von Identität zwischen beiden Parteien resultiert: Die verschiedenen Körperteile, aber auch die Kleidung, die Waffen, sogar das Hausgerät, wird als Zubehör des menschlichen Körpers betrachtet und zwischen diesen beiden besteht eine so innige Verbindung, dass man von einer völligen Identität reden kann. Das Haar besitzt nicht nur Eigenschaften, die mit der Person aufs engste zusammenhängen, es tritt unter Umständen ganz an deren Stelle, sodass man sagen könnte, das Haar sei der Mensch selber. [. . .] Wenn

270 Dillmann, Magiciens, S. 446. 271 Vgl. Ls, Str. 9, Neckel; Kuhn, Edda, S. 98: „Mantu þat, Óðinn, er við í ardaga / blendom blóði saman [. . .].“ / „Erinnerst du dich daran, Óðinn, dass wir in Urtagen / gemeinsam das Blut mischten [. . .].“ (Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 146). 272 Vgl. de Vries, Loki, S. 216.

3 Die Konnotation von seiðr und ergi in den altnordischen Quellen

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also das Blut des einen Menschen in den Körper des anderen übergeht, so sind die beiden Personen substantiell dieselben geworden, da ja die ganze Persönlichkeit mit allen ihr anhaftenden Eigenschaften zusammen mit dem Blute übertragen worden ist. Der primitive Mensch isst das Herz des Wolfes und kommt dadurch in Besitz der Grausamkeit und des wilden Mutes, die das Tier besonders kennzeichnen. So glaubt er ebenfalls, dass die körperlichen und seelischen Kräfte des Blutsbruders in seinen eigenen Leib übergetreten sind. [. . .] Man bekommt durch das Blut Teil an der ganzen Persönlichkeit des Blutsbruders, eben weil das Blut mit dieser vollständig identisch ist.273

Óðinn könnte sich also seine Fähigkeit zum Gestaltwandel und zu dem allem Anschein nach ebenfalls im Bereich seiner Möglichkeiten liegenden Geschlechtswandel womöglich von Loki über dessen Blut angeeignet haben, weshalb er jedoch ebenfalls die „queerness“ (ergi) Lokis in sich trägt – eine unauflösliche Verbindung, an die Loki seinen Blutsbruder offenbar nur allzu gern erinnert. Dass Óðinn einen Makel in Form von ergi im Gegenzug für besondere Fähigkeiten Lokis in Kauf genommen haben könnte, wäre durchaus denkbar, da dieser Tausch den anderen Opfern ähnelt, welche der Gott in der altnordischen Überlieferung wiederholt für das Erlangen geheimen Wissens zu bringen bereit ist. Ebenso stellt das Akquirieren neuer Fähigkeiten bzw. neuen Wissens eine typische Motivation Óðinns dar.274 Schjødts These macht den Schlagabtausch zwischen Loki und Óðinn in der Lokasenna also noch nuancierter, denn Loki würde sich sicherlich gerade von seinem Blutsbruder, der mit ihm das Charakteristikum ergi schon via Blutaustausch teilt, keinen Vorwurf devianten (Sexual-)Verhaltens gefallen lassen, ohne ihm selbiges im Gegenzug ebenfalls vorzuhalten. Vorsicht ist jedoch geboten, wenn Schjødt Loki zugleich als den Übermittler der Kenntnis des seiðr an Óðinn deutet und seiðr somit ebenfalls als eine der im Zuge der Blutsbrüderschaft übertragenen Fähigkeiten interpretiert. Dies führt nicht nur zu erheblichen Konflikten mit der bei Snorri belegten Aussage, dass Freyja die Asen in der Ausübung des seiðr unterweist – was sich noch als Überlieferungsvariante erklären ließe –, sondern unterstellt zudem, dass Loki ein seiðr-Praktizierender wäre oder zumindest dem seiðr entsprechende Aktivitäten ausüben würde, wofür aber kein einziger Beleg in der altnordischen Überlieferung existiert.275 Wollte man Loki als seiðr-Praktizierenden betrachten, müsste man

273 Vgl. de Vries, Jan: „Der altnordische Rasengang“, in: APhS, Bd. 3. København, 1928–1929, S. 116. 274 Vgl. Schjødt, Initiation, S. 214. 275 Schjødts anfängliche Differenzierung zwischen tatsächlicher Ausübung von seiðr im Fall von Óðinn und von dem seiðr ähnlichen Aktivitäten im Fall Lokis verliert denn auch rasch an Präzision: „It is not stated directly that Loki has performed seiðr but, considering his change of sex and feminine activities connected with it, it seems reasonable to presume that Óðinn’s behavior and Loki’s journey to the underworld are both played out within that meaning-complex which also has seiðr as one of its elements. Loki is, therefore, to be understood as a practitioner of seiðr [. . .].“ (Schjødt, Initiation, S. 212); „Thus Snorri’s remark in Yng must be interpreted as meaning that Freyja taught the Æsir goddesses seiðr; and since Óðinn and Loki are the only male gods that directly practise seiðr (Óðinn), or

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

davon ausgehen, dass es sich bei Gestalt- und Geschlechtswandel und letztlich auch ergi nicht nur um mit dieser Magieform verbundene Phänomene handelt, sondern dass sie mit seiðr praktisch gleichbedeutend wären, was den Sachverhalt jedoch zu sehr vereinfachen würde. Die obige Analyse hat ergeben, dass Lokis Vorwürfe durch den Vergleich Óðinns magischer Handlungen mit denen der vǫlur – wobei es, wie bereits erläutert, legitim erscheint, hierunter ganz konkret die Ausübung von seiðr zu verstehen – Assoziationen mit dem bereits genannten Merkmalskomplex von Umherwandern, Zauber und Sexualität wecken. Dieser war offenbar nicht nur den Frauen vorbehalten, vielmehr hatten auch männliche Magiepraktizierende Anteil daran, wodurch sie sich jedoch dem Vorwurf von Effemination und Unmännlichkeit aussetzten. Der in der Lokasenna implizierte Zusammenhang zwischen der Ausübung von seiðr und Effemination seitens eines Mannes findet sich auch im zweiten Zeugnis der eddischen Dichtung wieder, auf das an dieser Stelle näher eingegangen werden soll: der 33. Strophe der Hyndluljóð. Im Zuge eines Wissensgesprächs enthüllt die Riesin Hyndla Freyja und ihrem Schützling unter anderem Genealogien mythologischer Wesen. Die Strophe, in welcher seiðr erwähnt wird, befasst sich mit der mythischen Abstammung zauberkundiger Personen und der Riesen. Sie wird nahezu wörtlich im fünften Kapitel der Gylfaginning zitiert – wobei Snorri als seine Quelle die Vǫluspá hin skamma angibt276 – und lautet wie folgt: Ero vǫlor allar frá Viðólfi vitcar allar frá Vilmeiði enn seiðberendr frá Svarthǫfða, iotnar allir frá Ymir komnir.277 Alle vǫlur stammen von Viðólfr Alle Zauberer von Vilmeiðr und die seiðberendr von Svarthǫfði, die Riesen [sind] alle von Ymir gekommen.

Obwohl in der Handschrift der Flateyjarbók an dieser Stelle nicht der Begriff seiðberendr, sondern skilberendr steht, wird in nahezu allen Ausgaben die in den Handschriften der Snorra Edda überlieferte Lesart seiðberendr übernommen.278 Die hier vorliegende Einteilung magiekundiger Personen in vǫlur (also Frauen, die in den

activities that can hardly be distinguished from seiðr (Loki), it is to these two that we must look for the prototype of the male practitioner of seiðr. [. . .] Loki had obtained abilities in the underworld that made it possible for him to practise seiðr, probably in connection with a sex-change and a sexual act, since he becomes a ‘mother’. After this, he mixes blood with Óðinn, thereby transferring these abilities [. . .].“ (Schjødt, Initiation, S. 213.) 276 Gylf 5, Faulkes, SnE, S. 10; vgl. dazu auch von See et al., Kommentar, Bd. 3, S. 785. 277 Hdl, Str. 33, Neckel; Kuhn, Edda, S. 293. 278 Vgl. von See et al., Kommentar, Bd. 3, S. 787 sowie Strömbäck, Sejd, S. 27, Anm. 1.

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Quellen vornehmlich als mit der Divination mittels seiðr beschäftigt dargestellt werden), vitcar (männliche Zauberer, wobei hier keine Ausübung von seiðr impliziert wird) und seiðberendr wurde von Strömbäck als „tämligen fri uppfinning av skalden och ett uttryck för dennes lust för systematik“279 eingeschätzt. Es stellt sich allerdings die Frage, ob nicht doch mehr als nur dichterische Freiheit hinter dieser Kategorisierung steckt. Um darauf eine Antwort zu finden, ist zunächst die Bedeutung des Wortes seiðberendr von Interesse. Bei diesem Begriff handelt sich um ein hapax legomenon, das in der Forschung lange Zeit als „ett slags omskrivning för sejdmän eller sejdfolk av bägge könen“280 interpretiert wurde. Hierbei wurde -berendr, der zweite Bestandteil des Kompositums, als Partizipialform zum Verb bera aufgefasst und seiðberendr dementsprechend im Sinne von ‚jemand, der seiðr betreibt‘ übersetzt.281 Weil der Ausdruck bera seið ansonsten jedoch nicht belegt ist, schlägt Strömbäck eine andere, weitaus überzeugendere Interpretation des Begriffs seiðberendr vor: Da sowohl in den Gulaþingslǫg als auch in den Frostraþingslǫg das Wort berendi als Bezeichnung für ein weibliches Tier unter der Rubrik fullréttisorð angeführt wird,282 und berendi des Weiteren in einer aus dem 14. Jahrhundert stammenden altisländischen Handschrift medizinischen Inhalts in der Bedeutung ‚weibliche Geschlechtsteile‘ Verwendung findet,283 kann der Ausdruck seiðberendr als eine pejorative Bezeichnung stark obszönen Charakters für seiðr-Praktizierende gedeutet werden.284 Vor diesem Hintergrund lässt sich für die dritte Kategorie magiekundiger Personen in Hyndluljóð 33 also konstatieren, dass sie seiðr ausüben und mit einem obszönen Ausdruck – analog zu den im níð verwendeten und strafrechtlich streng geahndeten Beschuldigungen – bezeichnet werden, der eine Konnotation zu Sexualität, Fruchtbarkeit, Weiblichkeit sowie zu einem gewissen Grad zum Animalischen aufweist. Das Wort seiðberendr unterstreicht somit eine enge Konnotation des seiðr mit dem Femininen, angesichts derer es nicht weiter verwundert, dass die Ausübung dieser Magieform seitens männlicher Praktizierender als unmännlich und mit ergi verbunden erachtet wurde.285 Können nun die mit seiðberendr bezeichneten Personen darüber hinaus möglicherweise als eine Art drittes Geschlecht, analog entsprechender im Schamanismus zu beobachtender Phänomene, betrachtet werden?286 Sicherlich muss man bei einer solchen Interpretation Vorsicht walten lassen, allerdings ist in der Tat fraglich, wieso 279 Strömbäck, Sejd, S. 27. 280 Ebd., S. 29. 281 Vgl. ebd., S. 30 sowie von See et al., Kommentar, Bd. 3, S. 787. 282 Vgl. NGL, Bd. 1, S. 70: „Orð ero þau er fullrettis orð heita. [. . .] þat er hit þriðia ef hann iamnar hanom við meri. [. . .] æða iamnar hanom við berende eitthvert“ sowie NGL, Bd. 1, S. 225: „Ef maðr iamnar manni við berendi. hver sem hon er. þá er þat fullréttisorð.“ 283 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 30 f. sowie Grambo, Unmanliness, S. 105. 284 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 31. 285 Vgl. ebd.; Almqvist, I marginalen til Sejd, S. 248 sowie Grambo, Unmanliness, S. 105. 286 Dieser These geht insbesondere Brit Solli nach; vgl. Solli, Seid, S. 147–153.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

die Hyndluljóð 33 zwischen eindeutig weiblichen (vǫlur), eindeutig männlichen (vitcar) und einer dritten Gruppe von Magiekundigen unterscheiden. Zwar könnte diese letzten Kategorie seiðr-Praktizierende beiderlei Geschlechts in ihrer Gesamtheit umfassen – im Gegensatz zu den zuvor genannten Zauberern, die dann nicht mit dieser speziellen Magieform in Verbindung stehen dürften –, dies erscheint aber nicht ganz schlüssig, weil auch die vǫlur in der altnordischen Überlieferung mit seiðr konnotiert werden und mit ihnen die weiblichen Ausübenden des seiðr innerhalb der Strophe bereits repräsentiert sind. Daher ist eher davon auszugehen, dass mit den seiðberendr die männlichen Praktizierenden dieser Magieform gemeint sind, die – auf welche Weise auch immer – durch ihre Beschäftigung mit dem seiðr die ihnen zugedachte Geschlechtsidentität überschreiten und somit nicht als eindeutig weiblich oder eindeutig männlich klassifiziert werden können. Auffallend ist, dass auch im Zusammenhang mit den mythischen Gestalten, welche die nachtfahrenden Frauen anführen, in verschiedenen Texten davon die Rede ist, dass der „dritte Teil“ der Menschheit bzw. Drittgeborene ihnen huldigen und mit ihnen ziehen würden. So heißt es z. B. im auf die Mitte des 12. Jahrhunderts datierten Tierepos Ysengrimus, dass „der dritte Teil der Menschheit“ der nächtlich umherziehenden Pharaildis bzw. Herodias287 dienen würde. Pars hominum meste tertia seruit here. Quercubus et corilis a noctis parte secunda Usque nigri ad galli carmina prima sedet. Nunc ea nomen habet Pharaildis, Herodias ante, Saltria nec subiens nec subeunda pari.288 A third portion of mankind serves this melancholy lady, and from the second part of the night until the black cock sings Prime, she perches on oaks and hazeltrees. Now her name is Pharaildis, whereas before it was Herodias, a dancer neither preceded nor followed by anyone equal to her.289

Ganz ähnlich herrscht in dem im 13. Jahrhundert verfassten Rosenroman die dame Abonde (Frau Abundia) über den dritten Teil der Menschheit – drittgeborene Kinder, die dreimal in der Woche des Nachts mit ihr als Hexen herumziehen: Don maintes genz par leur folies Cuident estre par nuit estries, Erranz aveques dame Abonde; E dient que par tout le monde Li tierz enfant de nacion Son de cete condicion

287 Offenbar wurde hier die biblische Herodias mit ihrer Tochter Salome identifiziert, was vielleicht aufgrund der Bezeichnung Salome Herodiana („Salome, die von Herodes abstammt“) geschehen ist. Vgl. dazu Heizmann, Gefjon, S. 213, Anm. 64. 288 Ysengrimus. Text with translation, commentary and introduction by Jil Mann. Leiden [et al.], 1987 (Mittellateinische Studien und Texte, 12), Lib. II, 90–94, S. 266. 289 Übersetzung nach Mann, Ysengrimus, S. 267.

3 Die Konnotation von seiðr und ergi in den altnordischen Quellen

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Qu’il vont treis feiz en la semaine Si con destinee les meine; E par tout ces osteus se boutent, [. . .] Es se partent des cors les ames E vont avec les bones dames Par leus forains e par maisons [. . .]290 Daher glauben manche Leute in ihrer Torheit, bei Nacht Hexen zu sein und mit FRAU ABUNDIA [sic] umherzuirren; und sie sagen, in der ganzen Welt seien alle drittgeborenen Kinder von der Beschaffenheit, daß sie dreimal in der Woche so dahinziehen, wie das Schicksal sie führt; und in alle Häuser drängen sie ein [. . .] und ihre Seelen trennten sich von den Leibern und zögen mit den „guten Frauen“ durch fremde Orte und durch Häuser [. . .].291

Vor dem Hintergrund der Konnotation (vor allem, aber nicht ausschließlich) weiblicher seiðr-Praktizierender mit dem Komplex der nachtfahrenden Frauen und da die Fähigkeit zur Seelenreise innerhalb der altnordischen Überlieferung ebenfalls mit seiðr assoziiert ist, könnte es gut möglich sein, dass sich hinter der Einführung der seiðberendr als einer dritten Kategorie Magiepraktizierender verwandte Vorstellungen verbergen. Diese könnten ihren Niederschlag in den als dritte Gruppe von Magikern vorgestellten seiðberendr gefunden haben. Vielleicht steigert gerade der liminale, grenzüberschreitende Charakter dieser „Dritten“, ihr Herausfallen aus dem binären Ordnungssystem, das nur zwei Geschlechter unterscheidet, ihre Affinität zu Magie und macht sie so zu potentiellen „Hexen“ bzw. Diener/innen der Anführerinnen nachtfahrender Frauen. Hinsichtlich der im Zusammenhang mit der Lokasenna diskutierten geschlechtswandelnden Züge bei Óðinn erscheint des Weiteren der Name des Stammvaters der seiðberendr als ein interessantes Detail der Hyndluljóð: Svarthǫfði bedeutet ‚Schwarzhaupt‘, was an die bereits Kapitel VII 2.3.1 erwähnten Odinsnamen erinnert, die sich auf die Verhüllung seines Hauptes und somit seiner Identität beziehen, wie zum Beispiel Grímr ‚der Maskierte‘292, Síðhǫttr ‚weit herab reichender Hut‘293 oder Loðungr

290 Guillaume de Lorris und Jean de Meun: Der Rosenroman. Übersetzt und eingeleitet von Karl August Ott, Bd. 3. München, 1979, Vers 18425–18439, S. 986. 291 Übersetzung nach Ott, Rosenroman, Bd. 3, S. 987. 292 Falk, Odensheite, S. 14. 293 Ebd., S. 25.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

„den som har en lodden kappe“294. Zudem ist das Tragen einer Kopfbedeckung in der altnordischen Literatur häufig wichtiger Bestandteil der Kleidung zauberkundiger Personen,295 die oftmals auch mit dem Attribut ‚schwarz‘ beschrieben werden.296 Da Svarthǫfði jedoch in altnordischen Prosatexten durchaus auch als Personenname gut belegt ist,297 stellt sich die Frage, ob die Verwendung dieses Namens für den Stammvater der seiðberendr wirklich als eine Anspielung auf Óðinn, seine Zauberkunst und dem Gott anhaftende Züge von ergi gewertet werden kann. Es spricht allerdings einiges für diese These, zumal es sich bei den Namen der Stammväter der beiden anderen Kategorien von Magiekundigen in den Hyndluljóð ebenfalls um sprechende Namen handelt: Viðólfr, der Name des Stammvaters der vǫlur, lässt sich mit ‚Wald-Wolf‘298 übersetzen – erneut wird hier also über ihren Ahnherrn ein Bezug der Seherinnen bzw. weiblichen seiðr-Praktizierenden zur Wildnis und dem Wolf als einem dort beheimateten, gefährlichen und (insbesondere angesichts der Rolle des Fenriswolfes bei den ragnarǫk) symbolisch stark aufgeladenen Raubtier hergestellt, womit zweifach die unkontrollierbaren und potentiell zerstörerischen Kräfte der útgarðr-Sphäre aufgerufen werden. Etwas weniger symbolträchtig, aber dennoch sprechend ist der Name des Stammvaters der vitcar (Zauberer), Vilmeiðr, der sich aus den Kompositionsgliedern vil (‚Wille‘, ‚Wunsch‘, ‚Begehren‘)299 und -meiðr (‚(lebender) Baum‘)300 zusammensetzt. Während vil häufig als Bestandteil von Personennamen vorkommt (z. B. an. Vilhjálmr / dt. Wilhelm)301, könnte meiðr als ein Bezug zum Wald und damit zu (unkontrollierter) Natur gedeutet werden, dürfte jedoch eher eine Bezeichnung für ‚Mann‘ darstellen, wie

294 Ebd., S. 23. 295 Vgl. Buchholz, Schamanistische Züge, S. 49 mit dem Verweis auf die Kopftracht der Þorbjǫrg lítil-vǫlva in Eir, Kap. 4, ÍF 4, S. 206 („hon hafði [. . .] lambskinnskofra svartan á hǫfði ok við innan katskinn hvít“ / „sie hatte eine schwarze Lammfellmütze auf dem Kopf und innen war weißes Katzenfell“). Vgl. Sauckel, Kleidung, S. 96. Ein gutes Beispiel hierfür ist der nach seiner Kopfbedeckung benannte Zauberer Þorgrímr skinnhúfa in Vatn, Kap. 29, ÍF 8, S. 76 („Þorgrímr hét maðr ok var kallaðr skinnhúfa [. . .] hann var fjǫlkunnigr mjǫk ok þó at ǫðru illa.“ / „Ein Mann hieß Þorgrímr und wurde ‚skinnhúfa‘ [Pelzmütze] genannt [. . .] er war sehr zauberkundig und auch auf andere Art schlecht.“ 296 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 28. Das Farbattribut svartr ist generell oftmals negativ konnotiert und dürfte (vor allem, wenn es in Bezug auf Personen verwendet wird) eine entsprechende Signalwirkung auf zeitgenössische Rezipienten ausgeübt haben. Vgl. dazu Brückmann, Altwestnordische Farbsemantik, S. 77: „Die vielen Beispiele, in denen svartr als Erscheinungsattribut mit negativen Aspekten der dargestellten Figuren korrespondiert, legen die Vermutung nahe, daß ein zeitgenössischer Hörer/Leser schon bei der bloßen Erwähnung des Farbattributes svartr aufmerksam geworden sein könnte.“ 297 Vgl. von See et al., Kommentar, Bd. 3, S. 787. 298 Vgl. ebd., S. 786. 299 Vgl. Baetke, Wörterbuch, S. 738. 300 Vgl. Sveinbjörn Egilsson, Lexicon poeticum, S. 400. 301 Vgl. von See et al., Kommentar, Bd. 3, S. 786 f.

3 Die Konnotation von seiðr und ergi in den altnordischen Quellen

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sie in zahlreichen mit ‚Baum‘ gebildeten Kenningar (z. B. hildimeiðr302 (‚Schlacht-Baum‘) vorkommt. Der Name wäre dann entweder (weniger wahrscheinlich) als „erwünschter Wald“ / „Wille/Wunsch des Waldes“ zu übersetzen oder (und wahrscheinlicher) sinngemäß mit „Baum/Mann des Wunsches“ / „Baum/Mann des Willens“ wiederzugeben. Im letzteren Fall könnte der Name sich auf die Fähigkeit des Zauberers beziehen, „seinen Willen oder seine Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen“303. Angesichts des Bedeutungsgehalts der Namen dieser beiden Ahnherren zauberkundiger Personen erscheint es jedenfalls wenig wahrscheinlich, dass es sich bei dem Namen des dritten Stammvaters, Svarthǫfði, lediglich um einen Personennamen ohne tieferen Bedeutungsgehalt handelt. Vielleicht wird also durch den Namen des Ahnherrn der seiðberendr doch auf Óðinn oder zumindest eine zauberkundige Gestalt, die ihr Haupt verhüllt, was eventuell prophetische Gaben (Verlust der physischen Sehkraft, um das zweite Gesicht zu erlangen) indiziert, angespielt? Die oben vorgestellten Belegstellen aus der eddischen Dichtung bestätigen den Eindruck, dass seiðr als eine feminin konnotierte und stark sexualisierte Magieform empfunden und seine Ausübung für einen Mann demzufolge als unpassende, effeminierte und mit ergi einhergehende Betätigung betrachtet wurde. Angesichts des Bezugs zu dem gestalt- und geschlechtswandelnden Gott Óðinn und die – durch wesentliche Charakteristika Óðinns und der vǫlur – implizierte Nähe des seiðr zu einem weit verbreiteten Komplex von Umherziehen, Zauber und Sexualität erhärtet sich einmal mehr die These, dass die Elemente des seiðr, welche ihn mit dem Konzept ergi verbinden, mit Vorstellungen von liminaler geschlechtlicher Identität einhergehen und ein hohes Alter aufweisen dürften. Im folgenden Abschnitt sollen nun Belegstellen der altnordischen Sagaliteratur hinsichtlich der Konnotation von seiðr und ergi untersucht werden.

3.3 Sagaliteratur Eine im Zusammenhang mit dem Phänomen seiðr viel zitierte Quelle ist die auch in der vorliegenden Untersuchung bereits mehrfach erwähnte Passage der Ynglinga saga Kap. 7. Wie Dillmann in seiner Studie Les magiciens dans l’Islande ancienne unter Beweis gestellt hat,304 ist dieses Zeugnis von entscheidender Bedeutung für das Verständnis des seiðr, nicht nur betreffend seine Funktionen, sondern insbesondere in Hinblick auf seine Verbindung mit dem Konzept ergi.305 Um Fehlschlüsse zu ver-

302 Fm, Str. 36, Neckel; Kuhn, Edda, S. 187. 303 Von See et al., Kommentar, Bd. 3, S. 787. 304 Die folgenden Betrachtungen geben im Wesentlichen Dillmanns aufschlussreiche Analyse der betreffenden Belegstelle in Les magiciens dans l’Islande ancienne wieder (vgl. Dillmann, Magiciens, S. 446–450). 305 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 446.

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meiden, ist es hierbei unerlässlich, so nahe wie möglich am Text zu interpretieren, weswegen ich den entsprechenden Abschnitt an dieser Stelle noch einmal wiedergeben möchte: Óðinn kunni þá íþrótt, svá at mestr máttr fylgði, ok framði sjálfr, er seiðr heitir, en af því mátti hann vita ørlǫg manna ok óorðna hluti, svá ok at gera mǫnnum bana eða óhamingju eða vanheilendi, svá ok at taka frá mǫnnum vit eða afl ok gefa ǫðrum. En þessi fjǫlkynngi, er framið er, fylgir svá mikil ergi, at eigi þótti karlmǫnnum skammlaust við at fara, ok var gyðjunum kennd sú íþrótt.306 Óðinn beherrschte die Kunst, welcher die meiste Macht folgte und übte sie selbst aus, die seiðr heißt, und durch sie konnte er das Schicksal der Menschen und ungeschehene Dinge in Erfahrung bringen, ebenso den Menschen Tod oder Unglück oder Krankheit zuteil werden lassen, und den Menschen Verstand oder Körperkraft nehmen und sie anderen geben. Aber dieser Zauberkunst folgt, wenn sie ausgeübt wird, so viel ergi, dass es den Männern nicht schien, dass sie sie ohne Schande über sich zu bringen betreiben konnten, und so wurden die Priesterinnen in dieser Kunst unterwiesen.

Welche Informationen über die Konnotation dieser magischen Praktik mit ergi lassen sich nun Snorris Charakteristik des seiðr entnehmen? Zunächst wird der Ynglinga saga zufolge ergi nicht etwa mit allen altnordischen Magieformen in Verbindung gebracht, sondern nur mit dem seiðr, da Snorri sich in seiner Beschreibung nicht auf fjǫlkynngi im Allgemeinen, sondern auf eine ganz spezielle Form der Magie bezieht, er seiðr heitir. Dies wird durch den Gebrauch des Demonstrativpronomens þessi im zweiten Satz des oben zitierten Abschnittes (En þessi fjǫlkynngi, er framið er, fylgir svá mikil ergi) klar ersichtlich. Darüber hinaus ist die Parallelkonstruktion der beiden Sätze von besonderem Interesse: Óðinn kunni þá íþrótt, svá at mestr máttr fylgði, ok framði sjálfr, er seiðr heitir [. . .]. En þessi fjǫlkynngi, er framið er, fylgir svá mikil ergi [. . .].

Aus dieser Formulierung ergibt sich als weitere wichtige Konsequenz, dass ergi genau wie Macht (máttr) der Ausübung des seiðr folgt; in beiden Fällen handelt es sich also um Begleiterscheinungen, nicht um konstituierende Elemente. Máttr, ergi und seiðr stellen drei voneinander getrennte Phänomene dar, die nicht identisch sind: Là, l’auteur souligne l’immense pouvoir qui découle de l’exécution du seiðr; ici, il marque la grande intensité de l’ergi, entraînée par l’exercice de cette forme de sorcellerie. L’homologie observeé entre les deux phrases incite à attribuer au verbe faible fylgja la même sens obvie «suivre, entraîner, accompagner». Une conséquence importante en découle: pas plus que la notion de pouvoir (máttr), l’ergi ne constitue l’essence du seiðr. Les substantifs máttr, ergi et seiðr désignent des phénomènes distincts, les deux premiers accompagnant l’exercice du dernier, mais ne se confondant pas avec lui.307

306 Hkr I, Yngl saga, Kap. 7, ÍF 26, S. 19. 307 Dillmann, Magiciens, S. 447.

3 Die Konnotation von seiðr und ergi in den altnordischen Quellen

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Wie bereits in Kapitel VIII 2.1 kurz angesprochen findet sich in Johan Fritzners Ordbog over det gamle norske Sprog als dritte Bedeutung des Begriffs argr „som giver sig af med Trolddom“308. Argr als bedeutungsgleich mit ‚zauberkundig‘ aufzufassen ist jedoch, wie aus dem Zeugnis der Ynglinga saga hervorgeht, nicht gerechtfertigt. Trotzdem wird der Begriff argr in der Forschung nach wie vor oftmals allzu unkritisch synonym mit ‚zauberkundig‘ verwendet, was die Gefahr von falschen Annahmen in Bezug auf Magiekundige und insbesondere seiðr-Praktizierende in den altnordischen Quellen in sich birgt. So entwickelt der anonyme Autor des 1902 erschienenen Aufsatzes „Spuren von Konträrsexualität bei den alten Skandinaviern“ die These, dass das Ausüben von Magie gewissermaßen eine Zuflucht für die „gesellschaftlich verpönten Homosexuellen“ bildete, die sich mittels ihre Zauberkünste einen gewissen Schutz vor Anfeindungen sicherten, derer sie sich aufgrund ihrer „weichen“ Natur nicht anderweitig zu erwehren vermochten: Ein Ausweg lag nämlich trotz alledem auch einem weichlichen und fortwährenden Beleidigungen ausgesetzten Homosexuellen offen, um sich persönlich gefürchtet zu machen. Wie so viele Frauen konnte er sich der Zauberei widmen. Denn war auch der Zauberer im Grunde ein ebenso verachteter Mensch wie der Conträre, so war er doch durch die Furcht vor seiner Geheimkunst geschützt.309

Dass in dem Gefolge von achtzig seiðmenn, mit dem sich laut der Haralds saga ins hárfagra der seiðr-praktizierende Königssohn Rǫgnvaldr réttilbeini umgab, „die Homosexuellen stark vertreten waren“310, unterliegt nach Ansicht des anonymen Verfassers „um so weniger Zweifel, als ihre Hauptbezeichnung ‚arg‘ nicht nur päderastisch und feige, sondern auch ‚Hexerei betreibend‘ bedeutet“.311 Da jedoch – wie bereits erwähnt – nicht alle altnordischen Magieformen mit ergi konnotiert werden, der Vorwurf von ergi zwar häufig seinen Ausdruck in Bezichtigungen der Homosexualität findet, diese aber den Begriff ebenso wenig konstituiert, wie ergi den seiðr selbst, lässt sich diese „Rekonstruktion“ der Lebensrealität männlicher seiðr-Praktizierender nicht halten.312 Was impliziert nun aber der Begriff ergi im Kontext dieser Passage der Ynglinga saga? Hierüber kann ein wichtiges Detail der betreffenden Belegstelle Auskunft geben: Da Männer sich dem seiðr nicht widmen können, ohne ergi über sich zu bringen, werden die Priesterinnen in dieser Zauberkunst unterwiesen (ok var gyðjunum kennd sú íþrótt). Dillmann betont, dass ergi in diesem Zusammenhang nicht die Bedeutung ‚Perversität, sexuelle Abnormität‘ haben könne, da es ansonsten wenig Sinn machen würde, dass die Priesterinnen dezidiert in der Kunst des seiðr unterrichtet werden. Eine solche Interpretation der Textstelle würde implizieren, dass „selon Snorri Sturluson,

308 309 310 311 312

Fritzner, Ordbog, Bd. 1, S. 71. Anonymus, Konträrsexualität, S. 258. Ebd. Ebd. Vgl. zu dieser Problematik Dillmann, Magiciens, S. 441 f.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

les prêtresses de la Scandinavie préchretiénne pouvaient être «perverses», et même que le seiðr leur était enseigné précisément en raison de la «perversité» qui accompagnait cette forme de la sorcellerie [.]“313 Da es sich im Fall der Priesterinnen jedoch um eine Tätigkeit zu handeln scheint, die nicht als moralisch verwerflich oder pervers eingestuft und ihnen sogar beigebracht wird, könne der Begriff ergi in Bezug auf seiðr an dieser Stelle nur Effemination bedeuten. Ein als unmännlich empfundenes Verhalten, welches mit der Ausübung des seiðr einhergeht, müsse folglich als Ursache dafür betrachtet werden, dass sich Männer dem Zeugnis der Ynglinga saga zufolge dieser Magieform nicht zu widmen glauben können. Die Ausübung des seiðr seitens einer Frau stelle hinsichtlich bestehender geschlechtlicher Konventionen dementsprechend kein derartiges Problem dar, da ein als weiblich bewertetes Verhalten zweifellos der Erwartungshaltung der altnordischen Gesellschaft an eine Frau entspräche. Hier ist allerdings eine gewisse Skepsis geboten: Laut Ynglinga saga werden nicht irgendwelche beliebigen Frauen in der Ausübung des seiðr unterwiesen, sondern Priesterinnen (gyðjur), also Ritualspezialistinnen. Es lässt sich keine Aussage treffen, was genau wir uns unter diesen Priesterinnen vorzustellen haben und welche Regeln für sie gelten: Möglicherweise dürfen sie aufgrund ihrer kultischen Funktion Tabus durchbrechen, die gewöhnlichen Menschen nicht zu überschreiten erlaubt sind. Sie könnten somit gefahrlos eine mit ergi assoziierte (Zauber-)Kunst ausüben, was im Umkehrschluss jedoch nicht heißen muss, dass dies für alle Frauen akzeptabel wäre. In der fraglichen Passage der Ynglinga saga kann ergi also durchaus im Sinne von ‚queerness‘ interpretiert werden, die den Priesterinnen bereits zu eigen ist und sie daher nicht irgendwie negativ beeinflussen kann. Die Praxis des seiðr könnte demzufolge deviantes (Sexual-)Verhalten beinhalten, das für Uneingeweihte beiderlei Geschlechts einen Bruch mit den Normvorstellungen der Gesellschaft bedeutet, während sie für die enigmatischen Priesterinnen, die als Schwellenpersonen ohnehin außerhalb der Normgesellschaft stehen, unproblematisch ist.314 Man sollte also Snorris Charakterisierung des seiðr nicht allzu unkritisch als Zeugnis dafür werten, dass die Praxis dieser Magieform nur für Männer ergi nach sich zieht und der Begriff an dieser Stelle daher zwingend ‚Unmännlichkeit‘ bedeuten muss. Allerdings wird in der oben zitierten Passage doch deutlich, dass ein Mann, der seiðr praktiziert, in jedem Fall die für sein Geschlecht geltenden Normen übertritt und sich des Vorwurfs von ergi aussetzt, was zumindest für die weiblichen Priesterinnen (wenngleich

313 Dillmann, Magiciens, S. 448. 314 Diese Ansicht vertritt Miriam Mayburd: „The still persistent trend in scholarship’s association of ergi with effeminacy rests squarely upon Snorri’s paragraph quoted above, yet its transparency may be misleading. All that it says there is that it presents a risk for men and was therefore relegated to priestesses, provoking an uncritical assumption of femininity for theses latter figures, while this may just as equally suggest the opposite. These enigmatic priestesses, by virtue of their craft, may already be so deviant that they could absorb ergi’s effects with greater ease than the uninitiated, however virile the latter may be.“ (Mayburd, Helzt þóttumk nú, S. 131).

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nicht automatisch für alle Frauen) keine negativen Auswirkungen hat. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass gemäß dem Zeugnis des siebten Kapitels der Ynglinga saga der seiðr als einzige altnordischen Magiepraktik mit ergi konnotiert wird und ergi kein konstituierendes Element des seiðr darstellt, sondern nur mit der Ausübung dieser Magieform einhergeht. In erster Linie wird ergi zur „Perversion“ und zum Verstoß gegen bestehende geschlechtliche Konventionen, wenn ein Mann seiðr ausübt315 – anscheinend ist dies nur für speziell eingeweihte Ritualspezialistinnen akzeptabel. Dass seiðr als eine vorwiegend feminin konnotierte und für einen Mann moralisch verwerfliche Zauberpraktik betrachtet wurde, spiegelt vermutlich auch die Bezeichnung seiðskratti wider. Unter Verwendung dieses Begriffes wird der seiðmaðr Þorgrímr nef in der Gísla saga Súrssonar vorgestellt: Maðr hét Þorgrímr ok var kallaðr nef. [. . .] Hann var fullr af gørningum ok fjǫlkynngi, ok var seiðskratti, sem mestr mátti verða.316 Ein Mann hieß Þorgrímr und wurde ‚nef‘ [Nase] genannt. [. . .] Er war voll von Zauberkünsten und Zauberei und war der größte Hexer [seiðskratti], den es geben kann.

Abgesehen von der genannten Passage findet sich der Ausdruck seiðskratti sonst nur in Zeugnissen jüngeren Datums wie der Ectors saga und der Hálfdanar saga Barkarsonar.317 Jedoch weisen auch zwei Ortsnamen der altnordischen Sagaliteratur, in denen nur der zweite Bestandteil dieses Kompositums verwendet wird, eine direkte Verbindung zum Komplex des seiðr auf: Es handelt sich dabei um die in der Laxdœla saga erwähnte Bezeichnung Skrattavarði für die Stelle, an der über den Leichen des seiðr-kundigen Ehepaares Kotkell und Gríma ein Grabhügel aus Steine errichtet wird,318 sowie um die Skrattasker genannte Schäre, auf der Óláfr Tryggvason den seiðmaðr Eyvindr kelda und seine Gefährten gefesselt aussetzen lässt, damit sie dort zur Flutzeit ertrinken319. Darüber hinaus wird im Ágrip af Nóregskonunga sǫgum der bereits erwähnte Königssohn Rǫgnvaldr neben seiðmaðr und spámaðr auch als skratti tituliert.320 Der Begriff skratti wird im Altnordischen sowohl in der Bedeutung ‚männlicher Zauberer‘ als auch als Bezeichnung für diverse übernatürliche und dem Menschen schadende Wesen, wie Trolle oder Wassergeister, verwendet.321 Mit der Annahme

315 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 449 f. 316 Gísl, Kap. 11, ÍF 6, S. 37. 317 Vgl. dazu Almqvist, I marginalen til Sejd, S. 257 samt Anm. 16. 318 Vgl. Laxd, Kap. 37, ÍF 5, S. 107. 319 Vgl. u. a. Hkr I, ÓT, Kap. 63, ÍF 26, S. 312. 320 Vgl. Ágr, Kap. 2, ÍF 29, S. 5: „[. . .] var hann kallaðr seiðmaðr, þat er spámaðr, ok var staðfastr á Haðalandi ok síddi þar ok var kallaðr skratti.“ / „[. . .] er wurde seiðmaðr genannt, das ist ein Seher, und war in Haðaland ansässig und zauberte dort [betrieb seiðr] und wurde Hexer genannt.“ 321 Beispielsweise im Kompositum vatnskratti, vgl. Cleasby; Vigfusson, Icelandic-English Dictionary, S. 556. Zusätzlich besteht Verwandschaft zum Begriff ‚Schrat‘, zur Etymologie dieses Wortes

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

des Christentums erweiterte sich der Gebrauch auch auf dämonische Wesenheiten und den Teufel.322 Die Etymologie des Wortes ist jedoch umstritten. Zum einen kann es in Bezug zu norwegischen und neuschwedischen dialektalen Formen gesetzt und im Sinne von ‚schwaches, verkrüppeltes Wesen‘ gedeutet werden.323 Möglicherweise steht der Begriff aber auch in Verbindung mit dem neunorwegischen und schwedischen skratta ‚lärmen‘, ‚laut lachen‘. In diesem Fall würde sich die Bezeichnung skratti für einen Magiepraktizierenden vor allem auf die Laute und Zaubergesänge beziehen, welche für die Ausübung seiner Kunst wesentlich sind. In der Tat werden im Altnordischen Zauberformeln und -gesänge als galdrar bezeichnet. Dieses Substantiv stellt eine Ableitung vom Verb gala ‚singen‘, ‚schreien‘, ‚rufen‘, ‚heulen‘, ‚krähen‘ dar, was vor allem in Bezug auf Tierstimmen und insbesondere den Gesang von Vögeln, gebraucht wird. Jan de Vries schließt daraus, „dass die magischen Lieder mit einer hellen, vielleicht zu Falsett neigenden Stimme gesungen wurden [. . .]; die Vogelstimme war auch deshalb geeignet zum Geisterverkehr, weil Vögel eine sehr verbreitete Seelenepiphanie sind [. . .]“324. Besonders im Zusammenhang mit seiðr erscheint eine solche etymologische Verwandtschaft durchaus plausibel, da der Gesang eines der wenigen Elemente des zur Ausübung des seiðr notwendigen Rituals darstellt, von denen wir Kenntnis haben. Die zentrale Bedeutung des Gesanges für die Praktik des seiðr geht aus mehreren Belegstellen der altnordischen Literatur hervor: So lockt die seiðr-kundige Familie in der Laxdœla saga mithilfe ihrer hypnotischen seiðlæti den jungen Kári Hrútsson in den Tod, welche trotz ihrer zerstörerischen Funktion als schön anzuhören325 beschrieben werden und deren Wirkung man sich offenbar nur schwer entziehen kann. Auch in der seiðr-Episode der Eiríks saga rauða spielt der Gesang eine bedeutende Rolle: Ohne den Vortrag des hier varðlok(k)ur genannten Zauberliedes kann der Darstellung der Saga zufolge das Ritual überhaupt nicht durchgeführt werden und es kostet einige Mühe eine Frau zu finden, welche diesen speziellen Gesang beherrscht. Der Vortrag der varðlok(k)ur durch die sich nur widerwillig dazu bereit erklärende Christin Guðríðr wird zwar vor allem aufgrund ihrer Stimme als besonders schön hervorgehoben; dies lässt jedoch sicher darauf schließen, dass auch die Melodie der varðlok(k)ur an sich als angenehm anzuhören empfunden wird:326 Kvað Guðríðr þá kvæðit svá fagrt ok vel, at engi þóttisk heyrt hafa með fegri rǫdd kvæði kveðit, sá er þar var hjá.“327

vgl. Ranke, Friedrich: Art. „Schrat, Schrättel (Schraz, Schrätzel)“, in: HdA, Bd. 7. Berlin, Leipzig, 1935/1936, Sp. 1286. 322 Vgl. Cleasby; Vigfusson, Icelandic-English Dictionary, S. 556. 323 Vgl. zur Etymologie des Begriffs skratti de Vries, Etym. Wörterbuch, S. 501 f. 324 de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 1, S. 304. 325 S. Laxd, Kap. 37, ÍF 5, S. 106: „en fǫgr var sú kveðandi at heyra“. 326 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 121. 327 Eir, Kap. 4, ÍF 4, S. 208.

3 Die Konnotation von seiðr und ergi in den altnordischen Quellen

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Da trug Guðríðr das Lied so schön und gut vor, dass keiner glaubte, das Lied mit einer schöneren Stimme vorgetragen gehört zu haben, der dort war.

Während es in der Eiríks saga rauða nur Frauen sind, nach denen Þorbjǫrg lítilvǫlva zum Vortrag des für die Ausübung des seiðr notwendigen magischen Gesangs verlangt,328 wird die vǫlva Heiðr in der Ǫrvar-Odds saga von einem aus jeweils fünfzehn Jünglingen und Mädchen bestehenden Gefolge begleitet, das als raddlið329 bezeichnet wird und dessen Aufgabe es ist, die magischen Handlungen der vǫlva mit ihrem Gesang zu begleiten bzw. zu unterstützen. Diese Bevorzugung von Frauen und Heranwachsenden bei dem für den seiðr notwendigen Gesang könnte die oben zitierte These von de Vries unterstützen, dass derartige Zaubergesänge mit hoher Stimme bzw. im Falsett vorgetragen wurden, denn sowohl bei Frauen als auch Jünglingen ist von einer eher hohen Stimmlage auszugehen, die im Fall der männlichen Heranwachsenden erst nach dem Stimmbruch eine tiefere Färbung annehmen würde. Auch mehrere Kenningar der Skaldendichtung spiegeln die enge Verbindung von seiðr und Gesang wider: Es handelt sich dabei um Umschreibungen für ‚Kampf‘, welche auf der Assoziation von Waffenlärm mit der menschlichen Stimme beruhen. Zu diesem Typ gehören beispielsweise vigra seiðr (‚seiðr der Wurfspeere‘) oder sverða seiðr (‚seiðr der Schwerter‘). Obwohl es zahlreiche Kenningar desselben Typus gibt, die mit galdr als Grundwort gebildet werden, kann doch davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei nicht nur um Analogien handelt, sondern dass der Gesang als charakteristisches Element des seiðr zur Bildung entsprechender Kenningar geführt hat.330 Ist somit eine Etymologie des Begriffs skratti in Hinblick auf die stimmlichen Äußerungen des Zaubernden durchaus plausibel, verweist Dillmann jedoch auf eine weitere Möglichkeit der Ableitung dieses Ausdrucks:331 Eine korrespondierende Form stellt nämlich das angelsächsische scrætta, ein Femininum mit der Bedeutung ‚Hure‘, ‚Ehebrecherin‘ dar. Darüber hinaus wird in Ælfrics Glossar die Form scritta als Glosse für hermaphroditus verwendet.332 Liegt im Fall des Begriffs seiðskratti also

328 „Hon bað ok fá sér konur þær, er kynni frœði þat, sem til seiðsins þarf [. . .].“ / „Sie verlangte auch, Frauen zu bekommen, die das Zauberlied kannten, dessen es zum seiðr bedurfte [. . .].“ (Eir, Kap. 4, ÍF 4, S. 207). 329 Von an. rǫdd ‚Stimme‘, ‚Laut‘; vgl. dazu auch an. raddmaðr ‚Mann mit guter, schöner Stimme‘ sowie raddaðr ‚stimmbegabt sein‘, ‚eine gute Stimme haben‘ (s. Baetke, Wörterbuch, S. 511 sowie S. 484). 330 Vgl. dazu Strömbäck, Sejd, S. 119. 331 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 450. 332 Vgl. hierzu den Eintrag „scrætte“ in Bosworth, Joseph and Northcote Toller, T. (Hgg.): An Anglo Saxon Dictionary. Based on the Manuscript Collections of the late Joseph Bosworth, edited and enlarged by T. Northcote Toller. Bd. 1. Oxford, 1882, S. 840.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

eine ähnliche Bedeutung vor, wie sie bereits für den Ausdruck seiðberendr im vorangegangenen Abschnitt konstatiert werden konnte? Ein Bezug zur weiblichen Sexualität, insbesondere in einer freizügigen und von der Gesellschaft negativ bewerteten Form, wäre durch eine Verwandtschaft des altnordischen skratti mit dem angelsächsischen Begriff scrætta mit der Bedeutung ‚Hure‘, ‚Ehebrecherin‘ durchaus gegeben und ließe ein weiteres Mal auf eine Verbindung des seiðr mit Weiblichkeit, Fruchtbarkeit und einer Sexualität, die nicht den gesellschaftlichen Normen entspricht (unter Umständen sogar mit Prostitution333) schließen. Hieraus ergäbe sich neben der Assoziation mit dämonischen Wesenheiten eine weitere pejorative Nuance der Bezeichnung skratti für Zauberkundige. Geht man nun von einer solchen Konnotation des Begriffs mit Sexualität und Fruchtbarkeit aus, so ist zudem der Hinweis von de Vries von Interesse, dass das Lachen als eine „lebensbejahende Äußerung des Menschen“334 insbesondere „in solchen Fällen, wo das Leben zum Sieg gelangen soll, namentlich in Grab- und Vegetationsriten“335, eine Rolle spielt. Die Zaubergesänge – die man vielleicht als namensgebend für den Begriff skratti annehmen kann und deren signifikante Bedeutung für den seiðr durch den Befund der Quellen bestätigt wird – stehen also möglicherweise bereits an sich in Verbindung mit der Vorstellung von Fruchtbarkeit und entsprechenden Vegetationsriten. Die Verwendung der Form scritta als Glosse für hermaphroditus verweist zudem auf Zwiegeschlechtlichkeit bzw. liminale Geschlechtsidentität, die sowohl männliche wie auch weibliche Züge beinhaltet, als mögliche Bedeutungsnuance des altnordischen skratti. In diesem Zusammenhang erscheint es bedeutsam, dass die vǫlur der Eiríks saga rauða und der Ǫrvar-Odds saga zur Ausübung der für ihre divinatorischen seiðr-Séancen nötigen Gesänge entweder Frauen oder heranwachsende Personen um sich versammeln, wobei sich Letztere – wie bereits in Kapitel VI 3.1 erläutert – in einer liminalen Phase ihrer psychischen und physischen – auch sexuellen – Entwicklung, an der Schwelle vom Kind zum Erwachsenen, befinden. Erwachsene Männer scheinen im Gegensatz dazu keinen Anteil an diesem Element des divinatorischen Rituals zu haben, was eine Korrespondenz zu dem in Kapitel VIII 1.3 konstatierten Befund darstellt, dass Männer in den altnordischen Quellen nie als Ausübende einer seiðr-Séance in gesellschaftlich akzeptiertem Rahmen gezeigt werden. Die für die rituelle Praktik des seiðr notwendigen Gesänge scheinen in eben jenen Bereich dieser Magieform zu fallen, der feminin konnotiert und daher für einen Mann als unpassend und „abnorm“ empfunden wurde. Dass dennoch auch Männer Kenntnis dieser magischen Gesänge hatten und sie nutzten, zeigt das Beispiel der Laxdœla saga: Charakteristischerweise bedienen sich

333 Vilhelm Kiil vertritt in seinem wissenschaftlichen Beitrag The Norse Prophetess and the ritually induced prostitution die These, dass die vǫlur „partly ritually induced prostitution“ praktizierten (Kiil, Vilhelm: „The Norse Prophetess and the ritually induced prostitution“, in: Norveg, 9, 1962, S. 160). 334 de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 2, S. 293. 335 Ebd.

3 Die Konnotation von seiðr und ergi in den altnordischen Quellen

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Kotkell und seine beiden Söhne hier jedoch der Zauberlieder zu einem destruktiven Zweck. Der Begriff seiðskratti impliziert somit ebenfalls eine Verbindung des seiðr mit weiblicher Sexualität und dürfte, als Bezeichnung für einen männlichen Zaubernden gebraucht, durchaus ausdrücken, dass derjenige sich entgegen seiner männlichen Natur, also argr, verhält. Vielleicht beinhaltet der Begriff analog zu den dialektalen Formen neueren Datums (z. B. norw. dial. skranta ‚mager werden‘; nschw. dial. skranten ‚schwächlich‘336) zudem die Konnotation einer gewissen körperlichen Schwäche, die im Widerspruch zum altnordischen Idealbild eines wehrhaften Mannes steht. Dies würde mit dem an Clovers Thesen orientierten, breiter gefassten Bedeutungsgehalt des Begriffs ergi konform gehen, wonach damit auf ein schwaches, passives Individuum Bezug genommen werden kann.337 Ein weiteres Zeugnis für die Verbindung der Phänomene ergi und seiðr wurde seitens der Forschung in dem Beinamen Rǫgnvaldr réttilbeinis, des seiðr praktizierenden Sohnes von Haraldr hárfagri, vermutet. So interpretierte Ivar Lindquist den Namen réttilbeini in der Bedeutung „‚sá er beinir fyrir arga karlmenn, seiðmǫnnum beinn‘, ‚den som underhåller förkvinnligade män, är gästfri mot sejdkarlar‘“338. Diese These beruht vornehmlich auf der Annahme, dass sich der erste Bestandteil des Kompositums réttilbeini von dem in Runeninschriften „formelhaften Charakters, die den Grabkomplex insgesamt vor Eingriffen schützen sollten“339, belegten Wort rita (rata, ræta) herleiten lässt. Die genaue Bedeutung dieses viel diskutierten Begriffs ist unklar,340 er wird jedoch auf sechs dänischen Runensteinen in gegen potentielle Grabfrevler gerichteten Fluchformeln verwendet.341 Davon, dass die Implikation des Wortes rita drastisch und stark pejorativ war, kann sicherlich ausgegangen werden, vermutlich erstreckte sie sich „beyond a meaning such as ‘evil sorcerer’ to involve either consignment to death or something utterly shameful. This may explain why the word was not used later and thus its meaning was lost“.342 Der Ausdruck rita steht also wahrscheinlich dem Begriff ergi sehr nahe, welcher ebenfalls in Runeninschriften, z. B. auf dem

336 de Vries, Etym. Wörterbuch, S. 501. 337 Vgl. Clover, Regardless of Sex, S. 380 und Kapitel VIII 2.2.4 der vorliegenden Arbeit. 338 Lindquist, Ivar: Galdrar. De gamle germanska trollsångernas stil undersökt i samband med en svensk runinskrift från folkvandringstiden. Göteborg, 1923, S. 180. 339 Düwel, Klaus: „Grabraub, Totenschutz und Platzweihe nach dem Zeugnis der Runeninschriften“, in: Jankuhn, Herbert et al. (Hgg.): Zum Grabfrevel in vor- und frühgeschichtlicher Zeit. Untersuchungen zu Grabraub und „haugbrot“ in Mittel- und Nordeuropa. Göttingen, 1978 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, 3, 113), S. 230. 340 Für eine ausführliche Besprechung des Begriffs rita mit Schwerpunkt auf seine Lautgeschichte vgl. Andersen, Harry: „Runedansk rita og rata“, in: ANF, 56, 1942, S. 251–265. 341 Vgl. dazu McKinnell, John; Simek, Rudolf; Düwel, Klaus (Hgg.): Runes, Magic and Religion. A Sourcebook. Wien, 2004 (Studia Medievalia Septentrionalia, 10), S. 167. 342 Ebd.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

um das Jahr 675 datierten Björketorp-Stein343, belegt ist. Klaus Düwel äußert sich hinsichtlich der mit rita verbundenen Konnotationen folgendermaßen: In diesem Zusammenhang sei nur kurz ein Hinweis auf die Art der Verfluchung des möglichen Missetäters gegeben. Ihm wird sexuelle Perversität, Weibischkeit angewünscht, das Schändlichste, was man sich vorstellen konnte. Ferner soll er ein Zauberkerl sein. Zauber auszuüben galt als ein Geschäft der Frauen und wird von Männern nur mit Schande berichtet. Die Verfluchung in den Inschriften von Björketorp und Stentoften zielt auf den unnatürlichen Tod des Missetäters.344

Hierbei ist jedoch fraglich, ob die Übersetzung von rita mit ‚Zauberkerl‘ eher sekundären Charakter hat und sich an der bereits erwähnten Gleichsetzung des Adjektivs argr mit ‚zauberkundig‘ orientiert. Allerdings findet sich auf dem um das Jahr 1000 datierten Runenstein Sønder Vinge II möglicherweise eine Verbindung des Begriffs rita sowohl mit dem semantischen Bereich von ergi – hier als Implikation von passiver Homosexualität durch den Gebrauch des Verbs serða – als auch mit seiðr, denn ein Teil der Inschrift dieses Steines lautet wie folgt: „særði ok seiðrati, sár mannR æs øði mini þvi“345, was McKinnell et al. mit „(May) the man who destroys this monument (be) fucked and become a rati who practices witchcraft [= seiðr, C. K.]“346 wiedergeben. Insofern die Deutung dieser Runeninschrift korrekt ist, handelt es sich hier um einen frühen Beleg für die Konnotation von seiðr und ergi347 sowie ein Zeugnis für die Nähe des Begriffs rita zu diesen beiden Phänomenen. Wie verhält es sich nun aber mit dem Beinamen Rǫgnvaldr réttilbeinis? Nachdem die Bedeutung von rita sowie die Frage, ob sich der erste Bestandteil des Beinamens réttilbeini wirklich von diesem Wort herleiten lässt, nicht eindeutig geklärt werden können, ist zunächst Skepsis geboten. Problematisch ist die von Lindquist vorgeschlagene Übersetzung des Namens mit „der, der gastfreundlich zu ‚weibischen‘ Männern ist“ je-

343 Vgl. dazu ebd., S. 165 f. In der Inschrift des Björketorp-Steins heißt es arageu haermalausr, „ruhelos durch ergi“, was als sehr früher Beleg der sexuellen Konnotation dieses Begriffes gewertet werden kann. Bereits hier wird ergi mit dem weit verbreiteten Fluchmotiv des ruhelosen Irregehens bzw. der Rastlosigkeit in Verbindung gebracht, wobei die Unruhe vielleicht gerade durch ein übersteigertes sexuelles Begehren (vgl. Skírnismál) ausgelöst wird. Das Verursachen von Ruhelosigkeit gehört, wie in Kapitel VII 3 konstatiert, zum Wirkungsspektrum des seiðr. Vielleicht muss dazu auch das Hervorrufen von übersteigertem sexuellem Verlangen, ergi, beim Ziel des Zaubers gerechnet werden. Dahingehend positiv äußert sich Bo Almqvist (I marginalen til Sejd, S. 250): „Det är därför inte ägnat att förvåna att sejden vars utövare var så fyllda av ergi också troddes kunna framkalla ergi hos offren för trolldomsteknik i fråga.“ Da in der altnordischen Literatur ansonsten jedoch nur in Bezug auf die seiðr-Praktizierenden selbst, nicht aber bei den „Opfern“ ihrer Zauber von ergi die Rede sei, lehnt Dillmann (Magiciens, S. 72, Anm. 31) diese These ab. 344 Düwel, Grabraub, S. 232. 345 Zitiert nach McKinnell; Simek; Düwel, Runes, S. 170. 346 McKinnell; Simek; Düwel, Runes, S. 169 f. 347 Vgl. dazu auch Almqvist, I marginalen til Sejd, S. 252 und Dillmann, Magiciens, S. 450, Anm. 157.

3 Die Konnotation von seiðr und ergi in den altnordischen Quellen

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doch vor allem aufgrund dessen, dass eine Deutung von -beini im Sinne eines nomen agentis zu beina ‚beistehen‘, ‚helfen‘ oder als zum Adjektiv beinn ‚hilfsbereit‘, ‚gastfreundlich‘ gehörige Form nicht überzeugend erscheint. Wahrscheinlicher dürfte die von Strömbäck vorgeschlagene Interpretation des zweiten Bestandteils des Kompositums réttilbeini sein, wonach -beini analog zu zahlreichen ähnlich gebildeten Namen als auf den Knochen- und Körperbau des Namensträgers bezogen gedeutet werden kann. An Beispielen nennt Stömbäck gerade auch im Geschlecht des Königs Haraldr hárfagri auftretende Namen wie Hálfdan hvítbeinn oder Óláfr digrbeinn.348 Der Beiname Rǫgnvaldrs könnte entsprechend dieser Namenstradition in etwa ‚der Geradegewachsene‘ bedeuten.349 Aufgrund der oben genannten Schwierigkeiten bei der Deutung kann der Beiname réttilbeini als Zeugnis für die Konnotation der Phänomene seiðr und ergi nicht herangezogen werden. Jedoch käme noch ein weiteres Kognomen eines seiðmaðr als Indiz für eine Verbindung von ergi und seiðr innerhalb der altnordischen Sagaliteratur in Betracht: Der Beiname slíkisteinsauga Hallbjǫrns, eines Mitglieds der seiðr-praktizierenden Familie des Kotkell in der Laxdœla saga. Wie bereits im Kontext des besonderen Blicks der seiðr-Praktizierenden in Kapitel V 1.3 gezeigt, gibt es verschiedene Möglichkeiten, diesen Beinamen zu interpretieren, je nachdem, was man unter dem slíkisteinn, mit welchem die Augen des Magikers verglichen werden, versteht. Bei dem fraglichen Stein könnte es sich um einen Schleifstein handeln; allerdings besteht etymologisch auch eine Verbindung des Begriffs slíkisteinn mit ae. slician ‚glätten‘ – was wiederum bedeuten könnte, dass hiermit eher eine Art Polierstein, der in der Metallverarbeitung eingesetzt wurde, gemeint ist.350 Die dritte und von Einar Ólafur Sveinsson in den Anmerkungen zur Íslenzk Fornrit-Edition der Laxdœla saga aufgezeigte Bedeutungsvariante verweist nun allerdings in die Sphäre des Weiblichen: Der slíkisteinn könnte ein Stein sein, der zum Glätten von Leinen in der Stoffverarbeitung diente.351 Diese Interpretation geht damit konform, dass in der jüngeren Forschungsgeschichte seiðr oftmals in Bezug zum Spinnen gesetzt wird, welches ja ebenfalls Teil des Stoffverarbeitungsprozesses ist. So schreibt z. B. Leszek Gardeła: I am convinced that in fact the art of seiðr should be seen as a metaphor for domestic activities such as spinning or weaving. Spinning and weaving are typically female practices, often with taboo connotations. What is more, they are both potentially social (group) practices (just like seiðr rituals, where the presence of assistants and helpers is required, usually in the form of a choir), during which songs are sung, stories told, and finally – while performing the same monotonous and repetitive actions of spinning or weaving – one gets tired and falls into a sort of trance. All this fits well with the picture of seiðr illustrated by the sagas.352

348 Vgl. hierzu Strömbäck, Sejd, S. 44. 349 Strömbäck weist zudem daraufhin, dass die Historia Norvegiae noch eine weitere Variante des Beinamens, nämlich ‚Recilbein‘ überliefert, vgl. HistNorv, Kap. 11, S. 80. 350 Vgl. de Vries, Etym. Wörterbuch, S. 515. 351 S. Laxd, Kap. 35, ÍF 5, S. 95, Anm. 1: „[. . .] hafa það verið steinar, sem hafðir voru til að slétta lín.“ 352 Gardeła, Leszek: „Into Viking Minds: Reinterpreting the Staffs of Sorcery and Unravelling Seiðr“, in: Viking and Medieval Scandinavia, 4, 2008, S. 50.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

Die Konnotation von seiðr und Spinnen beruht teils auf der Ähnlichkeit als seiðr-Stäbe angesprochener archäologischer Funde mit Spinnrocken,353 gründet jedoch insbesondere darauf, dass die Metapher des Spinnens der Schicksalsfäden in der altnordischen Überlieferung durchaus präsent ist (man denke an die Nornen). Als Seherinnen verkünden auch die vǫlur das Schicksal der Menschen – und nehmen, wie bereits gezeigt werden konnte, mitunter sogar direkt darauf Einfluss. Ein Bezug zwischen seiðr und der zum weiblichen Zuständigkeitsbereich gehörenden Stoffverarbeitung erscheint demnach äußerst stimmig und wird vielleicht durch den Umstand bekräftigt, dass einer der von Snorri und in der Skaldik tradierten Beinamen Freyjas Hǫrn lautet – was etymologisch zu an. hǫrr ‚Flachs‘ gestellt werden kann.354 Der Name ist zudem in Ortsnamen nachweisbar, weswegen eine kultische Verehrung der Hǫrn (bzw. Freyjas unter diesem Namen) angenommen werden kann.355 Die göttliche Schirmherrin des seiðr könnte somit also ebenfalls eine Verbindung mit der Herstellung von Stoff aufweisen. Betrachtet man das Kognomen des Hallbjǫrn slíkisteinsauga vor diesem Hintergrund, würde sein Träger folglich recht deutlich mit Weiblichkeit in Bezug gesetzt: Der Beiname könnte auf ein Element von ergi abzielen, welches dem Magiker durch das Praktizieren von seiðr anhaftet. Ein weiterer, auf den ersten Blick kaum zu erkennender Bezug zwischen seiðr und ergi innerhalb der altnordischen Sagaliteratur scheint in der Episode um die Tötung Káris in der Laxdœla saga auf und soll im Folgenden näher erörtert werden. Dazu ist es zunächst notwendig, sich genauer mit den Ereignissen zu befassen, welche dem tödlichen Zauber in der Saga vorangehen. Im Þiðranda þáttr ok Þórhalls, der eine Paralleldarstellung zur Laxdœla saga bildet, wird der junge Þiðrandi durch berittene Frauengestalten getötet, die im Text als Disen oder Fylgjen angesprochen werden. Obgleich der Tod Káris in der Laxdœla saga vordergründig in keinerlei Bezug zu den Disen und den mit ihnen assoziierten Pferden zu stehen scheint, spielen innerhalb der Vorgeschichte dieser seiðr-Episode signifikanterweise Pferde eine eigentümliche Rolle. Nachdem sie durch ein Unwetter den Tod von Þórðr Ingunnarson verursacht hat und von ihren Nachbarn nicht mehr länger geduldet wird, muss die zauberkundige Familie des Kotkell umsiedeln. Obwohl sie ansonsten nichts bei sich haben, führen die Zauberer unterwegs vier überaus wertvolle Zuchtpferde mit sich: Síðan fóru þau Kotkell í brott ok hǫfðu eigi meira fé en stóðhross fjǫgur; var hestrinn svartr; hann var bæði mikill ok vænn ok reyndr at vígi.356 Dann gingen Kotkell und die Seinen fort und hatten nicht mehr Besitz als vier Zuchtpferde; der Hengst war schwarz; er war sowohl groß als auch schön und erprobt im Kampf.

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Vgl. hierzu z. B. Heide, Spinning seiðr, S. 166–168. Vgl. de Vries, Etym. Wörterbuch, S. 281 f. Vgl. hierzu Heizmann, Freyja, S. 276 f. Laxd, Kap. 36, ÍF 5, S. 101.

3 Die Konnotation von seiðr und ergi in den altnordischen Quellen

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Die Vermutung liegt nahe, dass die magischen Fähigkeiten der hebridischen Familie der Grund dafür sind, dass sich die Tiere in ihrem Besitz befinden, denn Pferde – zumal solch wertvolle, wie die Zuchtpferde Kotkells es offenbar sind – galten in den germanischen Gesellschaften des frühen Mittelalters als Statussymbol.357 Eine magische Provenienz der Zuchtpferde ist insbesondere daher anzunehmen, dass die Zauberer anscheinend in der Lage sind, sich mit Hilfe ihrer Magie mit allem Notwendigen zu versorgen: Im weiteren Verlauf des Kapitels heißt es von Kotkell und den Seinen, dass sie den Winter über mit Heu und Lebensmitteln bestens ausgestattet seien, obschon sie nicht viel arbeiten würden.358 Die Tiere sind – ob nun magisch erschaffen oder nicht – in jedem Fall mit Magie assoziiert und mit einer Aura des Unheilvollen behaftet, was durch die schwarze Farbe359 des Hengstes sowie die Betonung seiner Kampferfahrenheit angedeutet wird, wobei Letztere bereits das Zwietracht säende Potential der Pferde antizipiert. Die seiðr-kundige Familie gelangt schließlich zu Þorleikr Hǫskuldsson, welcher den Wert der Pferde erkennt und sie unbedingt in seinen Besitz bringen möchte. Kotkell, der sich Þorleikrs Schutz versichern will, bietet diesem die Tiere im Gegenzug für die Zusicherung einer Wohnstelle in Þorleikrs Einflussbereich an. Angetan von der Pracht der Pferde willigt Þorleikr in den Handel ein; wobei die Formulierung „Kotkell flutti kœnliga málit“360 („Kotkell trug seine Angelegenheit geschickt vor“) indizieren könnte, dass die Überzeugungskraft des seiðmaðr eine magische Komponente in sich birgt.361 Auf dem Thing im darauffolgenden Sommer sucht ein Mann namens Eldgrímr Þorleikr auf und möchte ihm die kostbaren Zuchtpferde unbedingt abkaufen. Þorleikr verweigert dies jedoch, obwohl Eldgrímr ihm im Austausch die gleiche Menge Pferde und einen zusätzlichen Ausgleich anbietet. Auch an dieser Stelle drängt sich der Verdacht auf, dass Þorleikrs Ablehnung und sein hartnäckiges Festhalten an genau den von Kotkell erworbenen Tieren, obschon ihm gleichwertiger Ersatz angeboten wird, durch einen Zauber des seiðmaðr Kotkell bewirkt wird. Als Eldgrímr damit droht, sich

357 Vgl. Meineke, Eckhard; Janssen, Walter et al.: Art. „Fahren und Reiten“, in: RGA, Bd. 8. Berlin, New York, 1994, S. 162. 358 S. Laxd, Kap. 36, ÍF 5, S. 101: „Ekki unnusk þau Kotkell mjǫk fyrir, en hvárki þurftu þau um vetrinn at kaupa hey né mat [. . .].“ / „Obwohl Kotkell und die Seinen nicht viel dafür arbeiteten, brauchten sie im Winter weder Heu noch Nahrungsmittel zu kaufen [. . .].“ 359 Auch wenn svartr als (Fell-)Farbe von Tieren in der altnordischen Literatur häufig vorkommt, ist dieses Farbattribut, wie bereits erwähnt, generell oftmals mit einer negativen Konnotation behaftet – zumindest, wenn Personen damit beschrieben werden. Vgl. dazu Brückmann, Altwestnordische Farbsemantik, S. 77. 360 Laxd, Kap. 36, ÍF 5, S. 101. 361 Vgl. Sayers, Sexual Identity, S. 137: „A deal is struck with Þorleikr Hǫskuldsson to exchange the horses for his protection, Kotkell cleverly flattering the initially reluctant but then rather gullible Þorleikr, an attenuated kind of word magic.”

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

der Pferde dann eben ohne Þorleikrs Zustimmung bemächtigen zu wollen, geht dieser auf ein Kräftemessen ein und fordert Eldgrímr auf, nicht mit einer Übermacht zu kommen, dann werde sich zeigen, wer von ihnen beiden letztlich seinen Anspruch auf die Pferde behaupten könne. Eldgrímr lässt eines Morgens seinen Worten Taten folgen und treibt, während Þorleikr noch schläft, heimlich dessen Pferde fort. Es ist Hrútr, Þorleikrs Onkel und der Vater Káris, der sich trotz seiner konfliktreichen verwandtschaftlichen Beziehung zu Þorleikr Eldgrímr in den Weg stellt und den Pferdediebstahl zu vereiteln versucht. Eldgrímr zeigt sich indessen uneinsichtig, wie schon Þorleikr vor ihm schlägt auch er ein – diesmal von Hrútr vorgebrachtes – Angebot aus, die von Kotkell stammenden Zuchtpferde zur Wahrung des Friedens gegen andere zu tauschen.362 Als Eldgrímr mit den Tieren zu entkommen versucht, erschlägt Hrútr ihn. Für den heutigen Rezipienten ist nur schwer nachvollziehbar, dass Þorleikr sich angesichts des verhinderten Pferdediebstahls Hrútr gegenüber nicht etwa dankbar zeigt, sondern vielmehr ob der Einmischung in seine Angelegenheiten erzürnt ist und meint, durch dieses Vorgehen in hohem Maße entehrt worden zu sein („þóttisk vera mjǫk svívirðr í þessu tilbragði“363). Die Ursache hierfür erklärt sich im Kontext des Phänomens ergi und vor dem Hintergrund altnordischer Männlichkeitsideale: Durch Hrútrs Eingreifen wurde Þorleikr der Möglichkeit beraubt, selbst seinen Besitz gegenüber Eldgrímr zu verteidigen und sich mit diesem im Kampf zu messen. Da es sich bei Hrútr zudem um einen hochbetagten Mann handelt – der Sagaautor vermerkt, dass dieser schon achtzig Jahre zählt –, wird Þorleikrs Männlichkeit in zweifacher Hinsicht in Frage gestellt: Nicht genug damit, dass er seine Interessen nicht selbst gewahrt und sich im Zuge dessen als wehrhafter Mann erwiesen hat – obendrein ist ihm noch ein Greis dabei zuvorgekommen, während er selbst schlafend im Bett lag. Dass beide Männer ohnehin ein schwieriges Verhältnis zueinander haben – bereits zwischen Þorleikrs Vater und Hrútr, die Halbbrüder sind, gab es zahlreiche Streitigkeiten – und der Totschlag das Ansehen Hrútrs steigert, verschärft den Konflikt zwischen Þorleikr und seinem Onkel noch mehr. In seinem Zorn gibt Þorleikr seinen Pächtern Kotkell und Gríma den Auftrag, „etwas zu unternehmen, was Hrútr Schande zufügt“ („gera nǫkkurn hlut, þann er Hrúti væri svívirðing at“364). Die Magiker kommen diesem Befehl bereitwillig nach.

362 Auch Eldgrímr scheint die Pferde also um jeden Preis in seinen Besitz bringen zu müssen und sich ihrer eigenartigen Sogkraft nicht entziehen zu können. Dass hierbei Magie am Werk ist, wird anhand der parallelen Struktur der Episode einmal mehr suggeriert: Sowohl Þorleikr als auch Eldgrímr können nicht von den Pferden der zauberkundigen Familie lassen und lehnen jeweils einen Tausch gegen nahezu gleichwertige Tiere ab. Diese Wiederholung könnte dazu dienen, die Zwanghaftigkeit, mit der beide Männer nach dem Besitz der Pferde gieren, zu unterstreichen. Dies verleiht auch Hrútrs ansonsten eher befremdlich wirkendem Tauschangebot an Eldgrímr – der als Dieb ja an sich keinerlei Besitzanspruch auf die Pferde hat – mehr Sinn. 363 Laxd, Kap. 37, ÍF 5, S. 105. 364 Ebd.

3 Die Konnotation von seiðr und ergi in den altnordischen Quellen

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Die Erfüllung von Þorleikrs Rachegelüsten gerät dabei – wie William Sayers schreibt – „grossly out of proportion“365: Durch seiðr tötet die zauberkundige Familie Hrútrs Lieblingssohn Kári.366 Dass durch den Zauber Gleiches mit Gleichem vergolten werden soll und Káris Tötung einen seine Männlichkeit in Frage stellenden Ehrverlust für Hrútr beinhalten muss, wird schon durch die identische Wortwahl (svívirðr und svívirðing) für die von Þorleikr empfundene Schmach und die Schande, welche Hrútr durch den seiðr widerfahren soll, betont. Dabei fügen die Magiker, wenn auch in perfider Übersteigerung, Hrútr in der Tat eine ganz ähnliche Ehrverletzung zu, wie Þorleikr sie durch dessen Eingreifen erlitten zu haben glaubt: Der Zauber versetzt Hrútr und seine Hofgemeinschaft in Schlaf; wie auch Þorleikr ist er somit außer Gefecht gesetzt und nicht in der Lage, seinen Sohn zu verteidigen. Ähnlich wie die Pferde von Eldgrímr heimlich fortgetrieben wurden, wird auch Kári durch den Zauber heimlich von zu Hause weggelockt. Ein Angriff auf Hrútrs Ehre erfolgt also zum einen dadurch, dass auch er nicht die Möglichkeit erhält zu verteidigen, was ihm wertvoll ist, sondern stattdessen durch den magisch induzierten Schlaf zur Passivität verurteilt wird, was ebenfalls dem Bedeutungsfeld von ergi zugerechnet werden kann. Zum anderen verliert Hrútr durch die magische Attacke seinen vielversprechendsten Sohn und somit einen wichtigen männlichen Nachfolger, was ebenfalls als Angriff auf seine Männlichkeit gewertet werden kann. Káris Tod verweist den Greis Hrútr zudem deutlich in seine Schranken: Angesichts seines hohen Alters steht nicht zu vermuten, dass er noch weitere Erben zeugen wird. Seiner Fortpflanzungsfähigkeit – und somit seiner Virilität – wird durch die Vernichtung Káris sinnbildlich ein Ende bereitet: Der Tod des Jungen lässt Hrútr endgültig als den alten Mann, der er mittlerweile ist, zurück. Wenngleich nicht auf den ersten Blick erkennbar, werden also auch innerhalb der Episode um die Tötung Káris in der Laxdœla saga ergi und seiðr gedanklich miteinander verknüpft. Nach der Auswertung der indirekten Belege für die Verbindung von seiðr und ergi, um die es sich bei der oben analysierten Episode der Laxdœla saga und den Begriffen seiðskratti sowie den Beinamen réttilbeini und slíkisteinsauga handelt, bleibt zu konstatieren, dass es neben der bereits besprochenen Passage der Ynglinga saga 7 im Bereich der altnordischen Sagaliteratur nur eine weitere Belegstelle gibt, in der ein direkter Bezug zwischen der Ausübung von seiðr und dem Phänomen ergi hergestellt wird. Es handelt sich hierbei um Kapitel 18 der kurzen Redaktion M der Gísla saga Súrssonar, auf das im folgenden Abschnitt, der sich mit der Darstellung der männlichen Ausübenden des seiðr im Hinblick auf geschlechtliche Liminalität befassen wird, näher eingegangen werden soll.

365 Sayers, Sexual Identity, S. 137. 366 Vgl. Laxd, Kap. 37, ÍF 5, S. 102–106.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

4 Die Darstellung seiðr-Praktizierender in den altnordischen Quellen im Hinblick auf geschlechtliche Liminalität 4.1 Männer 4.1.1 Menschliche männliche seiðr-Praktizierende Nach der Untersuchung von Belegen für die Konnotation von seiðr und ergi stellt sich nun die Frage, inwieweit diese innerhalb der Darstellung menschlicher seiðrPraktizierender sowie der Charakterisierung der göttlichen seiðr-Meister Óðinn und Freyja in der altnordischen Literatur greifbar wird. Hierbei soll zunächst die Verbindung der als seiðmaðr bezeichneten Männer mit dem ergi-Komplex näher betrachtet werden. In der Darstellung männlicher seiðr-Praktizierender ist folglich nach den Kriterien Ausschau zu halten, aus welchen sich das Bedeutungsspektrum von ergi zusammensetzt: „Unmännlichkeit“ in moralischer Hinsicht, also Feigheit im Kampf, mangelnde Wehrhaftigkeit oder Passivität an sich, Effemination im Auftreten – etwa das Anlegen von Kleidung, die gegen die bestehenden geschlechtlichen Konventionen verstößt – sowie Anzeichen für Homosexualität oder eine anderweitig nicht den Normvorstellungen der altnordischen Gesellschaft entsprechende Sexualität. Einzig im Kapitel 18 der kurzen Redaktion M der Gísla saga Súrssonar werden die magischen Praktiken eines seiðmaðr explizit als mit ergi verbunden bezeichnet. Es handelt sich dabei um die Schilderung der Vorgehensweise des als seiðskratti titulierten Þorgrímr nef367 bei dem von Bǫrkr nach dem Mord an Þorgrímr Þorsteinsson erkauften seiðr-Ritual: Nú flytr Þorgrímr fram seiðinn ok veitir sér umbúð eptir venju sinni ok gerir sér hjall, ok fremr hann þetta fjǫlkynngiliga með allri ergi og skelmiskap.368 Nun führt Þorgrímr den seiðr aus und verfährt dabei nach seiner Gewohnheit und fertigt sich ein Zaubergerüst an und bewerkstelligt dies mit aller ergi [Unmännlichkeit/Perversion] und Teufelei.

Der Text der langen Redaktion S weicht an dieser Stelle jedoch deutlich ab und erwähnt weder direkt noch indirekt eine Konnotation der magischen Handlungen mit ergi:369 oc siþan gerþi Þorgrimr sér seiðhiall at þeim siþ er þa var títt, oc lagði hann a þat alla stund oc kraft[.]370

367 368 369 370

Vgl. Gísl, Kap. 11, ÍF 6, S. 37. Gísl, Kap. 18, ÍF 6, S. 56 f. Vgl. zu den folgenden Betrachtungen auch Dillmann, Magiciens, S. 452 f. Gíslx, Kap. 20, EA A 5, S. 37.

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und dann errichtete Þorgrímr sich ein Zaubergerüst [seiðr-Gerüst], wie es damals der Brauch war, und daran setzte er alle Zeit und (Zauber-)Kraft[.]

Dillmann erklärt diese Divergenz zwischen den beiden Redaktionen der Gísla saga dahingehend, dass der Schreiber der kurzen Fassung M beim Kopieren der entsprechenden Handschrift vermutlich eine identische oder ähnliche Wendung wie die in Redaktion S enthaltene (alla stund ok krapt)371 durch eine prägnantere Formulierung – nämlich með allri ergi og skelmiskap – ersetzt habe, wobei er möglicherweise gerade Snorris Charakteristik des seiðr im 7. Kapitel der Ynglinga saga vor Augen hatte. Obgleich seine Zauberkünste an dieser Stelle mit ergi konnotiert werden, weist die Gesamtdarstellung des Þorgrímr nef in der Gísla saga keinerlei Merkmale auf, die ihn in irgendeiner Weise effeminiert erscheinen lassen: Ganz im Gegenteil wird der seiðr-kundige Mann als äußerst wehrhaft beschrieben. So bietet sich der jungen Guðríðr, als sie im Auftrag ihres Ziehvaters Gísli die Lage auf dem Hof von Sæból nach der Tötung Vésteinns auskundschaftet, folgendes Bild: Hón ferr ok kemr á Sæból. Þeir váru upp risnir ok sátu með vápnum, Þorgríma tveir ok Þorkell.372 Sie macht sich auf den Weg und kommt nach Sæból. Sie waren aufgestanden und saßen in Waffen, die beiden Þorgrímar und Þorkell.

Wieder zurückgekehrt weiß Guðríðr weitere Details über die Männer auf Sæból zu berichten: Hon ferr heim og sagði Gísla, at Þorgrímr sat með hjálm ok sverð ok ǫllum herbúnaði, en Þorgrímr nef hafði boløxi í hendi, en Þorkell hafði sverð ok brugðit af handfang, – „allir menn váru þar upp risnir, sumir með vápnum.“373 Sie geht nach Hause und sagte Gísli, dass Þorgrímr mit Helm und Schwert und voller Kriegsausrüstung dasaß, und Þorgrímr nef hatte eine Handaxt374 in der Hand, und Þorkell hatte ein Schwert und hatte es eine Handbreit gezogen, – „alle Männer dort waren auf den Beinen, manche in Waffen.“

Diese Episode zeigt deutlich, dass die drei Männer, von denen jeder auf seine Weise in das Mordkomplott gegen Vésteinn verstrickt ist, durchaus bereit und in der Lage sind, ihre Haut teuer zu verkaufen, sollte es zu einem Kampf kommen. Dillmann betont zurecht, dass sich die Darstellung eines wehrhaften seiðmaðr, der mit einer

371 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 452. 372 Gísl, Kap. 13, ÍF 6, S. 44. 373 Ebd., S. 45. 374 Die boløx diente eigentlich zum Fällen von Bäumen, sie wurde aber im Gegensatz zu der gewöhnlichen Holzfälleraxt auch im Kampf verwendet; vgl. Falk, Waffenkunde, S. 113.

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Handaxt bewaffnet zum Kampf entschlossen scheint, sehr schlecht mit der Vorstellung vom „weibischen“ Magiker verträgt. Allein die Tatsache, dass zum Führen einer solchen Axt eine gewisse körperliche Kraft unabdingbar ist, lässt darauf schließen, dass es sich bei Þorgrímr nef nicht um einen schwachen, wehrlosen Mann handelt; seine Bereitschaft zum Kampf steht zudem völlig in Einklang mit der Erwartungshaltung der altnordischen Gesellschaft gegenüber einem männlichen Individuum.375 Auch bleibt auf den bereits in Kapitel VIII 1.3 angesprochenen Umstand hinzuweisen, dass sowohl der einflussreiche Þorgrímr Þorsteinsson als auch Þorkell Súrsson dem seiðmaðr durchaus respektvoll begegnen und in einem Vertrauensverhältnis zu ihm stehen: So laden sie ihn zum vetrnáttablót ein und stellen sich ihn zur Verteidigung gegen einen eventuellen Angriff auf ihre Hofgemeinschaft nach dem Mord an Vésteinn zur Seite. Angesichts der dezidiert negativen Haltung, welche die altnordische Gesellschaft Männern gegenüber an den Tag legt, deren Verhalten als argr (unmännlich/pervers) bezeichnet werden kann, erscheint es äußerst unwahrscheinlich, dass die Hausherren von Sæból auf eine derart vertrauensvolle und gleichberechtigte Weise mit einer solchen Person umgehen würden.376 Muss man sich daher also Dillmann anschließen, der jedweden Verdacht von effeminiertem Verhalten in Bezug auf „Þorgrímr nef, le célèbre seiðskratti de la Gísla saga Súrssonar“377 als unbegründet ablehnt? An dieser Stelle sollte in Betracht gezogen werden, dass das eigentlich mit der Ausübung des seiðr verbundene Ritual – wie so häufig in der altnordischen Literatur – auch innerhalb der Gísla saga nicht geschildert wird. Weist die Darstellung des Þorgrímr nef im Hinblick auf sein Verhalten abseits magischer Betätigungen zwar in der Tat keinerlei Konnotationen mit dem ergi-Komplex auf, so kann doch nicht ausgeschlossen werden, dass eben jene nicht explizit gezeigten rituellen Handlungen einen Verstoß gegen die von der altnordischen Gesellschaft sanktionierte männliche Geschlechterrolle beinhalten und die Erwähnung des Begriffs ergi in Redaktion M, die ja gerade im Kontext eines seiðr-Rituals erfolgt, motiviert haben. Ármann Jakobsson kommt in seinem Essay „The Trollish Acts of Þorgrímr the Witch: The meanings of Troll and Ergi in Medieval Iceland“ zu dem Schluss, dass die Begriffe trollskapr und ergi, welche zur Beschreibung des von Þorgrímr nef ausgeübten seiðr in der Gísla saga benutzt werden, indizieren, dass es sich bei dem seiðmaðr um ein „böses“, subversives Individuum handle. Durch ihre Verwendung würde ausgedrückt, dass auch seine Magie – somit also der seiðr – im Gegensatz zur korrekten Ordnung der Welt stehe: „The words [trollskapr und ergi; C. K.] are used about this particular magic rite to indicate that Þorgrímr is himself evil and subver-

375 Vgl. Dillmann, Magiciens, S. 454 f. 376 Vgl. dazu ebd., S. 571. 377 Ebd., S. 455.

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sive and that what he is doing is contrary to the correct order of the world.“378 Diese These weist ebenfalls in Richtung der Ausübung des seiðr und der speziellen Charakteristika dieser Magieform als Quelle der Konnotation Þorgrímr nefs mit ergi. Hierzu sei allerdings angemerkt, dass ergi und trollskapr in der Gísla saga nicht innerhalb ein und derselben Passage Þorgrímr nefs magische Aktivitäten umschreiben, sondern an verschiedenen Stellen,379 was die Einschlägigkeit von Ármanns Beobachtung zwar etwas reduziert, ihre zentrale Aussage jedoch nicht entkräftet. Wie verhält es sich nun mit Kotkell und seinen beiden Söhnen Stígandi und Hallbjǫrn slíkisteinsauga, den verbleibenden männlichen seiðr-Praktizierenden innerhalb des Korpus der Isländersagas? Zunächst muss festgehalten werden, dass diese drei Männer in der Laxdœla saga nicht explizit mit dem Begriff ergi in Verbindung gebracht werden. Sucht man innerhalb ihrer Darstellung nach indirekten Hinweisen auf ein Abweichen von den altnordischen Geschlechternormen, so fällt auf, dass der sexuelle Bereich hierbei wohl von vornherein ausgeschlossen werden kann: Kotkell ist mit der ebenfalls seiðr betreibenden Gríma verheiratet und hat mit ihr die beiden bereits genannten Söhne. Obwohl dies nicht unbedingt ausschlaggebend sein müsste, führt in der Njáls saga Skarpheðinn im verbalen Schlagabtausch mit Flosi eben die Tatsache, dass Njáll mit seiner Frau Söhne gezeugt hat, als Beweis für dessen Männlichkeit an: „Meguð þér þat vita, at hann er karlmaðr, því at hann hefir sonu getit við konu sinni.“380 / „Du magst daran erkennen, dass er ein Mann ist, weil er mit seiner Frau Söhne gezeugt hat.“ Einer der Söhne Kotkells, Stígandi, unterhält während seiner Ächtung ein Liebesverhältnis mit einer Magd, welches ihm letztlich zum Verhängnis wird, da die Frau sich gegen Bezahlung dazu bereit erklärt, seinen Feinden bei der Gefangennahme des seiðmaðr zu helfen.381 Von Hallbjǫrn slíkisteinsaugas erotischen Betätigungen weiß die Laxdœla saga erst gar nichts zu berichten. Zwar werden die drei seiðr-kundigen Männer von der Gesellschaft verurteilt und geahndet, dies geschieht jedoch vielmehr wegen der Schadensmagie, die sie betreiben, als aufgrund ihrer Ausübung des seiðr an sich oder etwaigen unmännlichen Verhaltens. Der Vergeltung ihrer Missetaten durch die aufgebrachte Gemeinschaft entgehen Kotkell und seine Söhne durch Flucht oder mittels ihrer Schadenszauber, wie ihre Reaktion auf die von Þórðr Ingunnarsson veranlasste Vorladung vor das Althing

378 Ármann Jakobsson, Trollish Acts, S. 118. 379 Das Wort trollskapr erscheint an folgender Stelle: „En sakar þess trollskapar, er Þorgrímr hafði haft í seiðinum [. . .].“ (Gísl, Kap. 21, ÍF 6, S. 69) / „Und wegen der Zauberkraft, die Þorgrímr in dem seiðr angewendet hatte [. . .].“ Hingegen wird der Begriff ergi in folgender, bereits oben zitierten Passage verwendet: „Nú flytr Þorgrímr fram seiðinn ok veitir sér umbúð eptir venju sinni ok gerir sér hjall, ok fremr hann þetta fjǫlkynngiliga með allri ergi og skelmiskap.“ (Gísl, Kap. 18, ÍF 6, S. 56 f.). 380 Nj, Kap. 123, ÍF 12, S. 313 f. 381 Vgl. Laxd, Kap. 38, ÍF 5, S. 108 f.

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wegen Zauberei und Diebstahl382 zeigt.383 Lässt sich dies möglicherweise als „Feigheit“ im Sinne einer Bedeutungsnuance von ergi interpretieren? Hierbei gilt es zu beachten, dass sich die Antipathie der Gemeinschaft nicht nur auf die männlichen Mitglieder der Familie von seiðmenn, sondern auch auf Kotkells Frau Gríma erstreckt. Es kann also nicht davon ausgegangen werden, dass in der Laxdœla saga die reine Ausübung des seiðr durch Männer die entsprechende negative Reaktion hervorruft. Obwohl das Verhalten Kotkells und seiner beiden Söhne mit Sicherheit nicht den vorherrschenden Moralvorstellungen entspricht, ist der ausschlaggebende Faktor für die ihnen entgegengebrachte Feindseligkeit die destruktive Intention und Wirkung ihrer Magie. Die Darstellung der männlichen seiðr-Praktizierenden der Laxdœla saga scheint somit keine Konnotation mit ergi im Sinn eines effeminierten Auftretens im alltäglichen Leben zu beinhalten. Es bleibt wiederum einzig die Ausübung des seiðr-Rituals als solches, welche Elemente von ergi enthalten könnte, allerdings werden die entsprechenden magischen Handlungen auch in dieser Saga nicht näher geschildert. Den diesbezüglich einzigen Anhaltspunkt bildet der schön anzuhörende Gesang, welcher den jungen Kári zu den Zaubernden lockt. Möglicherweise stellen Inhalt, Intonation oder Darbietungsweise der seiðlæti eine mit Effemination empfundene Komponente des seiðr dar, genaue Auskunft darüber liefert die Laxdœla saga jedoch nicht. Welcher Befund ergibt sich nun für die männlichen seiðr-Praktizierenden innerhalb der Königssagas? Hier ist zunächst erneut das Beispiel des Rǫgnvaldr réttilbeini zu betrachten. Die Episode um die Tötung des seiðr-betreibenden Sohnes Haraldr hárfagris und seines Gefolges von seiðmenn ist in einer Vielzahl von Texten überliefert, wobei die Schilderungen in den wesentlichen Punkten übereinstimmen: Umgeben von einem großen Gefolge an seiðmenn – einige Überlieferungen nennen die Zahl achtzig

382 Der Diebstahl wird in altnordischer Literatur und Gesetzestexten als unehrenhaftes Verbrechen bewertet, was offenbar in seiner heimlichen Ausführung (im Gegensatz zum offen durchgeführten Raub) begründet liegt. Diebstahl wurde also als ein feiges und daher „unmännliches“, „würdeloses“ Verbrechen betrachtet und somit offenbar mit ergi assoziiert. Vgl. hierzu Andersson, Theodore M.: „The Thief in Beowulf“, in: Speculum, 59, 1984, S. 505: „What apparently made theft a contemptible crime was its furtive nature. On the basis of this core meaning it is easy to understand how the additional semantic shades accrued. A secret crime was a womanish crime. Cowardice and womanish conduct belonged to the range of meaning in the concept ergi and led through this concept to the further implications of sorcery and sexual perversion which we find in the Icelandic sagas.“ Die Anschuldigung, die seiðr-praktizierende Familie habe sich neben der Zauberei (d. h. Schadenszauber) auch des Diebstahls schuldig gemacht, bildet also eine typische Kombination ehrloser und heimlicher Vergehen. Ob die Stelle einen Vorwurf von ergi gegen die Magiker aufgrund der Natur der ihnen zu Last gelegten Verbrechen enthält, ist nicht klar zu entscheiden, zumindest bewegen ihre Taten sich jedoch im semantischen Bereich von ergi. 383 Vgl. Laxd, Kap. 35, ÍF 5, S. 99 f.

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– praktiziert Rǫgnvaldr sehr zum Missfallen seines Vaters, König Haraldrs, in Haðaland seiðr. Der Aufforderung des Königs, die Ausübung dieser magischen Praktik einzustellen, entgegnet ein weiterer seiðmaðr namens Vitgeirr, von dem die Quellen ansonsten nichts Genaueres zu berichten wissen, mit der spöttischen Bemerkung, dass es wenig verwunderlich sei, wenn einfache Leute sich dem seiðr widmen, wo doch der Königssohn selbst diese Magieform ungestraft betreibe. Daraufhin beauftragt König Haraldr seinen Lieblingssohn Eiríkr blóðøx384 damit, Rǫgnvaldr und seine Anhänger zu töten, was in den meisten Überlieferungsvarianten durch einen Mordbrand geschieht;385 in der Historia Norvegiae wird Rǫgnvaldr jedoch auf Befehl seines Vaters ertränkt386. Im Zusammenhang mit Rǫgnvaldr réttilbeini wird der Begriff ergi in den Quellen nicht ausdrücklich verwendet; auch eine an seinem Beinamen abzulesende indirekte Konnotation dieses seiðmaðr mit dem entsprechenden Komplex musste in der vorliegenden Arbeit bereits als zu wenig überzeugend abgelehnt werden. Die Darstellung Rǫgnvaldr réttilbeinis in den altnordischen Quellen auf Hinweise für Unmännlichkeit zu untersuchen, bildet zudem insofern ein schwieriges Unterfangen, als der seiðr-praktizierende Königssohn als Person in der Überlieferung leider nicht wirklich greifbar wird: In sämtlichen Texten, welche die betreffende Episode bewahrt haben, wird er lediglich kurz erwähnt. An seiner Stelle kommt nur der bereits genannte renitente seiðmaðr Vitgeirr zu Wort; allerdings lassen weder dessen Auftreten noch die von ihm gesprochene Skaldenstrophe Rückschlüsse auf einen wie auch immer gearteten Verstoß gegen die altnordischen Geschlechterkonventionen zu. Wie schon in Kapitel VIII 1.3 angeführt, liefert jedoch die Historia Norvegiae den wertvollen Hinweis, dass Rǫgnvaldr réttilbeini durch die Ausübung seiner Magie – die in den übrigen Texten, welche diese Episode überliefern, eindeutig als seiðr bezeichnet wird – Schande und schlechten Ruf über sich gebracht habe.387 Anhand dieses Zeugnisses scheint also durchaus eine gedankliche Verbindung zwischen der Ausübung von seiðr und dem Verlust von Ehre und Ansehen seitens des Königssohnes erkennbar zu werden. Dass diese Konnotation als Element eines größeren Gesamtkontextes aufgefasst werden

384 Vgl. Hkr I, Haralds saga hárf, Kap. 33, ÍF 26, S. 137: „Eiríkr var með Haraldi konungi, feðr sínum. Honum unni hann mest sona sinna ok virði hann mest.“ / „Eiríkr war bei König Haraldr, seinem Vater. Ihn liebte und schätzte er am meisten von seinen Söhnen.“ 385 Vgl. Hkr I, Haralds saga hárf, Kap. 34, ÍF 26, S. 139. Ganz ähnlich auch in: Johnsen, Oscar Albert; Jón Helgason (Hgg): Saga Óláfs konungs hins helga. Den store saga om Olav den hellige. Efter Pergamenthåndskrift i kungeliga Biblioteket i Stockholm Nr. 2 4to. Med varianter fra andre håndskrifter, Bd. 1. Oslo, 1941, S. 9 f. und Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, herausgegeben von Óláfur Halldórsson, Bd. 1, København, 1958 (Editiones Arnamagnæanæ, Series A, 1), S. 10 f. 386 Vgl. HistNorv, Kap. 15, S. 86. 387 HistNorv, Kap. 15, S. 86.

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kann, zeigt ein Vergleich der Darstellung Rǫgnvaldr réttilbeinis mit der des Ynglingenkönigs Hugleikr, von dem die Ynglinga saga Folgendes zu berichten weiß: Hugleikr konungr var engi hermaðr, ok sat hann at lǫndum í kyrrsæti. Hann var auðigr mjǫk ok sínkr af fé. Hann hafði mjǫk í hirð sinni alls konar leikara, harpara ok gígjara ok fiðlara. Hann hafði ok með sér seiðmenn ok alls konar fjǫlkunnigt fólk.388 König Hugleikr war kein Krieger und lebte in Ruhe und Frieden auf seinen Ländereien. Er war sehr reich und geizig was seinen Besitz anging. Er hatte in seinem Gefolge eine Vielzahl von Spielleuten aller Art, Harfenspieler, Geiger und Fiedler. Er hatte auch seiðmenn und allerlei zauberkundige Personen bei sich.

Dass der König hier in sehr negativem Licht beschrieben wird, signalisiert allein schon die Formulierung Hann var auðigr mjǫk ok sínkr af fé, welche im deutlichen Gegensatz zum altnordischen Idealbild des freigiebigen Fürsten steht. Zudem ist der den Freuden des Lebens wie Musik und Unterhaltung zugetane König offenbar nicht in der Lage, sich selbst und sein Land zu verteidigen: Als Hugleikr vom Seekönig Haki angegriffen wird, kann er sich gegen den Aggressor trotz der Hilfe der beiden Brüder Svipdagr und Geigaðr – die als ágætir menn [. . .] ok inir mestu kappar („angesehene Männer [. . .] und die größten Kämpfer“) vorgestellt werden – nicht behaupten und wird zusammen mit seinen beiden Söhnen getötet. Strömbäck verweist auf eine korrespondierende Episode bei Saxo, in welcher sich der wenig wehrhafte König Huglecus allerdings nicht mit seiðmenn, sondern nur mit Spaßmachern und Spielleuten umgibt. Er selbst und sein Hofstaat werden dabei jedoch ausdrücklich als degeneriert und effeminiert – mit einer Implikation von Homosexualität – bezeichnet, und mit den kriegerischen Helden Gegathus und Suibdavus kontrastiert: Ea tempestate rex insulæ Huglecus exstabat. [. . .] Itaque neminem ex honestis liberalitate prosequi sollicitus circa mimos ac iocolatores munificentiæ studiis uti consuevit. Oportebat namque, ut turpis turpibus commercia familiaritatis impenderet et vitiorum tabo obsitus culpæ socios blandimentorum lenocinio demulceret. Fuere tamen ei spectatæ virtutis proceres Gegathus et Suibdavus, qui inter effeminatorum consortia veluti gemmæ stercoribus insitæ conspicuo militarium operum fulgore pollebant.389 The island’s ruler at that time was Huglek. [. . .] He was never moved to be generous towards respectable folk but reserved a fond liberality for his comedians and buffoons. This degenerate man needed to form intimate friendships with other degenerates and, polluted with vice, would charm the companions of his sin with pandering allurements. He had, however, two nobles of tested courage, Gegath and Svipdaf, who, through their fine military achievements, shone like juwels on a dunghill amid this mob of effeminates.390

388 Hkr I, Yngl saga, Kap. 22, ÍF 26, S. 42. 389 Gesta Danorum, Lib. VI, S. 154. 390 Übersetzung nach Davidson; Fisher, Saxo, Bd. 1, S. 173.

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Dass dem Gefolge König Hugleikrs in der Ynglinga saga dezidiert Magiekundige und insbesondere seiðmenn hinzugefügt wurden, deutet Strömbäck dahingehend, dass Snorri die Darstellung des schwachen, unkriegerischen – und somit nach altnordischen Maßstäben gewiss als argr einzustufenden – Königs bewusst dadurch verstärken wollte, indem er Hugleikr als einen Mann zeigt, der sich gerne mit Zauberern und sogar Praktizierenden des seiðr umgibt:391 „Hugleikr var den slappe sejdkonungen, som ej förtjänade bättre än att dräpas av en främmande inkräktare.“392 Auch Rǫgnvaldr réttilbeini scheint dieser Kategorie des „unmännlichen Herrschers“ zugeordnet werden zu können, wenngleich es sich bei ihm nur um einen von zahlreichen Söhnen eines Königs handelt und er lediglich über einen begrenzten Machtbereich verfügt. Innerhalb der Haralds saga hárfagra wird – ähnlich der Hugleikr-Episode bei Saxo – zudem ein starker Kontrast zwischen dem zauberkundigen Rǫgnvaldr und seinem wehrhaften Halbbruder Eiríkr blóðøx etabliert, dessen Beiname allein schon von kriegerischem Naturell zeugt. Dabei wird mehrfach betont, wie sehr König Haraldr seinem Sohn Eiríkr zugetan ist: Von all seinen Söhnen möchte der König am liebsten ihn als seinen Nachfolger sehen, was Eiríkr blóðøx auch mit Ehrgeiz verfolgt.393 Eines „unwürdigen“ und aufgrund seiner magischen Fähigkeiten sowie einer zahlreichen und subversiven Anhängerschar potentiell gefährlichen Mitgliedes der Königsfamilie wie des seiðmaðr Rǫgnvaldr entledigt man sich hingegen. In der altnordischen Überlieferung wird Rǫgnvaldr réttilbeini also nicht direkt als unmännlich beschrieben, jedoch scheint in seiner wie auch der verwandten Darstellung König Hugleikrs die Beschäftigung mit seiðr sowie die Bereitschaft, sich mit seiðmenn zu umgeben, Teil eines Komplexes zu sein, welcher das Gesamtbild eines unkriegerischen, effeminierten und somit ungeeigneten Herrschertypus – bzw. eines unwürdigen Mitgliedes einer Herrscherdynastie – ergibt. Diesen Eindruck bestärkt das Zeugnis der Historia Norvegiae, welches die Ausübung von Magie seitens des Königssohnes mit einem enormen Ehrverlust assoziiert: Ein Mann wie Rǫgnvaldr réttilbeini, dessen Verhalten diverse mit dem Komplex von ergi verbundene Charakteristika aufweist, hat keinen Platz in der Erbfolge eines Königsgeschlechts. Der letzte seiðmaðr, dessen Darstellung in diesem Kapitel näher betrachtet werden soll, ist Eyvindr kelda, der in manchen Überlieferungen an Rǫgnvaldr réttilbeini angesippt wird.394 Die Gestalt des Eyvindr kelda findet sich in Werken der altnordischen Literatur, welche eine Biographie des Königs Óláfr Tryggvason beinhalten, dem als strengen Verfechter des christlichen Glaubens zauberkundige Personen ein

391 Vgl. Strömbäck, Sejd, S. 40. 392 Ebd. 393 S. Hkr I, Haralds saga hárf, Kap. 34, ÍF 26, S. 138: „Eiríkr blóðøx ætlaði at vera yfirkonungr allra brœðra sinna, ok svá vildi ok Haraldr konungr vera láta.“ / „Eiríkr Blutaxt wollte oberster König all seiner Brüder werden, und so wollte auch König Haraldr es geschehen lassen. “ 394 Vgl. Hkr I, ÓT Kap. 62, ÍF 26, S. 311: „Hann var sonarsonr Rǫgnvalds réttilbeina, sonar Haralds hárfagra.“ / „Er war der Enkel des Rǫgnvaldr réttilbeini, des Sohnes von Haraldr hárfagri.“

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Dorn im Auge sind. Um sich ihrer zu entledigen, bedient sich der König einer List: Er lädt die Magiker zu einem Gastmahl, lässt sie betrunken machen und – als alle in Schlaf versunken sind – die Halle in Brand stecken. Einzig dem seiðmaðr Eyvindr kelda gelingt es, dem Mordbrand zu entkommen. Dem König lässt er eine Botschaft des Inhalts überbringen, dass er, Eyvindr, am Leben und nicht bereit sei, die Zauberei aufzugeben. Wenig später versucht Eyvindr gemeinsam mit einer Schar von zauberkundigen Begleitern, einen Anschlag auf Óláfr Tryggvason zu verüben, der jedoch fehlschlägt, da sich ihre Magie gegen sie selbst wendet. So werden Eyvindr kelda und seine Gefährten schließlich gefangen genommen und gefesselt auf einer Schäre ausgesetzt, wo sie bei Einbruch der Flut ertrinken sollen. Mit leichten Varianten in der Darstellung überliefern alle entsprechenden Texte im Wesentlichen den oben rekapitulierten Ablauf dieser Episode. Als Person wird Eyvindr kelda insbesondere in der Óláfs saga Odds greifbar. In dieser Überlieferung erklärt Óláfr Tryggvason zunächst alle seiðmenn und anderweitig zauberkundigen Personen beiderlei Geschlechts für friedlos und versucht sie dazu zu bewegen, mit einem von ihm gestellten Schiff das Land zu verlassen.395 Eyvindr kelda ergreift das Wort und begegnet dem König nahezu auf Augenhöhe, denn auch er kann auf eine königliche Abstammung verweisen: Ok í þeiri sveit var sá maðr er Eyvindr hét ok sagðr af konungaætt kominn, svá at hann var enn þriði maðr frá Haraldi enum hárfagra.396 Und in dieser Schar war ein Mann, der Eyvindr hieß und von dem man sagte, er stamme von königlichem Geschlecht ab, so dass er ein Verwandter im dritten Glied von Haraldr inn hárfagri sei.

Auch in der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta fungiert Eyvindr kelda als Wortführer und gibt dem König zu verstehen, dass er und seine Leute nicht gewillt seien, den heidnischen Glauben und die Zauberei aufzugeben, wobei beides untrennbar miteinander verbunden zu sein scheint: þá sva(rar) Eyvindr kellda fyrir hǫnd allra þeira ok s(agði) sva. Þess þarf ecki at leíta konungr er eigi man fááz hvarki fyrir orð glysligh ne afar kosti at ver fyrir latím uarn aa trunat ne iþrottir.397 Da antwortet Eyvindr kelda in ihrer aller Namen so: Dass darf der König nicht zu erlangen suchen, was kein Mann weder mit schönen Worten noch durch gewaltsame Behandlung erreicht hat: Dass wir von unserem Glauben oder unseren Künsten ablassen.

395 S. „Óláfs saga Tryggvasonar eptir Odd Munk Snorrason“, in: Ólafur Halldórsson (Hg.): Færeyinga saga. Óláfs saga Tryggvasonar eptir Odd Munk Snorrason. Reykjavík, 2006 (Íslenzk Fornrit, 25), Kap. 32 [Text A Kap. 38], S. 232 f. 396 Óláfs saga Odds, Kap. 32, ÍF 25, S. 233. 397 Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, Bd. 2, EA A 2, S. 85.

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Eyvindr kelda präsentiert sich also als selbstbewusster und redegewandter Anführer der magiekundigen Personen. In der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta versucht der König, Eyvindr und seine Leute noch ein weiteres Mal zur Annahme des christlichen Glaubens zu bewegen, was diese wiederum entschieden ablehnen. Selbst wenn Eyvindr kelda vor allem in den längeren Óláfr-Tryggvason-Biographien klar als Antagonist des Königs und unbelehrbarer Heide dargestellt wird, fällt es dem heutigen Rezipienten der Texte nicht unbedingt leicht, keine Sympathie für den renitenten seiðmaðr, der dem Gewaltbekehrer die Stirn bietet, zu empfinden. Für die Darstellung Eyvindr keldas kann ungeachtet dessen festgehalten werden, dass er als selbstbewusster und eigensinniger Mann gezeigt wird, zu dem eine Gruppe von Personen aufblickt und in deren Namen er agiert. Seine Bereitschaft, für den Mordbrand Rache zu nehmen kann – da dies ein Attentat auf den christlichen König bedeutet – zwar nicht als positive Tat bewertet werden, zeugt allerdings auch nicht gerade von einem unkriegerischen Naturell, sondern vielmehr von Eyvindrs Entschlossenheit, den Tod seiner Gefährten sowie den Anschlag auf sein eigenes Leben mit einer entsprechenden Reaktion zu vergelten, was mit den altnordischen Verhaltenskonventionen für einen Mann völlig konform geht. Zudem wird ein gewisser Stolz des seiðmaðr auf seine königliche Herkunft in den jeweiligen Erzählungen deutlich. All dies passt nicht sonderlich gut zum Bild des schwachen, „unmännlichen“ Zauberers. Im Fall Eyvindr keldas kann es wiederum einzig die Ausübung des seiðr an sich sein, welche ihn mit dem Konzept ergi in Verbindung bringt; anhand seiner Darstellung entsteht jedenfalls in keinem der überlieferten Texte der Eindruck eines gegen die seinem Geschlecht zugeschriebene Rolle verstoßenden Individuums. Betrachtet man die Darstellung männlicher seiðr-Praktizierender in den altnordischen Quellen – wobei entsprechende Schilderungen sich im Wesentlichen auf das Korpus der Isländer- und Königssagas beschränken – ist auffallend, dass kaum etwas von der Konnotation von ergi und seiðr, die Snorri als ein zentrales Merkmal dieser Magieform beschreibt, Eingang in die jeweiligen Textzeugnisse gefunden zu haben scheint: Lediglich in einer Redaktion der Gísla saga wird die Vorgehensweise des Þorgrímr nef bei einem seiðr-Ritual explizit mit dem Begriff ergi in Verbindung gebracht, jedoch weist das Verhalten dieses seiðmaðr ansonsten in keinerlei Hinsicht Züge von Effemination auf. Ein ähnlicher Befund lässt sich für die Präsentation der übrigen männlichen seiðmenn in der altnordischen Literatur konstatieren: Keiner dieser Magiker wird als „unmännlicher“ Mann bezeichnet oder dargestellt. Einzig im Fall Rǫgnvaldr réttilbeinis sind durchaus Tendenzen einer indirekten Charakterisierung dieses seiðmaðr als argr – im Zusammenhang mit seiner Darstellung als unwürdiges Mitglied einer Herrscherdynastie – zu verzeichnen. Eine Überschreitung der geschlechtlichen Konventionen seitens der männlichen Praktizierenden des seiðr ist anhand ihrer Darstellung in den schriftlichen Quellen folglich nicht überzeugend ersichtlich, außer durch eben den Umstand, dass sie sich mit seiðr befassen. Die Konnotation von seiðr und ergi in Bezug auf männliche Ausübende dieser Magieform mutet dementsprechend eher wie ein blindes Motiv der altnordischen Literatur an. Handelt es sich hierbei also vielleicht lediglich um

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eine Schöpfung christlicher Sagaautoren, deren Moralvorstellungen und negative Haltung gegenüber magischen Praktiken Auswirkungen auf ihre Schilderungen der heidnischen Vorzeit hatten?398 Trotz der zu verzeichnenden Leerstellen, was eine Abweichung der männlichen seiðr-Wirker von altnordischen Geschlechternormen angeht, ist diese Annahme wenig wahrscheinlich. Zu breit gestreut sind die Hinweise auf eine Konnotation des seiðr mit Weiblichkeit und sexueller Devianz, die insbesondere aus den Zeugnissen mythologischer Texte wie der Lokasenna und den Hyndluljóð hervorgehen. Dass eben darin einer der Hauptgründe für die Bewertung männlicher seiðr-Praktizierender als argr angenommen werden kann, wird anhand ihrer Bezeichnung mit Komposita wie seiðberendr und seiðskratti deutlich, die neben ihrem eindeutigen Bezug zur weiblichen Sexualität auch eine liminale Geschlechtsidentität – also eine Überschreitung geschlechtlicher Normen ganz im Sinne der Bedeutung von ergi – zu implizieren scheinen. Diese mit dem Komplex seiðr verbundenen Vorstellungen können schwerlich ein reines Produkt mittelalterlicher Geisteshaltung darstellen. Vielmehr deuten die in der vorliegenden Arbeit aufgezeigten Anzeichen darauf hin, dass die gedankliche Verknüpfung von ergi und seiðr sowie die damit implizierte „Unmännlichkeit“ seiðr-betreibender Männer Anteil an alten Schichten der nordgermanischen Vorstellungswelt hat. Da das eigentliche seiðr-Ritual in den Quellen so gut wie kaum beschrieben wird, jedoch in den betreffenden Texten weder anhand des Auftretens männlicher seiðr-Praktizierender noch anhand ihrer Sexualität oder ihrer familiären Verhältnisse eine wie auch immer geartete Effemination zu erkennen ist, waren möglicherweise gerade mit dem magischen Ritual diejenigen Elemente verbunden, die das Praktizieren des seiðr für einen Mann zur Überschreitung geschlechtlicher Konventionen machte. 4.1.2 Mythologisch – Óðinn Wie die menschlichen männlichen seiðr-Praktizierenden wird auch Óðinn in der altnordischen Überlieferung nicht eben häufig expressis verbis als argr bezeichnet oder mit ergi in Verbindung gebracht. Es finden sich jedoch immerhin die beiden viel zitierten und auch in der vorliegenden Arbeit schon unter Kapitel VIII 3.2 sowie VIII 3.3 eingehend besprochenen Belege aus der Lokasenna und der Ynglinga saga, in welchen der Gott explizit mit dem Konzept ergi assoziiert wird.399 An dieser Stelle seien die aus der Analyse der beiden Zeugnisse gewonnenen Erkenntnisse noch einmal wiedergegeben. In der Lokasenna muss Óðinn sich von Loki den Vorwurf von ergi gefallen lassen: Enn þic síða kóðo Sámseyo í, oc draptu á vétt sem vǫlor;

398 Vgl. dazu Steinsland, Norrøn Religion, S. 325. 399 Daneben wird er in der Heiðreks saga von König Heiðrekr als rǫg vættr beschimpft; s. Heiðr, STUAGNL 48, S. 83.

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vitca líki fórtu verþióð yfir, oc hugða ec þat args aðal.400 Aber du, sagte man, zaubertest auf Sámsey, und du schlugst auf die Zaubertrommel wie die vǫlur; In Gestalt eines Zauberes zogst du durch die Welt der Menschen, und das halte ich für die Art eines unmännlichen/perversen Mannes.

Wie bereits erörtert, bereitet die Übersetzung der oben zitierten Strophe einige Schwierigkeiten, weswegen je nach Lesart mehrere darin enthaltene Elemente Anlass für eine Konnotation Óðinns mit ergi geben könnten. In jedem Fall zielt Lokis Spott in erster Linie auf Óðinns magische Aktivitäten ab, da er die Praktiken des Gottes mit denen der vǫlur vergleicht sowie sein Herumstreifen als Zauberer in der Welt der Menschen erwähnt. Dabei wird sowohl über die Assoziation des Götterfürsten mit den vǫlur als auch durch den Verweis auf die Ortsunfestigkeit Óðinns ein gemeingermanischer Merkmalskomplex von Zauberei, Nichtsesshaftigkeit, Heilkunde und freizügiger Sexualität aufgerufen, an dem in erster Linie (aber nicht ausschließlich) Frauen Anteil haben. Der Vorwurf dürfte bei Óðinn als männlichem Gott in gesteigertem Maße greifen, da er hierbei nicht nur mit Frauen an sich, sondern obendrein mit den der sexuellen Devianz verdächtigen vǫlur verglichen wird. Des Weiteren könnte Lokis Bezugnahme auf die vǫlur auch auf eine rituelle Ekstase Óðinns gemünzt sein – diese Bedeutung wäre umso naheliegender, wenn man die im Codex regius enthaltene Schreibweise síga (‚sinken‘, ‚hinabgleiten‘) in der ersten Verszeile der Lokasenna beibehält und nicht in síða (‚seiðr betreiben‘, ‚zaubern‘) abändert. Óðinns Fähigkeit zu ritueller Ekstase und Seelenreise könnte also ebenfalls einen Grund für die Konnotation des Götterfürsten mit ergi darstellen. Gerade der Verlust von Kontrolle – in erster Linie, aber nicht ausschließlich über den Sexualtrieb – bildet ja ein entscheidendes Element des ergi-Komplexes. Schon anhand seines Namens wird eine Assoziation Óðinns mit Rastlosigkeit und Kontrollverlust deulich: Óðinn leitet sich analog zu an. óðr ‚rasend‘ und ahd. wuot ‚Wut‘ von einem substantivierten germanischen Adjektiv *wōða ab, entsprechende Wortbildungen sind got. wods, woþs und ae. wōd; jeweils in der Bedeutung ‚verrückt‘, ‚besessen‘. Zudem besteht auch eine Verbindung des Namens Óðinn zu an. óðr ‚Erregtheit‘, ‚Dichtkunst‘.401 Raserei und ekstatische Zustände sind also als integrale Charakteristika Óðinns zu verstehen, die auch innerhalb seiner magischen Praktiken begegnen. Wie bereits aufgezeigt, stehen wiederum Ruhelosigkeit und Kontrollverlust in der altnordischen Überlieferung dem Konzept ergi sehr nahe bzw. wird ergi als ein Auslöser für derartige Unruhezustände angesehen.402 Es ist also gut möglich, dass Loki Óðinns

400 Ls, Str. 24, Neckel; Kuhn, Edda, S. 101. 401 Vgl. Kapitel II 2.2.1. 402 Vgl. hierzu die Androhung von ergi oc œði in den Skírnismál (Skm, Str. 36, Neckel; Kuhn, Edda, S. 76), die Verwünschung mit einer Kombination von Unruhe („Sittu aldri, / sof þú aldri“/ „Sitz du niemals, / schlaf du niemals“) und übersteigerter Lust (ylgjar ergi ‚Wölfinnen-Geilheit‘) in

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Fähigkeit, sich in ekstatische Zustände zu versetzen, als „unmännlich“ bzw. „queer“ verhöhnt. Welche Lesarten der oben zitierten Strophe der Lokasenna auch immer man präferiert: Dass die Konnotation Óðinns mit ergi hier in Bezug zu den magischen Fähigkeiten und Praktiken des Gottes steht, ist offensichtlich.403 Gleiches gilt für das zweite wichtige Zeugnis der altnordischen Literatur, das explizit eine Assoziation Óðinns mit dem Konzept ergi erwähnt, das 7. Kapitel der Ynglinga saga. Dort wird bekanntermaßen mitgeteilt, dass Óðinn seiðr wirke, obwohl die Praxis dieser Magieform soviel ergi mit sich bringe, dass Männer sie nicht ausüben können, ohne Schande über sich zu bringen. Unproblematisch hingegen erscheint das Betreiben des seiðr für gyðjur – also Priesterinnen –, die in dieser Kunst sogar unterrichtet werden.404 Obschon er ein männlicher Gott ist, widmet sich Óðinn genau wie diese Ritualspezialistinnen der Praxis des seiðr, die offenbar für Uneingeweihte beiderlei Geschlechts einen Verstoß gegen die Geschlechterkonventionen mit sich bringt. In diesem Zeugnis wird Óðinn erneut mit weiblichen Ritualspezialisten assoziiert: Er scheint wie diese eine liminale Geschlechtsidentität, die gemäß altnordischen Vorstellungen als ergi charakterisiert werden kann, zu besitzen und seiðr daher problemlos ausüben zu können. Denkbar wäre auch, dass Óðinn zur Mehrung seines Wissens und seiner magischen Fähigkeiten bereit ist, im Gegenzug für das Erlernen von seiðr gewissermaßen seine Männlichkeit zu „opfern“ und mit ergi in Verbindung gebracht zu werden. Óðinns Abweichen von der Geschlechternorm, seine Konnotation mit ergi, könnte also erst im Austausch für die Kenntnis des seiðr zu einem Charakteristikum des Gottes geworden sein. Darüber hinaus fallen weitere Taten des Gottes unter die Kategorie ergi, obschon sie in den jeweiligen Quellen nicht explizit mit diesem Begriff belegt werden. Auch diese Zeugnisse wurden bereits im Verlauf der vorliegenden Arbeit vorgestellt, sollen im Zuge der Auswertung von Óðinns Bezug zu ergi jedoch erneut aufgegriffen werden. Insbesondere in der in Saxos Gesta Danorum wiedergegebenen Version der Rindr-Episode begeht Óðinn gleich mehrere Normverstöße: Die Gewaltanwendung in Form der Fesselung Rindrs, die Vergewaltigung der Prinzessin sowie sein aus altnordischer Sicht eindeutig als argr zu bezeichnendes Cross-Dressing und Auftreten in Frauenrolle. Saxos Version zufolge wird Óðinns/Othinus̕ Treiben von den anderen Göttern als moralisch verwerflich

der in Kapitel VIII 2.1 zitierten Bergener Zauberinschrift (zitiert nach von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 136 f.) sowie die gegen Grabfrevler gerichtete Formel arageu haermalausr („ruhelos durch ergi“) in der Inschrift des Björketorp-Steins (vgl. dazu McKinnell et al., Runes, S. 165 f.). 403 Zu diesem Ergebnis kommt auch Ármann Jakobsson: „The verse [Lks Str. 24, C. K.] is admittedly opaque. [. . .] What can be ascertained is that Óðinn is a sorcerer and thus, in a way that is not made quite clear to us, he is queer.“ (Ármann Jakobsson, Óðinn as mother, S. 10). 404 S. Hkr I, Yngl saga, Kap. 7, ÍF 26, S. 19: „En þessi fjǫlkynngi, er framið er, fylgir svá mikil ergi, at eigi þótti karlmǫnnum skammlaust við at fara, ok var gyðjunum kennd sú íþrótt.“

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verurteilt und führt zu dessen Ächtung.405 Als Óðinn nach Ablauf eines zehnjährigen Exils wieder rehabilitiert wird, sind einige Personen gerade aufgrund seiner Täuschungsmanöver und seines Agierens in weiblicher Rolle nicht mit dieser Entscheidung der Götter einverstanden.406 Dies legt nahe, dass es nicht (wie aus heutiger Sicht zu erwarten) in erster Linie die Vergewaltigung Rindrs ist, welche die Götter scharf verurteilen, sondern eben das eklatante Abweichen von den Geschlechternormen, welches Óðinn/Othinus durch seinen Transvestismus begangen hat. Vor dem Hintergrund altnordischer Geschlechterkonventionen erscheint das Cross-Dressing Óðinns/Othinus̕ dabei umso verwerflicher und wider sämtliche Tabus verstoßend, als es nicht nur zur Initiierung von Geschlechtsverkehr benutzt, sondern die Verkleidung womöglich auch während des Vollzugs des Geschlechtsakts nicht völlig abgelegt wird. Es kommt somit zu einer Verwischung der Geschlechtergrenzen: Óðinn bzw. Othinus weist auf dem Höhepunkt von Saxos Rindr-Episode in der Tat eine liminale Geschlechtsidentität auf, ist weder eindeutig Mann noch Frau. Für dieses Zeugnis lässt sich also eine klare Assoziation des Gottes mit ergi konstatieren. Ähnliches darf man sicherlich auch für die dieser Episode zugrundeliegende mythologische Begebenheit annehmen, bei welcher gemäß Kormákrs Skaldenstrophe „seið Yggr til Rindar“ zudem der Einsatz von seiðr eine wichtige Rolle gespielt haben dürfte.407 Óðinns Überschreiten der Geschlechtergrenzen ist im Kontext der Vergewaltigung Rindrs jedoch nicht in erster Linie mit dem magischen, sondern vielmehr mit dem regenerativen Potential des Gottes assoziiert: Gerade durch den Tabubruch in Form des Transvestismus, also der Vermischung weiblicher und männlicher Geschlechtspotenzen, wird Óðinns eigenes Geschlecht erweitert und gesteigert. Das auf diese Weise freigesetzte Machtpotential führt zur Zeugung eines Helden mit außergewöhnlichen Fähigkeiten.408 Ähnliches lässt sich auch für die Zeugung des Gottes Þórr postulieren, welcher der inzestuösen Verbindung Óðinns mit Jǫrð entspringt, die zugleich dessen Tochter und Frau ist.409 Demnach wird Óðinns Zeugungskraft innerhalb von zwei auf uns gekommenen mythischen Begebenheiten mit Inzest und somit einem drastischen Verstoß gegen die Geschlechterkonventionen (nicht nur) der altnordischen Normgesellschaft assoziiert.

405 S. Gesta Danorum, Lib. III, S. 72. 406 Ebd. 407 Letztlich kann also die Rindr-Episode generell als ein weiterer – wenn auch indirekter – Beleg für die Konnotation von seiðr und ergi gewertet werden. 408 Vgl. dazu Baumann, Das doppelte Geschlecht, S. 45: „Nun mehr sollen auch jene Sitten Erwähnung finden, bei denen offenbar eine Potenzierung des eigenen Geschlechts durch Übertragung von Merkmalen des anderen bewirkt wird [. . .]. Hierher gehört nun natürlich auch das so weitverbreitete, periodische Transvestitentum, das wir aber nur als eine, wenn auch auffälligste Ausdrucksform, würdigen können. Daneben gibt es zahllose magisch-religiöse Bräuche, bei denen Männliches und Weibliches auch jenseits der Tracht zur Gewinnung einer höheren, vorwiegend religiös-magisch bedingten, Einheit der Geschlechter zusammengelegt wird.“ 409 S. Gylf 9, Faulkes, SnE, S. 13.

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Die obigen Belege haben gezeigt, dass Óðinn in der altnordischen Überlieferung in erster Linie aufgrund seiner magischen Praktiken und insbesondere der Ausübung von seiðr mit ergi in Verbindung gebracht wird. Züge des Gottes wie seine Ortsunfestigkeit und seine Fähigkeit, sich in ekstatische Zustände zu begeben – ohnehin Eigenschaften, welche Óðinn als Schwellenwesen kennzeichnen –, rücken ihn zusätzlich in die Nähe von als Schwellenpersonen zu kategorisierenden weiblichen Ritualspezialisten, wie die vǫlur oder die gyðjur der Ynglinga saga. Die liminale geschlechtliche Identität Óðinns scheint also fest mit einem überwiegend (aber nicht ausschließlich) feminin konnotierten Teil seiner magischen Aktivitäten verbunden zu sein. Sie ist offenbar Teil eines Merkmalskomplexes, innerhalb dessen verschiedene liminale Eigenschaften wie Ortsunfestigkeit, Ekstasefähigkeit/ Kontrollverlust und eben auch das Abweichen von der Geschlechternorm miteinander verknüpft sind. Gleichzeitig konnte aufgezeigt werden, dass Óðinn ohne eine explizite Erwähnung des Begriffs, aber dennoch unmissverständlich mit ergi assoziiert wird, wenn es um sein regeneratives Potential und namentlich die Zeugung außergewöhnlicher Nachkommen geht. Hierbei mehrt der Gott seine geschlechtliche Potenz: Indem er das Inzesttabu durchbricht (Zeugung Þórrs) oder durch Cross-Dressing sowie einen temporären Geschlechtswandel (Rindr-Episode) männliches und weibliches Potential in sich vereint, erreicht er eine Steigerung seiner Wirkungsmächtigkeit. Dabei wird gerade durch das Überschreiten der sozialen Ordnung, das „Über den Gesetzen Stehen“410, volles Machtpotential entfaltet. Schöpfungskraft, magisches Potential und (sexuelle) Devianz widersprechen einander also nicht, sondern Letztere steigert vielmehr noch die erstgenannten Eigenschaften des Gottes: Trotz – oder gar wegen? – seiner Transgressionen ist Óðinn der Patriarch der altnordischen Überlieferung schlechthin – Alfǫðr, Vater aller Götter, Menschen und der im Kampf Gefallenen; gemeinsam mit seinen Brüdern Vili und Vé Schöpfer der Welt, auf den sich zahlreiche weltliche Völker und Fürstenhäuser als Ahnherren berufen.411 Óðinns magische Macht ist unbestritten, denn zugleich ist er auch „der Vater der Zauberei“ – galdrs faðir412. Ármann Jakobsson weist zu Recht darauf hin, dass für die Götter andere Regeln als für die Menschen gelten, weswegen Óðinn mit Tabubrüchen und sexueller Devianz „ungeschoren“ davonkommt: Getting away with it is what being a god is all about. For example, humans are not allowed to have sexual relations with their own gender or their own siblings or descendants, nor with sheep or cattle. On the other hand, Óðinn can be guilty of every kind of transgression. He can be female, he can be an animal, he can commit incest, and yet he retains his patriarch status and dignity. There seems to be an inherent contradiction in the existence of a god. A god who is queer is not queer. [. . .] Óðinn, though created, like gods often are, in our own image, is

410 Baumann, Das doppelte Geschlecht, S. 76. 411 Vgl. hierzu Ármann Jakobsson, Trollish Acts, S. 113. 412 S. Bdr, Str. 3, Neckel; Kuhn, Edda, S. 277.

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not human. He is a transcendental being, who may sometimes look like us but is essentially not like us in his transcendence.413

Schließlich werden in der Lokasenna nicht nur Óðinn, sondern allen Göttern ihre sexuellen Verfehlungen und Normverstöße zum Vorwurf gemacht: Njǫrðr hat mit seiner Schwester Kinder gezeugt, Heimdallr hat einen ‚schmutzigen‘ (aurgo) oder ‚unmännlichen‘/‚perversen‘ (ǫrgo) Rücken – was, je nach bevorzugter Lesart, als indirekte Anspielung oder sehr deutlicher Vorwurf von rezeptiver Homosexualität verstanden werden kann.414 Loki selbst hat sein Geschlecht gewechselt und/oder sich in ein weibliches Tier verwandelt und die Göttinnen sind praktisch alle promiskuitiv sowie weiterer Tabuverstöße schuldig: Frigg hat mit den Brüdern ihres Mannes geschlafen, Iðunn mit dem Mann, der ihren Bruder getötet hat, Gefjon war – 413 Ármann Jakobsson, Óðinn as mother, S. 13. 414 Die fragliche Stelle findet sich in Lks Str. 48 (s. Neckel; Kuhn, Edda, S. 106). Beide Varianten sind möglich, da die handschriftliche Lesart unterschiedlich gedeutet werden kann (vgl. von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 479). Allerdings sei laut von See et al. ein „Zusammenhang zwischen Wächter-Funktion und dem Vorwurf der Perversität schwer nachvollziehbar“ (ebd, S. 480). Dabei passt eine solche Schmähung durchaus in Lokis Spottgedicht: Wenn gerade der berühmte Wächter der Götter nicht in der Lage ist, gewissermaßen auf sein eigenes Hinterteil – und damit gemäß altnordischer Auffassung seine Ehre – aufzupassen, dann ist dies eine höhnische Spitze, die Lokis mehr als würdig ist. Der Vorwurf von ergi beinhaltet für einen Mann ja insbesondere, eine passive Rolle (auch konkret in einem homosexuellen Geschlechtsakt) einzunehmen und geht mit einem Kontrollverlust einher – für einen Wächter beides keine sehr guten Voraussetzungen. Man vergleiche hierzu auch die in Kapitel VIII 2.4 vorgestellte Passage des Ǫlkofra þáttr, in welcher Guðmundr Eyjólfsson nach ganz ähnlichem Prinzip von Ǫlkofri verspottet wird: „Efna skal þat, eða ætla þú, Guðmundr, at verja mér skarðit? Allmjǫk eru þér þá mislagðar hendr, ef þú varðar mér Ljósavatnaskarð, svá at ék mega þar eigi fara með fǫrunautum mínum, en þú varðar þat eigi it litla skarðit, sem er í milli þjóa þér, svá at ámælislaust sé.“ (Ǫlk, Kap. 4, ÍF 11, S. 94) / „Das werde ich durchführen, oder willst du, Guðmundr, mir den Zugang zum Pass verwehren? Da handelst du sehr verkehrt, wenn du den Ljósavatnapass gegen mich verteidigst, so dass ich nicht mit meinen Begleitern dort passieren kann, aber nicht die kleine Spalte zwischen deinen Arschbacken verteidigst, so dass es tadellos wäre.“ Zudem könnte ein Wortspiel mit der Doppelbedeutung ‚schmutziger Rücken‘ / ‚Rücken eines unmännlichen Mannes‘ in der betreffenden Strophe bewusst intendiert sein: Da Heimdallr als Wächter der Götter „bei Wind und Wetter seinen Dienst versieht“ (von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 479) ist sein Rücken schmutzig – er hat sozusagen eine „Wetterseite“. Zugleich bemerkt er – so womöglich Lokis spöttische Implikation und Kritik an Heimdallrs Fungieren als Wächter – nicht, was hinter seinem Rücken vorgeht und wäre so gewissermaßen ungeschützt vor sexuellen Übergriffen, was wiederum moralisch verwerflich und „schmutzig“ wäre. Für Ármann Jakobsson ist die Bedeutung von Lokis Vorwurf an Heimdallr hingegen eindeutig: „whichever is the right reading, sodomy seems to be involved“ (Ármann Jakobsson, Trollish Acts, S. 115). Zur Wächter-Funktion Heimdallrs und der fraglichen Passage in der Lokasenna vgl. insbesondere auch Cöllen, Heimdallr, S. 221 − 246. Cöllen geht davon aus, dass Heimdallrs Rolle als vǫrðr goða („Wächter der Götter“) in älterer Zeit eher die eines Beschützers und Verteidigers der Götter ohne die „pejorativen Aspekte, die dem Begriff des Wächters innewohnen“ (ebd., S. 273) gewesen sein dürfte. Möglicherweise werde in der Lokasenna mit der Doppelbedeutung von vǫrðr – einerseits ‚Wächter‘, andererseits ‚Beschützer‘ – bewusst gespielt, um Heimdallr herabzusetzen (vgl. ebd.).

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offenbar im Austausch für ein Geschmeide – mit einem nicht näher genannten Jüngling intim und Freyja, die „Schlimmste“ von allen, hatte nicht nur mit allen anwesenden Asen und Alben, sondern auch mit ihrem Bruder Freyr Sex.415 Eine mögliche Deutung dieses Eddaliedes ist, dass die Götter dürfen, was den Menschen nicht erlaubt ist416 – gewissermaßen „quod licet Iovi, non licet bovi“. Auch Óðinns ergi, seine Missachtung der Geschlechtergrenzen und des Inzesttabus, sind vor diesem Hintergrund zu interpretieren: Für ihn gelten keine menschlichen moralischen Maßstäbe – und wenn man diese auf die Götter anwendet, ist das Resultat Satire. Britt Solli versteht Óðinn auf Basis der queer theory als einen Gott, der in Richtung Androgynität tendiert.417 Ich möchte mich jedoch Schjødt anschließen, der der Meinung ist, dass diese Interpretation zu weit geht.418 Óðinn ist vielmehr ein Gott, welcher mehr als alle anderen in der Lage ist, liminale Züge in sich zu vereinen; der das unkontrollierte, mit dem Weiblichen und Animalischen assoziierte útgarðr-Potential und geheimes Wissen für die miðgarðr-Sphäre nutzbar machen und Geschlechternormen brechen kann – ein Grenzgänger par excellence: Óðinn does not tend toward androgyny. He is a thoroughly masculine figure in the same way as he is not dead because he has sacrificed himself and has visited the dead, and in the same way he is not chthonic because he visits the underworld. [. . .] Óðinn’s status has to do with the fact that, to a greater extent than other gods and to a greater degree than human magiciens, he can include everything that characterises the liminal, and he can use it for certain purposes.419

Óðinns geschlechtliche Liminalität ist also Teil seiner Eigenschaften als göttliches Schwellenwesen – kein Zeichen von Schwäche, sondern vielmehr ein Quell seiner Macht.

4.2 Frauen 4.2.1 Menschliche weibliche seiðr-Praktizierende Hinsichtlich einer Konnotation weiblicher menschlicher seiðr-Praktizierender mit ergi ist in der altnordischen Literatur eine ähnliche, ja sogar noch größere Leerstelle zu verzeichnen als dies bei ihren männlichen Gegenstücken der Fall ist: Keine einzige seiðkona oder vǫlva wird explizit als ǫrg bezeichnet. Um zum ergi-Komplex gehörige 415 Vgl. hierzu Ármann Jakobsson, Trollish Acts, S. 115. 416 So auch Ármann Jakobsson, Trollish Acts, S. 115: „[. . .] one way to understand Lokasenna could be that human morals do not apply to the gods; they can do as they wish. [. . .] human morals have nothing to do with the gods. They are above them.“ 417 S. Solli, Seid, S. 166: „Odin-skikkelsen forkroppsliger en androgynitet som tenderer mot „det skeive“.“ 418 Vgl. Schjødt, Initiation, S. 453. 419 Ebd.

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Merkmale bei seiðr-praktizierenden Frauen identifizieren zu können, gilt es also erneut, die Darstellung der entsprechenden Figuren in der altnordischen Literatur auf Elemente hin zu untersuchen, welche in das Bedeutungsspektrum von ergi fallen und somit als von der Norm abweichendes Sexualverhalten zu klassifizieren wären: Dabei wird bei weiblichen Figuren insbesondere auf Hinweise für ein gesteigertes sexuelles Verlangen, sexuelle Freizügigkeit, Promiskuität, Prostitution sowie Inzest zu achten sein. Anhand der vorgenannten Kriterien wird eine Verbindung weiblicher seiðrPraktizierender mit ergi noch am ehesten in der schon in Kapitel VI 2.1 besprochenen Passage der Vǫlsunga saga greifbar: Dort tauscht Signý die Gestalt mit einer seiðkona und sucht in dieser Verwandlung ihren Zwillingsbruder Sigmundr auf, um mit diesem ein Kind zeugen zu können, das an König Siggeir Rache für die Ermordung der gesamten Völsungen-Familie nehmen soll. Zur Erinnerung sei die betreffende Episode an dieser Stelle noch einmal wiedergegeben: Þess er nu vid getid eitthvert sinn, þa er Signy sat i skemmu sinne, at þar kom til hennar ein seidkona fiolkunnig harla miok. Þa talar Signy vid hana: „Þat villda ek,“ segir hun, „at vid skiptum homum.“ Hun segir seidkonan: „Þu skallt fyrir rada.“ Ok nu giorir hun sva af sinum brogdum, at þer skipta litum, ok sezt seidkonan nu i rum Signyiar at radi hennar og féR i rekkiu hia konungi um kvelldit, ok ecki finnr hann, at eigi se Signy hia honum. Nu er þat fra Signyiu at segia, at hun féR til iardhuss brodurs sins ok bidr hann veita ser herbergi um nottina [. . .]. Nu féR hun i herbergi til hans, ok setiazt til matar. Honum vard opt litid til hennar, ok lizt konan vęn ok frid. Enn er þau eru mett, þa segir hann henni, at hann vill, at þau hafe eina reckiu um nottina, enn hun bryzt ecki vid þvi, ok leggr hann hana hia ser III nętr samt.420 Das wird nun berichtet, dass einmal, als Signý in ihrem Gemach saß, eine äußerst zauberkundige Zauberin [seiðkona] zu ihr kam. Da sagte Signý zu ihr: „Ich wollte“, sagt sie, „dass wir die Gestalt tauschen.“ Die Zauberin [seiðkona] sagt: „Du sollst darüber bestimmen.“ Und nun bringt sie es so mit ihren Zauberkünsten zustande, dass sie das Aussehen wechseln, und die Zauberin [seiðkona] setzt sich auf Signýs Rat hin auf deren Platz und geht am Abend mit dem König zu Bett, und er merkt nicht, dass nicht Signý bei ihm ist. Nun ist von Signý zu erzählen, dass sie zum Erdhaus ihres Bruders geht und ihn bittet, ihr Unterkunft für die Nacht zu gewähren [. . .]. Nun geht sie mit ihm in seine Wohnstätte und sie setzen sich zum Essen. Sein Blick fiel oft auf sie, und die Frau erschien ihm schön und stattlich. Und als sie satt sind, da sagt er ihr, dass er will, dass sie das Lager in der Nacht miteinander teilen, und sie widersetzt sich dem nicht, und er schläft insgesamt drei Nächte mit ihr.

Freilich ist es nicht die seiðkona selbst, die hier einen Tabubruch begeht, sondern Signý. Jedoch wird der Inzest erst durch den Gestalttausch der beiden Frauen ermöglicht, wobei dieser – wie man anhand der Bezeichnung der Magikerin als seiðkona folgern kann – mittels seiðr bewirkt wird. Die seiðkona und ihr Zauber stehen in der oben zitierten Passage somit eindeutig im Kontext von Inzest – also einer drastischen Überschreitung gesellschaftlich akzeptierten Sexualverhaltens, die aus altnordischer

420 Vǫls, Kap. 7, STUAGNL 36, S. 13 f.

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Sicht klar unter die Kategorie ergi fallen würde. Sexualität spielt bei dem Gestalttausch der beiden Frauen auch abseits des Inzests eine wichtige Rolle: Immerhin ist die Zauberin sofort bereit, sich auf Signýs Ansinnen einzulassen und an deren Stelle das Bett mit Signýs Ehemann, König Siggeir, zu teilen. Obgleich offengelassen wird, was sich zwischen dem König und der verwandelten seiðkona des Nächtens abspielt, schöpft Siggeir zumindest keinen Verdacht, dass eine andere Frau als Signý bei ihm liegen könnte. Der in dieser Episode figurierenden seiðkona kann demnach zweifellos sexuelle Aufgeschlossenheit attestiert werden; zudem schreckt sie nicht einmal davor zurück, mit ihrem Zauber Inzest zu ermöglichen.421 Eine dämonisch verzerrte erotische Komponente beinhaltet auch der von einer weiblichen seiðr-Praktizierenden herbeigeführte Tod König Vanlandis in der Ynglinga saga, der im Schlaf von einer mara – einem nächtlich erscheinenden Druckgeist – umgebracht wird.422 Dabei beinhaltet die Heimsuchung durch Mahre schon per se ein gewisses erotisches Element, da deren Opfer in der Regel von einem Druckgeist des jeweils anderen Geschlechts attackiert werden. In Verbindung damit, dass sich der Mahr im Schlaf auf sein Opfer setzt und es niederdrückt, ist eine erotische Konnotation dieser dämonischen Wesenheiten unverkennbar. Wie bereits in Kapitel VI 4.1 dargelegt, bildet nun der seiðr der Hulð aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur den Auslöser für die Attacke der mara, sondern es dürfte sich bei dieser Wesenheit vielmehr um eine Manifestation der losgelösten Freiseele der seiðr-Praktizierenden handeln. Hulð würde Vanlandi folglich in Gestalt der mara selbst töten.423 Demnach steht in dieser Episode eine seiðr-praktizierende Frau in enger Verbindung mit dem Erscheinen eines erotisch stark aufgeladenen, todbringenden Druckdämons – wahrscheinlich ist sie sogar mit diesem identisch. Zwar kann dies nur als indirekter Beleg für eine Konnotation weiblicher seiðr-Praktizierender mit ergi gewertet werden, dennoch lässt sich immerhin konstatieren, dass die zügellose weibliche Sexualität, für welche die mara steht, in dieser Episode den Kontrollverlust (in Form eines unwiderstehlichen Schlafbedürfnisses) und schließlich sogar den Tod eines Mannes auszulösen vermag. Der Angriff der mara bzw. diese dämonische Wesenheit selbst weist also ein wichtiges Charakteristikum von ergi auf – nämlich unkontrollierbare weibliche Lust. Da das Erscheinen der mara wiederum durch das magische Wirken der seiðkona herbeigeführt wird bzw. die mara eine Manifestation der Seele der seiðkona selbst ist, kann diese Episode durchaus als Beleg für eine Konnotation weiblicher seiðr-Praktizierender mit ergi herangezogen werden.

421 Dass Signý – nun mit dem äußeren Erscheinungsbild der seiðkona – ihrem Bruder erzählt, sie habe sich im Wald verlaufen („þviat ek hefi villzt a skoginum ute, ok veit ek eigi, hvar ek feR“ / „weil ich mich im Wald draußen verirrt habe und nicht weiß, wohin ich gehe“ (Vǫls, Kap. 7, STUAGNL 36, S. 13)), weist zudem Anklänge von Ortsunfestigkeit und in die Irregehen auf, was beides in der altnordischen Vorstellungswelt eng mit dem ergi-Komplex verknüpft ist. 422 S. Hkr I, Yngl saga, Kap. 13, ÍF 26, S. 28 f. 423 Vgl. Strömbäck, mara, S. 282.

4 Die Darstellung seiðr-Praktizierender im Hinblick auf geschlechtliche Liminalität

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Neben der Analyse der vorgenannten Zeugnisse ließe sich auch noch ein Blick auf Familienstand und Sexualität seiðr-praktizierender Frauen werfen, um Rückschlüsse auf eine etwaige Konnotation dieser Figuren mit ergi zu ziehen. Da die altnordische Literatur, insbesondere die Isländer- und Königssagas, insgesamt in Bezug auf Sexualität und Erotik recht zurückhaltend sind424 und die seiðr-Praktizierenden zudem als Nebenfiguren in der Regel keine besonders detaillierte Beschreibung erfahren, finden sich nicht eben viele Aussagen zu diesen beiden Aspekten innerhalb der Darstellung seiðr-betreibender Frauen. Wo überhaupt Angaben über den Familienstand weiblicher seiðr-Praktizierender gemacht werden, zeigt sich ein heterogenes Bild, weil innerhalb dieses Personenkreises sowohl verheiratete als auch alleinstehende Frauen zu finden sind. Außerdem lassen sich aus diesen Erwähnungen keine Muster ableiten, wie etwa, dass mit destruktivem Zauber assoziierte seiðr-Wirkerinnen eher alleinstehend wären und somit ohnehin tendenziell außerhalb der Ordnungsstruktur der Normgesellschaft stehen würden, oder dass wohlmeinende seiðr-praktizierende Frauen häufiger verheiratet und in die Gesellschaft integriert wären: Gerade Gríma, die mit ihrer Familie in der Laxdœla saga seiðr als todbringenden Schadenszauber betreibt, hat einen Ehemann und ist Mutter zweier Söhne425 – nichts an ihrem Familienstand verweist auf eine Konnotation dieser seiðkona mit ergi. Die in positivem Licht dargestellte Landnehmerin Þuríðr sundafyllir hat ebenfalls einen Sohn, anhand dessen Namen, Vǫlu-Steinn, sich die Profession seiner Mutter ablesen lässt.426 Weitere Aussagen über den Familienstand oder die Sexualität dieser seiðr-Wirkerin werden in der Landnámabók allerdings nicht gemacht. Als laszive Magikerinnen erscheinen innerhalb der Sagaliteratur lediglich Katla in der Eyrbyggja saga (alleinstehend) sowie die zauberkundige (verheiratete) Königin Gunnhildr, welche in verschiedenen Isländer- und Königssagas figuriert. Beide Frauen werden als schön und attraktiv beschrieben, jedoch zugleich als skrupellos und von Begehren nach (insbesondere jungen) Männern getrieben.427 Allerdings werden Katlas magische Praktiken nicht als seiðr bezeichnet, weswegen sie nicht als Beispiel für eine Assoziation seiðr-betreibender Frauen mit von der Norm abweichendem Sexualverhalten herangezogen werden kann. Königin Gunnhildr lässt immerhin gegen Egill seiðr wirken und weist somit zumindest eine indirekte Verbindung mit seiðr auf. Katla und Königin Gunnhildr sind jedoch als Ausnahmefiguren zu werten, da die restli-

424 Vgl. Heizmann, Gefjon, S. 202, Anm. 21. 425 S. Laxd, Kap. 35, ÍF 5, S. 95. Allerdings kann Gríma, da ihre Familie erst kürzlich von den Hebriden nach Island gekommen ist, nicht auf eine lange Genealogie und somit starke Verwurzelung in der altisländischen Gesellschaft zurückgreifen, ist also auch abseits ihrer Schadensmagie keine gut in die Gesellschaft integrierte Person. 426 S. Ldn, S. 83. 427 Vgl. hierzu die detaillierte Besprechung in Dillmann, Magiciens, S. 435–439 mit entsprechenden Belegstellen.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

chen Magikerinnen der Sagaliteratur in Hinblick auf Familienstand und Sexualverhalten keine Abweichungen von den Normvorstellungen der altnordischen Gesellschaft aufweisen, was gleichermaßen für die Unterkategorie der seiðr-praktizierenden Frauen zu konstatieren ist.428 Nun gilt es noch die Frage zu beantworten, inwieweit die vǫlur als spezielle Gruppe innerhalb der weiblichen seiðr-Praktizierenden in der altnordischen Literatur mit ergi assoziiert werden, da diese – wie bereits in Kapitel VII 2.2 dargelegt – ja aufgrund ihrer rituell bedingten Ortsunfestigkeit den mit sexueller Freizügigkeit und Prostitution konnotierten faranda konur sehr nahestehen. Dabei lässt sich das oben gezogene Fazit auch auf die vǫlur ausweiten: Auf den ersten Blick fallen diese Frauen nicht durch deviantes Sexualverhalten auf. Was ihren Familienstand angeht, erweist sich die Darstellung der vǫlur als ebenso divers wie die der übrigen seiðr-Praktizierenden. Neben der bereits genannten Þuríðr sundafyllir, die zwar einen Sohn hat, zu deren Familienstand jedoch keine Angaben gemacht werden, verrät das Beispiel der in der Kormáks saga figurierenden Þórdís spákona, dass eine vǫlva durchaus verheiratet und respektiertes Mitglied der Gesellschaft sein kann: Þórdís hat einen Ehemann429 und ist zudem sesshaft430. Allerdings ist ihre Charakterisierung zwiespältig: So genießt sie einerseits großes soziales Ansehen, nimmt mit ihrem Mann am Bezirksthing teil und ihre Nähe wird als beruhigend und schützend empfunden,431 zugleich wird sie jedoch mit einer äußerst negativen Beschreibung in die Saga eingeführt („Kona hét Þórdís og illa lynd“432/ „Eine Frau hieß Þórdís und war von übler Wesensart“). Des Weiteren tituliert Þórðr sie wenig später als vánda fordæða („böse Hexe“) und fjandi („Teufel“).433

428 Vgl. hierzu Dillmann, Magiciens, S. 439: „Ainsi, loin de constituer en la matière l’archétype de la sorcière islandaise, le personnage de Katla dans l’Eyrbyggja saga fait figure d’exception. Sa singularité contribue en définitive à souligner l’absence de tout trait saillant dans la peinture du comportement des autres magiciennes d’Islande: dans leur vie intime, ces femmes, qui passaient le plus souvent pour des épouses fidèles ou pour de veuves soucieuses des intérêts et de la respectabilité de leurs enfants, ne se conduisaient pas d’une manière qui aurait pu trancher sur les mœurs de leur contemporaines.“ 429 S. Korm, Kap. 22, ÍF 8, S. 282: „Maðr hét Þórólfr, er bjó undir Spákonufelli; hann átti Þórdísi spákonu [. . .].“ / „Ein Mann hieß Þórólfr, er wohnte unterhalb des Spákonufell [Seherinnen-Berg]; er war mit Þórdís spákona verheiratet [. . .].“ 430 S. Korm, Kap. 9, ÍF 8, S. 233: „hún bjó að Spákonufelli á Skagaströnd“ / „sie wohnte beim Spákonufell [Seherinnen-Berg] am Skagaströnd“. 431 S. Korm, Kap 22, ÍF 8, S. 282: „Maðr hét Þórólfr [. . .] hann átti Þórdísi spákonu, sem fyrr var getit; þau váru þár á leiðinni; þóttusk margir þar traust mikit eiga, er hon var.“ / „Ein Mann hieß Þórólfr [. . .] er war mit Þórdís spákona verheiratet, wie zuvor berichtet wurde; sie waren dort auf dem Bezirksthing; es schien vielen Leuten dort sehr sicher zu sein, wo sie war.“ 432 S. Korm, Kap. 9, ÍF 8, S. 233. 433 S. ebd. Man beachte allerdings, dass Þórdís spákona im Gegensatz zu den übrigen in diesem Abschnitt vorgestellten vǫlur zwar als vǫlva bezeichnet, aber nicht explizit mit der Ausübung von seiðr assoziiert wird.

4 Die Darstellung seiðr-Praktizierender im Hinblick auf geschlechtliche Liminalität

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Der verheirateten vǫlva steht die Figur der solitären Seherin gegenüber, welche von Hof zu Hof zieht und im Rahmen von Gastmählern ihre Divination betreibt. Beispiele hierfür sind u. a. Þorbjǫrg lítil-vǫlva in der Eiríks saga rauða434, Heiðr in der Ǫrvar-Odds saga435 oder die zauberkundige Samin in der Vatnsdœla saga436, auf deren magische Praktiken jeweils mit dem Begriff seiðr Bezug genommen wird. Diese Seherinnen erscheinen zumindest im Zuge ihrer rituellen Tätigkeit als außerhalb der patriarchalischen Strukturen der altnordischen Gesellschaft stehende Figuren, die einem Kollektiv von Frauen angehören können (Þorbjǫrgs Neunschar von Schwestern) und sich mit rein weiblichen (Þorbjǫrgs aus der Hofgemeinschaft rekrutierte Helferinnen) oder allenfalls jugendlichen Ritualhelfern (Heiðrs Entourage) umgeben, jedoch nicht an einen Mann gebunden sind. Allerdings lassen sich innerhalb der Darstellung dieser weltlichen vǫlur keinerlei Elemente ausmachen, die auf eine Konnotation mit ergi hinweisen würden, obschon man dies ob ihrer Ähnlichkeit mit den faranda konur annehmen könnte. Es fällt indessen auf, dass die vǫlva innerhalb der eddischen Dichtung (insbesondere in Liedern mythologischen Inhalts) oftmals stark sexualisiert und mit ergi konnotiert wird. So verhöhnt Sinfjǫtli in der Helgakviða Hundingsbana in fyrri Guðmundr vor dem Kampf in typischer níð-Manier damit, dass dieser eine ränkeschmiedende vǫlva gewesen sei und ihn, Sinfjǫtli, sexuell begehrt habe.437 Die vǫlva repräsentiert in diesem provozierenden Vergleich eindeutig ergi in Form von weiblicher Lüsternheit, die sich nicht kontrollieren lässt. Das zeigt auch Guðmundrs Konter auf diese Verunglimpfung, der im Gegenzug behauptet, Sinfjǫtli wäre die Braut des Hengstes Grani, also eine Stute gewesen und in dieser Verwandlung von Guðmundr geritten worden:438 Die Lust der vǫlva steht hier analog zu der gerittenen Stute für das Animalische, Unkontrollierte, Triebhafte. Eine Konnotation mit sexueller Freizügigkeit lässt sich auch in Bezug auf eine göttliche Seherin, nämlich Gefjon, feststellen. Bereits in Kapitel VI 3.2 wurde festgehalten, dass Gefjon bisweilen als eine Hypostase Freyjas gedeutet wird, womit auch sie als seiðr-Wirkende gelten könnte. In der Lokasenna sind Gefjon und Freyja aber zwei verschiedene Personen. Dort ist zwar weder von seiðr die Rede, noch wird Gefjon als vǫlva bezeichnet, jedoch verteidigt Óðinn sie Loki gegenüber mit dem Verweis auf ihr prophetisches Wissen, welches dem seinen gleich käme: Œrr ertu, Loki, oc ørviti, er þú fær þér Gefion at gremi,

434 435 436 437 438

S. Eir, Kap. 4, ÍF 4, S. 206. S. Ǫrv, Kap. 2, S. 7–10. S. Vatn, Kap. 10, ÍF 8, S. 28 f. HH I, Str. 37, Neckel; Kuhn, Edda, S. 136. Vgl. hierzu Kapitel VIII 2.4. S. HH I, Str. 42, Neckel; Kuhn, Edda, S. 136.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

þvíat aldar ørlǫg hygg ec at hon ǫll um viti iafingorla sem ec.439 Verrückt bist du, Loki und von Sinnen, wenn du dir Gefjon in Zorn bringst, denn der Welt Schicksale, mein ich, weiß sie alle eben so wie ich.440

Zuvor hatte Loki Gefjon vorgehalten, dass sie mit einem nicht näher identifizierten „weißen Jungen“ (sveinn inn hvíti)441 intim gewesen sei und er ihr dafür Schmuck 439 Ls, Str. 21, Neckel; Kuhn, Edda, S. 100. 440 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder der Edda, S. 149. 441 Das Ephiteton hvítr ‚weiß‘ wird oftmals für die Hautfarbe sowohl von Männern als auch von Frauen verwendet (vgl. von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 422). Hinsichtlich der Identität von Gefjons Liebhaber sind mehrere Deutungen möglich: Aufgrund der Betonung seiner hellen Hautfarbe bzw. des „Weißen“ des Jungen könnte es sich um einen der Alben handeln, da sich das altnordische álfr – analog zum lateinischen Adjektiv albus ‚weiß‘ – von der indogermanischen Wurzel *albh ‚glänzen‘, ‚weiß sein‘ ableiten lässt (vgl. de Vries, Etym. Wörterbuch, S. 5 f.). Diese Etymologie entspricht dem, was Snorri über das Aussehen der Gruppe von Alben berichtet, die er als ljósálfar (‚Lichtalben‘) bezeichnet: Sie sind schöner als die Sonne und bewohnen einen Ort namens Álfheimr („Sá er einn staðr þar, er kallaðr er Álfheimr; þar byggvir fólk þat, er ljósálfar heita [. . .]. Ljósálfar eru fegri en sól sýnum.“ (Gylf 17, Faulkes, SnE, S. 19) / „Es gibt dort einen Ort, der Álfheimr genannt wird; dort lebt das Volk, das Lichtalben heißt [. . .]. Die Lichtalben sind schöner als das Angesicht der Sonne.“). Eine Handschrift der Snorra Edda verwendet das Adjektiv ‚weißer‘ anstatt ‚schöner‘, was die Verbindung der Alben zu Licht noch deutlicher unterstreicht (vgl. dazu Motz, Lotte: „Of Elves and Dwarfs“, in: Arv, 29–30, 1973–1974, S. 96). Mit dem „weißen Jungen“ könnte jedoch auch der Gott Heimdallr gemeint sein, der in der Þrymskviða als hvítastr ása („der weißeste der Asen“) bezeichnet wird (s. Þrk, Str. 15, Neckel; Kuhn, Edda, S. 113). Es läge dann möglicherweise eine Anspielung auf den Raub des Brísingamen vor, welches Heimdallr von Loki gemäß der Haustlǫng im Kampf zurückerobert hat. Es wird jedoch an keiner anderen Stelle der altnordischen Überlieferung erwähnt, dass Heimdallr das Schmuckstück seiner Besitzerin zurückbringt. Diese Interpretation würde zudem eine Identität der Göttinnen Freyja und Gefjon voraussetzen, die zwar möglich ist, gerade im Kontext der Lokasenna jedoch Schwierigkeiten bereitet, da hier Gefjon und Freyja klar voneinander unterschieden werden. Ursula Dronke favorisiert dennoch die Deutung des sveinn inn hvíti als Anspielung auf Heimdallr (vgl. Dronke, Poetic Edda, Bd. 2, S. 360 f.). Überaus interessant im Kontext der geschlechtlichen Liminalität ist zudem, dass sveinn inn hvíti im Altnordischen auch als eine Verunglimpfung betrachtet werden kann, da das Adjektiv hvítr, wenn es auf einen Mann bezogen wird, im übertragenen Sinne ‚weich‘, ‚feige‘ bedeutet. So bezeichnet der Dichter Bjǫrn hitdœlakappi seinen Nebenbuhler Þorðr in seinen lausavísur (3 und 9) als sveinn inn hvíti (s. Skj Bd. B I, S. 277f.), was die vorgenannte pejorative Bedeutung hat. Auch in der Laxdœla saga wird hvítr als Vorwurf der Unmännlichkeit und Feigheit – also von ergi – von Þorðr in Bezug auf Kjartan verwendet: „hann mælti jafnan illa tils hans ok kvað hann verit hafa hvítan mann ok huglausan“ (Laxd, Kap. 52, ÍF 5, S. 160) / „er sprach viel Schlechtes über ihn und sagte, er sei ein ‚weißer‘ [verweichlichter?] und mutloser Mann gewesen“ (vgl. hierzu von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 422). Falls sich hinter sveinn inn hvíti wirklich der Gott Heimdallr verbirgt, wäre auch zu überlegen, ob nicht Lokis Spott gegenüber Heimdallr in der Lokasenna noch ein zusätzliches Spiel mit Doppelbedeutungen beinhaltet: Ausgerechnet Heimdallr, dem laut Þrymskviða hvítastr ása, attestiert Loki einen schmutzigen oder unmännlichen/perversen Rücken – vielleicht gerade weil dessen Umschreibung als

4 Die Darstellung seiðr-Praktizierender im Hinblick auf geschlechtliche Liminalität

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gegeben habe, was sich recht eindeutig nach einer Bezahlung für Gefjons sexuelle Dienste anhört: Þegi þú, Gefion! þess mun ec nú geta, er þic glappi at geði: sveinn inn hvíti, er þér sigli gaf, oc þú lagði lær yfir.442 Schweig du, Gefjon! den werde ich nun erwähnen, der dir den Sinn verwirrte: der weiße Junge, der dir den Schmuck gab, und über [den] du [deine] Schenkel legtest.443

Auch andernorts wird Gefjon mit sexueller Freizügigkeit und Prostitution in Verbindung gebracht: Zu Beginn der Gylfaginning tritt sie als farandi kona in Erscheinung und erhält für die „Vergnügungen“ (skemtunar), welche sie König Gylfi bereitet, von diesem ein Stück Land, was zur Lospflügung der Insel Seeland führt.444 Am Beispiel Gefjons als mythischer Seherin wird also eine Assoziation zukunftskundiger Frauen mit ergi in Form von sexueller Freizügigkeit und Prostitution ersichtlich. In seinem Beitrag „The Norse prophetess and the ritually induced prostitution“ vertritt Vilhelm Kiil die These, die vǫlur würden eine Form sakraler Prostitution ausüben.445 Obschon diese Annahme sicherlich über das Ziel hinausschießt, lässt es sich nicht von der Hand weisen, dass die vǫlur zumindest in der eddischen Dichtung zweifellos mit unkontrollierter Lust, freizügiger Sexualität und Prostitution in Verbindung gebracht werden. Wenngleich dies innerhalb der Darstellung ihrer weltlichen Pendants nicht greifbar wird, stellt sich die Frage, ob wir es bei den irdischen vǫlur zwar nicht unbedingt mit ergi im Sinne von Promiskuität, gesteigertem sexuellen Verlangen oder Prostitution, aber dennoch mit einer Überschreitung der Geschlechtergrenzen zu tun haben. Diese könnte mit den bei den Schildmaiden und meykóngar zu beobachtenden Normverstößen vergleichbar sein: Die Abweichung von den Geschlechterkonventionen bestünde im Fall der vǫlur dementsprechend darin, dass es sich auch bei ihnen (zumindest im Kontext ihrer rituellen Tätigkeiten) um unabhängige und ungebundene Frauen handelt, die außerhalb der Normgesellschaft stehen. Sie wären also in ihrer Eigenschaft als Ritualspezialistinnen den patriarchalischen

„weißester der Asen“ böswilligerweise zugleich als ‚weich‘ und ‚feige‘ gedeutet werden kann und damit Raum für eine Assoziation Heimdallrs mit dem ganzen Bedeutungsspektrum von ergi bietet (vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel VIII, Anmerkung 414). 442 Ls, Str. 20, Neckel; Kuhn, Edda, S. 100. 443 Übersetzung nach von See et al., Kommentar, Bd. 2, S. 420. 444 S. Gylf 1, Faulkes, SnE, S. 7. 445 S. Kiil, Norse Prophetess, S. 160: „In Scandinavia this partly ritually induced prostitution was practised by the professional sibyls, ON vǫlur.“

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

Strukturen der altnordischen Gesellschaft und somit der Kontrolle durch einen Mann (Vater, Bruder, Ehemann, Vormund) enthoben. Hier würde letztlich eine ähnliche gedankliche Konzeption zugrundeliegen wie dem Bedeutungsgehalt von ‚Jungfräulichkeit‘ im mythologischen Bereich, mit dem eher auf eine (sexuell) autarke Frau als eine Jungfrau im physiologischen Sinne abgezielt wird. Vielleicht darf man auch die jungfräulich verstorbenen Dienerinnen der Gefjon – der nun wahrlich nicht als virgo intacta zu betrachtenden göttlichen mær – nicht im Wortsinn als Jungfrauen, sondern vielmehr als unverheiratet und ungebunden verstehen. Solche Frauen machen sich ob ihrer Unabhängigkeit verdächtig, auch im sexuellen Bereich die Strukturen der Normgesellschaft zu durchbrechen;446 ganz ähnlich wie die faranda konur, welche – sozusagen auf der Kehrseite der Medaille – durch die fehlende Verbindung zu einem Mann keinen gesetzlichen Schutz vor sexuellen Übergriffen erfahren. Die geschlechtliche Liminalität seiðr-praktizierender Frauen, ihr sexuelles Abweichen von der Norm liegt also möglicherweise wie auch bei seiðr-praktizierenden Männern in ihrer Funktion als Ritualspezialistinnen begründet, und könnte mit der Unabhängigkeit zusammenhängen, welche sie innerhalb dieser Rolle erfahren. Unkontrollierte und unkontrollierbare Weiblichkeit bzw. weibliche Sexualität bilden ein Kernelement des ergi-Komplexes – gut möglich, dass es gerade die Verbindung zwischen autarkem Handeln und Zaubermacht war, welche weibliche seiðr-Praktizierende, insbesondere in ihrer Erscheinungsform als vǫlur, nach in der altnordischen Gesellschaft gängigen Vorstellungen mit geschlechtlicher Liminalität in Verbindung brachte. 4.2.2 Mythologisch – Freyja Im Gegensatz zu ihren weltlichen Entsprechungen, deren Konnotation mit ergi nur indirekt erschließbar ist, weist Freyja als weibliche seiðr-Meisterin des altnordischen Pantheons alle Merkmale auf, welche in Bezug auf Frauen unter die Kategorie ergi fallen – obschon auch sie nicht explizit als ǫrg bezeichnet wird. Ich fasse die entsprechenden Belege, die im Verlauf der vorliegenden Untersuchung bereits verschiedentlich zur Analyse herangezogen wurden, im Folgenden zusammen. 446 Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang Anke Bernaus Aussagen zu den Geschlechternormen des protestantischen Amerika des 19. Jh.s: Dort wurden Nonnen und Prostituierte offenbar gleichermaßen stigmatisiert, da sie jeweils vom häuslichen Ideal abwichen – ein ähnlicher Mechanismus, wie er bei der Verbindung von Jungfräulichkeit und sexueller Freizügigkeit in archaischen Gesellschaften zu beobachten ist: „Zu diesen Frauen gehörten im protestantischen Amerika des 19. Jahrhunderts Nonnen und Prostituierte, die in den Augen der Gesellschaft aufgrund ihrer Abweichung von der geltenden Norm miteinander verschmolzen. [. . .] Vor dem Hintergrund des Ideals der mittelständischen, protestantischen Ehefrau, die Kinder zu gebären und sie im Geiste der gängigen Moralvorstellungen zu erziehen hatte, wird plausibel, weshalb Nonnen und Prostituierte verunglimpft wurden: Beide scheinen Staat und Gemeinwesen zu schwächen. Die Nonne wies die ihr zugedachte Rolle als Ehefrau und Mutter zurück, die Prostituierte zerstörte das traute Heim, trug zur moralischen Verwahrlosung bei und verbreitete Krankheiten.“ (Bernau, Mythos Jungfrau, S. 145).

4 Die Darstellung seiðr-Praktizierender im Hinblick auf geschlechtliche Liminalität

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In der altnordischen Überlieferung wird Freyjas ausschweifendes Liebesleben wiederholt thematisiert. Vergleichsweise harmlos mutet dabei Snorris Charakterisierung Freyjas als „besonders leichtfertig“ („heldr margylynd“447) in der Ynglinga saga an. In der Gylfaginning schreibt er, dass sie Gefallen an Liebesliedern (mansǫngvar) fände und man sie in Liebesangelegenheiten anrufen solle.448 Wichtig zu wissen ist, dass es sich bei den mansǫngvar (mansǫngr bedeutet wörtl. ‚Mädchenlied‘)449 nicht einfach um harmlose Liebesdichtung handelt: Sie werden in der Grágás (Staðarhólsbók) im gleichen Abschnitt wie níð aufgeführt und als so anstößig empfunden, dass ein Mann mit der strengen Acht (skóggangr) bestraft werden kann, wenn er ein derartiges Lied bzw. Gedicht über eine Frau macht und von ihr oder dem für sie Verantwortlichen diesbezüglich angeklagt wird.450 Auch die Kirche hieß den Vortrag von mansǫngvar nicht gut, die – glaubt man folgendem Zeugnis aus der um 1200 verfassten, ältesten Version der Jóns saga helga – eine regelrechte Mode unter der Bevölkerung waren: Leikr sá var mönnum tíðr, er úfagrligr er, at kveðast skyldu at: karlmaðr at konu, en kona at karlmanni, klækiligar vísur ok hæðiligar ok óaheyriligar, en þat lèt hann af takast ok bannaði með öllu at gera. Mansaungs kvæði eða vísur vildi hann eigi heyra kveðin ok eigi láta kveða, þó fekk [hann] því eigi með öllu af komit.451 Ein Spiel war bei den Leuten Brauch, das unschön ist, dass aufeinander Strophen gedichtet werden sollten – der Mann über die Frau, und die Frau über den Mann – schändliche, schmähliche und nicht anhörbare Weisen, aber er ließ sie abschaffen und verbot sie vollständig. Mansǫngs-Gedichte oder -Lieder wollte er nicht vorgetragen hören und ließ sie nicht vortragen, und doch gelang es ihm nicht, sie ganz abzuschaffen.452

Dieser Darstellung zufolge beteiligen sich beide Geschlechter mit Begeisterung an den wohl recht derben mansǫngvar, die offenbar vor „explicit lyrics“ nur so strotzten.

447 Hkr I, Yngl saga, Kap. 8, ÍF 26, S. 25. 448 S. Gylf 24, Faulkes, SnE, S. 25: „Henni líkaði vel mansǫngr. Á hana er gott at heita til ásta.“ / „Sie findet Gefallen an Liebesliedern. Es ist gut, sie in Liebesangelegenheiten anzurufen.“ 449 Vgl. Marold, Edith; Zimmermann, Christiane: Art. „Liebesdichtung“, in: RGA, Bd. 18. Berlin, New York, 2001, S. 378. 450 GrgStað, S. 393: „Ef maðr yrkír mansung um kono. oc varðar þat scog gang; kona a söc ef hon er tuitög eða ellri. En ef hon er yngri eða vill hon eigi søkia láta. þá a lög ráðande hennar sökina.“ / „Wenn ein Mann einen mansǫngr über eine Frau verfasst. Das wird auch mit der strengen Acht bestraft [wörtl.: „das ist auch strenge Acht“]; die Frau führt die Klage, wenn sie zwanzig oder älter ist. Aber wenn sie jünger ist oder die Sache nicht verfolgen lassen will. Da hat ihr Verantwortlicher das Recht, Klage zu erheben.“ Vgl. hierzu auch Marold; Zimmermann, Liebesdichtung, S. 378. 451 „Jóns biskups saga, hin elzta“, in: Biskupa sögur. Gefnar út af hinu íslenzka bókmentafélagi. Fyrsta Bindi. Kaupmannahöfn, 1858, S. 165. 452 Meine Übersetzung orientiert sich an der von Edith Marold in Marold; Zimmermann, Liebesdichtung, S. 378.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

In einer späteren Version der Jóns saga helga wird noch ergänzt, dass diese Gesänge von Tanz begleitet wurden: Leikr sá var kærr mönnum [. . .] at kveða skyldi karlmaðr til konu í dans blautlig kvæði ok regilig, ok kona til karlmanns mansöngsvísur [. . .].453 Ein Spiel war beliebt bei den Leuten [. . .], dass der Mann der Frau im Tanz unmännliche und perverse Gedichte vortragen sollte, und die Frau dem Mann mansǫngs-Strophen [. . .].454

Von besonderem Interesse an obiger Passage ist, dass die mansǫngvar hier explizit als blautlig kvæði ok regilig bezeichnet, sie also ganz direkt mit ergi assoziiert werden.455 Der zweite Begriff, mit welchem die mansǫngvar in diesem Beleg beschrieben werden, blautlig, lässt sich mit ‚weichlich‘ wiedergeben. Es handelt sich um ein dem Adjektiv blauðr verwandtes Adjektiv, welches eine ähnliche Semantik wie argr besitzt: Laut Cleasby und Vigfússon lautet die eigentliche Wortbedeutung von blauðr ‚weich‘, ‚schwach‘ im Gegensatz zu hvatr ‚entschlossen‘, ‚energisch‘, ‚forsch‘.456 Auffallenderweise erscheint blauðr oft innerhalb von spöttischen Bemerkungen über Männer, und nimmt dann die Bedeutung ‚weichlich‘, ‚feige‘, ‚weibisch‘ an457 – der Bedeutungsgehalt des Begriffs entspricht also dem, was auch mit argr aufgerufen wird. Dass Freyja Gefallen an den mansǫngvar findet, ist demnach weit davon entfernt nur eine unschuldige Aussage über von der Göttin favorisierte Liebeslieder zu treffen, sondern bringt sie vielmehr mit obszönen Liedern und Gedichten in Verbindung, die unter die Kategorie ergi fallen, teils als Schmähgedichte betrachtet wurden und sogar strafrechtlich geahndet werden konnten. Andere Quellen beschreiben Freyja noch weitaus unverblümter als Snorris Werke als unersättliche Liebhaberin, deren Leidenschaft vor keinem Tabubruch haltmacht: In der Lokasenna wirft Loki der Göttin vor, alle in Ægirs Halle anwesenden Asen und Alben zum Liebhaber gehabt zu haben („ása oc álfa, er hér inni ero, / hverr hefir þinn hór verið“458 / „von den Asen und Alben, die hier drinnen sind, / ist jeder dein Liebhaber gewesen“459).460 Da Freyja die Ehefrau des wenig greifbar werdenden Gottes Óðr ist, bringt ihre zügellose Sexualität gleichzeitig notorischen Ehebruch mit sich.461 Auch in den Hyndluljóð geben Freyjas amouröse Abenteuer der

453 „Jóns biskups saga, eptir Gunnlaug múnk,“ in: Biskupa sögur. Gefnar út af hinu íslenzka bókmentafélagi. Fyrsta Bindi. Kaupmannahöfn, 1858, S. 237. 454 Vgl. auch für diese Übersetzung Marold; Zimmermann, Liebesdichtung, S. 378. 455 Der Begriff regi ist eine Metathese von argr; vgl. Halvorsen, ergi, Sp. 10. 456 Vgl. Cleasby; Vigfusson, Icelandic-English Dictionary, S. 67. 457 Vgl. hierzu Carol Clovers detaillierte Auseinandersetzung mit dem Bedeutungsgehalt und den Übersetzungsmöglichkeiten des Begriffs blauðr in Clover, Regardless of Sex, S. 363–365 und 371. 458 Lks, Str. 30, Neckel; Kuhn, Edda, S. 102. 459 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 151. 460 Vgl. Heizmann, Freyja, S. 280. 461 Vgl. ebd.

4 Die Darstellung seiðr-Praktizierender im Hinblick auf geschlechtliche Liminalität

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Riesin Hyndla Anlass zu beißendem Spott; sie vergleicht die Göttin in ihrer Mannstollheit sogar mit der Ziege Heiðrún: Rannt at Œði ey þreyiandi, scutuz þér fleiri und fyrirscyrto; hleypr þú, eðlvina, úti á náttom, sem með hǫfrom Heiðrún fari.462 Du ranntest Od nach immer schmachtend; Mehrere schlüpften dir unter die Schürze; Du springst, Beischlaffreundin, draußen in den Nächten, wie mit Böcken Heidrun zieht.463

Der Vergleich Freyjas mit einem weiblichen Tier – wobei insbesondere die Ziege für Lüsternheit steht464 – erinnert an die als ýki bekannten, gegenüber Männern im Kontext des níð vorgebrachten Anschuldigungen, sich wie ein weibliches Tier zu verhalten oder sich gar in selbiges zu verwandeln. Obgleich der Begriff selbst an dieser Stelle nicht fällt, wird Freyja von Hyndla somit eindeutig als ǫrg verhöhnt, da ihr über die Assoziation mit der Ziege sexuelle Gier und Unfähigkeit zur Affektkontrolle unterstellt werden. Auch der Skalde Hjalti Skeggjason vergleicht Freyja – offensichtlich ob ihrer ausschweifenden Sexualität – in einer im Jahr 999 auf dem isländischen Althing vorgetragenen Strophe mit einer Hündin, also einem ebenfalls stark mit Lüsternheit assoziierten Tier: „Vil ek eigi goð geyja; / grey þykki mér Freyja.“465 / „Ich will die Götter nicht schmähen; [aber] eine Hündin scheint mir Freyja.“ Für diese spöttische Äußerung wurde der Dichter immerhin mit dreijähriger Verbannung wegen Gotteslästerung bestraft, was für das hohe Ansehen spricht, welches Freyja in der Spätzeit des Heidentums genoss.466 Offenbar wurde Freyjas Beiname ‚Syr‘ (‚Sau‘)467, welcher auf das fruchtbarkeitsspendende Potential der Göttin verweist, nicht als ähnlich diffamierend aufgefasst wie die Bezeichnung als Hündin. Hinsichtlich dieser Diskrepanz ist sicherlich der Kontext eines derartigen Tiervergleichs zu berücksichtigen: Was im kultischen Bereich akzeptabel ist, kann

462 Hdl, Str. 47, Neckel; Kuhn, Edda, S. 296. 463 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 209. 464 Vgl. Heizmann, Freyja, S. 280. 465 Íslb, Kap. 7, ÍF 1, S. 15. Die Strophe erscheint u. a. auch in der Kristni saga, der Óláfs saga Tryggvasonar sowie der Njáls saga; vgl. dazu Mundal, Else: „The Position of the Individual Gods and Goddesses in Various Types of Sources – with Special Reference to the Female Divinities“, in: Ahlbäck, Tore (Hg.): Old Norse and Finnish Religions and Cultic Place-Names. Based on papers read at the Symposium on Encounters between Religions in Old Nordic Times and on Cultic PlaceNames held at Åbo, Finland, on the 19th−21st of August 1987. Åbo, Stockholm, 1990 (Scripta Instituti Donneriani Aboensis), S. 304. 466 Vgl. Heizmann, Freyja, S. 280 und S. 297 sowie Mundal, Gods and Goddesses, S. 304. 467 S. Gylf 35, Faulkes, SnE, S. 29 sowie Þul. IV h 3, Skj. Bd. B I, S. 661.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

in der Alltagssphäre bei entsprechend herabwürdigender Intention durchaus als Gotteslästerung betrachtet werden. Wird Freyja oftmals der Promiskuität bezichtigt, gehen Lokis Anschuldigungen in der Lokasenna jedoch bekanntlich noch deutlich weiter und gipfeln schließlich darin, dass Freyja mit ihrem Bruder Freyr dem Inzest gefrönt habe: Þegi þú, Freyja! þú ert fordæða oc meini blandin mioc, síztic at brœðr þínom stóðo blíð regin, oc mundir þú þá, Freyja, frata.468 Schweig, Freyja! Du bist eine Hexe und stark mit Unheil vermischt, seit dich bei deinem Bruder die milden Ratenden überraschten und da musstest du, Freyja, furzen.469

Auffälligerweise wird in dieser Strophe der Vorwurf, dass Freyja eine Hexe (und damit also zauberkundig) sei, mit dem des tabubehafteten Inzests verknüpft. Wie bereits erwähnt, berichtet Snorri in der Ynglinga saga, die Praxis des Inzest sei zwar beim Göttergeschlecht der Wanen – dem Freyja und Freyr entstammen – üblich, bei den Asen jedoch verboten gewesen.470 Hieran lässt sich also eine deutliche Assoziation Freyjas sowie der Wanen insgesamt mit ergi im Sinne eines von der Norm abweichenden, Tabus überschreitenden und somit liminalen Sexualverhaltens – namentlich dem Praktizieren von Inzest – erkennen. Auch das vielfach in den Quellen erwähnte promiskuitive Verhalten Freyjas stellt einen Bruch mit bestehenden Konventionen dar und steigert sich im Sǫrla þáttr gar zur Prostitution, als sich die Göttin im Austausch gegen ein wertvolles Schmuckstück (aller Wahrscheinlichkeit nach das Brísingamen) vier Zwergen hingibt.471 Dieser Normverstoß in Form käuflicher Liebe wird noch dadurch verstärkt, dass es sich bei den kunstfertigen Zwergen wohl kaum um für eine Göttin angemessene Sexualpartner handeln dürfte, wie es die in der Lokasenna als Liebhaber Freyjas benannten Asen und Alben immerhin noch wären. Des Weiteren könnte auch Freyjas Ortsunfestigkeit als ein Charakteristikum gewertet werden, welches die Göttin mit sexueller Freizügigkeit und Prostitution in Verbindung bringt, weil fahrende Frauen (nicht nur) im mittelalterlichen Skandinavien mit ebendiesen Konnotationen behaftet waren.472 Da angenommen werden darf, dass Freyja identisch mit der rätselhaften Gestalt Gullveig/Heiðr der Vǫluspá ist, welche ebenfalls mit Zaubermacht, Prophetie und enormen Kräften der Wiederbelebung assoziiert wird, lohnt es sich zudem, einen wei-

468 Lks, Str. 32, Neckel; Kuhn, Edda, S. 103. 469 Übersetzung nach Krause, Götter- und Heldenlieder, S. 152. 470 Hkr I, Yngl saga, Kap. 4, ÍF 26, S. 13. 471 Vgl. Sǫrla, Flat, Bd. 1, S. 275. 472 Vgl. dazu Kapitel VII 2.1 und VII 2.3.2 der vorliegenden Arbeit.

4 Die Darstellung seiðr-Praktizierender im Hinblick auf geschlechtliche Liminalität

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teren Hinweis auf eine Konnotation Freyjas mit ergi zu verfolgen: Clive Tolley geht der Frage nach, wie die Bezeichnung der prototypischen seiðkona Heiðr in der Vǫluspá als „angan illrar brúðar“473 („Freude schlechter Frauen“) zu deuten ist. Brúðr ist Tolley zufolge „a term for a woman which defines her in terms of sexual relations (though it must be considered that brúðr is often used in a fairly neutral sense of ‘young woman’) [. . .]“.474 Eine „schlechte Braut“ wäre demnach möglicherweise als eine Frau zu interpretieren „which misuses this relations“475, die also ein „unzüchtiges“, gesellschaftliche Konvention missachtendes (Sexual-)Verhalten pflegt und somit gemäß altnordischer Normvorstellungen als ǫrg bezeichnet werden könnte. Abschließend lässt sich festhalten, dass Freyja in der altnordischen Überlieferung in Form ihrer ausschweifenden Sexualität und Promiskuität, ihrem Gefallen an anstößigen Liedern und Gedichten sowie ihrer Ausübung von Inzest und Prostitution aufs Engste mit ergi assoziiert wird. Diese starke Betonung Freyjas (devianter) sexueller Aspekte liegt freilich darin begründet, dass es sich bei ihr um eine Fruchtbarkeits- und Vegetationsgöttin handelt. Wie schon hinsichtlich der Konnotation Óðinns mit ergi konstatiert, gelten für Götter andere Normen als für Menschen: Sie können Tabus brechen, die in der Welt der Menschen als unantastbar gelten und dennoch Verehrung erfahren.476 Liminale Sexualität, die Grenzen überschreitet, ist ein typisches Charakteristikum insbesondere von Fruchtbarkeits- und Vegetationsgöttern, wie den altnordischen Wanen, welches oftmals zugleich innerhalb der kultischen Verehrung dieser Gottheiten begegnet. Auch die Verbindung des seiðr mit geschlechtlicher Liminalität dürfte ihre Wurzeln im kultischen Bereich haben, worauf in Kürze zurückzukommen sein wird.

4.3 Zusammenschau: Was ist „argr“ an seiðr? Die vorangegangenen Betrachtungen haben gezeigt, dass menschliche wie göttliche seiðr-Praktizierende in der altnordischen Literatur auf unterschiedliche Weise und in verschiedener Intensität mit ergi, also geschlechtlicher Liminalität bzw. einem Überschreiten der Geschlechternormen, assoziiert werden. Dabei ließ sich die Konnotation Óðinns und Freyjas mit dem ergi-Komplex sehr gut erkennen. Im Falle Óðinns ist ein Bruch mit den Geschlechternormen zum einen anhand von Belegstellen (Lokasenna (Str. 24), Ynglinga saga (Kap. 7)) nachweisbar, in welchen der Gott konkret als argr bezeichnet oder mit ergi in Verbindung gebracht wird. Diese nehmen auf seine magischen Praktiken, insbesondere das Betreiben von seiðr, sowie ein Agieren des Gottes in Frauenrolle Bezug. Eine Konnotation Óðinns mit ergi kann zudem aus weiteren

473 474 475 476

Vsp. Str. 22, Neckel; Kuhn, Edda, S. 5 f. Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 161. Ebd. Vgl. Ármann Jakobsson, Trollish Acts, S. 117; Mundal, Gods and Goddesses, S. 304.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

Tabubrüchen des Gottes in Form von Transvestismus und Inzest erschlossen werden. Freyja hingegen wird zwar nicht direkt als ǫrg bezeichnet, durchbricht jedoch das für Frauen in der altnordischen Gesellschaft gängige Normverhalten auf praktisch jede nur erdenkliche und mit ergi assoziierte Weise: Sie begeht Inzest und Ehebruch, ist promiskuitiv und prostituiert sich. Bei menschlichen seiðr-Praktizierenden beiderlei Geschlechts musste indessen konstatiert werden, dass es überraschend wenig konkrete Belege für eine Konnotation dieser Personen mit ergi gibt. Diese ließ sich nur anhand indirekter Anhaltspunkte aufzeigen. Dennoch sind die Hinweise auf eine Konnotation des seiðr mit Weiblichkeit und sexueller Devianz in der altnordischen Überlieferung so breit gestreut, dass es sich trotz offensichtlicher Leerstellen bei der Verbindung seiðr-Praktizierender mit geschlechtlicher Liminalität nicht nur um ein blindes Motiv oder eine der ablehnenden Haltung christlicher Sagaschreiber gegenüber heidnischem Zauber geschuldeten, zu negativen Übertreibungen neigende Darstellung handeln kann. Vielmehr scheinen die gedankliche Verknüpfung von ergi und seiðr sowie die geschlechtliche Liminalität menschlicher wie göttlicher seiðr-Wirker Anteil an alten Schichten der nordgermanischen Vorstellungswelt zu haben und zu einem Merkmalskomplex zu gehören, welcher sich aus den Kernelementen Zauberei, Ortsunfestigkeit und sexueller Freizügigkeit zusammensetzt. Insbesondere da sich innerhalb der Darstellung männlicher wie weiblicher menschlicher seiðr-Praktizierender so gut wie keine eindeutigen Hinweise für eine Konnotation mit ergi finden lassen, eröffnete sich die Frage, ob diese nicht eher in der Funktion dieser Personen als Ritualspezialisten und konkret in der rituellen Praxis des seiðr selbst ihren Ursprung hat. Für diese These finden sich einige Indizien, so zum Beispiel, dass der Begriff ergi in der kurzen Redaktion der Gísla saga gerade in Bezug auf ein seiðr-Ritual Þorgrímr nefs verwendet wird. Des Weiteren scheinen auch die vǫlur, als spezielle Kategorie weiblicher seiðr-Praktizierender, vorrangig innerhalb ihrer Funktion als Ritualspezialistinnen, die mit einer rituell bedingten Ortsunfestigkeit (Umherziehen von Hof zu Hof) einhergeht, außerhalb der Strukturen der Normgesellschaft zu agieren und des Verstoßes gegen die für ihr Geschlecht geltenden Verhaltenskonventionen verdächtig zu sein. Kurzum stellt sich die Frage: Ist ergi bzw. geschlechtliche Liminalität Teil eines Merkmalssets liminaler Eigenschaften, welches den seiðr-Praktizierenden aufgrund ihres Status als Ritualspezialisten – also Schwellenpersonen – anhaftet? Bringt die rituelle Praxis des seiðr geschlechtliche Liminalität mit sich und wenn ja, warum ist das der Fall? Im folgenden Abschnitt sollen Antworten hierauf gesucht werden.

5 ergi und seiðr: rituell induzierte geschlechtliche Liminalität

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5 Die Konnotation von ergi und seiðr: rituell induzierte geschlechtliche Liminalität im Kontext vegetationskultischer Praktiken? 5.1 seiðr als vegetationskultische Praktik Nimmt man die Funktion der seiðr-Praktizierenden als Ritualspezialisten sowie bestimmte Elemente des seiðr-Rituals als ausschlaggebend dafür an, dass diese Magieform mit ergi konnotiert und insbesondere für Männer, jedoch allem Anschein nach auch für nicht darin initiierte Frauen, als Verstoß gegen die Geschlechterkonventionen empfunden wurde,477 stellt sich die Frage, durch welche Merkmale genau diese Assoziation im Bewusstsein der altnordischen Gesellschaft hervorgerufen wurde. Den entscheidenden Hinweis zur Beantwortung dieser Frage liefert der bereits zu Beginn der vorliegenden Untersuchung hervorgehobene Ursprung des seiðr in der Welt der Götter:478 Laut der Ynglinga saga handelt es sich bei seiðr um eine ursprünglich den wanischen Vegetationsgottheiten und insbesondere der Göttin Freyja zugeordnete Magieform, welche die Asen erst durch Freyjas Instruktionen erlernen. Infolgedessen scheint sich auch seine Ausübung in der Welt der Menschen an der Grenze zwischen magischer und kultischer Praktik zu bewegen – wobei der Übergang zwischen Religion und Magie generell eher fließend ist und auch in Bezug auf das pagane Skandinavien beide Bereiche nicht rigoros voneinander getrennt werden können. Obwohl es nicht einfach zu entscheiden ist, inwieweit die Angaben der uns überlieferten Quellen über pagane Gottheiten und ihren Kult authentische Verhältnisse vor der Christianisierung wiederzugeben vermögen, sind besonders in Kontinentalskandinavien zahlreiche theophore Ortsnamen belegt, die in Verbindung zu den Wanen stehen und von der weiten Verbreitung ihrer kultischen Verehrung in vorchristlicher Zeit zeugen: Offenbar spielten diese Gottheiten eine wesentlich prominentere Rolle im Kult als die Asen.479 Zwar haftet dem seiðr in den altnordischen Quellen eher der Charakter einer gesellschaftlichen Randerscheinung und allenfalls eines Krisenrituals, als der einer öffentlich akzeptierten Kulthandlung an,480 jedoch ist sein enger Bezug zum Göttergeschlecht der Wanen und vor allem zu Freyja nicht von der Hand zu weisen und legt nahe, dass es sich bei

477 Vgl. Mayburd, Helzt þóttumk nú, S. 131. 478 Vgl. Steinsland, Norrøn Religion, S. 307. 479 Vgl. Maier, Fruchtbarkeitskulte, S. 131. Es handelt sich um mit Freyr, Njǫrðr und Hǫrn (ein Beiname Freyjas) gebildete theophore Ortsnamen. 480 S. Steinsland, Norrøn Religion, S. 307: „Man kan si at seiden var et marginalt fenomen som hørte til randsonen av samfunnet. Volver og seidmenn var spesialister som satt inne med kunnskaper som krevdes for å utøve seid. Seidutøverne sto i en tvetydig sosial posisjon, de var både fryktet, respektert og sett ned på. I krisetider kunne storsammfunnet ta i bruk kunnskapene deres, da kunne seiden få status av offentlig kultutøvelse.“

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

seiðr ursprünglich um eine mit dem Kult der Wanen in Verbindung stehende rituelle Praxis gehandelt haben dürfte. Die den Wanen zugeschriebenen Eigenschaften und Zuständigkeitsbereiche prägen somit auch die mit dem seiðr und seinen Praktizierenden assoziierten Eigenschaften: Sie stehen gleichermaßen in Verbindung zu Regeneration, Vegetation und Prosperität wie auch zu Sexualität und Fruchtbarkeit. Während eine Sexualisierung des seiðr-Rituals und menschlicher seiðr-Praktizierender in der altnordischen Literatur kaum noch erkennbar ist, konnte eine Anbindung dieser Magieform und ihrer weltlichen Praktizierenden an die Bereiche Vegetation und Prosperität im Verlauf der vorliegenden Arbeit vielfach aufgezeigt werden. Ich gebe im Folgenden einen zusammenfassenden Überblick über die entsprechenden Hinweise: Zunächst handelt es sich gerade bei der Beeinflussung der natürlichen Umwelt und der Elemente um ein zentrales Anwendungsgebiet des seiðr. Dabei sind seiðr-Praktizierende in der Lage, mittels ihrer Magie Stürme zu entfesseln oder Nebel heraufzubeschwören. Der seiðmaðr Stígandi vermag in der Laxdœla saga sogar allein durch seinen Blick einen Wirbelwind zu verursachen, dessen zerstörerische Kraft so groß ist, dass an der von ihm getroffenen Stelle nie wieder Gras wächst.481 Hierdurch könnte nicht nur das enorme destruktive Potential von Stígandis Zauberkräften veranschaulicht werden, sondern womöglich auch, dass er damit gegen die natürliche Ordnung verstößt, indem er die primäre Wirkweise des seiðr ins Gegenteil verkehrt: Er vernichtet die Vegetation, obwohl seiðr oftmals gerade dafür steht, einen positiven Einfluss auf die Natur und ihr Gedeihen auszuüben. So füllt die seiðr-Wirkerin Þuríðr sundafyllir die Fjorde des norwegischen Hálogaland mittels ihrer Magie mit Fischen und wendet auf diese Weise eine Hungersnot ab – genau wie auch auf die seherischen Fähigkeiten der Þorbjǫrg lítil-vǫlva in der Eiríks saga rauða in einem Jahr der Missernte zurückgegriffen wird. An letzterem Beispiel konnte bereits aufgezeigt werden, dass die zauberischen Tätigkeiten einer vǫlva sich nicht nur auf Divination beschränken, sondern auch effektive Magie beinhalten können: Þorbjǫrg vermittelt gleich einem Medium zwischen der Hofgemeinschaft und den náttúrur – Geisterwesen, die der útgarðr-Sphäre angehören. Das durch den Einsatz von seiðr und speziell den Vortrag des Zaubergesanges varðlok(k)ur wiedererlangte Wohlwollen der Naturmächte liefert die Voraussetzung dafür, dass die natürliche Umwelt der Siedler wieder prosperieren kann. Zudem üben die vǫlur ihre seherischen Aktivitäten vornehmlich im Winter bzw. zu Beginn des Winters aus – exakt zu der Zeit des Jahres also, in welcher im vorchristlichen Skandinavien Opferfeierlichkeiten für das Gedeihen der Vegetation sowie für die Fruchtbarkeit von Mensch, Tier und Land abgehalten wurden: ein mittwinterliches Opferfest, von dem Snorri berichtet482, sowie das Disenopfer (dísablót) und das vetrnáttablót, die beide im Spätherbst stattfanden. Im Rahmen dieser Opferfeste wurde auf den Höfen für ein gutes Jahr bzw. eine gute Ernte (ár) geopfert. Die

481 S. Laxd, Kap. 38, ÍF 5, S. 109. 482 S. ÓH, Kap. 109, ÍF 27, S. 180.

5 ergi und seiðr: rituell induzierte geschlechtliche Liminalität

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Einladungen der vǫlur zu Gastmählern, die gute Bewirtung und die reichen Gaben, welche sie empfangen, weisen darauf hin, dass es den jeweiligen Hofgemeinschaften nicht nur um die divinatorischen Fähigkeiten dieser Seherinnen zu tun war, sondern dass man sich von den vǫlur vielmehr eine positive Einflussnahme auf die Prosperität von Mensch und Tier sowie die kommende Ernte erhoffte. Auch wird es kaum ein Zufall sein, wenn in den Sagas die Weissagungen der vǫlur im Rahmen von üppigen Gastmählern zeitlich genau mit den oben genannten Opferfesten mit Vegetationsbezug bzw. zu Ehren von Vegetationsgottheiten zusammenfallen. Vielmehr deuten alle Anzeichen darauf hin, dass die vǫlur in derartige Opferfeierlichkeiten aktiv involviert gewesen sein könnten – als Kultdienerinnen und somit Vertreterinnen von Vegetationsgottheiten und namentlich Freyjas, der vanadís. Bezüge zu Freyja finden sich immerhin auch in den aus Katzenfell gearbeiteten Elementen der Gewandung Þorbjǫrg lítil-vǫlvas483. Des Weiteren weist das Umherziehen der vǫlur von Hof zu Hof Reminiszenzen an die Nichtsesshaftigkeit der Göttin im Mythos ihrer Gattensuche auf und könnte eine Parallele zu der bei der Verehrung von Vegetationsgottheiten oftmals anzutreffenden kultischen Umfahrt darstellen – alles Hinweise darauf, dass sich die vǫlur mit Freyja als ihrer göttlichen Schirmherrin identifizierten, wie auch Clive Tolley resümiert: „Whilst there is no direct evidence, the practitioners of seiðr no doubt identified with the patron goddess; this may perhaps be reflected in the way Heiðr, in an apparently human setting, appears to mimic Freyja as she wanders and practices seiðr in Vǫluspá.“484 Die Teilnahme von seiðr-Praktizierenden an vegetationskultischen Opferfeierlichkeiten beschränkt sich in den altnordischen Quellen indessen nicht allein auf Frauen: Es handelt sich nach allen bisher gemachten Beobachtungen sicherlich nicht um ein zufälliges Detail, wenn der seiðmaðr Þorgrímr nef in der Gísla saga von Þorgrímr Þorsteinsson und Þorkell Súrsson gerade zur Feier des vetrnáttablót eingeladen wird.485 Obschon die Saga keine rituellen Handlungen des seiðr-Wirkers im Zuge des Festes erwähnt, wird der Gastgeber Þorgrímr Þorsteinsson an mehreren Stellen des Textes als großer Verehrer des Vegetationsgottes Freyr ausgewiesen: Nicht nur wird mitgeteilt, dass Gíslis Widersacher im Rahmen des vetrnáttablót Freyr opfert („Þorgrímr ætlaði at hafa haustboð at vetrnóttum ok fagna vetri ok blóta Frey [. . .].“486 / „Þorgrímr wollte ein Gastmahl im Herbst zu den Winternächten veranstalten und den Beginn des Winters festlich begrüßen und Freyr opfern [. . .].“), obendrein trägt er in der langen Redaktion S der Gísla saga sogar den Beinamen ‚Freysgoði‘487 – also ‚Freyr-Priester‘. Damit nicht genug, weiß die Saga nach dem Tod Þorgrímr Þorsteinssons

483 484 485 486 487

Vgl. Eir, Kap. 4, S. 206 f. Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 164. S. Gísl, Kap. 9, ÍF 6, S. 37. Gísl, Kap. 15, ÍF 6, S. 50. Erstmalige Nennung: Gíslx, Kap. 16, EA A 5, S. 24.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

von einem regelrechten „Freyr-Mirakel“ an seinem Grab zu berichten, welches die innige Bindung zwischen Þorgrímr Þorsteinsson und dem Gott eindrucksvoll unter Beweis stellt: Varð ok sá hlutr einn, er nýnæmum þótti gegna, at aldri festi snæ útan ok sunnan á haugi Þorgríms ok eigi fraus; ok gátu menn þess til, at hann myndi Frey svo ávarðr fyrir blótin, at hann myndi eigi vilja, at frøri á milli þeirra.488 Es geschah auch eine Sache, die Neuigkeiten zu bedeuten schien, dass nie Schnee außen auf der Südseite von Þorgrímrs Grabhügel liegen blieb und er nicht zufror; und die Leute vermuteten, das geschehe deshalb, weil er Freyr wegen der Opfer so lieb sei, dass dieser nicht wollte, dass es zwischen ihnen gefröre.

Prägnanter als im Bild des immergrünen Grabhügels kann eine Verbindung zu den Wanen und ihrem enormen Regenerationspotential kaum ausgedrückt werden. Dass gerade ein so glühender Anhänger Freyrs wie Þorgrímr Þorsteinsson – bei dem es sich, falls man seinen Beinamen wörtlich auslegen darf, wohl sogar um einen Kultdiener dieses Gottes handelt – ein freundschaftliches Verhältnis mit einem seiðmaðr unterhält, diesen zur Verteidigung seines Hofes mit heranzieht und ihn obendrein zum vetrnáttablót einlädt, ist zum einen ein wichtiger Hinweis auf die vegetationskultischen Bezüge des seiðr an sich, zum anderen ein aussagekräftiger Beleg für die Teilhabe auch männlicher Praktizierender an diesem zentralen Aspekt des seiðr. Der vegetationskultische Charakter des seiðr konnte also klar umrissen werden: Die altnordischen Quellen halten zahlreiche Hinweise darauf bereit, dass die Ausübung dieser Magieform ursprünglich eher zu der rituellen Praxis bei der Verehrung von Vegetationsgottheiten, nämlich den Wanen und den ihnen eng verbundenen Disen, gehört haben dürfte. Auch in spätheidnischer Zeit bewegte der seiðr sich offenbar an der Grenze zwischen magischem und vegetationskultischem Ritual.

5.2 ergi und seiðr: Liminale geschlechtliche Identität in der altnordischen Kultpraxis Da öffentliche Kulthandlungen nach der Christianisierung unter Strafe standen und die nähere Kenntnis der paganen Kultpraxis daher bald verloren gegangen sein dürfte,489 gestaltet es sich schwierig, anhand der altnordischen Quellen genauere Aussagen über die Merkmale der mit dem Kult der Wanen verbundenen Rituale zu treffen. Versucht man dennoch, auch die Verbindung des seiðr mit geschlechtlicher

488 Gísl, Kap. 18, ÍF 6, S. 57. 489 Vgl. Maier, Fruchtbarkeitskulte, S. 131.

5 ergi und seiðr: rituell induzierte geschlechtliche Liminalität

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Liminalität in einem solchen kultischen Kontext zu interpretieren, ist es notwendig, in den Quellen nach Elementen entsprechender ritueller Handlungen zu suchen, welche mit ergi in Verbindung gebracht werden können. Tatsächlich wird man diesbezüglich in Schilderungen der Opferfeierlichkeiten in Uppsala, „the last bastion of northern heathendome“490 und der Hochburg der Wanenverehrung in Skandinavien491, fündig. Im dortigen, zu Lebzeiten Adams von Bremen (gest. 1080) noch aktiv genutzten Tempel,492 werden den Gesta Hammaburgensis Ecclesiae Pontificum zufolge die Götter Þórr, Óðinn und Freyr verehrt: In hoc templo, quod totum ex auro paratum est, statuas trium deorum veneratur populus, ita ut potentissimus Thor in medio solium habeat triclinio; hinc et inde locum possident Wodan et Fricco. Quorum significationes eiusmodi sunt: ‘Thor’, inqiunt, ‘presidet in aere, qui tonitrus et fulmina, ventos ymbresque, serena et fruges gubernat. Alter Wodan, id est furor, bella gerit hominique minstrat virtute contra inimicos. Tercius est Fricco, pacem voluptatemque largiens mortalibus’. Cuius etiam simulacrum fingunt cum ingenti priapo. [. . .] Omnibus itaque diis suis attributos habent sacerdotes, qui sacrificia populi offerant. Si pestis et famis imminet, Thor ydolo lybatur, si bellum, Wodani, si nuptiae celebrandae sunt, Fricconi. Solet quoque post novem annos communis omnium Sueoniae provintiarum sollempnitas in Ubsola celebrari. [. . .] Ceterum neniae, quae in eiusmodi ritu libationis fieri solent, mulitplices et inhonestae, ideoque melius reticendae.493 In diesem Tempel, der ganz mit Gold geschmückt ist, betet das Volk die Bildsäulen dreier Götter an, und zwar so, daß der mächtigste von ihnen, Thor, mitten im Gemache seinen Thron hat; rechts und links sitzen Wodan und Fricco. Die Deutungen derselben sind folgende: „Thor, sagen sie, hat den Vorsitz in der Luft, er lenkt Donner und Blitz, giebt [sic] Winde und Regen, heiteres Wetter und Fruchtbarkeit. Der andere, Wodan, d. h. die Wuth, führt Kriege, und gewährt dem Menschen Tapferkeit gegen seine Feinde. Der dritte ist Fricco; er spendet den Sterblichen Frieden und Lust.“ Sein Bild stellen sie auch mit einem ungeheuren männlichen Gliede versehen dar. [. . .] Allen ihren Göttern nun halten sie besondere Priester, welche die Opfer des Volkes darbringen. Wenn Pest und Hungersnoth drohen, wird dem Götzen Thor geopfert, wenn Krieg dem Wodan, wenn eine Hochzeit zu feiern ist, dem Fricco. Auch pflegt alle neun Jahre ein allen schwedischen Landen gemeinsames Fest in Ubsola gefeiert zu werden. [. . .] Uebrigens sind die Lieder, die bei der Vollziehung eines solchen Opfers gesungen zu werden pflegen, vielerlei und unehrbar, und darum besser zu verschweigen.494

Nach der oben zitierten Beschreibung wird dem ithyphallisch abgebildeten Freyr, dem Bruder Freyjas, vornehmlich dann geopfert, wenn es um das Feiern von Hochzeiten geht; der Bezug des Gottes zu Fruchtbarkeit und Prosperität wird also auch von diesem Zeugnis belegt. Als Kultdiener haben die drei genannten Gottheiten sacerdotes, womit Priester beiderlei Geschlechts gemeint sein können.495 Den im

490 Turville-Petre, Myth and Religion, S. 244. 491 Böldl, Götter und Mythen, S. 269. 492 Vgl. Turville-Petre, Myth and Religion, S. 244. 493 Adam von Bremen, Hamburgische Kirchengeschichte, Lib. IV, Kap. 26–27, S. 258–260. 494 Übersetzung nach Laurent, Hamburgische Kirchengeschichte, S. 223 f. 495 Vgl. Kiil, Prophetess, S. 171.

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

Rahmen der kultischen Handlungen beim großen Opferfest in Uppsala gesungenen Liedern bescheinigt Adam von Bremen einen so anstößigen Charakter, dass er sie als nicht zitierfähig einstuft. Ähnliche Angaben finden sich auch bei Saxo Grammaticus: Der Held Starkaðr verlässt Schweden, da er es nicht mit seiner Männlichkeit vereinbaren kann, den Opferfeierlichkeiten in Uppsala beizuwohnen: Ubi cum filiis Frø septennio feriatus ab his tandem ad Haconem Daniæ tyrannum se contulit, quod apud Upsalam sacrificiorum tempore constitutus effeminatos corporum motus scænicosque mimorum plausus ac mollia nolarum crepitacula fastidiret. Unde patet, quam remotum a lascivia animum habuerit, qui ne eius quidem spectator esse sustinuit. Adeo virtus luxui resistit.496 Then he [Starkather] entered Swedish territory where he spent seven years in a leisurely stay with the sons of Frø, after which he departed to join Haki, the lord of Denmark, for, living at Uppsala in the periode of sacrifice, he had become disgusted with the womanish body movements, the clatter of actors on the stage and the soft tinkling of bells. It is obvious how far his heart was removed from frivolity if he could not even bear to watch these occasions. A manly individual is resistant to wantonness.497

Betrachtet man Adams und Saxos Schilderungen der Opferfeste in Uppsala, fällt auf, dass die bei beiden Autoren beschriebenen kultischen Handlungen von einer Performanz geprägt sind, die durchaus mit dem Begriff ergi charakterisiert werden kann: Lieder sexuellen Inhalts sowie Tanz und schauspielerische Darstellungen, die mit „effeminierten Körperbewegungen“ (effeminatos corporum mutos) einhergingen und vermutlich starke sexuelle Implikationen aufwiesen,498 spielten eine zentrale Rolle im Rahmen der kultischen Feiern Uppsalas.499 Dass eine Beteiligung an derart anrüchigen Liedvorträgen nach altnordischer Auffassung für beide Geschlechter als anstößig empfunden und gerade im Fall von Männern mit ergi assoziiert wurde, zeigt das bereits angesprochene Beispiel der mansǫngvar, deren obszöner Charakter in eine ähnliche Richtung wie die in Uppsala intonierten Gesänge geht – zumal auch die mansǫngvar gemäß einer Version der Jóns saga helga von Tanz begleitet werden konnten.500 Vielleicht ist die Freyja nachgesagte Vorliebe für die mansǫngvar sogar als Hinweis darauf 496 Gesta Danorum, Lib. VI, S. 154. 497 Übersetzung nach Davidson; Fisher, Saxo, Bd. 1, S. 172. 498 Dass hierbei auch sakrale Prostitution eine Rolle gespielt haben könnte, wirkt anhand der zitierten Beschreibungen nicht unwahrscheinlich, vgl. auch de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 2, S. 192. 499 Vgl. Kiil, Prophetess, S. 171 sowie de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 1, S. 441 f., welcher insbesondere dem Tanz eine bedeutende Rolle im germanischen Kult zuspricht: „Die Bedeutung des Tanzes in primitiven Kultfeiern einerseits, der Charakter des Tanzes bei öffentlichen und privaten Festen in den bäuerlichen Kreisen späterer Zeiten andererseits, machen es schon von vorneherein wahrscheinlich, daß auch im germanischen Kult dem Tanz eine bedeutende Rolle zugekommen sein muß. [. . .] Besonders in Fruchtbarkeitskulten haben die Tänze einen ausgelassenen Charakter, der auch in jüngere Zeit und sogar verbunden mit christlichen Feiern sich erhalten hat.“ 500 Vgl. JBP eptir Gunnlaug múnk, S. 237.

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zu verstehen, welch derb erotischen Charakters die ihr bzw. den Wanen generell zu Ehren dargebrachten Kultlieder waren? Zudem ist hervorzuheben, dass bei Saxo auch an dieser Stelle – vergleichbar der Episode um König Huglecus, welche in den Gesta Danorum unmittelbar an die oben zitierte Passage anschließt – ein deutlicher Kontrast zwischen dem positiv konnotierten, männlichen Starkaðr und dem effeminierten Treiben im Rahmen der Opferhandlungen in Uppsala etabliert wird: Mit der männlichen Natur des Helden ist die Teilnahme und selbst das Zusehen bei derartigen Ausschweifungen den Gesta Danorum zufolge absolut unvereinbar.501 In diesem Kontext ergeben sich konkrete Deutungsmöglichkeiten der Konnotation des seiðr mit ergi: So könnte auch das zu der Ausübung von seiðr gehörige Ritual mit sexuellen Inhalten, besonders in Form von erotische Elemente beinhaltendem Gesang und Tanz verbunden gewesen sein. Dies wäre gut mit der Anbindung dieser magischen Praktik an die Wanen in Einklang zu bringen. Dass Gesang und womöglich auch Tanz generell sehr wichtige Bestandteile des seiðr-Rituals waren, wird in der altnordischen Literatur deutlich erkennbar – man denke nur an die enorme Bedeutung des varðlok(k)ur genannten Zauberliedes für die Durchführung von Þorbjǫrg lítil-vǫlvas Ritual in der Eiríks saga rauða, den Chor aus Jünglingen und Mädchen, der die vǫlva in der Hrólfs saga kraka mit seinem Gesang begleitet, sowie die verlockenden (und tödlichen) Zaubergesänge der seiðr-praktizierenden Familie in der Laxdœla saga. Auch tänzerische Elemente könnten bei der Ausübung des seiðr eine Rolle gespielt haben, wenn man die Formulierung „Slógu þá konur hring um hjállinn“502 / „Da bildeten die Frauen einen Kreis um das (Zauber-)Gerüst“ in der Eiríks saga rauða eher als Reigentanz denn als statische Aufstellung in einem Kreis interpretiert.503 Allerdings wird eine sexuelle Komponente des mit seiðr verbundenen Gesangs abseits der wohl in diese Richtung deutenden, unwiderstehlichen Wirkung der Zauberlieder der seiðr-kundigen Familie auf den heranwachsenden Kári in der

501 Vgl. hierzu auch Turville-Petre, Myth and Religion, S. 219. Man beachte auch an dieser Stelle die in der altnordischen Überlieferung so oft anzutreffende Assoziation von Männlichkeit mit sexueller Affektkontrolle. 502 Eir, Kap. 4, ÍF 4, S. 208. 503 Baetke führt jedoch unter der Bedeutung ‚einen Reigentanz veranstalten‘ nur die Wendung slá hringleik auf (s. Baetke, Wörterbuch, S. 572). Auch Cleasby und Vigfússon verzeichnen unter slá hring um nur die Bedeutung ‚to surround‘ (Cleasby; Vigfusson, Icelandic-English Dictionary, S. 566) – ob die Frauen in der seiðr-Episode der Eiríks saga rauða um die Seherin herumtanzen, muss also spekulativ bleiben. 504 Sehr optimistisch hinsichtlich erotischer Komponenten des seiðr äußert sich Folke Ström, da Káris Ermordung durch seiðr für ihn eindeutig erotische Konnotationen aufweist: „Ännu i dess stadium av uppenbart förfall är det inte svårt att upptäcka sejdens sexuella komponenter. De framgå inte bara av de oförtäckt sexuella anspelningarna i beskyllningarna för ergi utan också mera direkt t.ex. i Laxdœlas skildring av sejden utanför Hruts gård, då den unge Kåre av den sköna sejdsången lockas ut i nattens mörker till en säker död.“ (Ström, Diser, Nornor, Valkyrjor, S. 61).

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VIII Die Konnotation von seiðr und liminaler geschlechtlicher Identität

Laxdœla saga nicht klar ersichtlich.504 Bezeichnend ist jedoch immerhin, dass, wann immer es sich in den altnordischen Quellen um in öffentlichem Rahmen abgehaltene seiðr-Rituale handelt, nur Frauen und allenfalls männliche Jugendliche in der liminalen Phase der Adoleszenz an deren Ausführung beteiligt sind – die Ausübung des seiðr war demnach in erster Linie (wenngleich nicht ausschließlich) Sache von Frauen. Laut Folke Ström stützt dieses Charakteristikum wiederum die ursprüngliche Anbindung des seiðr an Freyja und die Wanen: När en religiös sedvänja på detta sätt betraktas som en specifikt kvinnlig hantering, vilken i den mån den utövas av män anses föraktlig och omanlig, kann man vara tämligen säker på att den från begynnelse tillhört ein huvudsakligen av kvinnor utövad religion. Traditionens av Snorre förmedlade uppgift om Freyja som sejdens upphov får sålunda stöd av de inre kriterier i sejdhanteringen själv leverar.505

Dabei scheinen insbesondere die für die rituelle Praktik des seiðr notwendigen Gesänge ein feminin konnotiertes und daher für einen Mann als unpassend und „abnorm“ empfundenes Element zu beinhalten. Es ist jedoch gut möglich, dass nicht in die Praxis des seiðr eingeweihte Frauen ebenso wenig wie Männer im Allgemeinen an der Performanz des seiðr-Rituals teilhaben können, ohne sich mit ergi in Verbindung zu bringen – vergleichbar der für beide Geschlechter anrüchigen Darbietung der mansǫngvar. Immerhin gestaltet es sich in der Eiríks saga rauða extrem schwierig, eine Frau zu finden, welche die varðlok(k)ur beherrscht, und Guðríðr, die diesen Zaubergesang als einzige kennt, weigert sich zunächst ihn vorzutragen, da sie eine Christin sei. Man beachte, dass auch die mansǫngvar gerade der Kirche ein Dorn im Auge waren – was vielleicht nicht nur an ihrem anstößigen Charakter generell lag, sondern womöglich auch an ihrer Ähnlichkeit zu heidnischen Kultliedern, wie sie im Kontext der Verehrung von Fruchtbarkeitsgottheiten gesungen wurden. Somit wäre die Performanz des seiðr-Rituals analog zu den kultischen Ritualen in Uppsala für beide Geschlechter mit ergi behaftet gewesen. Für ein besseres Verständnis der Konnotation zwischen seiðr und ergi sind die Schilderungen der rituellen Handlungen in Uppsala außerdem von besonderem Interesse, weil sie Parallelen mit der kultischen Verehrung von „fertility deities in the Mediterranean world, where priests were said to dress as women“506 aufweisen. Ein solcher ritueller Geschlechtswandel geht häufig mit der Verehrung von Vegetationsgottheiten einher und ist für den indogermanischen Raum reich belegt.507 Eine äußerst drastische Ausprägung dieses Phänomens findet sich etwa im Kult des Attis

505 Ström, Diser, Nornor, Valkyrjor, S. 61. 506 Saxo Grammaticus. The History of the Danes, Bd. 2: Commentary. Hilda Ellis Davidson and Peter Fisher. Cambridge, New Jersey, 1980, S. 101. 507 Hierzu zählen u. a. geschlechtsgewandelte Kultdiener der babylonischen Ishtar, die kastrierten Adoranten und Priester in den Attis-Kybele-Kulten sowie die Eunuchenpriester der Artemis Diana von Ephesos; vgl. dazu Baumann, Das doppelte Geschlecht, S. 31 sowie S. 168–170.

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und der Kybele (Magna Mater), zu deren niederrangiger Priesterschaft kastrierte Mysten (Gallen, griech. galloi) gehören, die sich in Ekstase selbst entmannen: [. . .] die Gallen versetzen sich durch das Getöse von Handpauken und Cymbeln, lautes Geheul und wirbelnden Tanz, bei dem ihre langen Haare um ihre Häupter flogen, in ekstatische Raserei [. . .] Während dieser Ekstase entmannten sich die Novizen, die in den Kreis der Gallen aufgenommen wurden, mit einem scharfen Stein oder einer Tonscherbe.508

Jedoch ist „ein nicht dauerndes Transvestitentum auf religiöser Grundlage“509 weit stärker verbreitet als ein permanenter kultischer Geschlechtswandel, wie ihn die galloi vollziehen.510 Als ein Mittel, um das eigene Geschlecht zu verändern bzw. männliche und weibliche Geschlechtspotenzen miteinander zu vereinen, dient dabei das Anlegen von Kleidung und Schmucken sowie insgesamt die Nachahmung des anderen Geschlechts.511 Auch innerhalb des seiðr-Rituals könnten die Geschlechtergrenzen durch transvestitische Elemente überschritten worden sein und es ist möglich, dass die Konnotation dieser Magieform mit ergi genau daher rührt: Männliche seiðr-Praktizierende könnten bei der Ritualausübung versucht haben, sich an Freyja als weibliche göttliche seiðr-Meisterin oder an die liminale Geschlechtlichkeit der Wanen insgesamt anzupassen, und somit eine Transgression begangen haben: Whilst there is no direct evidence, the practitioners of seiðr no doubt identified with the patron goddess; this may perhaps be reflected in the way Heiðr, in an apparently human setting, appears to mimic Freyja as she wanders and practices seiðr in Vǫluspá. For men, such an identification would imply effeminancy: but in so far as they served such a goddess they gained feminine sexuality which may have been considered to bestow greater supernatural power by overstepping a limen.512

Freilich gibt es für etwaige transvestitische Bestandteile innerhalb des seiðr-Rituals keinen direkten Beleg in der altnordischen Literatur. Zudem wäre dies nur eine Erklärungsmöglichkeit dafür, warum die Ausübung dieser Magieform durch Männer als inakzeptabel und von der sexuellen Norm abweichend angesehen wurde, denn weibliches Cross-Dressing wird in den altnordischen Quellen nicht mit ergi in Verbindung gebracht (wiewohl auch dieses als Normverstoß streng geahndet wurde).513 Vielleicht können jedoch einige Beobachtungen Clive Tolleys weitere Deutungsmöglichkeiten für die Konnotation der rituellen Praxis des seiðr mit ergi aufzeigen: Tolley setzt die Verbindung von seiðr und ergi mit der finnischen Vorstellung

508 Nilsson, Martin P.: Geschichte der griechischen Religion, Bd. 2. Die hellenistische und römische Zeit. Zweite, durchgesehene und ergänzte Auflage. München, 1961 (Handbuch der Altertumswissenschaft 5:2.2), S. 644. 509 Baumann, Das doppelte Geschlecht, S. 354. 510 Vgl. ebd. 511 Vgl. ebd. 512 Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 164. 513 S. GrgKon, S. 47; vgl. hierzu Kapitel VIII 2.2.2.

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von luonto in Bezug. Dieser zufolge besitzt jeder Mensch eine ihm innewohnende (Lebens-)Kraft, luonto, die Tolley mit dem altnordischen megin (‚Kraft‘, ‚Stärke‘) vergleicht. Nach finnischer Auffassung ist luonto bei Männern stärker ausgeprägt als bei Frauen – und wer nur über schwache luonto verfügt, ist gegen das Eindringen äußerer Einflüsse wie Krankheiten weniger gut gefeit. Wenn nun aber seiðr eher mediumistische Funktion besitzt – was die Analyse der seiðr-Sequenz in der Eiríks saga rauða nahegelegt hat – könnte es für den jeweiligen Ritualpraktizierenden nötig sein, gewissermaßen seine Kraft (an. megin, analog zu luonto) zu verringern, sich durchlässiger zu machen, um mit Geisterwesen interagieren und als Medium fungieren zu können.514 Dass die Praxis des seiðr für beide Geschlechter mit ergi assoziiert ist, würde angesichts seiner mediumistischen Funktion erklärbar und ginge mit Carol Clovers Thesen zu den die altnordische Gesellschaft bestimmenden Geschlechternormen konform,515 die weniger zwischen männlich und weiblich, sondern zwischen starken und schwachen Individuen (magi/megð versus úmagi/úmegð) unterscheiden würden.516 Eine weibliche seiðr-Praktizierende würde aufgrund ihres biologischen Geschlechtes eher in Richtung ergi im Sinne von schwach, passiv tendieren und könnte somit besser als Medium fungieren als ein Mann. Auch sie könnte diese Eigenschaft im Ritual jedoch etwa durch das Überschreiten von (sexuellen) Tabus oder durch Kontrollverlust im Trancezustand verstärken und ihr Verhalten somit als ǫrg bewertet werden. Hingegen müsste ein Mann gewissermaßen seiner virilen Natur extrem entgegenhan-

514 Vgl. hierzu Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 159. 515 Ich schließe mich Clive Tolley an, wenn er die insbesondere von Clunies Ross (vgl. Prolonged Echoes, Bd. 1, S. 206–210) vertretene These ablehnt, dass bei der Ausführung des seiðr Geisterwesen in den Körper des oder der Praktizierenden eindringen würden. Ein Eindringen von Geisterwesen wäre zwar sehr gut mit einer ergi implizierenden unerlaubten bzw. tabuisierten Penetration in Einklang zu bringen (vgl. Clunies Ross, Prolonged Echoes, Bd. 1, S. 209: „Because the shaman and the sorcerer are considered to be possessed and so penetrated by the spirits, their role is thought to be like that of a woman in a sexual encounter.“), jedoch ist bei der ohnehin dürftig ausfallenden Darstellung von seiðr-Ritualen in der altnordischen Literatur nie die Rede von einem Eindringen der Geister, sondern allenfalls von einem Herbeirufen von Geisterwesen (vgl. Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 158). Tolley folgert weiter, dass auch ein Aussenden von Geistern nicht die Kernfunktion des seiðr gewesen sein kann. In diese Richtung deutet z. B. Eldar Heide die Wirkungsweise des seiðr; er spricht von einem „seiðr emissary“, den er mit dem samischen Phänomen des nåejtiendïrre, des „noaidi penis“ vergleicht, einer Art magischem Projektil, welches in einem Akt phallischer Aggression ausgesendet wird, um Feinde zu attackieren (vgl. Heide, Spinning seiðr, S. 167 f. sowie zusammenfassend Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 158, Anm. 9). Die Konnotation des seiðr mit ergi ergibt laut Tolley jedoch nur Sinn, wenn diese Magieform mediumistische Funktion hat und eine Interaktion mit Geisterwesen beinhaltet: „[. . .] it seems unlikely that seiðr would have been conceived as endowed with ergi if its primary mode of operation was not one where the practitioner subjected herself to the power of the spirits, in other words acted as a medium (for example, if the practitioner was primarily concerned with sending spirits out, over whom he or she had power, the attribution of ergi would hardly be applicable [. . .].“ (Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 160). 516 Clover, Regardless of Sex, S. 380.

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deln, um die entsprechende Durchlässigkeit zu erreichen:517 Seine Geschlechtsidentität würde folglich weitaus stärker in Frage gestellt, als dies bei einer weiblichen seiðr-Wirkenden je der Fall sein könnte – was wiederum perfekt zu der geschlechtsspezifisch unterschiedlich stark ausgeprägten Konnotation von seiðr-Praktizierenden mit ergi in den altnordischen Quellen passen würde. Ritueller Geschlechtswandel, namentlich das Anlegen von weiblich konnotierter Kleidung, könnte ein Mittel gewesen sein, um einen Mann „femininer“ und dadurch geeigneter zur Ausübung des seiðr zu machen. Die Möglichkeit eines mit seiðr verbundenen rituellen Geschlechtswechsels wurde bereits von Strömbäck in Erwägung gezogen, der die Konnotation von seiðr und ergi im Licht des auch im nordeurasischen Schamanismus verbreiteten Phänomens des „change of sex“ interpretierte: Bakom denna gamla uppfattning av det omanliga i sejden måste ligga några frånstötande moment i dess metod eller några för nordborna frånstötande egenskaper eller karakteristika hos dess utövare. Nu finns det verkligen ett drag i schamanismen, som på nordnornas språk i hög grad skulle förtjäna namnet ergi. Det gäller, vad etnograferna kalla “the change of sex” bland vissa sibiriska stammar, särskilt bland paleoasiaterna.518

Auch Folke Ström nimmt unter Verweis auf ähnliche Erscheinungen anderer Kulturkreise an, dass „Seiðmänner ihre Kunst in Frauenausstattung betrieben haben“519. Obschon er auf den spekulativen Charakter dieser These hinweist, räumt auch Dillmann eine mögliche Ausübung des seiðr-Rituals von Männern in weiblicher Kleidung ein: Das Anlegen eines Frauengewandes wäre für weibliche seiðr-Praktizierende regelkonform und damit unbedenklich, würde für einen Mann jedoch einen enormen Normverstoß darstellen.520 Schließlich schätzt Dronke „the seiðmenn’s cult not unlike that of the ‘lower-class, itinerant eunuch priests of Cybele’, who wore women’s clothes, consorted with male prostitutes, and claimed mystical knowledge“521 ein. Zudem dient der rituelle Geschlechtswandel oftmals dazu, sich androgynen oder Zwillingsgottheiten522 anzugleichen, welche in vielen Fällen im Kontext von Fruchtbarkeit und Vegetation verehrt werden. Auch die als Geschwisterpaare konzipierten Wanen (Freyr-Freyja,

517 Vgl. Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 159: „Yet if seiðr was rather more mediumistic in its function, it may well have called for such virile resistance to be lowered to allow the spirits access to the medium. A man performing seiðr would therefore be undermining his own nature, his megin [. . .].“ 518 Strömbäck, Sejd, 195. 519 Ström, Loki, S. 72. 520 S. Dillmann, Magiciens, S. 449: „ [. . .] le port d’un tel costume ne pouvait naturellement pas être blâmé pour une femme, tandis que pour un homme il marquait la transgression flagrante d’une règle sociale, en se faisant l’expression d’une conduite méprisable.“ 521 Dronke, Poetic Edda, Bd. 2, S. 362. 522 Auch Zwillinge stehen im mythologischen Kontext in Zusammenhang mit Zweigeschlechtlichkeit; s. hierzu Baumann, Das doppelte Geschlecht, S. 338: „Zwillinge sind in gewissem Sinne auch nur die beiden Hälften einer einzigen mythischen Person, durch Spaltung aus deren Körperhälften entstanden.“

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Njǫrðr-Nerthus), die in ihrer Urform ein und dasselbe androgyne Wesen gewesen sein könnten,523 fallen möglicherweise unter diese Kategorie von Gottheiten. Betrachtet man seiðr als Bestandteil der Kultverehrung der Wanen, wäre seine Assoziation mit ergi also sehr gut mit dem Phänomen des rituellen Geschlechtswandels in Einklang zu bringen. Dass derartige Elemente auch im germanischen Raum bei der kultischen Verehrung bestimmter Gottheiten eine Rolle gespielt haben könnten, lassen nicht nur die Charakteristika der Wanen vermuten, sondern auch die Meldung des Tacitus von dem Priester der Naharnavalen, der in weiblicher Gewandung (muliebri ornatu) einem Kult von männlichen Zwillingsgöttern namens Alcis vorsteht.524 Im Kontext des rituellen Geschlechtswandels lässt der Name der in verschiedenen altnordischen Quellen in Erscheinung tretenden Haddingjar,525 bei denen es sich um zwei von insgesamt zwölf Brüdern handelt, ebenfalls aufhorchen: Seiner Etymologie nach kann er zu an. haddr gestellt werden – was ‚Frauenhaar‘526 bedeutet.527 Die Haddingjar wären demnach diejenigen ‚die ihr Haar wie Frauen tragen‘528. Georges Dumézil interpretiert die beiden Haddingjar als Repräsentationen der in mehreren indoeuropäischen Überlieferungen zu findenden dioskurischen Götter, in deren Zuständigkeitsbereich die Fruchtbarkeit fällt, und erachtet sie als den wanischen Göttern Njǫrðr und Freyr nahestehend, wenn nicht sogar mit diesen identisch.529 Umso interessanter, dass auch Óðinn in der Egill Skalla-Grímsson zugeschriebenen Berudrápa fallhaddr530, ‚der sein Haar offen trägt‘ genannt wird – nimmt dieser Beiname auf sein Übertreten der Geschlechtergrenzen Bezug? Obgleich es diesbezüglich keine Gewissheit geben kann, existieren in jedem Fall einige Anhaltspunkte dafür, dass ein ritueller Ge-

523 Vgl. Böldl, Götter und Mythen, S. 236. 524 S. Tacitus, Germania, Kap. 43, S. 102: „apud Nahanarvalos antiquae religionis lucus ostenditur. praesidet sacerdos muliebri ornatu, sed deos interpretatione Romana Castorem Pollucemque memorant. ea vis numini, nomen Alcis. [. . .] ut fratres tamen, ut iuvenes venerantur.“ / „Bei den Naharnavalen zeigt man einen Hain mit einem uralten Kult. Dessen Vorsteher ist ein Priester in weiblicher Kleidung; man erzählt jedoch von männlichen Göttern, die in römischer Deutung Castor und Pollux heißen. Denn diesen entspricht das Wesen der Gottheit, ihr Name ist Alk(en). [. . .] Sie werden jedoch als Brüder, als junge Männer verehrt.“ (Übersetzung nach Lund, Germania, S. 103). 525 Die Haddingjar werden in der Ǫrvar-Odds saga, der Heiðreks saga sowie in den Hyndluljóð erwähnt. 526 Beides leitet sich ab von germ. *hazdaz, vgl. de Vries, Etym. Wörterbuch, S. 200. 527 Vgl. Reichert, Hermann: Art. „Hadingus“, in: RGA, Bd. 13. Berlin, New York, 1999, S. 264. 528 Vgl. Turville-Petre, Myth and Religion, S. 219 sowie Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 165. 529 Vgl. Dumézil, Georges: La saga de Hadingus (Saxo Grammaticus I, V–VIII). Du mythe au roman. Paris, 1953 (Bibliothèque de l’École des Hautes Études, Section des Sciences Religieuses, 66), S. 123–130. Njǫrðr und Freyr erscheinen in der altnordischen Überlieferung zwar als Vater und Sohn, sind Dumézil zufolge jedoch in jedem Fall einander sehr ähnliche, wenn nicht identische Götter (vgl. ebd., S. 129). Vgl. hierzu auch Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 165. 530 S. Berudrápa, Skj Bd. B I, S. 42.

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schlechtswandel auch im vorchristlichen Skandinavien Teil der Kultpraxis gewesen sein könnte. Die Betrachtung des seiðr im Lichte kultischer Gebräuche zur Verehrung von Vegetationsgottheiten eröffnet ein besseres Verständnis dafür, wieso diese Magieform und ihre Praktizierenden mit ergi assoziiert worden sein könnten. Denn die Überschreitung von Geschlechtergrenzen und somit die Vereinigung beider Geschlechtspotenzen führt zu einer Steigerung der „magisch-religiösen Wirkungsmächtigkeit“531. Geschlechtliche Liminalität – also ergi – bringt folglich einen Zuwachs an übernatürlichen Kräften mit sich: „a sexually liminal position brings with it supernatural powers“532. Als Kernelement des seiðr steht die geschlechtliche Liminalität in unauflöslicher Verbindung mit seinen vegetationskultischen Zügen und bildet eine Ausdrucksform des permanenten Schwellenzustandes, in welchem seiðr-Praktizierende sich aufgrund ihrer Funktion als Ritualspezialisten befinden. Dazu müssen keine konkreten Tabubrüche ihrerseits in ihre Darstellung einfließen – es genügt die Kenntnis des zugrundeliegenden Prinzips, um die entsprechenden Assoziationen bei den Sagarezipienten aufzurufen.

531 Baumann, Das doppelte Geschlecht, S. 39. 532 Tolley, Shamanism, Bd. 1, S. 149.

IX Schlussbetrachtungen Der seiðr-Komplex steht in der altnordischen Überlieferung auf vielfältige Weise mit dem Phänomen der Liminalität in Verbindung: Das Übertreten von Grenzen – zwischen dem Diesseits und der Anderwelt, zwischen Fremd und Vertraut, Mensch und Tier, Männlich und Weiblich – sowie die Unterminierung der dazugehörigen Kategorien sind elementare und bis in alte Überlieferungsschichten zurückreichende Merkmale des seiðr, die in den auf uns gekommenen Texten jedoch nur mehr bruchstückhaft erkennbar werden. In der vorangegangenen Analyse habe ich den Versuch unternommen, diese Mosaikteile innerhalb von seiðr-Episoden der altnordischen Literatur, aber auch im Mythos der beiden göttlichen seiðr-Meister Óðinn und Freyja aufzuspüren, sie miteinander in Bezug zu setzen und zu rekonstruieren, welche gedanklichen Konzeptionen hinter der Verbindung von seiðr und Liminalität stehen. Im Folgenden sollen die dabei gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst werden. Den Ausgangspunkt für die Assoziation liminaler Charakteristika mit dem seiðr und seinen Praktizierenden bilden neben dem auch im mittelalterlichen Skandinavien anzutreffenden, für traditionelle Gesellschaften typischen magischen Denken, vor allem das von einer starken Differenzierung zwischen Innenund Außenraum geprägte altnordische Weltbild: Die Vorstellung, dass dem durch miðgarðr repräsentierten Lebensraum der Menschen ein anderweltlicher Bereich – die útgarðr-Sphäre – gegenübersteht, von dessen Bedrohlichkeit es sich einerseits abzugrenzen gilt, dessen Potential der Mensch jedoch auch für sich zu nutzen sucht, schafft Bedarf für das Wirken von Ritualspezialisten, die zwischen diesen beiden Sphären zu vermitteln vermögen. Damit einhergehend intensiviert sich allerdings zugleich die Furcht vor Schadenszauberern, welche die chaotischen und destruktiven Kräfte der útgarðr-Sphäre gegen die Ökumene zu richten imstande sind. Bei dem Personenkreis, welchem die Fähigkeit zu einer derartigen Interaktion mit dem Anderweltlichen attestiert wird, muss es sich um Grenzgänger handeln, die aufgrund ihres magischen Potentials am Rand der Normgesellschaft stehen und von dieser sowohl ehrfurchtsvoll behandelt, als auch gefürchtet werden. Dass menschliche seiðr-Praktizierende als ebensolche marginalen Figuren zu betrachten sind, zeigt die Vielzahl liminaler Eigenschaften, durch welche sich ihre Darstellung in der altnordischen Literatur auszeichnet: So stammen sie oftmals aus den mit erhöhtem magischen Potential assoziierten Randgebieten Nordens, bei denen es sich zugleich um wichtige Kontaktzonen zu anderen Völkern und Kulturen handelt (Nordnorwegen zu den Samen; die Hebriden zu den Kelten). Diese Verortung zwischen zwei Kulturen lässt womöglich bereits auf eine besondere Befähigung der seiðr-Wirker zur Übernahme einer Vermittlerfunktion schließen. Auch die äußere Erscheinung seiðr betreibender Personen wartet wiederholt mit einem außeralltäglichen Detail auf: der besonderen Qualität und Wirkmächtigkeit ihres Blickes, https://doi.org/10.1515/9783110678772-009

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IX Schlussbetrachtungen

der als „böser Blick“ gefürchtet wird. Ebenso stehen Hinrichtungen und Bestattungen von Magikern, die seiðr als Schadenszauber ausüben, in Bezug zur Liminalität, denn sie erfolgen – zum Schutz der Gemeinschaft vor etwaigem Wiedergängertum – an peripheren Orten wie der Gezeitenlinie. Häufig erscheint sogar die Grenze zwischen menschlichen und anderweltlichen Wesen innerhalb der Darstellung von seiðr-Praktizierenden unscharf: Als Indiz hierfür kann der Bezug des seiðmaðr Þorgrímr nef zum Schmiedehandwerk gewertet werden, welches in traditionellen Kulturen mit dem Anderweltlichen konnotiert ist. Besonders deutlich wird dies jedoch anhand der Affinität seiðr-Praktizierender zu den mit Naturgewalten assoziierten Riesen, sowie vor allem angesichts der engen Verbindung der vǫlur mit den Disen und Nornen als schicksalsbestimmenden, gleichermaßen mit Fruchtbarkeit und Tod konnotierten Frauenkollektiven der altnordischen Mythologie. Menschliche seiðr-Praktizierende werden in der altnordischen Literatur also in der Tat als liminale Personen porträtiert und zwischen Diesseits und Anderwelt verortet. Als Vermittler zwischen diesen beiden Bereichen treten sie insbesondere im Rahmen eines der zentralen Anwendungsgebiete des seiðr in Aktion: der Beeinflussung der natürlichen Umwelt. Ein Interagieren mit der útgarðr-Sphäre wird aber nicht nur in den Saga-Passagen deutlich, die von einer Entfesselung der Elemente mittels seiðr zu destruktiven Zwecken berichten, sondern ist gerade innerhalb der berühmten seiðr-Episode der Eiríks saga rauða erkennbar: Þorbjǫrg lítil-vǫlvas Divination auf dem grönländischen Hof Heriólfsnes zu Zeiten einer Hungersnot geht weit über bloße prädikative Magie hinaus. Vielmehr agiert die vǫlva als eine Art Medium, wenn sie die Essenz der Hofgemeinschaft über ihren Blick, sowie durch den Verzehr der Herzen sämtlicher auf dem Hof gehaltener Tierarten in sich aufnimmt. Somit wird es ihr möglich, die Hofgemeinschaft als Vermittlerin gegenüber der Anderwelt zu repräsentieren: Im Rahmen ihres seiðr-Rituals gelingt es ihr, náttúrur (Geisterwesen, die der útgarðr-Sphäre angehören) anzulocken und den Menschen gegenüber wieder wohlgesonnen zu stimmen. Erst dieser Ausgleich ermöglicht die erneute Prosperität des Landes. Die Seherin vermag im Anschluss an ihr Ritual ihren Gastgebern also ein Ende der Hungerperiode nicht nur aufgrund ihrer prophetischen Gabe anzuzeigen: Sie hat es vielmehr selbst herbeigeführt. Die Betrachtung von seiðr-Episoden im Kontext der biographischen Schwellenerfahrungen Geburt, Adoleszenz und Tod zeigte ebenfalls eine starke Assoziation des seiðr mit Grenzüberschreitungen und Normverstößen. Dies wird schon daran deutlich, dass der Einsatz von seiðr zwar häufig mit den oben genannten Übergangserfahrungen des menschlichen Lebens eng verbunden ist, in den altnordischen Quellen jedoch niemals als Mittel zu deren ritueller Begleitung genutzt wird – ganz im Gegenteil greift seiðr gerade dann bevorzugt als Schadenszauber an, wenn ein Zauberziel aufgrund seines Schwellenzustandes besonders vulnerabel für eine magische Beeinflussung ist. Mehr noch: Oftmals wird durch seiðr überhaupt erst eine entsprechende Befindlichkeit evoziert, wie der tranceartige Zustand des ohnehin in einem liminalen Stadium zwischen Kind und Erwachsenem befindlichen Kári in der Laxdœla saga

IX Schlussbetrachtungen

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oder das unwiderstehliche Schlafbedürfnis König Vanlandis in der Ynglinga saga. Zugleich fungieren in der Ǫrvar Odds saga Schwellenpersonen, nämlich Jugendliche, als Ritualhelfer der vǫlva: Hier zeigt sich bereits die enge Verbindung von geschlechtlicher Liminalität, welche wiederum mit erhöhtem magischem und regenerativem Potential assoziiert wird, und seiðr. Besonderes Augenmerk verdient der Einsatz des seiðr im Kontext von Zeugung und Geburt. Gerade die Rindr-Episode in der Version der Gesta Danorum, aber auch die Vǫlsunga saga berichten von durch seiðr initialisierten Zeugungsakten, die mit eklatanten Normverstößen und Tabubrüchen einhergehen: Transvestismus, Vergewaltigung und Inzest dienen hier als Mittel, um Nachkommen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten zu zeugen, da in der Überschreitung solcher Tabus besonderes Machtpotential liegt. Dass seiðr derartige Normverletzungen in den betreffenden Passagen in Gang setzt, ist ein eindeutiger Hinweis auf die Assoziation dieser Magieform mit Grenzüberschreitungen, insbesondere im Bereich der Sexualität. Auch für die beiden göttlichen seiðr-Meister Óðinn und Freyja konnte eine starke Anbindung an die Themenbereiche Geburt, Adoleszenz und Tod konstatiert werden. Bei Freyja als Angehöriger des mit Vegetation und Fruchtbarkeit konnotierten Göttergeschlechts der Wanen ließ sich vor allem ein enger Bezug zu Geburt und Tod als Anfang und Ende des Lebenszyklus ausmachen; daneben agiert sie in den Hyndluljóð als Initiatorin eines jugendlichen Helden. Óðinns Auftreten als göttlicher Initiator, aber auch als prototypischer Initiant sind besonders stark ausgeprägte Eigenschaften des Gottes, die als ein Ausdruck seiner Anbindung an die Adoleszenz als Phase der Initiation gedeutet werden können. Ein in der Forschung bisweilen weniger beachtetes, aber dennoch sehr wichtiges Merkmal ist Óðinns Verbindung zur Geburt: Sein schöpferisches und regeneratives Potential, seine Beteiligung an der Erschaffung der Welt und der ersten Menschen sowie seine Rolle als göttlicher Patriarch, den auch weltliche Herrscherdynastien gern als Stammherren an die Spitze ihrer Ahnenreihen stellen. Gerade im Kontext der Geburt werden jedoch auch Óðinns Eigenschaften als göttlicher Grenzgänger evident: Um außergewöhnliche Helden zeugen zu können, begeht er Tabubrüche und Verstöße gegen die Geschlechternormen (Inzest, CrossDressing). Auch anhand seiner Affinität zum Tod und den Verstorbenen werden die grenzüberschreitenden Fähigkeiten Óðinns deutlich, denn er ist in der Lage, die Schwelle zwischen Tod und Leben zu überwinden und so verborgenes Wissen zu akquirieren. Hierdurch offenbart sich zugleich erneut das regenerative Potential des Gottes, das auch anhand der Beschreibung des ihm unterstehenden Kriegerparadieses Valhǫll erkennbar wird, in welchem Speis und Trank nie versiegen und die einherjar stetig von neuem im Kampf gegeneinander antreten. Als besonders bedeutsames liminales Merkmal des seiðr erwies sich seine Konnotation mit der Ortsunfestigkeit – einem mit dem Schwellenzustand verbundenen Phänomen. In der altnordischen Überlieferung begegnet Nichtsesshaftigkeit wiederholt als charakteristische Eigenschaft von seiðr-Praktizierenden und wird vor allen Dingen den vǫlur attestiert: So heißt es in der Sagaliteratur oftmals, dass sie

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über das Land ziehen, um ihre Prophezeiungen zu tätigen. Wo diese in Richtung des Vagabundierens weisende Erwähnung nicht stattfindet, begeben die vǫlur sich immerhin noch im Rahmen ihrer rituellen Tätigkeit von Hof zu Hof, um Einladungen zum Gastmahl nachzukommen und dort ihre Divinationen zu wirken. Dabei scheint die rituell bedingte Ortsunfestigkeit der Seherinnen ihre Vermittlerposition zwischen dem Diesseits bzw. der miðgarðr-Sphäre und der Anderwelt bzw. der útgarðr-Sphäre widerzuspiegeln: Die vǫlur kommen als Außenstehende zu der jeweiligen Hofgemeinschaft und werden von dieser in Dienst genommen, um jenseitiges Wissen über zukünftige Geschehnisse zu erlangen und offenbar auch, um positiv auf diese einzuwirken. Ihr Umherziehen könnte somit als der rituelle Ausdruck eines „Wanderns zwischen den Welten“ zu verstehen sein. Zugleich weisen die Einladungen der vǫlur zu den auf Höfen veranstalteten Gastmählern vegetationskultische Bezüge auf, da sie zeitlich mit den zu Ehren Freyrs und der Disen abgehaltenen winterlichen Opferfesten für eine gute Ernte zusammenfallen. Zudem ist zumindest anhand der seiðrPassage der Eiríks saga rauða ein Einwirken auf die natürliche Umwelt seitens einer vǫlva gut erkennbar. Dass der Assoziation der vǫlur mit Ortsunfestigkeit ein komplexes und weit zurückreichendes Überlieferungsgeflecht zugrundeliegt, wird anhand der Berührungspunkte dieser Figuren mit den fahrenden Frauen (faranda konur) umso deutlicher: Die in einer Reihe von germanischen Sprachen belegten Begriffe für ‚fahrende Frau‘ werden häufig sowohl in der Bedeutung ‚Landstreicherin‘ als auch ‚Hure‘ verwendet. Auch die faranda konur der altnordischen Überlieferung sind mit einer freizügigen Sexualität konnotiert, da sie nicht durch das Gesetz vor Übergriffen beschützt wurden und somit praktisch sexuell frei verfügbar waren. Sehr alt und gemeingermanisch belegt ist zudem die Assoziation fahrender Frauen mit Zauberkunst und Hurerei, die schon in den Malbergischen Glossen der im 6. Jahrhundert entstandenen Lex Salica begegnet. Zugleich werden sie mit Heilkunde in Verbindung gebracht. Nicht nur die vǫlur, sondern auch Óðinn als göttlicher seiðr-Meister hat Anteil an diesem Merkmalskomplex, da im Mythos des Gottes die Elemente der nonkonformen Sexualität sowie der Nichtsesshaftigkeit, Heilkunde und Zaubermacht ebenfalls miteinander verbunden sind. Sie sind interessanterweise gerade in aus älteren Überlieferungsschichten stammenden Zeugnissen, wie den völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten, anzutreffen und waren offenbar so charakteristisch für den Gott, dass sie zu der bis in die Antike zurückzuverfolgenden Identifikation Wotans/ Óðinns mit Hermes/Merkur geführt haben dürften: Beide Götter gelten den sie jeweils verehrenden Kulturen nicht nur als Erfinder der Schrift, sondern sind zugleich wandernde Gottheiten, die über magisches und heilkundliches (Kräuter-)Wissen verfügen. Óðinns Ortsunfestigkeit ist also ein bedeutendes und sehr altes Merkmal dieses Gottes, das zusammen mit seiner in der altnordischen Überlieferung oftmals wechselnden äußeren Erscheinungsform und dem Verbergen seiner wahren Identität als eine liminale Eigenschaft Óðinns definiert werden kann. Sie steht sowohl in Verbindung zu dem unvorhersehbaren, teils bedrohlichem Agieren des Götterfürsten als

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Schicksalsmacht, als auch zu seinem regenerativen, heilkundigen und unheilabwehrenden Potential. Bei Freyja ist der Aspekt der Ortsunfestigkeit weniger stark ausgeprägt, steht jedoch offensichtlich in Zusammenhang mit ihrer Eigenschaft als Vegetationsgottheit, wie ein Vergleich ihrer Gattensuche mit ähnlichen Elementen im Mythos verschiedener vorderorientalischer Vegetationsgöttinnen zeigt. Akzeptiert man eine Gleichsetzung Freyjas mit der rätselhaften Frauengestalt Gullveig/Heiðr in der Vǫluspá, würde dieses eddische Lied darüber hinaus von einer Verbindung zwischen Freyjas Umherziehen und ihrem magischen Wirken als prototypische vǫlva zeugen. Gewissermaßen als Gipfel der physischen Ortsunfestigkeit weisen Óðinn und bisweilen menschliche seiðr-Praktizierende die Fähigkeit zu Seelenreise und Gestaltwandel auf, was bei Freyja allerdings kaum erkennbar ist. Große Aufmerksamkeit verdient zudem der Umstand, dass das Auslösen von psychischen wie auch physischen Unruhezuständen als charakteristisches Merkmal von zu Schadenszwecken eingesetztem seiðr schlechthin gewertet werden kann. Der dadurch erwirkte Kontrollverlust versetzt das Zauberziel in einen äußerst angreifbaren Zustand und lockt es in den Einflussbereich des seiðr-Wirkenden – bei dem es sich wiederum nicht selten um die útgarðr-Sphäre handelt, welche sich in der altnordischen Literatur als „Wildnis“ in Form von Sümpfen, Klippen, Außeninseln oder auch nur dem Bereich außerhalb des elterlichen Hofes manifestieren kann. Eng mit den Phänomenen der Ruhelosigkeit und des Kontrollverlustes assoziiert ist auch die Konnotation von seiðr und ergi – das wohl prominenteste Merkmal dieser Magieform, welches ebenfalls als ein liminaler Zug des seiðr und seiner Praktizierenden definiert werden kann. Denn das durch den Begriff ergi angezeigte Überschreiten der Geschlechterkonventionen führt zu der von Turner als ein Charakteristikum des Schwellenzustandes definierten Minimierung der Geschlechterunterschiede, indem es die Grenzen zwischen „männlich“ und „weiblich“ aufweicht. Als Konzept ist ergi allerdings recht breit gefasst, weswegen eine Interpretation des Begriffs als „Unmännlichkeit“ zwar in Bezug auf einen Mann richtig ist, jedoch letztlich zu kurz greift – schon alleine, da auch das Verhalten einer Frau unter die Kategorie ergi fallen kann. Für beide Geschlechter bedeutet ergi einen enormen Verstoß gegen die Geschlechternormen der altnordischen Gesellschaft: In Bezug auf Männer verwendet, impliziert er ein als unmännlich empfundenes Verhalten, das mit Schwäche, Feigheit und rezeptiver Homosexualität assoziiert wird und stellt den wohl stärksten Vorwurf dar, mit dem die Ehre eines Mannes verletzt und seine Maskulinität in Frage gestellt werden kann. Für Frauen beinhaltet der Vorwurf von ergi eine zügellose Triebhaftigkeit, die in Form von sexueller Freizügigkeit, Promiskuität und sogar Inzest in Erscheinung treten kann. Beide Bedeutungsnuancen liegen allerdings nicht weit auseinander, denn die entscheidende Komponente des ergi-Komplexes ist die enge gedankliche Verknüpfung von ergi mit übersteigerter und unkontrollierbarer weiblicher Sexualität, woher auch die Implikationen von „Unmännlichkeit“ und rezeptiver Homosexualität rühren, wenn

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der Terminus in Bezug auf einen Mann verwendet wird. Es ist daher zielführender, den Bedeutungsgehalt des Begriffs ergi mit Carol Clover basierend auf zwei grundlegenden Prinzipien in der altnordischen Konzeption von Geschlechterrollen zu erfassen: Positiv bewertete Eigenschaften wie Selbstbestimmung, Affektkontrolle, Freiheit, Mut, Stärke und Aktivität werden mit „Männlichkeit“ assoziiert, wohingegen als negativ betrachtete Merkmale wie Abhängigkeit, Triebhaftigkeit, Animalität, Unfreiheit, Schwäche, Feigheit und Passivität mit „Weiblichkeit“ konnotiert werden. Dies wird besonders deutlich im níð, wenn Männer der Verwandlung in Frauen oder weibliche Tiere sowie eines unstillbaren sexuellen Verlangens nach anderen Männern oder gar nach für ihre derbe Sexualität bekannten Riesen und Trollen bezichtigt werden. Es erscheint vielsagend im Kontext der Verbindung von ergi und seiðr, dass sowohl in der Helgakviða Hundingsbana in fyrri als auch in der Lokasenna jeweils ein Mann auf höhnische Weise mit einer vǫlva verglichen wird, wobei diese sich gerade in der Helgakviða Hundingsbana in fyrri durch sexuelle Freizügigkeit auszeichnet. Allerdings sind in der altnordischen Literatur nur wenige konkrete Belege für eine Konnotation von seiðr und ergi vorhanden: Wörtlich erwähnt wird eine solche nur in der kurzen Redaktion der Gísla saga Súrssonar, um das Vorgehen Þorgrímr nefs bei einem seiðr-Ritual zu beschreiben, sowie in der Ynglinga saga und der Lokasenna. In der Ynglinga saga geht es dabei um die nähere Charakterisierung des seiðr als eine der magischen Fähigkeiten Óðinns; in der Lokasenna werden Zauberhandlungen des Götterfürsten als argr beschrieben, da sie denen einer vǫlva gleichen. Daneben verweisen jedoch diverse indirekte Belege wie die Begriffe seiðskratti, seiðberendr oder der Beiname slíkisteinsauga auf einen Zusammenhang zwischen der Ausübung von seiðr und Weiblichkeit bzw. weiblicher Sexualität, dem Animalischen und teilweise sogar einer liminalen Geschlechtsidentität. Die in der vorliegenden Arbeit vorgestellten Zeugnisse machen deutlich, dass es sich angesichts dieser fragmentarischen Hinweise auf eine Konnotation des seiðr mit geschlechtlicher Liminalität bei letzterer nicht um eine bloße Erfindung der mittelalterlichen Sagaautoren handeln kann, sondern dass sie vielmehr auf alten Schichten der altnordischen Überlieferung beruht. Was Züge von geschlechtlicher Liminalität bei seiðr-Praktizierenden betrifft, ergab sich für die beiden göttlichen seiðr-Meister Óðinn und Freyja eine enge Assoziation mit ergi. Óðinn wird explizit damit in Verbindung gebracht, wobei hierbei offensichtlich auf den Geschlechterkonventionen zuwiderlaufende Qualitäten seiner magischen Aktivitäten – namentlich seiner Ausübung des seiðr – abgezielt wird. Daneben begeht der Gott noch weitere unter die Kategorie ergi fallende Tabubrüche wie Cross-Dressing und Inzest. Diese Normverstöße dienen durchweg dazu, das magische bzw. regenerative Potential Óðinns zu steigern. Sie sollten nicht als Belege für eine etwaige Androgynität Óðinns gewertet werden, sondern gehören – wie auch seine Ortsunfestigkeit – vielmehr zu einem Merkmalsset des Gottes, das aus seinen Eigenschaften als Grenzgänger resultiert: Er kann sowohl die Grenze zwischen Mensch (bzw. menschlicher Gestalt) und Tier, miðgarðr und útgarðr als auch zwischen Mann und Frau überwinden. Freyja wird hingegen nie explizit als

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ǫrg bezeichnet, begeht jedoch praktisch jeden für eine Frau nur denkbaren, unter der Rubrik ergi zu subsumierenden Bruch mit den altnordischen Geschlechterkonventionen: Sie ist promiskuitiv, hat Gefallen an derb erotischen Liedern, prostituiert sich und frönt mit ihrem Bruder dem Inzest. Offensichtlich steht Freyjas ungezügelte Sexualität in Zusammenhang mit ihrer Eigenschaft als wanische Vegetations-, Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin. Hinsichtlich einer Konnotation menschlicher seiðr-Praktizierender mit ergi sind allerdings große Leerstellen in der altnordischen Literatur zu verzeichnen. Es existiert nur ein wörtlicher Beleg, nämlich die bereits erwähnte Passage aus der Gísla saga Súrssonar, für die Verbindung eines männlichen seiðr-Wirkers mit diesem Konzept. Auch indirekt lassen sich der Darstellung männlicher seiðr-Praktizierender kaum Hinweise auf eine von der Norm abweichende geschlechtliche Identität bzw. ein dementsprechendes Sexualverhalten entnehmen. Es scheint, als könne sich die Verknüpfung von ergi und seiðr nur auf die rituelle Praxis dieser Magieform beziehen und zum Merkmalsset der permanenten Liminalität gehören, welches seiðr-Praktizierende als Ritualspezialisten und Schwellenpersonen aufweisen. Diesen Eindruck gewinnt man auch anhand der Darstellung seiðr-betreibender Frauen in den altnordischen Quellen: Zwar wird die Figur der vǫlva immerhin in mythologischen Texten mit sexueller Freizügigkeit in Verbindung gebracht, dies spiegelt sich aber in der Sagaliteratur bis auf wenige Ausnahmen kaum wider. Auch im Fall der weiblichen seiðr-Praktizierenden könnte jedoch ein Überschreiten der Geschlechternorm mit der rituellen Praxis dieser Magieform einhergehen, da die vǫlur in ihrer Eigenschaft als Ritualspezialistinnen mehrheitlich als ungebundene, außerhalb patriarchalischer Strukturen agierende Frauen in Erscheinung treten. Der letzte Abschnitt der vorliegenden Arbeit befasste sich mit Erklärungsmöglichkeiten für den Ursprung der Konnotation von ergi und seiðr. Hierbei wurde eine im kultischen Bereich gründende Entwicklungslinie als die vielversprechendste Variante gedeutet, denn die vegetationskultischen Züge des seiðr und seine Anbindung an die Wanen lassen sich mit dem Phänomen des kultischen Geschlechtswandels in Verbindung bringen. Dieser ist gerade innerhalb der Verehrung von Vegetationsgottheiten im indogermanischen Bereich weit verbreitet und bietet eine Erklärung dafür, wieso auch die Ausübung des seiðr – insbesondere seitens männlicher Praktizierender – ursprünglich mit einer Überschreitung der Geschlechtergrenzen, etwa in Form transvestitischer Elemente, konnotiert gewesen sein könnte. Zugleich wurde erwogen, dass sowohl Männer als auch Frauen sich im Zuge des seiðr-Rituals des Tabubruchs (vor allem des Abweichens von der jeweiligen Geschlechterrolle) bedient haben könnten, um ihre Durchlässigkeit als Medium zu erhöhen sowie ihr magisches Potential insgesamt zu steigern. Basierend auf den in dieser Untersuchung vorgestellten liminalen Charakteristika des seiðr und seiner Praktizierenden ergeben sich einige weitere Forschungsansätze. So könnte eine anschließende Arbeit etwa näher beleuchten, welche Funktionen seiðr-Praktizierende aufgrund ihres liminalen Status im narrativen Gefüge einzelner

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Sagatexte erfüllen. Hierbei könnte insbesondere die Frage im Fokus stehen, ob und inwiefern seiðr-Wirker als ‚Figuren der/des Dritten‘1 konzipiert werden. Ferner wäre es auch möglich, die bis in Runeninschriften des 7. Jahrhunderts zurückzuverfolgende Verbindung zwischen ergi und Ruhelosigkeit, die augenscheinlich im Fluchkontext eine bedeutende Rolle spielte, gesondert zu untersuchen. Ihren Spuren könnte in einem größeren Kontext, also auch in der Überlieferung anderer Kulturen des indoeuropäischen Raumes, nachgegangen werden. Nicht zuletzt wäre es auch eine lohnende Forschungsaufgabe, die diversen Erscheinungsformen geschlechtlicher Liminalität in Mythos und Kult, welche innerhalb der germanischen Überlieferung greifbar werden, mit Schwerpunkt auf den altnordischen Bereich zusammenzutragen und detailliert vorzustellen. Denn dieses alte und weit verbreitete Phänomen bildet – wie die vorliegende Arbeit gezeigt hat – den Hintergrund für die Infragestellung der altnordischen Geschlechterrollen in Magie und Kult.

1 Vgl. beispielsweise Breger, Claudia; Döring, Tobias: Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Amsterdam, Atlanta, 1998 (Internationale Forschung zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, 30) oder Eßlinger, Eva et al. (Hgg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Berlin, 2010.

Abkürzungsverzeichnis Siglen Ágr Anon Eirm Bdr BjH Eb Eg Eir Eyv Hák Flat Fm Fornk Frið Gautr GHr Gísl Gíslx GrgKon GrgStað Grm Gul GunnK Gylf Haralds saga hárf Haustl Háv Hdl Heiðr HG HistNorv Hkr Hrafnk Hrbl Hrólf Hunn Húsdr Íslb JBP Korm Krák Laxd Ldn Ls

Ágrip af Nóregskonunga sǫgum Eiríksmál Baldrs draumar Bjarna saga Hítdœlakappa Eyrbyggja saga Egils saga Skalla-Grímssonar Eiríks saga rauða Hákonarmál Flateyjarbók Fáfnismál Fornkunga saga = Sǫgubrot (af nokkrum fornkonungum) Friðþjófs saga frækna Gautreks saga Gǫngu-Hrólfs saga Gísla saga Súrssonar, Redaktion M Gísla saga Súrssonar, Redaktion S Grágás, Konungsbók Grágás, Staðarhólsbók Grímnismál Gulaþingslǫg Gunnars saga Keldugnúpsfífls Gylfaginning Haralds saga ins hárfagra Haustlǫng Hávamál Hyndluljóð Heiðreks saga = Hervarar saga ok Heiðreks konungs Hrólfs saga Gautrekssonar Historia Norvegiae Heimskringla Hrafnkels saga Freysgoða Hárbarðsljóð Hrólfs saga kraka Hunnenschlachtlied = Hlǫðskviða Húsdrápa Íslendingabók Jóns saga helga Kormáks saga Krákumál Laxdœla saga Landnámabók Íslands Lokasenna

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Abkürzungsverzeichnis

NGL Nj Norn Od ÓH Orkn OStór ÓT Rm Skáldsk Sd Skm SnE Snegl Stu Sǫrla Vatn Vm Vsp Vǫls Yngl saga Yt Þhorn Harkv Þrk Þul ÞÞ Ǫgm Ǫlk Ǫrv

Norges gamle Love Njáls saga Norna-Gests þáttr Oddrúnargrátr Óláfs saga helga Orkneyinga saga Orms þáttr Stórólfssonar Óláfs saga Tryggvasonar Reginsmál Skáldskaparmál Sigrdrífomál Skírnismál bzw. For Scírnis Snorra Edda Sneglu-Halla þáttr Sturlunga saga Sǫrla þáttr Vatnsdœla saga Vafþrúðnismál Vǫluspá Vǫlsunga saga Ynglinga saga Ynglingatal Haraldskvæði Þrymskviða Þulur Þiðranda þáttr ok Þórhalls Ǫgmundar þáttr dytts Ǫlkofra þáttr Ǫrvar-Odds saga

Textausgaben FAS EA A EA B ÍF Skj STUAGNL

Fornaldar sögur Nordrlanda Editiones Arnamagnæanæ, Series A Editiones Arnamagnæanæ, Series B Íslenzk Fornrit Finnur Jónsson, Den norsk-islandske Skjaldedigtning Samfund til Udgivelese af Gammel Nordisk Litteratur

Nachschlagewerke und Forschungsliteratur ANF APhS HdA HRG

Arkiv för nordisk filologi Acta philologica Scandinavica Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte

Nachschlagewerke und Forschungsliteratur

HrwG KLNM LexMA MM RGA

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Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder fra vikingetid til reformationstid Lexikon des Mittelalters Maal og Minne Reallexikon der Germanischen Altertumskunde

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Register Sonderzeichen: æ wurde unter a eingeordnet, œ und ǫ unter o, Þ wird als th gewertet. Abundia 171, 272–273 Adam von Bremen 4, 27, 57, 93, 134, 156, 325–326 Ægir 25, 33, 75, 82, 261, 316 Ældre Borgarþings Kristenret 59 Ágrip af Nóregskonunga sǫgum 215, 279 Alben 33, 45, 70, 105, 224, 263, 306, 312, 316, 318 Alcis 332 Álfheimr 105, 312 Alfǫðr 107, 126, 304 Althing 4, 230, 293, 317 Anderwelt 45–46, 48–49, 55, 84–85, 91, 168, 243, 335–336, 338 Angrboða 44 Áns saga Bogsveigis 257–259 Aphrodite 104, 106 Artemis 95, 103–104, 122–125, 135, 150, 328 Asen 30–34, 37, 41–42, 94, 106, 125, 192, 194, 241, 269, 306, 312, 316, 318, 321 Ásgarðr 33, 35, 41–43, 46, 81, 155–156 Astarte 104 Attis 187, 328–329

Brísingamen 32–33, 101–103, 125, 202, 312, 318 Brynhildr 235–236

Baldr 21–22, 28–29, 41, 70, 83, 94, 96–97, 99, 118, 120, 155, 173–176, 183, 263, 343 Baldrs draumar 21, 28–29, 70, 118, 155, 173–174, 343 Bataver 170 Beda Venerabilis 107 Beowulf 101, 120, 294 Berserker 24, 48, 133, 135 Berudrápa fallhaddr 332 Bestla 40 Bildstein 34, 48, 70, 152, 155 – Alskog Tjängvide I 152 – Ardre VIII 70, 152 – Lärbro Stora Hammars I 34, 155 Bjarna saga Hítdœlakappa 248–250, 343 Blick, böser 69–70, 84, 202, 336 Blóðughófi 81 Brakteat 180–184, 338

Ectors saga 25, 74, 279 Egill Skalla-Grímsson 14, 146, 203–204, 230, 233, 250, 260, 309, 332 Egils saga Skalla-Grímssonar 14, 18, 146, 203, 230, 343 einherjar 28, 148, 152, 154, 156–157, 337 Eiríkr blóðøx 60, 152, 203, 219, 295, 297 Eiríks saga rauða 16, 18, 21, 58, 76, 88, 90–91, 168–171, 198, 280–282, 327–328, 330, 336, 338, 343 Eiríksmál 153, 343 Ekstase 6, 31, 90, 197, 199, 264–265, 301, 329 ergi 1, 3, 7, 26, 30, 176, 213, 216, 218, 220–226, 231, 240–242, 244–247, 249–253, 256–257, 259–260, 263–264, 267–269, 271, 274–278, 283–286, 288–295, 297, 299–314, 316, 318–321, 324–330, 332–333, 339–342

https://doi.org/10.1515/9783110678772-012

Canon episcopi 123 Ceres 149 Chatten 132–134 Codex regius 118, 261, 263, 265, 301 Cross-Dressing 97, 99, 106, 108, 158–159, 226, 238, 302–304, 329, 337, 340 dame Abonde 171–172, 272 Diana 24, 122–125, 135, 150, 165, 172, 328 dísablót 80, 169, 322 Disen 45, 76, 78–84, 105, 115, 130, 135, 144, 147–151, 168–169, 172, 174, 175, 286, 324, 336, 338 dísir Siehe Disen Divination 1, 8, 13, 15–17, 20, 24, 49, 59, 82–83, 88, 167–169, 196, 215, 264, 271, 311, 322, 336 Draupnir 29, 106 Duggals leiðsla 224 Dumuzi 187

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Register

– argr 2, 221–222, 226, 241, 246, 248, 250, 261, 266, 277, 283–284, 292, 297, 299–300, 302, 316, 319, 340 – ǫrg 222–223, 226, 306, 314, 317, 319–320, 331, 341 Eyrbyggja saga 14, 16, 19, 76, 113–115, 117, 135, 144, 146, 158, 196, 202, 309–310, 343 Fáfnismál 77, 131, 343 Fahrendes Volk 161–163 – Fahrende Frauen 162, 164–165, 318 – faranda konur 164, 267, 310–311, 314, 338 Fárbauti 41 Fenriswolf 28, 43, 152, 225, 274 finnar Siehe Samen Firmafengr 261 Flateyjarbók 33, 79, 82, 104–105, 118, 259, 270, 343 Fólkvangr 33, 47, 146, 151 Freiseele 113, 136, 195–196, 198, 203, 308 Freyja 1, 3, 31–34, 42, 80–81, 83, 93, 100–106, 108, 118–126, 135, 139, 146–151, 158, 171, 186–187, 189–194, 198–199, 202, 210, 269–270, 286, 290, 306, 311–312, 314–321, 323, 325–326, 328–329, 332, 335, 337, 339–341 Freyr 31–32, 41, 81–83, 93, 96, 105, 120, 151, 169, 183, 186, 188–191, 223, 306, 318, 321, 323–325, 332, 338 Friedlosigkeit 39, 86, 242 Frigg 100–101, 174, 263, 305 Friðþjófs saga frækna 200–201, 343 Frostraþingslǫg 271 Fylgjen 45, 76, 78–79, 115, 141, 286 Gallen 31, 43, 329 galloi Siehe Gallen Garðaríki 207 Gautreks saga 156, 343 Gefjon 122–125, 164–165, 261, 267, 272, 305, 309, 311–314 Germania 3, 133–134, 181, 188–189, 214, 256–257, 332 Gersimi 33 Gerðr 41, 94, 96, 208, 223 Geschlechtswandel 7, 244, 247, 262–263, 268–270, 304, 328–329, 331–333, 341

Gesta Danorum 3, 95–97, 106, 131, 176, 179, 185, 208, 267, 296, 302–303, 326–327, 337 Gesta Hammaburgensis 3, 27, 57, 156, 325 Gestaltwandel 30, 90, 95, 195, 197, 199–200, 202, 210, 269, 339 Getica 107 Gísla saga Súrssonar 17, 24, 62, 65, 69–71, 73, 86, 205–206, 216–218, 279, 289–293, 299, 320, 323, 340–341, 343 Gjallarhorn 127 Gǫngu-Hrólfs saga 18, 25, 74–75, 207–208, 343 Grágás 11–12, 116, 164, 227–228, 242–243, 246, 315, 343 Grani 130, 252, 311 Grímnismál 37, 78, 105, 126–127, 154, 173–175, 179, 343 Gulaþingslǫg 11–12, 15, 64, 242–243, 245–246, 254–255, 271, 343 Gullinborsti 120 Gullveig 192–194, 318, 339 Gunnars saga Keldugnúpsfífls 204, 258, 343 Gunnhildr 60, 203, 250, 309 Gunnlǫð 41, 199 Gylfaginning 29, 32, 36, 42, 78, 94, 106, 124, 151, 154, 270, 313, 315, 343 Gymir 81 Haddingjar 332 Hadingus 131, 179, 332 Hákonarmál 148, 153, 343 Hálfdanar saga Barkarsonar 279 Hálogaland 18, 57–58, 60, 84, 87, 322 hamr 113–114, 196 – hamfar 197 – hamhleypa 197 – hamramr 197 Haraldr hárfagri 59–60, 215, 220, 283, 285, 297 Haralds saga ins hárfagra 59, 60, 219, 277, 343 Haraldskvæði 24, 344 Hárbarðsljóð 34, 95–96, 343 Hárr 181, 192 haugbrot 48, 283 haugbúar 47–48 Hauksbók 222

Register

Haustlǫng 41, 102–103, 312, 343 Hávamál 28–29, 41, 127, 154–155, 181, 185, 265–266, 343 Haðaland 60, 219–220, 279, 295 Hebriden 57–58, 84, 172, 309, 335 Heimdallr 82–83, 102, 202, 305, 312–313 Heimskringla 1, 17, 59, 63, 87, 169, 185, 218–220, 343 Heiðreks saga 47, 149, 175, 179, 236, 300, 332, 343 Heiðrún 154, 317 Hel 28, 36, 47, 129–130, 155, 157, 174, 233, 263 Helgakviða Hundingsbana I 67, 77, 251, 311, 340 Helgakviða Hundingsbana II 66–67 Hengist 107 Hermes 29, 156, 181–183, 338 Herodias 123, 165, 272 Hervarar saga ok Heiðreks konungs Siehe Heiðreks saga Hexe 9, 34, 165, 262, 266, 272–273, 310, 318 Hexer 25, 72–73, 279 Hildisvíni 120–121, 147 Historia ecclesiastica gentis Anglorum 107 Historia Langobardorum 182 Historia Norvegiae 58, 60, 63, 138–139, 149–150, 218, 220–221, 285, 295, 297, 343 Hjalti Skeggjason 317 Hjaðningavíg 34, 148 Hlebarðr 96 Hlér Siehe Ægir Hnoss 33 Hœnir 29, 107 Holda 123, 165 Homiliubók 253 Homosexualität 222, 225, 245–248, 252–257, 259, 277, 284, 290, 296, 305, 339 Horsa 107 Hǫrðaland 219 Hǫðr 94 Hrafnkels saga Freysgoða 81, 260, 343 Hrólfs saga Gautrekssonar 237, 343 Hrólfs saga kraka 17, 198, 237, 327, 343 hrossvalr 67, 200 Huginn 30 hugr 30, 113–114, 195–196, 198

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Húsdrápa 41, 102–103, 202, 343 Hymir 42 Hyndla 33, 118–121, 191–192, 270, 317 Hyndluljóð 33, 82, 118–121, 126, 135, 147, 151, 158, 191–192, 262, 270–274, 300, 316, 332, 337, 343 Hypnos 136 Inanna 187 Initiation 28, 30–31, 51, 93, 109, 118–119, 121, 126–128, 131, 133–135, 265, 269, 306, 337 – Initiationsritus 119, 123, 127, 132, 155 Ishtar 148, 187, 328 Isis 187 Íslendingabók 343 Iðunn 305 Jóns saga helga 315–316, 326, 343 Jordanes 107 Jǫrð 94, 106, 303 Jǫtunheimr 199 Kirke 183 kólbitr 257 Kormákr Ǫgmundarson 94, 96–97, 267, 303 Kormáks saga 67–68, 93, 200, 310, 343 Krákumál 80, 343 Kristni saga 244–245, 253, 317 kveldriður 113–114, 201, 266 Kybele 187, 191, 328–329 Landnahme 45 Landnámabók 14–15, 17, 46, 55, 57, 75, 87–88, 112, 114, 117, 144, 158, 214, 235, 309, 343 landvættir 45–46, 49, 250 Laufey 41 Laxdœla saga 17–18, 21, 24, 58, 61, 63, 65, 67–69, 71, 75, 85, 87, 112, 115–116, 135, 142, 144, 158, 172, 215, 217, 229, 234–235, 238, 279–280, 282, 285–286, 289, 293–294, 309, 312, 322, 327, 336, 343 Lex Salica 165, 338 Liminalität 2, 35, 49–56, 60–61, 63, 70, 84, 93, 117, 124, 134, 145, 159, 161, 163, 168, 186, 201–203, 208–210, 213, 266, 268, 273, 275, 282, 289–290, 300, 302–304, 306, 312, 314, 319–321, 325, 329, 333, 335–342

368

Register

– liminale Phase 3, 52–53, 56, 112, 132, 161, 282, 328 – Liminalitätstheorie 109 Ljósvetninga saga 248 Lokasenna 30, 32–34, 81, 95, 125, 175, 250, 261, 263–265, 267–270, 273, 300–302, 305–306, 311–312, 316, 318–319, 340, 343 Loki 30, 32–34, 36, 40–42, 44, 101–103, 125, 175, 199, 202, 261–270, 300–302, 305, 311–312, 316, 318, 331 Lóðurr 29, 107 Magie 2, 4–5, 8–14, 16–20, 23–24, 29–32, 34, 47, 49, 56–58, 60, 63, 70–71, 73–74, 76, 84–86, 88, 91, 95, 99, 110–115, 117–118, 123, 125, 127, 131, 135–138, 140, 142–143, 148, 158, 168–171, 183, 193–194, 196, 199, 204–210, 213–215, 218, 220–221, 224, 250, 263–267, 270, 273, 276–277, 280–282, 287–290, 292–295, 297–298, 300–304, 308–309, 311, 319, 321–322, 327, 333, 335–336, 338–342 – Kampfmagie 15, 18, 25, 30, 214 – Magiepraktizierende 14, 55, 58, 67, 69, 74, 166, 214, 270, 273, 280 – Magier 29, 31, 34, 109, 202 – Runenmagie 14, 214 – Schadensmagie 13–14, 23–24, 86, 207, 209, 217, 219, 221, 293, 309 Magna Mater 187–188, 329 Mahr 137–139, 150, 308 Männerbund 131–132, 134 mansǫngvar 315–316, 326, 328 mara Siehe Mahr Medium 28, 91, 168, 322, 330, 336, 341 Merkur 29, 157, 181–183, 338 Merseburger Zaubersprüche 183–185 meykóngr 237–238 Midgardschlange 35, 43–44, 91 Mímir 29–30, 126, 177, 185 Minerva 123, 165 miðgarðr 35–37, 40–41, 43–44, 48–49, 88, 93, 145, 168, 243, 306, 335, 338, 340 Mjǫllnir 42–43 Moiren 77, 106 Moly 183 Mönchspfeffer 122 Mǫðruvallabók 247 Muninn 30

Nachtreiterei 113–115, 139, 195, 201 Naharnavalen 332 Nál Siehe Laufey náttúrur 89–91, 168, 201, 322, 336 Navigatio Sancti Brendani 201 Nerthus 188–189, 191, 332 Neunkräutersegen Siehe Nine Herbs Charm Nine Herbs Charm 184 níð 224, 226, 232, 241–244, 246–254, 257, 260–261, 271, 311, 315, 317, 340 – níðingr 232 – níðstǫng 14, 241, 250 – tréníð 241, 248–250 – tunguníð 241 Njáls saga 19, 79, 141, 208, 215, 230, 232–233, 244, 293, 317, 344 Njǫrðr 31–32, 41, 188–189, 263, 305, 321, 332 Norges gamle Lov 344 Norna-Gests þáttr 22, 82, 166–168, 344 Nornen 45, 76–78, 80, 82, 84, 105, 147, 168, 286, 336 Oddrúnargrátr 100–101, 104, 344 Óðinn 1, 3, 7, 13, 21, 26–31, 33–34, 40–41, 78, 80–81, 93–97, 99, 106–108, 118, 126–133, 135, 140, 146–149, 151–158, 172–187, 192, 194, 197, 199, 202, 208, 210, 249–250, 261, 263–270, 273–276, 290, 300–306, 311, 319, 325, 332, 335, 337–340 Óðr 121, 125, 186–187, 316 Odysseus 183 Ǫgmundar þáttr dytts 190–191, 344 Óláfr Tryggvason 62, 81, 87, 102, 104–105, 190, 217–218, 279, 285, 297–299 Óláfs saga helga 169, 344 Óláfs saga Odds 298 Óláfs saga Tryggvasonar 17, 82, 87, 219, 295, 298–299, 317, 344 Óláfs saga Tryggvasonar en mesta 82, 295, 298–299 Óláfs þáttr Geirstaðaálfs 104–105 Ǫlkofra þáttr 247, 305, 344 Orkneyinga saga 216, 344 Orms þáttr Stórólfssonar 22, 166–167, 344 Ǫrvar-Odds saga 17, 109–111, 158, 170, 281–282, 311, 332, 344 Oseberggrab 191 Osiris 187 Othinus Siehe Óðinn

Register

Parzen 77 Paulus Diaconus 182 Perchta 123, 165 Pharaildis 272 Phol 183–184 Plácítusdrápa 27 queer 7, 226, 261, 302, 304, 306 queerness 226, 247, 268–269, 278 ragnarǫk 28, 34, 43–44, 131, 152–153, 225, 263, 274 Rán 47 Reginsmál 78, 130–131, 179, 344 Riesen 21–22, 28, 33, 36, 40–44, 66, 74–75, 81–84, 94–96, 118–119, 121, 125, 172, 174, 191–192, 208, 223–226, 241, 261–263, 270, 317, 336, 340 Rígsþula 70, 118, 230 Rindr 41, 94–97, 99, 106, 208–209, 267–268, 302–304, 337 Ritual 7, 10, 15–17, 20, 44, 48–49, 51–54, 61, 76, 87–91, 99, 110–111, 119–120, 127, 134, 161, 168–169, 179, 187, 194, 198, 213, 215–216, 265, 280, 282, 290, 292, 294, 299, 320–322, 324, 327–331, 336, 340–341 – Ritualpraktizierende 15, 55, 203, 330 – Ritualspezialisten 8, 20, 26, 49, 56, 65, 83, 93, 113, 155, 171, 196, 278–279, 302, 304, 313–314, 320–321, 333, 335, 341 – Ritualtheorie 2, 51–52, 55 Rosenroman 172, 272–273 Runen 14, 29, 31, 76, 95–96, 127–128, 155, 208, 223–225, 284 Runenstein 283–284 – Björketorp-Stein 284, 302 – Sønder Vinge II 284 Sæhrímnir 154 Salome 272 Samen 57–58, 60–61, 103, 122, 168, 335 Saxo Grammaticus 3, 95–97, 121, 131, 176, 185, 208, 267, 296–297, 302–303, 326–328, 332 Schamanismus 5–7, 36, 58, 90–91, 99, 109, 140, 194, 196–198, 265, 271, 331 Schildmaiden 235–236, 313 Schmied 70–73, 165

369

Schwellenerfahrung 3, 93, 108, 111, 136, 145–146, 158, 336 Schwellenpersonen 52–53, 55, 110, 112, 117, 213, 278, 304, 320, 337, 341 Schwellenzustand 52–53, 109, 119–120, 143, 158–159, 161, 179, 211, 213, 333, 336–337, 339 Séance 16–17, 89–90, 199, 282 Seelenreise 6, 90, 140, 143, 195–200, 202, 210, 263, 265–266, 273, 301, 339 Seher 21, 27, 95, 140, 143–144, 215–216, 279 Seherin 16, 20–21, 23, 28, 66, 76, 82–83, 88–91, 109–110, 155, 166, 169–171, 193, 198, 252, 274, 286, 310–311, 313, 323, 327, 336, 338 seiðr 1–8, 10, 12–20, 22–26, 29, 31–32, 34–35, 41, 49, 55–67, 69–70, 73–75, 82–91, 93–94, 97–99, 105, 108–113, 115, 117–118, 135–138, 140–144, 146–147, 150, 155, 158–159, 161–162, 164–170, 172, 193–210, 213, 215–224, 249–251, 260, 262–264, 266–287, 289–295, 297, 299–304, 306–311, 314, 319–324, 327–333, 335–341 – seiðberendr 270–275, 282, 300, 340 – seiðkona 22–24, 59, 98, 110, 136–137, 139–140, 150, 167, 194, 200, 306–309, 319 – seiðmaðr 24, 60–62, 64, 67–71, 73–76, 87, 205–206, 215–216, 218–219, 221, 279, 285, 287, 290–293, 295, 297–299, 322–324, 336 – seiðmenn 22, 58, 85, 87, 208, 216, 218–221, 277, 294, 296–299, 331 – seiðskratti 25, 72–73, 279, 281, 283, 289–290, 292, 300, 340 – seiðstafr 21 senna 251 Siggeir 98–99, 307–308 Sigmundr 29, 98–99, 129–130, 153, 157, 164, 178–179, 185, 199, 307 Signý 98–99, 200, 307–308 Sigrdrífomál 76, 344 Sigurðardrápa 94 Sigurðr 94, 130–131, 178 Sinfjǫtli 98–99, 100, 157, 185, 199, 251–252, 311 Skaldenmet 28, 31, 41–42, 174, 199 Skáldskaparmál 27–29, 75, 81, 102, 120, 174, 199, 202, 344

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Register

Skaði 41 Skírnir 96, 223 Skírnismál 34, 41, 81, 95, 208, 223–225, 284, 301, 344 skjaldmeyjar Siehe Schildmaiden Skuld 77 Sleipnir 130, 152, 155, 263 Sneglu-Halla þáttr 259, 344 Snorra Edda 3, 36–37, 106–107, 151, 173, 177, 270, 312, 344 Snorri Sturluson 1–2, 9, 11–12, 27–33, 36, 41, 75, 78, 83, 102–103, 106, 133, 137–140, 149–151, 154, 169, 186–187, 191, 202, 219, 222, 269–270, 276–278, 286, 291, 297, 299, 312, 315–316, 318, 322 Sǫgubrot (af nokkrum fornkonungum) 18–19, 343 Sǫrla þáttr 33, 34, 101, 125, 148, 192, 194, 318, 344 spákona 23, 76, 82, 310 spámaðr 79, 215, 279 Sturlunga saga 141, 164, 344 Sutton Hoo 120 Suðreyjar Siehe Hebriden Tacitus 3, 132–134, 170, 181, 188–189, 214, 255–257, 332 Tammu 187 Thanatos 136 Þiðranda þáttr ok Þórhalls 79, 113, 115, 117, 135, 143, 146, 158, 286, 344 Þjóðólfr ór Hvíni 41, 102, 137 Þórbjǫrn dísarskáld 43 Þorleifs þáttr Jarlsskálds 224 Þórr 42–43, 106, 175, 180, 241, 303–304, 325 Þorvalds þáttr viðfǫrla 244–245, 253 Þrymr 241 Þrymskviða 33–34, 42, 199, 241, 312, 344 Þulur 75, 81, 173, 344 Trance 6, 91, 142–143, 193, 197–199, 203, 264–265 Transvestismus 303, 320, 329, 337, 341 Trolle 7, 15, 25, 224, 226, 232, 261, 279, 340 túnriður 265–266 Turner, Victor 2, 50–55, 109–111, 119–120, 134, 161, 163, 179, 213, 339

Úlfljótslǫg 46 Ulfr Uggason 41, 102 Uppsala 3, 5–6, 8, 27, 80, 114, 137, 141, 148, 150, 156, 241, 325–326, 328 Urðr 77 útgarðr 35–38, 40, 42–44, 46, 48–49, 59, 74, 85, 87–88, 90–91, 93, 144–146, 168, 193, 209, 226, 243, 262, 274, 306, 322, 335–336, 338–340 útiseta 15, 48–49 Vafþrúðnismál 172–175, 344 Valhǫll 28, 33, 46, 78, 80, 148, 152, 154, 157–158, 337 Váli 94, 100 valkyrjur Siehe Walküren van Gennep, Arnold 2, 50–52, 55–56, 108, 110, 123, 132 varðlok(k)ur 89–91, 110, 198, 280, 322, 327–328 Vatnsdœla saga 17, 60, 67, 75, 81, 167–168, 311, 344 Vé 29, 106, 304 Veleda 21, 170 Venus 100, 104, 123–124, 165, 222 Verðandi 77 vetrnáttablót 169, 210, 217–218, 292, 322–324 Víga-Glúms saga 170 Vili 29, 106, 304 Vita Columbani 182 Vǫlsunga saga 29, 98–99, 107, 128–130, 153, 157, 178, 185, 199, 236, 307, 337, 344 Völsungen 98, 107, 128, 307 Vǫlundarkviða 70, 118 Vǫlundr 70 Vǫluspá 22, 29, 32, 37, 44, 77, 107, 192, 194, 198–199, 260, 262, 270, 318, 323, 329, 339, 344 vǫlva 8, 16–18, 20–25, 28, 30, 66, 75–76, 82, 84, 88, 90–91, 105, 109–111, 140, 155, 158, 164–172, 178, 191, 193–194, 198, 210, 215–218, 251, 262–265, 267–268, 270, 272, 274–275, 281–282, 286, 301, 304, 306, 310–311, 313–314, 320, 322–323, 327, 336–341

Register

Walküren 45, 76–78, 80, 94, 147–148, 194, 235–236 Wanen 30–32, 41–42, 81, 83, 105–106, 111, 120, 150, 192–194, 318–319, 321, 324, 327, 329, 332, 337, 341 Weltachse 36 Weltenbaum 36 Wiedergänger 48–49, 63–64, 84, 208, 256, 336 Wieland Siehe Vǫlundr Wilde Jagd 123–124, 156, 171, 186 Wotan Siehe Óðinn Yggdrasill 36–37 Yggr 27, 94, 174, 180, 208, 267, 303 ýki 242–245, 247, 317 Ymir 106, 262, 270 Ynglinga saga 1, 13, 18, 23, 28–32, 78, 106, 136–137, 139–140, 142, 149–151, 154, 169, 177, 197, 204, 208, 221–222, 265, 275–279, 289, 291, 296–297, 300, 302,

371

304, 308, 315, 318–319, 321, 337, 340, 344 Ynglingatal 137–139, 150, 344 Ysengrimus 272 Zauber 13–14, 16–19, 34, 57–60, 85–87, 89–91, 93, 97, 99, 137, 172, 179, 183, 185, 192–193, 197–198, 203–205, 207–208, 223–224, 264, 267, 270, 275, 278, 284, 286–287, 289, 291, 307, 309, 320, 327 – Liebeszauber 14, 30, 223–224, 250 – Schadenszauber 1, 9, 17, 20, 61–63, 84, 86, 112–113, 117–118, 135, 146, 158, 196, 203, 209–210, 219, 221, 293–294, 309, 336 – Waffenzauber 25 – Wetterzauber 87, 131 – Zauberei 10–13, 29, 35, 72, 86, 114, 139, 163, 165, 185, 210, 216, 262, 267, 277, 279, 294, 298, 301, 304, 320 – Zauberkraft 20, 25, 69, 74, 205, 293 Zwerge 25, 33, 45, 70–71, 120–121, 125, 207–208, 318