Machtstaat und Utopie: Vom Streit um die Dämonie der Macht seit Machiavelli und Morus [Reprint 2019 ed.] 9783486772548, 9783486772531

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German Pages 171 [176] Year 1940

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Table of contents :
VORBEMERKUNG
INHALT
Einleitung: Die Renaissance als Geburtsstunde des modernen Staates
I. KAPITEL. DAS GEISTIGE ERBE
II. KAPITEL. MACHIAVELLI ALS WEGEBAHNER DES MODERNEN KONTINENTALEN MACHTSTAATES
III. KAPITEL. MORUS ALS IDEOLOGE DES ENGLISCHINSULAREN WOHLFARTSSTAATES
IV. KAPITEL. GESCHICHTLICHE AUSWIRKUNG UND ÜBERWINDUNG DES GEGENSATZES
ANMERKUNGEN
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Machtstaat und Utopie: Vom Streit um die Dämonie der Macht seit Machiavelli und Morus [Reprint 2019 ed.]
 9783486772548, 9783486772531

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MACHTSTAAT UND

UTOPIE V O M STREIT UM D I E D Ä M O N I E DER MACHT SEIT MACHIAVELLI U N D MORUS VON

GERHARD

RITTER

M Ü N C H E N U N D BERLIN 1940

VERLAG VON R.OLDENBOURG

Copyright 1940 by R. Oldenbourg, München und Berlin Druck von R.Oldenbourg, München Printed in Germany

VORBEMERKUNG. Die hier vorgelegte Arbeit ist erwachsen aus dem Zusammenhang universalhistorischer Studien, die mich seit langem beschäftigen und die zum Ziel haben, in vergleichend-historischer Betrachtung das Wesen des modernen europäischen Staates zu ergründen — und zwar ausgehend von der Entwicklungsgeschichte staatlicher Autoritätsbildung und dem wechselnden Verhältnis zwischen Individuum und politischer Gemeinschaft in den neueren Jahrhunderten. Die Aufgabe läßt sich (wie selbstverständlich) nur lösen unter beständiger vergleichender Gegenüberstellung des modernen zum mittelalterlichen und antiken Staat. Dazu bot das hier zunächst behandelte engere Thema — der Anteil humanistischer Staatstheorien der Hochrenaissance an der Genesis modernen politischen Denkens — noch besonderen Anlaß. Anderseits wird jede Studie dieser Art, wie sie aus heutigen Fragestellungen, nämlich aus der Besinnung auf den welthistorischen Standort unserer eigenen Zeit entspringt, notwendig den Verlauf ihrer Fäden bis zur Gegenwart hin verfolgen müssen. Dabei ist schon hier ein Mißverständnis abzuwehren. Machiavellismus und Moralismus kann man als zeitlose, an keine bestimmte Nationalität gebundene Grundtypen des Verhaltens gegenüber dem moralischen Problem der Macht betrachten. Gleichwohl versucht diese Schrift den Nachweis, daß der Gegensatz dieser beiden Verhaltungsweisen sich in der politischen Wirklichkeit höchst folgenreich ausgewirkt hat, indem er die Gegensätzlichkeit „kontinentaler" und „insularer" Politik (die an sich aus anderen Ursachen entsprang) ideologisch vertiefte. In den Schriften Machiavellis und des Th. Morus tritt uns das zum erstenmal deutlich vor Augen. Damit soll i*

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aber weder gesagt sein, daß alles, was zu machiavellistischer Politik und Ideenwelt gerechnet werden muß, auf Machiavelli und alle „moralistische" Verbrämung der Macht auf Morus zurückzuführen sei, noch dies: daß die „machiavellistische" Ideenwelt auf das Fesdand Europas oder die „moralistische" auf das englische Inselreich beschränkt geblieben sei. Und was die Methoden praktischer Politik anlangt, so hoffe ich gerade gezeigt zu haben: einerseits, daß moralistisches Selbstbewußtsein mit praktischem „Machiavellismus" der Politik (im herkömmlichen Sinn) eng zusammengehört; anderseits, daß die moralische Problematik der Macht nirgends tiefer gesehen, empfunden und doch auch nirgends erfolgreicher bekämpft worden ist als in der auf „machiavellistische" Kampfmethoden angewiesenen Staatenwelt des Festlandes. Mit anderen Worten: die hier gebotene Gegenüberstellung von zwei Grundtypen moderner europäischer Politik und Staatstheorie verträgt keine, Überspitzung, sondern will sich genau in den Grenzen verstanden wissen, in denen sie hier formuliert wird. Im übrigen brauche ich nicht erst noch zu sagen, wie sehr die Schau dieser Dinge durch das Miterleben ungeheuer erregender Zeitereignisse mitbestimmt wurde. Diese Schrift ist nicht zufallig mitten im Kriege und dicht hinter der Front unseres Westwalles entstanden. Den verantwortungsbewußten Ernst und die strenge Sachlichkeit ihrer Forschung hat das, wie ich hoffe, nicht beeinträchtigt, sondern eher noch gesteigert. Freiburg i. Br., April 1940.

Gerhard Ritter.

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INHALT. Seite

Einleitung: Die Renaissance als Geburtsstunde des modernen Staates. .

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'i. K A P I T E L : Q A S GEISTIGE ERBE Klassisches Hellenentum. — Sophistische Aùflòsung der athenischen Staatsideale. — Hellenistisch-römische Staatsphilosophie. — Die große Wendung durch das Christentum : die dämonische Engelmacht. — Augustin und das Mittelalter. — Zerfall der mittelalterlichen Staatsethik.

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II. K A P I T E L : M A C H I A V E L L I A L S W E G E B A H N E R D E S MODERNEN KONTINENTALEN MACHTSTAATES Kein bloßes Wiederaufleben antiker Staatsideen: das neue Menschenbild. — Neuartiger Heroismus. — Gottverlassenheit des politischen Kämpfers. — Entdeckung der Dämonie der Macht. — Elastische Ethik des Kampfes. — Ergebnis einer geistesgeschichtlichen Ubergangsepoche. — Zweite Schicht des machiavellistischen Denkens : die Macht als ordnendes und aufbauendes Prinzip. — Staatsmacht und Religion. — Ansatz zu totalitärer Staatsauffassung. — Die virtù als politischer Mythos. — Ethik des politischen Aktivismus. — Autoritätsbildung nur noch durch politische Taten. — Machiavellismus als Politik der Krisenzeiten. — Machtbildung, noch nicht politische Gemeinschaftsbildung. — Bleibender Gewinn der Einsichten Machiavellis.

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i n . K A P I T E L : M O R U S ALS I D E O L O G E DES ENGLISCH-INSULAREN W O H L F A H R T S S T A A T E S Gegensatz des italienischen und des nordischen Humanismus. — Rationalisiertes Christentum des Erasmus. — Sein Pazifismus. — Keine Vorstellung von der echten Problematik der Macht. — Politische Ethik des neutralen Kleinstaates. — Größere Lebensnähe des M o r u s . — Streitfragen der Utopiafotschung. — Sinn des Dialogs Morus-Hythlodäus. — Kritik an der feudalen Gesellschaft und Politik. Unbedingte Ernsthaftigkeit dieser Kritik. — Ist auch das positive Reformprogramm ernsthaft gemeint? — Kein „Ministerprogramm". — Kein ernsthafter Glaube an kommunistische Sozialreform. — Ausklang in Resignation und Skepsis. — Innere Zwiespältigkeit des Morus. — Die Utopia als romantischer Wunschtraum. — Darin eingebettete Ideale des sozialen Wohlfahrtsstaates. — Das Machtproblem in der Utopia. — Insulare, nicht isolierte Politik. — Wirtschaftliche statt kriegerischer Machtausdehnung. — Überseeische statt kontinentaler Eroberungen. — Moralisierung statt Entdämonisierung der Macht.

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— Bündnispolitik der Utopier. — Ihre Kriegspolitik. — Fragwürdige Humanisierung des Krieges. — Moralistische, nicht nationalistische Grundhaltung. — Moralismus und Liberalismus. IV. K A P I T E L : GESCHICHTLICHE AUSWIRKUNG UND ÜBERWINDUNG DES G E G E N S A T Z E S Zwei Grundrichtungen modernen politischen Denkens: insulare und kontinentale. — Moralismus der englischen Politik. — Insulare Methoden der englischen Außenpolitik. — Ihr Scheitern in der jüngsten Genetation. — Innerpolitische Ideale Utopien-Englands. — Ihre Weltwirkung im 18. Jahrhundert. — Nachwirkung Machiavellis in der Politik und politischen Theorie des Festlandes. — Entwickhing der Lehre von der Staatsräson. — Politische Ethik des deutschen Luthertums. — Wiederaufleben christlicher Herrscherideale des Mittelalters in Deutschland. — F r a n k r e i c h und die Zähmung der politischen Dämonie durch die Idee des modernen Rechtsstaates. — Ihr Zusammenbruch in der großen Revolution. — Napoleon als uomo virtuoso. — Restaurationsversuche des 19. Jahrhunderts. — Ihr Versagen in Frankreich: innere Annäherung der beiden Westvölker. — Restauration und christlicher Monarchismus in Mitteleuropa. — Der deutsche liberale „Kulturstaat" des 19. Jahrhunderts und seine geistigen Wurzeln. — Wiederentdeckung Machiavellis durch den deutschen und italienischen Nationalismus. — Fichte über Machiavelli. — Treitschke und die Idealisierung der Macht im deutschen Historismus. — Wende des Weltkrieges. — Überwindung des Bewußtseins der , .Dämonie" im modernen Volksstaat. ANMERKUNGEN

W e r die große Zeitenwende vom späten Mittelalter zum 16. Jahrhundert mit einem Schlagwort bezeichnen will, pflegt immer noch den viel mißbrauchten Burckhardtschen Begriff des „Individualismus" zur Kennzeichnung der neu heraufkommenden Epoche zu verwenden. Aber was im Munde des schweizerischen Bildungsaristokraten und liberalen „Individualisten" seinen klar bestimmten Sinn hatte: die Frontstellung der modernen „Persönlichkeit", die aus dem Reichtum höchsteigener „Bildung" leben will, gegen die einengenden und übergreifenden Lebensmächte der Kirche, des Staates, der gesellschaftlichen Konvention — das ist heute eine vieldeutige und darum vielfach verwirrende Redensart geworden. Von echten Emanzipationsbedürfnissen einer neuen Gesellschaft, von individualistischer Sprengung „geistiger Konventionen" kann man doch eigentlich nur im Blick auf eine ziemlich schmale Bildungsschicht Italiens seit dem Tre- oder Quattrocento und auf gewisse Erscheinungen im Bereich der weltlichen Kunst und schönen Literatur reden. Der Individualismus des „politisch indifferenten Privatmenschen" ist nicht einmal das Kennzeichen des florentinischen Humanismus in seiner Blütezeit gewesen! Im übrigen hat das 16. Jahrhundert (das ja nicht bloß die große Säkularisationsbewegung der Renaissance, sondern zugleich Reformation und Restauration der alten Kirche umfaßt!), wohl viele alte „Konventionen" zerstört, aber ebenso viele neu geschaffen oder verstärkt. Klarer als durch den vieldeutigen und blassen Begriff des „Individualismus" läßt sich die geschichtliche Zeitenwende als Ganzes durch eine höchst konkrete Erscheinung kennzeichnen, die in allen Hauptländern Europas das Ende des Mittelalters anzeigt: durch das Auftreten des modernen Staates. Wie im Mittelalter alles Leben gleichsam im Schatten der großen Kathedralen 7

sich vollzieht und übertönt wird vom Klang der Kirchenglocken, so in den neueren Jahrhunderten — von Epoche zu Epoche immer stärker — vom Waffenlärm der großen Politik. Der religiöse Fanatismus der Kreuzzugsepoche wird abgelöst durch die fanatische Leidenschaft politischer Ideen- und Machtkämpfe. An Stelle der Kirche wird der Staat mehr und mehr die recht eigentlich lebenbestimmende Macht. Er wird der europäischen Menschheit so sehr zum Schicksal, daß er zuletzt keine grundsätzliche Abgrenzung irgendeiner Sphäre privaten Daseins von seinem Machtbereich mehr anerkennt. Wie diese Entwicklung anhob: mit der Zusammenballung nationaler Machtstaaten im Westen Europas und mit ihren Wettkämpfen um die Herrschaft über Italien, ist oft geschildert worden. Epochemachend (im eigentlichen Sinn) wurden diese Vorgänge .aber erst dadurch, daß an ihnen der europäischen Menschheit ein neuer Sinn für das Wesen des Politischen aufging. Die politischen Denker der Renaissance — unter ihnen als führende Geister Machiavelli und Morus, die beiden Gegenpole modernen europäischen Staatsdenkens — haben in das Licht klaren Bewußtseins gehoben, was das eigentlich neue Erlebnis der Zeit war und was die älteren Zeitgenossen (wie etwa der Ritter Commines) nur erst dämmernd erfaßt hatten: die Dämonie der Macht. Machiavelli war ihr so tief verfallen, daß er einem Freunde gelegentlich eingestand, er liebe den Staat mehr als seine eigene Seele. Um die Bedeutung dieses Erlebnisses voll zu erfassen, wird es nötig sein, uns zunächst in raschem Überblick das geistige Erbe vor Augen zu fuhren, mit dem die politische Theorie des 16. Jahrhunderts an ihre Aufgaben herantrat.

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I. K A P I T E L .

DAS GEISTIGE ERBE. W o immer in der Geschichte die Menschen etwas vom Dämonischen der Macht verspüren, brauchen sie diese nicht gleich als böse schlechthin (im Sinn J . Burckhardts und Schlossers (i)) zu empfinden. Das Dämonische ist nicht reine Negation des Guten; es ist nicht die Sphäre des völligen Dunkels im Gegensatz zum Licht, sondern des Zwielichts, der Mehrdeutigkeit, des Ungewissen, des zutiefst Unheimlichen (2). Dämonie ist Besessenheit. Und die Dämonie der Macht ist nichts anderes als jene Besessenheit des Willens, ohne die kein großes Machtgebilde zustande kommt, die aber gleichzeitig gefährlich zerstörerische Kräfte in sich schließt. Daß politischer Aufbau fast nie ohne große Zerstörungen menschlichsittlicher Werte möglich ist, daß Macht so oft wider Recht steht, daß im Machtwillen des politischen Kämpfers höchste Selbstlosigkeit (im Dienst etwa für eine Idee) sich notwendig mit höchster Selbstsucht verbindet, wenn sie Erfolg haben soll — das alles gehört zur Dämonie der Macht. Irgendein Bewußtsein von dieser unheimlichen Zweideutigkeit und Gefährlichkeit der Macht hat die europäische Menschheit wohl zu allen Zeiten besessen. Aber es trat in den verschiedenen Epochen mit sehr unterschiedlicher Klarheit ans Licht und war oft lange Zeit durch moralische Illusionen stark verdunkelt. Was Machiavelli vom Dämonischen der Macht gesehen hat, bedeutete schon eine wirkliche Neuentdeckung — nicht bloß gegenüber dem Mittelalter. Denn auch die Antike hat davon noch nicht allzuviel gewußt.

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Wie die Hellenen ihren Staat verstanden, dafiir ist wohl das großartigste Zeugnis die Orestie des Aischylos. Schwerlich gibt es eine zweite Dichtung der Weltliteratur, die uns so unmittelbar und so tief hineinblicken läßt in die dämonischen Mächte, von denen der kämpfende Mensch besessen ist und durch sein Erdendasein gejagt wird, wie diese Trilogie. Aber am Schluß löst sich die scheinbar hoffnungslose Tragik seiner Verstrickung in Leidenschaften, Schuld und Schicksal durch den Schiedsspruch des athenischen Areopags: die Polis, im Schutz ihrer lichten Göttin Athene, nimmt den Gehetzten in ihre befriedete Ordnung auf und bannt die zerstörerische Wut der Eumeniden; das helle, klare Recht ihres Nomos jagt die dumpfe Wut der Blutrache in finstere Erdhöhlen zurück. In der späteren, klassischen Staatsphilosophie der Athener sind die Dämonen der Frühzeit vollends gebannt. Sogar die verklärte Götterwelt des Homer ist schon im Verblassen, und siegreich tritt die Vernunft als gestaltendes Weltprinzip ihre Herrschaft an. Der Staat ist ein Vernunftgebilde, alle politische Theorie ein Bestandteil vernünftiger Ethik geworden. Denn alles höhere sittliche Leben gilt als gebunden an das Dasein einer staatlich organisierten Gemeinschaft, die ursprünglich und grundsätzlich alles zugleich in sich umfaßt: Religions-, Sippen-, Rechts- und Wirtschaftsgemeinschaft. Demgemäß ist die höchste Aufgabe des Staates die Erziehung seiner Bürger zur „Rechtschaffenheit" (dixatoovv/] im weiteren Sinn) — zu jener „ T u g e n d " des Staatsbürgers, die vor allem Einordnung in die innerhalb der Gemeinschaft der Polis gültigen sittlichen Anschauungen des Nomos bedeutet und als Grundtugend allen anderen Tugenden des Griechen vorangeht: der Weisheit oder auch Gottesfurcht, Mannhaftigkeit, maßvoller Besonnenheit und Gerechtigkeit (im engeren Sinn), die „jeden das Seine" tun und haben läßt. Als künstliche Organisation zur Wiedererweckung und planmäßigen Züchtung solcher Tugenden hat Piaton seinen Idealstaat aufgebaut; als eine „moralische Anstalt" also — nur daß seine „ T u g e n d " (oder besser: Tüchtigkeit, ägezrf) nicht humanitäre bürgerliche Privatmoral im Stil 10

des 18. Jahrhunderts ist, sondern den heroischen Stil des klassischen Hellenentums zeigt; vor allem: die von solchem Gemeinschaftsgeist getragene Polis ist nicht um der sittlichen Vollkommenheit ihrer einzelnen Mitglieder willen da, sondern um ihrer selbst willen: als eine Verwirklichung des Schönen und Guten von höchstem geschichtlichem Rang. Nur unter dieser Voraussetzung ist denn auch der Satz des Aristoteles verständlich: „daß die geistige Tüchtigkeit (agerrj), wenn ihr die Mittel beschieden sind, auch vorzugsweise befähigt ist andere niederzuringen, und auf der siegreichen Seite immer ein Überschuß von etwas Gutem zu finden ist; demnach scheint die Macht (Gewalt, ßta) nicht ohne Tugend (ageri)) zu sein (3)". Nichts zeigt deutlicher als dieser Satz, wie weit das klassische Hellenentum davon entfernt war, die Macht an sich als gefährlich (für die öffentliche und private Sicherheit) oder gar als „böse" schlechthin zu empfinden. Natürlich weiß auch schon Aristoteles, der große Kenner griechischer Wirklichkeit, von den Tatsächlichkeiten roher, ideen- und rechtloser Gewalt. E r gibt eine Schilderung der Tyrannis und der Kunstmittel zu ihrer Selbsterhaltung, die später Machiavelli als unmittelbare Vorlage für das berüchtigte 18. Kapitel seines Principe benützt hat: für jene Kunsdehre politischer Heuchelei, die dem Gewaltmenschen empfiehlt, seine wahre Natur unter der Maske des Biedermannes zu verstecken. Aber für den antiken Philosophen geht es gar nicht darum, irgendwelche Praktiken raffinierten politischen Verbrechertums zu ersinnen; im Gegenteil; er sucht dem Tyrannen klarzumachen, daß er nur dann auf Dauer seiner Herrschaft hoffen kann, wenn er sich „seinen Untertanen nicht als Tyrannen, sondern als Hausvater und König erweist, nicht als Usurpator, sondern als Verwalter ihrer Habe, als einen Mann, der im Leben das Maß, nicht das Übermaß verfolgt", nicht (wie zu Anfang seiner Herrschaft) seinen eigenen Vorteil, sondern das sittlich Gute, und so eine Atmosphäre des Vertrauens statt des allgemeinen gegenseitigen Mißtrauens und knechtischer Unterwürfigkeit erzeugt. So wird zuletzt „sein Charakter eine Verfassung erhalten, dank

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derer er entweder tugendhaft oder halb tugendhaft, oder doch nicht schlecht, sondern nur halb schlecht ist (4)". Machiavelli dagegen „wagt zu behaupten", daß „Milde und Treue, Menschlichkeit, Redlichkeit und Frömmigkeit" geradezu „schädlich sind, wenn man sie besitzt und stets ausübt, und nützlich, wenn man sie zur Schau trägt"; der wahre Politiker muß, „wenn es nötig ist, imstande sein, sie in ihr Gegenteil zu verkehren"; er soll sich zwar „von Güte nicht entfernen, sofern es möglich ist, aber nötigenfalls verstehen sich auf das Böse einzulassen". Mit anderen Worten: die sittliche Norm ist hier keine allgemein bindende Vorschrift mehr, ihre Innehaltung eine Frage bloßer Zweckmäßigkeit, dem höheren Ziel einer Selbstbehauptung der Macht unbedingt untergeordnet. Für Aristoteles dagegen ist der Tyrann, der die sittliche Norm außer acht läßt, ein Ausnahmefall, eine Abnormität, ein Produkt der Hybris, die das rechte Maß, die rechte „Mitte" (jieoozrjs) (5) überschreitet. Was den Staat im Normalfall begründet, ist nicht Gewalt, sondern der dem Menschen als „geselliges Lebewesen" eigene Sinn für Gut und Bös, für Gerecht und Ungerecht, aus dem alle höhere Gemeinschaft erwächst (6). Und so kämpft auch der platonische Sokrates mit erbittertem Eifer gegen die sophistische Behauptung, die sogenannte „Gerechtigkeit" sei „nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren", das Gerede von öffentlicher Sittlichkeit nichts weiter als eine ideologische Verbrämung der nackten Gewalt (7). Freilich zeigt nun die Tatsache dieses sophistischen Widerspruchs, daß der Glaube an die Polis als höchste sittliche Gemeinschaft, an die natürliche Harmonie von Gerechtigkeit und Gewalt am Ausgang der klassischen Epoche Athens in Wahrheit längst erschüttert war. Indem der Staat zum Spielball wüster Parteikämpfe, zum Machtinstrument gewissenloser Demagogen wird (8), wächst auch das Mißtrauen gegen den Anspruch öffentlicher Gewalt, Quell und Ursprung aller wahren Gerechtigkeit, Hüter der öffentlichen Sittlichkeit zu sein. Die Sophisten verkünden offen das Naturrecht des Stärkeren, der rücksichtslos seinen egoistischen Trieben folgt. Daß es im 12

Kampf der Staaten untereinander eine Naturnotwendigkeit (