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German Pages 432 [433] Year 2010
ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band 101
Macht und Organisation Die Machtkonzeption bei Friedrich Nietzsche und in der mikropolitischen Organisationstheorie
Von Simon Springmann
Duncker & Humblot · Berlin
ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Begründet von Kurt Schelldorfer
Herausgeber Dorothea Frede (Hamburg), Volker Gerhardt (Berlin), Otfried Höffe (Tübingen) Bernulf Kanitscheider (Gießen), Oswald Schwemmer (Berlin) und Wilhelm Vossenkuhl (München)
Schriftleitung Volker Gerhardt
Hinweise 1. Der Zweck der Schriften „Erfahrung und Denken“ besteht in der Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der „Philosophie der Wissenschaften“. 2. Unter „Philosophie der Wissenschaften“ wird hier die kritische Untersuchung der Einzelwissenschaften unter dem Gesichtspunkt der Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik (Ontologie, Kosmologie, Anthropologie, Theologie) und Axiologie verstanden. 3. Es gehört zur Hauptaufgabe der Philosophie der Gegenwart, die formalen und materialen Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften zu klären. Daraus sollen sich einerseits das Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften und andererseits die Grundlage zu einer umfassenden, wissenschaftlich fundierten und philosophisch begründeten Weltanschauung ergeben. Eine solche ist weder aus einzelwissenschaftlicher Erkenntnis allein noch ohne diese möglich.
SIMON SPRINGMANN
Macht und Organisation
ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band 101
Macht und Organisation Die Machtkonzeption bei Friedrich Nietzsche und in der mikropolitischen Organisationstheorie
Von
Simon Springmann
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsund Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT
Die Philosophische Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2009 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 978-3-428-13272-0 (Print) ISBN 978-3-428-53272-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-83272-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de
Für Lisa Heller
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist eine minimal überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich zum Sommersemester 2009 am Philosophischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht habe. Diese Arbeit wäre in ihrer jetzigen Form ohne die Unterstützung einer Reihe von Personen nicht zustande gekommen, denen ich im Folgenden danken möchte. Zuerst ist an dieser Stelle Volker Gerhardt anzuführen, der dankenswerterweise die Betreuung übernommen hat. Durch seine große Offenheit disziplinübergreifenden Fragestellung gegenüber hat er diese Arbeit überhaupt erst möglich gemacht. Der persönliche Umgang mit Volker Gerhardt sowie die Auseinandersetzung mit seinen Werken stellen eine entscheidende Prägung dar, die in der vorliegenden Arbeit auch unverkennbar zum Ausdruck kommt. In dem von ihm ausgerichteten Kolloquium in Berlin habe ich interessante inhaltliche Impulse bekommen und darüber hinaus Freundschaften geschlossen. Herausheben möchte ich Mattia Riccardi, Asmus Trautsch und vor allem Nikolaos Loukidelis, von dessen Nietzsche-Expertise ich in unzähligen Spaziergängen sehr profitiert habe. Besonders verpflichtet bin ich auch Axel Haunschild, nicht nur weil er sich sofort zu der kurzfristigen Übernahme des Zweitgutachtens bereit erklärt hat. Er hat darüber hinaus großen Anteil an der grundsätzlichen Genese des Projekts. Die Idee zu einer Verbindung von moderner Machttheorie und Nietzsches Wille zur Macht ist mir das erste Mal im Zuge eines Seminars über „Poststrukturalistische Organisationstheorie“ gekommen, das Axel Haunschild und Kai Helge Becker im Wintersemester 2000/2001 an der Universität Hamburg angeboten haben. In diesem Zusammenhang möchte ich auch Doris Eikhof ganz herzlich danken für wertvolle Hinweise und Anregungen zu dem Thema im Rahmen meiner Diplomarbeit. Christian Möckel habe ich für die schnelle Erstellung des Drittgutachtens zu danken. Mein Dank gilt darüber hinaus allen Teilnehmern des Berliner Nietzsche-Colloquiums für das Feedback zu meinem Projekt sowie für die spannenden Diskussionen und den lebhaften Ideenaustausch in den letzten Jahren. Besonderer Dank gebührt dabei Helmut Heit, der dieses großartige Forum ins Leben gerufen hat und mir außerdem mit grundsätzlicher Kritik und konkreten Hinweisen, insbesondere zum Methodenkapitel, weitergeholfen hat. Des Weiteren sind Beatrix Himmelmann und die Teilnehmer ihres Kolloquiums in Berlin zu nennen, in dem ich die Arbeit ebenfalls vorstellen und diskutieren konnte. Danken möchte ich zudem der Carl und Max Schneider-Stiftung für ein Stipendium sowie der VG Wort für die großzügige Beteiligung an den Druckkosten.
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Vorwort
Dr. Florian Simon und seinen Mitarbeitern vom Verlag Duncker & Humblot, insbesondere Lars Hartmann, danke ich für die Aufnahme des Buches in die Reihe „Erfahrung und Denken“ sowie für die erneut hervorragende Zusammenarbeit bei der Publikation. Nicht hoch genug eingeschätzt werden kann insgesamt der Anteil an der Arbeit, den die permanente intellektuelle Auseinandersetzung mit Lisa Heller hat, ohne die es die Dissertation in der vorliegenden Form schlichtweg nicht gegeben hätte. Zu der mühsamen Arbeit einer orthographischen Korrektur haben sich meine Eltern bereit erklärt, meinem Vater verdanke ich darüber hinaus Hinweise zu wichtigen biologischen Zusammenhängen. Ausdrücklich sei an dieser Stelle auch meinen Großeltern gedankt für die jahrelange finanzielle Unterstützung. Abschließend möchte ich meiner Familie und Lisa Heller auch dafür danken, dass sie mir eine Idee davon gegeben haben, dass Macht – wenn auch immer zugegen – nicht in allen menschlichen Beziehungen das Entscheidende ist. Berlin, im April 2010
Simon Springmann
Inhaltsverzeichnis Einleitung: „Macht und Organisation“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil 1 Rekonstruktion der Machtkonzepte A. Nietzsches Konzeption vom „Willen zur Macht“ – Versuch einer begrifflichen und inhaltlichen Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Fragestellung und Schwierigkeiten der Nietzsche-Rezeption . . . . . . . . . . . . II. Der Wille zur Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Wille zur Macht als Kräftekonstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Aristoteles, Leibniz und Schopenhauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schopenhauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Welt als Vorstellung und der Satz vom zureichenden Grund bb) Die Welt als Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Analogieschluss von der individuellen Erfahrung auf die gesamte Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nietzsches Willenskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wille und Macht im Willen zur Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Mikropolitik und Strategische Organisationsanalyse – Macht und Spiele in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Strategische Organisationsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verhalten als Ausdruck einer Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Macht und Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entwicklung des Machtbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Identitätstheoretische Fundierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Organisationale Machtbeziehungen, -quellen und -strategien . . . . . . d) Spiele und organisationale Machtstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Mikropolitik in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff und Betrachtungen von Mikropolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konstitutionstheoretische Erweiterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36 36 36 43 45 53 55 59 63 66 70 75 78 80 85 97 100 102 103 107 107 110 115 124 129 129 131 139
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Inhaltsverzeichnis Teil 2 Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Machtkonzepte im methodologischen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Merkmale und Dimensionen der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Universalität und Umwertung der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Relationalität der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Agonalität der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Instrumentalität der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Intentionalität der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Intransitivität der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Asymmetrie der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Macht und Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Macht und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Macht und Ästhetik in der Mikropolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gegenständliche Dimension: Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Architektur der Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gegenstände als Machtausdruck und Machtmittel . . . . . . . . . . . dd) Kunstwerke als Machtausdruck und Machtmittel . . . . . . . . . . . . ee) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Exkurs Bourdieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Kunst als Distinktions- und Legitimationsmittel . . . . . . . . . (b) Der Habitus als Organisationsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Inkorporierung als Machtphänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Kritik aus mikropolitischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Körperliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Zusammenfassung Mikropolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Macht und Ästhetik bei Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Macht und Schönheit bzw. Hässlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Körperliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gegenständliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Architektur als Machtausdruck und Machtmittel . . . . . . . . . (b) Kunstwerke als Machtausdruck und Machtmittel . . . . . . . . . c) Zusammenfassung Macht und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Macht und Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
142 142 144 160 160 168 173 198 206 216 225 239 269 272 274 276 283 287 296 298 298 301 303 306 308 315 315 316 319 332 334 340 357 359
B. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Politikansätze in der Organisationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
Abbildung 2: Identität nach Mead und Krappmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113
Abbildung 3: Typen organisationaler Macht nach Crozier/Friedberg (1993) . . . .
117
Abbildung 4: Prozess der Anbahnung und Ausübung von Machtbeziehungen . . .
122
Abbildung 5: Dynamik und Dualität der organisationalen Machtstruktur (i. w. S.)
127
Abbildung 6: Dualität von Struktur unter der analytischen Leitdimension Macht/ Mikropolitik – Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
Abbildung 7: Dimensionen und Modalitäten der Machtausübung . . . . . . . . . . . . . .
135
Abbildung 8: Machtinstitutionalisierungsformen und -positionen . . . . . . . . . . . . . .
139
Abbildung 9: Aufbau der „Welt“ in Abhängigkeit vom Grad der Organisiertheit
150
Abbildung 10: Key philosophical ideas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
Abbildung 11: Bezugsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
Abbildung 12: Vielfältigkeit und Divergenz von Spielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
207
Abbildung 13: Schematischer Überblick über die Merkmale der Macht . . . . . . . . .
388
Abkürzungsverzeichnis 1. Nietzsches Schriften GT DW ZB VS PdW GS HW PhtZ WL UB MA M FW ZA JGB GM W GD AC EH NW N
Die Geburt der Tragödie Die donysische Weltanschauung Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten Versuch einer Selbstkritik Ueber das Pathos der Wahrheit Der griechische Staat Homer’s Wettkampf Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Unzeitgemässe Betrachtungen Menschliches, Allzumenschliches Morgenröthe Die fröhliche Wissenschaft Also sprach Zarathustra Jenseits von Gut und Böse Zur Genealogie der Moral Der Fall Wagner Götzen-Dämmerung Der Antichrist Ecce homo Nietzsche contra Wagner Nachgelassene Fragmente 1869–1889
2. Verwendete Ausgaben von Nietzsches Werken KSA
KGW KGB J
Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, 2. durchgesehene Auflage, München/Berlin/ New York 1988 Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin/New York 1967 ff. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, München/Berlin/New York 1975 ff. Jugendschriften in fünf Bänden, hg. von H. J. Mette, München 1994
Abkürzungsverzeichnis
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3. Weitere Schriften Heraklit Zitiert nach Heraklit: Fragmente, in: Die Vorsokratiker, ausgewählt, übersetzt und erläutert v. J. Mansfeld, 1987, Stuttgart; mit Angabe der entsprechenden Numerierung in: Diels, H./Kranz, W. (Sigle: DK): Die Fragmente der Vorsokratiker, 3 Bde., 5. Auflage, 1951, Berlin Aristoteles Zitiert nach Aristoteles: Philosophische Schriften, in sechs Bänden, 1995, Hamburg unter Angabe der Seiten- und Zeilenzahlen der Bekker-Ausgabe (Immanuel Bekker: Aristotelis Opera, 1831, Berlin) Phys. Met. EN De An.
Physik Metaphysik Nikomachische Ethik De Anima
Kant Schriften von Immanuel Kant werden unter Angabe des Titels, der Bandnummer und Seitenzahl zitiert nach: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1900 ff., Berlin (Akademie-Ausgabe, abgekürzt als AA). Die Kritik der reinen Vernunft wird nach den Paginierungen der Erst- (A) und Zweitauflage (B) zitiert. KrV KU GMS Idee Anthropol. Gedanken
Beobachtungen Gebrauch
Kritik der reinen Vernunft Kritik der Urteilskraft Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurtheilung der Beweise, deren sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedient haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie
Schopenhauer Zitiert nach Schopenhauer, A.: Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden, nach den Ausgaben letzter Hand, hg. von L. Lütkehaus, 1988, Zürich ZG WWV WiN LW PM
Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund Die Welt als Wille und Vorstellung Ueber den Willen in der Natur Aphorismen zur Lebensweisheit, in PP Paränesen und Maximen, in LW
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Abkürzungsverzeichnis
PP Parerga und Paralipomena PS I Preisschrift Über die Freiheit des Willens Stellen aus dem Nachlass werden zitiert nach: Schopenhauer, A.: Der handschriftliche Nachlaß, hg. von A. Hübscher, 5 Bde. in 6, 1985, Frankfurt am Main, unveränderter Nachdruck, München HN I HN IV, 1
Frühe Manuskripte 1804–1818 Die Manuskriptbücher der Jahre 1830–1852
Max Weber Zitiert nach Max Weber Gesamtausgabe (MWG), hg. von Baier, H./Lepenius, M. R./ Mommsen, W./Schluchter, W./Winckelmann, J., Tübingen Abteilung I: Schriften und Reden Bd. 22: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß: 22-1: 22-4: Weber, M.: RS
Gemeinschaften; hg. von Mommsen, W. J. in Zusammenarbeit mit Meyer, M.; 2001 Herrschaft; hg. von Hanke, E. in Zusammenarbeit mit Kroll, Th.; 2005 Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß einer verstehenden Soziologie, Studienausgabe, 5. Auflage, 1972, Tübingen Schriften zur Religionsoziologie
Einleitung: „Macht und Organisation“ „Und wißt ihr auch, was mir ,die Welt‘ ist? (. . .) D i e s e W e l t i s t d e r W i l l e z u r M a c h t – u n d n i c h t s a u ß e r d e m! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“ (N 1885, 38[12], 11, S. 610 f.)1 „Jede ernstzunehmende Analyse kollektiven Handelns muß also Macht in das Zentrum ihrer Überlegungen stellen, denn kollektives Handeln ist im Grunde nichts anderes als tagtägliche Politik. Macht ist ihr ,Rohstoff‘.“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 14)2
Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, erstmals eine systematische komparative Studie zwischen den Machtkonzeptionen Friedrich W. Nietzsches und der modernen strategisch-mikropolitischen Organisationstheorie zu leisten, wie sie von Günther Ortmann und Willi Küpper unter Bezugnahme auf die Arbeiten von Michel Crozier und Erhard Friedberg vertreten wird. Der dafür gewählte Titel „Macht und Organisation“ ist sehr weit gefasst und zugegebenermaßen nicht eindeutig. Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass die Begriffe „Macht“ und „Organisation“ keineswegs eindeutig sind, sondern ihrerseits einen weiten Umfang verschiedener Bedeutungen aufweisen. Bevor das Ziel dieser Untersuchung genauer spezifiziert, die Relevanz der Fragestellung kurz erörtert sowie ein Überblick über das hierzu notwendig erscheinende Vorgehen gegeben wird, sollen den folgenden Ausführungen daher einige Überlegungen zu diesen beiden zentralen Begriffen vorangestellt werden. Zunächst zu letzterem, dem der Organisation. Betrachtet man unseren alltagssprachlichen Gebrauch dieses Begriffs ein wenig näher, so lassen sich mindestens drei verschiedene Verwendungsweisen ausmachen: Erstens bezeichnen wir mit „Organisation“ einen Prozess der Planung, Gestaltung oder Strukturierung. Dieser Prozess ist uns aus dem eigenen Handeln wohlbekannt, beispielsweise wenn wir eine Geburtstagsfeier, einen Auslandsaufenthalt oder die nächste Urlaubs1 Zitiert wird im Folgenden nach Friedrich Nietzsche (1988): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), hg. v. G. Colli und M. Montinari, 2., durchgesehene Auflage, Berlin/New York, in der Reihenfolge: Werk bzw. Nachlass mit Angabe der Entstehungszeit (vgl. Abkürzungsverzeichnis dieser Arbeit), ggf. Aphorismus- bzw. Notatnummer, KSA-Band sowie Seitenzahl. 2 Die französische Originalausgabe „L’Acteur et le Système“ von M. Crozier und E. Friedberg aus dem Jahr 1977, auf deutsch erstmals 1979 erschienen, wird im Folgenden nach der Neuausgabe „Die Zwänge kollektiven Handelns. Über Macht und Organisation“ von 1993 zitiert.
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Einleitung
reise „organisieren“. In diesem Kontext meint „organisieren“ in etwa, den Aufbau und Ablauf eines Ereignisses zu planen und sukzessiv zu bewerkstelligen, d. h., sich etwas Zukünftiges vorzustellen, zu vergegenwärtigen, und die nötigen Mittel für die Umsetzung des Plans zu bedenken, gegebenenfalls zu beschaffen sowie – möglichst im richtigen Moment – zum Einsatz zu bringen. Zu diesen Mitteln sind in einem weiten Sinne aus Sicht des Planenden dabei nicht nur die zu verwendenden Ressourcen, Materialien und Geräte zu zählen, sondern auch die beteiligten Personen, mit den ihnen unterstellten Fähigkeiten und Fertigkeiten, inklusive seiner selbst. „Organisation“ als „Organisieren“ bezeichnet demnach eine auf (eigene) Ziele oder Zwecke ausgerichtete Tätigkeit, in die der Handelnde sich selbst und andere als Mittel mit einbringen kann (vgl. auch Gerhardt (2007), S. 203). Der Organisationsprozess beinhaltet also, allgemein gesprochen, das Auffinden, die Auswahl und die adäquate Zusammenstellung von Mitteln zu einem bestimmten Ziel oder Zweck. Als eine Form des Handelns ist Organisieren, wie jedes Handeln, reflexiv, d. h. es bezieht „eigenes, vergangenes, gegenwärtiges und zukünftiges erwartetes Verhalten“ ebenso mit ein, wie das anderer sowie die „Strukturen des Handlungsfeldes“, geht aber über andere, allgemeinere Handlungsformen insofern hinaus, als ihre „Reflexivität der Gestaltung dieser Strukturen“ selbst gilt (Ortmann/Sydow/Windeler (1997), S. 317 f.; H.v. m.). Von einem besonderen Handlungstyp „Organisieren“ kann demnach gesprochen werden, wenn das Handeln „mittels Reflexion auf seine Strukturation(.) gesteuert und koordiniert wird“ (ebd., S. 317). Allerdings muss der bisher beschriebene Gebrauch von „Organisation“ nicht auf den menschlichen Tätigkeitsbereich – aus dem das Wort ursprünglich stammt (s. u.) – beschränkt gedacht werden, in einer sehr abstrakten Fassung nicht einmal auf den belebten Bereich, wie man aus den theoretischen Ansätzen zum Phänomen der „Selbstorganisation“ lernen kann, in denen das „Selbst“, das sich organisiert, beispielsweise ein Verkehrsphänomen wie den Stau bezeichnen kann oder gleichermaßen das Wetter, ein Makromolekül, einen Organismus, einen Termitenstaat, ein Ökosystem oder das Leben als solches.3 Die zweite Verwendungsweise von „Organisation“ bezieht sich auf das Produkt oder das Ergebnis dieses Organisationsprozesses, also auf die „Organisiertheit“ als Resultat eines wie auch immer im Einzelnen gearteten Vorgangs des Organisierens. Allgemein betrachtet, kann „Organisation“ also die „Zusammenordnung 3 Vgl. einführend dazu z. B. Gandolfi (2001); weiterführend Küppers (1991). Der Begriff „Selbstorganisation“ lässt sich auf Kant zurückführen, der den Organismus als „organisirtes und sich selbst organisirendes Wesen“ definiert (KU, § 65, AA 5, S. 374). In einem solchen organisierten Wesen ist „ alles Zweck und wechselseitig auch Mittel.“ (KU, § 66, AA 5, S. 376) Der Begriff eines organisierten Wesens führt es laut Kant schon bei sich, „daß es eine Materie sei, in der alles wechselseitig als Zweck und Mittel auf einander in Beziehung steht“ (Gebrauch, AA 8, S. 179). Auch hier ist „Organisation“ demnach grundsätzlich mit einer Zweck-Mittel-Relation verbunden.
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von Teilen zu einem Ganzen“ bezeichnen, „und zwar sowohl den Prozeß der Herstellung einer funktionsfähigen Verbindung als auch den dadurch gebildeten Zustand.“ (Luhmann (1984b), Art. „Organisation“, in: Hist. Wb. d. Phil. (HWPh), Bd. 6, S. 1326) Die Unterscheidung in Herstellungsprozess sowie daraus resultierender Beschaffenheit eines Zustandes entspricht der Herkunft des Begriffes aus dem menschlichen Handlungsbereich, wie sie Walter-Busch (1996) nachzeichnet (vgl. S. 6): „Organisation“ lässt sich demnach auf die altgriechischen Begriffe ergon (Werk, Dienst, Leistung, Funktion), organon (Werkzeug, Instrument, Körperteil) und organikos (instrumental, organisch) zurückführen sowie im Neulateinischen und Französischen ab dem 14. Jh. auf organisatio bzw. organisation (Beschaffenheit bzw. Herstellung eines natürlichen Körpers) und organisare bzw. organiser (einrichten, ordnen, gestalten derselben). „Organisation“ im spezifischen Sinn einer „Organisiertheit“ ist für den Bereich des Handelns oben als „Strukturation“ bezeichnet worden, was ebenfalls ein „– gleichwohl nur partiell intendiertes – Resultat einer um Zweckmäßigkeit bemühten Reflexion“ meint (Ortmann/Sydow/Windeler (1997), S. 317; H.v. m.). In einer sehr weiten Fassung lässt sich dieser Organisationsbegriff ganz allgemein auf eine geordnete Struktur beziehen, auf den spezifischen Zusammenhang und die Wechselwirkungen der Elemente eines Systems. Um welches System es sich dabei handelt, spielt bei diesem Grad von Abstraktion, wie gesagt, zunächst einmal eine nachgeordnete Rolle: Wir können die strukturelle Organisation von Kristallen sowie den organisierten Lauf der Planeten betrachten, können die um ein Vielfaches komplexeren Strukturen belebter Organisationssysteme (Organismen) bestaunen, zu denen wir uns selbst zählen, oder unsere Aufmerksamkeit auf die Organisiertheit der Interaktionen zwischen einzelnen Lebewesen richten, die sich zu organisierten Einheiten, kleineren oder größeren Gruppen und ganzen Gesellschaften zusammenschließen.4 Immer wenn wir etwas näher betrachten, es einordnen und verstehen wollen, wenden wir unseren Blick der Organisiertheit zu. Der Grad der von uns erschlossenen Organisiertheit liefert uns ein Indiz dafür, für wie komplex wir ein System halten bzw. halten müssen, um es adäquat verstehen zu können.5 Darüber hinaus gibt uns die Organisiertheit ein Kriterium für das Funktionieren und die Leistungsfähigkeit eines Systems selbst an die 4 Zum Zusammenhang zwischen den Begriffen „Organisation“ und „Organismus“ vgl. bereits Krugs Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften aus dem Jahr 1833, Bd. 3, S. 127 f.; vgl. auch Luhmann (1984b), in: HWPh, Bd. 6, S. 1326 ff. sowie Gerhardt (2007), S. 89 ff. und S. 179. 5 Vgl. als Beispiel den Komplexitätsunterschied, den von Weizsäcker (1989) zwischen „natürlichen Systemen“, deren Elemente sich nach relativ festgelegten Regeln verhalten, und dem „System Gesellschaft“ ausmacht, deren kleinsten Bausteine, die Individuen, demgegenüber auf Grund von Planungen und Zukunftsprognosen handeln, wodurch eine Rückkopplung von Systemzustand und Verhaltensregel entsteht (S. 52). Dass und inwiefern Gesellschaft dennoch als Natur gedacht werden kann, zeigt Gerhardt (2007). Generell zum Komplexitätsbegriff des Lebendigen vgl. auch Küppers (1991), S. 15–47.
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Hand, z. B., wenn wir die beeindruckende Organisation eines Ameisenstaates nachvollziehen. Wir würden wohl nicht zögern, hier von einer „guten Organisation“, i. S. einer funktionalen, zweckdienlichen und insofern – aus unserer Sicht – erfolgreichen Organisation zu sprechen.6 Einer ähnlichen Ausdrucksweise begegnen wir jedoch auch in einem anderen Kontext, wenn z. B. jemand die UNO als „gute Organisation“ bezeichnet. Dies entspricht, darauf ist zuallererst hinzuweisen, der dritten Verwendung von „Organisation“, nämlich i. S. einer gesellschaftlichen, rechtlichen oder wirtschaftlichen Organisation. In diesem Sinne einer von Menschen geschaffenen Institution tritt der Begriff der Organisation, geschichtlich betrachtet, laut Bogumil/Schmid (2001, S. 22) erst im Gefolge der Französischen sowie der Industriellen Revolution auf. Zu derartigen Organisationen können, je nach Fassung des Begriffs, Vereine, Parteien, Non-Profit-Organisationen, Unternehmen sowie weitverzweigte Konzerne und strategische Unternehmensnetzwerke oder auch öffentliche Verwaltungen, Universitätsgremien usw. gezählt werden (vgl. ebd., S. 30). Inhaltlich zeichnen sich derartige Organisationen insbesondere durch eine erhöhte Formalität der Verfassungen und Verfahren zur Handlungskoordination aus, was nicht zuletzt mit der Hoffnung auf eine kollektive Sicherung und Steigerung der individuellen Reflexivität und Rationalität und somit der Zweckmäßigkeit der Organisation einhergeht (vgl. Ortmann/Sydow/Windeler (1997), S. 315). An dieser Stelle soll noch ein Gedanke zu der o. a. Einschätzung von Organisationen als „gut“ eingeschoben werden, die selbst zweideutig ist: Sie kann sich zum einen auf die Zielerreichung und zum anderen auf die Ziele selbst beziehen.7 6 So z. B. Kirchner (2001), der die Funktionalität des Zusammenlebens dieser Tiere hervorhebt (S. 9 f.) und vom Ameisenstaat als einem „Erfolgsrezept“ spricht (S. 113 ff.). Siehe auch Gandolfi (2001), z. B. S. 44 ff. Gerhardt (2007) erinnert generell an die Herkunft des Staats- bzw. Gesellschaftsbegriffes aus dem menschlichen Lebenskontext. Deshalb dürfe man bei der Rede von einer „Ameisengesellschaft“ oder einem „Bienenstaat“ nicht vergessen, dass es der Mensch sei, der den Tieren diese Existenzformen zuschreibt (S. 193). Allerdings biete sich der Begriff der Gesellschaft gerade bei diesen Tieren auf Grund der stark ausgeprägten Arbeitsteilung und Rollendifferenzierung als Techniken der kollektiven Lebensbewältigung an (vgl. S. 199). Die generelle Problematik einer teleologischen Ausdrucksweise, insbesondere bei nichtmenschlichen Organisationsformen, kann an dieser Stelle nur erwähnt werden. Explizite und verhaltensleitende Zwecke wird man den einzelnen Insekten beispielsweise nicht unterstellen können. Auch hier hat Kant m. E. einen entscheidenden Grundstein für nachfolgende Überlegungen gelegt durch die Unterscheidung eines regulativen Gebrauchs der reflektierenden Urteilskraft von dem konstitutiven einer bestimmenden Urteilskraft. 7 Diese Differenzierung des Ausdrucks „gut“ wird ebenfalls von Kant vorgenommen: „Wenn nun die Handlung bloß wozu anders, als Mittel, gut sein würde, so ist der Imperativ hypothetisch; wird sie als an sich gut vorgestellt, mithin als notwendig in einem an sich der Vernunft gemäßen Willen, als Prinzip desselben, so ist er kategorisch.“ (GMS, AA 4, S. 414; H.v. m.) Zur Eigenheit des Begriffs vgl. auch Williams (1986), S. 47–56 sowie Wittgenstein (1989), S. 11 u. 16. Philosophiegeschichtlich lässt sich die Unterscheidung zwischen Zielen und Mitteln (bzw. Zwischenzielen) und ihrer
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Zwar spielt die Möglichkeit der Beurteilung einer Organisation als gut oder schlecht im weiteren Verlauf dieser Arbeit keine herausragende Rolle, v. a. nicht im letzteren (quasi-moralischen) Sinn einer Beurteilung der Ziele selbst – eine gewisse Relevanz der funktionalen Attribuierung hinsichtlich der Effizienz und Effektivität der Zielerreichung und somit des Funktionierens einer Organisation ist hingegen auch in unserem Kontext nicht von der Hand zu weisen. Vor allem aber kann diese Unterscheidung dazu dienen, die letzten beiden Verwendungsweisen von „Organisation“ noch einmal prägnant zu unterscheiden. Dazu schauen wir uns das folgende Urteil an, das lautet: „Die UNO ist eine gute Organisation. Aber die UNO hat keine gute Organisation.“ Der erste Satz drückt die Zustimmung des Sprechers zu den Organisationszielen der UNO aus, während der zweite eine Kritik an der Art und Weise enthält, wie diese Ziele erreicht werden sollen. Das Ziel wird für gut befunden, der organisatorische Weg dorthin nicht. Unabhängig davon kommt es hier darauf an, dass, gemäß dem ersten Satz, etwas eine Organisation sein kann. Im zweiten Satz wird demgegenüber ausgedrückt, dass etwas – das gleichzeitig eine Organisation in diesem engeren Sinne sein kann, aber nicht muss – eine Organisation haben kann. Mit Blick auf Nietzsche steht „Organisation“ hier primär hinsichtlich der ersten beiden Bedeutungen, also i. S. eines Organisierens mit dem Resultat einer Organisiertheit im Mittelpunkt, wobei dieses „Resultat“ immer nur als vorübergehendes zu betrachten ist, das sowohl bezüglich seiner Dauer als auch Einheit relativ ist, und für dessen Verständnis zudem eine fortdauernde interne Prozessualität und Dynamik weiterhin maßgeblich bleibt, wie sich zeigen wird. Zwar finden sich auch Stellen in Nietzsches Werk, in denen er „Organisation“ im institutionalen Sinn verwendet, beispielsweise für Bildungseinrichtungen (UB III, 6, 1, S. 402 bzw. ZB, 1, S. 729; N 1871/72, 14[25], 7, S. 384), Partei-Organisationen (MA II 2., 2, S. 653), Kirchen (AC 27, 6, S. 197) sowie anderen gesellschaftlichen „Organisationsformen und Verbände[n]“ (GM II, 8, 5, S. 306) oder sogar als Thematisierung der „grosse[n] Organisation der Gesellschaft“ insgesamt, z. B. in Form des Römischen Imperiums, für Nietzsche die „grossartigste Organisations-Form unter schwierigen Bedingungen, die bisher erreicht worden ist“ (AC 58, 6, S. 245). Insgesamt ist bei Nietzsche die Thematisierung von Organisation als spezifischer institutionaler Organisation jedoch eher nachrangig, und es steht vielmehr grundsätzlich die komplexe Wechselwirkung und der repräsentative Zusammenhang von Teil und Ganzem im Mittelpunkt, während in der berücksich-
jeweiligen „Güte“ weiter zurückverfolgen bis in die Antike (vgl. z. B. Aristoteles EN III 4, 1111b27; 112a; I 1, 1094a; I 5, 1097a25 ff.; De An. 406b6 ff.; dazu auch Rapp (2002), S. 7). Insofern ist Becker/Küpper/Ortmann (1992) zuzustimmen, wenn sie mit kritischem Blick auf die klassische Organisationstheorie mit ihrer Kaprizierung auf einen one best way, auf das ausschließliche Räsonnieren über den Weg bzw. die Mittel, ohne jemals die Ziele in den Blick zu nehmen, konstatieren, dass eine derartige Vernunft „den Alten als halbiert erschienen wäre“ (S. 89).
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tigten organisationstheoretischen Literatur in der Regel der Bezug zu sozialen Organisationen als rechtlich-wirtschaftlichen Einheiten explizit hergestellt wird. In anderer Terminologie ausgedrückt: Der funktionale Begriff von Organisation („Etwas wird organisiert“) und die instrumentale Verwendung („Etwas hat eine Organisation“) werden bei letzterer weniger um ihrer selbst willen thematisiert, sondern sind häufig ausdrücklich auf die Untersuchung von Organisationen in einem institutionalen Sinn („Etwas ist eine Organisation“) ausgerichtet oder nehmen diese zumindest als Beispiel und Ausgangspunkt für weiterführende Betrachtungen.8 In dieser Arbeit werden im Folgenden, der interdisziplinären Themenstellung entsprechend, alle drei Verwendungsweisen von „Organisation“ auftauchen, wobei deutlich zu erkennen sein sollte, um welchen Gebrauch es sich jeweils handelt. Der Zusammenhang der drei Begriffe könnte abschließend auch derart gefasst werden, dass der erste und zweite Begriff von „Organisation“ notwendige aber nicht hinreichende Bedingungen für den dritten liefern. Jede Organisation im dritten (institutionalen) Sinne muss demnach organisiert werden und eine Organisation haben, aber nicht alles, was organisiert ist, kann auch als eine derartige Organisation gelten. Organisationen in einem institutionalen Sinn können demnach vor dem Hintergrund allgemeinerer Aussagen zu „Systemen“, „Einheiten“ oder „Ganzheiten“ als ein Spezialfall instrumentaler Organisiertheit angesehen werden. Die bisher auf den Organisationsbegriff bezogene Diagnose der Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit kann mit mindestens gleicher Berechtigung für den Begriff der Macht gestellt werden. Zunächst einmal ist „Macht“ ein sehr traditionsreicher Begriff mit einem langen philosophiegeschichtlichen Vorlauf, auf den zwar im Verlauf dieser Arbeit, sofern es systematisch als geboten erscheint, an verschiedenen Stellen rekurriert wird, der aber hier nicht einmal ansatzweise erschöpfend behandelt werden kann.9 Was allerdings durchaus geleistet werden kann und soll, ist, zum einen die Diagnose der Vielfalt des Machtbegriffs zu untermauern, zum anderen einige der im Folgenden relevanten Facetten des Machtbegriffs aufzuzeigen, und zwar wiederum ausgehend von einem Blick auf unseren Sprachgebrauch. 8 Vgl. Gabler Wirtschafts-Lexikon (1988), Bd. 4, S. 751; auch Schreyögg (2000); Witt (1996), S. 32; Gomez/Zimmermann (1993), S. 16 f.; zu letzterem Aspekt vgl. Crozier/Friedberg (1993), S. 11. 9 Für einen Überblick vgl. u. a. die Artikel „Macht“ von Goerdt/Hauser/Kobusch et al. (1980) in: HWPh, Bd. 5, S. 585–631, von Gerhardt (1999b) in: Metzler Phil. Lex., S. 340 und von Schwartländer (1973) in: Handbuch phil. Grundbegr., Bd. 3, S. 868–877. Siehe auch Wb. der phil. Begr. (1998), S. 393 f.; Routledge Encyclopedia of Philosophy (REP) (1998), S. 610–612; The Encyclopedia of Philosophy (1967), Bd. 6, S. 424–426; Encyclopédie Philosophique Universelle (1989 ff.), Bd. 2, S. 2122– 2127; Lex. der phil. Begr. (1999), S. 254; Der Brockhaus Philosophie (2004), S. 201 f.; Duden. Das große Wb. der dtsch. Sprache (1999), Bd. 6, S. 2482.
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Macht wird „vielfach ausgesagt“, wie es zu Beginn des entsprechenden Artikels im Historischen Wörterbuch der Philosophie lakonisch heißt. Dem ist zuzustimmen. Am geläufigsten ist uns die Verwendung von Macht wohl im politischen Kontext (vgl. Brockhaus Philosophie (2004), S. 201), beispielsweise wenn von der gesetzgebenden Macht der Legislative, der rechtsprechenden Macht der Judikative, der ausführenden Macht der Exekutive oder von der diese Mächte fundierenden Macht des Volkes in der Demokratie die Rede ist. Darüber hinaus wird der Presse eine gewisse Macht eingeräumt, sorgt die Macht der Interessenverbände für Diskussionsstoff, erregt es öffentliches Interesse, wenn Machtpositionen in der Wirtschaft neu besetzt werden oder wenn die Macht des Geldes bzw. des „Kapitals“ generell thematisiert wird – nicht eben selten mit einem gewissen Argwohn. Neben dieser politisch-wirtschaftlichen Verwendung sprechen wir darüber hinaus in Alltagszusammenhängen von der Macht der Gewohnheit, der Macht des Zufalls oder des Schicksals, der Macht des Wortes und des Wissens, der Macht der Begierden, der Lust und der Schönheit – und nicht zu vergessen: von der Macht der Liebe, der Hoffnung und des Glaubens.10 Der Machtbegriffe gibt es also viele, Macht kann auf verschiedenste Weisen ausgesagt und ausgeübt werden und auf allen „denkbaren Konstellationen“ basieren, was M. Weber zu dem bekannten Urteil veranlasst hat, den Begriff der Macht „soziologisch amorph“ zu nennen (Weber (1972), S. 28). Auch sind die Trennlinien zu angrenzenden Begriffen nicht immer scharf zu ziehen. Die Diagnose könnte demnach lauten: „Forza, potere, autorità; puissance, pouvoir, autorité; Macht, Gewalt, Herrschaft; might, power, authority: these are all words to whose exact implications no great weight is attached in current speech; even the greatest thinkers sometimes use them at random.“ (Passerin d’Entrèves (1967), S. 7).11
Dennoch lässt sich von dem hier präsentierten Ausschnitt aus vielleicht bereits ein erster Zugang zum Phänomen der Macht erlangen. Nehmen wir als konkreten Ausgangspunkt z. B. den zuletzt angesprochenen Fall der Macht des Glaubens. Dieser ist sprichwörtlich dafür bekannt, Berge versetzen zu können. Für Nietzsche besteht der Clou an diesem „interessanten Aberglauben“ darin, „dass ein 10 Vgl. bereits Krugs Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften (1833), Bd. 3, S. 766. Ebenso unterscheidet Gerhardt (1999b) den politischen von einem alltäglichen und sozialen Gebrauch des Begriffs „Macht“ (S. 340); s. auch Gerhardt (1996), S. 7 ff. sowie (2006), S. 188. Zu verschiedenen „Formen der Macht“ wie „etwa Reichtum, Rüstung, Staatsautorität, Einfluß auf die Meinung“ (S. 11) etc. s. z. B. auch Russell (2009). Die Übergänge sind dabei fließend zu verstehen. Macht ist laut Russell gleich der Energie „als ständig von der einen in die andere Form hinüberwechselnd“ (S. 12) anzusehen. 11 Vgl. dazu auch Goerdt/Hauser/Kobusch et al. (1980), S. 585. Zu einem ähnlichen Befund kommt The Encyclopedia of Philosophy (1967), Bd. 6, S. 424: „The meanings of ,power‘, ,influence‘, ,control‘, and ,domination‘ are uncertain, shifting, and overlapping.“
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gewisser hoher Grad von Fürwahrhalten die Dinge gemäss diesem Glauben umgestaltet, dass der Irrthum zur Wahrheit wird“ (N 1876/77, 23[185], 8, S. 470). Hier klingt Nietzsches Interesse an Irrtum und Lüge als Basis der Wahrheit an, am Schillern von Schein und Sein, an der Notwendigkeit von Fiktionen, Illusionen und (Selbst-)Täuschungen für unser Leben sowie auch die Möglichkeit einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung im Glauben. Gegen Ende seines Werkes lässt er dagegen polemisch verlauten, dass die aus dem Glauben u. U. resultierende „Seligkeit aus einer fixen Idee noch nicht eine w a h r e Idee macht, dass der Glaube keine Berge versetzt, wohl aber Berge h i n s e t z t , wo es keine giebt“ (AC 51, 6, S. 230). Unabhängig von der auftretenden Diskrepanz zwischen diesen Stellen, als einem typischen Phänomen in der Auseinandersetzung mit Nietzsche (vgl. z. B. Müller-Lauter (1971); auch Löw (1984), S. 7 ff.), ist für unseren Kontext Folgendes von Relevanz: Die Macht des Glaubens besteht – und zwar in beiden Fällen – darin, Veränderungen hervorrufen zu können. Auch die Routledge Encyclopedia of Philosophy (1998) spricht Macht generell eine solche „capacity to produce or prevent change“ zu (S. 610 f.). Es geht also um potenzielle Einwirkungen auf die Welt.12 Etwas, das vorher nicht dort war oder nicht wahr gewesen ist, wie Nietzsche meint, wird durch den Glauben existent. Dass das Versetzen von Bergen dabei metaphorisch zu verstehen ist, tut dieser Erkenntnis keinen Abbruch, da es an dieser Stelle um einen ersten Zugang zum generellen Charakter von Macht geht, und die Wirkungen des Glaubens nicht weniger real sind, wenn sie sich nicht auf tatsächliche Berge beziehen, sondern im übertragenen Sinn auf eine Veränderung der Welt. Darüber hinaus lässt sich daran einfach verdeutlichen, dass die Macht nicht mit der Wirkung – hier: dem „Versetzen der Berge“ bzw. der Veränderung der Welt – gleichzusetzen ist, sondern sich in einer Wirkung zeigt. Macht ist also nicht Wirkung, sondern bringt Wirkungen hervor. Spricht man von Einwirkungen bzw. Wirkungen, stellt sich unweigerlich die Frage nach der dazugehörigen Ursache. Ist Macht also vielleicht als Ursache der Veränderung zu verstehen? Ein Zustand (X) wird gemeinhin als Ursache für einen weiteren Zustand (Y) angesehen, wenn (1) X und Y immer zusammen auftreten, (2) X dabei Y zeitlich immer vorausgeht und (3) auf X notwendig Y folgt. An unserem Beispielsatz kann man somit leicht ablesen, dass Macht keine Ursache in diesem Sinn sein kann, da die Notwendigkeit des Zusammenhangs nicht gegeben ist: Der Glaube kann zwar Berge versetzen, muss es aber nicht.13 Macht geht also weder vollständig in der Wirkung noch in der Ursache auf, sondern beschreibt die Möglichkeit zu wirken. Als solche ist sie zeitlich gesehen auf die 12 In den folgenden Ausführungen orientiere ich mich weitgehend an Gerhardt (1996), S. 7 ff. 13 Vgl. zur Unterscheidung von „causal power“ und „social power“ REP (1998), S. 610.
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Zukunft ausgerichtet, was sich auch an Webers berühmter Definition von Macht als „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen (. . .) durchzusetzen“, ablesen lässt (Weber (1972), S. 28; H.v. m.). Chancen verweisen, außer in Form von verpassten Chancen, wodurch sie ihren Status streng genommen bereits eingebüßt haben, niemals auf die Vergangenheit, sondern lassen den Blick „nach vorn“, also in Richtung Zukunft ausrichten.14 Wie ist es aber, wenn nun „Berge versetzt“, d. h. Wirkungen in der realen Welt gezeitigt werden? Selbst dann darf Macht laut Gerhardt (1996) nicht im Sinne einer direkten Ursächlichkeit missverstanden werden, sondern ist vielmehr instrumentell aufzufassen, als ein Mittel, über das ein Urheber im Hinblick auf mögliche Wirkungen verfügt: „Wenn die Macht das Mittel ist, mit dessen Hilfe ein Urheber über Wirkungen verfügt, dann liegt darin auch die Verfügung über Ursachen. Denn nur, wenn man Ursachen herbeizuführen weiß, kann man Wirkungen zeitigen. Zwar muß auch diese Verfügung ihre spezifischen Ursachen haben. Aber diese sind gewiß nicht mit der gemeinten Macht identisch, sondern stehen bestenfalls auch wieder nur ,hinter‘ ihr. Wenn es also Ursachen der Verfügung gibt, liegen sie auf einer anderen Ebene als die Ursachen der erwarteten Wirkungen.“ (S. 9)
Insofern ist Macht gewissermaßen ein Mittel, um Ursachen zu Wirkungen bzw. Mittel zu Wirkungen herbeizuführen. Übertragen auf unser Beispiel, könnte man sagen, dass der Glaube, um „Berge“ versetzen zu können, mittels der ihn auszeichnenden Macht über Ursachen verfügen können muss, die Wirkungen entfalten. Bei dieser Redeweise von Macht als Instrument des Glaubens fällt eine Subjektivierungstendenz auf. Der Glaube wird zu einem Agenten, der sich der Macht als Mittel bedient.15 Diese abstrakte Verwendung eines Subjekts ist häufig anzutreffen, wie die obige Aufzählung belegt, und hat eine gewisse Berechtigung. Wenn z. B. von der Macht des Geldes gesprochen wird, ist nicht automatisch die Macht gemeint, die ein menschliches Subjekt durch den Besitz von Geld erlangt. Es kann auch die Macht angesprochen sein, die eine große Summe auf den Menschen ausübt. Darüber hinaus kann Macht selbst subjektiviert gedacht werden und als ein Quasisubjekt auftreten, das bestimmte Eigenschaften besitzt, z. B. die Tendenz zur Akkumulation und zur Monopolisierung oder die Fähigkeit, gewisse Ziele zu verfolgen, Menschen zu korrumpieren etc. Hierbei bleibt der Bezug zur Sphäre des Menschen in mehrfacher Hinsicht erhalten. Denn zum einen ist die angesprochene Subjektivierung von Macht in 14 Zur Bedeutung der Zeitlichkeit der Macht, die im weiteren Verlauf an unterschiedlichen Stellen eine Rolle spielen wird, vgl. neben Gerhardt (1996), u. a. S. 10 und S. 324, z. B. auch Ortmann et al. (1990), S. 458 ff., Neuberger (1995), S. 87 ff. oder auch Picht (1986), S. 464. 15 Zur Differenzierung zwischen „agential power“ und „power“„(that) rests in nonagential things“, wie „social ,structures‘ or ,forces‘“ vgl. REP (1998), S. 611.
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Analogie zum menschlichen Handeln, letztlich zum Menschen selbst, entworfen.16 Zum anderen kann – um auf unsere Beispiele zurückzukommen – die Macht des Glaubens bzw. des Geldes eben auch bedeuten, dass der einzelne Mensch mittels dieser Macht eine Stärke bekommen kann, die ihm ohne sie nicht zur Verfügung gestanden hätte. Er kann also die Macht wie ein Werkzeug gebrauchen, sie nutzen, wie exemplarisch an Machiavellis Figur des Fürsten zu sehen (vgl. Gerhardt (2007), S. 63). Darüber hinaus kann der Mensch auch sich selbst und seine Natur als Macht begreifen (vgl. Plessner (2003), S. 135 ff., v. a. S. 185 ff.). Auf einen engen Bezug zwischen Macht und Mensch deutet auch die Herkunft des Begriffs der Macht hin: Seinem etymologischen Ursprung nach verweist Macht (gemeingerm. Wort, got. mahts, ahd. maht, Abstr. zu got. magan, ahd. mugan, mhd. mügen, nhd. mögen, „können“, „vermögen“, von der idg. Wurzel magh- (vgl. Hoffmeister (1988), S. 389) auf „die einem tätigen Subjekt zugeschriebene Möglichkeit“ (Gerhardt (1999b), S. 340; H.v. m.). Macht meint ein Können und Vermögen, eine „geistige und körperliche Fähigkeit zu etwas, das Seinkönnen, die Potenz einschließlich des Aktus, der Tatsächlichkeit ihres Sichauswirkens“ (Hoffmeister (1988), S. 389; H.v. m.). Der Begriff der Macht hat demnach im Horizont realer (menschlicher) Möglichkeit seine Bedeutung und ist, unter der möglichen Ausweitung der Perspektive auf das Sein insgesamt, beispielsweise mit dem griechischen Begriff der „dynamis“ in Verbindung zu bringen sowie mit der lateinischen „potentia“.17 Neben dem wichtigen Begriff der „Kraft“ gehören auch die oben bereits angesprochenen Begriffe der „Stärke“ und „Autorität“ zu dem Wortfeld von Macht, sowie u. a. „Befugnis“, „Vollmacht“, „Herrschaft“, „Einfluss“, „Gewalt“ und „Wucht“ (vgl. z. B. Duden (1999), Bd. 6, S. 2482). Auch das „Vermächtnis“, verstanden als „Übertragung einer Handlungsmöglichkeit“, wäre hier hinzuzurechnen (Gerhardt (1996), S. 10). Darüber hinaus ist bei einer geistesgeschichtlichen Betrachtung besonders die Nähe des Machtbegriffs zu denen des „Willens“, der „Freiheit“ (i. S. eines Handlungsspielraums und einer zur Selbstbestimmung notwendigen Selbstmächtigkeit) sowie zur „Vernunft“ herauszustellen.18 In dieser Herkunft ist neben dem wichtigen Hinweis auf Körper und Geist auch der Bezug zur Tat enthalten. Allerdings gelten hier die gleichen Einschränkungen wie bei der Wirkung: Macht ist nicht mit Tat gleichzusetzen. Macht ist nicht Machen, wie bereits Hannah Arendt betont (vgl. Arendt (2002), S. 252).19 16
Vgl. zur Analogie von Macht und Mensch ausführlicher Gerhardt (1996), S. 19 ff. Vgl. z. B. Goerdt/Hauser/Kobusch et al. (1980); Gerhardt (1999b); auch Arendt (2002), S. 252 sowie Picht (1986), S. 463 f. 18 Vgl. v. a. die Artikel von Goerdt/Hauser/Kobusch et al. (1980), Gerhardt (1999b) sowie Schwartländer (1973). 19 Insofern ist Macht auch nicht „das Hervorbringen beabsichtigter Wirkungen“, wie Russell (2009, S. 34) meint, sondern genau genommen die Möglichkeit dazu. 17
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Dafür sorgt ihr o. a. potenzieller, auf die Zukunft gerichteter Charakter. Auch wenn von Zeit zu Zeit Taten gleichsam als Aktualisierungen und Demonstrationen der Macht angebracht sein können, notwendig ist der konkrete und aktuale Vollzug einer Tat nicht, um von Macht sprechen zu können. Häufig reichen auch andere Zeichen zur Machtdemonstration aus. Irgendeine Art von Zeichen, Bild, Statussymbol oder Mythos wird allerdings immer benötigt, um den eigenen Herrschaftsanspruch zu verdeutlichen sowie die eigene Macht zum Ausdruck zu bringen, wie Jan Assmann eindrucksvoll am Beispiel der pharaonischen Kultur Altägyptens belegt. Pyramiden, deren Architektur ein Ausdruck einer gewaltigen Organisations- und Koordinierungsmacht ist, die auch nach den Maßstäben moderner Organisationstheorie bemerkenswert bleibt (vgl. Bogumil/Schmid (2001), S. 21), werden zum Symbol der „Macht eines Willens, der Berge versetzen kann.“ (Assmann (2005), S. 77) In dieser Notwendigkeit von Zeichen klingt an, was in der o. a. Definition von Macht als „zugeschriebener Möglichkeit“ schon zum Ausdruck gekommen ist. Macht wird auf der Basis von gegenseitiger Wahrnehmung, Interpretation, Bewertung und Erwartung in einem sozialen Prozess konstituiert. Auch in der Ausübung ist Macht immer auf anderes und andere mit ihrer je eigenen Macht bezogen, ist relational verfasst und benötigt ein Gegenüber, um sich als Macht zeigen und beweisen zu können. Macht ist somit ein originär sozialer Begriff. Macht kann „gar nicht anders als gesellschaftlich gedacht werden“ (Gerhardt (1996), S. 24). Diesen ersten Zugang zur Macht abschließend, kann Macht also in ihrer allgemeinsten Form als „eine Kraft oder Vermögen, das Mögliche wirklich zu machen“ aufgefasst werden (vgl. Zedlers Univ. Lex. (1739), Bd. 19, S. 76 f.). Macht ist ein Vermögen zu wirken und kennzeichnet demnach die Schnittstelle von Möglichkeit und Wirklichkeit. Sie geht nicht komplett in der Wirklichkeit auf, ist aber mehr als eine bloße (theoretische) Möglichkeit. Macht bezeichnet die „Summe aller Kräfte und Mittel, die einem Akteur (Person, Gruppe, Sachverhalt, Natur) gegenüber einem anderen Akteur zu Verfügung stehen.“ (Brockhaus Philosophie (2004), S. 201) Im menschlichen Handlungszusammenhang, der in dieser allgemeinen Definition beinhaltet ist und aus dem das Wort originär stammt, bezeichnet Macht somit eine reale Handlungsmöglichkeit oder, bei mehreren alternativen Möglichkeiten, einen Handlungsspielraum. Die hier einleitend vorgestellten Auffassungen sowohl von „Macht“ als auch von „Organisation“ bilden den Ausgangspunkt für den weiteren Verlauf und die Fragestellung der Arbeit. Die Thematisierung von Macht im Zusammenhang mit Organisation ist dabei keineswegs so selbstverständlich, wie es der Titel und einige der dargestellten Charakteristika vielleicht nahelegen, und wie es aus heutiger Sicht auch zu Recht erscheinen mag. Innerhalb der modernen Organisationstheorie hat die Beschäftigung mit Macht erst seit Anfang der 1970er Jahre, ausgehend vom englischen Sprachraum, zu-
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nehmende Beachtung erfahren.20 Als wichtige Wegbereiter sind neben J. G. March, der das sogenannte „garbage can model“ eingeführt hat, vor allem A. Pettigrew und T. R. Burns hervorzuheben, auf den der Begriff „micropolitics“ zurückgeht. Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass sich diese Autoren hierbei auf traditionelle Ansätze, z. B. H. Fayols, F. W. Taylors und vor allem auch M. Webers stützen konnten, vor deren Hintergrund und in Abgrenzung zu denen ihre Arbeiten zu sehen sind. Bei diesen Klassikern der Organisationstheorie ist der Bezug zu der oben bereits thematisierten Vorstellung einer zweckdienlichen Zusammenstellung der Teile zu einem Ganzen unverkennbar: Organisationen bestehen in dieser Sicht idealtypischerweise aus einer (zweck-)rationalen Ordnungsstruktur, die von einem Oberzweck sowie von pyramidenförmig von diesem ausgehenden Zweck-Mittel-Ketten geprägt ist.21 Dadurch wird die Nähe zu einem formal-bürokratischen Aufbau unverkennbar, der tatsächlich auch als die rationalste und leistungsfähigste Organisationsstruktur i. S. eines „one best way“ angesehen und häufig durch die Metapher einer reibungslos funktionierenden „Maschine“ repräsentiert wird.22
20 Zur Unterscheidung von traditioneller, neoklassischer und moderner Organisationstheorie vgl. Schreyögg (2000), insbesondere den recht plastischen graphischen Überblick auf S. 98. Zu einer umfassenden systematischen Übersicht über Organisationstheorien und deren Verbindungen vgl. auch Kieser (2001); aus primär verhaltenswissenschaftlichem Blickwinkel vgl. Staehle/Conrad/Sydow (1999). 21 Insofern könnte man mit Welsch (2006) diese Form der Rationalität auch „instrumentell“ nennen. Die Ablehnung Welschs, der sich ausgesprochen vehement gegen den Terminus der „Zweckrationalität“ wendet, weil diese sich gerade nicht auf Zwecke richte, sondern auf Mittel, teile ich dennoch nicht. Es ist m. E. durchaus legitim, die Mittelwahl im Hinblick auf die jeweils verfolgten Zwecke als „zweckrational“ zu bezeichnen. 22 Den Terminus des „one best way“ hat Taylor expliziert und populär gemacht, allerdings ist dieser laut Crozier/Friedberg (1993) als Ausdruck des grundlegenden Klimas und der Denkweise seiner Epoche zu verstehen (vgl. S. 14). So z. B. auch bei Weber (MWG I/22-4): Die Arbeitsanordnung moderner Fabriken wird dort als „rational geschaffene Gebilde zu rationalen Zwecken“ (S. 258) und die „ganz großen modernen kapitalistischen Unternehmungen“ als „normalerweise unerreichte Muster straffer bürokratischer Organisation“ bezeichnet (S. 186). Hinter jeder Entscheidung innerhalb einer bürokratischen Verwaltung steht „ein System rational diskutabler ,Gründe‘, d. h. entweder: Subsumtion unter Normen, oder: Abwägung von Zwecken und Mitteln“ (S. 196). Allerdings räumt Weber ein, dass hinter abstrakten und „sachlichen“ Ideen auch eigene Machtinteressen „eingeschmolzen“ sind, so z. B. „die sicheren Instinkte der Bürokratie für die Erhaltung ihrer Macht im eigenen Staat (. . .). Letztlich diese eigenen Machtinteressen geben jenem an sich keineswegs eindeutigen Ideal meist erst einen konkret verwertbaren Inhalt und in zweifelhaften Fällen den Ausschlag.“ (S. 196) Weber sieht darüber hinaus neben dem Nutzen des Bürokratismus auch die Gefahr, dass eine Rationalisierung der gesamten Lebensführung nach bürokratischem Muster diese zu dem berühmten „stahlharten Gehäuse“ werden lässt, das er in der Protestantischen Ethik beschreibt (RS I, S. 203; vgl. dazu auch Hennis (1987), S. 395 sowie Kieser (2001), S. 52). Zum ambivalenten Verhältnis Webers zur Rationalisierung vgl. darüber hinaus Peukert (1989), S. 30 ff, S. 41, S. 83 ff.; Germer (1994), S. 66 und S. 70 ff.; Häußling (2000), S. 175 und S. 183; Breuer (2001), S. 228 f. Zur subjektiven, relativen Kompo-
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Die in den dreißiger Jahren einsetzende kritische Auseinandersetzung mit dem bürokratisch-tayloristischen Organisationstyp, z. B. durch Ch. Barnard, ging einher mit einer verstärkt rationalitätskritischen Sicht auf Organisationen. Becker/ Küpper/Ortmann (1992) referieren sechs Problemkomplexe, die der schlüssigen organisationstheoretischen Ausarbeitung des Gedankens funktionaler Rationalität vor allem zu schaffen machten: „(E)rstens die so offenkundig begrenzte Rationalität menschlicher Individuen, zweitens die Vielfalt von Zielen und Interessen der Organisationsmitglieder, drittens eine gewisse Anarchie organisationaler Entscheidungsprozesse, viertens machtpolitische Beeinträchtigungen der Effizienz von Problemlösungen, fünftens die Vielfalt kulturell bedingter Weltdeutungen und Wahrnehmungsweisen, und sechstens – und in gewisser Weise dadurch ausgelöst und dies alles zusammenfassend – die systemtheoretische Frage nach der Funktion von Zwecken in Organisationen und den Grenzen des Denkens in Kategorien von Zweck und Mittel überhaupt.“ (S. 90 f.)
Simon (1976, zuerst 1945), der insbesondere den ersten Problemkomplex exponiert hat, die mangelnde Befähigung der Menschen zu vollständig rationalem Handeln auf Grund ihrer beschränkten kognitiven Fähigkeiten, verortet gerade in dem Unterschied zwischen „bounded rationality“ realer Akteure und vollkommener Rationalität des idealtypischen homo oeconomicus die Notwendigkeit einer Organisationstheorie: „(I)f there were no limits to human rationality administrative theory woud be barren. It would consist only of the single precept: Always select that alternative, which will lead to the most complete achievement of your goals. The need for an administrative theory resides in the fact that there are practical limits to human rationality“ (S. 240; zit. nach Ortmann et al. (1990), S. 68).
Die Gesamtrationalität der Organisation scheint durch die begrenzten Einzelrationalitäten der Akteure zunächst eingeschränkt, wird dann aber von Simon durch eine (formale und rationale) Organisationsstruktur selbst wieder hergestellt. Dieser Gedankengang – erst eine Tendenz zur Irrationalität (meist auf der Ebene der Individuen) festzustellen, um sie dann im zweiten Schritt auf einer höheren (organisationalen) Ebene zu lösen – scheint paradigmatisch zu sein für die weitere Entwicklung der Organisationstheorie und ist sowohl bei Lindbloms (1959) Adaption von Smiths „invisible hand“ für einen innerorganisatorischen Markt von Meinungen und Entscheidungen anzutreffen, der dafür sorgt, dass die divergierenden Einzelrationalitäten zumindest „a posteriori“ rational koordiniert werden, als auch bei Cyert/Marchs „Behavioral Theory of Firm“ (1963). Hier wird zwar von einem latenten Fortbestehen des Konflikts ausgegangen, allerdings führen „Quasi-Lösungen“ und ein nicht weiter erläuterter „attention focus mechanism“ zu einer „sequential attention to goals“. Sogar für das Bild der organisationalen Entscheidungsfindung als „garbage can“ (Cohen/March/Olsen (1972)), in nente von zweckrationalem vs. objektivem richtigkeitsrationalen Verhalten s. Kippenberg (2001), S. 29 sowie auch Jacobsen (2001), S. 36.
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dem Probleme, Lösungen, Ziele und Akteure neben- und durcheinander existieren, die Möglichkeit einer Umkehrung traditionell unterstellter Zweck-MittelKetten besteht und Entscheidungen situativ und relativ zufällig zu entstehen scheinen, wird die erlösende „technology of foolishness“ (March (1977)) nachgereicht, die in dieser „organisierten Anarchie“ mit der Irrationalität der Akteure rechnet. (Vgl. zu alledem ausführlich Becker/Küpper/Ortmann (1992)) Entscheidend für unseren Kontext ist: In derartigen Theorien, die den konfliktionären Charakter von Organisationen und die Prozesshaftigkeit der Koalitionsund Zielbildung innerhalb dieser Organisationen betonen, kann die Rationalitätsfrage immer weniger von der Frage nach Macht entkoppelt werden. Folgerichtig rückt das hier im Mittelpunkt stehende Thema von Macht und Organisation zunehmend in den Fokus, v. a. in diversen angloamerikanischen Untersuchungen, beispielsweise der von J. Pfeffer oder H. Mintzberg, sowie in einer breit angelegten Analyse von Verwaltungs- und Industrieorganisationen durch den Franzosen M. Crozier und den Österreicher E. Friedberg. Insbesondere Letztere prägten die spätestens in den 1980er Jahren in Deutschland einsetzende Diskussion um die politische Dimension organisationaler Prozesse und Abläufe nachhaltig. (Vgl. Alt (2001), S. 289) Mittlerweile liegt zu dem Thema eine unüberschaubare Vielzahl von Konzepten mit je unterschiedlichen Ausgangspunkten, Begrifflichkeiten und Definitionen vor, die wiederum Gegenstand von Überblicksarbeiten23 sind, „die sich jedoch ihrerseits hinsichtlich der verfolgten Erkenntnis-, Selektions- und Ordnungskriterien unterscheiden und somit kein einheitliches Bild des Diskussionsstandes vermitteln“ (Elsik (1997), S. 9). Elsik versucht in einer Meta-Studie Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Politikansätze innerhalb der Organisationstheorie herauszuarbeiten, wobei ihm als Unterscheidungskriterium die Frage nach dem Verhältnis von Handlung und Struktur dient. Er macht drei Grundkategorien von Politikansätzen ausfindig, die sich folgendermaßen graphisch darstellen lassen:
Politik als zweckrationale Strukturgestaltung H⇒S⇒H
Politik als interessegeleitete Machtausübung H⇒S
Politik als Konstitution der Organisation H⇔S Aushandeln der (Mit-)Spielen in rekursive sozialen Ordnung Organisationen Strukturbildung
Abb. 1: Politikansätze in der Organisationstheorie (Quelle: Elsik (1997), S. 10)
23 Vgl. z. B. Türk (1989); Sandner (1990); Brüggemeier/Felsch (1992); Neuberger (1995); Schreyögg (2000), S. 422 ff.; Alt (2001), S. 289 f.
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Traditionell wird der Begriff „Politik“ in der Organisationstheorie als zweckrationale Strukturgestaltung in Verbindung mit Unternehmenspolitik verwendet.24 Im Rahmen der politischen Ansätze beschäftigt man sich heute jedoch weniger mit diesen (business) policies, i. S. v. Grundsatzentscheidungen, die vom Top-Management getroffen werden und die den Rahmen für nachfolgende Entscheidungen vorgeben (Handlung (H) ) Struktur (S) ) Handlung (H)), sondern mit politics i. S. v. Interessen- und Tagespolitik.25 Man geht hier nicht mehr davon aus, dass Organisationsstrukturen nach dem Modell eines „one best way“ durchgehend (zweck-)rational gestaltet sind, sondern davon, dass immer Grauzonen und Schlupflöcher existieren, die von beschränkt rationalen Akteuren genutzt werden, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen. (Vgl. Alt (2001), S. 291) Diese Entwicklung lässt sich nicht zuletzt anhand der verwendeten Metaphern nachvollziehen, die jeweils unterschiedliche Sichtweisen auf und von Organisationen widerspiegeln und die von „Maschine“ und „Apparat“, über „Organismus“ bis hin zu „Mülleimer“, „Spielfeld“, „Bühne“ und „(politischer) Arena“ reichen.26 Der Prozess insgesamt kann als Kritik und Ergänzung des traditionellen Rationalmodells der Organisation verstanden werden: „Die Organisation wird nicht als monolithische, homogene Einheit, sondern als Geflecht von verschiedenen Akteuren mit heterogenen Zielen und Handlungen verstanden. Die Existenz mehrerer potentiell widersprüchlicher Ziele führt auch dazu, daß die Akteure zwar rational handeln, aber nicht in Bezug auf ein (. . .) ,objektives‘ Organisationsziel, sondern hinsichtlich der Realisierung ihrer subjektiven Interessen.“ (Elsik (1997), S. 11)
In diesem Kontext ist häufig von „Mikropolitik“ die Rede, in dem Sinne, dass nicht die große Strukturgestaltung, sondern kleine, verdeckte Aktionen im Vordergrund stehen. Durch die starke und teilweise einseitige Handlungsorientierung bleibt die Genese und Veränderung der Formalstruktur, die den Rahmen der politischen Prozesse vorgibt, allerdings weitgehend unangetastet (vgl. ebd., S. 12). Dies ändern erst Konzepte, in denen Politik als Konstitutionsprozess der Organi24 Vgl. dazu die Unterscheidung von fünf in der Betriebswirtschaftslehre verwendeten Politikkonzepten, wie sie Sandner (1990, S. 66 f.) entwirft. Sandner kritisiert in diesem Zusammenhang den, an sozialwissenschaftlichen Maßstäben gemessen, fehlenden Politikgehalt einer derartig engen Verwendung des Politikbegriffs (s. auch Elsik (1997), S. 11). Dies lässt sich mit Gerhardt (2007) untermauern, der Politik definiert als „das auf Einheit zielende Handeln der sich als Einheit verstehenden gesellschaftlichen Organisation.“ Zielpunkt sei dabei das soziale Ganze. Insofern sei eine Übertragung auf wirtschaftliche Vorgänge „nicht falsch“, aber „unzureichend“, weil man ein Unternehmen „nicht schon als das Ganze einer Gesellschaft“ bezeichnen könne (S. 370). 25 Ausführlicher zu dieser Unterscheidung Neuberger (1995), S. 8 ff.; Bogumil/ Schmid (2001), S. 29. 26 Vgl. z. B. Neuberger (1995), S. 5, insbesondere Anm. 2. Zur Metapher der „politischen Arena“ vgl. auch Türk (1992). Zur Kritik an der Maschinenmetapher vgl. Ortmann (1992a); Generell zu verschiedenen „Bildern der Organisation“ – u. a. als „Gehirn“ – sowie deren Einfluss auf das Handeln der Organisationsmitglieder vgl. Morgan (2002); in Bezug auf die Organisationsform „Schule“ s. Girmes (2004), S. 110 ff.
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sation thematisiert wird und die dementsprechend von einer wechselseitigen Beeinflussung von Handlung und Struktur ausgehen (H , S; vgl. Abb. 1). Unter diese intermediären Ansätze ist auch die von Küpper und Ortmann mit ihrem Aufsatz von 1986 initiierte Verbindung der auf Crozier und Friedberg gründenden „Strategischen Organisationsanalyse“ mit dem Konzept der „Mikropolitik“ einzuordnen, die im Mittelpunkt der Betrachtung dieser Arbeit steht. Dem Eingangszitat gemäß stellen die Autoren in diesem Ansatz Macht „in das Zentrum ihrer Überlegungen“.27 Von Mikropolitik sprechen sie dabei zum einen, weil es ihnen um den „Binnenraum der Macht“ geht „und nicht um das, was in der Betriebswirtschaftslehre unter Rubriken wie Unternehmenspolitik, Strategische Planung oder Strategische Führung behandelt wird“ – also das, was oben unter „business policy“ angesprochen wurde –, zum anderen, weil sie hervorheben möchten, dass sie eine „Analyse mikroskopisch feiner Strukturen der Machtbeziehungen für nötig halten“ (Ortmann (1995), S. 32; H.v. m.). Das Konzept der Mikropolitik lässt sich ihrer Auffassung nach durch die Kombination mit der Strategischen Organisationsanalyse „ganz erheblich vertiefen, präzisieren und erhärten“ (ebd.), indem durch einen systematischen Rekurs auf die Machtpolitik und Spielstrategien von individuellen Akteuren die rekursive Beziehung zwischen der Mikroebene des Handelns von Akteuren und der Makroebene des Systems bzw. der Handlungsstrukturen untersucht wird. Der Schwerpunkt der Betrachtung wird somit „auf die Ebene des Handelns verlegt, ohne allerdings Strukturelemente und -dimensionen zu vernachlässigen.“ (Küpper (1993), S. 236; zit. nach Witt (1996), S. 52) Dieser Ansatz zeichnet sich insbesondere durch eine große Offenheit gegenüber anderen theoretischen Strömungen sowie durch eine erstaunliche Adaptions- bzw. Anschlussfähigkeit bezüglich verschiedenster Theorieelemente anderer Konzepte aus: So weisen die Autoren explizit auf eine Reihe von Anknüpfungspunkten hin, beispielsweise zu den macht- und kontrolltheoretischen Arbeiten von Vertretern der „Radical Political Economy“, wie S. A. Marglin, H. Bravermann, R. Edwards bzw. M. Burawoy, zu dem daran kritisch anschließenden arbeitspolitischen Ansatz des Wissenschaftszentrums Berlin um W.-D. Narr und F. Naschold, zu industriesoziologischen Arbeiten, z. B. von H. Kern und M. Schumann, oder auch zur Systemtheorie N. Luhmanns, zur Strukturationstheorie von A. Giddens sowie zu der Machttheorie M. Foucaults – um nur einen Ausschnitt zu präsentieren.28 27 Vgl. auch Küpper/Ortmann (1992), S. 7; Ortmann (1992b), S. 217; Ortmann (1990), S. 13; Witt (1996), S. 28. 28 Vgl. dazu Küpper/Ortmann (1986), S. 598 f. sowie (1992), S. 18 f.; auch Ortmann (1995), S. 34 f. Zu den drei letztgenannten Autoren – Luhmann, Giddens und Foucault – vgl. in ebendieser Reihenfolge v. a. Ortmann (1992b), Ortmann et al. (1990) sowie Ortmann/Sydow/Windeler (1997) und Ortmann (1984). In jüngerer Zeit sind insbesondere von Ortmann eine Reihe von weiteren Einflüssen, u. a. komplexitätstheoretischer
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Umso erstaunlicher ist es daher, dass meines Wissens bisher noch nie der Versuch unternommen worden ist, den Mikropolitikansatz in systematischer Weise mit der Philosophie Nietzsches in Verbindung zu bringen, die unverkennbare „Spuren“ im Werk Webers als einem der Klassiker der Organisationstheorie hinterlassen hat29, deren starker Einfluss auf Foucault offenkundig ist30 und die sich darüber hinaus interessanterweise auch für einen Vergleich mit einem weiteren der angesprochenen Denker, nämlich Luhmann, als durchaus fruchtbar erwiesen hat31; auch wenn sich in jüngerer Zeit tatsächlich erste Anzeichen einer Annäherung der Organisationstheorie im Allgemeinen und speziell der Mikropolitiktheorie ausmachen lassen – bis hin zu einer expliziten „Notiz zu Nietzsche“ von Ortmann (2004, S. 53 f.).32 Dies gilt umso mehr, zieht man Äußerungen Foucaults – und dekonstruktivistischer Art, aufgenommen worden (vgl. Ortmann (2003, 2003b, 2004)). 29 Diese arbeitet Hennis (1987) in seinem Aufsatz „Die Spuren Nietzsches im Werk Max Webers“ heraus. Aus der dort angegebenen Literatur zu diesem Thema sind v. a. die Arbeiten von Fleischmann (1964), Eden (1984) (vgl. auch die Rezension von Baier (1987)), Baier (1982), Peukert (1989) und Lichtblau (1996) zu nennen. Kritisch zu Hennis äußern sich Schluchter (1996), S. 166–185 sowie Jacobsen (2001), S. 35. Darüber hinaus sind Germer (1994) sowie Häußling (2000) anzuführen. Letzterer liefert ebenfalls einen recht guten Überblick über die Literatur (vgl. S. 165 ff.). Zum Einfluss Nietzsches auf die „Religionssystematik“ Webers enthält auch der Sammelband von Kippenberg/Riesebrodt (2001) eine Reihe von weiterführenden Arbeiten. 30 Vgl. u. a. Foucault (1976), (1978), (1984), (2003). Die Auflistung der Arbeiten, die sich (u. a.) mit diesem Einfluss beschäftigen, füllt mittlerweile Seiten der einschlägigen Weimarer Nietzsche-Bibliographie (vgl. von 1977 bis 1998 Bd. 5, 2002, S. 324– 333 bzw. 126 Einträge von 1966–2007). Vgl. als kleine Auswahl Le Rider (1997), S. 122–128; Ansell-Pearson (1991); Fink-Eitel (1989 und 1994); Urpeth (1998); Lahr (1999); Levin (2002); Rehmann (2004). Vgl. darüber hinaus Deleuze (1987), S. 45 u. S. 159 sowie (1991), S. 160 ff.; Cooper/Burrell (1988), S. 99 ff.; Burrell (1988), S. 221–235; Marti (1988), S. 69 ff.; Güldner (1991), S. 70 ff.; Münker/Roesler (2000), S. 91 ff.; Tepe (1992). Hervorzuheben in unserem Kontext ist, dass auch Giddens (1995) diesen Zusammenhang zwischen Nietzsche und Foucault thematisiert und generell auf den „influence of Nietzsche over social theory“ (S. 262) verweist, den er in seiner zeitgenössischen französischen Ausprägung jedoch zurückweist (vgl. S. 265 ff.). Owen (1994) widmet sich, ausgehend von Kant, ebenfalls ausführlich den Verbindungslinien zwischen Nietzsche, Weber und Foucault. 31 Vgl. Kerger (1991) u. (1990), S. 400 sowie v. a. Körnig (1999). Neuberger (2006), der ebenfalls Nietzsche und Luhmann an mehreren Stellen in einen (allerdings sehr losen) Zusammenhang bringt (vgl. z. B. S. 323 ff. und S. 363 ff.), deutet darüber hinaus eine implizite Verbindung zu Giddens an (vgl. S. 303 ff.). 32 Zu einem Versuch, Nietzsches Überlegungen, v. a. zum Übermenschen, für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Human Resource Management heranzuziehen s. Townley (1999). Weiskopf (2002) zieht Nietzsches Stilbegriff heran, um die Organisation von Vielfalt in Organisationen zu dsikutieren (vgl. insbesondere S. 88) und Munro (2005) untersucht mit expliziter Bezugnahme auf Nietzsche die Rolle und die Funktionsweisen von Mythen in modernen Organisationen. Darüber hinaus ist, wissentlich oder nicht, eine häufige Verwendung von Ausdrucksweisen und sprachlichen Bildern Nietzsches bis hin zu kompletten Zitaten zu verzeichnen (vgl. exemplarisch Gellrich/ Luig/Pfriem (1997), S. 523 im Handbuch Umweltschutz und Organisation – Ökologisierung, Organisationswandel, Mikropolitik; Neuberger (1995), S. 110 u. S. 116;
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der sich selbst ausdrücklich als „Nietzscheaner“ bezeichnet (vgl. Foucault (1984), S. 40) – hinzu, in denen er Nietzsche als den „Philosoph[en] der Macht“ tituliert, dem es gelungen sei, „die Macht zu denken, ohne sich dabei in eine politische Theorie einzuschließen.“ (Foucault (1976), S. 46 f.) Dies könnte sich aus organisationstheoretischer Sicht als interessant erweisen. „For Foucault Nietzsche is the Philosopher of power“, wie Ansell-Pearson (1991, S. 270) feststellt. Zu dieser Diagnose kommt nicht nur Foucault: Auch Kaufmann bezeichnet beispielsweise Nietzsches Philosophie explizit als eine „Philosophie der Macht“ (vgl. Kaufmann (1988), S. 245–389; H.v. m.), Ottmann (1999, S. 136) konstatiert ihm ebenfalls eine solche – wenn auch „höchst eigenwillige“ – „Philosophie der Macht“, und auch Gerhardt (1996), der sich intensiv mit der Entwicklung und Stellung der Macht in Nietzsches Gesamtwerk auseinandersetzt und dem diese Arbeit in weiten Teilen verpflichtet ist, hebt ausdrücklich die Berechtigung hervor, von einer „Philosophie der Macht“ (S. 265) bei Nietzsche zu sprechen.33 Mit nahezu der gleichen Berechtigung lässt sich Nietzsches Philosophie auch als „Philosophie der Organisation“ charakterisieren (vgl. Müller-Lauter (1999), 39 ff., S. 50 ff., S. 87 ff.; Gerhardt (1996), S. 260; Abel (1984), S. 110 ff.). Dieser Bezug gleichermaßen auf Macht wie auf Organisation macht Nietzsches Philosophie aus organisationstheoretischer und insbesondere mikropolitischer Sicht hochinteressant und lässt eine interdisziplinäre Auseinandersetzung als lohnenswert und vielversprechend erscheinen. Das Ziel dieser Arbeit ist es daher, das jeweilige Machtverständnis der – zeitlich und auf den ersten Blick auch inhaltlich – weit auseinander liegenden Ansätze von Küpper und Ortmann sowie von Nietzsche eigenständig zu rekonstruieren und darzustellen, und diese hinsichtlich der zugrundeliegenden Machtkonzeptionen und -begriffe systematisch auf Übereinstimmungen und mögliche Anknüpfungspunkte hin zu untersuchen. Eine derartige interdisziplinäre Untersuchung des Gemeinsamen setzt häufig eine ebenso klare Benennung der – zweifellos vorhandenen – Unterschiede voraus, will sie nicht der Versuchung unterliegen, Gemeinsamkeit zu suggerieren, Neuberger (2006), S. 371; Ortmann (2003), S. 175; Ortmann (2004), S. 134 f., Anm. 79 und S. 198. Ausführlicher zu diesem Punkt vgl. auch die Ausführungen zu Beginn von Teil 2 A. 33 Dort ist auch der Verweis zu finden auf eine Reihe von Autoren, die sich bis dato im Zuge ihrer Nietzsche-Interpretationen stärker mit dem Machtbegriff Nietzsches auseinandergesetzt hatten, wie A. Fouillée, R. Richter und M. Heidegger (ausführlicher dazu auch Gerhardt (1988c)) oder zumindest am Rande, wie F. M. Aitken, A. Baeumler, R. Eisler, K. Engelke, F. Kaulbach, W. Mittelmann, R. Schottländer, J. Stambaugh, B. Taureck und J. Figl. Als Autoren aus jüngerer Zeit, auf die in dieser Arbeit verstärkt Bezug genommen wird, wären vor allem W. Müller-Lauter, G. Abel sowie H. Ottmann hinzuzufügen.
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wo keine ist und damit einer vorschnellen Unterstellung von Gleichartigkeit oder einer sich ins Beliebige verlierenden Vergleichbarkeit Vorschub leisten. Um es ausdrücklich zu betonen: Diese Arbeit versteht die angesprochene Suche gleichermaßen als Untersuchung und als ergebnisoffenen Versuch – und befindet sich damit aus meiner Sicht durchaus in einem Spannungsfeld, ganz im Sinne Nietzsches (vgl. z. B. JGB 42, 5, S. 59). Man könnte hier auch von einem „Experiment“ sprechen. Auch die Erkenntnis, dass Nietzsches Machtverständnis bei genauerer Betrachtung zu weit entfernt ist von dem einer modernen, mikropolitisch orientierten Organisationsforschung, um von gegenseitigem Interesse sein zu können, wäre nach dieser Herangehensweise ein akzeptables Ergebnis. Relevanz generiert dieses Unterfangen, neben einem Erkenntnisinteresse „an sich“ sowie dem Interesse, dass einem modernen „Klassiker“ wie Nietzsche allein durch seine Stellung innerhalb der Geistesgeschichte gebührt (s. Stegmaier (1994), S. 4; Gerhardt (2006), S. 9, S. 206), durch den Versuch, die transdisziplinären Grenzen zwischen moderner Organisationstheorie und Philosophie theoretisch auszuloten. Wie weit „ab vom Weg“ kann sich die jeweilige Disziplin bewegen, ohne sich auf theoretische „Abwege“ zu begeben, die keinen Erkenntnisgewinn für die eigene Forschung mehr versprechen? Lohnt sich die Auseinandersetzung mit einem provokanten und häufig widersprüchlichen Philosophen wie Nietzsche, der von sich selbst behauptet, „Dynamit“ (EH, 6, S. 365) und ein „Verhängnis“34 zu sein, aus organisationstheoretischer Sicht? Und wenn ja, was kann die Organisationstheorie aus der Beschäftigung mit dessen Machtentwurf lernen? Wie kann sich andersherum die philosophische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Macht, das ja im Kern ein soziales Phänomen ist, wie oben festgestellt, von den Modellen und Einsichten, aber auch von den konkreten empirischen Erfahrungen und Ergebnissen sozialwissenschaftlicher Forschung anregen lassen?35 Grundsätzlich liegt diesem Vorgehen die Intention zugrunde, zu einem tieferen Verständnis des komplexen Phänomens der Macht selbst zu kommen. Die verschiedenen Machtkonzepte werden dabei als Entwürfe, Modelle oder auch Perspektiven angesehen, wobei von der Grundhypothese ausgegangen wird, dass v. a. in der Schnittmenge zweier unterschiedlicher Perspektiven Potenziale für ein ebensolches vertieftes Verständnis liegen. Eventuelle Übereinstimmungen in der Beschreibung und Charakterisierung der Macht werden hier also zumindest als Indizien dafür gewertet, dass den entsprechenden Merkmalen über den Rahmen 34
Brief an G. Brandes vom 20. November 1888; KGB 3.5, 482–483 Nr. 1151. In diesem Sinne wird hier die Forderung Ortmanns im Geleitwort zur Reihe Organisation und Gesellschaft ernstgenommen, Organisationsforschung über ihr begrenztes Themengebiet hinaus anschlussfähig zu gestalten. Zu einer generellen Einschätzung der Organisationsforschung als potenziellem „Brennpunkt interdisziplinärer Forschung mit einer enormen Bandbreite von Fragestellungen und Theorien“ Bogumil/Schmid (2001), S. 23 f. 35
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der jeweiligen Perspektive hinaus eine gewisse Relevanz für eine adäquate Erklärung des Phänomens der Macht zukommen könnte. Dafür muss – ganz im Sinne Wittgenstein – kein „objektiver Bedeutungskern“ des Machtbegriffs unterstellt werden, Nietzsches Position des relativen erkenntnistheoretischen Nutzens einer Perspektivenvielfalt reicht aus: Es bleibt dabei, dass es „n u r ein perspektivisches Sehen, n u r ein perspektivisches ,Erkennen‘“ gibt, aber je mehr Perspektiven, „je m e h r Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ,Begriff‘ dieser Sache, unsre ,Objektivität‘.“ (GM III, 12, 5, S. 365) „Die Kollision zweier Theorien“ wird hier demnach, mit A. N. Whitehead zu sprechen, grundsätzlich nicht als eine „Katastrophe“, sondern als eine „Gelegenheit“ angesehen (s. Ortmann (2003), S. 18). In diesem Kontext stellen sich allerdings unweigerlich auch einige wissenschaftstheoretische Fragen, beispielsweise nach der Kommensurabilität der Ansätze, nach Differenzen hinsichtlich des Ausgangspunktes, des Analyserahmens, des erhobenen Geltungsanspruches sowie der generellen Theorieerwartung. Diese Fragen werden, selbstverständlich beschränkt auf ihre spezifischen Implikationen für die hier verwendeten Machtkonzepte, in einem methodologischen Kapitel zu Beginn des zweiten Teils diskutiert (vgl. Teil 2 A. I.). Um das o. g. Ziel einer komparativen Untersuchung erreichen zu können, ist jedoch zunächst eine adäquate Beschreibung und Erläuterung der einzelnen Machtkonzepte als Basis des Vergleichs nötig. Diese soll im Teil 1 geleistet werden, in dem die Ansätze eigenständig rekonstruiert und systematisch dargestellt werden: Dazu wird in Kapitel A der Versuch unternommen, sich dem Machtentwurf Nietzsches inhaltlich und begrifflich zu nähern. Ziel kann und soll es dabei natürlich nicht sein, eine generelle Rekonstruktion von Nietzsches Philosophie zu leisten. Vielmehr stehen hier seine Vorstellungen von Macht im Vordergrund, wie sie sich in der Konzeption vom Willen zur Macht darstellen, mit dem sie untrennbar verknüpft sind, unter der Zielsetzung, eine theoretische Basis für den Vergleich mit den mikropolitischen Überlegungen zu diesem Thema zu erlangen. Dazu ist ein gewisser Einstieg in Nietzsches Gedankenwelt allerdings schon auf Grund der zentralen Stellung der Formel vom „Willen zur Macht“ innerhalb seiner Philosophie unabdingbar, mit all den damit verbundenen generellen und spezifischen Schwierigkeiten (vgl. Teil 1 A. I.). Vor diesem Hintergrund erscheint auch eine relativ ausführliche Thematisierung der Begriffe der Kraft bzw. des Kräfteverhältnisses (1.) sowie des Willens (2.), flankiert von einem philosophiehistorischen Exkurs, als sinnvoll: Denn diese dienen nicht nur dem Zugang zu einem tieferen Verständnis dessen, was Nietzsche unter (Wille zur) Macht im Einzelnen versteht (3.), sondern sind darüber hinaus, quasi als „terminologische Konstanten“, bei einer Beschäftigung mit „Macht“ immer wieder anzutreffen. Sie bieten somit die Möglichkeit, gleichsam
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als begriffliche Brücke, weitere Ansatzpunkte für Parallelen zwischen den verschiedenen Machtkonzeptionen zu liefern. Darüber hinaus würde ein Ausklammern dieser Aspekte insbesondere den Blick versperren auf die Unterschiede zwischen Nietzsches sehr weit gefassten philosophischen Ansatz, der dem Diktum Heideggers (1961) nach, im „innersten und weitesten Kreis des abendländischen Denkens“ zu verorten ist (Bd. 1, S. 76), und dem sehr viel enger umgrenzten organisationstheoretischen Ansatz. Kapitel B des ersten Teils soll dazu dienen, die Verknüpfung der Strategischen Organisationsanalyse (I.) mit dem Konzept der Mikropolitik (II.) und ihren spezifischen Erweiterungen (2.) nachzuzeichnen. Dies geschieht in Anlehnung an die oben formulierte Leitfrage aus einer machtspezifischen Perspektive und mit der Zielsetzung, die Entwicklung und Essenz eines strategisch-mikropolitisch gefassten Machtbegriffes freizulegen. Dazu ist es allerdings, neben einer gezielten Analyse organisationaler Machtrelationen [I. 2. c)], ebenfalls nötig, mit dem Machtbegriff verwobene Konzepte, wie das der Identität [I. 2. b)] oder des Spiels [I. 2. d)] zu thematisieren. Auf der Basis der Ergebnisse des ersten, „deskriptiven“ bzw. besser: rekonstruktiven Teils36 sollen in Kapitel A von Teil 2 die erwähnten Anknüpfungspunkte der jeweiligen Machttheorien, insbesondere in Form von übereinstimmenden Merkmalen und Dimensionen der Machtbegriffe (II.), durch einen Vergleich der Gemeinsamkeiten und Unterschieden herausgearbeitet und diskutiert werden. Dem geht der oben bereits angesprochene methodologische Vergleich der beiden Machtkonzepte als ganze voraus (I.). Kapitel B bietet darüber hinaus Raum für eine tabellarische Zusammenfassung sowie ein kurzes Fazit der Ergebnisse und mündet über den unmittelbaren inhaltlichen Rahmen hinaus in einer Schlussbetrachtung.
36 Dass derartige Ergebnisse nie rein „deskriptiv“ im Sinne eines objektiven oder neutralen Standpunktes sein können, sondern immer schon subjektiv, von Interessen durchdrungen und (re-)konstruiert sind – und somit letztlich selbst gewissermaßen als Machtausdruck aufzufassen – , kann man sowohl von der mikropolitischen als auch von Nietzsches Machtkonzeption lernen, aus deren Sicht Theorie immer auch eine „Machtmitteilung“ (Gerhardt (1996), S. 319) bzw. „Machtfrage“ (Küpper/Felsch (2000), S. 362 ff.) ist.
Teil 1
Rekonstruktion der Machtkonzepte A. Nietzsches Konzeption vom „Willen zur Macht“ – Versuch einer begrifflichen und inhaltlichen Annäherung „Und wißt ihr auch, was mir ,die Welt‘ ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbußen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen, vom ,Nichts‘ umschlossen als von seiner Gränze, nichts Verschwimmendes, Verschwendetes, nichts Unendlich-Ausgedehntes, sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raume, der irgendwo ,leer‘ wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und ,Vieles‘, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und fluthender Kräfte, ewig sich wandelnd, (. . .) mit einer Ebbe und Fluth seiner Gestalten, aus den einfachsten in die Vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selberwidersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs, (. . .) als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt –: diese meine d i o n y s i s c h e Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, (. . .) ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat, – wollt ihr einen N a m e n für diese Welt? Eine L ö s u n g für alle ihre Räthsel? (. . .) D i e s e W e l t i s t d e r W i l l e z u r M a c h t – u n d n i c h t s a u ß e r d e m ! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“ (N 1885, 38[12], 11, S. 610 f.).
I. Fragestellung und Schwierigkeiten der Nietzsche-Rezeption Diesem Kapitel ist das eingangs bereits in gekürzter Version angeführte Zitat aus dem Nachlass in ausführlicherer Form vorangestellt. Und dies nicht nur, um eine gewisse „Einstimmung“ auf das Thema zu erreichen. Das Notat erleichtert,
A. Nietzsches Konzeption vom „Willen zur Macht‘‘
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auch wenn Nietzsche selbst es nie zur Veröffentlichung bestimmt hat, sehr konkret den Einstieg in seinen Entwurf vom Willen zur Macht, weil es einen Großteil der im Folgenden zu entwickelnden Gedanken verdichtet enthält. Bereits der erste Satz („Und wißt ihr auch, was mir ,die Welt‘ ist“) deutet den Anspruch an, den Nietzsche mit seiner Konzeption vom Willen zur Macht verfolgt, die nichts Geringeres darstellt als den „Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens“, wie er kurze Zeit später notiert (N 1885, 39[1], 11, S. 619 und 40[1], S. 629 sowie 40[50], S. 653). Nietzsche reiht sich mit einem derartigen Anspruch, die Welt zu erklären, gewollt oder ungewollt, in die metaphysische Tradition ein.1 Allerdings begreift er im obigen Zitat die Welt als nicht enden wollendes „Werden, das kein Sattwerden, (. . .) keine Müdigkeit kennt“, sodass man folgerichtig von einer „Metaphysik des Werdens“ (Gerhardt (1996), S. 285 ff.) sprechen muss, und insofern von dem „Versuch einer neuen Auslegung“, die sich nicht primär als eine Auslegung des Seins begreifen kann, sondern als eine des „Geschehens“ (N 1885, 39[1], 11, S. 619; H.v. m.). Eine vor dem Hintergrund dieser Metaphysik des Werdens entwickelte Ontologie kann nicht mehr objektive Gültigkeit beanspruchen, sondern gerät vielmehr zu einer „Ontologie des Scheins“ (Gerhardt (1996), S. 315 ff.) – Nietzsche spricht denn auch davon, was ihm diese Welt ist, will sie uns in seinem Spiegel und als seine Auslegung zeigen, wodurch der Stellenwert des Perspektivismus in seiner Philosophie angedeutet wird.2 Das Zitat beginnt mit der Frage nach der Welt und endet mit der Antwort, die Welt sei „Wille zur Macht – und nichts außerdem!“ 3 Nimmt man nur diese Aussage, so hat sich die Situation für
1 Nach Gerhardt (1988c) spreche einiges dafür, Nietzsches philosophische Anstrengungen der Metaphysik zuzurechnen, allerdings habe „das nicht nur Folgen für das Urteil über sein Werk, sondern ebenso für unser Verständnis von Metaphysik“ (S. 94 f.). An anderer Stelle präzisiert er, dass Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht zwar weder auf Seiten der von Platon bis Leibniz dominierenden „Metaphysik der gegebenen Welt“, noch auf der einer „Metaphysik der entworfenen Welt“ im Sinne Kants zu verorten sei (vgl. S. 288 ff.). Dennoch sei auch Nietzsche von der „metaphysischen Frage okkupiert“ (S. 292). Diese entwickelt sich wohl primär aus der Frage nach einem für den Einzelnen relevanten (Sinn-)Zusammenhang von Ich und Welt. Bereits die Suche nach dem „Wesen“ allen Geschehens, sei sie auch als „Auslegung“ relativiert, enthält demnach das metaphysische Motiv, eine wie auch immer geartete Einheit in der Vielheit zu entdecken. Nach Gerhardt reichen dabei als Kriterien der Metaphysik aus, „daß diese Einheit mit begrifflichen Mitteln g e s u c h t wird und daß sie für die Selbstauffassung des suchenden Wesens von Bedeutung ist.“ (S. 289; dazu auch (2006), S. 182 f.) Mit einer derartigen Auffassung widerspricht er explizit einer a(nti-)metaphysischen Rekonstruktion von Nietzsches Philosophie, wie z. B. der Abels (1984) (s. dazu Gerhardt (1987), v. a. S. 464). Ebenfalls von einer Fortsetzung der Metaphysik spricht Müller-Lauter (1999, S. 25 f.), allerdings diagnostiziert er als Folge eine Selbstzerstörung der Metaphysik. 2 „Das Perspektivische der Welt geht so tief als heute unser ,Verständnis‘ der Welt reicht“ (N 1885, 40[39], 11, S. 648). 3 Vgl. auch JGB 36, 5, S. 55.
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den nach Erkenntnis Suchenden nicht sonderlich verbessert. Vielmehr drängt sich unweigerlich die Frage auf, was denn dann der Wille zur Macht genau sei. Ziel dieses ersten Kapitels von Teil 1 soll es sein, sich einer Antwort auf diese Frage zumindest zu nähern, um ein tieferes Verständnis von Nietzsches Machtkonzept zu erlangen, und damit eine Art Hintergrundfolie für die anschließende organisationstheoretische Thematisierung von Macht zu erhalten. Die Relevanz der Frage nach dem Willen zur Macht wird durch dessen zentrale Stellung innerhalb des Werkes augenscheinlich; Nietzsches Vorstellung von Macht kann nur über das Verständnis und in Verbindung mit seiner Formel vom Willen zur Macht erschlossen werden.4 Was ist also dieser Wille zur Macht? Erste inhaltliche Hinweise auf die Beantwortung dieser Fragen können, zumindest in den Grundzügen, wiederum dem vorangestellten Zitat entnommen werden: Dort ist die Rede von „Kraft“, von einem „Spiel der Kräfte“, die anscheinend eine wichtige Rolle im Konzept vom Willen zur Macht spielen. Darüber hinaus enthält die Formel selbst bereits zwei weitere wichtige Begriffe, die Aufschluss versprechen, nämlich „Wille“ und „Macht“. Diese drei Aspekte der Kraft (A. II. 1.), des Willens (A. II. 2.) sowie des Zusammenspiels von Wille und Macht im Willen zur Macht (A. II. 3.) werden in ebendieser Reihenfolge in den einzelnen Abschnitten von Kapitel 2 thematisiert, wobei ein philosophiehistorischer Exkurs zwischen dem ersten und zweiten Abschnitt eingefügt ist. Das Ziel des zweiten Kapitels ist hierbei, sowohl Einflüsse auf Nietzsche (zumindest partiell) aufzuzeigen, als auch eine Annäherung an die Termini zu leisten. Was ist unter den Begriffen zu verstehen, wie ist ihr Verhältnis zueinander, wessen Wille ist hier eigentlich angesprochen, welche strukturellen Merkmale des Willens zur Macht und somit der Macht lassen sich ableiten, und was hat Wille zur Macht mit Organisation zu tun? Im Zuge dieser Untersuchung wird deutlich werden, dass die Abgrenzung der drei Aspekte, insbesondere die zwischen Wille und Macht, in dieser klaren und eindeutigen Form nur formal möglich und der Übersichtlichkeit dieser Arbeit geschuldet ist. Kapitel 3 dient dann dazu, die wichtigsten Ergebnisse für den weiteren Verlauf dieser Arbeit in Form eines kurzen Zwischenfazits zusammenzufassen. Bevor mit der eigentlichen Arbeit begonnen werden kann, sind einige kurze aber grundlegende Bemerkungen zur Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie im Allgemeinen und mit seinem Konzept vom Willen zur Macht im Besonderen unabdingbar. Dabei muss es an dieser Stelle genügen, auf einige Eigenarten bzw. Schwierigkeiten bei der Annäherung an Nietzsches Vorstellung vom Willen zur Macht hinzuweisen:
4 Vgl. exemplarisch Gerhardt (1996, S. 169), Fink (1992, S. 161) sowie jüngst Himmelmann (2006, S. 105).
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Eine erste Herausforderung stellt das mehr oder weniger gleichzeitige, v. a. aber das zusammenhängende Auftreten von zentralen Thesen wie der des Todes Gottes, des Willens zur Macht, des Übermenschen oder der Ewigen Wiederkehr des Gleichen dar. In dieser Arbeit kann in substanzieller Weise ausschließlich auf den Willen zur Macht eingegangen werden, auch wenn er teilweise eng mit anderen grundlegenden Ideen Nietzsches verknüpft ist.5 Dies leitet direkt zu einer weiteren allgemeinen Schwierigkeit über, Systematik und Stil von Nietzsches Philosophie betreffend, die von den Nietzsche-Interpreten durchaus unterschiedlich eingeschätzt und bewertet wird. Exemplarisch sei Löwith (1981) herausgegriffen, der im Zusammenhang mit den angesprochenen Hauptthesen ein „Gedanken-System“ Nietzsches ausmacht, „an dessen Anfang der Tod Gottes, in dessen Mitte der aus ihm hervorgegangene Nihilismus und an dessen Ende die Selbstüberwindung des Nihilismus zur ewigen Wiederkehr“ (S. 211) stehe.6 Heller (1989) betont demgegenüber, um nur einen weiteren Autor anzuführen, zwar Nietzsches eigenen Anspruch auf ein derartiges „Gedankensystem“, also auf einen „zusammenhängenden Bau von Gedanken“, diagnostiziert ihm aber ein Scheitern am eigenen Anspruch und somit „am Werk“ insgesamt.7 Damit verknüpft ist die Herausforderung, die sich für den Interpreten auf Grund des aphoristischen Stils von Nietzsches Philosophie ergibt – eine häufig thematisierte Schwierigkeit, nicht zuletzt von Nietzsche selbst (s. GM II, 8., 5, S. 255). Genauer gesagt, liegt, wie Heller (1989) zu Recht feststellt, die Schwie5 Zum Zusammenhang zwischen dem Willen zur Macht und der Ewigen Wiederkehr des Gleichen vgl. z. B. neben Heidegger („Was und wie ist der Wille zur Macht selbst? Antwort: Die ewige Wiederkehr des Gleichen.“ (Heidegger (1961), Bd I, S. 27) u. a. Deleuze (2002), S. 56, Abel (1984), Kaufmann (1988), S. 220 sowie Walther (1998), S. 8. Laut Günzel (2004) wird dagegen ein derartiger Zusammenhang „von Nietzsche nicht hergestellt. Die prominente und mithin einzige Nennung in einem Gedankenkomplex, dem sogenannten ,Lenzer-Heide-Fragment‘, trennt die beiden sogar: ,Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft?‘, fragt Nietzsche dort abschließend in Bezug auf diejenigen, die die sich der Realität des ,Willens zur Macht‘ bewußt sind.“ (S. 219; H.v. m.) 6 Auch andere Interpreten betonen die Systematik Nietzsches, der selbst einmal die Hoffnung äußert auf eine „gemeinsame(.) Wurzel“ seiner Gedanken in einem „in der Tiefe gebietenden (. . .) G r u n d w i l l e n der Erkenntniss“ (GM, Vorr., 2, 5, S. 248). Für Schacht (1985) beispielsweise ist „his thought (. . .) fundamentally coherent“ (S. xiv). Auch Gerhardt (1996) betont die „gedankliche Einheit“ des Werks, ohne diese Einheit jedoch als „systematisch“ bezeichnen zu wollen (S. 87). Allerdings hebt er zumindest die „systematische Absicht gerade beim späten Nietzsche“ (S. 89) hervor und liefert einen Vorschlag zu einer systematischen Deutung vor dem Hintergrund der Frage nach Sinn (vgl. Gerhardt (2006)). Zur Problematik generell auch Löw (1984), S. 7 ff.; Stegmaier (1994), S. 7 ff.; Kaufmann (1988) macht in diesem Kontext ein Verständnis von Nietzsche als „Problemdenker“ nicht als „Systemdenker“ stark (S. 96). 7 Vgl. dazu die Briefe an E. W. Fritzsch von Ende Dezember 1886; KGB 3.3, 296– 297 Nr. 784 sowie an F. Overbeck vom 24. März 1887; KGB 3.5, 47–49 Nr. 820; dazu Heller (1989), S. 94 und 97.
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rigkeit nicht in der aphoristischen Form selbst, sondern darin, dass Nietzsche das, was diese Form nicht zwingend erfordert, nämlich eine Exposition des zu untersuchenden Problems sowie die Verbindung einzelner Schritte zu dessen Lösung zu leisten, auch nicht erbringt (vgl. S. 35, S. 64 und S. 82). Dadurch wird der Aphorismus bei Nietzsche oftmals zum „Labyrinthe“ (N 1885, 37[5], 11, S. 579) – und wird damit dem Dasein selbst, wie er es fasst, im Übrigen nur ähnlicher (vgl. FW 322, 3, S. 552). Der Disput über Sinn und Unsinn einer derartigen Form sowie die Frage, inwieweit jeder Philosoph letztlich doch nach einem bestimmten System denken muss, oder zumindest denken sollte (vgl. GM Vorr., 2, 5, S. 248), können hier nicht erörtert oder gar entschieden werden. Auch muss uns hier nicht beschäftigen, ob seine Abneigung gegen strenge und formale Systeme, die er als etwas „Lebloses“, „Hölzernes“ (N 1887, 9[181], 12, S. 445) und als „Recepte eines Muster-Beamten“ (N 1885, 40[9], 11, S. 632) bezeichnet, sozusagen als „ExPost-Rationalisierung“ eines Gescheiterten oder als elitäre Attitüde eines Denkers zu interpretieren ist, der es als unvornehm und beleidigend betrachtet, von jedem und vollständig verstanden zu werden (vgl. FW 381, 3, S. 634 sowie N 1885/86, 1[82], 12, S. 51), oder ob sie doch auf inhärenten Inkonsequenzen des Systemanspruches selbst basieren (vgl. Gerhardt (2006), S. 17).8 Klar muss nur sein, dass von einem Philosophen, der den „Willen zum System“ explizit als „Mangel an Rechtschaffenheit“ (GD 26; 6, S. 63) beurteilt, der sich als „nicht bornirt genug zu einem System“ (N 1887, 10[146], 12, S. 538) – nicht einmal zu seinem eigenen – bezeichnet, eben auch in zentralen Konzepten wie dem des Willens zur Macht keine systematischen Entwicklungen, schlüssigen Begründungen oder gar Beweise zu erwarten oder einzufordern sind.9 Vielmehr wird der Wille zur Macht, als Versuch einer neuen Auslegung des Geschehens untertitelt, von Nietzsche im Zarathustra mehr oder weniger „verkündet“, ohne dass die „operative Voraussetzung (. . .) in ihrem Recht nicht anders legitimiert [wird] als eben durch diese ,Auslegung‘“ (Fink (1992), S. 160; H.v. m.).10 Das schließt jedoch nicht aus, sich dem Willen zur Macht in systematischer Absicht zu nähern, 8 Gerhardt (1987) sieht dementsprechend auch nicht zuwenig, sondern im Gegenteil eher zuviel logisches Vermögen bei Nietzsche als Ursache für die Wahl der aphoristischen Form an (vgl. S. 460). 9 Dieser Ansicht sind z. B. auch Fink (1992), S. 149 sowie Recki (2000), S. 521. Vgl. auch den Brief von E. Rohde vom 22. Dezember 1883; KGB 3.2, 412–414 Nr. 218. 10 Vgl. auch Schacht (1985), S. 2. Von einer „Verkündigung“ durch Zarathustra spricht auch Kaufmann (1988), S. 208. Gerhardt (2006) macht in diesem Zusammenhang einen „biblischen Verkündigungsstil“ aus, in dem die Hauptthesen im Zarathustra „gelehrt“ und „offenbart“ werden (S. 13) und sieht im Willen zur Macht eher eine „Behauptung“, einen „Ausdruck“, der sowohl grammatisch als auch existenziell verstanden werden kann, als einen reinen „Begriff“ oder ein „Zeichen“: „Der Wille zur Macht wird (autoritativ oder demonstrativ) benannt und (expressiv) erwiesen.“ (Gerhardt (1996), S. 283) Auch Oger (1994) stellt diesen evokativ-suggestiven Stil heraus: „Meist wird nicht argumentiert.“ (S. 15) Trillhaas weist darauf hin, dass Nietzsche viel im „Modus
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wie es im Folgenden geschehen soll. Argumentation und Rekonstruktion werden also notwendig sein, auch wenn sich das Fragmentarische dieses Denkens insgesamt zum Teil bewusst einem streng begrifflichen Zugriff entzieht, wie man mit Abel (1984) konstatieren kann (vgl. Vorwort, S. VII). Potenziert werden diese allgemeinen Schwierigkeiten der Nietzsche-Rezeption im Besonderen durch den fragmentarischen Charakter sowie den unklaren Status des Willens zur Macht.11 Montinari umreißt die gesamte Problematik, wenn er schreibt: „Wenn wir vom ,Willen zur Macht‘ sprechen, so beziehen wir uns zunächst auf einen philosophischen Lehrsatz, sodann auf ein literarisches Projekt Nietzsches, endlich aber auch auf die unter diesem Titel bekannte Kompilation aus dem Nachlaß, (. . .) herausgeben von Heinrich Köselitz (alias Peter Gast) und Elisabeth Förster-Nietzsche (. . .)“ (Kommentar zu Band 6 von Montinari, KSA 14, S. 383).
In der vorliegenden Arbeit treten literarische Aspekte12, ebenso wie die Debatte um die eigenmächtige und anmaßende Zusammenstellung der Aphorismen durch Gast und Förster-Nietzsche13 sowie den anschließenden Missbrauch des Konzepts zu politischen Zwecken14, zu Gunsten einer Konzentration auf das der Behauptung“ vorträgt, obgleich er eigentlich nur verschiedene Gedanken ausprobiert (in: Abel (1982), S. 388). 11 Vgl. zur Nachlass-Problematik z. B. auch Müller-Lauter (1999), S. 28 ff. sowie Günzel (2004), S. 224 ff. Heller (1989) betont demgegenüber den Nachlasscharakter des gesamten Aphorismenwerks: „Nietzsche hat in der Zeit um 1875 entschieden, Ergebnisse eines nicht zu einem vorläufigen Ende gebrachten Forschens von vornherein öffentlich mitzuteilen, weil er der Ansicht war, mit Problemen befaßt zu sein, die so komplex und schwierig sind, daß er selbst zu einer Lösung nicht kommen konnte. Das aber heißt: er ist nicht bloß an einem Werk unter dem Titel ,Der Wille zur Macht‘ gescheitert. Alles vielmehr, was er seit 1878 veröffentlicht hat, ist Ausdruck eines Scheiterns.“ (S. 9) Somit haben sowohl die veröffentlichten als auch die nichtveröffentlichten Schriften „denselbsen Status“ (S. 111). 12 Nietzsche selbst äußerte seine Angst, mit dem Zarathustra „nun gar noch unter die ,Literaten‘ und ,Schriftsteller‘ zu geraten“ (Brief an P. Gast, 17. April 1883; KGB 3.1, 359–361 Nr. 402) und letztendlich „zu den Belletristen’ geworfen zu werden.“ (Brief an P. Gast, 6. April 1883; KGB 3.1, 357–359 Nr. 401) 13 Montinari (1982) weist darauf hin, dass von 374 von Nietzsche vorgesehenen Fragmenten 104 nicht in die Kompilation aufgenommen worden sind, von den übrigen 270 Fragmenten 137 unvollständig bzw. verändert wiedergegeben und 49 in den Anmerkungen von Otto Weiss verbessert worden sind (vgl. ebd., S. 107 f.). An anderer Stelle spricht Montinari von der Verlogenheit des Nietzsche-Archivs, das „dieses Material, in dem Dünkel, fähig, berufen und ermächtigt zu sein“, „manipulierte, verstümmelte, zerstückelte, erweiterte und systematisierte“ (Colli, Nachwort KSA 13, S. 657). 14 Vgl. z. B. Walther (1988); Morawa (1999). Dafür, dass Nietzsches Philosophie als protofaschistisch zu bezeichnen sei, auch wenn sich in Nietzsches „schillerndem“ Denken ebenso gegenteilige Züge finden ließen, argumentiert Taureck (2000). Meiner Meinung nach ist eher Mann (1982) zuzustimmen, der ebenfalls einräumt, dass Nietzsche seinem Missbrauch in der „Schund-Ideologie des Faschismus“ (S. 865) einen gewissen Vorschub geleistet habe, aber ebenso befindet, dass der Faschismus seinem Geist eigentlich „im tiefsten fremd“ sei (S. 886). 1941 konstatiert er zu diesem Thema in der Ansprache zu Heinrich Manns siebzigsten Geburtstag: „Wer zweifelt, daß er sich im Grabe
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„Philosophem“ (Montinari (1991), S. 98) des Willens zur Macht in den Hintergrund. Dieser philosophische Lehrsatz selbst ist ein derart weit gefasstes, anspruchsvolles und in mancherlei Hinsicht uferloses Projekt, das Passagen zu Kunst, Moral, Erkenntnis, Politik, zum Leben, zur Natur und zur Welt als ganzer umfasst, dass Nietzsche selbst sich nicht in der Lage sah, ein abgeschlossenes Werk daraus zu formen.15 Dies kann nicht folgenlos für diese Arbeit bleiben, in der eine ganze Reihe von Punkten erkenntnistheoretischer, ethischer und ästhetischer Art samt ihren vielfältigen Implikationen weitgehend unberücksichtigt bleiben müssen, wenn auch zumindest einige Aspekte in Teil 2 mit Blick auf kognitive, normative sowie sinnlich-ästhetische Dimensionen der Macht aufgegriffen werden können. Auch einige wirklich zentrale philosophiehistorische Bezüge, z. B. zu Sokrates oder Spinoza, sowie die gerade für Nietzsche so wichtige Beziehung zwischen seiner Person und seinem Werk (vgl. Gerhardt (1987), S. 460) können allenfalls am Rande Erwähnung finden. Es handelt sich daher explizit um einen selektiven Zugang, um eine perspektivische Rekonstruktion und Interpretation des Willens zur Macht vor dem Hintergrund der systematischen Zielsetzung dieser Arbeit. An dieser Stelle steht daher der begriffliche und inhaltliche Kern der Formel vom Willen zur Macht im Vordergrund als theoretische Basis für den Vergleich mit den organisationstheoretischen Überlegungen zum Thema der Macht. Berechtigung zieht dieses Vorgehen meiner Einschätzung nach nicht zuletzt aus dem Wunsch Nietzsches nach Menschen, die „eine Art Résumé“ seiner „Denk-Ergebnisse“ ziehen und ihn „in Vergleichung“ mit anderen Denkern bringen.16 Dass diese „anderen Denker“ in dieser Arbeit nicht primär „bisherige“, wie von ihm vermutet, sondern nachfolgende sind, dürfte ganz im Sinne von jemandem sein, der für folgende Jahrhunderte philosophieren wollte. Damit soll keinesfalls eine philologisch-historische Vorgehensweise17 negiert werden, da diese, wenn nicht „als Voraussetzung“, so doch zumindest als Hilfe umdrehen würde, wenn er dort unten erführe, was man aus seinem Macht-Philosophem gemacht hat? (. . .) Er, der als Emigrant lebte schon unterm Kaiserreich – wo wäre er heute? Bei uns wäre er, in Amerika.“ (S. 209) Ablehnend zum Vorwurf des Proto-Faschismus auch Stegmaier (1994), S. 6 f. 15 Auch wenn er dies nachweislich plante, wie den zahlreichen Nachlassentwürfen zu entnehmen ist, und wie er noch 1887 in der ersten Ausgabe von Zur Genealogie der Moral ankündigte, so hat er das Vorhaben noch vor seinem geistigen Zusammenbruch in Turin im Jahr 1889 aufgegeben (vgl. auch Günzel (2004), S. 224). Das besagt jedoch nicht, wie Müller-Lauter (1999) richtig feststellt, dass Nietzsche „den Grundaspekt einer mit diesem Wort verbundenen ,Weltsicht‘ fallen gelassen hätte.“ (Vorwort, S. VIII) 16 Brief an P. Gast vom 16. August 1883; KGB 3.1, 428–430 Nr. 452. 17 Nach Montinari (1982) ermöglicht die kritische Gesamtausgabe eine „philologisch-historisch fundierte Lektüre der Werke Nietzsches“, die in dreifacher Weise hilfreich zu einer „richtigen“ (!) Lektüre Nietzsches sei:
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zur „philosophischen Interpretation“ (Montinari (1982), S. 4) und zu einem systematisch-inhaltlichen Zugang zu Nietzsches Gedankenwelt angesehen werden kann. Und darum soll es im Folgenden gehen, unter Berücksichtigung der genannten Schwierigkeiten.
II. Der Wille zur Macht Die erste nachweisliche Verwendung des Ausdrucks „Wille zur Macht“ lässt sich in Nietzsches Nachlassaufzeichnungen im Anschluss an eine Ausführung zum Gefühl der Macht in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre finden (vgl. N 1876/77, 23[63], 8, S. 425). Also in einer Zeit, die durch persönliche Umbrüche geprägt ist: Nietzsches Professur in Basel neigt sich gesundheitsbedingt dem Ende entgegen und ein neuer Lebensabschnitt, der durch die Suche nach einem geeigneten Klima und einem eigenständigen philosophischen Denken gekennzeichnet ist, kündigt sich an (vgl. Günzel (2004), S. 178). In diese Zeit fallen auch Nietzsches Vorarbeiten zu Menschliches, Allzumenschliches (1878), seinem ersten aphoristischen Werk, in dem er sich als brillanter Psychologe präsentiert. Der Gedanke des Willens zur Macht tritt dabei, selbst zu diesem „ungewöhnlichen frühen Zeitpunkt“ (Günzel (2004), S. 178), nicht völlig unvermittelt auf, sondern ist durch eine Reihe von Überlegungen, vor allem zum angesprochenen Machtgefühl, vorbereitet, deren allmähliche Entwicklung sich in den Aufzeichnungen des Nachlasses und in den veröffentlichten Werken nachverfolgen lässt. Erste Anlagen des Machtgedankens sowie Vorläufer zu den wichtigsten Motiven, die im Verlauf dieser Arbeit noch eine Rolle spielen werden, können bis weit in das frühe Werk hinein, teilweise sogar bis in die Jugendschriften Nietzsches zurückverfolgt werden.18
„1. indem sie jedes Werk Nietzsches als die jeweilige philosophische und künstlerische Ausformung bestimmter Gedankengänge aus einer bestimmten Zeit seines Lebens und Schaffens hinstellt; 2. indem sie die Werke in eine innere Beziehung zum Nachlaß und somit zu Nietzsches eigener Entwicklung im ganzen setzt; 3. indem sie Nietzsche, vor allem durch Erschließung seiner Quellen, in einen fruchtbaren Zusammenhang mit seiner historischen Vor-, Mit- und Nachwelt bringt“ (ebd., S. 4). In Bezug auf Punkt 2 rät der Verfasser eine Seite später, von einer „ergänzenden und erklärenden Beziehung“ zwischen Werken und Nachlass auszugehen (ebd., S. 5). Ebendieser Nachlass selbst stellt jedoch nur „einen Versuch dar; dieser Versuch wurde durch die Krankheit abgebrochen“ (Montinari (1976), S. 102) und ein von Nietzsche autorisiertes Werk „Wille zur Macht“ liegt nicht vor. „Aus den Aufzeichnungen zum ,Willen zur Macht‘ sind die Götzen-Dämmerung und Der Antichrist entstanden; der Rest ist – Nachlaß“ (ebd., S. 118). Insofern verbietet es sich aus Sicht von Müller-Lauter (1999) auch, beim Willen zur Macht von einem „Hauptwerk“ Nietzsches zu sprechen (S. 29). Insbesondere der späte Teil dieses Nachlasses (von 1885–1889) wird in einer von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unterstützten Editionsarbeit „zum ersten Mal manuskriptgetreu und vollständig veröffentlicht“ (Langzeitvorhaben BBAW, Kommission Nietzsche-Edition, Berlin (2000), S. 79).
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Im Anschluss an dieses erste frühe Fragment sind explizite Überlegungen zum Willen zur Macht im Nachlass erst wieder in den frühen achtziger Jahren und dort zunächst eher sporadisch anzutreffen, gewinnen aber zunehmend an Stellenwert und avancieren im Zarathustra (1883) zu einer zentralen These, die Nietzsche vor allem im Zusammenhang mit der Selbstüberwindung und in Abgrenzung vom schopenhauerschen Willen zum Leben präsentiert (vgl. ZA I, 4, S. 74– 76 und S. 146–149). Das erste öffentliche Auftreten der Formel vom Willen zur Macht fällt somit in eine Zeit, die häufig als Schwelle zu Nietzsches „Reifephase“19 betrachtet wird. Zwischen 1884 und 1888 rückt der Wille zur Macht dann in den Mittelpunkt von Nietzsches Bemühungen um eine eigene philosophische Lehre.20 Systematisch betrachtet, wird der Wille zur Macht damit für Nietzsche das, was „die Welt im Innersten zusammenhält“ (Goethe (1963), S. 20); er selbst nennt ihn das „innerste Wesen des Seins“ (N 1888, 14[80], 13, S. 260), auch wenn es ihm – dies sei gleich hinzugefügt – zunächst einmal weniger um den „Zusammenhalt“, als um die Bewegung, Steigerung und Überwindung, und nicht um ein substanziell verstandenes „Wesen“, sondern um die spezifischen Verbindungen innerhalb von Einheiten geht, die als organisiertes Ganzes angesehen werden können. Allerdings weist Gerhardt (1996, S. 199) zu Recht darauf hin, dass Nietzsche noch Anfang der 1880er Jahre als Lösung auf Fausts Übersetzungsproblem wohl dessen drittem Ansatz zugestimmt hätte: „Im Anfang war die
18 Vgl. einführend z. B. Safranski (2000), S. 23 ff. sowie in aller Ausführlichkeit Gerhardt (1996), S. 85 ff. Für den psychologischen Hintergrund der Entdeckung und Entwicklung der Formel s. Kaufmann (1988), S. 207 ff. 19 Nietzsches Werk wird häufig in einer dreigeteilten Form dargestellt (was nicht unumstritten und wenigstens stark vereinfachend ist): In eine erste „ästhetische“ Phase (von 1870–76), in eine zweite „positivistische“ (etwa 1877–1882) und eine dritte Phase, das so genannte Spätwerk (von 1883 an). In diesem Teil verweist Nietzsche durch den Tod Gottes und die Überwindung des Menschen auf den Übermenschen, und prägt mit dem Willen zur Macht und der Ewigen Wiederkehr des Gleichen seine wohl wichtigsten philosophischen Formeln. Von der dritten Phase wird manchmal noch eine Übergangsphase abgegrenzt, die mit den ersten Anzeichen einer geistigen Umnachtung einhergeht und schließlich mit dem Zusammenbruch Nietzsches endet (vgl. z. B. Stegmaier (1994), S. 27 ff.). Zu einer Unterteilung von Nietzsches Leben und Schaffen „in drei ineinander übergreifende Perioden“ (S. 35) s. auch Andreas-Salomé (2000); Gerhardt (1996) betont generell eher den Übergang, als den Bruch zwischen diesen Phasen (vgl. S. 128) und somit die (zumindest gedankliche) Einheit des fragmentarischen Werkes (vgl. S. 85 ff.). Man könnte s. E. auch zwei Phasen ausmachen: Eine erste, bis zum Zarathustra reichende, in der Nietzsche die großen Fragen nach dem Sinn von Kunst, Wahrheit, Geschichte, Leben etc. aufwirft, und eine zweite, in der er sich an einer experimentalphilosophischen Antwort dieser Fragen versucht (ebd., S. 86, Anm. 2; s. dazu auch Gerhardt (2006)). 20 So auch Gerhardt (1996), S. 169 ff. Zu einer Anthologie sämtlicher veröffentlichter und unveröffentlicher Stellen, an denen Nietzsche sich explizit mit dem Willen zur Macht auseinandersetzt, vgl. Günzel (2004).
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Kraft!“ (Goethe (1963), S. 44)21 Letzten Endes scheint aber, ebenso wie Faust, auch Nietzsche etwas zu „warnen“, dass er „dabei nicht bleibe“ (ebd.). Vielmehr rückt der Terminus des Willens zur Macht, wie dargelegt, in das Zentrum seiner Philosophie. Was ist demnach mit dem Willen zur Macht inhaltlich genau gemeint, wofür steht er und woraus besteht er? Eine Kurzantwort müsste, wie oben bereits angedeutet, wohl lauten: aus Kraft, Wille(n) und Macht. In diesem Kapitel sollen diese drei entscheidenden inhaltlichen Aspekte des Willens zur Macht dargelegt werden, indem Nietzsches „metaphysische[r] Übergang“ (Colli, Nachwort KSA 11, S. 724) von einem (u. a.) wissenschaftlich-physikalischen Verständnis der Welt als Kräftekonstellation (II. 1.), zu einem inneren, durch den Willen geprägten (II. 2.) nachgezeichnet wird. In Abschnitt II. 3. wird die zentrale Stellung der Macht im Willen zur Macht sowie ihr Verhältnis zum Willen herausgearbeitet. 1. Der Wille zur Macht als Kräftekonstellation Im Eingangszitat bezeichnet Nietzsche die Welt als „ein Ungeheuer von Kraft“, „als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt“ und „als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen“. Der „N a m e “ für diese Welt ist nach Nietzsche „Wille zur Macht“. (Vgl. N 1885, 38[12, ]11, S. 610 f.) In diesem Abschnitt soll Nietzsches Verständnis von der Welt und somit dem Willen zur Macht als Ausdruck von Kräften und Kraftkonstellationen dargelegt und zum besseren Verständnis in den Kontext zeitgenössischer Naturwissenschaft sowie traditioneller Philosophie eingebettet werden. Zunächst zur Kraft. Nach Hoffmeister (1988) bezeichnet „Kraft, ahd. craft, mhd. kraft ,Kraft, (Heeres)macht, Fülle‘ von idg. grep sich krümmen, zusammenziehen (der Muskeln, vgl. Krampf) 1. die in unmittelbarem Erleben erfahrene Fähigkeit zum eigenen Wirken, in Kampf und Widerstand erfahrene eigene und fremde Stärke, 2. in der Physik die Ursache eines physikalischen Geschehens, insbes. der Veränderung der Form und des Bewegungszustandes (. . .) 3. In der Metaphysik die Wirkungsfähigkeit schlechthin, also eine unter gewissen Bedingungen aktuelle, ohne diese potentielle Seinsweise“ (S. 362).
Man kann demnach, stark vereinfacht gesprochen, Kraft aus drei Perspektiven betrachten: Aus einer individuellen, erlebnishaften Perspektive, in der die eigene Kraft erfahren wird, sei es in Form von Muskelkraft oder auch schöpferischer Kraft, aus einer physikalischen, als Druck oder Stoß oder auch als Anziehung und Abstoßung sowie aus der Tradition der Metaphysik heraus als allgemeine 21 Wobei sein Kraftbegriff zu dieser Zeit noch stark durch die (eher zu Unrecht als zu Recht) so genannte „positivistische Phase“ beeinflusst ist (Colli, Nachwort KSA 11, S. 724; auch KSA 2, S. 709 sowie 3, S. 658).
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Wirkfähigkeit.22 Für Kräfte gilt, dass sie nur in und als Relationen als Kräfte auszumachen sind (vgl. Abel (1984), S. 209), sie benötigen also einen Widerstand, ein Gegenüber. Mathematisch-physikalisch gesehen, ist Kraft das Produkt aus Masse und Beschleunigung (K = m * b)23. Galilei, Descartes und Newton fassen Kraft als Ursache für einen Bewegungsanstoß auf und Bewegung im Umkehrschluss als etwas, das durch Anstoß eines Körpers an einen anderen (harten) Körper entsteht. Bewegung ist damit exogen verursacht. Dagegen ist Kraft nach Leibniz nicht als äußerer Anstoß zu verstehen, sondern als das in jedem Körper selbstständig bewegende Moment. Abel (1984) zeichnet den Übergang von der mechanischen zu einer dynamischen Auffassung der Kraft somit als Übergang von der Exogenität zur Endogenität nach (vgl. S. 16 ff.). Überlegungen zu diesem Thema lassen sich auch im frühen Werk von Kant finden, den Abel hinsichtlich der Frage nach dem geeigneten Kräftemaß in einer Art Vermittlerposition sieht zwischen Cartesianern und Leibniz, mit einer Präferenz für letzteren im Hinblick auf die Erfassung lebendiger Kräfte.24 Die Lehre dynamischer Kräfte bildet seiner Auffassung nach insgesamt eine Wirkungslinie von Leibniz über R. J. Boscovich, den jungen Kant, Schopenhauer bis hin zu zeitgenössischen Wissenschaftlern wie z. B. J. R. Mayer, J. C. F. Zöllner oder O. Caspari (vgl. ebd., S. 14). Diese Wirkungslinie beeinflusst nachhaltig Nietzsches Gedankenwelt.25 Nietzsche rezipiert die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit generell sehr interessiert, wenn auch selektiv. Müller-Lauter (1999, S. 98) spricht in diesem Zusammenhang von „extensiven“ wenn auch „disparaten“ Studien.26 Daher ist es nicht verwunderlich, dass er bei seinen Überlegungen zur Welt als Kräftekonstellation auch von einem wissenschaftlichen Kraftbegriff ausgeht (vgl. 22 Dass die Trennung zwischen diesen Perspektiven nicht so eindeutig ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, wird klar, wenn man sich verdeutlicht, dass die Newtonsche Physik „Kraft“ als einen Druck versteht, wie er im Gefühl der Muskeln empfunden wird (vgl. Abel (1984), S. 17, Anm. 19). 23 Vgl. beispielsweise Lüscher (1987), S. 115. 24 Vgl. Kant, Gedanken, §§ 126, 117, 123, AA 1. Kant sieht in beiden Positionen eine gewisse Berechtigung, je nachdem, ob man sich mit Geometrie oder mit lebendigen Kräften beschäftigt. Im ersten Fall ist die Cartesianische Maßgröße (m * b) berechtigt, im letzteren kommt zur bloßen Geschwindigkeit noch das Streben zur Bewegungserhaltung hinzu, so dass die leibnizsche Notation (m * b) Berechtigung findet. Die Thematik lebendiger Kräfte behandelt Kant demnach laut Abel „nicht im physikalischmathematisch-geometrischen, sondern im metaphysischen Sinne (. . .). Kraft ist dasjenige, was überhaupt ein räumlich-zeitliches Zusammenhalten figürlicher Gestalten bewerkstelligt. In dieser Hinsicht ist die Sympathie Kants für den Leibnizschen Kraftbegriff unverkennbar.“ (Abel (1984), S. 17, Anm. 19) 25 Einen allgemeinen Zusammenhang mit der von Leibniz beeinflussten dynamischen Naturphilosophie stellt auch Kaulbach (1979) her (vgl. S. 136; S. 129, Anm. 2). 26 Zu Nietzsche als Naturphilosoph ausführlich Mittasch (1952); kurz dazu auch Günzel (2004), S. 219 ff. Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff, v. a. im Hinblick auf Vogt, aber auch auf Mayer, s. auch Bauer (1984).
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Colli, Nachwort KSA 11, S. 724). So notiert er bereits im Sommer 1875 aus dem ersten Kapitel der „Erhaltung der Energie“ von B. Stewart einige Überlegungen zu „Wirkungen und Gegenwirkungen“ innerer Kräfte eines Systems (N 1875, 9[2], 8, S. 183). Dabei scheint ihn besonders die wechselseitige Anziehung und Abstoßung zu faszinieren, die verschiedene Teile eines Systems aufeinander ausüben können.27 Die diesbezüglichen Überlegungen müssen sich tief in sein Verständnis eingegraben haben, wenn er zehn Jahre später schreibt: „Die Verbindung des Unorganischen und Organischen muß in der abstoßenden Kraft liegen, welche jedes Kraftatom ausübt“ (N 1885, 36[22], 11, S. 560, H.v. m.). Damit fällt bereits im Hinblick auf die Kraft die Grenze zwischen organischer und anorganischer Welt: Nietzsche macht keinen prinzipiellen Unterschied mehr zwischen diesen demselben Kraftfeld unterliegenden „Welten“, sondern ist vor allem an den Übergängen interessiert (vgl. z. B. N 1885, 45[59], 11, S. 537) und nivelliert die traditionelle Unterscheidung sogar als „Vorurtheil“ (N 1885, 36[21], 11, S. 560).28 Konsequenterweise begreift er somit auch Leben „als eine dauernde Form von P r o z e ß der K r a f t f e s t s t e l l u n g e n “ (N 1885, 36[22], 11, S. 560). Dieses Zitat offenbart, ebenso wie die Rede von „KraftCombination[en] “ im vorhergehenden Fragment, Einflüsse seiner noch einmal verstärkten naturwissenschaftlichen Lektüre seit Mitte 1881. Zu dieser Zeit liest Nietzsche Autoren wie O. Caspari, A. Fick oder J. G. Vogt. Letzterer gehört zu den Wissenschaftlern, die in Relationen von Kräften den Urgrund der Welt auszumachen glauben, und wendet sich somit im damaligen wissenschaftlichen Disput, ob die Welt letztlich aus „Kraft“ oder „Materie“ bestehe, gegen eine materialistische Weltauffassung (vgl. Gerhardt (1996), S. 198 f.). Nietzsche scheint dieser Sicht zuzustimmen, wenn er in der Folge Boscovich für die Vernichtung des „Stoff-Aberglauben[s]“ (N 1881, 15[21], 9, S. 643) rühmt, den „Raum (. . .) als Substrat der Kraft“ (N 1885, 36[24], 11, S. 561) ansieht, die Natur als Resultat einer „Menge von Relationen von Kräften“ (N 1884, 26[38], 11, S. 158), das „Ich (. . .) als Mehrheit von Kräften“ (N 1882/83, 4[189], 10, S. 165) und gar Gedanken auffasst als Kräfte in dieser „unzerstörbare[n] Einerleiheit der Kraft, der Raum mit der Funktion Kraft. Alles Mechanik.“ (N 1884, 26[38], 11, S. 158) Muss man Nietzsche demnach als reinen Physikalisten betrachten? Meiner Meinung nach ist hier Abel (1984) zuzustimmen, der diese Frage ausdrücklich 27 Am Beispiel eines geworfenen Steines lässt sich demnach verdeutlichen, dass eine Wechselwirkung besteht: der Stein fällt in Richtung Erde, aber erstaunlicherweise bewegt sich die Erde auch unmerklich „aufwärts, dem Stein entgegen (. . .). Allgemein: wenn A seine anziehende oder abstoßende Kraft auf B ausübt, so zieht B wiederum A an oder stößt es ab“ (N 1875, 9[2], 8, S. 184). 28 Dazu auch Müller-Lauter (1999), S. 67 f. Spiekermann (1992) weist darauf hin, dass Nietzsche „tote und lebendige Natur (. . .) vor allem in den Tautenburger Aufzeichnungen von Juni–August 1882“ gleichsetze (S. 8).
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verneint. Trotz des naturwissenschaftlichen Vokabulars sei Nietzsches Vorstellung von „Wirklichkeit als Leben (. . .) weder im Sinne eines bloßen Naturalismus noch nach Art eines Substantialismus sich-gleich-bleibender, fester Entitäten oder der Idee eines metaphysisch Letztgründenden“ zu verstehen (ebd., S. 5).29
Nietzsche ließe sich demnach nicht eindeutig auf eine physikalische oder eine metaphysische Betrachtungsweise von Kraft festlegen. Der Wille zur Macht wird nicht als physikalisches Konzept entworfen, aber auch nicht als Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen (vgl. auch Müller-Lauter (1999), S. 126, Anm. 130; Günzel (2004), S. 217 f.). Kraft im physikalischen Sinne wird vielmehr eingebunden, bildet einen, aber nicht den einzigen Ausgangspunkt für Nietzsches Theorie vom Willen zur Macht, der Gerhardt (1996) eine ganz andere „Theorieerwartung“ (S. 200) als dem Begriff der Kraft zuschreibt. Man muss an diesem Punkt also aufpassen, ihn nicht „zu leicht“ zu verstehen.30 Gleiches gilt für den oben zitierten Ausspruch „Alles ist Mechanik“, der mindestens einseitig, wenn nicht irreführend ist. Dies ist bereits aus der Wirkungslinie dynamischer und endogener Kräfte zu ersehen, in die Nietzsche oben eingereiht worden ist, sowie aus seinem Interesse an den Phänomenen von Anziehung und Abstoßung, die nicht einfach als Druck und Stoß zu verstehen sind. Und es wird nicht zuletzt an einer Reihe von Bemerkungen deutlich, in denen Nietzsche sich explizit von einer rein mechanistischen Weltsicht distanziert. So spricht er spöttisch vom „Loch“ in der Theorie der mechanistischen Weltauslegung, nachdem mit ihrer Hilfe, was Nietzsche durchaus begrüßt, die Teleologie beseitigt und alle „Vernunft“, alle „Zwecke“ aus den Prozessen verbannt worden sind: „Man kann Druck und Stoß selber nicht ,erklären‘“, muss sich mit „Beschreiben“ statt „Erklären“ begnügen (N 1885, 36[34], 11, S. 564 f.). Daraus leitet Nietzsche ab, dass es der mechanistischen Auffassung ausschließlich um Quantitäten gehe; die Kraft aber stecke in der Qualität (N 1885/86, 2[76], 12, S. 96). Aus dieser Zeit lassen sich auch Aufzeichnung finden, in denen Nietzsche die Ansicht vertritt, dass letztlich „alle Quantitäten Anzeichen von Qualitäten“ (N 1885, 2[157], 12, S. 142; H.v. m.) seien. Diese Sichtweise ist jedoch keinesfalls als „antiwissenschaftlich“ zu betrachten. Vielmehr geht Nietzsche darin geradezu konform mit naturwissenschaftli29 Vgl. zur Widerlegung eines Physikalismus- und Biologismusverdachts auch Abel (1984), S. 55, Anm. 51. Gegen einen „angeblichen“ Biologismus Nietzsches wendet sich bereits Heidegger (1961, Bd. 1, S. 517 ff.) und sieht bei Nietzsche eine metaphysische Begründung des „nur scheinbar“ biologischen Weltbilds (S. 526). 30 Vgl. Nietzsches Vorwort zur Morgenröthe, in dem er sich Leser wünscht, die ihn „gut lesen, das heisst langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken und offengelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen“ (M 5, 13, S. 17; vgl. auch Montinari (1982), S. 9). Zur Vorsicht, Biegsamkeit und sogar zur List, die ein „vollkommener Leser“ in Nietzsches Augen neben Mut und Neugierde benötigt, siehe auch EH, 6, 303.
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chen Überlegungen seiner Zeit, wie sie sich u. a. in der Abhandlung J. R. Mayers Ueber Auslösung (1876)31 finden, die Nietzsche nachweislich stark beeinflusst hat. In dieser setzt sich Mayer mit Vorgängen auseinander, „die durch einen Anstoss eingeleitet werden“ (S. 95), und die durch den Zusammenhang von kleinen Ursachen und großen Wirkungen gekennzeichnet sind, wie z. B. beim Entzünden von Knallgas durch einen Funken oder der Auslösung eines großen Brandes durch einen Streichholz. Man könnte hier auch den Ablauf einer nuklearen Kettenreaktion anführen, bei der einer verhältnismäßig kleinen Ursache eine enorme Wirkung gegenübersteht. Hierbei handelt es sich um Prozesse, in denen zwischen Ursache und Wirkung „gar keine quantitative Beziehung besteht, vielmehr in der Regel die Ursache der Wirkung gegenüber eine verschwindend kleine Größe zu nennen ist“ (Mayer (1927), S. 96).32 Bei den auf Auflösung beruhenden Prozessen geht es demnach um qualitative Prozesse, wie sie typisch für den Bereich des Lebendigen sind. Allerdings sind sie nicht auf diesen Bereich beschränkt, wie man bereits aus dem Beispiel von Knallgas und Funke ersehen kann. Hier kommt es auf Folgendes an: Letztlich führen die Vorstellungen über Auslösungsprozesse zu einer Aufhebung einer streng kausal-mechanischen Weltsicht. Genauer gesagt, tritt an die Seite der Erhaltungskausalität, die davon ausgeht, dass die Wirkung weder kleiner noch größer als ihre Ursache sein kann, ein neuer Typ von Auslösungskausalität. Das ist auch insofern von Relevanz, als der Erhaltungsgedanke auch als Inhalt des Kausalprinzips angesehen werden kann (vgl. dazu Abel (1984), S. 33 f.; S. 44 f.). Diese Gedanken haben Nietzsche nachhaltig beeinflusst und lassen sich in einer Reihe von Stellen wiederfinden. Explizit greift er das Beispiel von „Streichholz“ und „Pulvertonne“ auf (FW 360, 3, S. 607), thematisiert das Aufstauen und Auslösen von Kraft im „kleinsten Organism“ (N 1881, 11[138], 9, S. 493), konstatiert, dass das Lebendige seine Kraft auslassen will und muss (N 1884, 26[277], 11, S. 222 f.) und erörtert den Zusammenhang minimaler Ursachen und großer Wirkungen auch im menschlichen Bereich, z. B. wenn mit „Blick auf die Weltgeschichte“ relativ unbedeutende Reize und Menschen eine angesammelte Kraft zur „Explosion“ bringen können (N 1881, 11[135], 9, S. 492). Sein Augen31 In: Mayer (1927); zit. nach Abel (1984). Vgl. für das Folgende Abel (1984), S. 43 ff. sowie Abel (1982), S. 370. 32 Bereits Leibniz sieht den Zusammenhang zwischen kleiner Ursache und großer Wirkung, der sich u. a. in der heutigen Chaostheorie wiederfinden lässt, und illustriert ihn am Beispiel „Funke-Pulverfaß“ (vgl. Abel (1984), S. 46). Auch Schopenhauer thematisiert den Ursache-Wirkungszusammenhang und entwirft an dessen Leitfaden eine Art Stufenmodell der Welt vom anorganischen Bereich über die Pflanzenwelt bis hin zu den höher organisierten Lebewesen, wie den Tieren und Menschen. Vereinfacht gesagt, gilt dabei grundsätzlich: Je weiter man auf dieser Stufenfolge aufsteigt, und dementsprechend „Ursachen im engeren Sinn“, „Reize“ oder „Motive“ in den Blick nimmt, desto weniger stark gekoppelt scheint das Verhältnis von Ursache und Wirkung zu sein und desto schwerer fällt es uns, diesen Zusammenhang zu erkennen (vgl. WiN, S. 267 ff.; WWV I, § 23, S. 170; PS I, S. 387 ff.); auch dazu vgl. Abel (1984), S. 47 f.
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merk richtet sich vornehmlich auf qualitative Vorgänge der Steigerung, Erhöhung und Auslassung von Kräften, die mit der Erhaltungskausalität nicht mehr adäquat zu erklären sind. Wenn, wie oben angesprochen, der Erhaltungsgedanke einen essenziellen Teil des Kausalprinzips ausmacht, so kann es als folgerichtig bezeichnet werden, dass Nietzsche mit dem Erhaltungsprinzip in Bezug auf den prozesshaften Charakter der Welt auch das traditionelle Ursache-Wirkungsschema ablehnt. Der oben ebenfalls bereits angedeuteten Abschaffung der Teleologie folgt somit die grundsätzliche Kritik der Kausalität. Für Nietzsche ist „causa efficiens und finalis (. . .) in der Grundconception Eins“ (N 1888, 14[98], 13, S. 275).33 Die damit eng verbundene, an verschiedenen Stellen eingestreute Kritik des Mechanismus kulminiert in einem gleichnamigen Fragment aus dem Jahre 1888, in dem Nietzsche eine Bilanz seiner Kritik an einer rein mechanistisch verstandenen Kraft zieht. (Zum Folgenden auch Gerhardt (1996), S. 214 ff.) Dabei macht er zwei grundsätzliche „Vorurteile“ bzw. „Fiktionen“ aus, derer die mechanistische Weltauslegung bedarf: den Begriff der Bewegung als „Sinnen-Vorurtheil“ sowie den Begriff der Einheit (in Form von Atomen, Dingen, Subjektbegriffen etc.) als „psychologisches Vorurtheil“ (N 1888, 14[79], 13, S. 259). Eine „Welt von Wirkung“ in „eine sichtbare Welt – eine Welt für’s Auge“ zu übertragen, dazu dient der Begriff „Bewegung“. Dies ist das Sinnen-Vorurteil. „Mechanik als Lehre der Bewegung ist bereits eine Übersetzung in die Sinnensprache des Menschen“, die als „bloße Semiotik“ äußerlich bleibt und „nichts Reales“ bezeichnet. Der Begriff „Bewegung“ impliziert darüber hinaus, „daß etwas bewegt wird“ (ebd.). Zur Berechnung von Bewegung sind Einheiten nötig, die nach Nietzsche letztlich dem „,Ich‘-Begriff, – unserem ältesten Glaubensartikel“ (ebd.) entlehnt sind. Diesen „falschen“ Subjektbegriff übertragen wir auf den Atombegriff, auf alle „Dinge“ (ebd.).34 Unser Tätigkeitsbegriff mit seiner Differenzierung von Täter und Tun führt zu der falschen Trennung von „Ursache-sein und Wirken“ (ebd.). Alle „Voraussetzungen des Mechanismus, Stoff, Atom, Druck und Stoß, Schwere“ geraten somit zu „psychische(n) Fiktionen“ (N 1888, 14[82], 13, S. 262). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Nietzsche nicht bei einem rein mechanischen Kraftbegriff stehen bleibt (vgl. Himmelmann (1996), S. 168), auch 33 Auch Abel (1984) weist in diesem Zusammenhang auf die wechselseitige Bedingtheit und Abhängigkeit von causa finalis und causa efficiens hin, so dass auf den Ausschluss der ersteren der Wegfall der letzteren als „natürliche Konsequenz“ folge (ebd., S. 4). An späterer Stelle thematisiert Abel dann Nietzsches Gedanken „der Unvorstellbarkeit eines Geschehens ohne Absichten“ (N 1885/86, 2[83], S. 103), aus dem folge, „daß mit dem Glauben an die teleologische zugleich auch der an die kausale Erklärung fällt“ (Abel (1984), S. 131). 34 Daher ist es konsequent, wenn Nietzsche sich im gleichen Atemzug „gegen den absoluten Begriff ,Atom‘ und ,Individuum‘“ (N 1885, 43[2], 11, S. 701) wendet (vgl. auch N 1885, 40[39], 11, S. 648).
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wenn er dessen pragmatischen Nutzen für die Gestaltung der Welt nach „unsere[n] Bedürfnisse (Maschinen Brücken usw.)“ (N 1881, 11[234], 9, S. 531) an anderer Stelle durchaus einräumt.35 Er stellt sich explizit auf die Seite einer „dynamischen Welt-Auslegung, (. . .) wobei man freilich zur Dynamis noch eine innere Qualität“ benötige (N 1885, 36[34], 11, S. 565).36 Hauptkritikpunkt an der Mechanik ist, dass sie nur (sinnlich und psychologisch vermittelte) „Folgeerscheinungen“ formuliere und „die ursächliche Kraft“ nicht berühre (N 1888, 14[79], 13, S. 259). Um zu einem Verständnis dafür zu gelangen, wie Nietzsche diese ursächliche Kraft denken kann, ist zeitlich ein Schritt zurück notwendig, zu einer entscheidenden Wendung in Nietzsches Philosophie, dem „Sieg über die Kraft“. Im gleichlautenden Aphorismus versucht Nietzsche in der Morgenröthe erste Schritte zur Überwindung der Kraft, vor der man „nach alter Sclaven-Gewohnheit“ auf den Knien liege (M, 548, 3, S. 318). Dabei ist seiner Meinung nach das einzig Verehrungswürdige der „Grad der Vernunft in der Kraft (. . .): man muss messen, inwieweit gerade die Kraft durch etwas Höheres überwunden worden ist“, das die Kraft als ihr „Werkzeug und Mittel“ benutzt (ebd.; H.v. m.). Nun kann der Begriff „Vernunft“ allerdings das eigentlich Intendierte nicht leisten und ist für Nietzsche durch die traditionelle metaphysische Konnotation als absolutes, unbedingtes Sein, das sein Spezifikum gerade aus der Abgrenzung von Bewegung und Vielheitlichkeit der Sinneswelt bezieht, wohl begrifflich zu „vorbelastet“ (vgl. z. B. Taureck (2000), S. 160). Seine beißende Kritik an einem derartigen statisch verstandenen Vernunftbegriff, der dem Wandel und der Bewegung der Welt in seinen Augen nicht gerecht wird, und der selbst nur „Begriffs-Mumien“ zu erschaffen in der Lage sei, fasst Nietzsche an späterer Stelle pointiert zusammen (vgl. GD, 6, S. 74 ff.). Dennoch bedarf der Begriff der „Kraft“ einer Ergänzung; „es muß ihm eine innere Welt zugesprochen werden“, die Nietzsche als „Wille zur Macht“ charakterisiert, „d. h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischer Trieb usw.“ (N 1885, 36[31], 11, S. 563; H.v. m.). Erst durch diese Ergänzung kann die bloß äußere Kraft überwunden und können die Vorgänge der Welt als ganzer, die auch die empfundene Welt umfasst, adäquat benannt werden. Damit gelangt Nietzsche von der Kraft zum Willen zur Macht, und somit seiner Auffassung nach zum „innerste[n] Wesen des Seins“ (N 1888, 14[80], 13, S. 260). Dieser Wille zur Macht ist für ihn die ursächliche Kraft, die „aus der mechanischen Ordnung nicht weggedacht werden kann, ohne sie selbst wegzudenken“ (N 1888, 14[79], 13, S. 258). Er ist 35
Vgl. differenziert dazu auch Müller-Lauter (1999), S. 73 f. sowie S. 116 f. Mit Riccardi (2009) kann man daher von einer zweistufigen Kritik des naturwissenschaftlichen Erklärungsmodells sprechen, in deren Verlauf erst die mechanische und dann auch die dynamische physikalische Erklärung eine Kritik erfährt und beide in einen Willen zur Macht integriert werden (vgl. S. 120 ff.). 36
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als „treibende Kraft“ (N 1888, 14[121], 13, S. 300) in jeder „Kraft-Combination“ (N 1885, 36[21], 11, S. 560). Wichtig ist auch hierbei wieder zu beachten, dass es sich explizit um eine „Ergänzung“ der physikalischen Kraft handelt, nicht um deren Revision (N 1885, 36[31], 11, S. 563; H.v. m.; dazu auch Gerhardt (1996), S. 203 f.).37 Nietzsche spricht in Zusammenhang mit dem Willen zur Macht weiterhin von „Kraftatom[en]“ (N 1885, 36[20], 11, S. 560), die als eine Art „Kraftcentrum“ (N 1888, 14 [181] bzw. [184], 13, S. 261 bzw. 371) den Ausgangspunkt jeder Aktion und jeder Perspektive bilden, und definiert Leben, wie oben gesehen, als „dauernde Form von P r o z e ß der K r a f t f e s t s t e l l u n g e n “ (N 1885, 36[22], 11, S. 560). Wille zur Macht kann somit selbst in diesem ersten Zugang als eine Form von Kräftekonstellation gedeutet werden bzw. als treibende Kraft in jeder Konstellation. Kraft wird dabei aber nicht auf eine rein physikalische Bedeutung beschränkt. Auf die eingangs dargestellten möglichen Sichtweisen der „Kraft“ bezogen, lässt Nietzsche sich also nicht auf eine der drei Perspektiven reduzieren, sondern er versucht, den Kraftbegriff in seinen verschiedenen Facetten in den umfassenderen Begriff des Willens zur Macht einzubetten.38 In dieser Formel wird Kraft, modern gesprochen, in einem ganzheitlichen Sinne eingeschlossen, auch in sehr weiter Bedeutung „als umfassender Begriff für die Wirkmöglichkeit überhaupt“ (Gerhardt (1996), S. 204) sowie aus der Selbsterfahrung des Menschen als „Kraftgefühl“ (N 1883/84, 24[9], 10, S. 647), als „Herrschaftsgefühl in den Muskeln“ oder in Form einer schöpferischen Kraft (vgl. N 1888, 14[116], 13, S. 293 f.; vgl. auch N 1885, 36[31], 11, S. 563).39 Eingeschlossen in nahezu 37 Gerhardt (1996) spricht sogar davon, dass Nietzsche mit seiner Suche nach einem „Trieb“ als Antrieb allen Geschehens der zeitgenössischen Wissenschaft zu entsprechen versuche (S. 207). Er exemplifiziert diese These u. a. an Nietzsches euphorischer Rezeption des Werkes „Der Kampf der Theile im Organismus“ (1881) von W. Roux (vgl. Gerhardt (1996), S. 200 f.). Nietzsche sieht die Naturwissenschaft auf dem Weg, die innere Dynamik, „den Grund der Bewegung“ zu ergründen durch die Aufnahme von Affekten wie „,Ärger‘ ,Liebe‘ ,Hass‘ (. . .) ,Wille‘ usw.“ in ihre Terminologie (N 1881, 11[128], 9, S. 487). Nietzsche begrüßt diese Entwicklung ausdrücklich, weist aber zu diesem Zeitpunkt noch darauf hin, dass diese „Sprechart“ eine „Bilderrede“ bleibe (ebd.), ein Vorbehalt, den er mit dem öffentlichen Auftreten des Willens zur Macht im Zarathustra nicht mehr halten kann (vgl. Gerhardt (1996), S. 211). 38 Müller-Lauter (1999) spricht nur von zwei Bedeutungen des Kraftbegriffs bei Nietzsche, zum einen „im Sinne des mechanistischen Vorstellens, zum anderen im Sinne von ,Wille zur Macht‘“, wobei jener letztlich von diesem „genealogisch hergeleitet“ werden muss (S. 62 Anm. 116). Auch äußert sich Müller-Lauter kritisch zu der angesprochenen „Ergänzung“ der mechanischen Kraft, die er eher als eine „Ersetzung“ interpretiert. 39 Auch hierin kann Nietzsche sich teilweise auf Schopenhauer stützen, der unter Kraft das versteht, „was jeder Ursache ihre Kausalität, d. h. die Möglichkeit zu wirken, ertheilt.“ (Schopenhauer WWV II, Kap. 4, S. 59; dazu ausführlicher ZG, § 20) Und auch das „Kraftgefühl“ findet sich als Terminus, wenn auch eher beiläufig, bei Schopenhauer (vgl. WWV I, § 11, S. 93). Die Bedeutung der schöpferischen Kraft bei Nietzsche ist mir vor allem in Gesprächen mit Nikolaos Loukidelis bewusst geworden.
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wörtlichem Sinne, denn für Nietzsche ist „alle treibende Kraft Wille zur Macht“, es gibt für ihn „keine physische, dynamische oder psychische Kraft außerdem“ (N 1888, 14[121], 13, S. 300). „Es hilft nichts: man muß alle Bewegungen, alle ,Erscheinungen‘, alle ,Gesetze‘ nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen“ (N 1885, 36[31], 11, S. 563; H.v. m.), wir werden die „,Wirkung in die Ferne‘“ ebenso wenig los wie „eine abstoßende Kraft“ (ebd.)40, die „in rein mechanischem Sinne (. . .) eine vollständige Fiktion: ein Wort [ist]. Wir können uns ohne eine Absicht ein Anziehen nicht denken. Den Willen sich einer Sache zu bemächtigen oder gegen ihre Macht sich zu wehren und sie zurückzustoßen – das ,verstehen wir‘: das wäre eine Interpretation, die wir brauchen könnten.“ (N 1885, 2[83], 12, S. 102 f.; H.v. m.).
Auf der Suche nach dem inneren Bewegungsmoment allen Geschehens, nach dem, was oben ursächliche oder treibende Kraft genannt worden ist, macht Nietzsche also unter Rückgriff auf die Selbsterfahrung des Menschen sowie unter Berücksichtigung von dessen Möglichkeit, wirklich „zu verstehen“, einen Willen ausfindig, mit dem zusammen für ihn unmittelbar Macht ins Spiel kommt. Er geht somit im weitesten Sinne psychologisch vor, sucht nach den Triebkräften der Welt und nach einem hermeneutischen Zugang zur Natur (vgl. Gerhardt (2006), S. 186). Im Zuge seiner diesbezüglichen Überlegungen stellt er die Hypothese auf, dass „alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird, eben Willenskraft ist“ (JGB 36, 5, S. 55). Dies erscheint mindestens erklärungsbedürftig. Exkurs: Aristoteles, Leibniz und Schopenhauer Bevor dieser Wille als zweite Komponente der inhaltlichen Trias des Willens zur Macht im folgenden Kapitel eingehender untersucht wird, sollen zum Abschluss dieses Abschnittes in aller gebotenen Kürze einige mögliche Verbindungen zu Philosophemen anderer Denker angedeutet werden. Dies hat zwei Beweggründe: Zum einen handelt es sich bei dem oben nachvollzogenen „Sieg über die Kraft“ um eine entscheidende Wende, und zwar um eine Wende nach innen. Diese gilt es kurz einzuordnen: In welcher Tradition bewegt sich Nietzsche hier, was ist der philosophiehistorische Hintergrund seiner Überlegungen und vor allem, wie kommt er überhaupt und gerade auf einen Willen? Generell ist an dieser Stelle Heidegger (1961) zuzustimmen, dass Nietzsches Lehre innerhalb der abendländischen Metaphysik „nicht willkürlich“ sei (Bd. 1, S. 45) und er sich mit seiner Auslegung des Seins im „innersten und weitesten Kreis des abendländischen Denkens“ bewege (ebd., S. 76).41 Vor diesem Hintergrund einer gemein40 Zum philologischen Hintergrund dieser Stelle bei O. Liebmann vgl. Riccardi (2009), S. 120 ff. 41 Allerdings nutzt Heidegger die Diagnose von der „Vollendung der abendländischen Metaphysik“ (S. 657) aus meiner Sicht durchaus zur Profilierung und Heraushe-
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samen Problemstellung mit anderen großen Denkern lässt sich gerade auch die Eigenständigkeit von Nietzsches Überlegungen etwas exakter erfassen. Zum anderen verdeutlichen die Bezüge – und das ist aus meiner Sicht für unseren Kontext das eigentlich Entscheidende – die Dimension von Nietzsches Machtkonzeption sowie den enormen Geltungsanspruch, den er mit diesem erhebt, worin ein deutlicher und zentraler Unterschied zu den im weiteren Verlauf zu untersuchenden strategisch-mikropolitischen Theorien besteht. Diese Bezugnahme kann hier, wie gesagt, nur in ausgesprochen rudimentärer Form geschehen und muss zwangsläufig unvollständig sein. Zur philosophiehistorischen Beleuchtung des Hintergrundes von Nietzsches Willen zur Macht könnte man eine ganze Reihe von Autoren heranziehen, die hier unberücksichtigt bleiben müssen: Heidegger beispielsweise verweist u. a. auf Schelling, der in der Schrift „Über das Wesen der menschlichen Freiheit“ in der „letzten und höchsten Instanz“ des Seins ein Wollen als „Ursein“ ausmacht, sowie auf Hegel, der in der „Phänomenologie des Geistes“ das Wesen des Seins als Wissen, Wissen jedoch wesensgleich mit Wollen konzipiert (vgl. Heidegger (1961), Bd. 1, S. 44 f.; s. auch S. 73 ff.). Beiden war dabei laut Heidegger präsent, dass sie sich damit auf den wesentlichen Gedanken von Leibniz stützten, der das Wesen des Seins als die ursprüngliche Einheit von appetitus und perceptio bestimmte, als Wille und Vorstellung. Dies verweist direkt auf den Titel des Hauptwerkes von Schopenhauer, auf den wir „unmittelbar“ (ebd., S. 44) treffen, wenn wir von Nietzsche aus rückwärts blicken. Die beiden Letztgenannten, Schopenhauer und Leibniz, die auch im vorangehenden Kapitel im Zusammenhang mit dem Kraftbegriff bereits genannt worden sind, stellen zwei der im Folgenden kurz zu behandelnden Denker dar, wobei der Schwerpunkt eindeutig auf Schopenhauer gelegt wird, dem Nietzsche explizit die Rolle als sein „Erzieher“ zuschreibt (vgl. UB III), und in Auseinandersetzung mit dessen Lehre vom Willen zum Leben der Terminus Wille zur Macht entsteht und seine Konturen ausbildet. Eingeleitet werden diese Ausführungen mit einigen kurzen Bemerkungen zu Aristoteles, der bei Heidegger ebenfalls angeführt wird (vgl. Bd. 1, S. 66 ff., S. 76 ff.), und der sich nach Abel (1984) zusammen mit Leibniz in eine „Problemlinie“ mit Nietzsches Denken stellen lässt, die durch eine zunehmende „Immanentisierung und Endogenisierung der Welt“ gekennzeichnet sei (S. 7 ff.). Ausgangspunkt ist der Versuch, ein adäquates Verständnis von Bewegung zu erlangen.
bung seiner eigenen Position, auch wenn er sich explizit davor verwahrt: „Wenn wir sie fragen, meinen wir nicht, klüger zu sein als Nietzsche und die abendländische Philosophie, die Nietzsche ,nur‘ zu Ende denkt. Wir wissen, daß der schwerste Gedanke der Philosophie nur noch schwerer geworden ist, daß der Gipfel der Betrachtung noch nicht erstiegen, vielleicht überhaupt noch gar nicht entdeckt ist.“ (S. 28)
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a) Aristoteles Nach Aristoteles ist alles Natürliche dadurch charakterisiert, dass es in Bewegung begriffen ist. So wie Bewegung sich immer an Seiendem vollzieht (vgl. Phys. III 1, 200b33; Met. XI 9, 1065b6 ff.). Das, was sich verändert, ist die Materie bzw. der Stoff (hylê). Das, was sich daran vollzieht, kann als Bewegung, Veränderung, Prozess oder auch Umschlag und Wechsel (kinêsis bzw. metabolê) bezeichnet werden. Und das, worin bzw. wohinein es sich ändert, als Form oder Gestalt (eidos; morphê) (vgl. z. B. Met. X II 3, 1070 a 36 ff.). Ausgehend von den vier Kategorien Was (Substanz), Wie (Qualität), Wie groß (Quantität) und Wo (Ort) (vgl. Met. XII 2, 1069b9 ff.), können mit Aristoteles Naturvorgänge als substanzieller Wandel, als quantitative oder qualitative Veränderung sowie als Ortsbewegung beschrieben werden (vgl. Phys. III, 1, 201a9 ff.). Um die Veränderung genauer bestimmen zu können, unterscheidet er darüber hinaus Möglichkeit, Fähigkeit oder Potenz (dynamis) von dem Akt, der Verwirklichung bzw. der Wirklichkeit (energeia bzw. entelecheia) (vgl. Phys. III 1–3; Met. IX 3, 8, XI 9).42 Durch diese Unterscheidung kann man nach Aristoteles davon sprechen, dass z. B. ein unbearbeiteter Stein in gewissem Sinn – nämlich seiner Möglichkeit nach und potenziell – bereits eine Statue „ist“. So wie es im Modus der Wirklichkeit die fertiggestellte Statue ist.43 Dieses Beispiel zeigt gleichzeitig, dass keine strikte Trennung zwischen Natur und Technik vorgenommen wird; es werden von Aristoteles in der Physik auch von Menschen hergestellte Gegenstände thematisiert. Allerdings sind die von Menschen hergestellten Produkte dadurch von natürlichen unterschieden, dass der Anfangsgrund ihrer Herstellung sowie der Impuls für Veränderung und Bewegung außerhalb ihrer selbst liegt, während Naturdingen das Bewegungsprinzip 42 Grundsätzlich zum Dynamis-Begriff vgl. Liske (1996). Zum Zusammenhang von energeia und entelecheia auch Berti (1996): Entelecheia wird gewöhnlich etymologisch zweifach hergeleitet: Zum einen von entelos echein, als das, was sein Ziel (telos) in sich selbst hat, also was sich in einem Zustand der Vollendung, der Vollkommenheit befindet. Zum anderen durch seine Ähnlichkeit zu endelecheia, was Kontinuität bedeutet (vgl. S. 289). Energeia wird allgemein auf en ergô einai („in Werk sein“) zurückgeführt und kann als lebendige Wirksamkeit verstanden werden. Berti (1996) arbeitet unter Rückgriff auf das neunte Buch der Metaphysik u. a. zwei differenzierte Wortbedeutungen von energeia heraus: In der einen bedeutet der Begriff wesentlich „Bewegung“, in der anderen ist er gleichbedeutend mit entelecheia und bedeutet so viel wie „sein“ oder „der Wirklichkeit nach sein“ oder „Wirklichkeit“. Er kommt nun zu dem Ergebnis, dass Energeia und Enteleicha nicht immer gleichbedeutend seien, „aber es stimmt, daß es unter den vielen Bedeutungen von energeia eine gibt, die mit der von entelecheia übereinstimmt“; und zwar als Wirklichkeit (S. 295). Die Begründung dafür ist folgende: „Kurz gesagt, weil sich energeia zu ergon verhält wie entelecheia zu telos, deshalb stimmen, wenn ergon und telos gleichbedeutend sind, auch energeia und entelecheia überein.“ (S. 295; s. Met. IX, 1050a21-23) 43 Vgl. dazu auch das Beispiel von „Hermes“, der dem Vermögen nach „im Holz“ steckt (Met. IX, 1048a31 ff.). Zu diesem Punkt allgemein auch Höffe (1999), S. 113.
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immanent ist (vgl. Phys. II 1, 192b13 ff.; Met. XII 3, 1070a7 f.). Diese Selbstbewegung gilt für Aristoteles nicht nur bei Organismen, sondern in gewissem Sinne auch bei anorganischen Prozessen der Natur, beispielsweise beim Fallen eines Steines, dem zumindest die für sein Fallen verantwortlichen Eigenschaften immanent sind (vgl. Höffe (1999), S. 117). Fragt man generell nach der Ursache bzw. dem Grund von Bewegung, so lassen sich vier Klassen von Ursachen unterscheiden, die in der scholastischen Tradition als causa materialis, causa formalis, causa efficiens und causa finalis bezeichnet werden (vgl. Phys. II 3; Met. I 3, 983a26 f.). Auf das Beispiel von der Statue übertragen, besteht die zuletzt genannte Finalursache in der Funktion, die sie erfüllt, beispielsweise als schönes Kunstwerk zu gefallen. Die dritte Ursache, die Wirkursache, ist der Künstler, der die Statue erschafft. Die ersten beiden Ursachen, die sich auf das Material bzw. die Form beziehen, sind oben bereits in Form der Unterscheidung von hylê und eidos angeklungen. Der Stoff (hylê) wird in der aristotelischen Metaphysik als Möglichkeit verstanden, der von seiner Verwirklichung in der Form (eidos) abhängt. Die Wirklichkeit geht insofern der Möglichkeit voraus, und zwar dem Begriff, der Wesenheit und der Zeit nach (vgl. Met. IX 8, 1049b4–1050b6).44 Materie und Form können immer nur im Zusammenspiel das Zusammenkommen eines Gegenstandes erklären: Die Statue entsteht aus dem Stein und dem planenden Entwurf des Bildhauers (vgl. Met. VII 3, 1029a3–5), und stellt selbst eine Verbindung von Form und Materie dar.45 Wie oben bereits angedeutet, ist allen Wirkungen dieser Ursachen gemein, dass sie zumindest ihrer Möglichkeit nach bereits im Ausgangspunkt enthalten sind (vgl. Günzel (2004), S. 209 f.). Im Potenzial (dynamis) einer Sache ist zugleich deren potenzielle Realisierung (energeia), der Akt, angelegt. Sonst wäre sie keine reale Möglichkeit, sondern eine bloß formale Möglichkeit. „Genau genommen ist in der Vorstellung also schon der Grad an Realität enthalten, der nach der Ausführung einer Handlung in dem aus ihr resultierenden Gegenstand gegeben sein wird.“ (Günzel (2004), S. 209)
Als dynamis kann in diesem Zusammenhang das angesehen werden, was in dem Seienden die jeweilige Veränderung ermöglicht (vgl. Kaulbach (1965), S. 1 ff.). Veränderung kann als Vorgang des „Zum-Ziel-Bringens“ eines Veränderbaren interpretiert werden (vgl. Phys. III 3, 202a). Gerhardt (1996) betont in diesem Zusammenhang die Einheitlichkeit der Bewegung sowie die Kontinuier44
Zur ontologischen Priorität der Wirklichkeit vgl. auch Met. XII, 1071b12–1072a8. Höffe (1999) spricht daher bei Stoff und Form auch von „Reflexionsbegriffen“, die zwei „Rollen“ und „Funktionen“ bezeichnen und nicht wie „zwei selbständig existenzfähige Gegenstände“ behandelt werden dürfen (S. 114). Aristoteles geht von einem Hylemorphismus aus, den man – aus organisationstheoretischer Sicht interessant – interpretieren kann als „a view about the relationship, in a thing, between its organization and the material stuffs that realize that organization.“ (Nussbaum/Putnam (1992), S. 28 f.; dazu Seidl (2003) 45
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lichkeit des Übergangs von dem Vermögen, ein Ziel zu erreichen (dynamis), zum faktischen Erreichen des Ziels (entelecheia).46 „Dabei sind dýnamiò und entelÝxeia nicht etwa so voneinander getrennt wie der Anfang und das Ende einer Bewegung, sondern beide sind nur in der Bewegung gegenwärtig. Die Besonderheit dieser Einheit liegt allerdings darin, daß die Gegenwärtigkeit enÝrgeia ist; nur in ihr kann sich dýnamiò erweisen.“ (S. 37)
Es besteht also ein innerer Zusammenhang zwischen dynamis, entelecheia und energeia.47 Wirklichkeit ist die „Präsenz des Vermögens in der Annäherung an das Ziel“ und die Möglichkeit kommt erst in ihrer Vollendung zur Wirklichkeit (ebd.). Als nicht bloß theoretische, sondern reale Möglichkeit zu Wirklichkeit, also als ein Vermögen, eine Potenz, ist sie das, was im Kontext menschlicher Handlungen als „Macht“ bezeichnet wird. Nietzsche selbst nimmt an einigen wenigen Stellen explizit Bezug auf den Begriff der „Dynamis“. Neben der oben bereits angesprochenen Stelle im Zusammenhang mit der Ergänzung der Kraft (vgl. N 1885, 36[34], 11, S. 564 f.) findet sich ein sehr frühes Notat aus dem Jahr 1873 im Zusammenhang mit Überlegungen zu Formen und Konventionen: „Die Historie freilich ist sehr gefährlich, indem sie alle Conventionen n e b e n e i n a n d e r z u r V e r g l e i c h u n g stellt und damit das Urtheil dort aufruft, wo die dýnamiò alles entscheidet.“ (N 1873, 29[121], 7, S. 686)
Gerhardt (1996) sieht daher der Sache nach die Gleichung zwischen Wille zur Macht und Dynamis-Begriff bereits seit der Zeit der 2. Unzeitgemässen Betrachtung bestehen, als Bezeichnung jener Kraft, die als „dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht“ (UB II, 3, 1, S. 269) auftritt (vgl. S. 208). Ihren begrifflichen Ausdruck findet sie allerdings erst in einem Fragment aus dem Jahr 1887, in dem Nietzsche dem aristotelischen Dynamis-Konzept, in Anlehnung an Liebmann verstanden als „,reale Tendenz zur Aktion‘, noch gehemmt, die sich zu aktualisiren versucht“ (N 1887, 9[92], 12, S. 387), seine Formel vom Willen zur Macht explizit an die Seite stellt.48 In demselben Fragment notiert sich Nietzsche mit „,Spannkraft‘“ und „,aufgesammelte und aufgespeicherte Bewegungstendenz‘“ (ebd.) weitere Charakteristika, die seiner Ansicht nach auf den Willen zur Macht zutreffen. Es kann hier also mindestens eine
46 Hintergrund ist dabei das Ziel von Aristoteles, einen Begriff von Bewegung als einheitlichen, nicht weiter zerlegbaren, Vorgang zu erlangen, um sich nicht den Paradoxien Zenons auszuliefern (s. Gerhardt (1996), S. 37). 47 Vgl. dazu auch Heidegger (1961), Bd. 1, S. 66 ff., S. 76 ff. 48 Die von Nietzsche zitierten Passagen stammen aus dem Aufsatz „Die Arten der Nothwendigkeit“ von O. Liebmann aus dem Jahr 1882, in dem dieser die objektive Gültigkeit des Dynamis-Begriffs gegen F. A. Lange verteidigt, der sich in diesem Punkt wiederum auf Kant stützt (S. 11; vgl. dazu Gerhardt (1996), S. 207 f.). An den Rand dieser Passage notiert sich Nietzsche „Wille zur Macht?“.
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Nähe zwischen dem Willen zur Macht und dem Dynamis-Begriff festgehalten werden, die Nietzsche selbst sieht. Vor diesem Hintergrund wendet er in dem oben bereits zitierten Fragment den Dynamis-Begriff einige Zeit zuvor und im Anschluss an Liebmann gegen eine in seinen Augen defizitäre, rein mechanistische Form der Naturwissenschaft, die den Glauben an das „Erklären-können“ zu Gunsten eines bloßen Beschreibens aufgegeben hat. Und plädiert damit gleichzeitig für eine dynamische Variante der modernen Wissenschaft, die er bereits nahen sieht, und „die in Kurzem über die Physiker Gewalt haben wird“ (N 1885, 36[34], 11, S. 564). Allerdings benötigt man nach Nietzsche, und dies ist ein wichtiger Abgrenzungspunkt, „zur Dynamis noch eine innere Qualität“ (N 1885, 36[34], 11, S. 565; H.v. m.).49 Dies wird verständlich, wenn man in der aristotelischen Dynamis „lediglich die innere, aber ruhende Disposition zu einem Bewegtwerden“ sieht (Abel (1984), S. 8). Die Möglichkeit, bewegt zu werden, ist nach dieser Interpretation also, wie oben dargelegt, in den Dingen angelegt, aber (noch) nicht ein Streben, „sich selbst auf eine bestimmte Weise und in einer bestimmten Richtung zu bewegen und in solchem Zustand zu erhalten“ (ebd., S. 12). Dazu bedarf es eines Bewegenden, eines Dritten, das selbst wiederum als Bewegtes aufgefasst werden kann: „Alles, was sich bewegt, wird wohl von etwas bewegt werden“ (Phys. VIII 4, 256a1)50. Dadurch entsteht eine Kette der Verursachung bis hin zum unbewegten Ersten Bewegenden, das nicht von anderem Bewegung erhält, sondern von sich selbst in Bewegung gebracht wird (vgl. Phys. VIII 5, 256a). „Denn bei jeder Veränderung ändert sich etwas und durch etwas und in etwas. Dasjenige, wodurch es sich verändert, ist das erste Bewegende; das was sich verändert, ist der Stoff; das, worin es sich verändert, ist die Form. Man müßte also ins Unendliche fortschreiten (. . .). Also muß notwendig einmal ein Stillstand eintreten.“ (Met. XII 3, 1069b35 ff.)
Der unbewegte Beweger verhindert somit einen unendlichen Regress. Das Entscheidende mit Blick auf unseren Gedankengang ist, dass nach Aristoteles den Dingen noch kein Streben innewohnt, sich ausschließlich aus sich selbst heraus in eine bestimmte Richtung zu bewegen. Sonst wäre das Konstrukt eines unbewegten Bewegers in dieser Form nicht nötig. Zwar ist eine gewisse Immanentisierung bei Aristoteles’ Bewegungstheorie durchaus angelegt. Und, wie oben angesprochen, tragen die Naturdinge das Prinzip von Bewegung in sich (vgl. z. B. Phys. II 1, 192b13 ff.; Met. XII 3, 49
Vgl. ausführlicher zu diesem Punkt Riccardi (2009), S. 111 ff. Eine Vorstellung, deren Gültigkeit Nietzsche in der Kritik des Mechanismus auf die äußere Sinnenwelt beschränkt (s. o.). Nietzsche hält es für „subintelligiert“, „daß wo Bewegung ist, etwas bewegt wird“ (N 1888, 14[79], 13, S. 258 f.). 50
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1070a7 f.).51 Aber Aristoteles sieht nur die Möglichkeit, bewegt zu werden, als in den Dingen selbst angelegt. Also nur die Möglichkeit, Bewegung passiv zu erleiden. Nun ist Bewegung nach Aristoteles immer ein Zugleich von Bewegtwerden und Sichbewegen, wobei es sich nicht um zwei klar voneinander abgegrenzte Bereiche, sondern um zwei Seiten eines Prozesses handelt. Doch ist von der komplementären Seite jeder Bewegung die bewirkende gegenüber der erleidenden für Abel (1984) „eindeutig das entscheidende Moment.“ (S. 12) Nietzsche sucht dagegen nach einer Kraft, die vollständig aus sich selbst heraus eine Dynamik entfalten kann. Er sucht nach einem immanenten Ursprung der Bewegung, bei dem die Bewegung nicht mehr „von außen bedingt“, „nicht v e r u r s a c h t . . .“ ist, sondern von „Bewegungsansätze[n] und -Centren“ ausgehend, „von wo aus der Wille um sich greift . . .“ (N 1888, 14[98], 13, S. 274). Letztlich soll ein Geschehen als Ganzes somit „w e d e r b e w i r k t , n o c h b e w i r k e n d “ verstanden werden, sondern als der momentane Ausdruck der vielfältigen Konstellationen von Wille zur Macht (N 1888, 14[98], 13, S. 275). Freilich räumt Nietzsche selbst ein, dass dies kaum durchzuhalten ist und wir sprachlich nicht von Ursachen und Wirkungen loszukommen wissen (vgl. ebd.). Gerade durch die Rede von der „inneren Qualität“, die zur Dynamis hinzukommen muss, wird darüber hinaus auch noch einmal der Erfahrungshorizont des Menschen präsent, der nur von seinen eigenen Möglichkeiten, tatsächlich in der Welt zu wirken, auf die reale Wirkmöglichkeit aller Dinge schließen kann (vgl. Gerhardt (1996), S. 209). b) Leibniz Leibniz knüpft mit seiner Monadenlehre an die aristotelische Lehre von Möglichkeit (dynamis) und Wirklichkeit (energeia) an und deutet auf den Zusammenhang zwischen den Ersten Entelechien Aristoteles’ und seinen ursprünglichen Kräften (forces primitives) hin. Letztere enthalten jedoch nicht nur „l’a c t e ou le complement de la possibilité, mais encor une a c t i v i t é originale“ (Leibniz (1880), Bd. 4, S. 479), also eine ursprüngliche Aktivität aus sich selbst heraus. Durch diese endogene Aktivität, diesen inneren Drang, ist laut Abel die Trennung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit „bereits weitgehend zugunsten einer
51 Aristoteles’ Bewegungslehre wird von Abel (1984) insofern bereits als Schritt in Richtung Immanentisierung aufgefasst, als sie, bei „aller nicht zu leugnenden Aufnahme platonischer Elemente“, in Abgrenzung der platonischen Lehre der absolut selbstbewegten Weltseele keine „transzendente Ideenlehre“, sondern eine „Ontologie des Wirklichen“ (S. 14) entwerfe. Allerdings räumt Abel (1984) selbst ein, dass die Trennung zwischen Aristoteles auf der einen Seite, der sich auf das „konkrete Seiende“ bezieht, und Platon, der zu Gunsten einer „transzendenten Ordnung der Ideen“ optiert, eine überspitzte Formulierung ist. Für eine „,irdischere‘ “ (S. 85) Lesart von Platon macht sich z. B. auch Frede (2002, S. 82 ff.) stark.
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immanenten Aktivität und Wirkung dieser Kraftzentren selbst“ überwunden (ebd., S. 8).52 Es findet demnach eine Endogenisierung der Kraft statt. Nietzsches Überlegungen zum Willen zur Macht können in gewisser Weise als Fortsetzung auf diesem Weg interpretiert werden. Laut Abel (1984) hebt Nietzsche sogar den verbliebenen Rest der Trennung vollständig auf und vollendet somit die von Leibniz initiierte Überwindung der Differenz zwischen der Wirkmöglichkeit und dem Wirken selbst (S. 9).53 An dieser Stelle ist auch ausdrücklich anzumerken, dass die Verbindung zu Leibniz, und vor allem zu dessen gesamter Metaphysik, nicht überstrapaziert werden soll. Dies wäre schon auf Grund der im vorangegangenen Kapitel dargelegten Kritik Nietzsches an Kausal-Mechanik und Teleologie verfehlt, von deren Synchronisation und metaphysischer Ordnung durch eine „prästabilierte Harmonie“ bei Leibniz ganz zu schweigen.54 Die Ambivalenz der Verbindung lässt sich auch an der Monadenlehre von Leibniz konkretisieren. Leibniz (1996, S. 9 ff.) begreift Monaden in seiner Monadologie als „une substance simple (. . .) c’est á dire, sans parties“ (§ 1), als unteilbar, gestaltlos und ohne Ausdehnung (§ 3). Somit sind sie unvergänglich, d. h. nicht der Auflösung („dissolution“ (§ 4)) unterworfen und können „nicht entstehen als durch Schöpfung und nicht untergehen als durch völlige Vernichtung“ (§ 6). Nach Abel (1984) bewerkstelligen die Monaden als derartige metaphysisch letztgründende einfache Substanzen und „immaterielle Kraft-Punktuation alle Durchorganisation von Wirklichem sowie die Realität und Einheit alles vielheitlich Zusammengesetzten“ (S. 7). Die gleiche Funktion lässt sich auch den dynamischen Quanten Wille zur Macht von Nietzsche zuschreiben (vgl. ebd., S. 22 u. 25). Somit wird eine gewisse Ähnlichkeit zu Nietzsches Wille zur Macht deutlich, wie er im folgenden Verlauf noch näher dargelegt werden wird.55 Interessanterweise vereinigt die Monade dabei neben der Erkenntnis (Conoissance) auch die Macht (Puissance) sowie den Willen (Volonté) zu einer Einheit, wie Gerhardt (1996) hervorhebt, der das Modell für diese Konzeption im menschlichen Handlungsbewußtsein ausmacht (vgl. S. 50 f.). Interessant ist ferner, dass Macht nach Leibniz nicht mehr 52 Auch Gerhardt (1996, S. 50) weist darauf hin, dass Leibniz die aktive Kraft, die ausdrücklich auch ein Streben beinhaltet, als „Mittleres zwischen den Vermögen zu handeln und der Handlung selbst“ definiert (Leibniz (1965), S. 198). 53 Ob man tatsächlich so weit gehen kann, von einer „restlosen“ Überwindung der Trennung zu sprechen, erscheint zumindest diskussionwürdig, sei hier aber dahingestellt. Worauf es an dieser Stelle ankommt, ist die Tendenz, die m. E. durchaus nachvollziehbar erscheint; vgl. dazu auch Gerhardt (1987), z. B. S. 448 f. 54 Vgl. dazu auch Abel (1984), S. 6, sowie Kaulbach (1979), insbesondere S. 142 und S. 150, der allerdings durchaus einige weitreichende Übereinstimmungen ausmacht. 55 Vgl. ausführlich dazu Kaulbach (1979), S. 127–156 bzw. (1980), S. 49–58. Eine derartige Ähnlichkeit zum Willen zur Macht ist auch neo-monadologischen Ansätze wie dem von G. Tarde zu konstatieren, der insbesondere über B. Latour auf die zeitgenössische soziologische Forschung Einfluss entfaltet hat (vgl. Tarde (2009)).
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substanziell, sondern relational zu verstehen ist (vgl. Leibniz (1961), § 17; 1, S. 268) – ein Merkmal von Macht, dass sowohl für Nietzsche als auch für die Mikropolitik zentral ist (vgl. Teil 2 A. II. 2). Allerdings lassen sich auch spezifische Unterschiede ausmachen, so dass Müller-Lauter (1999), der die Ähnlichkeit durchaus einräumt, davor warnt, die „Verwandtschaft“ insgesamt überzubewerten (vgl. S. 24). Hier seien, teilweise im Vorgriff auf kommende Ausführungen, nur kurz drei wesentliche Unterschiede aufgeführt: Nietzsches Wille zur Macht ist erstens keine „einfache Substanz“, bildet keine metaphysische Letzteinheit (vgl. N 1887/88, 11[73], 13, S. 36 f.), wie v. a. Müller-Lauter herausgearbeitet und betont hat. Vielmehr gilt eine „relationale Vielheit im Kleinen wie im Großen“, so dass „Einheit“ immer nur in einem relationalen Sinn, als relative Einheit einer Vielheit, aufzufassen ist, nicht als „Aggregat“ von einfachen Substanzen (Abel (1984), S. 21 f.). Es verbietet sich laut MüllerLauter (1999) demnach, dem Willen zur Macht „am Ende doch noch eine Substantialität (nämlich im Leibnizschen Sinne) zuzusprechen.“ (S. 24)56 Die vielfältigen und in sich vielheitlichen Willen zur Macht sind darüber hinaus nicht konstant und unvergänglich, sondern unterliegen im Gegenteil einer permanenten Veränderung und Verschiebung der Machtverhältnisse, sind im Wachstum oder im Abnehmen begriffen, können sich zusammenschließen und abtrennen und auch zerfallen. Und als dritter und vielleicht entscheidender Punkt: Für die Willen zur Macht gilt nicht, wie für die Monaden, dass sie „keine Fenster“ (Leibniz (1996), § 7, S. 13) haben, durch die etwas in sie hinein- oder hinausgelangen kann. Vielmehr ist jeder Wille zur Macht gerade als „Kraftcentrum“ zu verstehen, das auf andere Kraftzentren ausgreift, und somit „von sich aus die ganze übrige Welt construirt d. h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet . . .“ (N 1888, 14[186], 13, S. 373). Die Willen zur Macht sind also gerade keine autarken, in sich zweckmäßig verfassten Gebilde, sondern aufeinander übergreifende Kraftzentren (vgl. auch Gerhardt (1987), S. 452). Auseinandersetzung und Austausch sind hierbei wichtige
56 Nach Kaulbach (1979, S. 130) ist allerdings „die Substanzialität der Monade eher als Prozeß, denn als fixes ausgedehntes Gebilde“ aufzufassen, was auf eine größere Übereinstimmung mit Nietzsche schließen lässt. Er erinnert ferner daran, dass „bei Leibniz die Einheit ,der‘ Monade als Spannung zwischen der Organisation und einigenden Zusammenfassung des Vielen zu einem Ganzen einerseits und dem ,Streben‘ (Conatus) zu verstehen ist, über die Grenzen dieses organisierten Ganzen hinauszugehen, um es schließlich als Vergegenwärtigung des absoluten, der ,Welt‘ begreifen zu können.“ (S. 130 f.; H.v. m.) Es liegen also, ganz ähnlich zu Nietzsche, gleichzeitig Motive des Zusammenziehens sowie des Ausdehnens vor: „Man kann diese Spannung auch so interpretieren: als einigende Kraft wirkt die Monade einerseits zusammenfassend, gestaltend und das Viele um ein Zentrum kristallisierend: andererseits aber wirkt sich in ihr das dazu entgegengesetzte Motiv aus, jede Bestimmtheit aufzulösen, über sie hinauszugehen, jede Endlichkeit zu verneinen, um das Ganze als Unbegrenztes, Un-endliches, nicht Fixiertes denken zu können.“ (S. 131)
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Dimensionen, ebenso wie der Übergang zwischen Innen und Außen: „Als Kraftzentren haben die Willen zur Macht ein ,Innen‘, das den Ursprung ihrer Tätigkeit bezeichnet. In ihrem Bezug auf andere Mächte sind sie aber immer schon ,außen‘“ (ebd.).57 Festzuhalten bleibt: In den dazu notwendigen Relationen sind „die Willen-zur-Macht keine entelechetisch selbst-genügsamen Gebilde. Der für sie kennzeichnende Grundzug der Steigerung, Erweiterung und Auslassung von Kraft macht sie gerade in dem, was ,Wert‘ für sie hat, von Anderem, genauer von dem übermächtigenden und funktionsaufprägenden Übergreifen über andere Machtwillen abhängig.“ (Abel (1984), S. 23)
Die Gemeinsamkeit, um die es hier, den grundsätzlichen Gedankengang wieder aufgreifend, vornehmlich geht, liegt daher in der Verlagerung des Fokus auf dynamische Kräfte, die nicht von außen durch Druck und Stoß verursacht sind, sondern von sich aus agierende und von innen heraus wirkende Kräfte darstellen. Mit der Thematisierung derartiger Kräfte knüpft Nietzsche auch an der dynamischen Naturphilosophie an, die selbst wiederum wesentliche Impulse von Leibniz erhalten hat.58 Diese Kräfte bestehen für ihn nun, wie im vorangegangenen Kapitel angedeutet, letztlich in dynamischen Wille zur Macht-Quanten, „in einem Spannungsverhältnis zu allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältniß zu allen anderen Quanten besteht, in ihrem ,Wirken‘ auf dieselben“ (N 1888, 14[79], 13, S. 259). Interessant für unseren Kontext von Macht und Organisation ist, dass sie somit ein gewisses Maß an Organisiertheit, an Zusammenstellung auch von Gegensätzlichem, immer bereits voraussetzen, so wie die Fähigkeit, die daraus resultierenden Spannungen auszuhalten (vgl. Abel (1984), S. 6 f.; Kaulbach (1979), S. 135). So wie durch diese Kräfte wiederum Organisation prozessual geschaffen wird: „(D)ie Entstehung von Organisationsgebilden relativer Einheit, Stabilität und Dauer, die dann als Welt, Wirklichkeit und Leben angesprochen werden, beruht darauf, daß jedes der Willen-zur-Macht-Quanta in jedem Moment seines Vollzugs die ganze ihm zur Verfügung stehende Macht in die Prozesse fortwährender Kraftfeststellung einbringt und auch einbringen muß, insofern eine Kraft durch den Grad ihrer Wirkung vollständig bestimmt ist.“ (Abel (1984), S. 9)
Das „Machtquantum“, genau genommen „die einzige Wirkgröße überhaupt“ (Gerhardt (1996), S. 255), ist „durch die Wirkung, die es übt und der es widersteht, bezeichnet“ (N 1888, 14[79], 13, S. 258). Dies ist der Ausgangspunkt, an dem Abel (1984) seine These einer zunehmenden „Immanentisierung und Endogenisierung der Welt“ von Aristoteles über Leibniz bis hin zu Nietzsche festmacht (S. 7 ff.; H.v. m.). Der erste von vier Punkten besteht in der schon ange57 Im Unterschied zu Abel (1984) bezieht Gerhardt (1987) die (nicht-räumlich verstandene) Innen-Außen-Differenz dabei explizit auf die menschliche Selbsterfahrung (vgl. S. 452 sowie vor allem S. 462 ff.). 58 Vgl. Kaulbach (1979), S. 136; zu einer möglichen Wirkung des monadologischen Modells über die Naturwissenschaften zu Nietzsche s. ebd., S. 129, Anm. 2.
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sprochenen fortschreitenden Aufhebung der Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit. Darüber hinaus entfällt bei Nietzsche zweitens der von Leibniz noch aufrechterhaltene Bezug zum Gedanken der Entelechie. Die Willen zur Macht sind keine Entelechien, die ihr Ziel und ihre Vollendung autark in sich tragen. Schließlich resultiert nach Nietzsche drittens die oben angesprochene Organisiertheit, die jedem Tätigsein, jedem Wirken, immer vorausgesetzt sein muss, allein aus dem Kraft- und Machtgeschehen selbst, und nicht aus einer von Gott erwirkten „prästabilierten Harmonie“59: „Alles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden“ wird aufgefasst als ein momentanes „Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen“ (N 1887, 9[91], 12, S. 385). Und viertens muss, wie oben dargelegt, sowohl dem Begriff der „Dynamis“ noch eine „innere Qualität“ (N 1885, 36[34], 11, S. 565) als auch dem Begriff der Kraft noch eine „innere Welt“ (N 1885, 36[31], 11, S. 563) zugesprochen werden; auch der aktiven Kraft von Leibniz. Diese innere Welt findet Nietzsche im Willen. Die Wahl dieses Begriffes wird m. E. insbesondere verständlich vor dem Hintergrund der Schopenhauerschen Lehre vom Willen zum Leben, die im Folgenden vorgestellt werden soll. c) Schopenhauer Vorweg sei gleich auf einen signifikanten Unterschied im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Denkern hingewiesen, der darin besteht, dass von Schopenhauer nachweislich ein starker direkter Einfluss auf Nietzsche ausgegangen ist.60 Bei der parallelen Lektüre beider Werke wird die Größe dieses Einflusses überdeutlich und gleichsam mit Händen greifbar. Dies betrifft in manchem Punkte den Stil der Schriften, beispielsweise im Hinblick auf den Pathos und die Polemik, u. a. gegen die „Rockenphilosophie“ und „Windbeutelei“ der deutschen Philosophieprofessoren (z. B. PM, S. 437; PP I, S. 140 ff.; WWV I, S. 18 bzw. UB III, 4, 1, 364 ff.) oder gegen die Priester (WWV II, Kap. 17, S. 187 bzw. GD, 6, S. 147 f.), sowie im Hinblick auf den Bilderreichtum der Sprache bis hin zu 59 Zur „prästabilierten Harmonie“ („l’harmonie préétablie“) vgl. Monadologie (§§ 78–81). Leibniz (1996, S. 59 ff.) dient diese als Erklärung für die „Übereinstimmung der Seele mit dem Körper (. . .). Die Seele folgt ihren eigenen Gesetzen/und der Körper ebener gestalt denen seinigen; und beide treffen zusammen kraft der Harmonie/ welche unter allen Substanzen voraus festgestellet ist“ (§ 80). 60 Nietzsche stieß im Oktober 1865 in Leipzig auf das Werk Schopenhauers, das eine unerhörte Wirkung auf ihn ausgeübt hat, die, unbeschadet der verschiedenen Phasen und Brüche im Verhältnis zu Schopenhauer, Zeit seines Lebens in der einen oder anderen Form Fortbestand hatte. Er selbst fasst dieses Erlebnis 1874 in folgendes öffentliches Bekenntnis: „Ich gehöre zu den Lesern Schopenhauers, welche, nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen haben, mit Bestimmtheit wissen, dass sie alle Seiten lesen und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat. Mein Vertrauen zu ihm war sofort da und ist jetzt noch dasselbe wie vor neun Jahren.“ (UB III, 2, 1, S. 346)
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direkten Übereinstimmungen in der Metaphorik. So z. B., wenn Gipfelerlebnisse herangezogen werden, um Ausnahmesituationen der Erkenntnis zum Ausdruck zu bringen, die durch einen freien, klaren und kalten Blick auf das Leben gekennzeichnet sind (WWV I, § 16, S. 133 ff. bzw. ZA I, 4, S. 48 f.; W 1, 6, S. 14; N 1884, 26[359], 11, S. 245), wenn von der „Spinne“ und ihrem Netz als Sinnbild für anschauungsfreie metaphysische Begriffsgewebe gesprochen wird (WWV I, § 7, S. 68 bzw. ZA III, 4, S. 209), die Menschheit in „Heerde“ und „Hirt“ unterteilt wird (PP I, § 3, S. 47 bzw. N 1886/87, 5[71], 12, S. 245; N 1887/88, 11[1], 13, S. 9; N 1885, 39[13], 11, S. 624), eine „Kluft zwischen Mensch und Mensch“ konstatiert wird (WWV II, Kap. 19, S. 269 bzw. JGB, 62, 5, S. 83), oder wenn von „Masken“ (WWV I, S. 15; WWV II, Kap. 18, S. 226 bzw. JGB 40, 5, S. 57; ebd. 230, S. 168), „Spiegeln“ (WWV I, § 29, S. 230; § 54, S. 366; § 71, S. 526; ZA II, S. 147; N 1885, 38[12], 11, S. 610) und vom (grossen) „Mittag“ (WWV I, § 54, S. 368; ZA IV, 4, S. 408) die Rede ist. Diese Reihe ließe sich nahezu beliebig fortsetzen, und es ließen sich weitere fast wortgleiche Äußerungen anführen, beispielsweise über die Beliebigkeit der Kinder im Umgang mit ihrem Spielzeug (PP I, § 5, S. 55 bzw. GT 17, 1, S. 109; PhtZ, 1, S. 831), sowie andererseits über deren Ernst – beim Spiel (WWV I, § 60, S. 426 bzw. JGB [94], 5, S. 90; MA I, [628], 2, S. 354), ohne dabei freilich eine vollständige inhaltliche Übereinstimmung in jedem der angeführten Punkte unterstellen zu wollen, die sich ohnehin nur an einer detailgetreuen Kontextualisierung der einzelnen Metaphern überprüfen ließe. Darüber hinaus bestehen weitere Übereinstimmungen: zum Beispiel hinsichtlich des Anspruchs. Und zwar erstens, nicht ein Mann seiner Zeit sein zu wollen (vgl. WiN, S. 269), auch mit Blick auf die eigene Wirkung sowie das eigene Werk, das darauf angelegt ist, nicht nur für ein Geschlecht da zu sein (vgl. ZG, § 20, S. 53), sondern für folgende Jahrhunderte (vgl. WiN, S. 275).61 Dies deckt sich mit Nietzsches Anspruch und Selbsteinschätzung „unzeitgemäss“ zu sein, „posthum geboren“ zu werden und für das „Übermorgen“ zu schreiben (EH, 6, S. 300; AC, 6, S. 167). Zweitens, und dies ist für unseren Gedankengang ein entscheidender Punkt, für den Erkenntnisanspruch selbst, der darin besteht, das „innere Wesen (. . .) der Erscheinungen“ (WWV I, § 17, S. 148), das „innere Wesen eines jeden Dinges“ (WWV II, Kap. 18, S. 229) bzw. in Nietzsches Worten: das „innerste Wesen des Seins“ (N 1888, 14[80], 13, S. 260) verstehen zu wollen. Also das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, wie es oben mit Goethe umschrieben worden ist (so auch Spierling (1998), S. 38 f.). Und drittens, ebenfalls ein wichtiger und damit zusammenhängender Punkt, bezüglich des Geltungsbereichs der eigenen Aussagen, den beide ins nahezu Uferlose aus61 „Mein Zeitalter und ich passen nicht füreinander“ (HN IV, 1, S. 216) „Ich schreibe für die Einzelnen, mir Gleichen, die hie und da im Lauf der Zeit leben und denken“ (HN IV, 1, S. 150); vgl. Spierling (1998), S. 27 ff.
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dehnen: Schopenhauer meint, dass nichts übrig bleibe, außer seiner Welt als Wille und Vorstellung (vgl. WWV I, § 29, S. 227; § 53, S. 359) und für Nietzsche ist die gesamte Welt, wie gesehen, „W i l l e z u r M a c h t – u n d n i c h t s a u ß e r d e m ! “ (N 1885, 38[12], 11, S. 611 bzw. JGB 36, 5, S. 55) Insbesondere diese letzten beiden Aspekte machen deutlich, dass der Einfluss Schopenhauers sich nicht etwa nur auf den polemischen Stil und die Wahl der Metaphern, beschränkt, sondern bis in das Zentrum von Nietzsches Philosophie reicht. Nicht umsonst spricht Nietzsche von Schopenhauer als seinem „Lehrer(.) und Zuchtmeister(.)“ (UB III, 1, 1, S. 341; GM Vorr., 5, 5, S. 251) und Th. Mann (1982b) meint sogar, dass Nietzsches „Denken und Lehren nach der ,Überwindung‘ Schopenhauers mehr eine Fortbildung und Umdeutung von dessen Weltbild als eine wirkliche Trennung davon bedeutete.“ (S. 667)
Der unbestritten starke Einfluss kommt an keiner Stelle prägnanter zum Ausdruck als in den jeweiligen Formeln vom Willen zum Leben bzw. vom Willen zur Macht.62 Dabei sollte man sich freilich nicht vorschnell vom Gleichklang täuschen lassen, und davon ausgehen, dass beide auch das Gleiche meinen, wenn sie von einem „Willen“ sprechen, und die Differenz einzig darin sehen, dass Schopenhauer diesen Willen auf das Leben gerichtet sieht, und Nietzsche auf Macht. Einige weitere spezifische Unterschiede werden im Verlauf der nächsten beiden Kapitel noch herausgearbeitet. Im Folgenden soll dagegen primär die Herleitung von Schopenhauers Willensmetaphysik als Wendung nach innen etwas genauer in den Blick genommen werden, um zu plausibilisieren, dass Nietzsche bei seiner Suche nach der „Ergänzung der Kraft“ durch eine „innere Welt“ und einen inneren Antrieb auf den Begriff des Willens zurückgreift (N 1885, 36[31], 11, S. 563).63 Nach eigenem Bekunden ist Schopenhauers Hauptwerk eigentlich nur der in Worte gebrachte Ausdruck eines einzigen Gedankens (vgl. WWV I, S. 7). Und dieser Gedanke liegt in kürzestmöglicher Form im Titel dieses Hauptwerkes vor: Nach Schopenhauer ist die Welt einerseits Vorstellung, andererseits Wille.
62 Vgl. dazu ebenso Nachwort Colli: „Die Verwandtschaft des neuen philosophischen Prinzips vom ,Willen zur Macht‘ mit dem Schopenhauerschen Prinzip vom ,Willen zum Leben‘ ist unbestreitbar (Nietzsche sagt das selbst), ja, das erste erweist sich als eine Variante des zweiten.“ (KSA 5, S. 416) Dass wir nach Nietzsche allerdings des Willens zur Macht durch „unmittelbares Erfassen teilhaftig werden“ können, wie es dort ebenfalls heißt, wird durch den Gang dieser Untersuchung nicht bestätigt. 63 Zu den Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, einzelne Teile des Werkes von Schopenhauer zu thematisieren, das explizit als organische Einheit konzipiert ist (vgl. WWV I, S. 7), äußert sich Spierling (1998), S. 9 f., S. 224.
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aa) Die Welt als Vorstellung und der Satz vom zureichenden Grund Schopenhauer eröffnet seine Überlegungen mit dem Satz: „Die Welt ist meine Vorstellung“ (WWV I, § 1, S. 31). Unter Vorstellung ist vereinfacht gesagt das komplette Bild zu verstehen, das wir uns von der Welt machen, sei es durch alltägliche sinnliche Erfahrung, durch Sehen, Hören, Tasten, Riechen oder Schmecken, sei es durch unser Denken in Begriffen und durch (wissenschaftliche) Theorien, die wir über die Welt aufstellen. Alles dies sind Vorstellungen von der Welt, die nur in unserem Bewusstsein existieren.64 „Die Welt ist meine Vorstellung“, bedeutet im Kern, dass die ganze Welt nur den Status eines Objektes beanspruchen kann in Beziehung auf ein Subjekt, das diese Welt als Objekt zu erkennen imstande ist. Dies ist für Schopenhauer die erste, unmittelbarste und gewisseste a priorische Wahrheit überhaupt (vgl. ebd.). Mit dem Ausspruch stellt er sich explizit in die Tradition der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes und sieht sich in direkter Nachfolge Berkeleys und vor allem von Kants Transzendentalphilosophie. Das Subjekt, der „Träger“ der Welt, ist für Schopenhauer nun „(d)asjenige, was Alles erkennt und von Keinem erkannt wird“ (WWV I, § 2, S. 33). Dieses Subjekt ist also jeder selbst als Erkennender, nämlich insofern er erkennt, nicht sofern er ein Objekt der Erkenntnis ist. Ein derartiges Objekt kann sich der Mensch im Erkennen allerdings auch selbst sein: Bereits der eigene Leib, den wir als Objekt erkennen können, zeigt die Dualität von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt. Der Leib als Objekt ist eine Vorstellung des erkennenden Subjekts und unterliegt vollständig den Gesetzmäßigkeiten der Objekt- und Vorstellungswelt, d. h. für Schopenhauer den Gesetzen von Raum, Zeit und vor allem: dem Satz vom zureichenden Grunde – also dem, was man häufig verkürzend als Kausalität bezeichnet.65 Dieser Satz vom Grunde, der bis in die Antike zurückzuverfolgen ist, und erstmals explizit von Leibniz formuliert ist, besagt vereinfacht, dass nichts ohne Grund ist (vgl. ZG, § 5, S. 18). Jede Veränderung (Wirkung) setzt demnach eine andere Veränderung (als Ursache) voraus. Der Satz ist, als eine Art „Urprinzip“ jedes Beweises, selbst nicht beweisbar: „Denn jeder Beweis ist die Zurückführung auf ein Anerkanntes, und wenn wir von diesem, was es auch sey, immer wieder einen Beweis fordern, so werden wir zuletzt auf gewisse Sätze gerathen, welche die Formen und Gesetze, und daher die Bedingungen alles Denkens und Erkennens ausdrücken, aus deren Anwendung mithin alles 64 Schopenhauer verwendet „Vorstellung“ weitgehend synonym zu dem, was Kant „Erscheinung“ nennt und benutzt selbst häufig diesen Terminus, der ganz analog sinnliche und verstandesmäßige Elemente umfasst. 65 Auch hier zeigt sich die Nähe zu Kant und dessen Unterscheidung von „empirischem“ und „intelligiblem Charakter“ (vgl. KrV, B 567/A 539; dazu auch Schopenhauer WWV II, Kap. 17, S. 202).
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Denken und Erkennen besteht; so daß Gewißheit nicht wieder aus andern Sätzen erhellen kann.“ (ZG, § 14, S. 35 f.)
Einen Beweis für den Satz vom Grunde zu fordern hieße demnach, dessen Charakter misszuverstehen. Denn dieser ist es gerade, der einen Beweis zu einem selbigen machen kann: „Jeder Beweis nämlich ist die Darlegung des Grundes zu einem ausgesprochenen Urtheil, welches eben dadurch das Prädikat WAHR erhält.“ (ZG, § 14, S. 36) Die Forderung nach einem Beweis des Satzes vom Grunde würde diesen also bereits als wahr voraussetzen und anerkennen, was zu einer zirkulären Struktur führen würde. Hier wird bereits deutlich, dass der Satz vom zureichenden Grunde nicht auf Kausalität im engeren Sinne beschränkt sein kann, dass es also nicht nur um Ursachen, sondern zumindest auch um Erkenntnisgründe gehen muss. Der Satz vom Grunde ist der gemeinschaftliche Ausdruck für alle bewussten Formen der Objekte (vgl. WWV I, § 2, S. 34).66 Jedes Objekt unterliegt demnach diesem Satz, steht also in einer notwendigen Beziehung zu anderen Objekten, die es bestimmen und zu weiteren Objekten, die von ihm bestimmt werden. Die möglichen Arten dieser gesetzmäßigen und a priori der Form nach bestimmbaren Verbindungen schlüsselt Schopenhauer in seiner Doktordissertation auf. Dabei macht er eine vierfache „Wurzel“ dieses Satzes aus. Der Satz vom Grunde bildet sozusagen, um im Bild zu bleiben, den „Stamm“ der sich verzweigenden Wurzeln, denen das notwendige Vorhandensein von Subjekt und Objekt im Erkenntnisprozess gemeinsam ist. Auf die Verzweigungen kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Kurz aufgegriffen werden soll allerdings der letzte Strang der Wurzel, da er aus zwei Gründen von Interesse für diese Arbeit ist: Zum einen ist in diesem bereits von einem „Willen“ die Rede. Dabei wäre v. a. zu prüfen, inwieweit dieser „Wille“ sich mit dem „Willen an sich“ aus dem Hauptwerk deckt. Zum anderen findet sich hier eine Vorgehensweise, die den Anspruch Schopenhauers offenbart, ins Innere der Welt vordringen zu wollen. Handeln die ersten drei Ausprägungen des Satzes vom Grunde von dem Verhältnis anschaulicher empirischer Vorstellungen (Grund des Werdens), abstrakter begrifflicher Vorstellungen (Grund des Erkennens) sowie a priori gegebener Anschauungen der Formen des Raumes und der Zeit (Grund des Seins) zueinander, so geht es Schopenhauer in dieser vierten Klasse (die den Grund des Handelns untersucht) um ein nur dem menschlichen Selbstbewusstsein gegebenes und zugängliches Objekt: nämlich um das eigene Subjekt. Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist die oben bereits angesprochene konstitutive Verbindung von Subjekt und Objekt: Jede Erkenntnis setzt unweigerlich ein Subjekt und ein Objekt voraus (vgl. auch ZG, § 41, S. 149 f.). Daher ist auch das Bewusstsein unserer selbst nicht einfach, sondern zerfällt ebenso wie bei der 66 Mit Fleischer (2001) kann man ihn auch als „Grundgesetz der Welt als Vorstellung“ bezeichnen (S. 83).
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Anschauung von anderen Objekten, in Erkennendes und Erkanntes. Nun erkennt sich das Subjekt selbst nach Schopenhauer als ein Wollendes. Das Objekt der Erkenntnis, das Erkannte ist in dieser vierten Klasse demnach der Wille. Denn das Subjekt kann sich laut Schopenhauer in dieser Erkenntnis nicht als Erkennendes erkennen. Es gibt für ihn kein Erkennen des Erkennens, weil dazu eine Loslösung der Erkenntnis vom Subjekt notwendig wäre (vgl. ZG, § 41, S. 150). Interessant daran erscheint für unseren Kontext insbesondere die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Welt: Wir haben nicht nur eine äußere Erkenntnis in der Sinnesanschauung, sondern auch eine innere, unmittelbare Selbsterkenntnis, die eben das Subjekt des Wollens, das Wollende bzw. den Willen zum Gegenstand hat (vgl. ZG, § 42, S. 151 f.). „Blicken“ wir in unser Inneres, so finden wir uns laut Schopenhauer immer als wollend. Zwar ist dieses Wollen begrifflich nicht sehr scharf umrissen, es hat „viele Grade, vom leisesten Wunsche bis zur Leidenschaft“, wie er sagt, und es fallen alle möglichen Affekte unter dieses Wollen, sowie „alle die Bewegungen unsers Innern, welche man dem weiten Begriffe Gefühl subsumirt“ (ZG, § 42, S. 152).67 Das Entscheidende an dieser Selbsterkenntnis als Wollende scheint aber zu sein, dass Schopenhauer hier meint, einen ersten Einblick in Vorgänge der Natur von Innen zu tätigen, und sozusagen einen Blick hinter die „Koulissen“ erlangen zu können (ZG, § 43, S. 154). Schauen wir uns die äußere Welt an, sehen wir immer und überall Ketten von Ursachen und Wirkungen. Aber was hierbei genau im Innern abläuft, wie eigentlich Wirkungen hervorgebracht werden, das erfahren wir dadurch nicht: „So sehn wir die mechanischen, physikalischen, chemischen Wirkungen, und auch die der Reize, auf ihre respektiven Ursachen jedes Mal erfolgen; ohne deswegen jemals den Vorgang durch und durch zu verstehn.“ (ZG, § 42, S. 153)
Und darum geht es Schopenhauer offensichtlich: um das Verstehen, und zwar „durch und durch“, wie er schreibt. Ein solches Verstehen will sich nicht mit einer an der Oberfläche bleibenden Erklärung zufrieden geben, sondern ins Innere der Phänomene vordringen. Denn letztlich würden uns sogar unsere eigenen Handlungen von außen betrachtet als Wirkungen von den ursächlichen Motiven genauso fremd und mysteriös bleiben müssen, „wenn uns nicht hier die Einsicht in das Innere des Vorgangs eröffnet wäre: Wir wissen nämlich, aus der an uns selbst gemachten innern Erfahrung, daß dasselbe Willensakt ist“ (ZG, § 42, S. 153; H.v. m.).
Insofern erfahren wir im eigenen Willensakt, der durch ein Motiv verursacht wird, ganz unmittelbar und „dem innersten Wesen nach“ (ZG, § 42, S. 154; H.v. m.), wie eine Ursache eine Wirkung hervorbringen kann. Motivation ist nach Schopenhauer somit „KAUSALITÄT VON INNEN GESEHN“ (ebd.). 67 Das Wollen umfasst also Affekte, Leidenschaften und Gefühle. Auch Hunger oder Trauer würde Schopenhauer z. B. als Affektionen des Willens auffassen, nicht etwa als Vorstellungen (vgl. WWV I, S. 152).
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Diese Stelle ist m. E. entscheidend für das Verständnis von Schopenhauers Auffassung der Welt als Wille und somit auch von Interesse für Nietzsches Wille zur Macht. An diesem Blick ins „innerste Wesen“ der Welt, dem Ansatz, das Rätsel in seinem eigenen Innern, „(i)m Herzen“ (WWV II, Kap. 19, S. 279) zu lösen, und nicht etwa in der Welt „draußen“ (HN I, S. 15) – Nietzsche spricht später davon, dem Leben selbst „in’s Herz und bis an die Wurzeln seines Herzens“ gekrochen zu sein (ZA II, 4, S. 147) –, lässt sich nämlich der grundlegende Impuls für die angesprochene Wendung nach innen ausmachen. Diese Gedankenbewegung nach innen – zu einer anderen, intuitiven und körperlichen Art des Erkennens, die sich vom rein diskursiven Denken unterscheidet – ist konstitutiv für die Herleitung der „Willensmetaphysik“ im Hauptwerk Schopenhauers. Und auch der spätere Analogieschluss von der unmittelbar gegebenen inneren Willenserfahrung auf das Ganze der äußeren Vorstellungswelt scheint hier bereits angelegt zu sein, wenn er schreibt, dass diese Erkenntnis die „unmittelbarste aller unserer Erkenntnisse“ sei, „ja die, deren Unmittelbarkeit auf alle übrigen, als welche sehr mittelbar sind, zuletzt Licht werfen muß.“ (ZG, § 43, S. 152 f.) Man kann demnach m. E. Boll (1924) zustimmen, wenn er schreibt, dass in der Dissertation bereits „deutlich die Keime der im Hauptwerk vollendeten Willensmetaphysik“ (S. 4) zu erkennen sind. Schopenhauer selbst spricht in der zweiten Auflage der Dissertation von einem „Grundstein meiner ganzen Metaphysik“ (ZG, S. 154), der hier angelegt sei. Allerdings darf der bislang thematisierte Wille auch nicht einfach mit dem Willen als Ding an sich, wie Schopenhauer ihn in seinem Hauptwerk entwirft, vollständig gleichgesetzt werden. Zwar hat er zum Zeitpunkt der Ausarbeitung seiner Dissertation bereits eine Ahnung von etwas, das außerhalb dieser Welt liegen muss, und das er vage als ein „besseres Bewusstsein“ zu fassen versucht. Der eigentliche Gedanke kommt Schopenhauer aber erst 1815, als er in sein Manuskriptbuch notiert: „Der Wille ist Kants Ding an sich: und die Platonische Idee ist die völlig adäquate und erschöpfende Erkenntniß des Dings an sich“ (HN I, S. 291). Der Wille aus seiner Dissertation ist diesem Willen zwar äquivok, bezeichnet aber doch noch eine andere Sphäre: Zum einen setzt Schopenhauer sich in seiner Dissertation mit dem Willen als etwas auseinander, das uns begegnet, wenn wir uns sozusagen selbst beim Handeln „zuschauen“. Er stellt fest, dass wir uns bei jedem Entschluss zu fragen berechtigt fühlen, warum wir eine Handlung begangen haben. Wir setzen also notwendig einen Grund bzw. eine Motivation als Ursache für eine Handlung voraus (vgl. ZG, § 43, S. 153). Die Analyse ist somit auf den Bereich von intentionalen Akten und ihrer Verursachung begrenzt, und erstreckt sich noch nicht auf die Welt als ganze. Darüber hinaus kann es als Hinweis verstanden werden, wenn oben gesagt wurde, dass wir uns beim Handeln zuschauen: Es geht hier tatsächlich um den Bereich der Anschauung, um eine Selbstbetrachtung des Menschen als Vorstel-
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lung. Und zwar sowohl im Hinblick auf sein Äußeres, seinen Leib, wie im Hinblick auf sein Inneres, seinen Willen: So wie wir unserem Leib beim Vollzug einer Handlung zusehen und ihn als einen Körper in einem raumzeitlichen Gefüge ansehen können, ist es uns auch möglich, einen Willen in unserem Inneren gleichsam als ein „Objekt“ des inneren Sinns auszumachen, das nicht im Raum, sondern ausschließlich in der Zeit erscheint. In beiden Fällen handelt es sich um eine Anschauung, und somit um die Welt als Vorstellung. Schopenhauer verlässt hier also noch nicht den Bereich der Erscheinungen, vielmehr dekliniert er die durchgängige Geltung des Satzes vom Grunde für die Welt als Vorstellung durch. Der bis hierher thematisierte empirische Wille (i. S. eines von Erkenntnis geleiteten und nach Motiven sich vollziehenden intentionalen Aktes) ist also, streng genommen, eine Erscheinung oder Vorstellung. Wie letztlich alle Erscheinungen von Schopenhauer als Erscheinungen eines Willens an sich interpretiert werden, so auch diese: Schopenhauer spricht sogar davon, dass diese Form des menschlichen Willens die „deutlichste Erscheinung des Willens“ (WWV I, § 22, S. 165) an sich überhaupt ist. Aber sie ist eben weiterhin Erscheinung, nicht Ding an sich. Dennoch deutet sich hier bereits die besondere „Funktion“ dieser Erscheinung an: Gerade wegen ihrer Deutlichkeit dient die Willenserfahrung nämlich später als „Brücke“, über die Schopenhauer gehen wird, um von der Welt der Vorstellungen zu der Welt des Willens an sich zu gelangen. Die eigene Willenserfahrung ist ihm die „enge Pforte zur Wahrheit“ und der „Schlüssel“ der Einsicht in das Innere aller Naturvorgänge.68 Daher verläuft m. E. die Trennlinie zwischen den beiden Willensbegriffen auch nicht immer ganz eindeutig.69 Festhalten lässt sich für unseren Kontext Folgendes: Auf die Frage, ob diese Welt noch mehr ist als unsere Vorstellung, gibt Schopenhauer eine Antwort, die sich in der vierten Wurzel des Satzes vom Grunde zumindest bereits andeutet: Es ist der Wille. bb) Die Welt als Wille Zu Beginn des zweiten Buches im ersten Band der „Welt als Wille und Vorstellung“ wiederholt Schopenhauer zunächst die Kritik u. a. im Hinblick auf die 68
Vgl. WWV I, § 19, S. 157; § 21, S. 163; WiN, S. 273 f.; WWV II, Kap. 18, S. 227. Dass die Rede vom „innersten Wesen“, vom Aufdecken des „Geheimnisses“, von der „Kausalität von innen gesehn“ und insbesondere der Terminus von der „inneren Erfahrung“ eigentlich schon eine vollzogene Wendung nach innen über den Bereich der Vorstellungswelt hinaus voraussetzen (so auch Gerhardt (1996), S. 55), kann vielleicht zu einem Teil damit erklärt werden, dass die hier zitierte zweite Auflage aus dem Jahre 1847 stammt, also fast dreißig Jahre nach dem Erscheinen der „Welt als Wille und Vorstellung“ veröffentlicht und vor allem wesentlich erweitert wurde. Man kann insofern an einigen Stellen durchaus, wie Schopenhauer selbst in der Vorrede zu dieser Auflage einräumt, den „Alten“ hören, der glaubt, dem Jungen „ins Wort fallen [zu] müssen“ und sich „in eigenen Exkursen über das Thema zu ergehn“ (ZG, S. 9 f.). 69
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„Aetiologie“, also für alle Zweige der Naturwissenschaft, die das Erkennen von Ursache-Wirkungsrelationen und die Erklärung von Veränderung in den Mittelpunkt stellen, wie Physiologie und Chemie, vor allem aber Physik und Mechanik. Diese begnügen sich nun seiner Auffassung nach damit, bestimmte Zustände der Materie durch andere, vorhergehende Zustände kausal zu „erklären“. Allerdings impliziert dieses Erklären kein wirkliches Verstehen: Schopenhauer stellt fest, dass auch eine vollkommene kausale Erklärung der gesamten Natur nicht mehr ist als ein „Verzeichniß der unerklärlichen Kräfte“ der Natur. Unter solche unerklärlichen Naturkräfte, „qualitates occultae“ wie er sie auch nennt, fallen z. B. die Schwerkraft, Magnetismus oder Elektrizität (WWV I, § 17, S. 147 f.). Kausale Erklärungen können für ihn nicht mehr leisten als eine „sichere Angabe der Regel“, also des Naturgesetzes, nach der die Erscheinungen in Zeit und Raum eintreten; „aber das innere Wesen der (. . .) erscheinenden Kräfte müßte sie (. . .) stets unerklärt lassen“, wie er sagt (ebd., S. 148 f.; H.v. m.). Von außen sind nur die „Bilder und Namen“ zu erkennen (ebd., S. 150), die für Schopenhauer zwar nicht bloß „Schall und Rauch“, sondern immerhin Vorstellungen sind, durch die wir aber eben nicht in den „Kern“ der Welt vordringen. Die Naturwissenschaft bleibt – hier wird die Vorläuferschaft zu Nietzsche deutlich – somit gewissermaßen an der Oberfläche der Phänomene und dringt nicht in die Tiefe, nicht zu deren Mittelpunkt vor. Schopenhauer versucht diesen Aspekt in einer Reihe von metaphorischen Annäherungen, immer wieder auch räumlichen Metaphern, zu fassen, die zeigen, wie sehr er um ein wirkliches Verständnis und eine adäquate, d. h. für ihn vor allem anschauliche, Vermittlung seiner Einsichten an diesem entscheidenden Punkt ringt70: So experimentiert er in seinen Aufzeichnungen zwischen 1814 bis 1815 mit dem Bild einer Kugel, auf dessen Oberfläche wir uns mit dem Satz vom Grunde herumbewegen, ohne ins Zentrum zu gelangen. Dieses Bild wird später aufgegriffen (vgl. WWV II, Kap. 25, S. 381); darüber hinaus ist im Hauptwerk u. a. die Rede von einem Schnitt durch „Marmor“, der uns zwar vielerlei Adern zeigen kann, nicht aber den Verlauf der Adern im Innern. Dort spricht er auch von einem „Schloß“, dessen Eingang wir vergeblich suchen und von dem wir einstweilen bloß die „Fassade“ skizzieren können. In einem humorvollen Bild zusammengefasst, müsste laut Schopenhauer, selbst bei einer vollendeten Aetiologie der ganzen Natur, dem Philosophen immer zumute sein, wie jemandem, der in eine ihm völlig unbekannte Gesellschaft geraten wäre, von deren Mitgliedern ihm immer eines das andere als Freund und Vetter vorstellte und bekannt machte; er selbst hätte unterdessen stets die Frage auf den Lippen, wie er überhaupt zu der ganzen Gesellschaft gekommen sei (vgl. WWV I, § 17, S. 149 ff.). Hier taucht, das ist der ernsthafte Hintergrund, der Anspruch wieder auf, die Welt 70 „Habt ihr mir Anschaulichkeit zugesprochen, so habt ihr mir alles zuerkannt.“ (HN III, S. 201) Zur Bedeutung von Anschauung, die Schopenhauer Begriffen überordnet, vgl. auch Spierling (2003), S. 19 f.
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„durch und durch“ verstehen zu wollen. Schopenhauer stellt immer wieder die Frage nach der Bedeutung des Ganzen, das sich dem Menschen als ein „Rätsel“ darstellt (WWV I, § 17 f., S. 145, S. 150 f.; § 24, S. 182). Insofern ist Safranski (1990) zuzustimmen, wenn er im Zusammenhang mit der Willensmetaphysik von einer „Hermeneutik des Daseins“ (S. 306) spricht. Schopenhauers Metaphysik des Willens ist demnach keine Analytik der empirischen Welt, es geht hier nicht darum – wie im ersten Teil, der Welt als Vorstellung – die Verbindungen des Seienden untereinander gemäß des Satzes vom Grund zu erklären. Sondern hier wird danach gefragt, was das Sein selbst ist. Schopenhauer selbst spricht häufig davon, dass es nicht um die Beantwortung einer Frage nach dem „Warum“, sondern einer Frage nach dem „Was“ geht. Der Punkt, an dem dieses Rätsel sich nun einerseits verschärft, sich jedoch andererseits die Möglichkeit einer spezifischen Lösung auftut, ist der menschliche Leib. Wie oben bereits ausgeführt, hat der Mensch einen zweifachen Zugang zu sich selbst: Einerseits kann er sich als Vorstellung betrachten und seinen Leib als raumzeitlichen Körper, als Objekt unter Objekten betrachten. Hier taucht das o. a. grundsätzliche Problem in noch deutlicherer Form wieder auf: Mittels dieser Zugangsweise würde dem Menschen nämlich letztlich sein eigenes inneres Wesen ebenso unerklärt bleiben wie das eines Steines (s. WWV I, § 15, S. 129). Seine Bewegungen, sein Verhalten und Handeln müssten ihm im Letzten fremd und unverständlich bleiben, wenn deren Bedeutung ihm nicht andererseits auf eine ganz andere Art „enträthselt“ wäre, und zwar durch das Wort „WILLE“ (WWV I, § 18, S. 151). Dieses Wort ist selbst zwar wieder ein „Wort des Räthsels“, wie es im Hauptwerk und auch in den naturphilosophischen Schriften heißt (WWV I, § 18, S. 151; WiN, S. 215). Dennoch benennt es nach Schopenhauer das zu beschreibende Phänomen besser, als alle anderen möglichen Begriffe, da in diesem Begriff die große Unmittelbarkeit der je eigenen Willenserfahrung Ausdruck findet. Es ist somit keineswegs gleichgültig, welches Wort verwendet wird: Wille ist für Schopenhauer nicht irgendein „bloßes Wort“, sondern geradezu ein „Zauberwort“ (WWV I, § 22, S. 165). Man kann sagen, dass „Wille“ der Name ist für die „Selbsterfahrung des eigenen Leibes“: Der Leib ist diejenige Realität, die ich nicht nur als Vorstellung habe, sondern die ich zugleich bin (Safranski (1990), S. 317; H.v. m.). Die Bedingung für die Erkenntnis des Willens ist also der Leib, an dessen Aktionen uns unser eigener Wille unmittelbar bekannt und bewusst wird (vgl. WWV I, § 18, S. 155). Dabei besteht nicht etwa ein Ursache-Wirkungsverhältnis zwischen dem Akt des Willens und der Aktion des Leibes, in dem Sinn, dass zuerst das Wollen da wäre, was im Folgenden ein Tun auslösen würde. Vielmehr denkt Schopenhauer Wollen und Tun als Einheit, die uns nur auf zwei verschiedene Weisen gegeben ist: einmal als Anschauung für den Verstand und einmal ganz unmittelbar als Wille. In letzterem Punkt kommen wir dem gesuchten inneren Wesen der Welt am nächsten, dem, was Schopenhauer „WILLE an sich“
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nennt. Die Aktion des Leibes ist „nichts anderes, als der objektivierte, d.h. in die Anschauung getretene Akt des Willens“ an sich (WWV I, § 18, S. 151). Und dies gilt nicht etwa nur für bewusste Handlungen nach Motiven, diese Stellen nur eine Art Spezialfall dar, sondern auch für Reaktionen des Körpers auf Reize und sogar für die gesamte „Organisation des Leibes“ (HN I, S. 227). Wurde der Leib in der Dissertation noch als „Objekt“ betrachtet, also sozusagen von der Vorstellungsseite aus, so wird er nun als „Objektität“, also als Manifestation und Ausprägung, des Willens selbst begriffen: „Die Theile des Leibes müssen deshalb den Hauptbegehrungen, durch welche der Wille sich manifestiert, vollkommen entsprechen, müssen der sichtbare Ausdruck derselben seyn: Zähne, Schlund und Darmkanal sind der objektivierte Hunger; die Genitalien der objektivierte Geschlechtstrieb; die greifenden Hände, die raschen Füße entsprechen dem schon mehr mittelbaren Streben des Willens, welches sie darstellen.“ (WWV I, § 20, S. 162)
Daher können wir, mit Nietzsche zu sprechen: am „Leitfaden des Leibes“ nicht nur zur Erkenntnis des Willens als Ding an sich kommen, sondern sogar Hinweise darauf erlangen, was der Wille will, wie Salaquarda (1994, S. 45 f.) ausführt. Dabei lassen sich drei Ebenen unterscheiden, und zwar erstens, was der Wille insgesamt will, was also der Grundzug des Lebendigen bzw. alles Seins überhaupt ist. Auf dieser Ebene lassen sich anhand der „Theile des Leibes“ die Selbsterhaltung (Zähne, Schlund und Darm zur Nahrungsaufnahme, Verdauung, Ausscheidung) sowie die Erhaltung der Artmerkmale (Genitalien zur Weitergabe der Gene) als Ziele des Willens ausmachen. Zweitens, was der Wille will, indem er ich in einzelnen Seinsstufen wie Gattungen und Arten des Lebendigen niederschlägt. Hier geben die Körper Hinweise darauf, in welchen konkretisierten Formen der Wille sich erhalten will. Krallen und Fangzähne sind in diesem Zusammenhang z. B. als Objektivationen eines Willens zum Angriff und zur Überwältigung zu lesen, während andere Körpermerkmale auf Flucht und Verteidigung hinweisen können (vgl. z. B. WiN, S. 231 f.). Und drittens kann durch den Körper erschlossen werden, was der Wille will, indem er sich in einem je individuellen Charakter manifestiert: Auf der individuell-menschlichen Ebene ist das wichtigste Werkzeug der Intellekt, sowohl zum Schutz vor Überwältigung als auch zur Überwältigung selbst. Eine weitere Funktion besteht in der Selbsterkenntnis, die auf Erfahrung angewiesen ist. Die „sicherste Auskunft“ liefert hierbei der Leib: „Erst je mein Handeln, die Aktionen meines Leibes, klären mich darüber auf, was ich wirklich will und das heißt, wer ich wirklich bin.“ (Salaquarda (1994), S. 46)
Die grundsätzliche Einsicht, dass der gesamte Leib die Manifestation des Willens an sich in der Welt als Vorstellung ist, stellt für Schopenhauer eine „Erkenntnis ganz eigener Art“ dar, die aus dem konkreten, direkten und unmittelbaren Bewusstsein stammt (WWV I, § 18, S. 154). Die Wahrheit dieser Erkenntnis lässt sich nicht unter eine der Kategorien bringen, die er in seiner Dissertation entfaltet (logische, empirische, metaphysische, metalogische), denn sie ist nicht
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die Beziehung einer Vorstellung zu einer anderen, sondern die Beziehung eines Urteils auf das Verhältnis zwischen Leib und Wille also zwischen einer anschaulichen Vorstellung und einem von dieser vollständig Verschiedenen, einem Ding an sich. Schopenhauer bezeichnet diese Wahrheit deshalb als Philosophische Wahrheit (kat’ ezochen) oder auch als Wunder (WWV I, § 18, S. 153), dessen Erklärung gewissermaßen seine gesamte Philosophie gewidmet ist (vgl. HN I, S. 433). Wir können zwar anschließend versuchen, diese Einsicht in den Bereich abstrakter Erkenntnis zu übertragen, sie kann dort aber nicht bewiesen oder hergeleitet werden, da sie selbst das so „intim“ Bekannte (WiN, S. 216, S. 275) mithin das Unmittelbarste schlechthin ist, und ihren Ort im Erleben, Fühlen und Wollen hat (vgl. WWV I, § 18, S. 154; § 21, S. 162). Um es ganz klar zu benennen: Schopenhauer setzt hier eine innere Erfahrung, ein „Gefühl“ (WWV I, § 21, S. 162), wie er ausdrücklich sagt, einen bestimmten Bewusstseinszustand voraus, den er anschließend durch seine vielfältigen Betrachtungen begrifflich zu untermauern sucht. Erneut Faust heranziehend, könnte man daher zugespitzt formulieren: „Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen“ (Goethe (1963), S. 25). Oder in den Worten Schopenhauers: „Im Herzen steckt der Mensch, nicht im Kopf.“ (WWV II, Kap. 19, S. 279) Weiter heißt es dort: „Zwar sind wir, in Folge unserer Relation mit der Außenwelt, gewohnt, als unser eigentliches Selbst das Subjekt des Erkennens, das erkennende Ich, zu betrachten, welches am Abend ermattet, im Schlafe verschwindet, am Morgen mit erneuerten Kräften heller strahlt. Dieses ist jedoch die bloße Gehirnfunktion und nicht unser eigenstes Selbst. Unser wahres Selbst, der Kern unseres Wesens, ist Das, was hinter jenem steckt und eigentlich nichts Anderes kennt, als wollen und nichtwollen, zufrieden und unzufrieden seyn, mit allen Modifikationen der Sache, die man Gefühle, Affektionen und Leidenschaften nennt.“ (WWV II, Kap. 19, S. 279)
Die Bedeutung der uns als Vorstellung gegebenen Welt könnten wir nie entschlüsseln, wenn wir ausschließlich „geflügelte Engelsköpfe ohne Leib“ wären, wie es Schopenhauer im ersten Band seines Hauptwerkes ausdrückt (WWV I, § 18, S. 150), also rein erkennende Subjekte. Damit dringt er bis an die Grenze der Vernunft vor, und geht teilweise darüber hinaus: „Schopenhauer glaubt hier weiter zu kommen als jeder andere vor ihm, weil der Weg nach innen in solche Tiefen führt, daß schließlich auch noch das Denken außen vor gelassen werden muß. Wenn auch noch die zureichenden Gründe äußerlich bleiben, dann hat man sich in ein derart abgründiges Inneres vorgewagt, wo auch das inwendige Medium allen Philosophierens, nämlich die Vernunft, ihren Dienst versagt. Daß Schopenhauer diesen wesenhaften Verzicht auf die Vernunft unter Aufbietung so vieler vernünftiger Einsichten nahegelegt und ihn durch ein rational durchgebildetes System auch noch zu begründen versucht, gehört zu den überragenden Leistungen seines Denkens.“ (Gerhardt (1996), S. 54)
Hier zeigt sich auch Schopenhauers Glaube an die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Metaphysik, den er im zweiten Band offen bekennt: Dort nennt er
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den Satz „ich glaube an eine Metaphysik“ (WWV II, Kap. 17, S. 204) das Credo aller Guten und Gerechten. Der Mensch wird von ihm als ein „animal metaphysicum“ konzipiert, als ein Tier, das mit einem metaphysischen Bedürfnis ausgestattet ist (vgl. ebd., S. 185). Unter Metaphysik versteht er „jede angebliche Erkenntniß, welche über alle Möglichkeit der Erfahrung, also über die Natur, oder die gegebene Erscheinung der Dinge, hinausgeht, um Aufschluß zu ertheilen über Das, wodurch jene (. . .) bedingt wäre; oder, populär zu reden, über Das, was hinter der Natur steckt und sie möglich macht.“ (WWV II, Kap. 17, S. 189)
Dabei nimmt die Metaphysik ihren Ausgangspunkt von Erfahrung und bleibt auf Erfahrung bezogen. Ihre Aufgabe sieht Schopenhauer hierbei nicht in der Beobachtung einzelner Erfahrungen, sondern in der Erklärung der Erfahrung im Ganzen (vgl. ebd., S. 210). Metaphysik umfasst dabei ausdrücklich nicht nur äußere Erfahrung, sondern ebenso die innere Erfahrung, die uns erst den „Schlüssel“ liefert für ein Verständnis für das Wesen der Dinge (ebd., S. 211). Das Ganze der Erfahrung gleicht laut Schopenhauer „einer Geheimschrift“, die von der Philosophie entziffert werden muss. „Wenn dieses Ganze nur tief genug gefaßt und an die äußere und innere Erfahrung geknüpft wird; so muß es aus sich selbst GEDEUTET, AUSGELEGT werden können“ (ebd., S. 212). Somit reißt sich die Metaphysik nie ganz von der Erfahrung los, sondern bleibt immanent (vgl. ebd., S. 213).71 Diese „Metaphysik a posteriori“ (Grün (2000), S. 89) stützt sich demnach, wie in diesem Abschnitt gezeigt werden sollte, auf eine unmittelbare Erfahrung, die vom Intellekt erst durch Abstraktion in einem zweiten Schritt erfasst wird – die unmittelbare Erfahrung des eigenen Leibes.72 cc) Analogieschluss von der individuellen Erfahrung auf die gesamte Welt Die Willenserfahrung am eigenen Leib ist der Schlüssel für das Verständnis des inneren Wesens jeder Erscheinung: Wenn mein Leib sowohl Vorstellung als auch Wille ist, kann es dann nicht sein, so fragt Schopenhauer, dass es sich so 71 Vgl. Nachwort Colli, KSA 5, S. 416. Zur empirischen Dimension von Schopenhauers Metaphysik vgl. Salaquarda (1989); Spierling (2002), S. 60 ff.; zur Bedeutung der inneren Erfahrung s. Gerhardt (1996), S. 54 f. 72 An dieser Stelle wird auch die Nähe der schopenhauerschen Konzeption zur Mystik und zur Indischen Weisheitslehre deutlich, die er intensiv rezipiert hat. Schopenhauer hatte über zwei Jahre hinweg (1815–17) in Dresden einen Philosophen namens K. Ch. F. Krause als Nachbarn, der Sanskrit beherrschte, und ihm auch einiges über Meditationstechniken beibringen konnte (dazu Safranski (1990), S. 303). Zu Nietzsches Kritik gerade an dieser mystischen Komponente vgl. N 1876/77, 23[173], 8, S. 467. Allerdings möchte Schopenhauer sein System explizit nicht allein auf ekstatische oder gar hellseherische Momente stützen, da jede so gewonnene Erkenntnis als „subjektiv, individuell und folglich problematisch“ angesehen werden muss, u. a. auf Grund ihrer fehlenden Mitteilbarkeit (WWV II, Kap. 17, S. 216).
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mit jedem (mir ebenfalls nur als Vorstellung zugänglichen) Objekt, verhält? Er bejaht diese Frage. Im Willen in der Natur zeigt er sich überzeugt, dass wir jedes Naturphänomen als Manifestation eines Willens auffassen würden, wenn wir zu diesem dieselbe „innere Relation“ hätten, wie zu unserem eigenen Organismus: „Denn der Unterschied liegt nicht in der Sache, sondern nur in unserem Verhältniß zur Sache. Ueberall wo die Erklärung des Physischen zu Ende läuft, stößt sie auf ein Metaphysisches, und überall wo dieses einer unmittelbaren Erkenntniß offen steht, wird sich, wie hier, der Wille ergeben.“ (WiN, S. 215)
Als Beispiel wird der Fall eines Stroms über Felsenmassen herangezogen und, unter Rekurs auf den britischen Astronomen Sir J. Herschel, die Frage gestellt, ob das „so entschiedene Streben“ des Wasserfalls ohne eine Kraftanstrengung vor sich gehen kann, und ob wir uns eine „Kraftanstrengung ohne Willen“ überhaupt vorstellen können. Letztlich meint Schopenhauer, dass wir jede ursprüngliche Bewegung, jede initiale Kraft in ihrem inneren Wesen als Willen verstehen müssen (vgl. WiN, S. 265). Kraft wird also als Wille gedacht, und nicht etwa Wille als Kraft (vgl. auch WWV I, § 22, S. 164 f.). Dies ist ein entscheidender Punkt, und, wie dargelegt, auch für den „Sieg über die Kraft“ und deren „Ergänzung“ bei Nietzsche von hoher Relevanz. Daher lohnt sich der Blick auf die Begründung für die terminologische Entscheidung. Schopenhauer wählt den Begriff Wille, da er der einzige Begriff ist, „welcher seinen Ursprung NICHT in der Erscheinung, NICHT in bloßer anschaulicher Vorstellung hat, sondern aus dem Innern kommt, aus dem unmittelbaren Bewußtseyn eines Jeden hervorgeht“ (ebd., S. 166). Der Wille gehört im Unterschied zur Kraft der Welt als Vorstellung zumindest nicht ausschließlich an und geht nicht vollständig in ihr auf.73 Darüber hinaus ist uns der Wille, wie oben dargelegt, unmittelbar zugänglich und gleichsam von innen her vertraut: „Führen wir daher den Begriff der KRAFT auf den des WILLENS zurück, so haben wir in der That ein Unbekannteres auf ein unendlich Bekannteres, ja, auf das einzig uns wirklich unmittelbar und ganz und gar Bekannte zurückgeführt und unsere Erkenntniß um ein sehr großes erweitert.“ (S. 166)
Wollten wir dagegen den Willen aus der Kraft erklären, würden wir von einem Unbekannteren auf ein Bekannteres schließen, und niemals über die Welt als Vorstellung hinausgelangen.74 73 Dazu auch Abel (1984), S. 37 sowie Gerhardt (1996), S. 57. Letzterer stellt, von diesem Punkt ausgehend, darüber hinaus eine „untergründige Verbindung zwischen Wille und Macht“ fest und legt dar, dass Schopenhauers Willenslehre mit einer „Philosophie der Macht“ zur Deckung zu bringen sei (S. 56 ff.). 74 Das ist im Übrigen sein Vorwurf an den Materialismus, nämlich aus dem Mittelbaren das Unmittelbare ableiten zu wollen. Zum komplexen Verhältnis von Schopenhauer zum Materialismus vgl. z. B. auch Schmidt (1977), S. 21–79 sowie (2004), S. 244 ff. Schmidt macht unter Bezug auf Horkheimer dabei starke materialistische Züge bei Schopenhauer aus. Spierling (1998) vertritt demgegenüber das komplexere Modell aufeinander aufbauender „Drehwenden“, bei dem die „einseitige Transzenden-
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Übertragen auf das o. g. Beispiel vom Stein hieße das, dass auch im Fallen eines Steines ein Wille wirkt. Nun ist sich Schopenhauer der verwirrenden Wirkung einer derartigen Aussage bewusst und betont, dass er nicht etwa die „tolle“ Meinung vertrete, dass der Stein wirklich ein bewusstes Motiv hätte, sich zur Erde zu bewegen. Das ist ein intellektualisiertes Verständnis von Willen, das für Schopenhauer nur einen Grenzfall, nicht den Normalfall markiert. Dies rührt aus einer falschen Übertragung eines spezifischen Teils unserer Bewegungen her, nämlich denen nach Motiven, die wir unweigerlich mit dem Begriff „Wille“ assoziieren. Bewegender Wille kann von Bewusstsein und Erkenntnis begleitet sein, muss es aber nicht. Auch in uns laufen schließlich die meisten Prozesse und Bewegungen unbewusst als reine Ursachen oder Reize ab. Das Streben des Steins zur Erde ist seinem Wesen nach daher als Wille zu verstehen, der unbewusst und blind zur Bewegung drängt.75 Nun ist diese Übertragung auf den Bereich der unorganischen Welt natürlich sehr problematisch (vgl. auch Gerhardt (1996), S. 54). Und zwar, weil uns die Objekte in der Welt anders als unser Leib, eben nicht als unmittelbar zugänglicher Wille gegeben sind, sondern bloß als Vorstellung. Zum Vorhandensein eines Willens in ihnen kann man also nur in Form eines Analogieschlusses kommen, wie Schopenhauer auch ausdrücklich einräumen muss. Ein derartiger Schluss verknüpft verschiedene Dinge an einem spezifischen Punkt. Der Punkt hier ist die doppelte Seinsweise, einerseits als Vorstellung, andererseits als Wille, die wir nur von uns selbst her kennen. Insofern ist dieser Analogieschluss eine Weltauslegung aus uns selbst heraus, ein ganz klarer Anthropomorphismus, wie auch Schopenhauer sieht: „Nur aus der Vergleichung mit Dem, was in mir vorgeht, wenn, indem ein Motiv mich bewegt, mein Leib eine Aktion ausübt, (. . .) kann ich Einsicht erhalten in die Art und Weise, wie jene leblosen Körper sich auf Ursachen verändern, und so verstehen, was ihr inneres Wesen sei.“ (WWV I, § 24, S. 182)
Mit Salaquarda (1994) kann man daher auch von einem „bewusst eingesetzten Anthropomorphismus“ sprechen (S. 48; H.v. m.).76 talphilosophie (. . .) durch den einseitigen Materialismus ergänzt [wird] (Drehwende 1)“ (S. 237) und beide Standpunkte, die zusammen die Welt als Vorstellung ergeben, wiederum den für sich einseitigen metaphysisch-relativen Standpunkt der Welt als Wille kompensierend zur Seite gestellt bekommen (Drehwende 2). Salaquarda (1994) macht durch die Hinwendung zum Leib ebenfalls die Möglichkeit eines „dritten Weges“ aus. 75 Schopenhauer zitiert an anderer Stelle auch Spinoza. Spinoza schreibt, dass der durch Stoß bewegte Stein, wenn er Bewusstsein hätte, glauben würde, sich aus eigenem Willen zu bewegen. Schopenhauer fügt dem als Pointe hinzu, dass der Stein Recht hätte. Denn auch wir sind letztlich verkörperter Wille, der sich sozusagen nur zusätzlich noch seiner selbst bewusst wird. Der Punkt, der uns vom Stein unterscheidet, ist also nicht der Wille, sondern das Bewusstsein. Was für den Stein der Stoß, ist für uns das Motiv. (Vgl. WWV I, S. 182) 76 Vgl. zu unterschiedlichen Interpreten und Positionen zu diesem Punkt Spierling (2002), S. 147, Anm. 73.
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Weiterhin dürfen wir laut Schopenhauer nicht den Fehler machen, dem Unorganischen Leben beilegen zu wollen. Anders als später bei Nietzsche, bei dem die Grenze zwischen Organischem und Unorganischen kaum mehr auszumachen sein wird, ist laut Schopenhauer diese Grenze ganz klar gezogen, und sie „aufheben wollen, heißt für ihn absichtlich Verwirrung in unsere Begriffe bringen.“ Leben ist für ihn das, bei dem die Form das Wesentliche und Bleibende ist und die Materie das Wechselnde. Bei dem Unorganischen verhält es sich genau andersherum. Also die Form wechselt, die Materie bleibt. Aber dem Unorganischen einen Willen beizulegen, ist nach Schopenhauer etwas anderes: Die Materie selbst ist bloß die Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit der Erscheinungen des Willens. Daher hat man in jedem Streben, jeder Bewegung ein Wollen zu erkennen. (Vgl. WiN, S. 266) Man kann also festhalten, dass Wille hier als innere, erste Ursache von Bewegung verstanden wird. Wille ist sozusagen „innere Bedingung“ für Bewegung, wie er es in der Physischen Astronomie ausdrückt. Das, was wir gewöhnlich als „Ursache“ bezeichnen, ist demgegenüber nur quasi der „äußere Anlass“ und kann, je nach Beschaffenheit des Bewegten als Ursache, als Reiz oder Motiv auftreten kann (WiN, S. 268). Der letzte Fall, das Motiv, in dem der Wille als bewusste Intention, als Absicht mit Ziel und Zweck auftritt, ist dabei nur als ein Spezialfall des eigentlich ziellos und blind waltenden und wuchernden Willens zu verstehen, der für ihn gleichzusetzen ist mit einem Willen zum Leben, von dem wir selbst als ganze wiederum Manifestationen darstellen (vgl. WWV II, Kap. 19, S. 280). dd) Zusammenfassung Ausgangspunkt der Überlegungen ist folgender: Alles ist uns äußerlich, die Welt ist uns Vorstellung, Erscheinung; wir können die Dinge an sich nicht erkennen. Schopenhauer spricht von einer „Festung“, die uneinnehmbar ist von außen. Also durch den diskursiven Verstand, durch das Herstellen von Verbindungen zwischen den Objekten gemäß dem Satz vom Grunde. (Vgl. WWV II, Kap. 18, S. 227) Aber es gibt eine Ausnahme: das eigene Wollen, das uns im Selbstbewusstsein gegeben ist, und dessen Träger der eigene Leib ist. Das Wollen ist ein äußerlicher Vorgang, der zugleich innerlich verstanden werden kann, sozusagen ein „unterirdischer Gang“ zur Festung der Welt, ein „Weg von INNEN“ (ebd.). Dies ist für Schopenhauer „die einzige und enge Pforte zur Wahrheit“ und, wie dargelegt, der „Schlüssel“ (ebd.) für das Verständnis des „innern Wesens der Natur“ (WiN, S. 274), auf das nur per analogiam geschlossen werden kann. Wir müssen die Natur und ihre Ordnung demnach verstehen lernen aus uns selbst und unserer „Organisation“ (WWV I, § 24, S. 182), nicht andersherum uns selbst aus der Natur verstehen wollen: „Das uns unmittelbar Bekannte muß uns die Auslegung zu dem nur mittelbar Bekanntem geben; nicht umgekehrt.“ (WWV II, Kap. 18, S. 227) Wir müssen aus der Lektüre unseres Lebens die „Hieroglyphen
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des allgemeinen Lebens“ verstehen lernen, wie Nietzsche richtig interpretiert (UB III, 3, 1, S. 357). Dadurch ist nicht mehr der Mensch, wie in der stoischen Tradition, als „Mikrokosmos“, sondern vielmehr die Welt als „Makanthropos“ (WWV II, Kap. 50, S. 747) aufzufassen.77 Trotzdem erlangen wir dadurch – und dies ist als erkenntnistheoretischer Vorbehalt immer mitzudenken – niemals eine vollkommen adäquate Erkenntnis des Dings an sich. Zwar entfaltet Schopenhauer im Verlauf seines Werkes verschiedene Stufen der Objektivation des Einen Willens an sich, die er unter Rekurs auf die platonische Ideenlehre als eine Art Muster für die konkreten Erscheinungen in Raum und Zeit ansieht. Und in seiner Ethik trifft er anschließend sogar weitreichende Aussagen dazu, wie man sich zu dem Willen an sich, den er als blinden, ständig drängenden und somit fortlaufend Leid verursachenden „Willen zum Leben“ identifiziert, verhalten soll: nämlich asketisch, ablehnend und verneinend.78 Letztlich basieren aber auch diese Objektivationen, obwohl sie noch frei von Raum, Zeit und dem Satz vom Grunde sind, auf der Trennung von Objekt und Subjekt, d. h., sie gehören bereits der Welt der Vorstellungen an, sind sozusagen die „erste Vorstellung“. Auf die Frage, was das innerste Wesen der Welt ist, kann man somit vor allem sagen: Es ist Wille an sich. Die Frage, was der Wille an sich eigentlich sei, ist laut Schopenhauer aber nie befriedigend zu beantworten. Dennoch – und das sollte hier v. a. dargestellt werden – ist die Wahrnehmung unseres eigenen Willens für ihn bei Weitem unmittelbarer, als jede andere, „und der Punkt, wo das Ding an sich am unmittelbarsten in Erscheinung tritt“ (WWV II, Kap. 18, S. 229).79 Der Wille ist und bleibt für Schopenhauer der Schlüssel zu einer intuitiven, leiblichen Erkenntnis des Wesens der Welt. 77 Vgl. zu diesem Punkt auch Gerhardt (1996), S. 52; ausführlich Spierling (2002), S. 129 ff., der die Interpretation der Welt als „Makanthropos“ gemäß seines Ansatzes der Schopenhauerinterpretation als „methodischen Perspektivenwechsel“ (S. 133) einschätzt, wobei er hier, wie an anderen Stellen auch (vgl. S. 15, S. 17, S. 22), auf die erkenntniskritischen Einschränkungen hinweist, denen diese Aussagen generell unterliegen. (Vgl. auch Spierling (1998), S. 69 f.) 78 Diese von Schopenhauer propagierte und durch ästhetische Kontemplation und asketische Techniken zu erzielende Willensverneinung ist einer der wesentlichen Kritikpunkte Nietzsches, da er in diesem Willen zum Nichts den Ausdruck, das „VerfallsSymptom“ einer sich gegen das Leben selbst richtenden Grundhaltung des Nihilismus und der Décadence sieht (vgl. z. B. N 1888, 17[8], 13, S. 529; ebd., 17[7]; 14[119], S. 298). Hühn (2002) macht in der scharfen Polemik Nietzsches jedoch auch eine große Nähe zu Schopenhauer aus, vor allem im Hinblick auf ihre gemeinsame philosophische Ausgangslage einer durch und durch negativ verfassten Wirklichkeit (vgl. S. 144). Schopenhauer verortet sie dabei auf Grund seiner Konzeption eines sich selbst dementierenden Willens bereits an der Schwelle zu einer neuen, aktiven Gestalt des Nihilismus, die er aber nicht überschreite. Aus dem „Nein zu dieser Welt und durch dieses hindurch die produktiven Funken des dionysischen Jasagens“ zu schlagen, sowie die Selbstüberwindungs- und Steigerungsdynamik des Willensgeschehens, sei daher Nietzsches Verdienst (S. 180 f.). 79 Die zwischen den unterschiedlichen Standpunkten und Gewichtungen in Schopenhauers Werk auftretenden Spannungen, Ambivalenzen und teilweise auch Widersprüche
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2. Nietzsches Willenskonzeption Auch Nietzsche vollzieht, wie dargelegt, eine Wendung nach innen. Im Verlauf dieser Wendung führt er die dynamischen Kräfte, denen sein Interesse gilt, auf einen Willen zur Macht zurück, und muss sich somit – bei aller Bemühung, mit der er an anderen Stellen menschliche Projektionen entlarvt – letztlich auf einen Anthropomorphismus stützen: „Es hilft nichts: man muß alle Bewegungen, alle ,Erscheinungen‘, alle ,Gesetze‘ nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen“, wie er es in dem bereits mehrfach herangezogenen Fragment ausdrückt, und sich nolens volens „der Analogie des Menschen zu Ende bedienen“ (N 1885, 36[31], 11, S. 563; H.v. m.).80 Während im vorangegangenen Abschnitt – insbesondere durch den Rekurs auf Schopenhauer, dessen System wie gezeigt ebenfalls auf einem anthropomorphen Fundament ruht – plausibilisiert werden sollte, dass Nietzsche überhaupt auf einen Willen kommt, als Lösungsansatz für das Problem einer ursächlichen, von innen heraus bewegenden Kraft, soll in diesem Kapitel zunächst erläutert werden, was Nietzsche unter Wille im Einzelnen verstehen könnte. Die Frage, wohin dieser Wille strebt, was eigentlich gewollt wird, leitet dann zu Kapitel II. 3. über, in dem das Verhältnis von Macht und Wille als Einheit im Willen zur Macht untersucht wird. Was ist also Wille für Nietzsche? Diese Frage eindeutig zu beantworten, ist nicht ganz leicht. Denn was nach Nietzsche unter einem Willen genau zu verstehen ist, ist nicht sehr klar. Vielmehr ist der Wille in gewisser Hinsicht geradezu dadurch charakterisiert, unklar, komplex und vielheitlich zusammengesetzt zu sein. Wille ist für Nietzsche „vor Allem etwas Complicirtes, Etwas, das nur als versucht Spierling in einer Rekonstruktion des gesamten Werkes als „einer eingeschriebenen, impliziten Logik“ folgend zu interpretieren. Dazu entwirft er die Methodenfigur der „Kopernikanischen Drehwende“ (S. 223 ff.). 80 Bereits 1872 räumt Nietzsche ein, „daß alle Weltconstruktionen Anthropomorphismen sind“ (N 1872/73; 19[125], 7, S. 459) und zählt im Hinblick auf die Vorsokratiker eine Reihe ethischer und logischer Anthropomorphismen auf (vgl. N 1872/73, 19[116], 7, S. 457). Dieser Gedanke fließt dann in Die Philosophie des tragischen Zeitalters der Griechen ein (vgl. PhtZ, 1, S. 847). Generell konstatiert Nietzsche zu dieser Zeit: „Jetzt kann die Philosophie nur noch das R e l a t i v e aller Erkenntniß betonen und das A n t h r o p o m o r p h i s c h e , so wie die überall herrschende Kraft der I l l u s i o n . “ (N 1872/73, 19[37], 7, S. 429) Und in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne bezeichnet er in der berühmten Formulierung Wahrheit als ein „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen“ (WL, 1, S. 880; H.v. m.), die durch den Gebrauch zu festen Konventionen geworden sind. Später macht er aus psychologischer Sicht darauf aufbauend einen „personenbildender Trieb“ im Denken ausfindig: „Nichts wird dem Menschen schwerer, als eine Sache unpersönlich zu fassen: ich meine, in ihr eben eine Sache und keine Person zu sehen; ja man kann fragen, ob es ihm überhaupt möglich ist, das Uhrwerk seines personenbildenden, personendichtenden Triebes auch nur einen Augenblick auszuhängen.“ (MA II, 26., 2, S. 389) Zum Anthropomorphismus des Willens zur Macht auch Gerhardt (1996), v. a. S. 330 ff.
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Wort eine Einheit ist“ (JGB 19, 5, S. 32)81, eigentlich jedoch ein Komplex von „Ingredienzien“ wie „Fühlen“ und „Denken“ (ebd.) darstellt. Nietzsche misstraut der Eindeutigkeit der Sprache, und besteht darauf, dass etwas, das mit einem Wort bezeichnet wird, nicht unbedingt ein Vorgang sein müsse: „Wollen, Begehren, Trieb“ sind ihm dagegen „complicirte Dinge!“ (N 1880, 5[45], 9, S. 191) Ebenso misstraut er, obwohl selbst in hohem Maße auf introspektive Momente angewiesen82, der Eindeutigkeit und Unmittelbarkeit des introspektiven Zugangs zum Willen, die Schopenhauer betont. Er äußert sich wegen der hohen Täuschungsanfälligkeit skeptisch gegenüber unseren Augen und Ohren (z. B. N 1876/77, 23[150], 8, S. 458) und lehnt einen „unmittelbaren Blick auf das Wesen der Welt, gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung“ als „schlimmste Mystik“ (N 1876/77, 23[173], 8, S. 467) ab: „Es giebt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, dass es ,unmittelbare Gewissheiten‘ gebe, zum Beispiel ,ich denke‘, oder, wie es der Aberglaube Schopenhauer’s war, ,ich will‘: gleichsam als ob hier das Erkennen rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bekäme, als ,Ding an sich‘, und weder von Seiten des Subjekts, noch von Seiten des Objekts eine Fälschung stattfände.“ (JGB 16, 5, S. 29)
Einfach und unmittelbar ist uns vom Willen dagegen seiner Auffassung nach „gar nichts bewusst.“ (N 1876/77, 22[56], 8, S. 388) Die gefundene „innere Welt“ selbst ist vielmehr „voller Trugbilder und Irrlichter“ (GD, 6, S. 91). Nietzsche sieht es daher als viel komplizierter an, den Komplex heterogener Elemente, den man gemeinhin als „Wille“ bezeichnet, aufzuschlüsseln.83 Eine Möglichkeit, den Gefahren einer „Selbst-Bespiegelung des Geistes“, die er vor allem darin sieht, dass es für dessen Funktion gerade notwendig sein könnte, „sich falsch zu interpretiren“, hofft er dadurch umgehen zu können, dass er seinen Ausgangspunkt vom Leib nimmt (N 1885, 40[20], 11, S. 638 f.). In Aphorismus 19 von Jenseits von Gut und Böse versucht er auf dieser Basis eine detaillierte phänomenologische Beschreibung des Willenserlebnisses zu liefern: Wille besteht demnach zunächst einmal aus einer „Mehrheit von Gefühlen“; z. B. dem Gefühl für einen Zustand, dem Gefühl zu diesem Zustand „hin“ oder weg“ kommen zu wollen, von dem „Gefühl von diesem ,weg‘ und ,hin‘ selbst“ sowie aus dem „begleitenden Muskelgefühl“ (JGB 19, 5, S. 32). Hier offenbart sich eine deutliche Nähe zum Kraftbegriff (s. u.). 81 Vgl. dazu generell auch das Nachlassnotat 38[8] aus dem Jahre 1885, 11, S. 606 ff., das große Überschneidungen mit dem zitierten Aphorismus aufweist. 82 Vgl. als ein Beispiel N 1876/77, 23(12), 8, S. 406 ff. Dort stellt er gegen Schopenhauer gewandt die Frage, ob es denn wahr sei, daß, wenn der Mensch in sein Inneres blickt, er sich als E r h a l t u n g s t r i e b wahrnimmt“. Nietzsche verneint dies und macht – ebenfalls introspektiv – an dieser Stelle noch einen „Willen zur Lust“ aus, der allerdings bereits die Existenz von Erfahrung und Intellekt voraussetze und somit „keine erste ursprüngliche Thatsache“ wie der Wille zum Leben Schopenhauers sei. 83 Vgl. zu einer Deutung von Wille als „Empfindungscomplex(.)“ bereits N 1872/73, 19[159], 7, S. 469.
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Wichtig ist darüber hinaus zu sehen, dass Wille nicht nur aus Fühlen besteht, sondern laut Nietzsche zweitens auch aus „Denken“. Es kommt also ein Vernunftmoment hinzu. Dies war bereits im „Sieg über die Kraft“ zu sehen. Nietzsche hat dort den „Grad der Vernunft“ in jeder Kraft als entscheidend angesehen. Den Willen vollständig vom Intellekt zu trennen, und ihn wie Schopenhauer als blind und unbewusst aufzufassen, ist für Nietzsche nicht möglich, der Eindruck eines reinen Willens stellt ihm eine Täuschung dar (vgl. N 1876/77, 23[80], 8, S. 431). Wille ist dagegen immer auch durchtränkt von Meinungen, Wertschätzungen, Urteilen usf. (s. N 1880, 5[46], 9, S. 192). Es gibt in jedem Willensakt einen „commandirenden Gedanken“ (JGB 19, 5, S. 32; H.v. m.), der untrennbar mit dem Willen verbunden ist. Dies leitet zum dritten Moment des Willens über: Denn der Aspekt des Kommandos findet sich nicht nur in den kognitiven Facetten des Willens wieder, sondern auch in den affektiven: Der Wille beinhaltet einen „Affekt des Commando’s“; also eine Art Überlegenheits-Zustand oder -empfinden, das daraus resultiert, dass einem Befehl Folge geleistet wird. Mit einem Kommando wird ein Entschluss gefasst, etwas festgelegt und durchgesetzt – auch und gerade gegen sich selbst. Zu wollen heißt immer auch, sich selbst zu befehlen (vgl. z. B. N 1880, 6[119], 9, S. 225). „Ein Mensch der w i l l –, befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es gehorcht.“ (JGB 19, 5, S. 32) Somit verweist der Wille bereits durch seine innere Verfasstheit auf die Notwendigkeit einer Macht hin, und sei es in Form einer reinen Durchsetzungsmacht gegen sich und andere. Unter Punkt eins ist bereits auf die Nähe zu den Ausführungen zur Kraft verwiesen worden. Diese zeigt sich in der aufschlussreichen Beschreibung von Wollen als „vielerlei Fühlen“, das als Anziehung und Abstoßung sowie als „begleitendes Muskelgefühl“ charakterisiert wird. Denn Anziehung und Abstoßung, die Erfahrung von (Muskel-)kraft und das Gefühl der Kraftausübung sind, wie dargelegt, signifikante Aspekte auch für Nietzsches Kraftbegriff (vgl. II. 1.). Wille ist nicht isoliert von Kraft zu betrachten, es ist nicht möglich, die Kraft abzuziehen und einen Willen zurückzubehalten. Man muss nach Nietzsche, wie gegen Ende des Kapitels über die Kraft dargelegt, vielmehr versuchen „alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird“ als „Willenskraft, Willens-Wirkung“ zu begreifen (JGB 36, 5, S. 55; dazu auch N 1885, 40[37], 11, S. 647). Daran anschließend ist ein weiteres Charakteristikum des Willens in der Relationalität auszumachen: Ebenso wie Kräfte nur in Relation zu anderen Kräften als solche wirken können, so kann auch „,Wille‘ (. . .) natürlich nur auf ,Wille‘ wirken – und nicht auf ,Stoffe‘“, wie z. B. Nerven (JGB 36, 5, S. 55).84 Die Im84 Deleuze (2002) pointiert dazu: „Der Begriff der Kraft ist folglich bei Nietzsche der einer Kraft, die sich auf andere Kraft bezieht: Unter diesem Aspekt heißt die Kraft ,Wille‘“ (S. 11). Interessant scheint in diesem Kontext auch ein Fragment aus dem Jahr
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plikationen dieser Sicht sind weitreichend, denn „man muss die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo ,Wirkungen‘ anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt“ (ebd.). „(D)ie einzige Kraft die es giebt, ist gleicher Art wie die des Willens: ein Commandiren“ (N 1885, 40[42], 11, S. 650), wie Nietzsche gerade auch mit Blick auf Organismen feststellt.85 Gerade dieses Kommandieren ist auch der Grund für Nietzsche, Gefühle und Denken nicht als die einzigen Bestandteile des Willens anzusehen sowie davor zu warnen, „Begierde, Instinkt, Trieb [als] das Wesentliche am Willen“ zu betrachten (N 1887, 9[169], 12, S. 435). Entscheidend für den Willen scheint ihm, wie dargelegt, der „Affekt des Commando’s“ zu sein (JGB 19, 5, S. 32). In der Fröhlichen Wissenschaft konstatiert er im Willen, „als Affekt des Befehls, das entscheidende Abzeichen der Selbstherrlichkeit und Kraft.“ (FW 347, 3, S. 582) Er macht in allem Wollen ein „Befehlen und Gehorchen“ (JGB 19, 5, S. 33) aus, ein Hinweis auf die enge Verknüpfung von Wille mit Macht bzw. Herrschaft. Gerhardt (1996) betrachtet Nietzsches Rede vom Willen denn auch als bewusste „terminologische Entscheidung“ (S. 218). Neben dem dynamischen Aspekt wird durch diesen Begriff v. a. der innere, nicht-physikalische Ursprung allen Geschehens betont (vgl. ebd.). Über die Abgrenzung des Willens von Trieben, Instinkten etc. hinaus stellt sich die Frage, ob der Wille als Einheit oder Vielheit gedacht werden soll. Das bisher Gesagte weist eindeutig in die Richtung, Willen als etwas Zusammengesetztes, Vielheitliches zu verstehen. Dies erscheint insofern plausibel, dass Nietzsche auch den Leib, der die „Grundlage“ des Wollens bildet, als „ein[en] Gesellschaftsbau vieler Seelen“ auffasst (JGB 19, 5, S. 33). Dies ist auch ein weiterer Unterschied zu Schopenhauers Willenskonzeption, bei der die Formenvielfalt der Erscheinungswelt auf einen metaphysischen Einheits-Willen „als Ding an sich“ (WWV I, § 23, S. 166) zurückgeführt wird, wie in der Literatur auch immer wieder benannt.86 Dieser Wille ist nach Schopenhauer nicht nur „frei von aller VIELHEIT“, sondern liegt außerhalb „der Möglichkeit der Vielheit“ (ebd., S. 167). Nietzsche lehnt den Willen als Ding an sich dagegen ab. Es gibt für ihn generell „kein ,Wesen an-sich‘“ (N 1888, 14[122], 13, S. 303) der Dinge mehr, erst recht nicht verstanden als feste Einheit, sondern „immer nur eine Vielheit relationaler Beziehungsgeflechte“ (Abel (1984), S. 65).87 „Die Relationen con1885, in dem Nietzsche versucht, Kraft als „Einheit zu denken, in der Wollen Fühlen und Denken noch gemischt und ungeschieden sind“ (N 1885, 40[37], 11, S. 646). 85 Ausführlich dazu Müller-Lauter (1999), S. 125 f. 86 Vgl. z. B. Abel (1984), S. 65. Auch für Deleuze (2002, S. 11 f.) ist „der Punkt, der den Bruch zwischen Nietzsche und Schopenhauer markiert, (. . .) präzis dieser: Es geht um die Frage, ob der Wille einzig oder vielfach ist.“ 87 So wie auch Erkennen immer heißt „,sich in Bedingung setzen zu etwas‘“ und ein „Feststellen“ ist und „nicht ein Ergründen von Wesen, Dingen, ,An-sichs‘ (N 1885, 2[154], 12, S. 142).
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stituiren erst Wesen“ (N 1888, 14[122], 13, S. 303), wie er klar feststellt. Diese Relationalität gilt auch für den Willen, und zwar in Bezug auf andere Willen sowie in Bezug auf sich selbst, da er in sich vielheitlich verfasst ist, wie sich bereits im Eingangszitat zeigt, in dem Nietzsche ihn als „zugleich Eins und ,Vieles‘“ bezeichnet (N 1885, 38[12], 11, S. 610). Vor diesem Hintergrund müssen auch Nietzsches Aussagen, dass es gar keinen Willen gebe, eingeordnet werden.88 Zum einen als Zurückweisung der Willensmetaphysik Schopenhauers: „Es giebt keinen Willen“ (N 1887/88, 11[73], 13, S. 36) als „Eines“ (WWV I, § 23, S. 167), der uns darüber hinaus auch noch bekannt und einfach zugänglich ist, wie bei Schopenhauer, sondern allenfalls „Willens-Punktuationen“ (N 1887/88, 11[73], 13, S. 37). Zum anderen als Ablehnung der Vorstellung eines Willens als „Seelenvermögen“ und freier Wille (Heidegger (1961), Bd. 1, S. 48; dazu auch Gerhardt (1996), S. 220). Letzterer ist für Nietzsche „das Wunderlichste am Willen“, nämlich, „dass der Wollende (. . .) glaubt, Wollen genüge zur Aktion“ und somit von einer „Nothwendigkeit von Wirkung“ ausgeht (JGB 19, 5, S. 32 f.). Nietzsche sieht in dem Gefühl des (freien) Wollens etwas Nachgelagertes. „(E)s giebt plötzliche Explosionen von Kraft: das subjektive Gefühl ist ,freier Wille‘ dabei.“ (N 1883, 16[20], 10, S. 506) Insofern lässt er Zarathustra sagen: „Wollen befreit: das ist die wahre Lehre von Wille und Freiheit“ (ZA II, 4, S. 111). Wille existiert in dieser Sicht nur als Epiphänomen einer Kraftauslösung. Dem Willen kommt hier eher der Charakter eines Ereignisses zu, auf das verschiedene Faktoren einwirken (vgl. Günzel (2004), S. 207), er wird zu einer „Resultante“ von Reizen (AC 14, 6, S. 180). Zu beachten ist weiterhin, dass „in den allermeisten Fällen nur gewollt worden ist, wo auch die Wirkung des Befehls, also der Gehorsam, also die Aktion erwartet werden durfte“ (JGB 19, 5, S. 33). Wollen hängt somit im weitesten Sinn auch mit Können zusammen (dazu auch Gerhardt (1996), S. 225 f.). Ob man also beispielsweise einer Gruppe vorangehen will als Anführer bzw. „Hirt“ einer „Heerde“, oder eigenständig für sich gehen, hängt vom Können ab (N 1887/88, 11[1], 13, S. 9). „Man soll von sich nichts wollen, was man nicht kann“ (ebd.). Dies unterscheidet den Willen vom reinen Wunsch (s. auch Heidegger (1961), Bd. 1, S. 50 f.) und verweist erneut auf die enge Verbindung des Willens mit Macht. Damit sind einige zentrale Facetten der Willenskonzeption von Nietzsche grob umrissen, ohne damit jedoch einen Anspruch auf Eindeutigkeit des Willensbegriffs zu erheben, der Nietzsche selbst, wie dargelegt, skeptisch gegenüber steht.89 Ebenso sind bereits einige Merkmale des Willens, die auch in die Formel vom Willen zur Macht einfließen, benannt. Als letztes derartiges Merkmal ist 88
Vgl. beispielsweise N 1883/84, 24[32], 10, S. 663; N 1888, 12[122], S. 302. In dieser Skepsis einer derartigen Definition von „Wille“ folgen ihm auch Heidegger (1961), Bd. 1, S. 70 sowie im Anschluss Müller-Lauter (1999), S. 47, Anm. 64. 89
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hier abschließend anzuführen, dass jedes Wollen immer schon ein „Etwas-Wollen“ ist, also ein Wollen in eine Richtung und mit einem Inhalt (N 1887/88, 11[114], 13, S. 54).90 Die Frage danach, wohin der Wille drängt, was er will, ist Thema des nächsten Kapitels. 3. Wille und Macht im Willen zur Macht Was ist also der „Inhalt, das Wohin“ (N 1888, 14[121], S. 301) des Willens? Genau betrachtet, ist schon die Frage problematisch, da sie die Möglichkeit suggeriert, man könne den Willen von seinem Inhalt und seiner Richtung trennen. Dadurch würde dieser aber nach Nietzsche, wie in Psychologie und der Metaphysik Schopenhauers der Fall, „ein bloßes leeres Wort“, eine „ungerechtfertigte Verallgemeinerung“, die es, wie im vorigen Kapitel dargelegt, für ihn so „gar nicht giebt“ (ebd.). Dennoch kommt Nietzsche nicht umhin, den Willen als Terminus zu benutzen. Gerhardt (1996) versucht, diese auf den ersten Blick widersprüchliche Haltung durch die Unterscheidung zwischen Nietzsches Metaphysikkritik auf der einen und dem Konzept einer Experimentalphilosophie91 auf der anderen Seite zu erhellen (S. 219). Hinter ersterer stehe die kritische Intention, „die substantielle Auffassung vom Willen als einem wirkenden Vermögen im handelnden Subjekt“ zu destruieren. Letztere dagegen sei der Suche „nach einem Wort für alle auf ,Etwas‘ gerichteten Kraftäußerungen“ geschuldet, die schließlich „im ,Willen zu . . .‘, streng genommen nur im ,Willen zur Macht‘“ ende. Nietzsches Vorgehen lässt sich somit im Sinne einer Strategie deuten, die eine negative, abgrenzende und kritisierende und eine positive, konstruktive Richtung verfolgt. Dabei „spielt“ Nietzsche verschiedene Perspektiven „durch“, greift experimentell immer wieder auch auf Termini zurück, denen er die Existenz in einem absoluten Sinne an anderer Stelle abspricht. Dies ist insofern kein sinnloses Vorgehen, als uns die Verwendung von Begriffen wie „Wille“ ja nicht vollständig unverständlich ist, sondern augenblicklich bestimmte Assoziationen geweckt werden, und wir durchaus einen Eindruck davon gewinnen können, was Nietzsche meint. Auch wenn es den Willen als isolierten, vom Ich ausgehenden Impuls nicht gibt, hat es somit dennoch „eine Bedeutung, von den Phänomenen,
90 Vgl. z. B. auch N 1888, 14[121], 13, S. 301. Zu diesem Punkt ebenfalls Colli, Nachwort KSA 13, S. 659, Abel (1984), S. 66 und Gerhardt (1996), S. 227. 91 Zu einer übersichtlichen Rekonstruktion von Nietzsches „Experimental-Philosophie“ vgl. Gerhardt (1988e; s. auch Teil 2 A. I. dieser Arbeit.). Die „,Lehre vom Willen zur Macht‘“ wird dort „zum dogmatischen Bestand der Experimental-Philosophie“ hinzugerechnet bzw. als deren „genuiner Bestandteil“ (S. 174) gesehen. Das impliziert, dass die Experimental-Philosophie sich nicht auf „Sicherheiten im Jenseits oder im Diesseits“ stützen kann, sondern Ausdruck ist für „die agonale, pluralistisch-individuelle, mobil-momentane, ganz und gar relative, in sich triebhaft gespannte Entladung der Willen zur Macht“ (S. 175).
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denen in der Tradition absolute Seinsweisen unterstellt werden, zu sprechen“ (ebd., S. 226). Man kann sich Prozesse, gerade aus dem Bereich des Lebendigen, oft nur so vorstellen, als ob ein Wille in ihnen wirke. Wille wird dabei von einem Gegenstand zu einem Zeichen, „ein von uns gedeuteter Ausdruck der lebendigen Kräfte“ (Gerhardt (2006), S. 190). Hilfreich erscheint in diesem Kontext auch die Unterscheidung E. Dührings zu sein, der das „Wort Wille“, das häufig „zu einer falschen Verdinglichung“ geführt habe, vom wirklich vorhandenen „Wollen“ unterscheidet (Dühring (1875), S. 186).92 Aus diesem Blickwinkel kann Nietzsche wohl derart interpretiert werden, dass es zwar das Erlebnis und die Interpretation eines konkreten Wollens gibt, nicht aber einen von Können, Richtung und Inhalt isolierten Willen an sich.93 Wille benötigt die Konkretion und wurde oben bereits als Etwas-Wollen charakterisiert. Menschlicher Wille „ b r a u c h t e i n Z i e l , – und eher will er noch d a s N i c h t s wollen, als n i c h t wollen.“ (GM III, 1, 5, S. 339). Der Kern dieses Wollens ist ein Wollen von bzw. zur Macht, so wie jedes Streben „nichts anderes als Streben nach Macht (. . .) nach Mehr von Macht“ ist (N 1888, 14[82], 13, S. 262). Macht bildet somit den dritten Aspekt der Formel vom Willen zur Macht. Vorweg ist zu erwähnen, dass Nietzsche, obwohl die Thematisierung von Machtzusammenhängen – teilweise implizit, teilweise explizit – sein gesamtes Werk durchzieht, an keiner Stelle eine Definition oder Analyse der Macht liefert. Macht wird nicht als Terminus technicus eingeführt, sondern in ungezwungener Weise für diverse Kontexte natürlicher, alltäglicher, persönlicher, psychologischer, sozialer, politischer, historischer, ästhetischer Art usf. verwendet. Ohne an dieser Stelle detailliert auf diese Kontexte im Einzelnen sowie auf die Entwicklung der Macht in Nietzsches Gesamtwerk eingehen zu können, soll zumindest noch einmal kurz der psychologische Hintergrund von Nietzsches Machtkonzeption hervorgehoben werden, der neben der naturwissenschaftlichen Anregung, wie sie im Zusammenhang mit dem Kraftbegriff dargestellt worden ist, einen weiteren wichtigen Parameter für das Konzept vom Willen zur Macht darstellt.94 92 Wollen wird von Dühring aufgefasst als „Erzeugniss der Zusammensetzung der antreibenden Kräfte des in den Trieben und Leidenschaften enthaltenen Strebens mit den verstandesmässigen Richtungsbestimmungen“ (ebd.). 93 Zum „Willen“ als „Begleiterscheinung“ des Wollens auch N 1884, 27[2], 11, S. 275. 94 Zu einer ausführlichen Darstellung vgl. Gerhardt (1996), der nach einer allgemeinen Analyse der anthropologischen, metaphysischen und politischen Momente der Macht (S. 7–81), diese in Nietzsches Entwicklung vom Frühwerk, über die mittlere Periode bis hin zum Spätwerk nachzeichnet (S. 85 ff.) und in diesem Zusammenhang auch im Besonderen auf die Psychologie der Macht eingeht (S. 125 ff.). Laut Kaufmann (1988), der sich ebenfalls ausgiebig der psychologischen Dimension von Nietzsches Werk widmet, ist der Wille zur Macht „wenigstens zu Beginn (. . .) als eine psychologische Hypothese“ konzipiert gewesen (S. 215).
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Eingangs ist bereits darauf hingewiesen worden, dass das erste Auftauchen des Willens zur Macht als Formel in eine Zeit fällt, in der sich Nietzsche intensiv mit der menschlichen Psyche auseinandersetzt. Er versucht die Verhaltensweisen der Menschen dabei immer wieder dadurch zu erklären, dass er sie, häufig in kränkend entlarvender Manier, auf psychologische Momente wie Furcht, Lust, Stolz, Eitelkeit, Egoismus usw. und insbesondere auf das Gefühl der Macht zurückführt. In den Ausführungen dieser Jahre werden diverse Themenkomplexe, die neben Konformismus, Gier und Grausamkeit, u. a. Mitleid, Selbstlosigkeit und Selbsterniedrigung, Moralität, Dankbarkeit, Freiheitsdrang, Liebe und Vieles mehr umfassen, aus einer psychologischen Perspektive durchleuchtet. Auch hier liefert Nietzsche keine klare Definition dessen, was er mit dem Machtgefühl in diesen unterschiedlichen Kontexten genau meint. (Zum Folgenden Gerhardt (1996), S. 155 ff.) In jedem Fall beschreibt es aber ein Ausnahme- und Erfolgsgefühl, das mit einem Erleben der tatsächlichen oder zumindest gefühlten Steigerung, Erhöhung und Auslassung der eigenen Kräfte, mit einer Vergrößerung des wahrgenommenen Handlungsspielraums verbunden ist. Und zwar in der Form, dass es diese Vorgänge gleichermaßen begleitet als auch selbst zu initiieren und zu steigern vermag. Damit wird sogleich ein wichtiges Charakteristikum des Machtgefühls deutlich, und zwar dessen Dynamik: Die „Selbsterfahrung im Machtgefühl lässt sich schlechterdings nicht statisch denken.“ (Gerhardt (1996), S. 160) Macht ist generell, dies wird bereits im Machtgefühl deutlich, immer auf Mehrung und Steigerung angelegt. Das Machtgefühl „steht nie still“, es benötigt immer neue Reize und neue Anlässe für sein Auftreten und sucht sich diese Reize, die es in Widerständen, im Kampf mit diesen sowie in deren Überwindung findet, auch aktiv. Dadurch ist das Machtgefühl auf Relationen zu anderen (oder anderem) angewiesen, in Vergleich zu und in Abgrenzung, Überwindung und Distanzierung von denen (bzw. dem) es sich überhaupt erst einstellen kann. Das Gefühl von Macht ist hierbei wesentlich auch von (wechselseitiger) Einschätzung und Taxierung abhängig und geht unmittelbar mit einer Positionsbestimmung und Bildung von Rangdifferenzierungen einher. Hierbei ist zu beachten, dass das Machtgefühl für Nietzsche keinesfalls nur aufseiten der Mächtigeren zu finden ist, sondern ebenfalls bei den Schwachen und Ohnmächtigen, die „sich beweisen wollen, dass sie noch Stärke haben“ (M 140, 3, S. 132) und dies beispielsweise tun, indem sie andere oder sich selbst verurteilen und schuldig sprechen oder, indem sie alles daran setzen, über andere zu „schalten (oder sich schaltend denken)“ (M 189, 3, S. 162). Das Machtgefühl besitzt demnach eine Relevanz für alle Menschen und ist nicht etwa auf besonders „machiavellistische“ Charaktertypen beschränkt. Als letzter Punkt dieser gedrängten Skizze sei angemerkt, dass im Machtgefühl etwas Inneres zum äußeren Ausdruck kommt, so wie jeder äußeren Macht eine
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Innenwelt zugeschrieben wird, zu der wir einen Zugang nur über das Machtgefühl bekommen. Im Machtgefühl, das als „starkes Gefühl“ auftritt, ist somit eine Verbindung von innen und außen angelegt (MA I, 15, 2, S. 35). Damit sind bereits einige generelle und essenzielle Merkmale von Macht im Gefühl der Macht angelegt. Entscheidend für den grundsätzlichen Gedankengang unserer Rekonstruktion des Willens zur Macht ist dabei zweierlei: Erstens, dass Nietzsche auch einen psychologischen Zugang zu den bewegenden Kräften der Welt sucht. Zweitens, dass er diesen Zugang in dem hier umrissenen „Machtgefühl“ (M 348, 3, S. 238)95 ausmacht, das man mit Gerhardt (2006) zusammenfassend als den „in allem Streben nach Erfolg gesuchten Selbstgenuß“ auffassen kann, und das für Nietzsche zunehmend zu einem Grundtrieb aller menschlicher Verhaltensweisen und schließlich sogar zu allem lebendigen Geschehen bzw. zu allem Geschehen überhaupt wird (S. 184).96 Durch den psychologischen Ausgangspunkt wird auch erneut das anthropomorphe Fundament von Nietzsches Ansatz deutlich, der einen entscheidenden Ausgangspunkt beim Gefühl der Macht und somit bei der menschlichen Selbsterfahrung und dem wirklichen Erleben der Welt nimmt. Die Rede von Macht erschöpft sich bei Nietzsche aber nicht in einer rein individuellen Dimension, auch soziale Beziehungen, beispielsweise rechtliche Verbindungen, werden machttheoretisch beleuchtet und erschlossen, zum Teil wiederum in psychologischer Manier.97 Darüber hinaus spielen politische Aspekte von Macht eine große Rolle, wie allein seine zahlreichen Ausführungen zu Napoleon oder Paulus belegen können (vgl. auch Nachwort Colli, KSA 3, S. 659), die gleichzeitig erhellen, dass Nietzsche sein Augenmerk auch in diesem Kontext mit Vorliebe auf Individuen, und zwar auf exponierte Ausnahmeindividuen, richtet. Auch Günzel betont diese soziale und politische Dimension von Nietzsches Machtbegriff: „,Macht‘ beinhaltet nämlich auch, dass der Handlung ein Interesse innewohnt, eben die Absicht bzw. das gewünschte Ergebnis. Wirkungen sind also nie ,rein‘ oder außerhalb moralischen Ermessens. Sie sind vielmehr im höchsten Maße von Wertvorstellungen und Nutzenkalkülen bestimmt.“ (Günzel (2004), S. 213)
Damit wird deutlich, dass Macht immer auch intentional zu verstehen ist, wodurch die immanente Nähe zum Willen offenkundig wird. Darüber hinaus kann 95 Vgl. als einige weitere Stellen auch in der Morgenröthe die Aphorismen 245, S. 203; 348, S. 209; 356, S. 240; 360, S. 241; sowie N 1880, 9, Aphorismen 4[179] u. 4[183], S. 146; 4[197], S. 149; 4[199], S. 149; 4[204], S. 151. Auch später greift Nietzsche öfter auf diese Formulierung zurück, z. B. in FW 13, 3, S. 384; N 1883, 24[20], 10, S. 658; N 1884, 27[25], 11, S. 282; N 1888, 14[70], 13, S. 254 u. 14[173], S. 358. 96 Kaufmann (1988) spricht in diesem Zusammenhang von einem „Grundtrieb, der allen menschlichen Bemühungen zugrunde liegt“ (S. 224) und Gerhardt (1996) von einem „Generalmotiv allen lebendigen Geschehens“ (S. 164) bzw. von einem „Elementartrieb“ (2006), S. 184. 97 Vgl. ausführlich Gerhardt (1996), S. 140 ff., S. 153 sowie Gerhardt (1988d).
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Macht als vielfältiges Mittel eingesetzt werden, um etwas zu erreichen. Sie kann dazu dienen etwas durchzusetzen, zu bewegen, zu verändern, einen Unterschied zu machen. Macht beinhaltet somit auch ein instrumentales Moment. Wie bereits angesprochen, besitzt Macht darüber hinaus eine Reihe weiterer Momente, die sich bis in das Frühwerk zurückverfolgen lassen, z. B. ästhetischproduktiver Art: Um überhaupt etwas hervorbringen und erschaffen zu können, ist Macht als „schöpferische Kraft“ unverzichtbar. Diese und weitere Merkmale werden im zweiten Teil dieser Arbeit noch eingehender dargelegt und untersucht. Wollte man an dieser Stelle eine Gemeinsamkeit aller dieser Momente benennen, so ließe sich, sozusagen als kleinster gemeinsamer Nenner, ein Verständnis von Macht als „realer Möglichkeit zu Wirklichkeit“ extrahieren – so wie bereits das Machtgefühl in nuce auf nichts anderes verwiesen hat als auf eine „unmittelbar erlebte reale Möglichkeit“ (Gerhardt (1996), S. 161). Damit deckt sich das, was man mit Nietzsche unter Macht im grundlegendsten Sinne verstehen kann mit einem generellen Verständnis von Macht, wie es in der Einleitung dieser Arbeit bereits entfaltet worden ist. Allgemein meint Macht, wie gezeigt, eine „geistige und körperliche Fähigkeit zu etwas, das Seinkönnen, die Potenz einschließlich des Aktus, der Tatsächlichkeit ihres Sichauswirkens“ (Hoffmeister (1988), S. 389) – also nichts anderes als eine „reale Möglichkeit“. Diese Charakterisierung kann auch die zentrale Stellung der Macht in der Formel vom Willen zur Macht plausibilisieren: Denn die dem Machtbegriff inhärente Verbindung von Potenz und Aktus (bzw. von dynamis und energeia) versetzt die Formel in die Lage, die Kluft von Möglichkeit und Wirklichkeit zu überbrücken. Möglichkeit und Wirklichkeit fallen demnach nicht auseinander, sondern werden durch „Macht“ i. S. v. „realer Möglichkeit“ miteinander verschränkt zu einer „Einheit“, einem „Amalgam“, wie Gerhardt (1996) es formuliert (S. 319). In dieser grundlegendsten Fassung ist Macht demnach nicht primär als politischer, sondern als metaphysischer Begriff konzipiert (s. Gerhardt (2006), S. 187).98 Dabei ist der fortdauernde Bezug zum Realen zu betonen: Es geht Nietzsche um reale Potenzialität, nicht um bloß theoretische Possibilität (vgl. Gerhardt (1996), S. 317). Macht ist demnach in gewisser Weise ein changierender Begriff zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Macht ist immer schon über eine bloße Möglichkeit hinaus, geht aber auch nicht vollständig in der Wirkung auf: „Die Macht ist irgendetwas, das in irgendeiner Weise Wirkungen hervorbringt oder hervorbringen kann; sie ist aber nicht schon diese Wirkung selbst.“ (Gerhardt (2006), S. 188 f.) Anders gesagt, kann Macht allgemein als „Disposition zu Wir-
98 Allerdings lassen sich diese Dimensionen nicht klar trennen, sondern sind „(i)n ihrem unverkennbaren Bezug auf die menschliche Selbsterfahrung (. . .) offenkundig miteinander verknüpft.“ (Gerhardt (1996), S. 340)
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kungen“ (Gerhardt (1996), S. 10 u. S. 254) betrachtet werden, die sich als „Vermögen der Verfügung über anderes“ oder andere zeigt (ebd., S. 16). Hier wird aus grundlegender Sicht die unumgängliche Relationalität der Macht deutlich, die auf anderes und andere bezogen ist. Auch zeichnen sich erneut die Intentionalität und Instrumentalität der Macht ab: Macht verweist auf etwas, das „vor ihr“ liegt, auf ein Ziel, von dem her sie begriffen werden kann. Gleichzeitig impliziert Macht jedoch auch einen Träger „hinter ihr“, dem sie als Mittel dient. Das verleiht ihr einen „eigentümlich schwebenden Charakter“, eine dauerhafte Zwischenstellung. (Vgl. ebd., S. 305) Dieser Charakter kann auch als Indiz für die „Unersättlichkeit der Macht“ gewertet werden, „denn als Macht ist sie stets auf andere Macht bezogen, die in ihrer instrumentellen Funktion auch wieder nur auf andere Mächte verweist“ (ebd., S. 16). Damit wird die ungeheure Dynamik augenscheinlich, die Macht zu entfalten imstande ist. In dieser Dynamik ist sie auf Ausweitung, Mehrung und vor allem auf Steigerung ausgerichtet. Macht stellt sich dar als „Etwas, das an sich nach Verstärkung“ und „höherer Macht“ strebt (N 1887, 9[98] und 9[100], 12, S. 392). Der gleichen Dynamik unterliegen auch andere Mächte, sodass es zu Auseinandersetzungsprozessen kommt, die mit Nietzsche als Austausch- und Verhandlungsprozesse, vor allem aber als Ringen und Kampf gedeutet werden können. Wirklichkeit als Machtgeschehen darf daher bei Nietzsche auch in keinem Fall als statisch missverstanden werden: „Als ,wirklich‘ kann Nietzsche nur das ansehen, was ,wird‘, also das, was (. . .) in Bewegung ist“ (Gerhardt (1996), S. 318), was sich in der Auseinandersetzung entfaltet und immer schon die Möglichkeit zu neuen Konstellationen beinhaltet. Damit sind bereits eine Reihe von Merkmalen der Macht angesprochen, und ein erster Eindruck der Macht, wie man sie unter Rückgriff auf Nietzsche rekonstruieren kann, sollte in den Umrissen deutlich geworden sein. Zum Abschluss seien hier zusammenfassend noch einmal drei wesentliche Aspekte von Macht hervorgehoben, die für den anschließenden Vergleich der Machtkonzepte eine zentrale Rolle spielen und im weiteren Verlauf der Arbeit auch noch näher beleuchtet werden (vgl. insbesondere Teil 2): Der erste Aspekt besteht in der Relationalität von Macht. Das „Wesen“ von Macht liegt primär „in der Beziehung auf andere Macht“ (Gerhardt (1996), S. 303). Macht ist für Nietzsche nie singulär zu denken, sondern tritt immer in Verbindung mit anderen Mächten auf, gegen die sie sich behaupten muss, an denen sie sich steigern, auslassen, zeigen und somit, genau genommen, überhaupt erst als Macht erweisen kann. Zweitens, und damit eng verbunden, die Dynamik der Macht. Macht ist nichts Statisches, das jemandem ein für alle Mal zukommen könnte. Macht ist auf Zuwachs und Steigerung angelegt und entsteht erst in der gegenseitigen Auseinandersetzung, die als ein Prozess zu denken ist, der nie zu einem endgültigen Abschluss kommt. Diese Auseinandersetzungsprozesse kön-
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nen drittens u. a. als Kampf zwischen Opponenten begriffen werden, in dessen Verlauf sich Mächte konstituieren. Diese und weitere Merkmale der Macht lassen sich auch in ihrem Integral, dem Willen zur Macht, wiederfinden, der auf den folgenden Seiten noch etwas ausführlicher dargestellt werden soll: Im Verlauf dieser Arbeit ist er bereits charakterisiert worden „als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischer Trieb“ (N 1885, 36[31], 11, S. 563). Ebenso wurde der Wille zur Macht ausgemacht im „Willen sich einer Sache zu bemächtigen oder gegen ihre Macht sich zu wehren und sie zurückzustoßen“ (N 1885, 2[83], 12, S. 102 f.). Hier sind sowohl Relationalität und Dynamik als auch Agonalität als Merkmale unverkennbar. Darüber hinaus klingt das Motiv von Anziehung und Abstoßung wieder an, das in den Erläuterungen zum Kraftbegriff bereits als Verbindung des Unorganischen mit dem Organischen ausgemacht worden ist. Dies lässt sich an dieser Stelle aufgreifen, wenn Nietzsche in dem „Trieb, sich anzunähern“ sowie „etwas zurückzustoßen“ das „Band“ zwischen unorganischer und organischer Welt sieht und die „ganze Scheidung“ als ein „Vorurtheil“ bezeichnet (N 1885, 36[21], 11, S. 560). Vor dem Hintergrund der Ausführungen zum Willen sowie zur Macht ist plausibel, dass Nietzsche diesen Trieb als „Wille zur Macht in jeder Kraft-Combination, sich wehrend gegen das Stärkere, losstürzend auf das Schwächere“ (N 1885, 36[21], 11, S. 560, H.v. m.) begreift und nicht als ein reines Anziehen und Abstoßen.99 Die Tragweite dieser Überlegungen ist enorm: Durch das Fallen der Grenze zwischen belebter und unbelebter Welt wird der Wille zur Macht zu dem universalen Prinzip, anhand dessen die gesamte organische und unorganische Welt „durchdekliniert“ werden kann, angefangen vom kleinsten Kristall über primitive Formen des Lebens bis hin zu höher organisierten Lebewesen, „Individuen“, Gruppen und sogar ganze Gesellschaften mitsamt ihrer Kultur, Kunst, Moral und Wissenschaft. Nietzsche selbst hält zur Entfaltung dieses Gedankens eine eindeutige Trennung der „Ebenen“ weder durch noch scheint er diese ernsthaft zu intendieren. Ihm geht es vielmehr darum, die Übergänge zu betonen, sowie darum, alles auf ein (vielheitliches) Prinzip zurückzuführen, das er Wille zur Macht nennt. Zwi99 Grundsätzlich angelegt zu sein scheint diese Auffassung bereits im Jahr 1875, als Nietzsche in dem oben erwähnten Exzerpt zu Stewart das Aufeinanderstoßen von Molekülen als „Kampf“ (N 1875, 9[2], 8, S. 183) begreift. Dadurch ist die Auffassung eines „reinen“ Anziehens und Abstoßens im Kern schon überwunden. Diesen Kampf sieht Nietzsche dann auch auf der organischen Ebene am Werk und fasst das „Individuum selbst“ in Anlehnung an W. Roux (1881) „als Kampf der Theile“ auf (N 1886/87, 7[25], 12, S. 304), so wie er letztlich „(a)lles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden“ ansieht „als ein Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen, als ein K a m p f “ (N 1887, 9[91], 12, S. 385) – und somit als Wille zur Macht.
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schen den Abstufungen der Welt gibt es demnach keinen prinzipiellen Unterschied mehr, sie unterscheiden sich vielmehr ausschließlich durch den Grad der Organisation, die interne Komplexität sowie das Quantum Wille zur Macht als das „Quantum g e s t e i g e r t e r und o r g a n i s i e r t e r Macht“ (N 1887/88, 11[83], 13, S. 40). Letztlich stellt somit auch der Mensch nur „ein ungeheures Quantum Macht dar“ (ebd., 11[111], S. 52), und über seinen Rang innerhalb der Menschen entscheidet das Quantum Wille zur Macht, das in ihm wirkt, das er „ist“ (ebd., 11[36], S. 20). An dieser Stelle soll noch einmal betont werden, dass der Wille zur Macht, obwohl als Prinzip tituliert, nicht als einheitlich zu verstehen ist.100 Wie sich aus der Darstellung der Willenskonzeption ableiten lässt, ist der Wille zur Macht als in sich vielheitliche Einheit konzipiert. Er ist „zugleich Eins und ,Vieles‘“ (N 1885, 38[12], 11, S. 610) und im Zusammenhang mit dem Willen zur Macht ist „(a)lle Einheit (. . .) n u r als O r g a n i s a t i o n u n d Z u s a m m e n s p i e l Einheit“ (N 1885/86, 2[87], 12, S. 104). Deleuze (2002) hält sogar die Frage für obsolet, „ob der Wille zur Macht in letzter Instanz einzig oder vielfältig sei (. . .) – sie zeugte noch von einem allgemeinen Mißverständnis der Philosophie Nietzsches. Der Wille zur Macht ist plastisch und vom jeweiligen Fall, in dem er sich bestimmt, nicht zu lösen“ (S. 94).
Der Grundgedanke der Relationalität dieses Willens zur Macht ist, wie gesehen, bereits in den einzelnen begrifflichen „Komponenten“ des Willens zur Macht angelegt. Kräfte lassen sich nur relational als Kräfte ausmachen und benötigen somit immer Gegenkräfte, ebenso wie Wille ein Gegenüber in Form eines anderen Willens bedarf, auf den er wirken kann. Und auch Macht setzt per definitionem „etwas voraus, dessen sie mächtig ist“ (Hoffmeister (1988), S. 389). Folgerichtig ist auch der Wille zur Macht immer nur relational denkbar als Beziehungsgröße bzw. Beziehungsgeflecht zwischen einer Mehrzahl von Kräften und Mächten, die in unterschiedliche Richtungen aufeinander, gegeneinander und miteinander wirken können. Die dynamischen Kraft- und Machtquanten stehen nach Nietzsche dabei „in einem Spannungsverhältniß zu allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältniß zu allen anderen Quanten besteht, in ihrem ,Wirken‘ auf dieselben“ (N 1888, 14[79], 13, S. 259).
100 Skeptisch gegenüber den von Nietzsche selbst verwendeten Begriffen wie „Princip“ (N 1887, 9[188], 12, S. 450), „Essenz“ (JGB 186, 5, S. 107), „letzter Grund und Charakter aller Veränderung“ (N 1888, 14[123], 13, S. 303) oder auch „innerste(s) Wesen des Seins“ (N 1888, 14[80], 13, S. 260) äußert sich Stegmaier (1994), S. 85, der in ihnen ausschließlich kritische „Gegenbegriffe“ sieht. Ebenfalls kritisch zu diesen Begriffen sowie detailliert zum Zusammenhang von Einheit und Vielheit des Willens zur Macht s. Müller-Lauter (1999), S. 38 ff.
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Der dynamische Charakter des Willens zur Macht, der hier ebenfalls noch einmal unterstrichen werden soll, zeigt sich auch in seiner Tendenz zu Steigerung und Überwindung, die über eine reine Selbsterhaltung weit hinausgeht. Dies lässt sich aus den Ausführungen zur Bedeutung von Akkumulation und Auslassung von Kraft bei Nietzsche herleiten. Im Übrigen auch der schöpferisch-produktiven Kraft, die über eine bloße Erhaltung immer schon hinausgeht.101 Es lässt sich auch psychologisch plausibilisieren, beispielsweise aus der o. a. Steigerungstendenz des Machtgefühls, bei dem es nicht um den Erhalt des Status quo, sondern um eine Mehrung und Erhöhung der Macht geht. Der Steigerungswille ist größer als der Drang zur Selbsterhaltung. Letzterer wird zwar nicht vollständig geleugnet, ist aber nur nachgelagerter Natur, „nicht Selbstbewahrung, sondern Aneignung, Herr-werden-, Mehr-werden-, Stärker-werden-wollen“ (N 1888, 14[81], 13, S. 261) stehen im Mittelpunkt des Willens zur Macht: „(N)ichts will sich erhalten, alles soll summirt und accumulirt werden“ (N 1888, 14[82], 13, S. 262), um sich schließlich eruptiv entladen und auslassen zu können, z. B. in schöpferischen Akten oder in der Machtausübung über sich und andere. Der Trieb zur „Erhaltung“ ist demgegenüber nur eine Konsequenz (N 1884, 26[277], 11, S. 222 f.; N 1885/86, 2[63], 12, S. 89). „Erhaltung im Sinne einer Sicherung dessen, was ohnehin schon ist bzw. als Verlustersatz entlang der Zeit“ stellt in einer derartigen Sicht „bereits eine Verfallsform des Lebens dar.“ (Abel (1984), S. 30) Auch Abel betont daher die Tendenz der Steigerung und „Selbsterweiterung“. Ihr folgt die „Organisiertheit und Funktionalität“, an die sich die „Selbsterhaltung“ sogar erst an dritter Stelle als ein abgeleiteter Aspekt anschließt (Abel (1982), S. 371 f. sowie (1984), S. 90). Selbsterhaltung wird demnach von Nietzsche nicht als primäres Prinzip anerkannt, auch wenn es als Phänomen nicht geleugnet wird oder verschwindet. Es bleibt als Moment im Lebensprozess nach wie vor anerkannt. Der zu Grunde liegende Kerngedanke dabei ist, dass Nietzsche die Unmöglichkeit gesehen hat, aus dem Selbsterhaltungsprinzip Bewegung, Veränderung, Wechsel und somit Geschehen als ein Wandel und Werden abzuleiten (vgl. Abel (1982), S. 393). Besonders deutlich lässt sich diese unbändige Steigerungstendenz, die unter Umständen bis hin zur Selbstzerstörung reichen kann, auch in Abgrenzung zu Schopenhauer illustrieren, wie Nietzsche selbst es an diversen Stellen vornimmt. An Stelle von dessen Willen zum Leben macht Nietzsche einen Willen zur Macht aus (vgl. N 1882/83, 5[1], 10, S. 187), nicht mehr der „Wille der Erhaltung, sondern der Macht“ (N 1884, 26[284], 11, S. 225) steht im Mittelpunkt. Ersterem spricht er im Zarathustra sogar die Existenz ab:
101 Laut Gerhardt ist daher die Abkehr von der bloßen Selbsterhaltung bereits im philosophischen Ästhetizismus von Nietzsches frühem Werk präformiert, z. B. in der Konzeption des „Genius“ (vgl. in: Abel (1982), S. 392).
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Teil 1: Rekonstruktion der Machtkonzepte „Willen zum Dasein“: diesen Willen giebt es nicht! Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist, wie könnte das noch zum Dasein wollen!“ (ZA II, 4, S. 149).
Das Dasein, das Leben ist für Nietzsche, wie sich aus der Überwindung der Grenze zwischen belebter und unbelebter Welt herleiten lässt, „bloß ein Einzelfall“, eine „Form des Willens zur Macht“ (N 1888, 14[121], 13, S. 301), und nicht etwas, wonach alles strebt: „Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt, als Leben selber“, das häufig „um der Macht willen“ aufs Spiel gesetzt wird bzw. das sich selbst „opfert (. . .) – um Macht!“ (ZA II, 4, S. 148 f.) Als Beispiel führt Nietzsche später die Grundlage aller Zellgebilde an, das so genannte „Protoplasma“, das „auf eine unsinnige Art mehr in sich hinein [nimmt], als die Erhaltung bedingen würde (. . .), es ,erhält sich‘ damit eben n i c h t , sondern z e r f ä l l t . . .“ (N 1887, 11[121], 13, S. 57).102 An diesem Punkt grenzt sich Nietzsche im Übrigen auch von Spinoza ab, dessen Satz von der Selbsterhaltung in seinen Augen falsch ist: „Gerade an allem Lebendigen ist am deutlichsten zu zeigen, daß es alles thut, um nicht sich zu erhalten, sondern um mehr zu werden (. . .)“ (N 1888, 14[121], 13 S. 301).103 Ebenso sieht er in Opposition zu Darwin nicht die Selbsterhaltung durch Anpassung, sondern das Stärkerwerden durch Kampf und Überwindung als die eigentliche Triebfeder des Daseins an: „Der Kampf um’s Dasein ist nur eine Ausnahme, eine zeitweilige Restriktion des Lebenswillens; der grosse und kleine Kampf dreht sich allenthalben um’s Übergewicht, um Wachsthum und Ausbreitung, um Macht, gemäss dem Willen zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist“ (FW 349, 3, S. 586).
Folgerichtig sieht Zarathustra auch nicht in der Selbst-Erhaltung das wesentliche Moment des Lebens, sondern in der Steigerung und Überwindung, die hier gerade auch als Selbst-Überwindung gedacht wird: Leben ist für ihn „ d a s , w a s s i c h i m m e r s e l b e r ü b e r w i n d e n m u s s . “ (ZA II, 4, S. 148)104 Dies gilt auch für Stufen des Lebensprozesses mit einem höheren Grad an Organisation: Nietzsche sieht hier im Unterschied zu Schopenhauer nicht die auf „Erhaltung des Individuums“ bzw. „Fortpflanzung des Geschlechts“ zielende „Befriedigung der Bedürfnisse“ (WWV I, § 60, S. 425) als wesentlich an, und erst recht nicht das Erlangen von Glück. Seiner Meinung nach geht es auch hier, 102 Vgl. hierzu u. a. auch Colli, Nachwort KSA 13, S. 659; Abel (1984), S. 82 ff. Zur Beeinflussung Nietzsches durch W. H. Rolphs an dieser Stelle vgl. Müller-Lauter (1999), S. 134. 103 Kritisch zu dieser Vorgehensweise Nietzsches, andere Autoren als – teilweise simplifizierte – „Folie“ zu benutzen, um dagegen seine eigene Position klarer profilieren zu können, äußert sich Abel (1982), S. 370 sowie S. 390 f. 104 Dass diese mit dem Willen zur Macht verbundene Selbstüberwindung auch für den menschlichen Bereich der Moral gültig ist, zeigen die Ausführungen in ZA I, 4, S. 74.
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wie insgesamt im Dasein, um ein „Mehr von Macht“ (N 1888, 14[82], 13, S. 262). Dieser „Wille zum Mehr“ (N 1887/88, 11[83], 13, S. 40), dieser Drang nach Überwältigung gilt über alle Ebenen hinweg, in der Natur wie in der Kultur, im individuellen wie auch im gesellschaftlichen Bereich: Ganze Staatsgebilde werden hier aufgefasst als „Wille zur Macht, zum Kriege, zur Eroberung, zur Rache“ (N 1887–88, 11[407], 13, S. 187). Dabei geht es ihm weniger um eine Ordnungsform nach Art des modernen, neuzeitlichen Staates, sondern um den generellen Vorgang und die Struktur von Organisation (vgl. Abel (1984), S. 56 f.). Nietzsche verwendet Macht auf Grund ihres organisierenden und gestaltenden Charakters häufig in nahezu synonymer Weise mit Herrschaft, Organisation und teilweise sogar mit Gewalt, die hierbei nicht nur als äußere, sondern auch als „von Innen her formschaffende Gewalt“ (N 1886/87, 7[25], 12, S. 304) zu verstehen ist (vgl. ausführlich Gerhardt (1996), S. 253 ff.). Es ist demnach bei Nietzsche keine klare Trennung zwischen Herrschaft, Macht und Organisation auszumachen. Macht prägt sich immer organisierend und gestaltend aus (s. auch Figl (1982), S. 101), so wie Organisation immer auf Macht angewiesen ist. Wie gesagt, ist „(a)lle Einheit (. . .) nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit“; und „somit ein Herrschafts-Gebilde“ (N 1885/86, 2[87], 12, S. 104). Nietzsche geht davon aus, „daß Organisations-Strukturen (im Bereich des Anorganischen, bei den kleinsten Organismen, im menschlichen Leib, bis hin zu Staaten, Völkern und Gesellschaften) überhaupt nur im Zuge der für die Organisiertheit und Funktionalität jedes Lebendigen grundcharakteristischen Prozesse fortgesetzter Kräfte-Taxierungen der Elemente untereinander, in ihrem Verhältnis zur ,regierenden‘ Macht, zum ,Ganzen‘, und dann nach außen als Organisation gegenüber anderen Machtorganisationen zustande kommen können.“ (Abel (1984), S. 56)
Alle organisierten Beziehungen sind machtbasiert und herrschaftlich geprägt, bilden Ordnungen und Rangfolgen aus und stellen letztlich den Ausdruck eines Willens zur Macht bzw. eines „Willens zur Herrschaft“ (N 1887/88, 11[140], 13, S. 65) dar. Zu einem rein physischen Kräfteverhältnis bedarf es für ein Herrschaftsverhältnis dabei noch der erwähnten „Bezeigung von Macht“ (N 1885, 36[31], 11, S. 563), also eines Zeichens für die eigene Position in Relation zu anderen, das mitgeteilt und entsprechend rezipiert und interpretiert werden kann. Herrschaft ist somit auch als semiotischer Prozess zu sehen, „als organisierte Entsprechung von Befehl und Gehorsam auf der Basis wechselseitig anerkannter Bedeutungsträger (,Zeichen‘)“ (Gerhardt (1996), S. 260; H.v. m.). Anzumerken bleibt an dieser Stelle, dass Nietzsche beim „,Gehorchen‘ und ,Befehlen‘“ als „Formen des Kampfspiels“ (N 1885, 36[22], 11, S. 561), Macht keinesfalls nur auf der Seite der Befehlenden verortet, sondern „auch das Verhältniß des Herrschenden zum Beherrschten noch als ein Ringen“ betrachtet „und das Verhältniß des Gehorchenden zum Herrschenden noch als ein Widerstreben“ (N 1885, 40 [55], 11, S. 655). Macht ruft ganz generell auch Wider-
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stände hervor. Jeder Widerstand ist mit Schmerz verbunden, aber dieser schwächt den Willen zur Macht nicht unbedingt (vgl. Colli, Nachwort KSA 13, S. 659). Im Gegenteil: Jede Kraft kann sich nur an Widerstehendem auslassen, so dass eine Unlust mit jeder Aktion notwendig einhergeht (vgl. N 1887, 11[77], 13, S. 38). Diese Art der Unlust wirkt aber als „Reiz des Lebens“ und „stärkt den Willen zur Macht“ (ebd.). „(N)icht die Befriedigung des Willens ist Ursache der Lust (. . .) [,] sondern daß der Wille vorwärts will und immer wieder Herr über das wird, was ihm im Wege steht“ (N 1887, 11, 11[75], 13, S. 37 f.).105 Dafür sucht der Wille zur Macht Widerstände sogar aktiv auf (vgl. ebd., 11[77], S. 38). Neben der Dynamik sowie der Relationalität tritt in diesem Widerstreben und Ringen erneut der agonale Charakter des Willens zur Macht zum Vorschein. Die vorangegangenen Ausführungen haben nach und nach die Konturen der Konzeption vom Willen zur Macht freigelegt. Bevor der grundsätzliche Gedankengang im nächsten Kapitel zusammenfassend in einer kurzen Schlussbetrachtung dargestellt wird, sollen an dieser Stelle einige Anmerkungen zur rhetorischen Formel des Willens zur Macht erfolgen. Besonders schwierig gestaltet es sich dabei, das Verhältnis von Kraft, Wille und Macht aufzuschlüsseln, die in der Formel vom Willen zur Macht zu einer dynamischen Einheit verschmelzen. Nach Deleuze (2002) ist Wille zur Macht grundsätzlich als das „genealogische“, also das „differentielle“ und „genetische“ Element der Kraft aufzufassen, d. h. als „jenes Element, aus dem zugleich die Quantitäts-Differenz der in Beziehung gebrachten Kräfte als auch die Qualität entspringt, die innerhalb dieser Beziehung einer jeden Kraft zukommt“ (S. 56). Wille zur Macht darf nach Deleuze allerdings nicht so verstanden werden, „daß der Wille Macht will“ (S. 93), ebenso wenig wie man sagen könne, „die Kraft sei diejenige, welche will“ (S. 56). Vielmehr sei die Macht „das, was im Willen will“ (S. 93). Gerhardt (1996) warnt generell davor, „zwischen einem verfügenden Willen und einer eingesetzten Macht zu unterscheiden“ (S. 255).106 Wille ist nach Gerhardt (1996, S. 244 f.) eher als eine „Auslegung des Machtgefühls“ zu verstehen, als Übersetzung in einen mitteilbaren Anspruch; Wille „konzentriert die Machterfahrung auf einen Vorgang“, „spezifiziert und individualisiert“ sie, und verleiht ihr somit Richtung und Stärke, und erfüllt letztlich die Funktion des „Zeigens und des Bezeichnens von Macht“. Das erscheint auch insofern nicht unplausibel, als Wollen bei Nietzsche als Etwas-Wollen konkretisiert vorliegt, während Macht, 105 Lust selbst besteht für Nietzsche aus einem „Rhythmus kleiner Unlustreize“ (N 1887, 11, 11[76], S. 38), ist ein „Kitzel des Machtgefühls: immer etwas voraussetzend, was widersteht und überwunden wird“ (N 1886/87, 7[18], 12, S. 302). Lust wird „alles Wachsthum der Macht, Unlust alles Gefühl, nicht widerstehen und Herr werden zu können“ (N 1888, 14[80], 13, S. 260). 106 Kritisch zur Terminologie von Deleuze darüber hinaus Gerhardt (1996), S. 210, Anm. 18.
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wie gesehen, universeller gefasst ist. Im Wollen wird somit „der im Machtgefühl angezeigte dynamische Vorgang im Hinblick auf ein mögliches Ziel gedeutet“ (ebd.), das seinerseits für Nietzsche jedoch als nur „dirigirende Kraft“ (FW 360, 3, S. 607) gleichzeitig an eine „treibende Kraft“ gebunden bleibt, als die er den Willen zur Macht ausmacht.107 Nietzsche weist andersherum beim „Machtquantum“ darauf hin, dass es „durch die Wirkung, die es übt und der es widersteht, bezeichnet“ (N 1888, 14[79], 13, S. 258) sei.108 Dieses „Quantum ,Willen zur Macht‘“ sei weggedacht, wenn man seinen „Machtwillen“ (ebd.) subtrahiere. Macht und Wille scheinen also eine Einheit im Willen zur Macht zu bilden. Es ist unumgänglich von Macht „so zu sprechen, als ob in ihr ein Wille wirke“ (Gerhardt (1996), S. 265). Macht wird von uns so erlebt, als wenn in ihr eine Absicht wirke, und von Wille ist, in Abgrenzung zum bloßen Wunsch (vgl. N 1887/88, 11[331], 13, S. 141), nur zu sprechen, wenn ihm eine gewisse Durchsetzungsmacht, eine reale Möglichkeit zu wirken, zukommt. Macht und Wille bedingen sich demnach gegenseitig: „So wie keine Macht ohne einen durch sie wirkenden Willen vorgestellt werden kann, so zerfällt auch der Wille, wenn er machtlos ist“ (Gerhardt (2006), S. 189).
Wille ist immer Wille zur Macht, ebenso wie Macht immer Wille zur Macht bedeutet (vgl. Gerhardt (1996), S. 265 ff.). Wille zur Macht ist demnach streng genommen eine redundante Formel, ein „vollkommener Pleonasmus“ (S. 275), also eine Häufung von Ausdrücken sinngleicher bzw. -ähnlicher Bedeutung. Einen Wert kann die Formel vom Willen zur Macht insofern gewinnen, als man sie selbst als Ausdruck für die von Nietzsche gesuchte und von ihr beschriebene initiale Dynamik nimmt. Vor diesem Hintergrund scheint es angebracht, im folgenden Vergleich mit der mikropolitischen Machttheorie keine künstliche Trennung von Macht und Wille zur Macht bei Nietzsche vorzunehmen.
III. Zusammenfassung Nietzsche wird in den vorangegangenen Überlegungen als Denker skizziert, der auf der Suche nach einer neuen Auslegung allen Geschehens, u. v. a. nach den bewegenden Kräften dieses Geschehens ist. Dementsprechend viel Raum ist der Darstellung seiner Überlegungen zur Welt als Kräftekonstellation gewidmet, die einen wichtigen Ausgangspunkt für den Willen zur Macht bilden, und auf die im 107
Dazu z. B. auch Mittasch (1952), S. 119 f. sowie Abel (1984), S. 94 f. Zu beachten ist darüber hinaus, dass die „Quanten“ direkt wieder mit einem „ P a t h o s “ als „elementarste Thatsache“ in Verbindung gebracht werden, also mit einer Qualität. Gerhardt (1996) bezeichnet die wechselseitigen Rückführungen und Bestimmungen zwischen Quantitäten und Qualitäten als „paradigmatisch für Nietzsches theoretisches Programm“ (S. 215 f.). 108
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zweiten Teil dieser Arbeit immer wieder zurückgegriffen werden wird. Durch die vorangegangenen Kapitel sollte mehr und mehr erkennbar geworden sein, was darüber hinaus für Nietzsche Macht in Verbindung mit einem Willen dazu prädestiniert, das Fundament für die grundlegenden Vorgänge der Welt zu liefern. Im Hinblick der vielfältigen Möglichkeiten Macht zu thematisieren, wurde in diesem Kapitel die Konzentration darauf gelenkt, ihren relationalen, dynamischen und agonalen Charakter hervorzuheben: Macht ist essenziell auf Beziehung zu anderen Mächten angewiesen. Macht ist darüber hinaus beschrieben worden als etwas, das immerzu nach Verstärkung strebt, wodurch der Wille zur Macht den Charakter des Unbefriedigtseins, des Mehrwollens verliehen bekommt. Dies führt angesichts der Pluralität der Machtwillen, die nicht nur mitsondern auch gegeneinander wirken, zu einem Verständnis der Welt als fortdauerndem und dynamischem Kampfgeschehen. Ausgehend von dem „Sieg über die Kraft“, der in Analogie zur menschlichen Selbsterfahrung eine innere Dimension zugeschrieben wird, eröffnet die Formel vom Willen zur Macht Nietzsche später daher die Möglichkeit, die ersehnte „Ergänzung“ (N 1885, 36[31], 11, S. 563) und „treibende Kraft“ (N 1888, 14[121], 13, S. 300) zu finden, und zwar in Form einer von innen nach außen treibenden Kraft, die als Macht „an sich nach Verstärkung strebt“ (N 1887, 9[98], 12, S. 392). Der „Wendung nach innen“ steht somit eine gegenläufige Bewegung nach außen gegenüber. Nietzsche will die Äußerlichkeit der reinen Mechanik überwinden, ohne sich ausschließlich auf eine Innenperspektive beschränken lassen zu wollen. Wille zur Macht steht demnach gleichermaßen für den inneren Impuls sowie für die äußere Manifestation. Schematisch betrachtet, ist Wille dabei der innere Impuls und Macht die generelle aber reale Wirkmöglichkeit. (Vgl. Gerhardt (1996), S. 250 f.) Es hat sich aber gezeigt, dass eine derart klare Trennung von Wille und Macht künstlich erscheint. So wie auch die Formel vom Willen zur Macht sich bei genauerer Betrachtung als redundant und tautologisch erweist und ihre Berechtigung vornehmlich dadurch erhält, dass der Versuch, sie zu denken, genau jene Bewegung, jenes Oszillieren zwischen Innen und Außen auslöst, in der die Welt sich aus menschlicher, leiblicher Perspektive selbst darstellt: Der Wille zur Macht ist demnach ein „verleiblichter Begriff“ (ebd., S. 277).109 Will man die wichtigsten strukturellen Merkmale der Macht bzw. des Willens zur Macht zusammenfassen, so sieht man sich in Nietzsches Texten mit einem verwobenen Bild aus einer Vielzahl von Motiven, Gegensatzpaaren bzw. sich wechselseitig bedingenden und beeinflussenden Momenten konfrontiert, die in 109 Innen und Außen sind dabei allerdings nicht dualistisch als Seinsbereiche zu verstehen, sondern selbst nur als Aspekte und Sichtweisen, die als Ausdruck der Perspektivität des Lebens fungieren (vgl. ebd., S. 281 ff.).
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Teil 2 noch einer eingehenderen Analyse unterzogen werden. Betrachtet man die Ausführungen der vorangegangenen Kapitel im Rückblick, so lassen sich resümierend die Aspekte der Relationalität, der Dynamik sowie der Agonalität hervorheben, die sich sozusagen leitmotivisch durch die bisherige Untersuchung ziehen, und die zugleich wichtige Ansatzpunkte für die folgenden Kapitel bilden. Dass insbesondere der Aspekt der Dynamik nicht zu überschätzen, und mehr als ein Charakteristikum des Willens zur Macht unter anderen ist, zeigt sich abschließend, wenn der Ausgangspunkt Nietzsches wieder in den Blick genommen wird, dem es nicht eigentlich um das Sein, die Welt im statischen Sinne geht, sondern um eine Auslegung des Geschehens.110 Als Willen zur Macht begreift Nietzsche gerade „die dynamischen und in sich vielheitlich organisierten Kraftzentren, deren relationalem Tätigsein sich jedes Wirkliche und Lebendige (. . .) in seinem fortwährenden und prinzipiell unabschließbaren Fluß des Werdens und Vergehens verdankt“ (Abel (1984), S. 5).
Wille zur Macht, nicht als ein „Sein“, nicht als ein „Werden“, sondern als ein „ P a t h o s “ ist letztlich „die elementarste Thatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergibt“ (N 1888, 14[79], 13, S. 259) und für Nietzsche somit „das letzte Factum zu dem wir hinunterkommen.“ (N 1885, 40[61], 11, S. 661)111 Er benötigt die Formel „,Wille zur Macht‘ als Ursprung der Bewegung“ (N 1887, 14[98], 13, S. 274), und insofern ist für ihn alles Geschehen, die gesamte werdende Welt „W i l l e z u r M a c h t – u n d n i c h t s a u ß e r d e m ! “ (N 1885, 38[12], 11, S. 611; s. auch JGB 26, 5, S. 55).
110 Abel (1984) merkt dazu grundsätzlich an, dass es in der Rede von Geschehen um Prozesse des Übergangs von einem Zustand in den nächsten geht und um die Frage, wie diese Prozesse zu begreifen sind. Die spezifische Schwierigkeit liegt nun darin begründet, dass diese Übergänge weder im Modus und in den Elementen der Ausgangszustände noch in denen der Abschlusszustände beschrieben und erfasst werden können (vgl. S. 3). 111 Stegmaier (1994) sieht in diesem Pathos „ein selbst Unbegreifliches“ (S. 87). Auch der Begriff „Faktum“ ist hier mit Vorsicht zu betrachten, um nicht einem „positivistische[m] Vorurteil“ (Colli, Nachwort KSA 11, S. 726) zu unterliegen, gerade bei einem Denker, nach dessen erkenntnistheoretischen Überlegungen es Fakten im Sinne von etwas Gegebenem ebenso wenig geben kann wie die Wahrheit, die „nicht etwas [ist], was da wäre und was aufzufinden, zu entdecken wäre – sondern etwas, das zu schaffen ist (. . .). Es ist ein Wort für den ,Willen zur Macht‘“ (N 1887, 9[91], 12, S. 385). Ein Faktum wäre vor diesem Hintergrund allenfalls im Wortsinne als Tat-Sache (von lat. facere: machen) zu verstehen, in dem man es vom Datum als etwas Gegebenen (lat. dare: geben) abzugrenzen hätte. Zur Skepsis gegenüber dem Begriff „Faktum“ auch Figl in: Abel (1982), S. 401.
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B. Mikropolitik und Strategische Organisationsanalyse – Macht und Spiele in Organisationen In diesem Kapitel geht es darum, das Thema „Macht und Organisation“ aus einer strategisch-mikropolitischen Perspektive darzustellen. Der hierfür im Folgenden verwendete mikropolitische Ansatz geht auf das von W. Küpper und G. Ortmann 1986 vorgestellte und später weiterentwickelte Mikropolitikkonzept zurück. Als theoretische Basiskonzeption liegt ihren Überlegungen die „Strategische Organisationsanalyse“ von M. Crozier und E. Friedberg zu Grunde, in der eine theoretische Konstruktion der Beziehungen zwischen der Mikroebene des individuellen (strategischen) Verhaltens bzw. Handelns und der Makroebene eines Handlungssystems hergestellt wird (vgl. auch Witt (1996), S. 37). Dieser Ansatz wird als wichtiger Ausgangspunkt im ersten Abschnitt kurz nachgezeichnet.112 Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem „besonderen Machtbegriff“ (Witt (1996), S. 39) Crozier/Friedbergs als Kontrolle eines relevanten Ungewissheitsbereiches, der das mikropolitische Verständnis von Macht maßgeblich geprägt hat, sowie auf dem Verhältnis von Macht und Organisation. Weniger detailliert kann in dieser Arbeit auf die Ausführungen der Autoren zum Verhältnis von Theorie und Praxis ihrer Forschungsmethode (vgl. Crozier/Friedberg (1993), S. 289 ff.), zum Verhältnis von Organisation und Umwelt und zum organisationalen Wandel (vgl. S. 235 ff.) eingegangen werden, sowie auf die umfangreichen Beispiele und Fallstudien zu diesem Thema innerhalb der Organisationstheorie.113 112 Dies geschieht inhaltlich und konzeptionell mit Blick auf die mikropolitische Rezeption des Ansatzes von Crozier und Friedberg und somit von vornherein perspektivisch und abhängig von deren Blickwinkel. 113 Da es sich hier um eine theoretische Arbeit handelt, wird weitestgehend auf das ausführliche Referieren der einschlägigen Beispiele verzichtet, sofern sie nicht für das Verständnis unverzichtbar scheinen (vgl. zu diesen Beispielen neben Crozier/Friedberg (1993) u. a. Ortmann (1995), Neuberger (1995), Küpper/Felsch (2000) und Alt (2001)). Mikropolitische Fallstudien im Zusammenhang mit der Implementierung von EDV-Systemen innerhalb von Organisationen bzw. beim Unternehmenserwerb finden sich darüber hinaus in Ortmann et al. (1990) bzw. bei Witt (1996). Zu mikropolitischen Analysen aus dem politisch-administrativen Bereich vgl. Bogumil/Kißler (1998a,b), Bogumil/ Schmid (2001), S. 111–128 sowie Reiners (2003a), zum Thema Governance Reform s. Nullmeier/Klenk (2004), S. 91–112, zum Einsatz neuer Steuerungsinstrumente bei der Polizei Reiners (2003b), zu Reformen innerhalb der Gewerkschaften Bogumil/Schmid (2001), S. 170–191, am Beispiel der Reorganisation eines Baukonzern Maruschke (2005). Mikropolitische Perspektiven der Personalentwicklung werden z. B. von Auer et al. (1993) und Felsch (1999) entworfen. Eine mikropolitische Fallstudie zur deutschen Hochschulpolitik liefern Nullmeier/Pritzlaff/Wiesner (2003). Der mikropolitische Veränderungsdruck des mittleren Managements wird von Göbel (1999) thematisiert, Krebs (1996) sowie Bogumil/Schmid (2001), S. 154–161 setzen sich aus mikropolitischer Sicht mit der Strategiebildung innerhalb der SPD auseinander und Rastetter (1997; 2002) sich mit der Mikropolitik der Geschlechter. Zu mikropolitischen Perspek-
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Zur weitergehenden analytischen Betrachtung von Machtbeziehungen zwischen einzelnen Organisationsmitgliedern fließt Küpper/Felschs (2000) Differenzierung zwischen Kooperations- bzw. Konkurrenzbeziehungen ebenso in die Ausführungen zur Strategischen Organisationsanalyse ein, wie deren Überlegungen zur Etablierung von Machtbeziehungen, wie sie sich im Spannungsfeld von strategischer Informationssuche und -angebot bzw. strategischer Aufklärung und Überzeugung vollzieht. Dadurch wird eine noch differenziertere Sicht auf Machtprozesse, v. a. hinsichtlich ihrer Anbahnung und Ausübung, ermöglicht. Diese Ausführungen sind Basis und Ausgangspunkt für eine konstitutionstheoretische Fundierung von Macht innerhalb des „Mikropolitikansatzes“, wie er im zweiten Abschnitt dargelegt und kurz erläutert werden soll. In diesem Kontext erweist sich, vor dem Hintergrund von empirisch orientierten Forschungsprojekten in der Informations- und Kommunikationstechnologie, die Weiterentwicklung des ursprünglichen Aufsatzes von Küpper/Ortmann (1986, 1992) durch Küpper/ Felsch (2000) ebenso als fruchtbar, wie dessen gute Anschlussmöglichkeit an die Strukturationstheorie von Giddens, die insbesondere Ortmann et al. (1990), Ortmann (1995) sowie Ortmann/Sydow/Windeler (1997) aufzeigen. Diese Möglichkeiten sollen nicht über generelle Probleme mit der Beschäftigung des Mikropolitik-Ansatzes hinwegtäuschen. Die bereits in der Einleitung hervorgehobene Offenheit dieses Ansatzes, sowie die damit verbundene und durchaus als positiv eingeschätzte Adaptionsfähigkeit, haben als Kehrseite eine schwierige Abgrenzbarkeit von anderen Strömungen und Einflüssen zur Folge: „Die Spannweite dessen, was gegenwärtig unter dem Rubrum ,Mikropolitik‘ verfaßt und diskutiert wird, ist erheblich.“ (Türk (1989), S. 125) So sieht, als ein Beispiel von vielen, Neuberger das so genannte „Mülleimer-Modell“ („garbage can model“) von Cohen/March/Olsen (1972), das selbst „keine abgeschlossene Theorie, sondern eher ein erweiterungsfähiger und auf verschiedene Weise ausfüllbarer Forschungsrahmen“ (Neuberger (1995), S. 183) ist, „geradezu als Definition von Mikropolitik“ (ebd., S. 190) an. Türk (1990) meint, dass Neuberger damit den Begriff „Mikropolitik“ vollständig durch den Spielbegriff ersetzen könne, ohne dass etwas verloren ginge, was als Kritik in Bezug auf die „merkwürdige Leere des Politikbegriff“ (S. 125) zu verstehen ist. Ebenso wie Crozier/ Friedberg wirft er damit auch Neuberger ein „apolitisches Politikkonzept“ vor (Türk (1989), S. 131) und stellt diesen Entwürfen von „Mikropolitik als Spiel“ (S. 126 ff.) Konzepte von „Mikropolitik als Kampf“ (S. 135 ff.) gegenüber.114 Hinzu kommt, dass Mikropolitik als „entwicklungsoffenes Konzept“ (Birke (1998)) in stetem Wandel begriffen ist, Erweiterungen erfährt und als Ganzes betrachtet gerade keine „umfassende, geschlossene methodische Basis“ aufweist. tiven auf die schulische Organisation s. Altrichter (2004) sowie Ball (1990), zu einer „Asiatischen Mikropolitik“ Mutz (1997). 114 Zur Replik vgl. Neuberger (1995), S. 14.
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Eine derartige Basis macht dagegen Witt (1996) zumindest in dem so genannten „konzeptualen mikropolitischen Konzept“ aus (S. 37; S. 50). Vor diesem Hintergrund erscheint daher insbesondere die Unterscheidung in ein aspektuales vs. konzeptuales Verständnis von Mikropolitik hilfreich, die in Anlehnung an Brüggemeier/Felsch (1992) in Abschnitt II. 1. kurz nachvollzogen wird. Die darauf folgenden Abschnitte sollen dazu dienen, Umfang und Inhalt eines strategisch-mikropolitisch fundierten Machtbegriffes herauszuarbeiten, und diesen, im Hinblick auf den anschließenden Vergleich mit Nietzsches Machtkonzeption in Teil 2, zusammenfassend in Abschnitt II. 3. darzulegen.
I. Strategische Organisationsanalyse In der hier in ihren Kernelementen vorzustellenden Strategischen Organisationsanalyse115 geht es den Autoren M. Crozier und E. Friedberg nach eigener Aussage weder darum, „eine „geschlossene Theorie“ über Organisationen oder Systeme zu formulieren noch „normative Lehrsätze“ auszuarbeiten, sondern vielmehr darum, „eine Reihe von einfachen Aussagen“ darüber zu treffen, wie relativ autonome Akteure, vor dem Hintergrund divergierender Interessenlagen und Zielvorstellungen, mit Hilfe ihrer jeweiligen Ressourcen und Fähigkeiten spezifische Wege finden, das Problem kollektiven Handelns zu lösen, d. h. die zur Erreichung ihrer eigenen Ziele notwendige Zusammenarbeit zu gewährleisten (vgl. Crozier/Friedberg (1993), S. 1 f. sowie S. 7 und 11). Im Mittelpunkt ihres „hypothetisch-induktiven Vorgehens“116 (Friedberg (1992), S. 46) stehen demnach „nicht so sehr Organisationen als besondere soziale Objekte (. . .), sondern das organisierte Handeln der Menschen“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 2). Gemäß der eingangs vorgenommenen Differenzierung von „Organisation“ liegt der theoretische Fokus demnach auf den ersten beiden Verwendungsweisen, also dem Prozess des Organisierens sowie der daraus resultierenden Organisiertheit von Handlungen. Ausgangspunkt einer derartigen „Denkweise“ (ebd., sowie Friedberg (1992), S. 40) ist allerdings das strategische Verhalten der Mitglieder in institutionellen Organisationen, also z. B. in einer Verwaltung oder einem Industriebetrieb (I.1.). Die verschiedenen Machtstrategien und -spiele der Mitglieder strukturieren das Geflecht der (Macht-)Beziehungen in einer Organisation. Folgerichtig fassen Crozier/Friedberg Organisationen als 115 Dieser Ansatz geht ursprünglich auf Analysen von Verwaltungs- und Industrieorganisationen durch M. Crozier zurück, wurde in einer Reihe von Untersuchungen im „Centre de Sociologie des Organisations“ in Paris weiterentwickelt und zusammenfassend in dem Buch „L’acteur et le Système“ (1977) präsentiert. 116 Induktiv ist die Methode insofern, als ausgehend von einzelnen beobachtbaren Einstellungen und Verhaltensweisen allgemeinere (Spiel-)Strategien rekonstruiert werden. Hypothetisch ist diese Induktion auf Grund der unterstellten Rationalitätshypothese zu nennen (vgl. Abschnitt I.1.).
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„Gesamtheit aneinander gegliederter Spiele“ (S. 69) und somit als relativ autonome menschliche Konstrukte auf (vgl. Küpper/Felsch (2000), S. 15). Diese Schwerpunktsetzung brachte den Autoren den Vorwurf ein, sich auf eine akteurslastige Sicht zu kaprizieren.117 Sie selbst wenden sich freilich gegen diesen Vorwurf, wenn sie feststellen, dass bei der Reflexion über die Beziehung zwischen sozialem Akteur und System keine einfache Gegenüberstellung einer handlungsund systemtheoretischen Perspektive der Komplexität dieser Beziehung gerecht werden könne. Vielmehr soll das strategische Denken mit dem (zugleich widersprüchlichen und komplementären) systemischen Denken über den Begriff des „Spiels“ als dem grundlegenden Instrument kollektiven Handelns sozial integriert werden (Crozier/Friedberg (1993), S. 3 f.). Organisationsübergreifende Machtbeziehungen werden als das vermittelte Resultat einer Reihe weiterer Spiele zwischen Organisationsmitgliedern und verschiedenen so genannten „Relais“ interpretiert, die als Vertretung der verschiedenen relevanten Umweltsegmente fungieren. Dieses Thema findet insbesondere im Zusammenhang mit der Untersuchung zu neuen, netzwerkartigen Unternehmensstrukturen in so genannten strategischen Unternehmensnetzwerken (vgl. Sydow (1992a,b); Ortmann/Sydow (1999)) zunehmend Beachtung, kann hier aber nicht gebührend erörtert werden und wird daher weitgehend ausgeklammert. Vor dem Hintergrund der Fragestellung steht in den folgenden Ausführungen dagegen das generelle Verhältnis von Macht und Organisation (I.2.) im Mittelpunkt der Betrachtung und hierbei insbesondere die Entwicklung des Machtbegriffs [I.2.a)], das Verhältnis von Macht und Identität [I.2.b)], die Analyse der zwischen den Organisationsmitgliedern vorhandenen Machtbeziehungen [I.2.c)] sowie die Betrachtungsweise von Organisationen als das Resultat einer Reihe von Spielen [I.2.d)], deren formale und informelle Regeln indirekt für die Integration der konfligierenden Machtstrategien der einzelnen Organisationsmitglieder sorgen. Als Ausgangspunkt der Analyse dient hierbei, wie gesagt, das individuelle Verhalten der organisationalen Akteure. 1. Verhalten als Ausdruck einer Strategie Das Verhalten der einzelnen Organisationsmitglieder wird von Crozier/Friedberg (1993) als strategisches interpretiert: Jedes Organisationsmitglied verfolgt eine individuelle Verhaltensstrategie, mit der es zwischen jeweils verschiedenen Verhaltensweisen eine Auswahl trifft, und zwar im (subjektiv wahrgenommenen) Rahmen seiner Gestaltungsmöglichkeiten, der sowohl durch äußere Gelegenheiten definiert ist als auch durch die innere Fähigkeit, sich die äußeren Gegebenheiten zu Nutze zu machen (vgl. S. 26 u. 31).
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Dazu differenziert Ortmann (1992b) sowie Ortmann et al. (1990), S. 22, Anm. 10.
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Das Verfahren der Strategischen Organisationsanalyse ist somit um den zentralen Begriff der „Strategie“ herum aufgebaut. Um diesen Begriff in seiner Verwendung durch die Autoren zu verstehen, muss man folgende „empirische Beobachtungen“ nachvollziehen: „1. Ein Akteur hat nur selten klare Ziele und noch weniger kohärente und konsistente Pläne: diese sind vielfältig, mehr oder weniger vieldeutig, explizit und widersprüchlich. Er wird sie im Verlauf des Handelns ändern, einige verwerfen, andere unterwegs, ja sogar nachträglich entdecken (. . .). Was in einem Augenblick ,Mittel‘ ist, wird also in einem anderen ,Ziel‘ sein, und vice versa. (. . .) 2. Dennoch ist sein Verhalten aktiv. Auch wenn es immer eingeschränkt und begrenzt ist, ist es doch nie direkt determiniert; selbst die Passivität ist immer in gewisser Weise Ergebnis einer Entscheidung. 3. Und es ist immer ein sinnvolles Verhalten; die Unmöglichkeit es immer auf klare Ziele zu beziehen, bedeutet nicht, daß es nicht rational sein kann, ganz im Gegenteil: anstatt rational zu sein in Bezug auf Ziele ist es rational einerseits im Hinblick auf Handlungsgelegenheiten und qua dieser Gelegenheiten in Bezug auf den sie definierenden Kontext, andererseits im Hinblick auf das Verhalten der anderen Akteure, (. . .) auf das Spiel, das zwischen ihnen entstanden ist. 4. Schließlich ist es ein Verhalten, das immer zwei Seiten hat: eine offensive Seite, das Ausnutzen von Gelegenheiten zur Verbesserung der Situation, und eine defensive Seite, die Aufrechterhaltung und Ausdehnung eines Freiraums, also der Handlungsfähigkeit. (. . .) 5. Letztlich gibt es in dieser Betrachtung also kein irrationales Verhalten mehr. Der Nutzen des Begriffs Strategie besteht ja eben darin, daß er sich ohne Unterschied auf die anscheinend rationalsten und auf die scheinbar völlig erratischen Verhaltensweisen gleichermaßen anwenden läßt. Hinter den Stimmungen und affektiven Reaktionen, die dieses Verhalten tagtäglich bestimmen, kann der Analytiker in der Tat Regelmäßigkeiten entdecken, die nur in Hinsicht auf eine Strategie sinnvoll sind. Diese ist also nichts anderes als die ex post gefolgerte Grundlage der empirisch beobachteten Verhaltensregelmäßigkeiten.“ (S. 33 f.)
Der Begriff der Strategie impliziert in diesem Kontext demnach zunächst einmal einen methodologischen Individualismus: Kollektives organisationales Verhalten wird prinzipiell auf individuelle und interdependente Strategien der einzelnen Akteure zurückgeführt (vgl. Küpper/Felsch (2000), S. 15). Dies kann nicht genug betont werden: Bei allem anschließenden Interesse für die Machtbeziehungen zwischen den Akteuren, für die Spiele, an denen sie partizipieren und für die sich ausbildenden Strukturen, ist es das Individuum mit seinen Handlungen, das diese Strukturen überhaupt erst in seinen Handlungen erschafft. Außerdem wird durch den Strategiebegriff angenommen, dass individuelles Verhalten grundsätzlich einer gewissen – wenn auch subjektiven und begrenzten – Rationalität folgt (methodologischer Rationalismus). Akteure verhalten sich, innerhalb der Grenzen ihrer Sozialisation und persönlichen Wahrnehmungsfähigkeit, im Hinblick auf wahrgenommene Restriktionen und Gelegenheiten strate-
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gisch. Somit hat der Forscher die beobachteten Praktiken nicht am Maßstab einer äußerlichen Rationalität oder eines one best way zu bewerten oder zu kritisieren, sondern er soll versuchen sie zu verstehen.118 Dabei muss er davon ausgehen, dass zunächst einmal alle Handlungen einen Sinn haben und einer gewissen Rationalität entsprechen (vgl. Crozier/Friedberg (1993), S. 292). Friedberg (1992) nimmt Ortmanns Kritik eines „leeren“ Rationalitätsbegriffes (Ortmann (1992a), S. 23) vorweg, wenn er in diesem Kontext von einer Umkehrung der Perspektive spricht, die einer Neutralisierung des Rationalitätsbegriffs gleichkomme: Beobachtbares Verhalten sei – qua Hypothese – immer im Bereich des Rationalen (vgl. S. 47). Crozier/Friedberg (1993) bezeichnen diese Hypothese auch als „heuristisches Grundpostulat“ (S. 292) bzw. als ein „heuristisches Verfahren“ (S. 374, Anm. 601), das Strukturen des sozialen Feldes aufdecken und verstehen hilft, und das somit Legitimation aus seiner „heuristische(n) Fruchtbarkeit“ bezieht (S. 305). Das Ziel des Forschers muss demnach gerade darin bestehen, „hinter dem scheinbaren ,Sinn‘ oder ,Unsinn‘ der beobachteten Phänomene deren ,tieferen‘ Sinn zu suchen und zu finden, das heißt die besonderen Zwänge aufzudecken, die (den) scheinbar ,irrationalen‘ Verhaltensweisen und Reaktionen ihre ,Rationalität‘ wiedergeben.“ (S. 292)
Rational und strategisch kann sich ein Akteur allerdings überhaupt nur dann verhalten, wenn er in einer bestimmten Situation die Wahl zwischen verschiedenen Alternativen hat, also nicht völlig determiniert ist. Sein Verhalten ist demnach niemals ausschließlich persönlichkeits- oder entwicklungsbezogen bedingt (vgl. auch Küpper/Felsch (2000), S. 16), ein Gedanke, der im Kontext der Differenzierung zwischen aspektualem und konzeptionalem Mikropolitikverständnis eine Rolle spielt (vgl. II. 1.). Organisationsmitglieder sind nicht einfach „Spielbälle ihrer Sozialisation“ (Friedberg (1992), S. 49), sondern besitzen einen wie auch immer gearteten Freiraum, sich in einer Situation unterschiedlich, auch im Sinne von abweichend, verhalten zu können. Küpper/Felsch (2000) weisen darauf hin, dass rationales Verhalten „gerade auch bedeuten [kann], sich den Verhaltenserwartungen anderer zu widersetzen, sich zu verweigern, nicht zu handeln“ (S. 16). Diese Handlungsfreiräume bedeuten weiterhin, dass strategisches Verhalten immer auch kontingentes Verhalten ist, d. h. „zugleich abhängig von einem Kontext, von den darin vorhandenen Gelegenheiten und den von ihm auferlegten (materiellen und menschlichen) Zwängen, und unbestimmt“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 313, Anm. 37).119 118 Rationalität wird hier also gerade nicht ausschließlich im Sinne einer „verabsolutierten Außenperspektive (wenn so etwas möglich ist)“ (Hampe (2006), S. 33) verstanden, sondern es wird explizit die beschränkte Perspektive der Akteure berücksichtigt. 119 Vgl. dazu auch Küpper/Felsch (2000), S. 17; Witt (1996), S. 38; Ortmann (1995), S. 23).
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Subjektiv ist die Rationalität der Akteure gemäß dieser Theorie insofern, als sie „abhängig [ist] von seiner Perzeption der Handlungsmöglichkeiten und -gelegenheiten und seiner Fähigkeit, sich dieser zu bedienen und diese zu nutzen.“ (Küpper/Felsch (2000), S. 16 sowie Küpper/Ortmann (1986), S. 593). Ob ein Freiraum für alternative Verhaltensweisen vorhanden ist oder nicht, hängt somit entscheidend von der konstruktiven Wahrnehmungs- und Deutungsleistung der Akteure, ihrem „organisatorische[m] Konstrukt (aktive Sicht)“, ab, und ist nicht etwa einseitig als objektiver organisationaler „Kontext (passive Sicht)“ gegeben (Crozier/Friedberg (1993), S. 35; H.v. m.). Darin sehen die Autoren auch den wichtigsten Vorteil des Begriffs der Strategie, dass er die Überwindung einer einseitig passiven Betrachtungsweise ermöglicht. Die Rationalität eines Akteurs ist somit nicht isoliert, sondern im organisatorischen Kontext zu untersuchen und das organisatorische Konstrukt im Erleben der Akteure zu verstehen (S. 34).120 Begrenzung erfährt die Rationalität dementsprechend nicht nur durch subjektive, kognitive Beschränkungen der Akteure, wie sie innerhalb des Konzepts der „bounded rationality“ erarbeitet wurden.121 Im Kontext dieser Arbeit ist der rationalitäts- und strategiebestimmende Einfluss, der aus den Machtbeziehungen zu anderen Akteuren resultiert, entscheidend: „Die scheinbare Irrationalität oder Unverständlichkeit der beobachtbaren Verhaltensweisen ist dann nur ein Zeichen dafür, daß man die Struktur der Macht- und Abhängigkeitsbeziehungen in einer Organisation und die Logik der sie regulierenden Spiele (noch) nicht erfaßt hat.“ (Friedberg (1992), S. 47)
Letztlich bleibt somit immer „eine Zone von strategischen Verhaltensweisen übrig, die ,rational‘ nicht erklärbar sind, wenn man nicht die Machtstruktur, die Beschaffenheit und die ,Regeln des Spiels‘ einbezogen hat“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 306). Bilden also die vorangegangenen Überlegungen zur Strategie des Akteurs den Ausgangspunkt einer Vorgehensweise, die individuelle Akteure als Träger eines organisatorischen Konstruktes in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellt, so ermöglicht erst die Reflexion über Macht, das Verhältnis von Individuum und Organisation zu analysieren, „denn letztlich ist Macht, als fundamentaler Mechanismus der Stabilisierung menschlichen Verhaltens, der Grundstein aller dieses Konstrukt bildenden Beziehungen.“ (S. 39; H.v. m.). Macht, als zweites wesent-
120 Daran zeigt sich m. E., dass sich die „Subjektivität“ der Rationalität nicht absolut denken lässt: Letztlich müssen Strategien, wenn sie kommunizierbar und begründbar und somit nachvollziehbar sein sollen, immer bis zu einem gewissen Grad verallgemeinerungsfähig und intersubjektiv sein, um überhaupt als Strategie angesehen werden zu können. 121 Vgl. die Einleitung dieser Arbeit. Einen Überblick über die Entwicklung der Theorien zur Rationalität liefern Ortmann et al. (1990), S. 68 ff. sowie Becker/Küpper/ Ortmann (1992).
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liches Element einer Strategischen Organisationsanalyse, ist Thema des nächsten Abschnittes. 2. Macht und Organisation a) Entwicklung des Machtbegriffs Bei der Entwicklung ihres Machtbegriffs gehen Crozier/Friedberg (1993) zunächst von einem allgemeinen Verständnis von Macht aus, als „bestimmten Individuen oder Gruppen verfügbare Möglichkeit, auf andere Individuen oder Gruppen einzuwirken.“ (S. 39) Macht wird somit, den einleitenden Überlegungen zu Beginn dieser Arbeit entsprechend, als eine tatsächlich verfügbare Möglichkeit zu Wirkung begriffen. Zugeschrieben werden kann diese Wirkmöglichkeit Individuen und Gruppen. Das Wesentliche an dieser Definition ist nach Ansicht der Autoren, neben der Offenheit bezüglich des „Wesens von Macht“, dass der „beziehungsmäßige Charakter von Macht“ in den Vordergrund tritt: „Auf andere einwirken, heißt, in Beziehung zu ihnen treten; und erst in dieser Beziehung kann sich die Macht einer Person A über eine Person B entfalten“ (ebd.). Friedberg (1992) ergänzt, dass Macht untrennbar mit einer Beziehung verbunden und ihr „wesensgleich“ (S. 41) ist. Macht kann demnach niemals eine Einzelperson ohne ein Gegenüber entfalten, Macht ist also kein „Ding“ (ebd.), kein Besitzstand und auch kein einseitig beim einzelnen Akteur zu verortendes Attribut (vgl. auch Crozier/Friedberg (1993), S. 317, Anm. 71).122 Andersherum gewendet, kann man davon ausgehen, dass jede Beziehung (zumindest potenziell) eine mehr oder weniger ausgeprägte Machtbeziehung impliziert (vgl. ebd., Anm. 65). Das deutet zum einen auf den universalen Charakter der Macht als grundlegende „Dimension sozialer Beziehungen“ (Küpper/Felsch (2000), S. 18) hin, zum anderen verliert die Macht durch diesen Gedanken etwas von der häufig anzutreffenden negativen Konnotation – sie wird, als „ein alltäglicher Mechanismus unserer sozialen Existenz“ (Friedberg (1992), S. 41), gewissermaßen zum „Normalfall“. Die Autoren spezifizieren diese anfänglich sehr weit gefasste und somit wenig operationale Auffassung von Macht im weiteren Verlauf dadurch, dass ihrer Meinung nach Macht nur zum Tragen komme, wenn Akteure in ein Abhängigkeitsverhältnis zueinander treten, sich also in eine bindende Beziehung begeben, die
122 R. Dahl definiert demgegenüber Macht explizit als „Fähigkeit einer Person A, zu erreichen, daß eine Person B etwas tut, was sie ohne den Eingriff von A nicht getan hätte“ (Dahl (1957), zit. nach Crozier/Friedberg (1993), S. 316, Anm. 64; H.v. m.; auch Neuberger (1995), S. 53). In dieser Gewichtung zu Gunsten einer Betrachtung von Macht als „Attribut“ eines Akteurs sehen die Autoren daher den Hauptunterschied zu ihrem eigenen Entwurf.
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durch persönliche Interessenlagen und Zielvorstellungen geprägt ist (vgl. Crozier/Friedberg (1993), S. 39). Küpper/Felsch (2000) knüpfen an diesen Aspekt an, wenn sie, in Anlehnung an Colemans Differenzierung zwischen konjunkter und disjunkter Herrschaft (vgl. Coleman (1991), S. 90 ff.), Machtbeziehungen danach differenzieren, ob sie sich auf Interessenhomogenität oder -heterogenität der Akteure gründen (vgl. S. 30 f.): Von einer Kooperationsbeziehung wird gesprochen, wenn sich Akteure mit ähnlichen Interessen zusammentun und einen (partiellen und graduellen) Konsens darüber erzielen, dass durch die Kopplung der Handlungspotenziale in einer koordinierten Zusammenarbeit eine so genannte „Win-Win“-Situation erreicht werden kann, von der beide Seiten profitieren. Die unterschiedliche Macht der Akteure zeigt sich innerhalb dieser Beziehungen an dem unterschiedlichen Einsatz und der differierenden Nützlichkeit ihrer Handlungspotenziale sowie an dem daraus resultierenden Anspruch auf unterschiedlich große Anteile des gemeinsam erzielten Ergebnisses. Dass es dabei, zu Beginn sowie im Verlauf solcher Kooperationsbeziehungen, fortlaufend zu Konflikten (beispielsweise über die Zielsetzung, bezüglich der Interessenhomogenität oder in Hinblick auf Arbeitseinsatz und Ergebnisanteil) kommt, erscheint plausibel und deutet auf die Dynamik von Machtbeziehungen hin. Eine Konkurrenzbeziehung ist demgegenüber durch eine Situation gekennzeichnet, in der Akteure mit heterogenen und konfligierenden Interessen zu einem Konsens darüber gelangen, „dass ein partieller Austausch bzw. eine gegenseitige Übertragung ihrer Handlungspotentiale für die je unterschiedlichen Interessen aller Beteiligten förderlich ist.“ (Küpper/Felsch (2000), S. 30) Für die Dynamik dieser Art von (Macht-)Beziehung ist der, trotz Konsens, weiterhin permanent und offen andauernde Interessen- und Zielkonflikt entscheidend, der eine laufende Prüfung und Kontrolle der Austauschbedingungen nötig macht und somit ein Klima des Misstrauens schafft. In beiden Fällen werden Machtbeziehungen demnach als fortlaufende Austausch- und Verhandlungsbeziehungen angesehen. Dies ist ganz im Sinne Crozier/Friedbergs (1993), die Macht in einem weiteren Schritt der Spezifikation ebenfalls als eine „Tausch- und also eine Verhandlungsbeziehung“ (S. 40) begreifen, „denn es gibt keine Beziehung ohne Austausch und keinen Austausch ohne (implizites oder explizites) Aushandeln der Tauschbedingungen.“ (Friedberg (1992), S. 41) Als Tausch- und Verhandlungsbeziehung ist Macht ihrer Meinung nach durch folgende Eigenschaften gekennzeichnet (vgl. Crozier/Friedberg (1993), S. 40 f.): Zum einen ist sie instrumenteller Natur, d. h., sie wird von ihrem Ziel her begriffen, zu dessen Erreichen bestimmte Mittel und Ressourcen eingesetzt werden. Machtbeziehungen sind also keine zweckfreien Beziehungen. Es geht immer darum, etwas zu erreichen, Bewegung ins Spiel zu bringen, Ziele durchzusetzen,
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bestimmte Entscheidungen hervorzurufen oder zu verhindern. Macht stellt das hierzu notwendige Mittel dar. Des Weiteren ist die Beziehung durch Intransitivität gekennzeichnet, d. h., wenn Akteur A die Möglichkeit hat, bei Akteur B eine Wirkung zu entfalten, also beispielsweise ein gewisses Verhalten hervorzurufen, und B bei C, so ist dadurch nicht impliziert, dass A auch in Bezug auf C diese Möglichkeit „besitzt“.123 Darüber hinaus wird die Beziehung zwar als gegenseitige, aber asymmetrische aufgefasst. Asymmetrisch insofern, als es sich nach Crozier/Friedberg (1993) bei Machtbeziehungen immer um unausgewogene Beziehungen handelt: „Ist der Austausch nämlich gleichwertig, besteht kein Grund mehr zu behaupten, daß einer Macht über den anderen ausübt.“ (Friedberg (1992), S. 42) Macht bedarf demnach strukturell ungleichgewichteter Beziehungen (vgl. ebd., S. 323, Anm. 129). Allerdings sind der Unausgeglichenheit dadurch Grenzen gesteckt, dass Machtbeziehungen, sozusagen auf der anderen Seite des Spektrums, durch das Kriterium der Gegenseitigkeit begrenzt wird: Kann einer der Akteure gar keine Ressourcen mehr in die Beziehung einfließen lassen (oder sie verweigern), ist die Möglichkeit des Austausches im eigentlichen Sinn erloschen. Zusammenfassend kann man Macht demnach als „Kräfteverhältnis“ ansehen, „aus dem der eine mehr herausholen kann als der andere, bei dem aber gleichfalls der eine dem anderen nie völlig ausgeliefert ist.“ (Friedberg (1992), S. 42; Crozier/Friedberg (1993), S. 41) Macht beruht also auf – wenn auch ungleichgewichteter – Gegenseitigkeit: „Ein Akteur kann nur dann Macht über andere ausüben und sie zu seinen Gunsten ,manipulieren‘, wenn er sich auch von diesen ,manipulieren‘ läßt und ihnen gestattet, Macht über ihn auszuüben“ (ebd., S. 63).
Der Bereich, in dem sinnvoll von „Macht“ gesprochen werden kann, wird nach dieser Vorstellung auf der einen Seite durch ein vollständiges Gleichgewicht der Kräfte begrenzt und auf der anderen Seite durch das völlige Verschwinden einer der beiden Kräfte. Welches sind nun diese Kräfte und Ressourcen, die Akteure in die jeweilige Tauschbeziehung einfließen lassen können und die als Grundlage für die Macht fungieren, und wie lassen sie sich näher spezifizieren? Der Begriff der „Ressource“ sollte in diesem Zusammenhang nicht dazu verleiten, ausschließlich an materielle Ressourcen wie Rohstoffe, Geld etc. zu denken. Vielmehr kann jeder 123 Eben dadurch, dass diese Möglichkeit innerhalb dieser Theorie nur in spezifischen Beziehungen sowie für bestimmte Wirkungen respektive Verhaltensweisen existent ist, entpuppt sich die Rede vom „Besitz“ der Möglichkeit oder „Fähigkeit“ (Friedberg (1992), S. 41), ein bestimmtes Verhalten hervorzurufen, genau genommen als Ungenauigkeit, die allerdings häufig nicht einfach zu umgehen ist. Coleman versucht dies zu lösen, indem er Macht auffasst als ein „Systemmerkmal, das durch die Machtbeziehungen der Akteure erzeugt wird.“ (Küpper/Felsch (2000), S. 23)
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Teil 1: Rekonstruktion der Machtkonzepte
Akteur sich selbst und sein Verhalten als Mittel in die instrumentellen Tauschund Verhandlungsbeziehungen einbringen. Crozier/Friedberg fokussieren den Blick insbesondere auf diese Verhaltens- und Handlungsmöglichkeiten, die Akteure zum Tausch zur Verfügung haben: A nimmt mit B eine Beziehung auf, weil B eine für A relevante Handlungsoption besitzt, die A selbst nicht hat (vgl. Friedberg (1992), S. 42). Je größer nun die Möglichkeit von B ist, die von A zu dessen Zielerreichung benötigte und geforderte Handlung zu verweigern, d. h. je besser er sein Verhalten für A unvorhersehbar machen kann, und je größer somit die von ihm kontrollierte Unsicherheitszone ist, desto größer ist die Macht von B über A in dieser konkreten Beziehung. Neben der Unvorhersehbarkeit spielt hierbei die Bedeutung des Verhaltens von B für A eine entscheidende Rolle: Nur wenn B mittels seiner Handlungsmöglichkeit auch wirklich in der Lage ist, A bei seiner Zielerreichung behilflich zu sein, er also über eine für A relevante Handlungsoption verfügt, kann man von einer Machtquelle innerhalb seiner Beziehung zu A sprechen. Die Macht eines Akteurs B über einen anderen Akteur A kann demnach als Kontrolle Bs einer für A im Hinblick auf dessen Interessenlage und Zielvorstellungen relevanten Ungewissheitszone definiert werden. Die Kontrolle umfasst dabei sowohl die Fähigkeit, für den anderen Akteur als relevant angesehene Probleme an dessen Stelle zu lösen, als auch die Möglichkeit, eben diese Problemlösung verweigern zu können (s. Friedberg (1992), S. 42 f.). Wenn B die Bereitschaft zu einem bestimmten von A gewünschten Verhalten dagegen gar nicht kontrollieren (z. B. verweigern, verzögern, gewähren usw.) kann, tritt er A nicht als autonomer Akteur gegenüber, sondern als verfügbares Objekt. In diesem extremen Fall ist die Gegenseitigkeit nicht gewährleistet, es existiert für Crozier/Friedberg keine Machtbeziehung zwischen A und B. Mit Kant gesprochen, besteht also für den Akteur die Notwendigkeit, sich in einer Beziehung durchaus „immer auch“, aber „niemals bloß“ zum Mittel machen zu lassen, wenn er seine Machtpotenziale aufrechterhalten möchte (GMS, AA 4, S. 429). b) Identitätstheoretische Fundierung Bevor mittels dieser Definition von Macht die Struktur organisationaler Machtbeziehungen näher beleuchtet wird [s. I.2.c)], sind an dieser Stelle einige ergänzende Anmerkungen zu dem Komplex von Macht und Identität angebracht, der in der mikropolitischen Literatur eine wichtige Rolle spielt. Und zwar aus zwei Gründen. Zum einen haben Machtbeziehungen in der eingenommenen Perspektive immer eine offensive sowie eine defensive Komponente: „Alle Gegenspieler trachten danach, ihren eigenen Handlungsspielraum zu beschützen und soweit möglich auszubauen, und zur selben Zeit versuchen sie, die Spielräume ihrer relevanten Gegenspieler soweit möglich einzuengen“ (Friedberg (1992), S. 43).
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Durch die Eingrenzung, den Schutz und die Ausweitung dieser Spielräume wird eindeutig die Möglichkeit der Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung und somit der Ausbildung einer „Ich-Identität“ (Krappmann (1969), S. 79) aller beteiligter Akteure tangiert. Zum anderen markiert Identität einen „Balanceakt zwischen Rollenkonformität und Rollendistanz“ (Neuberger (1994), S. 83 ff.) an der Schnittstelle zwischen einem Individuum und einer Gruppe, einer Organisation oder Gesellschaft, der seinerseits in enger Verbindung zu der Möglichkeit steht, Machtpotenziale aufzubauen. Ein derartiges Balancemodell der Identitätsbildung mit einigem Einfluss auf die mikropolitische Theorie entwirft Krappmann (1969) in kritischer Anlehnung an G. H. Mead.124 Identität wird in diesem Konzept als „das Ergebnis eines Prozesses [aufgefasst], in dem Erwartungen ausgetauscht und nach und nach einander angeglichen werden.“ (Krappmann (1969), S. 34). In diesem „Handel um Identität“ (vgl. McCall/Simmons (1966), S. 140 f.) kann „niemand auf jegliche Interaktion verzichten (. . .), falls er eine Identität aufbauen möchte“, denn Identität „besitzt man immer nur in bestimmten Situationen und unter anderen, die sie anerkennen“ (Krappmann (1969), S. 35).125 Neben dem Bewusstsein um die eigene Einzigartigkeit ist also die Anerkennung dieses Andersseins durch die anderen nötig, die wiederum nur dann gewährt wird, wenn auf deren (teilweise widersprüchliche) Erwartungen zumindest in Teilen eingegangen wird. Die Identitätsbildung entpuppt sich für das Individuum somit als schwieriger Balanceakt zwischen den Polen der „personalen“ bzw. „sozialen Identität“, die Krappmann in Anlehnung an Meads Konzepte des „I“ bzw. „Me“ entwirft (vgl. Mead (1934), S. 173 ff.). So wie das „Me“ für die vielfältigen und teilweise widersprüchlichen antizipierten und „internalisierten Erwartungskomplexe(.)“ (Krappmann (1969), S. 48) steht, denen sich jedes Individuum im Kontakt mit seiner Umwelt gegenübersieht, fasst Krappmann die „soziale Identität“ als Menge der unterschiedlichen, mehrdeutigen (S. 74) und „im Regelfall nicht in sich widerspruchfrei und konsistent“ vorliegenden Erwartungen der anderen auf (S. 72).126 124 Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch die Handouts zu der Vorlesung „Personalentwicklung und Organisationales Lernen“ an der Universität Hamburg aus dem Sommersemester 2000, hier zitiert als HO. 125 „Das Ich formt sich in im Prozeß der Interaktion mit anderen. Indem man sich mit diesen anderen abgibt, entdeckt man, was man ist“ (Cohen (1972), S. 169). Auch Gerhardt (2000) untermauert diese These, wenn er davon spricht, dass man vom eigenen Ich nicht ohne Bezug zum Ich eines Gegenüber sprechen könne (vgl. S. 21). Vielmehr sei der Mensch „das sich ausdrücklich individualisierende Lebewesen. Er kommt – vor seinesgleichen und vor sich selbst – zu sich selbst“ (ebd. S. 37 f.). Für die dazu nötige Selbsterkenntnis muss man, wie es bereits im Alkibiades heißt, ins Auge des Anderen sehen, um sich darin, wie in einem Spiegel, zu erkennen (Alkibiades I, 133a f.; dazu auch Gerhardt (1999), S. 70). In diesem Kontext verweisen auch Küpper/Felsch ausdrücklich auf Gerhardts Konzept der Selbstbestimmung als Prinzip der Individualität: „Eine umfassende philosophische Grundlegung der für identitätstheoretische Konstrukte wesentlichen Selbstkonzepte von Individuen liefert Volker Gerhardt (1999).“ (Küpper/Felsch (2000), S. 362, Anm. 36)
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Teil 1: Rekonstruktion der Machtkonzepte
Das „I“ stellt für Mead die spontane, individuelle, kreative und unvorhersehbare Antwort des Individuums auf diese Erwartungen dar und bildet somit als Gegenstück des „Me“ das zweite Element des „Selbst“ (Krappmann (1969), S. 58). Diese Unvorhersehbarkeit („The response (. . .) is uncertain“ (Mead (1934), S. 175) ist nicht mit Zufälligkeit zu verwechseln. Vielmehr geht Mead von einer wechselseitigen Beeinflussung zwischen „Me“ und „I“ aus. Zwar beeinflussen mal das „I“ und mal das „Me“ das jeweilige Verhalten stärker, letztlich muss sich das „I“ aber nicht gegen das „Me“ durchsetzen, sondern bekommt durch „das ,Me‘ gerade die Möglichkeit eröffnet, sich als ,I‘ auszudrücken.“ (Krappmann (1969), S. 59) Identität besteht somit immer zugleich aus antizipierten Erwartungen der anderen und einer eigenen Antwort des Individuums (vgl. ebd., S. 39). Die „personale Identität“, als Pendant zum Meadschen „I“127, steht nun in Krappmanns Konzept für die Rekonstruktion der aktuellen und vergangenen Handlungen des Individuums im Hinblick darauf, sein bisheriges Handeln als konsistentes und im Zeitverlauf kontinuierliches und somit als nachvollziehbares, verstehbares und eventuell sogar voraussehbares erscheinen zu lassen.128 Neben der Kontinuität muss auch die Einzigartigkeit des Individuums kommuniziert werden, um für das Gegenüber von Interesse sein zu können. Es wird also gleichzeitig der Anspruch an das Individuum gestellt, „so zu sein wie alle anderen und so zu sein wie niemand“ (S. 78). Seine Besonderheit, seine Individualität, bezieht das Individuum aus der Art, wie es balanciert (vgl. S. 79). Diese Balance aufrecht zu erhalten, ist für Krappmann die entscheidende Bedingung für die Zuschreibung von Ich-Identität. Auf horizontaler Ebene muss er im Hinblick auf seine gleichzeitige Beteiligung an mehreren (mehrdeutigen und widersprüchlichen) Interaktionssystemen das Problem lösen, „wie er als ein und derselbe auftreten kann, obwohl er sich in jeder Interaktion im Horizont verschiedener Erwartungen artikulieren muss“ (S. 75). Will er allen Anforderungen genügen, droht die Gefahr, „zerrissen zu 126 R. Coser hebt hierbei die Bedeutung der fortschreitenden Arbeitsteilung für die steigende Komplexität der Erwartungen hervor. Daraus ergebe sich für das Individuum, das „stets mehrere und vieldeutige Rollen“ spiele, „ein Individuierungseffekt; denn das Indidviduum kann diese verschiedenen Rollen nur dann ausfüllen, wenn es sie selbst zu interpretieren vermag.“ (Boudon/Bourricaud (1992), S. 221 f.) 127 Personale Identität im Sinne Krappmanns ist dabei durchaus als kritisches Pendant zu begreifen. So kritisiert Krappmann z. B., dass bei Mead unklar bleibe, wie sich das „I“ in Wechselwirkung zum „Me“ konstituiert, dass die soziale Genese und somit die biographische Bedingtheit des „I“ zu wenig Berücksichtigung finde und die Funktion des „I“ für die Teilnahme des Individuums an sozialen Prozessen zu kurz komme (HO 11, S. 2 f.). Vgl. zu Mead weiterführend auch Tugendhat (1979), S. 245–292. 128 Diese Identitäts(re)konstruktion geschieht zwar durch das Individuum selbst, aber nicht im Sinne einer „freie[n] Leistung“ (Krappmann (1969), S. 76) des Individuums, sondern in Bezug zu der Biographie, die ihm von seinen Interaktionspartnern zugeschrieben wird. Begrifflich bezieht sich Krappmann mit dem Terminus „personale Identität“ auf Goffmans „personal identity“ (vgl. Krappmann (1969), S. 73 f.).
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werden“ (S. 80).129 Auf vertikaler, zeitlicher Ebene steht der Akteur vor der Aufgabe, seinen Lebenslauf als kontinuierlich zu rekonstruieren, obwohl er in verschiedenen Lebenslagen auf unterschiedliche Art und Weise versucht hat, die Balance einer Ich-Identität herzustellen (vgl. S. 75). Wichtig ist für die zu wahrende Ich-Identität dabei, dass die Internalisierung von Normen auf eine Weise geschieht, die dem Individuum die Möglichkeit der Reflexion lässt. Aus dieser reflexiven Rollendistanz heraus muss darüber hinaus die Fähigkeit vorliegen, flexibel auf die Erwartungen anderer reagieren zu können (Rollenflexibilität), Unvereinbarkeiten zwischen eigenen und fremden Bedürfnissen auszuhalten (Ambiguitätstoleranz) und sich in die Situation des jeweiligen Gegenübers versetzen zu können (Empathie), um zu einer identitätsstiftenden Interaktion kommen zu können.130 Graphisch lässt sich das hier skizzierte Balancemodell folgendermaßen zusammenfassen:
Self-identity (Mead)
„I“
„ME“
Sich-selbst-als-Subjekt erleben
Sich-selbst-als-Objekt erfahren1
Spontaneität Kreativität Antriebsüberschuss
Bild, das andere von mir haben (internalisierte und generalisierte Erwartungsmuster)
„Personale Identität“ Individuelle (Re-)Konstruktion aktueller und vergangener Handlungen des Individuums
Ich-Identität (Krappmann) − Rollenflexibilität − Empathie − Ambiguitätstoleranz
„Soziale Identität“ Menge der unterschiedlichen, mehrdeutigen und widersprüchlichen Erwartungen der anderen
ZIEL: Einzigartigkeit − Kontinuität Probleme auf horizontaler/vertikaler Ebene
Abb. 2: Identität nach Mead und Krappmann (angelehnt an Küpper/Felsch (2000), S. 300)
129 Dies ist ein Aspekt der Identitätsbildung, der nicht zuletzt die Literaten fasziniert und inspiriert hat. Als ein Beispiel einer expliziten Stellungnahme sei hier nur H. Hesse angeführt, dessen Ansicht, die Persönlichkeit entstehe aus „den zwei entgegengesetzten Kräften, dem Drang nach einem persönlichen Leben und der Forderung der Umwelt nach Anpassung“ (Hesse (1986), S. 91), große Ähnlichkeit zu Krappmanns Analyse aufweist. 130 Nach Krappmann (1969) ist Ambiguitätstoleranz für die Identitätsbildung mutmaßlich die entscheidende Variable, „weil Identitätsbildung offenbar immer wieder verlangt, konfligierende Identifikationen zu synthetisieren.“ (S. 167)
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Teil 1: Rekonstruktion der Machtkonzepte
Gelingt dieser Balanceakt im Kontinuum zwischen Ablehnung und Zustimmung bezüglich der Erwartungen der anderen nicht, so kommt es entweder zur totalen Unterwerfung oder zur sozialen Isolierung (vgl. Küpper/Felsch (2000), S. 34). Eine besondere Gefahr für die Persönlichkeitsentwicklung stellen hierbei stark asymmetrische Machtverhältnisse dar, wie sie sich beispielsweise in „totalen Institutionen“ i. S. Goffmans (1961), also in Krankenhäusern, Klöstern, militärischen Ausbildungslagern usf. finden.131 Derartige Institutionen sind u. a. dadurch charakterisiert, dass in ihnen alle Bereiche des Lebens der Regelung durch leitende Instanzen unterworfen sind, und dass ihre Insassen ihr altes „Selbst“ aufgeben und ein neues aufbauen (Krappmann (1969), S. 40). Es ist jedoch festzustellen, dass Menschen die Tendenz zeigen, ihre Identität zu wahren und notfalls zu verteidigen, und dass dieser hartnäckige Widerstand (recalcitrance) kein zufälliger Verteidigungsmechanismus ist, sondern vielmehr ein „essential constituent of the self“ (Goffman (1961), S. 319). Folgt man der Logik Krappmanns, so hätte eine totale Entsprechung der Ansprüche, sofern das bei widersprüchlichen Erwartungen überhaupt möglich ist, nicht nur einen Verlust des Selbst einer Person zu Folge, sondern letztlich würde sie auch für die Identitätsbildung des Herrschenden irrelevant (vgl. Krappmann (1969), S. 35). „Normalerweise“ ist aber davon auszugehen, dass Akteure bemüht sein werden, ihre Ich-Identität in allen Interaktionszusammenhängen zu wahren, also nie vollständig den Erwartungen der anderen zu entsprechen, unvorhersehbar zu bleiben etc. Freilich ist auch die bewusste Strategie des vorläufigen oder vorgetäuschten Identitätsverzichtes denkbar, z. B. in extrem asymmetrischen „Ausbeutungsverhältnissen“ (S. 35), wie zwischen KZ-Wächter und Häftling. In einer derartigen Beziehung fehlen die strukturellen Voraussetzungen für eine Interaktion im eigentlichen Sinne und somit für Identität. Auch Küpper/Felsch (2000) diskutieren, inwiefern in derartigen Fällen eine (nicht endgültige) totale Identifikation als rationales Verhalten gelten kann, z. B., wenn die Chance besteht, den aufgegebenen Teil des Selbst später zurückzuerlangen (vgl. S. 25). Generell ist festzuhalten, dass Identität auch in asymmetrischen Beziehungen möglich ist, allerdings muss der Unterprivilegierte zur Signalisierung seiner Definition der Situation häufig ein ungleich größeres Risiko tragen (vgl. Krappmann (1969), S. 35). Inwieweit die Menschen ihren Anspruch auf Individualität aufrechterhalten können, hängt dabei entscheidend von den Spielräumen ab, die ihnen zur Verfügung stehen (vgl. ebd., S. 54), der Unvorhersehbarkeit ihrer Handlungen und somit von ihrer Macht im Sinne Crozier/Friedbergs: „Will ich verhindern, daß der andere mich wie ein Mittel, ein einfaches Ding, behandelt, so bleibt mir nur, mein Verhalten unvorhersehbar zu machen, das heißt, Macht auszuüben.“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 324, Anm. 132) 131 Zur Persönlichkeitsentwicklung im Zusammenhang von Personalentwicklung aus machttheoretischer Perspektive vgl. Felsch (1999).
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Nicht jede Art von sozialer Beziehung ist demnach identitätsstiftend. Identität ist auf bestimmte Arten von Beziehungen angewiesen. So wie die Existenz einer Machtbeziehung von dem Aspekt der Gegenseitigkeit zweier relativ autonomer Akteure abhängt, sind für die Identitätsbildung Beziehungen nötig, „in denen Erwartungen übernommen oder auch abgelehnt werden können“ (Krappmann (1969), S. 35). Macht und Identität sind in einem ähnlichen Spektrum von sozialer Beziehung anzutreffen, das v. a. dadurch gekennzeichnet ist, dass immer eine Art „Restautonomie“ vorhanden ist: „Macht gibt es nicht ohne Autonomie und Autonomie nicht ohne Macht“ (Friedberg (1992), S. 42). Und auch im Mittelpunkt des dargestellten Identitätskonzepts steht die Bewahrung und Entwicklung persönlicher Autonomiebereiche, die der eigenen Biographie, den besonderen Lebenserfahrungen und -umständen gerecht werden. Über den Aspekt der Autonomie sind Macht und Identität gleichsam miteinander verschränkt und verweisen aufeinander.132 Macht setzt einen – wenn auch noch so residualen – Bereich der Identität voraus, und der Prozess der Identitätsbildung kann seinerseits adäquat als Machtprozess begriffen werden: „Der Zugang zu Machtquellen, das heißt, zu alternativen Verhaltensmöglichkeiten, und die effektive Benutzung dieser Möglichkeiten enthüllen sich somit als Voraussetzung nicht nur jeglicher Beziehung zum Mitmenschen, sondern auch jeglichen Prozesses der Personenbildung, des Erwerbs von Identität.“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 318, Anm. 73)
Die in diesem Kapitel skizzierten Überlegungen können somit als identitätstheoretische Fundierung der Ausgangsüberlegungen der Strategischen Organisationsanalyse interpretiert werden, dass „der Mensch selbst in extremsten Lagen immer ein Minimum an Freiheit bewahrt und nicht anders kann als diese zu benutzen um ,das System zu schlagen‘“ (ebd., S. 25): Er muss seine Handlungsspielräume verteidigen, um seine Identität zu sichern.133 Dies gilt auch für sein Verhalten in Organisationen. c) Organisationale Machtbeziehungen, -quellen und -strategien Durch die vorangegangenen Spezifikationen haben wir einen operationalen Begriff von Macht als Kontrolle relevanter Ungewissheitszonen erhalten, sodass der Schritt zu einer Analyse organisationaler Machtbeziehungen nicht mehr groß 132 Felsch (1999) spricht in einer vertieften (und Crozier/Friedbergs Überlegungen vertiefenden) Auseinandersetzung von einem „dialektischen Verhältnis zwischen Macht und Identität“ (S. 164). 133 Konflikte in Organisationen kommen somit durch normale Bestrebungen der Identitätsbehauptung zu Stande (vgl. Alt (2001). Aus dieser Sicht erscheint auch eine wichtige Prämisse des „Management by Conflicts“ plausibel, nämlich „Konfliktsituationen als ein Wesensmerkmal sozialer Systeme“ (Krink (1977), S. 160; H.v. m.) und nicht etwa als einen Ausnahmefall anzusehen. Ebenso Neuberger (1995), (2006); Hahne (2006).
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ist. Wurde bisher eher auf Akteursebene argumentiert, so stehen jetzt strukturelle „Zwänge kollektiven Handelns“ im Vordergrund, die sich aus der Tatsache ergeben, dass Macht sich ebenso wie Identität nur kontextbezogen in sozialen Beziehungen entwickeln kann (vgl. HO 12, S. 2). Es ergibt sich sozusagen ein „Dreiklang“ aus Akteur, auf Ressourcen basierende Handlungsoptionen und Kontext (ebd., S. 4). Auf dieser Ebene kommen die (sozial)strukturellen Merkmale einer Organisation zum Tragen (vgl. Crozier/Friedberg (1993), S. 46; S. 319, Anm. 90). Diese Strukturen ermöglichen einerseits die Entwicklung organisationaler Machtbeziehungen, indem sie organisationale Ungewissheitszonen schaffen, um die herum diese Beziehungen entstehen können, andererseits regulieren sie deren Ablauf, Dauer und Ausprägung auf entscheidende Weise. An dieser Stelle erlangt der oben angesprochene Beziehungscharakter von Macht erneut Bedeutung: Es gibt „keine Macht als solche“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 47), „an sich“, sondern nur zwischen mindestens zwei Akteuren, die damit in eine wie auch immer organisierte Verbindung treten. „Macht und Organisation sind unlöslich miteinander verbunden“ (ebd.). Organisation wird hier von den Autoren auch in einem weiten Sinn als Organisiertheit aufgefasst, was der zweiten Verwendungsweise der Einleitung entspricht. Organisation in diesem Sinne ermöglicht und prägt die Entwicklung von Machtbeziehungen durch ihre spezifische Struktur, und die Existenz von Machtbeziehungen ihrerseits ist synonym mit der Existenz eines „Minimums an Organisierung“ (ebd., S. 319, Anm. 91). Bettet man menschliche Akteure in ein derartig strukturiertes soziales Feld ein, so kann Macht als Fähigkeit eines Akteurs begriffen werden, „das für eine Machtbeziehung relevante Handlungsfeld derart auszudehnen, dass das Kräfteverhältnis letztlich zu seinen Gunsten ausschlägt“ (ebd., S. 45 f.). Die Entdeckung und die Analyse derartiger Machtbeziehungen in konkreten, beobachtbaren Autoritäts-, Interaktions- und Kommunikationsmustern von institutionellen Organisationen gestalten sich allerdings als schwierig, „weil sie auch außerhalb der offiziellen hierarchischen Strukturen angesiedelt sind“ (Küpper/ Ortmann (1986), S. 593; s. auch Küpper/Felsch (2000), S. 35 f.). Darüber hinaus sind Machtbeziehungen „niemals einfaches Abbild von Kräfteverhältnissen“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 49), spiegeln nicht „rein und mechanisch“ Ungleichheiten der Akteure wider (ebd., S. 46). Das bloße Vorhandensein von Unsicherheitsquellen bedeutet noch nicht, dass Akteure mit Zugriff auf diese auch Macht ausüben können, „man darf also nicht mechanisch vom Vorhandensein einer kontrollierbaren Unsicherheitszone (= Machtmöglichkeit) auf deren tatsächliche Kontrolle (Macht) schließen.“ (Neuberger (1995), S. 208) Die Akteure müssen darüber hinaus auch fähig und willens sein, die Machtquellen als solche ins Spiel zu bringen (vgl. Ortmann (1995), S. 52 f.).134 Und 134 Eine grundsätzliche Ungewissheitsquelle aus Sicht der Vorgesetzten und somit eine potenzielle Machtquelle aus Sicht der Untergebenen stellt z. B. die Umwandlung
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dies auf eine Weise, die ihre Kontrolle der Machtquelle auch zukünftig sicherstellt. Crozier/Friedberg (1993) verdeutlichen dies am „Standardbeispiel“ (Ortmann (1995), S. 52) einer Gruppe von Wartungsarbeitern, für die sich „ – überspitzt formuliert – das folgende Dilemma [ergibt] (. . .): wie müssen die Maschinen gewartet werden, um so gut zu laufen, daß die Produktion nicht gefährdet ist, um aber dennoch genügend Probleme aufzuwerfen, so daß ihre Wartung eine entscheidende Ungewißheitsquelle bleibt.“ (S. 63)
Im Unterschied zu Luhmanns (1988) Ausführungen bricht die Macht demnach nicht zusammen, wenn die zu „vermeidende Alternative“ in Form einer Maschinenpanne eintritt (S. 23), vielmehr beruht die Macht der Wartungsarbeiter in sozusagen auf der „richtigen Dosis“ von Pannen (vgl. Crozier/Friedberg, S. 323, Anm. 63). Anders formuliert, muss es den Arbeitern also darum gehen, sich „unentbehrlich“ zu machen. Eine Hilfe für die konkrete Analyse von organisationalen Machtbeziehungen bietet die Identifikation bestimmter „Typen von Macht“ (ebd., S. 49 ff.), also potenzieller organisationaler Machtquellen, die aus vier für die Organisation besonders relevanten Unsicherheitszonen resultieren:
1. Der Besitz einer nur schwer ersetzbaren funktionalen Fähigkeit, Fertigkeit oder von speziellen Kenntnissen, die zur Lösung von wichtigen Problemen der Organisation nötig sind () Expertenwissen) Dieses Wissen versetzt den Akteur in eine sehr vorteilhafte Position für Verhandlungen mit der Organisation oder seinen Kollegen. Beispiel: EDV-Experten. 2. Die Beziehungen zwischen Organisation und Umwelt sowie die zur Steuerung dieser Beziehungen nötigen Kentnisse und Fähigkeiten als Spezialfall des Expertenwissens Organisationen stehen notwendigerweise in einem funktionalen Kontakt mit ihrer Umwelt, um die für ihren Fortbestand nötigen materiellen und personellen „Ressourcen“ erhalten und ihre Produkte und Leistung anbieten zu können. Da Störungen dieses Austausches die Funktionsfähigkeit der Organisation in Frage stellen können, sind Umweltbeziehungen für Organisationen immer eine relevante Ungewissheitsquelle, mit deren Hilfe Individuen oder Gruppen, die an Knotenpunkten dieses Verbindungsnetzes tätig sind, eine machtvolle Position generieren können. Besonders deutlich wird diese (interorganisationale) Machtquelle am Beispiel so genannter
des Arbeitsvermögens zu tatsächlicher Arbeitsleistung dar, ohne dass daraus direkt eine Überlegenheit einer der beiden Seiten ableitbar wäre. Dies wird vom Wissenschaftszentrum Berlin als so genanntes „arbeitspolitisches Transformationsproblem“ thematisiert, dessen theoriegeschichtlichen Hintergrund Ortmann et al. (1990) aufzeigen (vgl. S. 17, Anm. 4).
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„Broker“ als Vermittler zwischen einzelnen Komponenten eines „dynamic network“ (vgl. Miles/Snow (1986)). 3. Die Kontrolle von Informations- und Kommunikationskanälen Durch die Art und Weise, wie in einer Organisation die Informationsflüsse zwischen Einheiten ablaufen, werden Machtbasen geschaffen. Ortmann et al. (1990) legen beispielsweise dar, dass in einem Fall der Einführung eines Personalinformationssystems ein Hauptkonflikt zwischen den Abteilungen der Personalplanung und -abrechnung um die Zugriffsrechte auf die Personaldaten entbrannt ist (vgl. Fall 2, S. 180 ff.). 4. Die Nutzung organisatorischer Regeln Regeln dienen eigentlich dazu, Unsicherheit zu reduzieren, erschaffen aber v. a. in ihrer Interpretation und Anwendung paradoxerweise neue Unsicherheitsbereiche, die von beiden Seiten, Vorgesetzten und Untergebenen, strategisch genutzt werden können.
Abb. 3: Typen organisationaler Macht nach Crozier/Friedberg (1993)135
Die ersten drei Quellen organisationaler Macht verweisen insbesondere auf die Bedeutung von Information und Kommunikation für Machtprozesse innerhalb von Organisationen (vgl. HO 12, S. 5).136 Küpper/Felsch (2000), in deren weitergehender Analyse der Etablierung organisationaler Machtbeziehungen u. a. die Prozesshaftigkeit und Dynamik von Machtbeziehungen in den Mittelpunkt rücken, weisen ebenfalls explizit auf die Wichtigkeit von Information als Ressource hin: „Die Ressource Information ist allgegenwärtig, da sie auch alle Transformationen und Übertragungen materieller und finanzieller Ressourcen anstößt, vermittelt und begleitet. Macht organisationaler Akteure und ihre Machtbeziehungen können deshalb überall dort aufgebaut, verändert und eingeschränkt werden, wo menschliche Perzeptions-, Interpretations-, Bewertungs- und Überzeugungsleistungen bei der Gewinnung, Verarbeitung und Übertragung von Informationen besonders gefragt sind.“ (Küpper/Felsch (2000), S. 36; dazu auch Witt (1996), S. 42)
Das ist nachvollziehbar, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Macht in der Kontrolle relevanter Unsicherheitszonen besteht. Ob ein derartiger Unsicherheits135 Crozier/Friedberg (1993) weisen darauf hin, dass die Trennung der einzelnen „Machttypen“ ausschließlich analytischen Wert beanspruchen könne, in „der Realität sind Typen von Ungewißheitszonen und die damit verbundenen Machtbeziehungen zumeist, und manchmal unauflöslich, vermischt.“ (S. 320, Anm. 97) 136 In strukturationstheoretischer Terminologie ließe sich hier von Signifikation/ Kommunikation sprechen, während die Nutzung organisatorischer Regeln der Dimension der Legitimations- bzw. Sanktionsebene zuzuordnen wäre (s. Teil 1 B. II. 2.). Nach Ortmann (1995) bleibt die Perspektive Crozier/Friedbergs insgesamt zu sehr auf Wissen und Information beschränkt und v. a. das o. a. „arbeitspolitische Transformationsproblem“ von Arbeitsvermögen in Arbeitsleistung „unterbelichtet“ (S. 54; auch Ortmann et al. (1990), S. 29).
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bereich „wirklich“ besteht und wie groß dieser ist, kann durchaus strittig sein und hängt nicht unwesentlich von der Interpretation der jeweilig betroffenen Akteure ab, denn „die organisatorischen Ungewißheitsquellen sind, wie alle von den Akteuren in Verfolgung ihrer Strategie benutzten Ressourcen, keine objektiven und eindeutigen Gegebenheiten“, sondern – obwohl in die Erfordernisse bestimmter Technologien, Produktions- und formaler Prozesse eingebettet – immer „auch menschliche Konstrukte“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 50). Für eine derartige Interpretation sind Informationen (bzw. im interpersonellen Kontext Kommunikation) nötig. Gleiches gilt für die Relevanz der Machtquelle. Durch die Hervorhebung von Information wird die Bedeutung von materiellen, finanziellen, energetischen Ressourcen dabei keinesfalls nivelliert. Vielmehr verweisen nach Küpper/Felsch (2000, S. 37) Informationen gerade im organisationalen Kontext letztlich immer, entweder direkt oder indirekt über andere Informationen, auf derartige Ressourcen. Allerdings wird durch Informationsaustausch (Kommunikation) Konsens oder Dissens über die Bedeutung der Ressourcen für die involvierten Personen hergestellt und somit die Relevanz der kontrollierten Ungewissheitszone austariert. Ressourcen ohne jede Information und Kommunikation sind demnach irrelevant für das Handeln der Akteure. Ganz im Sinne Crozier/Friedbergs (1993) sind „das Wesentliche hier nicht die den Akteuren zur Verfügung stehenden ,objektiven‘ Ressourcen (. . .), sondern ihre effektive Benutzung in einer bestimmten Machtbeziehung“ (S. 339, Anm. 254). Und die hängt entscheidend von Informationsprozessen ab. Will jemand nun seine Interessen verfolgen, beispielsweise, indem er versucht, Teile der Kontrolle von Ungewissheitsbereichen und Ressourcen anderer Akteure zu erlangen, so benötigt er dazu in der Anbahnung von Machtbeziehungen zwei Typen von Informations- und Kommunikationsaktivitäten (vgl. Küpper/Felsch (2000), S. 27 ff.; Witt (1996), S. 40 f.): (1) Die strategische Informationssuche, die eine Suche nach und die Erschließung von Informationen über die Handlungssituation bzw. den Handlungskontext anderer Akteure umfasst, um deren Interessen und Potenziale im Hinblick auf eigene Interessen und Handlungsmöglichkeiten beurteilen zu können. (2) Das strategische Informationsangebot, das den anderen Akteuren die eigenen Interessen und Handlungspotenziale signalisiert. Die strategische Informationssuche ist aus subjektiver Sicht für den Akteur umso erfolgreicher, je mehr Akteure mit für ihn relevanten Handlungsmöglichkeiten er kontaktiert, und je sicherer er deren Handlungssituation sowie Relevanz einschätzen kann. Das strategische Informationsangebot ist für den Akteur umso erfolgreicher, je besser es ihm gelingt, andere Akteure von dem Nutzen seiner
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Handlungsmöglichkeiten und seiner Interessenlage zu überzeugen, und je weniger er hierbei seine eigentlichen Handlungspotenziale und Interessen offenbaren muss. Zentral im Hinblick auf die Frage, ob sich derartige Aktivitäten für den jeweiligen Akteur überhaupt lohnen, ist hierbei die Kosten-Nutzen-Struktur der Informationssuche bzw. des Informationsangebots.137 Dabei spielt neben der Breite, der Tiefe sowie der Komplexität der bereits bestehenden Machtbeziehungen, beispielsweise zu dritten Akteuren oder Gruppen, vor allem der Faktor Zeit eine herausragende Rolle. Die voraussichtliche Dauer der Machtbeziehung muss vom Akteur in die Kosten-Nutzen-Überlegungen bezüglich der möglichen Machtbeziehung einfließen, und wird entsprechend der subjektiv eingeschätzten Wahrscheinlichkeit, dem anderen Akteur nach der Durchführung einer Austauschhandlung wieder zu begegnen, und dann möglicherweise für ein fehlerhaftes Informationsangebot zur Rechenschaft gezogen zu werden, Rückwirkungen auf sein konkretes Verhalten haben. Der einzelne Akteur sieht sich daher bereits in der ersten Phase der Etablierung einer Machtbeziehung, der Machtanbahnung, einer Dilemma-Situation ausgesetzt: Er muss sein Informationsangebot an den widersprüchlichen Kriterien der Chance des Zustandekommens einer Machtbeziehung und seiner zukünftigen Position in selbiger ausrichten. Ist seine Darstellung seiner Handlungsmöglichkeiten zu wenig attraktiv, kommt vielleicht erst gar keine Machtbeziehung zustande, übertreibt er diese jedoch, um das Interesse zu erhöhen, läuft er gerade in längerfristigen organisationalen Beziehungen Gefahr, die überzogenen Erwartungen des anderen Akteurs zu enttäuschen. Treffen Informationssuche bzw. -angebot mehrerer Akteure aufeinander, kommt es zu Verhandlungen über gegenseitig signalisierte Verhaltensbereitschaften und ihre Einlösung. Entwickelt sich daraus eine Machtbeziehung, so lassen sich analog zur Anbahnung zwei Verhaltensstrategien der Machtausübung differenzieren (Küpper/Felsch (2000), S. 31 f.): (1) Die strategische Aufklärung dient der laufenden Überprüfung eines Akteurs, inwieweit das tatsächliche Verhalten des anderen Akteurs dem während der Anbahnung signalisierten entspricht, und ob seine eigenen Interessen durch dieses Verhalten im erwarteten Umfang begünstigt werden. (2) Die strategische Überzeugung umfasst die Bemühungen eines Akteurs, dem Gegenüber durch seine Handlungen zu verdeutlichen, dass dessen Interessen entsprechend der Ankündigung gewahrt werden und das entgegengebrachte Vertrauen138 gerechtfertigt ist. 137 Insbesondere bei der Informationssuche sieht der Akteur sich hier mit dem so genannten Informationsparadox konfrontiert, das besagt, dass der Nutzen einer Information ex ante, also bevor sie eingeholt ist, nicht abschätzbar ist, ex post jedoch gleich Null beträgt, da das Einholen einer bekannten Information keinen zusätzlichen Nutzen stiftet.
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Die strategische Aufklärung bezieht sich also besonders auf Aktivitäten der Beobachtung und der Kontrolle der Verhaltensweisen des jeweiligen Gegenübers im Hinblick auf die eigene Interessenlage, während die strategische Überzeugung mithin neben dem Vertrauenserwerb immer auch darauf abzielt zu demonstrieren, dass man auch anders hätte handeln können, als im Konsens vereinbart. Könnte der andere Akteur nämlich hundertprozentig sicher bezüglich des Verhaltens seines Gegenübers sein, so bestünde wenig Druck, seine eigenen angekündigten Verhaltensbereitschaften einzulösen.139 138 Vertrauen wird in der ökonomischen Theorie in unterschiedlichen Kontexten und aus verschiedenen Perspektiven thematisiert: So wird Vertrauen z. B. aus transaktionskostentheoretischer Sicht ausschließlich als Möglichkeit betrachtet, Kontroll- und Informationskosten zu sparen. Von Vertrauen in ökonomischen Beziehungen zu sprechen, wird von Williamson dementsprechend nicht nur als „redundant“ sondern sogar als „misleading“ betrachtet, da „trust, if it obtains at all, is reserved for very special relations between family, friends, and lovers“ (zit. nach Walgenbach (1999), S. 8). Bei den auf reinem Kalkül basierenden Beziehungen begrenzt rationaler, opportunistischer Akteure erübrige sich die Verwendung des Vertrauensbegriffs somit (vgl. S. 9). Die Prinzipal-Agent-Theorie kann zeigen, dass bei dauerhaften Beziehungen und dem Vorhandensein eines sozialen Netzwerkes die Vertrauensbildung gefördert wird (vgl. auch Axelrod (1984)). Dies ist jedoch wiederum aus dem Eigeninteresse des Akteurs begründbar, sich eine Reputation als vertrauenswürdiger Partner aufzubauen. Ausgehend von Colemans Modell von Vertrauen als einer den erwarteten Nutzen maximierenden Wette (p*G > (1–p)*L; mit p: Wahrscheinlichkeit eines Gewinns, also Vertrauenswürdigkeit des Gegenüber; L bzw. G: potenzieller Verlust bzw. Gewinn bei Vertrauensbruch bzw. vertrauenswürdigem Verhalten), unterscheidet Walgenbach zwischen „echtem“ und „unechtem“ Vertrauen. Echtes Vertrauen liegt demnach nur dann vor, wenn der erwartete Nutzen kleiner ist als der potenzielle Schaden, der aus einer Vertrauensbeziehung resultieren kann (p*G < (1–p)*L). In anderen soziologischen Theorien wird dagegen Abstand genommen von der rein rationalen Kalkulation als Basis für Vertrauen. Erfahrungen der Vergangenheit, erworbene Reputation, Geschichte individueller aber auch gesellschaftlicher Natur werden als Einflussgröße auf Vertrauen thematisiert. Die Wahrscheinlichkeit von vertrauenswürdigem Verhalten bzw. Vertrauensbruch wird als abhängig von personenbezogenen und gesellschaftlich-kulturellen Merkmalen begriffen (vgl. Walgenbach (1999), S. 13). Gemeinsam ist den verschiedenenen Ansätzen, dass Vertrauen nicht als vollständig blindes aufgefasst wird, da es immer die Gefahr birgt, ausgenutzt zu werden. Vertrauen kann demnach als spezifische Dimension sozialer Beziehungen nur vor dem Hintergrund des möglichen Vertrauensbruches (also des Handlungsspielraums, sprich: der Macht der anderen beteiligten Akteure) verstanden werden (vgl. Küpper/Felsch (2000), S. 302). 139 In einer solchen Situation bestünde, genau genommen, nicht einmal die Notwendigkeit zu vertrauen, da keine Unsicherheit über das zukünftige Verhalten der anderen vorläge. Vertrauen kann gerade aufgefasst werden als „riskante(.) Vorleistung“ (Luhmann (1989), S. 23), die dazu dient, sich in „noch nicht spezifizierte(n) Situationen zu verlassen (. . .) und sei es in der Form, daß man in das Vertrauen anderer vertraut (. . .)“ (Luhmann (1999), S. 394 f.). Vertrauen ist aus dieser systemtheoretischen Sicht ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, der eine Informations- und Zeitlücke überbrücken hilft. Wird das anfänglich quasi als Vorschuss gewährte Vertrauen nicht missbraucht, können sich nach und nach festere Verbindungen zwischen Akteuren aufbauen. Auch Sydow (1998) bezeichnet Vertrauen als „particular risk“, bei dem die Notwendigkeit bestehe, das Risiko der Verwundbarkeit einzugehen (S. 35). Aus strukturationstheoretischer Perspektive eröffnet er einen v. a. Einblick in den Konstitutionspro-
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Hieran wird deutlich, dass es sich bei den beschriebenen Prozessen tatsächlich um Machtprozesse handelt: Es geht genau um die „Manipulation der Vorhersagbarkeit“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 43) eigenen und fremden Verhaltens, die Crozier/Friedberg als natürliche Strategie ausmachen. Es wird versucht, den eigenen Handlungsspielraum, und somit die Ungewissheit aus Sicht des anderen, so weit wie möglich auszudehnen und „zugleich den seines Gegenspielers einzuschränken und ihn in solche Zwänge einzuschließen (. . .), daß dessen Verhalten schon im voraus völlig bekannt ist.“ (S. 43) Führt man sich die Ambivalenz der jeweiligen strategischen Ausrichtung der Akteure vor Augen sowie die Tatsache, dass die strategische Informationssuche bzw. die strategische Aufklärung des einen Akteurs dem strategischen Informationsangebot bzw. der strategischen Überzeugung des jeweilig anderen gegenübersteht, so wird die dem gesamten Prozess der Machtanbahnung und -ausübung inhärente Dynamik offenbar. Anbahnung und Ausübung konvergieren bei näherer Betrachtung und lassen sich nur noch „partiell und graduell“ (Küpper/ Felsch (2000), S. 32) voneinander unterscheiden. Machtbeziehungen werden somit von ihrem Anbeginn an als fortlaufende Verhandlungs-, Informations- bzw. Kommunikations- und somit auch als Deutungs- und Interpretationsprozesse betrachtet: Verhandlungsprozess Aufeinandertreffen von Angebot und Suche
Anbahnung Strategische Informationssuche und strategisches Informationsangebot
Machtbeziehung
Etablierung und Aufrechterhaltung Strategische Aufklärung und strategische Überzeugung
Abb. 4: Prozess der Anbahnung und Ausübung von Machtbeziehungen (Quelle: Eigenerstellung)
Es geht in den Machtbeziehungen der Akteure demnach immer auch um die „Vorstellungswelt“ der Akteure. Und zwar sowohl um die Vorstellung, die sich zess von Vertrauen. Nach Küpper/Felsch (2000) lässt sich der Einfluss von Dauer, Intensität und institutioneller Einbettung auf die Bildung von Vertrauen nur in Bezug auf die historische Situation konkreter Handlungssysteme eruieren, wobei sie im organisationalen Kontext von Mischformen der Vertrauensbildung i. S. v. Balanceakten ausgehen: „Das identitätstheoretische Konstrukt legt ein Kontinuum zwischen perönlichem, kalkuliertem und blindem (sozial-determiniertem) Vertrauen nahe.“ (S. 317)
B. Mikropolitik und Strategische Organisationsanalyse
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Akteure voneinander machen (strategische Informationssuche und Aufklärung) als auch um die Vorstellung, die sie einander geben (strategisches Informationsangebot und Überzeugung).140 Organisation wird somit auch aus mikropolitischer Sicht von wechselseitiger Vorstellung und gegenseitiger Repräsentation von Personen und Funktionen konstituiert, wie Gerhardt (2007) in einem weiter gefassten Kontext feststellt (vgl. S. 355). Innerhalb dieser Prozesse wird seitens der Akteure auf verschiedenste Machtstrategien der Anbahnung, Ausübung, Aufrechterhaltung oder Beendigung von Machtbeziehungen (vgl. Küpper/Felsch (2000), S. 32; Witt (1996), S. 42) zurückgegriffen sowie auf ein Repertoire von mikropolitischen Techniken, das von Drohungen, Warnungen über Verstellung und Täuschung bis hin zu (falschen) Versprechungen und Empfehlungen reicht.141 Dabei wird versucht, direkt auf die Verhaltensbereitschaft des anderen einzuwirken, oder indirekt über strukturelle Bedingungen und v. a. über Regeln (Crozier/Friedberg (1993), S. 43), wodurch die vierte oben genannte organisationale Ungewissheits- und Machtquelle berührt wird, die in der Nutzung organisationaler Regeln besteht. Regeln können ganz allgemein dazu dienen, die Arbeitsteilung zu organisieren, Aufgabenbereiche zu definieren und sich auf deren Erfüllung festzulegen. Aus machttheoretischer Sicht geht es demnach darum, durch Reglementierung ein regelmäßiges Verhalten zu erzeugen. Dadurch kann die erwünschte Transformation von Arbeitsvermögen in Arbeitsleistung mit einer gewissen Sicherheit versehen werden, und es ist dafür gesorgt, dass die geplanten Tätigkeiten des jeweiligen Bereichs auch wirklich durchgeführt werden. Regeln dienen u. a. dazu, das Verhalten der Mitarbeiter vorhersehbar und gestaltbar zu machen, und somit Unsicherheitsbereiche zu reduzieren. Organisationale Regeln schränken den Handlungsspielraum Untergebener allerdings nicht bloß ein. Vielmehr können Regeln, sofern sie bekannt sind, auch Schutz vor Willkürakten bieten. Denn zum einen muss die Sanktionsmacht des Vorgesetzten nun dadurch legitimiert sein, dass Regeln gebrochen worden sind, zum anderen werden Art und Umfang der Sanktion durch die Regeln selbst festgelegt. Regeln entfalten also eine Selbstbindungswirkung für diejenigen, die sie aufstellen (vgl. Küpper/Felsch (2000), S. 36; Crozier/Friedberg (1993), S. 54).142 140 Vgl. zu dieser Unterscheidung von „Vorstellung“ Gerhardts (2007) fünffache Differenzierung des Vorstellungsbegriffs. Hier sind v. a. die zweite Bedeutung (Vorstellung als geistiger Vorgang) und die vierte von Relevanz. Letztere besteht darin, von sich selbst einen Eindruck zu geben, der das Wichtige betont und das weniger Wichtige abschatten soll (vgl. S. 251). Vgl. dazu auch im zweiten Teil dieser Arbeit A. II. 9. 141 Vgl. zum „Arsenal“ mikropolitischer Techniken u. a. Küpper/Felsch (2000), S. 29; Neuberger (1994), S. 269 ff.; Brüggemeier/Felsch (1992), S. 134; Alt (2001), S. 296 f. 142 Ortmann et al. (1990) thematisieren die Selbstbindung und -festlegung auch am Beispiel der Festigkeit struktureller Kopplungen (vgl. S. 543).
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Darüber hinaus können standardisierte formale Handlungsvorschriften niemals alle Eventualitäten organisationaler Handlungsanforderungen abdecken, wie sie sich beispielsweise aus unvorhergesehenen Störfällen oder Notsituationen ergeben können.143 Wenn in einer derartigen Situation ein strikter „Dienst nach Vorschrift“, also die „womöglich (allzu) buchstabengetreue Befolgung“ (Ortmann (2003), S. 21) von Regeln, das Funktionieren der Organisation gefährdet, müssen in unkritischeren Zeiten begrenzt auch Regelverstöße von Vorgesetzten toleriert werden, um die Bereitschaft der Untergebenen zu erzeugen, in kritischen Phasen mehr zu tun, als die rein formalen Vorschriften besagen (vgl. Küpper/Ortmann (1986), S. 594; Küpper/Felsch (2000), S. 36 f.). Also, genau genommen, wiederum gegen das formale Regelwerk zu verstoßen.144 Die Duldung derartiger Regelverletzungen hängt laut Ortmann (2003, S. 24) jeweils von den Funktionserfordernissen und Machtverhältnissen der Organisation ab. Es kommt somit zu einem Auseinanderklaffen der formal gültigen Struktur der Organisation auf der einen, und der tatsächlich akzeptierten und wirksamen Verhaltensstruktur der Akteure auf der anderen Seite. Damit wird eine zweite, interne Machtstruktur offenbar, die parallel zum offiziellen Organigramm verläuft, und die nach Crozier/Friedberg (1993) das „wirkliche Organigramm der Organisation“ darstellt (S. 55). Will man dieses aufdecken und verstehen, so muss man die Struktur, die Beschaffenheit und die Regeln der Spiele rekonstruieren, die das Zusammenspiel der Akteure gewährleisten. d) Spiele und organisationale Machtstrukturen Crozier und Friedberg versuchen, die Machtbeziehungen zwischen Organisationsmitgliedern mit Hilfe der Spielmetapher zu interpretieren. Unter Spiel ist 143 Crozier/Friedberg (1993) gehen davon aus, dass bereits unter normalen Umständen für einen reibungslosen Ablauf mehr getan werden muss, als formal reglementiert und festgehalten werden kann (vgl. S. 54). Da ein Vorgesetzter sich andererseits an den Ergebnissen seiner Abteilung messen lassen muss, befindet er sich für die Autoren in „einer schwachen Position. Denn er hat keine Mittel, die Untergebenen dazu zu bringen, mehr zu tun als die Regeln fordern“ (ebd., S. 54). Diese sehr weitgehende Auffassung von Crozier/Friedberg provozierte Widerspruch, u. a. in differenzierter Weise von Ortmann (1992b), der nicht die „reflektierten Überlegungen zur Möglichkeit von Untergebenenmacht kritisiert, sondern ihre Hypostasierung zum Normalfall“ (S. 224, Anm. 4). 144 Zur Paradoxie der simultanen Notwendigkeit von Regelbefolgung und Regelverletzung vgl. ausgiebig Ortmann (2003). Nach Ortmanns Interpretation handelt es sich hierbei u. U. um Abweichungen vom Regelwerk „,im Dienste der Sache‘ – im Dienste der Sache, deren Ordnung durch das Regelwerk gestiftet werden soll (. . .)“. Dabei geht es um „jene höchst zweischneidige Art von Toleranz, die solchen Regelverletzungen gewährt wird und die sich so leicht als Scheinheiligkeit entpuppt, wenn erst einmal der Mantel des Schweigens, der über ihnen liegt, von ihnen genommen und ihre Geschichte als Skandal erzählt wird“ in einem Gestus, der „über die Normalität und Notwendigkeit der Regelverletzung hinwegtäuscht.“ (S. 21) Insofern tut sich hier eine „Grauzone“ auf, die aus mikropolitischer Sicht als „strategische Zone“ und „Spielraum“ für diejenigen interpretierbar ist, die sich in ihrem Handeln auf Regeln beziehen (S. 22 f.).
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hierbei „mehr als ein Bild [zu verstehen], es ist ein konkreter Mechanismus, mit dessen Hilfe die Menschen ihre Machtbeziehungen strukturieren und regulieren und sich doch dabei Freiheit lassen. (. . .) Es ist das wesentliche Instrument organisierten Handelns.“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 68) Ein solcher Regulations- und Integrationsmechanismus erscheint, insbesondere vor dem Hintergrund der Ausführungen zur Machtanbahnung und -ausübung als permanentem und ambivalentem Aushandlungsprozess auf der Grundlage unterschiedlicher Interessenlagen, Zielvorstellungen und Strategien der beteiligten Akteure, durchaus als nötig. Organisation ist für die Autoren ein „Problem“ (S. 56 ff.), ein äußerst fragiles Gebilde, dessen Fortbestand nicht als selbstverständlich angesehen werden kann. Integrative Kräfte lassen sich nun insofern ausmachen, als Machtbeziehungen einen wechselseitigen Prozess darstellen, bei dem jeder Akteur, um gegenüber anderen über eine Machtquelle verfügen zu können, wenigstens teilweise auf deren Bedürfnisse und Erwartungen eingehen muss. Somit werden die Erwartungen der anderen dem einzelnen Akteur zum Zwang (vgl. ebd., S. 64). Er muss eine Reihe von Spielregeln akzeptieren, die seine eigene Willkür einschränken und den Interaktionsprozess mit seinen Mitspielern strukturieren, wenn er das Spiel weiterspielen möchte, also am Fortbestand der Interaktion bzw. Organisation interessiert ist. Auf das o. a. „Standardbeispiel“ gemünzt, bedeutet das: Ein Wartungsarbeiter, der ausschließlich Pannen provoziert, kann irgendwann aus der Verfügung über eine Unsicherheitsquelle keine Macht mehr generieren, diese nicht mehr nutzen. Er kann es nur, „wenn er gleichzeitig bereit ist, auch tatsächlich die Maschinenstillstände zu beheben. Ist er dazu nicht bereit, so schließt er sich selbst der Beziehung aus, denn seine Gegenspieler in der Werkstatt sind dann gezwungen, sich bei anderen Hilfe zur Lösung ihrer Probleme zu suchen. Will er also weiter von seiner günstigen Position profitieren, dann muss ihm daran liegen, die Beziehung aufrechtzuerhalten. Und spätestens dann werden die Erwartungen der Gegenspieler für ihn zum Zwang, und er kann nicht umhin, auf diese zu antworten, d.h. sie (wenn auch nur teilweise) zu erfüllen. (. . .) In anderen Worten, sein Handlungsspielraum wird eingeengt und seine Machtbeziehungen mit seinen Gegenspielern wird strukturiert durch implizite ,Spielregeln‘, die definieren, bis wohin er zu weit gehen kann, (. . .) ohne die Beziehung selbst in Gefahr zu bringen“ (Friedberg (1992), S. 44).
Über dieses Interesse am Fortbestand des Spiels können die Koordination organisierten Verhaltens und die Eindämmung von zentrifugalen Kräften erklärt werden. Dass dabei sowohl im Zuge der Anbahnung als auch der Ausübung von Machtbeziehungen strategische Freiräume entstehen, die von den Akteuren kreativ und taktisch genutzt werden können, ist am Beispiel des strategischen Informationsangebotes bzw. der strategischen Aufklärung deutlich geworden. Das Spielkonzept vereint demnach Freiheit und Zwang: „Der Spieler bleibt frei, muß aber, wenn er gewinnen will, eine rationale Strategie verfolgen, die der Beschaffenheit des Spiels entspricht, und muß dessen Regeln beachten. Das heißt, daß er die zur Durchsetzung seiner Interessen ihm auferlegten Zwänge zumindest zeitweilig akzeptieren muß.“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 68)
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Formale und informale Spielregeln leiten dabei das Handeln der Akteure, auch wenn sie es nicht determinieren. Die Spielstruktur reguliert indirekt das Verhalten der Akteure, indem sie eine Reihe von Strategien definiert, die, neben dem Fortbestand des Spiels als oberstem Ziel, die Erhöhung der eigenen Gewinnaussichten zum Gegenstand haben (vgl. Neuberger (1995), S. 210). Küpper/Felsch (2000) konkretisieren den Begriff der Spielstruktur, indem sie ihn vor dem Hintergrund der Wechselwirkung von Formal- und Verhaltensstruktur näher beleuchten (vgl. S. 48 ff.): Unter einer Formalstruktur verstehen sie all diejenigen Handlungs- und Verhaltensregeln, die Akteure bei ihren (Inter-)Aktionen bzw. strategischen Überzeugungen als gültig voraussetzen, unter einer Verhaltensstruktur dagegen „das in einem konkreten Handlungssystem tatsächlich wirksame (umgesetzte oder angewandte) System von Handlungs- und Verhaltensregeln, auch als operative Regeln (operating rules) bezeichnet.“ (S. 48)
Geht eine reale Wirkung von Elementen der Formalstruktur auf das Handeln der Akteure aus, wirken sie also als Regulatoren, so gehen sie von der Formalstruktur auf die Verhaltensstruktur über. Küpper/Felsch (2000) sprechen hier von „Akzeptanz“ der Regeln, im Unterschied zur rein formalen „Gültigkeit“ (S. 48, Anm. 10). Ebenso können andersherum die sich in konkreten Spielverläufen herausbildenden operativen Regeln Eingang in die Formalstruktur einer Organisation finden. Man kann also – in Abgrenzung von einem Dualismus – von einer Dualität zwischen Formal- und Verhaltensstruktur sprechen. Regeln der Formal- und Verhaltensstruktur kommen hierbei nach Auffassung der Autoren, ebenso wie Ressourcen (s. o.), durch individuelle Konstruktionsund Deutungsleistungen der Akteure auf der Basis von Informations- und Kommunikationsprozessen zustande, sodass jeder Akteur „seine“ Formal- und Verhaltensstruktur entwickelt. Bildet sich in Folge der Interaktion mit anderen Akteuren innerhalb einer Organisation ein gemeinsamer Konsensrahmen i. S. einer wechselseitigen Akzeptanz, sprechen Küpper/Felsch (2000) von einer Spielstruktur, die als innere Machtstruktur (Machtstruktur i. e. S.) eines Handlungssystems aufzufassen ist: „Unter einer Spielstruktur verstehen wir diejenigen operativen Regeln der Verhaltensstruktur eines Handlungssystems, die sich in den Machtbeziehungen der Akteure (als u. U. vielfach verwobenes Geflecht von Kooperations- und Konkurrenzbeziehungen) herausgebildet haben und von den beteiligten Akteuren als gemeinsame Grundlage ihres je unterschiedlichen strategischen Verhaltens akzeptiert werden, über die also Konsens besteht.“ (S. 49)
Begreift man Spielstrukturen als gemeinsamen Konsensrahmen der in Machtbeziehungen involvierten Akteure, so wird hiermit zugleich eine spezifische Beziehung zur Verhaltensstruktur hergestellt, die nur einseitiger Akzeptanz eines Akteurs bedarf (s. o.) und die somit nicht der Dynamik von Machtbeziehungen mit konkreten anderen Organisationsmitgliedern unterliegt.145
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„Die Spielstruktur als das konsensgebundene Regelsystem konkreter Machtbeziehungen und Machtstrategien zwischen je konkreten Organisationsmitgliedern ist Teil der Verhaltensstruktur.“ (Küpper/Felsch (2000), S. 53; H.v. m.)
Allerdings sind die Übergange fließend: Einseitig akzeptierte Verhaltensregeln () Verhaltensstruktur) können, wenn sie von Nutzen für andere Akteure sind, instrumentalisiert werden und als Einsätze in einem Meta-Spiel zum Tragen kommen () Spielstruktur), und die in konkreten Machtspielen entstandenen Regeln () Spielstruktur) können sich, beispielsweise durch Internalisierungsprozesse, soweit verfestigen, dass sie zu einseitig akzeptierten Verhaltensregeln () Verhaltensstruktur) werden (vgl. ebd., S. 53). Somit besteht auch zwischen Verhaltensstruktur und Spielstruktur eine Dualität. Besitzen die angesprochenen einseitig akzeptierten Regeln (in einem gewissen Rahmen) Kontrolle über das Handeln von Akteuren, so sprechen die Autoren von der äußeren Machtstruktur einer Organisation. Äußerlich ist die Machtstruktur insofern, als der Bezug zu konkreten Machtbeziehungen fehlt, da die Einschränkung der vollständigen Kontrolle über das Handeln auf einseitiger Akzeptanz bestimmter Regeln beruht. Äußere und innere Machtstruktur bilden zusammen die Machtstruktur (i.w. S.) einer Organisation. „Dynamik und Kontingenz organisationalen Handelns wird in dieser Sichtweise im Wesentlichen durch die Dynamik und Kontingenz des Verhältnisses zwischen innerer und äußerer Machtstruktur einer Organisation erklärt (gedeutet)“ (Küpper/Felsch (2000), S. 54): − Formalstruktur: formale Gültigkeit (Dualität) Akteur
Akteur
− Verhaltensstruktur: einseitige Akzeptanz
„innere“ Machtstruktur: = SPIELSTRUKTUR, gemäß Konsensrahmen i.S. einer wechselseitigen Akzeptanz operativer Verhaltensregeln
Akteur
„äußere“ Machtstruktur
Akteur
Abb. 5: Dynamik und Dualität der organisationalen Machtstruktur (i. w. S.) (Quelle: Eigenerstellung)
145 Als Beispiele wären hier internalisierte Normen und Werte einer vororganisationalen Sozialisation zu nennen (vgl. Türk (1981), S. 46). Einseitige Akzeptanz bedeutet, „dass die Einhaltung dieser Regeln weder davon abhängig ist, das sich auch andere Mitglieder hieran halten, noch davon, dass andere Mitglieder dem Akteur im Austausch für die Regeleinhaltung Vorteile gewähren“ (Küpper/Felsch (2000), S. 50).
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Auch Crozier/Friedberg (1993) interpretieren Strukturen und Regeln als vorläufige und machtgeprägte Institutionalisierungen der Lösungen, die relativ freie Akteure mit ihren jeweiligen Zwängen und Ressourcen für das Problem der Kooperation gefunden haben (vgl. S. 65).146 Allgemein betrachtet sind Strukturen nur eine Gesamtheit von Spielen und somit kontingente Konstrukte, die an die kulturellen Muster und spezifischen Fähigkeiten der Spieler gebunden sind (vgl. S. 68). Folgerichtig sehen sie auch in Organisationen, als „Gesamtheit aneinandergegliederter Spiele“ und „Ergebnis einer Reihe von Spielen“ (S. 69), derartige kontingente Konstrukte: „Sie sind nichts anderes als die immer spezifischen Lösungen, die relativ autonome Akteure mit ihren jeweiligen Ressourcen und Fähigkeiten geschaffen, erfunden und eingesetzt haben, (. . .) um ihre zur Erreichung gemeinsamer Ziele notwendige Zusammenarbeit trotz ihrer widersprüchlichen Interessenlagen und Zielvorstellungen zu ermöglichen“ (ebd., S. 7; auch S. 62).
Aus spieltheoretischer Sicht können organisationale Spiele dabei aufgefasst werden als: „– ungerechte (nicht-faire) Spiele, d.h. bestimmte Spieler sind schon von den Spielregeln her durch geringere Gewinnchancen benachteiligt; – nicht-symmetrische Spiele, d.h. ein Austausch der Spieler würde das Spiel verändern; – unbestimmte Spiele, die mehrere Lösungen zulassen – Spiele mit unvollständiger Information – Spiele mit sowohl kontextabhängigen als auch persönlichen Zügen der Spieler – Spiele, in denen Täuschen oder Bluffen (Zurückhaltung, Filterung oder Verzerrung von Informationen) konstituierend sind.“ (Küpper/Ortmann (1986), S. 594)147
Es geht also keineswegs um Verspieltheit, „Spiele in Organisationen können auch ,blutiger Ernst‘ sein“ und sind durchaus als „Kampfspiele“ zu verstehen (Neuberger 1992, S. 52); Ortmann (1992b), S. 24). Dabei herrscht weder irgendeine Ausgangsgleichheit unter den teilnehmenden Spielern noch ein Konsens über die Spielregeln selbst (vgl. Crozier/Friedberg (1993), S. 69). Diese können vielmehr gebrochen, verändert oder durch neue Regeln ersetzt werden. So wie Strukturen und Regeln „selbst nur Produkt früherer Kräfteverhältnisse und 146 Den Vorteil einer derartigen Interpretation sehen Küpper/Ortmann (1986) darin, „die Funktionsweise einer Organisation nicht von vornherein als Ergebnis einer passiven Anpassung von Individuen oder Gruppen mit ihren eigenen Motivationen an die in ihr vorgesehenen Prozeduren oder ,Rollenerwartungen‘ erklären zu müssen.“ Rollenambiguitäten werden hier, ähnlich wie bei Krappmann (1969), als Normalfall von Interaktionen angesehen [s. o. I.2.b)], ohne dass dadurch die Möglichkeit der Integration ausgeschlossen wäre. 147 Zu den Problemen, derartige Spiele in formalen Modellen abzubilden vgl. Küpper/Felsch (2000), S. 154 ff.
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Feilschbeziehungen“ (ebd., S. 65) sind, so können sie wiederum Einsätze „in einer Art ,Metaspiel‘ sein, das auf eine Veränderung der Kräfteverhältnisse abzielt“ (Küpper/Ortmann (1986), S. 594). Derartige Metaspiele stellen auch die so genannten Innovationsspiele in Bezug auf Routinespiele dar, die Ortmann et al. (1990) in die Debatte einbringen: Routinespiele erlauben es den Mitspielern, Gewinne aus der soliden Erfüllung ihrer normalen Aufgaben zu ziehen, während der Inhalt der Innovationsspiele gerade darin liegt, die Regeln, Einsätze und Gewinnmöglichkeiten der Routinespiele zu verändern (vgl. S. 58 f.). Dies hat in der Regel eine Veränderung der Machtarithmetik zur Folge. Macht und Spiel verweisen also aufeinander. Im folgenden Kapitel soll der bisher entwickelte Machtbegriff noch einmal gezielt in den Kontext von „Mikropolitik“ gestellt werden.
II. Mikropolitik in Organisationen 1. Begriff und Betrachtungen von Mikropolitik Der Terminus „micropolitics“ geht auf eine Abhandlung des Soziologen T. R. Burns aus den 1960er Jahren zurück, der davon ausgeht, dass Individuen in sozialen Systemen immer auch „um ihre Karriere wetteifern. Indem sie das tun, machen sie Gebrauch voneinander“ (Burns (1962), S. 257; zit. nach Türk (1989), S. 125). Und handeln somit – seiner Definition nach – politisch. In den deutschen Sprachraum wurde der Begriff „Mikropolitik“ von H. Bosetzky (1972 u. 1977) eingebracht, der darunter „die Bemühung [versteht], die systemeigenen materiellen und menschlichen Ressourcen zur Erreichung persönlicher Ziele (. . .) zu verwenden“ (Bosetzky (1972), S. 382). Damit ist er zunächst nahe bei Burns, allerdings führt Bosetzky im Unterschied zu Burns, der dem organisatorischen Kontext stärkere Aufmerksamkeit widmet, Mikropolitik des Weiteren auf eine spezifische, durch Sozialisierungsprozesse geprägte Verhaltensdisposition zurück und entwirft auf dieser Basis den Typus des „Mikropolitikers“ sowie das Modell einer von Mikropolitik bestimmten Organisation (vgl. Küpper/Ortmann (1986), S. 592). Burns Titel Micropolitics wird häufig dahin gehend interpretiert, dass in Organisationen ähnliche Prozesse ablaufen wie in der (national-)staatlichen Politik, nur eben im „Kleinen“ (vgl. u. a. Alt (2001), S. 289; Kasper (1990), S. 269 f.). Neuberger (1995) weist darauf hin, dass die Vorsilbe „mikro“ sowohl für eine Betrachtungsweise als auch -ebene stehen kann (S. 14). Als letztere kann die Differenzierung einer politikorientierten Grundperspektive in drei Aggregations-Ebenen angeführt werden, wie sie Türk (1989, S. 124 f.) entwirft: „Mikropolitik“ stellt in diesem Kontext den „Eigensinn“ der Subjekte in den Vordergrund, der nie vollständig unterdrückbar ist: „Vielmehr versuchen die Subjekte auch in organisationalen Kontexten ihre Identität zu behaupten bzw. zu entwickeln, eigene Bedürfnisse oder Interessen zu verwirklichen, sich mit anderen zu verbünden.“ (Türk (1989), S. 124)
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Die Frage ist nun, wie diese Subjekte mit Strukturen umgehen, und was geschieht, wenn eine Mehrzahl von eigensinnigen Subjekten in organisationalen Kontexten kooperieren (müssen oder sollen). Organisationen erscheinen hierbei als politische Arenen, „in denen Individuen und Gruppen ihre Interessen einbringen, politische Auseinandersetzungen austragen und zu jeweils temporären Kompromissen gelangen“ (Türk (1992), Sp. 849).
Den Begriff „Mesopolitik“ verwendet Türk im Sinne von Strukturpolitik, bei der die Genese und Funktion von Strukturen als Produkt von Interessen, Strategien und Verhandlungsergebnissen gedeutet wird. Die organisationale Ordnungsbildung selbst gerät dabei automatisch in den Blick, „(w)enn man das, was man ,Strukturen‘ nennt, weder schlicht als Produkte eines Organisationsgestalters noch als Wirkung einer kausal agierenden Umwelt begriffen werden kann, wenn man vielmehr Strukturen als Zuschreibung eines Beobachters versteht, der Interaktionsmuster konstruiert und wenn man die beteiligten Subjekte in ihrer die Struktur durch Orientierung und Handlung produzierenden bzw. reproduzierenden Funktion analysiert“ (Türk (1989), S. 124).
In der „Makropolitik“ wird die gesamtgesellschaftliche Einbettung der Organisationsanalyse thematisiert, z. B. in Form bestimmter gesellschaftlich bedingter Handlungslogiken, die auf den meso- und mikropolitischen Bereich rückwirken. Mikropolitik steht demnach nicht im Gegensatz zu gesellschaftspolitischen Prozessen der Makropolitik, sondern Mikro- und Makropolitik verweisen aufeinander: „Letztlich ist Makropolitik ohne Mikropolitik nicht denkbar und umgekehrt.“ (Auer/Welte (1997); Neuberger (1995), S. 14) Als Betrachtungsweise versucht Mikropolitik dagegen, auch in Anlehnung an die „Mikrophysik“ Foucaults, die unterschwellige Feinstruktur in den politischen Interaktionen der Akteure freizulegen, die sich nur einer Mikroanalyse erschließt: „,Mikro-Politik‘ bezeichnet nicht die absolute Größe des Phänomens, sondern die Perspektive: statt der Makro-Perspektive (. . .) werden mit bloßem Auge gar nicht erkennbare Mikro-Phänomene sichtbar gemacht, um die Dynamik der Makro-Prozesse besser verstehen zu können.“ (Neuberger (1995), S. 14)
Weitere Ordnung in das „Rubrum“ Mikropolitik148 bringt die Unterscheidung zwischen einem aspektualen und einem konzeptualen Verständnis von Mikropolitik, wie sie Brüggemeier/Felsch (1992) vornehmen: Während ersteres Mikropolitik als einen spezifischen Aspekt organisationalen Geschehens begreift und den Akteur i. S. Bosetzkys als Typus des „Mikropolitikers“ mit seinem spezifischen Arsenal an „,Mikro‘- bzw. ,Machtvermehrungstechniken‘“ (S. 133) in den Blickpunkt rückt, stellt im konzeptualen Verständnis mikropolitisches Handeln keine spezifische, temporäre und isolierbare Kategorie interaktiven Handelns dar, son148 Zu einem Überblick über die Vielfalt des Mikropolitikkonstruktes vgl. auch Neuberger (2006), S. 4–26.
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dern wird jedes interaktive Handeln als primär interessegeleitetes und somit politisches begriffen (vgl. S. 134). Mikropolitik beschränkt sich damit nicht auf ein Verhalten, das durch eine überzogene Betonung persönlicher Interessen gekennzeichnet ist, oder darauf, „kleine“ bzw. „große“ Politik zu „spielen“, wie dies bei Mintzberg mitunter anklingt (vgl. Küpper/Felsch (2000), S. 206). Eine derartige Unterscheidung wird aus konzeptualer mikropolitischer Sicht vielmehr hinfällig. Ebenso wie die zwischen „richtiger“ Unternehmenspolitik und „Mikropolitik“ (ebd., S. 113). Denn das gesamte Organisationsgeschehen wird vielmehr konsequent als mikropolitisches aufgefasst – und zwar auf der dargelegten machttheoretischen Basis. Wenn jede Interaktion in diesem Sinn politisch ist, wird Macht als Kernmerkmal des Politischen149, wie bereits bei Crozier/Friedberg (1993) dargelegt, zu einem „normalen“, alltäglichen und jeder Interaktion zu Grunde liegenden Phänomen. Abschließend kann Mikropolitik aus konzeptualer Sicht daher definiert werden als „organisationstheoretisches Konzept, das konsequent von der Perspektive interesseverfolgender Akteure ausgeht, um das Organisationsgeschehen als Gesamtheit von Struktur und Handlung verknüpfender Prozesse zu erklären, in denen Akteure organisationale Ungewißheitsbereiche als Machtquellen sichern und nutzen, um ihre Autonomiezonen aufrecht zu erhalten bzw. zu erweitern und die zugleich kollektives Handeln ermöglichen und regulieren.“ (Brüggemeier/Felsch (1992), S. 135)
2. Konstitutionstheoretische Erweiterungen Küpper und Ortmann (1986) vertreten ein derartiges konzeptuales Mikropolitikverständnis und gehen davon aus, dass alle Akteure „auf ihre Weise Mikropolitiker (sind), deren spezifischen Rationalitäten in ihren jeweiligen Handlungssituationen es zu entdecken gilt, um so den Sinn ihrer Strategie zu verstehen.“ (S. 593)
Dabei ist eine gewisse Entwicklung in ihrer Theorie zu verzeichnen: In späteren Arbeiten wählen die Autoren zunehmend eine Terminologie zur Beschreibung der untersuchten Vorgänge, in der die „Konstitution organisationaler Handlungssysteme“ und die „Rekursivität“ der Prozesse betont werden (dazu auch Alt (2001), S. 295).150 Ihr Augenmerk richtet sich hierbei insbesondere auf die Prozesse der Entstehung, Nutzung und Veränderung organisationaler Machtstruktu149 Vgl. auch Neuberger (1995), der insgesamt acht Merkmale des Politischen aufführt (S. 19 ff.). 150 Dies geschieht auch in Abgrenzung zu einer aspektualen Konnotation des Begriffs „Mikropolitik“, die zwar eine hohe praktische Plausibiliät und Alltagsverständlichkeit beinhaltet (vgl. Küpper/Felsch (2000), S. 152), die aber individuelles Machtstreben bestimmter Typen von Akteuren („Mikropolitikern“) in den Vordergrund stellt: „Mikropolitik meint gerade nicht, daß sich die Perspektive auf einen innerorganisationalen Kleinkrieg à la Bosetzky richtet, sondern daß es um eine mikroskopische Analyse der wechselseitigen Konstitution von organisationalem Handeln und (Organisations-) Strukturen geht.“ (Ortmann (1995), S. 48)
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Teil 1: Rekonstruktion der Machtkonzepte
ren. Dabei gehen sie von einem wechselseitigen Prozess aus, in dem die Handlungen von Akteuren organisationale Strukturen generieren, konstruieren und modifizieren (können), in dem Akteure gleichzeitig aber in ihrem Handeln immer schon auf bestehende Ordnungen und strukturelle Muster zurückgreifen müssen und diese durch ihr Handeln wiederum (re-)produzieren. Der Dualismus von Handlung und Struktur (i. S. eines Gegensatzes) wird durch Dualität (i. S. eines wechselseitigen Bezugs) ersetzt, wodurch Anknüpfungspunkte an A. Giddens offenbar werden, der in seiner Strukturationstheorie ebenfalls von einem rekursiven Verhältnis zwischen Handlung und Struktur ausgeht: Handlungen bringen Strukturen hervor, die dann weiteres Handeln einschränken, aber auch überhaupt erst ermöglichen. Somit können Strukturen einerseits als Handlungen ermöglichendes sowie begrenzendes Medium aufgefasst werden, andererseits als deren Produkte oder Resultate. Insbesondere Ortmann bezieht sich auf diese Theorie151, um eine „strukturtheoretische Unterfütterung“ (Ortmann (1992b), S. 221; Ortmann et al. (1990), S. 34) der Strategischen Organisationsanalyse Crozier/Friedbergs zu unternehmen, bei der er ein Defizit hinsichtlich der Analyse der materiellen Machtressourcen diagnostiziert. Dazu nimmt er Bezug auf Giddens’ Unterscheidung zwischen autoritativen (bzw. organisatorischen) und allokativen (bzw. materiellen) Ressourcen, deren spezifische Kombination über die Verteilung von Macht in einem sozialen System entscheiden kann (vgl. Ortmann et al. (1990), S. 19): Autoritative Ressourcen 1. Organisation von Raum und Zeit 2. Produktion und Reproduktion des Körpers 3. Organisation von Lebenschancen
Allokative Ressourcen 1. Materielle Aspekte der Umwelt 2. Materielle (Re-)Produktionsmittel 3. Produzierte Güter
Unter autoritative Ressourcen fallen nach Ortmann organisatorisch-administrative Instrumente, wie die Planung der Arbeitsorganisation, Fähigkeiten und Fertigkeiten bezüglich des Verwaltungsablaufs usf.; allokative Ressourcen beziehen sich demgegenüber auf ökonomische bzw. technische Machtmittel wie Geld, geldwerte Güter, Investitionen, Budgets bzw. Rohstoffe, Produktions-, Informations- und Kommunikationstechniken. Diese Ressourcen bilden zusammen mit Sets von Regeln der Sinnkonstitution und der Legitimation die im Zitat angesprochene Strukturebene, die bei Giddens in drei – nur analytisch trennbare – Dimensionen des Sozialen unterschieden wird: Signifikation, Legitimation und Herr151 Vgl. Ortmann et al. (1990) sowie Ortmann (1992b), (1995), S. 42 ff. und (1997). In eine ähnliche Richtung geht auch sein Konzept eines Entscheidungskorridors, durch den die Entscheidungs- bzw. Handlungsfreiheit eines Akteurs strukturelle und situative, objektive und subjektive sowie interne und externe Restriktionen erfährt (dazu Ortmann et al. (1990), S. 65 ff.; Ortmann (1984), S. 84 ff., 95 ff., sowie (1987) und (1995), S. 37 ff.). Zu einer Rezeption von Giddens’ Strukturationstheorie für die Mikropolitik auch Neuberger (1995), S. 285 ff.
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schaft. Diesen stehen kommunikatives Handeln, sanktionierendes Handeln und Machtausübung auf der Handlungs- bzw. Interaktionsebene gegenüber. Generell wird die Rekursivität zwischen der Ebene der Struktur und der Handlung durch Akteure hergestellt, die in ihren Interaktionen auf Regeln und Ressourcen der Strukturebene zurückgreifen müssen. Regeln werden hierbei als „verallgemeinerbare Verfahrensweisen der Praxis“ (Ortmann/Sydow/Windeler (1997), S. 329) definiert und existieren nur in den Handlungen sowie im Gedächtnis der Akteure. Ebenso konstituieren sich die Ressourcen bei Giddens erst in der organisationalen Praxis zu sozial bedeutsamen und somit nutzbaren Ressourcen.152 Durch den Bezug auf Regeln und Ressourcen wird soziales Handeln nun, wie gesagt, einerseits ermöglicht, andererseits aber auch restringiert. Regeln und Ressourcen werden von den Akteuren je nach Situation, eigenen Erfahrungen, Kompetenz und Rang spezifisch aufgegriffen und somit zu Modalitäten des eigenen Handelns und in der Bezugnahme bzw. Anwendung als strukturelle Elemente reproduziert. Herrschaft als analytische Leitdimension (Strukturebene) Struktur
Signifikation
Herrschaft
Legitimation
Regeln und Ressourcen
Macht als Regel der Sinnkonstitution:
Modalitäten
Interpretations- u. Deutungsschemata
autoritativadministrative Machtmittel
Machtgeprägte Wahrnehmung und Interpretation des Geschehens
Machtgenerierung durch die Kontrolle autoritativer Machtmittel
Machtposition auf Grund Kontrolle allokativer Machtmittel
Macht über Zugriff auf Legitimations- u. Sanktionsregeln
− Vokabular und Leitbilder − Wahrnehmungsmuster
− Aufbau- u. Ablaufplanung − Verwaltungsapparat
− Geldmittel, Investitionsbudgets − Rohstoffe − Technische Mittel
− rechtliche und organisationale Normen/Regeln
Beispiele für Modalitäten
Interaktion
Kommunikation
Macht auf Basis von autoritativen Ressourcen
Macht auf Basis von allokativen Ressourcen ökonomischtechnische Machtmittel
Macht
Regeln der Sanktionierung in Abhängigkeit von Machtverhältnissen Normen
Sanktion
Macht/Mikropolitik als analytische Leitdimension (Handlungsebene)
Abb. 6: Dualität von Struktur unter der analytischen Leitdimension Macht/Mikropolitik – Herrschaft (in Anlehnung an Ortmann (1995), Abb. 2, S. 60) 152 Weiter reichende Ausführungen zu Regeln und Ressourcen u. a. aus einer dekonstruktivistischen Perspektive sowie unter dem Blickwinkel der Selbstorganisation finden sich in Ortmann (2003) bzw. Ortmann (2003a).
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Teil 1: Rekonstruktion der Machtkonzepte
Macht wird nach diesem Ansatz zunächst einmal dadurch ausgeübt, dass auf strukturelle Ressourcen autoritativer oder allokativer Art rekurriert wird. Autoritativ-administrative Ressourcen versetzen einen Akteur durch Gestaltungsmöglichkeiten (beispielsweise von organisatorischen Arbeitsabläufen, -bezahlungen und -entgelten) in eine Machtposition, während dies bei allokativen Ressourcen durch die Kontrolle von materiellen Aspekten (wie Rohstoffen, Gütern, Technik, Geld usw.) geschieht. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass auch die Dimensionen der Signifikation, Legitimation und Herrschaft untereinander in einem rekursiven Verhältnis zueinander stehen. Alle organisationalen Handlungen spielen sich also in allen drei Dimensionen mehr oder weniger zugleich ab und reproduzieren diese dadurch, wenn auch u. U. in modifizierter Form. Das bedeutet für Ortmann, dass sich Machtausübung nicht nur, wie er das an Giddens moniert, in der Mobilisierung allokativer und autoritativer Ressourcen erschöpft, sondern auch mittels Interpretations- bzw. Deutungsschemata und Normen vonstattengeht (vgl. Ortmann (1995), S. 59). Machtausübung und -dehnung beziehen sich also nicht nur auf die Herrschaftsebene, sondern ebenso auf die Ebenen der Signifikation und Legitimation und reproduzieren diese (rekursiv) in ihrer Bezugnahme. Darüber hinaus lässt sich mit Ortmann et al. (1990, S. 29 ff.) die Ebene der Signifikation noch einmal in eine kognitive und in eine sinnlich-ästhetische Dimension unterteilen, innerhalb derer sich die gleiche rekursive Reproduktion der Struktur vollzieht, wie in den anderen Strukturdimensionen auch, und durch die ebenfalls Macht ausgeübt werden kann (vgl. ausführlich dazu das Kapitel Macht und Ästhetik). Insgesamt lassen sich demnach sechs Dimensionen mit ihren jeweiligen Modalitäten unterscheiden (siehe Abb. 7 auf nebenstehender Seite). Mit Hilfe der giddensschen Strukturationstheorie, in der „Strukturen als etwas Geronnenes und dennoch nicht Unveränderliches“ betrachtet werden (Ortmann (1995), S. 42), kann, durch einen Rückgriff vor allem auf die o. g. allokativen Ressourcen, nun eine gewisse „Materialisierung“ (Ortmann (1990), S. 19) des Machtbegriffs von Crozier/Friedberg geleistet werden, die sich primär auf autoritative, organisatorische Ressourcen beziehen. Crozier/Friedberg verzichten nach Ortmann (1992b) „überhaupt auf einen präzisen Strukturbegriff und neigen durchgängig dazu, Strukturen (. . .) in ihren materialen Analysen (. . .) zu vernachlässigen“ (S. 219), ohne dass ihre Theoriekonstruktion das zwingend indizieren würde. Dadurch besteht in deren Konzept für Ortmann (1992b) die Tendenz, Macht zu einem „allzu luftigen, liquiden Phänomen“ (S. 219) zu machen, das sich ausschließlich in Beziehungen und niemals als Besitzstand oder Attribut der Akteure manifestiert. Dagegen spricht seinem Urteil nach die Existenz allokativer Ressourcen, wie z. B. Geld, das zwar unlöslich an eine (Tausch- oder Verhandlungs-)Beziehung gebunden ist, „und doch gibt es Geld als Besitzstand, als Attribut von Akteuren. Man hat Ressourcen, Hebel, Trümpfe – und damit Macht. Ob und wie man sie ausüben kann, ist prin-
B. Mikropolitik und Strategische Organisationsanalyse
Ebene der Handlung
Sinnliche Wahrnehmung und Formgebung
Kommuni- Sanktion kation
autoritativadministratives Handeln
wirtschaftliches Handeln
– Rohstoffe – Produktionstechnik Informations- und Kommunikationstechnik
– ökonomische Machtmittel (Geld, geldwerte Güter, z. B. auch: Investitionen, Budgets)
– Autorität – Administration/Organisation (insbesondere Arbeitsorganisation, bürokratischer Herrschafts- und Verwaltungsapparat) – Fähigkeiten und Fertigkeiten
– rechtliche Normen –organisatorische (formelle und informelle) Regeln
kognitive normative autoritativ- ökonomische technische Dimension Dimension administrative Dimension Dimension Dimension
– Deutungsschemata; Organisationsvokabular, Mythen, Symbole, Leitbilder – Expertenwissen
Ebene der Modalitäten
sinnlichästhetische Dimension – Wahrnehmungsmuster – Formen von Handlungen und Handlungsgegenständen (-mitteln und -resultaten): Attraktivität; Architektur der Disziplin; „Ästhetik der Macht“
Dimension
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Technisierung
Abb. 7: Dimensionen und Modalitäten der Machtausübung (angelehnt an Ortmann et al. (1990), S. 30) zipiell offen (. . .). Macht ist nichts ganz Starres. Aber so fließend wie Crozier und Friedbergs Konstruktion es suggerieren, ist sie auch wieder nicht – sondern in Strukturen gebunden, die allerdings nicht absolut gegeben sind“ (ebd.).
Inwieweit diese Kritik berechtigt ist, soll hier nicht entschieden werden. Anzumerken wäre allerdings, dass auch Crozier/Friedberg (1993) durchaus die Existenz „objektiver Zwänge“ einräumen: Diese bestehen in einer Organisation neben formalen Organigrammen und inneren Reglementierungen z. B. auch in der Technologie oder im Falle eines diffuseren Handlungssystems in den gewissermaßen „objektiven“ logischen Strukturen des Problems, formalen Rechten und materiellen Ressourcen der Hauptakteure (S. 290, Anm. 573 bzw. S. 371). Allerdings weist die Kenntnis dieser „objektiven Zwänge“ nur auf eine Reihe von Grenzen des strategischen Spielfeldes hin, die Handlungsfreiräume der Spieler reglementieren und kanalisieren, indem sie einige Möglichkeiten ausschließen und andere produzieren. Aber die Analyse dieser Zwänge hilft laut Crozier/Friedberg (1993) nicht, die Antwort auf die für sie entscheidende Frage zu liefern,
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Teil 1: Rekonstruktion der Machtkonzepte
„welche dieser Möglichkeiten und Potentialitäten von den Beteiligten tatsächlich ergriffen und verwirklicht werden, wie und warum jene eher diese Strategie als eine andere verfolgen können – und auch tatsächlich verfolgen – und welche Bedeutung diese Strategien haben.“ (S. 290)
Demgegenüber macht Ortmann, wie dargelegt, die Wichtigkeit gewisser Strukturen etwas stärker. Es handelt sich dabei m. E. aber eher um eine unterschiedliche Nuancierung vor dem Hintergrund von grundsätzlich sehr ähnlichen Vorstellungen. Letztlich geht es Ortmann darum, ein ausgewogenes Konzept zwischen individueller und interaktiver Handlung auf der einen Seite und Handlungsstruktur auf der anderen Seite zu entwerfen. Einerseits soll eine gewisse „strukturelle Unterfütterung“ von Crozier/Friedbergs Strategischer Organisationsanalyse vorgenommen werden, andererseits eine einseitige Fokussierung auf „absolut gegebene“ (materielle) Ressourcen vermieden werden. Auch Ressourcen sind, wie oben bereits ausgeführt, in ihrer Bedeutung und Relevanz als wichtige Ressource abhängig von der wechselseitigen Einschätzung und Interpretation der Akteure. Gerade aus mikropolitischer Perspektive werden in diesem Zusammenhang sämtliche (in Abb. 6 durch die Pfeile angedeuteten) rekursiven Prozesse der Strukturbildung als politisch, kontingent und von individuellen Interessen durchdrungen angesehen. Im Blickpunkt steht der strategische Umgang von Akteuren mit Ressourcen, aber gerade auch mit Regeln. Dahinter steckt die oben gewonnene Einsicht, dass sich Machtpotenziale eben nicht nur durch die Verfügung über Ressourcen aufbauen lassen, sondern auch durch Einfluss auf die Signifikations- bzw. Legitimationsdimension, z. B., indem Wahrnehmungsmuster, Normen, Werte oder Ideologien der Organisationsmitglieder geprägt werden. Die angesprochene grundsätzliche Rekursivität der Strukturdimensionen lässt sich am Beispiel klassischer tayloristischer Massenproduktion ebenso wie an den jüngeren Konzepten des „Lean Management“, „Kaizen“ oder „Business Process Reengineering“ verdeutlichen: Durch Aufbau und Ablauf einer Produktion werden immer auch Fragen der Herrschaft, Legitimität und Signifikation berührt. Gleiches gilt für den Einsatz neuer Informations- oder Accountingtechniken, die nie eine objektive Abbildung der Realität darstellen, sondern als soziale Konstruktion und als Möglichkeit mikropolitischer Einflussnahme interpretiert werden können. Als konkretes Beispiel dafür könnte die Durchsetzung eines neuen Personalbeurteilungssystems oder einer bestimmten Lesart der Bilanzkennzahlen gelten. Aus strukturationstheoretischer Sicht kann eine derartige Veränderung nur dann gelingen, wenn bestehende Regeln der Signifikation und Legitimation (Forderung nach Objektivität in der Beurteilung, Rationalität, Gerechtigkeit etc.) Berücksichtigung finden (vgl. Ortmann/Sydow/Windeler (1997), S. 349). Dementsprechend interpretieren auch Küpper/Felsch (2000, S. 149) jedes Handeln von Akteuren für oder mit Bezug auf Organisationen konsequent als mikropolitisches,
B. Mikropolitik und Strategische Organisationsanalyse
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„d.h. als ein Handeln, das in dem je unterschiedlichen Deutungsrahmen, den Akteure in Bezug auf ihre organisationale Handlungssituation ausbilden, dadurch Sinn macht, dass diese Akteure keine bessere Handlungsalternative für die Verfolgung ihrer je eigenen Interessen in diesem Deutungsrahmen aktivieren können.“
In organisationalen Interaktionen tritt somit, wie in anderen sozialen Beziehungen auch, unweigerlich Macht in Erscheinung. Zur Anbahnung von (organisationalen) Machtbeziehungen versucht der konkrete Akteur, wie in Abschnitt I.2.c) beschrieben, durch strategische Informationssuche bzw. strategisches Informationsangebot innerhalb von Kommunikationsprozessen zu klären, inwieweit eine soziale Beziehung zu bestimmten anderen Akteuren vorteilhaft für ihn wäre. Eine Machtbeziehung entsteht, wenn Akteure wechselseitiges Interesse an den Ressourcen bzw. Handlungsmöglichkeiten des anderen haben, diese aber überraschungsträchtig für ihn sind, also eine strategische Interdependenz vorliegt (ebd., S. 150), in der Terminologie Crozier/Friedbergs also eine wechselseitige Kontrolle relevanter Unsicherheitsbereiche vorliegt. Organisationale Macht beruht dabei auf der individuellen Fähigkeit der Akteure, organisationale Formal-, Ressourcen- und Informationsstrukturen zur Kontrolle der Handlungen anderer Akteure einzusetzen (vgl. Küpper/Felsch (2000), S. 151). Größe und Beschaffenheit der Unsicherheitsbereiche, also die Bewertung der Handlungsmöglichkeiten eines Akteurs, sind deutungsabhängig. Diese Deutungen können auf Grund der bestehenden strategischen Interdependenzen zwischen Akteuren nur durch Einbeziehung aller direkt oder indirekt beteiligten Akteure geleistet werden. Das heißt, es ist jeweils der konkrete Deutungsrahmen konkreter Akteure und insofern ein konkretes Handlungssystem zu identifizieren (vgl. ebd., S. 150; Witt (1996), S. 51). Maßgeblich hierfür ist die Identifikation so genannter generalisierter Erwartungen bezüglich der Aktionen anderer relevanter Akteure, die i. d. R. in dem Deutungsrahmen eines jeden Akteurs enthalten sind, und deren Entstehung durch „Erziehungs-, Sozialisations- und (individuelle) Lernprozesse“ (S. 67) erklärt werden kann: „Derartige auf Lebenserfahrung von Akteuren gründende generalisierte Erwartungen bzw. Attributionen sind die Voraussetzung zur Herausbildung mehr oder weniger stabiler sozialer Identitäten. Die Existenz sozialer Identitäten als soziale Konstruktion von Akteuren eröffnet auch die Möglichkeit, typische Handlungs- und Interaktionssituationen mit typischen Machtbeziehungen zu identifizieren, so dass sich (. . .) generalisierte Aussagen über Handlungs- und Machtprozesse und ihre Folgen ableiten lassen.“ (Küpper/Felsch (2000), S. 150)
Auf dieser Basis versuchen die Autoren eine Typisierung mikropolitischen Handelns in Organisationen vorzunehmen, indem Machtstrategien und Machtspiele „zur Erklärung typischer Verhaltensstrukturen“ (ebd.) herangezogen werden. Da, ebenso wie bei Crozier/Friedberg, die Regeln dieser Machtspiele, als „Ausdruck der inneren Machtverhältnisse einer Organisation“, das Verhalten ausschließlich indirekt leiten und somit quasi „kanalisieren“, „scheidet jedwede Form eines kausalen Determinismus organisationalen Handelns“ aus einer der-
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Teil 1: Rekonstruktion der Machtkonzepte
artigen machttheoretisch begründeten Handlungstheorie von vornherein aus (S. 151). Dennoch können, in Verbindung mit (organisationsübergreifenden) äußeren Machtverhältnissen und mit kumulativen Prozessen der Machtinstitutionalisierung, generelle Aussagen über de facto in Organisationen anzutreffende verfestigte Verhaltensstrukturen und Routinen getroffen werden.153 Dazu werden von Küpper/Felsch Machtinstitutionalisierungsformen unter Bezug auf Kooperations- bzw. Konkurrenzbeziehungen nach Gruppen bzw. Allianzen differenziert (vgl. S. 126 ff.): Gruppen i.w. S. umfassen dabei Gruppen i. e. S., deren Mitglieder demselben Aufgaben- oder Arbeitsbereich und der gleichen formalen Hierarchiestufe zuzurechnen sind, sowie Koalitionen, deren Akteure unterschiedlichen Bereichen und Hierarchien angehören. Gruppen bilden sich aus machttheoretischer Sicht vor allem dann, wenn für die beteiligten Akteure dieselben Ungewissheitszonen von Interesse und Bedeutung sind, und sie sich darüber hinaus aus der Gruppenbildung Nutzen versprechen – entweder durch gemeinsame Kontrolle der Ungewissheitszone oder als Schutz vor Kontrolle durch andere. Vor dem Hintergrund der eindeutigen Konkurrenzsituation, in der sich Mitglieder von Allianzen befinden, muss es infolge von Verhandlungen zu einem Interessenausgleich kommen. Je besser dieser Ausgleich in der subjektiven Wahrnehmung der Akteure gelingt, je zufriedener sie also mit dem Verhandlungsergebnis sind, desto höher ist der Institutionalisierungsgrad der aufeinander bezogenen Macht innerhalb einer Allianz. Kooperations- und Konkurrenzprobleme finden in Organisationen immer nur partielle und vorläufige Lösungen (s. o.). Organisationale Akteure, die Lösungsbeiträge für derartige Probleme liefern können, bauen eine Machtposition auf und generieren „Managementmacht“, die sich in Kooperationsbeziehungen als Integratormacht und in Konkurrenzbeziehungen als Maklermacht darstellt (Küpper/Felsch (2000), S. 162 ff.). Integratoren haben die Aufgabe, durch die Zusammenführung der Akteursinteressen eine Gruppenbildung zu ermöglichen, beispielsweise, indem sie (potenzielle) Gruppenmitglieder von gemeinsamen Interessen oder Bedrohungen überzeugen oder auch das Gruppeninteresse nach außen vertreten. Makler sehen sich mit der Aufgabe konfrontiert, „gegensätzliche Interessen von Akteuren so zusammenzuführen, dass durch einen partiellen Austausch von Ressourcen oder von Handlungskontrolle bzw. durch eine partielle Verminderung der wechselweise erzeugbaren Unsicherheitszonen die Interessen aller beteiligten Kontrahenten gefördert werden“ (ebd., S. 164).
153 Dabei spielen „die Externalisierung von Zielen und Zwecken in den Formal-, Ressourcen- und Informationsstrukturen von Organisationen und hierdurch bedingte externe Effekte der Entscheidungen und Handlungen von Akteuren“ eine entscheidende Rolle (ebd.).
B. Mikropolitik und Strategische Organisationsanalyse
139
Eine Kombination aus Integrator- und Maklerfunktion hat der Verhandlungsführer inne, der die Interessen seiner Gruppe in Verhandlungen mit dem Führer einer Kontrahentengruppe vertritt, z. B. bei innerbetrieblichen Auseinandersetzungen. Tabellarisch lässt sich dieses Klassifikationssystem folgendermaßen zusammenfassen: Charakter der Machtbeziehung
Kooperationsbeziehung
Konkurrenzbeziehung
Gruppe i. w. S. Institutionalisierungsform Machtposition
Gruppe i. e. S. Integrator
Koalition
Allianz
Verhandlungsführer
Makler
Abb. 8: Machtinstitutionalisierungsformen und -positionen (angelehnt an Witt (1996), S. 67)
3. Zusammenfassung Die vorangegangenen Kapitel zeigen, dass die Ausführungen Küppers und Ortmanns als mikropolitische Konkretisierungen und Weiterentwicklungen der Arbeit Crozier/Friedbergs, die u. a. die Methodologie für eine strategisch ausgerichtete Organisationsforschung geliefert haben (vgl. Alt (2001), S. 308), angesehen werden können. Unter Mikropolitik verstehen sie, wie dargelegt, ein organisationstheoretisches Konstrukt, „welches das interessegeleitete Handeln je konkreter Akteure in je konkreten organisationalen oder organisationsbezogenen Handlungssituationen zum Ausgangspunkt nimmt“ (Küpper/Felsch (2000), S. 149). Mit Hilfe dieses Konzeptes versuchen die Autoren, der induktiv-hypothetischen Logik der Strategischen Organisationsanalyse folgend, das Geschehen und Nicht-Geschehen im organisationalen Kontext verständlich zu machen, indem die Struktur und Handlung ermöglichenden, restringierenden und (re-)produzierenden Spiel-Prozesse „mikroskopisch fein“ (Ortmann (1995), S. 32) analysiert, rekonstruiert und typisiert werden. Dies geschieht nach mikropolitischer Prämisse immer im Hinblick auf Akteure, die organisationale Ungewissheitszonen als Machtquellen instrumentalisieren, um ihre Interessen und Ziele durchzusetzen sowie ihre Autonomiebereiche aufrecht zu erhalten bzw. zu vergrößern. Ihr Entwurf ist somit, ganz im konzeptualen Sinne, als „ein um die Systemperspektive erweiterter handlungstheoretischer Ansatz“ zu verstehen (Brüggemeier/Felsch (1992), S. 135). Eine derartige „historisch-kontingente Analyse konkreter Handlungssysteme (. . .), die den je spezifischen Handlungs- und Interaktionsprozessen individueller und kollektiver Akteure besondere Aufmerksamkeit widmet“, ist somit eher zwischen den Ebenen der Mikro- und Mesopolitik nach Türk (1989) anzusiedeln,
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Teil 1: Rekonstruktion der Machtkonzepte
bzw. „liegt quer“ (Küpper/Felsch (2000), S. 362) zu einer derartigen Segmentierung (s. o. Abb. 1). Innerhalb dieses Ansatzes nimmt Macht die zentrale Stellung ein: Durch die mikropolitische Orientierung an den Interessen der Akteure tritt im organisationalen Kontext, wie in jeder sozialen Beziehung, „unweigerlich Macht als wesentliche Dimension des wechselweise aufeinander bezogenen Verhaltens in Erscheinung“ (ebd., S. 150). Stützen können sie sich dabei auf die allgemeinen und grundlegenden Überlegungen, die Crozier/Friedberg (1993) bei der Entwicklung ihres Machtbegriffs vorgenommen haben. Ausgehend von deren basaler Definition von Macht als „bestimmten Individuen oder Gruppen verfügbare Möglichkeit, auf andere Individuen oder Gruppen einzuwirken“, welche die Universalität von Machtphänomenen verdeutlicht, ist es vor allem der „beziehungsmäßige Charakter von Macht“, der die hier dargelegten Ausführungen durchzieht (S. 39). Auch in den Spezifikationen von Machtbeziehungen als dynamische Austausch- und Verhandlungsbeziehungen sowie bei der Definition von Macht als Kontrolle relevanter Unsicherheitszonen folgen Küpper und Ortmann den Ausführungen von Crozier/Friedberg. Allerdings zeichnet sich ihre Arbeit an vielen Punkten durch einen höheren Differenzierungsgrad und eine größere Detailgenauigkeit aus, z. B. durch die Unterscheidung von Machtbeziehungen in Kooperations- bzw. Konkurrenzbeziehungen und die damit in Verbindung stehende analytische Trennung von Gruppen bzw. Allianzen sowie von Integratormacht bzw. Maklermacht. Auch die nähere Analyse des (dualen) Verhältnisses von Formal- und Verhaltensstruktur und, damit einhergehend, die Differenzierung von Machtstrukturen i. w. S. in äußere und innere Machtstrukturen einer Organisation sind hier zu nennen. Vor allem Ortmann ist darüber hinaus bemüht, den Ausführungen Crozier/Friedbergs ein strukturelles Fundament hinzuzufügen. Demnach bleibt Macht zwar relational, lässt sich aber nicht vollständig in Austauschbeziehungen auflösen (vgl. Ortmann (1992b), S. 220). In Giddens’ Konzept, inklusive der von ihm vorgenommenen Veränderungen, meint er einen „hochdifferenzierten und doch genügend ,harten Machtbegriff‘“ (ebd.) gefunden zu haben, mit dem einer „,Entmaterialisierung‘“ (Ortmann et al. (1990), S. 19) der Macht entgangen werden könne. Überleitend zum zweiten Teil dieser Arbeit kann retrospektiv festgestellt werden, dass auch in strategisch-mikropolitischen Überlegungen Macht durch drei basale Aspekte gekennzeichnet ist, die bereits bei Nietzsches Machtbegriff als zentral erachtet worden sind: Macht stellt sich erstens als relationales Phänomen dar, das ein bestimmtes Kräfteverhältnis zum Ausdruck bringt und das in der Regel an gegenseitige Beziehungen zwischen Akteuren gebunden ist. Diese Beziehungen sind darüber hinaus u. a. als instrumentelle, intransitive und asymmetrische spezifiziert. Zweitens wird die enorme Dynamik der Machtbeziehungen
B. Mikropolitik und Strategische Organisationsanalyse
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deutlich, und insbesondere durch die Analyse der wechselseitigen InformationsInterpretations- und Kommunikationsprozesse als Teile eines die Organisation konstituierenden Spiels erklärbar. Diese Spiele sind dabei, wie ebenfalls angesprochen, keineswegs als harmlose Spielereien zu verstehen, sondern im Kern als ernste und ernst zu nehmende Auseinandersetzung um Macht. Bei allem Interesse der Autoren, Konsensmöglichkeiten in ihre Theorie organisationaler Machtbeziehungen zu integrieren, bleibt somit drittens doch die kompetitive, agonale Grundverfassung von Macht unverkennbar.
Teil 2
Komparative Untersuchung der Machtkonzepte A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede In diesem zweiten Teil soll es darum gehen, Verbindungen zwischen den beiden Machtkonzepten herauszuarbeiten. Wie lassen sich diese nun konkret ausmachen? Erste Hinweise auf mögliche Anknüpfungspunkte sind durch partielle Überschneidungen in der Terminologie gegeben: Eine wichtige begriffliche Parallele bildet hierbei die Bezeichnung von Macht als Kräftekonstellation bzw. Kräfteverhältnis, die sowohl Nietzsches Ausführungen zum Willen zur Macht als auch die strategisch-mikropolitischen Ansätze gleich einem roten Faden durchzieht.1 Macht hat demnach in beiden Theorien grundsätzlich etwas mit den Verbindungen von Kräften zu tun, mit ihrem Aufeinandertreffen und ihrer Stellung zueinander. In diesem Zusammenhang ist auch die mikropolitische These von „Explosionen“ (Küpper/Felsch (2000), S. 232) bzw. „explosiven Entladung[en]“ anzuführen, die den „normalen Lauf der Dinge“ innerhalb von organisationalen Abläufen schlagartig unterbrechen und verändern können: „Es walten keine zeitlosen Gesetze: Manchmal sind schon minimale Interventionen (vgl. Chaostheorie) dafür verantwortlich, daß ein Geschehen eine völlig andere Richtung nimmt.“ (Neuberger (1995), S. 89).2 Dies erinnert stark an Nietzsches Ausführungen zu Auslösungsprozessen als „plötzliche(.) Explosionen von Kraft“ (N 1883, 16[20], 10, S. 506), bei denen kleinste Ursachen große Wirkungen zeitigen können. Ein weiterer Beleg für begriffliche Anknüpfungspunkte ist die Rede von Kampf- oder Machtspielen (vgl. z. B. Neuberger (1992); Ortmann (1992a)) und von „,Machtquanten‘“ (Bosetzky (1992), S. 35) bzw. vom „Quentchen Macht“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 315, Anm. 59), die sich nahezu wortgleich bei Nietzsche finden lässt (z. B. N 1885, 36[22], 11, S. 561 bzw. N 1888, 14[79], 13, S. 258). Ortmann (2003) rekurriert darüber hinaus auf den Menschen als dem 1 Vgl. als eine Auswahl von Stellen z. B. Crozier/Friedberg (1993), S. 41, 43 ff., 49, 65, 73, 96; Friedberg (1992), S. 42; Ortmann (1992), S. 21; Küpper/Ortmann (1986), S. 594; Schreyögg (2000), S. 428; N 1884, 26[38], 11, S. 158, N 1885, 36[21], 11, S. 560; N 1888, 14[79], 13, S. 259. 2 Vgl. darüber hinaus zur Rede von „Kräfte-Konstrukten“ (S. 226) und von „Politik als treibende[r] Kraft“ (S. 228) ebenso Küpper/Felsch (2000) in der Auseinandersetzung mit Mintzberg (1991).
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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„nicht festgestellten Tier“ (S. 175), Neuberger erwähnt die „blonde Bestie“ (Neuberger (2006), S. 371), spricht mit dem „Gefühl der Macht“ (Neuberger (1995), S. 116) einen zentralen Begriff Nietzsches an und verwendet sogar explizit die genuin nietzschesche Formel vom „Willen zur Macht“ (ebd., S. 110). Wie bereits in der Einleitung erwähnt, kann also konstatiert werden, dass eine Reihe von Begriffen und Ausdrucksweisen bis hin zu kompletten Zitaten Nietzsches Eingang in die mikropolitische Organisationstheorie gefunden haben.3 Neben diesen teilweise direkten Spuren von Nietzsches Philosophie sind auch eine Reihe indirekter begrifflicher Übereinstimmungen zu finden, auch im Hinblick auf Philosopheme, die nicht originär von Nietzsche stammen, wie z. B. die explizite Betrachtung von Wissen als Macht4, die auf Francis Bacon zurückgeht, oder das Heraklit zugeschriebene „panta rhei“, also die Vorstellung, alles sei im Fluss. Nietzsche macht sich diese Gedanken zu eigen und sieht in Heraklit einen der wenigen Denker mit einer Art „Wahlverwandschaft“ zu ihm, insbesondere hinsichtlich der Auffassung, dass alles „flüssig“ sei (N 1885/86, 2[82], 12, S. 100).5 Diese grundsätzliche Vorstellung wird u. a. von Neuberger (1995) aufgegriffen, wenn er schreibt: „Alles fließt, nichts wiederholt sich identisch“ (S. 88). Auch Ortmann verwendet den Topos und weist darauf hin, dass dieser, konsequent zu Ende gedacht, nicht nur dazu führt, dass es unmöglich sei, zweimal „in denselben Fluß“ hineinzusteigen: „Man kann auch nicht einmal in denselben Fluss steigen.“ (Ortmann (1997), S. 28)6 Direkt im Anschluss zitiert Ortmann: „Es ist ebenso wahr, daß wir nie zweimal in das gleiche Unternehmen zur Arbeit gehen. Es ist auch ebenso falsch; denn die Wörter ,Fluß‘ und ,Unternehmen‘ bezeichnen nicht unwandelbare Substanzen, sondern fortbestehende Formen.“ (Vickers (1967), S. 68; zit. nach Weick (1985), S. 64 f.)
Diese Vorstellungen bleiben natürlich nicht ohne Folgen für die jeweiligen Machtkonzepte. Im folgenden Abschnitt wird zu analysieren sein, inwieweit hinter diesen ähnlichen, teilweise sogar gleichen Begrifflichkeiten tatsächlich auch tragfähige inhaltliche Parallelen auszumachen sind. Durch die Betonung der Relationalität, Dynamik und Agonalität in den vorangegangenen Ausführungen sollten zu derartigen Parallelen zumindest Ansatzpunkte erkennbar geworden sein. 3 Vgl. des Weiteren u. a. Gellrich/Luig/Pfriem (1997), S. 523; Ortmann (2004), S. 54, S. 134 f., Anm. 79, S. 198. Neuberger (2006), S. 224, Anm. 52, S. 303 ff., S. 322, S. 328, Anm. 77, S. 333, 347, 363 ff., 371, 513, 522, 530, 539. 4 Vgl. z. B. N 1872/73, 19[204], 7, S. 482; N 1887, 9[72], 12, S. 373; N 1888, 14[122], 13, S. 302 bzw. Ortmann et al. (1990), S. 46 f. 5 Vgl. auch UB II, 1, 1, S. 250; PhtZ, 1, S. 822 ff. sowie die Aufzeichnungen zur Vorlesung Die vorplatonischen Philosophen, KGW II, 4, S. 261 ff. Zu Heraklits „FlussFragmenten“ s. Diels-Kranz (DK) (1951). 6 Dies ist im Übrigen bei Heraklit ebenso der Fall, wenn er schreibt: „In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht.“ (DK 22 B 49a) Die Formulierung der Unmöglichkeit, „zweimal in denselben Fluß hineinzusteigen“, geht dagegen auf Plutarch zurück (DK 22 B91; H.v. m.).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Dieser konkreten Analyse der jeweiligen Machtbegriffe und ihrer Dimensionen muss jedoch eine kurze methodologische Einordnung der beiden Machtkonzepte insgesamt vorangestellt werden, um die grundsätzliche Relativität der aufzufindenden Gemeinsamkeiten deutlich zu machen und kein Zerrbild zu entwerfen.
I. Machtkonzepte im methodologischen Vergleich Zunächst einmal muss man sich einige fundamentale Unterschiede der Konzepte hinsichtlich ihres Ausgangspunktes, ihres Gegenstandsbereiches und ihrer Theorieerwartung vor Augen führen, um den Raum für mögliche inhaltliche Berührungspunkte abzustecken. Ausgangspunkt für Nietzsche ist der Mensch. Auch wenn sich seine Konzeption vom Willen zur Macht aus diversen Quellen speist, Anregungen unterschiedlicher Provenienz erhält und verschiedene Blickwinkel integriert, so geht er bei seiner Suche nach der ursächlich treibenden Kraft und der damit verbundenen Wendung nach innen letztlich doch von einer menschlichen Perspektive aus, wie die Untersuchung im ersten Teil gezeigt hat.7 Man kommt, selbst in der Wissenschaft, um eine gewisse „Anmenschlichung der Dinge“ (FW 112, 3, S. 473) gar nicht herum, sondern muss, will man in Nietzsches Sinn verstehen, die menschliche Selbsterfahrung gerade in ihrer leiblichen Dimension ernst nehmen und sich bewusst der „Analogie des Menschen zu Ende bedienen.“ (N 1885, 36[31], 11, S. 563) Zwar ist ein Ausgangspunkt beim individuellen menschlichen Akteur auch in der mikropolitisch-strategischen Analyse gegeben. Dabei spielt durchaus auch die leibliche Dimension sowie das Erleben des Menschen eine Rolle.8 Die Rede von Machtbeziehungen, Unsicherheitszonen und Handlungsspielräumen macht immer nur vor dem Hintergrund der Erfahrungen, Erlebnisse und Interpretationen der jeweiligen Akteure Sinn, da sie nicht „objektiv“ gegeben sind, sondern von wechselseitigen Deutungen und Einschätzungen abhängen. Allerdings bestehen an diesem Punkt, trotz des gemeinsamen Bezugs auf den Menschen, ganz gravierende Unterschiede, und zwar vor allem in der Art und Weise dieser Bezugnahme. Wurden eingangs einige begriffliche Überschneidungen hervorgehoben, 7 Streng genommen sogar nur von sich selbst, von seiner Leiblichkeit, seinem Selbstbild und seiner Seele, wie Lou Andreas-Salomé (2000) auf eindringliche Weise darlegt. „Theoretisch betrachtet, lehnt er sich häufig an fremde Muster und Meister an, aber das, worin diese ihre Reife, ihren Productionspunkt haben, wird ihm nur zum Anlaß, daran zu eigener Productivität zu gelangen.“ (S. 69 f.) Dafür ist allerdings zum einen auch eine besondere Polyphonie des Subjekts nötig (vgl. S. 53), woraus die Perspektivenvielfalt resultiert. Zum anderen sind diese „Widerspiegelungen seines Selbstbildes“ (S. 49) offenbar von exemplarischer Bedeutung für eine Vielzahl von Menschen. 8 Vgl. Crozier/Friedberg (1993), S. 294 ff.; Ortmann et al. (1990), S. 32 f.; Küpper/ Felsch (2000), S. 274 ff.; Neuberger (2006), S. 260 ff.
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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so sind in diesem Zusammenhang frappierende Differenzen auch in der Terminologie festzustellen. Dies liegt daran, dass Nietzsche u. a. eine dezidiert psychologische Herangehensweise wählt: Sein Zugang zur Macht speist sich, wie im ersten Teil dargelegt, nicht zuletzt aus diversen psychologischen Reflexionen zum Machtgefühl. Das „Gefühl der eignen Macht“ ist hierbei eng an den Selbstgenuss gekoppelt. Offensichtlich verschafft es uns „lustvolle(.) Gefühle des Uebergewichts“, „am Anderen unsere Macht auszulassen“ und erleben wir die „Lust der Befriedigung in der Ausübung der Macht“ (MA I, 102–104, 2, S. 99 ff.). Um diese psychologischen Aspekte der Macht(-ausübung) geht es dem strategischmikropolitischen Ansatz von Küpper und Ortmann in der Hauptsache gerade nicht, und insofern stützt er sich auch nicht auf eine derartige Terminologie. Ganz abgesehen davon, dass die Mikropolitik eine klare Definition von Macht als „Kontrolle relevanter Unsicherheitsbereiche“ angeben kann, während sich eine eindeutige Definition in Nietzsches gesamtem Werk nicht findet, weder zum Machtgefühl noch zur Macht oder zum Willen zur Macht. Außerdem verwendet Nietzsche kein originär soziologisches Vokabular, ebenso wenig wie er sich für eine spezifisch soziologische Methode interessiert (vgl. Gerhardt (1988d), S. 118). Gleiches lässt sich für die Ökonomie konstatieren: Nietzsche beschreibt die Machtvorgänge nicht in organisationstheoretischer, geschweige denn betriebswirtschaftlicher Sprache. Vielmehr wendet er sich in einer Reihe von Zitaten explizit gegen ein ökonomistisches und kapitalistisches Denken (vgl. Ottmann (1999), S. 130 ff.). Für eine detaillierte ökonomische Analyse der Macht fehlt ihm das nötige theoretische Instrumentarium und vielleicht auch ein tiefer gehendes Interesse (so zumindest Taureck (1999), S. 95 f.). Allerdings schreibt er 1875: „Um mir rechte Zerstreuung zu machen, treibe ich eine Wissenschaft, zu der ich bisher fast keine Zeit hatte und die es verdient Zeit für sich ausfindig zu machen, ,Handelsbetriebslehre und die Entwicklung des Welthandels‘, nebst National- und Socialökonomie“.9
Dies soll nach eigenem Bekunden „nur eine Vorbereitung auf nationalökonom. Studien sein“.10 Ein gewisses Interesse an diesen Wissenschaften ist also durchaus festzustellen.11 9
Brief vom 19. Juli 1875 an M. Baumgartner, KGB II 5, S. 82. Brief an C. von Gersdorff vom 19. Juli 1875, KGB II 5, S. 85; s. auch N 1875, 8[3], 1, S. 129. 11 Auch teilt er einen der Grundgedanken der Ökonomie A. Smiths: „Man lobt das Unegoistische ursprünglich, weil es nützlich, das Egoistische (tadelt man), weil es schädlich ist. Wie aber, wenn dies ein I r r t h u m wäre! Wenn das Egoistische in viel höherem Grade nützlich wäre, auch den anderen Menschen, als das Unegoistische!“ (N 1876/77, 23[54], 8, S. 423) Nichts anderes drückt Smith aus, wenn er im zweiten Kapitel seines ökonomischen Hauptwerkes, dem Wohlstand der Nationen, ausführt, dass wir nicht vom Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers unsere Mahlzeit zu erwarten hätten, sondern von dessen Egoismus. 10
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Entscheidend für unseren Kontext ist jedoch, dass Nietzsche die Möglichkeit für Beziehungen zwischen Individuen sieht, die ihre je eigenen Ziele verfolgen und ihre individuellen Interessen gegen andere Individuen vertreten. Darüber hinaus wird von ihm die für die ökonomische Analyse elementare Funktion des (Aus-)Tausches von Gütern, Leistungen und Informationen zwischen Individuen erkannt und auch anerkannt, wodurch der folgende Abgleich mit dem mikropolitischen Verständnis von Machtbeziehungen als Tausch- und Verhandlungsbeziehung erleichtert, wenn nicht überhaupt erst ermöglicht wird.12 Dies zeigt sich auch daran, dass Nietzsche den Wirkungsbereich der Macht nicht auf den psychologischen Bereich der Gefühle und Affekte beschränkt sieht: „Die Macht ist hier vorrangig auf das Verhältnis der Menschen untereinander bezogen. Durch sie werden die Handlungsmöglichkeiten von Gruppen und Individuen in ihrer jeweiligen Beziehung zueinander definiert. Dementsprechend äußert sich Machtstreben als Anspruch auf Gestaltung gesellschaftlicher Relationen.“ (Gerhardt (1996), S. 140)
Damit wird die durchaus vorhandene soziologische Dimension von Nietzsches Machtkonzeption deutlich, die nicht als reine „Gegen-Soziologie“ zu verstehen ist (Baier (1982)). Mit Jaspers (1947) kann man ein „soziologische[s] Grundverhältnis der Macht“ bei Nietzsche ausmachen (S. 306 f.). Seine Machtkonzeption besitzt „eine soziologische Relevanz, auch wenn sie von Nietzsche aus einer genuin ,psychologischen Warte‘ zur Aufdeckung der Motive wirkmächtiger Deutungskonstrukte konzipiert wurde.“ (Häußling (2000), S. 180; H.v. m.) Es findet sich bei ihm „eine Fülle originär soziologischer Einsichten“ (S. 120), wie Gerhardt (1988d) u. a. am Beispiel des Rechts herausarbeitet. Dies alles deutet schon eher auf mögliche Überschneidungen mit dem strategisch-mikropolitischen Machtbegriff hin, insbesondere mit Blick auf die Handlungsmöglichkeiten von Gruppen und Individuen sowie auf die gesellschaftlichen Relationen. Festzuhalten bleibt aber ebenfalls, dass Nietzsche auch diese sozialen Relationen mit dem Impetus des entlarvenden Psychologen untersucht, also nach Motiv und Antrieb des menschlichen Handelns fahndet, die er letzten Endes im Streben nach Macht zu finden glaubt. Er betreibt somit eine „Psychologie auch des sozialen Verhaltens“ (Gerhardt (1996), S. 165) und „stößt als Psychologe auf das Faktum sozialen Handelns, das ihn aber nicht als solches interessiert“ (ebd., S. 153). Das unterscheidet seinen Ansatz elementar von einem strategisch-organisationsanalytischen: Crozier/Friedberg interessieren sich in ihrer Vorgehensweise primär nicht für die individuellen Motive der Akteure, sondern für messbare Einstellungen und beobachtbares Verhalten, das „als Basis für die induktive 12 Z. B. in MA I, 92, 2, S. 89; N 1876/77, 20[8], 8, S. 362 f.; N 1887, 10[82], 12, S. 502 ff.; GM II, 4 u. 8, 5, S. 298 bzw. 305 f. Zu letzter Passage, gerade mit Blick auf das Verhältnis von Psychologie zu Soziologie und Ökonomie, vgl. ausführlich Gerhardt (2004).
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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Erschließung der Logik der dazugehörigen Spielstrukturen“ dient (Friedberg (1992), S. 47; H.v. m.). Insofern ist es richtig, wenn Küpper/Felsch (2000) bemerken, dass diese Methode persönlichkeits- und sozialisationsbezogene Verhaltenserklärungen relativiere (vgl. S. 16; auch Witt (1996), S. 39). Freilich nicht in dem Sinn, dass behauptet würde, die persönliche Disposition des Akteurs, seine Erlebnisse, seine Sozialisation, seine Erfahrungen und seine individuelle Motivlage spielten keine Rolle für sein Verhalten.13 Letztlich wird jedoch versucht, diese Einflüsse mittels der Rationalitätshypothese zu einem großen Teil auszublenden, um, ausgehend von Beziehungsbewertungen von Organisationsmitgliedern in Interviews, zunächst auf die von diesen verfolgten Beziehungsstrategien zu schließen und somit, vor dem Hintergrund der unterstellten Rationalität, auf die diesen Strategien zu Grunde liegenden Abhängigkeitsmuster und Machtstrukturen. Damit ist in groben Zügen noch einmal die induktiv-hypothetische Methodik umrissen.14 Dem folgend, verweist Mikropolitik „nicht auf eine spezifische Verhaltensdisposition als Folge einer durch Sozialisationsprozesse geprägten Motivationsstruktur von Menschen (. . .), auch nicht auf einen Persönlichkeitstyp des Mikropolitikers oder gar Organisations-Machiavelli, sondern auf die unausweichlichen Funktionsbedingungen kollektiven, organisierten Handelns.“ (Ortmann (1988), S. 3)
Küpper/Felsch (2000) ziehen es ebenso vor, die Zusammenhänge „zwischen psychischen Strukturen und Organisationsstrukturen (oder auch -kulturen) im Sinne einer Dualität zu begreifen, die über machtbedingte Interaktionen von Akteuren vermittelt wird, wobei die über externe Effekte und Institutionalisierungsprozesse erzeugten Sachzwänge eine prominente Rolle spielen dürften.“ (S. 228)
13 Vgl. beispielsweise die Ausführungen zur intrinsischen und extrinsischen Motivation in Küpper/Felsch (2000), S. 300). Crozier/Friedberg (1993) charakterisieren ihr Vorgehen als eines, „das sich der gelebten Erfahrung der Beteiligten bedient, um immer allgemeinere Hypothesen über die Merkmale des Ganzen aufzustellen und zu verifizieren.“ (S. 291) Dazu ist häufig ein „,Umweg‘ durch die Erlebniswelt der Akteure zu machen.“ (S. 293) Denn nur, wenn der Forscher „von innen her die eigentliche Logik der Situation rekonstruiert, so wie sie von den Akteuren selbst wahrgenommen und erlebt wird, kann er die impliziten Gegebenheiten entdecken, von denen her allein ihre anscheinend unsinnigen Verhaltensweisen Sinn und Bedeutung zurückgewinnen“ (ebd.). Durch die Berücksichtigung dieser „subjektiven“ Bedeutung der Verhaltensweisen kann dann auf „objektive“ Strukturierungen des Feldes geschlossen werden. Es geht dabei auch darum, „die ungerechtfertigte Dichotomie zwischen ,objektiver‘ und ,subjektiver‘ Wirklichkeit zu überwinden“ (S. 295). Der Rückgriff auf das Erleben ist somit ausdrücklich „viel mehr als ein mehr oder weniger symbolisches Hutziehen vor der ,Bedeutung des menschlichen Faktors‘“, er ist vielmehr „die Bedingung überhaupt für eine ernsthafte Kenntnis des Feldes“ (ebd.). 14 Vgl. Friedberg (1992), S. 49 und S. 51; zu weitergehenden Ausführung der Forschungsmethode vgl. Crozier/Friedberg (1993), S. 289–307. Zu methodischen Implikationen s. auch Bogumil/Schmid (2001), S. 62 f.
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Nietzsches Suche nach Motiven könnte daher dazu führen, ihn eher in die Nähe von aspektualen Mikropolitikansätzen zu rücken. Dies wird noch unterstrichen durch Bemerkungen Nietzsches zum „,Macchiavellismus‘ der Macht“ (N 1887, 9[145], 12, S. 419 f.), in dessen Zuge wortwörtlich alles, selbst die Liebe, in den Dienst genommen und instrumentalisiert wird, durch das Interesse an typisierten Machtmenschen wie Cäsar oder Napoleon sowie durch die Aufzählung und Analyse diverser Machttechniken und -taktiken, die von „List“ und „Verschlagenheit“ (N 1887, 10[159], 12, S. 550), den Einsatz ästhetischer Machtmittel und Techniken „Furcht zu erregen“ (N 1887, 9[150], 12, S. 423) über „Verleumdung, Verdächtigung, Unterminierung (. . .), Umtaufung, (. . .) Verhöhnung“ (N 1887, 9[147], 12, S. 421) bis hin zu „systematische[r] Verfolgung“ (ebd.), „Rache“ (N 1887/88, 11[407], 13, S. 187) und „Grausamkeit“ (GM II, 16, 5, S. 323) reichen. Das erinnert stark an den machiavellistischen Typ des Mikropolitikers, wie ihn Bosetzky (1977 bzw. 1992) entwirft. Dieser zeichnet sich u. a. durch ein überaus großes Interesse an Machtmehrung aus, durch seine Neigung zur Instrumentalisierung von Menschen, Ideen, Ideologien, politischen Inhalten und Arbeitsprozessen zu eigenen Zwecken und somit durch seine „Neigung zu machiavellistischen Verhaltensweisen“ (Küpper/Ortmann (1986), S. 592). Bei einer genaueren Untersuchung dürften sich daher eine ganze Reihe von weiteren Übereinstimmungen mit Nietzsche finden lassen. Trifft demnach der Vorwurf einer „Personalisierung“ (Neuberger (1995), S. 115) bzw. „Psychologisierung“ (Küpper/Ortmann (1986), S. 592; Küpper/Felsch (2000), S. 26) politischen Handelns, wie er derartigen aspektualen Mikropolitikansätzen gemacht wird, auch auf Nietzsche zu? Trotz einer auf den ersten Blick hohen Plausibilität wird eine derartige Diagnose Nietzsches Ansatz m. E. in der Summe nicht vollständig gerecht. Zum einen sieht auch er die Schwierigkeiten, die eine Suche nach den Motiven mit sich bringt: „(E)s wirken Motive, die wir zum Theil gar nicht, zum Theil sehr schlecht kennen (. . .). Wahrscheinlich ist, dass auch unter ihnen ein Kampf Statt findet, ein Hin- und Wegtreiben, ein Aufwiegen und Niederdrücken von Gewichttheilen – und dies wäre der eigentliche ,Kampf der Motive‘: – etwas für uns völlig Unsichtbares und Unbewusstes“ (M 129, 3, S. 119).
Auf die Selbstbeobachtung bezogen, bedeutet dies, dass „der Kampf selber (. . .) mir verborgen [bleibt], und der Sieg als Sieg ebenfalls; denn wohl erfahre ich, was ich schließlich t h u e , – aber welches Motiv damit eigentlich gesiegt hat, erfahre ich nicht“ (ebd.). Demnach sieht auch Nietzsche die Grenzen der psychologischen Entlarvung verborgener Motive. Wir können letztlich nie sicher erfahren, aus welchem Motiv wir wirklich gehandelt haben. Zum anderen bleibt Nietzsche, wie gesehen, nicht bei einem individuellen psychologischen Erkenntnisziel stehen. Vielmehr sucht er „im analytischen Rück-
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gang auf die inneren Beweggründe des Menschen nach den Triebkräften des Lebens überhaupt.“ (Gerhardt (2006), S. 184) Er schließt von einem Teil des Ganzen, zu dem uns zumindest ein gewisser Zugang offen steht, auf das Ganze, so wie er vom Leben „als Einzelfall“ hypothetisch auf den „Gesammtcharakter des Daseins“ schließen möchte (N 1888, 14[82], 13, S. 262). Kaufmann (1988) geht dabei so weit, von einer auf „empirische Daten“ gestützten „Induktion“ zu sprechen (S. 240). Ein solchermaßen „induktiv-hypothetisches“ Vorgehen weckt in unserem Kontext natürlich Assoziationen an die Methode der Strategischen Organisationsanalyse. Die Methoden sind aber nicht gleichzusetzen, da sich sowohl Induktion als auch Hypothese bei näherer Betrachtung in beiden Konzepten auf jeweils etwas anderes beziehen.15 Es ist ferner zu berücksichtigen, dass Nietzsche, auch wenn er immer wieder gegen die Metaphysik polemisiert, mit dem Geltungsanspruch des Metaphysikers auftritt, der die Welt in ihrem innersten Kern „erklären“ oder zumindest verständlich „auslegen“ möchte, und der einen „ N a m e n “ für diese Welt und eine „ L ö s u n g “ aller ihrer Rätsel sucht, wie es im Eingangszitat heißt (N 1885, 38[12], 11, S. 611). Im Zuge seiner Überlegungen beschränkt er sich, wie gesehen, nicht auf den Bereich menschlichen Handelns, sondern deutet sämtliches Geschehen aus einer Machtperspektive heraus, als einen Willen zur Macht, der das gesamte Sein durchdringt und formt, von den dynamischen Kräfte- und Mächteverhältnissen, die den ungegenständlichen Kern der Materie ausmachen, bis hin zu ganzen Gesellschafts- und Staatssystemen. Da dieser Wille zur Macht eigentlich nur als Vielheit, vielleicht am besten als ein Netz aus diversen Willen zur Macht gedacht werden kann, das sich permanent verändert, verformt, wellenartige Ausbuchtungen und Täler bildet, ist genau genommen nicht mehr von einem Sein der Welt zu sprechen, sondern von einem permanenten Werden. Das, was dort wird, unterscheidet sich in seiner kategorialen Erfassung nicht mehr prinzipiell voneinander, sondern nur noch durch den jeweiligen Komplexitätsgrad der Willen zur Macht-Konstellation bzw. durch den Grad der Organisiertheit, „gleich, ob man ein Individuum oder einen lebendigen Körper, eine aufwärtsstrebende ,Gesellschaft‘ ins Auge faßt.“ (N 1888, 14[192], 13, S. 379) Schematisch vereinfacht, ließe sich das folgendermaßen skizzieren:
15 Im Falle der Organisationsanalyse beziehen sich die Prinzipien auf den induktiven Schluss von einzelnen Verhaltensweisen auf allgemeinere Strategien auf Basis der hypothetischen Rationalität des Verhaltens in Bezug auf diese Strategien, im Falle Nietzsches dagegen auf die Induktion von dem psychologisch am Einzelnen erschlossenen Willen zur Macht auf alle Lebewesen, bzw. auf die Hypothese vom Einzelfall des Lebens auf das Sein überhaupt.
Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Staat/Gesellschaft/Kultur institutionelle Organisation Gruppe Individuum Organismus Organ Gewebe Zelle Molekül Atom Konstellation von Kräften bzw. von dynamischen Quanten Wille zur Macht
aufsteigender Komplexitätsgrad/ Grad der Organisiertheit
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Abb. 9: Aufbau der „Welt“ in Abhängigkeit vom Grad der Organisiertheit (Quelle: Eigenerstellung)
Die strategisch-mikropolitische Perspektive klammert nun weite Teile dieses Spektrums aus, da sie einen viel klarer eingegrenzten Analyserahmen und eine enger gefasste Theorieerwartung hat, nämlich nicht, „die Welt“ in toto zu erklären, sondern den spezifischen Ausschnitt der Wechselwirkung von menschlichem Handeln und sozialer Struktur zu untersuchen, ohne dabei der „falschen Alternative“ (Ortmann (2003), S. 15) von Handlungs- oder Systemtheorie aufzusitzen. Innerhalb dieses Ausschnittes ist indessen durchaus das Bestreben zu erkennen, soziales Handeln im Kern zu erklären und zu verstehen und somit in das Innere von Organisation vorzudringen (vgl. Crozier/Friedberg (1993), S. 307). Bezeichnenderweise findet Ortmann (1997) in diesem „Inneren“ nichts Festes, sondern immer nur „tätige Bewegung“, die das Beharrungsvermögen und die Stabilität sozialer Strukturen permanent (re-)produzieren muss (S. 29; H.v. m.). Um im Bild zu bleiben, könnte man den Gegenstandsbereich der mikropolitisch-strategischen Analyse zwischen Individuen und institutionalisierten Organisationen bzw. Gesellschaft verorten (vgl. Abb. 9). Insbesondere in der hier weniger berücksichtigten Debatte um das Verhältnis von Umwelt und Organisation wird innerhalb der mikropolitischen Organisationstheorie auch die Thematisierung von Gesellschaft virulent (vgl. z. B. Ortmann (1997)), und somit die Analyseeinheit explizit ausgeweitet. Nach Lauschke/Welskopp (1994) kombiniert das Konzept der Mikropolitik „wie ein ,Wegweiser für die historische Theoriebildung‘ die Forderung nach einer konsequent relationalen Perspektive, einer mikrohistorischen Erweiterung und gesellschaftstheoretischen Rückbindung, einer typisierenden, synthetisierenden Betrachtungsweise und einer auf systemspezifische Macht- und Konsenskonstellationen ausgerichteten Analyse“ (S. 13; zit. nach Küpper/Felsch (2000), S. 362).
Auch Crozier/Friedberg (1993) scheinen institutionelle Organisationen als „sichtbarste und formalisierteste Form“ eher als praktisches Beispiel und „Experimentalmodell“ (S. 11) zu nehmen, um zu generellen Erkenntnissen über organi-
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siertes Handeln zu kommen. Der Geltungsanspruch der Strategischen Organisationsanalyse geht demnach „über das enge Feld der geschlossenen und gut definierten Organisationen, wie z. B. Unternehmen und öffentliche Verwaltungen, hinaus“ (S. 2).16 Strategische Mikropolitik deckt also, kurz gesagt, das Spektrum zwischen Individuum und Gesellschaft ab und nimmt hierbei primär die „soziale“ und nicht die „natürliche“ Welt in den Blickpunkt. Wenn z. B. Crozier/ Friedberg (1993) davon sprechen, „die Reflexion über die Organisation als künstlicheres und daher leichter zu analysierendes Phänomen für das Verständnis der ,Natur‘“ zu betreiben, geht es ihnen nicht um die natürliche Welt im engen Sinn, sondern primär um die „,Natur‘ (. . .) kollektiven Handelns“ (S. 11), auch wenn sich die mikropolitische Organisationstheorie durchaus offen gegenüber naturwissenschaftlichen Elementen zeigt.17 Inwieweit eine derartige Trennung von natürlicher und sozialer Sphäre plausibel und theoretisch sinnvoll ist, sei hier dahingestellt. Entscheidend für die Vergleichsmöglichkeit ist, dass Nietzsche derartige Trennlinien immer wieder viel grundsätzlicher einreißt. Einerseits fasst er beispielsweise den Leib als soziale Organisation und „Herrschafts-Gebilde“ (N 1887/88, 11[73], 13, S. 36) mit einer spezifischen „Rangordnung und Arbeitstheilung“ auf (N 1885, 40[20–23], 11, S. 638), andererseits werden soziale Organisationen von ihm nach Art von lebendigen Organismen begriffen18, und „Leben“ selbst als „Ausdruck von Wachsthumsformen der Macht“ betrachtet (N 1887, 9[13], 12, S. 345). Ebenso nivelliert er die prinzipielle Trennung zwischen dem belebten und unbelebten Bereich der Natur und kehrt vielmehr die Übergänge hervor. Somit stellt sich unweigerlich die Frage nach der Kommensurabilität der Konzepte.19 Nun steht die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung hier nicht im Mittelpunkt der Betrachtung, und das Kommensurabilitätsproblem kann daher an dieser Stelle nicht umfassend erörtert werden. Dennoch sollen kurz einige Punkte angeführt werden, die m. E. gegen das Vorliegen einer vollständigen Inkommensurabilität und für die Möglichkeit einer gewissen Vergleichbarkeit der 16 Dass eine derartige Ausweitung nicht immer unkritisch gesehen wird, zeigt der Vorwurf von W. Stapel an Ortmann. Er betrachtet dessen Variante der MikropolitikTheorie insofern „als ,Mutation‘ des ursprünglichen Ansatzes (. . .), als sie den Anspruch erhebt, über informelle Prozesse in Einzelorganisationen hinaus ein Stück Gesellschaftstheorie darzustellen, und bewertet diesen Anspruch als ,Anmaßung‘.“ (Online-Rezension zu Stapel (2001)) Türk (1989) bewertet dagegen den „Mut, grundsätzlichere Fragestellungen zu entwickeln“ sowie die damit verbundene „Wendung ins Prinzipielle“ als positiv (S. 10). Diverse Ansätze einer „Rückkehr der Gesellschaft“ in die Organisationstheorie finden sich in Ortmann/Sydow/Windeler (1997); Kühl (2003), S. 40 ff. sowie (2002). 17 Vgl. u. a. Küpper/Felsch (2000), S. 340 ff.; Ortmann (2003). s. dazu auch Teil 2 B. II. 10. 18 Vgl. N 1883, 7[174], 10, S. 299; N 1886/87, 7[9], 12, S. 296; dazu auch MüllerLauter (1999), S. 133. 19 Vgl. z. B. Scherer (2001), S. 19 f.; generell dazu Hoyningen-Huene/Sankey (2001).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Theorien sprechen könnten. Dabei könnte man von einem Begriff der Inkommensurabilität ausgehen, der durch Th. Kuhn populär geworden ist. Kuhn (1976) vertritt u. a. die These, dass nicht objektiv zwischen konkurrierenden Theorien entschieden werden kann, wenn diese in unterschiedlichen Paradigmen (i. S. v. Standards der Wissenschaftlichkeit, die innerhalb einer Wissenschaftlergemeinde anerkannt, außerhalb dieser aber abgelehnt werden) entwickelt wurden. Theorien gelten dann als inkommensurabel, wenn neben der radikalen Verschiedenheit der Orientierungssysteme zugleich ein Konkurrenzverhältnis vorliegt, so dass eine Entscheidung zwischen den Orientierungssystemen unbedingt erforderlich ist.20 Könnte man ersteres zwischen Nietzsches Wille zur Macht und der Mikropolitiktheorie u. U. noch feststellen, z. B. im Hinblick auf unterschiedliche Theorieerwartungen oder Wissenschaftlichkeitsstandards, so ist letzteres aus meiner Sicht nicht gegeben. Vielmehr können die Theorien verschiedene Perspektiven auf das Phänomen der Macht eröffnen, ohne in direkter Konkurrenz der Erklärung oder Bewertung zu stehen. Eventuelle Überschneidungen in Bezug auf strukturelle Merkmale der Machtbegriffe werden hierbei als Indiz dafür gewertet, dass den entsprechenden Momenten eine gewisse Relevanz für ein adäquates Verständnis von Macht zukommen könnte (vgl. Einleitung). Kommensurabilität kann indessen auch in einem unspezifischeren Sinn erörtert werden.21 Die Frage ist, einfach gesagt, ob es überhaupt sinnvoll sein kann, derartig verschiedene Theorien miteinander in einen Vergleich zu bringen. Für das Vorliegen einer gewissen Kommensurabilität in diesem Sinn lassen sich m. E., bei aller offenkundigen Unterschiedlichkeit der Konzepte, einige Punkte angeben. Neben der Tatsache, dass bereits eine Reihe von begrifflichen Übereinstimmungen und erste inhaltliche Parallelen hinsichtlich der Relationalität, Dynamik und Agonalität des Machtverständnisses aufgezeigt worden sind, die auf eine Fruchtbarkeit des Vergleichs hindeuten, lässt sich nach den Ausführungen dieses Abschnittes auch die partielle Überschneidung des Gegenstandsbereiches anführen: Nietzsche sieht den Willen zur Macht überall am Werk, also auch in dem Ausschnitt, über den die Organisationstheorie Aussagen trifft, nämlich im individuellen und sozialen Bereich. Darüber hinaus wäre erneut auf die eingangs erwähnte methodologische Offenheit des strategisch-mikropolitischen Ansatzes zu verweisen, die sich ausdrücklich auf philosophische Diskurse erstreckt (vgl. Küpper/Felsch (2000), S. 361 f.). Küpper/Felsch (2000) fassen die Funktion ihres konstitutionstheoretischen Ansatzes explizit sehr weit auf, als eine Art metatheoretische „Brücke“ zwischen ver20 Zu den Entwicklungen in Kuhns eigener Theorie sowie zu einem Überblick über weiterführende Interpretationen Wuchterl (1999), S. 226 ff. Vgl. auch Burrell/Morgan (1997), S. 33 ff. und Giddens (1984), S. 166 ff. 21 Zu verschiedenen Formen von Inkommensurabilität ausgiebig Hoyningen-Huene/ Sankey (2001), nach denen die Frage „how to apply the concept of incommensurability (. . .) is itself one of the questions at stake.“ (S. viii)
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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schiedenen Paradigmen, die beispielsweise von Burrell/Morgan (1979; 1997) als unvereinbar angesehen werden. Burrel und Morgan haben zu zeigen versucht, dass Vergleiche unterschiedlicher organisationstheoretischer Ansätze unweigerlich in einen wissenschaftstheoretischen Diskurs führen. Dabei stellen sich ontologische Fragen nach der Natur von Organisationen, epistemologische Fragen nach der erkenntnistheoretischen Grundlage für Aussagen über organisationale Entwicklungen sowie anthropologische Fragen nach den unterstellten Charakteristika menschlichen Handelns in Bezug auf Organisationen. Die Antworten auf diese Fragen werden als grundlegende Weichenstellungen für eine geeignete Methodologie der jeweiligen Organisationsforschung angesehen, wobei eine Reihe von „philosophischen Schlüsselideen“ unterschieden werden (vgl. auch Küpper/ Felsch (2000), S. 350): Nominalism
Ontology
Realism
Anti-Positivism
Epistemology
Positivism
Voluntarism
Human Nature
Determinism
Ideographic Methods
Methodology
Nomothetic Methods
Abb. 10: Key philosophical ideas (nach Burrell/Morgan (1979), S. 3)
Nach Burrell/Morgan (1979) führt die Unterscheidung wissenschaftstheoretischer Grundpositionen zu einem Dualismus zwischen subjektivistischen und objektivistischen Theorieansätzen. Der subjektivistische Ansatz zeichnet sich durch einen ontologischen Nominalismus, erkenntistheoretischen Anti-Positivismus und anthropologischen Voluntarismus aus (vgl. linke Seite der Tabelle), während der objektivistische Ansatz durch einen ontologischen Realismus, epistemologischen Positivismus sowie einen anthropologischen Determinismus gekennzeichnet ist. Quer zu dieser Unterscheidung liegt die Differenzierung nach Ordnung stiftender Regulation und radikalem Wandel (vgl. auch Scherer (2001), S. 16): Radikaler Wandel
Subjektivismus
Radikaler Humanismus
Radikaler Strukturalismus
Interpretatives Paradigma
Funktionalismus
Objektivismus
Ordnung Abb. 11: Bezugsrahmen (in Anlehnung an Burrell/Morgan (1979), S. 22)
154
Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
In einem regulativen Verständnis von Organisationsstrukturen werden Konsensprozesse, Solidarität und soziale Integration betont. Ansätze des radikalen Wandels machen demgegenüber herrschaftsbezogene Konflikte, soziale Gegensätze sowie emanzipatorische Ansprüche stark. Letztere werden der subjektivistischen Dimension der Radikalen Humanisten bzw. der objektivistischen Ebene der Radikalen Strukturalisten zugeteilt. Regulative Theorieansätze werden dementsprechend nach einem interpretativen und einem funktionalistischen Paradigma differenziert. Zwischen den einzelnen Paradigmen wird von Burrel/Morgan eine Unvereinbarkeit (incommensurability) proklamiert. Für unseren Kontext erscheint nun insbesondere der Versuch von Küpper/ Felsch (2000) interessant, durch ihren konstitutionstheoretischen Ansatz, den sie selbst auf die Kurzform „Strukturationstheorie, Identitätskonstrukte, relationale Machtkonstrukte“ bringen, derartige Dualismen, sei es zwischen Subjektivismus und Objektivismus oder zwischen Ordnung und Wandel zu Gunsten einer Dualität der Perspektiven aufzulösen und zu überwinden (vgl. S. 352 f.).22 Kurz gesagt, streben die Autoren damit eine Perspektivenvielfalt sowie die Möglichkeit wechselnder Perspektiven an. Dementsprechend sollen aus einer metatheoretischen Perspektive Verbindungen zwischen diesen Paradigmen, also z. B. konkret zwischen konsensualen und konfliktionären Prozessen bzw. zwischen stabiler Ordnung und dynamischer Veränderung, ausfindig gemacht und hergestellt werden.23 Wo könnte man in einem derartigen Schema Nietzsche verorten, vorausgesetzt man sieht die damit verbundene Kategorisierung – insbesondere vor dem Hintergrund, dass Nietzsche ja keine Organisationstheorie entwirft – überhaupt als annehmbar an? Zunächst einmal ist zu sagen, dass diese Voraussetzung keineswegs rhetorischer Art ist: Nietzsche lässt sich methodologisch nur sehr schwierig in geläufige Schemata einordnen. Er ist in Methodenfragen mehr als „unbekümmert“ (Gerhardt (1996), S. 165) und teilweise geradezu gleichgültig (vgl. ebd., S. 222; auch S. 177). Einerseits sind in den bis zu dieser Stelle rekonstruierten Ausführungen Nietzsches deutliche Tendenzen zum subjektivistischen Paradigma und zur Betonung des radikalen Wandels auszumachen: So wurde die subjektivistische, verstehende Zugangsweise hervorgehoben und Nietzsches Fokussierung auf das Werden, auf den Wechsel und die Bewegung sowie auf den Konflikt als Antriebskraft. Dazu ließe sich eine ganze Reihe von Zitaten heranziehen. „Die 22 Dabei können sie sich mit Recht auf Giddens stützen, dessen Begriff der „Reproduktion“ gerade die Funktion hat, die „Trennung zwischen ,Statik‘ und ,Dynamik‘ aufzuheben.“ (Giddens (1984), S. 156) 23 „Metatheoretisch“ soll dabei bedeuten, „dass die ontologischen, epistemologischen und anthropologischen Positionen nicht Grundlage alternativer Forschungsperspektiven bilden sollten, sondern erst im Forschungsprozess selbst entdeckt werden müssen, z. B. als zwischen spannungsgeladenen Polen aufgespannte Dimensionen der Bedeutungsrahmen von Akteuren in konkreten Handlungssystemen.“ (Küpper/Felsch (2000), S. 353)
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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Schule der ,Objektiven‘ und ,Positivisten‘“ ist seiner Ansicht nach z. B. „zu verspotten“, weil sie „um die Werthschätzungen herum kommen, und nur die facta entdecken und präsentiren“ wollen (N 1884, 26[348], 11, S. 241). In Wirklichkeit gibt es aber in diesem Sinne „keinen Thatbestand, alles ist flüssig, unfaßbar, zurückweichend; das Dauerhafteste sind noch unsere Meinungen.“ (N 1885/86, 2[82], 12, S. 100; ebd., 2[108], S. 114) Und „Dinge“ sind für ihn ausdrücklich nichts Festes, weil wir selbst „nichts Festes sind“ (N 1880/81, 10[F100], 9, S. 438). Andererseits ist die Diagnose eines Subjektivismus keineswegs unproblematisch bei einem Denker, der das Subjekt selbst nicht als feste Einheit begreift, sondern als eine „perspektivische Illusion entlarvt“ (N 1885/86, 2[91], 12, S. 106) und in eine Vielheit auflöst. „,Es ist alles subjektiv‘ sagt ihr: aber schon das ist eine Auslegung, das ,Subjekt‘ ist nichts Gegebenes, sondern etwas HinzuErdichtetes, Dahinter-Gestecktes.“ (N 1885/86, 7[60], 12, S. 315) In gewisser Weise versucht Nietzsche hier „vom Menschen abzusehn“ (N 1882/83, 6[1], 10, S. 231) und eine „Entmenschlichung“ im Sinne einer Objektivierung des Standpunktes zu erlangen (N 1881, 11[238], 9, S. 532).24 Seinen Perspektivismus ausschließlich als Subjektivismus zu verstehen, ist laut Müller-Lauter (1999) daher auch verfehlt (S. 86). Allerdings sieht auch Nietzsche die Schwierigkeit, eine Welt ohne Subjekt überhaupt zu denken (vgl. N 1880/81, 10[D82], 9, S. 431). Generell lässt sich sagen, dass Nietzsche die klare Trennung von Subjekt und Objekt für einen „fehlerhaften Gegensatz“ hält (N 1880–81, 10D/67, 9, S. 428).25 Diese Unterscheidung sowie die Unterstellung einer „adäquate[n] Relation“ ist seiner Meinung nach der Subjekt-Objekt-Trennung unserer Sprache geschuldet und bildet keinen validen Ausgangspunkt für das Denken (N 1887/88, 11[120], 13, S. 57). Sowohl Subjekt als auch Objekt werden „nicht als Thatbestand“ anerkannt, sondern als Ausdeutungen im Sinne eines Willens zur Macht aufgefasst, von denen Nietzsche allerdings nicht ausschließen möchte, dass sie notwendig, i. S. von lebenserhaltend, sein könnten (vgl. N 1885/86, 2[147], 12, S. 139). Damit wäre auch Nietzsche, Küpper und Ortmann entsprechend, zwischen den Paradigmen zu verorten, und ließe sich nicht auf einen Dualismus festlegen (so auch Kaulbach (1979), S. 143 ff.). Dies ließe sich – in gewissen Grenzen – auch für die Paradigmen von Wandel und Ordnung zeigen: Nach Nietzsche ist einerseits Ordnung, auf Grund der Betonung der Dynamik und Bewegung, nie als absolut dauerhafte und vor allem nicht als statische zu verstehen. Ebenso wird im Willen zur Macht die Bedeutung des Konflikts stark betont. Dennoch besteht, auch nach Maßgabe des Willens zur Macht, nicht alles ausschließlich aus einem permanenten und vollständigen Wan24
Vgl. dazu auch Gerhardt (1988e), S. 176 sowie (1996), S. 332. „Oh die falschen Gegensätze! (. . .) Subjekt Objekt! Dergleichen g i e b t es nicht!“ (N 1881, 11[140], 9, S. 493) 25
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
del, sonst wäre die Welt, wie sie sich auch aus einer Machtperspektive darstellt und die gekennzeichnet ist durch Situationen von Übermacht, zumindest vorübergehenden Ordnungseinheiten und Herrschaftsgebilden lebendiger oder sozialer Art, gar nicht möglich. Einheit ist für ihn, wie vor allem im Kapitel über den zentralen Zusammenhang von Macht und Organisation im Einzelnen herausgearbeitet werden wird, immer „ n u r als O r g a n i s a t i o n u n d Z u s a m m e n s p i e l Einheit (. . .) also G e g e n s a t z der atomistischen Anarchie; somit ein H e r r s c h a f t s - G e b i l d e , das Eins b e d e u t e t , aber nicht eins i s t . “ (N 1885/86, 2[87], 12, S. 104)
Interessanterweise sieht Nietzsche, der das Chaos als dynamische Grundlage für Produktivität durchaus wertschätzt, gerade die „Anarchie der Atome“, die Übermacht der Teile über das Ganze und die „Disgregation“ des formgebenden Willens als Verfallssymptom an, als „Gleichniss für jeden Stil der décadence“, und zwar im künstlerischen, moralischen, natürlichen und sozialen Bereich (W 7, 6, S. 27): „Überall Lähmung, Mühsal, Erstarrung o d e r Feindschaft und Chaos: beides immer mehr in die Augen springend, in je höhere Formen der Organisation man aufsteigt. Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr (. . .)“ (ebd.; H.v. m.).26
Leben spielt sich demnach immer nur zwischen radikalem Wandel und kompletter Starrheit ab.27 Gerade für das Leben ist es unumgänglich, „einen Horizont um sich zu ziehen“ (UB II, 1, 1, S. 251) und bestimmte Dinge in einem gewissen Rahmen „festzustellen“: Sei es ganz basal in Form von Zellen, die sich durch eine (semi-permeable) Membran abgrenzen und nur einen bestimmten Stoffaustausch zulassen, sei es durch Feststellungen intellektueller Art, die ein Mittel zur Erhaltung darstellen können – laut Nietzsche gerade auch in ihrer Irrtümlichkeit (vgl. z. B. WL, 1, S. 876 f.). Wille zur Macht ist für Nietzsche Grundlage und Medium derartiger „Feststellungen“, sei es im zellulären, kognitiven oder gesellschaftlichen Bereich. Er ist nötig für jede Form der (immer vorübergehenden) Organisation, so wie die entstandene Organisation und Ordnung ihrerseits als Ausdruck einer bestimmten Konstellation von Willen zur Macht angesehen werden kann. Wollte man die Achse von Wandel und Ordnung mit einem anderen Begriffspaar Nietzsches zu fassen versuchen, so könnte man auch sagen, dass für ihn nicht nur das dionysisch treibende, entindividuierende, sondern bis zu einem ge-
26
Zur Herkunft dieser Stelle bei P. Bourget vgl. Kaufmann (1988), S. 85, Anm. 1. Himmelmann (2006) macht sechs teilweise gegenläufige Grundbestimmungen des Lebens bei Nietzsche ausfindig, die sich zusammenfassen lassen als 1) Prozesscharakter und 2) Stabilität, die gleichermaßen zum Leben gehören, als 3) Zentralität und 4) Verbindung zwischen den einzelnen „Zentren“, die wiederum synchron bzw. 5) diachron verlaufen können, also durchaus eine geschichtliche Dimension besitzen, die sich 6) als Offenheit des Lebens bis in die Zukunft hinein erstreckt (vgl. S. 24 ff.). 27
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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wissen Grad auch das apollinische, Form und Ordnung schaffende Prinzip nötig ist. Letztlich geht es um die Verbindung dieser beiden Prinzipien28, und somit generell um eine Sicht, die Dualismen strikt vermeidet. Dies wird in der Nietzsche-Interpretation auch immer wieder hervorgehoben.29 Festzuhalten bleibt ferner, dass Nietzsche sich immer wieder erfolgreich einer definitiven Zuordnung entzieht.30 Auch in methodologischer Hinsicht. Ein Versuch, dies innerhalb einer konsistenten Interpretation durchgängig zu berücksichtigen, stellt die Deutung seiner Philosophie als Experimental-Philosophie dar, wie sie von Kaulbach (1980) initiiert und von Gerhardt (1988e) zusammenfassend in zehn Punkten dargelegt worden ist.31 Dem folgend, ist Nietzsches Programm erstens explizit als eine Philosophie rekonstruierbar, die, inspiriert durch die neuzeitliche experimentelle Wissenschaft, zweitens als wissenschaftliche Philosophie aufzufassen ist.32 Daraus leiten sich als wichtige Instrumente die Kritik
28 Vgl. Kaulbach (1979), S. 131 f. Kaufmann (1988) spricht in seiner Hegelschen Deutung Nietzsches von einer „Synthese aus den beiden früheren, dualistischen Prinzipien“: „Seine Grundkraft, der Wille zur Macht, ist nicht nur dionysisches, leidenschaftliches Streben, das dem blinden Willen Schopenhauers verwandt ist; sie ist auch apollinisch, und ihr wohnt die Fähigkeit inne, sich selbst zu gestalten.“ Es handelt sich demnach „nicht um einen vollständigen Sieg des Dionysischen (. . .)“ (S. 273, H.v. m.). Vgl. ebenso Duhamel (1994). Hier ist anzumerken, dass bei aller „Duplicität“ der Prinzipien bereits in der Geburt der Tragödie eine zumindest „periodisch eintretende Versöhnung“ (GT 1, 1, S. 25) mitgedacht ist, wie auch in Kap. II. 3. noch ausgeführt wird. 29 So betont beispielsweise Abel (1984), dass mit den „dynamisch-energetische(n) Willen-zur-Macht-und-Interpretations-Prozesse(n)“ generell eine Ebene der Betrachtung betreten wird, die „hinter die Dualismen und Entgegensetzungen des Verstandesdenkens (Subjekt und Objekt; Innen und Außen; Mensch und Welt; Geist und Natur; Sein und Sollen) zurückgeht“ (Vorwort S. V; H.v. m.), und spricht vor diesem Hintergrund auch von einem „adualistischen“ Willen zur Macht (S. 31). Laut Gerhardt (2006) überwindet Nietzsche mit dem Willen zur Macht die dualistische Trennung zwischen innerer und äußerer Welt (S. 186), wie im ersten Teil dargelegt. Er steht damit in einer „Tradition des Denkens, das sich vom cartesianischen und letztlich vom platonischen Dualismus zu befreien sucht.“ (Gerhardt (1996), S. 165). Und auch Duhamel (1994) sieht den Willen zur Macht explizit in der Funktion, Dualismen von „Subjekt und Objekt“ oder von „Innen- und Außenwelt“ zu vermeiden bzw. zu überwinden (S. 152 ff.). Auch Zarathustra wird von Günzel (2004) in der Funktion als Überwinder des Dualismus gesehen, in ironischer Anspielung auf Zoroaster, der Nietzsche (wohl fälschlicherweise) als erster Dualist galt (vgl. S. 182). 30 Es finden sich Aphorismen mit positivistischer Tendenz ebenso wie dezidiert antipositivistische, man stößt auf Stellen, die einen deterministischen Anklang haben, dann wieder auf exakt gegenteilige Statements. Von Jaspers (1947, S. 8) stammt daher der Ausspruch, dass man sich bei Nietzsche nicht zufrieden geben soll, bis man zu einer Aussage „nicht auch den Widerspruch gefunden“ hat; s. Kaufmann (1988), S. 86; Löw (1984), S. 9. 31 Auch Jaspers, Löwith (dazu auch Kaufmann (1988), S. 84, S. 111) und Heidegger thematisieren das Experimentelle in Nietzsches Philosophie. Kaulbach (1980) weist jedoch darauf hin, dass Heidegger und Löwith das Experiment nicht, wie er, als einen methodischen Grundzug ansehen (vgl. S. 144, Anm. 17). 32 Vgl. dazu auch Kaufmann (1988), S. 99 ff.
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
sowie die Lehre als dritte und vierte Grundzüge der Experimental-Philosophie ab, wobei die „Lehre vom Willen zur Macht“ die zentrale Stellung einnimmt: „Denn: Die Experimental-Philosophie hat von den Sicherheiten im Jenseits oder im Diesseits der Welt abzulassen; sie kann allein auf das setzen, was ihr als wirklich Wirksames begegnet und worauf sie in ihrer eigenen Bewegung beruht: das ist die agonale, pluralistisch-individuelle, mobil-momentane, ganz und gar relative, in sich triebhaft gespannte Entladung der Willen zur Macht, eine Entladung, die keine Welt, sondern allenfalls Weltperspektiven, keine Wesenheiten, sondern nur instrumentelle Beziehungen, Rangverhältnisse und wechselseitige Repräsentationen zuläßt.“ (S. 175)
Eine derartige Philosophie, die sich selbst als Ausdruck eines Willens zur Macht anerkennt, muss „ohne absoluten Ausgangspunkt, ohne Vertrauen auf ein göttliches oder historisches Ziel“ und „ohne den Rückhalt einer allgemein verbindlichen Methode“ auskommen (ebd.).33 Als zumindest relativen Ausgangspunkt haben wir im Verlauf dieser Untersuchung bereits den Bereich des menschlichen Erfahrens und Erlebens ausgemacht, der Punkt fünf darstellt. Sowohl die Lehre vom Willen zur Macht als auch die Experimental-Philosophie können damit als eine Anthropologie, als „begrifflicher Ausdruck des Menschen für den Menschen“, gelten (ebd., S. 177). Dieser Bezug ist nicht nur epistemologisch zu verstehen, sondern existenziell: Experimental-Philosophie kann und muss nach Nietzsche, das ist der sechste Aspekt, gelebt werden – als existenzielles Einlassen auf und Durchspielen von verschiedenen Perspektiven. Entscheidender Parameter für den Wert einer Perspektive ist neben der ertragenen Wahrhaftigkeit (vgl. N 1888, 16[32], 13, S. 492) vor allem deren Sinnstiftungspotenzial. Daher ist laut Kaulbach (1980) der „experimentellen Prüfung von Weltperspektiven (. . .) ein größerer Ernst eigentümlich als der Handhabung einer objektiv-wissenschaftlichen Methode. Denn von einem erfolgreichen oder erfolglosen Ausgang der Prüfung hängt es ab, ob das Denken dem Leben sich als dienlich dadurch erwiesen hat, daß es ihm seine notwendigen Lebensbedingungen in der Form von sinnmotivierenden Weltperspektiven zu bieten vermochte.“ (S. 142)34
In diesem existenziellen Einlassen kann sie siebtens als exemplarisches Philosophieren gelten, das achtens und neuntens immer bereits praktische und in einem weiten Sinne ästhetische Philosophie ist. Insgesamt gesehen, ist die Experimental-Philosophie damit zehntens in der Tradition metaphysischer Philosophie zu verstehen: Vor dem Hintergrund der Welt als Wille zur Macht versucht sie,
33 Zu den Möglichkeiten und Schwierigkeiten der multiperspektivischen Interpretation einer derartigen Philosophie vgl. z. B. Heller (1983). 34 Zur Kritik s. Maurer (1983), dem Kaulbach hier noch nicht weit genug geht: Im Scheitern sieht er eine direkte existenzielle Bedrohung, nicht nur eine ,Niederlage(.) des Denkens‘“ (S. 503). Allerdings ist m. E. diese Dimension durch die Lebensnotwendigkeit des Sinns auch bei Kaulbach durchaus enthalten. Zum Bezug der Experimental- zur Existenzphilosphie vgl. auch Kaufmann (1988), S. 99.
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„(i)n dieser Tradition (. . .) das Ganze des durch uns erschlossenen Daseins auszumessen und im Hinblick auf seinen Bestand als Werden, in bezug auf seine Wirklichkeit als Schein und in Richtung auf sein allgemeines Ziel als sinnlos zu erweisen. Auf dieses Ganze bleibt Experimental-Philosophie bezogen, wenn sie darangeht, unter den neuen Bedingungen einen offenbar immer noch benötigten Daseinssinn zu schaffen. Dies ist ein bloß an das Diesseits des Menschen geknüpfter, ein existentiell benötigter, exemplarisch mitteilbarer, nur praktisch gültiger und allein ästhetisch gerechtfertiger Sinn, aber es bleibt trotz allem ein metaphysischer Sinn.“ (Gerhardt (1988e), S. 183)
Damit soll die methodologische Diskussion der Machtkonzepte an dieser Stelle abgeschlossen werden.35 Ziel dieses Exkurses war es, aus einer weiter gefassten wissenschaftstheoretischen Perspektive auf die Konzepte zu schauen, vor allem um den Stellenwert der folgenden Ergebnisse richtig einordnen zu können: Es sollte im Folgenden immer bewusst bleiben, dass es sich nicht nur um zeitlich weit auseinander liegende, sondern auch konzeptionell um fundamental verschiedene Ansätze handelt. Diese Unterschiede lassen sich, wie dargelegt, sowohl an der Art und Weise des Zugriffs auf den Ausgangspunkt beim Individuum festmachen als auch am unterschiedlich weit gefassten Gegenstandsbereich der Ansätze (vgl. Abb. 9), werden m. E. aber insbesondere in der stark differierenden Theorieerwartung greifbar. Wenn des Weiteren trotz dieser Unterschiede auch einige Parallelen sichtbar geworden sind, wie z. B. die antidualistische Ausrichtung und die Offenheit beider Ansätze, verschiedene Perspektiven zulassen und aufnehmen zu können, und darüber hinaus noch eine gewisse methodologische Sensibilität erzeugt werden konnte, hat der Abschnitt seine Funktion erfüllt. Im weiteren Verlauf werden konzeptionelle Unterschiede nur insoweit berücksichtigt, als sie verschiedene Implikationen hinsichtlich der Struktur der verwendeten Machtbegriffe bedingen.
35 Gegenstand von weiter gefassten Überlegungen könnte u. a. ein Vergleich sein zwischen Nietzsches Experimentalphilosophie und neueren mikropolitischen Methoden, z. B. Flyvbjergs (1998) Ansatz einer „experimentelle[n] Interpretation“ (Nullmeier (1999), S. 19), der „einen um die Beobachtung im Feld zentrierten Methdodenmix mit einer von Nietzsche und Foucault inspirierten rationalitätstheoretischen Perspektive“ darstellt (ebd., S. 7). Mikropolitische Fallstudien stellen generell ein experimentelles Vorgehen dar, in dessen Verlauf eine Reihe von unterschiedlichen Methoden (Beobachtung, qualitative und quantitative Erfassungen, Feldnotizen usf.) zum Einsatz kommen (vgl. Altrichter (2004), S. 97; Ortmann et al. (1990), S. 465 ff.) und verschiedene Perspektiven „ein- und ausgehängt“ werden, wie man mit Nietzsche sagen könnte. Der Perspektivismus ist laut Stegmaier (1994) eine „konstruktive methodische Folgerung“ aus Nietzsches Hypothese vom Willen zur Macht (S. 89). Und zwar sowohl im Hinblick auf die Ordnung, die als „Geflecht“ gedeutet werden kann, als auch hinsichtlich der Begriffe. Hier deutet sich über die Verbindung zum „Idealtypus“ von M. Weber (vgl. ebd.) ein weiterer methodologischer Bezugspunkt zur Mikropolitik an, die ebenfalls mit Idealtypen (mikropolitischen Handelns, organisationaler Machtquellen etc.) arbeitet [vgl. Teil 1 B. I. 2. c) und II. 2.].
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
II. Merkmale und Dimensionen der Macht In diesem Abschnitt sollen, vor dem Hintergrund und im Bewusstsein aller angesprochenen gravierenden generellen Unterschiede der Konzepte, die Machtbegriffe in einem systematischen Vergleich gegenübergestellt werden. Dazu werden, ausgehend von einem universalen Verständnis von Macht, die in Teil 1 dargelegten Differenzierungen und Spezifikationen Schritt für Schritt nachvollzogen, um Unterschiede und insbesondere Gemeinsamkeiten der Machtbegriffe aufzeigen und diskutieren zu können. Hierbei spielt immer wieder der konstitutive Bezug zum Prinzip der „Organisation“ eine herausragende Rolle. Dementsprechend widmet sich der wichtigen Relation von Macht und Organisation zusammenfassend und abschließend auch das letzte Kapitel. Die Trennlinie zwischen den einzelnen Merkmalen ist keineswegs so scharf, wie es die Behandlung in einzelnen Abschnitten suggerieren könnte. Diese Unterteilung ist vielmehr als analytische zu verstehen und dem Ziel einer besseren Übersichtlichkeit und Klarheit des Vergleichs geschuldet. Dennoch lassen sich an einigen Stellen Vorwegnahmen, Rückbezüge und somit gewisse Redundanzen nicht vollständig vermeiden, da die einzelnen Aspekte in einem vielfältigen Zusammenhang stehen. 1. Universalität und Umwertung der Macht In dem allgemeinen und grundlegenden Verständnis von Macht als Möglichkeit zu Wirkung finden sowohl der strategisch-mikropolitische Begriff von Macht, wie er in Teil 1 herausgearbeitet worden ist [vgl. B. I. 2. a); II. 3.], als auch Nietzsches Machtbegriff ihr Fundament (vgl. Teil 1 A. II. 3.). In dieser Fassung tritt v. a. die „Universalität des Machtgeschehens“ (Gerhardt (1996), S. 304; H.v. m.) deutlich zutage, die es Nietzsche im Eingangszitat erlaubt, die Welt insgesamt als „W i l l e z u r M a c h t – u n d n i c h t s a u ß e r d e m “ zu bezeichnen (N 1885, 38[12], 11, S. 610 f.). Macht ist überall am Werk, alles basiert auf Macht, mehr noch: Alles ist Macht. „Alle diese Welt ausmachenden Gestaltungen des Wirklichen sind Nietzsche zufolge je spezifische Ausprägungen und Organisationsformen dynamischer Willen-zur-Macht-Kräfte“, wie z. B. Abel (1984) formuliert (S. 38; H.v. m.).36 Auch Crozier/Friedberg (1993) betonen die Universalität von Macht. Sie kritisieren die Tendenz, Macht ausschließlich mit Autorität, mit dem Staat, mit der bestehenden Ordnung zu identifizieren, statt sie „als das zu analysieren, was sie tatsächlich ist: Eine unausweichliche, nicht aus der Welt zu schaffende Dimen36 Vgl. ebd. auch S. 55, Anm. 51 oder S. 113. Explizit von einer „Universalität der Macht“ spricht auch Figl (1982), S. 99 f. Kaufmann (1988) nennt den Willen zur Macht die „universelle Kraft“ (S. 312).
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sion des (. . .) sozialen Handelns“ (S. 15) bzw. dessen „,Rohstoff‘“ (ebd., S. 14). Daraus leiten sie die Forderung ab, Macht in das „Zentrum jeder Analyse kollektiven Handelns“ zu stellen (s. Eingangszitat).37 Küpper/Felsch (2000) folgen dieser Forderung und teilen die Diagnose der Universalität der Macht: Nach ihrem Verständnis gibt es im organisationalen System „keine machtfreien Interaktionen“ (S. 35), und sie sehen Macht ebenso „als wesentliche Dimension des wechselweise aufeinander bezogenen Verhaltens“ (S. 150) an, wenn auch nicht als einzige. Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der Macht als „grundlegende und unausweichliche Dimension sozialer Beziehungen“ (Ortmann et al. (1990), S. 41; Küpper/Felsch (2000), S. 18) angesehen wird, sowie auf Grund der Herleitung ihrer „Universalität“ aus der existenziellen Freiheit der Akteure, etwas anderes zu tun als von ihnen erwartet wird (Küpper/ Ortmann (1986), S. 600) – Macht ist universell, „nicht, weil er Mensch schlecht ist, sondern weil und soweit er ein relativ autonomer Akteur ist“ (Ortmann et al. (1990), S. 41) –, verliert die Macht etwas von den ihr häufig anhaftenden negativen Konnotationen. So kritisiert Friedberg (1992) ausdrücklich, dass Macht(-ausübung) immer den Beigeschmack von Machtmissbrauch, Gewalt und anrüchiger Einflussnahme habe: „Macht ist böse, und über sie zu sprechen mutet fast obszön an.“ (S. 41)38 In der strategisch-mikropolitischen Theorie wird Macht dagegen als ein „alltäglicher Mechanismus unserer sozialen Existenz“ (ebd.) angesehen, der für die grundsätzliche Erzeugung von Wirkung und somit auch von neuen Handlungsmöglichkeiten von Akteuren, (organisationalem) Wandel und Innovation notwendig ist.39 37 Türk (1990) spricht im Hinblick auf Crozier/Friedberg auch von einem „allgemeinen – ,ubiquitären‘ –Machtbegriff“ (S. 129), dem er allerdings auf Grund der allzugroßen Allgemeinheit das kritische Potenzial abspricht. Auch Neuberger (1995) betont, dass es nicht möglich ist, nicht politisch zu handeln (vgl. S. 3). Zu einer ähnlichen Reichweite des „Politischen“ vgl. generell z. B. auch Giddens (1984), S. 144 oder Plessner (2003), S. 194. Auch für Elias (1996) ist Macht „eine Struktureigentümlichkeit (. . .) a l l e r menschlichen Beziehungen.“ (S. 77; zit. nach Häußling (2000), S. 239) Popitz (1992) arbeitet diese Unterstellung von Macht als universalem Element menschlicher Vergesellschaftung sogar als gemeinsame Voraussetzung ihrer modernen Problematisierung heraus. 38 Zum „Flair des Illegitimen und ,Unanständigen‘ der Macht vgl. Küpper/Felsch (2000), S. 197; Kühl/Schnelle (2001). Zu einem „Ruch des Abartigen, Störenden, Schädlichen“, in dem die Mikropolitik auf Grund ihres inhärenten Machtbezuges steht, weist Neuberger (1995, S. 190) hin. Dabei kann seines Erachtens das Funktionieren von Organisationen nur durch die Berücksichtigung mikropolitischer, ergo: machtdurchwirkter, Prozesse verstanden werden. Und: „Mikropolitik ist nicht nur universell verbreitet, sie ist auch notwendig, um die Steuerungslücken in schlechtstrukturierten komplexen Entscheidungssituationen überbrücken zu können.“ 39 Auch Foucault betont immer wieder die Universalität der Macht: „Die Machtbeziehungen sind überall.“ (Foucault (2005), S. 239) Die Macht ist dabei nicht überall, „weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt“ (Foucault (1999), S. 114). Laut Ortmann et al. (1990, S. 41) hat gerade Giddens in puncto Universalität und Umwertung der Macht von Foucault gelernt. Foucault seinerseits dürfte nach meiner Ein-
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Eine derartige Umwertung findet sich auch bei Nietzsche und ist darüber hinaus als Prozess in seiner eigener Entwicklung nachvollziehbar (vgl. Gerhardt (1996), S. 161 ff.): Nietzsche ist zunächst ambivalent in der Einschätzung der Macht als „gut“ oder „böse“. Einerseits wird Macht an sich in Anlehnung an J. Burckhardt grundsätzlich als „böse“ betrachtet. Ihrer Natur nach ist Macht „immer böse“, heißt es beispielsweise in der dritten der Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern (GS, 1, S. 768). Andererseits wird bereits dort deutlich, dass diese Bosheit und Grausamkeit der Macht die Grundlage für die von Nietzsche bewunderte griechische Kultur liefert, wie Nietzsche am Beispiel der Sklaverei zu zeigen versucht (vgl. dazu auch Colli, Nachwort KSA 1, S. 916). Macht kann demnach ein grausames Mittel zu einem erstrebenswerten Ziel darstellen. Ausschließlich in dieser Funktion als Mittel zu besonderen Zwecken militärischer, kultureller oder produktiv-schöpferischer Art erscheint Macht für Nietzsche zu dieser Zeit legitimiert (vgl. z. B. N 1874, 32[80], S. 784). Die um ihrer selbst willen angestrebte Macht gilt ihm in dieser Phase, bis Mitte der 1870er Jahre, indessen als verwerflich. In einer mehrjährigen Umwertungsphase treten dann mehr und mehr neutrale und positive Konnotationen des Machtbegriffes in den Vordergrund, das Machtverlangen wird in Verbindung zur Freigeisterei gesetzt (vgl. N 1876, 16[21], 8, S. 291), das „Gefühl der Macht“ ausgiebig thematisiert (z. B. in N 1876, 20[8], 8, S. 362) sowie die Macht des menschlichen Geistes (N 1876/77, 23[24], 8, S. 412). Zeitgleich hebt Nietzsche die „Lust an der Macht“ hervor (N 1876/77, 23[63], 8, S. 425). Diese erklärt er „aus der hundertfältig erfahrenen Unlust der Abhängigkeit, der Ohnmacht“ (ebd.). Durch die prominente Verbindung von Macht und Unabhängigkeit wird in diesem Notat, in dem der Wille zur Macht das erste Mal als Formel auftritt, ein entscheidender Schritt in der Umwertung getan.40 Zwei Jahre später sieht Nietzsche dann bereits die Macht als solche im schätzung in diesem Punkt keinesfalls unbeeinflusst von Nietzsche sein. An dieser Stelle ließe sich demnach eventuell sogar ein „genetischer“ Zusammenhang zwischen den Konzepten rekonstruieren, um den es aber hier nicht primär geht (vgl. die Einleitung sowie Teil 2 A. II. 10. dieser Arbeit). 40 Für Gerhardt ist die Umwertung damit vollzogen, die Lust an der Macht (als Zeichen der Freiheit) werde von Nietzsche nun uneingeschränkt positiv beurteilt (S. 163). Laut Kaufmann weist der Wille zur Macht demgegenüber noch negative Momente auf, weil er, ebenso wie Furcht, zu einem Konformismus (ver-)führen könne. Beide Interpretationen haben m. E. etwas für sich und legen den Fokus auf einen anderen Abschnitt des Fragments 23[63], das nicht stringent in seiner Bewertung der Macht zu sein scheint: Die Lust und Freude an der Macht sowie die Verbindung zur Unabhängigkeit deuten einerseits auf eine positive Bewertung der Macht hin. Allerdings ist die Lust an der Macht ausdrücklich gebunden an die vorangegangene Unlusterfahrung der Abhängigkeit. Der Übergang von Ohnmacht zu Macht ist das entscheidende bei der Lusterfahrung (s. z. B. auch 4[177], 9, S. 145). Macht könnte somit weiterhin als Mittel angesehen werden, die Unlust der Ohnmacht zu vermeiden und wäre somit noch nicht als (Selbst-)Zweck unabhängig von jeder Unlusterfahrung. Auf der anderen Seite kann der Konformismus-Einwand gegen den Willen zur Macht, auch wenn dieser in Abgrenzung
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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Mittelpunkt des Strebens. 1879 schreibt er: „Man erstrebt Unabhängigkeit (Freiheit) um der Macht willen, nicht umgekehrt“ (N 1879, 41[3], 8, S. 585). Macht wird also von einem Mittel zu einem Zweck und um ihrer selbst willen angestrebt. Und insofern könne es Freude bereiten, Macht zu erlangen (vgl. N 1879, 47[9], 8, S. 618 f.). Hier ist kein negativer Unterton mehr zu vernehmen. Untermauert wird diese Umwertung durch die Verbindung des sich als Terminus gerade herausbildenden Willens zur Macht mit der von Nietzsche so hoch geschätzten Kultur der Griechen. „Vom Willen zur Macht wird kaum mehr gewagt zu sprechen: anders zu Athen!“, notiert er Ende 1880 (N 1880, 7[206], 9, S. 360).41 In der Morgenröthe (1881) heißt es dann: „,Macht, der viel Böses angethan und angedacht wird, ist mehr werth, als die Ohnmacht, der nur Gutes widerfährt‘, – so empfanden es die Griechen.“ (M 360, 3, S. 241; auch N 1880, 4[299], 9, S. 173 f.) Und später bezeichnet er den Menschen sogar als nicht groß genug zum „Bösen“ der Macht (N 1884/85, 29[41], 11, S. 346). Damit bringt Nietzsche in der ihm eigenen pathetischen Weise zum Ausdruck, dass die Umwertung vollzogen, das Streben nach Macht „an sich“ als grundlegender Antrieb gerechtfertigt ist. Das Begreifen und Akzeptieren der Universalität von Macht – einmal im Hinblick auf soziale Prozesse und bei Nietzsche hinsichtlich des gesamten Geschehens – und die damit einhergehende Umwertung sollten damit als erste strukturelle Parallelen zwischen beiden Machtbegriffen deutlich geworden sein. Eine grundsätzliche Ablehnung von Machtverhältnissen sowie Forderungen nach „keiner Macht für niemand“ sind aus einer derartigen Perspektive nicht nur als völlig illusorisch anzusehen, sondern sogar als selbstwidersprüchlich: Denn natürlich wird auch für die Durchsetzung – streng genommen bereits für die Aufstellung – einer solchen Forderung Macht benötigt. So kann man davon sprechen, dass ein solcher häufig moralisch motivierter „Misarchismus“ – laut Nietzsche
zur negativ gefassten Furcht in Klammern als positiv bezeichnet wird, plausibel sein. Nämlich dann, wenn man die „starke Rücksicht auf die Meinungen anderer“ als etwas Negatives ansieht. Dies kann man vor dem Hintergrund von Nietzsches ausgeprägtem Individualismus durchaus so sehen. Er selbst stellt sein Denken schließlich in den Dienst des Triebes, individuell zu leben (N 1880, 6[123], 9, S. 226; 6[155], S. 236). Gegen den Konformismus-Einwand spricht allerdings der erste Abschnitt, in dem sich schon die Tendenz abzeichnet, das Gefühl der Macht als Hauptelement des Ehrgeizes höher einzuschätzen als die Meinung anderer: Dort werden Lob und Tadel, Liebe und Hass als gleich für den Ehrsüchtigen bezeichnet, der „Macht will“, und eben nicht Bewunderung oder Anerkennung. Später heißt es dann in einem anderen Fragment ausdrücklich, dass das Gefühl der Macht selbst höher eingeschätzt wird als „irgend ein Nutzen und Ruf.“ (N 1880, 4[299], 9, S. 173 f.) 41 Vgl. dazu auch Kaufmann (1988), S. 223 f. Allerdings spricht er irrtümlicherweise von der zweiten ausdrücklichen Verwendung der Wendung „Wille zur Macht“. Dabei gibt es nach der erstaunlich frühen Verwendung in N 1876/77, 23[63], 8, S. 425 noch eine zweite Notiz aus dem Sommer 1880 (4[239], 9, S. 159) vor dem oben zitierten Fragment von Ende 1880.
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
ein schlechtes Wort für eine schlechte Sache (GM II, 12, 5, S. 315) – etwas bekämpft, das er selbst voraussetzen muss (vgl. Stegmaier (1994), S. 84). Darüber hinaus ist vollkommene Machtlosigkeit überhaupt nicht wünschenswert, da sie den Charakter der (sozialen) Welt fundamental verkennt und letztlich absoluten Stillstand, d. h. das Ende aller lebendigen und sozialen Prozesse, implizieren würde. Denn alles, was lebt, handelt und interagiert, muss sich bewegen (vgl. z. B. N 1880, 1[45] u. 1[70], 9, S. 16 u. 21). Und für Bewegung und Veränderung ist Macht unverzichtbar. Anzumerken bliebe in diesem Kontext, dass sowohl die Universalität als auch die angesprochene Umwertung bei Nietzsche weiter reichen als in der strategisch-mikropolitischen Theorie. Zunächst zur Universalität: Macht wird von der Mikropolitik als ein originär soziales Phänomen thematisiert, das zwischen Akteuren auftritt. Macht ist demnach strikt auf die soziale Welt bezogen, und nicht, wie bei Nietzsche, auf die Welt als ganze, wie im Methodenkapitel unter dem Stichwort der unterschiedlichen „Analyseeinheit“ bzw. des Gegenstandsbereiches dargelegt. Darüber hinaus ließe sich sozusagen der Grad der Universalität unterscheiden. Hierbei lassen sich drei Stufen in der Beurteilung ausmachen: 1. Alle Prozesse sind immer auch Machtprozesse (Allgemeingültigkeit). 2. Alle Prozesse sind im Kern Machtprozesse. 3. Alle Prozesse sind ausschließlich Machtprozesse (Alleingültigkeit). Die ersten beiden Positionen scheinen Küpper/Ortmann zu vertreten: Für sie sind alle sozialen Prozesse immer auch Machtprozesse, wenn auch nicht ausschließlich.42 Macht wird darüber hinaus als wesentliche Dimension angesehen (Küpper/Felsch (2000), S. 150). Noch etwas stärker betont wird die Rolle der Macht von Crozier/Friedberg (1993), wenn sie schreiben, dass „kollektives Handeln (. . .) im Grunde nichts anderes als tagtägliche Politik“ sei (S. 14; H.v. m.). Sie sind damit zwischen Küpper/Ortmann und Nietzsche anzusiedeln, der in dem angeführten Zitat sogar noch einen Schritt weitergeht, wenn er proklamiert, dass die ganze Welt Wille zur Macht sei – „und nichts außerdem!“ Seine Position wäre demnach dem dritten Grad von Universalität zuzuordnen, der nicht nur von einer Allgemeingültigkeit, sondern einer ausdrücklichen Alleingültigkeit der Machtdiagnose ausgeht. 42 So auch Ortmann (1984), wenn er im Hinblick auf die machttheoretische Analyse computergestützter Personalinformationssysteme schreibt: „Gewiß geht es (. . .) nicht nur um Macht, sondern z. B. auch um Befriedigung um Neugier, humanitäre Hilfe, ökonomische Ausbeutung und um einiges, das sich unserem Verständnis noch überhaupt entzieht. Doch sind die Strukturen der Macht darin allgegenwärtig.“ (S. 113; H.v. m.) Zum „Stellenwert von Macht und Politik in Organisationen“ auch Ortmann et al. (1990): „Zwar halten wir ihn für (immer noch) unterschätzt (. . .). Aber wir beanspruchen damit kein Erklärungsmonopol. Nichts geht in Macht und Mikropolitik auf, nichts ist darauf reduzierbar. Wohl aber hat fast alles einen mikropolitischen Aspekt: Technik, Organisation, Ökonomie, Kommunikation, Regeln und Normen.“ (S. 5; H.v. m.)
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Allerdings ist einzuräumen, dass die hierfür herangezogene berühmte Stelle rhetorisch stark stilisiert ist: Nietzsche spricht davon, was ihm die Welt ist, fragt, ob er sie uns in seinem Spiegel zeigen soll, und fragt uns gegen Ende des Abschnittes, ob wir einen Namen für diese Welt wollen? Auch wenn er ausdrücklich sagt: „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nicht außerdem!“, handelt sich hier doch explizit um seine Auslegung, um seine Interpretation der Welt (N 1885, 38[12], 11, S. 610 f.). Das „es ist“ muss auch hier als „es bedeutet“ verstanden werden (N 1885, 43[1], 11, S. 699). Verstärkt wird dieser Eindruck noch, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass es sich bei dieser Stelle um einen Entwurf aus dem Nachlass handelt, und nicht um einen ausdrücklich zur Veröffentlichung bestimmten Aphorismus – auch wenn dies posthum in der zweiten Version der Kompilation „Der Wille zur Macht“ an prominenter Stelle als Abschlussaphorismus (Nr. 1067) geschah. Vergleicht man die Formulierung mit dem entsprechenden veröffentlichten Aphorismus in Jenseits von Gut und Böse, fällt im veröffentlichten Text eine größere Vorsicht und Zurückhaltung auf. Nietzsche präsentiert hier den Willen zur Macht ausdrücklich hypothetisch und konjunktivisch: „(G)enug, man muss die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo ,Wirkungen‘ anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt (. . .) – Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären – nämlich des Willens zur Macht, wie es m e i n Satz ist; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte (. . .), so hätte man damit sich das Recht verschafft, a l l e wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: W i l l e z u r M a c h t . Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ,intelligiblen Charakter‘ hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben ,Wille zur Macht‘ und nichts ausserdem. –“ (JGB 36, 5, S. 55; kursiv v. m.; vgl. auch N 1885, 40[53], 11, S. 654)43
Dennoch ist zu sehen, dass von Nietzsche auch in diesem Zitat – gesetzt die Hypothesen, die man mit Kaufmann (1988) wohl als „extrem“ (S. 488) bezeichnen kann, träfen zu – keine Abstriche bezüglich der Alleingültigkeit des Willens zur Macht gemacht werden. Die gesamte Welt wäre, wie er es ausdrücklich als „seinen Satz“ deklariert, Wille zur Macht und nichts außerdem – umschlossen nur vom „Nichts“ als seiner „Gränze“ (N 1885, 38[12], 11, S. 610). Bezüglich der Umwertung scheint es Crozier/Friedberg sowie Küpper/Ortmann eher um eine Enttabuisierung von Macht zu gehen sowie darum, die Notwendigkeit von Macht in sozialen Beziehungen durch eine Analyse ihrer basalen Funktion zu verdeutlichen, ohne jedoch die Möglichkeit von repressiven und „entfremdeten Machtverhältnissen“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 17) abstreiten 43 Zu diesem Punkt auch Stegmaier (1994), S. 84 f. sowie Himmelmann (1996), S. 174 ff. und Günzel (2004), S. 185. Müller-Lauter (1999) schwächt in Anlehnung an Heftrich den hypothetischen Status mit Verweis auf die Parenthese „wie es m e i n Satz ist“ dagegen ab und räumt insgesamt der zitierten Stelle aus dem Nachlass den „interpretatorischen Vorrang gegenüber der veröffentlichten Fassung ein“ (vgl. S. 34 ff.).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
zu wollen oder gar jegliches Streben nach Macht „an sich“ als „gut“ zu werten bzw. umzuwerten. Die Möglichkeit einer sinnvollen Kritik hängt für sie vielmehr von einer treffenden Analyse der Machtspezifika ab. Eine „kritische Theorie der Macht“ (Ortmann et al. (1990), S. 41), die sie durchaus anstreben, darf Macht nicht in toto verdammen oder von vornherein als moralisch verwerflich ablehnen. Wie sieht es in diesem Punkt bei Nietzsche aus? Zunächst einmal ließe sich noch einmal darauf hinweisen, dass Macht gerade zu Beginn seiner Entwicklung Nietzsche keineswegs uneingeschränkt als gut gegolten hat, sondern nur als Mittel zu einem guten Zweck gerechtfertigt war. Auch hat er zu dieser Zeit durchaus gesehen, dass der Wille zur Macht keineswegs unproblematisch ist. So kann uns z. B., wie oben bereits angesprochen, der Wille zur (weltlichen) Macht unter Umständen zu einem Konformismus verführen (N 1876/77, 23[63], 8, S. 425). Die weitaus größere Gefahr besteht jedoch in einem unerfüllten Willen zur Macht, der ins Ressentiment umschlagen kann. Die Bandbreite der Rachegelüste reicht von Spott und Geringschätzung bis hin zum Willen, Leid zuzufügen und sich daran zu ergötzen (N 1880, 4[151], 9, 139). Die gekränkten Schwachen sind dabei laut Nietzsche viel grausamer und maßloser als Starke, die offene Gewalt und Grausamkeit meist gar nicht nötig oder überhaupt intendiert haben: „Wo die Machtmittel nicht groß genug sind, tritt die E i n s c h ü c h t e r u n g auf, T e r r o r i s m u s : insofern ist alles Strafen um der Abschreckung willen ein Zeichen, daß die positive a u s s t r ö m e n d e T u g e n d der Mächtigen nicht groß genug ist: ein Zeichen der Scepsis an der eigenen Macht.“ (N 1883, 7[180], 10, S. 300 f.) „Das Böse der Stärke thut dem Andern wehe, ohne daran zu denken, – es m u s s sich auslassen; das Böse der Schwäche w i l l wehe thun und die Zeichen des Leidens sehen.“ (M 371, 3, S. 244 f.)
Hier ist auch einer der Ansatzpunkte für Nietzsches vehemente Kritik am Mitleid: Nicht nur, dass Mitleid das Leid nicht verringert, sondern, wortwörtlich verstanden, vervielfacht und somit als „Multiplikator des Elends“ (AC 7, 6, S. 173) wirkt, es wird auch gezielt von den Schwachen und Zukurzgekommenen eingesetzt, um Leid auszulösen (vgl. auch Kaufmann (1988), S. 214). Oft ist das Erregen von Mitleid ihre einzige Möglichkeit überhaupt, Macht auszuüben und ihre Rache zu stillen: „Der Weinende will daß mitgeweint werde, so übt er Herrschaft aus und freut sich.“ (N 1880, 2[2], 9, S. 34; auch JGB 187, 5, S. 107) Eine andere Form, die Lust an der Grausamkeit zu stillen, ist, sie gegen sich selbst zu wenden, und sich somit Luft und Lust zu verschaffen. Insofern ist der Asket laut Nietzsche nicht selten ein verschmitzter Epikureer (vgl. N 1878, 38[1], 8, S. 573). Allen diesen Phänomenen liegt der Wille zur Macht zu Grunde, aber dieser ist nicht in allen Fällen gleich, sondern lässt sich quantitativ differenzieren. Aus einigen Aphorismen lässt sich sogar eine Stufenleiter ableiten, eine „lange Reihe von Graden“ der „heimlich begehrten Überwältigung“ (M 113, 3, S. 102 ff.). Auf
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deren unterster, gröbster Stufe steht der Barbar, auf der obersten ist der Asket und Märtyrer angesiedelt. Interessanterweise sieht Nietzsche nun aber in dieser höchsten Form der Macht nicht automatisch das Erstrebenswerte, sondern eine „Fratze der Überfeinerung und der krankhaften Identität“. Dazu Kaufmann (1988): „Der Asket ist genauso eine ,Fratze‘ wie der Barbar, sie sind beide nicht repräsentativ für die wahre Kultur. In der Vision vom Asketen, der andere quält, um sich selber Leiden zuzufügen, kommt das ganz deutlich zum Ausdruck. Dann ist Kultur aber nicht Ausdruck der größten Macht, sondern ist irgendwo in der Mitte der Skala anzutreffen.“ (S. 229)
Dies ist der Punkt, auf den es hier ankommt: Die größte Macht gilt nicht automatisch als gut oder gerechtfertigt. Später ändert sich dieses Bild, und die Grenzen verschwimmen. Macht selbst rückt immer mehr in den Mittelpunkt und scheint per se als grundlegender Antrieb der Welt in allen ihren physikalischen, organischen und kulturellen Facetten zunächst einmal eine hohe Rechtfertigung zu erfahren. Dabei tritt in den Hintergrund, wie repressiv oder grausam sie sich konkret darstellt. Allerdings ist es wichtig, Nietzsches Intention an diesem Punkt nicht falsch zu verstehen, und nicht automatisch physische Überlegenheit, größere Kraft oder gar Gewalt in den Mittelpunkt zu stellen und als das Wesentliche anzusehen. Dies alles kann Grundlage und Folge von Macht sein. Und ist es häufig auch. Aber Macht meint für ihn mehr: Nicht umsonst zelebriert er den „Sieg über die Kraft“ (M 548, 3, S. 318) und weist darauf hin, dass der Grad der Vernunft in der Kraft das Entscheidende ist44 – wobei Vernunft selbst wieder als affektbasiert und als eine Form des Willens zur Macht interpretiert wird. Und nicht umsonst tritt der Wille zur Macht im Zarathustra explizit in einem Kapitel auf, das von der Selbst-Überwindung handelt (ZA II, 4, S. 146 ff.). Die wahre Macht ist und bleibt die Macht über sich selbst (N 1880, 4[257], 9, S. 163).45 Beim Willen zur Macht geht es Nietzsche m. E. im Kern um eine Sublimierung und Kultivierung, um eine Steigerung und Konzentration v. a. der eigenen Kräfte sowie um das damit verbundene lustvolle Gefühl der Überlegenheit, Freiheit und Macht, nicht primär um Gewaltausübung gegen andere.46 Diese wird an einigen Stellen sogar eher als ein Zeichen dafür gedeutet, dass die Wirkung der eigenen Mächtigkeit 44 Das Kräftigste ist „oft gerade das Dumme und Böse“ (N 1873, 29[42], 7, S. 644). Dass Kraft nicht in „Härte und Grausamkeit“ sich offenbaren muss, sondern es auch eine Kraft „in der Milde und Stille“ gibt, notiert sich Nietzsche in N 1880, 7[95], 9, S. 357. Zum „Sieg über die Kraft“ u. a. auch Gerhardt (1996), S. 205, S. 249; S. 254, S. 332; Himmelmann (1996), S. 181; Welsch (1998); Kaufmann (1988), S. 229. 45 Und der Herrschende muss erst Herr über sich selbst geworden sein (s. N 1883, 16[86], 10, S. 529). 46 Vgl. auch die folgenden Kapitel; zu diesem Punkt z. B. auch Kaufmann (1988), v. a. S. 245–298; Gerhardt (1996), S. 164; (2005), S. 132; Himmelmann (2006), S. 70, 106; Stegmaier (1994), S. 87; Abel (1984), S. 69.
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nicht groß genug ist (vgl. N 1883, 7[180], 10, S. 300 f.). Das höchste Zeichen der Macht liegt demgegenüber viel eher darin, „Entgegengesetztes“ so zu bändigen, sprich: so zu organisieren, „daß keine Gewalt mehr noth thut, daß alles so leicht f o l g t , g e h o r c h t (. . .)“ (N 1886/87, 7[3], 12, S. 258). Nichtsdestotrotz ist Nietzsche auch Repressionen und Grausamkeiten gegenüber in einer Weise „tolerant“, wie dies in der Mikropolitiktheorie nicht anzutreffen ist. Der Starke fügt dem Schwachen seiner Ansicht nach notwendigerweise häufig Leid zu, auch ohne es zu intendieren, denn er verletzt allein durch seine Stärke, Schaffenskraft und Unabhängigkeit von fest gefügten Ordnungen unwillkürlich das Sicherheitsbedürfnis und den geringeren Willen zur Macht des Schwächeren.47 Nietzsches Ambition ist es im Unterschied zur Mikropolitik nicht, eine explizit „kritische Theorie der Macht“ (Ortmann et al. (1990), S. 42; H.v. m.) zu entwerfen, falls man im Zusammenhang des Willens zur Macht überhaupt berechtigt ist, von einer „Theorie der Macht“ im engeren Sinne zu sprechen. Festzuhalten bleibt daher als Ergebnis dieses Kapitels die Diagnose einer unterschiedlich weit reichenden Umwertung sowie einer in Umfang und Grad unterschiedenen Universalität der Macht in beiden Konzepten. 2. Relationalität der Macht Die im vorangegangenen Kapitel skizzierte Rede vom Streben nach einer Macht „an sich“ birgt ein gewisses Potenzial zur Konfusion. Denn hier scheint sich auf den ersten Blick ein Widerspruch aufzutun zu Nietzsches eigener Kritik eines jeden Dinges an sich und jeglicher Substanz, wie sie im ersten Teil bereits angeklungen ist (vgl. z. B. A. II. 2.) – einer Kritik, die nichts auszunehmen scheint außer eben Macht. Wie ist das zu verstehen? Pointiert gesagt: derart, dass Macht gar kein „Ding“ darstellt. Um der Gefahr einer Hypostasierung und falschen Verdinglichung der Macht von vorneherein entgegenzuwirken, kann man sich die grundsätzliche Übereinstimmung beider Konzepte bezüglich der Idee der Beziehungsmäßigkeit von Macht in Erinnerung rufen: Macht wird von beiden Ansätzen ausdrücklich als Relation verstanden, so die These dieses Kapitels, die, auf Grund der umfangreichen Vorarbeiten zu diesem Aspekt im ersten Teil, an dieser Stelle bündig zu belegen ist. Der Ansatz der Mikropolitik zeichnet sich durch die konsequente Einhaltung einer Perspektive von interesseverfolgenden Akteuren aus, mit dem Ziel, die zwi47 An einigen Stellen fordert Nietzsche aber auch das Ertragen sowie den aktiven Einsatz von Grausamkeit – auch gegen uns selbst. Es muss hierbei berücksichtigt werden, dass es sich bei der Rede von „Grausamkeit“ teilweise um einen „umgewerteten“ Begriff handelt. Grausamkeit wird als notwendige Bedingung des Lebens, des Schaffens und Erkennens angesehen, z. B., um unseren Geist zu zwingen, sich Neues anzueignen oder (u. U. grausamen) Wahrheiten stand zu halten (vgl. z. B. JGB 229 f., 5, S. 165 ff.).
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schen diesen Akteuren sich bildenden Relationen als Prozesse erklärbar zu machen. Macht wurde definiert als die Kontrolle einer für einen anderen Akteur relevanten Unsicherheitszone. Im Verlauf der organisationstheoretischen Ausführungen wurde daher immer wieder der „beziehungsmäßige Charakter von Macht“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 39), die „Wesensgleichheit“ zwischen Macht und sozialer Beziehung (z. B. bei Friedberg (1992), S. 41; Küpper/Felsch (2000), S. 21; Ortmann (1992b), S. 219) herausgestellt, sowie ein Verständnis von Macht als Kräfteverhältnis zwischen Akteuren, das sich in einer fortlaufenden Tauschund Verhandlungsbeziehung austarieren muss [vgl. Kap. I.2.a)]. Dies alles zeigt, dass die mikropolitische Theorie eindeutig und explizit von einem grundsätzlich „relationale[n] Charakter von Macht“ ausgeht (Felsch (1999), S. 165; Küpper/ Felsch (2000), S. 206) Auch bei Nietzsche ist der Gedanke der Relationalität sehr präsent: Er lässt sich bereits aus den frühen Überlegungen zur Welt als Kräftekonstellation herleiten. Die grundsätzliche Vorstellung einer Welt aus Naturkräften, die sich die Materie „wechselseitig einander zu entreißen suchen“ reicht sogar bis in die frühen 1870er Jahre (PhtZ, 1, S. 826; H.v. m.). Nur etwas später fasziniert ihn unter dem Eindruck von Stewart die Wirkung und Gegenwirkung bzw. die Anziehung und Abstoßung zwischen Teilen, die wir „(t)rotz der Unkenntniß der Einzelwesen“ erkennen können (N 1875, 9[2], 8, S. 183). Einige Jahre darauf wird Natur insgesamt von Nietzsche ausdrücklich als eine „Menge von Relationen von Kräften“ (N 1884, 26[38], 12, S. 158; H.v. m.) aufgefasst und Leben als eine „Vielheit von Kräften“ und deren Verbindungen (N 1883/84, 24[14], 10, S. 650). Grundsätzlich lässt sich festhalten: Kräfte sind für Nietzsche nur in Beziehung auf andere Kräfte als Kräfte auszumachen.48 Und auch Wille kann ausdrücklich nur auf andere Willen wirken, und nicht auf Stoffe, benötigt also ein zumindest prinzipiell gleichartiges Gegenüber (vgl. JGB 36, 5, S. 55 sowie N 1885, 40[37], 11, S. 647). Kraft und Wille sind im ersten Teil als wichtige Bestandteile des Willens zur Macht ausgemacht worden. Ebenso ist die Bedeutung des Machtgefühls dargelegt worden, für das ebenfalls Relationalität als Eigenschaft herausgearbeitet worden ist (vgl. Teil 1 A. II. 3.). Dies alles prägt entscheidend Nietzsches Vorstellung einer relational verfassten Macht, wie sie sich im Willen zur Macht ganz offenkundig darstellt: Macht benötigt immer ein Gegenüber, auf das sie bezogen ist, einen Widerstand in Form einer anderen Macht, um sich daran messen, steigern, auslassen und somit letztlich als Macht entfalten zu können. Ansonsten wäre sie „eine leere Macht, die gleichsam ins Nichts stieße“, wie es Himmelmann (2006, S. 106) formuliert.49 48 Dies wird auch in der einschlägigen Literatur immer wieder betont; s. exemplarisch Deleuze (2002), S. 11 oder auch Abel (1984), S. 209. 49 Vgl. auch Stegmaier (1994), S. 83. Gerhardt (1996, S. 325) nimmt daher die Relativität, die auf der Relationalität basiert, als siebtes Formprinzip auf. Vgl. explizit zum
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Diese starke Betonung der Relationalität von Macht wendet sich dabei in beiden Ansätzen insbesondere gegen eine verdinglichte Vorstellung von Macht als Gegenstand oder gar „Besitzstand“, wie Crozier und Friedberg immer wieder betonen.50 Macht lässt sich nicht besitzen, „aus dem einfachen Grund, weil es sich hier um eine Beziehung handelt, die als solche von der menschlichen Interaktion untrennbar ist“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 311, Anm. 24). Wenn Macht (mehr oder weniger) ausschließlich als Beziehung existent ist, nur zwischen mindestens zwei Akteuren auftritt, kann es „keine Macht als solche“ mehr geben (ebd., S. 47). Gleiches gilt für Nietzsche. Auch für ihn gibt es keine verdinglichte Macht „an sich“, so wie es überhaupt Dinge „an sich“ nicht gibt: „Ein Ding, ganz allein, würde gar nicht existieren – es hätte gar keine Relationen.“ (N 1881, 12[17], 9, S. 579; H.v. m.) Die Eigenschaften jedes „Dings“ konstituieren sich ausschließlich aus den „Wirkungen auf andere ,Dinge‘“ (N 1885/86, 2[85], 12, S. 104). Denkt man alle anderen Dinge und somit alle Wirkung eines Dinges weg, so bleibt kein essenzieller Kern, kein „Ding an sich“, wie Nietzsche es versteht, übrig. Auf dem Boden des Seins finden wir keine Dinge, sondern „dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältniß zu allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältniß zu allen anderen Quanten besteht, in ihrem ,Wirken‘ auf dieselben“ (N 1888, 14[79], 13, S. 259; H.v. m.).
„Dingheit“ wird von uns somit in gewisser Weise erst „hinzufingirt (. . .) zur Bindung jener Vielheit von Relat“ (N 1887, 10[203], 12, S. 580; H.v. m.). Die Begriffe „,Sein‘“ und „,Ding‘“ sind daher „Relationsbegriffe“, auch in Bezug auf den Erkennenden, der selbst als relationale Vielheit konzipiert ist. Es gibt demnach überhaupt „kein ,Wesen an sich‘, die Relationen constituiren erst Wesen“ (N 1888, 14[122], 13, S. 303).51 Willen zur Macht „als Relationalität“ auch Riccardi (2009, S. 197 ff.), in dessen Skizze von Nietzsches relationaler Ontologie auch eine Reihe weiterer im Folgenden ausgearbeiteter Merkmale zur Sprache kommen. 50 Vgl. z. B. Crozier/Friedberg (1993), S. 15; S. 316, Anm. 64; S. 317, Anm. 71; Friedberg (1992), S. 41. Eine Ablehnung von Macht als „Besitz“, die ebenfalls aus einer streng relationalen Konzeption von Macht resultiert, findet sich auch bei Elias (1996; dazu Häußling (2000), S. 238 f.) sowie bei Arendt (2002, S. 252). Eine derartige Auffassung widerspricht laut Bogumil/Schmid (2001) „grundlegend der klassischen Politikwissenschaft und auch der marxistischen Gesellschaftstheorie, in der Macht als Besitz aufgefasst wird und von oben nach unten ausstrahlt.“ (S. 59) Allerdings hat sich bereits gezeigt, dass die Vermeidung einer Vorstellung von Macht als Besitz auch für die Mikropolitik nicht immer ganz einfach ist [vgl. I.2.a)]. Und auch bei Weber, in dessen Konzept Macht ebenfalls als relationale Größe angelegt ist, ist häufiger vom „Besitz“ der Macht die Rede (z. B. MWG, I/22-1, S. 95 und S. 240). Zu Überlegungen, inwieweit man u. U. doch davon sprechen könnte, Macht in gewissem Sinn „besitzen“ zu können, beispielsweise in inkorporierter Form, vgl. Kapitel Macht und Ästhetik (II. 9.). 51 Zur Bedeutung von Relationen, in denen „das Wesen eines Charakters und einer Melodienlinie sich rein offenbare“ bereits GT 21, 1, S. 138; H.v. m.
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Dies sollte hinreichen, um deutlich werden zu lassen: In einer derartigen multilateralen „Relations-Welt“ (N 1888, 14[93], 13, S. 271) ist auch die Macht nicht als metaphysische Substanz zu verstehen, sondern als Relation, wie von den hier vornehmlich konsultierten Nietzsche-Interpreten auch klar gesehen wird.52 Als solche, kann Macht „nie zu einem unbedingten Besitz werden, sondern bleibt immer durch andere Macht in Frage gestellt und bedingt.“ (Stegmaier (1994), S. 84; H.v. m.)53 Diese Diagnose wird noch dadurch untermauert, dass Macht in beiden Konzepten einen gegenseitigen Interpretations- und Konstruktionsprozess einschließt.54 Im mikropolitischen Ansatz hängt Macht wesentlich von den wechselseitigen Wahrnehmungs- und Deutungsleistungen der Akteure ab, die in ihren Interaktionen – mit denen sie immer auch ihre je eigenen Ziele verfolgen – auf organisationale Strukturen bzw. Modalitäten der Signifikation, wie Leitbilder, Deutungsschemata etc. zurückgreifen (müssen), und diese durch diese Bezugnahme in Teilen für sich und andere reproduzieren. Erst in diesem (teilweise indirekten) Zusammenspiel zwischen mehreren interagierenden Akteuren werden Ressourcen, Machtbasen, gemeinsame Ziele und Ansprüche ausgehandelt und konstruiert. Macht selbst basiert also u. a. auf interdependenten Interpretationen. Und auch für Nietzsche basieren Machtbeziehungen auf wechselseitigen Auslegungen, Einschätzungen und Interpretationen.55 Das Interpretationstheorem ist ganz basal mit dem Willen zur Macht verknüpft, Interpretation ist Machtmittel und der Interpretationsprozess selbst nach Nietzsche eine Gestalt oder „Form des Willens zur Macht“ (N 1885/86, 2[151], 12, S. 140; vgl. dazu insbesondere Figl (1982), S. 102 f.). Als solche reicht die Interpretation, und dies ist erneut als Unterschied zur Mikropolitik festzuhalten, bis tief in die Lebensprozesse hinein: „Der Wille zur Macht i n t e r p r e t i r t : bei der Bildung eines Organs handelt es sich um eine Interpretation; er grenzt ab, bestimmt Grade, Machverschiedenheiten.“ (N 1885/86, 2[148], 12, S. 139) Dafür muss „ein wachsen-wollendes Et-
52 Vgl. u. a. Gerhardt (1996), S. 305 ff., S. 324; Müller-Lauter (1999), S. 24, S. 42; Abel (1984), S. 67. 53 Dazu auch Müller-Lauter (1999), S. 50. Allerdings kann auch Nietzsche die Rede vom „Besitze der M a c h t “, ähnlich wie oben bereits für die Mikropolitiktheoretiker diagnostiziert, nicht immer vollständig vermeiden (vgl. z. B. FW 437, 3, S. 268 oder N 1884, 13[3], S. 452). 54 Vgl. insbesondere Küpper/Felsch (2000); auch Neuberger (2006), S. 20. 55 Vgl. Gerhardt (1996), S. 312; auch S. 243. Der Topos der „Interpretation“ bzw. „Auslegung“ hat mittlerweile eine Tradition innerhalb der Nietzsche-Rezeption, von K. Jaspers und M. Heidegger, über E. Fink, K. Löwith, W. Müller-Lauter und J. Figl, der gleichzeitig einen rückblickenden Überblick liefert (vgl. Figl (1982)), bis hin zu G. Abels „Interpretations-Zirkel“ (vgl. Abel (1984) sowie dessen Rezension durch Gerhardt (1987)). Allgemein zur Bedeutung von „Interpretation“ und „Konstruktion“ bei Nietzsche auch Colli, Nachwort KSA 13, S. 658.
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was da sein, das jedes andere wachsen-wollende Etwas auf seinen Werth hin interpretiert“ (ebd., S. 140). Ebenso relevant sind Interpretationen im gesellschaftlichen Raum. So geht beispielsweise eine Rechtsbeziehung als spezifische Machtbeziehung laut Nietzsche ursprünglich „so weit, als Einer dem Andern werthvoll, wesentlich, unverlierbar, unbesiegbar und dergleichen e r s c h e i n t . “ (MA I, 93, 2, S. 90 f.; kursiv v. m.) Und erst unter „ungefähr g l e i c h M ä c h t i g e n “, genauer: unter zwei Mächten, die sich als ungefähr gleich mächtig einschätzen, „entsteht der Gedanke sich zu verständigen und über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln“, da es hier „keine Uebergewalt giebt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Schädigen würde“ (MA I, 92, 2, S. 89).56 Worauf es an dieser Stelle ankommt, ist, dass Machtprozesse als derartige Interpretationsprozesse immer auf wechselseitige Deutungsleistungen und somit notwendig auf ein Gegenüber angewiesen sind. Dies unterstreicht ihren relationalen und nicht-substanziellen Charakter. Die Rede von der Interpretation und Konstruktion darf freilich nicht dazu verleiten, Macht als weniger real anzusehen, wie das Beispiel aus der Sphäre des Rechts – das nach Kant bekanntlich die mit der „Befugniß zu zwingen“ (AA 6, S. 231) verbunden ist – ja auch schon andeutet: In der gegenseitigen Einschätzung und Bewertung entsteht etwas Wirkliches und vor allem sehr Wirksames. Ortmann (1992b) wendet sich, wie im ersten Teil gezeigt, auch in bewusster Abgrenzung von Crozier/Friedberg, ausdrücklich gegen die Tendenz, Macht zu einem „allzu luftigen, liquiden Phänomen“ (S. 219) zu machen. Das heißt für ihn, es gibt Macht. Sie ist nichts Irreales. Aber sie ist eben auch nichts endgültig FestStehendes, Statisches. Dies lässt sich auch für Nietzsche konstatieren: Dass ein „Ding“ sich in eine „Summe“ aus interpretativen Relationen auflöst, beweist aus seiner Sicht grundsätzlich „nichts g e g e n seine Realität“ (N 1881, 13[11], 9, S. 620), sondern stellt vielmehr die Art von „Schein“ dar, die für Nietzsche „die wirkliche und einzige Realität der Dinge“ ausmacht, der er den Namen „,der Wille zur Macht‘“ verleiht (N 1885, 40[53], 11, S. 654). Auch für Nietzsche ist Macht, bei aller Kritik an einem verdinglichten Verständnis, nichts „Luftiges“ oder Utopisches: Laut Gerhardt (1996) ist Nietzsche „Realist – Realist der werdenden Welt, in welcher Wirklichkeit und Möglichkeit in einem Akt komprimiert sind“ (S. 319). Möglichkeit interessiert ihn jedoch nur, sofern sie im Werden real ist, also als reale Potenzialität, nicht als reine Possibilität (vgl. ebd., S. 317). Wirklichkeit
56 Recht kann demnach als „Bindeglied von mindestens zwei Machtgrößen“ definiert werden, „die sich dadurch in eine abgestimmte Balance zu bringen versuchen. Die Kräfterelation – nicht die einzelne Kraft! – wird als die Quelle der Gerechtigkeit gesehen.“ (Gerhardt (1988d), S. 103; H.v. m.)
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darf, wie angedeutet, nur nicht als statisch missverstanden werden: Wirklichkeit ist für Nietzsche Werden. Zusammengefasst kann man als zweite grundlegende Übereinstimmung beider Konzepte die Beziehungsförmigkeit, die Relationalität, als die spezifische Seinsform der Macht festhalten. Die folgenden Kapitel können in gewisser Weise als nähere Charakterisierungen und Spezifikationen dieser Machtrelationen angesehen werden. Im ersten Teil dieser Arbeit hat sich dabei immer wieder abgezeichnet, dass Machtbeziehungen grundsätzlich als spannungsgeladen, dynamisch und konfliktreich zu verstehen sind. Aus diesem Grund soll der Zusammenhang von Macht und Kampf im nächsten Kapitel näher ausgeführt werden. 3. Agonalität der Macht Im vorangegangenen Kapitel ist auf die Bedeutung der Beziehungsmäßigkeit der Macht hingewiesen worden, die eines Gegenübers, einer Gegenmacht bedarf. Hier steht die damit eng verbundene agonale Dimension im Mittelpunkt: Wenn eine Macht auf eine Gegenmacht trifft, kommt es in irgendeiner Form zu einer Auseinandersetzung. Die in diesem Kapitel vertretene These lautet daher, dass „Kampf“ in einem weiten Sinne, der neben offenem Streit und harter Konfrontation auch latenten Konflikt, belebende Konkurrenz und geregelten Wettkampf umfasst, eine grundlegende Kategorie sowohl für das Machtverständnis der Mikropolitik als auch für das von Nietzsche darstellt. Innerhalb der Mikropolitik darf die relativ neutrale Bezeichnung von Machtbeziehungen als Tausch- und Verhandlungsbeziehungen nicht darüber hinwegtäuschen, welch agonales Potenzial in diesen Beziehungen tatsächlich steckt und ihnen de facto zu Grunde liegt. Dies lässt sich bereits aus den im ersten Teil vorgenommenen Spezifikationen der Beziehung ersehen [vgl. Teil 1 B. I. 2. a)]: Machtbeziehungen werden als Beziehungen beschrieben, die durch persönliche Interessenlagen und Zielvorstellungen geprägt sind, sowie durch den Kampf um deren Durchsetzung. (Mikro-)Politisch „wird Handeln erst dann, wenn unterschiedliche Interessen aufeinanderprallen und es so zu einem Konflikt kommt. (. . .) Der Interessenkonflikt kann zu manifesten Konfrontationen führen, aber auch latent bleiben.“ (Neuberger (1995), S. 33; H.v. m.)57
Stimmen die Interessen nicht vollständig überein, wovon im Regelfall auszugehen ist, bilden sich hochdynamische Konkurrenzbeziehungen aus, die durch einen permanenten und offenen Interessen- und Zielkonflikt charakterisiert sind.58 Der Kampf und die Auseinandersetzung um die eigenen Interessen, auf 57 Ausführlicher zum „Interesse“ als einem Moment des Politischen vgl. Neuberger (1995), S. 33–47. 58 Nach Crozier/Friedberg (1993) gibt es „keine völlige Übereinstimmung der Ziele im Rahmen einer Organisation, und es kann auch keine geben.“ Und zwar aus zwei
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dem die Machtbeziehungen immer auch basieren, tritt hier demnach offen zutage. Aufschlussreich ist aber vor allem, dass selbst Kooperationsbeziehungen, die durch eine relative Interessenhomogenität gekennzeichnet sind, nicht etwa als konfliktfrei gedacht werden, sondern es sowohl zu Beginn als auch im Verlauf der Beziehungen zu andauernden Konflikten über die Zielsetzung, den Arbeitsund Ergebnisanteil etc. kommen kann: „Dieselben Unsicherheiten, Unklarheiten und Konflikte, die das Zustandekommen einer solchen Kooperationsbeziehung erschweren, wirken in dieser Beziehung fort“ (Küpper/Felsch (2000), S. 30; H.v. m.). Ein zumindest latenter Konflikt liegt demnach allen Beziehungen, die auf Interessen basieren, zu Grunde. Dies wird umso deutlicher, zieht man den Prozess der Anbahnung und Ausübung von Machtbeziehungen hinzu (vgl. Abb. 4). Denn die jeweiligen Verhandlungsprozesse lassen sich als ein Kampf um und mit Informationen deuten und als ein Ringen zwischen strategischem Informationsangebot und strategischer Informationssuche bzw. zwischen strategischer Überzeugung und Aufklärung. Wie oben angedeutet, wird dabei mit allen Mitteln des „Krieges“ gearbeitet, das „Arsenal“ der mikropolitischen „Waffen“ reicht von Warnungen und Drohungen, über Täuschungen und Tarnungen, bis hin zur gezielten Weitergabe und Manipulation der Information, (falschen) Versprechen und Empfehlungen.59 Folgt man dem weiteren Verlauf der Spezifikation, so werden die aus diesen Prozessen resultierenden Machtbeziehungen darüber hinaus als Abhängigkeitsverhältnisse beschrieben, die zur Asymmetrie neigen, was derart pointiert wurde, dass einer der Akteure mehr „herausholen“ kann als der andere, wenn auch nicht alles. Es geht immer „um den Aufbau von Macht und das Rechnen mit Gegenmacht“ (Neuberger (2006), S. 205). Nun ist generell davon auszugehen, dass ein Kampf darum entbrennt, auf der „profitableren Seite eines Konflikts“ zu stehen (Crozier/Friedberg (1993), S. 61). Zumindest ist von einem hohen Rechtfertigungsdruck für jeden Vorteil eines Akteurs auszugehen, sowie von einem fortlaufenden Ringen darum, wie viel mehr ein Akteur von der Beziehung profitieren kann als ein anderer, was weiteres Konfliktpotenzial offenbart.
Gründen: Der erste besteht in der hohen Arbeitsteilung sowie der daraus resultierenden spezifischen und „verzerrten“ individuellen Zielsetzung der Akteure. Der zweite liegt im „Wettstreit“ um die Verteilung begrenzter Ressourcen (S. 57); H.v. m.). Generell zum Interessenkonflikt in der verhaltenswissenschaftlichen Organisationstheorie Bogumil (2001), S. 42 ff. 59 Hierunter fällt z. B. auch das „Whistle-Blower Game“, also das „Auffliegen lassen“ oder „Verpfeifen“ von Organisationsmitgliedern, indem Informationen über normverletzendes Verhalten an Dritte weitergegeben werden (vgl. Küpper/Felsch (2000), S. 202 im Anschluss an Mintzberg (1991), S. 245 ff.). Oder so genannte „Durchstechereien“, die aus der Politik bekannt sind, und die z. B. im Zusammenhang mit dem Rücktritt Kurt Becks als Parteivorsitzender der SPD im Jahr 2008 öffentlich wurden, bzw. öffentlich gemacht (!) worden sind.
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Dies gilt umso mehr, wenn man sich ins Bewusstsein ruft, worum es aus mikropolitischer Sicht im Kern bei Machtbeziehungen geht, nämlich um die Kontrolle von Unsicherheitsbereichen und somit um die Kontrolle der Verhaltensund Handlungsmöglichkeiten von sich selbst und anderen. Dem offensiven Drang der Akteure, „die Spielräume ihrer relevanten Gegenspieler soweit möglich einzuengen“, steht, wie gesehen, die defensive Komponente gegenüber, seinen eigenen Handlungsspielraum zu wahren und vor dem Zugriff anderer zu schützen (Friedberg (1992), S. 43).60 Bereits diese Frontstellung und das aus dem Militärischen entlehnte Vokabular von „Offensive“ und „Defensive“ legt eine agonale Sicht auf diese Prozesse nahe (vgl. auch Weick (1985), S. 75). Untermauert wird diese Einschätzung noch durch die identitätstheoretische Fundierung der Auseinandersetzung um Handlungsbereiche: Wie gezeigt, sind mit den Handlungsmöglichkeiten unmittelbar die Autonomiebereiche der Akteure und somit ihre Möglichkeit der Identitätsbildung tangiert. Nach mikropolitischer Lesart muss ein Akteur demnach auch im organisationalen Kontext seine Handlungsspielräume zumindest bis zu einem gewissen Grad beschützen und verteidigen, um einen für ihn relevanten Teil seiner Identität zu wahren. Damit wird der Konflikt auf Grund des Strebens nach Identitätsbehauptung zum einen zum „Normalfall“ in Organisationen. Zum anderen gewinnt er an Schärfe, die über das Maß eines Interessenkonfliktes um materielle Ressourcen noch hinausgehen dürfte. Hier ist ein essenzielles Moment des Selbstverständnisses der Akteure betroffen, die sich als autonome menschliche Wesen und nicht als Dinge begreifen. Deswegen ist von einer außerordentlich hohen Kampfbereitschaft auszugehen, wenn es darum geht, wenigstens ein Mindestmaß an Handlungsspielraum vor dem Zugriff durch Dritte zu bewahren.61 Damit sind ist aus meiner Sicht die systematischen Kernpunkte der Bedeutung von Agonalität im Kontext mikropolitischer Machtbeziehungen zwischen einzelnen Akteuren benannt, die sich als Kampf um Interessendurchsetzung, Kampf um Informationen sowie als Kampf um Handlungsspielräume und Autonomiebereiche fassen lassen, und die bis hin zum Kampf um Identität reichen können. Alle diese Kämpfe laufen zumindest im Hintergrund einer jeden Machtbeziehung mit. Machtbeziehungen sind daher nie gänzlich ohne Kampf zu denken: Kampf ist latent in jeder Machtbeziehung vorhanden und kann leicht virulent werden; und bildet somit eine entscheidende Grundlage für Machtbeziehungen. 60 Vgl. zu diesen beiden Tendenzen auch Plessner (2003), der in ihnen „das Politische in seiner expliziten Form eines zwischenmenschlichen Verhaltens [sieht], das auf Sicherung und Mehrung der eignen Macht durch Einengung bzw. Vernichtung des fremden Machtbereiches gerichtet ist“ (S. 194; H.v. m.; s. ebenso S. 192). 61 Dass diese Bereitschaft zum Kampf sich nicht immer offen zeigen muss, sondern gerade unter besonders identitätsgefährdenden Umständen verschlungenere Wege finden kann, belegen die eindrucksvollen Berichte von KZ-Insassen wie V. Frankl (vgl. Frankl (1982)).
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Diese Sichtweise hat natürlich Auswirkungen auf die Bedeutung, die Agonalität für das Verständnis von Organisationen als ganzen eingeräumt wird, die nach mikropolitischer Lesart als ein Geflecht derartiger Machtbeziehungen zu gelten haben. Dieses Geflecht wird mittels der Spielmetapher zu erfassen versucht, und Organisationen als Produkt einer Reihe von Spielen gedeutet. Auch hier darf man sich nicht in die Irre führen lassen: Ebenso wenig wie Tausch- und Verhandlungsbeziehung non-agonal zu verstehen sind, impliziert ein Verständnis von Organisation als Spiel eine Blindheit gegenüber den sich abspielenden Kämpfen in Organisationen. Im Gegenteil lassen sich Kampf und Spiel auf zwanglose Weise zueinander in Verbindung bringen, wie die Rede von den sich abspielenden Kämpfen bereits andeutet.62 Dies kommt auch in folgendem Zitat von Ortmann et al. (1990, S. 8) zum Ausdruck: „Organisationen fassen wir nicht so auf, wie sie in Lehrbüchern beschrieben werden: nicht so sehr als zweckrationale, wohl geordnete und strikt an ökonomischen Effizienzkriterien orientierte Gebilde, sondern eher als Arenen mikropolitischer Aushandlungsprozesse und Kämpfe, in denen jeder ,sein‘ Spiel spielt und das Ganze nur funktioniert, wenn die Spiele in Organisationen günstig strukturiert und aneinandergegliedert sind.“
Spiele wurden oben bereits als in der Regel ungerechte (nicht-faire) sowie nicht-symmetrische Spiele aufgefasst, ohne Ausgangsgleichheit zwischen den Spielern, ohne Gleichheit der Gewinn- und Verlustmöglichkeiten und ohne Klarheit und Konsens über die Spielregeln, die selbst Ergebnisse früherer Kämpfe darstellen und fortlaufenden Kämpfen auf mehreren Ebenen bzw. Meta-Ebenen unterliegen, in denen das gesamte Repertoire mikropolitischer Taktiken zum Einsatz kommen kann.63 Organisationen sind somit beschreibbar als „Ort[e] des Zusammenstoßes und des Konflikts“: „Eine Organisation ist hier letzten Endes nichts anderes als ein Gebilde von Konflikten und ihre Funktionsweise das Ergebnis der Auseinandersetzungen zwischen den kontingenten, vielfältigen und divergierenden Rationalitäten relativ freier Akteure, die die zu ihrer Verfügung stehenden Machtquellen nutzen.“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 56 f.)
Insbesondere in krisenhaften Umbruchsituationen, „in denen in viel roherer und brutalerer Weise die für das jeweilige Machtsystem charakteristischen Kräfteverhältnisse zwischen Akteuren hervortreten“, könne daher zu Recht von einem 62 Daher wird die starke Kontrastierung von „Mikropolitik als Spiel“ (S. 126 ff.) und „Mikropolitik als Kampf“ (S. 135 ff.) von Türk (1989) der Sache m. E. nicht gerecht. Allerdings stützt er gleichzeitig durch seine starke Betonung des Kampfes sowie seiner Charakterisierung von Organisationen als „Arenen“, „in denen Individuen und Gruppen ihre Interessen einbringen, politische Auseinandersetzungen austragen und zu jeweils temporären Kompromissen gelangen“ (Türk (1992), Sp. 849; H.v. m.), die These dieses Kapitels in besonderer Deutlichkeit. 63 Vgl. z. B. Küpper/Ortmann (1986), S. 594; Crozier/Friedberg (1993), S. 64–73; Witt (1996), S. 45.
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„Kampf aller gegen alle“ gesprochen werden (ebd., S. 67). Aber auch für weniger dramatische Alltagssituationen organisationaler Wirklichkeit betonen sie immer wieder das Element des wechselseitigen Zwangs, das den Spielen innewohnt – Spiele leisten gerade die Vereinigung von Freiheit und Zwang (vgl. z. B. S. 68) –, und das über das Interesse am Fortbestand der Spiele (bzw. die Drohung mit deren Ende) letztlich die schwierige und nie endgültig gesicherte Einheitsbildung durch Integration der grundsätzlich antagonistischen Kräfte leistet. Küpper/Ortmann (1986) knüpfen direku an dieses Verständnis von Organisationen als miteinander verzahnter Spiele an, die durch ihre Regeln eine „indirekte Integration der konfligierenden Machtstrategien der Organisationsmitglieder bewirken.“ (S. 592; H.v. m.) Auch hier bildet der Konflikt also gleichsam den Boden der Spiele, auch wenn sie eine gewisse Kanalisierung und Transformation leisten können. Denn auch die dazu notwendigen Spielregeln stellen selbst wiederum Ergebnisse eines vorangegangenen Machtkampfes dar. Und auch innerhalb der später von Küpper/ Felsch (2000) vorgenommenen Differenzierung von Machtstrukturen basiert die Spielstruktur als innere Machtstruktur, bei aller Bedeutung von wechselseitiger Akzeptanz und Konsens, auf den gemeinsam geteilten operativen Regeln, die sich auf der Basis der oben thematisierten Machtbeziehungen herausgebildet haben, d. h. auf der Basis eines vielfach verwobenen „Geflechts“ von Kooperationsund Konkurrenzbeziehungen (S. 49). Somit liegen auch dieser Machtstruktur i. e. S. der oben beschriebene Kampf und das inhärente Konfliktpotenzial dieser Beziehungen zu Grunde. Ortmann et al. (1990) weisen darüber hinaus auf das „kompetitive Element“ hin, das sich aus der Überlappung verschiedener Spiele ergibt, so z. B. im „Produktionsplan-Spiel“, das sich sowohl zum „Materialwirtschafts-Spiel“ als auch zum „Vertriebs-Spiel“ Schnittflächen aufweist (S. 465 ff.; s. u. Abb. 12). Der Konflikt ist dadurch angelegt, dass sich die Zielvorgaben der Spiele und die Interessen der Akteure nicht decken. Selbst organisatorische Regelungen und Verfahren sowie Gratifikationsstrukturen reichen nach den empirischen Studien der Autoren häufig zu dessen Eindämmung nicht aus, „im Gegenteil: die Orientierungen laufen oft in entgegengesetzten Richtungen“ (ebd., S. 466). Gesteigert werden die Spannungen noch durch den Einsatz neuer Techniken, z. B. neuer EDV-Systeme, die nicht nur die Spiele mit ihren Regeln und Gewinnchancen verändern, sondern auf die Verzahnung selbst Einfluss haben. Sowie dadurch, dass diese Routinespiele mit den Innovationsspielen auf höherer Ebene in Verbindung stehen, zu denen sie ohnehin „in einem heiklen Verhältnis“ stehen: Denn Innovationsspiele „zerstören (vielleicht) deren feinere Spielstrukturen. Sie gefährden eben noch sichere Gewinnchancen im alten Routinespiel, dessen Regeln sie ja gerade ändern. Sie sind Metaspiele, in denen es um Einsätze, Regeln, Strukturen, Gewinn- und Verlustchancen und bisher erfolgversprechende Strategien innerhalb der Routinespiele geht. Des-
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halb werden sie mit hohen Einsätzen gespielt, besonders von denen, die ihre Chancen gefährdet sehen.“ (Ortmann et al. (1990), S. 467)
Die Teilnehmer am Innovationsspiel werden durch Gratifikationen und Karrierechancen sowie das eigene Selbstverständnis „nicht nur in eine andere Richtung orientiert als die des Routinespiels, sondern zum Teil in die entgegengesetzte. Erfolgreiche operative Arbeit und erfolgreiche Projektrealisation, das beißt sich oft. Ausgetragen wird das gern über Personalisierungen. In wechselseitigen Wahrnehmungen, Wahrnehmungsverzerrungen, Zuschreibungen, Abgrenzungen und Denunziationen werden Personen und Abteilungen für etwas namhaft und haftbar gemacht, was in der mikropolitisch so prekären Verzahnung von Spiel und Metaspiel, Routine- und Innovationsspiel angelegt ist“ (ebd.).
Nicht zuletzt auf Grund der betonten Personalisierungstendenz sind „Spiele“ in Organisationen durchaus „Ernst“ (Ortmann (1992a), S. 22), und können schnell „,blutiger Ernst‘“ werden, wie auch Neuberger (1992, S. 52) ausdrücklich einräumt.64 Es kann ein „grausames Spiel“ getrieben (Neuberger (1992), S. 65) und einigen Mitarbeitern in Form des „Mobbings“ besonders „übel mitgespielt“ werden (Neuberger (1999)). Dabei steht in diesen Spielen sehr viel auf dem Spiel, bis hin zur Autonomie, Identität und Leben der Akteure, sowie die Existenz der Organisation, mit deren Gefährdung implizit gedroht werden kann (vgl. Ortmann et al. (1990), S. 514). Daher muss das Spiel weitergehen, und man muss normalerweise in vielen Situationen „mitspielen“ (Ortmann (1992a), S. 22). Kampf und Spiel schließen sich also nach mikropolitischer Lesart keineswegs aus. Im Gegenteil: Einige Spiele werden sogar explizit als „Kampfspiele“ thematisiert. Bei dieser Spielform, die Neuberger (1992) unter Rekurs auf Callois (1960) auf den Agon zurückführt, steht die Konkurrenz, das Gegeneinander und der Sieg über andere im Mittelpunkt. Interessant ist hierbei ferner, dass die Spiele sich in einer zweiten Dimension nach ihrer Regelhaftigkeit und Ordnung differenzieren lassen, die sich zwischen den Polen „paida“ (ungeregelter und unvorhersehbarer Tumult, Ausgelassenheit, Überschwang, elementares Vergnügen etc.) und „ludus“ (durch Regeln gezähmte Aktivität, Disziplinierung und Kultivierung) aufspannt. Auf agonale Spiele übertragen, bilden der nicht geregelte Kampf bzw. der nach klaren Regeln ablaufende Wettkampf, z. B. im Sport, somit die Pole dieser Dimension (vgl. Neuberger (1992), S. 70 f.). Das heißt, dass agonale Spiele nicht automatisch mit einem regellosen „Kampf aller gegen alle“ oder ei-
64 Und zwar im metaphorischen als durchaus auch im wörtlichen Sinne, wie der Hinweis von Ortmann (1992a, S. 22) auf das so genannte „Deutsche Roulett“ zeigt, von dem H. Dorroch berichtet hat, und bei dem Arbeiter gegen Wetteinsätze die Hände oder sogar den Kopf in eine Presse halten (zit. nach Volmerg (1978), S. 117 f.). Auch Crozier/Friedberg (1993) zeigen mit ihrem Beispiel von streikenden Eisenbahnern, die sich an die Schienen fesseln, um einen „Streikbrecher“-Zug anzuhalten, dass bei einigen Spielen mit sehr hohem Einsatz gespielt wird: „Es geht um Menschenleben.“ (S. 42)
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nem gegenseitigen „Kleinkrieg“ oder gar „Vernichtungskrieg“ assoziiert werden sollten, da sie auch kultivierte und institutionalisierte Formen der Auseinandersetzung umfassen, die ein Mindestmaß an Konsens und Übereinstimmung, beispielsweise über die verbindlichen Regeln des Wettkampfes, voraussetzen. In Organisationen handelt es sich laut Neuberger (2006) häufig um derartige „(WettKampf-)Spiele zwischen Konkurrenten“ (S. 173).65 Hier ist zunächst festzuhalten, dass die Rede von Organisationen als Struktur aneinandergereihter Spiele einer agonalen Interpretation von Organisationen in keiner Weise entgegensteht. Mehr noch: Letztlich basiert jede Art von Spiel innerhalb von Organisationen, auch diejenigen, die selbst nicht der Logik ausdrücklicher Kampf- und Machtspiele folgen, direkt oder indirekt auf den dargelegten Machtbeziehungen der Akteure. Und somit auf deren zumindest latenter Agonalität. Denn diese Machtbeziehungen konstituieren den organisationalen Raum, in dem sich sämtliche Spiele überhaupt erst vollziehen können. Spiele finden somit „nicht im machtfreien Raum“ statt, sondern tragen, auch in der Flucht vor oder der Abgrenzung von bestehenden Machtverhältnissen, „den Realitäten der Macht Rechnung“ (Ortmann (1992a), S. 22 f.). Zu dieser Realität gehört das Moment der Agonalität. Damit kann die fundamentale Bedeutung der Agonalität für das mikropolitische Verständnis von Macht als verifiziert gelten, die sich, wie teils bereits angeklungen, auch in der verwendeten Terminologie widerspiegelt. Unter anderem, wenn auf die Erfahrung von „Intrigen“ und „Dschungelkämpfen“ in Organisationen verwiesen wird (Ortmann et al. (1990), S. 4; auch Küpper/Ortmann (1986), S. 591), der Einsatz von „Abschreckungswaffen“ und auch „Erpressung“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 64 f.) thematisiert wird – die allerdings formal immer nur als Möglichkeit existieren und in einen tatsächlichen Einfluss innerhalb konkreter Spiele umgewandelt werden müssen – oder wenn Unternehmen als „politische Arenen“ skizziert werden (z. B. Neuberger (1995), S. 5; Türk (1992), Sp. 849) bzw. wenn die Rede ist von der „Arena mikropolitischer Manöver“ (Neuberger (2006), S. 173), in denen „mikropolitische Taktiken als ,Waffen‘ oder ,Kampfformen‘ eingesetzt werden“ (ebd., S. 206). Nicht zuletzt auch mit dem Ziel, Gegner auf verschiedenste Weise „ruhig zu stellen“.66
65 Allerdings weisen insbesondere Neuberger (1992) und Ortmann (1992a) auch darauf hin, dass nicht alle Spiele dieser Logik folgen, sondern der Spielbegriff insgesamt vielschichtiger ist, und z. B. auch „Glücksspiele“, „Liebesspiele“, „Rauschspiele“ oder eskapistische „Gedanken- und Phantasiespiele“ umfassen kann. 66 „Den gefährlichsten Gegner zuerst ruhigstellen!“ ist einer der Heurismen, die Neuberger (1992, S. 63) anführt. Zur Vorstellung von Organisationen als „politische Arenen“ vgl. auch Mintzberg (1983), S. 306 ff.; dazu Küpper/Felsch (2000), S. 214 ff. Zum „Kampf der Koalitionen“ sowie zu typischen „Frontverläufen“, „Arsenalen“ und „Arrangements“ Ortmann et al. (1990), S. 395 ff. Generell zur militärischen Metaphorik der Organisationssprache, die von Stäben, Linien und Kommandoketten über Strate-
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Diese kursorische Aufzählung soll hierbei keinesfalls eine vollständige Übereinstimmung der einzelnen Autoren unterstellen. Vielmehr gibt es einen internen Disput in der Mikropolitiktheorie über die angemessene Gewichtung und Reichweite des Agonalen, der hier aber nicht im Einzelnen aufgearbeitet werden kann und soll.67 Gemeinsam ist den hier im Fokus stehenden Konzepten aber, dass Agonalität als eine relevante und entscheidende Dimension betrachtet wird.68 Dies liegt nicht zuletzt daran, dass dem Konflikt und dem Gegensatz eine wichtige Funktion als Antriebsfeder für die organisationale Entwicklung und Dynamik zuerkannt wird, wie hier abschließend kurz ausgeführt werden soll. Bewegung entsteht für die Mikropolitik aus dem Gegensatz. Dies hebt z. B. Neuberger (2006, S. 171) hervor, indem er sich u. a. in einem ausführlichen Zitat auf Kants These vom Antagonismus der „ungeselligen Geselligkeit“ als Triebkraft zur Entwicklung der menschlichen Anlagen stützt. In einem späteren Abschnitt, der sich explizit mit dem Zusammenhang von Konkurrenz und Kooperation beschäftigt, bezieht sich Neuberger noch einmal auf diese anthropologische Fundierung der Bedeutung von Agonalität (vgl. S. 203 ff.): „Ohne jene an sich zwar eben nicht liebenswürdige Eigenschaften der Ungeselligkeit“ der Menschen, aus der sich ein „Widerstand“ zwischen ihnen ergibt, würden die Menschen nach Kant „ihrem Dasein kaum einen größeren Werth verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat“; in „einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht“ würden sie ihre Potenziale nie zur Geltung bringen und „alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben“. „Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht.“ (Idee, AA 8, S. 21; H.v. m.)69 gien und Taktiken bis hin zu Schlachten, Attacken und Ablenkungsmanövern reicht, vgl. Weick (1985), S. 75. 67 Vgl. z. B. den oben bereits angesprochenen Vorwurf Türks an Crozier/Friedberg sowie Neuberger, „apolitische“ Konzepte zu vertreten (Türk (1989), S. 131). Zur Replik vgl. Neuberger (1995), S. 14 u. S. 217. Neuberger (1992) kritisiert seinerseits an Crozier/Friedberg, dass sie das Konkurrenz- oder Wettkampfspiel in den Mittelpunkt ihrer Analyse stellten und damit andere wichtige Aspekte des Spielbegriffs ausklammerten (S. 64 f.). Dem schließt sich Ortmann (1992a) an. Meiner Einschätzung nach werden diese im Einzelnen durchaus nachvollziehbaren Diskussionen relativiert durch die o. a. Tatsache, dass letztlich alle Spiele eingebettet sind in das Geflecht der Machtbeziehungen einer Organisation, die eine immanente agonale Dimension besitzen. 68 Für die von Bosetzky vertretene Variante der Mikropolitik, der, wie gesagt, gegenüber Küpper/Ortmann eine etwas andere Schwerpunktsetzung vertritt, spielt der Konflikt, auch als „Kampf aller gegen alle“ um die größten Ergebnisanteile, ebenfalls eine eminente Rolle (vgl. Bosetzky (1980), S. 155). 69 Diese führt allerdings dazu, so Kant weiter, dass der Mensch sich selbst so viel „Not“ zuführt, dass er von der Zwietracht letztlich in die „bürgerliche Vereinigung“ getrieben wird, in der sich seine Anlagen erst vollends entfalten können. Somit bestehen die „Früchte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst genötigt wird, sich zu disziplinieren“, letztlich in der gesellschaftlichen Kultivierung und Ordnung. Der Mensch, obwohl „aus so krummem Holze“, wird, gleich den Bäumen im Wald in ihrem Kampf um Sonne
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Diese Zwietracht kann auch innerhalb von Organisationen als Motor wirken: „Organisationen sorgen auch intern für Widerspruch und erzeugen Gegensätze: sie stimulieren internen Wettbewerb, betreiben Produktkannibalismus, vergeben Belohnungen (Prämien, Entgelt, Beförderungen, Statussymbole) differentiell, (. . .) berufen Externe in die Aufsichtsgremien, holen sich unabhängige Berater, schaffen Nebenhierarchien“ etc., um die dadurch freigesetzten Kräfte zu nutzen (Neuberger (2006), S. 206).
Nicht zuletzt „der erklärte offizielle Arbeitskampf (Streik) und die vielen Formen des ,alltäglichen Arbeitskampfes‘“, auf die Neuberger hinweist, belegen dabei erneut die Bedeutung von Agonalität innerhalb mikropolitischer Überlegungen. Und auch das Verständnis, dass „alle Zusammen-Arbeit sowohl begrenzt wie bedroht ist“, wird – in einer gleichermaßen Darwin wie Nietzsche aufnehmenden Formulierung – auf „die Einsicht in die selektierenden und adaptiven Wirkungen des Kampfs ums Dasein und der schöpferischen Zerstörung“ zurückgeführt. Dieser Kampf bedeutet insgesamt allerdings „keineswegs den unaufhaltsamen Weg in Zerrüttung und Zerfall“, sondern kann Kräfte und Gegenkräfte mobilisieren und somit „das Unternehmen agiler und fitter“ machen (ebd., S. 205 f.). Grundsätzlich gehört zu den Kategorien des Politischen, auch innerhalb von Organisationen, immer der Konflikt, der aber durchaus eine „Kultivierung“ erfahren kann. Die daraus resultierende „Spannung“ macht das „vitalisierende oder dynamisierende Moment“ von Politik im Allgemeinen sowie von Mikropolitik aus (Neuberger (1995), S. 18). Diesen Gedanken ergänzend, äußert Neuberger (2006) unter Verweis auf Carl Schmitt, dass zur Definition des Politischen zwar das „Widerstreitende, Antagonistische und Polemische“ gehören.70 „Diese Tendenzen können aber in den Hintergrund treten und somit eine Zeitlang verborgen bleiben.“ (S. 30) An anderer Stelle zeigt er sich daher kritisch einer reduktionistischen „Antagonismusfiktion“ gegenüber, die so tut, als ob es in der Mikropolitik ausschließlich um das Gewinnen in einer Kampf- oder Konfliktsituation ginge. Es gibt seiner Meinung nach aber nicht nur die antagonistische (Kampf-)Form der Macht, sondern auch indirekte Methoden, die den Konflikt, wenn nicht zum Verschwinden bringen, so doch unsichtbar machen (vgl. ebd., S. 140). Allerdings ist damit der Konflikt – und das ist entscheidend für die hier vertretene These – nicht beseitigt, sondern eben nur „verborgen“, wie er explizit einräumt:
und Luft, zu einem „schönen graden Wuchs“ getrieben. (Vgl. Idee, AA 8, S. 22 f.) Zur Dialektik einer „Zwietracht“ der Menschen, aus der letztlich doch eine „Eintracht (. . .) wider ihren Willen“ entsteht, s. auch den ersten Zusatzartikel von Zum ewigen Frieden (AA 8, S. 360). Zum Zusammenhang von äußerem und innerem Widerstand und einem „stolzen“ hohen Wuchs des Baumes übrigens auch Nietzsche FW 19, 3, S. 390. 70 Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Schmitts Freund-Feind-Modell auch Neuberger (1995), S. 17 ff.
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„Eine glatte, ruhige Oberfläche ist womöglich nur die Ruhe vor oder nach dem Sturm bzw. Beben. Es kann jederzeit wieder losgehen; dann werden die Verhältnisse ,zum Tanzen gebracht‘ und ihr (verborgenes) Inneres nach Außen gekehrt.“ (Neuberger (2006), S. 30)
Damit kommt er meiner Einschätzung nach den Vorstellungen Küppers und Ortmanns recht nahe, die durchaus an der Kultivierung des Konfliktes in Form einer Verstetigung sozialer Beziehungen interessiert sind, und die immer wieder auf der Möglichkeit von konsensgestützter Macht beharren. Entscheidend für die Perspektive dieses Kapitels ist jedoch, dass dieser Konsens als „von Zwängen durchtränkt“ angesehen werden muss (Ortmann et al. (1990), S. 16), und dass Kampf und Konflikt immer mitschwingen: Man hat in Organisationen „regelmäßig zumindest mit der – und sei es noch so latent bleibenden – Möglichkeit von Widerstand zu rechnen, die gleichsam im Hintergrund lauert“ (ebd., S. 13).71 Dies lässt sich auch an der Bedeutung von Drohpotenzialen, gleichsam als Kehrseite der Medaille, ablesen, mit der Macht laut Ortmann „ihrer inneren Logik nach“ arbeite: „Konsens hin oder her: Im Hintergrund lauert die – implizite oder explizite, oft nur symbolisch angedeutete – Drohung mit Sanktionen“ (S. 16).72 Darüber hinaus darf Konsens nicht als Gegensatz zur agonalen Macht gedacht werden, sondern vielmehr als wechselseitig mit dieser verschränkt: „Macht erzwingt vielleicht den Konsens, auf den sie sich gleichzeitig stützt.“ (S. 40; H.v. m.)73 Ein agonales Moment ist somit auch hier unumgänglich. Wie sieht es im Vergleich dazu bei Nietzsche aus? Das Moment des Kampfes und der Auseinandersetzung ist auch für Nietzsches Machtverständnis zentral, so die These, die im Folgenden zu belegen ist. Und zwar noch etwas ausführlicher und umfassender als in den vorangegangenen Kapiteln. Denn das Motiv der Agonalität zieht sich gleich einem roten Faden durch sein gesamtes Werk74 und reicht bis tief in seine frühesten Überlegungen hinein, was nicht zuletzt mit dem großen Eindruck zusammenhängt, den die griechische Kultur und Mythologie auf ihn 71 Bezeichnend ist, dass trotz aller theoretischen Bemühungen, Macht „nicht in jedem Fall“ auf Konflikt basieren zu lassen, wie Ortmann et al. (1990) im Rekurs auf Giddens (1984, S. 135 f.) ausführen, die Autoren in ihrer breit angelegten empirischen Untersuchung zu dem Ergebnis gekommen sind, dass „Konflikte (. . .) – zwischen EDVFachabteilungen, zwischen Promotoren der neuen Systeme und Verteidigern alter Positionen, zwischen oberem und mittlerem Management, Management und Betriebsrat, auch zwischen verschiedenen Vorstandsressorts – (. . .) in allen Fällen“ auftraten und „im günstigsten Fall leichte, in vielen Fällen schwere und kostspielige Behinderungen, in extremen Fällen auch eine zumindest drohende Gefährdung der gesamten Systemimplementation“ bedeuteten (Ortmann et al. (1990), S. 508; H.v. m.). 72 Die allgemeine Struktur von Drohungen analysiert Popitz (1992), S. 78–95. 73 Zu einem entsprechenden Praxisbeispiel eines Logistikprojektes, bei dem versucht wurde, Konsens über Druck zu erzwingen, was allerdings wiederum weitere Auseinandersetzungen nach sich gezogen hat, vgl. Ortmann et al. (1990), S. 79. 74 Im Hinblick auf Nietzsches „labyrinthische Ambitionen“ ließe sich hier mit einigem Recht auch von einem Ariadnefaden sprechen (s. N 1885, 37[4 u. 5], 12, S. 579).
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ausübt (vgl. z. B. Safranski (2000), S. 20 ff.). Bereits im Jahr 1859 entwirft er ein Prometheus-Drama, das den antiken Stoff der Auseinandersetzung zwischen dem Titan und Zeus um die Freiheit der Menschen zum Inhalt hat (vgl. J 1, S. 61 ff.). Wenig später entdeckt er in Schillers Räuber einen „Titanenkampf“ (J 1, S. 137) gegen Religion und Tugend und thematisiert an den exemplarischen Fällen Hölderlins, Lord Byrons und Napoleons III. die Selbstbehauptung vor dem Hintergrund des übermächtigen Fatums. Mit dieser Auseinandersetzung zwischen Fatum und dem Bewusstsein der eigenen Freiheit befasst sich auch der Aufsatz Fatum und Geschichte aus dem Jahr 1862. Das freie Bewusstsein erfährt dort „diese Welt als Widerstand und erkämpft sich darin seinen Spielraum“, wie Safranski (2000) ausführt (S. 27; H.v. m.). Dieser Spielraum sowie Sinn und Ziel sind dem blinden und determinierten Geschehen gleichsam abzuringen; betont wird u. a. die Entschiedenheit, mit der dem Geschick „entgegenzutreten“ sei (J 2, S. 60). Nur so kann es zu einer dynamischen Vereinigung von Gegensätzlichem kommen: „Im Gegensatz liegt die Einheit“ (Safranski (2000, S. 28). Dieses Moment des Kampfes von Gegensätzlichem, das gleichsam den Keim der Einheit in sich trägt, lässt sich unschwer auch in den Schriften der 1870er Jahre ausmachen, so wenn in dem Text Die dionysische Weltanschauung aus dem Jahre 1870 erstmals das Gegensatzpaar Apollo und Dionysos eingeführt wird.75 Und zwar als „Stilgegensätze, die fast immer im Kampf mit einander neben einander einhergehen“ (DW, 1, S. 553; H.v. m.) und nur einmal, im Kunstwerk der attischen Tragödie, zu einer Einheit verschmelzen. Der schöne „Bruderbund“ zwischen Apollo und Dionysos lässt sich demnach als Ergebnis eines Bruderkampfes rekonstruieren: „Niemals“ war laut Nietzsche „das Hellenenthum in größerer Gefahr als bei dem stürmischen Heranzug des neuen Gottes“ und nur der Macht des Apollo, „die den aus Asien heranstürmenden Dionysos“ mäßigte, führte letztlich dazu, dass „beide Götter gleichsam als Sieger aus ihrem Wettkampfe hervorgegangen: eine Versöhnung auf dem Kampfplatze.“ (S. 556; H.v. m.) Das „apollinische Volk“ konnte seines Erachtens die „gefährlichsten Elemente der Natur, ihre wildesten Bestien in das Joch“ (S. 558) spannen und deren gewaltige Kräfte produktiv machen. Erst durch diesen „Kampf beider Erscheinungsformen des Willens“ bestand somit die Aussicht, „eine höhere Möglichkeit des Daseins zu schaffen und auch in dieser zu einer noch höheren Verherrlichung (durch die Kunst) zu kommen.“ (DW, 1, S. 571; H.v. m.)76
75 Zu Einzelheiten sowie zur Entwicklung des Verhältnisses dieser Antagonisten und den „nicht unerheblichen Gewichtsverlagerungen in der Bewertung des Dionysischen und Apollinischen“ vgl. Behler (1986). 76 Vgl. dazu teilweise wortgleich auch Die Geburt des tragischen Gedankens (KSA 1, S. 579–599).
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Gleiches lässt sich für die Geburt der Tragödie (1872) zeigen, in der die Fortentwicklung der Kunst an die „Duplicität“ des Apollinischen und Dionysischen gekoppelt ist sowie an deren „fortwährenden Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung“ (GT 1, 1, S. 25; H.v. m.). Aus dem „ungeheure[n] Gegensatz“ und dem „zumeist offnen Zwiespalt“ entsteht die Dynamik des Schöpferischen: Die gegensätzlichen Triebe reizen sich zu „immer neuen, kräftigeren Geburten“, „um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuiren“ (ebd., S. 25 f.) bis diese Steigerung eine zumindest vorübergehend balancierte, aber weiterhin in sich spannungsgeladene und dynamische Einheit in der attischen Tragödie findet.77 Die Entwicklung und Steigerung der Kunst kann somit als Folge einer agonalen Ausgangsstellung von einander entgegengesetzten Kräften angesehen werden. In der Vorrede zu dem „ungeschriebenen“ Buch Der Griechische Staat (1872) stößt man auf das gleiche hier interessierende Prinzip in einem weiteren Rahmen: Nietzsche untersucht dort die sozialen und politischen Bedingungen von kultureller Exzellenz. Drastisch benennt er den „entsetzlichen Existenz-Kampfe“, dem die arbeitenden Massen ausgesetzt sind und auf dem die Kultur fußt (GS, 1, S. 765). Dieser furchtbare Kampf der Vielen ist gleichsam der Nährboden für die künstlerische Leistung einzelner Ausnahmeindividuen. Denn nur durch eine derartige Arbeitsteilung gelingt es der Natur „durch die Gesellschaft zu ihrer Erlösung im Scheine, im Spiegel des Genius, zu kommen.“ (S. 771) Dazu dient ihr der Staat als „die eiserne Klammer, die den Gesellschaftsprozess erzwingt“ (S. 772). Ohne diesen wäre der Prozess der Gesellschaftsbildung überhaupt nicht in der Lage, Einheiten über den unmittelbar familiären Bereich hinaus zu bilden, sondern würde sich im „natürlichen bellum onmium contra omnes“ aufreiben und in marginale Einzelteile zergliedern (ebd.; H.v. m.). Durch die Staatenbildung „concentrirt sich jener Trieb des bellum omnium contra omnes“ dagegen auf einige umso heftigere Kriege, wodurch sich in den Zwischenphasen für die Gesellschaft die Möglichkeit eröffnet, „unter der nach innen gewendeten zusammengedrängten Wirkung jenes bellum, allerorts zu keimen und zu grünen, um, sobald es einige wärmere Tage giebt, die leuchtenden Blüthen des Genius hervorsprießen zu lassen.“ (S. 772)
Auch im sozialen und politischen Bereich wird demnach der Kampf als Grundlage und treibende Kraft für eine Wachstums- und Steigerungsdynamik ausgemacht. Interessanterweise kann sich die dabei aufbauende Spannung nicht nur nach außen entladen, sondern sich auch nach innen wenden, und der jeweiligen Einheit somit eine interne Vielfältigkeit, eine Erhöhung ihrer (produktiven) 77 Gerhardt (1988a) weist zu Recht darauf hin, dass die fundierenden Widersprüche dabei nicht dialektisch vermittelt sind. Die Spannung wird nicht aufgehoben, sondern unter dem Primat einer Form ausgehalten und fließt in den Schaffensprozess ein (vgl. S. 35).
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Möglichkeiten und eine Steigerung über sich selbst hinaus überhaupt erst ermöglichen. An den bisherigen Ausführungen ist darüber hinaus deutlich geworden, dass Kampf für Nietzsche zwar eindeutig auch Krieg umfassen kann. Kampf ist dennoch nicht primär auf den „Krieg aller gegen alle“ oder gar auf wechselseitige Vernichtung ausgerichtet, sondern gerade auch auf schöpferische Veränderung, die allerdings immer auch eine gewisse Zerstörung des bisherigen Zustandes und die Zersprengung von Starrheit impliziert. Kampf ist darüber hinaus mit Wettkampf assoziiert und folglich mit einer gewissen Regelung und Kultivierung der antagonistischen Grundkräfte, auch aus sich selbst heraus. Explizit mit diesem Gedanken der Kultivierung eines vernichtenden Krieges durch den Wettkampf setzt sich Nietzsche auch in einer weiteren Vorrede, in Homer’s Wettkampf (1872) auseinander. Am Beispiel des Verhältnisses von vorhomerischer zu hellenischer Kultur thematisiert Nietzsche die Verbindung von Natur und Kultur, wobei ihm vor allem an der starken Einbindung der Kultur in die Natur gelegen ist. Humanität wird z. B. explizit in ihrer Verbindung zu den natürlichen Anlagen des Menschen gesehen: „Der Mensch in seinen höchsten und edelsten Kräften, ist ganz Natur und trägt ihren unheimlichen Doppelcharakter an sich. Seine furchtbaren und als unmenschlich geltenden Befähigungen sind vielleicht sogar der fruchtbare Boden, aus dem allein alle Humanität (. . .) hervorwachsen kann.“ (HW, 1, S. 783)
Wir bleiben als Menschen in allen unseren kulturellen Leistungen an die Natur gebunden, bleiben „ganz Natur“. Dieser „furchtbare“ Boden ist nichtsdestotrotz zugleich der „fruchtbare“, durch den wir über die Sphäre des grausamen Vernichtungskampfes hinausgelangen können. Für unseren Kontext ist die Bedeutung entscheidend, die Nietzsche dabei dem Wettkampf als Antrieb für die Kulturentwicklung Griechenlands einräumt: Er ist das entscheidende Movens für jede außergewöhnliche Leistung, sei es im Handwerk (N 1871/72, 16[8], 7, S. 396), im Sport, in der Dichtkunst, der Dramatik bzw. der Kunst allgemein, in der Rhetorik, der Sophistik, der philosophischen Dialektik oder im politischen Handeln (vgl. HW, 1, S. 788 ff.).78 „Jede Begabung muß sich kämpfend entfalten“ (ebd., S. 789), so der Leitspruch der hellenischen Erziehung. Dies umfasst den Vergleich mit Gegnern, das Messen von Kräften, die Erfahrung und Einordnung der eigenen Stärke sowie das erhebende Gefühl der Überwindung und des Sieges: „Der Kampf und die Lust des Sieges“ (S. 786) werden von den Griechen offiziell anerkannt und gutgeheißen, und der Staat muss mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, diesen Wettkampf als seinen „ewigen Lebensgrund“ (S. 788) aufrecht zu erhalten.
78
Vgl. z. B. auch M 544, 3, S. 315 f.
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Dies kann sogar soweit gehen, den einzelnen Besten aus der Gemeinschaft zu verbannen, weil unter einem eindeutig Überlegenen der Wettkampf insgesamt leiden könnte. Darin macht Nietzsche den ursprünglichen Sinn des Scherbengerichts aus, dessen Funktion er nicht in der eines „Ventils“, sondern vielmehr eines „Stimulanzmittels“ sieht: „(M)an beseitigt den überragenden Einzelnen, damit nun wieder das Wettspiel der Kräfte erwache“ (S. 789).79 Das ist ihm der „Kern der hellenischen Wettkampf-Vorstellung: sie verabscheut die Alleinherrschaft und fürchtet ihre Gefahren“ (ebd.). Eine dieser Gefahren ist, wie gesagt, das Erlahmen der besten Kräfte der Menschen, deren Ehrgeiz angestachelt werden muss, um sie zum Außergewöhnlichen zu bewegen. Eine weitere Gefahr, übrigens sowohl für den Einzelnen als für den Staat als ganzen, besteht in der „Entartung“: „(O)hne Neid Eifersucht und wettkämpfenden Ehrgeiz“ werden beide „böse und grausam“, „rachsüchtig und gottlos“, kurz: „vorhomerisch“, wie Nietzsche am Beispiel des Miltiades illustriert (S. 792). Der Wettkampf ist demnach gleichermaßen Steigerung und Mäßigung, er „entfesselt das Individuum: und zugleich bändigt er dasselbe nach ewigen Gesetzen“ (N 1871/72, 16[22], 7, S. 402; H.v. m.).80 Er knüpft hierbei an die basalen naturhaften Antriebe an und transformiert diese in eine kultivierte Sphäre. Dies macht seine zentrale Stellung und Funktion, gleichsam als Scharnier zwischen Natur und Kultur, aus.81 „Nehmen wir dagegen den Wettkampf aus dem griechischen Leben hinweg, so sehen wir sofort in jenen vorhomerischen Abgrund einer grauenhaften Wildheit des Hasses und der Vernichtungslust.“ (HW, 1, S. 791)
Dies kann laut Nietzsche auch die für moderne Menschen zunächst ungewöhnlich erscheinende positive Konnotation von „Eifersucht“, „Groll“ und „Neid“ als „gute Eris“ bei Hesiod plausibilisieren, die von der „schlimmen Eris“ des „Krieges“ und des „Haders“ abgegrenzt wird: Denn als solche reizt sie den Menschen zur Tat, „aber nicht zur That des Vernichtungskampfes, sondern zur That des W e t t k a m p f e s . “ (S. 786) Sie ist somit gut für den Menschen und befördert durch Konkurrenz dessen Entwicklung: „Sie treibt auch den ungeschickten Mann zur Arbeit; und schaut einer, der reich ist, so eilt er sich in gleicher Weise zu säen und zu pflanzen und das Haus wohl zu be79 Und durch diesen „Wetteifer der Staatsbürger unter einander (. . .) besteht der Staat.“ (N 1883, 7[92], 10, S. 273). Auch für die Herkunft sowie die Legitimierung von staatlichen Institutionen und insbesondere des Rechts ist das Prinzip des Kampfes somit von hoher Relevanz, wie auch Gerhardt (1996), S. 116 betont. 80 Der Wettkampf gilt Nietzsche als Erfindung der Freien und Mäßigen als „immer wachsende Verfeinerung“ des „Macht-Äußerungsbedürfnisses: durch den W e t t k a m p f wurde der Hybris v o r g e b e u g t : welche durch lange Unbefriedig des Machtgelüstes entsteht.“ (N 1883, 7[161], 10, S. 295) 81 Gerhardt (1996) spricht vom Kampf als der „immer wieder neu zu beschreitenden Brücke von der kriegerischen Natur in eine wettstreitende Kultur.“ (S. 118; H.v. m.)
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stellen; der Nachbar wetteifert mit dem Nachbarn, der zum Wohlstande hinstrebt. (. . .) Auch der Töpfer grollt dem Töpfer und der Zimmermann dem Zimmermann, es neidet der Bettler dem Bettler und der Sänger dem Sänger.“ (HW, 1, S. 786)82
Kurz aufgegriffen wird das Motiv der guten Eris auch in der letzten Schrift, die hier angeführt wird, um die Bedeutung des Agonalen bereits in dieser frühen Phase zu belegen, in der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen aus dem Jahr 1873. Dort heißt es mit Blick auf Heraklit, dass nur ein Grieche im Stande war, die „gute Eris“ zum „Weltprincip“ zu „verklären“ und in diesem Prinzip ein Fundament einer „Kosmodicee“ zu sehen: „(E)s ist der Wettkampfgedanke des einzelnen Griechen und des griechischen Staates, aus den Gymnasien und Palästren, aus den künstlerischen Agonen, aus dem Ringen der politischen Parteien und der Städte miteinander, in’s Allgemeinste übertragen, so daß jetzt das Räderwerk des Kosmos in ihm sich dreht.“ (PhtZ, 1, S. 825; H.v. m.)
Nietzsche hebt hervor, dass Heraklit das Werden aus dem „Krieg des Entgegengesetzten“ herleitet (ebd., S. 824).83 Alles uns fest Erscheinende drückt „nur das momentane Übergewicht Kämpfenden aus, aber der Krieg ist damit nicht zu Ende, das Ringen dauert in Ewigkeit fort.“ (S. 825; H.v. m.) Die Dinge selbst haben „gar keine eigentliche Existenz“, sondern sind „der Funkenschlag gezückter Schwerter“, „das Aufglänzen des Siegs, im Kampfe der entgegengesetzten Qualitäten.“ (S. 826) Alles Sein ist somit als Werden zu verstehen, bzw. als Wirken, wie Nietzsche unter Rückgriff auf Schopenhauer hinzufügt (vgl. S. 824). Jede Bewegung aber wird unter der „Form der Polarität“ begriffen, „als Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedne, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Thätigkeit“ (S. 825). Damit ist der Kampf „allem Werden eigenthümlich“ (S. 826), wie ebenfalls bei Schopenhauer zu sehen.84 Das „Eine“, nach dem die Vorsokratiker suchen und auf das alles zurückgeführt werden soll, ist als „Kampfspiel(.)“ (ebd.) und als „Streit des Vielen“ (S. 827) zu verstehen. Diese Ausführungen sollten hinreichen, um die Bedeutung zu untermauern, die der Aspekt der Agonalität bereits im frühen Werk Nietzsches innehat. Insbesondere der Entwurf einer gleichsam gegenstandsfreien Ontologie, die, ausgehend 82 Sowie der Künstler dem Künstler grollt, wie Nietzsche hinzufügt (HW, 1, S. 790; ausführlicher zu dieser Agonalität der Kunst bei Nietzsche auch Sowa (1999)). Hier klingt auch der kantische Gedanke von Ungeselligkeit und „bloßem Wetteifer“ als Grundlage kultureller Leistungen deutlich wieder an: „In völliger Einsamkeit wird niemand sich sein Haus schmücken oder ausputzen; er wird es auch nicht gegen die Seinigen (Weib und Kinder), sondern nur gegen Fremde tun; um sich vorteilhaft zu zeigen.“ (Anthropol., AA 7, S. 240) 83 Für Heraklit ist Krieg („polemos“, was auch Kampf, Schlacht oder Streit bedeutet) „von allem der Vater“. (DK 22, B 53). Zur Bedeutung von Gegensätzen vgl. u. a. auch die Fragmente DK 22 B 8, 10, 49, 60, 67, 88. 84 Vgl. zu den beiden Bezugnahmen auf Schopenhauer WWV I, § 4, S. 38 bzw. WWV I, § 27, S. 208.
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von Kampf als Motor des Geschehens, das Prozesshafte in den Mittelpunkt der Überlegungen und das Wirken über das Sein stellt, sowie der Versuch, alles auf Eines zurückzuführen, das aber letztlich seinerseits nur im Kampf und im Spiel des Vielen besteht, haben insgesamt Nietzsches Konzeption vom Willen zur Macht nachhaltig geprägt. Eine derartige Prägung konstatiert auch Ottmann: „Vor allem die frühe von Burckhardt übernommene Theorie der agonalen Kultur der Griechen darf als eine Lehre gelten, die Nietzsche immer wieder aufgegriffen hat. Der Kampf und das Übertreffen-Wollen als Grundlage einer hohen Kultur, als Weg einer ,gesunden‘ Versöhnung von Natur und Kultur, das ist im ,Willen zur Macht‘ enthalten.“ (Ottmann (1999), S. 352)
Die Bedeutung des Kampfes ließe sich auch in den nachfolgenden Schriften nachvollziehen. Dies kann nicht in allen Einzelheiten geschehen. Die bisherigen Ausführungen bilden aber auch den Hintergrund für Nietzsches Überlegungen zum Kraftbegriff als integralem Bestandteil des Willens zur Macht, an die hier noch einmal angeknüpft werden soll. Bereits in dem zuletzt zitierten Werk versucht er, das Kampfmotiv auf die moderne Physik zu übertragen und sieht, auch im Anschluss an Schopenhauer, „Materie“ als „Tummelplatz“ und „Gegenstand“ eines „Kampfes“ wechselseitiger „Naturkräfte“ an (PhtZ, 1, S. 826). Und einige Zeit später, in dem ebenfalls schon herangezogenen Exzerpt seiner Stewart-Lektüre, notiert sich Nietzsche: „Das Naturgesetz aller Einzelwesen ist sehr verwickelt, ob es nun lebende Wesen sind oder leblose Theilchen der Materie; eine große Schlacht wüthet, das Schlachtfeld ist uns oft verborgen; was die Einzelwesen darin thun, sehen wir nicht, aber das Ergebniß des Kampfes können wir beurtheilen, sogar oft voraussagen.“ (N 1875, 8, 182; H.v. m.)
Eine Seite weiter werden dann die „Moleküle in beständiger Bewegung und in Kampf auf einander stoßend“ beschrieben, „bis etwa ein Schlag mächtig genug ist“ sie zu trennen (N 1875, 8, 183; H.v. m.). Auch das Verhältnis der einander gegenüberstehenden und aufeinander wirkenden Kräfte wird demnach nicht als blindes Aufeinanderprallen, sondern als Kampf verstanden. Dies hat natürlich weitreichende Folgen für eine Theorie, die von einer Welt als Kräftekonstellation ausgeht. Denn Kampf wird damit eine grundlegende Kategorie für das Verständnis der gesamten Welt (s. u.). Außerdem hat ein derartiges Verständnis zwei weitere Implikationen: Erstens wird die menschliche Selbsterfahrung in den Kraftbegriff integriert. Denn Kampf im eigentlichen Sinn impliziert die spezifische Erfahrung bewusster Wesen (vgl. Gerhardt (1996), S. 117). Dies bestätigt die Diagnose aus dem ersten Teil, dass Nietzsche einen weiten Kraftbegriff vertritt, der u. a. die Definition von Kraft als „in Kampf und Widerstand erfahrene eigene und fremde Stärke“, wie es bei Hoffmeister (1988) heißt, umschließt (S. 362; H.v. m.). Erst von dieser Selbsterfahrung aus kann die Vorstellung vom Kampf dann in anthropomorpher Weise auf sämtliche Naturprozesse übertragen werden.
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Zweitens ist Kraft durch die Rede vom Kampf genau genommen immer schon in Richtung Wille und Macht gedacht. Insofern erhellt sich aus dieser Perspektive vielleicht auch noch einmal die im ersten Teil nachgezeichnete Gleichsetzung von Kraft und Wille.85 Kraft, als endogene, von innen heraus treibende Kraft, wird als „Willenskraft“ und „Willens-Wirkung“ verstanden (JGB 36, 5, S. 55). Diese Wirkung wird nun weniger nach einem abstrakten Ursache-Wirkungsschema gedacht, oder als ablaufend nach immergleichen Gesetzen der Natur, sondern als ein Ringen und ein Kampf zwischen verschiedenen willensartigen Kräften, die sich wechselseitig tarieren, sich reizen, sich erobern und überwinden wollen, um somit ihre Machtansprüche durchzusetzen. „Zwei aufeinander folgende Zustände: der eine Ursache, der andere Wirkung: ist falsch. (. . .) (E)s handelt sich um einen Kampf zweier an Macht ungleichen Elemente: es wird ein Neuarrangement der Kräfte erreicht, je nach dem Maß von Macht eines jeden.“ (N 1888, 14[95], 13, S. 273; vgl. z. B. auch N 1886/87, 7[54], 12, S. 313)86
Die Vorstellung eines Kampfes leitet somit automatisch in den Bereich der Macht über. Denn „kämpfen“ können nur Mächte: „Kräfte kämpfen nicht, sondern prallen aufeinander oder stoßen sich ab. Wo Kampf ist, da ist auch Macht.“ (Gerhardt (1996), S. 119)87 Und „(e)rst im Kampf werden Mächte zu dem, was sie sind, und bekommen „die Chance zum Übergang vom Widerspiel der Kräfte zum Gegeneinander der Mächte“ (ebd., S. 323). Damit wird, systematisch betrachtet, die zentrale Stellung des Kampfes in Nietzsches Machtkonzeption deutlich.88 Wille zur Macht konstituiert sich aus miteinander im Kampf liegenden, willensartigen Kräften, die sich in ihrem Kampf um Macht wechselseitig als Mächte etablieren. Durch die unterlegte Agonalität lässt sich nach Nietzsche jede wirkende Kraft als Wille zur Macht begreifen. Dieser Wille zur Macht umfasst, wie gesehen, sämtliche Daseinsbereiche. Kampf ist somit in allen Bereichen eine entscheidende, wenn nicht sogar die ent85 „(D)ie einzige K r a f t , die es giebt, ist gleicher Art wie die des Willens“ (N 1885, 40[42], 11, S. 650). 86 Gegen die Rede von „Gesetzen“ im physikalischen und chemischen Bereich wendet Nietzsche sich z. B. in JGB 22, 5, S. 37 sowie in N 1885, 36[18], 39[13], 40[55], 11, S. 559 bzw. S. 623, S. 655; N 1885/86, 2[139], 12, S. 135 f.; zum o. a. Reiz, nicht nur als eine Ursachenart neben anderen, sondern als „Wirkungsweise des Willens zur Macht schlechthin“ vgl. ausführlich Müller-Lauter (1999), S. 125. 87 Genau genommen wird man das Anthropomorphe natürlich auch in der Rede vom „Sichabstoßen“ nicht los, wie auch Nietzsche hervorhebt, der „Anziehen“ und „Abstoßen“ in „rein mechanischem Sinne“ als „vollständige Fiktion: ein Wort“ bezeichnet: „Wir können uns ohne Absicht ein Anziehen nicht denken.“ Ebenso wenig ein Abstoßen. Diese Einsicht führt dann gerade zu der konsequent anthropomorphen Interpretation der Anziehung bzw. Abstoßung als Kampf, nämlich als „Willen, sich einer Sache zu bemächtigen oder gegen ihre Macht sich zu wehren und sie zurückzustoßen“ (N 1885, 2[83], 12, S. 102 f.). 88 Daher schätzt Gerhardt (1996) die agonale Verfassung auch als erstes und wichtigstes formgebendes Moment der Macht ein (vgl. S. 323).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
scheidende Dimension: Nietzsche spricht vom „Kampf der Atome wie der Individuen“ (N 1885, 43[2], 11, S. 701; H.v. m.), die beide nicht absolut verstanden werden sollen, sondern in sich als agonal verfasst; im Menschen herrscht ebenso ein fortlaufendes Feststellen von Machtverhältnissen, ein „Kampf“, wie „schon in der Zelle“ (N 1885, 40[55], 11, S. 655; H.v. m.). Hier wird also weder die Größe als entscheidend angesehen – „Weltkörper“ und „Atome“ sind eben „nur größenverschieden“ (N 1885, 43[2], 11, S. 701; H.v. m.) – noch wird die Trennung zwischen organisch und anorganisch eingehalten, die Nietzsche, wie gesagt, als „Vorurtheil“ ansieht.89 Dennoch soll hier der Übersichtlichkeit halber eine gewisse Ordnung eingehalten werden, um im Folgenden einen Überblick über die ganze Bandbreite zu geben, innerhalb derer die Agonalität explizit thematisiert wird. Wollte man sozusagen von der elementarsten Ebene ausgehend zu komplexeren Gebilden voranschreiten, so müsste man wohl mit dem dynamischen Quantum Wille zur Macht beginnen, das – wie nun schon des Öfteren bemerkt – in einem „Spannungsverhältniß“ zu den anderen dynamischen Machtquanten liegt (N 1888, 14[79], 13, S. 259). Dieses Spannungsverhältnis, das wechselseitige „Wirken“ der Quanten aufeinander, durch das sie überhaupt erst bestehen, kann als ein Kampf und als ein Ringen gedeutet werden; Nietzsche stellt beispielsweise die suggestive Frage, ob der Mechanismus nicht „nur eine Zeichensprache für die i n t e r n e Thatsachen-Welt kämpfender und überwindender Willens-Quanta“ sei (N 1888, 14[82], 13, S. 262; kursiv v. m.). Explizit als ein solcher „Kampf“ wird generell auch das Verhältnis von Kräften zueinander benannt, wie die obigen Ausführungen gezeigt haben. Davon ausgehend, kann „(a)lles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden“, das Nietzsche als ein „Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen“ gilt, als „ K a m p f “ gedeutet werden (N 1887, 9[91], 12, S. 385). Dies gilt für die ebenfalls schon angesprochenen Ebenen der Atome sowie der Moleküle (vgl. N 1885, 43[2], 11, S. 701 bzw. N 1875, 9[2], 8, S. 183), für die gesamte unbelebte Welt bis hin zu Planeten: „Die Sonne: ihre Bewegungen sind Resultanten 1) vom Triebe, auf die Planeten los zu stürzen 2) dies bringt eine Annäherung an alle hervor 3) sich wehrend gegen eine stärkere Sonne“ (N 1885, 36[24], 11, S. 561).
Kampf ist essenziell auch für den Bereich des Lebendigen, von dem aus Nietzsche gerade auf den „Gesammtcharakter des Daseins“ (N 1888, 14[82], 13, S. 262) schließen möchte: Leben ist für Nietzsche ein Kampf zwischen Stärkerem und Schwächerem, ein „Kampfspiel“, in dem die „verschiedenen Kämpfenden“ ungleich wachsen (N 1885, 36[21] u. 36[22], 11, S. 560). Dieser Kampf resultiert aus den diversen Willen zur „Accumulation der Kraft“ sowie aus dem wechselseitigen „Streben nach Mehr von Macht“ (N 1888, 14[82], 13, S. 262), 89 Vgl. Teil 1 A.; dazu auch N 1885, 36[21], 11, S. 560; N 1884, 26[274], 11, S. 221.
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kurz: auf den Willen zur Macht. Leben ist Wille zur Macht und basiert als solcher „ w e s e n t l i c h auf Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens Ausbeutung“; es will „wachsen, um sich greifen, an sich ziehn, Übergewicht gewinnen“ (JGB 259, 5, S. 208), wodurch eine agonale Steigerungsdynamik initiiert wird, die sich nicht in einer reinen Selbsterhaltung erschöpft. Dieser Kampf lässt sich bereits auf zellulärer Ebene ausmachen (z. B. N 1883, 7[95], 10, S. 274; N 1885, 40[55], 11, S. 655), ja bereits das Protoplasma wird als „eine Vielheit von miteinander kämpfenden Wesen“definiert (N 1885, 45[59], 11, S. 537; H.v. m.). Nietzsche spricht unter dem Eindruck der zweiten Phase seiner Roux-Lektüre von einem „Kampf der Gewebe“ als regulierendem Prinzip für die Ausgestaltung eines funktionstüchtigen Organismus (N 1883, 7[190], 10, S. 302 f.).90 Der Organismus besteht für ihn ausdrücklich „durch K a m p f .“ (N 1883, 7[174], 10, S. 299; H.v. m.) Das Individuum wird als „Kampf der Theile (um Nahrung, Raum usw.)“ konzipiert, und dessen „Entwicklung geknüpft an ein S i e g e n , Vo r h e r r s c h e n einzelner Theile, an ein V e r k ü m m e r n , ,Organwerden‘ anderer Theile.“ (N 1886/87, 7[25], 12, S. 304) Folgerichtig hat das Agonale seine Bedeutung auch für den menschlichen Leib: Nietzsche sieht auch „jene kleinsten lebendigen Wesen, welche unseren Leib constituieren (richtiger: von deren Zusammenwirken das, was wir ,Leib‘ nennen, das beste Gleichniß ist) (. . .) als etwas Wachsendes, Kämpfendes, Sich-Vermehrendes und Wieder-Absterbendes“ an (N 1885, 37[4], 12, S. 579; H.v. m.).
Der Leib wird somit nach Art eines Gemeinwesens begriffen, mit Regent und Regierten sowie ihren wechselseitigen Abhängigkeiten, mit Rangordnungen und arbeitsteiligen Funktionen als „Ermöglichung zugleich der Einzelnen und des Ganzen“; der immer mitgedachte „Kampf“ drückt sich daher auch in „Gehorchen“ und „Befehlen“ aus (N 1885, 40[21], 11, S. 638). „Gehorchen“ und „Befehlen“ werden geradezu als grundlegende „Formen des Kampfspiels“ angesehen, wobei zu beachten ist, dass „auch im Gehorchen ein Widerstreben liegt“, ebenso wie „im Befehlen ein Zugestehen“, dass der Gegner nicht vollständig einverleibt und assimiliert ist, sondern noch über einen Rest „Eigenmacht“ verfügt (N 1885, 36[22], 11, S. 561; auch N 1884, 26[76], 11, S. 222). 90 Vgl. dazu ausführlich Müller-Lauter (1999), S. 97–140. Dieser macht zwei Phasen der Rezeption von Roux’ „Der Kampf der Theile im Organismus“ bei Nietzsche aus: Eine erste relativ bald nach dem Erscheinen des Buches im Februar des Jahres 1881, da sich erste Aufzeichnungen bereits im Frühjahr bis Herbst 1881 feststellen lassen. Sowie eine zweite Phase noch intensiverer Lektüre in der Zeit vom Frühjahr bis Sommer 1883. 1884 finden sich dann kritische Bemerkungen zu Grundbestimmungen von Roux, die laut Müller-Lauter (1999) auf Nietzsches „Reduktion aller organischen Prozesse auf den Willen zur Macht“ zurückzuführen ist (S. 101).
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Vom Ausgangspunkt dieses „soziomorph“ (Gerhardt (1996), S. 214) verstandenen Leibes her sowie an dessen Leitfaden möchte Nietzsche auch das Subjekt begreifen, das er – bei aller Kritik an einem substanziellen Verständnis von Subjekt, Ich oder Seele – nicht einfach verwirft, sondern zumindest hypothetisch als „Vielheit von Subjekten“ denkt, „deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zu Grunde“ liegen könnte (N 1885, 40[42], 11, S. 650; H.v. m.; JGB 12, 5, S. 27). So gibt es beispielsweise einen „Kampf“ zwischen verschiedenen Trieben, die ungefähr gleich stark in verschiedene Richtungen drängen (N 1880, 6[83], 9, S. 216). Diese bewussten Triebe fußen jedoch nach Nietzsche ihrerseits auf einem unbewussten Fundament, auf dem sich ein viel tieferliegender Kampf abspielt. Das, was uns bewusst wird, ist bereits Ergebnis und Ausdruck dieses unbewussten Kampfes, der uns selbst in seinem Ablauf verborgen bleibt.91 Gleiches lässt sich für unsere Gedanken sagen, deren „Kampf“ unter dem „Tisch unseres Bewußtseins“ uns verborgen bleibt (N 1885, 2[103], 12, S. 112). Und auch die individuelle Empfindungsfähigkeit und Produktivität wird auf starke innere Gegensätze und den „heftigen Kampf derselben“ zurückgeführt (N 1880, 6[58], 9, S. 207 f.; H.v. m.).92 So wie die Stellung unserer Tugenden zueinander, die aus den Leidenschaften erwachsen sind, als Kampf angesehen wird (vgl. ZA I, 4, S. 43). Zusammenfassend ist zu sagen: Der Mensch insgesamt lässt sich als „Vielheit“ verstehen, die durch eine komplexe „Unter- und Einordnung der Theile zu einem Ganzen“ gekennzeichnet ist (N 1884, 27[8], 11, S. 276). Dieser „wunderbare(.) Verkehr(.)“ (ebd.) zwischen diesen Teilen ist zu einem Gutteil als eine Auseinandersetzung zu begreifen, bei der es um Herrschen und Gehorchen geht, sowie um „Kampf und Sieg“ (N 1884, 27[27], 11, S. 282). Eine Auseinandersetzung, von der wir weitestgehend „unbehelligt bleiben“: In unser Bewusstsein dringt nicht viel „von dem Lärm und Kampf, mit dem unsere Unterwelt von dienstbaren Organen für und gegen einander arbeitet“ (GM II, 1, 5, S. 291; H.v. m.). Im Menschen herrscht demnach auf den unterschiedlichsten Ebenen, bewusst und unbewusst, ein grundsätzlicher Kampf, „vorausgesetzt, daß man dies Wort so weit und tief versteht, um auch das Verhältniß des Herrschenden zum Beherrschten noch als ein Ringen, und das Verhältniß des Gehorchenden zum Herrschenden noch als ein Widerstreben zu verstehen.“ (N 1885, 40[55], 11, S. 655)
91 Vgl. z. B. N 1880, 6[70], 10, S. 209 ff.; N 1884, 27[27], 11, S. 282; auch N 1885, 37[4], 11, S. 579. 92 Nietzsche führt auch seine eigene Produktivität auf Gegensätze zwischen seinen Vermögen zurück, „ohne dass diese sich stören durften. Rangordnung der Vermögen; Distanz; die Kunst zu trennen, ohne zu verfeinden; Nichts vermischen, Nichts ,versöhnen‘; eine ungeheure Vielfalt, die trotzdem das Gegenstück zum Chaos ist“ (EH, 6, S. 294).
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Der Mensch in seiner lebendigen, leiblichen Existenz wird von Nietzsche also als „Herrschafts-Gebilde“ konzipiert. Andersherum werden soziale Gemeinschaften von ihm nach Art von lebendigen Einheiten begriffen, mit den entsprechenden Implikationen bezüglich der Bedeutung von Agonalität. Er spricht von einem „Körper“, der sich „zwischen Individuen“ bildet, sowie von dessen macht- und kampfgeprägtem Ausbeutungsverhältnis zu anderen derartigen Körpern (JGB 259, 5, S. 207). Zur grundsätzlichen Erfassung der Dynamik des Willens zur Macht, seine Macht erweitern zu wollen und dafür auch auf „fremde Kräfte“ auszugreifen und sich diese einzuverleiben, gilt es Nietzsche daher „gleich, ob man ein Individuum oder einen lebendigen Körper, eine aufwärtsstrebende ,Gesellschaft‘ ins Auge faßt.“ (N 1888, 14[192], 13, S. 378 f.) So kann bei der Rede vom Organismus durchaus auch der „Organismus“ gemeint sein kann, der sich zwischen Menschen bilden kann: „Fortwährend, wo Lebendiges zusammenkommt, entsteht das Einwirken auf einander und ein Zusammentreten mit dem Versuche, ob da ein Organismus sich bilden kann. So M zu M.“ (N 1883, 7[174], 10, S. 299)93
Auch von „Mensch zu Mensch“ herrscht demnach zumindest prinzipiell ein Kampf vor, auch wenn dieser bei entsprechenden Bedingungen, wie Ähnlichkeit der Kraftmenge und Wertmaße sowie eine hohe Zusammengehörigkeit, nicht zur gegenseitigen Verletzung und Gewalt innerhalb der sozialen Gemeinschaft führen muss (JGB 259, 5, S. 207). Aber eine gewisse Gegensätzlichkeit und Spannung zwischen den Individuen ist auch hier immer notwendig für die Erzeugung von Produktivität und Dynamik (vgl. N 1880, 6[58], 9, S. 208). Diese basale Agonalität kommt innerhalb des menschlichen Zusammenlebens in den unterschiedlichsten Bereichen zum Vorschein. Beispielsweise, wenn man den Weg der individuellen Selbstermächtigung in den Blick nimmt, der nur über „eine große Loslösung“ von anderen und der „Sittlichkeit der Sitte“ möglich ist.94 Nicht ohne Grund wählt Nietzsche im Zarathustra für diese Stufe nach der zweiten Verwandlung das Bild des Löwen („Ich will“), der sich in Auseinandersetzung mit dem Drachen („Du sollst“) seine Freiheit gegen Widerstände erkämpfen und erschaffen muss (ZA I, 4, S. 30).95 93 Zur Vorstellung eines „Volkes“ als „Leib“ auch N 1886/87, 7[9], 12, S. 296. „Einzeln lebende Menschen, wenn sie nicht zu Grunde gehen, entwickeln sich zu Gesellschaften, eine Menge von Arbeitsgebieten wird entwickelt, und viel Kampf der Triebe um Nahrung, Raum und Zeit ebenfalls.“ (N 1881, 11[130], 9, S. 488) Auch Müller-Lauter (1999) weist darauf hin, dass Nietzsche wechselseitig organische Gebilde als soziale Organisationen und soziale Formationen als Organismen auffasst (vgl. S. 133). 94 Vgl. MA I, Vorrede § 3, S. 15 f.; M 9, 3, S. 21 oder FW 296, 3, S. 536 f.; ausführlich dazu auch Himmelmann (1996), S. 148 ff.; (2002), S. 17 f.; (2005), S. 35 ff. 95 So wie generell „(j)eder kleinste Schritt auf dem Felde des freien Denkens, des persönlich gestalteten Lebens (. . .) von jeher mit geistigen und körperlichen Martern erstritten worden [ist]: nicht nur das Vorwärtsschreiten, nein! vor allem das Schreiten,
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Des Weiteren ließe sich das Verhältnis der Geschlechter mit ihrem jeweiligen „Wille[n] der Macht“ anführen (N 1880, 6[57], 9, S. 207), das Nietzsche als „immer neu auflodernden Kampf“ (N 1876/77, 23[20], 8, S. 411) charakterisiert, als „fortwährende[n] Kampfe“ mit „nur periodisch eintretender Versöhnung“ (GT 1, 1, S. 25), der ihm in seiner „Duplicität“ und Produktivität zum Bild für das Apollinische und Dionysische wird (s. o.). Eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Bereich kommt der Agonalität darüber hinaus beim Kampf der Werte zu, wie Nietzsche ihn beispielsweise in der Genealogie der Moral nachzeichnet, z. B. der „ e n t g e g e n g e s e t z t e n Werthe ,gut und schlecht‘, ,gut und böse‘“, die laut Nietzsche „einen furchtbaren, Jahrtausende langen Kampf auf Erden gekämpft“ haben, der trotz Übergewichts des zweiten Werts, an einigen Stellen noch „unentschieden fortgekämpft wird“ (GM I, 16, 5, S. 285)96 sowie beim „Kampfe verschiedener Moralen“ (N 1883, 7[183], 10, S. 301; H.v. m.), der zugleich ein „Mittel ihrer Ausbildung“ anzusehen sei (ebd. 7[170], S. 297).97 Eine Konsequenz dieser Kämpfe ist nach Nietzsche, dass sich der Kämpfende seinen Gegner in der Vorstellung „zu seinem G e g e n s a t z “ umbildet (N 1887, 10[195], 12, S. 573).98 Da dies ausdrücklich auch für Einzelne gilt, macht Nietzsche folgerichtig auch innerhalb von Gruppen einen latenten Kampf aus, beispielsweise in der „aristokratischen Gesellschaft, in der eine „extreme Spannung“ herrscht, die aus den einander entgegengesetzten „Willen(.) zur Herrschaft“ resultiert, und die er als notwendig erachtet, „um zwischen ihren Mitgliedern den hohen Grad an Freiheit zu erhalten“ (N 1888, 11[140], 13, S. 65). Zwischen Gemeinschaften und Gruppen, sowie zwischen Einzelnen innerhalb der Gruppen kommt es demnach zum Kampf, u. a. um die „richtigen“ Werte. Welche Werte und welche Moralen sich dabei durchsetzen und etablieren, hängt von der Konstellation der Willen zur Macht ab.99 Diese die Bewegung, die Veränderung hat ihre unzähligen Märtyrer nötig gehabt.“ (M 18, 3, S. 31; H.v. m.) Ein gewisser Kampf findet sich in diesem Zusammenhang auch in der Stellung, die wir zu unseren Antrieben (die, wie gesagt, selbst im ständigen Kampf miteinander liegen) und in Auseinandersetzung mit diesen finden müssen, ohne dass Nietzsche diese Auseinandersetzung allerdings als ein Ausmerzen der Triebe verstanden wissen möchte, wie er es dem Christentum unterstellt und vorwirft (vgl. z. B. GD 1. u. 2., 6, S. 83); Vielmehr sei die Aufgabe, „die guten Triebe so zu stellen, daß sie Hunger bekommen und sich bethätigen müssen.“ (N 1883, 7[88], 10, S. 273; zu verschiedenen Methoden hierfür s. M 109, 3, S. 96 ff.) 96 Auch in diesem Kampf ist im Übrigen eine Sublimierung zu verzeichnen: „Man könnte selbst sagen, dass er inzwischen immer höher hinauf getragen und eben damit immer tiefer, immer geistiger geworden sei: so dass es heute vielleicht keine entscheidenderes Abzeichen der ,höheren Natur‘, der geistigeren Natur giebt, als (. . .) wirklich noch ein Kampfplatz für jene Gegensätze zu sein.“ (GM I, 16, 5, S. 285; H.v. m.) 97 Dazu auch N 1883, 7[99], 10, S. 276. 98 „Jede kleine im Kampf befindliche Gemeinschaft (selbst Einzelne) sucht sich zu überreden: ,w i r h a b e n d e n g u t e n G e s c h m a c k , d a s g u t e U r t h e i l u n d d i e T u g e n d f ü r u n s ‘ . . . Der Kampf zwingt zu einer solchen Ü b e r t r e i b u n g d e r S e l b s t s c h ä t z u n g . . .“ (N 1887, 10[195], 12, S. 573).
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liegen der Art und Weise, wie sich Einzelne zu Gruppen „organisiren“ ganz generell zu Grunde, wodurch Kampf und Konflikt zu einem „unabdingbare[n] Medium“ (Gerhardt (1988d), S. 104) menschlicher Gruppenbildungs- und Austauschprozesse werden (vgl. N 1887, 10[82], 12, S. 502 ff.). Dass darüber hinaus aus Nietzsches Sicht nicht nur Einzelne und gesellschaftliche Gruppierungen auf dem Prinzip der Agonalität basieren, sondern auch ganze staatliche Gebilde sowie die Kunst und Kultur einer Gesellschaft, dafür sollten die Ausführungen zu Beginn des Kapitels hinreichend Belege geliefert haben. Von seinem späteren Werk aus rückblickend, lässt sich mit Nietzsche der dargelegte Agon mitsamt seiner Bedeutung für die griechische Kulturentwicklung als Erscheinungsform des Willens zur Macht deuten (vgl. Kaufmann (1988), S. 223 f.).100 Resümierend kann festgestellt werden, dass Agonalität, systematisch betrachtet, ein zentrales Strukturmerkmal des Willens zur Macht ist. Als ein solches Strukturmerkmal tritt Agonalität in sämtlichen Bereichen auf, die vom Willen zur Macht abgedeckt werden. Und dies sind, auf Grund von dessen Universalität, alle möglichen Bereiche, wie hier ausführlich illustriert. Damit ist die Eingangsthese bestätigt, dass sowohl für die Mikropolitik als auch für Nietzsche die Agonalität ein zentrales Merkmal in der jeweiligen Machtkonzeption darstellt. Die Bedeutung, die ihr implizit und explizit eingeräumt wird, kann somit als eine grundlegende Übereinstimmung der beiden Ansätze angesehen werden. Allerdings gibt es auch beträchtliche Unterschiede. Erneut ist auf die unterschiedliche Reichweite der Konzepte zu verweisen, die sich gerade beim Merkmal der Agonalität sehr deutlich zeigt: Nietzsches Theorie vom Willen zur Macht als Grundlage einer Welt, die auf kämpferischer Entzweiung sowie den anschließenden produktiven Kampf zwischen den gegensätzlichen Mächten basiert, umfasst schlicht das gesamte Universum vom kleinsten Machtquantum über planetare Konstellationen bis hin zu lebendigen und sozialen Einheiten und Gebilden, während die Mikropolitik auf den sozialen Bereich von Organisationen und den sich zwischen ihren Mitgliedern aufspannenden Machtbeziehungen fokussiert ist. Antagonismus und Krieg sind somit für Nietzsche „Daseins- und Steigerungsbedingungen“ nicht nur vom Menschen, sondern – viel allgemeiner – insgesamt von 99 Wobei der Kampf verschlungene Wege gehen kann, wie Nietzsches Ausführungen in der Genealogie der Moral zeigen. Dazu ausführlich Stegmaier (1994); Höffe (2004); Raffnsoe (2007). 100 „Zu den mächtigsten Faktoren des Fortschritts eines Staates“ gehört laut Nietzsche dabei ausdrücklich „nicht nur der Kampf mit Nachbarvölkern“, also der nach außen sich entladende Wille zur Macht einer Gemeinschaft, „sondern auch die Concurrenz der Mitglieder eines Standes und die C o n c u r r e n z d e r S t ä n d e selber“ (N 1883, 7[191], 10, S. 303; kursiv v. m.), folglich der nach innen gewendete Wille zur Macht.
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„festen und dauerhaften Complexen, welche ihre Widersacher von sich abtrennen. Der Krieg, der damit geschaffen wird, ist das Wesentliche daran.“ (N 1887, 10[194], 12, S. 573)101
Der letzte Satz verweist auf einen weiteren Unterschied, der m. E. darin zu sehen ist, dass bei Nietzsche der Krieg einen höheren Stellenwert einnimmt, als in der Mikropolitik. Dies äußert sich bei ihm auch in der Weise, wie er sich selbst als „kriegerisch“ stilisiert (EH, 6, S. 274), was mit einem teilweise aggressiven Pathos einhergeht sowie in der häufig positiven und unkritischen Konnotation des Krieges.102 Vergleichbares lässt sich in der hier im Fokus stehenden Mikropolitikliteratur nicht finden. Krieg, Grausamkeit und Gewalt bilden bei Nietzsche daher m. E. eindeutiger als bei Küpper und Ortmann die Basis von Machtverhältnissen: „(D)ie Gewalt gehört zur Macht wie die Körperlichkeit zum Leben. Sie ist die Bühne für den Auftritt der Macht.“ (Gerhardt (1996), S. 150) Allerdings ist oben, u. a. am Beispiel der zwei Eris gezeigt worden, dass Kampf und Krieg für Nietzsche nicht auf Gewaltverhältnisse reduzierbar sind: Auch Gerhardt fügt im direkten Anschluss hinzu, dass die „enge Beziehung zwischen Macht und Gewalt (. . .) nicht zu ihrer Verwechselung führen“ darf.103 Es geht immer auch darum, sich widersprechende, entgegengesetzte und entfesselte Kräfte „neu zu binden, daß sie sich nicht gegenseitig vernichten“, wie Nietzsche in einem der vielen Werkentwürfe zum Willens zur Macht notiert; nur auf diese Weise scheint eine „wirkliche V e r m e h r u n g an Kraft“ realisierbar (N 1885, 2[100], 12, S. 110). Ebenso ist zu berücksichtigen, dass Mikropolitik gewaltsame Verhältnisse nicht ausklammert oder leugnet, wie oben durch Spiele, die physische und psychische Gewaltausübung beinhalten können, angedeutet worden ist. Auch Momente struktureller Gewalt werden, u. a. im Anschluss an Galtung (1975), in den Diskurs aufgenommen.104 Noch wichtiger als der Terminus „Krieg“ erscheint mir, dass dieser von Nietzsche im obigen Zitat als das „Wesentliche“ bezeichnet wird. Als dritter und letzter Unterschied kann daher festgestellt werden, dass bei Nietzsche der Kampf
101 Nach Abel (1984) geht es daher eher um den Erhalt des „Kampf-Geschehen[s] selbst“ als um den Erhalt einzelner Wesen (vgl. S. 118). 102 Beispielsweise als „grosse Klugheit“ (GD, 6, S. 57), als Voraussetzung für das „grosse Leben“ (GD, 6, S. 84) oder als „grosser Krieg“ einer Umwertung der bisherigen Werte (EH, 6, S. 350). 103 „Macht ist ein komplexes Phänomen, das über die physische Kraftentfaltung immer schon hinaus ist. Nur deshalb kann Nietzsche den Anteil der Bewertung, Schätzung, Mutmaßung so hoch veranschlagen.“ (Gerhardt (1996), S. 150) Zu weit geht aber Taureck (1976), der „Macht“ kategorial von „Gewalt“ trennen und somit einen „anderen Weg zum Verständnis Nietzsches“ eröffnen möchte, was Gerhardt (1996, S. 150) zu Recht kritisiert. 104 Vgl. z. B. Neuberger (1995); Ortmann et al. (1990).
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insgesamt, der eben auch als Wettstreit auftreten kann, eine noch größere Bedeutung zugeschrieben bekommt als in der Mikropolitik. Bei aller Relevanz, die der Auseinandersetzung auch innerhalb der letzteren eingeräumt wird, beispielsweise als Motor für Innovation und organisationale Entwicklung, wird doch der Kampf selbst nie als das Wesentliche angesehen. Nach Crozier/Friedberg wird „A (. . .) nicht bloß deshalb eine Machtbeziehung zu B aufnehmen, weil er seine Kräfte mit ihm messen will.“ (S. 41) Es geht ausdrücklich nicht um einen Kampf um seiner selbst willen, sondern Kämpfe werden als Folge von Interessengegensätzen angesehen. Ihr Auftreten wird nicht psychologisch plausibilisiert, sondern durch die Aufdeckung und Rekonstruktion von konfliktionären Spielstrukturen, die ihn unter bestimmten Umständen strategisch sinnvoll werden lassen. Der Kampf selbst wird dabei als Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele und zur Durchsetzung von Interessen gesehen, nicht als Selbstzweck. Hier ist ein deutlicher Unterschied zu Nietzsche festzuhalten, der den „Kampf um des Kampfes willen“ ausdrücklich als notwendig erachtet und noch über den Kampf um bestimmte Interessen, das Leben oder die Ernährung stellt (N 1884, 26[276], 11, S. 222). Das Lebendige will und muss seines Erachtens seine Kraft auslassen.105 Bei diesen Kraftauslassungen geht es laut Müller-Lauter (1999) um Macht und nichts anderes (S. 120). Durch die enge Kopplung von Kampf und Macht rückt daher der Machtkampf um seiner selbst willen bei Nietzsche stärker in den Mittelpunkt als in der Mikropolitik. Daran schließt sich überleitend zum nächsten Kapitel die Frage an, ob Nietzsches starke Betonung eines derartigen Kampfes und eines Strebens nach einer – wenn auch nicht gegenständlich-statisch verstandenen – Macht um ihrer selbst willen nicht dem mikropolitischen Verständnis von Macht als Schmier- bzw. „Rohstoff“ sozialer Beziehungen widerspricht (Crozier/Friedberg (1993), S. 14), also von einem Verständnis von Macht als Mittel und nicht als Selbstzweck.106 Auch Giddens (1979) spricht etwa davon, dass „power itself“ (S. 91) keine Ressource darstellt und somit nicht ihr eigenes Ziel sein kann (vgl. dazu auch Mann (1990), S. 21). Und im mikropolitischen Verständnis stehen letztlich immer an-
105 Schon früh thematisiert er die „Lust durch Zerbrechen von Zweigen, Ablösen von Steinen, Kampf mit wilden Tieren und zwar, um unserer Kraft dabei bewusst zu werden“ (MA I, 103, 2, S. 100) – und somit letzten Endes uns selbst. Künstlerisch aufgegriffen wird dieser Zusammenhang von H.-P. Klie (2000), der anlässlich seiner Installation mit 333 abgeschliffenen Steinen von einem Stein spricht, „den man spielerisch auf den Boden wirft, um sich seiner Existenz und damit auch seines eigenen Selbst zu versichern“ (S. 82). Auf Personen übertragen, verspüren wir laut Nietzsche eine „Lust der Befriedigung in der Ausübung der Macht“ (MA I, 103, 2, S. 100). 106 Für Mann (1990) kann „Macht als solche (. . .) de facto gar nicht als ursprüngliches menschliches Ziel gelten. Erst wenn sie sich als ein wirksames, effektives Mittel zur Erreichung anderer Ziele erweist, erst dann wird sie um ihrer selbst willen erstrebt. Das Machtbedürfnis ist ein emergentes Bedürfnis, das sich im Verlauf der Bedürfnisbefriedigung erst einstellt.“ (Mann (1990), S. 21)
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dere Interessen des Akteurs im Vordergrund und weniger die „Machterhöhung“ als solche: „Dies schließt Machtstreben (. . .) als ein (intrinsisches) Interesse an ,Macht an sich‘ zwar nicht aus; ein solches Interesse muss aber – wie andere Interessen auch – im jeweiligen Handlungskontext nachweisbar sein oder Sinn machen.“ (Küpper/Felsch (2000), S. 26)
Meiner Meinung nach ist hier durchaus ein klarer Unterschied in beiden Ansätzen zu verzeichnen und festzuhalten. Nietzsche räumt dem Machtstreben als solchem einen Raum und eine Bedeutung ein, die es in den organisationstheoretischen Konzepten in dieser Weise nicht bekommt. Dies hat wohl auch mit den angesprochenen Unterschieden in Bezug auf den Ausgangspunkt der Überlegungen zu tun, der bei Nietzsche eben psychologischer Natur ist. Allerdings tut sich m. E. dennoch eine weitere Verbindung der Konzepte auf, wenn man sich die andauernde Mittelhaftigkeit der Macht vergegenwärtigt, die in beiden Ansätzen auszumachen ist, und die eine gewisse Einordnung der Rede von Macht als Selbstzweck mit sich bringt. Dies soll im folgenden Kapitel geschehen. Das sich daran anschließende Kapitel widmet sich dann der Intentionalität von Macht, die sozusagen die andere Seite der Medaille darstellt, ohne die Instrumentalität, streng genommen, gar nicht gedacht werden kann. 4. Instrumentalität der Macht Macht ist ein Mittel, um etwas zu erreichen. Bereits in der Einleitung wurde im Zuge von generellen Überlegungen zum Begriff der Macht deren instrumenteller Charakter hervorgehoben. Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass Macht als Vermögen zu wirken weder gleichzusetzen ist mit der konkreten Wirkung selbst, noch mit der sie auslösenden Ursache. Allerdings muss man, um Macht ausüben zu können, Ursache-Wirkungsrelationen erkennen (oder zumindest annehmen) und sich aktiv in diese einbringen können (vgl. Hampe (2006), S. 21). Wird eine der unterstellten Wirkungen als wünschenswerter Zustand betrachtet und somit zu einem Ziel des eigenen Handelns, so kann die entsprechende Ursache als Mittel zur Zielerreichung dienen. Macht ermöglicht nun die Herbeiführung dieser Ursache, könnte in gewissem Sinn also selbst als ein Mittel angesehen werden, mit dem Ursachen zu erwünschten Wirkungen bzw. Mittel zu Zwecken herbeigeführt werden können. Da dies auf Grund der Universalität von Macht für jede beliebige Mittel-Zweck-Verbindung gilt, kann Macht auch als ein allgemein einsetzbares Mittel gelten. Machtbeziehungen stellen sich uns immer in irgendeiner Weise als instrumentell verfasste Beziehung dar, bei dem ein Akteur andere (und anderes) zu seinem Mittel machen will, und andersherum. Als solches hat Macht, wie andere vielseitig einsetzbare Medien auch, die Tendenz zur Verselbstständigung.107 Sie wird dann um ihrer selbst willen angestrebt, das Mittel wird zum (Selbst-)Zweck.
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Dies lässt sich auch bei Nietzsche nachvollziehen. Zunächst einmal ist zu konstatieren, dass Machtverbindungen bzw. Konstellationen von Willen zur Macht auch bei ihm sehr häufig als instrumentelle Beziehungen angesprochen werden. Und zwar wiederum auf den unterschiedlichsten Ebenen: Ein Atom nutzt im Kampf mit einem anderen dieses als Mittel, um seine Kraft zu vermehren (vgl. N 1885, 43[2], 11, S. 702). Jede lebendige Kraft braucht andere Kräfte, auf die es ausgreifen, und die es in sich „hineinnehmen“ kann als Mittel zur Steigerung und Erweiterung seiner Macht (N 1888, 14[192], 13, S. 378). Der oben zitierte „Kampf der Gewebe“ wird von Nietzsche, in Anlehnung an Roux als „funktionelle Selbstgestaltung“ aufgefasst (N 1883, 7[190], 10, S. 303). Die kampf- und machtgeprägte Verbindung der einzelnen Teile im Organismus ist hierbei als Verhältnis anzusehen, bei dem sich die Teile wechselseitig zu Mitteln ihrer eigenen Erhaltung und Steigerung werden. So wie sich auch in Bezug auf das Ganze des Organismus, mit dessen Existenz die der Teile steht und fällt, ein derartiger instrumenteller Zusammenhang herstellen lässt: „Das Z u s a m m e n w a c h s e n von Organismen“ wird von Nietzsche explizit „als Mittel, das einzelne Wesen länger zu erhalten“ gedeutet (N 1884, 26[157], 11, S. 191; H.v. m.). Die einzelnen Teile, die „dienstbaren Organe“, arbeiten also zugleich „für und gegeneinander“ (GM II, 3, 5, S. 295). Beim Organismus geht es immer darum, dass Fremdes einverleibt, assimiliert oder zu einem Organ – also wörtlich zu einem Werkzeug und Instrument – umfunktioniert wird. Der Wille zur Macht spezialisiert sich „nach W e r k z e u g e n , nach Dienern“ (N 1885, 35[15], 11, S. 514).108 Und auch ein Subjekt kann sich ein „schwächeres Subjekt, ohne es zu vernichten, zu seinem Funktionär umbilden und bis zu einem gewissen Grad mit ihm zusammen eine neue Einheit bilden.“ (N 1887, 9[98],12, S. 392) Allgemein gesprochen, kann eine geringere Macht demnach als „Funktion“ der größeren Macht arbeiten und als deren Mittel dienen (N 1887, 9[91], 12, S. 386). Aber auch die andere Richtung denkt Nietzsche zumindest hypothetisch an, und zwar in der Weise, dass auch die schwächere Seite versucht, die Stärkere zu instrumentalisieren, beispielsweise um ihre „Nahrungsnoth“ zu lindern und bei dem Stärkeren „unterzuschlüpfen“ (N 1885, 36[21], 11, S. 560). 107 Für Geld ist diese Tendenz der Entwicklung vom „charakterlosen“, d. h. universal einsetzbaren Mittel zum Selbstzweck u. a. von Simmel (2006) expliziert worden. Zur Ähnlichkeit von Geld und Macht in diesem Punkt auch Gerhardt (1996), S. 17 sowie Bourdieu (2000), S. 36. Bereits Kant nennt Geld ein allgemeines Mittel, das auf Grund seines Einflusses den Namen des „Vermögens“ erhalten hat und sieht klar die Tendenz zur Verselbständigung in der „Habsucht“, die auf den „bloßen Besitze“ auch ohne „Genuß“ oder „Gebrauch“ zielt. (Anthropol., AA 7, S. 274) 108 Hierzu z. B. auch N 1883, 7[174], 10, S. 299; N 1886/87, 7[25], 12, S. 304. Bei der Bildung eines Organs handelt es sich nach Nietzsche um eine Interpretation, die selbst wiederum als ein „ M i t t e l “ bezeichnet wird, um über etwas Herr zu werden (N 1885/86, 2[148], 12, S. 139 f.).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Derartige instrumentelle Verbindungen ließen sich für weitere Ebenen und für diverse Zusammenhänge aufzeigen, beispielsweise für die menschlichen Machtverhältnisse zwischen Einzelnen und Vielen, wobei für Nietzsche die Vielen meist „nur Mittel“ für die Wenigen sind (N 1886, 7[9], 12, S. 294 ff.) und z. B. in Form der Gattung als Mittel für die Individuen oder in Gestalt der Herde als „Mittel“ für den starken Einzelnen fungieren (N 1886, [26], 12, S. 244 f.). Die Menge ist demnach das „Werkzeug“, um die mächtigsten Individuen hervorzubringen, wozu eine strikte Arbeitsteilung nötig ist, die man mit Nietzsche auch als „Sklaverei“ benennen kann: „der höhere Typus nur möglich durch H e r u n t e r d r ü c k u n g eines niederen auf eine Funktion“, wie er notiert (N 1885/86, 2[76], 12, S. 96 f.). Instrumentalität ist auch für den Bereich der Moral nachweisbar, deren Geschichte Nietzsche als einen Ausdruck des Willens zur Macht deutet, und zwar derart, dass die Schwächeren versuchen, Moral als Mittel zu nutzen, die ihnen günstigen Werturteile durchzusetzen (vgl. ausführlich GM I; auch N 1887, 8[4], 12, S. 333). Aber nicht nur den Schwachen, auch den Mächtigen – wie z. B. den „eigentlichen Philosophen“, die in der Lage sind Werthe zu schaffen – wird ausdrücklich alles „zum Mittel, zum Werkzeug“ (JGB 211, 5, S. 145).109 Und auch das Recht wird von Nietzsche als „Mittel im Kampf von Macht-Complexen“ betrachtet, und zwar als „Mittel, g r ö s s e r e Macht-Einheiten zu schaffen“ (GM II, 11, 5, S. 313). So wie der Staat bereits im vorangegangenen Kapitel als Mittel und „Werkzeug“ der Natur skizziert worden ist, und selbst wiederum seine Bürger zu Mitteln machen, sowie von diesen als Mittel benutzt werden kann (GS, 1, S. 769 ff.). Des Weiteren werden die Zusammenhänge der Mitteilung und der Erkenntnis als instrumentelle Machtbeziehungen gedeutet: Mitteilungsmittel sind nach Nietzsche ursprünglich Mittel, Gewalt auszuüben und sich etwas einzuverleiben, anzueignen, zu erobern (N 1883, 7[173], 10, S. 298; GM I, 2, 5, S. 260). Erkenntnis ist für ihn ein „W e r k z e u g der Macht“, mit dem die Realität in den „Dienst“ genommen wird (N 1888, 14[122], 13, S. 302). Mit Vernunft können einerseits Kräfte als „Werkzeug und Mittel“ (M 548, 3, S. 318) eingesetzt werden, allerdings ist auch der „Intellekt“ selbst wiederum „nur ein W e r k z e u g “ in den Händen der Affekte (N 1885, 40[38], 11, S. 647). So wie der Geist selbst aus einer Machtperspektive heraus als ein „Mittel und Werkzeug“ im Dienste des Lebens gedeutet werden kann (N 1886, 7[9], 12, S. 297), bzw. als „kleines Werkund Spielzeug“ der großen Vernunft des Leibes (ZA I, 4, S. 40 f.).
109 Zu den unmoralischen Mitteln, mit denen moralische Werte zur Macht gelangen und auf die Nietzsche an einigen Stellen verweist, vgl. z. B. N 1887, 9[147], 12, S. 421 f. Zum instrumentellen Hintergrund weiterer Werte wie „Freiheit“, „Gerechtigkeit“ oder „Liebe“ N 1887, 9[145], 12, S. 419 f.
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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Diese Auflistung ließe sich nahezu beliebig fortsetzen und ausarbeiten. Wichtig ist hier festzuhalten, dass in allen diesen Kontexten Machtverhältnisse von Nietzsche als instrumentell verfasste Verhältnisse beschrieben werden, wobei Mittel für ihn – ebenso wie Zwecke – nicht „an sich“ existieren, sondern an die jeweilige Machtperspektive gebunden und, genau genommen, als Ausprägungen, Ausdrucksweisen und Ausdeutungen des jeweiligen Willens zur Macht aufzufassen sind.110 Dabei tritt die Macht teilweise als Agent auf, beispielsweise, wenn von der Erkenntnis als Werkzeug der Macht die Rede ist (vgl. N 1888, 14[122], 13, S. 302). Hier klingt die Subjektivierungstendenz der Macht an, auf die schon in der Einleitung hingewiesen worden ist. Teilweise wird Macht aber auch selbst explizit als Mittel bezeichnet, das eingesetzt werden kann, so z. B., wenn Nietzsche schreibt, dass man die Macht, die man über die Natur errungen hat, „benutzen“ kann, um sich selbst frei weiterzubilden (N 1886/87, 5[63], 12, S. 208). In jedem Fall wird ein enger Zusammenhang zwischen Instrumentalität und Macht deutlich. In grundsätzlicher Sicht stellt Macht, sozusagen als Ermöglichungsbedingung für jeglichen Mitteleinsatz, selbst das allgemeinste Mittel dar. Gerhardt (1996) nennt sie daher das „universale Medium“ (S. 306) und macht Instrumentalität als elftes Organisationsmoment von Macht bei Nietzsche aus (S. 326 f.). Als solches ist die Macht immer auf die Ermöglichung von Veränderung bezogen: „Stets geht es um den möglichen Bewegungsspielraum und damit um die Rolle im wechselnden Geschehen des Werdens. Sobald sich ein Element des Werdens im ständigen Wechsel auch nur einen Moment erhalten will, braucht es M i t t e l , um die disparaten Ereignisfolgen zusammenzuhalten. Der generelle Begriff für alle diese Mittel ist Macht.“ (Gerhardt (1996), S. 306; gesperrt v. m.)
Darüber hinaus wurde Macht eingangs als ein Mittel mit einer inhärenten Tendenz zur Verselbstständigung beschrieben. Nietzsche beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen: „Inwiefern kann das Gefühl der Überlegenheit oder gar der Herrschaft Freude machen? Nicht an sich und ursprünglich, sondern nur als der Born vieler Güter und das Hinderniß vieler Übel – also das M i t t e l , das eigentlich nur im Vorgenießen des Zieles selber Freude machen könnte. Aber, um so häufiger, ist die Macht allmählich das Mittel zum Zweck geworden und wird u m s e i n e r s e l b e r w i l l e n begehrt: als etwas Begehrtes macht es Freude, sobald es erlangt wird (. . .)“ (N 1879, 47[9], 8, S. 619 f.).111 110 Vgl. N 1885, 43[1], 11, S. 700; N 1885/86, 2[147], 12, S. 139; N 1887/88, 11[96], 13, S. 44. In gewisser Weise „schafft“ und konstruiert sich der Wille zur Macht somit seine eigenen Mittel. 111 Eine ähnliche Entwicklung von einem allgemeinen Mittel zu einem Selbstzweck lässt sich auch beim unterscheidenden Denken bzw. beim richtigen Vorstellen nachvollziehen, das ursprünglich ein Mittel zum Zweck des Begreifens, des „Sich-bemächtigens“ war, und das später selbst zum Ziel wird (N 1886/87, 7[3], 12, S. 255); oder, in etwas abgewandelter Form, auch bei moralischen Handlungen, die Mittel sind, deren
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Dieses Streben nach Macht an sich als Selbstzweck rückt, in dem Maße wie der Wille zur Macht – mit seinem inhärenten und unstillbaren Drang nach Verstärkung, nach einem Plus von Macht, in dem letztlich alles Streben aufgeht – an Bedeutung gewinnt, mehr und mehr auch in den Mittelpunkt von Nietzsches Theorie (vgl. Teil 2 A. II. 1). Dennoch wird, und darauf kommt es hier an, die grundsätzliche Instrumentalität der Macht damit nicht suspendiert: Im Gegenteil speist sich die Eigendynamik der Macht, wie gesehen, nicht zuletzt aus ihrer fortdauernden Mittelhaftigkeit. Dem schwierigen Zusammenhang von Macht als Mittel bzw. Selbstzweck wird man vielleicht am besten gerecht, wenn man das Verhältnis als dynamisches und rekursives begreift: Nur als universal einsetzbares Mittel hat Macht die oben beschriebene Tendenz, zu einem Selbstzweck zu werden (vgl. auch Gerhardt (1996), S. 257). Andererseits kann (u. a. aus einer anderen Perspektive heraus) dieser Zweck wiederum „ver-mittelt“ werden, also als Mittel für andere Zwecke dienen. Die fortwährende Instrumentalität wird z. B. deutlich, wenn man sich die konstitutive Zwischenstellung von Macht erneut in Erinnerung ruft, die immer implizit auf einen Träger „hinter“ und auf Ziele „vor“ ihr verweist (ebd., S. 305; s. o. Teil 1 A. II. 3.). Dadurch, dass diese Ziele nie endgültig und abschließend erreicht werden können, sondern die grundsätzliche Ausrichtung auf Ziele permanent aufrechterhalten bleibt, wird jedes Ziel zu einem Zwischenziel. Dies heißt aber auch, dass jedes Zwischenziel wiederum als Mittel zu einem anderen Ziel angesehen werden kann. Ziele können demnach jederzeit zumindest potenziell „ver-mittelt“ werden. In letzter Konsequenz bleibt Macht für Nietzsche somit, bei aller Tendenz zur Verselbstständigung, immer auch ein Mittel. Insofern lässt sich, überleitend zu Mikropolitik, resümieren: In einer Relations-Welt, die sich aus multiplen Machtverhältnissen zwischen Kräften zusammensetzt (vgl. N 1885/86, 2[139], 12, S. 135), wird sich alles wechselseitig (zumindest potenziell) zu einem Mittel, wie das oben an einigen Beispielen ausgeführt wurde. Selbst Macht als universales Mittel, das auf keinen besonderen Zweck beschränkt ist und somit die Tendenz besitzt, zu einem (relativen) Selbstzweck zu werden, kann dieser Logik nicht entgehen: „Alles kann, ja, alles muß zum Instrument eines anderen werden. Jeder Zweck, jede Rang- oder Machtordnung, ist nur ein momentaner Ausdruck einer bestimmten Konstellation von Mitteln und ist schon dadurch im fortlaufenden Geschehen funktionalisiert. Auch der Zweck ist nur ein Mittel.“ (Gerhardt (1996), S. 327)
Auch das Streben nach mehr und höherer Macht kann somit als Mittel angesehen werden. Und sei es nur als Mittel zum Ziel noch höherer Macht. Zwecke man „aus den Augen verloren hat“ und die „an sich zu erreichen jetzt schon Vergügen macht“ (N 1880, 2[67], 9, S. 44) sowie im Bereich der Kunst, bei der ebenfalls „allmählich die Mittel um ihrer selbst willen“ in den Vordergrund rücken können (N 1888, 14[47], 13, S. 241).
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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Dieser grundsätzliche Zweck-Mittel-Wechsel ist der mikropolitischen Organisationstheorie von der Strategischen Analyse her bestens bekannt: „Was in einem Augenblick ,Mittel‘ ist, wird also in einem anderen ,Ziel‘ sein, und vice versa.“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 33). Dies gilt bereits für einzelne Akteure.112 Und in potenziertem Maße trifft es für die Beziehung zwischen mehreren Akteuren zu, bei denen das Umschlagen von Zielen zu Mitteln nicht einmal an eine chronologische Reihenfolge gebunden ist: Vielmehr kann Akteur A, bestimmte Ursache-Wirkungszusammenhänge unterstellend, eine Wirkung zu seinem Ziel erheben, das nun seinerseits gleichzeitig ein Mittel für Akteur B darstellen kann, eigene Ziele zu verwirklichen. Und andersherum. Dadurch kommt es zu einer wechselseitigen „Ver-Mittelung“ zwischen den Akteuren mit ihren jeweiligen Interessen, Zielen und Handlungsmöglichkeiten; Machtbeziehungen sind aus mikropolitischer Sicht daher auch als wechselseitige instrumentelle Beziehungen zu verstehen. Aus der Vielzahl derartiger Beziehungen zwischen den einzelnen Akteuren sowie zwischen Akteuren und Organisation leitet sich die Dynamik und Unübersichtlichkeit der Mittel-Zweck-Konstellationen in organisationalen Machtbeziehungen ab, von der innerhalb der Mikropolitiktheorie ausgegangen wird. Ansatzweise angelegt ist dies bereits in der „organisierten Anarchie“ des „garbage-can model“ von Cohen/March/Olsen (1972), das einigen Einfluss auf die mikropolitische Theorie ausgeübt hat113: Wird in herkömmlicher Sichtweise davon ausgegangen, dass es in Organisationen bestimmte Probleme gibt, zu deren Lösung (Ziel) bestimmte Instrumente (Mittel) eingesetzt werden – idealtypischerweise in „zweckrationaler“ Weise –, so wird im „garbage-can model“ von Entscheidungen auch die gegensätzliche Perspektive durchgespielt und somit die herkömmliche Sichtweise invertiert: Es wird angenommen, dass Akteure auch zuerst bestimmte Mittel besitzen können, an deren Einsatz im organisationalen Entscheidungsprozess sie ein individuelles Interesse besitzen. Dabei kann es um bestimmte Entscheidungen, Investitionen, die Gestaltung von Abläufen oder das Einbringen von bestimmten Fertigkeiten etc. gehen. Sind diese „Mittel“ in vorgelagerten Entscheidungsprozessen nicht zum Tragen gekommen, können sie bei der nächstbesten Gelegenheit wieder auf das Tableau gebracht werden. Tritt keine entsprechende Gelegenheit von selbst auf, besteht für interessierte Akteure u. U. sogar die Möglichkeit, diese zu erschaffen. Somit wird das ursprüngliche Mittel selbst zu einem Zweck und es werden sozusagen zu den vorhandenen und
112 Küpper/Felsch (2000) thematisieren die generelle Wechselseitigkeit von Mitteln und Zwecken unter Rekurs auf Joas (1992, S. 227 f.) bzw. Dewey (1949, S. 151): „Reziprozität von Zielen und Mitteln bedeutet (. . .) ein Wechselspiel zwischen Mittelwahl und Zielklärung. Die Dimension der Mittel ist damit nicht neutral gegenüber der Dimension der Ziele. Indem wir erkennen, dass uns bestimmte Mittel zur Verfügung stehen, stoßen wir erst auf Ziele, die uns vorher gar nicht zu Bewusstsein kamen.“ (S. 272) 113 Vgl. z. B. Ortmann et al. (1990), S. 68 ff.; Neuberger (1995), S. 183–191; Bogumil/Schmid (2001), S. 47 ff.
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
erwünschten Problemlösungen die entsprechenden Probleme aktiv gesucht oder kreiert. (Vgl. Cohen/March/Olsen (1972), S. 26 f.)114 „Probleme“ und „Lösungen“ bilden zusammen mit „Entscheidungsgelegenheiten“ und „verschiedenen Teilnehmern“ vier Komponenten bzw. „Ströme“, aus deren komplexen und jeweils momentanen Zusammenspiel Entscheidungen in Organisationen entstehen. Zur Beschreibung dieses stark kontext- und timingabhängigen Prozesses kann man „einen Papierkorb (garbage can) betrachten, in den von Teilnehmern verschiedene Arten von Problemen und Lösungen geworfen werden, wenn sie geschaffen wurden. Die Mischung der Papiere (garbage) in einem bestimmten Korb hängt von der Mischung der verfügbaren Körbe ab und von deren Etiketten, davon, welche Papiere im Augenblick gerade produziert werden und von der Geschwindigkeit, in der diese Papiere gesammelt und von der Bildfläche entfernt werden.“ (Cohen/March/Olsen (1990), S. 333)115
Handeln in und von Organisationen ist also nicht als konsequent zweckrationaler Ablauf anzusehen, bei dem zu gegebenen, eindeutigen Zielen die passenden Mittel gefunden werden, sondern als ein komplexer Prozess, der durch Mehrdeutigkeit (ambiguity) und lockere Kopplung (loose coupling) der einzelnen Komponenten, u. a. der Mittel und Ziele, gekennzeichnet ist.116 Diese Sichtweise hat, wie gesagt, die mikropolitische Auffassung der Komplexität von instrumentellen Beziehungen geprägt, und einige Autoren haben selbst wiederum diverse mikropolitische Techniken aufgezählt, mit denen die spezifischen Bedingungen der „organisierten Anarchie“ genutzt werden können.117 Allerdings steht die verhaltenstheoretisch ausgerichtete Entscheidungstheorie, der dieses Modell entstammt, Macht skeptisch gegenüber.118 Laut Ortmann (1995) erkennt sie zwar die Machtproblematik, erklärt sie aber weg (vgl. S. 46). Ganz im Gegensatz zur strategisch-mikropolitischen Theorie: Wie im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt, wird von Crozier/Friedberg (1993) Macht als Vermö114 Generell auf diese Möglichkeit eines Wechsels von Mitteln zu Zielen in Organisationen verweisen auch Bogumil/Schmid (2001), S. 29 unter Rekurs auf Scott (1986), S. 31). 115 Laut Ortmann et al. (1990, S. 373) ist das Bild des „Mülleimers“ „natürlich ein Überzeichnung.“ Allerdings fügt er an, „daß reale Entscheidungsprozesse mehr Ähnlichkeit damit als mit der ehrwürdigen Ordnung der Entscheidungslogik haben“. Im Anschluss stellt er der „Beliebigkeit des garbage can model“ die „Kontingenz“ von Entscheidungen gegenüber und erweitert dafür das Mülleimer-Modell um die bei LéviStrauss entlehnten Idee einer „Bricolage“ (insbesondere S. 391 ff.). 116 Zur Übertragung des technischen Begriffs der Kopplung auf Organisationen vgl. Ortmann et al. (1990), S. 541 f. 117 Neuberger (1995) zitiert u. a. „Nimm dir Zeit“, „Habe Ausdauer“, „Tausche Status gegen Inhalt“, „Ermögliche Opponenten die Teilnahme“, „Sorge selber für Mülleimer“, „Interpretiere die Geschichte“ (S. 188). 118 Vgl. z. B. March (1990), S. 7; dazu auch Bogumil/Schmid (2001), S. 53.
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gen angesehen, mit dem im organisationalen Kontext diverse Wirkungen erzeugt und Entscheidungen beeinflusst werden können, indem relevante Unsicherheitsbereiche kontrolliert werden. Macht stellt die Fähigkeit und das allgemeine Mittel119 dar, diese Bereiche – insbesondere Expertenwissen, Umweltbeziehungen, Informations- und Kommunikationskanäle sowie Organisationsregeln – wiederum als Mittel für die Durchsetzung eigener Interessen einzusetzen. Macht kann also, gemäß den Ausführungen zu Beginn dieses Kapitels, als allgemeines Mittel der Verfügung über Mittel interpretiert werden. Die Analyse von Machtbeziehungen erfordert daher als erstes immer eine Antwort auf die Frage, über welche Mittel jeder Gegenspieler verfügt (vgl. S. 44). Jede Machtbeziehung wird explizit als instrumentelle Beziehung betrachtet, weil sie sich „nur unter der Perspektive eines Ziels begreifen läßt, das in einer instrumentellen Logik die Mobilisierung von Ressourcen seitens der Akteure motiviert.“ (S. 40; H.v. m.) Küpper und Ortmann folgen dieser Auffassung in ihrem Mikropolitikkonzept, in dem Akteure organisationale Ungewissheitszonen als Machtquelle nutzen, die dann wiederum als Mittel für die Verfolgung ihrer eigenen Interessen, beispielsweise für die Erweiterung ihres Handlungsspielraumes eingesetzt wird.120 Und somit zu einem „Mehr von Macht“, wie man mit Nietzsche hinzufügen könnte (N 1888, 14[82], 13, S. 262). Hierbei werden, wie oben angesprochen, auch Ziele und Handlungsmöglichkeiten anderer Akteure wechselseitig zu Mitteln der eigenen Zielerreichung gemacht: „Machtausübung eines Akteurs ist sein Versuch, die anderen Akteure innerhalb der Machtbeziehung zu veranlassen, ihre Verhaltensbereitschaften in das von ihm gewünschte konkrete Verhalten überzuführen.“ (Küpper/Felsch (2000), S. 21)
Dem Prinzip der Gegenseitigkeit zufolge muss man, um andere mit ihren individuellen Möglichkeiten als Mittel einsetzen und somit Macht ausüben zu können, auch sich selbst bis zu einem gewissen Grad zu einem Mittel machen lassen: „Ein Akteur kann nur dann Macht über andere ausüben und sie zu seinem Gunsten ,manipulieren‘, wenn er sich auch von diesen ,manipulieren‘ läßt und ihnen gestattet, Macht über ihn auszuüben.“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 63).
Etwas, das vollständig und endgültig von einer Instrumentalisierung ausgenommen wäre, kann es in einem derartigen Zusammenhang gar nicht geben: „Die instrumentalisierende Absicht, die andere Menschen zum Mittel macht, reklamiert für den, der das Mittel benutzt, die Stellung des Un-Mittelbaren, Zwecksetzenden, Souveräns. Das ist Selbsttäuschung, weil man den infiniten Regreß denken kann: Wer andere als Mittel einsetzt, muß die Möglichkeit zulassen, selbst nur Mittel eines Nutznießers zu sein. Jeder Mensch ist Mittel, er hat aber auch Mittel (= Res119 Als ein derartiges „allgemeines Mittel“ wird Macht auch von anderen soziologischen Autoren aufgefasst, zum Beispiel von Parsons (1968, I, S. 236, zit. nach Mann (1990), S. 21). 120 Dazu auch Brüggemeier/Felsch (1992), S. 133; Küpper/Felsch (2000), S. 149.
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
sourcen), um sich gegen die totale Ver-Mittlung zu wehren.“ (Neuberger (1995), S. 4)121
Der konkrete Mechanismus, mit Hilfe dessen die Menschen ihre instrumentellen Machtbeziehungen im Einzelnen strukturieren und das Ausmaß der wechselseitigen „Ver-Mittelung“ jeweils verhandeln und austarieren, ist das Spiel. Aus der Perspektive dieses Kapitels kann das Spiel somit abschließend selbst angesehen werden als ein „Instrument, das die Menschen entwickelt haben, um ihre Zusammenarbeit zu regeln. Es ist das wesentliche Instrument organisierten Handelns“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 68). Damit sollte die Relevanz der Instrumentalität als viertes gemeinsames Merkmal der Macht in beiden Theorien zumindest in den Umrissen erkennbar geworden sein. 5. Intentionalität der Macht Jedes Mittel ist auf der anderen Seite immer ein Mittel zu etwas. Zu einem wünschenswerten bzw. gewünschten Zustand, den man als Ziel oder Zweck bezeichnen kann. Instrumentalität lässt sich somit nicht ohne Intentionalität denken, wie sich im vorangegangenen Kapitel bereits an mehreren Stellen angedeutet hat. Intentionalität markiert daher das fünfte gemeinsame Strukturmerkmal von Macht in dieser Arbeit: Sowohl die Mikropolitiktheoretiker als auch Nietzsche erkennen, dass sich Macht immer in irgendeiner Weise zielorientiert darstellt, immer Macht zu etwas ist. Dies liegt für erstere bereits dadurch nahe, dass die hier untersuchte Mikropolitiktheorie in weiten Teilen auf der Strategischen Organisationsanalyse aufbaut. Im ersten Teil dieser Arbeit wurde als deren Ausgangsfrage ausgemacht, wie in Organisationen, vor dem Hintergrund relativ autonomer Akteure mit divergierenden Interessenlagen und Zielvorstellungen, die zur Erreichung ihrer individuellen Ziele notwendige Zusammenarbeit gewährleistet wird (vgl. Teil 1 B. I.). Es geht in dieser Art der Machtanalyse also immer auch um Ziele: Um die je individuellen Ziele der Akteure, insbesondere in der Interaktion mit anderen Akteuren und den daraus resultierenden Zielkonflikten, um formale und informale Ziele der Organisation als ganzer sowie deren Verhältnis zueinander und, damit zusammenhängend, vor allem um Zielvorgaben von Spielen, die von Einzelnen und Gruppen innerhalb der Organisation gespielt werden und die eine „innere Machtstruktur“ der Organisation ausbilden (Küpper/Felsch (2000), S. 49). Macht ist nach strategisch-mikropolitischem Verständnis somit immer auf 121 Vgl. den Aufsatz „Der Mensch ist Mittelpunkt. Der Mensch ist Mittel. Punkt.“ (Neuberger (1990) Von der Notwendigkeit, sich bis zu einem gewissen Grad instrumentalisieren lassen zu müssen, sind auch die mikropolitischen Feldforscher nicht ausgenommen, wie Ortmann et al. (1990) schildern: Das Hinzuziehen eines „,Uni-Professors‘“ war aus Sicht eines beteiligten Betriebsratsvorsitzenden ein „,guter Bluff‘“ zur Stärkung der eigenen Verhandlungsposition und Autorität (S. 361).
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Ziele ausgerichtet. Ihre „Logik“ und ihre „Strategien“ lassen sich nur rekonstruieren und erfassen, wenn man von einer gewissen Intentionalität i. S. einer Gerichtetheit der Prozesse ausgeht. Machtbeziehungen lassen sich „nur unter der Perspektive eines Ziels begreifen“, wie es oben bei Crozier/Friedberg (1993, S. 40) ausdrücklich hieß. Wichtig ist hierbei allerdings zu sehen, dass es für die Strategische Organisationsanalyse „keine Ziele (oder gar Rationalität) einer Organisation ,an sich‘ [gibt], außerhalb der Individuen und Gruppen, die sie tragen und ihnen Leben geben können, indem sie sie in ihre Strategien einbeziehen und sie in ihren Verhaltensweisen aktualisieren. Eigentlich existieren Organisationen nur durch die partiellen Ziele und Rationalitäten, der in ihrem Rahmen agierenden Individuen und Gruppen.“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 57)
Es gibt also, außerhalb von eventuellen formalen Organigrammen, die ohnehin nie die ganze organisationale Wirklichkeit erfassen können, nicht „das“ Ziel der Organisation, sondern Organisationen werden verstanden als ein Netz aneinandergereihter Spiele, die schon auf Grund der differenzierten Arbeitsteilung jeweils eigene Ziele vorgeben. Ortmann et al. (1990) zeichnen dies an dem konkreten Praxisbeispiel der unterschiedlichen Zielausrichtung der so genannten Material-, Produktionsplan- bzw. Vertriebs-Spiele nach, die sie in folgendes Schaubild fassen (S. 465 f.):
Ziele: − günstiger Einkauf − niedrige Läger und Kapitalbindung − Liefermengen und -termine − Einhaltung des Budgets Teilnehmer: − Materialwirtschaft − Lagerhaltung − Kunden etc.
Materialwirtschafts-Spiel
− − − −
Ziele: reibungslose Produktion Kapazitätsauslastung günstigere Losgrößen Produktionsplansoll
Ziele: − Liefertreue − Erfüllung von Kundenanforderungen − Absatzplansoll
− − − − − − −
Teilnehmer: Fertigungssteuerung Materialwirtschaft Vertrieb Betriebsleiter Produktionsvorbereitung Produktionsplanung Meister,Vorarbeiter
Teilnehmer: − Vertrieb − Versand − Lieferanten etc.
Produktionsplan-Spiel
Vertriebs-Spiel
Abb. 12: Vielfältigkeit und Divergenz von Spielen (nach Ortmann et al. (1990), S. 466)
Für ein Gelingen der organisationalen Abläufe hängt viel von der günstigen Verzahnung und Aneinanderreihung der einzelnen Spiele ab. Hier geht es zunächst einmal darum, die Vielfältigkeit und Divergenz der Ziele innerhalb und zwischen den Spielen aufzuzeigen. Diese werden noch verstärkt durch das Auf-
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
treten von Innovationsspielen (Ziele: strategische Ziele, Modernisierung, Rationalisierung, erfolgreiche Projektkonzeption und -realisation; Teilnehmer: oberes Management) und Routinespielen (Ziele: operative Teilziele, Bestandssicherung; Teilnehmer: mittleres Management und ausführende Ebene) mit ihren je eigenen Zielvorgaben. Eine gewisse Verbindung erfahren diese Spiele durch so genannte Projekt- oder Transmissionsspiele, an denen u. a. das obere und mittlere Management sowie Sachbearbeiter teilnehmen und bei denen selbst das Ziel der erfolgreichen Projektrealisation im Vordergrund steht. (Vgl. Ortmann et al. (1990), S. 468) Wie aus dieser Abbildung ebenfalls ersichtlich wird, nehmen an den unterschiedlichen Spielen jeweils eine Vielzahl von Spielern teil, bei denen davon auszugehen ist, dass sie wiederum eigene Ziele und Subziele verfolgen, die höchstens – und selbst das ist nicht immer garantiert – durch das gemeinsame Ziel des Fortbestandes der Spiele eine gewisse Integration erfahren. Ebenso wie im „garbage can model“ sind folglich die einzelnen Akteure in diesem Netz von Spielen nach mikropolitischer Lesart in ihrem Handeln nicht fest gekoppelt, sondern zumindest partiell unabhängig. Dies hat eine entscheidende Folge: „(N)icht ein zentraler Wille setzt sich unverfälscht durch, sondern es gibt zahlreiche autonome Handlungszentren, die neben- und oft auch gegeneinander arbeiten.“ (Neuberger (1995), S. 185; H. v. m.) Dementsprechend gibt es in der Organisationspraxis auch keine einheitlichen und unveränderlichen Ziele an sich. Ziele sind Hypothesen, wie Cohen/March/Olsen (1976) bereits erkannt und formuliert haben (vgl. Neuberger (1995), S. 188). Ob und inwieweit sich einzelne Ziele im organisationalen Kontext durchsetzen, hängt von der jeweiligen Machtkonstellation ab.122 Und selbst auf der individuellen Ebene der Akteure ist nicht regelmäßig von gegebenen, klar abgrenzbaren und eindeutig zu bestimmenden Zielen auszugehen: „Ein Akteur hat nur selten klare Ziele und noch weniger kohärente und konsistente Pläne: diese sind vielfältig, mehr oder weniger vieldeutig, explizit und widersprüchlich. Er wird sie im Verlauf des Handelns ändern, einige verwerfen, andere unterwegs, ja sogar nachträglich entdecken. (. . .) Folglich wäre es illusorisch und falsch zu glauben, daß sein Verhalten ständig genau durchdacht ist, das heißt, vermittelt durch ein klar denkendes Subjekt, welches seine Bewegungen im Hinblick auf anfangs festgelegte Ziele berechnet.“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 33)
Küpper/Felsch (2000, S. 271 ff.) betonen in diesem Zusammenhang, wie im vorangegangenen Kapitel bereits erwähnt, die Reziprozität von Mitteln und Zie122 Die (offiziellen) Ziele der Organisation können dabei im Sinne der Dualität der Struktur einerseits als Ausdruck und Ergebnis von mikropolitischem Handeln gedeutet werden und basieren nach mikropolitischer Lesart auf wechselseitigen Konstruktionsund Aushandlungprozessen zwischen den Akteuren und Gruppen einer Organisation. Andererseits wirken sie selbst als Regeln der Strukturebene, bzw. als Modalität (beispielsweise in Form von bestimmten propagierten Leitbildern), auf die im Handeln zurückgegriffen werden kann und muss, auf die Möglichkeit dieses Handelns zurück.
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len. Eine Wechselwirkung besteht, wie ebenfalls im Zusammenhang mit der Instrumentalität schon festgestellt, darüber hinaus zu den Zielen der anderen Akteure. Es genügt für eine Machtanalyse daher nicht, die einem Akteur zur Verfügung stehenden Ressourcen sowie seine eigenen Ziele zu betrachten. Denn die Ressourcen müssen, um Macht entfalten zu können, „in einer spezifischen Beziehung mobilisierbar und hinsichtlich der Ziele der jeweiligen Gegenspieler relevant sein.“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 46; H.v. m.)123 Und auch Ortmann et al. (1990, S. 393) stellen der übersichtlichen entscheidungslogischen Sequenz „Zielbestimmung – Entscheidungskriterien – Alternativensuche – Wahlakt“ das Modell von Entscheidungen als einer weitaus unübersichtlicheren, iterativen „Bricolage“ gegenüber, bei der neue Gelegenheiten und Möglichkeiten auch die Zielgestaltung ändern, neue Wünsche wecken können usf. Ein solcher Zielwandel kann noch während der Implementationsphase zu nachträglichen Umgewichtungen der Entscheidungskriterien führen, wie die Autoren an Beispielen aus der Praxis zeigen (vgl. ebd., IV.2.2). Dennoch – und das ist relevant für das Thema – wird das individuelle Verhalten der Akteure im organisationalen Kontext explizit als Ausdruck einer zweckrationalen und somit intentionalen Strategie gedeutet, mittels derer auf die jeweiligen Machtkonstellationen und die gespielten Machtspiele rückgeschlossen werden soll. Allerdings ist diese, wie im ersten Teil dargelegt, als ex post gefolgerte Grundlage der empirisch beobachteten Verhaltensregelmäßigkeiten aufzufassen. Daraus folgt, dass eine Strategie keinesfalls mit dem Willen des einzelnen Akteurs identisch sein muss. Das Ziel einer spezifischen Machtstrategie muss vom einzelnen Akteur nicht in jedem Fall bewusst verfolgt werden (vgl. Crozier/ Friedberg (1993), S. 34). „Tatsächliches Handeln mischt Bewußtsein und Routine, Intuition und explizites Kalkül, Reaktivität und Antizipation zu einem analytisch vielleicht auflösbaren, empirisch aber unentwirrbaren Knäuel (Friedberg (1996), S. 152; zit. nach Bogumil/ Schmidt (2001), S. 57).
Auch die Intentionalität der individuellen Akteure sollte daher nicht überschätzt werden (vgl. Bogumil/Schmidt (2001), S. 57).124 123 Die Ziele des Gegenübers können somit einen Einfluss auf die Relevanz von Ressourcen entfalten, die neben deren grundsätzlichen Vorhandensein den zweiten wichtigen Aspekt zur Analyse von Machtbeziehungen darstellt (vgl. Crozier/Friedberg (1993), S. 44; s. auch Teil 1 B. I.). 124 Besonders scheint „Intentionalität“, i. S. sinnvoller Bewusstseinsinhalte als auch i. S. einer planvollen Absicht und eines Wollens, durch komplexitätstheoretische Überlegungen, die Ortmann (2003) in seine jüngeren Arbeiten einfließen lässt, suspendiert zu werden: „Daß dieser Eindruck [der Suspendierung] täuscht, so sehr Kritiker und selbst Verfechter der Idee der Selbstorganisation ihm erlegen sein mögen, erweist sich sofort daran, daß es Nichtintendiertes – das Jenseits der Intention – überhaupt nur gegenüber und also in Relation zu, nicht unter Leugnung von Intendiertem geben kann (Martens 2002a), als das von den Intentionen nicht Erwartete, Ausgelassene, Übersehene, Verfehlte. Davon wird auch die Logik der Selbstorganisation bestimmt: Selbst-
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Als Gesamtbild lässt sich somit zusammenfassen, dass es für die strategische Mikropolitiktheorie nicht das eine, unumstößliche Ziel „der“ Organisation gibt. Organisationen werden vielmehr verstanden als ein Netz aneinandergereihter Spiele mit bestimmten Zielvorgaben und mit einer Vielzahl von Spielern mit je eigenen Zielen und Subzielen, die ihnen teilweise selbst nicht (vollständig) bewusst sind und die sich zum Teil erst in einem Wechselspiel mit vorhandenen und neu auftauchenden Mitteln sowie mit den Zielvorstellungen ihrer Gegenspieler ergeben. Daraus leitet sich ab, dass es für die Mikropolitik weder auf individueller noch auf organisationaler Ebene gegebene und unveränderliche Ziele „an sich“ gibt. Dies hat Folgen für die „Intentionalität“ der Macht, die nicht einfach mit den offiziellen Zielen der Organisation identifiziert werden darf und nicht einmal kongruent zu den bewussten Zielen der Akteure sein muss. Vielmehr laufen ihre Logik und die Strategien, die durch die Verfasstheit der jeweiligen Machtspiele als gewinnbringend vorgezeichnet sind, bis zu einem gewissen Grad quer dazu. Auf diese wird, wie gesagt, durch das beobachtbare Verhalten der Akteure rückgeschlossen. Crozier/Friedberg (1993) rekonstruieren auf diese Weise durch ihre empirische Analyse der Verhaltensweisen der Akteure im „Monopole industriel“, deren Personal sich eindeutig den drei Kategorien der Werkstättenleiter, der Produktionsarbeiter und der Wartungsarbeiter zuordnen lässt, für jede Kategorie das Vorhandensein einer dominanten, stabilen, autonomen und gut gekennzeichneten Strategie (vgl. S. 35 ff.). Beispielsweise wird in dieser Weise die empirisch festgestellte hohe Emotionalität und Aggressivität der „Wartungsarbeiter“ gegenüber den „Werkstattleitern“ als eine Machtstrategie gedeutet, „die darauf abzielt, diese auf Distanz in einem Zustand der Unterlegenheit zu halten, um jeglichen Versuch des Aufbegehrens zuvorzukommen.“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 37; H.v. m.)125 Ohne damit zu implizieren, dass jeder Wartungsarbeiter bewusst dieser Strategie folgt.126 organisation gibt es im Sozialen nur als das Andere des Entwurfs, der Intention, eines Wollens, gar eines Steuern-Wollens, das auf die Prozesse und Zustände der Welt gerichtet ist und das aber, und sei es als mitlaufende, periphere Intention (Martens (2002b), Moment des Geschehens bleibt, durch das hindurch Selbstorganisation ins Werk gesetzt wird. Wir müssen daher dreierlei zusammendenken: die intentionalen Gehalte des Denkens, Sprechens, Schreibens, Kommunizierens und Handelns, aber einschließlich ihrer immer möglichen Suspension oder Verschiebung an die Peripherie; die Effekte solchen Tuns und ihre Ablösung von den Intentionen; und die Rückwirkung dieser unintendierten Effekte auf das Denken und Handeln“ (S. 13 f.). 125 Die „Werkstättenleiter“ sind trotz ihres Namens eher als Vorarbeiter zu verstehen, die mit der Überwachung der Werkstätten beauftragt sind, während die „Wartungsarbeiter“ hoch qualifiziert und für die Instandhaltung und für kleinere Reparaturen der ihnen jeweils persönlich und ständig anvertrauten Maschinen zuständig sind. 126 Als Grenzfall führen die Autoren die „Strategie“ eines Menschen an, der mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln einem starken Druck nicht anders bewältigen kann, als an Schizophrenie zu erkranken. „Oder Sartre paraphrasierend, könnte man sagen, daß das Ohnmächtigwerden aus Angst vor einer drohenden und unausweichlichen
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Eine weitere Folge ist, dass die Macht in ihrer intentionalen Ausrichtung nicht als einheitlich zu denken ist: Es ist nicht „alles auf einen bewegenden Willen“ (Neuberger (1995), S. 3; H.v. m.) im Sinne eines einheitlich verstandenen Willens zurückzuführen. „Strukturen und Prozesse (werden) nicht als einem zentralistischen Willen entspringend“ aufgefasst, wie auch Türk (1989) betont (S. 122). Macht erscheint, wie oben bereits ausgeführt, nicht als „zentraler Wille“, sondern als pluralistisches Zusammenspiel von lokalen Machtbereichen und „Zentren“, die neben-, gegen- oder auch miteinander arbeiten können. Diese einzelnen Zentren müssen allerdings, um überhaupt aufeinander bezogen arbeiten zu können, in ihrem Machtanspruch bereits als in irgendeiner Weise ausgerichtet verstanden werden. Damit wird in einem weiten Sinne bereits eine Intentionalität, eine Willensartigkeit der Machtprozesse unterstellt, die sich als Strategien analysieren lassen und einer bestimmten Logik folgen.127 Auch die Analogie zur menschlichen Sphäre bei der Rede von der Intentionalität sollte nicht verwundern, denn immerhin wird ausgehend vom (individuellen bzw. koalitionären) strategisch-taktischen Handeln von menschlichen Akteuren auf die Machtstruktur geschlossen (vgl. Türk (1989), S. 122). Macht selbst lässt sich demnach (nur) intentional begreifen. Das organisationale Machtgeschehen insgesamt, als Zusammenspiel der einzelnen Strategien, stellt sich uns immer in irgendeiner Weise als ausgerichtet auf Ziele dar. Quasi als ob ein Wille, besser: eine Vielzahl von Willen, in ihm wirkten.128 In dieser Sichtweise wird eine große Nähe zu Nietzsches Machtkonzeption deutlich. Zunächst einmal ist zu konstatieren, dass auch Nietzsche grundsätzlich von einer Intentionalität der Macht – nun allerdings wieder auf jedes Geschehen übertragen und nicht auf den organisationalen Kontext beschränkt – ausgeht.129 Diese Intentionalität wird bereits durch die Formel vom Willen zur Macht exponiert. Denn diese ist, wie im ersten Teil dargelegt, nicht so zu verstehen, dass ausschließlich der Wille die intentionale Komponente lieferte für eine ansonsten Gefahr die ,Strategie‘ eines Individuums ist, das – da es die Welt, die es bedroht, nicht ändern kann – es vorzieht, sein Bewußtsein von dieser Welt zu ändern, indem es ohnmächtig wird“ (ebd., S. 34). 127 Auch laut Foucault (1999) sind Machtbeziehungen explizit als „intentional“ zu verstehen; sie sind „durch und durch von einem Kalkül durchsetzt“ und sie folgen diversen lokalen „Strategien“ und „Taktiken“: „(K)eine Macht, die sich ohne eine Reihe von Absichten und Zielsetzungen entfaltet.“ (S. 116). Diese Intentionalität macht es möglich, das Wesentliche der Macht in den Strategien und Taktiken zur Zielerreichung auszumachen. Eine „Analytik der Macht“ besteht nach Foucault (2005) genau in der Klärung dieser Strategien und des Zusammenhangs der disparaten Elemente und Ereignisse, die sich zu einem „Disposititv“ anordnen. 128 Zur generellen Bedeutung der gleichermaßen fiktiven wie notwendigen Konstruktion des „als ob“ für ein adäquates Verständnis von Organisationen vgl. Ortmann (2004). 129 Vgl. Gerhardt (1996, S. 325 f.), bei dem „Intentionalität“ das achte Moment des Willens zur Macht bildet.
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nicht-intentionale Macht.130 Vielmehr ist die Macht in sich intentional verfasst, „man kann die Macht nicht ohne inhärierenden Willen denken“ (Gerhardt (1996), S. 271). Ein „Machtquantum“ ist nach Nietzsche durch seine „Wirkung“ bezeichnet, es „ist essentiell ein Wille“, und „es ist weggedacht, wenn man diese Strahlung von Machtwillen wegdenkt.“ (N 1888, 14[79], 13, S. 258; H.v. m.) Deshalb kreiert er die Formel vom Willen zur Macht, in der Macht und Wille wechselseitig aufeinander verweisen und eine Einheit bilden und die somit auch ein ganz offenkundiger Ausdruck für die Intentionalität der Macht ist. Nietzsche spricht also nicht ohne Grund vom Willen zur Macht, bzw. von den Willen zur Macht im Plural, denn dieser Wille ist auch für ihn, hier lässt sich eine weitere deutliche Parallele ausmachen, nicht als ein einheitlicher Wille „an sich“ zu verstehen, sondern als eine vielheitliche Konstellation. Es sind grundsätzlich und notwendigerweise immer mehrere dynamische Quanten, die wechselseitig aufeinander wirken und ausstrahlen. Es geht immer um eine Vielzahl von Kräften und Mächten, die aufeinander aus- und übergreifen und sich in Beziehung zueinander setzen. Es können sich unterschiedliche Einheiten, (vorübergehende) Kooperationsformen und auch synergetische Verbindungen ausbilden, um die bereits vorhandene Macht zu mehren, wie Nietzsche immer wieder an Beispielen aus unterschiedlichen Bereichen verdeutlicht. Kräfte häufen sich an einer Stelle und nehmen an anderer ab (N 1885, 38[12], 11, S. 610), es können sich, analog zur Mikropolitik, lokale Machtbereiche und -zentren ausbilden, die neben-, gegen- oder sogar miteinander arbeiten: „Meine Vorstellung ist, daß jeder spezifische Körper darnach strebt, über den ganzen Raum Herr zu werden und seine Kraft auszudehnen (– sein Wille zur Macht: ) und Alles das zurückzustoßen, was seiner Ausdehnung widerstrebt. Aber er stößt fortwährend auf gleiche Bestrebungen anderer Körper und endet, sich mit denen zu arrangieren (,vereinigen‘), welche ihm verwandt genug sind: – so c o n s p i r i r e n s i e d a n n z u s a m m e n z u r M a c h t . Und der Prozeß geht weiter . . .“ (N 1888 14[186], 13, S. 373 f.).
Der eine Wille zur Macht, der alle diese Abläufe nicht nur antreibt, sondern mit dem Nietzsche auch all diese Prozesse und ihre jeweiligen Zwischenzustände und -ergebnisse selbst bezeichnet, ist demnach nur als in sich vielheitliche Einheit zu verstehen. Er ist immer „zugleich Eins und ,Vieles‘“ (N 1885, 38[12], 11, S. 610), wie im ersten Teil insbesondere in Abgrenzung von Schopenhauers Willensmetaphysik ausgearbeitet worden ist. „Seine Einheit ist die des Vielen und schreibt sich nur dem Vielen zu.“ (Deleuze (2002, S. 94). Diese einzelnen Zentren müssen nun, wie ebenfalls für die Mikropolitik bereits festgestellt, als intentional ausgerichtet verstanden werden, um überhaupt aufeinander wirken zu können. Nietzsche geht dabei explizit von einer Willensartigkeit aus, wie oben zitiert. Das Machtquantum ist essenziell Wille, und zwar 130
Dazu auch Deleuze (2002), S. 93; Gerhardt (1996), S. 265–275; s. o. Teil 1 A. II. 3.
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„Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigung zu wehren.“ (N 1888, 14[79], 13, S. 258). Trotz dieser aus dem menschlichen Zusammenhang entlehnten Sprechweise sollte durch die vorangegangenen Beispiele klar sein, dass Nietzsche mit der Betonung der Willensartigkeit der Machtprozesse ebenfalls keine Reduktion auf den menschlichen Willen vornimmt. Auch hier ist eine Parallele zu den vorangegangenen organisationstheoretischen Ausführungen zu konstatieren, bei denen die Redeweise von der „Logik“ und den „Strategien“ der Macht auf den menschlichen Kontext verweisen, aus dem sie stammen und von dem ausgehend sie rekonstruiert werden sollen, ohne sich allerdings auf den bewussten menschlichen Willen reduzieren zu lassen. Wollen ist nach Nietzsche immer nur als konkretes „ E t w a s - W o l l e n “ e x i s t e n t : „man muß nicht das Ziel auslösen aus dem Zustand“ (N 1887/88, 11[114], 13, S. 54; H.v. m.). In der Macht als Wille zur Macht findet sich die inhärente Ausrichtung auf Zustände, die als Ziele oder Zwecke angegeben werden können. Allerdings sind Zwecke als solche für Nietzsche, ebenso wie Mittel, Ursachen und Wirkungen, „keine Thatbestände“ (N 1885/86, 2[147], 12, S. 139). Seines Erachtens haben wir „den Begriff ,Zweck‘ erfunden: in der Realität f e h l t der Zweck . . .“ (GD, 6, S. 96).131 Zwecke sind „Ausdeutungen“ des Willens zur Macht132, allerdings u. U. nützliche oder sogar „nothwendige Ausdeutungen“, wie er einräumt (N 1885/86, 2[147], 12, S. 139).133 Denn auch wenn es Zwecke an sich für Nietzsche eigentlich gar nicht „giebt“, bzw. diese ihm bereits früh als „relativ beliebig“ erscheinen „im Verhältnis zu dem ungeheuren Quantum Kraft, welches darnach drängt (. . .) irgendwie aufgebraucht zu werden“ (FW 360, 3, S. 607)134, können wir nicht anders, als uns die bewegte Wirklichkeit in Analogie eines Willens zu denken, was an unserer „ U n f ä h i g k e i t [liegt], ein Geschehen anders i n t e r p r e t i e r e n zu können denn als ein Geschehen aus A b s i c h t e n “ (N 1885/86, 2[83], 12, S. 102), 131 „W i r sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander, das Für-einander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben“ (JGB 21, 5, S. 36; H.v. m.). In der Natur gibt es „weder Mittel, noch Zwecke.“ (N 1880, 6[153], 9, 235) Ebensowenig wie Ursachen und Wirkungen (vgl. N 1885/86, 2[139], 13, S. 274). „,Entwicklung‘ (. . .) ist demgemäss nichts weniger als ein progressus auf ein Ziel hin, (. . .) sondern die Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder von einander unabhängigen an ihm sich abspielenden Überwältigungsprozessen, hinzugerechnet die dagegen jedes Mal aufgewendeten Widerstände (GM II, 12, 5, 314 f.). Ausführlich zum Widerstand s. Teil 2 A. II. 8. 132 Zwecke und Ziele sind für Nietzsche „nur Ausdrucksweisen und Metamorphosen des Einen Willens (. . .), der allem Geschehen inhärirt, der Wille zur Macht; daß Zwecke, Ziele, Absichten haben, wollen überhaupt so viel ist wie Stärker-werden-wollen, wachsen wollen, und dazu auch die Mittel wollen“ (N 1887/88, 11[96],13, S. 44). 133 Vgl. N 1887/88, 11[74], 13, S. 37; N 1885, 34[123], 11, S. 461; auch MüllerLauter (1999), S. 132. 134 Zum „zwecklose[n] Ü b e r s t r ö m e n d e r K r a f t “ auch N 1880, 1[44], 9, S. 13.
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die letztlich wiederum reduzierbar sind „auf die A b s i c h t d e r M e h r u n g v o n M a c h t “ (ebd., 2[88], S. 105). Letztlich sind Zwecke „nur A n z e i c h e n davon, dass ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat“ (GM II, 11, 5, S. 313).
Zweckmäßigkeit wird dadurch zu einem „ A u s d r u c k für eine Ordnung von Machtsphären und deren Zusammenspiel“ (N 1887, 9[91], 12, S. 386). Nietzsche spricht davon, „daß das S t ä r k e r w e r d e n Ordnungen mit sich bringt, die einem Zweckmäßigkeits-Entwurfe ähnlich sehen“ und davon, „daß die anscheinenden Z w e c k e nicht beabsichtigt sind, aber, sobald die Übermacht über eine geringere Macht erreicht ist und letztere als Funktion der größeren arbeitet, eine Ordnung des R a n g s , der Organisation den Anschein einer Ordnung von Mittel und Zweck erwecken muß“ (ebd.; H.v. m.).135
Somit ist alle „anscheinende , Z w e c k m ä ß i g k e i t ‘“ einerseits „bloß die Folge jenes in allem Geschehen abspielenden W i l l e n s z u r M a c h t “ (ebd.), den wir andererseits – wie es der Wille in der Formel unterstreicht – selbst nicht ohne eine gewisse organisierte und intentionale Ausgerichtetheit auf ein Ziel verstehen können. Betrachtet man die letzten beiden Kapitel im Rückblick, so ist als zentrales Ergebnis zunächst einmal grundsätzlich zu konstatieren, dass Instrumentalität und Intentionalität überhaupt relevante Strukturmerkmale sowohl für das Machtkonzept der Mikropolitiktheorie als auch für Nietzsches Konzept vom Willen zur Macht darstellen. Darüber hinaus sind Parallelen und mögliche Anknüpfungspunkte für weiterführende Überlegungen an einer Vielzahl von Stellen deutlich geworden, von denen ich hier abschließend nur kurz drei ansprechen möchte: Der erste und wichtigste Punkt ist meines Erachtens darin zu sehen, dass sowohl bei Nietzsche als auch in der strategisch-mikropolitischen Organisationstheorie im Hinblick auf die Intentionalität der Machtprozesse nicht von einem einheitlichen und zentralen Willen ausgegangen wird, der in allen Machtabläufen waltet. Vielmehr vereint beide Ansätze die Vorstellung einer Pluralität der Kräfte und Mächte, die sich zu partiellen Einheiten, Konglomeraten und Koalitionen zusammenschließen und zeitweilig in die gleiche Richtung wirken können, die sich aber auch wieder trennen, abspalten und gegeneinander wenden können, und somit immer nur vorübergehende und lokale Machtzentren ausbilden. In ihrer Wirkung bleiben die einzelnen Mächte und Machtzentren dabei immer in irgendeiner Weise intentional aufeinander sowie auf anderes bezogen.
135 Zur scheinbaren Zweckmäßigkeit dieser Machtorganisationen bei Nietzsche auch Abel (1984), S. 120 ff. sowie (1983), S. 372 ff. u. S. 393. Abel (1982) interpretiert in diesem Zusammenhang „alle Zwecke als späte, nachträgliche Rationalisierungen“ eigentlich endogener Auslassungprozesse (S. 374; H.v. m.).
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Der zweite grundsätzliche Punkt bezieht sich darauf, dass mit Macht immer die Möglichkeit der „Ver-Mittelung“ einhergeht, wie in beiden Theorien zu sehen. Aus machttheoretischer Sicht ist es generell möglich, alles als Mittel betrachten zu können. Speziell für den menschlichen Bereich besteht Macht nicht zuletzt darin, alles und alle zum Mittel machen zu können, inklusive sich selbst und seine eigenen (Zwischen-)Ziele.136 Man könnte den Menschen in Abwandlung eines berühmten Wortes Mendelssohns über Kant daher auch als „Allesinstrumentalisierer“ bezeichnen. „Die Menschheit muss bei jeder grossen Kraft – und sei es die gefährlichste – daran denken, aus ihr ein Werkzeug ihrer Absichten zu machen.“, wie Nietzsche schreibt (MA I, 446, 2, S. 290; H.v. m.). Somit können aus einer machttheoretischen Perspektive letztlich alle Zwecke immer auch als Mittel betrachtet werden. Unter derartige Zwecke kann auch das (eigene) Streben nach Macht selbst fallen, das man als Mittel einsetzen kann, beispielsweise um sich selbst zu Leistungssteigerungen anzuspornen, oder das auch von anderen als Mittel zu ihren eigenen Zwecken (aus-)genutzt werden kann. Daraus leitet sich als dritter und letzter Punkt die Möglichkeit zum Wechsel von Zwecken und Mitteln ab. Die machtgeprägten Verbindungen wurden als Beziehungen gedeutet, bei denen Zwecke und Mittel in einem wechselseitigen und wechselnden Verhältnis stehen. Dieses Verhältnis ist für einzelne Akteure sowie insbesondere für das Verhältnis mehrerer Akteure zueinander im organisationstheoretischen Kontext dargelegt worden. In Ansätzen ist es auch angeklungen in Nietzsches Ausführungen zum wechselseitigen Zweck-Mittel-Verhältnis zwischen den Bürgern eines Staates und dem Staat: Einerseits lassen die Bürger „Staat nur so weit gelten (. . .), als sie ihn in ihrem eigenen Interesse begreifen“ (GS, 1, S. 772), nutzen also – quasi mikropolitisch (!) – „das Mittel des Staates, höchste Förderung ihrer eigennützigen Ziele zu erreichen“, andererseits werden sie, zumindest zum Teil, „unter der Macht jener unbewußten Absichten des Staates selbst nur Mittel des Staatszwecks“ (S. 773; H.v. m.)137 – wobei der Staat selbst, wie beschrieben, als Mittel der Natur fungiert. Dieser Zusammenhang findet sich auch in seinen Notizen zum Verhältnis von Gattung und Individuum sowie zum Organismus, in dem sich die Teile (Organe) untereinander, ebenso wie in ihrem Verhältnis zum Ganzen, in einem rekursiven 136 Gerhardt (2007) weist in diesem Kontext auf die Bedeutung der Vorstellungskraft des Menschen hin. Anschauungen und vor allem Begriffe, die sich in der Vorstellung verbinden, machen es möglich, alles zum Mittel beliebiger Zwecke zu machen (S. 275). Sprache versetzt den Menschen in die Lage, alles (nach Analogie einer Technik) als Produkt und Instrument zu betrachten (ebd., S. 203). 137 Allerdings nimmt Nietzsche an dieser Stelle eine Trennung vor zwischen den Bürgern, die den Staat instrumentalisieren, und denen, die vom Staat instrumentalisiert werden. Diese Trennung ist m. E. weder notwendig noch treffend. Zu späteren Vorstellungen einer Instrumentalisierung des gesamten „demokratischen Europas“ durch „philosophische(.) Gewaltmenschen“ und „Künstler-Tyrannen“ s. N 1885/86, 2[57], 12, S. 87 f.
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Mittel-Zweck-Verhältnis befinden, d. h. sie sind wechselweise in ihrer Funktion aufeinander angewiesen und können sich nur durch ihre jeweilige Funktionserfüllung erhalten und vor allem steigern. An dieser Stelle eröffnen sich m. E. interessante Ansatzpunkte für weiterführende Überlegungen, beispielsweise zu Kants Definition des Organismus als etwas, in dem sich „alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist“ (KU, § 66, AA 5, S. 376)138 sowie zu einem modernen Organisationsverständnis, das nicht mehr von einer unidirektionalen Anordnung von Mitteln zu gegebenen Zwecken ausgeht, sondern von wechselseitig changierenden Zweck-Mittel-Relationen, und zwar zwischen den Akteuren wie auch in Bezug zur Organisation als ganzer. Der springende organisationstheoretische Punkt daran ist, dass sich die Sicht auf Organisation verändert von einem eher starren mechanischen zu einem komplexeren organischen Verständnis. Zwecke werden darin nicht länger als von außen gegebene Größen betrachtet, zu deren Erreichen sich die Organisation als hierarchische Verkettung von Mitteln überhaupt erst bildet. Zweckdefinitionen erscheinen vielmehr selbst als konstruierte Variablen, die in einem wechselseitigem Spiel als Mittel für andere Zwecke fungieren (vgl. Kühl (2002), S. 268). Als solche Konstruktionen sind sie immer machtbasiert. Auch für Nietzsche ist die Zweck-Mittel-Relation, wie gesehen, kein „faktisches Verhältniß, sondern immer nur ein hineingedeutetes“ (N 1885, 43[1], 11, S. 700), und auch für ihn stellen Zwecke Ausdeutungen, Ausdrucksweisen und Anzeichen für einen Willen zur Macht dar. Dennoch wird in beiden Ansätzen durchaus eine gewisse Notwendigkeit derartiger Fiktionen anerkannt.139 6. Intransitivität der Macht In diesem Kapitel wird der Vergleich anhand eines weiteren Strukturmerkmals fortgeführt, das im Folgenden für beide Ansätze diskutiert wird: dem Merkmal der Intransitivität von Macht. Intransitivität besagt innerhalb der strategisch-mi138 Vgl. dazu auch Teil 2 A. II. 10. dieser Arbeit sowie Abel (1984), S. 110 ff. Dieses „Immer-auch-Mittel-sein“, wenn auch niemals bloßes Mittel, spielt dann auch eine prominente Rolle in Kants Formulierung des kategorischen Imperativs (GMS, AA 4, S. 429). Ob und inwiefern es moralisch gerechtfertigt ist, andere zu meinem Mittel zu machen, wird in der Mikropolitik neuerdings auch eingehender diskutiert (vgl. z. B. Neuberger (2006), S. 18, S. 319–552 oder Mohr (1999)). 139 In der Frage, ob „das ,Ziel‘, der ,Zweck‘ nicht oft genug nur ein beschönigender Vorwand, eine nachträgliche Selbstverblendung der Eitelkeit“ (FW 360, 3, S. 607 f.; H.v. m.) sei, liegt darüber hinaus bei Nietzsche in psychologisch erschlossener Form bereits die Möglichkeit so genannter ex post Rationalisierungen vor, die in der mikropolitischen Theorie als „nachträgliche Rechtfertigung (. . .) vollzogener Aktionen, realisierter Strukturen und investierter Mittel“ (Türk (1989), S. 35) eine gewisse Rolle spielen. Generell zum Gedanken einer „(n)achträglichen Vernünftigkeit“ bzw. zu nachträglichen Gründen für Handlungen oder Kognitionen vgl. auch M 1, 3, S. 19 bzw. M 34, 3, S. 43; M 358, 3, S. 241 u. JGB 5, 5, S. 19.
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kropolitischen Theorie, dass aus der Möglichkeit von Akteur A, auf B zu wirken, und aus Bs Möglichkeit, C zu beeinflussen, nicht automatisch auf eine Wirkmöglichkeit As auf C geschlossen werden kann. Darüber hinaus ist Macht an bestimmte Handlungen gebunden: A kann von B unter Umständen die Handlung X erwirken, nicht jedoch Handlung Y (vgl. Crozier/Friedberg (1993), S. 40). Macht geht demnach nicht ohne Weiteres von einer Person auf die andere über, ist nicht transitiv, nicht beliebig übertragbar, sondern an spezifische Beziehungen in einem situativen Kontext gebunden, also an eine bestimmte Beziehungskonstellation zwischen bestimmten Akteuren, die bestimmte Handlungen in einem bestimmten Raum zu einer bestimmten Zeit bewirken wollen.140 Gerade der beziehungsabhängige, situative Charakter kann verdeutlichen, dass Macht nicht wie ein Gegenstand besessen, behalten oder weitergegeben werden kann. Insofern ist es plausibel, dass insbesondere Crozier/Friedberg (1993), die sich besonders deutlich gegen ein Verständnis von Macht als Besitzstand wenden, und die eine Einbindung der Machtstrategien in einen zeitlichen, räumlichen und sozialen Rahmen betonen (vgl. S. 44), die Intransitivität der Macht starkmachen und diese explizit als ein Merkmal von Machtbeziehungen formulieren [s. o. Teil 1 B. I. 2. a)]. Bis zu einem gewissen Grad folgen ihnen die mikropolitischen Theoretiker in dieser Diagnose. Auch für sie ist Macht, wie gezeigt, im Kern ein Komplex aus Relationen der wechselseitigen Kontrolle von Unsicherheitsbereichen, die an situative Bedingungen geknüpft sind. Dieser Komplex als ganzer kann daher nicht ohne Weiteres auf andere Situationen übertragen werden. Dies lässt sich u. a. anhand der Zeitgebundenheit der Macht verdeutlichen: Wenn, um im obigen Beispiel zu bleiben, die Beziehung von A zu B zeitlich gesehen nach der von A zu Person C liegt, und diese nicht im Vorhinein bekannt ist, so kann nicht von einer Transitivität der Macht von A über B auf C ausgegangen werden, denn A könnte aus seiner (noch nicht bestehenden) Beziehung zu B nichts „Machtrelevantes“ für seine Beziehung zu C ziehen. Ähnliches könnte gelten, wenn die Beziehung zu C viel später hergestellt würde und beispielsweise der Kontakt zu B nicht mehr besteht. Die Möglichkeit, Wirkung zu entfalten ist somit abhängig vom jeweiligen Zeitindex der Beziehungen innerhalb einer Konstellation. Macht kann nicht beliebig transferiert werden, sondern ist an einen situativen Kontext gebunden, wie hier am Beispiel der zeitlichen Restriktionen demonstriert. Allerdings ist an dieser Stelle daran zu erinnern, dass Küpper und insbesondere Ortmann im Zuge ihrer konstitutionstheoretischen Erweiterungen der Mikropolitik die Möglichkeit von Strukturbildungsprozessen stärker betonen als Crozier und Friedberg (vgl. Teil 1 B. II. 2.). In diesem Zusammenhang untersuchen 140 Zu etwas anderen Definitionen von Intransitivität bzw. Transitivität vgl. Göhler/ Iser/Kerner (2006), S. 255 ff. bzw. Häußling (2000), S. 241 im Anschluss an die „Transitivität der Macht“ bei Elias.
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
sie in Anlehnung an die Strukturationstheorie von Giddens die Fähigkeit von Strukturen, die angesprochene hohe Situativität der Macht zu relativieren, also das Gebundensein an spezifische Beziehungen und spezifische Handlungen zwischen bestimmten Akteuren in einem bestimmten Raum zu einer bestimmten Zeit etwas zu lockern. Macht ist nach diesen Überlegungen durch Strukturbildungsprozesse in der Lage, zumindest eine gewisse Raum-Zeit-Ausdehnung („timespace-distanciation“ (Giddens (1990), S. 64 ff.) zu überbrücken: „Strukturen, also Regeln und Ressourcen, ,binden‘, in Giddens’ Terminologie, Zeit und Raum“ (Ortmann/Sydow/Windeler (1997), S. 331; H.v. m.). Strukturen werden somit zu „Medien der Ausdehnbarkeit der Macht“ (Ortmann et al. 1990 S. 23, Anm. 11), auch über bestimmte Akteure hinweg. Als Beispiel dafür könnte auf autoritativ-administrativer Ebene eine Stellenhierarchie dienen, auf die im Handeln dauerhaft und wiederholt rekurriert wird. Durch diesen strukturbildenden Rekurs wäre, auch über gewisse (Zeit-)Räume hinweg, das Verhältnis von A zu B, von B zu C und somit auch von A zu C perpetuiert. Im Falle einer straffen Hierarchie über viele Ebenen hinweg kann man sogar davon ausgehen, dass A über B sukzessiv Macht auf C, D, E usf. ausüben kann, ohne selbst eine direkte Beziehung zu C, D, E zu unterhalten. Dies gilt sogar bei wechselnden Akteuren der entsprechenden Stellen. In dieser Herstellung und Gewährleistung einer regelmäßigen und erwartbaren Übertragung von Machtverhältnissen ist gerade die Funktion und Leistung derartiger Hierarchiemodelle und Rangordnungssysteme zu sehen. Intransitivität wird relativiert und soll auch gezielt relativiert werden durch die Wirksamkeit hierarchischer Strukturen, „jene[r] Kaskadenstruktur von Abhängigkeiten, in der Entscheidungen innerhalb organisationaler Hierarchien Bindewirkung jeweils für alle niedrigeren Ebenen entfalten, (. . .) ein schlichter Sachverhalt, der (. . .) die vielzitierte Intransitivität von Machtbeziehungen recht akademisch aussehen läßt: Meistens fließt das Wasser eben doch bergab (vgl. dazu Mackenzie 1986).“ (Ortmann (1992), S. 219 f.; auch Ortmann et al. (1990), S. 37)
Als Zwischenfazit bietet sich also ein differenziertes Bild im Hinblick auf die Intransitivität von Machtbeziehungen innerhalb der strategisch-mikropolitischen Theorie dar: Grundsätzlich lässt sich eine gewisse Zurückhaltung innerhalb dieses Ansatzes gegenüber der Möglichkeit einer Übertragung von Macht zwischen verschiedenen Akteuren konstatieren. Vor allem Automatismen in der Machtübertragung sowie Vorstellungen, die gleichsam eine Analogie zwischen dem Umgang mit Macht und der Handhabung eines substanziellen Gegenstandes suggerieren, wird mit Skepsis begegnet. Dies hängt nicht zuletzt mit der Beziehungsmäßigkeit der Macht zusammen, sowie mit dem großen Einfluss, der situativen Faktoren zugesprochen wird. Andererseits werden, insbesondere im Zuge der vorgestellten konstitutionstheoretischen Erweiterungen, Strukturbildungsprozesse – aus mikropolitischer Sicht selbst machtdurchwirkte Prozesse – dahin gehend
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untersucht, inwiefern Regeln und Ressourcen zumindest eine gewisse Relativierung der grundsätzlichen Intransitivität zur Folge haben, indem sich über die jeweils momentane Situation hinausgehende Machtordnungen bilden können. Mit Intransitivität muss also generell „gerechnet werden“, die „Verfestigung von Macht in hierarchischen Strukturen“ kann aber unter Umständen soweit gehen, sie zu einem „organisationalen Epiphänomen“ werden zu lassen (Ortmann et al. (1990), S. 37). Wie ist vor diesem Hintergrund ein Vergleich mit Nietzsche herzustellen und wie der Aspekt der Intransitivität von Macht bei ihm zu bewerten? Innerhalb seiner Ausführungen zum Willen zur Macht findet sich meines Wissens keine mit der Mikropolitik vergleichbare, explizite Auseinandersetzung mit diesem Punkt. Allerdings lassen sich durchaus Äußerungen angeben, die als Hinweise für die Intransitivität der Macht in dem o. g. Sinn interpretiert werden könnten, z. B., wenn Nietzsche in dem Eingangszitat davon spricht, dass Wille zur Macht eine „bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt“ (N 1885, 38[12], 11, S. 610; H.v. m.) sei. Kraft ist für Nietzsche an eine bestimmte „Lokalität gebunden“ (N 1877, 22[117], 8, S. 400) und „organisirt“ nur „das Nähere und Nächste“ (N 1887, 9[60], 12, S. 366). Für ein Kraftatom kommt „nur seine Nachbarschaft in Betracht: die Kräfte in der Ferne gleichen sich aus.“ (N 1885, 36[20], 11, S. 560) Zusammen mit der Betonung der „Zeitlichkeit“, die ins „Wesen“ von Kraft hinein gehöre (N 1885, 35[55], 11, S. 537) sowie der „absolute[n] Augenblicklichkeit des Willens zur Macht“ (N 1885, 40[55], 11, S. 655)141 ließe sich daraus eine gewisse Raum-Zeit-Abhängigkeit der Macht ableiten, die u. U. gegen eine Transitivität i. S. einer Übertragbarkeit der Macht von einer Beziehung (zwischen A und B) auf eine andere (zwischen A und C) sprechen könnte – und somit für eine Intransitivität der Macht. Dieser Punkt wird weiter unten noch näher zu beleuchten sein. Zunächst einmal ließe sich daraus jedoch eine Übereinstimmung mit der grundsätzlichen Position der strategischen Mikropolitik konstatieren: Auch für Nietzsche ist Macht offensichtlich immer an bestimmte Beziehungen geknüpft und kein Gegenstand, keine Sache, die einfach weitergegeben werden kann, wie im Zusammenhang mit ihrer Relationalität bereits konstatiert worden ist (vgl. Teil 2 A. II. 2.). Aus einer derartigen – hier zunächst einmal unterstellten – Raum-Zeit-Abhängigkeit ließe sich andererseits, in einem zweiten Schritt, zumindest ein partieller Gegensatz zu Giddens und seinen mikropolitischen Rezipienten konstruieren, die, wie gezeigt, gerade die Fähigkeit der Macht hervorheben, Raum-Zeit-Ausdehnung durch Strukturbildung zu überbrücken. Zur Klärung des Verhältnisses 141 „,Zeitlos‘ abzuweisen. In einem bestimmten Augenblick der Kraft ist die absolute Bedingtheit einer neuen Verteilung aller ihrer Kräfte gegeben“ (N 1885, 35[55], 11, S. 537). Und jede Macht zieht „in jedem Augenblicke“ ihre letzte Konsequenz (N 1888, 14[79], 13, S. 258). Vgl. dazu auch das Nietzsche-Wörterbuch, Eintrag „Augenblick“, hg. v. van Tongeren/Schank/Siemens (2005), Bd. 1, S. 181 ff., v. a. S. 195.
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ist also eine vertiefte Auseinandersetzung mit der These der Raum-Zeit-Abhängigkeit der Macht notwendig. Macht setzt nach einer derartigen Interpretation Raum und Zeit voraus, quasi um sich zu entfalten. Dies erscheint uns aus dem menschlichen Handlungskontext plausibel: Wir benötigen einen gewissen Raum und ein Mindestmaß an Zeit, um uns bewegen zu können, tätig werden und (machtvoll) wirken zu können (vgl. Hampe (2006), S. 13 ff.). Gegen eine ausschließliche Interpretation Nietzsches in diesem Sinn sprechen allerdings Aphorismen, die aussagen, dass es weder Raum noch Zeit „an sich“ gebe (N 1885, 36[25], 11, S. 561)142. Letztere seien vielmehr ein „Substrat der Kraft“ (ebd.). Einen „irgendwo ,leer[en]‘ Raum“ (N 1885, 38[12], 11, S. 610) gibt es für Nietzsche nicht, er entsteht erst mit der „Positionsbestimmung der Mächte untereinander“ (Gerhardt (1996), S. 324), spannt sich sozusagen zwischen diesen auf. Es ist also nicht nur Raum und Zeit für die Machtentfaltung nötig. Vielmehr muss andersherum (auch) davon gesprochen werden, dass Raum und Zeit Macht nötig haben und sich überhaupt erst aus Mächten konstituieren. Nietzsche nimmt hier also einen Perspektivwechsel vor. Nur aus der spezifischen Perspektive der jeweiligen Macht ergibt die Rede von „Raum“, von „Nähe“ und „Ferne“, für ihn einen Sinn.143 Weiter oben war nun davon die Rede, dass sich Kräfte in der Ferne ausgleichen. Daraus wurde die Raumgebundenheit der Macht abgleitet. Nietzsche gesteht aber darüber hinaus ein, dass wir die Annahme einer „Wirkung in die Ferne“ nicht „loswerden“ (N 1885, 34[247], 11, S. 504 sowie 36[31], S. 563). Diese Äußerungen lassen die Möglichkeit einer räumlichen Ausdehnung der Macht vermuten. Gleiches gilt für die Zeit: Für Gerhardt (1996) ist, bei aller Betonung des Augenblicks als „die schlechthin entscheidende Zeit; (. . .) (h)ier treffen Mächte aufeinander, hier stellen sich die Machtfragen, und hier müssen sie auch beantwortet werden“, die „Macht in diesen Augenblick nicht eingeschlossen. Als reale Möglichkeit ist sie stets über ihn hinaus und auf kommende Zeitpunkte bezogen.“ (S. 324) Macht hat die Tendenz, sich vom „Pflock des Augenblicks“ zu lösen und zukünftige Augenblicke zu prädisponieren (UB II, 1, 1, S. 248).144 In diese Richtung zielen auch die vielfältigen Bemerkungen Nietzsches zur Macht als „aufgespeicherte Bewegungstendenz“ bzw. „Spannkraft“ (N 1887, 9[92], 12, S. 387). Diese Spannung baut sich dadurch auf, dass über einen längeren Zeitraum hinweg Kräfte aufgespart, angesammelt und aufgehäuft wer142
Vgl. z. B. auch N 1872/73, 19[140], 7, S. 464; N 1885, 35[55], 11, S. 537. Raum steht somit für Relationalität und Perspektivität gleichermaßen, die bei Gerhardt (1996) das siebte und neunte Organisationsmoment der Macht bzw. des Willens zur Macht bilden (vgl. S. 325 f.). 144 In diesem Sinne könnte man auch davon sprechen, dass der Wille zur Macht „unzeitgemäss“ wirken kann, nämlich „gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und (. . .) zu Gunsten einer kommenden Zeit“, wie Nietzsche das in der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung von der Philologie fordert (UB II, 1, 1, S. 247). 143
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den (GD, 6, S. 145 f.). Es gibt geradezu „ a u f h ä u f e n d e Zeiten, wo Kraft, Machtmittel gefunden werden, deren sich einst die Zukunft bedienen wird“ (N 1886/87, 5[59], 12, S. 206 f.). Diese Formulierungen sehen Giddens’ Äußerungen, „daß Macht für einen zukünftigen Gebrauch ,aufgespeichert‘“ (Giddens (1984), S. 135) werden kann und die in der Mikropolitik mit großem Interesse aufgenommen worden sind (vgl. z. B. Ortmann (1992b), S. 220), verblüffend ähnlich. In beiden Ansätzen spielen also die Aspekte der Speicherung, Ansammlung und Aufhäufung von Kraft und Macht eine hervorgehobene Rolle. Gerhardt (1996, S. 254) vergleicht die Macht bei Nietzsche daher auch mit einem „Kraft-Magazin“ (N 1886/87, 7[62], 12, S. 317), auf das zurückgegriffen werden kann, sowie mit einem „Speicher“ oder „Stau“: „Die Macht ist wie ein Stau von Kräften, der sich als Wille löst.“ (Gerhardt (1996), S. 274) Gerade dieses „Lösen“ erfährt in Nietzsches Aufzeichnungen eine sehr hohe Aufmerksamkeit und eine starke Gewichtung: Mehr noch als der „allgemeine S p a n n u n g s z u s t a n d “ (N 1887/88, 11[114], 13, S. 54), der mit der Kraftspeicherung erzielt werden kann, interessiert ihn offensichtlich die Auslösung selbst, die bereits in seinen Überlegungen zur Kraft einen großen Raum eingenommen hat (vgl. Teil 1 A. II. 1.). Erst in dieser Auslösung, die analog zu einem Aktionspotenzial als Spannungsänderung bzw. Spannungsumkehr verstanden werden könnte, in der die Kraft sich entlädt, und die der Macht eine Richtung verleiht, kommt die Macht zu ihrem eigentlichen Ausdruck. Giddens denkt nun „mit Blick auf die Moderne auch und vor allem an die Speicherung autoritativer Ressourcen“, und zwar „im Gedächtnis, in der Form der Schrift und heute mittels Computertechnik, aber eben auch in Form der Organisation“ (Ortmann/Sydow/Windeler (1997), S. 332; H.v. m.). Insbesondere Ortmann schließt sich ihm in diesem Punkt an und untersucht detailliert die Möglichkeit zur Speicherung autoritativer Ressourcen in EDV-Technik.145 Wollte man an dieser Stelle einen Unterschied ausmachen, so könnte man – abgesehen natürlich vom Unterschied hinsichtlich der zur Verfügung stehenden (elektronischen) Techniken – die These aufstellen, dass Nietzsches Fokus sich eventuell eher auf den Zeitpunkt der Auslassung, der Kraft-Explosion, des momentanen – 145 Vgl. Ortmann et al. (1990); explizit S. 517, Punkt 3. Ortmann (1984) belegt bereits in den 1980er Jahren, wie Personalarbeitssysteme die zeitliche Durchdringung des Arbeitsalltags und des Arbeitslebens leisten: Durch die Personalinformationssysteme sei die Zeit „linearer“ gemacht geworden und „das Gedächtnis besser“ (S. 129; H.v. m.). Ob es durch Informatisierungstechnik generell eher zu flacheren Hierarchien oder zu deren Vertiefung kommt, hängt nach Ortmann „von zwei Fragen ab: von der Stellung, die der Tätigkeitsbereich in Strategien des oberen Managements hat und von dem Verlauf der mikropolitischen Auseinandersetzungen, der allerdings mit dem ersteren zusammenhängt. Die ,Informatisierung‘ ändert nichts an den Führungsstrukturen, sondern erst die strategische Bezugnahme der Akteure auf die neue Technik.“ Allerdings: „Die Art, wie deren Karten gemischt sind, stützt keine hohen Erwartungen in Richtung flacherer Hierarchien.“ (Ortmann et al. (1990), S. 541)
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in Sieg und Überwindung – erfahrenen Machtgefühls und somit eher auf das Ende der Speicherung, weniger auf das Speichern selber richtet. Giddens, und ihm darin folgend Küpper und Ortmann, scheinen an dieser Stelle also in der Tendenz mehr auf strukturelle, vergangenheitsspeichernde und zukunftsbeeinflussende Momente zu setzen. Und somit in der Tendenz mehr auf zeitbindende Aspekte als Nietzsche, der bei aller Möglichkeit der Speicherung ein stärker zeit(punkt)gebundenes Verständnis von Macht zu haben scheint. Dies ist m. E. nicht ganz von der Hand zu weisen, und wird auch gestützt durch die generelle Tatsache einer gesonderten und eingehenden Betrachtung herrschaftlicher Strukturen innerhalb der Mikropolitik, die sich in dieser Weise bei Nietzsche nicht findet. Allerdings lassen sich durchaus auch bei ihm sehr gewichtige zeitbindende Momente ausmachen. Und zwar gerade auch im Hinblick auf die Termini „Gedächtnis“ und „Organisation“, wie sich besonders gut im zweiten Teil der Genealogie der Moral zeigen lässt, in dem er die Entwicklung vom Menschen als „notwendig vergessliche[n] Thier“ zu einem Tier, „das versprechen darf“ nachzeichnet (vgl. GM II, 1 ff., 5, S. 292 ff.).146 Ausgehend vom Vergessen als einer aktiven und notwendigen Leistung, ohne die es „keine G e g e n w a r t geben könnte“ (ebd.), stellt er die Frage, wie diese Vergesslichkeit für bestimmte Fälle „ausgehängt“ werden kann: „Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtnis? Wie prägt man diesem theils stumpfen, theils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaftigen Vergesslichkeit Etwas so ein, dass es gegenwärtig bleibt? (. . .) Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtniss’“ (ebd., S. 295).
Das Entscheidende für unseren Kontext ist, dass nur über das Gedächtnis eine gewisse Festlegung und eine Voraussehbarkeit der Handlungen überhaupt möglich werden: Der brutale Einprägungsprozess des Gedächtnisses ist die notwendige Bedingung für die Möglichkeit des Menschen, zu einem souveränen Individuum zu werden, eine gewisse Selbstmächtigkeit zu erlangen, Versprechen geben und Verträge schließen zu können. Also die Zukunft des eigenen Handelns und somit in gewisser Weise auch die Zukunft im eigenen Handeln zu binden. Damit sind nach meiner Interpretation zeitbindende Aspekte von Macht angesprochen: Die Machtverhältnisse der Vergangenheit „wirken nach“, hinein in die Gegenwart und prägend auf die Zukunft, und somit über Zeiträume hinweg.147 Die 146
Vgl. ausführlicher dazu Höffe (2004), S. 65–79 sowie Gerhardt (2004), S. 81–95. Vgl. z. B. auch Hampe (2006), S. 26 f. Aufpassen muss man allerdings, Zeit mit Nietzsche nicht einfach als ein lineares „ N a c h e i n a n d e r “ im Sinne eines Zeitstrahles zu verstehen (N 1885/86, 2[139], 11, S. 136). Dem widerspricht nicht nur die Vorstellung der Ewigen Wiederkehr des Gleichen, bei der, bildlich gesprochen, die Linie des Strahles zu einem „Kreis“ oder „Ring“ gebogen ist, wie sich dem Eingangszitat entnehmen lässt (vgl. Oger (1994), S. 325 ff.; Abel (1982), S. 388). Generell scheint er die Prozesse eher als ein „ I n e i n a n d e r “ (N 1885/86, 2[139], 11, S. 136) denken zu wollen: „Gesetzt die Welt verfüge über Ein Quantum von Kraft, so liegt auf der Hand, 147
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Zeitbindung und Verstetigung von Machtbeziehungen ist dabei auch für Nietzsche immer auf Formen der Organisation angewiesen, wie man sich am Leib verdeutlichen kann, der in diesem Zusammenhang häufig im Zentrum seiner Überlegungen steht: Gedächtnis besitzt für ihn z. B. kein eigenes Organ, sondern ist in der Organisation des ganzen Leibes eingeschrieben, ihm „anorganisirt“ (N 1880, 2[68], 9, S. 44; H.v. m.).148 Andersherum muss die Struktur auch bei den mikropolitischen Theoretikern durch permanente rekursive Bezugnahme der Handelnden erhalten bzw. (re-)produziert und somit aktualisiert werden, um in Zukunft wirken zu können. Somit sind zumindest in der Tendenz auch in diesem Ansatz, wie Gerhardt (1996) es in Bezug auf Nietzsche formuliert, „Möglichkeit und Zukunft [der Macht] (. . .) aus dem Augenblick entworfen“ (S. 324; S. 313 f.) und können sich nicht vollständig von diesem lösen. Der Augenblick des Aufeinandertreffens der Mächte bleibt als entscheidende Konstante erhalten: „Es gibt den ,günstigen Moment‘, die ,verpaßte Chance‘, den ,kritischen Zeitpunkt‘, die ,deadline‘, die ,Ungleichzeitigkeit von Entwicklungen‘, man kann ,Zeit gewinnen‘ (oder verlieren) (. . .). Alles fließt, nichts wiederholt sich identisch.“ (Neuberger (1995), S. 88)149
Die „Verfügung über Zeit ist Machtbasis und Machtausdruck“, gleichzeitig entzieht sich die Zeit der willkürlichen Indienstnahme“ (ebd.). Das richtige Timing ist für die Mikropolitik von entscheidender Bedeutung.150
daß jede Macht-Verschiebung an irgendeiner Stelle das ganze System bedingt – also (. . .) Abhängigkeit neben und miteinander (. . .)“ (ebd., 2[143], S. 137). Nietzsche präferiert demnach die Vorstellung einer Gleichzeitigkeit der Prozesse, die bei Gerhardt (1996) daher das fünfte konstitutive Element des Willen zur Macht darstellt (vgl. S. 324). Dies lässt sich ebenfalls mit dem Eingangszitat untermauern, in dem die Welt als Wille zur Macht charakterisiert wird als „feste, eherne Größe von Kraft, (. . .) hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd“ (N 1885, 38[12], 11, S. 610 f.; H.v. m.). Dies gilt bis in die „kleinsten Fragmente“ hinein: Der Wille zur Macht „wird gezwungen, um sich irgendwohin zu verdichten, an anderer Stelle sich zu verdünnen“ (N 1885, 43[2], 13, S. 702). 148 Zum „Leib als eine Art Gedächtnisstütze“ ebenfalls Bourdieu (1999), S. 739. Auch für Foucault (1994) rückt der Körper als „ein Träger von Kräften und Sitz einer Dauer“ in den Mittelpunkt der Machtanalyse (S. 199 u. S. 202). Insgesamt lässt sich sagen, dass der Zusammenhang von Macht und Körper ein Aspekt ist, der in der soziologischen Debatte einen weiten Raum eingenommen hat, und der nicht ohne Einfluss auf die Mikropolitik geblieben ist (vgl. v. a. Ortmann (1984), Ortmann et al. (1990), Neuberger (1995) sowie Küpper/Felsch (2000); ausführlicher dazu das Kapitel II. 9. über Macht und Ästhetik). 149 Dazu auch Plessner (2003): „So gibt es für den Menschen den rechten Augenblick, das Gebot der Stunde, die versäumte Gelegenheit und die richtig genutzte Gelegenheit. Und nicht nur im temporalen Sinne. Es gibt die ungünstige Konstellation, den geeigneten Raum in eigentlicher und übertragener Bedeutung.“ (S. 197) 150 Zur Mikropolitik der Zeit vgl. ausführlich Ortmann et al. (1990), S. 458 ff.
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Macht ist demnach für beide Ansätze sowohl zeitbindend als auch zeitgebunden.151 In beiden Fällen verknüpft Macht – durch die Fähigkeit des Speicherns einerseits, und die Tendenz zur Bewegung sowie die Ausrichtung auf „zukünftigen Gebrauch“ andererseits –Momente des Vergangenen und Zukünftigen in aktualisierter Form. Die aktuale, gegenwärtige Macht übernimmt dabei gleichsam die Funktion eines Scharniers zwischen Vergangenheit und Zukunft. Insgesamt sollte die obige starke These der Raum-Zeit-Abhängigkeit des Willens zur Macht daher m. E. relativiert werden: Vielleicht ist es treffender, von einer Raum-ZeitBezogenheit der Macht zu sprechen. Eine derartige Ausdrucksweise bliebe vereinbar mit der o. a. Vorstellung eines rekursiven Verhältnisses: Macht benötigt einerseits zu ihrer Entfaltung Raum und Zeit, spannt aber selbst gerade (Möglichkeits-)Räume auf und ist in der Lage, Zeit zu binden. Macht vermag durch Strukturbildung, in einem gewissen Rahmen (Zeit-)Räume zu überbrücken, wie oben am organisationstheoretischen Beispiel der Hierarchie von Stellen gezeigt worden ist.152 Gerade dieser Hinweis auf Hierarchien und Rangdifferenzierungen, deren reale Bedeutung insbesondere Ortmann hervorhebt (z. B. Ortmann et al. (1990), S. 35 ff.), zeigt m. E. noch einmal, dass der oben hypothetisch aufgemachte starke Gegensatz zu Nietzsche etwas Konstruiertes hat und eher der argumentativen Entfaltung der Inhalte geschuldet war. Die Betonung der faktischen Wirksamkeit von Hierarchien und Rangfolgen ist Nietzsche – der die Problematik der Rangordnung explizit als zentrales Problem seiner Überlegungen benennt (s. MA I, 2, S. 20 ff.) und sich selbst bzw. sein „alter ego“ Zarathustra (Himmelmann (2000), S. 17) als „Lehrer von der Rangordnung“ (N 1885, 35[74], 11, S. 542) tituliert – nämlich keineswegs fremd, wie das nächste Kapitel noch eingehender zeigen wird. Eher könnte man sagen, dass Nietzsche hierarchischen Organisationsstrukturen gegenüber im Allgemeinen noch weit aufgeschlossener gegenübersteht als Küpper und Ortmann, die diese eher als unumgänglich denn als wünschenswert ansehen. Worauf es hier zunächst ankommt, ist, dass durch die starke Betonung von Hierarchien, Rangunterschieden und Befehl-GehorsamsVerhältnissen der Intransitivität der Macht gewisse Grenzen gesteckt sind. Denn Hierarchien können, wie gezeigt, dazu dienen, Machtverhältnissen zumindest
151 Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Neuberger (1995, S. 88), der Zeitlichkeit als einem wichtigen Merkmal des Politischen besondere Aufmerksamkeit widmet. Auf eine Formel gebracht: „,Zeit ist Macht!‘“ (S. 87) 152 Zu einer möglichen Enträumlichung und Entzeitlichung der Machtbeziehungen – und somit zu einer Erhöhung der Transitivität von Macht – durch einen technischen „Kontrollapparat, eine Ansammlung von autoritativ-administrativen, technischen und ökonomischen Ressourcen, Legitimations- und Sanktionsregeln und Expertenwissen“ Ortmann et al. (1990), S. 529. Allerdings ist auch hier der gesamte Prozess der Etablierung sowie des Einsatzes dieser Ressourcen von mikropolitschen Auseinandersetzungen durchzogen und geprägt.
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eine gewisse räumliche und zeitliche Ausdehnung bzw. Dauer zu verleihen und fördern somit die Transitivität von Macht. Dieses Kapitel abschließend lässt sich daher festhalten: Sowohl bei Nietzsche als auch in der Mikropolitik spielt die Raum-Zeit-Bezogenheit der Macht ein wichtige Rolle. Zusammen mit der bereits thematisierten Relationalität der Macht lässt sich daraus eine hohe Situativität und Kontextgebundenheit und somit eine grundsätzliche Tendenz zur Intransitivität von Macht ableiten. Der Nichtübertragbarkeit der Macht sind in beiden Konzepten allerdings gewisse Grenzen gesteckt, vor allem durch Hierarchiebildungen, Rangordnungsprozesse und die Etablierung von Befehl-Gehorsams-Verhältnissen, die eine gewisse Übertragbarkeit von Machtverhältnissen herstellen und gewährleisten können. An dieser Stelle kommt einmal mehr zum Tragen, dass „die“ mikropolitische Theorie, wie sie hier auf der Basis der Strategischen Organisationstheorie und in ihrer konstitutionstheoretischen Erweiterung rekonstruiert und dargelegt worden ist, ebenso wenig wie Nietzsches Wille zur Macht eine abgeschlossene Theorie bildet, weder im Sinne einer fertiggestellten noch im Sinne einer vollkommen geschlossenen Theorie, sondern verschiedene theoretische Strömungen in sich aufnimmt. Deutliche Gegensätze zwischen den Theorien tun sich, meinem Eindruck nach, vor allem immer dann auf, wenn Äußerungen für Intransitivität aus dem einen Konzept Passagen aus dem anderen gegenübergestellt werden, in denen es um die Einschränkung und Relativierung von Intransitivität geht. 7. Asymmetrie der Macht Aus den Ausführungen des vorangegangenen Kapitels ergibt sich ein weiteres gemeinsames Organisationsmoment von Macht, das in diesem Kapitel noch einmal aufgegriffen und vertieft werden soll: Beide Ansätze sehen Machtbeziehungen im Grundsatz als asymmetrische Beziehungen an. Für Nietzsche wurde dies bereits durch die zentrale Stellung der Rangordnungslehre in seinem Werk angedeutet. Ähnlich dem Motiv der Agonalität und in engem Zusammenhang mit diesem, ließe sich die Bedeutung der Rangordnung durch Nietzsches gesamtes Werk hindurch nachzeichnen, bis hinein in das Frühwerk: „Der schon beim frühen Nietzsche dominante Gedanke der Steigerung oder die Funktion von Kampf, Sieg und Triumph verweisen direkt auf eine immanente Stufenfolge des Lebendigen, die auch in der Geschichte ihre Fortsetzung findet.“ (Gerhardt (1988d), S. 102)
Das Ausbilden von Rangordnungen wird von Nietzsche als das „Prinzip des Lebens“ angesehen, wie er auch in einem Entwurf zu einer Kapitelüberschrift notiert (N 1886/87, 7[9], 12, S. 294 ff.). Der Mensch wird als eine „Vielheit von Kräften“ betrachtet, „welche in einer Rangordnung stehen“ (N 1885, 34[123], 11,
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S. 461). Die Unterschiedlichkeit der Menschen und ihrer Kräfte, des in ihnen wirkenden Quantums Macht findet sich in einer „Rangordnung zwischen Mensch und Mensch“ (JGB 228, 5, S. 165) bzw. in einer „Rangkluft“ (JGB 62, 5, S. 83) zwischen diesen wieder153: „Über den Rang entscheidet das Quantum Macht, das du bist“, heißt es dementsprechend in einer Notiz aus dem späten Nachlass (N 1887/88, 11[36], 13, S. 20). Dieses Prinzip ist aber nicht auf den (zwischen-) menschlichen Bereich beschränkt, sondern betrifft auch die – nach Nietzsches bisher falsch vorgenommene – „Rangordnung zu Thier und Natur“ (FW 115, 3, S. 474) sowie das Verhältnis zwischen einzelnen Kräften, Trieben, Empfindungen, Gedanken und Werten, zwischen Moralen, Künsten und wissenschaftlichen Disziplinen, zwischen Gesellschaften, Staaten, Kulturen, Völkern usf. und erstreckt sich letztlich auf die gesamte „Ordnung der Dinge“ (GM III, 25, 5, S. 402).154 Dies kann hier nicht im Detail nachgezeichnet und ausgearbeitet werden. Für unseren Kontext ist generell festzuhalten, dass Macht sich nach Nietzsches Auffassung in Ordnungen mit unterschiedlichen Rangpositionen ausbildet. Weiter oben ist mit Nietzsche bereits von einer „Ordnung von Machtsphären und deren Zusammenspiel“ die Rede gewesen, sowie davon, dass das „ S t ä r k e r w e r d e n “ gewisse „Ordnungen mit sich bringt“ (N 1887, 9[91],12, S. 386). Jede Macht ist notwendig angewiesen auf die wechselseitige Einschätzung und das Messen mit anderen Mächten, auf die Einordnung im Vergleich und in Relation zu diesen im Kampf. Dabei kommt es zu Unter- und Überordnungen. „Rangordnungen erwachsen aus Kämpfen, die sich bis in die einfachsten organischen Prozesse hinab verfolgen lassen.“ (Müller-Lauter (1999), S. 120). Macht prägt sich somit in asymmetrischen Beziehungen mit stärkeren und schwächeren Elementen aus. Sobald sich eine Übermacht über eine geringere Macht einstellt, bilden sich „Ordnungen des Rangs“ (N 1887, 9[91],12, S. 386); Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang explizit von „Organisation“, und zwar im Sinne einer Organisiertheit, also in der zweiten eingangs vorgestellten Verwendungsweise. Bezogen auf ganze Beziehungsgeflechte mit einer Vielzahl von einzelnen Relationen lässt sich hier auch von asymmetrischen bzw. hierarchisch verfassten Organisationsstrukturen sprechen, die letztlich allem zu Grunde liegen. Alles Seiende wird von Nietzsche „als Herrschaftsgefüge, als hierarchisch organisierte Machtquanten aufgefaßt.“ (Müller-Lauter (1999), S. 58)155 153 Dazu auch JGB 257, 5, S. 205 sowie zur „ R a n g f o l g e der höheren Menschen“ N 1885/86, 2[66], 12, S. 89. Nach Nietzsches Auffassung soll die jeweilige Macht-Quantität „rangbestimmend“ sein (N 1887, 9[75], 12, S. 375), weswegen er auch immer wieder das nötige Distanzgefühl einfordert als Fähigkeit, „überall Rang, Grad, Ordnung zwischen Mensch und Mensch“ zu sehen (EH, 6, S. 362). So wie er in der „Rangdistanz“ selbst das entscheidende Kriterium für die „höhere Natur“ großer Individuen ausmacht, nicht in ihren Wirkungen (N 1888, 16[39], 13, S. 497). 154 Zur Erschütterung der Stellung des Menschen in der „Rangabfolge der Wesen“ ebenso GM III, 25, 5, S. 402.
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In der strategisch-mikropolitischen Theorie werden Machtbeziehungen ebenfalls prinzipiell als asymmetrische angesehen [vgl. Teil 1 B. I. 2. a)]. Crozier/ Friedberg (1993) gehen davon aus, dass in Machtbeziehungen, die als Verhandlungs- und Tauschbeziehungen konzipiert sind, immer einige Spieler gegenüber ihren Gegenspielern begünstigte Tauschbedingungen besitzen oder erlangen (vgl. S. 40 f.). Ein Akteur kann mehr aus der Beziehung herausholen als ein anderer, so dass sich ein Übergewicht herausbildet und vorherrscht (s. auch Friedberg (1992), S. 42). Bei Machtbeziehungen handelt es sich demnach strukturell um unausgewogene Beziehungen. Asymmetrie kann nach ihrer Auffassung geradezu als ein konstitutiver Bestandteil der Definition von Macht gelten: „Ist der Tausch (. . .) zugunsten des einen oder anderen unausgeglichen und ist die Ungleichheit nicht ein Werk des Zufalls, sondern entspricht den strukturellen Bedingungen der jeweiligen Situation beider Gegenspieler, so kann man rechtmäßig von einer Machtbeziehung sprechen.“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 41)
Küpper/Ortmann (1986) sowie Küpper/Felsch (2000) stimmen der Diagnose der Asymmetrie von Machtbeziehungen grundsätzlich zu. Von einer Machtbeziehung wird auch ihrer Meinung nach in der Regel nur dann gesprochen, wenn die Austauschbedingungen mindestens einen der Akteure begünstigen. Regelmäßig der Fall ist dies in hierarchischen Strukturen. Denn jede Hierarchie, verstanden als ein System von Elementen, die einander über- bzw. untergeordnet sind, basiert auf asymmetrischen Einzelbeziehungen bzw. bringt diese institutionell hervor oder wirkt zumindest begünstigend auf die Bildung von Asymmetrien.156 Empirisch gestützt sowie strukturtheoretisch untermauert wird dies von Ortmann et al. (1990) unter Rückgriff auf die Strukturationstheorie. Anhand des im ersten Teil vorgestellten Schemas lässt sich Asymmetrie als ungleich verteilter Zugang zu relevanten Ressourcen und Regeln innerhalb einer Organisation fassen, der rückwirkend die Asymmetrie noch verstärken kann (vgl. Teil 1 B. II. 2.). Hierarchie wird hierbei als Eigenschaft von Herrschaftsordnungen aufgefasst, die sämtliche von den Autoren identifizierten Dimensionen betrifft, also neben der klassischerweise im Vordergrund stehenden autoritativ-administrativen Dimension, ebenso die sinnlich-ästhetische, kognitive, normative, ökonomische sowie die technische Dimension (s. o. Abb. 6 u. 7). Auf der autoritativ-administrativen 155 Die Tendenz zur Hierarchie, zur Rangfolge, stellt nach Gerhardt (1996) das zehnte Prinzip der Machtordnung dar. Der „soziomorphe Charakter“ der Wirklichkeit, die sich aus dem herrschaftlich verfassten Verhältnis zwischen Mächten konstituiert, die wechselseitig Geltungsansprüche erheben und im Modus von Befehl und Gehorsam interagieren, tritt laut Gerhardt in diesem Prinzip mit besonderer Deutlichkeit hervor (S. 326). 156 Der Umkehrschluss ist allerdings damit nicht gleichermaßen impliziert: Nicht jede einzelne asymmetrische, also unausgewogene, Beziehung muss in eine hierarchische Kette von Beziehungen eingebettet sein. Nur so wird zumindest m. E. verständlich, wie Crozier/Friedberg (1993) gleichermaßen die Asymmetrie von Machtbeziehungen wie auch deren Intransitivität betonen können.
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Dimension, die für die Autoren mit ihrem bürokratischen Herrschafts- und Verwaltungsapparat nach wie vor den „harten Kern“ der hierarchischen Strukturen darstellt, machen Ortmann et al. (1990) mit Rammstedt (1974) sechs wesentliche Momente aus: „1. Rangdifferenzierung, die nicht willkürlich ist, sondern auf unterstellten Drohpotentialen basiert, 2. Aufgabendifferenzierung, 3. asymmetrische Kommunikationsstruktur (von unten nach oben als Information mit abstrakter werdendem Informationsgehalt, von oben nach unten in Form von Anweisungen mit zunehmender Sachbezogenheit), 4. Institutionalisierung von Positionen (Stellen) als Schnittstellen von Aufgabenkomplexen und personeller Besetzung, 5. straffe Organisationsform im Sinne einer Eigensicherung der Hierarchie gegen ihre Infragestellung und 6. Eigenideologie, die, vom einzelnen internalisiert, ihn an die Hierarchie bindet“ (Ortmann et al. (1990), S. 35 f.).
Darüber hinaus sind aber auch allokative Ressourcen meist asymmetrisch verteilt, ebenso wie der Zugang zu rechtlichen Normen und organisationalen Regeln sowie zu organisationalen Wahrnehmungs- und Deutungsschemata. Dabei ist immer mitzudenken, dass alle Strukturen hier zu verstehen sind als (re-)produziert durch Akteure, die immer die Fähigkeit haben, anders zu handeln, deren mikropolitisches Handeln durch die Strukturen demnach nicht determiniert, sondern restringiert und ermöglicht wird, wie Ortmann nicht müde wird zu betonen (s. auch Ortmann (2004), S. 228, Anm. 160). Als wichtige asymmetrisch verteilte Machtressourcen, die tatsächlich mikropolitisch eingesetzt werden, identifizieren Ortmann et al. (1990), neben der finanziellen Kontrolle, v. a. die Anweisungsbefugnisse und die Sanktionierungsmacht von Vorgesetzten bezüglich Gratifikationen, Karriere usw., „die ihnen aus ihrer hierarchischen Position zur Verfügung stehen“, sowie „die Zeit, die sich als ungleich verteilte Ressource erweist“ (S. 397; H.v. m.; auch S. 458 ff.). Gleiches lässt sich auch für den Raum konstatieren: In der Verfügung über Räumlichkeiten liegt eine ungleich verteilte (autoritativ-administrative) Ressource vor, die darüber hinaus auf der sinnlich-ästhetischen Dimension wirkt. Asymmetrische Machtpositionen spiegeln sich häufig auch in der faktisch eingenommenen Position im Raum wider (vgl. Ortmann et al. (1990), S. 33). Ebenso können Datensysteme als „geronnene Asymmetrie“ gedeutet werden; Asymmetrie kann in Soft- und Hardware eingeschrieben und somit technisch fixiert sein.157 Der Punkt ist hier, dass dies als Manifestationen existierender Asymmetrien sowie als deren Verstetigung und Verstärkung angesehen werden kann. Gerade der Hinweis auf den technischen Bereich zeigt aber auch, dass die Verteilung der Machtressourcen dabei aus mikropolitischer Sicht nicht immer der formalen hierarchischen Struktur folgen muss: Denn gerade der EDV-Bereich,
157 Vgl. Ortmann (1984), S. 136; auch S. 141 f.; dazu ausführlicher auch das Kapitel Macht und Ästhetik (II. 9.).
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aber nicht nur dieser, ist auf ein enormes Expertenwissen angewiesen, das nicht immer auf der höchsten formalen Hierarchiestufe angesiedelt sein muss. Gleiches gilt für die Kontrolle von Ungewissheitszonen wie der reibungslosen Produktion oder den Normen des Betriebsverfassungsgesetzes, die laut Ortmann et al. (1990) bedeutende faktische Machtquellen derer darstellen, die von niedrigeren formalhierarchischen Positionen aus agieren (vgl. S. 397). Insgesamt veranschlagen die Autoren die Bedeutung von formalen Hierarchien dennoch recht hoch. Zwar räumen sie ein, dass formale Hierarchien die Machtbeziehungen nicht komplett bestimmen: „Gegen eine heute beliebte Umkehrung der Akzentsetzung scheint es uns aber angebracht, die Akzente erneut zurechtzurücken und ausdrücklich solche Momente von Organisations- und Machthierarchien zu betonen, die ihnen dennoch ein erhebliches Gewicht gerade für das Alltagshandeln in Organisationen verleihen.“ (S. 37)
An dieser Stelle ist weniger die Diskussion entscheidend, ob Asymmetrien entlang der formalen oder informalen Hierarchien verlaufen, sondern vielmehr, dass grundsätzlich von einer Asymmetrie der Machtbeziehungen ausgegangen wird, und dass Asymmetrie die Verteilung von Machtressourcen in allen Dimensionen von Macht und Herrschaft betrifft. Auch Expertenwissen, Definitionsmacht, die Kontrolle über Informations- und Kommunikationskanäle und selbst sinnlichästhetische Machtressourcen liegen „hierarchisch ungleichgewichtig verteilt [vor], – und das dürfte in praxi wichtiger sein als das hierarchische Aussehen formaler Organisationsstrukturen.“ (Ortmann et al. (1990), S. 35)158
Ein weiterer interessanter Punkt ist m. E., dass es gar nicht nur auf die „wirkliche Verteilung von Machtressourcen“ ankommt, sondern häufig in entscheidender Weise darauf, „ob ungleich verteilte Macht unterstellt, wahrgenommen, geglaubt und akzeptiert wird.“ (S. 37) Hierarchien werden nach der Diagnose der Autoren von denen, die ihnen unterworfen sind, nicht nur unterlaufen, sondern sehr viel häufiger als gegeben und unabänderlich angenommen und somit gefestigt.159 „Daß auch diese kulturellen Momente hierarchisch verteilt sind, drängt sich mit überwältigender Nachdrücklichkeit auf, wenn man auf verschiedenen Hierarchieebenen seine Beobachtungen macht und Gespräche führt, – und wird in seiner Bedeutung für die Verfestigung und Verstetigung von Machthierarchien immer noch enorm unterschätzt“ (ebd.).
158 Eventuellen Informationsasymmetrien zwischen Prinzipalen und Agenten zuungunsten von ersteren, wie sie die Institutionenökonomik betont, stehen dabei nach Ortmann (2003) Konstitutionsasymmetrien in Form von Interpretations-, Definitionsund Enactment-Asymmetrien kompensierend gegenüber (vgl. S. 197). 159 Entscheidungen, die „von oben“ kommen, werden in einen „Rationalitätsmythos gehüllt, eine gläubige Erwartung nicht nur der Macht, sondern auch der Vernunft“ (Ortmann et al. (1990), S. 37).
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Insofern gehören gemäß Küpper/Felsch (2000) „auch Machtbewertungen der Akteure zu den Deutungsmustern, die ihre Machtbeziehungen konstituieren.“ (S. 22) Und zwar häufig als asymmetrische Beziehungen. Als Zwischenresümee lässt sich also zunächst einmal festhalten, dass sowohl für Nietzsche als auch für die mikropolitische Organisationstheorie Machtbeziehungen im Grundsatz als asymmetrische Beziehungen aufgefasst werden. Machtbeziehungen werden als strukturell unausgeglichene Relationen betrachtet, bei denen es zentral um die Über- und Unterordnung im Verhältnis zu einem Gegenüber geht. Dies lässt sich nicht nur aus der zentralen Rolle der Agonalität in beiden Ansätzen ableiten – (Wett-)Kampf und Auseinandersetzung sind darauf angelegt, Sieger und Besiegte, Gewinner und Verlierer, Erste, Zweite, Dritte hervorzubringen, und somit Ordnungen herzustellen –, es zeigt sich nicht zuletzt auch an dem Stellenwert, der Hierarchien und Rangordnungen in beiden Theorien explizit eingeräumt wird, wie in diesem Kapitel gezeigt worden ist. Auch ist für den Zusammenhang der Asymmetrie von Macht erneut die Bedeutung angeklungen, die in beiden Ansätzen der gegenseitigen Einschätzung, der Deutung und Interpretation zukommt. Zum einen hängt die Konstatierung von Macht, die in beiden Konzepten als wechselseitig geglaubte Macht konzipiert ist160, und damit auch die Anerkennung von gewissen Asymmetrien zwischen den Akteuren von Interpretationen ab. Man könnte hier auch den Begriff der Erwartung einfügen: Laut Ortmann et al. (1990) beruht gerade die zeitliche Stabilisierung von Asymmetrien in hierarchischen Strukturen „nicht zuletzt auf Erwartungen – und besonders auf dem reflexiven Mechanismus der Erwartungserwartung: Die Beteiligten erwarten nicht nur die Realisierung von Drohungen, sondern rechnen auch damit, daß die anderen ihrerseits damit rechnen. Mit der Hierarchie erhalten die wechselseitigen Bedrohungen und reflexiven Erwartungen eine für die Beziehungen der Beteiligten (wie mühsam und leidvoll auch immer) aushaltbare Form, die vor allem von der Notwendigkeit entlastet, Drohungen jedes Mal neu zu testen bzw. zu realisieren.“ (S. 36)
Die Bedeutung dieser „wechselseitige[n] Erwartung möglicher Wechselwirkung“ für Nietzsche macht Gerhardt (1988d) am Beispiel des Rechtssphäre deutlich, als „das Produkt wechselseitiger, auf künftige Handlungen projizierter Machtschätzungen. (. . .) Machtschätzungen dieser Art sind eben das, was die Soziologie heute unter ,Handlungserwartungen‘ zu fassen sucht.“ (S. 116)
Zum anderen wird auch die Definitions- und Interpretationsmacht selbst keineswegs als gleichgewichtig verteilt gedacht, sondern als asymmetrisch und in Abhängigkeit von bereits vorhandenen Machtpotenzialen. In einer Organisation beispielsweise von der jeweiligen Stellung und dem damit zusammenhängenden 160 Für die Mikropolitik vgl. z. B. Ortmann et al. (1990), S. 37, für Nietzsche etwa M 112, 3, S. 100 f.
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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möglichen Einfluss auf organisationale Leitbilder, Interpretationsschemata etc. Gerhardt (1988d) weist darauf hin, dass auch bei Nietzsche die „Schätzungen“ von den „jeweiligen Umständen“ abhängen (S. 105). Daran anknüpfend wird ein weiterer Punkt deutlich: Durch die ungleich verteilte Interpretationsmacht können bereits vorhandene Asymmetrien ausgeweitet und gefestigt werden. Dieser Aspekt lässt sich verallgemeinern: Die Asymmetrie von Macht hat nach Auffassung beider Theorien die generelle Tendenz zur Selbstverstärkung. Für den Fall Nietzsches sollte dies nach allem, was bisher über die inhärente Steigerungs-, Ausweitungs- und Mehrungsdynamik des Willens zur Macht gesagt worden ist, nicht überraschend sein. Das „ S t ä r k e r w e r d e n - w o l l e n v o n j e d e m K r a f t c e n t r u m aus“ wird als „einzige Realität“ angesehen (N 1888, 14[81], 13, S. 261). Der „Wille zur Accumulation von Kraft“ wird als Spezifikum des Lebens ausgemacht, „für Ernährung, Zeugung, Vererbung“ ebenso wie „für Gesellschaft, Staat, Sitte, Autorität“ (ebd.). Und Leben mit seinem essenziellen „Streben nach Mehr von Macht“ gilt als Paradigma für das Dasein insgesamt: „nichts will sich erhalten, alles soll summirt und accumulirt werden“, wie Nietzsche auch in dem direkt folgenden und bereits mehrfach herangezogenen Fragment aus dem Frühjahr 1888 notiert (N 1888, 14[82], 13, S. 262). Immer wieder betont er in diesem Zusammenhang die Rastlosigkeit des Willens zur Macht (vgl. N 1885, 35[60], 12, S. 538), der „kein Sattwerden“ und „keine Müdigkeit“ (N 1885, 38[12], 11, S. 610 f.) kennt, sowie dessen Tendenz zur „Selbsterhöhung“ und „Verstärkung“ (N 1886/87, 5[63], 12, S. 208): Es geht darum, sich etwas anzueignen, sich dadurch zu verstärken und Macht auszuüben, „um sich zu verstärken“ (N 1887, 9[145], 12, S. 420), wie er u. a. am Beispiel des Protoplasma festmacht. Dass vorhandene Asymmetrien dabei ebenfalls ausgebaut und verstärkt werden, dass Macht die kumulative Tendenz zur „Übermacht“ inhäriert, ist augenscheinlich (N 1887, 9[145], 12, S. 419). Besonders anschaulich wird diese Tendenz in Nietzsches Vergleich des Willens zur Macht mit einem „Meer“ von in sich selber flutenden und strömenden Kräften und Kraftwellen, das sich an einer Stelle häuft, Wellen und ganze Wellenberge auftürmen kann, während es sich an anderer Stelle zugleich mindert und sich gleichsam Täler bilden (N 1885, 38[12], 11, S. 610 f.). Und auch innerhalb der Strategischen Organisationsforschung wird diese Tendenz zur Machtkumulation gesehen, die vorhandene Asymmetrien verstärkt, wie sich im Verlauf dieses Kapitels bereits abgezeichnet hat. Ausgehend von der Feststellung, dass ein und dieselbe Ressource nicht auf die gleiche Weise die „strategischen Fähigkeiten“ der Akteure vergrößert, sondern dass es kumulative Prozesse gibt, die es dem einen ermöglichen, etwas als Ressource zu nutzen, das für einen anderen weniger oder gar keine Gewinne abwirft, bringen Crozier/ Friedberg (1993) das Phänomen mit einer französischen Redensart auf den Punkt:
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„Hier wie überall fliegen ,Tauben zu, wo Tauben sind‘. Mehr noch, ein- und dieselbe ,objektive‘ Ressource kann von gewissen Akteuren wahrgenommen und mobilisiert werden, während sie von anderen nicht genutzt werden kann.“ (S. 319, Anm. 87).
Ortmann et al. (1990) untermauern dies: „Informationen im Besitz eines Topmanagements mit seiner Macht über Gehalts-, Beförderungs- und Einstellungs- und Entlassungspolitik sind eine andere Ressource als Informationen im Besitz des EDV-Leiters“ (S. 452) –
oder einer Schreibkraft oder eines Bandarbeiters (vgl. S. 38, Anm. 31).161 Hinter der Vielfalt spezifischer Konfigurationen im organisationalen Beziehungsgeflecht lässt sich demnach eine Logik ausmachen, die die Strategien der verschiedenen Akteure strukturiert und die Spiele prägt, an denen sie teilnehmen, wie Crozier/Friedberg (1993) am Beispiel der Spielstruktur zwischen Organisationssegmenten und so genannten „Relais“ herausarbeiten: „Diese Logik ist, so paradox sich das bei einer sich liberal nennenden Gesellschaft anmuten mag, eine Logik des Monopols.“ (S. 97) Friedberg (1992) konstatiert daran anschließend eine grundsätzliche Dynamik aller Machtbeziehungen in Richtung Monopol, da innerhalb eines Monopols der jeweilige Akteur (allein oder in einer Koalition) die sicherste Machtposition erreichen könne; er ist zumindest vorübergehend unersetzbar und kann dementsprechend seine Tauschbedingungen diktieren (vgl. S. 43).162 Dieser Punkt wird von Küpper/Felsch (2000) aufgegriffen und ebenfalls anhand von Akteuren verdeutlicht, die Relais-Positionen einnehmen, also an der Schnittstelle zwischen innen und außen der Organisation angesiedelt sind und eine Vermittlungsfunktion innehaben.163 (Vgl. zum Folgenden S. 109 ff.) Dies können sie als Organisationsmitglieder („gatekeeper“) oder Organisationsexterne (z. B. als Gewerkschafts-, Banken-, Zulieferer oder Handelsvertreter). Diese Akteure müssen, beispielsweise zur Generierung von Ressourcen oder zur Sicherung des Produktabsatzes in Macht- und Austauschbeziehungen mit außerorganisatorischen Akteuren eintreten. Diese sich entwickelnden Machtbeziehungen, die so161 „Sicherheitspolitisch gesprochen: Die Tauben fliegen dem großen Softwarehaus oder dem Beinahe-Monopolisten auf dem Hardware-Markt zu. Die Tauben fliegen dem zu, der für interne, umweltunabhängige Gewißheitsgrundlagen und selbstgeschaffene Evidenzen in Form von Beschlüssen und Beschlußprotokollen, Richtlinien, organisatorischen Regeln, aktenmäßiger Fixierung usw. sorgen kann (vgl. Luhmann 1984a, 253; 1981, 363)“ (Ortmann et al. (1990), S. 452). 162 Mit dieser Tendenz wird auch versucht, die immer wieder beobachtete und beklagte Tendenz von Organisationen zu erklären, zu verkrusten, zu erstarren, sich abzuschotten und sich Innovationen gegenüber als träge zu erweisen: „Offene, unbeschränkte Kommunikation, Transparenz des Organisationsgeschehens und durchgehende Flexibilität der Strukturen sind mit der Dynamik von Machtbeziehungen unvereinbar, die immer wieder die zu ihrer Ausübung notwendigen Strukturen erzeugen und reproduzieren.“ (Friedberg (1992, S. 43) 163 Vgl. dazu auch bereits Küpper/Ortmann (1986); zusammenfassend auch Witt (1996), S. 44 f.
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wohl als Konkurrenz- als auch als Kooperationsbeziehungen konzipiert sein können, führen u. U. zu mehr oder weniger verzweigten Relais-Ketten bzw. RelaisNetzwerken. Der Punkt, auf den es hier ankommt, ist folgender: Küpper/Felsch (2000) weisen am Beispiel dieser Akteure die Rationalität einer Strategie nach, die darauf abzielt, sich jeweils eine Monopolstellung zu sichern, um die eigene Ersetzbarkeit als einen der zentralen Einsätze im Tausch- und Verhandlungsprozess von Machtbeziehungen zu verringern und somit Asymmetrie auf- bzw. auszubauen. In der Tendenz ergibt sich deshalb zwischen den Relais bzw. zwischen Koalitionen von Relais eine Dynamik in Richtung eines (u. U. bilateralen) Monopols, als einer spezifischen Verstärkung von Asymmetrie. Und zwar sowohl im Verhältnis zwischen externem Relais und den jeweiligen extraorganisationalen Interaktionspartnern wie Abnehmer-, Zuliefererunternehmen, Forschungsinstituten mit Kooperationsverträgen usw. Als auch zwischen internem Relais und den intraorganisationalen Akteuren, denn interne Relais können die Kontrolle der für die Organisation kritischen Außenbeziehung für die erfolgreiche Durchsetzung ihrer innerorganisationalen Machtstrategien und für den Aufbau und die Verstärkung von Machtasymmetrien nutzen. Dies kann bis zu einer Autonomisierung der Handlungssysteme zwischen internen und externen Relais reichen, was insbesondere immer dann zu erwarten ist, wenn die „objektive Ersetzbarkeit“ der Beteiligten gering ist, sie also eine faktische Monopolstellung einnehmen oder keine Instrumente zur Leistungsmessung vorliegen (vgl. Küpper/Felsch (2000), S. 111). Als Beispiel für die Ausprägung eines derartigen Handlungssystems zwischen einzelnen Organisationen wird die Verbindung von EDV-Stäben von Anwendern und den Vertriebsabteilungen von Herstellern elektronischer Datentechnik angeführt, bei der es darüber hinaus zu einer Verschränkung von Relaisfunktion und Expertenmacht kommt. „In dieser Situation gewinnen die Experten an den Relaisstationen nicht nur eine Definitionsmacht für die zu lösenden organisatorischen Probleme, sondern auch für die Kriterien einer effizienten und effektiven Problemlösung.“ (Küpper/Felsch (2000), S. 111)
Die Einschätzung Friedbergs, nach der die Eigendynamik von Machtbeziehungen in Richtung Monopol aller Wahrscheinlichkeit nach in öffentlichen Verwaltungen größer sein wird als in Unternehmen, die im Wettbewerb stehen, u. a. wegen der gesicherten Positionen des Personals, der unklaren, mehrdeutigen und schwer messbaren Erfolgs- und Leistungskriterien in ersteren (vgl. Friedberg (1992), S. 45), teilen die Autoren daher explizit nicht. Die „Tendenz zum Monopol“ gilt nach ihrer Auffassung „gerade auch für Außenbeziehungen von Unternehmen, die auf wettbewerbsstarken Märkten agieren, wenn man hierunter die Existenz starker strategischer Interdependenzen versteht, so dass der Wert einer Reduktion von Umweltunsicherheit bzw. einer Absicherung kritischer Ressourcen für die Bestandssicherung des Unternehmens besonders hoch ist.“ (Küpper/Felsch (2000), S. 113).
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Mit der Tendenz zur Machtkumulation und den damit einhergehenden Selbstverstärkungsprozessen vorhandener Machtasymmetrien ist also eine weitere Gemeinsamkeit der Konzepte aufgedeckt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich hierbei um eine Tendenz handelt, um eine Richtung, in die Macht zu drängen scheint, um einen dynamischen Prozess und nicht um einen endgültig erreichbaren Zustand. Dies gilt insbesondere auch für Nietzsche: Die Machtkumulation ist nicht vom Ergebnis her gedacht, es ist weder ein vollständiges noch ein endgültiges, statisches Monopol zu erreichen, sondern jede Macht, die nach einem Monopol strebt, wird immer wieder durch Gegenmächte eingeschränkt, herausgefordert und bedroht, denen ebenfalls eine Steigerungstendenz inhäriert (z. B. N 1888, 14[186], 13, S. 374; vgl. auch das folgende Kapitel). Das Meer, mit dem die Macht oben verglichen wurde, steht sozusagen niemals still. Die Dynamik bleibt erhalten.164 Diese grundsätzlichen Gemeinsamkeiten bergen darüber hinaus in sich wiederum eine Reihe von unterschiedlichen Nuancierungen, die in einer ausführlicheren Analyse zu diskutieren wären. Die Trennlinien sind hierbei nicht immer sehr scharf und verlaufen nur teilweise zwischen Nietzsche und der Mikropolitik, teilweise auch zwischen den einzelnen mikropolitischen Autoren und Konzepten oder zwischen unterschiedlichen Perspektiven, die Nietzsche selbst im Zuge seines experimentellen Philosophierens durchspielt. Eine derartige Analyse, die hier nicht geleistet werden kann, würde beispielsweise die Frage beinhalten, auf welche Weise die Machtkumulation sich in den einzelnen Konzepten im Detail vollzieht. In den bisherigen Ausführungen ließen sich hier Ansatzpunkte für eine Reihe von Unterschieden zu Nietzsche ausmachen, die sich bereits durch den unterschiedlichen Untersuchungsgegenstand und die verwendete Terminologie ergeben – z. B. die Rekonstruktion der Machtakkumulation einerseits als „rationale Strategie“ andererseits als „Streben“ nach mehr Macht – sich aber nicht darin erschöpfen. Auch die Radikalität, mit der die Selbstverstärkungsprozesse der Asymmetrie gedacht werden, böte z. B. Anlass zu weiter reichenden Überlegungen. Innerhalb der strategisch-mikropolitischen Konzepte wird zumindest als eine gewisse Grenze dieser Prozesse der „Fortbestand des Spiels“ (Crozier/Friedberg (1993)), die „Bestandssicherung“ (Küpper/ Felsch (2000), S. 113) der Organisation betrachtet.165 Hier wirken also Selbster-
164 Auch nach Gerhardt (1996) kommt die Alleinherrschaft einer einzigen Macht „in der werdenden Welt nicht vor, denn sie ist in sich unmöglich und brächte überdies alle Bewegung zum Stillstand.“ (S. 335) Stegmaier (1994) kommt, von der Relationalität der Macht ausgehend, zum gleichen Ergebnis: „Macht (. . .) ist für Nietzsche stets Macht gegen andere Macht, eine Macht im Spiel mit anderen Mächten. Eine höchste und einzige Macht kann es danach nicht geben; der Begriff ,Macht‘ würde für Nietzsche leer, wenn durch ihn nicht eine Gegenmacht mitgedacht würde.“ (S. 83; H.v. m.) 165 Wenn diese Grenze auch nicht hundertprozentig „sicher“ ist, wie Ortmann (2003, S. 281) ausführt.
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haltungsmomente als Begrenzung oder Eindämmung der Akkumulierungstendenz. In einigen Ausführungen Nietzsches scheint die Machtmehrung dagegen, keinerlei „natürliche“ oder „vernünftige“ Grenze zu besitzen. Ohne die Debatte über die Rolle der Selbsterhaltung bei Nietzsche hier vertiefen zu können, sei nur kurz an das Bild vom Protoplasma erinnert, das „auf eine unsinnige Art mehr in sich hinein [nimmt], als die Erhaltung bedingen würde (. . .), es ,erhält sich‘ damit eben n i c h t , sondern z e r f ä l l t . . .“ (N 1887, 11[121], 13, S. 57).166 Der Steigerungswille ist demnach größer als der Drang zur Selbsterhaltung. Letzterer ist nur nachgelagerter Natur, „nicht Selbstbewahrung, sondern Aneignung, Herrwerden-, Mehr-werden-, Stärker-werden-wollen“ stehen im Mittelpunkt (N 1888, 14[81], 13, S. 261). „(N)ichts will sich erhalten, alles soll summirt und accumulirt werden“, wie es oben auch hieß (N 1888, 14[82], 13, S. 262). Und ausgelassen, wie sich anfügen ließe.167 Der Trieb zur „Erhaltung“ ist nur eine Konsequenz davon.168 Die Vorstellung einer restringierenden Wirkung aus vorausschauender Sorge um den „Fortbestand des Spiels“ oder um „Bestandssicherung“, sei es einer Organisation oder des Lebens selbst, scheint aus dieser Perspektive eher fern zu liegen. Dem ließe sich aber entgegenhalten, dass natürlich auch die Selbstüberbietung als Prozess in einem gewissen Rahmen auf Selbsterhaltung angewiesen ist. Die Steigerung setzt eine gewisse Akkumulation von Kräften voraus und somit zumindest „indirekt“ (N 1887, 9[98], 12, S. 392) und für eine bestimmte Dauer auch die Selbsterhaltung von Gebilden, die als Quasi-Einheiten gedeutet werden können. Insofern erscheint es durchaus sinnvoll, die „ E r h a l t u n g s - S t e i g e r u n g s - B e d i n g u n g e n “ derartiger „complexer Gebilde von relativer Dauer“ in eins zu thematisieren (N 1887/88, 11[73], 13, S. 36). Auch Abel (1984) weist auf diesen Punkt hin und formuliert, dass „Willen-zur-Macht-Kräfte und ihr Steigerungsstreben notwendig mit Ansammlungs- und Aufstauungs-Phasen verbunden sind.“ (S. 91) Machtmehrung und Selbsterhaltung gehen insofern Hand in Hand, wie Nietzsche schon aus seinen Notizen zu Spinoza hätte ersehen können (vgl. Eth. IV, Def. 8; dazu N 1886/87, 7[4], 12, S. 261).169 Gewisse For166 Zur Diskussion über die Selbsterhaltung s. auch Teil 1 A. II. 3. Dazu auch Müller-Lauter (1999), S. 133 ff. sowie ausführlich Abel (1984), S. 28 ff. sowie Abel (1982); s. auch Kaufmann (1988), S. 289 ff. 167 Insbesondere Abel (1984) betont immer wieder die Trias von Akkumulation, Steigerung und Auslassung (vgl. z. B. S. 38, 52, 58 oder S. 107). 168 Vgl. N 1884, 26[277], 11, S. 222 f.; N 1885/86, 2[63], 12, S. 89; N 1887, 9[91], 12, S. 385; JGB 13, 5, S. 27. Abel (1984) sieht darin den entscheidenden Punkt (vgl. S. 92). 169 Abel (1984) weist in diesem Zusammenhang auf Nietzsches einseitigen Umgang mit Spinoza hin: „Er entzieht Spinozas Lehre das Moment der Macht und deren Steigerung, fügt beide seiner eigenen Gedankenwelt ein und legt Spinoza auf den Grundsatz der Selbsterhaltung fest.“ (S. 51) Ebenso Abel (1982), S. 370 f.
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men und Höhen der Machtsteigerung lassen sich darüber hinaus nur durch höhere Stufen der Organisation sowie der „Arbeitstheilung“ mit anderen derartigen „Einheiten“, wie Zellen, Individuen usw. erreichen, wie Nietzsche klar sieht, wodurch bestimmte Konzessionen, Kompromissbildungen, Arrangements und durchaus eine gewisse Orientierung am Fortbestand sowohl des Einzelnen als auch des Ganzen notwendig erscheinen (N 1888, 14[186], 13, S. 374).170 Daran ließe sich als weitere Frage anschließen, inwiefern bei aller Betonung der Asymmetrie von Machtbeziehungen mit ihrer inhärenten Selbstverstärkungstendenz, dennoch Zustände gedacht werden können, in denen sich gewisse Machtgleichgewichte herausbilden, und vor allem, inwiefern dann noch von einer Machtbeziehung im engeren Sinne die Rede sein kann. Dieser letzte Punkt, die Reichweite des Machtbegriff im Hinblick auf Asymmetrie, soll hier abschließend kurz aufgegriffen werden: Crozier/Friedberg (1993) scheinen an diesem Punkt eine sehr rigorose Vorstellung zu vertreten, wenn sie sich im Zusammenhang mit der Gegenseitigkeit von Macht ausdrücklich dagegen verwehren, „irgendein Gleichgewicht“ zu postulieren und darauf insistieren, dass Machtbeziehungen „von ihrem Wesen her immer ungleichgewichtig“ sind (S. 323, Anm. 129; H.v. m.) Asymmetrie kann nach ihrer Auffassung als eine notwendige Bedingung oder als ein konstitutiver Bestandteil der Definition von Macht gelten, wie es oben formuliert wurde. Nur bei Asymmetrie ist „rechtmäßig“ von einer Machtbeziehung zu sprechen (S. 41). Befinden 170 Vgl. u. a. N 1885, 40[21], 13, S. 638; N 1880, 4[176], 9, S. 145. Dieser Fortbestand wird von ihm jedoch nicht als selbständiges, exogen gegebenes Ziel akzeptiert, auf die das Dasein teleologisch ausgerichtet wäre (vgl. JGB 13, 5, S. 27 f.). Der darwinistische „Kampf ums Dasein“ bezeichnet für ihn eher „einen Ausnahme-Zustand. Die Regel ist vielmehr der Kampf um M a c h t , um ,Mehr‘ und ,Besser‘ und ,Schneller‘ und ,Öfter‘.“ (N 1885, 34[208], 11, S. 492) Allerdings vermischt er dabei die ökonomischen Grundprinizipien (höherer Output bei gleichem Input bzw. gleicher Output bei geringerem Input), wenn er an anderer Stelle davon spricht, dass „das, was das im Wachsthum im Leben ausmacht (. . .) die Ökonomie [ist], welche mit immer weniger Kraft immer mehr erreicht“ (N 1887, 10[138], 12, S. 535; H.v. m.). Zur Grundlage dieser Stelle bei E. Herrmanns Cultur und Natur (1887) s. Müller-Lauter (1999b, S. 183). Den Zusammenhang zwischen Überbietung und Selbsterhaltung diskutiert auch Ortmann (2004, S. 224 ff.), wobei das Motiv der Steigerung dem der (mathematisch modulierbaren) Maximierung entgegengestellt wird. Grundthese ist, dass die Natur nicht maximiert, sondern viable Lösungen hervorbringt. Was allerdings überlebenstauglich ist, kann einem Überbietungswettbewerb unterliegen, wie Ortmann, übertragen auf die Wirtschaftswelt, feststellt: „Was gut genug ist, hängt jedoch innerhalb kapitalistischer Ökonomien von den Handlungen ,der anderen‘ ab. (. . .) Das begründet den spezifischen Druck, sich nicht mit einmal bewährten Lösungen zufrieden zu geben, sondern mehr zu versuchen.“ Auch wenn es durchaus „Zeiten der Saturiertheit“ gibt, „Wettbewerb bedeutet: Es könnte einen Wettbewerber geben, der es besser macht als du, und der dich daher möglicherweise überbietet. (. . .) Die bloße Möglichkeit, überboten zu werden, begründet einen Druck, seinerseits die anderen und/oder die eigene Leistung von gestern zu überbieten. (. . .) Viabilität erfordert eine zureichende Erfüllung dieses Imperativs oder Prinzips der Überbietung“ (Ortmann (2004), S. 227) – und zwar sowohl für einzelne Akteure als auch für Organisationen.
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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sich die Akteure dagegen in einer symmetrischen Tauschposition, so gibt es nach ihnen explizit „keinen Grund zu behaupten, eine der Personen befände sich gegenüber der anderen in einer Machtposition“ (ebd.). „Ist der Austausch nämlich gleichwertig, besteht kein Grund mehr zu behaupten, daß einer Macht über den anderen ausübt“ (Friedberg (1992), S. 42). Die sinnvolle Rede von Macht wird auf der einen Seite durch Symmetrie, durch ein absolutes Kräftegleichgewicht, und auf der anderen Seite durch totale Asymmetrie (im Extremfall: durch das Verschwinden einer der beiden Kräfte) begrenzt. Positiv formuliert: nur gegenseitige, aber asymmetrische Beziehung sind für sie Machtbeziehungen.171 Auch Küpper/Felsch (2000) stimmen, wie gesagt, grundsätzlich der Asymmetrie von Machtbeziehungen zu. Allerdings formulieren sie vorsichtiger, dass von „einer Machtbeziehung (. . .) i. d. R. nur dann gesprochen [wird], wenn die Austauschbedingungen mindestens einen der Akteure gegenüber den anderen Akteuren begünstigen, d.h. wenn ein Akteur mehr Macht hat als andere Akteure“ (S. 21; H. v. m.)
Asymmetrie ist in dieser Formulierung also nicht im „Wesenskern“ von Macht verortet, sondern es wird darauf hingewiesen, dass Macht in der Regel – nicht immer – als asymmetrisch angesehen wird. Darüber hinaus räumen sie ein, dass dies aus Sicht eines (unbeteiligten) Beobachters keine notwendige Bedingung ist: „Ohne Rückgriff auf einen sozialen Maßstab z. B. für Gerechtigkeit kann nicht entschieden werden, wer in einer Machtbeziehung mehr oder weniger Macht hat als andere. Aus Sicht der Beteiligten ist diese Einschätzung aber von erheblicher Bedeutung“ (S. 22),
u. a. im Hinblick auf sein Verhalten in dieser Beziehung. Dies gilt auch für Fälle extremer Asymmetrie, also sozusagen am anderen Ende des Spektrums, bei denen die Einschätzung von Interessen und Alternativen und in einer basalen Bedeutung auch die „Anerkennung der Kontrollübertragung“, also die Zustimmung zu einem Machtverhältnis, aus Sicht der Autoren eine entscheidende Komponente der Entstehung und Aufrechterhaltung von Machtbeziehungen darstellt (vgl. ebd., S. 24 f.). Diese ist nach ihrer Auffassung selbst „in extremen Fällen von Zwangsgewalt“ notwendig, nämlich insofern „das Individuum seine graduelle (d.h. mit in Kauf genommenen Demütigungen, physischen Schmerzen etc. abgewogene) Unterwerfung der Aufgabe seiner Existenz (seinem physischen Tod) vorzieht.“ (S. 25)
Auch hier könnte man folglich in Ansätzen noch von einer Machtbeziehung sprechen. Es wird demnach ein sehr weiter Geltungsbereich des Machtbegriffs in Richtung Asymmetrie vertreten. Allerdings wird eingeräumt, dass mit diesen extremen Beispielen in den Grenzbereich vorgedrungen wird, innerhalb dessen 171 Weiterführend wäre an dieser Stelle auch kritisch zu fragen, inwieweit dies mit der proklamierten Universalität der Macht zusammenpasst, die darin besteht, jede soziale Beziehung als eine Machtbeziehung deuten zu können, nicht nur jede unausgewogene Beziehung.
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noch sinnvoll von Machtbeziehungen und von einer „rationalen Wahl“ der Akteure gesprochen werden kann. Gleiches gilt für die „totale Identifikation“, die entweder als endgültige Selbstaufgabe und Zerstörung des Selbst gedeutet werden kann, womit die Machtbeziehung beendet wäre, oder auch als vorübergehende Strategie zum Schutz des Selbst (vgl. ebd.). Für Nietzsche lassen sich, bei aller Betonung der Asymmetrie, Passagen finden, in denen er explizit symmetrische Beziehungen als Machtbeziehungen begreift: Beispielsweise, wenn er den Ursprung der Gerechtigkeit mit Thukydides „unter ungefähr gleich Mächtigen“ verortet und Gerechtigkeit ausdrücklich als „Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefähr gleichen Machtstellung“ benennt (MA I, 92, 2, S. 89).172 Der Wille zur Macht, der bei einer stärkeren Art als „Wille zur Übermacht“ auftritt, kann sich, wenn er „zunächst erfolglos“ ist, auf den „Willen zur , G e r e c h t i g k e i t ‘ “ einschränken, „d. h. zu dem g l e i c h e n M a ß v o n R e c h t e n , wie die andere herrschende Art sie hat (Kampf um Rechte . . .)“ (N 1887, 9[145], 12, S. 419). Oder, wenn Nietzsche das Moment der Gleichheit auch für die „Billigkeit“ als deren Fortbildung starkmacht (MA II, 2., 32, 2, S. 564). Recht beruht für ihn allgemein „auf Verträgen zwischen G l e i c h e n “, und hat Bestand, „solange die Macht Derer, die sich vertragen haben, eben gleich oder ähnlich ist.“ (MA II, 2., 26, 2, S. 560) Menschen verstehen es, im Unterschied zu Tieren, Verträge zu schließen und sich zu „gleichwiegenden Mächten zu organisieren“ (Kommentar Montinari, KSA 14, S. 188).173 Somit dient das Recht dazu, einer „ n u t z l o s e n Vergeudung zwischen ähnlichen Gewalten“ Einhalt zu gebieten (MA II, 2., 26, 2, S. 560).174 Hier wird m. E. auch noch einmal deutlich, dass Selbst- und Fremderhaltung in einem gewissen Rahmen, nämlich als Grundlage für die Möglichkeit der Wahrung und Steigerung der eigenen Machtpotenziale, für Nietzsche durchaus relevant sind. Entscheidend für den hier erörterten Zusammenhang ist jedoch, dass die angesprochenen Beziehungen für Nietzsche eindeutig weiterhin als Machtbeziehung zu gelten haben. Macht ist demnach nicht auf eindeutig asymmetrische Beziehungen beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf ungefähr gleichgewichtete Relationen.
172 Zum „Princip des Gleichgewichts“ als Basis für Gerechtigkeit und Recht ausführlich Gerhardt (1988d). 173 Vgl. zum Themenfeld der Gleichheit und des Gleichgewichts u. a. MA I, 93, 2, S. 90; MA II, 2., 22, 2, S. 555 ff.; N 1877, 25[1], 8, S. 482; N 1879, 41[42] u. 42[7], 8, S. 590 bzw. S. 596; N 1886/87, 5[82], 12, S. 221. 174 Interessant ist in diesem Kontext auch, dass, sobald der „eine Theil entschieden s c h w ä c h e r , als der andere, g e w o r d e n ist“, sich das Machtverhältnis also in Richtung Asymmetrie verändert hat, die „Unterwerfung“ als funktionales Äquivalent des Rechts zum Zuge kommt, ohne dass es dadurch zu Einbußen beim „Erfolg“ kommen würde: „Denn jetzt ist es die K l u g h e i t des Ueberwiegenden, welche die Kraft des Unterworfenen zu s c h o n e n und nicht nutzlos zu vergeuden anräth.“ (MA II, 2., 26, 2, S. 560)
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Für die dazu notwendige Einschätzung wird, ebenso wie bei Küpper/Felsch (2000), nicht auf einen „(unbeteiligten) Beobachter(.)“ (S. 22) rekurriert: „,Gleichheit‘ wird hier (. . .) nicht vom Standpunkt eines neutralen Beobachters festgestellt, sondern sie ist Ausdruck einer geschätzten Entsprechung zwischen den Mächten selbst. Der Urteilsstandpunkt liegt stets in der Macht, die sich im Verhältnis zu einer anderen Macht als gleich beurteilt.“ (Gerhardt (1988d), S. 105)
Und in der Folge als (zumindest ungefähr) gleich anerkennt. Die Betonung des ungefähr Gleichen bei Nietzsche zeigt laut Gerhardt darüber hinaus an, dass gewisse Unterschiede zwischen den übereinkommenden Rivalen durchaus weiterhin bestehen können, und beispielsweise der größeren physischen Kraft auf der einen die List auf der anderen Seite gegenüberstehen kann (vgl. ebd.).175 In dieser Formulierung ist das Trennende zur Strategischen Organisationsforschung m. E. wieder etwas reduziert. Insgesamt umfasst der Machtbegriff auch nach Nietzsche in jedem Fall den Bereich zwischen absolutem Gleichgewicht auf der einen Seite und totaler Asymmetrie bzw. Vernichtung einer der Kräfte auf der anderen Seite. In Richtung Gleichgewicht der Kräfte vertritt er, wie dargelegt, einen etwas weiter gefassten Machtbegriff, v. a. als Crozier/Friedberg. Gleichsam in entgegengesetzter Richtung wird auch die Vernichtung einer der beiden Kräfte einer Machtbeziehung durchaus thematisiert. Allerdings sieht er darin zum einen keinen Ausdruck von Stärke, sondern eher von Schwäche.176 Wichtiger für den hier diskutierten Punkt ist aber, dass zum anderen wegen der essenziellen Relationalität der Macht mit dem kompletten Wegfall einer der beiden Teile der Relation keine Machtbeziehung im eigentlichen Sinn mehr vorläge, da das für eine Beziehung notwendige Gegenüber mit seinem spezifischen Widerstand fehlen würde. Mit diesem offensichtlich wichtigen Widerstand setzt sich auch das nun folgende Kapitel eingehend auseinander. 8. Macht und Widerstand In den vorangegangenen Kapiteln wurden die Machtbeziehungen im Hinblick auf eine Reihe von strukturellen Merkmalen und Organisationsmomenten einer näheren Analyse unterzogen. Dabei sind differenzierte Ergebnisse erzielt und 175 Zu einer Interpretation (sogar) von Gleichgewichtszuständen als Ausdruck von Asymmetrie s. Gerhardt (1996): „Selbst ein Gleichgewicht kommt nur durch Unterwerfung gleichwiegender Mächte unter eine gemeinschaftlich anerkannte Macht zustande – und sei es unter die Macht dessen, was ,Vernunft‘ genannt wird.“ (S. 15) 176 Die „Stärksten“ haben dies nicht nötig, sondern nehmen die Kräfte in Besitz und in ihren Dienst, verleihen ihnen eine Richtung, wobei diese Art des Überwältigens bei Ihnen sogar als „,Liebe zur Menschheit‘, zum ,Volke‘, zum Evangelium, zur Wahrheit, Gott“, als „Mitleid“ und „Selbstopferung“ auftreten kann (N 1887, 9[145], 12, S. 419). Die von Nietzsche so gerne verwendeten Anführungszeichen verleihen diesen Kategorien dabei den bezweckten schillernden Status.
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eine Reihe von Gemeinsamkeiten und Unterschieden erarbeitet worden. Auf dieser Grundlage sollen in den folgenden Kapiteln einige weiter gehende Dimensionen der Machtkonzepte diskutiert werden. Auf Grund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit kann dieses Unterfangen hier nur exemplarisch an den Dimensionen von Macht und Widerstand, Macht und Ästhetik sowie von Macht und Organisation vorgenommen werden. Weitere relevante und angrenzende Dimensionen, die Zusammenhänge von Macht und Identität, Freiheit, Werten bzw. Wissen betreffend, sowie den Zusammenhang von Macht und Rationalität, Konsens und Spiel, können demgegenüber nur in Form von skizzenhaften Ausblicken in der Schlussbetrachtung angedeutet werden (vgl. II B). In diesem Kapitel geht es nun um den Zusammenhang von Macht und Widerstand, der m. E. für beide Konzepte eine hohe Relevanz besitzt, und in dessen Ausarbeitung insbesondere Ergebnisse aus den vorangegangenen Kapiteln über die Relationalität, Agonalität sowie Asymmetrie der Macht einfließen. Im letzten Kapitel sind Machtbeziehungen als grundsätzlich asymmetrische Beziehungen beschrieben worden, die darüber hinaus tendenziell zu einer Verstärkung vorhandener Asymmetrien neigen. Mit Crozier/Friedberg könnte man folglich davon sprechen, dass meistens „einer mehr herausholen kann als der andere“ – aber eben nicht alles, wie mit Blick auf die eminente Bedeutung der Gegenseitigkeit sowie der damit zusammenhängenden Möglichkeit zum Widerstand eingeräumt werden muss. Bei aller Asymmetrie: Jeder Unterlegene hat und behält gewisse Widerstandspotenziale. Ansonsten könnte gar nicht mehr von einer Machtbeziehung gesprochen werden. Eine vollkommene Monopolisierung der Macht im wörtlichen Sinn ist daher nach dem Verständnis der hier vorgestellten Theorien gar nicht möglich. Macht ist niemals monopolar, sondern immer mindestens bipolar verfasst, im Normalfall sogar multipolar. Denn ein gewisser Widerstand ist geradezu nötig, damit Macht sich ausprägen und als Macht erfahren werden kann. Und zwar für beide Seiten der Relation. Macht selbst ist somit auch als Widerstand beschreibbar, den eine Kraft oder ein Akteur zu leisten bzw. zu überwinden im Stande ist. Für Nietzsche lässt sich dies einmal mehr aus der basalen Charakterisierung der Macht als Kräftekonstellation herleiten: Wie bereits mehrfach dargelegt, benötigt jede Kraft eine Gegenkraft, also eine Hemmung, einen Widerstand, um als Kraft gelten zu können. Kraft ist in diesem Zusammenhang definiert worden als „in Kampf und Widerstand erfahrene eigene und fremde Stärke“ (Hoffmeister (1988), S. 362; H.v. m.). Diese Auffassung findet sich auch bei Nietzsche. Immer wieder wird Kraft von ihm mit einem Gefühl von Kraft, mit Spannung, Anspannung, einem Muskelgefühl und explizit mit „Widerstand“ in Verbindung gebracht (N 1888, 14[98], 13, 274). An einer Stelle spricht er sogar von einem „Quantum Kraft-Widerstand“ (N 1887, 10[138], 12, S. 535). Und die mechanische Kraft ist
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uns seiner Auffassung nach „nur als ein W i d e r s t a n d s g e f ü h l “ bekannt (N 1885/86, 2[69], 12, S. 92). Nimmt man, wie Nietzsche, den Bereich des Erlebens von Kraft in die Betrachtung mit auf, so ist festzustellen, dass Widerstand zunächst einmal durchaus als eine gewisse Unlust erfahren wird. Allerdings besteht Lust für Nietzsche gerade nicht in der Vermeidung dieser Unlust, sondern im Gegenteil in deren Überwindung. Lust könnte seiner Auffassung nach vielleicht überhaupt als „Rhythmus kleiner Unlustreize“ (N 1887, 11[76], 13, S. 38)177 angesehen werden, wie er am (geschlechtlichen) Kitzel verdeutlicht: „Es scheint eine kleine Hemmung, die überwunden wird und der sofort eine kleine Hemmung folgt, die wieder überwunden wird – dieses Spiel von Widerstand und Sieg regt jenes Gesammtgefühl von überschüssiger überflüssiger Macht am stärksten an, das das Wesen der Lust ausmacht“ (N 1888, 14[173], 13, S. 358).
Erst durch die Aufstauung und Hemmung von Kraft an einem Widerstand, wird die lustvolle Steigerung, Erhöhung und Auslassung somit überhaupt ermöglicht. Zu beachten ist hierbei, dass für Nietzsche Lust, ebenso wie Unlust, nur als „Folge“ und „Begleiterscheinung“ eines steigenden Machtgefühls aufzufassen sind (N 1888, 14[173], 13, S. 360). Der eigentliche Impuls entsteht aus dem Streben nach einem Machtplus.178 Insofern wird auch plausibel, warum Kraft sich nicht nur an Widerständen zeigt, sondern diese auch aktiv aufsucht, nämlich „um über sie Herr zu werden“ (N 1887, 11[77], 13, S. 38). Allgemein lässt sich mit Nietzsche festhalten, dass „jede Kraft sich nur an Widerstehendem auslassen kann“ (N 1887, 11[77], 13, S. 38; H.v. m.). „Das den Kraftquanten eigentümliche Bestreben, sich auszubreiten, zu wachsen, indem anderes Seiendes funktional übermächtigt und diesem das eigene Bild einverleibt wird, ist auf die ihm entgegenstehenden Widerstände angewiesen, ist selbst nichts anderes als dieses relationale Streben gegen Widerstände.“ (Abel (1984), S. 107)
Von der anderen Seite her gedacht, zeigt sich die eigene Kraft darin, selbst Widerstand leisten zu können; ein derartiges „Widerstreben“ wird von Nietzsche an einer Stelle sogar als „die Form der K r a f t “ bezeichnet (N 1881, 11[303], 9, S. 558). Widerstand ist also essenziell für die Kraft. Gleiches lässt sich für den Willen als zweiten wichtigen Bestandteil des Willens zur Macht konstatieren. Der Wille benötigt ebenfalls immer einen Widerstand. Nietzsche schätzt nach eigenem Bekunden die Macht eines Willens danach, wie viel „Widerstand, Schmerz, Tortur“ 177 Auch N 1888, 14[173], 13, S. 358, N 1884, 26[275], 11, S. 222 sowie N 1885, 35[15], 11, S. 514. 178 Ausführlicher zum Verhältnis von Macht und Lust vgl. auch Kaufmann (1988), S. 299–330; Gerhardt (1996), S. 134 ff.; Abel (1984), S. 96 ff.
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er aushält und sich zum Vorteil „umzuwandeln“ versteht (N 1887, 10[118], 12, S. 524). Denn auch beim Willen ist für Nietzsche keinesfalls dessen Befriedigung die Ursache der Lust. Gegen diese „oberflächlichste Theorie“ will er nach eigenem Bekunden „besonders kämpfen“ (N 1887, 11[75], 13, S. 37). Vielmehr liegt auch hier die Lust in dem Unbefriedigtsein des Willens, im Drang vorwärts zu wollen, sich zu steigern und Herr über etwas zu werden, das ihm im Weg steht. Und somit über etwas, das ihm Widerstand leistet. Gerade in dieser Überwindung von Widerständen, im „Triumph über Widerstände“ liegt das Potenzial zu einer Steigerung des Machtgefühls, und somit der Lust (JGB 19, 5, S. 33). Auch für den Willen ist demnach die Erfahrung eines Widerstandes zentral, gegen den er sich behauptet – selbst wenn es sich dabei, wie im Fall der Willensfreiheit, um eine Täuschung handeln sollte (vgl. N 1884, 27[24], 11, S. 281). Und auch hier klingt die komplementäre Perspektive eines Gefühls des „Widerstehens“ an, das sich automatisch bei einem Druck oder Zwang einstellt, und diesem, selbst im Falle eines Nachgebens und Gehorchens, entgegensteht (JGB 19, 5, S. 33). Aus diesen Stellen, die die Relevanz von Widerständen für die integralen Bestandteile der Kraft und des Willens belegen, lässt sich bereits die Bedeutung des Widerstandes für den Willen zur Macht ersehen. Dies gilt umso mehr, wenn man sich die Relationalität der Macht gepaart mit deren Agonalität in Erinnerung ruft: Nur an einem Widerstand und in Auseinandersetzung mit einem Gegenüber kann sich Macht als Macht erweisen. „Macht entspringt nicht allein aus sich. Sie ist ebenso nur dadurch Macht, daß sie Widerstand hat.“ (Ottmann (1999), S. 358) So wie für das „Machtgefühl“ das „Gefühl des Widerstandes“ dabei sein muss (N 1884, 27[24], 11, S. 281), und Macht sich ohne Hemmung nicht bewusst werden kann (vgl. N 1884, 26[75], 11, S. 222). Widerstand ist demnach eine zentrale Dimension für den Willen zur Macht.179 Dies ist ein Punkt, der in der NietzscheInterpretation klar gesehen und immer wieder deutlich benannt worden ist: Die Macht „bedarf eines Widerstandes, einer Gegenmacht, an der sie sich zeigt und allererst zu einer Macht entfaltet“, heißt es beispielsweise bei Himmelmann (2006, S. 106). „Nur das sich Entgegenstellen eines Widerstandes enthüllt den Willen zur Macht“, wie G. Colli formuliert (Nachwort KSA 13, S. 659). Auch nach Gerhardt (1996) ist das Zusammentreffen mit einer anderen Macht primär, „also der Widerstand und damit das Geflecht aus Einwirkungen und Rückwirkungen, das wir uns (. . .) gar nicht kompliziert genug denken können.“ (S. 325) Und für Müller-Lauter (1999) bedarf das Machtwollen in jedem Falle des ihm Widerstehenden (vgl. S. 59 und S. 48, Anm. 64), um nur einige Interpreten anzuführen.
179 Auch für Kant ist Macht „ein Vermögen, welches großen Hindernissen überlegen ist. Eben dieselbe heißt eine Gewalt, wenn sie auch dem Widerstand dessen, was selbst Macht besitzt, überlegen ist.“ (KU, § 28, AA 5, S. 260; H.v. m.)
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Der Wille zur Macht ist also angewiesen auf Widerstände. Und zwar, um sich aufstauen, erweitern, steigern, intensivieren und auslassen zu können. Ebenso benötigt er die damit immer auch verbundene Unlust als Reiz zu seiner eigenen Stärkung (vgl. N 1887, 11[77], 13, S. 38). Auch für den Willen zur Macht ist daher die aktive Suche nach Widerständen charakteristisch: „Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äußern; er sucht nach dem, was ihm widersteht“ (N 1887, 9[151], 12, S. 424).180 „Der Wille zur Macht s t r e b t also nach Widerständen, nach Unlust.“, wie Nietzsche hervorhebt (N 1884, 26[275], 11, S. 222). Diesen Aspekt betont auch Abel (1984) und stellt nochmals explizit die Verbindung zur Relationalität des Willens zur Macht her: Seiner Auffassung nach „bedürfen die Willen-zur-Macht-Komplexe wesentlich der Widerstände. Sie suchen diese auf, um an ihnen ihre Kraft, die sie nur in und als Wirkrelationen sind, zu bezeugen.“ (S. 91) „Gerade also von seinem Mehrwollen her ,braucht‘ jeder Wille-zurMacht etwas, das sich ihm ,entgegenstellt‘, sucht er Widerstände auf, ,um über sie Herr zu werden‘.“ (S. 97)
Dies lässt sich plastisch wieder einmal am Protoplasma verdeutlichen, das seine „Pseudopodien“ ausschickt und nach etwas Widerstehendem um sich tastet, das es überwinden, sich aneignen und einverleiben kann (N 1887, 9[151], 12, S. 424; auch N 1888, 14[174], 13, S. 360). Gleiches gilt aber auch für den Menschen, der ebenso nach Machtmehrung strebt und somit gleichfalls aktiv Widerstände aufsucht: „(A)us jenem Willen heraus sucht er nach Widerstand, braucht er etwas, das sich entgegenstellt.“ (N 1888, 14[174], 13, S. 360) Auch wenn, wie oben beschrieben, jeder Widerstand immer eine Hemmung des Willens zur Macht darstellt und dadurch mit einer gewissen Unlust verbunden ist, weicht der Mensch laut Nietzsche diesem gerade nicht aus, sondern „hat sie vielmehr fortwährend nöthig: jeder Sieg, jedes Lustgefühl, jedes Geschehen setzt einen überwundenen Widerstand voraus“ (ebd.). Dies gilt natürlich besonders für Menschen mit einer starken Natur: „Sie [die starke Natur] braucht Widerstände, folglich s u c h t sie Widerstand“ (EH, 6, S. 274). In diesem Zusammenhang lassen sich einige weitere bemerkenswerte Aspekte unterscheiden. Ersterer betrifft die Art und Weise des Umgangs mit Widerständen, aus der sich Rückschlüsse über Stärke und Schwäche des Willens zur Macht ziehen lassen: Eine entscheidende Frage ist für Nietzsche, „ob man den Widerstand sucht oder ihm aus dem Weg geht“ (N 1887, 10[145], 12, S. 538). Wie angesprochen, gehört das aktive Aufsuchen von Widerständen und ein „aggresive[s] Pathos“ für ihn zur Stärke, während ein bloß reaktives „Rach- und Nachgefühl“ als Schwäche auszulegen ist (EH, 6, S. 274).181 Das „Zuviel von Kraft“, 180 Zu dem Einfluss von Nietzsches Lektüre Herrmanns (1887, S. 81–87) auf diese Stelle vgl. Kommentar Montinari, KSA 14, S. 742 sowie Müller-Lauter (1999b), S. 179, Anm. 129. 181 Die Bedeutung der grundsätzlichen Unterscheidung von aktiv und reaktiv macht besonders Deleuze (2002) in seiner Nietzsche-Interpretation stark (v. a. S. 45–80).
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das Widerstände nötig hat, um sich auszulassen, ist erst deren Beweis (GD, 6, S. 57). So zeigt es z. B. die von Nietzsche propagierte „ n e u e A r i s t o k r a t i e “, die „einen Gegensatz nöthig [hat], gegen den sie ankämpft“ (N 1886/87, 5[61], 12, S. 208). Oder der „Genuss am Widerstand“, der sich in der Tragödie offenbart (vgl. Oosterling (1994), S. 60 f.). Besonders der Starke braucht also Widerstände und sucht sie sich folglich aktiv. Entscheidend ist dabei das Innere, die Aktion aus sich selbst heraus, nicht die Reaktion auf Äußeres: Das Starke und Vornehme, an Kraft und Macht Übervolle sucht seinen „Gegensatz nur auf, um sich selber noch dankbarer, noch frohlockender Ja zu sagen“ (GM I, 10, 5, S. 271). Ein zweiter Aspekt ist die Größe des Widerstandes. Je größer der überwundene Widerstand, desto größer ist die damit verbundene Machtsteigerung. Das Ziel ist es also nicht, irgendeinen Widerstand zu überwinden, wie Nietzsche am Beispiel seiner eigenen Person erläutert, sondern den größtmöglichen, also einen, bei dem man seine ganze Kraft aufwenden und auslassen kann bzw. muss182 (vgl. EH, 6, S. 274). Die Stärke des Angreifenden hat demnach ein Maß in der Gegnerschaft, das er nötig hat (vgl. ebd.). Die geistigsten und mutigsten Menschen ehren beispielsweise nach Nietzsche das Leben gerade wegen der großen Gegnerschaft, die es ihnen bieten kann, auch wenn mit der Größe des Widerstandes gleichfalls die der möglichen Niederlage steigt (vgl. N 1887/88, 11[77] und 11[78], 13, S. 38). Weiterhin wird drittens deutlich, dass Widerstand sich gerade für den Menschen in Bezug auf sehr unterschiedliche Bereiche ergeben kann. So können Gegenstände, andere Lebewesen mit ihrem je eigenen Willensimpuls, vor allem aber andere Menschen als Widerstand erfahren werden.183 Die „Masse“ der Menschen kann beispielsweise als „Widerstand gegen die Grossen“ fungieren, als Möglichkeit und Mittel, sich abzusetzen, zu steigern usf. und somit als deren Werkzeug (UB II, 9, 1, S. 320; N 1873, 2[40], 7, S. 642). Darüber hinaus können uns Menschen unsere eigenen Antriebe als Widerstände entgegentreten, die es zu überwinden gilt, wie Nietzsche an einer Vielzahl von Stellen und insbesondere im Zusammenhang mit der Selbstüberwindung thematisiert.184 Damit sind zwei weitere Aspekte verbunden: Zum einen zeigt sich hier als vierter Punkt, dass Widerstände nicht nur gleichsam „von außen“ auftreten, sondern sich auch im Inneren des Menschen ergeben. Die Triebe können sich als innere 182 Auf den Umstand, dass Auslassen gleichermaßen als ein Wollen und ein Müssen zu verstehen ist, weist Nietzsche dezidiert hin (vgl. N 1884, 26[277], 11, S. 222 f.). Dazu auch Müller-Lauter (1999), S. 122 f. sowie Abel (1984), S. 97. 183 Vgl. zur „Widerständigkeit“ der „Dinge“ sowie des „Ich“ auch Gerhardt (1996), S. 283. 184 Daher kann auch Tugend als „Lust am Widerstande, Wille zur Macht“ angesehen werden, wie Nietzsche sich im Winter 1883/84 notiert (N 1883/84, 24[31], 10, S. 662).
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„Tyrannen“ gebärden, über die es gilt, Herr zu werden, wie Nietzsche am Beispiel des Sokrates erläutert, den er für die Art und Weise, wie ihm dies gelingt – nämlich in Nietzsches Augen durch die Tyrannei der Vernunft – allerdings auf das Schärfste kritisiert (GD, 6, S. 71 f.). Hier kommt es allerdings auf etwas anderes an: Nämlich darauf, dass Nietzsche in diesem Kontext von einem durchlässigen Verhältnis ausgeht zwischen Innen und Außen, und immer wieder den Zusammenhang zwischen der Fähigkeit untersucht, innere Widerstände zu überwinden und der Möglichkeit, daraus Machtpotenziale für das äußere Verhältnis zu anderen zu generieren. Um im Beispiel zu bleiben: Sokrates konnte durch die vorgelebte Selbstbeherrschung seines Innenlebens, also durch die machtvolle Überwindung innerer Widerstände, eine große äußere Wirkung und Faszination, besonders auf die griechische Jugend, ausüben; ergo, durch innere Selbstmächtigkeit ein äußeres Machtverhältnis aufbauen.185 Damit eng verbunden sind die Möglichkeit, Freiheitspotenziale im Verhältnis zu seinen eigenen Antrieben und im Verhältnis zu anderen Menschen zu erlangen, sowie die Möglichkeit, eine Identität in Auseinandersetzung mit sich selbst und anderen aufzubauen und „auszubalancieren“, wie man mit Krappmann (1969) sagen könnte. Denn „erst der Widerstand, der Gebrauch der eigenen Macht eröffnet einen Freiraum für eigenes Handeln (MA 1, 111, 2, S. 112 ff.)“ (Gerhardt (1996), S. 144). Und im Widerstand liegt die Chance einer Freiheit „gegenüber den heraufkommenden Mächten der Kollektivierung und den durchgreifenden Zwängen der Rationalisierung“ (Baier (1987), S. 430).186 Zum anderen wird fünftens gerade am Beispiel der Antriebe auch nachvollziehbar, dass Widerstände zwar überwunden, nicht aber automatisch vernichtet werden müssen. Die Überwindung von Widerständen kann sich vielmehr „in sehr unterschiedlichen, transfigurierten und sublimierten Formen vollziehen.“ (Abel (1984), S. 97) Es können „ G e g e n t y r a n n e n “ geschaffen werden, die Antriebe können gegeneinander gewendet und ausgespielt werden (GD, 6, S. 71), sie können aber auch geformt, gepflegt und kultiviert, können erhöht, verfeinert, verklärt, „vergeistigt, verschönt, vergöttlicht“ und „ f r u c h t b a r “ gemacht werden (GD, 6, S. 83 f.; N 1883, 7[88], 10, S. 273). Dabei kann es ratsam sein, vorhandene Widerstände nicht zu vernichten, sondern bestehen zu lassen. Denn man benötigt fortdauernd derartige „Gegner“ und „Feinde“, sowohl äußere wie innere
185 Gerhardt (1996) thematisiert diesen Zusammenhang zwischen der Überwindung innerer Widerstände und äußerer Machtausübung u. a. auch am Beispiel des Asketen, der durch die innere Überwältigung seiner „,inneren Feinde‘“ (MA I, 141, 2, S. 134) eine äußere Anerkennung und Bedeutung als Heiliger erlangen kann (vgl. S. 141 f.). Als solcher können seine „stillsten Worte“ die Erde „beben“ machen (N 1883, 13[3], 10, S. 452). 186 Eden (1984) spricht in diesem Kontext von einem „concept of freedom“ (S. 34; zit. nach Baier (1987), S. 430). Vgl. hierzu auch Giddens (1995), für den „power and freedom are not inimical“ (S. 268).
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(GD, 6, S. 84).187 Auch wenn in der Forderung nach möglichst starken und „siegreichen“ Feinden (EH, 6, S. 274) eine gewisse Kriegsromantik des „Viel Feind viel Ehr’“ mitschwingen mag: Aus der Konstruktion des Willens zur Macht mitsamt der dargelegten Bedeutung von Gegenseitigkeit und Agonalität sowie der Notwendigkeit, sich an Widerständen zu reizen, zu steigern und auszulassen, bekommt der Gedanke eine innere Plausibilität und Stringenz. Abschließend soll auf zwei weitere Aspekte hingewiesen werden, die Punkt sechs und sieben unserer Auflistung markieren und m. E. gerade mit Blick auf die Mikropolitik von hoher Relevanz sind. Der sechste Aspekt besteht in der Normalität von Widerständen. Diese läßt sich theoretisch ebenfalls aus der Bedeutung der Agonalität sowie aus der Universalität der Macht in Verbindung mit deren Angewiesenheit auf Widerstände herleiten: Wenn Macht die Grundlage von allem ist, und Macht notwendig auf Widerstände angewiesen ist, dann kann das Auftreten von derartigen Widerständen nicht als etwas Außergewöhnliches und Besonderes angesehen werden, sondern stellt vielmehr den zu erwartenden „Normalfall“ dar. Genau dies bringt Nietzsche zum Ausdruck, wenn er die Hemmung des Willens zur Macht – und damit einhergehend die Unlust – als „normales Faktum“ und als das „normale Ingredienz jedes organischen Geschehens“ einstuft (N 1888, 14[174], 13, S. 360; H.v. m.). Und da er keine kategoriale Trennung zwischen den Bereichen des Lebendigen und Nichtlebendigen anerkennt, kann er im anschließenden Satz sogar davon sprechen, dass überhaupt „jedes Geschehen“ einen Widerstand voraussetze. Das Auftreten von Widerständen kann demnach als Regelfall jedes Geschehens gelten. Mit Widerständen muss immer gerechnet werden. Dies wird auch an dem siebten und letzten hier anzusprechenden Aspekt von Widerstand als Widerstehen, Widerspruch bzw. Widerstreben deutlich: Oben wurde bereits die aktive Suche nach Widerstand, die „Unruhe aller Kräfte nach Überwindung von Widerständen“ angesprochen (N 1880, 6[56], 9, S. 207). Exakt dieser Überwindungsdrang scheint auch gemeint zu sein, wenn Nietzsche den „Durst nach Widerspruch und Widerstand“ anspricht, der mit einem gesteigerten Gefühl der Macht einhergehe, wie er am Beispiel von Priestern und Einsiedlern mit ihren Praktiken der Enthaltsamkeit verdeutlicht. Nun kann dieser Durst aber auch, quasi in entgegengesetzter Richtung, als Drang verstanden werden, Widerstand zu leisten, also i. S. eines Gegensatzes zu der „Lust der Ergebung“ aufzutreten, die Nietzsche im Anschlussnotat thematisiert. An dieser Stelle ist daher noch einmal explizit zu machen, dass Widerstand von Nietzsche, wie bereits für die Kraft und den Willen angedeutet, aus verschiedenen Perspektiven thematisiert
187 Dies gilt für Nietzsche übrigens auch für die Widerstände alter und ausdrücklich „zurückgebliebener“ Standpunkte politischer, sozialer, künstlerischer oder metaphysischer Art, denn diese erzeugen die „nöthige Reibung und sind für die neuen Bestrebungen Kraftquellen“ (N 1876/77, 23[184], 8, S. 469).
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wird, und vor allem, dass ein Wille zur Macht nicht nur auf der Seite dessen zu finden ist, der den Widerstand überwindet, sondern auch auf Seiten des Widerstehenden. Das Machtquantum ist durch „die Wirkung, die es übt, und der es widersteht, bezeichnet.“ (N 1888, 14[79], 13, S. 258; H.v. m.) Widerstand in diesem Sinne, als machtvolles Widerstehen gegen etwas oder jemanden, findet sich an einer Vielzahl von Stellen. Beispielsweise klingt es im Verhältnis des Betrachtenden zur Kunst an: „Indem der Betrachtende scheinbar der aus- und überströmenden Natur Wagner’s unterliegt, hat er an ihrer Kraft selber Antheil genommen und ist so gleichsam d u r c h i h n g e g e n i h n mächtig geworden“ (UB IV, 7, 1, S. 466).
Später, nach seiner Abkehr von Wagner, lobt Nietzsche dann vor allem den „ d u m p f e n Widerstand gegen Wagner“, den er keinesfalls unterschätzt wissen möchte (W, 6, S. 41). Widerstand zu leisten bzw. leisten zu können wird neben Geschmacks- und Instinktsicherheit vor allem mit Macht und Einfluss assoziiert: Der „ E i n f l u s s r e i c h s t e “ ist derjenige, der „seiner ganzen Zeit Widerstand leistet (. . .), das m u s s Einfluss üben! Ob er es will, ist gleichgültig; dass er es k a n n , ist die Sache.“ (FW 156, 3, S. 496).188 Dies gilt in besonderem Maße, wenn den gewohnten und herrschenden Wertgefühlen Widerstand geleistet wird, wie Nietzsche das für seine eigene Philosophie in Anspruch nimmt (vgl. JGB 5, 5, S. 18). In diesem gedanklichen Kontext stellt er auch die Frage, warum bestimmten Idealen, wie z. B. dem asketischen, „nicht besser Widerstand geleistet worden“ sei (GM III, 23, 5, S. 395). Des Weiteren ist hier auch der „Widerstand gegen regierende Autoritäten“ einzuordnen, in dem sich eine spezifische Form der Macht, der Wille zur Wahrheit, zeigen kann, der u. a. als „Eroberung und Kampf mit der Natur“ auftritt (N 1887, 9 [46], 12, S. 358 f.). An anderer Stelle wird dieser Wille zur Wahrheit als eine Unterform eines ursprünglicheren, tieferen Willens zum Schein konzipiert und in diesem Zusammenhang explizit ein „Wille zum Widerstand“ in eine Reihe mit anderen Formen wie dem Willen zum „Werden, Wachsen, Gestalten, folglich zur Überwältigung, (. . .) zum Krieg, zur Zerstörung“ gestellt (N 1888, 14[24], 13, S. 229). Insgesamt stellen sich Entwicklungen aus einer Machtperspektive dar als „Aufeinanderfolge von (. . .) sich abspielenden Überwältigungsprozessen, hinzugerechnet die dagegen jedes Mal aufgewendeten Widerstände, die versuchten FormVerwandlungen zum Zweck der Vertheidigung und Reaktion, auch die Resultate gelungener Gegenreaktionen.“ (GM II, 12, 5, 314 f.; H.v. m.) „Der Grad von Widerstand und der Grad von Übermacht – darum handelt es sich bei allem Geschehen“ (N 1888, 14[79], 13, S. 257)
188 Diesen Einfluss müsste Nietzsche auch Luther zugestehen, auch wenn er dessen Widerstand gegen die Kirche als „Widerstand eines Rüpels“ gegen elitären Geschmack und Etikette einschätzt (GM III, 22, 5, S. 394).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Ausschlaggebend ist hier, dass Widerstand i. S. eines (relativ aktiven) Widerstehens in allen diesen Beispielen in eine enge Verbindung zu Macht gebracht wird: Widerstand zu leisten ist eine Form der Machtausübung, Widerstand verschafft nach Nietzsches Vorstellung Macht und Einfluss, so wie die Möglichkeit zum Widerstand ihrerseits eine gewisse Macht voraussetzt. Dagegen ist die Unfähigkeit, Widerstand zu leisten, sei es einer Krankheit (GD, 6, S. 89), einem Reiz (ebd., S. 108), einem Gedanken (N 1888, 14[57], 13, S. 244) oder einer kulturellen Entwicklung (UB IV, 4, 1, S. 450; N 1875, 11[26], 8, S. 213), ein Zeichen für Machtlosigkeit, Schwäche, Resignation und Niedergang, für eine „Disgregation des Willens“, wie Nietzsche auch sagt (GD, 6, S. 90).189 Die „Unfähigkeit zum Widerstand“ wird also auf eine Erschöpfung im weitesten Sinne zurückgeführt. Als solche stellt sie eine spezifische Form der Unlust dar, die allerdings, im Unterschied zum oben beschriebenen Fall, nicht als Stimulus des Willens zu Macht wirkt, als „Herausforderung des Widerstehenden“, sondern im Gegenteil eine „tiefe Verminderung und Herabsetzung des Willens zur Macht, eine meßbare Einbuße an Kraft“ darstellt (N 1888, 14[174], 13, S. 361). Die Möglichkeit, Widerstand zu leisten, hängt demnach direkt mit dem jeweiligen Willen zur Macht zusammen, ist gleichsam eine spezifische Ausdrucksform des Willens zur Macht. Andersherum kann Macht in der hier eingenommenen Perspektive angesehen werden als Fähigkeit zum Widerstand, als Widerstehenkönnen. Gleiches gilt für den Widerspruch: Auch Widersprechenkönnen ist als eine Form der Macht anzusehen. Der Zusammenhang „Macht : Widersprechen“ und „Ergebung : Zustimmen“ (N 1880, 6[49], 9, S. 205) gilt daher meiner Meinung nach nicht nur für den Bereich der Logik, denn auch mit Worten kann Widerstand geleistet und somit Macht ausgeübt werden (vgl. AC 33, 6, S. 205). Die Möglichkeit des Widerstehenkönnens entfaltet darüber hinaus eine Relevanz für Nietzsches Konzeption von Herrschaftsverhältnissen, die für unseren Kontext besonders interessant erscheint.190 Wenn der Wille zur Macht sowohl im Überwinden von Widerständen als auch im Widerstehen zu finden ist, müssen Herrschende und Beherrschte in gewisser Hinsicht als gleich aufgefasst werden, wie Nietzsche auch explizit einräumt: Man muss, grundsätzlich betrachtet, „den 189 Zum Stichwort der „décadence“ und „Krankhaftigkeit“ notiert er sich: „die Unkraft im Widerstande (. . .) die gebrochene Widerstandskraft“ (N 1888, 14[65], 13, S. 250). Ebenso wird das Verzichtleisten auf Widerstand als Schwächung, ausdrücklich auch im Zusammenhang einer Schwächung des Willens zur Macht bezeichnet (ebd., S. 251). Exakt diese „Unfähigkeit zum Widerstand“, weder durch Tat, „durch Wort, noch im Herzen“, dieses „Nicht-feind-sein-können“ kritisiert Nietzsche am christlichen Evangelium (AC Aph. 29, 30 u. 33, 6, S. 199 ff.; N 1887/88, 11[360], 13, S. 158). 190 Seine Überlegungen dazu entwirft er vor allem an Beispielen organischer „Herrschaftgebilde“, wie dem Leib. Die wechselseitige Übertragbarkeit der Einsichten ist m. E. dadurch gegeben, dass Nietzsche sowohl organische Gebilde als „Gesellschaftsbau“ (JGB 19, 5, S. 33) fasst als auch die sozialen Gebilde als Organismen, wie bereits im Kapitel zur Agonalität der Macht erläutert worden ist (vgl. II. 3.).
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Beherrscher und seine Untertanen als g l e i c h e r A r t verstehen, alle fühlend, wollend, denkend“ (N 1885, 40 [21], 11, S. 639).191 Befehlender und Gehorchender „müssen verwandter Art sein, sonst könnten sie nicht so einander dienen und gehorchen“ (N 1885, 34[123], 11, S. 461). Überall drückt sich das Bedürfnis aus, „irgend eine Macht doch noch auszuüben oder sich selbst den Anschein einer Macht zeitweilig zu schaffen“ (N 1887, 9[145], 12, S. 420). Nach Nietzsche gibt es demnach keine absoluten Unterschiede mehr zwischen Befehlendem und Gehorchendem, sondern allenfalls relative, die sich in der jeweiligen Position innerhalb der Rangordnung widerspiegeln (vgl. Gerhardt (1996), S. 262). Denn „Regieren und gehorchen“ sind beide „als Ausdruck des Willen zur Macht“ zu verstehen und somit nicht prinzipiell verschieden (N 1885, 39[13], 11, S. 623). Dies wird bereits augenscheinlich am Beispiel des Dienenden, in dessen „Opferung und Dienste“ er noch „den Willen, Herr zu sein“ ausfindig macht (ZA II, 4, S. 148).192 Während hier aber eher eine „Kaskade“ hierarchischer Rangfolgen „von oben nach unten“ gemeint zu sein scheint, in der dem Stärkeren vom Schwächeren nur gedient wird, um über noch Schwächeres Herr werden zu können, ist darüber hinaus davon auszugehen, dass sich der Machtwille bis zu einem gewissen Grad auch gegen den Herrschenden richtet, und ihm auf teilweise verschlungenen Wegen Macht „stiehlt“, wie Nietzsche sich ausdrückt (ebd.). Niedere „Wesen wollen ein Übergewicht über die höheren ausüben“, auch dadurch, „daß sie die einzelnen Eigenschaften des Höheren (z. B. sein Vertrauen) mißbrauchen.“ (N 1883, 14[2], 10, S. 475) Technischer ausgedrückt, „sucht jeder innere Funktionsteil sogar noch bei der Vergegenwärtigung des Organisations-Ganzen und im Gehorchen seine eigene Macht in den fortwährenden internen Kraftfeststellungen im Verhältnis zu allen anderen Funktionsteilen zu erhöhen.“ (Abel (1982), S. 374)
Daher ist es m. E. auch nicht ausreichend, das Herrseinwollen des Knechts auf Schwächere oder sogar bloß auf das Herrsein über Dinge zu beschränken, wie dies in Heideggers Interpretation zum Ausdruck kommt: „Wollen aber ist Herrsein-wollen. Dieser Wille ist noch im Willen des Dienenden, nicht etwa sofern er darnach strebt, aus der Rolle des Knechtes sich zu befreien, son191 Auch hier gilt demnach, was Nietzsche für das Verhältnis von Vernunft und Sinnen konstatiert, nämlich, dass die „Central-Gewalt“ nicht wesentlich von dem verschieden sein darf, was sie beherrscht (N 1885, 34[55], 11, S. 438). Andersherum gewendet muss allerdings somit auch der Unterdrückte einsehen, dass er „mit dem Unterdrücker auf g l e i c h e m B o d e n steht und daß er k e i n Vo r r e c h t , keinen h ö h e r e n R a n g vor jenem habe“, beispielsweise in moralischer Hinsicht (N 1886/87, 5[71], 12, S. 215; H.v. m.). 192 Vgl. dazu im Ansatz auch Schopenhauer: „Kein Sieg ohne Kampf: indem die höhere Idee, oder Willensobjektivation, nur durch Überwältigung der niedrigeren hervortreten kann, erleidet sie den Widerstand dieser, welche, wenn gleich zur Dienstbarkeit gebracht, doch immer noch streben, zur unabhängigen und vollständigen Aeußerung ihres Wesens zu gelangen.“ (WWV I, § 27, S. 206 f.; H.v. m.)
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dern sofern er Knecht und Diener ist und als solcher immer noch den Gegenstand seiner Arbeit unter sich hat, dem er ,befiehlt‘.“ (Heidegger (1961), Bd. 2, S. 265; H.v. m.)
Der Wille zur Macht des Unterlegenen ist vielmehr potenziell auch immer gegen die Position und Person des Herrschenden gerichtet, z. B. in Form eines Widerstandes. Damit bekommt die Relation erst ihren eigentlich agonalen Grundzug und kann als ein „Ringen“ und als ein fortwährender „Kampf“ interpretiert werden. Und dadurch wandelt sich auch das Verständnis von Herrschaft zu einem komplexen und wechselseitigen Verhältnis der Mächte, das nicht nur schematisch „von oben nach unten“ verläuft, sondern auch in die entgegengesetzte Richtung. Bei einer Vielzahl von Akteuren ist demnach von einem mehrdimensionalen Herrschaftsraum mit einander entgegengesetzten Kräften auszugehen. Mit den entsprechenden Konsequenzen für den Herrschaftsbegriff: „ H e r r s c h e n ist das Gegengewicht der schwächeren Kraft ertragen, also eine Art F o r t s e t z u n g des Kampfs. G e h o r c h e n ebenso ein K a m p f : so viel Kraft eben zum Widerstehen b l e i b t . “ (N 1884, 2[276], 11, S. 222; kursiv v. m.)
Hier klingt wiederum der vorangegangene Aspekt der Normalität von Widerständen an, auf den gerade die Herrschenden immer gefasst sein müssen und den sie in einem gewissen Rahmen „ertragen“ müssen, wie Nietzsche sagt. Denn auch der „Regent“ ist abhängig „von den Regierten und den Bedingungen der Rangordnung und Arbeitstheilung als Ermöglichung zugleich der Einzelnen und des Ganzen. (. . .) Die gewisse U n w i s s e n h e i t , in der der Regent gehalten wird über die einzelnen Verrichtungen und selbst Störungen des Gemeinwesens, gehört mit zu den Bedingungen, unter denen regirt werden kann.“ (N 1885, 40 [21], 11, S. 638)193
Ein gewisses Quantum Macht findet sich demnach in der Regel auch in unterlegenen Positionen, ein Phänomen, das in der organisationstheoretischen Forschung unter dem Stichwort der „Untergebenenmacht“ firmiert. Diese kann sich im mikropolitischen Vokabular z. B. auf Detailkenntnisse oder ein Expertenwissen als Machtquelle stützen, das der „Unwissenheit“ des Regenten gegenübersteht, von der Nietzsche spricht – und somit u. a. darauf, „Störungen des Gemeinwesens“ beseitigen zu können (nicht zu müssen). Dies erinnert wiederum unweigerlich an die Wartungsarbeiter bei Crozier/Friedberg (1993), deren zentrale Machtbasis gerade in dieser Fähigkeit besteht und somit in der Kontrolle einer für das Ganze relevanten Unsicherheitszone. Gerhardt führt die Macht der nominell Schwächeren bei Nietzsche auch auf deren verfügbares Schadenspotenzial zurück: 193 Der Grundgedanke einer wechselseitigen Abhängigkeit ist bereits in Hegels „Herr-Knecht-Dialektik“ angelegt, zieht sich durch die soziologische und organisationstheoretische Theorie und hat in der poststrukturalistischen Rezeption, u. a. in der Machtkonzeption von Foucault, eine besondere Aufmerksamkeit erfahren. Für den mikropolitischen Kontext s. Neuberger (1995), S. 65 ff., S. 148, Anm. 7; Weick (1985), S. 30.
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„Selbst der offenkundig Unterlegene kann dem Stärkeren ein Recht abtrotzen, sofern der Schwache immer noch für stark genug gehalten wird, dem anderen – irgendwie und vielleicht nur auf lange Sicht – zu schaden.“ (Gerhardt (1988d), S. 105 f.)
Und auch der zweite oben thematisierte Aspekt der Größe von Widerständen spielt hier erneut eine Rolle: Denn mit steigender Fähigkeit, Widerstand zu leisten, was wiederum von der vorhandenen Kraft abhängt, steigen die Machtpotenziale der (unterlegenen) Akteure. Sie müssen dabei gar nicht immer offen vorgehen. Widerstand kann sich vielmehr auch auf „Schleichwegen“ vollziehen (ZA II, 4, S. 148). Letztlich gibt es so viele Arten von Widerstand, wie es Kraftzentren gibt, denn „jedes Kraftcentrum“ hat „seine Aktions-Art, seine Widerstandsart“ (N 1888, 14[184], 13, S. 371; H.v. m.). Widerstand hat ferner auch im hier untersuchten Kontext von Herrschaftsverhältnissen eine dezidierte aktive Komponente, die ja den zentralen Aspekt dieses siebten Punktes von Widerstand markiert. Besonders deutlich wird dies, wenn Nietzsche nicht nur von einem Widerstehen spricht, sondern von einem die Aktivität noch betonenden Widerstreben.194 Insbesondere in einer Reihe von Aufzeichnungen aus dem Jahr 1885 arbeitet Nietzsche die Eigenständigkeit sowie die relative Unabhängigkeit der Untergebenen heraus. Seine Leitfrage ist, „(i)n wie fern auch im Gehorchen ein Widerstreben liegt“ (N 1885, 36[22], 11, S. 561; H.v. m.). Ein derartiges Widerstreben macht er tatsächlich in diversen Herrschaftsgebilden aus. Beispielsweise wieder einmal im Leib, als „ungeheure[r] Vereinigung von lebenden Wesen, jedes abhängig und unterthänig und doch in gewissem Sinne wiederum befehlend und aus eigenem Willen handelnd“, die „als Ganzes leben, wachsen und eine Zeit lang bestehen kann“ (N 1885, 37[4], 11, S. 577; H.v. m.). Der „tausendfältige Gehorsam“ innerhalb derartiger komplexer Herrschaftsgebilde ist für ihn primär „kein blinder, noch weniger ein mechanischer sondern ein wählender, kluger, rücksichtsvoller, selbst widerstrebender Gehorsam“ (N 1885, 37[4], 11, S. 577; H.v. m.). Damit ist die Untergebenenmacht als „widerstrebender Gehorsam“ erneut angesprochen sowie ausdrücklich als „Eigenmacht“: „(E)s ist die Eigenmacht durchaus nicht aufgegeben. Ebenso ist im Befehlen ein Zugestehen, daß die absolute Macht des Gegners nicht besiegt ist, nicht einverleibt, aufgelöst.“ (N 1885, 36[22], 11, S. 561)
Widerstreben ist somit nicht nur die Form der Kraft, wie es oben hieß, sondern auch der Macht (so auch Gerhardt (1996), S. 177). 194 Vgl. dazu am Beispiel vom Leib als Herrschaftsgebilde ausführlich auch MüllerLauter (1999), S. 126 ff. Dort wird auch die Entwicklung von einem passiveren Widerstehen zu einem aktiveren Widerstreben und somit von einem einfacheren zu einem komplexeren Verständnis des organischen Funktionsganzen nachgezeichnet. Meiner Meinung nach sind allerdings durchaus auch im Widerstand als Widerstehen bereits aktive Momente angelegt, wie die Ausführungen gezeigt haben sollten. Diese werden durch die Rede vom Widerstreben allerdings noch untermauert.
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Diese Tendenz zum Widerstreben hat auch für den sozialen Kontext Gültigkeit: Auch der Mensch ist für Nietzsche „eine w i d e r s t r e b e n d e Kraft: in Hinsicht auf alle anderen Kräfte“ (N 1883/84, 24[14], 10, S. 651). Dies gilt für basale Vorgänge des Erkennens, die Nietzsche als Ermöglichungsmittel von Leben, als Ernährung interpretiert. Es gilt aber auch für sein Verhältnis zu den Kräften anderer Menschen. Gehorchen wird zu einem Teil auch als Gehorchenmüssen erlebt, als Zwang unter den Willen von jemand anderem. Menschen haben die Tendenz, sich gegen diesen Zwang zu sträuben.195 Eine Tendenz, die latent vorhanden bleibt, auch wenn es zu einer Unterordnung innerhalb einer Hierarchie kommt. Insofern ist auch im zwischenmenschlichen Bereich „das Verhältniß des Herrschenden zum Beherrschten noch als ein Ringen, und das Verhältniß des Gehorchenden zum Herrschenden noch als ein Widerstreben zu verstehen“ (N 1885, 40[55], 11, S. 655; H.v. m.) – und somit als ein Kampf im Sinne Nietzsches, in dem jede Macht Gegenmächte und Widerstände auf den Plan ruft. Andersherum gewendet heißt dies aber auch: Wenn Akteure Widerstandspotenziale haben, gehört immer auch ein gewisses Gehorchenwollen dazu, damit sie beherrscht werden können. Die Motive für ein derartiges Wollen können vielfältig sein und von Situation zu Situation variieren.196 Wichtig ist hier, dass kein Mechanismus des Gehorsams unterstellt werden kann, und Gehorchen unter Umständen mit gewissen Zugeständnissen erworben werden muss, die Nietzsche, wie oben gesehen, in jedem Befehl ausmacht. Diese können z. B. darin bestehen, sich selbst den eigenen Anordnungen zu unterwerfen, wie das in der Mikropolitik als „Selbstbindungswirkung“ von Befehlen und Vorschriften angesprochen wird (s. u.) und wie Nietzsche an der Selbstregulierung verdeutlicht:
195 Dies gilt im Übrigen nicht nur für Menschen, wie jeder weiß, der sich einmal mit der Ausbildung von Tieren beschäftigt hat. Man braucht sich beispielsweise nur das Verhalten von Hunden vor Augen zu führen, die das erste Mal eine Leine um den Hals gelegt bekommen, um zu sehen, dass der Drang nach Freiheit vom Willen anderer selbst für diese generell ein- und unterordnungswilligen Haustiere ein starker Impuls ist. 196 Ein Motiv könnte z. B. darin gesehen werden, durch das Gehorchenwollen seinen Stolz zu wahren und nicht als Sklave und Schwacher gehorchen zu müssen. Ein eigentlich empfundenes Gehorchenmüssen gegenüber äußeren Pflichten oder Befehlen wird daher als eigenes Wollen uminterpretiert, „man b e f i e h l t mit“, statt nur zu gehorchen (N 1880, 4[111], 9, S. 128). Des Weiteren bietet sich das Gehorchenwollen eine Möglichkeit, die eigenen Machtpotenziale (zumindest in der eigenen Vorstellung) nicht nur nicht aufgegeben zu haben, sondern sogar steigern zu können. Diese Steigerungsmöglichkeit des eigenen Machtgefühls innerhalb einer größeren und mächtigeren Einheit, wie Familie, Gemeinde oder Staat, ist für Nietzsche ein wichtiges Motiv sich unterzuordnen (vgl. N 1880, 4[176], 9, S. 145). Dies ließe sich problemlos auf Organisationen übertragen: Das eigene Gefühl der Macht wird u. U. durch die Anstellung in einem international agierenden, renommierten „global player“ beträchtlich gestärkt. Grundsätzlich kann sich der Wille zur Macht auch im Gewand einer hohen Unterordnungsbereitschaft zeigen, wie Nietzsche mit tiefenpsychologischem Blick auf den Asketen freilegt, bei dem Unterordnung ein mächtiges Mittel ist, um über sich, und damit letztlich auch über andere, Herr zu werden (vgl. MA I, 139, 2, S. 133).
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„ R e c h t e : der Mächtigere stellt die Funktionäre g e g e n e i n a n d e r fest: und P f l i c h t e n : der Mächtigere stellt die Funktionäre g e g e n s i c h fest: jeder hat etwas zu leisten, und um dies regelmäßig zu erlangen, v e r z i c h t e t der Mächtigere auf weitere Eingriffe, und f ü g t s i c h s e l b e r e i n e r O r d n u n g : es gehört dies zur Selbstregulirung. In Bezug auf die P f l i c h t e n d e r F u n k t i o n e n stimmt der Mächtige und die Funktion überein.“ (N 1881, 11[200], 9, S. 522)
Dazu gehört auch, dass der Befehlende einer gewissen Fürsorge für die Gehorchenden nachkommen und mindestens für ihre „Erhaltung“ sorgen muss, nicht zuletzt, da er selbst von ihrer Existenz abhängt. Insofern ist auch „nichts ,Unegoistisches‘ daran“ (ebd.). In „feineren Fällen“ muss die Rolle zwischen ihnen sogar „vorübergehend wechseln, und der, welcher sonst befiehlt, einmal gehorchen.“ (N 1885, 34[123], 11, S. 461) In der Frage nach der Form der Regentschaft führt daher laut Müller-Lauter (1999 S. 129) auch die Rede Zarathustras von dem einen Hirten der Herde eher in die Irre: An der Spitze (des Gesellschaftsbaus Leib) steht gerade kein „absoluter Monarch“ (N 1884, 27[8], 11, S. 277). Vielmehr ist „das centrale Schwergewicht [. . .] etwas Wandelbares“ (N 1885, 34[123], 11, S. 462). Die bleibende Möglichkeit, Widerstand zu leisten, wirft somit auch noch einmal ein neues Licht auf die Grenzen der Monopolisierungstendenz von Macht: Letztlich kann es in Nietzsches Konzept nie zu einer endgültigen und vollständigen Realisierung eines Monopols kommen, auch wenn Nietzsche am Beispiel aus dem organischen Bereich die komplette Aneignung, Assimilation und Einverleibung, das vollständige An- und Umorganisieren thematisiert, „bis endlich das Überwältigte ganz in die Macht des Angreifers übergegangen ist“ (N 1887, 9[151], 12, S. 424; H.v. m.). Denn zum einen bleibt das entstandene Gebilde immer gefährdet und kann wieder zerfallen, beispielsweise wenn der Wille zur Macht sich als zu schwach zu einer vollständigen Einverleibung erweist (ebd.). Oder wenn sich die Macht an zwei verschiedenen Stellen der Einheit derart stark bündelt, dass sich eine Teilung vollzieht, und die „Zwischen-Masse“ zerreißt (N 1884, 26[274], 11, S. 222).197 Es gibt also keine Bestandsgarantie für Machtakkumulationen. Vor allem aber ist die Einheit selbst in sich als Vielheit und fortgesetzter Kampf von Untereinheiten zu verstehen, so dass selbst in bestehenden Machteinheiten kein vollkommenes Monopol herrscht. Diese Einschätzung deckt sich mit der Ottmanns: „Es ist für das Machtverständnis von Nietzsches Machtbegriff wesentlich, daß er ein Machtmonopol ausschließt. Macht ist immer, und das auf allen ihren Stufen von der Natur bis zu, sagen wir, Politik, Moral, Kunst, stets eine Mischung aus Macht und Ohnmacht. Jeder Machtwille, auch wenn er das Gegenüberstehende und den Widerstand umgreift und zu integrieren weiß, ist doch selbst durch ihn mitbestimmt. Die 197 „(W)o ein Wille nicht ausreicht, das gesamte Angeeignete zu organisiren, tritt ein G e g e n w i l l e in Kraft, der die Loslösung vornimmt, ein neues Organisationscentrum, nach einem Kampfe mit dem ursprünglichen Willen“, wie Nietzsche zum Stichwort der „Zeugung“ notiert (N 1886/87, 5[64], 12, S. 209).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
jeweils ihre Konsequenz ziehenden Machtquanten folgen nicht einer Progression, die zu einem Punkt führen würde, an dem jeder Widerstand aufgelöst ist.“ (Ottmann (1999), S. 358)
Mit diesem Zitat, das noch einmal die eminente Bedeutung des Widerstands verdeutlicht, in dem über die angesprochenen Relevanz für die Selbstbestimmung und Identitätsbildung hinaus eine Möglichkeit zur Partizipation angelegt ist – nämlich in der Form, eine größere Machteinheit gemäß des eigenen Widerstandsund Machtquantums mitzubestimmen, und sei es auch nur in einem sehr bescheidenen Maße – soll der siebente Aspekt von Macht und Widerstand abgeschlossen werden. Widerstand, wie er in diesem Aspekt als Widerstehen, Widersprechen und Widerstreben beschrieben worden ist, besitzt eine machtvolle und in mehrerlei Hinsicht aktive Komponente. Zum einen ist der Widerstand selbst als Aktivität charakterisiert und z. B. passiven Erschöpfungszuständen gegenübergestellt worden. Zum anderen wird durch das Widerstandspotenzial deutlich, dass der Unterworfene die ihm zudiktierte Funktion bis zu einem gewissen Grad aus sich selbst heraus übernehmen und mittragen muss (vgl. Müller-Lauter (1999), S. 126). Allerdings wurde oben, u. a. beim ersten Aspekt, gerade das aktive Ausgreifen nach Mehr, die aktive Suche nach etwas, dessen Widerstand überwunden werden kann, als Zeichen für einen starken Willen zur Macht gedeutet. Im Vergleich dazu kann die Beschränkung darauf, Widerstand zu leisten, doch als etwas eher Reaktives und Passives erscheinen. Dies sieht auch Nietzsche, wie dem folgenden Fragment zu entnehmen ist: „Was ist ,passiv‘? widerstehen und reagiren. Gehemmt sein in der vorwärtsgreifenden Bewegung: also ein Handeln des Widerstandes und der Reaktion Was ist ,aktiv‘? nach Macht ausgreifend.“ (N 1886/87, 6[64], 12, S. 209)
Eine gewisse Vorsicht gegenüber Positionen, die sich auf Widerstand und Widerspruch beschränken, ist daher auch für Nietzsche selbst unverkennbar, er möchte „mit Widerspruch und Kritik nur mittelbar, nur unfreiwillig“ zu tun haben, und betont demgegenüber das aktive „Jasagen“ (GD, 6, S. 108). Aus seiner Präferenz für das Angreifende und auf andere(s) Ausgreifende macht er keinen Hehl. Dennoch sollte die Relevanz des Widerstandes aus beiden Perspektiven in den vorangegangenen Ausführungen deutlich geworden sein – sowie die damit verbundenen Machtpotenziale. Im gesamten bisherigen Kapitels hat sich in der Rückschau die enge Verbindung von Macht und Widerstand gezeigt: Erst Widerstand erfordert eine Macht (vgl. Gerhardt (1996), S. 13), so wie Macht selbst Widerstand nicht nur benötigt und dementsprechend aktiv sucht, sondern auf der anderen Seite bis zu einem gewissen Grad auch hervorruft und sich erst in der Möglichkeit zu Widerstand zeigt. Da sich dieses gesamte Geschehen, das gesamte „Spiel“ von Widerstand
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und Widerspruch inklusive deren Überwindung und zeitweiliger „Lust des Einklangs“ nach Nietzsche als Wille zur Macht fassen lässt (N 1885, 38[12], 11, S. 611), kann es als „eine Vielheit von Willen“ angesehen werden, „die in sich selbst und untereinander nach Widerstand streben.“ (Oosterling (1994), S. 60) Ausgehend von dem letzten Aspekt, dem des (aktiven) Widerstehens, soll nun die Bedeutung der Dimension von Macht und Widerstand für die strategisch-mikropolitische Organisationstheorie analysiert werden. Die These lautet, dass dieser Dimension hier ebenfalls generell ein hoher Stellenwert zukommt, und dass speziell in der angesprochenen Möglichkeit des aktiven Widerstehens und Widerstrebens eine zentrale Bedingung der Möglichkeit von Mikropolitik angelegt ist. Denn erst durch die prinzipielle Option zu Widerstand und kontingentem Verhalten erlangen die Akteure Handlungsspielräume und somit Kontrolle über Unsicherheitszonen, die sie strategisch als Machtquellen nutzen können. In der Strategischen Organisationsanalyse ist die Bedeutung des Widerstandes dementsprechend einfach nachzuweisen. Sie lässt sich z. B. direkt aus dem Strukturmerkmal der Gegenseitigkeit ableiten: Macht wurde zu Beginn dieses Kapitels noch einmal explizit als unausgewogene, asymmetrische aber gegenseitige Beziehung charakterisiert. Macht ist für Crozier/Friedberg (1993) „ein Kräfteverhältnis, aus dem der eine mehr herausholen kann als der andere, bei dem aber gleichfalls der eine dem anderen n i e v ö l l i g a u s g e l i e f e r t ist.“ (S. 41; gesperrt v. m.) Schutz vor diesem völligen Ausgeliefertsein bieten Widerstandsmöglichkeiten, die Handlungsfreiräume darstellen und Möglichkeiten, „das zu verweigern, was der andere von ihm verlangt“ (S. 41). Dadurch entsteht erst die Unvorhersagbarkeit des eigenen Handelns für den anderen und somit eine Ungewissheitszone für diesen sowie für die Organisation insgesamt, aus deren Kontrolle sich Machtpotenziale generieren lassen. Ohne diese Möglichkeit zur Verweigerung und zum Widerstand lässt sich demnach keine Macht aufbauen, es existiert im strengen Sinne keine Machtrelation mehr: „Mit anderen Worten: wenn B seine Bereitschaft zu tun, was A von ihm verlangt, nicht mehr verweigern kann, dann ist auch keine Machtbeziehung mehr zwischen beiden möglich, denn dann existiert B gegenüber A nicht mehr als autonomer Akteur und wird lediglich ein Ding.“ (S. 40)
Das zentrale Strukturmoment der Gegenseitigkeit beinhaltet demnach die Möglichkeit zum Widerstand i. S. eines Widerstehens, Verweigerns und Widersprechens bzw. setzt diese gewissermaßen voraus. Gleichzeitig sind an dieser Stelle ebenfalls die oben hergestellten Bezüge zur Möglichkeit selbstbestimmten Handelns als „autonomer Akteur“ sowie zur Möglichkeit des Aufbaus einer Identität expliziert, die den Akteur zu einer Person werden lässt, die nicht auf ein „Ding“ reduziert werden will.198
198
Vgl. auch Crozier/Friedberg (1993), S. 317, Anm. 68; S. 318, Anm. 73.
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Daran schließt sich direkt ein weiterer Zugang zu Widerständen an, der mit der offensiven bzw. defensiven Strategie verbunden ist, die nach Crozier/Friedberg jeder Akteur immer verfolgt, und die zwei widersprüchliche, aber sich gleichzeitig ergänzende Seiten von Machtstrategien darstellen: „Jeder Akteur wird sich (. . .) darum bemühen, auf die anderen Mitglieder der Organisation Zwang auszuüben, um seine eigenen Forderungen durchzusetzen (offensive Strategie), und ihrem Zwang durch den systematischen Schutz seines eigenen Spielraums zu entgehen (defensive Strategie).“ (S. 56)
Dem offensiven Drang der Akteure, „die Spielräume ihrer relevanten Gegenspieler soweit möglich einzuengen“ (Friedberg (1992), S. 43) und ihren „eigenen Freiheits- und Willkürspielraum so weit wie möglich ausdehnen“ zu wollen, steht demnach die defensive Komponente gegenüber, den eigenen Handlungsspielraum zu wahren und vor dem Zugriff anderer zu schützen (Crozier/Friedberg (1993), S. 43). Hier tun sich, ganz ähnlich zu der Betrachtung bei Nietzsche, zwei unterschiedliche Perspektiven auf: die bisher verfolgte, die Widerstand im Sinne eines eigenen Widerstehens fasst, also sozusagen aus dem Blickwinkel einer defensiven Strategie, sowie die Perspektive einer offensiven Strategie, bei der auf die Handlungsbereiche anderer ausgegriffen wird, deren Gegenaktivität dann als (zu überwindender) Widerstand erfahren wird. Daraus ergeben sich einige weiterführende Aspekte: Da durch die Gegenseitigkeit der Macht jeder Akteur auf ein Gegenüber angewiesen ist, und dieses Gegenüber in der Verfolgung seiner defensiven Schutz-Strategie als Widerstand der offensiven Strategie auftritt, kann folgerichtig davon gesprochen werden, dass auch nach Crozier/Friedberg (1993) jede Macht einen Widerstand benötigt, um als Macht gelten zu können. Darüber hinaus ist auch hier ein Steigerungs- und Überwindungsmotiv angelegt, wenn es in der offensiven Strategie darum geht, seinen Spielraum „so weit wie möglich“ auszudehnen. Allerdings wird nicht explizit gesagt, ob die Akteure einen derartigen Widerstand auch aktiv suchen, wie es in Nietzsches Ansatz des Willens zur Macht eindeutig der Fall ist. Ferner wird die oben bei Nietzsche ebenfalls angesprochene Normalität von Widerstand offenkundig, da beide Strategien in jedem Akteur grundsätzlich „immer vorhanden“ sind (S. 56). Mit Widerstand ist bei der Durchsetzung von Machtansprüchen daher immer zu rechnen. In gewissem Sinne könnte sogar gesagt werden, dass eine ausgreifende Macht einen Widerstand unweigerlich hervorruft. Nämlich insofern jede offensive Strategie beim Versuch ihrer Durchsetzung notwendigerweise ihren defensiven Komplementär aktiviert und sich in einer Schutzstrategie des je eigenen Spielraums gegen den Zwang unter den Willen eines anderen niederschlägt, wie sich durch das o. a. Streben der Akteure nach Autonomie und Identität zusätzlich fundieren und plausibilisieren lässt.199 199 Das zeigt sich z. B. darin, dass Menschen die bereits beschriebene Tendenz haben, ihre Identität zu wahren und notfalls zu verteidigen, und dass dieser starke Widerstand
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Daraus lässt sich weiterhin ableiten, dass Widerstand nicht per se als kritikwürdig oder gar moralisch verwerflich gelten kann. Crozier/Friedberg (1993) sehen in dem regelmäßig anzutreffenden Widerstand, z. B. gegen organisationalen Wandel und Innovationen, nicht primär eine Beschränktheit oder eine mangelnde Aufgeschlossenheit der Akteure gegenüber Neuem, sondern den Ausdruck einer Machtstrategie, die einer gewissen Rationalität folgt: „Nicht, daß es keine Widerstände gäbe. Diese entstehen aber nicht deshalb, weil die von einer Veränderung Betroffenen sich borniert an ihre eingefahrenen Routinen festklammerten und außerstande wären, ihre Verhaltensweisen zu ändern. Dies mag hier und da der Fall sein. In den meisten Fällen drücken solche Widerstände aber lediglich das Mißtrauen aus, das die Betroffenen mit voller Berechtigung einer ohne ihr Zutun ausgearbeiteten Veränderung entgegenbringen, deren Ziel es meistens ist, ihre Verhaltensweise zu ,rationalisieren‘, das heißt sie durch das Verschwinden bestimmter, von ihnen kontrollierter Ungewißheitszonen voraussehbar zu machen.“ (S. 312, Anm. 28)
In dieser Interpretation wird es also aus machttheoretischer Sicht plausibel und nachvollziehbar, warum bei jeder potenziellen Veränderung am Status quo einer Organisation mit Widerstand zu rechnen ist. Denn von jeder Veränderung sind unmittelbar oder mittelbar Machtbereiche der Akteure betroffen. Somit lässt sich aus der Perspektive des Forschers eine gewisse (subjektiv begrenzte) Rationalität des Widerstandes der Akteure als Machtstrategie rekonstruieren. Die Rede von Widerstand als „Strategie“ impliziert des Weiteren, dass Widerstand als aktiv eingeschätzt wird. Denn Crozier/Friedberg (1993) sehen strategisches Verhalten, wie im ersten Teil der Arbeit gezeigt, immer als aktives Verhalten an, selbst wenn es sich auf „passiven Widerstand“ beschränken sollte.200 In den meisten Fällen erschöpft es sich aber nicht darin: „(D)as Verhalten eines Individuums in einer Organisation gegenüber seinen Vorgesetzten entspricht auf keinen Fall einem einfachen, nur auf Gehorsam und – vielleicht durch passiven Widerstand gemilderten – Konformismus beruhenden Modell. Es ist das Ergebnis einer Verhandlung, und es ist zugleich ein Akt der Verhandlung“ (ebd., S. 26; H.v. m.).
Auch eine defensive Strategie, die auf Widerstand setzt, ist demnach grundsätzlich als aktives Verhalten anzusehen. Dies ist ein Umstand, der ebenfalls bereits in Nietzsches Begriff von Widerstand und insbesondere von Widerstreben festgestellt worden ist. Dass die Möglichkeit zum Widerstand darüber hinaus Machtpotenziale freisetzt, die sehr weit über einen rein defensiven Schutz des eigenen Handlungskein Zufallsmechanismus ist, sondern als ein wesentliches Konstituens des Selbst angesehen werden kann (vgl. Goffman (1961), S. 319; Krappmann (1969), S. 41). 200 Vgl. dort Punkt 2: „Dennoch ist sein Verhalten aktiv. Auch wenn es immer eingeschränkt und begrenzt ist, ist es doch nie determiniert; selbst die Passivität ist immer in gewisser Weise Ergebnis einer Entscheidung.“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 33)
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spielraums hinausreichen, kann darüber hinaus das „Standardbeispiel“ der Wartungsarbeiter gut veranschaulichen. Die Wartungsarbeiter können in diesem Beispiel qua ihrer Ausnahmestellung bei der Wartung und Reparatur der Maschinen, die Häufigkeit und Dauer der Stillstände des Maschinenparks als zentrale Unsicherheitszone kontrollieren.201 Diese Stillstände sind aus der Perspektive dieses Kapitels als Möglichkeit interpretierbar, Widerstand zu leisten bzw. aktiv Widerstände (z. B. für den reibungslosen Ablauf der Produktion) zu erschaffen. Aus dieser Möglichkeit leitet sich für die Wartungsarbeiter eine große Macht, z. B. im Verhältnis zu den Produktionsarbeitern, ab, was sich im gegenseitigen Verhalten widerspiegelt. So berichten Crozier/Friedberg (1993) beispielsweise davon, dass erstere die letzteren, entgegen der formalen Organisationsstruktur, als ihre Untergebenen ansehen, und häufig in deren Arbeit eingreifen (vgl. S. 36). Die Wartungsarbeiter leiten demnach aus ihrem (speziellen) Widerstandspotenzial eine offensive Machtstrategie ab, die in den Handlungsbereich der Produktionsarbeiter eindringt und diesen beschränkt. Ihnen stehen dabei die defensiven Gegenstrategien der Produktionsarbeiter entgegen, die ihrerseits versuchen werden, Widerstand gegen den Eingriff in den Bereich ihrer Handlungsmöglichkeiten zu leisten, beispielsweise indem sie mit dem Ende des „Spiels“ der Produktion drohen und somit das Weiterbestehen der Organisation ins Spiel bringen. Damit sollte der Stellenwert der Dimension von Macht und Widerstand für die Strategische Organisationsanalyse deutlich geworden sein und somit auch für den Mikropolitikansatz von Küpper und Ortmann (1986), die sich in hohem Maße auf die Arbeiten Crozier/Friedbergs stützen. Dementsprechend findet dort sowie in den verschiedenen von den Autoren vorgenommenen Anschlussarbeiten und Erweiterungen Widerstand in diversen Kontexten eine Thematisierung, von denen hier einige kurz herausgestellt werden sollen. Zum einen, um die Relevanz der Dimension von Macht und Widerstand noch weiter zu stützen sowie einen etwas detailgenaueren Eindruck von der Differenziertheit und dem Facettenreichtum der Auseinandersetzung zu geben, zum anderen, um in diesem Zuge weitere Gemeinsamkeiten und auch Unterschiede zu Nietzsche aufzudecken. Direkt anknüpfend an Crozier und Friedberg, werden von Küpper und Ortmann beispielsweise organisationale Regeln, Vorschriften und Verfahren, die ursprünglich geschaffen worden sind, um das Verhalten von Organisationsmitgliedern voraussehbar zu machen, dahin gehend untersucht, Widerstandspotenziale für Untergebene zu bergen.202 Und somit Ansatzpunkte für die oben bereits erwähnte „Untergebenenmacht“.
201
Vgl. Crozier/Friedberg (1993), S. 38; s. auch Teil 1 B. I. 2. c). Zu den kommenden Ausführungen vor allem Crozier/Friedberg (1993), S. 26 und S. 53 f.; Küpper/Ortmann (1986), S. 594; Küpper/Felsch (2000), S. 36 f. 202
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Konkret lässt sich diese z. B. in der Möglichkeit eines strikten „Dienstes nach Vorschrift“ ausmachen, der u. U. das Funktionieren der Organisation beeinträchtigen oder sogar zum Erliegen bringen kann.203 Daher müssen zu bestimmten Zeiten begrenzt auch Regelverstöße toleriert werden, um die Bereitschaft der Untergebenen zu erzeugen, in kritischen Phasen mehr zu tun, als die rein formalen Vorschriften besagen. Insofern liegt auch hier im Anordnen ein „Zugestehen“, wie es oben bei Nietzsche hieß (N 1885, 36[22], 11, S. 561). Dies deutet laut Küpper/Ortmann (1986) zum einen auf die „in jeder Machtbeziehung verborgene Ambivalenz“ hin (S. 594). Zum anderen zeigt es, „dass selbst im Rahmen der formal autorisierten Handlungskontrolle die völlige Beherrschung des Untergebenen nicht nur selten gelingt, sondern auch selten im Interesse des Vorgesetzten liegen kann.“ (Küpper/Felsch (2000), S. 37)204
Darüber hinaus schränken organisationale Regeln nicht nur den Handlungsspielraum Untergebener ein, sondern auch den der Vorgesetzten, und können somit auch Schutz vor Willkürakten bieten. Denn zum einen ist die Sanktion des Vorgesetzten nun ausschließlich durch einen Regelverstoß legitimierbar, und zum anderen werden Art und Umfang der Sanktion selbst wiederum durch Regeln festgelegt.205 Dass in jedem Befehlen in gewissem Maße immer auch ein Gehorchen liegt, wie man ebenfalls mit Nietzsche sagen kann206, lässt sich somit im organisationstheoretischen Kontext anhand der „(Selbst-)Bindungswirkung“ von Regeln konkretisieren (z. B. Küpper/Felsch (2000), S. 36). Regeln bieten somit sowohl Vorgesetzten als auch Untergebenen Machtmittel an die Hand, die wechselseitig in den komplizierten und dynamischen Austausch- und Verhandlungsprozessen der Machtbeziehungen mikropolitisch eingesetzt und zum Widerstand 203 Dazu auch Ortmann et al. (1990), S. 17, Anm. 5. Ortmann (2003) führt als ein Beispiel auch „Schweijks Methode penibler Regeltreue“ (S. 13) an und thematisiert ausgiebig die Paradoxie der Notwendigkeit einer gleichzeitigen Regelbefolgung und Regelverletzung (z. B. S. 18). Zum „Schweijkismus“ vgl. auch den gleichnamigen Artikel von Bischoff (1988) im Wörterbuch zur Mikropolitik, hg. von Heinrich/Schulz zur Wiesch (1998), S. 247 f. Dort ebenfalls zum „Dienst nach Vorschrift“, s. S. 43. 204 Zu den (Vor- und) Nachteilen von „engen Kopplungen“ in diesem Kontext s. Ortmann et al. (1990), S. 541 ff. 205 Diese Einsicht lässt sich auch bei Weber finden (vgl. MWG, I/22-4), z. B., wenn die Beschränkung des Staatsoberhauptes durch die Verfassung (S. 45), die Bindungswirkung von Verfügungen des Herrn auf ihn selbst (S. 258) oder explizit die Selbstbindungswirkung bürokratischer Regelungen (S. 726) angesprochen werden. 206 Denn dass Befehlen selbst in gewissem Sinne ein Gehorchen darstellt, trifft laut Nietzsche nicht nur für „das Kriegsvolke“ zu, bei dem das Gehorchen sich auf eine äußere Instanz bezieht (ZA I, 4, S. 59). Vielmehr gilt es auch im Kontext der Selbstüberwindung (vgl. ebd., S. 146–149 bzw. bereits S. 74–76), für die gleichermaßen ein Sichselber-befehlen wie -gehorchen notwendig ist. Laut Günzel ist für Nietzsche die „Unterwerfung unter ein selbstgegebenes Gesetz (. . .) respektive dessen Anerkennung ein deutliches Zeichen für Machtstreben in Form der Selbstzücht(ig)ung“ (S. 182). Zum Zusammenhang von Herrschaft und Selbstherrschaft ausführlich auch Gerhardt (1996), S. 263 ff. und Kaufmann (1988), S. 290 f.; auch Heidegger (1961) Bd. 1, S. 50.
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genutzt werden können. Damit wird „hinter dem ursprünglichen Schema des deterministischen Räderwerks“, als das Organisationen betrachtet wurden und werden und an denen sich offizielle präskriptive Modelle häufig orientieren, „eine weitaus komplexere und zugleich kontingentere Realität“ der Macht- und Herrschaftsprozesse offenbar (Crozier/Friedberg (1993), S. 26), was einen weiteren wichtigen Punkt der Übereinstimmung mit Nietzsche markiert. Allerdings ist, bei aller Betonung der Widerstandspotenziale der Untergebenen, auch im Zugriff auf Regeln hierbei nicht gleich von einer Symmetrie oder gar von einer generellen Überlegenheit der Untergebenen auszugehen, wie dies Ortmann et al. (1990) an der entsprechenden Fachliteratur monieren, in der die Macht der „Machtunterworfenen“ nach ihrer Ansicht gern „hoffnungslos überzogen“ wird (S. 36).207 Dabei wollen sie nicht die Möglichkeiten von Untergebenenmacht gering schätzen. In ihrer empirischen Studie, auf die unten noch kurz eingegangen wird, begegnen ihnen sogar Fälle von Untergebenenmacht à la Crozier/Friedberg „in nahezu lupenreiner Form“ (S. 15), beispielsweise in Gestalt einer Truppe hoch qualifizierter und schwer zu ersetzender Instandhaltungsarbeiter, die als Hausmacht eines Betriebsrates fungieren (s. Fall 7, S. 344 ff.). Theoretisch führen sie diese u. a. auf die „dialectic of control“ zurück, die Giddens (1982) folgendermaßen umschreibt: „Anyone who participates in a social relationship, forming part of a social system produced and reproduced by its constituent actors over time, necessarily sustains some control over the character of that relationship or system. Power relations in social systems can be regarded as relations of autonomy and dependence; but no matter how imbalanced they may be in terms of power, actors in subordinate positions are never wholly dependent, and are often very adept at converting whatever resources they possess into some degree of control over the conditions of reproduction of the system. In all social systems there is a dialectic of control, such that there are normally continually shifting balances of resources, altering the overall distribution of power.“ (S. 32; vgl. Ortmann et al. (1990), S. 15)
Allerdings fordern sie „ein bißchen Augenmaß“ ein und betonen auch hier die Wirkung von Hierarchien, was sich mit den Ergebnissen aus dem vorangegangenen Kapitel deckt (Ortmann et al. (1990), S. 36).208 Eine ausgiebige und differenzierte Beschäftigung mit dem Widerstandsverhalten von organisationalen Akteuren findet sich auch bei Küpper/Felsch (2000), u. a. im Zusammenhang mit der Wandlungs- und Innovationsfähigkeit von Orga-
207 „So hält etwa Luhmann (1975, 10) es für ein Vorurteil, ,daß ein Vorgesetzter mehr Macht hat als ein Untergebener‘, und meint, daß ,in bürokratischen Organisationen das Gegenteil normal sein dürfte (sic!)‘“ (Ortmann et al. (1990), S. 36). Dazu auch Ortmann (2003), S. 198. 208 Ortmann (1992b) kritisiert dementsprechend ausdrücklich nicht die „reflektierten Überlegungen zur Möglichkeit von Untergebenenmacht“, sondern ausschließlich ihre „Hypostasierung“ (S. 224, Anm. 4).
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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nisationen. (Vgl. für die folgenden Ausführungen S. 124 ff.) Widerstand gegen Veränderungen kann eine Reihe von Problemen für die betroffenen Organisationen mit sich führen, die von Verzögerungen einzelner Projekte, über Projektabbrüche bis hin zum Untergang von Unternehmen reichen kann. Das daher in der organisationstheoretischen Literatur häufig aufgegriffene Phänomen des Widerstands gegen Neuerungen (resistance to change) führen die Autoren, ebenso wie oben bereits Crozier und Friedberg, nicht auf akteurspezifische Beschränktheiten wie z. B. deren Lernunfähigkeit oder -unwilligkeit zurück, sondern auf eine mangelnde systeminduzierte Lernfähigkeit von bestimmten (vorwiegend größeren, hierarchisch aufgebauten) Organisationen. Ebenso wird Widerstand als u. U. adäquate Strategie des Machterhalts aus Sicht des einzelnen Akteurs interpretiert: Die Wahrscheinlichkeit von Widerstandsverhalten wird hier demnach auf die Gefährdung von Machtbasen zurückgeführt, und Widerstand somit erneut in einen engen Zusammenhang mit Macht gebracht. Mit Widerstand, gerade auf unterer Ebene, ist aus ihrer Sicht vor allem dann zu rechnen, wenn das mit dem Wandel verbundene organisationale Risiko als hohes persönliches Risiko von den betroffenen Akteuren eingeschätzt wird, beispielsweise weil die Innovation mit großen Reorganisationen, langwierigen Qualifizierungen, Versetzungen und Entlassungen verbunden sind. Und somit, weil bzw. wenn Machtpositionen durch Veränderungen gefährdet werden.209 Zur genaueren Analyse differenzieren die Autoren, anknüpfend an die oben dargelegte Unterscheidung von offensiver und defensiver Machtstrategie, die Macht eines Akteurs danach, ob es sich um Durchsetzungsmacht handelt oder um Verteidigungs-, Vermeidungs- oder Verhinderungsmacht. Eine These ist, dass mit abnehmender Hierarchiestufe letztere weniger stark abnimmt als erstere, es also auf der unteren Ebene eine relativ hohe Verteidigungs-, Vermeidungs- und Verhinderungsmacht gibt. Man könnte auch kurz von einer relativ hohen Widerstandsmacht sprechen. Dies ist auf bestimmte Informationsasymmetrien niedriger gegenüber höheren Hierarchiestufen zurückzuführen (beispielsweise auf Detailkenntnisse den Arbeitsplatz, die Abteilung oder das soziale Gefüge betreffend, die nur „vor Ort“ erlangt werden können oder auf spezifisches technologisches Know-How) sowie auf die Möglichkeit der Gruppen- und Koalitionsbildung, also auf die „Macht der Zahl“.210 Aufgrund des „Beziehungscharakters der Macht“ 209 Das Vorherrschen der Verlustvermeidung auf unteren hierarchischen Ebenen und der damit verbundene Widerstand gegen Neuerungen ist laut Küpper und Felsch einer organisationalen Machtdynamik in Richtung von asymmetrisch verteilten Gewinnen und Verlusten einer Innovationen geschuldet (vgl. S. 264, Anm. 30), sprich: der steigenden Fähigkeit der Ranghöheren, mit zunehmender organisationaler Macht Risiken von Innovationen auf niedrigere Hierarchieebenen abzuwälzen („den schwarzen Peter nach unten weitergeben“) und Erfolge sich selbst zuzuschreiben (S. 122 ff.). 210 Wenn man die negativen Konnotationen des Begriffs einmal ausblendet, könnte man mit Nietzsche hier auch von der Macht der „Heerde“ sprechen. Allerdings ist bei ihm die Herde in gewissem Sinn durchaus mit einer hohen Durchsetzungsmacht ausge-
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führt laut Küpper/Felsch eine derartige „Asymmetrie zwischen Durchsetzungsund Verteidigungsmacht“ (S. 125) insbesondere in hierarchischen Organisationen zu innovationsaversem Klima mit der Tendenz, bestehende Interessenausgleiche nicht zu gefährden und somit zu der Gefahr einer Verkrustung und Erstarrung der Organisation211 – sowie zu den damit eventuell verbundenen Kosten.212 Anknüpfend an die Möglichkeit zur Gruppen- und Koalitionsbildung und der damit verbundenen „Managementmacht“ einzelner Akteure, die sich in Kooperationsbeziehungen als Integratormacht und in Konkurrenzbeziehungen als Maklermacht darstellt (vgl. Teil 1 B. II. 2.), lassen sich mit Küpper/Felsch (2000) darüber hinaus weitere Facetten des Zusammenhangs von Macht und Widerstand differenzieren und näher beleuchten. (Zum Folgenden S. 162 ff.) Integratoren haben allgemein die Aufgabe, durch die Zusammenführung der Akteursinteressen eine Gruppenbildung vor dem Hintergrund von Kooperationsbeziehungen zu ermöglichen, beispielsweise, indem sie (potenzielle) Gruppenmitglieder von gemeinsamen Interessen oder Bedrohungen überzeugen oder auch das Gruppeninteresse nach außen vertreten. Ihre Macht unterliegt gemeinhin dadurch einer Gefährdung, dass Gruppenmitglieder ihre integrative Funktion in Frage stellen und z. B. für entbehrlich halten. Küpper/Felsch (2000) machen nun einen Zusammenhang zwischen der internen Macht des Integrators und relativer Gruppenmacht aus, den sie – das ist für unseren Kontext das Entscheidende – auf die Fähigkeit zum Widerstand zurückführen: „Allgemein kann erwartet werden, dass die gruppeninterne Macht eines Integrators umso größer ist, je geringer die relative Gruppenmacht in der Gesamtorganisation ist. Mit zunehmender Dominanz einer Gruppe in der Gesamtorganisation kann ein Integrator immer weniger einen weiteren Machtzuwachs bzw. eine Bedrohung durch andere Gruppen bzw. Akteure in Aussicht stellen bzw. eine Bedrohung der Gruppe stattet, wie man z. B. an ihrer Fähigkeit ablesen kann, den „eigentlich Stärkeren“ ihre (umgewerteten) Werte aufzuzwingen, wie Nietzsche u. a. in der ersten Abhandlung der Genealogie der Moral herausarbeitet. 211 Dies kann u. U. sogar in einem „Selbstverstärkungseffekt (bzw. kumulativen Prozess) der Machtinstitutionalisierung“ münden, „der z. B. erklären kann, warum gerade auch in ,guten‘ Zeiten keine (vorbeugende) riskanten Innovationen (keine aktive Innovationspolitik) durchgeführt werden, sondern neben der Gewährung höhrerer Anreize (höhere Löhne und Ausschüttungen) allenfalls organisationaler Slack gebildet wird, der nicht in jeder Form (z. B. bei prunkvollen Verwaltungsgebäuden) in Krisenzeiten aktiviert werden kann.“ (S. 126) Dass diese „prunkvollen“ Gebäude gerade aus machttheoretischer Sicht dennoch eine wichtige Funktion übernehmen, wird im Kapitel über Macht und Ästhetik (II. 9.) ausgiebig dargelegt. 212 Zu einem (von den Autoren kritisch bewerteten) Versuch, eine derartige Verteidigungsmacht in die Transaktionskostenanalyse einfließen zu lassen, und zwar, vereinfacht gesagt, in der Form, eine hohe Verhinderungsmacht mit hohen Transaktionskosten gleichzusetzen, verweisen Küpper/Felsch (2000) auf de Pay (1989, S. 289 ff.; zit. nach Küpper/Felsch (2000), S. 171, Anm. 9). Sie machen demgegenüber stark, dass „Widerstandsmacht von Akteuren nicht nur subjektiv rational, sondern auch effektivitätsfördernd sein kann“, da „Innovationsfähigkeit kein Garant für Effektivität“ darstelle (ebd.).
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verständlich machen. Die gruppeninterne Macht des Integrators bei geringer organisationaler Machtposition der Gruppe beruht im Wesentlichen darauf, der Gruppe ein wirksames Widerstandsverhalten zu ermöglichen.“ (S. 163; letzte H.v. m.)213
Die Aufgabe eines Integrators übernimmt für Konkurrenzbeziehungen gemäß der Definition der Autoren ein Makler (vgl. S. 164 ff.). Dieser kann seine Machtposition nur aufbauen und festigen, wenn er von den Kontrahenten als einigermaßen neutral eingeschätzt wird. Für Makler liegt demnach in einer offensichtlichen Parteilichkeit und Vereinnahmung durch eine Seite eine dezidierte Gefährdung ihrer Macht, die sich nach Ansicht der Autoren bei einer starken Asymmetrie der Beziehungen noch verstärkt. „Wollen Makler in dieser Situation ihre spezifische Machtposition (ihre Unentbehrlichkeit) sichern, so müssen sie faktisch für die schwächere Seite Partei ergreifen, d.h. sie müssen die stärkere Seite davon überzeugen können, dass ihr von der schwächeren Seite u. U. Gefahr droht, z. B. durch ein bestimmtes Widerstands- und Blockadeverhalten.“ (S. 166 f.; H.v. m.)
Auch vor diesem Hintergrund ist also ein enger Zusammenhang zwischen Widerstand und Macht, hier: zwischen wahrgenommener Widerstandsfähigkeit der schwächeren Seite und Macht des Maklers, zu konstatieren. Empirisch belegt wird dieser Zusammenhang u. a. von Ortmann et al. (1990), die die Strategien der Akteure zur Durchsetzung ihrer Interessen untersuchen, die vom Betreiben der Innovation, vom wohlwollenden Begleiten, über reserviertes Gegenüberstehen, bis hin zu Bremsen und zu verdecktem und offenem Widerstand reichen können (vgl. S. 399 ff.). Auf der Basis ihrer umfangreichen Studien schildern die Autoren exemplarisch für passiven und verdeckten Widerstand den Fall eines Chemieunternehmens, in dem vom Management die Entscheidung für die Einführung eines Standardsoftwaresystems getroffen wurde, die den Interessen nach Eigenentwicklung der internen Gruppen „Organisation“ und „Systementwicklung“ gegenüberstanden. Auf Grund der höheren Machtposition der Befürworter der Standardsoftware wählten die Gegner eine Strategie, die sie nicht in direkte Konfrontation mit ihren Vorgesetzten brachte („,Dagegen sein wäre falsch gewesen, wenn die Entscheidungen auf höherer Ebene gefallen sind‘“ (S. 399)), beteiligten sich also nur scheinbar und nach außen hin an der Implementierung, während sie gleichzeitig ihren effektiven Beitrag minimierten, und ihr Expertenwissen nicht einbrachten. Das Fazit der Autoren lautet daher: „Macht, gegen die offen nicht vorgegangen werden kann, provoziert das Verhalten von ,Bremsern‘, jenen Akteuren, deren Interessen nicht berücksichtigt wurden, die nicht im Zentrum der Macht stehen.“ (S. 399) In dieser Möglichkeit von verdecktem Widerstand findet sich eine weitere Parallele zu den obigen Ausführungen zu Nietzsche, bei denen die Rede davon gewesen ist, dass Macht auch 213 Diese inverse Relation zwischen der gruppeninternen Macht des Integrators und der Außenmacht einer Gruppe gilt im Übrigen nach Ansicht der Autoren ebenso für die Macht von Relais in organisationsübergreifenden Kontexten (vgl. ebd.).
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auf „Schleichwegen“ ausgeübt wird – gerade von den Schwächeren (ZA II, 4, S. 148). Als Beispiel für offenen Widerstand führen die Autoren u. a. die Ablehnung eines neuen Personalabrechnungssystems durch die Leiterin der Abrechnungsabteilung an, die zu einer Eskalation der Situation in einem offenen und stark personalisierten Konflikt führte, der in der Absetzung des Projektmanagers endete.214 Dabei konstatieren sie die (subjektive) Rationalität des Widerstandes, „wenn eigene Positionsinteressen und Machtressourcen negativ berührt sind. Die Bemühungen der Promotoren der Innovation (. . .) werden dann unter Umständen sogar als Angriff verstanden, fordern die Abwehr beziehungsweise den Widerstand zur Sicherung der eigenen Position heraus.“ (S. 400)
Neben der Rationalität von Widerstand sowie dessen Nähe zur Agonalität, klingt hier erneut an, dass Widerstände durch Machtverschiebungen auch hervorgerufen werden können. Insgesamt kommen sie allerdings zu der Diagnose, dass nur relativ selten die Nichtberücksichtigung von Interessen der Beteiligten und Betroffenen zu einem offenen Widerstand führt: „Zumeist überwiegen die nach außen kaum sichtbaren Formen der Ablehnung; innere Rückzüge, sich raushalten, die Vorenthaltung von Expertenwissen (. . .); Dienst nach Vorschrift oder ein erhöhter Krankenstand sind Facetten des Widerstands. Die Transformation des Arbeitsvermögens in Arbeit, vom Vorgesetzten nur schwer zu kontrollieren, wird kaum sichtbar, aber wirksam, als Machtzone genutzt.“ (S. 400 f.)
Die Autoren konstatieren „phantasievolle Methoden eines wohldosierten, unauffälligen, stillschweigenden Boykotts oder Bremsens“ (S. 401), die allerdings wiederum „Treiber“ auf den Plan rufen und somit zu einer Verschärfung des Machtkampfes bis hin zu einem Eskalieren des Konflikts führen können. Auch hier dauern also, ebenso wie bei Nietzsche, das „Ringen“ und der „Kampf“ fort, wobei die Rollenverteilung zwischen „Treibern“ und „Bremsern“ laut Ortmann et al. (1990) ausdrücklich nicht automatisch „zwischen oben und unten oder zwischen bestimmten Abteilungen“ festgeschrieben ist (S. 401). In der empirisch ausgerichteten Literatur gibt es unzählige weitere Beispiele für derartige offene und verdeckte Konflikte und mikropolitische Auseinandersetzungen mit unterschiedlichsten Verläufen, die in dieser Arbeit nicht weiter verfolgt werden können.215 Hier ging es, diesen Abschnitt abschließend, darum, auf die empirische 214 Ein weiteres Beispiel liefert der offene Widerstand der Gruppe „Konstruktion“ gegen die Einführung eines vom Management ausgewählten CAD/CAM-Systems (vgl. Ortmann et al. (1990), S. 325 ff.). 215 Vgl. exemplarisch das Spiel Aufruhr oder Widerstand (Insurgency Games), das Küpper/Felsch in Anlehnung an Mintzberg wiedergeben (Mintzberg (1983), S. 187 ff.; (1991), S. 245 ff.; zit. nach Küpper/Felsch (2000), S. 199; H.v. m.; zur Kritik ebd., S. 204). In diesem Beispiel finden sich eine Reihe hier bereits thematisierter Punkte wieder. Beispielsweise wird als Grund für die Entstehung von Widerständen die Bedrohung etablierter sozialer Beziehungen, und somit von Machtbasen, ausgemacht. Ebenso wird dort die Möglichkeit der Gruppenbildung, die Instrumentalisierung der Selbstbin-
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Signifikanz des Zusammenhangs von Macht und Widerstand hinzuweisen. Eng damit verbunden ist eine nicht zu unterschätzende praktische Relevanz des Themas, auf die am Ende des Kapitels noch kurz eingegangen wird. Insgesamt lässt sich zusammenfassend festhalten, dass der Zusammenhang Macht und Widerstand eine äußerst relevante Dimension für die strategische Mikropolitiktheorie ist. Im Widerstand, verstanden als aktivem und machtvollem Widerstehen, ist sowohl eine Bedingung der Möglichkeit von Mikropolitik ausgemacht worden als auch eine zentrale Parallele zu einem wesentlichen Aspekt von Nietzsches Konzeption des Widerstands als Widerstehen bzw. Widerstreben. In diesem Kontext sind – vor allem anhand der konkreten Machtquelle der Nutzung organisationaler Regeln – mit der Untergebenenmacht sowie der Selbstbindungswirkung von Vorschriften, Anordnungen und Befehlen deutliche gemeinsame Ansatzpunkte herausgearbeitet worden. Darüber hinaus sind im Verlauf der Ausführungen eine Reihe von weiteren Übereinstimmungen und Anknüpfungspunkten offenkundig geworden. Zu nennen sind hier u. a. die Normalität von Widerständen, mit denen, offen oder verdeckt, immer zu rechnen ist, der Zusammenhang zwischen den Möglichkeiten einer Anzahl von Akteuren, sich zu Gruppen und Koalitionen zu organisieren und ihrer Fähigkeit, Widerstands- und somit Machtpotenziale aufbauen zu können (Stichwort: „Macht der Zahl“, zu der aber eben entscheidend die Organisation gehört) sowie die Tatsache, dass bestimmte machtvolle Prozesse Widerstände überhaupt erst provozieren und hervorrufen. Die Mikropolitik ist hierbei nicht auf die Perspektive des Widerstehens beschränkt: Vielmehr wird Widerstand auch aus der Perspektive derjenigen zum Thema, denen sich ein Widerstand entgegenstellt, der zu überwinden ist. In der grundsätzlichen Thematisierung des Widerstands sowohl aus einer offensiven als auch aus einer defensiven Perspektive, z. B. in Form einer Durchsetzungs- bzw. Verteidigungs- und Verhinderungsmacht, ist m. E. ein weiterer gemeinsamer Punkt zu sehen. Ebenso in der damit verbundenen Überwindung sowie in der Steigerungstendenz der Macht an Widerständen, die insbesondere bei Crozier/ Friedberg (1993) anklingt (vgl. S. 43). Dabei sind auch Unterschiede zum Vorschein gekommen, die zum Teil dem Gegenstandsbereich und der Herangehensweise geschuldet sind (beispielsweise, wenn Widerstand als subjektiv rationale Strategien der Akteure rekonstruiert werden), die sich aber z. B. auch im Grad der Detailliertheit und Konkretheit der Ausführungen festmachen ließen. Insgesamt kann man die Ausführungen der Mikropolitik m. E. als konkretisierte und detaillierte Ausarbeitung einiger Aspekte, die auch in Nietzsches Konzeption vom Willen zur Macht ihren Platz haben, lesen, und zwar in dem eingegrenzten Kontext sozialer Organisationen.
dungswirkung von Regeln sowie die Möglichkeit offenen oder verdeckten Widerstands angesprochen.
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Darüber hinaus ist ein Aspekt auf der organisationstheoretischen Seite meines Wissens nicht explizit zu finden, den Nietzsche ausdrücklich betont: den der aktiven Suche (des Willens zur Macht) nach Widerstand. Bei Crozier/Friedberg (1993) könnte man diesen Punkt u. U. noch dadurch rekonstruieren, dass Macht Widerstände in gewissem Sinne nötig zu haben scheint, um sich zu entfalten. Für Küpper und insbesondere für Ortmann ist selbst dies nicht so einfach möglich, da bei ihnen nicht nur ein Hinweis auf aktive Suche nach Widerständen fehlt, sondern darüber hinaus bestritten wird, dass Widerstand für die Entfaltung von Macht überhaupt immer benötigt wird. Dabei stützten sie sich auf eine spezifische Lesart der Weberschen Definition von Macht: Macht bedeutet nach Weber „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ (Weber (1972), S. 28)
Ortmann et al. (1990) betonen nun dieses „auch“, das ihres Erachtens Widerstand nicht impliziere: „Widerstand ist also in Webers Machtbegriff nicht automatisch mitgedacht. Das klingt spitzfindig, ist aber für uns wichtig, weil es bedeutet, daß Weber durchaus – und das wollen wir auch tun – mit Macht rechnet, die sich ohne Widerstand entfaltet, ja sogar auf Konsens stützt.“ (S. 13)
„Jenes kleine ,auch‘ also ebnet den Weg zu einem Begriff konsensgestützter Macht“ (S. 38), an der den Autoren sehr gelegen ist, wie im vorangegangenen Kapitel bereits erwähnt. Außerdem deckt sich diese Interpretation mit den Erfahrungen aus den empirischen Studien, in denen Widerstand, wie gesehen, sowohl in verdeckter als auch offener Form zwar durchaus angetroffen wurde, aber nicht in jedem Fall von Machtausübung, nach Einschätzung der Autoren nicht einmal in den meisten Fällen. Dass damit die Bedeutung des Widerstandes keinesfalls negiert ist, zeigt sich im direkten Anschluss an die oben zitierte Erörterung des „auch“ in Webers Machtdefinition, wenn die Autoren einräumen: „Allerdings haben wir und die betrieblich (vorgesetzten) Akteure in Organisationen regelmäßig zumindest mit der – und sei es noch so latent bleibenden – Möglichkeit von Widerstand zu rechnen, die gleichsam im Hintergrund lauert. ,Konsens‘ mag durchaus dieses dahinterliegende Moment von Widerstreben an sich haben.“ (S. 13)
Durch diese fortdauernde Möglichkeit zum Widerstreben werden Zustimmung, Einverständnis und Akzeptanz auch im mikropolitischen Kontext zu relevanten Größen im Zusammenhang mit Befehlen und Anordnungen: Auch hier lässt sich ein basales Gehorchenwollen als Bedingung für funktionierende Herrschafts- und Machtverhältnisse konstatieren, wie das auch bei Weber der Fall ist: „Ein bestimmtes Minimum an Gehorchenwollen, also: Interesse (äußerem oder innerem) an Gehorchen, gehört zu jedem echten Herrschaftsverhältnis.“ (Weber (1972), S. 122)216 216 Ortmann et al. (1990) warnen allerdings auch an dieser Stelle vor Übertreibungen. Als Beispiel führen sie Barnard an, der über Simon einen großen Einfluss auf die
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Interessant ist weiterhin, dass Ortmann et al. (1990) dieses Gehorchenwollen auf den gleichen Impuls zurückführen, wie das Herrschen- und Machtausübenwollen. Ihrer Ansicht nach setzt „die Ausübung von Macht über andere irgendeine Art von Bedürfnis, Motivation oder Interesse und letztlich ein auch daraus gespeistes Sich-Fügen des Machtunterworfenen voraus.“ (S. 41) Befehlender und Gehorchender sind demnach auch hier „gleicher“ oder zumindest „verwandter“ Art, wie es bei Nietzsche hieß (N 1885, 40 [21], 11, S. 639 bzw. N 1885, 34[123], 11, S. 461). In speziellen Fällen kann es auf dieser Grundlage sogar zu dem, bei Nietzsche ebenfalls vorgedachten, vorübergehenden Wechsel von Herrschen und Beherrscht-werden kommen (vgl. N 1885, 34[123], 11, S. 461). Die damit verbundenen Auswirkungen für den jeweiligen Herrschafts- und Organisationsbegriff sind teilweise bereits angeklungen: Bei Nietzsche ist „Herrschaft (. . .) der Begriff für den organisatorischen Komplex, dem auch die Unterworfenen angehören.“ (Gerhardt (1996), S. 263) Dieser Komplex, den Nietzsche als „lebendige Einheit“ auffasst, ist durch unklare Grenzverläufe, durch einen permanenten Austausch insbesondere an den Rändern, durch Anziehung und Abwehr sowie durch Einverleibung und Ausscheidung gekennzeichnet (vgl. ebd.). Gerade die Inklusion der Unterworfenen in den Herrschafts- und Machtzusammenhang sowie die Erkenntnis der Erosion klarer Grenzen des „organisatorischen Komplexes“ lassen sich genauso für die Mikropolitiktheorie konstatieren. Dadurch ändert und dynamisiert sich auch das Verständnis von Organisation, man kommt zu einem Bild, das „viel komplexer, viel ,verworrener‘ und auch konfliktgeladener“ ist als es maschinenhafte Modelle à la Taylor vermuten lassen (Crozier/Friedberg (1993), S. 56).217 Damit einher geht eine deutliche Absage an Determinismen, worin im Übrigen ein weiterer Anknüpfungspunkt zu Nietzsche auszumachen wäre218: „Man kann es nicht genug wiederholen, daß in einem theoretischen Rahmen, der die genaue Determinierung aller Elemente eines Gebildes durch die Struktur dieses Gebildes behauptet, es keinen Platz für das Konzept der Macht gibt“ (ebd., S. 310, Anm. 19)
– und somit auch keinen Platz für Mikropolitik. entscheidungsorientierte Betriebswirtschaftslehre ausgeübt hat. Barnard beruft sich seinerseits auf einen Generalmajor namens Harbord, von dem der Ausspruch stammt, „daß die größte aller Demokratien eine Armee ist. Disziplin und Kampfmoral beeinflussen das unausgesprochene Votum, das von Menschenmassen augenblicklich abgegeben wird, wenn der Befehl kommt, vorwärts zu gehen.“ (Barnard (1938), S. 164; zit. nach Ortmann et al. (1990), S. 42) Zu Grenzfällen des Gehorchenwollens in extremen Fällen von Zwangsgewalt auch Küpper/Felsch (2000), S. 25. Crozier/Friedberg (1993) analysieren Zwang und Gewalt ebenfalls als „Grenzfall“ (S. 310, Anm. 13). 217 Allerdings machen insbesondere Ortmann et al. (1990) in Abgrenzung von Weber und im Unterschied zu Nietzsche eine deutliche Unterscheidung zwischen Herrschaft und Macht auf (vgl. S. 14 f.); s. auch Abb. 6. 218 Vgl. z. B. das Notat „Zur Bekämpfung des D e t e r m i n i s m u s “ (N 1887, 9[91], 12, S. 383).
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Sozusagen als Postskriptum sei an dieser Stelle abschließend noch einmal kurz, wie angekündigt, auf die hohe praktische Relevanz des hier behandelten Themas hingewiesen: Denn besitzt Widerstand tatsächlich den hier ausgeführten Stellenwert innerhalb von Machtprozessen, so hat dies konkrete und reale Folgen für Unternehmensabläufe. Die Bedeutung von Widerstand richtig einzuschätzen, dürfte sich dabei gerade auch für eine gelingende Unternehmensführung als essenziell erweisen.219 Wenn Widerstand der Normalfall ist, oder vorsichtiger formuliert: ein Fall, mit dessen latenter Möglichkeit man zumindest immer zu rechnen hat, sollten Vorgesetzte in Organisationen auf Widerstand weder überrascht, noch von vornherein abwehrend reagieren. Im Gegenteil: Widerstände, Gegensätze sowie ein gewisses Maß an „Chaos“ könnten aus der hier dargelegten Perspektive nicht nur als machttheoretisch plausibel (und obendrein als identitäts- und autonomietheoretisch gut fundiert) gelten, sondern darüber hinaus als Voraussetzungen für Produktivität interpretiert werden. Die Reduktion von Gegensätzen auf ein „sublimes Minimum“ kann ganz im Sinne Nietzsches als mit der Gefahr der Unproduktivität behaftet angesehen werden (N 1880, 6[58], 9, S. 208). Systemtheoretisch könnte man Widerstände auch als „produktive Irritationen des Systems“ deuten. Daher muss aus mikropolitischer Sicht die „Duldung und Förderung von Chaos (. . .) in Abhängigkeit von den Funktionserfordernissen und Machtverhältnissen der Organisation“ (Ortmann (2003), S. 24) in das Blickfeld der Akteure rücken, wie das z. B. in Konzepten der „organisierten Anarchie“ oder des „garbage-can model“ von Cohen/March und Olsen (1972) in den Grundzügen angelegt ist.220 Mindestens aber sollten Mechanismen entwickelt werden, mit Widerständen auf adäquate Weise umgehen zu können, und diese nicht um jeden Preis verhindern oder eliminieren zu wollen. Ortmann et al. (1990, S. 402) schlagen als Ansatz vor, verschiedenartige Interessen der Beteiligten anzuerkennen, Auseinandersetzungen hierum bewusst zu moderieren und möglichst viele zu Gewinnern zu machen. Dies setzt jedoch eine mikropolitische Qualifikation der Vorgesetzten voraus. Systemeinführungen wurden ihrer Erfahrung nach in dem Maße für das Management besser handhabbar, in dem Interessen berücksichtigt, Commit-
219 Dies gilt sowohl für die Ebene der Unternehmensführung als auch für deren „Untergebene“, wie man sich mit Ortmann et al. (1990) z. B. an der Entwicklung der EDV-Technik verdeutlichen kann. Vor dem Hintergrund der Diagnose eines steigenden Potenzials der Leistungs- und Verhaltenskontrolle durch EDV-Systeme schätzen die Autoren Widerstand als „ausschlaggebenden Faktor“ für die tatsächliche Nutzung derartiger Systeme zur Kontrolle der Mitarbeiter ein (S. 532). 220 Vgl. auch Becker/Küpper/Ortmann (1988), S. 92 f.). Ortmann (2003, S. 24, Anm. 3) weist darüber hinaus darauf hin, dass die Idee, Chaos – natürlich nur: kreatives Chaos – zu fördern, in besonderer Weise mit dem Namen von Tom Peters verknüpft sei (vgl. Peters (1988)).
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ment erzeugt und Prozessaushandlung und -gestaltung in der Rolle von „Spielmachern“ zugelassen worden sind.221 Alles in allem kann die Erkenntnis, dass Macht immer auf Gegenseitigkeit basiert und (zumindest latente) Widerstandspotenziale der Gegenseite beinhaltet, auch als „ein gutes Gegengift gegen Omnipotenzphantasien von Managern wie gegen Ohnmachtsgefühle der Beschäftigten“ (S. 16) dienen. Die Normalität von Widerständen im Zusammenhang mit Macht in beiden Theorien lässt sich somit auch als ein Mahnwort an Manager lesen sowie als Warnung vor zu viel „Verwunderung über Widerstand“, wie ein Aphorismus aus der Fröhlichen Wissenschaft überschrieben ist: „– Weil Etwas für uns durchsichtig geworden ist, meinen wir, es könne uns nunmehr keinen Widerstand leisten – und sind dann erstaunt, dass wir hindurchsehen und doch nicht hindurch können! Es ist diess die selbe Thorheit und das selbe Erstaunen, in welches die Fliege vor jedem Glasfenster geräth.“ (FW 444, 3, S. 270)
Ein mögliches Ideal, das man mit Nietzsche dieser Verwunderung entgegenstellen könnte, wäre es Widerspruch zuzulassen und sogar zu begrüßen, „wie das Schiff den Widerspruch der Welle gern hört“ (N 1883, 13[3], 10, S. 453). Denn letztlich ist ein gewisser Widerstand der Wellen notwendig, um das Schiff zu tragen. 9. Macht und Ästhetik In diesem Kapitel geht es um den wechselseitigen Zusammenhang von Macht und Ästhetik, genauer gesagt: um die Ästhetik der Macht sowie um die Macht der Ästhetik. Die Leitfrage dieses Kapitels lautet demnach, welche sinnlich-ästhetischen Momente laut den hier verglichenen Theorien mit Macht verbunden sein können, und welchen Einfluss diese Momente andersherum selbst auf das Machtgeschehen zu entfalten im Stande sind.222 Die Auseinandersetzung mit dieser Frage lässt sich an einer Vielzahl von Beispielen illustrieren und konkretisieren: 221 Die Autoren verweisen in diesem Zusammenhang auf erste praktische Umsetzung derartiger Überlegungen, z. B. in der Personalentwicklung bei BMW (vgl. S. 486). Allerdings räumen sie ein, dass dies „leichter gesagt als getan“ sei und zeigen die Gefahr eines mikropolitischen Regresses auf, der darin bestehe, „daß gegen ein solches ,mikropolitisch aufgeklärtes‘ Projektmanagement die mikropolitischen Interessen derer stehen (können), an die sich solche Forderungen richten.“ (S. 402) Denn: „Macht übt man stillschweigend aus, Reflexion ist ihr zuwider; daher sind mikropolitische Analysen Gift für die Macht.“ (S. 496) 222 „Ästhetik“ (gr. aisthesis) bezieht sich dem griechischen Wortursprung nach auf alles sinnlich Wahrnehmbare und wird hier dem entsprechend in einem weiten Sinne gebraucht. Dies stimmt im Übrigen sowohl mit der Mikropolitik als auch mit Nietzsche überein (für Letzteren s. Gerhardt (1988), S. 29, S. 67). Auch die Assoziation von „ästhetisch“ mit „schön“, die wir auch aus der alltagssprachlichen Verwendung des Ausdrucks kennen, ist in diesem Gebrauch enthalten und stellt einen wichtigen, aber nicht den einzigen Aspekt dar.
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Sowohl die empirischen mikropolitischen Studien als auch Nietzsches – über sein gesamtes Werk verteilten – Beobachtungen zum Verhältnis von Macht und Ästhetik bieten hierfür einen wahren Fundus an plastischem Anschauungsmaterial. Dieses reichhaltige Material gilt es zu nutzen, und fruchtbar zu machen für die Beantwortung der oben gestellten Leitfrage sowie für den intendierten Vergleich der beiden Ansätze. Ein Ziel dieses Kapitels ist es daher, neben der theoretischen Fundierung, auch einen Einblick in diese ganz konkreten und für den (organisationalen) Alltag relevanten Beispiele in ihrem Facettenreichtum zu geben. Dies erklärt auch den überdurchschnittlichen Umfang dieses Kapitels. Um die Phänomenvielfalt ein wenig zu strukturieren und etwas Ordnung in dieses „so unordentliche Gebiet“ (Ortmann et al. (1990), S. 31) zu bringen, möchte ich für den weiteren Verlauf des Kapitels folgende Differenzierung vornehmen: Erstens scheint für den Machtausdruck aus einer ästhetischen Perspektive der Besitz und Gebrauch bestimmter Gegenstände eine große Rolle zu spielen. Physische Gegenstände können ganz generell als Mittel zur Machtausübung fungieren, z. B. in Form von Bodenschätzen oder Waffen. Wie im Zusammenhang mit den Machtressourcen ausgiebig thematisiert worden ist, hängt selbst die Wirksamkeit derartiger scheinbar eindeutig machtvoller Gegenstände als Machtmittel auch von wechselseitigen Wahrnehmungs- und Interpretationsprozessen ab. Damit soll nicht behauptet werden, dass Waffen ausschließlich „soziale Konstruktionen“ seien, aber ob das Drohpotenzial der gegnerischen Waffen als hoch eingeschätzt wird, oder ob ein Bodenschatz auch als ein solcher „Schatz“ angesehen wird, ist zumindest zu nicht unerheblichen Teilen als gegenseitiger Darstellungsund Deutungsprozess beschreibbar. Nicht umsonst gibt es die Tradition ausgiebiger Militärparaden, um sich und dem Gegner deutlich zu zeigen, über welche Mittel man verfügt. Die Mittel können durch die entsprechende Darstellung bereits einen Teil ihrer potenziellen Wirkung entfalten, wie bereits dem Melier-Dialog des Thukydides zu entnehmen (vgl. V 86).223 Gegenstände können also, über
223 Grundsätzlich angelegt ist diese Komponente der Machtdarstellung (und damit eng verbunden: der Täuschung und Illusion) schon in der Pflanzen- und Tierwelt, wenn man sich den Aufwand an Ressourcen vor Augen führt, der für Warnsignale, Balz- und Drohgebärden sowie für Mimikryphänomene betrieben wird (vgl. z. B. Norberg (1979); Menninghaus (2003), S. 169 f.). Die diesbezüglichen Möglichkeiten werden im menschlichen Bereich durch die moderne (Medien-)Technik natürlich noch multipliziert (vgl. Benjamin (1963), S. 42, Anm. 32; Ortmann (2004), S. 86). Der angesprochene Ressourcenverzehr kann geradezu demonstrativ betrieben werden und somit der machtstrategischen Logik folgen, eine für potenzielle Gegner ruinöse Konkurrenzsituation zu schaffen, beispielsweise in Form eines Wettrüstens wie zu Zeiten des Kalten Krieges oder auch als überbordender Konsum von Luxus- und Kulturgütern, wie Kaden (2004) mit Blick auf Papst Urban VIII. ausführt: „Wo Herrschaft sich unnachahmlich zeigt im Verzehr von materiellen Gütern, wird sie tödlich für den, der dem Vorbild nacheifert.“ (Kaden (2004), S. 123)
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direkte physische Einwirkungen hinaus, als Zeichen fungieren, die auf eine (quasi hinter ihnen stehende) Macht oder Machtposition verweisen und die selbst machtrelevant sind. Dies gilt potenziell für alle Gegenstände: Die Bandbreite reicht von Rohstoffen, über technische Geräte und Gebäude bis hin zu Schmuck und Kleidung. Es trifft für alltägliche Gebrauchsgegenstände zu, die gleichsam ästhetisch aufgeladen und überhöht werden können, seien es Keramiken, Kämme, Keulenköpfe oder Messergriffe, wie Assmann (2005, S. 46) für die ägyptische Kultur illustriert, Keulen, Schilde, Pfeile und Bögen, wie Godelier (1987, S. 31) für die Stammesgesellschaft der Baruya in Neuguinea nachweist oder, moderner und weniger martialisch: Brillen, Uhren, Füllfederhalter, Laptops, Handys, Autos oder Gebäude. An den Beispielen wird zugleich deutlich, dass sich dieses Phänomen über verschiedenste Kulturen hinweg und zeitlich bis in die frühe Entstehungsgeschichte des Menschen zurückverfolgen lässt. Menschen haben Gegenständen wohl schon immer eine Wirkung zugeschrieben und eine Bedeutung verliehen, die auf engste mit deren Ästhetik verknüpft ist (vgl. Müller-Beck/Conard/ Schürle (2001)). Ein Teil der Wirkung dieser Gegenstände kann u. U. auf den Besitzer oder Eigentümer übergehen, seien es einzelne Personen, Gruppen, Organisationen oder Staaten. Einige Gegenstände können auch eine festgelegte Bedeutung erlangen und, wie im Fall von Zepter und Krone, sogar reine Insignien der Macht darstellen. Den ersten Ansatzpunkt für eine Thematisierung von Macht aus einer ästhetischen Perspektive stellt also die Verwendung von bestimmten Gegenständen als repräsentative Zeichen von Macht dar. Entscheidend für unsere Fragestellung ist hier der Zusammenhang zwischen der Ästhetik eines Gegenstandes (also ganz basal seiner sinnlichen Wahrnehmbarkeit sowie der Einschätzung als „ästhetisch“, „schön“, „glanzvoll“, „prächtig“ usw.) und seiner Funktion als Machtmittel. Kunstwerken als ästhetischen Gegenständen schlechthin sowie auch Gebäuden wird in diesem Zusammenhang auf Grund ihrer großen potenziellen Wirkung auf Menschen im Folgenden eine besondere Aufmerksamkeit zuteil. Zweitens nimmt der menschliche Körper als zentraler Bezugspunkt dieser Gegenstände eine besondere Stellung ein: Kleidung und Schmuck werden verwendet, um den Körper zu bekleiden und zu schmücken, der sich seinerseits durch eine entsprechende Haltung der getragenen Kleidung und dem angelegten Schmuck anpasst und selbst wie eine Art „Schmuckstück“ präsentiert wird; Kunst wird von uns körperlich wahrgenommen und mit Hilfe des Körpers erschaffen, der – beispielsweise beim Tanz – selbst Teil eines Kunstwerks werden kann; Gebrauchsgegenstände werden von uns mittels unseres Körpers in technischer Weise hergestellt und eingesetzt, den wir zu diesem Zweck selbst als Mittel gebrauchen; und auch Gebäude bilden abgegrenzte Räume für eine Vielzahl von menschlichen Körpern, die sich in ihnen aufhalten, bewegen und arbeiten – und müssen sich demnach (mehr oder weniger) an körperlichen Parametern und Be-
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dürfnissen orientieren, so wie sich die Körper in ihrer Haltung und Bewegung nach der vorgegebenen Architektur richten müssen. Kurzum: Zwischen der gegenständlichen und der körperlichen Dimension besteht also ein starker wechselseitiger Zusammenhang. Genau genommen, ist unser Körper als räumlicher Körper selbst Teil der äußeren Gegenstandswelt und kann wie ein solcher Gegenstand eingesetzt werden. Gleichzeitig ist er uns aber, phänomenologisch betrachtet, auch „von innen“ her zugänglich, man hat nicht nur einen Körper, sondern ist ein Körper bzw. ein Leib.224 Dies kann die besondere Bedeutung des menschlichen Körpers als Leib erklären, der quasi die „Schnittstelle“ zwischen dem Außen und Innen der menschlichen Selbsterfahrung bildet. Die analytische Unterscheidung zwischen Gegenständen und dem Körper dient hier, wie gesagt, vor allem der Strukturierung der Phänomenvielfalt und somit der Übersichtlichkeit. In diesem Rahmen wird es außerdem möglich, insbesondere auf Phänomene der Inkorporierung von Macht einzugehen – also auf den Ausdruck und die Widerspiegelung einer bestimmten Macht(-position) im leiblichen Habitus eines Menschen – die als eine der basalsten Ausdrucksformen von Macht zu gelten hat. Anhand dieses Rasters möchte ich im Folgenden nachweisen, dass sowohl innerhalb der Mikropolitik als auch bei Nietzsche der Macht eine ästhetische Dimension zugeschrieben wird, die nicht nur Beiwerk ist, sondern zentral ist für den wirksamen Einsatz von Machtmitteln sowie den funktionierenden Ablauf von Machtprozessen. An dieser Stelle muss eingeräumt werden, dass es sich hierbei um einen sehr spezifischen und eingeschränkten Zugang zur Ästhetik aus machttheoretischer Sicht handelt, der sich aber m. E. durch die zentrale Stellung der Macht in beiden Konzepten rechtfertigen lässt. Zunächst zur Mikropolitik. a) Macht und Ästhetik in der Mikropolitik Ästhetik ist eine Dimension, die in der Organisationstheorie insgesamt lange so gut wie gar keine Beachtung gefunden hat (vgl. Ortmann et al. (1990), S. 29). Innerhalb der strategisch-mikropolitischen Organisationstheorie wird dem Zusammenhang von Macht und Ästhetik zumindest eine gewisse Bedeutung eingeräumt, insbesondere von den hier herangezogenen Protagonisten. Allerdings spielt die ästhetische Dimension der Macht auch in der Breite der mikropolitischen Literatur m. E. immer noch nicht die ihr gebührende Rolle.225 Daher wid224 Diese „Doppelaspektivität“ unserer Existenz ist von einer Reihe von Denkern gesehen worden, so z. B. von Plessner. Oben ist dieser Aspekt im Zuge der Ausführungen zu Schopenhauer und dessen Bezug auf Kant angeklungen (s. Teil 1 A. II. 1.); vgl. auch Heidegger (1961), Bd. 1, S. 118; Picht (1986), S. 459 ff.; Joas (1992), S. 268; Gerhardt (1999), S. 173 ff. 225 Beispielsweise ist nicht einmal ein eigener Eintrag zum Stichwort „Ästhetik“ im Wörterbuch zur Mikropolitik von Heinrich/Schulz zur Wiesch (1998) zu finden.
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met sich der folgende Abschnitt ausführlich diesem Thema, mit dem zweifachen Ziel, in der Literatur aufzufindende Aspekte darzustellen sowie die Bedeutung der Ästhetik darüber hinaus durch weiter gehende eigene Überlegungen zu untermauern. Zur theoretischen Anreicherung der Vielzahl von Beispielen wird vor allem der Bezug zu angrenzenden soziologischen Theorien hergestellt, deren Erkenntnisse Eingang in die mikropolitische Forschung erhalten haben: Neben A. Giddens, der gewissermaßen den Rahmen für die folgende Untersuchung liefert, sind hier vor allem M. Foucault und P. Bourdieu zu nennen. Grundsätzlich lässt sich zur Analyse von Macht und Ästhetik erneut auf die giddenssche Strukturationstheorie zurückgreifen. Mit Ortmann et al. (1990) kann die Ebene der Signifikation noch einmal in eine kognitive und in eine sinnlichästhetische Dimension unterteilt werden. Strukturmomente dieser sinnlich-ästhetischen Dimension sind „(. . .) die architektonische Struktur räumlicher Anordnung, die Struktur einer ,Ästhetik der Macht‘ (groß-klein, oben-unten, laut-leise, elegant-unbeholfen, schön-häßlich, sauber-schmutzig, ordentlich-liederlich sind dabei wichtige Gegensatzpaare), und die Formenstruktur der Handlungen und Handlungsgegenstände auf der einen, Strukturen sinnlicher Wahrnehmung auf der anderen Seite. Sie werden (auf der Handlungsebene) durch sinnlich-ästhetische Wahrnehmung und Formung, Formgebung, Formvollendung reproduziert, und zwar durch den Einsatz geeigneter Mittel (Modalitäten): Wahrnehmungsmuster, Attraktion, Architektur, Machtästhetik.“ (S. 33 f.)226
Innerhalb der sinnlich-ästhetischen Dimension vollzieht sich demnach die gleiche rekursive Reproduktion der Struktur wie in den anderen Strukturdimensionen auch: Die ästhetische Struktur restringiert und ermöglicht gleichermaßen Interaktionen der Akteure, die, indem sie mittels der Modalitäten auf sie Bezug nehmen, diese zumindest in weiten Teilen reproduzieren.227 Die Reproduktion wird also nicht allein über das theoretische Denken, sondern ebenso über die Sinne und somit ästhetisch gewährleistet (vgl. z. B. Ortmann (2003), S. 149). Einige Aspekte dieser Vorgänge sollen im Folgenden an einer Reihe von konkreten Beispielen und unter Berücksichtigung der oben vorgeschlagenen Differenzierung in eine körperliche und eine gegenständliche Dimension dargelegt und analysiert werden.
226 Vgl. zu derartigen Gegensatzpaaren, wie hoch-niedrig, schön-hässlich, einzigartig-gewöhnlich etc., die jeweils den Herrschenden bzw. den Beherrschten zugeordnet werden, und die auch bei Nietzsche eine herausragende Rolle spielen, auch Bourdieu (1999), S. 730 f. Die Bedeutung von Gegensatzpaaren für die Ästhetik werden durch die Ergebnisse der empirischen Psychologie bestätigt, insbesondere für die Unterscheidung von „schön“ und „hässlich“ (vgl. Jacobsen (o. J.)). 227 Die Modalitäten sind nicht nur naturgegeben, sondern basieren auf impliziten und expliziten Lernprozessen. Ortmann (2003) arbeitet umfangreich die stark situativ geprägten Entstehungsprozesse von Modalitäten sowie die Bedeutung der Mimesis für diese Vorgänge heraus (vgl. v. a. S. 146 ff.).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
aa) Gegenständliche Dimension: Architektur Die gegenständliche Dimension umfasst insbesondere die Architektur, wie bereits im Zitat Ortmanns angesprochen. Gebäude können nicht zuletzt auf Grund ihrer Größenordnung in besonderer Weise Macht zum Ausdruck bringen, Wirkung auf Menschen entfalten und deshalb als Machtmittel dienen. Möchte man diesen Effekt etwas genauer nach bestimmten Einflussgrößen aufschlüsseln, kann als ein wichtiger Parameter die Lage eines Gebäudes gelten: So geht, um ein Beispiel zu nennen, von der Unterbringung des Top Managements im Herzen von Manhattan eine bestimmte (Signal-)Wirkung aus, die sich von einer Konzernzentrale in Gütersloh unterscheidet. Einen weiteren Parameter könnte man als den Charakter des Gebäudes titulieren. Gemeint ist damit u. a., welches Alter das Gebäude hat, welche Geschichte es besitzt, welche Idee seinem Entwurf zu Grunde liegt und welchem Stil es zugeordnet werden kann. Um im Beispiel zu bleiben: Seinen Firmensitz in das sogenannte „Chrysler-Building“ zu verlegen – einem von W. van Alen entworfenen und 1930 fertiggestellten Wolkenkratzer im Art Déco-Stil, das eine eigene Geschichte aufweist und als eines der „Wahrzeichen von New York“ gilt – kann nicht nur auf Grund der Mietpreise als Anspruch und Ausdruck der eigenen Potenz und somit gleichsam als unmittelbares „Wahrzeichen der Macht“ angesehen werden. Eng mit einem derartigen Machtausdruck verbunden sind darüber hinaus die Größe und Höhe eines Gebäudes. Beim Anblick eines riesigen Gebäudes, das den einzelnen Menschen winzig werden lässt, kann sich ein Gefühl der „Erhabenheit“ einstellen.228 Größe und Höhe sind demnach weitere ganz entscheidende Parameter und haben offensichtlich eine besondere und direkte sinnliche Wirkung auf Menschen, wie man bereits an dem Wettlauf um das „höchste Gebäude der Welt“, dem historischen Streit um den höchsten Dom bzw. die größte Kirche der Christenheit oder an den aktuellen Diskussionen um die Größe von Moscheen und die Höhe von Minaret-
228 Erhabenheit ist hier in einem allgemeineren Sinne zu verstehen und nicht als kantischer terminus technicus. Auch Kant räumt eindrucksvollen Gebäuden wie Pyramiden oder dem Petersdom eine gewisse Wirkung auf Menschen ein, wie er z. B. in der Kritik der Urteilskraft andeutet (vgl. § 26, AA 5, S. 252), in den vorkritischen Beobachtungen (vgl. AA 2, S. 210) sowie in der Anthropologie (AA 7, S. 246). „Das Erhabene (sublime) ist die ehrfurchterregende Großheit (magnitudo reverenda), dem Umfang oder dem Grade nach“ (Anthropol., AA 7, S. 243), es kann einladen und gleichzeitig abschreckend sein sowie im Subjekt ein Gefühl seiner eigenen Größe und Kraft erwecken. „Größe und Macht“ (KU, § 23, AA 5, S. 246) sind demnach, generell gesagt, relevante und aufeinander bezogene Größen, wie auch Recki (1992) konstatiert, die „Größe“ und „Kleinheit“ bei Kant als „Symbol von Macht und Ohnmacht“ deutet und als „elementare Psychologie der Macht“ eine „Dynamik der Unter- und Überordnung“ ausmacht (S. 176). Allerdings sind für Kant Gebäude als „Kunstprodukte“ nicht die passendsten Beispiele, und auch nicht „Naturdinge“ (wie z. B. Tiere), sondern die „rohe Natur“, und zwar „bloß sofern sie Größe enthält“ (KU, § 26, AA 5, S. 252 f.), z. B. in Form des Wasserfalls eines „mächtigen Flusses“ (KU, § 28, AA 5, S. 261).
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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ten in Deutschland ablesen kann. Im Hinblick auf ihre basale Funktion als Zeichen von Macht und deren materiale Manifestationen gleichen hierbei in gewisser Weise die heutigen verspiegelten Skylines von Banken und Versicherungsgebäuden – Ortmann et al. sprechen zu Recht von „Versicherungspalästen“ (S. 190, Anm. 64; H.v. m.) – den Kathedralen, Schlössern und Pyramiden aus anderen Zeiten, wenn auch im Einzelnen durch die spezifische Architektur je Unterschiedliches ausgedrückt wird. Die Liste der Parameter ließe sich fortsetzen und z. B. um die Fassade (verspiegelt oder nicht), verwendete Materialien (Glas, Chrom, polierter Stahl usw.) oder bevorzugte Formen (geradlinig oder verspielt, geometrisch oder organisch etc.) erweitern. Aus mikropolitischer Sicht bedeutsam sind daran drei Punkte: Erstens, dass mit diesen Parametern immer etwas ausgedrückt wird, sie also Zeichen dafür sind, „up to date“, modern, potent, aufstrebend, ganz oben, liquide, international ausgerichtet usf. zu sein. Ein Unternehmen trifft eine Aussage damit, ob es sich in einem Skyscraper oder in einer Garage ansiedelt. „Architektur ist eine Geste“, wie sich Wittgenstein 1942 notiert (vgl. Göppelsröder (2008)). Wie tief dies im (Unter-)Bewusstsein der Akteure verwurzelt ist, zeigt sich besonders deutlich, wenn Firmenführer sich vor dem repräsentativen Unternehmensgebäude in entsprechender Pose ablichten lassen (vgl. Ullrich (2004)) oder Interviews am liebsten vor einer derartigen Kulisse geben (vgl. Schneider (2005)). Zweitens, dass diese architektonischen Parameter Wirkungen entfalten können, u. a., indem sie angenehm, anregend, faszinierend, beeindruckend, imposant, erhebend, überwältigend oder sogar einschüchternd auf Menschen wirken können. Von einer entsprechenden Ästhetik gehen „sinnlich vermittelte Machteffekte“ aus, wie Ortmann et al. (1990) feststellen: „Die Größe eines Verwaltungsgebäudes, Büroraumes (. . .) oder (. . .) Hochregal-Lagergebäudes beeindruckt und schüchtert ein auf unmittelbare Weise.“ (S. 32) Diese Wirkfähigkeit deutet bereits auf die Machtrelevanz von Architektur hin. Daran, dass die Parameter gezielt eingesetzt werden können, um mittels Architektur Wirkungen auszulösen und etwas Bestimmtes auszudrücken, kann man drittens ablesen, dass derartige ästhetisch-architektonische Parameter Machtmittel darstellen. Ebenso wenig, wie der Einsatz dieser Mittel den Akteuren immer vollständig bewusst sein muss (wenn auch kann), muss auch deren Wirkung nicht immer bewusst verlaufen, sondern es kann unterschwellig ein „Klima“ hergestellt werden, oder eine „Aura“, die laut Benjamin (1963) immer mit einer gewissen Unnahbarkeit, Unerreichbarkeit und „Ferne“ einhergeht (S. 15). Es kann etwas Unausgesprochenes, sprachlich häufig gar nicht genau Fassbares zum Ausdruck gebracht werden, so dass es sich erübrigt, über bestimmte Dinge zu diskutieren, zu streiten, zu drohen oder gar zu Zwangsmitteln zu greifen (vgl. dazu auch Ortmann et al. (1990), S. 43). Es bildet sich eine Art automatische Autorität heraus, die für die Mikropolitik von hoher Relevanz ist:
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
„(D)er Organisations-,Körper‘ ist verdinglicht, am imposantesten im Beton (concrete!) und Glas der Firmengebäude. (. . .) In beeindruckender Architektur (. . .) wird im 360 ë-Radius das Programm der eigenen Größe, Kraft und Herrlichkeit ausgestrahlt, nicht zuletzt, um sich selbst (die Organisationsmitglieder) sowohl zu beeindrucken wie zu disziplinieren. So lassen sich Ansprüche, Forderungen, Rechte etc. in materialisierten Symbolisierungen (. . .) verstecken; durch diese Metamorphose gewinnen sie quasi-natürliche Autorität.“ (Neuberger (2006), S. 261)
bb) Architektur der Disziplin Was für das Äußere der Gebäude gilt, ist gleichermaßen für das Innere festzustellen: Die Gestaltung der Räumlichkeiten kann als Ausdruck von Machtverhältnissen gedeutet werden und stellt ihrerseits ein konkretes Machtmittel dar. Räume können Körper beeinflussen, indem sie diese aufteilen und anordnen, ihnen Wege, Blickrichtungen, wechselseitige Wahrnehmungsmöglichkeiten vorgeben, funktionale Abläufe bestimmen und gliedern oder schlicht durch ihre Größe beeindrucken, wie oben am Beispiel des Büroraumes bereits angeklungen ist. Architektur wird dabei nach Benjamin immer zweifach rezipiert: durch Gebrauch und deren Wahrnehmung bzw. taktil und optisch. Die taktile Rezeption erfolgt in einem „beiläufigen Bemerken“ und durch „Gewöhnung“ der Körper und bestimmt den „Wahrnehmungsapparat“ der Menschen, also auch weitgehend die optische Rezeption (Benjamin (1963), S. 40 f.). Frei nach Benjamin könnte man also in der Architektur ein „Übungsinstrument“ sehen, das die mögliche Apperzeption strukturiert und somit „unter der Hand kontrolliert“ (S. 41). Dies ist von soziologischer Seite immer wieder konstatiert und ausgearbeitet worden. So spielen z. B. nach Sennett (1995) die räumlichen Beziehungen menschlicher Körper „offenbar eine enorme Rolle für die Reaktion von Menschen aufeinander, dafür, wie sie einander sehen und hören, ob sie einander berühren oder Distanz wahren.“ (S. 23) Und auch Bourdieu (1983) macht den habituellen Aspekt der Architektur sowie dessen Einfluss auf Wahrnehmung und Denkweise der Menschen stark, wenn er unter Rückgriff auf E. Panofsky am Verhältnis von gotischer Architektur und scholastischen Denken versucht, strukturelle Homologien zwischen architektonisch vorgeprägten Praktiken und „mental habits“ aufzudecken (S. 142). Für den organisationalen Kontext lässt sich daraus ableiten: Die Gestaltung der Räume kann dazu dienen, Organisationsmitglieder durch „beiläufiges“ Einüben körperlich an bestimmte Situationen und Arbeitsabläufe zu gewöhnen, Wahrnehmungs- und Denkstrukturen zu beeinflussen und folglich sich selbst und andere ganz offen oder auch „unter der Hand“ zu kontrollieren und zu disziplinieren, wie es oben bei Neuberger (2006, S. 261) ausdrücklich hieß. Ortmann et al. (1990) zitieren in diesem Zusammenhang u. a. Bahrdt (1972), der mit Blick auf Großraumbüros schreibt:
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„Das wichtigste ist die Übersicht. Geometrische Anordnungen der Arbeitsplätze, Glaswände, möglichst auch zum Flur, damit der Besucher erkennen kann, wie fleißig gearbeitet wurde, und mehr oder weniger raffinierte Kontrollmethoden (. . .) sollen die Arbeitsaufsicht erleichtern.“ (S. 51; zit. nach Ortmann et al. (1990), S. 33, Anm. 28; dazu auch Ortmann (1984), S. 135)
Gleiches ließe sich für Werkstätten sagen, deren Innenarchitektur insbesondere der gesteigerten Übersicht und somit Kontrollmöglichkeit des Werkstattleiters verpflichtet ist. Damit lassen sich Großraumbüros und Werkstätten aus mikropolitischer Perspektive auch als panoptische Strukturen im Sinne Foucaults interpretieren. Ein Panopticon ist ursprünglich von Jeremy Bentham als ringförmiges Gefängnisgebäude angelegt, das um einen Turm herum konstruiert ist. Das „Ringgebäude ist in Zellen unterteilt, von denen jede durch die gesamte Tiefe des Gebäudes reicht; sie haben jeweils zwei Fenster, eines nach innen, das auf die Fenster des Turms gerichtet ist, und eines nach außen, so daß die Zelle auf beiden Seiten von Licht durchdrungen wird“ (Foucault (1994), S. 257).
Zwischen den Zellen befinden sich Mauern, um die Gefangenen voneinander abzutrennen. Die Aufseher sind hinter „festen Jalousien“ verborgen (ebd., S. 259). Dadurch entsteht die charakteristische Dichotomie von „radialer Sichtbarkeit“ und „seitlicher Unsichtbarkeit“ (ebd.; dazu auch Münker/Rösler (2000), S. 102 f.). Das heißt, die Insassen können sich untereinander nicht sehen, ebenso wenig wie sie das im zentralen Turm befindliche Wachpersonal sehen können, sind aber gleichzeitig potenziell immer dessen Blicken ausgesetzt und haben ständig die „hohe Silhouette des Turms vor Augen“ (Foucault (1994), S. 259). Dies ist eine extrem effektive und effiziente Anordnung, da ein einziger Aufseher genügt, um eine Vielzahl von Insassen zu kontrollieren. Der perfekte Disziplinarapparat wäre „derjenige, der es einem einzigen Blick ermöglichte, dauernd alles zu sehen. Ein zentraler Punkt wäre zugleich die Lichtquelle, die alle Dinge erhellt, und der Konvergenzpunkt für alles was gewußt werden muß; ein vollkommenes Auge der Mitte, dem nichts entginge und auf das alle Blicke gerichtet wären“ (ebd., S. 224).
Als eine Folge eines derartigen „zwingenden Blicks“ könnte das Überwachungszentrum sogar gänzlich unbesetzt bleiben, da die Gefangenen sich zwangsläufig so verhalten, als seien sie ständiger Beobachtung ausgesetzt, wie Fink-Eitel (1989) zu Recht festhält: „Sie überwachen sich selbst.“ (S. 76) Das Prinzip von „Sehen“ und „(Nicht-)Gesehenwerden“ organisiert also, über einen gewissen Zeitraum und in Verbindung mit Prüfungsmechanismen sowie normierenden Sanktionen, die (Selbst-)Disziplinierung: „Eine wirkliche Unterwerfung geht mechanisch aus einer fiktiven Beziehung hervor, so daß man auf Gewaltmittel verzichten kann (. . .). Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert
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das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.“ (Foucault (1994), S. 260)229
Die Hauptwirkung des Panopticon ist somit „die Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt. Die Wirkung der Überwachung ,ist permanent, auch wenn ihre Durchführung sporadisch ist‘; die Perfektion der Macht vermag ihre tatsächliche Ausführung überflüssig zu machen (. . .)“ (ebd., S. 258; H.v. m.).
Auch Foucault interessiert also das, was oben als „automatische“ oder mit Neuberger als „quasi-natürliche Autorität“ bezeichnet worden ist. Architektur scheint in besonderem Maße dazu geeignet zu sein, derartige Automatismen zu begünstigen und eine relativ „reibungslose“ Machtausübung zu gewährleisten. Zu berücksichtigen ist dabei, dass der „Panoptismus“ (S. 251–291) bei Foucault nicht isoliert auftritt, sondern Ausführungen über „Die Mittel der guten Abrichtung“ (S. 220–250) folgt, unter die sowohl die hierarchisierende Überwachung und normierende Sanktion als auch die Prüfung fallen sowie Erörterungen über „Die gelehrigen Körper“ (S. 173–219), die eine Kunst der Verteilung, die Kontrolle der Tätigkeit (insbesondere durch ökonomisierte Zeitplanung und -gestaltung), die Organisation von Entwicklungen sowie die effektive Zusammensetzung der Kräfte zur Herstellung eines leistungsfähigen Apparates umfassen. Diese Überlegungen Foucaults haben einen gewissen Einfluss auf die mikropolitische Organisationstheorie ausgeübt.230 An dieser Stelle interessiert uns besonders die angesprochene Kunst der Verteilung, weil sie die funktionsorientierte Einordnung von Individuen in Räume thematisiert, mit dem Ziel, eine relativ undifferenzierte Menge von Menschen in eine systematische und übersichtliche Ordnung zu bringen (Foucault (1994), S. 181–191). Dazu dienen die vier Instrumente der (1) räumlichen Trennung und Einschließung (Klausur), (2) der präzisen Aufteilung und Lokalisierung der Körper (Parzellierung), (3) der Einrichtung funktional geordneter Räume sowie (4) die Herstellung einer Rangordnung innerhalb der disziplinären Räume: die Disziplin als „Kunst des Ranges“ (ebd., S. 187). Dass diese Prinzipien eine gewisse Relevanz für moderne Großraumbüros oder Werkstätten besitzen, scheint plausibel: Denn auch dort wird eine Menge von Menschen voneinander separiert, bestimmten Orten zugewiesen (nicht zuletzt, 229 Zur Bedeutung der Internalisierung in Nietzsches Genealogie der Moral s. FinkEitel (1989) u. Owen (1994). 230 Vgl. neben Ortmann (1984 sowie 1990) und Neuberger (1995 sowie 2006) z. B. auch die Arbeiten von R. Weiskopf (s. Lit.-Verz.). Direkte Bezüge zur „Architektur der Disziplin“ lassen sich u. a. auch in kritischen Überlegungen zum Accounting, zum Human Ressource Management oder der Schul- und Lernorganisation finden (z. B. in Hopper/Macintosh (1988) oder Holzkamp (1995)). Zu einer Anwendung von Foucaults Analyse auf neuere Entwicklungstendenzen wie der Entstehung von Großraumbüros oder der Computerüberwachung s. auch Breuer (1987); zu einer Bewertung des Textes von Breuer vgl. Honneth (1995), S. 61 ff.
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um jederzeit zu wissen, wo und wie die Individuen zu finden sind), werden Räumlichkeiten und Tätigkeiten funktional aufeinander abgestimmt, um die systematisierten Menschengruppen auch überwachen und vor allem Effizienz steigernd nutzen zu können. Außerdem spiegelt die Hierarchie der Räume eine Hierarchie zwischen den Menschen wider. Beispiele hierfür könnten die sprichwörtliche „erste Etage“ sein, die heute vielleicht eher im 15. Stock angesiedelt ist, oder das oben angesprochene exponierte Meisterbüro in einer Werkhalle. „Oben und unten“ in der Hierarchie ist laut Ortmann et al. (1990) nicht umsonst häufig auch „oben und unten im Bürogebäude: Macht-Positionen auch im wörtlichen Sinne“ (S. 33). Der „Chef“ hat, seinem Rang entsprechend, das größte Büro, das bei einem Konzern mit einiger Sicherheit in einem oberen Stockwerk der Zentrale angesiedelt ist. Dies sind konkrete Beispiele für das, was Ortmann „Ästhetik der Macht“ genannt hat. Die Ästhetik ist dabei Ausdruck und Zeichen einer gewissen Macht und Position. Gleichzeitig ist aber festzustellen, dass Ästhetik selbst Macht entfaltet. Man muss deshalb terminologisch über Ortmann hinaus neben der „Ästhetik der Macht“ – chiastisch formuliert – eine eigenständige „Macht der Ästhetik“ konzedieren. Der Sache nach ist das genau das, was Ortmann meint, wenn er schreibt, dass von „einer geeigneten Ästhetik (. . .) offenbar direkt, ohne Umwege über das Bewußtsein einer Drohung, sinnlich vermittelte Machteffekte“ ausgingen (Ortmann et al. (1990), S. 32). Die Größe (und Gestaltung) eines Chefbüros kann eben auf unmittelbare Weise beeindrucken und einschüchtern (ebd.). Auch die konkrete räumliche Anordnung und Aufteilung organisatorischer Einheiten und Mitglieder sind aus mikropolitischer Sicht von einiger Bedeutung. Nicht nur aus den offensichtlichen Erfordernissen eines gewissen Effizienzdenkens (kurze Wege, Ermöglichung von Kommunikation usf.). Denn von der Gestaltung der Räumlichkeiten hängt u. a. das Vorhandensein von nicht einsehbaren Bereichen, toten Winkeln, Nischen, privaten Pausenräumen, Toiletten etc. ab, die Rückzugsräume für die Akteure bieten, und aus Sicht der Kontrollinstanzen problematische Bereiche darstellen. Mit Blick auf Crozier/Friedberg lassen sich diese Bereiche als architektonisch induzierte Unsicherheitszonen begreifen, die strategisch-mikropolitisch genutzt werden können. Ortmann thematisiert diese Zonen in Anlehnung an Giddens (1988, S. 175 ff.) auch als „rückseitige Regionen“, die im Unterschied zu öffentlich-einsehbaren „vorderseitigen“ Regionen, Schutz vor dem permanenten kontrollierenden Zugriff anderer bieten (Ortmann et al. (1990), S. 33 u. S. 526 f.; (1984), S. 122). Derartige Regionen bieten Widerstandspotenziale und stellen äußerst machtsensible Bereiche dar.231 Mit Fou-
231 Vgl. Teil 2 A. II. 8. Auch Sennett (1995, S. 34) scheint diesen Zusammenhang von Unübersichtlichkeit und Widerstandspotenzial im Auge zu haben, wenn er mit Blick auf Städte als „Stätte der Macht“ schreibt: „All diese Aspekte der urbanen Erfahrung – Differenz, Komplexität, Fremdheit – bieten Widerstand gegen Herrschaft.“
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
cault kann man es daher als eine zweckdienliche Strategie der Disziplinarmacht ansehen, im Zuge der hierarchisierenden Überwachung „keine Zone im Schatten“ zu lassen, und auch diejenigen, die kontrollieren, einer pausenlosen Kontrolle zu unterziehen (Foucault (1994), S. 229). „Gläserne Fabriken“, wie die des Volkswagenkonzerns in Dresden, bekommen aus dieser Perspektive eine ganz eigene Konnotation, die sich nicht in einer gesteigerten „neuen Transparenz“ nach außen erschöpft, sondern diese eher als euphemistische Marketingillusion erscheinen lässt.232 Betont sei aber auch, dass dies nur eine, nicht die einzig mögliche Perspektive ist233, die allerdings in der Mikropolitiktheorie, wie gesagt, eine gewisse Resonanz erfahren hat. Vor dem Hintergrund des Gesagten lässt sich auch noch einmal verdeutlichen, wie der Begriff der Rekursivität von Struktur und Handlung im Zusammenhang mit Architektur zu verstehen ist: nämlich als soziale Architektur der Disziplin. Selbstverständlich werden Gebäude durch gemeinschaftliches Handeln produziert. Aber bei physischen Gebäuden könnte man meinen, dass sie, einmal gebaut, nicht mehr permanent durch Handeln reproduziert werden müssen. „Jedoch als soziale Architektur, als Architektur der Disziplin, muß sie es tagtäglich, muß der Meister aus dem gläsernen Büro sehen, müssen die Arbeiter gesehen werden“ (Ortmann et al. (1990), S. 34).
Dass dabei nicht nur die Architektur der Gebäude entscheidend sein kann, sondern ebenso eine Architektur der Informationen und Daten, führt Ortmann (1984) exemplarisch anhand von computergestützten Personalinformationssystemen aus. Seine Studie stellt sich ausdrücklich in die Tradition der Machtanalyse Foucaults, wie bereits am Titel abzulesen ist.234 Bei diesen Systemen geht es ausdrücklich immer noch um Kontrolle, und zwar sowohl von Körpern als auch von Köpfen (vgl. S. 114 f.). Auch die Prinzipien, beispielsweise der Einschließung, erscheinen erstaunlich stabil. Nur organisiert die Disziplin hier keinen realen, sondern einen analytischen Raum235: Die Klausur bezieht sich in Datensystemen z. B. 232 Vgl. http://www.glaesernemanufaktur.de. Die grundsätzliche Relevanz einer derartigen Sichtweise findet beispielsweise Bestätigung in Vorfällen wie der Überwachung von Mitarbeitern bis in Privatbereiche hinein durch versteckte Kameras in einigen Filialen des LIDL-Konzerns, die im Jahr 2008 öffentlich wurde. 233 Sennett (1995) attestiert Foucault z. B. eine gewisse „Paranoia der Kontrolle gegenüber“, die ihn erst gegen Ende seines Lebens verlassen habe. In seinen Werken stelle sich Foucault den menschlichen Körper „beinahe erwürgt von der gesellschaftlichen Macht vor“ (S. 35). Zu einer ähnlichen Kritik an Foucault, der „menschliche Körper durchgängig nur als widerstandsloses Gestaltungsobjekt von Einflußnahmen, nie jedoch als eigenwilliger Resonanzboden von psychischen Empfindungen und Erlebnissen“ ansehe, vgl. Honneth (1995, S. 68). Auch Giddens (1995) kritisiert u. a. die Überbetonung der Struktur gegenüber dem handelnden Akteur (vgl. S. 265 ff.). 234 Der zwingende Blick. Personalinformationssysteme – Architektur der Disziplin (Ortmann (1984). Zur Übertragbarkeit der Erkenntnisse auf den EDV-Bereich s. auch Fink-Eitel (1989), S. 79 u. Breuer (1987).
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nicht auf bauliche Trennmaßnahmen, sondern auf die Sicherung der Daten und das Abschließen der Terminals; Parzellierung findet sich in der Anordnung der Datenmasse in Datenfeldern, Datensegmenten und ganzen Datenbanken wieder (ebd., S. 124 f.; S. 135 ff.). Die Architektur der Gebäude ist weiterhin von Relevanz, wird aber ergänzt und teilweise überlagert durch eine Architektur elektronischer Systeme, die, sei es im Büro, beim Home-Office oder in der Werkhalle, ihre (selbst-)disziplinierende Wirkung entfalten.236 Die Wirkung bleibt hierbei gleich: „Wo damals der beobachtende Zugriff mit Hilfe von Architektur, Optik, und Mechanik geschah, kommt heute die Elektronik hinzu. Beide Male erlaubt Physik den Verzicht auf physische Gewalt“ (Ortmann (1984), S. 139; H.v. m.; vgl. dazu Foucault (1994), S. 229).
Das Grundprinzip lautet weiterhin „sehen, ohne gesehen zu werden“. Durch die geringe Sichtbarkeit der elektronischen Systeme ist ihre Wirkung eher noch gesteigert: „Tatsächlich ist das ideale Personalinformationssystem das ,vollkommene Auge der Mitte, dem nichts entgeht und auf das alle Blicke gerichtet sind (ohne es allerdings wirklich zu sehen, uneinsehbar wie es ist). Die festen Jalousien, die im Panopticon An- und Abwesenheit des Aufsehers verbergen, heißen im Falle der Personalinformationssysteme: Zugangskontrolle, Identifikationsschlüssel, Datensicherung und Unverständlichkeit.“ (Ortmann (1984), S. 141)
Uneinsehbarkeit wird somit durch „physische Unsichtbarkeit einerseits, technologische Kompliziertheit/Unwissenheit andererseits“ hergestellt. Dadurch wird die Asymmetrie zwischen einem „wissenden Management, das auch noch den Zugang zum System kontrolliert“, und „unwissenden Betroffenen, die von der Zugangskontrolle ausgeschlossen sind“ durch technische Mittel manifestiert und perpetuiert (vgl. Ortmann (1984), S. 141). Ortmann schreibt hier somit die Analyse einer Disziplinarmacht ganz im Sinne Foucaults am Beispiel von EDV-Systemen fort. Allerdings grenzen sich Ortmann et al. (1990) an einigen Stellen auch explizit von Foucault ab: Zwar findet auch ihrer Meinung nach durch die Implementierung von Macht in die Architektur von Informationssystemen eine Art „Entindividualisierung“ des Machtverhältnisses statt, es entsteht ein „technischer, anonymer Kontrollapparat, eine Ansammlung von autoritativ-administrativen, technischen und ökonomischen Ressourcen, Legitimations- und Sanktionsregeln und 235 Dazu indes auch Foucault (1994): „Die Disziplin organisiert einen analytischen Raum.“ (S. 184; H.v. m.) 236 Darüber hinaus ergeben sich Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Arten von Architektur, beispielsweise, wenn Bürogebäude so konzipiert werden, dass Informations- und Kommunikationstechnik bestmöglich integriert werden kann (vgl. Ortmann et al. (1990), S. 194).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Expertenwissen“ (S. 529).237 Dennoch macht dieses Faktum es nach Ortmann (1984) nicht „wie es bei Foucault gelegentlich anklingt, bedeutungslos, oder beliebig, wer die Macht ausübt.“ (S. 118)238 Das Machtgeflecht werde durch den Einsatz komplexer technischer Systeme zwar schwerer zu durchschauen – was durchaus intendiert sein kann – aber nicht beliebiger. Auch will die Metaphorik des Personalinformationssystems als elektronisches Panopticon laut Ortmann behutsam verwendet werden: „Zu bedenken ist, daß damit nur das Strukturprinzip ihrer Architektonik, nicht ihre tatsächliche Funktionsweise in der Praxis gemeint ist.“ (Ortmann (2004), S. 142) Besonders wichtig erscheint mir darüber hinaus der Hinweis, dass der Mensch das Maß aller Dinge bleibe, auch da sich das Maß der Überwachung erst im Einsatz durch den Menschen entscheidet, und nicht an der Möglichkeit der Technik allein (ebd., S. 142); bei allem „eigentümlich“ zwanglosen Zwang, den sie zu entfalten im Stande sei (S. 125) und bei allem menschlichen „Hang zur Perfektion von Technik und Macht“ (S. 143). Dies ist ein essenzieller Punkt, denn erst dadurch öffnet sich meiner Meinung nach der für die Mikropolitik notwendige Spielraum. Dieser Spielraum kann – in Verbindung mit den immer vorhandenen Widerstands- und Abweichungsmöglichkeiten und fundiert durch die Tendenz zur Wahrung der eigenen Identität sowie zum Schutz und Ausbau der eigenen Freiheitspotenziale – auch davor bewahren, einer allzu einfachen Dichotomie zwischen „oben“ und „unten“ der Macht zu verfallen.239 Expertenmacht tritt m. E. häufig gerade nicht in den obersten Etagen auf (vgl. Kapitel Asymmetrie der Macht). Zugespitzt formuliert: Ausschließliche Computerspezialisten sitzen nicht im Vorstand. Dort sind eher Generalisten gefragt, die sich von ersteren „zuarbeiten“ lassen. Wer „oben“ oder „unten“ ist bzw. zu den 237 Vgl. als ein praktisches Fallbeispiel dazu die Einführung eines Zeiterfassungssystems in der Nahrungsmittelindustrie (Ortmann et al. (1990), S. 344 ff., insbesondere S. 369 f.). 238 Dies klingt bei Foucault an, wenn er schreibt, dass die Überwachung „zwar“ auf Individuen beruhe, doch wie ein Beziehungsnetz wirke, oder eine „Maschinerie [sei], die funktioniert“ (Foucault (1994), S. 228 f.). Explizit wird er im Zusammenhang mit dem Panopticon: „Diese Anlage ist deswegen so bedeutend, weil sie die Macht automatisiert und entindividualisiert. Das Prinzip der Macht liegt weniger in einer Person als vielmehr in einer konzertierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken; in einer Apparatur (. . .). Folglich hat es wenig Bedeutung, wer die Macht ausübt.“ (Foucault (1994), S. 259; H.v. m.) 239 Einer Dichotomie, gegen die sich auch Foucault verwahrt und gegenüber der er, v. a. in seinen späteren Werken, die Vielfältigkeit, strategische Raffinesse und Positivität (d. h. Produktivität) der Macht hervorhebt. Angelegt ist dies bereits in Überwachen und Strafen: Dort beruht die Überwachung „zwar auf Individuen, doch wirkt sie wie ein Beziehungsnetz von oben nach unten und bis zu einem gewissen Grade auch von unten nach oben und nach den Seiten.“ (Foucault (1994), S. 228; H.v. m.) In Sexualität und Wahrheit I wird der Aspekt weiter entfaltet, z. B. durch die Ablehnung der simplifizierenden Repressionshypothese und der Kaprizierung auf eine negative „juridisch-diskursive“ Macht (vgl. Foucault (1999)). Vgl. generell auch Ottmann (1999), S. 426 f.
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„Schwächeren“ oder „Stärkeren“ gehört, ist dabei aus mikropolitischer Sicht genau genommen gar nicht im Vorhinein zu sagen, sondern (Zwischen-)Ergebnis eines immer wieder neu zu verhandelnden sozialen Prozesses. Dies gesteht auch Ortmann (1984) zu, ohne jedoch einer Beliebigkeit das Wort reden zu wollen: „Die Machtreservate, die der Programmierer sich hier noch erhält, mag er zu einem anderen Zeitpunkt, in einem anderen sozialen Kontext, unter anderen technischen Bedingungen verlieren. So verschiebt und verwickelt sich Macht in einem zwar undurchsichtigen, aber keineswegs beliebigen sozialen Geflecht.“ (S. 118)
Und in ihrer empirischen Studie kommen Ortmann et al. (1990) zu dem Ergebnis, „daß die, die unten sind, doch nicht ganz machtlos sind. Strukturen sind immer constraints und Chancen zugleich – für beide: oben wie unten. Daß die Chancen gleicht verteilt seien, behaupten wir allerdings nicht“ (ebd., S. 529). Ob und inwiefern sich in den Unübersichtlichkeiten von EDV-Systemen neue Nischen und relevante Unsicherheitszonen und Spielräume für die machtpolitisch „Schwächeren“ auftun, ist für die Autoren eine „empirische Frage“, die jeweils im Einzelfall überprüft werden müsse und auf jeden Fall nicht per se bejaht werden könne (S. 48 und 529). Alles in Allem ist die größere Betonung der Kontingenz und Dualität der Struktur im Vergleich zu Foucault festzuhalten, auch wenn, insbesondere bei Ortmann (1984), durchaus einige „Ablagerungen“ strukturalistischer Denkmotive anzutreffen sind, wie dies Honneth (1995, S. 69) an Foucault moniert. Die Aufnahme von eher strukturellen Komponenten ist durchaus intendiert, um nicht einer Beliebigkeit der Machtverhältnisse oder einer vollständigen Chancengleichheit das Wort zu reden. Nach Ortmann gibt es gewisse „strukturelle Unterfütterungen“ von Machtbeziehungen, die nicht außer Acht gelassen werden dürften. Allerdings wird, wie gesagt, die zentrale Rolle des Menschen betont, der das Maß aller Dinge bleibt. Somit kann die Mikropolitik die Gefahr umgehen, sich letztlich doch nur auf eine ausschließlich „makrosoziologische Perspektive“ (Honneth (1995), S. 65) zu kaprizieren. Letzen Endes wird an dieser Stelle einmal mehr das Ringen um eine ausgewogene Position zwischen Struktur- und Handlungstheorie deutlich, die insbesondere in der Adaption der Strukturationstheorie Giddens‘ ihre rekursive Fassung erlangt. cc) Gegenstände als Machtausdruck und Machtmittel Kommen wir nach diesem Exkurs zur sozialen Architektur der Disziplin zurück zum Bereich der gegenständlichen Beispiele: Wie ausführlich gezeigt, finden Machtverhältnisse sowohl im Äußeren als auch im Inneren von Gebäuden einen konkreten ästhetisch-architektonischen Ausdruck. Richtet man den Blick etwas genauer auf die Innengestaltung, lassen sich derartige „Objektivationen“ von Macht auch im verwendeten Interieur wiederfinden. Je höher auf der Hierarchiestufe man sich bewegt, desto häufiger dürften heute dabei glänzender Mar-
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mor, „strahlende Oberflächen“ und ein moderner, minimalistischer Stil anzutreffen sein; die „Jagdtrophäen, Holzvertäfelungen und Antiquitäten sind fast überall verschwunden und durch stromlinienförmige Designermöbel sowie weiße Wände ersetzt“ (Ullrich (2004), S. 26 f.). Laut Neuberger geht es dabei für Organisationen immer mehr darum, durch ein gezieltes interieur design die einzelnen „Accessoires“ zu einem wirkungsvollen Ganzen zusammenzustellen. „In den Artefakten der designten Corporate Identity inszeniert sich das Unternehmen als Einheit und Ganzheit, die von sich her macht“, z. B. in „beeindruckender Architektur“ (Neuberger (2006), S. 262; H.v. m.). Architektur, Innenarchitektur, und die Ausstattung mit einer Reihe von firmeneigenen sowie privaten Gegenständen und Accessoires bilden demnach ein Kontinuum, das einerseits der Darstellung und Erzeugung von Einheit, Ganzheit und Zugehörigkeit dient und damit neben einer Repräsentationsfunktion u. a. die oben angedeuteten „Disziplinierungs- und Normalisierungsfunktionen“ bedient (und dies im Übrigen für alle Ebenen, nicht nur für die der Angestellten), andererseits aber genügend Raum für die Darstellung der eigenen Individualität, Position und Stellung innerhalb des Ganzen bietet – und somit auch für Distinktion und Distanz.240 Die Reihe konkreter Beispiele derartiger „Accessoires“ oder „Artefakte“ ist lang241: Sie beginnt bei der Frage nach dem eigenen Firmenwagen (ja oder nein, welches Modell mit welcher Ausstattung, mit oder ohne Chauffeur usw.) sowie dem Vorzimmer zum Büro (ja oder nein, mit oder ohne Sekretärin), reicht über den großen, aufgeräumten Schreibtisch mit der glänzenden Schreibtischplatte (vgl. Ullrich (2004), S. 27 u. 50; Anh., Abb. XVII, X u. XI), der vielleicht täuscht und dennoch beeindruckt (s. Ortmann et al. (1990), S. 31), den ledernen „Chefsessel“, die Qualität und Exklusivität des weiteren Mobiliars, der Teppiche und Vorhänge, über die Installation und Ausrichtung der Beleuchtung (Spiel von hell und dunkel, Licht von vorn oder von hinten) und endet noch lange nicht bei der Frage der Ausstattung mit technischen Geräten: Was früher das Telefon an Assoziationen (Pünktlichkeit, Erreichbarkeit, Fleiß, Modernität etc.) auszulösen vermochte (vgl. dazu Ullrich (2004), S. 56 f.), wird heute von Smartphone, Palmtop und Notebook übernommen.242 240 Darauf hat insbesondere auch Bourdieu hingewiesen. Seiner Auffassung nach lässt sich Distinktion als signifikante symbolische Unterscheidung (vgl. Richter (1994), S. 173) immer nur relativ fassen, im „Grunde heißt ,distinguiert‘ sein ,nicht populär‘ sein – und sonst nichts. (. . .) Die herrschende Kultur zeichnet sich immer durch einen Abstand aus.“ (Bourdieu (1992a), S. 39) Ein Gedanke, der sich bereits bei Nietzsche in seinen emphatischen Bekenntnissen zur Distanz findet, wie im zweiten Teil dieses Kapitels gezeigt werden wird. 241 Vgl. Art. „Statussymbol“ von Heinrich (1998) im Wörterbuch zur Mikropolitik, S. 265 f. 242 Oder, sozusagen als „dernier cri“, von der Ausstattung mit so genannten „Tokens“, die gleichermaßen Sicherheitsbedarf wie Wichtigkeit anzeigen können. Dieses
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Eine zwiespältige Rolle spielt dagegen die Zigarre als ein Accessoire, das machtvoll wirken kann, aber auch altmodisch: Ullrich (2004) spricht von einer „Reminiszenz an das Zeitalter der Szepter“ (S. 10).243 Der Trend scheint heute eher in Richtung Sportlichkeit, Fitness, Jugendlichkeit, Gesundheit zu gehen: Statt auf Zigarre und Cognacschwenker wird auf hochwertige Pulsmesser, Joggingschuhe und Hightech-Uhren mit eigenem GPS-Empfang zur individuellen Auswertung der Laufroute gesetzt. So wie überhaupt die Uhr, zusammen mit Füllfederhalter, Brille, Schmuck oder auch Aftershave und Parfüm eine sehr individuelle Ausdrucksmöglichkeit und Raum für eine „eigene Note“ bietet (Neuberger (2006), S. 261). Neben der visuellen und taktilen klingt hier auch die olfaktorische Dimension der Sinnlichkeit an, auf die Einfluss genommen und über die Einfluss ausgeübt werden kann. Auch Kleidung stellt seit jeher ein ganz entscheidendes Ausdrucks- und Machtmittel dar und liefert je nach Farbe, Form, Schnitt, Material und nicht zuletzt durch den Preis eine Reihe von Möglichkeiten der symbolischen Darstellung und Distinktion. Der Anzug vom italienischen Designer ist ein Statement, das auch dazu dient sich abzuheben.244 Ein Statement, das gleichzeitig Rückwirkung auf die eigene Ausstrahlung zeitigt. Das sprichwörtliche „Kleider machen Leute“, von dem man immerhin lernen kann, dass es sich hierbei nicht um eine wirklich neue Erkenntnis handelt, wird im obligatorischen „Business English“, das selbst unverkennbar eine ästhetische Komponente besitzt, zum „dress for success“ (Neuberger (2006), S. 261).245 Ortmann et al. (1990) arbeiten die Bedeutung der Kleidung, des Auftretens und Stils im Zuge einer empirischen Fallstudie sehr anschaulich am Beispiel der Leiterin einer Gehaltsabrechnungsabteilung und
System basiert auf einem kleinen Gerät, das einem Taschenrechner ähnelt und automatisch Einmal-Kennwörter erstellt, die nur innerhalb einer gewissen Zeitspanne genutzt werden können. 243 Man denke an Politiker wie Ludwig Erhard oder Gerhard Schröder oder auch an Jürgen Schrempp, der sich im Chrysler-Building angeblich sofort ein Raucherzimmer mit eigenem Abzug einrichten ließ (vgl. Schneider (2005)). 244 Veblen (1981, S. 129) hat gezeigt, dass dieses Statement durchaus vielschichtig sein kann: Kleidung kann als „Beweis der Zahlungsfähigkeit“ angesehen werden, es kann mittels einer „demonstrativen Verschwendung“ als Beleg dafür dienen, dass man es sich leisten kann, „frei und unwirtschaftlich zu konsumieren“. Kleidung kann aber auch dazu dienen, anzuzeigen, dass man es nicht nötig hat, produktiv zu arbeiten. Zu Veblens Zeit wurde dies durch eine elegante Garderobe („Lackschuhe, blütenweißes Leinen, ein glänzender Zylinder“ (S. 130)) zum Ausdruck gebracht. Heute kann, wie am Beispiel von Bill Gates zu sehen, eine legere Bekleidungsform u. U. die gleiche Funktion erfüllen und zeigen, dass man keinen direkten Kontakt zu „Kunden“ hat. Oder, dass man es auf Grund seiner Machtposition nicht nötig hat, seine Garderobe herkömmlichen dress-codes anzupassen. 245 Plastisches Anschauungsmaterial für diese Phänomene liefern immer wieder öffentlich ausgetragende Tarifverhandlungen, bei denen nicht nur Menschen mit unterschiedlichen Herkünften, Lebensläufen und Positionen aufeinandertreffen, sondern immer auch verschiedene „dress-codes“.
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ihrer Mitarbeiter heraus. Diese spielen allmonatlich das Spiel „Solide Entgeltabrechnung“, das nicht nur Anerkennung der Vorgesetzten und die damit einhergehenden Verbesserungen von Gehalt und Karrierechancen verspricht. „Sondern es erlaubt auch: stolze Abgrenzung gegen andere Abteilungen, in denen es auf Pünktlichkeit und Korrektheit weniger ankommt, und sei es nur vermeintlich; (. . .) die Definition ,guter‘ und ,schlechter‘ Kollegen, die sich bis in ihren Arbeitsstil, ihre Kleidung und ihre Umgangsformen erstreckt. Und es etabliert strukturell verfestigte Handlungsorientierungen, Standards und Normen (. . .): Pünktlichkeit, Korrektheit, Solidität, Fachkompetenz auch in Details, Aversion gegen kleine und kleinste Fehler“ (ebd., S. 464; H.v. m.).
Dementsprechend differieren Kleidung, Aussehen und Verhalten der Mitarbeiter unterschiedlicher Abteilungen deutlich (vgl. S. 208). Diese Liste konkreter gegenständlicher Beispiele für den Zusammenhang von Macht und Ästhetik ließe sich nahezu beliebig fortsetzen. Dies soll hier aber nicht weiter geschehen. Wichtig ist, dass Gegenstände auch aus mikropolitischer Sicht als Statussymbole und Prestigeobjekte gelten können.246 Alle diese Gegenstände werden einerseits als Ausdruck von Macht verstanden und auch dementsprechend zur Darstellung und Distinktion verwendet und wirken andererseits als enorm legitimierendes Machtmittel auf Beziehungen zurück. Diese Zusammenhänge hat insbesondere Bourdieu herausgearbeitet: „Die Kultur ist hierarchisch organisiert und sie trägt zur Unter- und Überordnung von Menschen bei, wie etwa ein Möbel- oder ein Kleidungsstück, an denen man sofort erkennen kann, auf welcher Sprosse der sozialen und kulturellen Hierarchie sein Besitzer steht. (. . .) Der Umstand, daß kulturelle Erscheinungen immer auch als sinnlich faßbare Äußerungen von Personen in Erscheinung treten, erweckt den Eindruck, als sei Kultur die natürlichste und die persönlichste und damit also die legitimste Form des Eigentums.“ (Bourdieu (1992a), S. 27; H.v. m.)
Dies entspricht der oben bei der Architektur gestellten Diagnose: Wiederum kommt es durch den Besitz und den Einsatz ästhetischer Gegenstände zu einer Form automatischer Autorität, zu einer Macht, die als quasi-natürlich legitimiert erscheint. Bourdieu und auch die Mikropolitiktheorie würden diese Legitimation selbstverständlich nicht im eigentlichen Sinn als „natürlich“ ansehen, sondern als Ergebnis eines sozialen Kampf- und Aushandlungsprozesses.247 Mit Neuberger (2006) sind alle bis hierher skizzierten Gegenstände, er spricht wie gesagt auch von „Artefakten“ und „Objektivationen“, interpretierbar als „rückwirkende (Ent-) Äußerungen, die mikropolitisches Potenzial haben, weil sie als argumentativ scheinbar unzugängliche Barrieren, Widerstände und Bahnungen wirken.“ (S. 262; H.v. m.) Akteure, die um diese Eigenschaften wissen oder sie zumindest intuitiv erfassen, können in strategischer Weise Gebrauch davon machen und Ge-
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Vgl. Ortmann (2004), S. 70; Bosetzky (1992), S. 26. Vgl. z. B. Bourdieu (1999), S. 164; (1992a), S. 26 f., S. 37.
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genstände als ästhetische Machtmittel zum Erreichen ihrer individuellen Ziele einsetzen. Gerade bei der zuletzt angesprochenen Kleidung wird darüber hinaus die ebenfalls im Rahmen der Architektur bereits angeklungene Wechselwirkung mit dem Körper offenbar: Die Wirkung von Kleidung hängt von der Körperhaltung und den Bewegungen des Trägers ab, so wie sie selbst direkten Einfluss auf Haltung und Gebaren entfalten kann. Bevor der körperlichen Dimension der Macht mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird, soll das Augenmerk, gleichermaßen abschließend und überleitend, auf einen besonderen Gegenstand gerichtet werden: das Kunstwerk.248 dd) Kunstwerke als Machtausdruck und Machtmittel Kunstwerke können per se als ästhetische Gegenstände gelten. Und sind somit für eine Thematisierung im Kontext von Ästhetik von gleichsam selbstverständlicher Relevanz. Darüber hinaus bietet gerade Kunst eine Reihe von Distinktionsmöglichkeiten, wie vor allem Bourdieu aufgezeigt hat. Sie stellt sich als „Anwendungsfeld par excellence“ für etwas dar, das er als „ästhetische Einstellung“ tituliert und das ein Vermögen kennzeichnet, aus einer gleichermaßen distanzierten wie Distanz signalisierenden Position heraus „nicht allein die (. . .) Werke der legitimen Kunst abzuwägen, (. . .) sondern schlechthin alle Dinge dieser Welt“, kulturelle ebenso wie natürliche (Bourdieu (1999), S. 25). In dieses Vermögen werden ausdrücklich auch bis hierher thematisierte gewöhnliche Gegenstände wie „Kleidung oder Inneneinrichtung“ einbezogen (ebd.). Kunstwerke können nach dieser Theorie in ganz ausgezeichneter Weise „objektive Zeugenschaft von Reichtum wie gutem Geschmack“ geben (ebd., S. 135). Also in der Terminologie Bourdieus gleichermaßen von ökonomischem und kulturellem Kapital (s. u.). Generell ist Kunst, nicht zuletzt durch ihren besonderen „Nimbus“ sowie die „Anmut und Würde“ ihres Gegenstandes, dazu in der Lage, eine außergewöhnliche „Wirkungsmacht“ zu entfalten“ (Ullrich (2005), S. 43 ff. und S. 107). Diese Wirkungsmächtigkeit macht Kunstwerke – in Verbindung mit ihrer Vieldeutigkeit, Komplexität und Indifferenz – besonders brauch- und missbrauchbar zu diversen Zwecken, wie Ullrich (2005) am Beispiel der Rezeptionsgeschichte Uta von Naumburgs belegt.249 Dies gelte insbesondere für Werke der modernen Kunst, bei der laut Ullrich (2004, S. 16 ff.) in besonderem Maße die Kunst als Kunst (weniger als sekundärer Ausdruck von Geld oder Geschmack) zu einem Mittel wird. 248
Im Folgenden geht es v. a. um Werke der bildenden Kunst. Ein Hinweis zum Autor: Ullrich ist kein ausgewiesener Vertreter der Mikropolitiktheorie, sondern ist Philosoph, Kunsthistoriker und Unternehmensberater. In seinen Büchern finden sich allerdings eine ganze Reihe von anregenden und aufschlussreichen Hinweisen und Beispielen, gerade für Überlegungen zu Mikropolitik. 249
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Dies alles ist von hohem Interesse für die Mikropolitik.250 Innerhalb der Mikropolitik wird zwar keine eigenständige Kunsttheorie entwickelt. Und auch die Unterscheidung danach, ob Kunst als Kunst oder als Ausdruck von ökonomischer oder kultureller Potenz ihre Wirkung entfaltet, ist in ihrem Kontext letztlich sekundär. Primär ist dagegen, dass Kunst überhaupt Wirkungen zu entfalten im Stande und somit als Machtmittel einsetzbar ist, und zwar von unterschiedlichen Akteuren zur Erreichung ihrer je individuellen Ziele und Durchsetzung ihrer Interessen. Darum geht es aus mikropolitischer Warte. Insofern trifft die Kritik Luhmanns (1990) an Bourdieu, dass dieser in Die Feinen Unterschiede nicht Kunst als Kunst untersucht habe (vgl. S. 21), durchaus auch die mikropolitische Beschäftigung mit Kunst. Allerdings wird von der Mikropolitik m. E. zumindest ein Beitrag geleistet für das, was Schmücker (2001) als zweite Aufgabe der Kunstphilosophie angeführt hat, nämlich „das Interesse zu erklären, das die ästhetische Kunst findet.“ (S. 31) Im Mittelpunkt steht hierbei weniger das Interesse der Kunstschaffenden als vielmehr das der Rezipienten und Besitzer von Kunstwerken. Spezifische Eigenschaften von Kunst sind aus mikropolitischer Perspektive insofern von Belang, als sie die Möglichkeiten bedingen, Kunst als ein Machtinstrument einzusetzen. Kunst wird somit einerseits ganz bewusst als „Ding unter anderen“ behandelt, wie man in Anspielung auf Adorno (1973, S. 410) sagen könnte; andererseits allerdings durchaus als besonderer Gegenstand mit speziellen Eigenschaften und Funktionen und daraus resultierend: spezifischen Wirkmöglichkeiten.251 Bedeutsam für die Einsetzbarkeit von Kunst als Mittel ist dabei u. a. die Möglichkeit des Eigenschaftstransfers von Kunst (sowohl im Allgemeinen als auch vom konkreten Kunstwerk sowie der Person des Künstlers) auf die Rezipienten und Besitzer der Werke. Der Einsatz von Kunst als Machtmittel i.w. S. kann in verschiedenen organisationalen Situationen relevant werden, wie im Folgenden an zwei Beispielen illustriert werden soll: Das erste Beispiel bezieht sich auf den Fall, dass ein Organisationsmitglied (oder auch ein externer Bewerber) eine bestimmte Machtposition innerhalb der 250 Vgl. zur „Bedeutung der integralen Mikropolitik [!] ästhetischer Urteile für interpersonale Kommunikation und soziales Handeln“ auch Menninghaus (2003), S. 269; H.v. m. 251 Wie dies auch bei Adorno der Fall ist: Gerade durch ihre Eigenschaft der Autonomie ist Kunst in der Lage, eine gewisse gesellschaftliche Funktion zu erfüllen und wird auf Grund ihrer Selbstzweckhaftigkeit als Mittel zu einem wichtigen Zweck einsetzbar; vgl. dazu Recki (1988) sowie Schmücker (2001, S. 8), auf dessen Analyse unterschiedlicher potenzieller Funktionen der Kunst ich mich in diesem Abschnitt an diversen Stellen beziehe. Schmücker trifft im Zuge dieser Analyse die hilfreiche Unterscheidung zwischen internen und externen Funktionen der Kunst: Erstere dienen kunstimmanenten Zwecken, wie z. B. Traditionsbildung, Innovation, Reflexion oder Überlieferung, während letztere in eine Vielzahl von Unterfunktionen den sechs Kategorien der kommunikativen, dispositiven, sozialen, kognitiven, mimetisch-mnetischen sowie der dekorativen Funktionen subordiniert werden (vgl. S. 26 ff.).
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Organisation anstrebt. Dadurch wird ein Vorstellungs- und Kommunikationsprozess zwischen Organisation und Bewerber initiiert, bei dem ein bestimmtes Anforderungsprofil der Stelle abgeglichen wird mit dem Eigenschaftsprofil des Stellenanwärters. Letzterer muss entsprechende Attribute aufzuweisen haben, um für die Machtposition als geeignet zu erscheinen. Diese Eignungseinschätzung ist natürlich in hohem Maße interpretativ und bietet somit Raum für Mikropolitik.252 Die Situation lässt sich mit den im ersten Teil entwickelten Kategorien auch als Anbahnungsprozess organisationaler Machtbeziehungen deuten, mit der diesem Prozess eigenen Dynamik [vgl. Teil 1 B. I. 2. c)]. Dort ist ebenfalls ein Bezug zur „Vorstellungswelt“ der Akteure hergestellt worden, und zwar in einem doppelten Sinn: Es geht sowohl um die Vorstellung, die sich Akteure voneinander machen (in Form der strategischen Informationssuche und Aufklärung) als auch um die Vorstellung, die sie einander geben (durch strategisches Informationsangebot und Überzeugung).253 „Jeder, der im sozialen Kontext wirken will, hat schon in seinem Auftreten zu zeigen, wer er ist. (. . .) Insofern repräsentiert er immer auch das, was er kann. Er stellt sich in seinen Fertigkeiten vor, die man ihm zuschreibt oder die er zu haben glaubt“,
wie Gerhardt (2007) in einem weiter gefassten Kontext formuliert (S. 210; H.v. m.). Dem Bewerber geht es um eine bestmögliche Vorstellung, Selbst-Darstellung und Präsentation und somit um das strategische Signalisieren und Repräsentieren seiner Eignung – Neuberger (2006, S. 256) spricht hier, ebenso wie Ortmann (2004, S. 71), von einem regelrechten „impression management“ – während der Adressat dieser Botschaft um die Intention und den möglicherweise manipulativen Gehalt der Information weiß. Er wird daher nach „sekundären Signalen“ suchen, die zur Authentifizierung des gegebenen strategischen Informationsangebotes dienen können (Neuberger (2006), S. 257). Darunter fallen sämtliche Methoden zur Leistungs- und Eignungsmessung, sei es durch eigene AssessmentCenter oder durch schriftliche Lebensläufe, Referenzen und Urteile von Dritten, z. B. in Form von Gutachten oder Empfehlungsschreiben. Die hier vertretene These lautet nun, dass die eigene Haltung zu und der Umgang mit (moderner) Kunst eine gute Möglichkeit für ein strategisches Informationsangebot, ein „Signaling“ seitens des Bewerbers bietet.254 Dieses Signaling kann als eine kommunikative, oder genauer: expressive Funktion der Kunst in 252 Vgl. Ortmann (2003), S. 107; Lorson (1998), in: Wb. z. Mikropol., Stichwort „Personalbeurteilung“; generell Rastetter (1996) und Baron/Kreps (1999); speziell aus informationstheoretischer Sicht Alewell (1994) und Spreeman (1990). 253 Vgl. zweite und vierte Vorstellungsart nach Gerhardt (2007), S. 251. 254 Detailliert zum „Job market signaling“ z. B. Spence (1973); Alewell (1993), S. 110–118.
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einem bestimmten Sinne gedeutet werden.255 Es geht nicht darum, Gefühle, Empfindungen oder Erlebnisse durch das Erschaffen von Kunstwerken auszudrücken, sondern mittels der eigenen Kunstrezeption etwas über sich selbst und seine Eigenschaften zum Ausdruck zu bringen. Um beim Beispiel des Mitarbeiters zu bleiben: Wer sich durch einen souveränen Umgang mit moderner Kunst auszeichnet, sagt damit etwas über seine Person aus, und wird wahrscheinlich eher als kultiviert, offen, modern, innovativ und flexibel oder auch als intelligent, dynamisch, originell, kreativ usf. eingeschätzt. Und somit auch als kompetent, wenn es darum geht, die Organisation öffentlich angemessen zu repräsentieren, „unkonventionelle Ideen“ zu haben und umzusetzen, „frischen Wind“ in eine Abteilung zu bringen, „eingefahrene Lösungsmuster neu zu überdenken“ etc. Es ist also ein Eigenschaftstransfer vom Künstler über die Kunst zum Rezipienten möglich (Transferfunktion). Dieser Transfer kann bis zu einer empfundenen Angleichung von Rezipient und Kunstwerk reichen – laut Ullrich (2005) ein gängiger Topos der Kunstbetrachtung, der von Novalis angesichts antiker Skulpturen in folgendes Bild gekleidet wurde: „In jenen Statuen (. . .) leuchtet allein ein so tiefer Geist (. . .) und überzieht den sinnvollen Betrachter mit einer Steinrinde, die nach innen zu wachsen scheint.“ (Novalis (1960), S. 101; zit. nach Ullrich (2005), S. 106) Für einen gelingenden Eigenschaftstransfer muss der Kunstbetrachter allerdings einige Voraussetzungen erfüllen: Baumeister spricht beispielsweise – in explizitem Anschluss an Schopenhauer – davon, dass dieser abwarten muss, „bis das Werk sich einem mitzuteilen beginnt. Die Kräfte, die der Künstler dem Werk gab, offenbaren sich dem Betrachter, der sich aller Spannungen entledigt hat und den Willen beiseite läßt.“ (Baumeister (1960), S. 185; zit. nach Ullrich (2004), S. 77)256 In der gelingenden Rezeption liegt also gleichermaßen ein Anteil von Eigenleistung wie ein Moment eines „Auserwähltseins“. Diese hier nur exemplarisch angeführten erschwerten Zugangsbedingungen zu Kunst können die gelingende Rezeption zu einem validen „sekundären Signal“ und somit zu einem Authentizitätskriterium machen. Darüber hinaus gehen sie einher mit einer erhöhten Legitimität für denjenigen, der sie erfüllt (Legitimationsfunktion). Wem es gelingt die „angeblich spirituelle Kraft“ des Werks aufzunehmen, der erscheint laut Ullrich in „geistiger Komplizenschaft“ dazu. „Und das heißt auch:
255 Schmücker (2001, S. 27 f.) subsumiert unter die kommunikativen Funktionen der Kunst neben expressiven noch appellative und konstative Kunstfunktionen. Diese Unterformen stehen dabei bewusst im Plural, da sie sich selbst wiederum in viele Funktionen untergliedern ließen. Allerdings scheinen sich die expressiven Funktionen bei ihm primär auf verschiedenartige Möglichkeiten des Künstlers zu beziehen, sich durch seine Kunst auszudrücken. In unserem Fall stehen dagegen die Möglichkeiten des Rezipienten oder Besitzers von Kunst im Vordergrund. 256 Erstere besteht darin, sich vom Wollen zu befreien, das quasi-theologische Moment von „Auserwähltsein“ und „Gnade“ ist darin zu sehen, das sich „die Kräfte (. . .) offenbaren“ (ebd.).
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Dessen Macht läßt sich um so besser legitimieren.“ (Ullrich (2004), S. 77; H.v. m.) Für eine Reihe von modernen Jobs lässt sich diese „Komplizenschaft“ übrigens weder eindeutig auf eine geistige Dimension beschränken noch auf eine Komplizenschaft mit der Kunst als solcher. Vermehrt kann der Künstler selbst und mit seinem gesamten realen Lebensstil als paradigmatisch gelten für die Ausgestaltung neuer Arbeitsverhältnisse, die nicht mehr am Normalarbeitsvertrag orientiert sind. Dabei ist ein Transfer von Vorstellungen und Anforderungen bezüglich Flexibilität, Kreativität und Mobilität der Mitarbeiter und Bewerber zu verzeichnen, der sich ausgehend von Künstlern zu Berufstätigen in nichtkünstlerischen Branchen vollzieht. Dies weisen D. Eikhof und A. Haunschild in mehreren viel rezipierten Studien nach, in der die Arbeitswelt von Künstlern am Beispiel von Theaterschauspielern als paradigmatisch für die momentane und zukünftige Entwicklung neuer Beschäftigungsformen interpretiert und kritisch diskutiert wird.257 Das, was heute für Schauspieler den „normalen“ Arbeitsalltag kennzeichnet (unregelmäßige Arbeitszeiten, kurzfristige und -zeitige Engagements, hohe Mobilitätsanforderungen, hohe (Rollen-)Flexibilität, hohe Eigeninitiative und Selbstdisziplinierung, häufig geringfügige Bezahlung, hohe Unsicherheit, z. B. die Altersversorgung betreffend usf.), findet mehr und mehr Einzug in die Arbeitswelt von Nichtkünstlern. Diese Prozesse gehen Hand in Hand mit einer Veränderung der Selbstwahrnehmung und -beschreibung. Es bilden sich Identifikationsmöglichkeiten mit Gruppen („Wir Schauspieler“, „Fahrradkuriere“, „Unternehmensberater“). Das o. a. „Signaling“ der eigenen Eigenschaften mittels Ästhetik und Kunst kann man somit auch in den weiter gefassten Kontext einer Identitätsbildungsfunktion stellen: Dabei geht es um eine individuelle Selbstwahrnehmung, die aber im Prozess mit anderen entsteht und den anderen wiederum auch dargestellt und entsprechend präsentiert werden muss.258 Das Bild, das ich selbst von mir habe, kann nun durch den Umgang und die Identifikation mit Kunstwerken und Künstlern geprägt sein und anderen präsentiert werden.259 Gleichzeitig ist es immer auch
257 Vgl. u. a. Haunschild/Eikhof (2002); darüber hinaus (2004) u. (2006) sowie Haunschild (2004). 258 Mit Nietzsche, und im Anschluss an ihn mit Weber und Bourdieu, könnte man bei dieser Selbstdarstellung auch von einer Stilisierung des eigenen Lebens sprechen (vgl. Bourdieu (1999), S. 103, S. 283). Zur Verbindung des Lebensstils zum Stil des Künstlers s. auch Bourdieu (1992a), S. 33. 259 Vgl. zu der gesellschaftlichen Funktion der Selbstdarstellung auch Kant: „Alle Darstellung seiner eigenen Person oder seiner Kunst mit Geschmack setzt einen gesellschaftlichen Zustand (sich mitzutheilen) voraus“; dabei geht es immer auch um einen gewissen Wetteifer und um die Bestrebung, „sich vorteilhaft zu zeigen.“ (Anthropol., AA 7, S. 240; H.v. m.)
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ein (Selbst-)Bild, das die anderen von einem zeichnen (vgl. Neuberger (2006), S. 257). Neigungen zu einer bestimmten Kunst sowie Neuentdeckungen und -bewertungen reproduzieren laut Bourdieu (1999) „Entwicklungslinien der persönlichen Biographie“ (S. 387), die aus mikropolitischer Sicht machtbasiert sind: Denn „(j)ede Präsentation eines Identitätsentwurfs und jede persönliche Anerkennung erfolgt in bezug auf die Verteilung organisationaler Ungewißheitsquellen und ihre Nutzung als Machtquellen.“ (Felsch (1999), S. 164) Die Identitätsbildungsfunktion der Kunst beschränkt sich laut Schmücker (2001, S. 29) dabei nicht auf die kognitiv-vergegenwärtigende Selbstverständigung von Individuen, sondern umfasst auch die Konstitution sozialer Identitäten, für die kollektive Erinnerungs- und Mythisierungsprozesse seiner Meinung nach eine entscheidende Rolle spielen. Dem individuellen „Signaling“ steht somit als zweites Beispiel (sozusagen auf der Angebotsseite, um im Beispiel des Stellenmarktes zu bleiben) die Darstellung der Organisation als ganzer gegenüber, die nicht nur auf den Absatzmarkt gerichtet ist, sondern ebenso der Stellenbesetzung durch die Anwerbung geeigneten Personals dient.260 Worum es in unserem Kontext vielmehr geht, ist, dass Kunst als ein Mittel eingesetzt werden kann, um ein Image und eine organisationale Identität zu erzeugen – und somit als ein Machtmittel. Die Möglichkeiten, die Kunst dazu bietet, reichen von einem herkömmlichen Kunstsponsoring durch Organisationen bis zum Erwerb einer eigenen Kunstsammlung (vgl. z. B. Colbert (1999), S. 181 ff.). Eine Reihe von Unternehmen, vor allem aus dem DAX 30 bis 100, beschäftigen mittlerweile eigene „Art-Consultants“ wie H. Achenbach, G. Gerken oder S. Shaw (vgl. Hees (2002)). Deren Ziel ist es, die Potenziale der Kunst für Wirtschaftsunternehmen nutzbar zu machen, z. B. in Form von Workshops für Manager.261 Einen wichtigen Teil des Art Consulting nimmt darüber hinaus das „Culture Building“ ein, bei der Kunst als Image fördernder Faktor und zur Bildung einer Identität innerhalb des Unterneh260 Dabei wird herkömmlicherweise das Coporate Image (CIg) als Fremdbild einer Organisation von Corporate Identity (CI) als deren Selbstverständnis unterschieden, wobei sich die CI als strategisches Management-Tool aus einer Vielzahl weiterer Komponenten zusammensetzt, die auch die Firmengeschichte, die grundsätzliche Ausrichtung des Unternehmens, seine „Corporate Philosophy“ sowie die konkrete „Corporate Culture“ umfassen, und in deren Zentrum die Bereiche „Corporate Behavior“ (CB), „Corporate Communication“ (CC) sowie ein abgestimmten „Corporate Design“ (CD) stehen (s. Paulmann (o. J.)); kritisch dazu z. B. Hahne (1993)). Diese Unterscheidung soll hier nicht diskutiert werden. Aus den Ausführungen zur Identität sollte jedoch klar geworden sein, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung in den hier untersuchten Theorien immer aufeinander bezogen und gar nicht vollständig voneinander zu trennen sind. 261 So hat beispielsweise Shaw 15 Top-Manager beim High-Tech-Konzern Siemens in einem eintägigen Workshop mit Kunsthistorikern und Künstlern zusammengebracht, um eine „breite Management-Basis“ zu „sensibilisieren für die Rahmenbedingungen von Kreativität und für die Mechanismen, durch die Ideen in ein Objekt umgesetzt werden“ (vgl. Hees (2002)).
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mens eingesetzt werden soll. In diesem Zusammenhang beraten Art-Consultants Unternehmen u. a. hinsichtlich der Möglichkeit, Synergien zwischen Kunst und Architektur bei Neu- und Umbauten zu erzielen (ebd.) sowie im Hinblick auf den Aufbau und die Pflege so genannter „Corporate Collections“ (Ullrich (2004), S. 71).262 Entscheidend ist wiederum, dass mit Kunst Aussagen getroffen und bestimmte Eigenschaften und Werte assoziiert werden können. Dies prädestiniert Kunst als Mittel zur Selbstdarstellung der Organisation: „Früher signalisierten Firmen Seriosität, indem sie sich zumindest in den Vorstandsetagen mit Antiquitäten und Gemälden Alter Meister ausstatteten. Das Portrait des Firmengründers besetzte nicht selten den prominentesten Platz. Unter Beweis zu stellen, daß man auf eine lange Tradition zurückblicken konnte, schien wichtiger zu sein als der Blick nach vorn. Heute dagegen entscheidet man sich für zeitgenössische Kunst. Wie einst die Alten Meister steht auch sie für ganz bestimmte Wertvorstellungen. Sie soll Modernität und Aufgeschlossenheit, Innovationsbewusstsein und Interesse an unkonventionellen Überlegungen signalisieren, Qualitäten also, die heute zur Corporate Identity jedes gut geführten Unternehmens gehören.“ (Achenbach (1995), S. 16 f.; H.v. m.)
Auch auf der organisationalen Ebene vollzieht sich dabei der Eigenschaftstransfer nicht nur vom Kunstwerk zur Organisation, sondern auch vom Künstler selbst: „Tatsächlich sind die Erfolgsfaktoren zeitgenössischer Künstler – Fantasie, Neugierde, Innovationsbewusstsein, Offenheit, Kompromisslosigkeit und die Bereitschaft, an die eigenen Grenzen zu stoßen – auch für Unternehmen, die stark von innovativen Ideen abhängen, unverzichtbar.“ (Hees (2002); H.v. m.)
Diesen „Avantgardegestus“ zu kopieren und am kreativen Nimbus der Kunst und Künstler zu partizipieren, bietet nicht nur nach außen auf den Absatzmärkten oder bei der Anwerbung von geeignetem Personal Vorteile, sondern kann auch eine Wirkung nach innen zeitigen: So kann insbesondere moderne Kunst durch ihre Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit eine Provokations- oder Irritationsfunktion übernehmen: „Kunst ist die geistige Störung der Wirtschaft, die es ihr ermöglicht, aus dem eigenen System herauszuspringen und Neues zu tun. (. . .) Unternehmen brauchen die Kunst, um das Staunen zu lernen.“ (Bolz (1999), S. 132)
„Irritation“ durch Kunst ist daher laut Bolz für Unternehmen ungeheuer wichtig, gerade im Hinblick auf den Entwurf einer „Vision“, die er mit explizitem Bezug auf Nietzsche als „,tiefe(.) geistige Störung‘“ (ebd.) verstanden wissen möchte. 262 Dass diese Beratung nie neutral ist, sondern Art-Consultants selbst als mikropolitische Akteure interpretierbar sind, lässt sich bei Ullrich (2004) nachvollziehen: Die Berater verstünden es, „daß das Kunstengagement der Unternehmen nicht mehr nur als Ausdruck einer persönlichen Vorliebe einzelner Vorstandsmitglieder oder als neoaristokratische Sponsoren-Allüre gesehen, sondern zur grundsätzlichen Methodenfrage hochstilisiert wird.“ (S. 71)
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Eine weitere mögliche Wirkung ist die erhöhte Motivation von bereits im Unternehmen beschäftigten Mitarbeitern durch Kunst (Motivationsfunktion).263 In einer Umgebung zu arbeiten, die auch durch entsprechenden Einsatz von Kunst als ästhetisch wahrgenommen wird, wirkt sich positiv auf das Arbeitsklima, das Gemeinschaftsgefühl, die Zufriedenheit der Mitarbeiter und somit indirekt auch auf deren Leistungsfähigkeit aus: „Unternehmensleitungen streben die Verbesserung von Arbeitsbedingungen, Personalchefs Verbesserungen menschlicher Beziehungen in der Arbeitswelt an. In dieses Koordinatennetz gehört auch die Kunst am Arbeitsplatz. Vielen Arbeitsvorgängen eignet Routine. Die Identität zwischen Umgebung und Mitarbeiter muß darum neu geschaffen werden. Bilder in Büros, Gängen, Konferenzzimmern lösen den Mitarbeiter und den Arbeitsplatz aus der Anonymität heraus, (. . .) schaffen Erholung und Anregung“ (Stüssi (1989), S. 209 f.).
Neben der Motivationsfunktion spielen hier demnach auch therapeutische Momente hinein.264 Zugespitzt könnte man im Hinblick auf die hohen Anforderungen moderner Arbeitsplätze sogar von einer kompensatorischen Funktion sprechen: Man gibt nahezu alles von sich, begibt sich auf den Arbeitsmarkt nicht nur mit seiner „Arbeitskraft, sondern mit Haut und Haaren, mit Herz und Nieren“, wie man mit Benjamin (1963, S. 28) sagen könnte, bekommt dafür aber als Ausgleich einen ausgesprochen „ästhetischen“ Arbeitsplatz geboten. In freier Abwandlung von J. Ritters Kompensationsthese (und in Übertragung auf die Sphäre der organisationalen Arbeitswelt ließe sich feststellen: Das was real entfernt wurde (intrinsische Motivation, Leistungsbereitschaft, Zufriedenheit), soll ästhetisch eingeholt werden (vgl. Ritter (2003), insb. S. 398 ff.).265 An dieser Stelle tritt gleichermaßen die Janusgesichtigkeit der Ästhetik wie ihre Machtrelevanz zutage: Je attraktiver ein Arbeitsplatz ist, desto größer ist einerseits das Potenzial an Identifizierung und somit an Motivation, Leistungsbereitschaft, Zufriedenheit und Konsens (vgl. Ortmann et al. (1990), S. 32); andererseits droht der Arbeitsplatz seine „Inhaber“ gleichsam „mit Haut und Haaren“ zu verschlingen. „Farbgestaltung in Büros und Fabriken, Beleuchtungsexperimente und Hydrokultur“ geraten somit – ebenso wie der Aufbau von Corporate Collections – in Gefahr, als „Versuche einer Humanisierung der Arbeit“ rein äußerlich zu bleiben (ebd., S. 32). Auch nach Ullrich (2004) sollen Leistung und Solidarität mit dem Unternehmen „mit den Mitteln moderner Kunst offenbar nur subtiler – eben humaner“ hergestellt werden: „Anstatt einen offenen Befehlston anzuschlagen, läßt man die Hoheit der Kunst sprechen, als könnte man allein damit Kreativität steigern und Arbeitsprozesse beschleunigen.“ (S. 66) Dies liegt auch daran, wie Ortmann im Anschluss an Martens (1988) feststellt, dass mit 263 264 265
Vgl. dazu auch Ullrich (2004), S. 22. Vgl. Schmücker (2001); s. auch Ullrich (2005), S. 107. Zum Begriff der Kompensation vgl. auch Marquardt (1982), S. 20, Anm. 31.
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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steigender Ästhetik und Attraktivität eines Arbeitsplatzes natürlich auch die Bedrohung durch den Verlust des entsprechenden Arbeitsplatzes und somit aus mikropolitischer Sicht das einsetzbare Drohpotenzial steigt.266 Sämtliche Attraktoren, und insbesondere die Gewöhnung an sie sowie die damit verbundene erhöhte Bindung an den Arbeitsplatz, können folglich indirekt als Machtmittel fungieren. Allerdings kann eine entsprechende Ästhetik „offenbar auch direkt, ohne Umwege über das Bewußtsein einer Drohung, sinnlich vermittelte Machteffekte“ auslösen, die sogar in der Lage ist, einen „offenen Befehlston“ zu ersetzen (Ortmann et al. (1990), S. 32; H.v. m.). Diesen Zusammenhang scheint auch Heinrich (1998) im Auge zu haben, wenn er schreibt: „Die Verwendung und demonstrative Zurschaustellung von Statussymbolen trägt viel zur Qualität der Selbstdarstellung der Organisationsmitglieder bzw. im Außenkontakt auch der Organisation als ganzer bei (,Hoflieferant‘, ,Olympiaausstatter‘), sichert Prestige und hält damit auch die Chancen zu Aufstieg, Machtzuwachs und steigender Prosperität offen. Umgekehrt gibt die Möglichkeit, den einzelnen Mitgliedern Statussymbole zuzubilligen oder auch zu verweigern, der Organisation oder einer Teilgruppe in ihr die Chance, Loyalität und Normtreue zu erzwingen und damit die Basis der eigenen Machtausübung zu stabilisieren.“ (S. 266; H.v. m.)
Alle bisher in diesem Kapitel genannten Gegenstände zählen potenziell zu derartigen Statussymbolen, die je nach Situation von unterschiedlichen Akteuren direkt oder indirekt als ästhetische Machtmittel eingesetzt werden können: So kann Akteur B einen Gegenstand, z. B. seinen großen Dienstwagen, der ein Prestigeobjekt und Statussymbol darstellt, als direktes ästhetisches Machtmittel gegenüber seinen Untergebenen C einsetzen, die keinen eigenen Firmenwagen besitzen. Hierarchien werden mittels dieses Gegenstandes unmittelbar wahrnehmbar und gefestigt. Allerdings stellt der Dienstwagen aus Sicht des B übergeordneten Akteurs A ein indirektes Machtmittel über B dar, mit dessen Verlust gedroht werden kann. Das Ergebnis dieses Abschnittes lautet, dass auch Kunst eindeutig unter derartige Machtmittel zu subsumieren ist.
266 Die wahrgenommene Attraktivität eines Arbeitsplatzes muss sich dabei natürlich nicht auf die Ausstattung mit Kunstwerken beschränken, sondern kann laut Ortmann et al. (1990, S. 31) eine Reihe von „Handlungen und Handlungsgegenständen (Arbeiten, Arbeitsmitteln, -gegenständen, -produkten, Fabrikhallen, Bürogebäuden usf.)“ umfassen. Hierunter fallen ebenso die oben thematisierten Gegenstände wie Firmenwagen, die Ausstattung des Büros etc. als auch weitere administrative und atmosphärische Aspekte und „Incentives“ wie Flüge in der Business Class, Bonusmeilen, freies Tanken, Entgelt- und Absicherungsregelungen („Rundum-Sorglos-Paket“), gute Aufstiegsmöglichkeiten, weitreichende Befugnisse, eine komplett durchgestylte Arbeitsorganisation, ein reibungsloses Ineinandergreifen der Teile zu einem ausbalancierten Ganzen, eine gute Zusammenarbeit eines Teams, eine perfekte PR (vgl. dazu auch Heinrich (1998), S. 265 f.). Andersherum gewendet, ob „buchstäblich oder metaphorisch: Die Arbeit, die einem stinkt, die Anweisung, die einem nicht schmeckt, der Vorgesetzte, den man nicht riechen kann“ (Ortmann et al. (1990), S. 31), können als sprachliche Spuren unserer sinnlich-ästhetischen Beurteilung von Arbeitsplätzen angesehen werden.
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ee) Zwischenfazit Als Zwischenfazit lässt sich daher festhalten: Kunst ist von hoher mikropolitischer Relevanz und nimmt m. E. eine besondere Stellung innerhalb der Thematik von Macht und Ästhetik ein, denn Kunst stellt, neutral formuliert, ein effektives und vielseitig einsetzbares ästhetisches Machtmittel im organisationalen Kontext dar.267 Als entscheidender Grund dafür wurde in den bisherigen Ausführungen angeführt, dass Kunst eine Reihe verschiedenster Funktionen erfüllen kann, die sich nicht in einer rein dekorativen Schmuckfunktion erschöpfen. Ein Kunstwerk macht es möglich, Macht auszudrücken „ohne Gefahr zu laufen, unangemessenen Imponiergehabes bezichtigt zu werden.“ (Ullrich (2004), S. 48) Im Gegenteil: Kunst ist in der Lage eine Aura der Kultiviertheit zu erzeugen. Kunst kann auf individueller wie auf organisationaler Ebene dazu dienen, auch nonverbal etwas anzuzeigen und eine Aussage zu treffen (expressive Funktion bzw. Signalfunktion), und sei es nur die Aussage, keine klare Aussage treffen zu wollen: „Selbst wenn sie in Form oder Farbe grell und provokant auftritt, exponiert sie nichts und niemanden. Wer sich vor sie stellt, braucht sich auf keine Aussage festzulegen, sondern profitiert davon, daß Kunst, zumal wenn sie abstrakt ist oder ihre Sujets einem prägnanten Stil unterwirft, Kreativität, Vitalität oder Aufbruch ,an sich‘ verheißt“ (Ullrich (2004), S. 32).
Gerade ihre immanente Eigenschaft der Vieldeutigkeit und Polyvalenz kann Kunst zu einem sehr universal einsetzbaren Mittel werden lassen. Kunst kann, wie weiterhin zu sehen war, darüber hinaus der Bildung einer (personalen oder organisationalen) Identität sowie deren Darstellung nach innen und außen dienen (Identitätsbildungsfunktion, Image bildende Funktion). Eine wichtige Bedeutung hat in diesem Kontext die Möglichkeit des Eigenschaftstransfers von der Kunst (vom Kunstwerk bzw. vom Künstler) auf den Rezipienten (bzw. Besitzer) von Kunstwerken (Transferfunktion). Die Identifikationsmöglichkeit mit der Organisation kann motivieren oder sogar therapeutische und kompensatorische Bedürfnisse der Mitarbeiter befriedigen (Motivationsfunktion, Therapiefunktion , Kompensationsfunktion). Dies geschieht nicht zuletzt über das Angebot eines ästhetisch ansprechenden Arbeitsplatzes, der immer auch als Status vermehrend angesehen werden kann (Status indizierende Funktion). Allerdings ist durch den möglichen Verlust eines derartigen Arbeitsplatzes und das damit verbundene Drohpotenzial auch die Kehrseite des Einsatzes von Kunst 267 Das Deutsche Historische Museum widmete dem Zusammenhang von Kunst und Macht im Jahr 2010 eine eigene Ausstellung mit dem Titel „MACHT ZEIGEN. Kunst als Herrschaftsstrategie“. Auch Kaden (2004) sieht Kunst und vor allem Musik als „Kodierungsformen der Herrschaft – und Mittel seelischer Konditionierungen“ (S. 121) an und diagnostiziert insgesamt eine große Nähe zwischen Musik und Macht (vgl. S. 111 ff.).
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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in Organisationen angedeutet worden. Diese Kehrseite ist generell für die dargelegten Funktionen (sowie wahrscheinlich für alle denkbaren Machtmittel) auszumachen: Diese Sicht auf Macht ist in der Mikropolitik durchaus sehr präsent und zeigt m. E. das kritische Potenzial, das diese Theorie besitzt, ohne jedoch den Charakter des Phänomens misszuverstehen und Macht vorschnell und einseitig abzulehnen. Dass der Einsatz von Kunst als Machtmittel tatsächlich nicht zu verharmlosen ist, wird auch an folgendem beiläufigen Zitat einer Beraterin der Achenbach-Niederlassung in München deutlich: „Nach dem eigentlichen Abschluss eines Projektes führen wir meist noch Informationsveranstaltungen für die Mitarbeiter des Unternehmens durch, um ihnen die neuen Kunstwerke zu erklären. Dies ist oft allein schon zum Schutz der Kunstwerke vor mutwilliger Beschädigung nötig“ (Hees (2002)).
Der Hinweis auf die Möglichkeit mutwilliger Beschädigungen zeigt, dass Mitarbeiter bewusst oder unbewusst durchaus auch die exkludierenden Effekte von Kunst wahrnehmen. Erstens bestätigt sich somit die mikropolitische Erkenntnis, dass mit einem latenten Widerstand gegen Veränderung grundsätzlich zumindest zu rechnen ist (vgl. Kap. II.8). Damit die Kunstinvestition nicht nur beim Vorstand, sondern Hierarchie übergreifend zur Ausbildung eines entsprechenden Identitätsbewusstseins führt und die angesprochenen positiven Effekte für die Organisation zeitigen kann, müssen meist noch weitere begleitende Consulting-Maßnahmen eingeplant werden. Vor allem, um Hemmschwellen der Mitarbeiter abzubauen und Zugangsbarrieren zu reduzieren. Zweitens wird aus mikropolitischer Perspektive dieser Widerstand theoretisch nachvollziehbar: Menschen wollen sich in ihrer Identitätsbildung ungern beeinflussen lassen und empfinden eine Einflussnahme „von außen“, und sei es auch durch „schöne Bilder“, leicht als Manipulation. Der Einsatz von Kunst ist aus mikropolitischer Sicht also alles andere als harmlos, sondern kann mit Ullrich (2004) als eine nicht zu unterschätzende „Waffe im Arsenal der Wehr- und Einschüchterungstechniken“ aufgefasst werden (S. 41). Kunst kann dazu dienen, Machtasymmetrien herzustellen. Sowie dazu, die Distanz in den Rangunterschieden zu vergrößern und Hierarchien zu festigen, z. B., indem nur höhergestellte Mitarbeiter in die Geheimnisse moderner Kunst eingeweiht werden: „Was sich bei ihnen eventuell an Schwellenangst und Unsicherheit abbaut, verstärkt sich bei den anderen um so mehr; sie empfinden sich ausgeschlossen und kunstunwürdig.“ (Ullrich (2004), S. 65)
Kunst besitzt damit, sozusagen als Kehrseite einer gelungenen Identitätsbildung und einer adäquaten Darstellung der eigenen Position, eine ausgesprochene Distinktionsfunktion (vgl. auch Schmücker (2001, S. 30), die nicht zuletzt auch die oben angesprochene Legitimationsfunktion in einem anderen Licht erscheinen lässt.
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
ff) Exkurs Bourdieu Mit einer etwas detaillierteren Erörterung dieses Punktes soll der Unterabschnitt über Kunstwerke als besondere Klasse der Gegenstände seinen Abschluss finden und mündet in einer Überleitung zur körperlichen Dimension von Macht und Ästhetik. Dafür scheint ein Rekurs auf einige ausgewählte Aspekte der Kultursoziologie von P. Bourdieu von herausragendem Nutzen zu sein, der sich insbesondere in „Die Feinen Unterschiede“ intensiv mit den distinktiven Momenten von Kunst und Kultur sowie mit deren habitueller Inkorporierung beschäftigt hat. Und dies aus zwei Motiven: Erstens ermöglicht dieser Rekurs, eine Reihe von theoretischen Verbindungslinien aufzuzeigen, sowohl zur Mikropolitik, deren Autoren sich teilweise explizit auf Bourdieu beziehen, als im weiteren Verlauf auch zu Nietzsche, dem ein gewisser Einfluss auf Bourdieu nicht abzusprechen ist.268 Zweitens kann aus meiner Sicht die kritische Beschäftigung mit Bourdieu darüber hinaus besonders für die mikropolitische Forschung von Nutzen sein, wie Ortmann bereits an mehreren Stellen bewiesen hat, u. a. weil Bourdieu eine elaborierte Theorie zu dem Themenfeld leistet. Daher an dieser Stelle in aller Kürze einige Ausführungen: (a) Kunst als Distinktions- und Legitimationsmittel Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist, dass Kunstwerke wie erläutert dazu dienen können, Signale über sich selbst auszusenden und den eigenen Status anzuzeigen. Und somit auch dazu, sich hervorzuheben, abzugrenzen und zu distanzieren von anderen. Eine entscheidende Rolle spielt hierbei der Zugang zu Kunst, der in seiner vollen Tiefe immer nur einigen „Auserwählten“ zuzukommen scheint. Benjamin (1963) merkt dazu beispielsweise an: „Das Gemälde hatte stets ausgezeichneten Anspruch auf die Betrachtung durch Einen oder durch Wenige. Die simultane Betrachtung von Gemälden durch ein großes Publikum, wie sie im neunzehnten Jahrhundert aufkommt, ist ein frühes Symptom der Krise der Malerei. (. . .) In den Kirchen und Klöstern des Mittelalters und an den Fürstenhöfen bis gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts fand die Kollektivrezeption von Gemälden nicht simultan, sondern vielfach gestuft und hierarchisch vermittelt statt.“ (Benjamin (1963), S. 33; H.v. m.)
Allein durch den Zugang i. e. S., also die faktische Möglichkeit der Rezeption, werden demnach Unterschiede hergestellt und festgeschrieben. Zusätzlich gibt es 268 Vgl. z. B. allein die expliziten Bezugnahmen auf Nietzsche in Bourdieu (1999), S. 288, 392 f., 648. Das Argument ist dennoch nicht primär als genetisches gemeint: Meine These lautet nicht, dass Nietzsche Bourdieu, und dieser wiederum die Mikropolitik beeinflusst habe. Es geht mir vielmehr darum, spezifische theoretische Anknüpfungspunkte darzustellen mit der Zielsetzung, Ähnlichkeiten und Unterschiede im Hinblick auf die ästhetische Dimension von Macht bei Nietzsche und der Mikropolitik präziser fassen zu können.
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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weitere Barrieren in Form eines Vorwissens, das nötig ist, um Kunst in ihrer ganzen Tiefe überhaupt verstehen und genießen zu können, mit Panofsky gesprochen: zu ihrer „sekundären Sinnschicht“ vorzudringen. Diese sekundäre unterscheidet sich von einer „primären Sinnschicht“, in die wir „aufgrund unserer vitalen Daseinserfahrung eindringen können“, dadurch, dass sie „sich erst aufgrund eines literarisch übermittelten Wissens erschließt“ (Panofsky (1932); zit. nach Bourdieu (1983), S. 127 f.). Erst durch eine entsprechende Bildung kann demnach zu einem Zugang zu Kunst in einem weiteren Sinne gelangt werden. Langer (1968) weist auf den Unterschied hin, indem auch sie betont, dass den Massen früher der Zugang zur Kunst verwehrt gewesen sei: „Man konnte davon ausgehen, daß die Armen, der ,Vulgäre‘, sich gleichermaßen daran ergötzen würden, wäre ihnen nur erst die Möglichkeit zu solchem Genuß gegeben. Heute jedoch, wo jeder lesen, Museen besuchen, ernste Musik zumindest im Radio hören kann, ist das Urteil der Massen darüber zu einer Realität geworden – aber auch sinnfällig, daß große Kunst kein unmittelbar sinnliches Vergnügen ist (. . .). Andernfalls müßte sie, wie Kuchen oder ein Cocktail, dem ungebildeten wie dem kultivierten Geschmack schmeicheln.“ (S. 183; zit. nach Bourdieu (1999), S. 62)
Der Zugang in diesem zweiten Sinne setzt also bereits eine Kultiviertheit des Geschmacks voraus. Der Konsum von Kunst erscheint Bourdieu (1999) als „Moment innerhalb eines Kommunikationsprozesses, als ein Akt der Dechiffrierung oder Decodierung“ (S. 19). Bourdieu vertritt hier ausdrücklich eine „intellektualistische“ Theorie der Kunstwahrnehmung: Kunstgenuss ist kein Spontanerlebnis; auch der Akt der affektiven Verschmelzung, die „Einfühlung“, die oben als Voraussetzung für einen Eigenschaftstransfer von Kunst zum Betrachter ausgemacht worden ist, setzt die implizite oder explizite Beherrschung bestimmter kultureller Codes voraus (vgl. Bourdieu (1999), S. 20; dazu auch Fröhlich (1994), S. 45) Die Beherrschung dieser Codes, die eine „Kultur“ und „Bildung“ signalisieren, fungiert als „eine Art kulturelles Kapital“, das ungleich verteilt ist, allenfalls durch großen Zeitaufwand nachträglich zu erwerben ist und somit automatisch distinguierend wirkt (Bourdieu (1999), S. 20, Anm. 3).269 Wirkliches 269 „(D)as ,kleine Gemälde eines französischen Meisters aus dem 18. Jahrhundert‘, das man bei einem Antiquitätenhändler zu entdecken verstanden, oder das ,reizende Möbelstück‘, das man bei einem Trödler aufgetrieben hat: es demonstriert Zeitvergeudung und eine Sachkenntnis, wie sie nur durch langdauernden Umgang mit kultivierten alten Menschen und Dingen zu erwerben ist, durch die Zugehörigkeit also zu einer Gruppe Alteingesessener, welche allein den Besitz all der Eigenschaften und Fähigkeiten gewährleistet, die mit höchstem Distinktionswert ausgestattet sind, weil sie sich nur über große Zeiträume hinweg ansammeln lassen.“ (Bourdieu (1999), S. 439) Zur Bedeutung der Zeit auch ebd., S. 99, 123 u. S. 126; ebenso (1992a), S. 50, 55, 58, 72,79. Zeit i. S. v. vergeudeter Arbeitszeit bildet als Äquivalenzmaß auch die Wertgrundlage der Kapitalarten. Dies ist als Reminiszenz an Marx (vgl. Fröhlich (1994), S. 37), bzw. an die klassische ökonomische Wertlehre von Smith oder Ricardo zu lesen, zeigt gleichzeitig aber auch, wie stark Bourdieu, trotz einiger Abgrenzungsversuche, von Veblens Theorie der feinen Leute, hier v. a. vom Aspekt des demonstrativen Müßiggangs, geprägt ist (vgl. Veblen (1981), S. 41 ff.).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Verständnis, Einfühlungsvermögen und Genuss der Kunst sind an diese Codes gebunden: „Die Negation des niederen, groben, vulgären, wohlfeilen, sklavischen, mit einem Wort: natürlichen Genusses (. . .) beinhaltet zugleich die Affirmation der Überlegenheit derjenigen, die sich sublimierte, raffinierte, interesselose, zweckfreie, distinguierte, dem Profanen auf ewig untersagte Vergnügen zu verschaffen wissen.“ (Bourdieu (1999), S. 27; auch (1992a), S. 59; H.v. m.)
Deshalb eignen sich Kunst und Kunstkonsum als Distinktionspraktiken so glänzend zur Erfüllung der gesellschaftlichen Funktion der „Legitimierung sozialer Unterschiede“ (Bourdieu (1999), S. 27; H.v. m.). Distinktionsfunktion und Legitimierungsfunktion werden noch verstärkt, wenn man nicht bloß den Rezipienten, sondern den (zumindest potenziellen) Besitzer in den Blick nimmt: „Die Beziehung zum Kunstwerk ist tatsächlich insgesamt anders, wenn Bild, Plastik, chinesische Vase oder antikes Möbelstück zum Bereich der Gegenstände gehören, die man kaufen kann. Sie reihen sich dann unter die Luxusgüter ein, an deren Besitz man sich erfreut (. . .), als Dekorationsstück im Büro oder in den Salons derer, mit denen man Umgang pflegt, sozusagen zu den Statussymbolen der Gruppe (. . .), zu der man selber gehört.“ (Bourdieu (1999), S. 426 f.; H.v. m.)
Kunstwerke bekommen damit, wie oben bereits festgestellt, eine über die „Dekorationsfunktion“ hinaus reichende „Status indizierende Funktion“ (Schmücker (2001), S. 30). Das Kunstwerk fällt in den Bereich der Luxusobjekte, „die distinguiert sind und ihrerseits distinguieren, die erlesen sind und ihren Besitzer als erlesen wirken lassen: Schmuck, Pelze, Parfums, Teppiche, Wandteppiche, antike Möbel, Standuhren, Beleuchtungskörper, (. . .) Bücher in Luxusausgaben, Luxuswagen (Volvo, Citroën SM, Mercedes, Rolls usw.), (. . .) Champagner, Bordeaux, Burgunder, Cognac, Kreuzfahrten, Kameras.“ (Bourdieu (1999), S. 427)270
Die Verbindung von materieller und symbolischer Aneignung verleiht dem Besitz von Luxusgegenständen eine Exklusivität „zweiten Grades“ und damit eine besonders hohe „Legitimität“ (Bourdieu (1999), S. 427). Der Besitz von symbolischen Gegenständen wie Kunstwerken wirkt dabei in zwei Richtungen: Zum einen reicht seine Bedeutung weit über die anderer Güter hinaus und „potenziert den auszeichnenden Effekt des Eigentums“ (S. 438). Das liegt daran, dass Kunstwerke „vergegenständlichte Zeugnisse des ,persönlichen Geschmacks‘“ (S. 440 f.) darstellen.271 Zum anderen wird die rein symbolische Aneignung ohne Besitz, 270 Innerhalb dieser in der Volkswirtschaftslehre so genannten Luxus- bzw. VeblenGüter sind Veränderungen zu verzeichnen. Einige der von Bourdieu angeführten Objekte sind heute nicht mehr uneingeschränkt politisch korrekt (wie im Falle des Pelzes), nicht mehr per se Luxusobjekte (wie bei der Kamera) oder gehören (wie z. B. die Wandteppiche) zu den Accessoires, die eher als altmodisch denn als luxuriös gelten. 271 Geschmack wird dabei mit einem Hinweis auf Kant als Unterscheidungs- und Beurteilungsvermögen definiert (vgl. z. B. Anthropol., AA 7, S. 239) bzw. als Vermögen, kraft Distinktion Unterschiede herzustellen oder zu bezeichnen (vgl. Bourdieu (1999), S. 727).
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wie das bei Menschen mit hohem kulturellen aber geringen ökonomischen Kapital der Fall ist, depotenziert und entwertet „zum symbolischen Ersatz“ (S. 438). Zusammengefasst kann man sagen: Kunstwerke können nach Bourdieu gleichermaßen eine objektivierte Zeugenschaft von Reichtum und gutem Geschmack geben (vgl. S. 135). Der materielle und symbolische Konsum von Kunst stellt eine der „höchsten Manifestationen jener inneren wie äußeren ,Leichtigkeit‘ (aisance) dar, die in Ungezwungenheit und Wohlhabenheit sich gleichermaßen bekundet.“ (S. 103) Kunst ist somit in der Lage, sehr hohe Distinktions- und Legitimationsgewinne für ihre Rezipienten und Besitzer abzuwerfen. Eine hervorgehobene Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Geschmack als Distinktionsmittel: „Geschmack klassifiziert – nicht zuletzt den, der die Klassifikation vornimmt.“ (S. 25) Dies ist auch nach mikropolitischer Lesart so, wie die obigen Ausführungen gezeigt haben sollten. So kann z. B. die oben dargelegte individuelle Signalfunktion der Kunst als Reaktion auf geschmackliche Klassifikationsmechanismen gedeutet werden. Man beweist einen guten (d. h. anerkannten) Geschmack, und erweist sich somit als bewandert in einer gewissen gesellschaftlichen Schicht sowie geeignet für bestimmte gesellschaftliche und organisationale Positionen und Aufgaben. Schmücker (2001) versucht diesem Aspekt dadurch gerecht zu werden, dass er die reine „Status indizierende Funktion“ von der besonderen „Distinktionsfunktion“ der Kunst unterscheidet, die sie durch ihre enge Verbindung zum Geschmack erlangt, und die sie von sonstigen gesellschaftlichen Distinktionsmedien wie Geld, Wissen und politischer Macht abhebt (S. 30). Der eigene (bzw. positionsgemäße) Geschmack lässt sich anhand von (moderner) Kunst besonders gut darstellen, findet sich aber, wie gezeigt, auch in einer ganzen Reihe anderer Gegenstände, wie der Designer-Büroeinrichtung, den maßgeschneiderten Anzügen, ränderlosen Brillen etc. wieder. Dabei kann nur bedingt von einem individuellen Geschmack gesprochen werden, sondern häufig wird der jeweiligen Stellung implizit eine bestimmte Ästhetik zugewiesen und ein gewisser geschmacklicher Rahmen verordnet. Es gibt also durchaus einen Zusammenhang zwischen der Machtposition und dem jeweiligen Geschmack.272 (b) Der Habitus als Organisationsprinzip Ohne hier auf Details eingehen zu können, kann doch festgestellt werden, dass dies vom Ansatz her der Konzeption Bourdieus entspricht, die eine detaillierte, aber auch sehr strikte Deutung liefert, wie der Zusammenhang von sozialer Stellung und Geschmack im Einzelnen aufgeschlüsselt und verstanden werden könnte. Nach Bourdieu ist der Geschmack sehr stark abhängig von der Position 272
Vgl. Neuberger (2006), S. 261; Heinrich (1998), S. 265.
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im sozialen Feld, er bezeichnet ihn sogar als „inkorporiertes gesellschaftliches Verhältnis“ (Bourdieu (1999), S. 783) und „Körper gewordene Klasse“ (S. 307; H.v. m.). Genauer gesagt, geht Bourdieu von einer strukturellen Homologie von (objektiv klassifizierbaren) Lebensbedingungen und (praktischem) Lebensstil aus, die über das Konzept des Habitus gekoppelt sind. Zu diesem Habitus findet sich bei Bourdieu eine ganze Reihe von Bezeichnungen und Definitionen.273 Wichtig ist für uns, dass der Habitus sowohl klassifizierbare Praktiken und Werke und somit Distinktionsmerkmale erzeugt als auch (eigene und fremde) klassifizierbare Handlungen und Gegenstände wahrnimmt und bewertet und dadurch klassifiziert. Der Habitus beinhaltet also u. a. ein System von Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, auf dessen Grundlage Geschmacksurteile gefällt werden. Der Geschmack als „System von Klassifikationsschemata“ bildet den „praktischen Operator für die Umwandlung der Dinge in distinkte und distinktive Zeichen“ also von einer „physischen“ auf eine „symbolische“ Ebene (Bourdieu (1999), S. 284; auch S. 752 ff.). Diese Operationen selbst sind den Akteuren meist nur höchst bruchstückhaft bewusst (vgl. S. 283). Außerdem ist der Habitus ein einheitsstiftendes „Erzeugungsprinzip aller Formen von Praxis“ (ebd.) bzw. – für unseren Kontext besonders interessant – ein Organisationsprinzip, das diese Einheit herstellt und gewährleistet (ders. (1983), S. 126). Die möglichen (eigenen und fremden) Praktiken, Werke und Gegenstände, die der Habitus hervorbringt, und auf die sich die klassifizierenden Urteile beziehen, umfassen alle bisher thematisierten Gegenstände, von der Inneneinrichtung, den Möbeln, den Alltagsgegenständen, über Kunst, Kleidung bis hin zu der Art und Weise wie jemand spricht, geht, tanzt, worüber er lacht, was er liest usw. (vgl. Bourdieu (1999); (1992a), S. 27, 32). Das macht das HabitusKonzept relevant für die Überlegungen in diesem Kapitel. Die Ausgangsthese war nun, dass diese Erzeugungs- und Klassifizierungsschemata zwar subjektiv verinnerlicht, aber nicht individuell sind, sondern allen Mitgliedern einer Gruppe oder Klasse gemein (vgl. z. B. Bourdieu (1979), S. 187 f.; (2000), S. 25 f.). Bourdieu geht demnach von einer starken gesellschaftlichen Prägung aus: Der persönliche Habitus eines Akteurs wirkt bei ihm einerseits als Disposition bzw. Neigung274 zu einer bestimmten Praxis und Wahrnehmung, ist 273 Der lateinische Begriff „Habitus“, bzw. gr. „Hexis“, kann allgemein mit (erworbener) Haltung, Gehabe, Gewöhnung oder auch Auftreten übersetzt werde (ausführlich Funke (1974), Art. „Hexis“ in: HWPh, Bd. 3, S. 1120 ff.; auch Gerhardt (2000b), S. 143). Bourdieu greift diesen Begriff auf, belässt ihn jedoch nicht in dieser engen Bedeutung, sondern reichert ihn im Rückgriff auf Durkheim, Weber, Humboldt, Panofsky, Chomsky u. a. an. „Habitus“ wird u. a. definiert als ein charakteristisches Dispositionssystem der jeweiligen Klasse (Bourdieu (1999), S. 25), als „System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen“ (1987b, S. 98) zu praktischem Handeln (vgl. 1992b, S. 100), als „sinnvolle Praxis und sinnstiftende Wahrnehmung hervorbringende Disposition“ (1999, S. 278) bzw. als „kohärentes System von Handlungsschemata“ (ebd., S. 101).
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andererseits aber selbst geprägt durch die Ausstattung mit (ökonomischem, sozialem und kulturellem) Kapital: „Der Habitus ist nicht nur strukturierende, die Praxis wie deren Wahrnehmung organisierende Struktur, sondern auch strukturierte Struktur“ (Bourdieu (1999), S. 279; H.v. m.). Das Habitus-Konzept dient somit der „Vermittlung zwischen Struktur und Praxis“ (Bourdieu (1983), S. 125 ff.), stellt eine Verbindung her zwischen der (kapitalabhängigen) Position im sozialen Raum und dem jeweiligen Lebensstil.275 (c) Inkorporierung als Machtphänomen Neben dem Aspekt der Verbindung von Position (sozialer Lage) und Geschmack ist für unseren Kontext ein weiterer bereits angeklungener Aspekt des bourdieuschen Ansatzes von Interesse, nämlich die körperliche Dimension des Geschmacks: Geschmack ist oben mit Bourdieu (1999) als „inkorporiertes“ gesellschaftliches Verhältnis bezeichnet worden (S. 783). Er nennt ihn auch „Natur gewordene, inkorporierte Kultur, Körper gewordene Klasse“ bzw. „Körper gewordene soziale Ordnung“ (ebd., S. 307 bzw. S. 740; H.v. m.). Unter Inkorporierung kann allgemein die Verinnerlichung von Praxis verstanden werden, bzw. die Einverleibung kollektiver generativer Schemata und Dispositionen in die Menschenkörper. Der Vorgang der Inkorporierung bestimmter Erzeugungsschemata von Praxis läuft größtenteils unbewusst ab und bereits in frühesten kindlichen Entwicklungsphasen über das Nachahmen (Mimesis) von Handlungen anderer. Durch das praktische Nachahmen wird die Motorik unmittelbar angesprochen, es entsteht ein Vertrautwerden mit bestimmten Bewegungen und Körperhaltungen. Mit der Inkorporierung bestimmter Handlungsschemata geht unweigerlich eine Verinnerlichung von Raum- und Zeitstrukturen einher: „Zeitpunkt und vor allem Tempo der Praktiken beherrschen heißt, sich in Gestalt des Rhythmus von Gebärden oder Sprache ein ganzes Verhältnis zur Dauer auf den Leib zu schreiben, das als konstitutiv für die Person (. . .) erlebt wird“ (Bourdieu (1987b), S. 141).
Neben der Zeit widmet er sich in seinen Untersuchungen der Strukturierung von Raum, z. B. durch Architektur, was an den ersten Abschnitt dieses Kapitels anschließt: Gesellschaftliche Verhältnisse finden u. a. in Lage, Höhe und Größe 274 Disposition umfasst „das Resultat einer organisierenden Aktion“, eine Art Struktur, sowie eine „Seinsweise, einen habituellen Zustand (besonders des Körpers)“, „eine Prädisposition, eine Tendenz, einen Hang oder eine Neigung“ (Bourdieu (1979), S. 446, Anm. 39). 275 Bourdieu versucht somit, sich in eine intermediäre Position zwischen Struktur und Handlung zu bringen, und strikte Dichotomien zwischen Makro- und Mikrosoziologie (vgl. Miller (1989), S. 193), Individuum und Gesellschaft, Innen und Außen, Subjektivismus und Objektivismus zu überwinden (vgl. Bourdieu (1999), S. 753 f.; auch Fröhlich (1994), S. 33). Dass ihm dies nicht immer gelingt, wird zum Ende des Exkurses deutlich.
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von Räumen und Mobiliar ihren Ausdruck und prägen sich tief in die Körper ein (vgl. Fröhlich (1994), S. 40). Die Form des Häuserbaus lässt bestimmte Körperbewegungen sowie -haltungen entstehen und fungiert somit als Ordnungsprinzip, das allerdings nicht unidirektional zu verstehen ist, sondern als ein rekursives Verhältnis von Körper und Architektur: Die Außenwelt wird „mit dem ganzen Leib in und durch die Bewegungen und Ortsveränderungen gelesen, die den Objektraum sowohl gestalten als auch von ihm gestaltet werden“ (Bourdieu (1979), S. 142; auch (1991)).
Die Prägung durch sowie der souveräne Umgang mit Raum und Zeit spielen eine essenzielle Rolle für den körperlichen Ausdruck von Machtansprüchen: „Die typisch bürgerliche Art der Körperhaltung und Körperbewegung (ist) ebenso an einer gewissen Weiträumigkeit der Gesten und des Schritts zu erkennen, die damit zugleich auf die eingenommene Stelle im Sozialraum verweist, wie besonders am zurückhaltenden, maßvollen und sicheren Tempo, das, in allem dem Gehetze und der Gehetztheit der unteren Klassen sowie der kleinbürgerlichen Geschäftigkeit entgegengesetzt, auch den großbürgerlichen Gebrauch der Sprache kennzeichnet – in ihm bekundet sich die Sicherheit, nicht nur sich selbst Zeit nehmen zu können, sondern auch ermächtigt zu sein, die Zeit der anderen in Anspruch nehmen zu dürfen“ (Bourdieu (1999, S. 347)
– sowie deren Raum (vgl. S. 739).276 Dies drückt sich aus, in einer ganz bestimmten Weise, seinen Körper zu halten und zu bewegen, ihn vorzuzeigen (ebd.), in der Gangart (S. 282) und sozusagen auch im „Gang der Sprache“, in der Sprechweise, sowie in der Ablehnung eines „Sich-gehen-lassens“ (S. 329). Bourdieu hat die im Habitus angelegte unbewusste Anpassung an objektive Verhältnisse sowie den Umgang mit diesen, die den Akteuren helfen, sich in dem jeweiligen Feld ungezwungen und natürlich zu bewegen, auch als praktischen Sinn oder als praktisches Vermögen bezeichnet. Dieses praktische „Wissen“ beinhaltet immer auch das Wissen von der eigenen Position und prägt unter der Hand die „richtige“ Distanz zu gewissen Dingen, Praktiken und anderen Akteuren (Bourdieu (1999), S. 736 und 739). Man könnte dieses Vermögen mit Blick auf die Logik von Spielen auch als Spiel-Sinn titulieren, d. h. die Akteure wissen intuitiv, wie das jeweilige Spiel gespielt wird: Der geübte Spieler „tut in jedem Augenblick das, was zu tun ist, was das Spiel verlangt und erfordert.“ Das lässt sich aber nicht durch das mechanische Befolgen expliziter, kodifizierter Regeln erreichen, sondern erfordert „Schlagfertigkeit“, d. h. raschen Erfindungsgeist, um den „unendlich variablen, niemals ganz gleichen“ Situationen gerecht zu werden. Dabei stellen sich, ganz ähnlich wie bei Crozier und Friedberg, die traditionellen Gegensätze von Spontaneität und Zwang, Freiheit und Notwendigkeit, Individuum und Gesellschaft nicht, denn „nichts ist zugleich freier und zwanghafter als 276 Zur „ostentativen Zurschaustellung angeeigneten Raums“ als Form par excellence der Zurschaustellung von Macht s. Bourdieu (1991), S. 26.
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das Handeln des guten Spielers. Gleichsam natürlich steht er genau dort, wo der Ball hinkommt, so als führt ihn der Ball – dabei führt er den Ball!“ (Vgl. Bourdieu (1992b), S. 83 f.) Um noch einmal den Bogen zum Thema der Kunst zu spannen: Das oben angesprochene notwendige Vorwissen zum Verständnis und Genuss der Kunst liegt häufig nicht explizit, sondern implizit als „inkorporierte Codes“ vor, das nicht schulmäßig oder überhaupt bewusst erworben ist, sondern einfach durch das Aufwachsen in einer kultivierten Familie (Bourdieu (1999), S. 19 f.; auch (1992a), S. 56 f.). Es geht also um eine „Einverleibung sozialer Strukturen in Form von Dispositionsstrukturen“ und um eine unbewusste „praktische Erkenntnis und Beherrschung“ des jeweiligen Feldes, z. B. das der modernen Kunst (Bourdieu (2001), S. 167).277 Die vollkommene Beherrschung zeigt sich in der absoluten „Vertrautheit“ und „Selbstsicherheit“ im Umgang mit dem Sujet und drückt sich auch und zuvorderst körperlich aus, im „Fingerspitzengefühl“ oder durch „beredtes Schweigen“, die „Bewegung des Mundwinkels“, „in Kopfschütteln oder einer stimmungsvollen Pose“. Dabei kommt es weniger auf exaktes Fachwissen an, es kann getarnt und geblufft werden, vorausgesetzt „man besitzt die entsprechenden distinktiven Merkmale: Statur, Haltung, angenehmes Äußeres, Auftreten, Diktion und Aussprache, Umgangsform und Lebensart“ (Bourdieu (1999), S. 159 f.). „Noch in den alltäglichen Situationen des bürgerlichen Daseins werden die Trivialitäten über Kunst, Literatur oder Film mit ernster, wohlgesetzter Stimme vorgetragen, in bedächtiger und zwangloser Diktion, mit distanziertem oder selbstsicherem Lächeln, maßvoller Gestik, in maßgeschneidertem Anzug und im bürgerlichen Salon dessen, der sie von sich gibt“ (ebd., S. 284).
Die körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten stellen, in einer anderen Terminologie Bourdieus, ein inkorporiertes kulturelles Kapital dar (vgl. z. B. Bourdieu (1992a); Fröhlich (1994), S. 35 f.). Wenn es als solches von anderen erkannt und als legitim anerkannt wird, findet eine Transformation zu symbolischem Kapital statt, das sich in gesteigertem Ansehen, Prestige, Renommee und Reputation des Besitzers niederschlägt. Diese Form des kulturellen Kapitals ist verkörpert, also (auch biologisch) an den Träger gebunden, kann aber dennoch „sozial vererbt“ werden, beispielsweise durch das Aufwachsen in einer entsprechenden Familie. Da diese Vererbung viel verborgener abläuft als beim ökonomischen Kapital, wird kulturelles Kapital leicht als bloßes symbolisches Kapital aufgefasst, d. h. „seine wahre Natur als Kapital wird verkannt“, und es wird als legitime Autorität oder natürliche Fähigkeit anerkannt (Bourdieu (1992a), S. 57; auch (1999), S. 310 f.). 277 Die o. a. „intellektualistische Theorie“ stehe laut Fröhlich (1994) nicht in einem unlösbaren Widerspruch zum unbewussten Habitus, da Bourdieu die strikte Dichotomie zwischen „unbewusst“ und „bewusst“ negiere (S. 53, Anm. 15). Auch das bewusste Denken sei größtenteils habituell (ebd.).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Auf den Zusammenhang von Natürlichkeit und Legitimität ist bereits im Rahmen der mikropolitischen Theorien mehrfach hingewiesen worden. Daraus speist sich die Bedeutung kultureller Gegenstände, die in diesem Kapitel im Mittelpunkt standen, und die durch ihre sinnlich-ästhetische Wirkung den Eindruck erwecken können, Kultur sei die natürlichste und persönlichste und damit die legitimste Form des Eigentums und der Überlegenheit (vgl. Bourdieu (1992a), S. 27; H.v. m.). Von allen möglichen Unterscheidungen besitzen „diejenigen das größte Prestige, die am deutlichsten die Stellung in der Sozialstruktur symbolisieren, wie etwa Kleider, Sprache oder Akzent und vor allem die ,Manieren‘, Geschmack und Bildung. Denn sie geben sich den Anschein, als handelte es sich um Wesenseigenschaften einer Person, ein aus dem Haben ableitbares Sein, eine Natur, die paradoxerweise zu Bildung, eine Bildung, die zu Natur, zu einer Begnadung und einer Gabe geworden seien.“ (Bourdieu (1983), S. 60)
Aus Haben ist also sozusagen Sein geworden (vgl. auch Bourdieu (1992a), S. 56). Nun wird deutlich, dass diese Art der Fundierung von Legitimität sich durch die Einverleibung der entsprechenden Position noch steigert: Je natürlicher, je „eingefleischter“ (Bourdieu (1983), S. 149) ein als sozial hochstehend und vornehm anerkannter Habitus, desto legitimer erscheint ein vertretener Machtanspruch und eine desto schärfere „Waffe“ stellt das kulturelle Kapital im Kampf verschiedener Machtansprüche dar (Bourdieu (1992a), S. 61). Wichtig scheint hier die Kategorie der Authentizität zu sein: Es geht um „natürliche“, „wahre Vornehmheit“ ( ebd., S. 27 f.; Bourdieu (1999), S. 782). Die „Inkorporation der Distinktionsmerkmale und Machtsymbole in Form natürlicher ,Vornehmheit‘, persönlicher ,Autorität‘ oder ,Bildung‘“ erscheint dabei als die „untadeligste“ und „unnachahmlichste“ Akkumulationsweise (Bourdieu (1999), S. 441). Vornehme körperliche Haltung, distinguierte Aussprache und hohe Vertrautheit mit der legitimen Kultur sind schwierig zu imitieren (vgl. ebd., S. 160, Anm. 103). Wer mit äußerstem Kraftaufwand nach oben gelangen will, dem gehen die notwendige Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit, die zur natürlichen Vornehmheit gehören, schnell verloren, dem sind die „Plackerei“ und „Verkrampftheit“ auch anzusehen, was nicht wirklich distinguiert wirkt (Bourdieu (1992a), S. 27 f. und S. 37; (1999), S. 393). Leichtigkeit zu erzwingen kann somit schnell zu einem paradoxen Unterfangen geraten.278 (d) Kritik aus mikropolitischer Sicht Für unseren Kontext sind die hier referierten Überlegungen Bourdieus aus zwei Gründen interessant: Erstens könnten die gewonnenen Erkenntnisse zu sozialen Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft eventuell auch für die Erklärung 278 Die Entspannung in der Spannung ist daher das Prinzip aller distinktiven Merkmale der Ausdrucksweise der Herrschenden (vgl. Bourdieu (1990), S. 64 f., zit. nach Fröhlich (1994), S. 50).
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von relativ stabilen Machtasymmetrien innerhalb von Organisationen herangezogen werden. Die Rezeption Bourdieus liefert also in gewissem Sinne weiteres Material zur „strukturellen Unterfütterung“ der mikropolitischen Handlungstheorie, auf das sich v. a. Ortmann an diversen Stellen bezieht. Das Habitus-Konzept liefert hier eine mögliche Deutung, wie der Zusammenhang von Geschmack und Position in der Organisation theoretisch zu fassen sein könnte, den einige mikropolitische Autoren, in der Tendenz durchaus ähnlich Bourdieu, unterstellen (s. o.). Allerdings ist dieser Zusammenhang bei Bourdieu doch als äußerst enger und mechanischer konzipiert und in dieser Weise in der mikropolitischen Literatur nicht zu finden – und auch gar nicht denkbar vor dem Hintergrund der Betonung von Kontingenz, Dualität der Struktur und Freiheit der Akteure. Zwar spricht auch Bourdieu diese Dualität an und warnt davor, den Habitus als deterministisch, fatalistisch oder positivistisch misszuverstehen.279 Indes sind seinem Ansatz – mit guten Gründen – immer wieder derartige Tendenzen diagnostiziert und vorgeworfen worden. Miller (1989) macht einen „positivistischen Grundzug“ in Bourdieus Habitustheorie aus (S. 215), und Ortmann (2004) kommt in einer intensiven Auseinandersetzung zu dem Ergebnis von deren „objektivistischer Schieflage“ (S. 23).280 Dennoch werde das enorme (mikropolitische) Potenzial des Habitus-Konzeptes deutlich, insbesondere durch die angesprochene Spielmetapher. Allerdings fehle Bourdieu die Searlesche Denkfigur des performativen „Zählt Als“, die Figur eines „als ob“ der Institutionen, die nicht ausschließlich als Täuschung, Verblendung und Verkennung zu verstehen sei (S. 158). Ortmann sieht demnach gleichermaßen die sozialwissenschaftliche Stärke des HabitusKonzepts sowie dessen „objektivistische Schattenseite“ (S. 148). Zweitens ist der Exkurs m. E. wegen Bourdieus Betonung der ästhetischen und v. a. der körperlichen Dimension der Macht für unseren Kontext interessant. Der Körper wird als die „sinnliche Manifestation“ der Person und ihrer Stellung aufgefasst. Wie weit seiner Auffassung nach auch hier die gesellschaftliche Präge279 Der Habitus repräsentiere laut Bourdieu eher ein System von Grenzen, innerhalb dessen sich Akteure verhalten könnten, ohne dass ihre Handlungen damit vollkommen festgelegt und vorhersehbar wären (s. Bourdieu (1992a), S. 31–35, 46, 49, 173 sowie (2000), S. 26). Akteure könnten vielmehr innerhalb dieser Grenzen „durchaus erfinderisch“ sein (Bourdieu (1992a), S. 33). Sie reagierten also keineswegs nur „reflexhaft“ auf Stimuli, sondern antworteten auf „Appelle wie Drohungen einer Welt (. . .), deren Sinn sie selbst mit geschaffen haben.“ (Bourdieu (1999), S. 729) Darüber hinaus sei der Habitus nicht statisch zu verstehen, sondern werde in der täglichen Praxis immer neu geformt (so auch Richter (1994), S. 169; kritisch dazu Miller (1989), S. 213 f.). Bourdieu (2001) unter Rekurs auf Pascal: „Als determiniert (. . .) kann der Mensch alle Determinationen erkennen (. . .) und an ihrer Überwindung arbeiten.“ (S. 168) Wie das tatsächlich zusammenpasst, kann hier nicht im Einzelnen diskutiert werden; u. a. zum Determinismus-Vorwurf und möglichen Entgegnungen Fröhlich (1994). 280 Vgl. v. a. Ortmann (2004), S. 147 ff. Allerdings konzediert er, dass Bourdieus Objektivismus eine raffinierte Form habe, da dieser mit einer Kombination aus Objektivismus und Subjektivismus operiere (vgl. S. 149).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
kraft reicht, wie tief in die Körper eingeschrieben die soziale Stellung ist, zeigen Äußerungen, in denen Bourdieu den Körper als „unwiderlegbarste Objektivierung“ des jeweiligen Klassengeschmacks betitelt, der bis hin zu den „scheinbar natürlichsten Momenten“ den Körper bestimmt: Selbst basale Körperdimensionen (Umfang, Größe, Gewicht usf.) und -formen (rundlich-vierschrötig, steif-geschmeidig, aufrecht-gebeugt, muskulös oder nicht, spezifisches Mienenspiel und bestimmte Mund- und Gesichtsform) werden so als Kulturprodukte angesehen; vermittelt über den Geschmack, der auswählt und modifiziert, was der Körper „physiologisch und psychologisch aufnimmt, verdaut und assimiliert“ (Bourdieu (1999), S. 307 u. S. 310).281 Sinnlich und symbolisch verstärkt und in Szene gesetzt, werden diese Unterschiede noch durch Gegenstände, Schmuck, Kleidung, Kosmetik, also durch distinktive „soziale Merkzeichen“ (S. 310). Der Körper ist hierbei nicht nur passiver Träger, sondern in Form von einer spezifischen Körperhaltung auch aktiver Produzent von Zeichen, die in ihrem sichtbar-stofflichen Moment durch die Beziehung zum Körper geprägt sind (vgl. S. 310). Die gesellschaftlich geprägte Beziehung zum eigenen Körper, die sich in einer bestimmten Körperhaltung, in Selbstvertrauen, natürlicher Ungezwungenheit und Autorität dessen widerspiegelt, der sich autorisiert fühlt, ist laut Bourdieu „sicher eine der machtvollsten sozialen Markierungsinstanzen und von daher ein privilegierter Gegenstand von strategischen Manipulationen (. . .)“ (S. 393; H.v. m.) – und daher von außerordentlichem Interesse für die Mikropolitik, die gerade diese manipulativen Spielräume, auch für einzelne Akteure, viel stärker macht, als es in Bourdieus eigener Konzeption m. E. möglich ist. gg) Körperliche Dimension Über den Exkurs zu Bourdieus Habitus-Konzept sowie dessen Kritik sind wir in unserer Untersuchung zur nächsten Ebene übergegangen und haben den Fokus von dem Bereich der Gegenstände, zuletzt der Kunstwerke, zu dem des Körpers verlagert. Entgegen einer weitgehenden Kognitivierung organisationaler Prozesse, z. B., indem Organisationen als reine Entscheidungskaskaden definiert werden, spielt der Körper generell für Mikropolitik eine entscheidende, wenn auch bisher theoretisch immer noch nicht genug gewürdigte Rolle. Denn man bringt immer auch den Körper mit der ihm eigenen Leistungsfähigkeit in das jeweilige mikropolitische Spiel ein: Man lässt sich „blicken“, wirft sein „Gewicht“ in die Waagschale, widmet sich einem Projekt ganz und gar, „mit Haut und Haaren“, wie es oben hieß, oder zieht sich (auch körperlich) zurück, „duckt“ 281 Bourdieu geht hier so weit von einem „klassenspezifischen Körper“ zu sprechen, der bis auf einige biologische Zufälligkeiten, wie Hochwüchsigkeit oder Schönheit (!), in seiner Logik tendenziell die Struktur des sozialen Raumes reproduziert (vgl. Bourdieu (1999), S. 310 f.).
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sich weg, „macht sich rar“. Mikropolitische Strategien und Aktionen stellen sich immer über die Körper der Akteure nach außen dar. Ihr Gelingen bzw. Misslingen hängt u. a. von deren leiblichen Voraussetzungen wie Alter, Begabungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten ab sowie vom Zusammenspiel mit den Körpern anderer Akteure, und die Ergebnisse der mikropolitischen Handlungen können auf den eigenen Körper, dessen Haltung, Gemütszustand und sogar Gesundheit zurückwirken. Konkret auf das Standardbeispiel des Wartungsspiels bezogen: Wie viele Pannen von den Wartungsarbeitern tatsächlich erkannt und behoben oder eben nicht behoben werden können, wie groß also die von ihnen kontrollierte Unsicherheitszone de facto und welche Strategie zielführend ist, hängt nicht zuletzt von ihrem impliziten, inkorporierten Wissen ab, also von ihrer Erfahrung sowie von körperlichen Fähigkeiten wie Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit. Man könnte daher auch mit Blick auf die Mikropolitik den Körper „als Gegenstand und Zielscheibe der Macht“ ansehen (Foucault (1994), S. 174), aber mindestens ebenso als zentrales Instrument und Mittel von Macht: „Keine der mikropolitischen Einflusstaktiken funktioniert ohne Leiblichkeit oder Verkörperung (Materialisierung). (. . .) Umso wichtiger ist es, die Körperlichkeit von Personen und Dingen als Bedingung, Ansatzpunkt, Medium und Folge mikropolitischer Interventionen zu berücksichtigen und umso überraschender, dass dies bislang so wenig geschieht.“ (Neuberger (2006), S. 262)
Diese zentrale Bedeutung des Körpers für die Mikropolitik lässt sich auch aus dem bisherigen Verlauf dieses Kapitels ersehen. Wie eingangs bereits beschrieben, gibt es eine Reihe von wechselseitigen Bezügen zwischen der gegenständlichen und der körperlichen Dimension der Machtausübung: Körper stellen Gegenstände her (errichten Gebäude, produzieren Autos, Laptops, Handys), schaffen Kunstwerke oder kreieren Schmuck, meistens mit Hilfe weiterer Gegenstände als Werkzeug. Sowohl diese Werkzeuge als auch die erzeugten Gegenstände müssen dabei an den körperlichen Bedingungen der sie verwendenden und benutzenden Menschen orientiert sein, beispielsweise mit Bildschirm, Tastatur oder Sprachsteuerung ausgestattet sein, was nur sinnvoll ist, weil wir körperliche Wesen mit Augen und Fingern sind und über Sprache verfügen. Die Gegenstände sind also auf unsere Körper mit ihren Gliedern und Sinnen ausgerichtet, bewirken aber andersherum eine Ausrichtung der Körper auf die spezifische Beschaffenheit der Gegenstände: in der Haltung, die wir zum Beispiel vor dem Notebook einnehmen (müssen), beim Schauen auf den Bildschirm oder beim Schreiben, das sich als „Tippen“ zu vollziehen hat; durch die Bewegungen, Blickrichtungen und Abläufe, die sie uns vorzeichnen können, wie am Beispiel einer Architektur der Disziplin dargelegt wurde, die immer auf die Körper zielt; durch die Abstimmung der Körperbewegungen auf die Funktionsweise der verwendeten Maschinen; oder durch das Stillstehen, die Augenbewegungen und eventuell das stumme Betrachten eines Kunstwerkes, das darüber hinaus messbare physiologische Wirkungen, wie die Veränderung der Pupillengröße, des Hautwiderstandes oder der EEG-
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Ströme auslösen kann.282 Körper bilden somit gewissermaßen den „Fluchtpunkt“ der bisherigen Erörterungen der gegenständlichen Dimension ästhetischer Machtausübung. Darüber hinaus gibt es (direkte, oder über Gegenstände vermittelte) wechselseitige Bezüge zwischen Körpern. Körper selbst können durch ihre Statur, Form, Größe und Haltung großen Einfluss auf andere Körper haben. Dieser Einfluss kann physischer Art sein, beispielsweise im Falle einer gewalttätigen Konfrontation, bei physischem Zwang usw. In diesem Kapitel steht jedoch die ästhetische Machtwirkung von Körpern im Vordergrund. Macht drückt sich sinnlich wahrnehmbar durch Körper und in Körpern aus, Körper können also als Produkt und Zeichen von Macht interpretiert werden. Diese Zeichen haben, analog zur gegenständlichen Dimension, Rückwirkungen auf Kräfte- bzw. Machtkonstellationen. Auch fungieren Körper als „natürliche“ Distinktionsmittel, die drittens in besonders effektiver Weise der Legitimierung und dem automatischen Funktionieren von Macht dienen. Körper sind somit prädestiniert für eine ästhetische Machtausübung und gleichermaßen Produkt und Produzent von Macht. Als ein Beispiel für diesen Zusammenhang lässt sich die oben bereits angesprochene Gehalts- und Abrechnungsabteilung heranziehen. Ortmann et al. (1990) sprechen davon, dass sich diese Abteilung neben der Kleidung v. a. auch durch den Arbeitsstil und die Umgangsformen auszeichnet (vgl. S. 464 und 208). Also durch das, was bei Bourdieu unter den Stichworten „Manieren“ bzw. „inkorporierter Habitus“ Thematisierung gefunden hat. (Arbeits-)Stil und Umgangsformen drücken körperlich die „Abteilungskultur“ aus, die Wertorientierung einer Gruppe (Korrektheit, Präzision, Solidität, keine Fehlertoleranz etc.). Es geht um Werte, die in Fleisch und Blut übergegangen sind: „Diese Personen hatten sich die Tugenden über 15 Jahre angeeignet: sorgfältig, pingelig, ordentlich, pünktlich“ (Ortmann et al. (1990), S. 538). Hieran wird gleichzeitig einmal mehr die Nähe der Ebenen deutlich, in diesem Fall zwischen ästhetischer und normativer Dimension (vgl. Abb. 6 u. 7). Der Habitus der Mitarbeiter unterschiedlicher Abteilungen lässt sich nicht ohne Grund deutlich voneinander unterscheiden, sondern dient laut Ortmann der Darstellung vor dem Vorstand und nicht zuletzt der „stolzen Abgrenzung gegen 282 Die Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Körper besteht auch aus Bourdieus Sicht: Kunst ist für ihn immer auch „etwas ,Körperliches‘“ (Bourdieu (1999), S. 142). Dies gilt auch für nichtgegenständliche Kunst wie „Musik, die ,reinste‘ und ,spirituellste‘ aller Künste, ist vielleicht die körperlichste überhaupt.“ (Ebd.) Zur „Zusammenschaltung von Körper und Objekt“ auch Foucault (1994), S. 196 f. sowie im Anschluss Ortmann (1984), S. 114). Zur Verknüpfung von Mensch und Maschine zu einem „soziotechnischen Handlungssystem“ vgl. Lenk (1982), z. B. 68 f.; ders. auch zum Stichwort „Mensch-Maschine-Tandem“ im Wörterbuch zur Mikropolitik, hg. von Heinrich/ Schulz zur Wiesch (1998), S. 171 f.
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andere Abteilungen“, beispielsweise von der Personalabteilung, die anderen Leitbildern folgt (S. 208) – ergo, als Distinktionsmittel. Außerdem dient der Habitus der Gehaltsabteilungsmitarbeiter, den man als „verkörperte Zuverlässigkeit“ bezeichnen könnte, der Legitimierung ihrer machtvollen Tätigkeit, beispielsweise in den Augen des Vorstandes, für den die Regel gilt: „Wenn die Abteilungsleiterin ja sagt, dann kann ich bei Abrechnungsfragen bedenkenlos zustimmen.“ (S. 208) Der jeweilige inkorporierte Habitus ist dadurch nicht nur ein Zeichen für bestimmte Machtverhältnisse innerhalb der Organisation und zwischen den Abteilungen, sondern wirkt auf die Machtkonstellationen zurück. Untermauert wird dieser Befund durch eine Reihe weiterer körperlicher Momente ästhetischer Machtausübung, die sich bei Ortmann finden lassen. Diese reichen von der Physiognomie, die einen Einfluss auf die „natürliche Autorität“ und das Charisma einer Person haben, über das Auftreten, das sich körperlich darstellt und direkt körperlich wirken kann – „Bücklinge machen, die Hinterbacken zusammenkneifen, die Muffe kriegen. (. . .) Wer einmal zusammengestaucht wurde, reißt sich am Riemen.“ (S. 33)283 – bis hin zur Sprechweise: Sprechen kann man präzise oder schwammig, glasklar oder hölzern, unterwürfig oder im schneidenden Befehlston (vgl. S. 31 f. u. S. 45). Die Wirksamkeit des Sprechens hängt hierbei auch von der eigenen Position und Macht ab (Ortmann (2003), S. 191). Sehr wirksam kann auch das Schweigen sein, das vom Stillschweigen bis zum Totschweigen reicht: „Das Schweigen auf eine Frage ist wie das Abprallen einer Waffe an Schild und Rüstung. Verstummen ist eine extreme Form der Abwehr“ (Canetti (1980), S. 319; zit. nach Ortmann (2003), S. 191). Es kann aber durchaus auch zum Angriff eingesetzt werden, beispielsweise um Mitarbeiter zu disziplinieren, zu „schneiden“ oder zu „mobben“. Alles dies hat Rückwirkungen auf die Machtkonstellation sowie auf die Legitimität der Macht.284 Detailliert zählen die Autoren die „Attribute der herrschen283 Es fließen offensichtlich eigene biographische Erfahrungen mit ein, wenn Ortmann (2003) mit Blick auf seinen Schuldirektor schreibt: „Schon der Anblick unseres ,Direx‘ – schwarze, buschige Augenbrauen, Monokel, Gamaschen – war kaum zu ertragen.“ (S. 190, Anm. 191; H.v. m.) Auch Bourdieu (1999, S. 741) sieht in einer geraden oder gekrümmten, aufgerichteten oder gebeugten Haltung Zeichen für Hierarchien. Künstlerisch aufgegriffen wird dieses Phänomen in der Radierung von Paul Klee „Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend, begegnen sich“ von 1903. 284 Im literarischen Bereich finden sich eine Vielzahl von Beispielen, die diese körperliche Dimension des Machtausdrucks eindrucksvoll untermalen können. Bourdieu verweist hier immer wieder auf Proust (z. B. Bourdieu (1999), S. 170 oder 782) sowie auf Flaubert und Balzac hin (Bourdieu (1992), S. 32). Ähnliche Funde lassen sich auch in Fülle bei Tolstoj machen, z. B. wenn er zu Beginn von „Krieg und Frieden“ den habituellen Ausdruck der Machtasymmetrien zwischen den russischen Gesellschaftsschichten nachzeichnet oder bei der Beschreibung der Theaterbesucher in „Anna Karenina“, denen das Theater als Mittel der Selbstdarstellung und Kommunikation dient und somit als Machtmittel i. w. S. Gleiches ließe sich für eine Vielzahl von Literaten herausarbeiten. Insofern ist auch mit Blick auf diesen Aspekt Ortmanns Rat an die Organisations-
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
den Klasse“ auf, die „Eleganz, Härte, Entscheidungsfreude“ (Ortmann et al. (1990), S. 32), die „geschliffene Sprache des Topmanagers“ (S. 45) sowie die beeindruckende „Kultur und das Selbstbewußtsein“, mit denen Gespräche geführt und Entscheidungen gefällt werden und die ihrer Ansicht nach „schon die halbe Miete“ sind. „Der ganze Habitus bringt zum Ausdruck: ,Wir wissen und sagen, wo es langgeht.‘“ (S. 32; H.v. m.) Das heißt, die körperliche Ästhetik ist, z. B. in Form des Aussehens und Auftretens, dazu in der Lage, eine Art „katalysierende Wirkung“ auf Machtprozesse auszuüben. Die (körperliche) Ästhetik der Macht führt selbst zu einer Macht der (körperlichen) Ästhetik, mittels derer bestimmte Entscheidungsprozesse leichter durchgesetzt und legitimiert werden können: „Die Eleganz, die der Topmanager (. . .) an den Tag legt, und die in seiner Rhetorik, im Ton, in seinem Tempo, seiner Gestik, seiner Härte, seinem maßgeschneiderten Anzug, seiner Büroeinrichtung, seinem Witz, seinem Blick, seiner Mimik und Körperhaltung zum Ausdruck kam, verstärkt seine Macht unmittelbar. (. . .) Macht wird ausgeübt auch als eine ,Mikrophysik der Körper‘“ (ebd., S. 33; H.v. m.).
Neuberger (2006) fügt hinzu: „Die Identität einer Person wird nachhaltig davon beeinflusst, ob sie ihren Körper in Übereinstimmung mit den gängigen Schönheitsidealen sieht und umgekehrt wird ein Manager, der braungebrannt, vital, gut aussehend und elegant gekleidet ist, ein höheres Maß an Selbstsicherheit haben und demonstrieren“ (S. 312). „Gutes Aussehen, Vitalität, Sportlichkeit, Gesundheit, Fitness haben gerade für ManagerInnen einen hohen Selektionswert; alle Anzeichen verminderter Belastbarkeit (Krankheiten, Verschleißerscheinungen, Tabletten-, Alkohol- oder Drogenkonsum, Müdigkeit, Burnout) müssen kaschiert werden. Sonnenstudios, Fitness-Centers und persönliche FitnessCoaches, Wellness-Hotels, Schönheitschirurgen profitieren davon.“ (S. 260 f.)285
Die gleiche Diagnose stellt auch G. Klein: „Topmanager und Spitzenpolitiker ernten eher Spott, wenn sie glauben, es reiche aus, mit guten Anzügen für sich zu werben. Ihr Körper muss Leistungsstärke und Durchhaltevermögen in Szene setzen können. Und nicht nur das. Auch in den oberen Etagen wird mittlerweile heimlich Arbeit an der Hülle betrieben: Das Färben der ergrauforschung zuzustimmen, sich von der Literatur inspirieren und bereichern zu lassen (vgl. Ortmann (2004), S. 129). 285 Dass es sich bei diesem Vorgang ganz und gar nicht um einen unnatürlichen Prozess handelt, kann man – abgesehen vom naturwissenschaftlich konnotierten Terminus der „Selektion“ – aus den instruktiven Ausführungen von Menninghaus (2003) ersehen. Sämtliche kulturelle Moden simulieren oder verstärken zumindest „Attraktivitätsmerkmale, die ohne diese Mühen schwächer oder gar nicht gegeben wären. Freiwillig darauf zu verzichten, auf diesem Wege Vorteile zu suchen, wäre aus evolutionstheoretischer Perspektive kontra-adaptiv. Nichts ist insofern ,natürlicher‘ als die Ornamente und die Mode. Die Koevolution von Täuschungen und Täuschungserkennungs-Mechanismen dürfte integral zur runaway-Evolution von Präferenzen und präferierten Merkmalen gehören. Im Zeitalter von workout und kosmetischer Chirurgie muß dies zu verfeinerten Unterscheidungen von natürlicher und künstlich fabrizierter Schönheit führen, während gleichzeitig diese Unterscheidung brüchiger wird denn je.“ (Menninghaus (2003), S. 171)
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ten Haare, Maniküre und kleinere Schönheitsoperationen sind längst nicht mehr reine Frauensache.“ (DIE ZEIT, 26. Oktober 2000, Nr. 44, S. 43)
Insofern machen nicht mehr (ausschließlich) Kleider Leute, sondern (auch) Körper (ebd.).286 Hier klingt die Signalfunktion an, die oben im Zusammenhang mit der ästhetischen Machtdimension von Kunstwerken angeführt worden ist. Kultiviertheit, Distinguiertheit und Fitness als körperlich-ästhetische Zeichen für die eigene Mächtigkeit und somit auch für Kompetenz und Durchsetzungsstärke. Wer sich selbst „gehen lässt“, wird nicht als kompetent angesehen, andere zu „führen“.287 Selbstbeherrschung wird hier also – gewissermaßen in platonischer Tradition (vgl. z. B. Nomoi IV, 711b ff.) – als Voraussetzung für die Legitimierung eines Herrschaftsanspruches gesehen. Auch in dieser Hinsicht muss derjenige, der herrschen will, erst Herr über sich selbst geworden sein (vgl. N 1883, 16[86], 10, S. 529). Allerdings muss man sich hierbei auf Zuschreibungen von Eigenschaften und auf Signale verlassen, was zu regelrechten Signal- und Reputationsrennen führen kann, die ihrerseits in Fehlallokation münden können, nämlich dann, wenn nicht die Besten den gesellschaftlichen Filter passieren, sondern die raffiniertesten Signalproduzenten (Gaitanides (2004); zit. nach Ortmann (2004), S. 86, Anm. 45). Interessant aus mikropolitischer Sicht wäre in einer weiterführenden Debatte die sich anschließende Frage, inwieweit diese Zeichen und Signale im Einzelnen strategisch eingesetzt und produziert werden können, inwieweit man sich zumindest Teile eines zweckdienlich erscheinenden Gesamthabitus aneignen kann, beispielsweise um ein strategisches Signaling zu betreiben, und/oder um Distinktions- und Legitimationsgewinne gezielt zu nutzen. Dazu müsste man genauer untersuchen, wie der Habitus sich im Einzelnen konstituiert. Dies kann hier nicht im Einzelnen geleistet werden. Hervorzuheben wäre aber wohl, vor allem mit Ortmann (2003), die Bedeutung der Mimesis „als mächtiges Mittel des Erwerbs dieser Dispositionen“ (S. 188). Ortmann (2003) betont die Bedeutung von Vorbildern, an denen wir uns orientieren, mit denen wir uns identifizieren und denen wir uns „anähneln“ (vgl. S. 150 ff.; S. 290), sowie des Trainings, das aus „Vormachen und Üben“ besteht: „wie wir es anstellen, sprechen, laufen, essen, tanzen, flirten, argumentieren, schmieden, feilen, Reden halten, leben zu lernen; wie ein ordentlich gemachtes Bett, ein gemütliches Zimmer, ein schönes Haus, ein gutes Buch aussieht; welchen Bedingun286 Durch neuartige technische Verfahren sind die ohnehin schon vielfältigen Möglichkeiten der Gestaltung des Körpers (Training, Shaping usf.) noch einmal erweitert (Stichwort: „genetic engineering“). Die kulturelle Entwicklung scheint damit ein Moment der Natur aufzunehmen und in beschleunigter und gesteigerter Form fortzuführen (s. auch Menninghaus (2003), S. 265). Dort lässt sich ebenfalls finden, dass sich in der Natur bereits Prozesse entwickelt haben, gegen die zumindest das Schminken, Haarefärben und „Bleechen“ der Zähne recht harmlos erscheinen. 287 „Wer in der Arbeit am eigenen Körper scheitert, der ist auch ansonsten ein Verlierer.“ (Menninghaus (2003), S. 277)
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gen eine sinnvolle Kommunikation genügen muß; was ein ordentlich geführter Betrieb ist; der rechte Umgang von Vorgesetzten mit Untergebenen; und eben auch: in welchen Lebenslagen Regeln penibel eingehalten werden müssen und wann sie großzügig ausgelegt, umgangen, unbeachtet gelassen oder gar verletzt werden dürfen.“ (Ortmann (2003), S. 151)288
Dies alles geht – größtenteils unbewusst – in die körperliche Motorik ein: „Wir nehmen mimetisch Maß, und das Maß ist zunächst der eigene Körper“ (Ortmann (2003), S. 182).289 Durch das Wissen um diese Zusammenhänge können diese Vorgänge dann wiederum bewusst eingesetzt werden. Allerdings hat die Einsetzbarkeit gewisse Grenzen, wie Küpper/Felsch (2000) aufzeigen, die ebenso versuchen, der Körperlichkeit die ihr zustehende Rolle einzuräumen. Vor allem unter Rückgriff auf Joas (1992) loten sie die Möglichkeiten des Körpers als intentional-instrumental einsetzbares Objekt aus, gerade aber auch die Grenzen und Voraussetzungen einer derartigen Beherrschbarkeit. Dabei machen sie – als ihrer Meinung nach in der Soziologie lange vernachlässigter Faktor – z. B. biologische Voraussetzungen des menschlichen Handelns aus, die seit dem Boom der Neurowissenschaften und dem damit verbundenen „somatic turn“ mehr in den Fokus rücken (vgl. Neuberger (2006), S. 264).290 Den Menschen als Natur(-wesen) zu begreifen wird folglich, mit Gerhardt (2007) zu sprechen: als Voraussetzung für adäquates Verständnis seiner Handlungsmöglichkeiten angesehen. Des Weiteren wird die Bedeutung der Selbstgegebenheit des Körpers i. S. unseres Körperbildes bzw. -schemas thematisiert. Bei dessen Konstitution ist wieder die Mimesis entscheidend: „So konstituiert sich der Körper allmählich als unser eigener Leib, und es ist geradezu mit Händen zu greifen, wie jene Gleichsetzung in mimetischem Mitvollzug 288 „Best practices“, Abkupfern, me-too-Verhalten, Orientierung an anderen, z. B. den „Amerikanern“, hat dabei nicht nur Bedeutung für individuelle, sondern auch für organisationale Akteure (Ortmann (2003), S. 152); s. zum „benchmarken“ auch die Schilderungen von Leyendecker (2007), S. 81 f. 289 Dies ähnelt Bourdieus Ansatz, auf den Ortmann hier explizit Bezug nimmt (vgl. Ortmann (2003), v. a. S. 187 f.; (2004), S. 147 ff.), wobei, wie oben bereits dargelegt, eine stärkere Betonung des Individuums bzw. Akteurs bei diesen Prozessen und die Möglichkeit einer Einflussnahme zu verzeichnen ist. Die Diskussion um Determinismen in Bourdieus Theorie kann und soll hier nicht vertieft werden: Aus mikropolitischer Sicht steht eindeutig der strategische Spielraum im Mittelpunkt des Interesses. Dagegen macht der Habitus nach Bourdieu ein bewusstes Kalkül gerade überflüssig – und ist desto wirksamer, je unbewusster er ist (Bourdieu (1999), S. 397). Geschmack ist beispielsweise gerade unabhängig von allem absichtsvollem Streben nach Vornehmheit, ist ein objektiver, automatischer, allenfalls intentional zu verstärkender Effekt – kann allerdings in Umbruchsituationen und Krisen, in denen Passung von Feld und Habitus auseinanderbricht, auch durch andere Prinzipien, wie bewusste und rationale Kalküle, ersetzt werden (vgl. Fröhlich (1994), S. 43). 290 Zu einer Ergänzung der kommunikationsrelevanten Aspekte der giddensschen Strukturmomente der Herrschaft, Legitimation und Deutungsmuster durch körperliche Prägung versucht Hahne (1998), S. 341 ff. zu kommen; vgl. Küpper/Felsch (2000), S. 275, Anm. 40.
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fundiert ist, im mimetischen Mitvollzug der Bewegungen des anderen, der er erst wird. Einssein, sich identifizieren, sich eins fühlen, sich einfühlen, den anderen als anderen und doch mir irgendwie Gleichenden/Ähnelnden erleben, sich unterscheiden oder abgrenzen: das sind Stationen einer solchen Entwicklung, und mimetischer Nach- und Mitvollzug spielt darin eine wichtige Rolle, die sich von Station zu Station verändert.“ (Ortmann (2003), S. 173; H.v. m.)
hh) Zusammenfassung Mikropolitik Den ersten Teil dieses Kapitels zusammenfassend, lässt sich rückblickend für die Mikropolitiktheorie ein enger wechselseitiger Zusammenhang von Macht und Ästhetik feststellen, der als Ästhetik der Macht bzw. Macht der Ästhetik pointiert worden ist: Macht drückt sich in Ästhetik aus und Ästhetik hat ihrerseits Rückwirkungen auf vorhandene Machtkonstellationen – und zwar sowohl auf gegenständlicher als auch auf körperlicher Ebene. Die Reihe der angeführten Bereiche und Beispiele für diesen Zusammenhang reicht dabei von Architektur (mit diversen Parametern wie z. B. Größe, Anordnung und Aufteilung von Gebäuden sowie deren disziplinierenden Einfluss), über einzelne Gegenstände, wie Laptops, Smartphones, Firmenwagen und besonders Kunstwerke, die als Statussymbole und Prestigeobjekte dienen können und geschmackliche Distinktions- und Legitimationsgewinne abwerfen können, bis hin zu einem Habitus, der Macht gleichermaßen verinnerlichen sowie zum Ausdruck bringen, sozusagen unmittelbar „verkörpern“ kann. Alles in allem kann damit die Relevanz und Bedeutung einer ästhetischen Dimension der Macht für die Mikropolitiktheorie als belegt gelten. Wie basal dabei gerade der Körper ist, wird, neben den Ausführungen zur Inkorporierung, allein dadurch deutlich, dass die gesamte ästhetische Dimension an sinnliche Voraussetzungen des Körpers gebunden ist: Visuelle Machtsymbole setzen die Fähigkeit des Sehens voraus, Gehorchen kommt von Hören (vgl. Ortmann et al. (1990), S. 31) und die Sprache kann ihre enorme Bedeutung nur entfalten, weil es Ohr und Mund gibt.291 Dementsprechend nimmt der Körper eine Sonderstellung ein innerhalb der hier präsentierten Schematik der Dimension von Macht und Ästhetik. Das gleiche Schema soll nun im zweiten Teil des Kapitels für die Untersuchung dieser Dimension bei Nietzsche angewendet werden. b) Macht und Ästhetik bei Nietzsche Auch Nietzsche stellt immer wieder einen engen Zusammenhang von Macht und Ästhetik her, auch wenn sich eine ästhetische Theorie im engeren Sinne bei 291 „Jeder Sozial- und Welt-Kontakt wird sinnlich vermittelt und durch Leiblichkeit konditioniert. Auch der ,soziale Körper‘ z. B. von Organisationen kennt Materialisierungen, Artefakte, Verdinglichungen.“ (Neuberger (2006), S. 237)
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ihm nicht findet.292 So spricht er z. B. (in ganz unterschiedlichen Kontexten) in einem Atemzug von „ M a c h t u n d G l a n z “ (UB IV, 8, 1, S. 472; N 1887, 10[181], 12, S. 564), von „herrschen“, „siegen“ und „glänzen“ (ZA I, 4, S. 74), von „Stärke und Pracht“ (N 1886/87, 7[25], 12, S. 304; M 58, 3, S. 59) oder auch von „Macht und Pracht“ (N 1878, 30[179], 8, S. 554) bzw. von „Mächtigkeit und Pracht“ (GM, 6, 5, S. 253).293 Auch „Schönheit“ ist für ihn eng mit Macht verbunden, und kann, wie bereits angedeutet, sogar „das höchste Zeichen von Macht“ darstellen (N 1886/87, 7[3], 12, S. 258). Macht muss sich irgendwie ausdrücken, darstellen und wahrgenommen werden. Macht ist auf Zeichen angewiesen, die auf sie verweisen.294 Im Willen zur Macht sieht Nietzsche ein „unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht“ (N 1885, 36[31], 11, S. 563; H.v. m.). Die Stärksten und Mächtigsten wollen die in ihnen erreichte Kraft „mit bewußtem Stolz repräsentiren“ (N 1886/87, 5[71], 12, 217; H.v. m.). Die These lautet daher, dass auch bei Nietzsche Macht eine ästhetische Dimension besitzt, der eine zentrale Rolle zugeschrieben werden kann. Gemäß der Leitfrage des Kapitels ist in diesem Abschnitt zu untersuchen, wie Macht sich im Einzelnen ausdrücken kann, und welche Rückwirkungen die jeweilige Ausdrucksform auf das Machtgeschehen entfalten kann – inwiefern also von einer Ästhetik der Macht bzw. einer Macht der Ästhetik gesprochen werden kann. Entsprechend des eingangs vorgeschlagenen Rasters wird, in umgekehrter Reihenfolge, zunächst die körperliche Dimension untersucht. Im Anschluss steht die gegenständliche Dimension, insbesondere in Form von Architektur, im Mittelpunkt der Betrachtung – wenn die körperliche und gegenständliche Ebene bei Nietzsche auch häufig nicht gesondert behandelt werden, sondern eher ein Kontinuum von „Lebensäusserungen“ bilden. Einleiten möchte ich diese Untersuchung allerdings mit der Verbindung zwischen Macht und Schönheit bzw. Hässlichkeit als grundlegenden ästhetischen Kategorien. aa) Macht und Schönheit bzw. Hässlichkeit Nietzsche macht eine besonders starke Korrelation zwischen dem Willen zur Macht und der Schönheit bzw. der Hässlichkeit aus: Der Wille zur Macht fällt mit dem Hässlichen und steigt mit dem Schönen (vgl. N 1888, 16[40], 13, S. 499; GD, 6, S. 124). Wobei es sich genauer gesagt um mehr als um bloß korre292 Vgl. dazu auch Heidegger (1961), Bd. 1, S. 111, Kaufmann (1988), S. 153 sowie Zimmermann (2000), S. 37. Recki (2000) spricht zumindest für die frühen siebziger Jahre von einer „ästhetischen Theorie“ (S. 522). 293 Vgl. auch N 1886, 4[7], 12, S. 180; N 1886/87, 5[98], 12, S. 225; N 1887/88, 11[363], 13, S. 160; N 1888, 16[29], 13, S. 490. 294 Vgl. z. B. M 96, 3, S. 87 f.: Dort beschreibt Nietzsche, wie die Atheisten, sobald sie einander ein Zeichen gäben, sich folglich zu erkennen geben und erkennen würden, „sofort eine Macht in Europa sein“ könnten.
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lierte Größen handelt: Vielmehr zeigen sich Stärke, Kraft und Macht nach Nietzsche in Schönheit. Schönheit ist nach Nietzsche geradezu der „Ausdruck des S i e g r e i c h e n und H e r r g e w o r d e n e n “ (N 1886/87, 6[26], 12, S. 245) bzw. deren Anzeichen der Gewöhnung an den Sieg (vgl. N 1886/87, 9[8], 12, S. 343). Schönheit ist also die Manifestation eines starken und dauerhaft überlegenen Willens zur Macht. Schönheit selbst ist dabei für ihn nicht als „Schönheit an sich“ existent (W, 6, S. 50; EH, 6, S. 304), sondern ein anthropozentrisches, menschlich-allzumenschliches Konstrukt, durch das der Mensch sich unbewusst selbst als Maß und Modell des Schönen setzt (vgl. N 1888, 17[9], 13, S. 529).295 Es handelt sich ausdrücklich nicht um den Versuch, durch Abstraktion von Details und unter vollkommener Loslösung von Lüsten, Trieben und geschlechtlichem Interesse zu einem allgemeinen, „reinen“ Schönheitsbegriff zu kommen (GD, 6, S. 116). Schönheit bleibt an die biologischen Voraussetzungen wie die basalen Instinkte der „Selbsterhaltung“ und „Selbsterweiterung“ der Gattung gekoppelt (W, 6, S. 50; N 1888, 17[9], 13, S. 529). Insbesondere Geschlechtlichkeit spielt folglich eine prominente Rolle in Nietzsches Überlegungen.296 Dennoch sind seine Ausführungen zur Ästhetik nicht mit biologistischem Reduktionismus gleichzusetzen. Der ästhetische Zustand ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass wir – ausgehend von einem starken Triebpotenzial – eine „V e r k l ä r u n g u n d F ü l l e “ aktiv in die Dinge legen und ihnen eine „Vo l l k o m m e n h e i t “ quasi andichten (N 1887, 9[102], 12, S. 393 f.).297 Hier ist zunächst einmal der Gedankengang entscheidend, dass Schönheit gleichsam herausgetrieben wird, „in die Höhe gedrückt – durch euer Niedrigstes“, wie Nietzsche auch schreibt (N 1888, 20[35], 13, S. 555).298 Die allen Antrieben, auch dem „Willen zur Schönheit“, zu Grunde liegende treibende Kraft ist dabei der Wille zur Macht (N 1886, 39[13], 11, S. 624). Daher, dass wir diesen Zusammenhang von Schönheit als Ausdruck und Manifestation von Macht verinnerlicht haben, rührt unser Schluss von (wahrgenommener) Schönheit auf dahinterliegende Stärke, Kraftsteigerung und Wille zur Macht: „Verschönerung“ wird 295 Die an den Dingen bewunderte Schönheit ist somit für Nietzsche letztlich nichts als die „Lust des Menschen am Menschen“ oder, polemischer formuliert, „seine G a t t u n g s - E i t e l k e i t “: „Im Grunde spiegelt sich der Mensch in den Dingen, er hält Alles für schön, was ihm sein Bild zurückwirft“ (GD, 6, S. 123). Dies weist eine Nähe zu der sophistischen Einsicht des Hippias auf, dass ein schöner Mensch bzw. „ein schönes Mädchen“ schön sei (Platon, Hippias I, 287e). 296 Vgl. z. B. N 1887, 9[102], 12, S. 393 f.; N 1887, 10[167], 12, S. 555; N 1888, 14[117], 13, S. 295. Zu einer Deutung des „Versprechens der Schönheit“, u. a. aus evolutionstheoretischer Sicht, s. Menninghaus (2003). 297 Zu diesem Aspekt auch Gerhardt (1988a), z. B. S. 25, S. 32 u. S. 34. 298 Die Natur strengt sich an, zur Schönheit zu kommen (N 1870/71, 7[121], 7, S. 168). Es gibt einen „Willen der Schönheit“ (ebd.) bzw. einen „Willen zur Schönheit“ (u. a. N 1885, 39[13], 11, S. 624; ebd., 43[1], S. 700).
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„als nothwendige Folge der Krafterhöhung“ und „Ausdruck eines s i e g r e i c h e n Willens“ angesehen (N 1888, 14[117], 13, S. 293). Schönheit wird zu einem Zeichen für Macht. Dies ist aber nur die eine Seite der Schönheit, sozusagen der Blick auf ihre Ursache, die Nietzsche im Willen zur Macht verortet. Die andere Blickrichtung erhellt dagegen ihre vielfältigen Wirkungen: Schönheit appelliert direkt an unsere Instinkte „b e v o r noch der Verstand zu Worte kommt“, erschwert somit, objektiv zu bleiben und kann in besonderem Maße überredend wirken (N 1887, 10[167], 12, S. 555). Es ist möglich, durch Schönheit zu überreden statt zu befehlen (N 1883, 12[43], 10, S. 411). Schönheit kann verlocken (N 1883, 13[1], 10, S. 429). Schönheit selbst kräftigt und stärkt: In der Geburt der Tragödie spricht Nietzsche die Verklärungskraft Apollos an, dessen „üppigste Schönheitswirkungen“ erst eine nächste Generation schauen werde (GT 25, 1, S. 155; H.v. m.). Schönheit kann ein „Schutzschild“ sein (vgl. N 1883, 12[43], 10, S. 411) und, z. B. im Kunstwerk, anregend und „tonisch“ wirken, die Kraft mehren und die Lust, d. h. für Nietzsche das Gefühl der Kraft, erzeugen (N 1888, 14[119], 13, S. 296 f.): „,s c h ö n ‘ wirkt entzündend auf das Lustgefühl“ (N 1887, 9[6], 12, S. 342) und regt die „dichtende Kraft“ an (N 1887, 10[167], 12, S. 555). Es kann somit zu einer positiven Rückkopplung, einem Effekt der (Selbst-)Verstärkung kommen: Schönheit, selbst auf eine gewisse Kraft angewiesen, kräftigt und stärkt im Gegenzug. So wie andersherum alles Hässliche den Menschen schwächt und sein Anblick „schlecht und düster“ (FW 290, 3, S. 531) macht: „Es erinnert ihn an Verfall, Gefahr, Ohnmacht; er büsst thatsächlich dabei Kraft ein.“ (GD, 6, S. 124)299 299 Vgl. auch N 1888, 14[119], 13, S. 296 f. Allerdings ist an dieser Stelle etwas Vorsicht geboten: Hässlichkeit ist bei Nietzsche als Gesamtphänomen komplexer als es bis hierher den Anschein hat und löst nicht immer notgedrungen eine Schwächung aus: Vielmehr kann es u. U. von Stärke zeugen, wenn man eine gewisse Hässlichkeit ertragen kann, bzw. kann ein zu großes Bedürfnis nach Schönheit dekadent sein (vgl. N 1885/ 86, 2[111], 12, S. 117). Die Entscheidung, ob und wo etwas als „schön“ oder „hässlich“ beurteilt wird, hängt von der jeweiligen (aufgestauten) Kraft und dem Machtgefühl eines Einzelnen oder eines Volkes ab (N 1887, 10[168], 12, S. 555 f.). Die „mächtigsten Wirkungen“ zu entfalten, sei nach Nietzsche vielleicht gerade der „ K u n s t d e r h ä s s l i c h e n S e e l e “ gelungen (MA I, 152, 2, S. 145). Und ein großes Zeichen von Macht kann darin gesehen werden, sich aus Lust – also aus einem positiven Impuls, einem Kraftgefühl heraus – künstlerisch mit Hässlichem auseinanderzusetzen. So kann von dem Hässlichen, das künstlerisch verwandelt dargestellt wird, eine Kraftsteigerung ausgehen, „(i)nsofern es noch von der siegreichen Energie des Künstlers etwas mitteilt, der über dies Häßliche und Furchtbare Herr geworden ist.“ (N 1887, 9[102], 12, S. 394) In dieser Hinsicht kann die Darstellung von Hässlichem, selbst einmal als Gegenteil der Hässlichkeit apostrophiert, in der Kunst durchaus angemessen sein. Schönheit umfasst demnach auch hässliche Momente und basiert auf der Verklärung der hässlichen Wahrheit (vgl. Böning (1988), S. 197). Nietzsche denkt das Schöne daher nicht mehr klassisch (vgl. Schmid (2000), S. 30), sondern in gewisser Weise jenseits von schön und hässlich (vgl. Schmied (1999), S. 194; Zimmermann (2000), S. 36, Anm. 3). Denn Schönheit ist für ihn nicht mehr kategorial von Hässlichkeit getrennt.
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Worauf es hier ankommt, ist, dass Schönheit und Hässlichkeit aus einem machttheoretischen Blickwinkel und als Ausprägungen und Zeichen von Macht angesehen werden (Ästhetik der Macht), die ihrerseits sinnliche Machteffekte zeitigen und somit Rückwirkungen auf vorhandene Machtkonstellationen besitzen (Macht der Ästhetik). „Schönheit“ kann, wie gesagt, sogar „das höchste Zeichen von Macht“ darstellen, mit der interessanten Begründung, dass „in der Schönheit Gegensätze gebändigt sind“, und zwar „ohne Spannung“, so „daß keine Gewalt mehr noth thut, daß alles so leicht f o l g t , g e h o r c h t “. Die höchste Macht, die größte Überlegenheit zeigt sich also in der zwanglosen Bändigung von Entgegengesetztem. Alles folgt und schließt sich wie von selbst an und macht „zum Gehorsam die liebenswürdigste Miene“ (N 1886/87, 7[3], 12, S. 258). Vor dem Hintergrund des Kapitels über Instrumentalität dürfte offensichtlich sein, dass es somit aus einer machttheoretischen Perspektive heraus starke Anreize gibt, derartige Zeichen wie die „Schönheit“ und deren sinnlich-ästhetischen Machteffekte gezielt als Mittel einzusetzen, z. B., um die eigene Machtfülle zu demonstrieren, sich von anderen abzuheben und eine erhöhte Legitimität und Unterordnungsbereitschaft zu erzielen. Macht kann hierzu einen zeichenhaften Ausdruck in der Ästhetik alltäglicher Gegenstände, Kunstwerke und Architektur finden, die qua ihrer ästhetischen Wirkung selbst als Machtmittel eingesetzt werden können. Besonders wirkungsvoll ist die Machtästhetik, so die These des folgenden Abschnittes, in habitualisierter und inkorporierter Form. bb) Körperliche Dimension Körper bieten in besonderer Weise die Möglichkeit der Darstellung und des Ausdrucks von Macht, z. B. in der Haltung und Bewegung des Körpers: Stärke drückt sich laut Nietzsche als ein „Herrschaftsgefühl in den Muskeln“ aus, als „Geschmeidigkeit und Lust an der Bewegung, als Tanz, als Leichtigkeit und Presto“ (N 1888, 14[117], 13, S. 294). Des Weiteren schreiben sich Machtverhältnisse tief ein in die Physiognomie des Leibes, der selbst als ein Verhältnis von Willen zur Macht interpretiert werden kann, und ermöglichen somit im wahrsten Sinne eine Verkörperung von Macht. Um an den vorherigen Abschnitt anzuknüpfen: Schönheit ist dort am Beispiel eines Kunstwerkes als Zeichen für eine gelungene „Bändigung der Gegensätze“ bezeichnet worden und somit als ein Zeichen für Macht. Die Bändigung von Gegensätzen findet aber auch in Organismen wie den menschlichen Körpern statt: Der Organismus wird von Nietzsche, wie des Öfteren angesprochen, als Kampfplatz von Teilen angesehen. Die Ästhetik eines Organismus wäre nun ein Zeichen für eine gelungene Koordination der einzelnen rivalisierenden Teile. Diese Organisation setzt einen gewissen Willen zur Macht voraus, zur Überwindung und Einbindung von widerstrebenden Tendenzen, die es immer gibt, und die auch weiterhin latent vorhanden bleiben.
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Durch die machtbedingte Organisation der Teile wird das Überleben des Organismus als ganzem überhaupt erst möglich und seine Macht gesteigert.300 Dieser Zusammenhang lässt sich auch auf das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und seinen körperlichen Antrieben übertragen. Schönheit ist dann das Zeichen für die Macht desjenigen, der es schafft, gegensätzliche Triebe zu organisieren und zu einem einheitlichen Willen zu formen; und der somit handlungsfähig wird. In den körperlichen Handlungen und Haltungen kann er sich in seiner Mächtigkeit ästhetisch nach außen darstellen, als stimmiges Ganzes, mit einer Form und einem Stil, mit anmutigen Bewegungen, einer harmonischen Mimik etc. Hässlichkeit ist demgegenüber ein Zeichen für Dekadenz, innere Zerrissenheit und mangelnde Koordination der Begehrungen, d. h. für „einen Niedergang an organisirender Kraft, an ,Willen‘ physiologisch geredet . . .“ (N 1888, 14[117], 13, S. 294). Dies kann sich in einer Unfähigkeit zeigen, seine Kräfte zu bündeln, sich selbst zu einer Einheit zu formen und Entscheidungen zu treffen und durchzuhalten: „W i l l e n s - S c h w ä c h e als Folge der Desorganisation und Zeichen des Verfalls.“ (N 1883, 7[232], 10, S. 314) Ein Anzeichen für eine derartige Dekadenz sieht Nietzsche aber auch darin, dass eine allzu brutale Selbstherrschaft gegenüber den eigenen, sich widersprechenden Trieben nötig ist. Ein Beispiel hierfür ist ihm der „Niedergangstypus“ des „hässlichen“ Sokrates, der über den Aufstand seiner Triebe nur um den Preis einer Tyrannei der Vernunft Herr habe bleiben können. Nach Nietzsche ist es Ausdruck einer absteigenden Entwicklungslinie, die Instinkte mit Gewalt bekämpfen zu müssen (vgl. GD, 6, S. 67 ff.).301 Der Mächtige, Starke, dem ein Überschuss an Kräften zur Verfügung steht und der seiner Macht sicher ist (N 1886/87, [71], 12, S. 217), habe dies nicht nötig. In ihm drücke sich auch körperlich der „siegreiche“ Machtwille aus, der zu einer „gesteigerten Coordination, einer Harmonisierung aller starken Begehrungen“ führe (N 1888, 14[117], 13, S. 293 f.). Auch hier zeigt sich also die höchste Macht in einer zwanglosen Bändigung von Gegensätzen. Die wahrhaft große Macht kann es sich leisten, „gnädig“ zu sein und – genau genommen erst durch diese Gnade – als Schönheit 300 Hier ist bereits zu sehen, wie eng Leben, Macht und Ästhetik für Nietzsche miteinander verknüpft sind (vgl. dazu auch das Ende des Kapitels). Die basale Rekursivität zwischen Macht und Organisation – Macht schafft Organisation, die wiederum Macht schafft, steigert etc. –, die auch den Selbstorganisationsprozessen des Lebendigen zu Grunde liegt, wird eigens im letzten Kapitel über Macht und Organisation (II. 10.) thematisiert. 301 Dieser Vorwurf der Leib- und somit letztlich der Lebensfeindlichkeit ist auch einer seiner schärfsten Kritikpunkte am Christentum. Dagegen geht es nach seinem Dafürhalten um „die Herrschaft über die Leidenschaften, nicht deren Schwächung oder Ausrottung! – Je größer die Herren-Kraft des Willens ist, um so viel mehr Freiheit darf den Leidenschaften gegeben werden. – Der ,große Mensch‘ ist groß durch den Freiheits-Spielraum seiner Begierden und durch die noch größere Macht, welche diese prachtvollen Untiere in Dienst zu nehmen weiß.“ (N 1887, 9[139], 12, S. 414)
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„in’s Sichtbare“ zu treten (vgl. ZA II, 4, S. 152).302 Außerdem wird daran erneut deutlich, dass der Wille zur Macht nicht auf einen bloßen Trieb und dessen unmittelbare Stärke zu reduzieren ist, sondern vielmehr ein komplexes Zusammenspiel, eine Koordination und Organisation verschiedener Antriebe zueinander darstellt, die sich im Körper eine Form geben. Interessant für uns ist es nun, diese Überlegungen auf einen sozialen bzw. organisationalen Kontext zu übertragen. Auch in einem derartigen Kontext werden die Zeichen des „siegreichen“ Machtwillens sich zum einen im Körper eines Akteurs ausdrücken, in dessen Aussehen und Auftreten. Darüber hinaus, so die hier vertretene These, kann durch diesen körperlichen Ausdruck aber auch eine leichtere Folgsamkeit anderer Akteure bewirkt werden, so dass auch in diesem Bereich „keine Gewalt mehr noth thut, daß alles so leicht f o l g t , g e h o r c h t , u n d zum Gehorsam die liebenswürdigste Miene macht“ (N 1886/87, 7[3], 12, S. 258), wie Nietzsche ursprünglich mit Blick auf die Kunst und den Machtwillen des Künstlers schreibt. Für institutionelle Organisationen deutet sich dadurch auch die Aufwertung konsensualer Momente der Macht an: Denn auch in Organisationen könnte die höchste Macht demnach nicht primär auf Gewalt oder expliziter Drohung gegenüber Untergebenen beruhen, sondern sich vielmehr gerade darin zeigen, dass derartiges nicht (mehr) nötig ist.303 Im Folgenden soll diese These, dass Körper in ihrer Ästhetik auch bei Nietzsche sowohl als Machtprodukt als auch Machtmittel in Beziehungen zwischen Akteuren angesehen werden können, durch einige Stellen erhärtet werden. Indizien dafür lassen sich hinreichend finden, auch wenn Nietzsche sich nicht dezidiert auf einen organisationalen Kontext bezieht. Immer wieder und in den verschiedensten Phasen seines Werkes thematisiert er aber generell die gesellschaftliche Herkunft sowie soziale Effekte einer körperlichen Ästhetik: Er sucht nach dem Ursprung der (s. E. mangelhaften) „Manieren und Bewegungen der Deutschen“, die er im „grotesken Neben- und Uebereinander aller möglichen Stile“ ausfindig macht (UB I, 1, 1, S. 163), thematisiert den Gang und die Manieren „grosser Geister“ (M 282, 3, S. 525), stellt „die schönen Gebärden, Manieren, Gegenstände“ (N 1888, 14[11], 13, S. 223) ebenso wie die „Wohlge-
302 „Wenn die Übermacht gnädig wird und ihre Gnade herabkommt ins Sichtbare: Schönheit heiße ich solches Herabkommen.“ (N 1883, 13[1], 10, S. 441; H.v. m.) 303 Kritisch gewendet, kann diese ästhetisch induzierte Form der Folgsamkeit auch als totaler Automatismus der Macht interpretiert werden, der nicht weniger zwingend ist, sondern im Gegenteil durch die teils unbewusste Wirkung nur subtiler und perfider verläuft. Der Unterschied zu gewalttätigeren Formen der Machtausübung wäre dann nur, dass die Untergebenen noch eine „liebenswürdige Miene“ zum Beherrschtwerden machen. Dies wäre im Übrigen auch ein möglicher Grund für die bevorzugte Auswahl von überdurchschnittlich schönen Menschen in Führungspositionen, die empirische Daten nahe legen (vgl. Menninghaus (2003)).
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rathenheit“ (W, 6, S. 51) in eine Reihe mit dem Willen zur Macht und preist die „prachtvolle und geschmeidige Leiblichkeit des Griechen“, die er als Ausdruck und Folge eines spezifischen Willens zur Macht interpretiert (N 1888, 24[1], 9., 13, S. 626).304 An alledem wird deutlich: Herkunft und Machtposition, die Ausstattung mit Macht bzw. die spezifischen Konstellationen des Willens zur Macht drücken sich auch körperlich aus, werden „ v e r i n n e r l i c h t “ (GD, 6, S. 149) und regelrecht „eingefleischt“ (JGB 257, 5, S. 205 bzw. N 1885/86, 2[13], 12, S. 71 ff.)305 – und zeitigen in dieser inkorporierten Form die entsprechenden, wiederum körperlich empfangenen und empfundenen Wirkungen: Die „Höhe“, „Größe“ und „Pracht“ von „Gebärden“ kann zu außergewöhnlichen Effekten, die „ w i l d s c h ö n e N a t u r “ zu „Entzücken und Entsetzen“ bei den Betrachtern führen (M 502, 3, S. 295), die Ehrfurcht vor einem Mächtigeren löst ein „unwillkürliches Verstummen, ein Zögern des Auges, ein Stillewerden aller Gebärden“ aus (JGB 263, 5, S. 217 f.). Anhand derartiger Wirkungen körperlicher Ästhetik lässt sich z. B. auch das unbewusste Streben starker Charaktere nach „Anmuth“ leicht erklären: Sie ist laut Nietzsche ein „Abzeichen“ (M 238, 3, S. 199 f.) für die eigene Macht und Stärke und stellt als solches ein wirkungsvolles ästhetisches Machtmittel dar.306 Besonders viele Belege und Beispiele für die Ambivalenz der körperlichen Ästhetik als Machtprodukt und -mittel zwischen Akteuren finden sich bei Nietzsche in Passagen, in denen er sich damit auseinandersetzt, was als vornehm gelten könne und was als gewöhnlich, mittelmäßig und pöbelhaft.307 Exemplarisch sei hier ein Notat aus dem Jahr 1885 angeführt, in dem Nietzsche explizit die Frage „Was ist vornehm?“ stellt. Seine Antwort lautet u. a. „die Sorgfalt im Äußerlichsten, selbst der frivole Anschein in Wort, Kleidung, Haltung“, und zwar, und das ist wichtig, „insofern diese Sorgfalt abgrenzt, fernhält, vor Verwechslung schützt.“ (N 1885, 35[76], 11, S. 543) Weiterhin wird dort „die langsame Ge304
Vgl. auch GD, 6, S. 157 oder JGB 262, 5, S. 214 ff. Siehe dazu auch weiter
unten. 305 Dies auch in Form einer „eingefleischte[n] Kleinstädterei“ der deutschen Seele (N 1885, 36[42], 11, S. 568) oder einer „eingefleischte[n] Tartüfferie der Moral (JGB 24, 5, S. 41) bzw. einer „eingefleischte[n] Verlogenheit“ (N 1883, 22[3], 10, S. 621; N 1886/87, 5[71], 12, S. 211). Auch ein permanenter Zwang, also eine unterlegene Machtposition, kann durch Gewöhnung einverleibt und zu einem regelrechten Bedürfnis werden (vgl. N 1881, 11[289], 9, S. 552); zur Inkorporierung auch FW 301, 3, S. 540. 306 Die schwachen Naturen müssen sich dagegen andere Wege wie das religiöse oder philosophische „Anschwärzen“ des Lebens, eine strenge Sittlichkeit oder den Habitus einer allgemeinen Menschenverachtung angeignen, um sich „einen Charakter und eine Art Stärke zu schaffen. Und diess thun sie ebenfalls unwillkürlich.“ (M 238, 3, S. 199 f.) Somit prägt ein Mangel an Anmut den Charakter. Zu körperlichen Versuchen diesen Mangel zu kaschieren und zu „maskieren“, z. B. durch „Düsterkeit des Blicks“ oder „derbe Possen“ s. auch M 266, 3, S. 210. 307 Vgl. u. a. JGB, 5, Neuntes Hauptstück: „was ist vornehm?“ sowie M 282, 3, S. 525; GM III, 8, 5, S. 353 f.; GD, 6, S. 149; EH, 6, S. 50 f.
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
323
bärde, auch der langsame Blick“ genannt.308 Der Vornehme bezeugt eine große Lust an Formen und Förmlichkeit, hat einen Hang zur Repräsentation und zu bedeutenden und gewählten Gebärden (vgl. auch N 1888, 15[115], 13, S. 474; GD, 6, S. 149), verkörpert Höflichkeit und „respektvollste Manieren“ (N 1887/ 88, 11[154], 13, S. 73) und besitzt die Gabe zu schweigen (N 1885, 35[76], 11, S. 544). Eng damit verbunden ist ein großes „Mißtrauen gegen alle Arten des Sich-gehen-lassens“ (ebd., H.v. m.).309 An anderer Stelle erhebt Nietzsche es sogar zum obersten Grundsatz, sich (auch vor sich selbst) nicht gehen zu lassen und nur mit Menschen zu leben, die sich nicht gehen lassen (GD, 6, S. 149).310 Auch hier ist zu konstatieren: Körperlichkeit zeigt etwas an, ist repräsentativer Ausdruck für ein bestimmtes Quantum an Wille zur Macht, der zur Selbstüberwindung sowie zur Überwindung anderer nötig ist. In dieser Auswahl klingen ferner zwei entscheidende Motive an, die wir oben bei der Mikropolitik bereits ausgemacht und erörtert haben: Das erste kann als „Wille zur Distinktion“311 bezeichnet werden, der sich körperlich ausdrückt; das sorgfältige und gewählte Verhalten sowie der ausgewählte Umgang dienen der Abgrenzung und der Distanzierung von allem Niederen. „Das Erste, worauf hin ich mir einen Menschen nierenprüfe, ist, ob er ein Gefühl für Distanz im Leibe hat, ob er überall Rang, Grad, Ordnung zwischen Mensch und Mensch sieht, ob er d i s t i n g u i e r t “ (EH, 6, S. 362).
Gegebene Unterschiede werden tief einverleibt (vgl. JGB 257, 5, S. 205), z. B. in einem vornehmen „Geschlechts-Geschmack“ (N 1888, 15[118], 13, S. 480), und bis hin zu physischer Abneigung und Ekel vor zu großer Nähe oder pöbelhafter Gemütlichkeit und Vertraulichkeit internalisiert und gesteigert, insbesondere in Bezug auf Individuen, die nicht als gleichrangig angesehen werden (vgl. N 1885, 35[76], 11, S. 543; N 1887/88, 11[154], 13, S. 73).312 Unterschiede und Distanz werden somit durch den körperlichen Habitus auch in symbolischer
308
Vgl. exakt zu dem „langsamen Blick“ des Adels auch Bourdieu (1999), S. 288. Literarisch entfaltet wird diese Thematik z. B. von Thomas Mann in „Königliche Hoheit“. 310 Hierin liegt ein weiterer Vorwurf an die Deutschen, die ihre Bequemlichkeit über die Vornehmheit stellten und sich möglichst wenig Selbstüberwindung angedeihen lassen wollten, „wie all unser Gehen, Stehen, Unterhalten, Kleiden, Wohnen anzeigt.“ (UB II, 4, 1, S. 275) 311 Vgl. auch Bourdieu (1999), S. 108. Zum Pathos der Distanz als „internalisation of the social order of rank“ s. Owen (1994), S. 29, S. 61 f.; ausführlich dazu Gerhardt (1988), S. 5 ff. sowie (1989) in: HWPh, Bd. 7, S. 199 ff. 312 Nach eigenem Bekunden kann Nietzsche selbst „nicht neben einem Menschen leben, der Suppe isst oder fortwährend ausspuckt“ (N 1881, 15[39], 9, S. 648). „Über Geschmack sei nicht zu streiten? Oh ihr Thoren, alles Leben ist Streit um Schmecken und Geschmack und muß es sein. Und ich selber, meine thörichten Freunde! – was bin ich denn, wenn ich nicht das bin, worüber zu streiten ist: ein Geschmack!“ (N 1883, 12[43], 10, S. 411) 309
324
Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Weise repräsentiert, aufrechterhalten und perpetuiert (N 1885, 35[76], 11, S. 544).313 Das zweite Motiv ist die mit der Distinktion verbundene Legitimierung: Ästhetische Zeichen von Macht werden gemeinhin leicht anerkannt und sind somit als Machtmittel mit einer besonderen Legitimität ausgestattet. Dies gilt in besonderem Maße für körperliche Zeichen: Nietzsche spricht von der „Vornehmheit des Geburts-Adels im Blick und in der Gebärde“, die diesen als „zum Befehlen g e b o r e n legitimirt“ (M 40, 3, S. 408). So kann, unabhängig von anderen Legitimationsmitteln, allein durch Auftritt und Gebärde eine gewisse Legitimität generiert werden: „,Herr‘ ist, wer gewaltthätig in Werk und Gebärde auftritt“ heißt es in der Genealogie der Moral – „was hat der mit Verträgen zu schaffen . . .!“ (GM II, 17, 5, S. 324) Ein Grund für diese Legitimität liegt nach Nietzsches Ansicht in einer hohen Originalität und Authentizität, darin, dass diese ästhetischen Merkmale als Zeichen für einen großen und dauerhaften Willen zur Macht nicht leicht nachzuahmen oder zu fälschen seien: „Der gemeinste Mann fühlt, dass die Vornehmheit nicht zu improvisieren ist und dass er in ihr die Frucht langer Zeit zu ehren hat“ (M 40, 3, S. 408). Inwiefern Nietzsches hohes Vertrauen in die „Fälschungssicherheit“ derartiger Zeichen der Macht sowie der damit verbundene Schluss auf Legitimität tatsächlich plausibel erscheinen, sei hier zunächst einmal dahingestellt.314 Wichtig ist an dieser Stelle, dass der Zusammenhang von Macht und Zeit aus einer weiteren Perspektive betont wird. Das erinnert aus mikropolitischer Sicht an „die Sache mit dem englischen Rasen: ,Wie kriegt man den so hin?‘ – ,Jeden Tag bewässern und schneiden, und das ungefähr 400 Jahre lang.‘“ (Ortmann et al. (1990), S. 32) In beiden Fällen führt die Investition von Zeit und Arbeit zu einem außergewöhnlichen ästhetischen Ergebnis, das nun als Exklusionsmechanismus fungiert. Man kann weder den englischen Rasen noch die Selbstverständlichkeit und Sicherheit eines vornehmen körperlichen Habitus mit seiner Schönheit, Anmut und Würde ohne Weiteres nachahmen oder „improvisieren“. Schönheit ist kein Zufall, wie es auch in der Überschrift eines Aphorismus aus der Götzendämmerung heißt: „Auch die Schönheit einer Rasse oder Familie, ihre Anmuth und Güte in allen Gebärden wird erarbeitet“ (GD, 6, S. 148 f.). Schönheit und Vornehmheit sind
313 Wobei anzumerken ist, dass die Abgrenzung von der Masse und dem Mittelmaß bei Nietzsche einhergeht mit einer großen Wertschätzung für die Individualisierung: Sorgfalt, so hieß es oben, sei vornehm, insofern sie abgrenze, fernhalte und vor Verwechslung schütze! (Vgl. N 1885, 35[76], 11, S. 543) Hier klingt das beschwörende „V e r w e c h s e l t m i c h v o r A l l e m n i c h t ! “ aus dem Ecce Homo an (EH, 6, S. 257). 314 Zweifel scheinen durchaus angebracht. Auch wenn der Habitus nach wie vor nicht einfach zu improvisieren ist, so ist er wohl dennoch, gerade vor dem Hintergrund der heutigen Möglichkeiten medialer Inszenierungen und professioneller Beratung, zu beeinflussen (vgl. Fröhlich (1994), S. 53). Zur Frage der Legitimität s. u.
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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das verinnerlichte, inkorporierte Produkt der Arbeit von Generationen und somit eine „Frucht langer Zeit“.315 „Schlechtweggekommen“ zu sein ist somit auch und vor allem physiologisch zu verstehen (N 1886/87, 5[71], 12, S. 216) und spiegelt sich in Nervensystem, Temperament und Verdauungsapparat wider, wie auch Foucault (1978) in seiner Deutung der nietzscheschen Genealogie hervorhebt (vgl. S. 90 f.)316 – sowie in Manieren und Mimik, wie man mit Kant hinzufügen könnte, der sich mit dem Unterschied zwischen „gemeinem“ und „vornehmen“ Gesicht auseinandersetzt: Ersteres hat, auf Grund mangelnden Umgangs, „nicht die Biegsamkeit, in allen Verhältnissen, gegen Höhere, Geringere und Gleiche, das (. . .) angemessene Mienenspiel zu cultivieren“, während „die in städtischen Manieren geübten Menschen von gleichem Rang, indem sie sich bewußt sind, hierin über Andere eine Überlegenheit zu haben, dieses Bewußtsein, wenn es durch lange Übung habituell wird, mit bleibenden Zügen im Gesicht abdrücken.“ (Anthropol., AA 7, S. 302)
Die Herkunft schreibt sich demnach in den Leib der Menschen ein, in seine Physiognomie, sein Gesicht, seine Mimik, seinen Bewegungsapparat, seine Körperhaltung, seine Atmung, seine Sprechweise, seine Ernährungsgewohnheiten317 und Vorlieben; sie schlägt sich somit im wörtlichen und übertragenen Sinne im Geschmacksempfinden nieder: „Es ist gar nicht möglich, dass ein Mensch n i c h t die Eigenschaften und Vorlieben seiner Eltern und Altvordern im Leibe 315 Auch nach Bourdieu verdanken die Formen des legitimen Lebensstils ihren Wert „dem Umstand, daß sie Illustrationen höchst seltener Erwerbsbedingungen darstellen, d. h. eine gesellschaftliche Macht über die Zeit dokumentieren, die stillschweigend als die Form des Excellenten anerkannt ist: ’Alter‘ besitzen, mit anderen Worten jene gegenwärtigen Dinge, die Vergangenheit sind, akkumulierte, angehäufte, kristallisierte Geschichte (. . .), dies besitzen heißt Zeit, das Ungreifbarste überhaupt, beherrschen vermittels all der Dinge, denen gerade gemeinsam ist, nur im Laufe der Zeit, mit Zeit, gegen die Zeit erworben zu werden, d. h. durch Erbschaft.“ (Bourdieu (1999), S. 129) Die daraus resultierende „natürliche Vornehmheit“ (Bourdieu (1992a), S. 28, S. 37), z. B. im Umgang mit hohen Kulturgegenständen, unterscheidet diejenigen, die – bei etwa gleicher Ausstattung mit kulturellem Kapital – schon lange zur „Bourgeoisie“ gehören von den „Emporkömmlingen“: Erstere haben „auf ihre Sonderstellung bereits ein Vorrecht (. . .), weil ihre Privilegiertheit auf ältere Rechte zurückgeht“ und ihnen „der Umgang mit raren und ,vornehmen‘ Gegenständen, Menschen, Stätten, Aufführungen zu einem frühen Zeitpunkt bereits durchaus normal war“, während letztere „sich ihr kulturelles Kapital in Einrichtungen des Bildungssystems oder gelenkt vom Zufall autodidaktischer Funde mühsam erarbeiteten und zur Kultur ein ernsteres, strengeres, ja verkrampfteres Verhältnis haben.“ (Bourdieu (1999), S. 411 f.; H.v. m.) 316 „Der Leib – und alles, was den Leib berührt – ist der Ort der Herkunft: am Leib findet man das Stigma der vergangenen Ereignisse, aus ihm erwachsen auch die Begierden, die Ohnmachten und die Irrtümer; am Leib finden die Ereignisse ihre Einheit und ihren Ausdruck, in ihm entzweien sie sich aber auch und tragen ihre unaufhörlichen Konflikte aus.“ (Foucault (1978), S. 91) 317 „Welchen Werth hat es, daß so und so gehandelt (gegessen) worden ist – und nicht anders?“ (N 1883, 12[46], 10, S. 412)
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
habe“ (JGB 265, 5, S. 219; H.v. m.). Denn der distinguierte Geschmack setzt den Prozess einer langen Kultivierung voraus: „Man muss dem guten Geschmacke grosse Opfer gebracht haben, man muss um seinetwillen Vieles gethan, Vieles gelassen haben (. . .) man muss in ihm ein Princip der Wahl, für Gesellschaft, Ort, Kleidung, Geschlechtsbefriedigung gehabt haben, man muss Schönheit dem Vortheil, der Gewohnheit, der Meinung, der Trägheit vorgezogen haben.“ (GD, 6, S. 149)
Der entscheidende Ansatzpunkt für Vornehmheit, Anmut und Geschmack sind hierbei nicht primär Gedanken, Gefühle oder die Seele, sondern der Leib, der zuerst „überredet“ werden muss: „(D)ie rechte Stelle ist der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der R e s t folgt daraus . . .“ (ebd.). Deshalb gelten die Griechen mit ihrem Leibeskult Nietzsche auch als erste Kultur. Der Leib ist zu einem Teil das Produkt des Umgangs, ein Resultat der Machtverhältnisse, denen er ausgesetzt ist, oder denen er sich bewusst aussetzt. Daher ist die Investition von Zeit und Arbeit so wichtig. Allerdings ist diese Arbeit ein zweischneidiges Schwert: Denn einem vornehmem Habitus und Stil sieht man die „lange(.) Uebung“ und „tägliche(.)“ Arbeit (FW 291, 3, S. 530), die in ihm stecken nicht mehr unmittelbar an – und darf das auch nicht. Als Beispiel könnte man sich hier einen Balletttänzer vorstellen, der zwar lange und hart gerade für die Leichtigkeit seiner Bewegungen arbeiten muss, dessen Kunst aber umso vollkommener ist, je leichtfüßiger, müheloser und natürlicher sie erscheint. Das vollkommene Tun, das von wahrer Meisterschaft zeugt, ist nicht mehr bewusst und (krampfhaft) gewollt, sondern läuft vollkommen verinnerlicht und unbewusst ab.318 Es ist gewissermaßen von einem Können (bzw. Haben) zu einem Sein übergegangen (vgl. N 1885, 35[76], 11, S. 544), wie es bereits im ersten Abschnitt hieß. Gleiches gilt für die Vornehmheit. Die harte Arbeit selbst kann unter Umständen, obwohl deren Voraussetzung, der vollkommenen Vornehmheit, Anmuth und Schönheit sogar im Wege stehen; nämlich dann, wenn Arbeitsamkeit, der wenig vornehme „Fleiß im bürgerlichen Sinne“ und das verkrampfte Wollen nicht abgelegt werden können (ebd.). „Unerringbar ist das Schöne allem heftigen Willen“, heißt es im Zarathustra (ZA II, 4, S. 152). Eine Lösung für dieses Problem liegt in der Verteilung der Arbeit auf mehrere Schultern: Da ein einziges Menschenleben manchmal nicht einmal ausreicht, bedarf es der „accumulierten Arbeit von Geschlechtern“ (GD, 6, S. 148). Diese akkumulierte Arbeit kann „sozial vererbt“ werden, wie man mit Bourdieu sagen könnte, wobei auch für Nietzsche gilt: Wer 318 Vgl. N 1888, 14[128], 13, S. 310; ebd., 14[129], 13, S. 311. Dazu bereits Aristoteles, nach dem die „Kunstfertigkeit“ nicht mehr „hin und her“ überlege (Phys. II, 9, 199b88). Diese tiefe Verinnerlichung eines körperlichen Könnens, das im organisationstheoretischen Kontext auch als implizites Wissen oder „tacit knowledge“ bezeichnet wird (Polanyi (1966)), erklärt übrigens auch die Schwierigkeiten, derartiges Können zu explizieren und somit anderen Organisationsmitgliedern, z. B. mittels Expertensystemen, zugänglich zu machen.
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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besitzt, ist ein anderer als derjenige, der erwirbt.319 Erst die Erbschaft ermöglicht und garantiert die Selbstverständlichkeit und Mühelosigkeit, die zur Vollkommenheit gehören (vgl. GD, 6, S. 149).320 Und erst als Erbschaft wirken diese „wie Natur“ (AC 44, 6, S. 219). Hier lässt sich also in Analogie zur Mikropolitik die Quasi-Natürlichkeit als elementarer Effekt der körperlichen Machtästhetik und Grund für ihre hohe distinguierende und legitimierende Wirkung feststellen. Die inkorporierte Macht wirkt wie Natur – und ist dies in gewisser Weise auch. Sie ist eine „zweite Natur“ mit neuen Gewöhnungen, neuen Bedürfnissen und neuen Instinkten, die „angepflanzt“ und kultiviert werden können (UB II, 3 u. 5, 1, S. 270 u. 278; vgl. auch N 1886/87, 5[71], 12, S. 212).321 Sie ist somit in einem gewissen Rahmen durchaus beeinflussbar. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, und das ist das Entscheidende, ein starker und dauerhafter Wille zur Macht. Aus dieser Stärke und Dauer des Willens zur Macht, die sich zeichenhaft im körperlichen Habitus darstellen, resultiert dessen hohe Legitimität sowie seine große Wirksamkeit als Machtmittel.322 Und daher rührt auch die Bedeutung, die ihm von Akteuren zugeschrieben wird. Laut Nietzsche konnte der von ihm bewunderte Napoleon „zu seinem tiefen Verdrusse nicht fürstenmässig und ,legitim‘ gehen, bei Gelegenheiten, wo man es eigentlich verstehen muss, wie bei grossen Krönungs-Processionen und Aehnlichem: auch da war er immer nur der Anführer einer Colonne – stolz und hastig zugleich und sich dessen sehr bewusst.“ (FW 282, 3, S. 525; H.v. m.)
Wie anders dagegen die Griechen, bei denen nach Nietzsche weder „das Haus, noch der Schritt, noch die Kleidung, noch der thönerne Krug verrathen, dass die Nothdurft sie erfand“ (WL, 1, S. 889; H.v. m.).323 Die Griechen verstanden es also, gerade durch ihre Distanzierung von der „Nothdurft“, „legitim“ zu gehen. An viel späterer Stelle bewundert Nietzsche dementsprechend die „prachtvoll ge319 Vgl. dazu nahezu wortgleich Bourdieu (1992a), S. 57 f.; S. 72; (1999), S. 129, S. 143, S. 411; s. auch Veblen (1981), S. 68. An anderer Stelle wendet sich Nietzsche zwar gegen den Begriff der „Vererbung“, trifft aber exakt die hier angesprochene soziale Vererbung, wenn er die „Geschlechts-Vorgeschichte“ als eine ungeheure „Aufsparung und Capital-Sammlung von Kraft durch alle Art Verzichtleisten, Ringen, Arbeiten, Sich-Durchsetzen“ verstanden wissen will (N 1887, 9[45], 12, S. 358; H.v. m.). 320 Zum „Automatismus des Instinkts“ als Voraussetzung zu jeder Art von „Meisterschaft“ und „Vollkommenheit“ vgl. AC 57, 6, S. 242. „Vollkommenheit: das ist die außerordentliche Erweiterung seines Machtgefühls, der Reichthum, das notwendige Überschäumen über alle Ränder . . .“ (N 1887, 9[102], 12, S. 394). 321 Allerdings gilt für Nietzsche, „dass auch jene erste Natur irgend wann einmal eine zweite Natur war und dass jede siegreiche zweite Natur zu einer ersten wird.“ Wir sind also immer auch „Resultate früherer Geschlechter“ (UB II, 3, 1, S. 270). 322 „Starker Wille? Das ist viel, doch nicht genug. Einen langen starken Willen brauche ich, ein herzenshartes ewiges Entschlossensein.“ (N 1883, 13[3], 10, S. 452) 323 Bezüglich der „Distanz zur Notwendigkeit“ auch Bourdieu (1999), S. 100 ff., S. 25 f., S. 288.
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
schmeidige Leiblichkeit“ der Griechen (s. o.). Diese war ihnen jedoch keinesfalls einfach als „Natur“ gegeben. Vielmehr stellt sie für Nietzsche die kreative Reaktion auf eine prekäre Ausgangssituation dar, in der sich die Griechen ihrem eigenen und gegenseitig unbändigen Willen zur Macht gegenübersahen. Zu diesem „inwendigen E x p l o s i v s t o f f “ mussten sie sich verhalten. Sie hatten es gleichsam nötig, stark zu sein, um ihrer „ungeheure[n] Spannung im Innern“ Herr zu werden. Erst somit konnte sich die Spannung an Äußerem, Fremden entladen oder in Festen und Künsten gesteigert, kultiviert und verherrlicht werden. (Vgl. GD, 6, S. 157)324 Auch hier ist also zu konstatieren: Eine bestimmte Konstellation des Willens zur Macht findet einen leiblichen Ausdruck, der auf die Machtverhältnisse zurückwirkt und beispielsweise Auswirkungen auf das Verhältnis gegenüber Fremden hat. Ein weiterer wichtiger Punkt, der sich an den Zitaten paradigmatisch ablesen lässt, ist die Verbindung des Äußeren zum Inneren durch den Körper. Die „prachtvolle“ äußerliche Leiblichkeit der Griechen ist ein Ausdruck für ihren „inwendigen Explosivstoff“. Der gewählte Gang korrespondiert mit der Fähigkeit, sich nicht gehen zu lassen, auch nicht innerlich, „vor sich selber“ (GD, 6, S. 149). Ein unordentliches Äußeres wäre demnach ein Zeichen, dass das „Innere zu schwach und ungeordnet ist, um nach aussen zu wirken und sich eine Form zu geben.“ (UB II, 4, 1, S. 276) Das äußere Gehen hängt auch mit dem inneren „Gang der Gedanken“ zusammen: Im Aphorismus „Der Gang“ spricht Nietzsche davon, dass es „Manieren des Geistes“ sind, die auch bei großen Geistern eine pöbelhafte Herkunft verraten können: „der Gang und Schritt ihrer Gedanken ist es namentlich, der den Verräther macht; sie können nicht g e h e n . “ (M 282, 3, S. 525; H.v. m.) Dieser Gang der Gedanken drückt sich vornehmlich in Sprache aus.325 Auf die Bedeutung der Sprache und Sprechweise ist schon innerhalb der mikropolitischen Theorie hingewiesen worden. Auch für Nietzsche ist Sprache relevant für eine Machtästhetik: 324 Direkt dazu N 1888, 24[1], 13, S. 626; s. auch JGB 262, 5, S. 214 ff. Die o. a. Spannungsfreiheit bezieht sich demnach auf einen späten Zeitpunkt, ist gleichsam das Ergebnis eines spannungsgeladenen Prozesses. So wie das Fest erst nach vollbrachter Anstrengung seinen wahren Festcharakter zu entfalten im Stande ist. Entspannung setzt eine Anspannung voraus. Der Aufbau einer derartigen Spannung benötigt nach Nietzsche wiederum eine gewisse Zeit, wie er am Beispiel Napoleons verdeutlicht (vgl. GD, 6, S. 145). Kräfte müssen gehemmt, verzögert, aufgestaut und aufgespart werden, um gleichsam die kritische Masse für eine neuerliche Explosion zu erreichen, die sich dann unweigerlich ergibt. Die Stärke und Größe derartiger Genies liegt darin, „dass sie älter sind, dass länger auf sie hin gesammelt worden ist“ (ebd.). Bis es zu einer explosiven Entladung, gleich den eingangs beschriebenen Auslösungsprozessen, kommt (vgl. Teil 1 A. II. 1). 325 Daher auch seine Forderung, dass man nicht nur mit den Füßen gehen und tanzen können muss, sondern auch mit Begriffen und Worten (vgl. GD, 6, S. 110; dazu auch N 1882, 3[1], 297, 10, S. 89).
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„Dieser (. . .) da redet aufdringlich, er tritt zu nahe uns an den Leib, sein Athem haucht uns an, – unwillkürlich schliessen wir den Mund, obwohl es ein Buch ist, durch das er zu uns spricht: der Klang seines Stils sagt den Grund davon, – dass er keine Zeit hat, dass er schlecht an sich selber glaubt, dass er heute oder niemals mehr zu Worte kommt.“ (GM III, 8, 5, S. 354)
Die Sprache verrät, hier sogar in Schriftform, als Teil des körperlichen Habitus’ – Nietzsche spricht davon, keine Worte zu lesen, ohne die entsprechenden Gebärden vor dem geistigen Auge zu haben (vgl. AC 44, 6, S. 219; N 1882, 1[45], 10, S. 22) – die Machtstellung des Autors, der Angst haben muss, nicht zu Wort zu kommen.326 Mindestens ebenso wichtig wie die Worte ist daher die Sprechweise („Ton, Stärke, Modulation, Tempo“), über die letztlich auf die „Person“ rückgeschlossen wird (N 1882, 3[1], 296, 10, S. 89), sowie auf deren soziales Umfeld: „Warum wohntest du so lange am Sumpfe, dass du selber zum Frosch und zur Kröte werden musstest? Fliesst dir nicht selber nun ein faulichtes schaumichtes Sumpf-Blut durch die Adern, dass du also quaken und lästern lerntest?“ (ZA III, 4, S. 224; H.v. m.)327
Der Sprachgebrauch kann so auch zu einem Spiegel der herrschenden Gesellschaftsordnung werden (N 1884, 25[155], 11, S. 54; dazu auch Biebuyck (1994), S. 126) und somit zu einem körperlichen Ausdruck der Herrschaftsstruktur bzw. der Willen zur Macht-Konstellation. Gleichzeitig zeitigt Sprache vielfältige körperliche Wirkungen beim Rezipienten: Oben ist das unwillkürliche Schließen des Mundes angesprochen, es gibt Worte, die trunken machen (N 1885/86, 2[12], 12, S. 71), aber auch vom Schweigen kann ein „zwingender Einfluss“ ausgehen (Biebuyck (1994), S. 134), es gibt eine „Stille, welche würgt“ (N 1885/86, 1[155], 12, S. 45). Sprache ist daher insgesamt mit Nietzsche als ein äußerst valides Machtzeichen anzusehen und kann als wirkungsvolles Machtmittel eingesetzt werden. Dass Sprache dabei wechselseitig mit der eigenen Körperlichkeit verbunden ist, zeigt Nietzsches Diktum, dass man auch heute noch „mit den Muskeln“ höre, „man liest selbst noch mit den Muskeln“ (N 1888, 14[119], 13, S. 297). Mitunter ist Sprache aber nicht einmal auf Worte angewiesen, und nicht umsonst kommt Zarathustra als Tänzer und auf „Taubenfüßen“ daher: Man kann sich direkt durch „Tänze und Gebärden-Zeichen“ mitteilen (N 1888, 14[118], 13, S. 295), durch Bewegungen und „mimische Zeichen“, die „auf Gedanken hin z u r ü c k g e l e 326 Die „Zunge läuft leicht zu geschwinde und überschlägt sich dabei“, wenn man nicht zur „ h e r r s c h e n d e n Kaste“ gehört, wie es in einem – auf Grund der inkludierten positiven und negativen rassistischen Vorurteile – hoch problematischen Abschnitt über die „Preußischen Juden“ heißt, in dem eine Reihe weiterer habitueller und ästhetischer Macht-Aspekte angesprochen werden (N 1885, 36[42], 11, S. 568). 327 Biebuyck (1994) spricht auch von einer „traditionsgemäßen Vererbung der Kommunikationsmittel“ (S. 129).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
s e n w e r d e n “ (ebd., 14[119], S. 297) – eine Gebärde kann mitunter sogar mehr sagen als viele Worte und nach Nietzsche wichtiger sein als Gründe (vgl. AC 54, 6, S. 237). Diese Gebärden werden nicht nur auf Gedanken, sondern auch auf die darin zum Ausdruck kommende Macht „zurückgelesen“ bzw. unwillkürlich empfangen und können ebenso unwillkürliches mimetisches Verhalten auslösen.328 Dabei findet ein fließender Übergang zwischen Innen und Außen statt. Festhalten lässt sich daher: Nietzsche denkt Inneres und Äußeres zusammen, als wechselseitig ineinander übergehend. Es ist dabei auch nicht ausschließlich von einer einseitigen äußeren Beeinflussung des Körpers durch das „Milieu“ auszugehen, der gegenüber Nietzsche immer wieder die Bedeutung der „innere(n) Kraft“ hervorhebt (N 1885/86, 2[175], 12, S. 154), sondern von einer komplexen Wechselwirkung von Kräften, die sich teilweise gar nicht immer klar in äußere und innere differenzieren lassen. Dementsprechend geht es auch nicht ausschließlich darum, seinem Äußeren eine Form zu verleihen. Vielmehr ist Äußeres mit Nietzsche als Ausdruck eines Inneren zu verstehen, wobei auch dieses Innere selbst zu formen ist – nicht zuletzt durch die Arbeit am Äußeren. Es tut not, seinem gesamten Charakter „Stil“ zu verleihen „– eine grosse und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plan einfügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt. Hier ist eine grosse Masse zweiter Natur hinzugetragen worden, dort ein Stück erster Natur abgetragen: – beidemal mit langer Uebung und täglicher Arbeit daran. Hier ist das Hässliche, welches sich nicht abtragen liess, versteckt, dort ist es ins Erhabene umgedeutet“ (FW 291, 3, S. 530).
Nietzsche betont immer wieder die Notwendigkeit derartiger Formung, Organisation und einheitlicher Präsentation. Und zwar bereits in den Aufzeichnungen der frühen siebziger Jahre bis hin zum späten Nachlass.329 Denn wir alle sind als moderne Menschen „aus Stücken bunt zusammengesetzt“ (GS, 1, S. 765), „wir Alle haben, wider Wissen, wider Willen, Werthe, Worte, Formeln, Moralen e n t g e g e n g e s e t z t e r Abkunft im Leibe – wir sind physiologisch betrachtet, falsch . . .“ (W, Epilog, 6, S. 53; kursiv v. m.).
Vor dem Hintergrund seiner späteren Philosophie lässt sich diese notwendige Formung als Ausdruck eines starken Willens zur Macht interpretieren: Einheitlichkeit, er spricht an manchen Stellen auch von Einfachheit, ist in Nietzsches Philosophie der grundsätzlichen Vielheit und Kompliziertheit der Welt (vgl. z. B. N 1872/73, 19[117], 7, S. 457) nur als Resultat von aktiver Vereinfachung und 328 Vgl. dazu MA I, 216, S. 176; generell zum „Nachmachen-Müssen“ als Reaktion auf bestimmte Zeichen, s. N 1888, 14[170], 13, S. 356; dazu auch Biebuyck (1994). 329 U. a. in N 1871/72, 16[13], 7, S. 397; N 1873, 29[118], 7, S. 685; N 1887/88, 11[31], 13, S. 17 f.; ebd., 11[312], S. 131 f.; N 1888, 14[46], 13, S. 240.
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
331
Vereinheitlichung denkbar.330 Dafür ist Macht nötig. Gleichzeitig erfährt durch diese Formung die eigene Wirkungsfähigkeit eine Steigerung. Dabei ist es laut Nietzsche sogar wichtiger, dass sich ein Stil, ein Geschmack ausbildet, als dass es sich dabei um einen guten Geschmack handelt (vgl. FW 291, 3, S. 530). Vor dem Hintergrund der großen Bedeutung, die Nietzsche einem einheitlichen Auftreten, Vornehmheit und Stil immer wieder einräumt, ist es daher nicht verwunderlich, dass er mit Blick auf Heraklit, den er zum „allervornehmsten Geschlecht“ (KGW II, 4, S. 261) rechnet, in dem er einen der ursprünglichen Philosophen-Typen sieht und dem er sich besonders nahe fühlt, schreibt: „Wir glauben es gerne der Überlieferung, daß er in besonders ehrwürdiger Kleidung einhergieng und einen wahrhaft tragischen Stolz in seinen Gebärden und Lebensgewohnheiten zeigte. Er lebte, wie er schrieb; er sprach so feierlich als er sich kleidete, er erhob die Hand und setzte den Fuß, als ob dieses Dasein eine Tragödie sei, in der er, als Held, mitzuspielen geboren sei.“ (PhtZ, 1, S. 820 f.)
In all dem war Heraklit laut Nietzsche das große Vorbild des Empedokles und wurde von seinen Mitbürgern zum Anführer einer auswandernden Kolonie gewählt. Er übte also auch durch seine körperliche Ästhetik und seinen Stil eine Wirkung aus, ohne dass sein Wirken allerdings auf den „Beifall der Massen“ ausgerichtet gewesen sei, wie Nietzsche betont (PhtZ, 1, S. 833). Heraklit bleibt also distinguiert und distanziert.331 In allen diesen Äußerungen zeichnen sich m. E., bei aller Rede von gegebenen Unterschieden, einer „eingeborne[n] Rangordnung“ (JGB 263, 5, S. 217), vom „Geblütsadel“ (N 1885, 41[3], 11, S. 678) etc., indes auch Möglichkeiten der Einflussnahme auf die eigene Ästhetik ab: Wir können uns als Menschen zu unserer eigenen Ästhetik verhalten und positionieren. Wir können Einfluss auf unseren Geschmack und unseren Stil nehmen, können uns – im negativen wie im positiven Sinne – bewusst abheben, individualisieren und aktiv gestalten (N 1886/87, [61], 12, S. 208) und somit in einem gewissen Rahmen zu „Bildnern“ unserer selbst werden (N 1881, 11[297], 9, S. 555). Notdurft und Schwäche können von uns u. U. umgewandelt, sublimiert und kulturell veredelt werden. Wir können versuchen, unsere Kräfte zu steigern, indem wir sie bündeln, ihnen eine Einheit und eine Richtung verleihen. Und wir können unsere Wirkungen – auch unsere ästhetischen Wirkungen – gezielt und strategisch im Umgang mit anderen einsetzen. Der entscheidende Ansatzpunkt dafür ist der Leib, der in diesem Abschnitt einerseits als machtgeprägt, andererseits als wirkungsvolles Machtmittel beschrieben worden ist. 330 Vgl. dazu auch Nietzsche-Wörterbuch, hg. von van Tongeren/Schank/Siemens (2005), Bd. 1, S. 724 und S. 730; Figl (1982) S. 101; Kaulbach (1979), S. 145. 331 „(K)eine Brücke führt zu den anderen Menschen hin, kein übermächtiges Gefühl mitleidiger Regung verbindet sie mit ihm. Von dem Gefühl der Einsamkeit, das ihn durchdrang, kann man sich schwerlich eine Vorstellung machen: vielleicht macht sein Stil dies noch am deutlichsten“ (KGW II, 4, S. 263; H.v. m.).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
cc) Gegenständliche Dimension Nach allem, was bisher ausgeführt worden ist, kann dieser Abschnitt etwas kürzer abgehandelt werden. Grundsätzlich gilt, was eingangs bereits festgestellt wurde: Macht kann sowohl in Körpern als auch in Gegenständen zeichenhaft zum Ausdruck kommen. Und ebenso können auch Gegenstände als ästhetische Machtmittel eingesetzt werden. Wie an den Beispielen im vorigen Kapitel schon angedeutet worden ist, geht es Nietzsche im Zusammenhang mit dem ästhetischen Machtausdruck nicht darum, eine Trennlinie zwischen dem Körper und Gegenständen zu ziehen: In einer Reihe werden „schöne Gebärden, Manieren, Gegenstände“ zusammen mit dem Willen zur Macht aufgelistet (N 1888, 14[11], 13, S. 223), der feierliche Stolz in den Gebärden, den Lebensgewohnheiten und der Sprache Heraklits korrespondiert zwanglos mit seiner ehrwürdigen Kleidung (vgl. PhtZ, 1, S. 820 f.) und gemeinsam mit der Art der Griechen zu gehen, werden ihre Häuser, ihre Kleidung und ihre tönernen Krüge behandelt (WL, 1, S. 889). Der Körper steht somit zusammen mit den ihn kleidenden, schmückenden und umgebenden Gegenständen in einem Kontinuum der Lebensäußerung, die gemeinsam einen Stil, eine einheitliche Form bilden können. Dieser Stil ist in einem basalen Sinne als künstlerisch zu bezeichnen, so wie oben bereits von einem „künstlerischen Plan“ die Rede war (FW 291, 3, S. 530; H.v. m.), auch wenn dieser sich nicht ausschließlich in großer und erhabener Kunst zeigt: Der ästhetische Überschuss der Griechen entlädt sich vielmehr auch in „den Dingen des alltäglichen Gebrauchs, und die Erwähnung des Schrittes als eines tragenden Elementes im leibhaftigen Realitätsbezug läßt nicht nur erkennen, daß Nietzsche diese ,intuitiven Menschen‘ der vorsokratischen Zeit für geborene Tänzer hält – er dehnt auch den auf das Kriterium des Werkcharakters bezogenen Kulturbegriff auf den Bereich des Gestischen aus.“ (Recki (2000), S. 530 f.)
Bilden diese individuellen Stile eine Einheit „in allen Lebensäusserungen eines Volkes“, kann erst im eigentlichen Sinn von der „Kultur“ eines Volkes gesprochen werden (UB I, 1, 1, S. 163; UB II, 4, 1, S. 274). Eine Einheit, die Nietzsche im „chaotischen Durcheinander aller Stile“ innerhalb der deutschen Kultur, wie oben bereits angedeutet, nicht feststellen kann: „Alles sollte ihn [den gebildeten Deutschen] doch belehren: ein jeder Blick auf seine Kleidung, seine Zimmer, sein Haus, ein jeder Gang durch die Strassen seiner Städte, eine jede Einkehr in den Magazinen der Kunstmodehändler; inmitten des geselligen Verkehrs sollte er sich des Ursprunges seiner Manieren und Bewegungen, inmitten unserer Kunstanstalten, Concert-, Theater- und Museenfreuden sich des grotesken Neben- und Uebereinander aller möglichen Stile bewusst werden.“ (UB I, 1, 1, S. 163)
Weiterhin ist oben bereits mehrfach die gegenständliche Dimension angeklungen, wenn es z. B. im Zusammenhang mit der „Sorgfalt im Äußerlichsten“ u. a. um „Kleidung“ ging (N 1885, 35[76], 11, S. 543) oder wenn das bequemliche „Kleiden und Wohnen“ der Deutschen kritisiert wurde:
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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„Man durchwandere eine deutsche Stadt (. . .), alles ist farblos, abgebraucht, schlecht copirt, nachlässig, jeder treibt es nach seinem Belieben, aber nicht nach einem kräftigeren, gedankenreichen Belieben, sondern nach den Gesetzen, die einmal die allgemeine Hast und sodann die allgemeine Bequemlichkeits-Sucht vorschreiben.“ (UB II, 4, 1, S. 275)
Neben der Kritik an mangelnder Selbstüberwindung, an dem unvornehmen Sich-gehen-Lassen, klingt hier durch das Ankreiden der „Hast“ auch die Bedeutung der Zeit wieder an: „Ein Kleidungsstück, dessen Erfindung keine Kopfzerbrechen macht, dessen Anlegung keine Zeit kostet, also ein aus der Fremde entlehntes und möglichst lässlich nachgemachtes Kleidungsstück gilt bei den Deutschen sofort als ein Beitrag zur deutschen Tracht.“ (UB II, 4, 1, S. 275 f.; H.v. m.)332
Nietzsche wirft den Deutschen vor, keine Muße zu besitzen und sich nicht einmal Zeit für ihre Kleidung zu nehmen. Dies ist in seinen Augen der Ausdruck eines niedrigen Ranges und eines unvornehmen Habitus. Der Vornehme nimmt sich dagegen die Zeit, die er benötigt, ist in gewisser Weise „immer verkleidet“ (N 1885, 35[76], 11, S. 543) und hat sich „beständig zu repräsentieren“ (N 1888, 15[115], 13, S. 474; N 1887/88, 11[154], 13, S. 73). Dies ist mit einer Legitimitätssteigerung verbunden, wie der letzte Abschnitt gezeigt hat. Auch das distinktive Moment findet sich in der gegenständlichen Dimension explizit wieder, und zwar beispielsweise im Besitz und im „Sammeln kostbarer Dinge“, die laut Nietzsche „die Bedürfnisse einer hohen und wählerischen Seele“ spiegeln: „nichts gemein haben wollen. Seine Bücher, seine Landschaften.“ (N 1885, 35[76], 11, S. 545) „Allerwelts-Bücher“ sind ihm demgegenüber „immer übelriechende Bücher: der Kleine-Leute-Geruch klebt daran.“ (JGB 30, 5, S. 49) Hier klingen sowohl die bewusste Abgrenzung als auch die identitätsfördernde Wirkung mit an. Man gestaltet sich selbst auch durch die Gegenstände, mit denen man sich umgibt. Dies ist auch Nietzsches entscheidender Kritikpunkt an der Mode, die er als „willkürlich übergehängte, die Individuen auszeichnende und sofort wieder uniformierende Tracht“ bezeichnet (N 1873, 29[132], 7, S. 690; H.v. m.). Der antike Mensch hätte demgegenüber „die Mode ausgelacht, aber die individuelle Manier zu leben, bis auf die Kleidung, gutgeheissen“ (ebd.; H.v. m.). In allen diesen Gegenständen und ihrer Zusammenstellung drückt sich ein Stil aus.333 Dieser Stil ist, wie oben angeführt, als Ausdruck des Willens zur Macht 332 Vgl. kritisch zur „Hast“ z. B. auch M, Vorrede, 3, S. 17; FW 278, 3, S. 523; N 1870/71, 7, S. 255. 333 Zur „Stilisierung“ des Lebens bei Weber als „systematische Konzeption, die die vielfältigsten Praktiken leitet und organisiert, die Wahl eines bestimmten Weins oder einer Käsesorte nicht minder als die Ausstattung eines Landhauses“ sowie zu deren distinktiver und legitimierender Funktion, vgl. Bourdieu (1999), S. 103: „Als Bekräftigung der Macht über den domestizierten Zwang beinhaltet der Lebensstil stets den Anspruch auf die legitime Überlegenheit denen gegenüber, die – da unfähig in zweck-
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
interpretierbar, wie Nietzsche für den großen Stil auch explizit konstatiert (vgl. N 1887/88, 11[138], 13, S. 63). Dieser stellt die „Spitze“ der Vereinfachung dar. Ein großer, einheitlicher Stil ist Ausdruck eines starken Willens zur Macht, wohingegen die fehlende Einheitlichkeit auf eine Schwäche an organisierendem Willen zur Macht hinweist. Gleichzeitig besteht in einem einheitlichen Stil auch ein großes Machtpotenzial, da er eine große Wirkung entfaltet: bereits das Wahrnehmen der Vereinfachung erhöht das Kraftgefühl (vgl. N 1888, 14[117], 13, S. 294). Dieses Machtpotenzial lässt sich auch ex negativo ableiten, denn ohne die Möglichkeit zu einer einheitlichen Ausrichtung kann man weder sich selbst bestimmen noch andere: Mit einem „Tumult aller Stile“ kann man „keine Feinde bezwingen“, wie Nietzsche es formuliert (UB I, 1, 1, S. 163; H.v. m.). Zusammenfassend lässt sich daher konstatieren: Körper und Gegenstände fließen gleichermaßen in den ästhetischen Ausdruck eines Stils ein, der die Gestaltung von uns selbst und unserer Umgebung umfassen kann. Auch alltägliche Gegenstände können in ihrer Ästhetik und insbesondere durch ihre durchgestaltete Zusammenstellung einen Willen zur Macht zum Ausdruck bringen sowie als ästhetische Machtmittel fungieren – nicht zuletzt durch ihre distinguierende und legitimierende Wirkung. Allerdings tritt der Automatismus der Legitimation im gegenständlichen Bereich m. E. etwas weniger deutlich zutage als im körperlichen. Die Quasi-Natürlichkeit ist im Bereich des Körpers, der Gebärde, des Blicks, noch unmittelbarer gegeben; und wirkt noch unumstößlicher. Ein guter Teil der Wirkung von Gegenständen scheint sich demgegenüber gerade aus dem körperlichen Umgang mit diesen zu speisen und der Art und Weise, wie sie durch einen entsprechenden Habitus zur Geltung gebracht werden. In den folgenden beiden Unterabschnitten sollen zwei Aspekte, die im weitesten Sinne unter die Klasse der Gegenstände zu subsumieren sind, noch einmal eingehender in den Blick genommen werden: Gebäude und Kunstwerke im Allgemeinen. (a) Architektur als Machtausdruck und Machtmittel Stil umfasst bei Nietzsche, wie nun bereits mehrfach festgestellt, alle Lebensäußerungen: Wie sich oben bereits andeutete, nimmt Nietzsche in diesem Zusammenhang auch das Wohnen der Deutschen und die deutsche Stadt unter die Lupe (UB II, 4, 1, S. 275), thematisiert deren Zimmer und Haus, die Strassen der Städte, die Magazine der Kunstmodehändler, die Kunstanstalten, Konzertsäle, Theater und Museen (UB I, 1, 1, S. 163). Die Verbindung von Ästhetik und Macht ist somit auch bei ihm nicht auf den Bereich des eigenen Körpers, der Haltung und Bewegung, der Bekleidung oder des Schmuckes beschränkt, sondern findet auch einen Ausdruck in der Architektur. Folgerichtig lässt sich die freiem Luxus und zur Schau gestellter Verschwendung ihre Verachtung der Kontingenzen geltend zu machen – von den Interessen und Nöten des Alltags beherrscht bleiben.“
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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bisher vertretene These eins zu eins auf den Bereich der Architektur übertragen, die gleichermaßen als Ausdruck von Wille zur Macht sowie als ästhetisches Machtmittel gedeutet wird.334 Der „Bauende“ übt für Nietzsche mit seinem Blick „Gewalt und Eroberung“ aus auf Gebäude, Stadt, Meer und Gebirgslinien, wie er mit Blick auf Genua feststellt. Der gestaltende Mensch will alles „seinem Plane einfügen und zuletzt zu seinem Eigenthum machen“ (FW 291, 3, S. 531). Der Architekt befindet sich in einem „Rausch des grossen Willens“ der nach einer Ausübung verlangt (GD, 6, S. 118). Inspiriert wird er laut Nietzsche dabei immer von den mächtigsten Menschen: „der Architekt war stets unter der Suggestion der Macht“ (ebd.). Architektur wird somit zum Ausdruck innerer Zustände, einer „unersättlichen Selbstsucht“, „Besitz- und Beutelust“ und die „architektonischen Gedanken“ sollen „überwältigen“ sowie die eigene „Ueberlegenheit“ manifestieren (FW 291, 3, S. 532). „Paläste“ und „Gärten“ werden zu Symbolen eines „gewaltigen Wollens“ von „starken, herrschsüchtigen Naturen“, die ihre Leidenschaft durch diese Stilisierung der Natur erleichtern (FW 290, 3, S. 530). „Der Sinn unserer Gärten und Palläste“ ist es, wie es dazu an anderer Stelle heißt, „die Unordnung und Gemeinheit aus dem Auge sich zu s c h a f f e n u n d d e m A d e l d e r S e e l e e i n e H e i m a t z u b a u e n . Die Meisten freilich glauben, sie werden h ö h e r e N a t u r e n , wenn jene schönen ruhigen Gegenstände auf sie eingewirkt haben: (. . .) S i e w o l l e n s i c h f o r m e n l a s s e n (. . .). Aber die Starken, Mächtigen wollen f o r m e n u n d n i c h t s F r e m d e s m e h r u m s i c h h a b e n “ (N 1883, 7[145], 10, S. 290 f.).
Architektur ist demnach letztlich nichts anderes als eine Manifestation des Willens zur Macht, wie Nietzsche in der Götzendämmerung auch ausdrücklich feststellt: „Im Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über die Schwere, der Wille zur Macht versichtbaren; Architektur ist eine Art Macht-Beredsamkeit in Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloss befehlend.“ (GD, 6, S. 118 f.; H.v. m.)
Damit ist die These dieses Abschnittes bereits belegt: Architektur ist eine Visibilisierung des Willens zur Macht, die als „Macht-Beredsamkeit in Formen“ als ein ästhetisches Machtmittel eingesetzt werden kann, dessen Spektrum von „überredend“ bis „befehlend“ reicht. 334 Gestützt wird der Zusammenhang zum großen Stil und zum Willen zur Macht auch von Ottmann (2000, S. 190 f.), auf dessen Artikel zum Stichwort „Architektur“ im Nietzsche-Handbuch ich mich im Folgenden u. a. beziehe. Er bezeichnet dort den Umfang von Nietzsches Äußerungen zum Thema Architektur als „spärlich“; auch seien sie häufig nur ein „Echo der Burckhardtschen Kunsthistorie“. Mit dessen Cicerone im Gepäck hat Nietzsche mehr als ein Jahrzehnt lang die Architektur in Pisa, um Sorrent, in Venedig, Genua, Rom, Florenz und Turin rezipiert, weshalb er auch die meisten Thesen seiner Architekturtheorie anhand von italienischen Bauten exemplifiziert (vgl. ebd.). Ausführlich zu Nietzsches Verhältnis zur (italienischen) Architektur auch Neumeyer (2001), Breitschmid (2000) und (2001), Buddensieg (2000) sowie (2002).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Anhand dieser Äußerungen lassen sich darüber hinaus einige weitere und auch weiter reichende Motive herausarbeiten, die uns teilweise bereits aus den vorangegangenen Ausführungen bekannt sind, beispielsweise wird erneut die Verbindung von Innen und Außen evident: Architektur kann als „Machtgebärde“ aufgefasst werden (Zimmermann (2000), S. 38; H.v. m.) und kehrt Inneres nach Außen, nur dass das Äußere jetzt nicht der Körper ist, sondern ein Gebäude. So wie das Ich selbst andersherum als „architektonischer Entwurf“ gedeutet werden kann (N 1880, 7[62], 9, S. 330). Ottmann (2000) spricht daher zu Recht davon, dass Nietzsche in der Architektur „eine Art steingewordene Psychologie“ und einen „Spiegel der Seele“ erblicke (S. 190). „Wir wollen u n s in Stein und Pflanze übersetzt haben, wir wollen in u n s spazieren gehen, wenn wir diesen Hallen und Gärten wandeln.“ (FW 280, 3, S. 525) Aus Architektur lassen sich demnach weitreichende Rückschlüsse ableiten: „Was bedeuten diese Häuser? Wahrlich keine grosse Seele stellte sie hin, sich zum Gleichnisse!“, heißt es im Zarathustra (ZA III, 4, S. 211). Diese Darstellungsmöglichkeiten von Architektur und die Engführung von Außen und Innen, von (großem) Stil und (großer) Seele, implizieren ebenso weitreichende Distinktionsmöglichkeiten: Mittels Architektur kann man sich durch einen großen Stil als „Führer“ präsentieren und von den kleineren Seelen der „Heerdenthiere“ abgrenzen. Das Paradebeispiel für einen derartigen großen Stil ist Nietzsche der Palazzo Pitti in Florenz (vgl. z. B. N 1885, 39[13], 11, S. 624).335 Eng damit verbunden ist die Legitimierungsfunktion, die von Architektur ausgeht: Sie ist in der Lage, den großen Willensakt zu versinnbildlichen, den hinter ihren Werken liegenden Willen, „der Berge versetzt“ (GD, 6, S. 118). Nahezu wortgleich kann man dies bei Assmann (2005), bezogen auf den ägyptischen Pyramidenbau, finden: „Der Staat ermöglicht die Aufbietung ungeheurer Kräfte und Organisationsleistungen riesigen Ausmaßes, ohne die diese Architektur nicht möglich wäre. Dadurch symbolisiert und visibilisiert diese Architektur auch die Organisations- und Koordinierungsmacht des Staates, d. h. des Königs. Die Pyramiden symbolisieren die Macht eines Willens, der Berge versetzen kann.“ (S. 77; H.v. m.)
335 Bereits Burckhardt gilt dieser Renaissance-Palast im Cicerone als Gipfel der profanen Baukunst und er fragt, „wer denn der weltverachtende Gewaltmensch sei, der (. . .) allem bloß Hübschen und Gefälligen so aus dem Wege gehen mochte?“ (Burckhardt (1925), S. 106) Bei Nietzsche findet sich dieses Zitat als Nachlassnotiz (N 1881, 11[197], 9, S. 520) wieder, die später in ein Fragment zum Willen zur Macht als Kunst einfließt (N 1888, 14[61], 13, S. 247). Des Weiteren zeigt er sich u. a. von der Mole Antonelliana, dem 165 m hohen Wahrzeichen Turins, beeindruckt, von der Via Appia und dem Triton-Brunnen Berninis in Rom sowie vom Markusplatz in Venedig, auf den er sich in dem Gedicht „Mein Glück!“ bezieht (FW, 3, S. 648). (Vgl. zu alledem Ottmann (2000), S. 190 f.; ausführlicher zum Palazzo Pitti „als Paradigma“ s. Neumeyer (2001), S. 211 ff. sowie auch Buddensieg (2002), S. 136 ff.).
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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Der Punkt ist, dass offensichtlich jede Elite derartige Zeichen und Statussymbole benötigt, um ihre Zugehörigkeit und ihren Herrschaftsanspruch zum Ausdruck zu bringen und zu legitimieren (vgl. ebd., S. 54). Diese Einschätzung scheint auch Nietzsche zu teilen, auch wenn letztlich erst „die Macht, die keinen Beweis mehr nöthig hat“, die (ihrer selbst gewiss und genug) „in sich ruht“, laut Nietzsche zu wahrhaft großem Stil führe (GD, 6, S. 119). Auch ihn beeindrucken die „Aegypter als eigentliches Bauvolk“ (N 1871/72, 16[12], 7, S. 397). Ihnen und ihren Bauwerken, die er als Ausdruck ihres „,überirdischen‘“ Anspruchs deutet, verdankten wir den „grossen Stil der Baukunst“ (JGB, 5, S. 12). Generell schätzt er die Architektur der Griechen, die mit kleinen Massen etwas Erhabenes auszusprechen wüssten (M 169, 3, 151) sowie der Römer, die „für Ewigkeiten“ gebaut hätten (N 1880, 4[136], 9, S. 135). Hier klingen also, neben der o. a. Leichtigkeit des Stils (zum „Sieg über die Schwere“ auch ZA III, 4, 241), die Momente der Erhabenheit und Einfachheit an.336 Dazu ist ein großer Wille zur Macht nötig, der den Erbauern im Rückschluss eine große Legitimität verheißt. Obwohl Nietzsche sein Hauptaugenmerk auf den einzelnen künstlerischen Schöpfer von Architektur legt, wird in diesem Bezug auf das „Bauvolk“ der Ägypter oder die Griechen und Römer doch auch der Bogen von Architektur zu Staat und Gesellschaft gespannt. Er geht dabei sogar so weit, beispielsweise das „imperium romanum“ selbst als Kunstwerk des großen Stils und als große Architektur zu deuten (AC 58, 6, S. 246). In Menschliches, Allzumenschliches spricht Nietzsche von der großen Architektur der Kultur, deren Aufgabe er darin sieht, „die einander widerstrebenden Mächte zur Eintracht vermöge einer übermächtigen Ansammelung der weniger unverträglichen übrigen Mächte zu zwingen, ohne sie desshalb zu unterdrücken und in Fesseln zu schlagen.“ (MA I, 276, 2, S. 228)
Darin steht dieser „Culturbau in ganzen Zeitperioden“ in einem analogen Verhältnis zum „Gebäude der Cultur im einzelnen Individuum“ (ebd.; H.v. m.; s. auch N 1880, 7[62], 9, S. 330). Architektur kann demnach nicht nur dazu dienen, die Macht von Kulturen zu versinnlichen sowie „die Ewigkeit und Größe des Menschen“ zum Ausdruck zu bringen (N 1870/71, 5[73], 7, S. 109), sowohl Kultur als auch Individuen selbst können vielmehr nach Maßgabe einer architektonischen Struktur und Organisation betrachtet werden. Und auch deren gemeinsame Aufgabe hat eine ästhetische Dimension: nämlich, genau wie bei der 336 Nietzsche erhofft sich eine Wiedergeburt einer derartigen „großen“ Architektur, die „für die Ewigkeit“ baut (N 1880, 4[136], 9, S. 135) und u. a. Raum für Kontemplation bietet: „stille und weite, weitgedehnte Orte zum Nachdenken, Orte mit hochräumigen langen Hallengängen (. . .) wohin kein Geräusch der Wagen und der Ausrufer dringt (. . .) Bauwerke und Anlagen, welche als Ganze die Erhabenheit des Sich-Besinnens und Bei-Seitegehens ausdrücken.“ (FW 280, 3, S. 524). Daher rührt wohl auch seine Wertschätzung der Renaissance. Ambivalent wird dagegen der Barockstil beurteilt, der, „ob es ihm gleich am höchsten Adel, an dem einer unschuldigen, unbewussten, sieghaften Vollkommenheit, gebricht, auch Vielen von den Besten und Ernstesten seiner Zeit wohl gethan“ habe (MA II, 1., 144, 2, S. 438).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Schönheit gesehen, den Ausgleich und die Eintracht zwischen widerstrebenden Mächten zu leisten und eine Einheit herzustellen. Architektur als Organisationsprinzip ist also mit Individuum und Gesellschaft wechselseitig verwoben. Die Griechen konnten nach Nietzsche auch deshalb so einfach bauen, weil sie sich selbst noch so einfach waren. Wie anders dagegen das moderne Individuum, das zwar einerseits die Griechen weit an Komplexität und Menschenkenntnis übertreffe, andererseits nicht mehr Stein in einem großen Baue sein könne (FW 356, 3, S. 596 f.). „Wollten und wagten wir eine Architektur nach unserer Seelen-Art (wir sind zu feige dazu!) – so müsste das Labyrinth unser Vorbild sein!“ (FW 169, 3, S. 152) An diesen letzten Äußerungen mag man die Reichweite der „Architektur“ i. w. S. bei Nietzsche ablesen, die hier nur angedeutet werden sollte.337 Gesteigert wird diese noch in einem Nachlassfragment aus dem Jahr 1881, in dem Nietzsche die Baukunst mit der Ordnung und Perspektivik des Lebens überhaupt in Verbindung setzt: „Wohin ist Gott?“, fragt er. „Wie brachten wir dies zu Stande, diese ewige feste Linie wegzuwischen, auf die bisher alle Linien und Maaße sich zurückbezogen, nach der bisher alle Baumeister des Lebens bauten, ohne die es überhaupt keine Perspektive, keine Ordnung, keine Baukunst zu geben schien?“ (N 1881, 14[25], 9, S. 631)
Abschließend möchte ich noch einige konkrete Wirkungen von Architektur auf deren Rezipienten benennen, die sich aus Nietzsches Texten extrahieren lassen, und auf die sich m. E. die Einsetzbarkeit von Architektur als Machtmittel stützen kann. Ein wichtiger Aspekt für diese Einsetzbarkeit ist die Nähe zu Sprache und Rhetorik:338 Mit Architektur wird eine Aussage getroffen, wie es bereits im Zusammenhang mit der Mikropolitik hieß; Nietzsche spricht davon, dass es bei Architektur sei, „ a l s o b der Stein redete“ (N 1881, 11[51], 9, S. 459), und oben wurde Architektur als „Macht-Beredsamkeit in Formen“ bezeichnet, die überredend, schmeichelnd oder befehlend wirken kann. Man kann an den Gebäuden, je nach Architektur, nicht nur „Erhabenheit des Sich-Besinnens und Bei-Seitegehens“ (FW 280, 3, S. 524) oder „Ueberlegenheit“ (FW 291, 3, S. 532) ablesen, sondern ebenso das „Gesetz und die allgemeine Lust an der Gesetzlichkeit und Gehorsam“ (FW 291, 3, S. 532), wie Nietzsche dies für Städte im Norden Europas tut. Jenes „innerliche Sich-Gleichsetzen, Sich-Einordnen“, welches laut Nietzsche die Seele der Erschaffer derartiger Architektur beherrscht haben müsse (ebd., S. 532), dürfte nicht ohne Rückwirkung auf die Betrachter bleiben, sondern ebenso deren Ein- und Unterordnung in ein Ganzes erleichtern. Dies macht 337
Ausführlicher dazu Neumeyer (2001), S. 159–178. „Die Rhetorik eine Kunst wie die Architektur – der Nutzen ist die erste Norm (und sobald sie als Kunst b e w u ß t wirkt, hebt sie die Wirkung ihres Nutzens auf oder stellt ihn in Frage. Oder umgekehrt?) Wir sollen dabei nicht an den Nutzen denken, aber unvermerkt dazu geführt werden, daß uns genützt werde.“ (N 1880, 4[31], 9, S. 108) Auch wenn Nietzsche im nächsten Satz anfügt: „ N e i n ! D e r R h e t o r i k e r und der S c h a u s p i e l e r sind zu vergleichen: 1) geht auf eine Wirkung aus 2) stellt eine Wirkung dar.“ 338
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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Architektur machttheoretisch so interessant, wie sich schon im mikropolitischen Teil gezeigt hat, und man kann Nietzsche durchaus vor dem Hintergrund einer „Architektur der Disziplin“ lesen: Auf die oben thematisierten industriellen Gebäude und Großraumbüros übertragen, kann der von ihm kritisch beschriebene Geist des „Sich-Gleichsetzens“ und „Sich-Einordnens“ gerade erwünscht und intendiert sein.339 Auch Räume des „Sich-Besinnens“ können spezifische Möglichkeiten bieten, beispielsweise der Regeneration und des Austauschens von kreativen Ideen, wie heute im Zusammenhang mit einem gezielten Innovationsmanagement diskutiert wird. Allerdings sollte nach den dortigen Ausführungen auch deutlich sein, dass Regionen des „Bei-Seitegehens“ aus Sicht der Unternehmensführung immer auch Unsicherheitsbereiche darstellen und somit Machtquellen aus Sicht der Mitarbeiter. Architektur kann aber noch weitere Wirkungen zeitigen: Sie kann, wie alle Kunst, von Seiten der „ G e n i e ß e n d e n aus betrachtet“, täuschen und überwältigen (N 1881, 11[51], 9, S. 460), kann wohl tun (MA II, 144, 2, S. 438), man kann sich regelrecht von ihr bilden und „formen“ lassen, wie es oben hieß (N 1883, 7[145], 10, S. 291). Und sie hat einen positiven oder negativen Einfluss auf die Fähigkeit zu denken (FW 280, 3, S. 524 f.). Architektur kann des Weiteren Glaubwürdigkeit herstellen oder eine gewisse Plausibilität erzeugen, wie er z. B. mit Blick auf den ephesischen Artemis-Tempels schreibt: Unter Menschen war Heraklit laut Nietzsche, „als Mensch, unglaublich“; „in einem abgelegnen Heiligthum, unter Götterbildern, neben kalter großartiger Architektur mag so ein Wesen begreiflicher erscheinen.“ (PdW, 1, S. 758; H.v. m.) Architektur kann also eine ganze Reihe von unterschiedlichen Wirkungen bei ihren Rezipienten evozieren. Teils betont Nietzsche dabei den Anteil des „Intellects“, der erst Bedeutsamkeit in die „Verhältnisse von Linien und Massen bei Architektur“ gelegt habe, „welche aber an sich den mechanischen Gesetzen ganz fremd ist.“ (MA I, 215, 2, S. 175) Das Verstehen der vielfältigen symbolischen Ebenen und Andeutungen, mit denen Architektur arbeitet, setzt also Codes voraus, wie man mit Bourdieu sagen könnte. Wenn diese Codes fehlen, kann mitunter ein Teil der Wirkung entfallen: „Der Stein ist mehr Stein als früher. – Wir verstehen im Allgemeinen Architektur nicht mehr (. . .). Wir sind aus der Symbolik der Linien und Figuren herausgewachsen, wie wir der Klangwirkungen der Rhetorik entwöhnt sind, und haben diese Art von Muttermilch der Bildung nicht mehr vom ersten Augenblick unseres Lebens an
339 Diesen Geist einer „ A g g r e g a t - B i l d u n g “ (AC 51, 6, S. 231), der nach Nietzsche typisch für das Christentum ist, macht er im Übrigen auch für das „höhere Schulwesen“ aus. Dessen Ziel bestehe darin – auch durch „Gehirn-Dressur“ (N 1887, 10[165], 12, S. 552) –, „(a)us dem Menschen eine Maschine zu machen“ (GD, 6, S. 129), was an die Einpassung des Einzelnen in eine durchorganisierte „Lernmaschine“ bei Foucault (1994), S. 187 f. denken lässt. Auch die „,Gebildeten‘ der Gegenwart“ werden von Nietzsche als „menschenähnliche Aggregate“ (UB II, 10, 1, S. 333) tituliert.
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
eingesogen. An einem griechischen oder christlichen Gebäude bedeutete ursprünglich Alles Etwas, und zwar in Hinsicht auf eine höhere Ordnung der Dinge: diese Stimmung einer unausschöpflichen Bedeutsamkeit lag um das Gebäude gleich einem zauberhaften Schleier.“ (MA I, 218, 2, S. 178)
Bei entsprechender Prägung allerdings wirkt Architektur sehr unmittelbar und direkt: In Bezug auf katholische Kirchenbauten beschreibt Nietzsche plastisch den „Anhauch der Architektur, welche als Wohnung einer Gottheit sich in’s Unbestimmte ausreckt und in allen dunklen Räumen das Sich-Regen derselben fürchten lässt“ (MA I, 130, 2, S. 123). Zwar sind die Voraussetzungen dafür seit dem „Tod Gottes“ dafür eigentlich gar nicht mehr gegeben, und Kirchen eigentlich zu „Grabmäler[n] Gottes“ geworden (FW 125, 3, S. 482), aber die „Resultate“ von alledem sind „trotzdem nicht verloren: die innere Welt der erhabenen, gerührten, ahnungsvollen, tiefzerknirschten, hoffnungsseligen Stimmungen ist den Menschen vornehmlich durch den Cultus eingeboren worden; was jetzt davon in der Seele existirt, wurde damals, als er keimte, wuchs und blühte, gross gezüchtet.“ (MA I, 130, 2, S. 123)
Dieser Kultus lebt nun im Gemüt, unabhängig vom Glauben und bis zu einem gewissen Grad auch unabhängig vom Intellekt, fort, ist gleichsam ein Teil des Habitus’ geworden. Dies gilt nicht nur für Architektur, sondern z. B. auch für Musik, wie das folgende Kapitel zeigen wird. (b) Kunstwerke als Machtausdruck und Machtmittel In diesem Kapitel soll der Fokus von der Architektur auf weitere Kunstformen bzw. auf Kunstwerke im Allgemeinen ausgeweitet werden. Vorweg sei noch einmal darauf hingewiesen, dass Kunst für Nietzsches Philosophie ein derart zentrales Thema ist, dass es in diesem Unterabschnitt nicht einmal annähernd gebührend behandelt werden kann. Auch hier ist Recki (2000, S. 524) zuzustimmen, dass nach Nietzsche Kunst generell „so elementar und umfassend zu denken ist wie nur irgend möglich. Nach seinem fundamentalen Ansatz verdankt sich alle spezifisch menschliche Leistung, alle ,Zuthat‘, mit der die Menschen etwas aus der Welt und sich selbst machen, einer ästhetischen Produktivität und damit einer im weitesten Sinne künstlerischer Kreativität. Was er ,Kunst‘ nennt, ist diese sich in allen Hervorbringungen entäußernde Weltschöpfung.“340
Diese „Weltschöpfung“ umfasst nicht nur sämtliche Künste im engeren Sinne, sondern die „gesamte Kultur“ (ebd.) und reicht vom Handwerk, über Staatskunst, Ökonomie, Erziehung und Moral bis tief in unsere Erkenntnisweise der Welt überhaupt hinein.341 Alles dies lässt sich als „Kunst“ in einem sehr weiten Ver340 Auch nach Duhamel (1994) ist Nietzsches Kunstdenken ein „grundsätzlicher Bestandteil“ seines Denkens (S. 152; H.v. m.). Visser (1994) spricht sogar vom „Kern von Nietzsches Denken“ (S. 105).
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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ständnis als Inbegriff des Hervorbringens und produktiven Schaffens bezeichnen. In einem Nachlassfragment aus der Mitte der achtziger Jahre fasst Nietzsche z. B. institutionelle Organisationen wie das preußische Offizierskorps und den Jesuitenorden als „Kunstwerke ohne Künstler“ auf; gleiches gilt für lebendige Organisationen wie den „Leib“ (N 1885/86, 2[114], 12, S. 118). Selbst basale Lebensvollzüge lassen sich also in Analogie zu künstlerischen Akten begreifen: „Der lebendige Organismus, so könnte man pointieren, ist selbst eine Assoziation von Artisten“ (Gerhardt (1988a), S. 23), der Leib kann in Analogie zu einem „großen Künstler“ interpretiert werden, der gleichsam als Werk „eine grosse Vernunft“ hervorbringt (ZA I, 4, S. 38; dazu Gerhardt (2000b), S. 152 f.). Sogar die Welt insgesamt kann „als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk“ (N 1885/86, 2[114], 12, S. 119) aufgefasst werden: „,die Welt selbst ist nichts als Kunst‘“ (N 1885/ 86, 2[119], 12, S. 121).342 Als grundlegende Kraft des „Hervorbringenkönnens“ ist Kunst eine zentrale Gestalt des Willens zur Macht, wie sich aus dem Rückblick des späten Werkes sagen lässt.343 An dieser Stelle werde ich mich hauptsächlich darauf beschränken, mit Nietzsche die Machtrelevanz der Kunst im engeren Sinne sowie einige Eigenschaften von Kunstwerken herauszuarbeiten, die diese prädestinieren, als Mittel eingesetzt werden zu können.344 Denn in diesem Abschnitt vertrete ich die These, dass, analog zu anderen Gegenständen, Kunstwerke als konkreter Ausdruck eines Willens zur Macht sowie als wirkungsvolle ästhetische Machtmittel interpretiert werden können. In der anschließenden Kritik wird die ungeheure Reichweite der Kunst bei Nietzsche als deutliches Unterscheidungskriterium zur Mikropolitik dann noch einmal kurz aufgegriffen. Zunächst zum zweiten Teil der These: Ein entscheidender Punkt für ihre Einsetzbarkeit als Machtmittel ist die Wirkung, die Kunst entfalten kann. Mögliche 341 Vgl. zum letztem Punkt z. B. WL, 1, S. 884 ff.; auch PdW, 1, S. 759 f. Laut Picht (1988) wird der „Entwurf der menschlichen Kultur im Ganzen und jeder ihrer Ordnungen als ,Kunst‘ begriffen.“ (S. 170) Nietzsche bezeichne „(a)lle Formen des Schaffens überhaupt (. . .) nach griechischem Vorbild mit dem Namen ,Kunst‘“ (ebd., S. 151). Zum Begriff der „techne“ bzw. „poiesis“ vgl. ebd., S. 153 ff. sowie Himmelmann (2006), S. 106. Zur „ästhetischen Revolution“ ausführlich Gerhardt (1988a), S. 12–45. 342 Dieser Gedanke ist laut Behler (1986) in der Geburt der Tragödie noch als kosmologischer angelegt und „wird vom späten Nietzsche ins Anthropologische, in die Welt des Menschen verschoben.“ (S. 134) 343 Ausführlich dazu z. B. Heidegger (1961, Bd. 1, S. 84 ff.); auch Schulz (1983), S. 12. 344 Ohne dabei auf Musik oder bildende Kunst festgelegt zu sein. Diese Unterscheidung ist auch nachrangig, da die „Eine auch Wirkungen der anderen hervobringen kann“ (N 1884, 25[132], 11, S. 48). Auch die eigenständige Behandlung von Architektur sollte nur der Übersichtlichkeit der Analyse dienen. Nietzsche selbst bleibt sich in seiner Ablehnung kateorialer Grenzen treu und thematisiert den Rhythmus der Architektur ebenso wie die Architektonik der Musik (vgl. Buddensieg (2000)); dazu allgemein auch Picht (1986), S. 471.
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Wirkungen von Kunst wurden eingangs bereits im Zusammenhang mit der Schönheit angesprochen: Dort war die Rede davon, dass Kunstwerke heilsam wirken, die Kraft mehren und Lust erzeugen, dass sie anregend und „tonisch“ wirken können. „Alle Kunst wirkt als Suggestion auf die Muskeln und Sinne“, wie Nietzsche im gleichen Nachlassfragment aus dem Frühjahr 1888 notiert (N 1888, 14[119], 13, S. 296). Nietzsche geht also von einer hohen Wirkfähigkeit von Kunstwerken aus, die sich in einem intensiven Erleben von Kunst widerspiegeln.345 Dabei legt er, in expliziter Abgrenzung von Schopenhauer und auch von Kant (GM III, 6, 5, S. 346 ff.), sein Augenmerk nicht nur auf den Rezipienten, sondern bezieht ausdrücklich das „Erlebniß des Künstlers“ und dessen Schaffensdrang mit ein (N 1885/86, 2[110], 12, S. 116).346 Wollte man der Übersicht halber diese Unterscheidung von Künstler, Kunstwerk und Rezipient aufgreifen, so sind bei Nietzsche alle drei Ebenen relevant, wenn auch keineswegs klar voneinander abgegrenzt, wie sich noch zeigen wird: Die Ebene des Kunstbetrachters und Zuschauers ist bereits angesprochen. Die Spannweite potenzieller Wirkungen von Kunstwerken auf ihre Rezipienten ist bei Nietzsche, über das gesamte Werk betrachtet, enorm. Sie umfasst die Linderung des Ekels und der Abscheu vor der Welt, die (zumindest momentane) Erlösung vom Leid an der Hässlichkeit und Absurdität der chaotischen Welt, kann durch die Ergänzung und Vollendung des Daseins zum Weiterleben verführen (GT 3, 1, S. 36) und einen „metaphysischen Trost“ spenden (GT 7, S. 56 f.).347 Kunst ist nach der Konzeption in der Geburt der Tragödie sogar in der Lage, das Dasein und die Welt ästhetisch zu rechtfertigen (GT 5, 1, S. 47; vgl. Came (2006)) oder sie zumindest erträglich zu machen, wie es später in der Fröhlichen Wissenschaft etwas zurückhaltender heißt (FW 107, 3, S. 464). Auch wenn Nietzsche sich von seinem frühen Programm einer „aesthetischen Metaphysik“ (GT 4, 1, S. 43) bzw. „Artisten-Metaphysik“ (VS, 1, S. 17 f.), wie er es ironisch im nachträglich-kritischen Vorwort tituliert, in einigen Punkten ausdrücklich distanziert, nimmt Kunst mit ihren spezifischen Wirkungen in seinem Denken weiterhin eine zentrale Stellung ein.348 345 Duhamel (1994, S. 152) macht daher im Erlebnis das 1. Prinzip von Nietzsches Ästhetik aus. 346 Ebenso N 1888, 14[170], 13, S. 356 f. Dazu Heidegger (1961), Bd. 1, S. 83 ff. Laut Behler (1986, S. 137) sei der Künstler in der o. a. Stelle allerdings nicht im engeren Sinne zu verstehen, sondern als Ureines und Scheinwelten hervorbringender Wille, den Nietzsche im Rückblick auch als „Künstler-Gott“ tituliere (VS 5, 1, S. 17). 347 Dabei geht es nach Gerhardt (1988b) nicht um Eskapismus oder gelegentlichen Trost, „sondern um die Erhaltung des Lebens überhaupt.“ (S. 51); s. auch FW 89, 3, S. 446. Zur „Erlösung“ des Erkennenden, Handelnden und Leidenden im Rückblick auf die Geburt der Tragödie N 1888, 14[17], 13, S. 225 f. 348 Vgl. u. a. Schmied (1999), S. 141; Himmelmann (2006), S. 102; Gerhardt (1988b) u. (1984), S. 374–398; Laut Recki (2000) verabschiede sich Nietzsche nie vom Kern des Gedankens, dass das Leben selbst eine künstlerische Potenz enthalte, die sich im schönen Schein des Kunstwerkes eigenständig offenbare. Die kritische Distanzierung be-
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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In einer Betrachtungsweise, die man mit Heidegger (1961, Bd. 1, S. 109 f.) als geschichtlich umschreiben könnte, tritt Kunst immer wieder als „Gegenkraft“ (N 1888, 14[17], 13, S. 225) und „Gegenbewegung“ gegen Dekadenz, Lebensfeindlichkeit und Nihilismus vor allem von Religion, Moral und Philosophie (N 1888, 14[170], 13, S. 356) auf. Selbst in der „mittleren Phase“, die hier nahezu unbeachtet bleiben muss, und in deren kritisch-aufklärerischer Frühphase zwischen 1876–1881 Nietzsche teilweise ein etwas distanzierteres Verhältnis zur Kunst einnimmt (vgl. Gerhardt (1984), S. 380 ff.), ist Kunst als „Gegenmacht“ gegen eine Redlichkeit von Bedeutung, die „den Ekel und Selbstmord im Gefolge“ haben würde (FW 107, 3, S. 464; H.v. m.). Es bleibt also bei den „Elementarfunktionen der Kunst, durch produktiven Schein das Dasein erträglich zu machen und durch Selbstästhetisierung Distanz zu theoretischen und praktischen Ansprüchen zu schaffen.“ (Gerhardt (1984), S. 385)
Im späteren Werk wird u. a. immer wieder die konkrete physiologische Belebung, Reizung und Stimulation des Lebens durch Kunst (N 1888, 15[10], 13, S. 409) thematisiert, die in dessen „Höhen-Momenten“ bis hin zur Begeisterung, Feststimmung und Rauschgefühl reichen kann, die wiederum als länger anhaltendes Stimulans zum Leben wirken und zum (Weiter-)Leben verlocken können.349 Für unseren Kontext steht genau diese physiologische Wirkmächtigkeit im Vordergrund: Konkret entfalten Kunstwerke weit in die leibliche Organisation hinein reichende Wirkungen bei ihren Rezipienten. Sie haben direkte physische Auswirkungen auf den Körper (vgl. auch Oosterling (1994), S. 66), die vom Rezipienten sinnlich erfahren werden, und die laut Nietzsche sogar messbar seien (N 1888, 17[5], 13, S. 526 f.). Man müsse z. B. nur „vermöge eines Dynamometers die Wirkung einer tragischen Emotion“ erfassen, um zu beweisen, dass die Tragödie, entgegen der Theorien von Aristoteles und Schopenhauer, ein „ t o n i c u m “ sei, und nicht etwa als Katharsis oder Quietiv wirkt (N 1888, 15[10], 13, S. 410 f.). Treten uns mit den Kunstwerken Dinge entgegen, die eine ziehe sich demnach „neben manchem Einzelnen vor allem auf die metaphysische, nicht auf die ästhetische Komponente dieses Grundgedankens von der Produktivität am Grunde aller Wirklichkeit.“ (S. 528) Zu diesem Punkt auch Behler (1986), v. a. S. 147 sowie Gerhardt (1984), S. 378 f.; Pfotenhauer (1984) betont demgegenüber diese „Akzentverschiebung“ zum Frühwerk (S. 402). Auch Schmid (1984) macht eine „Kluft“ und „Spannung“ zwischen Artisten-Metaphysik und Physiologie der Kunst aus (S. 440; 441, Anm. 2). 349 Vgl. N 1887/88, 11[145], 13, S. 194; N 1888, 14[23], 13, S. 228. Nietzsche beschreibt hier Momente der Steigerung, der Erfüllung und des Erlebens von Vollkommenheit, für die es sich sozusagen zu leben lohnt, die dem individuellen menschlichen Leben einen Sinn verleihen können (vgl. JGB 188, 5, S. 109). Kunst ist hier auf die Lebenspraxis der Menschen bezogen (Behler (1986), S. 147) und ist in diesem Sinne eine „Ermöglicherin des Lebens“ (N 1888, 17[3], 13, S. 522). Und nur der Kunst gelingt dies laut Gerhardt (1988a) „in vollkommener Weise, weil sie, anders als religiöser Glaube oder vernunftgeleitete Moral, eine Instanz des Lebens selbst ist.“ (S. 22; dazu auch S. 51 ff.); vgl. auch Schulz (1983), S. 14.
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„Verklärung“ und „Fülle“ i. S. einer Idealisierung zeigen, wie wir sie aus rauschhaften Zuständen kennen, so „antwortet das animalische Dasein mit einer Erregung jener Sphären, wo alle jene Lustzustände ihren Sitz haben.“ Dadurch wird, wie im Rausch selbst, z. B. im rauschhaften Tanz, die Kraft de facto gestärkt (N 1888, 17[5], 13, S. 526 f.).350 Ein derartiger durch Kunst induzierbarer Zustand kann auch die Objektivität trüben: „Es ist nicht möglich, o b j e k t i v zu bleiben, resp. die interpretierende, hinzugebende, ausfüllende, dichtende Kraft auszuhängen“ (N 1887, 10[167], 12, S. 555). Kunstwerke üben also vielfältige Wirkungen aus, beispielsweise, wenn ein Gemälde wie die „Transfiguration“ von Raffael betrachtet wird, das eine Verklärung im doppelten Wortsinne „darstellt“351 oder wenn die „erschütternde Macht“ und die „malerische Pracht und Gewalt des Tons“ (DW, 1, S. 557; N 1888, 16[29], 13, S. 490) bzw. das „Schrecken und Grausen“ (GT 2, 1, S. 33) erlebt werden, die von Musik mit ihrer suggestiven Kraft ausgelöst werden können (vgl. N 1888, 14[170], 13, S. 356) oder schlicht der unmittelbare Einfluss des Rhythmus’ auf die Muskeln (s. GD, 6, S. 118). „Trägt nicht der Tänzer sein Ohr in der Zehe?“, fragt er in einem Notat (N 1883, 13[1], 10, S. 416). An dieser Stelle fließen auch Nietzsches eigenen leiblichen Erfahrungen mit Kunst und vor allem mit der Musik ein: Er „weiss keinen Unterschied zwischen Thränen und Musik“ zu machen; Musik hat direkten Einfluss auf seine Atmung, sein Entzücken, seine Füße, sein „Gehen, Schreiten, Tanzen“, aber auch auf seinen „Magen“, sein „Herz“, seinen „Blutlauf“, seine „Eingeweide“ sowie darauf, ob er „heiser“ wird; kurz: Ästhetik ist aus Nietzsches Sicht „nichts als angewandte Physiologie“ (NW, 6, S. 418 ff.). Nicht zuletzt diese physiologischen Wirkungen auf ihre Rezipienten machen Kunstwerke zu potenziellen Machtmitteln. Mit Kunstwerken kann Macht ausgeübt werden. Allerdings setzt Kunst in diesem Sinne ein „Können“ voraus, das u. a. an bestimmte „physiologische Vorbe-
350 Die hier angeführten Stellen belegen, dass der Kraftzuwachs durch den Rausch dabei, entgegen der Interpretation von Heidegger (1961), durchaus auch als „objektiv“ zu verstehen ist und nicht ausschließlich „stimmungshaft“ (Bd. 1, S. 120). Nietzsche nennt eine ganze Reihe von konkreten Beispielen für derartige Rauschsituationen. In dem zitierten Fragment macht er drei Elemente aus als „zur ältesten Festfreude des Menschen gehörend“: den Geschlechtstrieb, den Rausch (im engeren Sinne) und die Grausamkeit. Des Weiteren werden die Mahlzeit, der Frühling, der Sieg über den Feind, der Hohn und das Bravourstück genannt. Weitere Beispiele finden sich in der Götzendämmerung, wo u. a. der Rausch der Zerstörung, der narkotische Rausch sowie der Rausch „eines überhäuften und geschwellten Willens“ angeführt werden (GD, 6, S. 116). 351 Dieses Gemälde hat Nietzsche stark fasziniert. Vgl. zu einer ausführlichen Interpretation einer „Kunst der Transfiguration“ van Tongeren (1994), S. 84 ff.; s. auch Behler (1986), S. 144. Laut dem von Nietzsche hoch geachteten Emerson ist „(d)er wahre Wert der Iliade oder der Transfiguration (. . .), daß sie als Zeichen von Macht dastehen.“ (Emerson, Essays, S. 265; H.v. m.; zit. nach Gerhardt (1996), S. 79)
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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dingungen“ geknüpft ist: Der Kunstschaffende muss sich zur Kreation seines Werkes in einem Zustand der Stimulation befinden. „Der Rausch muss erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben: eher kommt es zu keiner Kunst.“ (GD, 6, S. 116) Dieser produktive Zustand der Lust, der Belebung und des Rausches ist laut Nietzsche „exakt ein hohes M a c h t gefühl“ (N 1888, 14[117], 13, S. 294), das Gefühl der „Kraftsteigerung und Fülle“ (GD, 6, S. 116), das einem tatsächlichen „ M e h r v o n K r a f t “ entspricht (N 1888, 14[117], 13, S. 293). Der Künstler hat überschüssige Macht, die sich im Drang zu Schaffen, zu Zeugen, zu Erobern äußert (N 1883, 7[107], 10, S. 278). Er schöpft dabei aus einer „Überfülle an Säften und Kräften“, ist mit Kraft überhäuft und kann geben und verschwenden, ohne arm zu werden (N 1888, 14[119], 13, S. 298; N 1885/86, 2[130], 12, S. 129).352 Im Gegenteil: Er befreit sich durch das Schaffen von der „Noth der Fülle und Ueberfülle, vom Leiden der in ihm gedrängten Gegensätze“ (GT 5, 1, S. 17). Er befriedigt seinen Machtwillen, indem er (im schönen Kunstwerk) Gegensätzliches vereint und zu einem stimmig-organisierten Ganzen verbindet (vgl. N 1886/87, 7[3], 12, S. 258). Für dieses künstlerische Erzeugen von Formen, für diese Organisation, ist also bereits ein Können oder Vermögen, eine Macht nötig.353 Gleichzeitig übt der Künstler mit seiner Kunst eine Macht aus, und zwar auf zweifache Weise: Erstens auf die Welt, die er durch sein Handeln nach seinem Willen formt, erobert, vergewaltigt und verändert, bis die Dinge seine Macht widerspiegeln (GD, 6, S. 116 f.); die Dinge darzustellen ist laut Nietzsche „selbst schon ein Instinkt der Macht“ (N 1888, 14[47], 13, S. 241). Zweitens auf den Rezipienten, auf den er mit seinen Kunstwerken, wie oben gesehen, ebenso weitreichende Wirkungen ausüben kann: Künstler können die Welt mit ihrer Kunst erträglicher machen, erlösend sein, wie Nietzsche von „Dostoiewsky“ aussagt (ebd.), von moralischer Verengung befreien (N 1887, 10[24], 12, S. 469), und vor allem: belebend wirken, produktive Kräfte wecken, zum Leben verlocken; sie können sogar Werte verändern und (um-)schaffen. Michelangelo ist Nietzsche z. B. ein solcher Gesetzgeber neuer Werte (vgl. Zimmermann (2000), S. 38). Nicht umsonst interessiert Nietzsche die Gleichsetzung von Künstler und Machthaber (vgl. N 1886/87, 5[90] u. 5[91], 12, S. 223 f.) und bezeichnet er an anderer Stelle Künstler des großen Stils sogar als „Gewaltmenschen“, die das Chaos, auch und gerade das in ihrem eigenen Innern, in ihre Gewalt bringen, in eine organisierte Form und produktive Ordnung zwingen (N 1888, 14[61], 13, S. 247). 352 Hier klingt erneut die biologische und sexuelle Dimension an: „ohne eine gewisse Überheizung des geschlechtlichen Systems ist kein Raffael zu denken . . . Musik ist eine Art Kindermachen; Keuschheit ist bloß die Ökonomie des Künstlers“ (N 1888, 14[119], 13, S. 296); vgl. zu dieser Ökonomie auch das Ende des Kapitels. 353 Im Schaffen des Künstlers liegt die „höchste Macht“, wie Gerhardt (1984) mit Blick auf die frühen Schriften feststellt (S. 380).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Kunstwerke, die selbst auf dem Willen zur Macht basieren, haben durch diese Wirkungen das Potenzial zum konkreten Machtmittel. Damit ist die These dieses Abschnittes im Kern belegt. Dieses Potenzial lässt sich selbst aus Passagen extrahieren, in denen sich Nietzsche explizit gegen den Einsatz übertriebener „Mittel zur Wirkung“ wendet, die er generell in der „moderne[n] Kunst als eine Kunst zu t y r a n n i s i e r e n “ (N 1887, 10[37], 12, S. 473) und speziell bei Wagner ausmacht, der sich dieser Mittel gleich einem „Hypnotiseur“ bediene (N 1887, 10[155], 12, S. 543)354 sowie aus der Kritik an Kunstwerken, die „bloß“ „schöne Gefühle“ bei ihren Rezipienten erregen, statt einen „großen Stil“ zu entwerfen (N 1888, 14[61], 13, S. 246). Letzterer besteht, wie schon beschrieben, selbst zu einem großen Teil aus einer „Bändigung des Überflusses in das Einfache“ (Heidegger (1961, Bd. 1, S. 158), die ihrerseits die Wirkung steigert (N 1888, 14[117], 13, S. 294).355 In alledem können Künstler eine Wirkung auf ihr Publikum ausüben, eine „künstlerische Suggestions-Kraft“ entfalten (ebd., [119], S. 298). Der Künstler ist mit seiner Kunst somit auf ein Publikum bezogen, für das er schafft, und dem er sich mitteilen will; ein Künstler nur für sich zu sein ist für Nietzsche, bei aller notwendigen Distanz, ein Widerspruch (vgl. N 1883, 7[107], 10, S. 278). Der ästhetische Zustand ist durch einen „Überreichthum von M i t t h e i l u n g s m i t t e l n “ gekennzeichnet, „zugleich mit einer extremen E m p f ä n g l i c h k e i t für Reize und Zeichen. Er ist der Höhepunkt der Mittheilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen, – er ist die Quelle der Sprachen.“ (N 1888, 14[119], 13, S. 296)
Künstler und Kunstbetrachter treten demnach über Kunstwerke in ein Kommunikationsverhältnis ein, das immer auch ein Machtverhältnis ist. Denn Mitteilung kann nach Nietzsche in der Kunst, ebenso wie in der Sprache, im Kern als ein Machtprozess begriffen werden, in dem verschiedene Interpretationen, verschiedene Willen zur Macht aufeinanderprallen. Ursprünglich ist „nicht die Absicht da, sich mitzutheilen, sondern alles Mittheilen ist eigentlich ein Annehmen-Wollen, ein Fassen und Aneignen-wollen (mechanisch). Den Anderen sich einverleiben – später den Willen des Andern sich einverleiben, sich aneignen, es handelt sich um Eroberung des Andern. Sich mittheilen, ist also ursprünglich seine Gewalt über den Anderen ausdehnen: diesem Trieb ist eine alte Zeichensprache zu Grunde liegend – das Zeichen ist das (oft schmerzhafte) Einprägen eines Willens auf einen anderen Willen.“ Und „V e r s t e h e n [ist] ursprünglich eine Leidempfindung und Anerkennen einer fremden Macht.“ (N 1883, 7[173], 10, S. 298)
354 Zur Kritik an Wagners „narkotischer“, also insofern allemal wirkungsvoller Kunst, s. auch EH, 6, S. 325. 355 Allerdings darf die Vereinfachung nicht zur starren und tyrannischen „Formel“ werden, wie Nietzsche dies mitunter an der modernen Kunst kritisiert (N 1887, 10[37], 12, S. 473).
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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Allerdings ist diese Verbindung von Künstler und Rezipient nicht, oder zumindest nicht ausschließlich, als einfaches Sender-Empfänger-Verhältnis zu denken, bei dem schlicht eine Botschaft übertragen, oder Gedanken direkt übermittelt werden würden – geschweige denn, dass der Gedanke für Nietzsche in irgendeiner Weise einen privilegierten Zugang zur Wirklichkeit eröffnen würde (vgl. Gerhardt (1988a), S. 15) –, sondern es ist ein „Zustand, eine innere Spannung von Pathos durch Zeichen“ mitzuteilen (EH, 6, 304; H.v. m.), die dann allenfalls „auf Gedanken hin zurück gelesen werden.“ (N 1888, 14[119], 13, S. 296 f.)356 Darin bestehen der Sinn und die Kunst des Stils. Es geht dabei mehr um die Form, den Geschmack als um Inhalt, mehr um Suggestion als um Bedeutung.357 Deshalb ist für diese Art der „Mitteilung“ Kunst, z. B. in Form von Musik, u. U. besser geeignet als Worte (N 1887, 10[60], 12, S. 493; FW 80, 3, S. 437). Und in diesem Sinn ist der Künstler ein „Genie der Mittheilung“ (GD, 6, S. 128), der auch im Bereich der Kunst das Schweigen als machtvolles Kommunikationsmittel zuzurechnen ist: „das Schweigende (. . .) des Kunstwerks – redet alles zu unseren Trieben“ (N 1883, 7[154], 10, S. 293).358 Außerdem ist das Verhältnis nicht automatisch als rein asymmetrisches zu begreifen, in dem Sinne, dass der Sender dem Empfänger nur gewaltsam seinen Willen aufzwingen würde. Vielmehr kann sich zwischen den kommunikativen Polen ein komplexes und facettenreiches Verhältnis entfalten – das an die o. a. Komplexität von Herrschaftsverhältnissen erinnert –, wie Biebuyck (1994, S. 134 ff.) v. a. für die Sprache zeigt: Demnach kann die „aktivierende Kraft“ des Künstlers eine „interpretative Energie“ des Rezipienten auslösen, indem sie diesem Interpretations- und Sinngebungsspielräume überlässt und somit ein „Spannungsfeld“ erzeugen, das die Kreativität steigert und zu einer „Erregung“ und „Dynamisierung“ des Kommunikationsprozesses insgesamt führt. Dieses Spannungsfeld ist nicht weniger machtdurchtränkt und muss auch nicht vollkommen zwanglos sein (vgl. N 1888, 14[170], 13, S. 356 f.). Der aktive Rezipient beansprucht aber zumindest eine gewisse „interpretative Autonomie“ und kann die Machtausübung über ihn „individuell sinnvoll“ machen (Biebuyck (1994), S. 137) – „verstehen“ im Sinne eines Anerkennens der Stärke einer „fremden
356 Zum Begriff des „Pathos“, der nicht nur „Leidenschaft“, „Affekt“ und „Begierde“, sondern auch „Erlebnis“, „Schicksal“, „Leiden“, „Qual“ und „Unglück“ umfasst, Gerhardt (1988, S. 8). Zum „Pathos“ als „Widerfahrnis“ Picht (1986), S. 439 f., 456, 465. Zu der ebenfalls anklingenden „Entmechanisierung des kommunikativen Prozesses“ ausführlich Biebuyck (1994), S. 134 ff. 357 Vgl. N 1883, 7[107], 10, S. 278; N 1887/88, 11[3], 13, S. 9 f. So kritisiert er z. B. Maler, die eine Form nicht um ihrer selbst willen lieben, und ihren Augen einfach ein Fest geben wollen, sondern „um das, was sie a u s d r ü c k t . “ (N 1886/87, 7[7], 12, S. 286) 358 Zur Kunst „als Suggestion, als Mittheilungs-Mittel, als Erfindungsbereich der induction psycho-motrice“ auch N 1888, 17[9], 13, S. 529. Der letzte Terminus ist nach Pfotenhauer (1984) dem Einfluss von Charles Féré zuzuordnen (vgl. S. 408).
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Macht“, wie es oben hieß. Er kann sich je nach der Stärke seines Willens zur Macht auch aktiv der Machtausdehnung des Künstlers widersetzen, diesen nicht Besitz von sich ergreifen lassen, sondern sich „im Deutungsprozeß zum autarken Künstler“ erheben (ebd., S. 138). Diese Deutung wird auch durch die oben erwähnte physiologische Ästhetik untermauert: Die „Wirkung der Kunstwerke ist die Erregung des kunstschaffenden Zustandes, des Rausches“ (N 1888, 14[47], 13, S. 241; H.v. m.). Dies setzt allerdings voraus, dass der Betrachter selbst künstlerisches Potenzial, also einen starken Willen zur Macht besitzt, denn die Kunst „redet immer nur zu Künstlern“ (N 1888, 14[119], 13, S. 296). Dies hat zwei relevante Implikationen für unseren Kontext. Die erste besteht in einer deutlichen Distinktion, die damit einhergeht: Kunst wird zu einer „anderen Kunst“, einer Kunst von Künstlern für Künstler (FW 4, 3, S. 351 bzw. NW, 6, S. 438). „Wer nicht geben kann, empfängt auch nichts.“ (N 1887, 9[102], 12, S. 393). Das betrifft für Nietzsche u. a. Nüchterne, Müde, Erschöpfte, Vertrocknete, wie z. B. Gelehrte, denen die „künstlerische Urkraft“ fehle (ebd.). Zwischen diesen ausschließlich Suchenden und Begehrenden, die laut Nietzsche die Masse ohne Sinn für Kunst darstellen, und den Vollen, Schenkenden ist eine große Kluft auszumachen (N 1886/87, 7[16], 12, S. 301).359 Diese Kluft verläuft aber nicht automatisch zwischen „Sender“ und „Empfänger“, sondern quer dazu und kann auch die Empfänger noch einmal danach unterteilen, ob sie aktiv und künstlerisch mit dem Kunstwerk umgehen oder rein reaktiv. In letzterem Fall kann m. E. von einer Asymmetrie gesprochen werden, bei der sozusagen der Wille zur Macht des Künstlers den Willen zur Macht des Rezipienten schlicht okkupiert. In ersterem kommt es dagegen durch das Aufeinandertreffen zweier relativ starker Willen zur Macht zu einer Dynamisierung des Zeichen- und Interpretationsprozesses, von dem oben nur einige Facetten angedeutet werden konnten. Darüber hinaus ist sogar ein Teil des o. a. sinnlichen Erlebens auf Grund der „Entsinnlichung der höheren Kunst“ an bestimmte Codes gekoppelt, die auch laut Nietzsche „eingeübt“ und inkorporiert werden müssen:
359 Vgl. auch Heidegger (1961), Bd. 1, S. 146. Nietzsche ordnet dieser basalen Unterscheidung die Begriffe des Überflusses bzw. des Hungers zu, aus denen jeweils ein schöpferischer Impuls stammen kann (vgl. FW 370, 3, S. 621). Daran anknüpfend, kann jeweils noch unterschieden werden, ob es sich um einen Drang nach „Sein“ oder „Werden“ handelt, so dass sich ein 4-Felder-Schema ergibt: Das Verlangen nach Zerstörung, Wandel und Werden kann demnach aus überschüssiger Kraft herrühren und ist damit für Nietzsche positiv konnotiert, es kann aber auch als haß- und ressentimentgeladene Zerstörungswut der Benachteiligten auftreten, und somit negativ zu bewerten sein. Ebenso kann das Feststellenwollen und der „Wille zum V e r e w i g e n “ Resultat von „Dankbarkeit und Liebe“, also des Überflusses, sein oder ein Ausdruck des „tyrannische[n] Wille[ns] eines Schwer-Leidenden“, der aus Rache zwanghaft allen Dingen und Verhältnissen seinen Stempel aufdrücken will.
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„Unsere Ohren sind, vermöge der ausserordentlichen Uebung des Intellects durch die Kunstentwickelung der neuen Musik, immer intellectualer geworden.“ (MA I, 217, 2, S. 177) „An sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom ,Willen‘, vom ,Ding an sich‘; (. . .) Der Intellect selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang h i n e i n g e l e g t “ (ebd., 215, S. 175),
heißt es analog zur Architektur und auch zur Malerei (vgl. ebd., 217, 2, S. 177). Dadurch hat sich einerseits ihr „Machtbereich, namentlich zum Ausdruck des Erhabenen, Furchtbaren, Geheimnisvollen (. . .) erstaunlich erweitert“, und Musik kann „Dinge zum Reden“ bringen, „welche früher keine Zunge hatten“ (ebd.). Andererseits diagnostiziert Nietzsche, und hier wirkt die Distinktion, dass immer weniger Menschen diese höheren Bedeutungsebenen verstünden: „So giebt es in Deutschland eine doppelte Strömung der musicalischen Entwickelung: hier eine Schaar von Zehntausend mit immer höheren, zarteren Ansprüchen und immer mehr nach dem ,es bedeutet‘ hinhörend, und dort die ungeheure Ueberzahl, welche alljährlich immer unfähiger wird, das Bedeutende (. . .) zu verstehen“ (ebd., S. 178).
Und auch für die Erschaffung von Kunst ist eine gewisse Distanz unumgänglich: „Nichts ist vorteilhafter für das Kunstwerk als das Entrücktsein aus der vulgären, unmittelbaren Berührung mit dem Nächsten“, so zitiert Nietzsche Semper (vgl. Gerhardt (1988), S. 6). Darüber hinaus bedarf es noch würdiger, d. h. selbst künstlerischer, „Empfänger“ der Kunst, die „eines gleichen Pathos fähig und würdig sind“; es ist notwendig, „dass die nicht fehlen, denen man sich mittheilen d a r f . “ (GD, 6, S. 304) Dies leitet über zur zweiten Implikation, die in der Angleichung zwischen Kunstschaffendem und Kunstbetrachter besteht: Auch der Betrachter wird zumindest potenziell zum Künstler. Die gleiche Kraft, die das Werk hervorgebracht hat, kann durch die Betrachtung stimuliert werden (vgl. N 1887, 9[102], 12, S. 394). Es ist die gleiche Suggestion auf die Muskeln und Sinne, die beim Künstler und beim Betrachter wirkt (N 1888, 14[119], 13, S. 296 f.). Dies gilt im Übrigen auch für die Künstler selbst beim Betrachten ihrer eigenen Kunstwerke. Physiologisch gesprochen, werden die gleichen „Sphären“ (N 1887, 9[102], 12, S. 393) des „cerebralen System[s]“ gereizt (N 1887, 8[1], 12, S. 323). Damit verschwimmen die Grenzen zwischen Kunstschaffen und Kunsterlebnis. Es wird der gleiche trieb- und rauschhafte Zustand erzeugt, der letztlich auf den Willen zur Macht zurückzuführen ist. Künstler und Rezipient sind somit allenfalls graduell unterschieden, und zwar nach dem jeweiligen Quantum Willen zur Macht, das in ihnen wirkt, und das sie für Nietzsche sind. Aus diesen Ausführungen lassen sich abschließend einige Rückschlüsse auf die Vorstellung von Kunstwerken ziehen, die m. E. die Eingangsthese dieses Abschnittes noch einmal bestätigen können: Erstens können Kunstwerke ausgehend von den Überlegungen zum ästhetischen Zustand und mit Duhamel (1994, S. 153 ff.) als „Zeichengebilde“ bzw. „Zeichenprozesse“ interpretiert werden
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(N 1888, 14[119], 13, S. 296 f.; ebd., 17[9], S. 530).360 Innerhalb der „Zeichensprache“ (ebd., 14[170], S. 356) des ästhetischen Zustandes steht, wie gezeigt, nicht die Bedeutung, der Wirklichkeits- bzw. Wahrheitsgehalt im Mittelpunkt, es werden keine Gedanken mitgeteilt, sondern Zeichen (ebd., 14[119], S. 296 f.). Kunst ist „bloßer Schein, in dem nicht mehr erscheint“, sie „hat keine Botschaft, sondern ist diese selbst.“ (Gerhardt (1988a), S. 22) Es geht demnach primär um „Ordnungsmöglichkeiten“ (Duhamel (1994), S. 154). Diese Ordnungsmöglichkeiten – man könnte auch von Organisationsmöglichkeiten sprechen – verweisen auf den Willen zur Macht: Ebenso wie Künstler und Rezipient Ausdruck des Willens zur Macht sind, der in ihnen wirkt, so sind auch die Zeichen in ihrer jeweiligen Organisation als „Machtmanifestationen“ (Duhamel/Oger (1994), S. 8) und „Erscheinungsformen des Willens zur Macht“ (Duhamel (1994), S. 157) anzusehen. Kunstwerke, als derartige Zeichenkomplexe verstanden, „als geordnetes und ordnendes, als ,organisiertes‘ Ganzes“ (ebd., S. 158; H.v. m.), können daher zweitens als Ausdruck eines Willens zur Macht angesehen werden. Im Kunstwerk kommt es dabei zu einem komplexen wechselseitigen Kommunikations- und Interpretationsprozess. Interpretation, die selbst als Interpretations- und Auslegekunst und insofern als eine Kunst im weiten Sinne einer Kunstfertigkeit oder Technik aufgefasst werden kann361, ist nach Nietzsche im Kern ein Mittel, um Herr über etwas zu werden (N 1885/86, 2[148], 12, S. 140). Das Kunstwerk kann daher auch als „Kampfobjekt“ angesehen werden, durch das es zu „Machtverschiebungen“ kommt (Duhamel (1994), S. 155).362 Kunstwerke sind „Kunstmittel“, mit dem Rezipienten in einen schöpferischen Zustand versetzt werden können. Sie sind Zeichen, die diesen Zustand übermitteln, und als solche ahmen sie keine Wirklichkeit nach, sondern bewirken eine (vgl. Böning (1988), S. 200). So kann Kunst außer als „Vermögen“, „als Kraft und Möglichkeit“ auch als „Mittel“ und „Medium“ bezeichnet werden (Oosterling (1994), S. 67), mit dem Effekte ausgelöst werden können. Insbesondere vor dem Hintergrund der o. a. vielfältigen Wirkungen, vor allem auch physiologischer 360 Dass Nietzsches Ästhetik eine semiologische Theorie sei, vertritt Duhamel (1994) als dritten Grundsatz der Ästhetik Nietzsches (S. 153 ff.). „Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht bildet die Grundlage seiner Ästhetik, wobei die Semiologie das eigentliche Bindeglied darstellt“ (ebd., S. 157). 361 Vgl. z. B. Nietzsches Äußerungen zur Kunst des guten Lesens und richtigen Auslegens (GM Vorr. 8, 5, S. 255); kritisch zur verfälschenden Interpretation vgl. AC 52, 6, S. 233. 362 Allerdings ist es m. E. dabei entgegen Duhamel (1994) nicht völlig „irrelevant, ob das Kunstwerk mich bzw. ich das Kunstwerk bezwungen hätte.“ (S. 155) Wäre dem so, dann wäre die ganze Rede von „Kampf“, „überwältigen“, „unterliegen“ im Zusammenhang mit dem Willen zur Macht, streng genommen diese Formel selbst, unpassend und verfehlt. Worauf er durch die Hinweise auf das „identifizieren“ mit einer anderen Macht und dem „teilhaben“ an einem neuen Machtbereich dagegen berechtigterweise anspielt, ist die Möglichkeit zur Anerkennung einer stärkeren Macht.
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Art, die sie auf Rezipienten und Erschaffer ausüben können, sind Kunstwerke drittens als valide Machtmittel anzusehen. Deshalb ist m. E. Gerhardt zuzustimmen, wenn er schreibt: „Die Kunst ist dabei mehr als bloß Schmuck und Ornament. Sie will nicht von der Macht ablenken und schafft keine Gegengewichte; sie ist ein originäres Machtmittel und in letzter Konsequenz die höchste Stufe der Machtentfaltung. In der gelungenen Darstellung liegt nicht nur ein Teil der Wirkung nach außen, sondern in ihr festigt, ja steigert diese sich selbst. Den bewußten Auftritt macht sie zum Instrument ihrer Durchsetzung gegenüber anderen, zugleich aber auch zum Spiegel ihrer eigenen Stärke.“ (Gerhardt (1996), S. 163; H.v. m.)
Diese Charakteristika lassen – unter Umständen aus einer anderen Perspektive und mit anderer Motivation – den instrumentellen Zugriff auf Kunstwerke als Zeichen von Macht und ästhetische Machtmittel lohnenswert erscheinen. Abschließend sei noch kurz darauf hingewiesen, dass in Nietzsches Konzeption nicht nur die Eindeutigkeit der Trennlinie zwischen Künstler und Rezipient verwischt wird, sondern auch die zum Kunstwerk.363 Kunstwerke sind nach Nietzsche in einer weiten Perspektive nicht auf Dinge beschränkt, sondern umfassen auch den Künstler in seinem Selbstverhältnis. Der Kunstschaffende macht sich selbst zu einem Teil des Kunstwerks. Dies ist nach den Ausführungen zum Künstler und der Physiologie der Kunst nicht unplausibel, muss dieser sich doch in einen entsprechenden rauschhaft gesteigerten Zustand der Erregbarkeit versetzen, um produktiv werden zu können. Dazu muss er, bei aller überströmenden Fülle seiner Kräfte, im Vorfeld doch eine gewisse „Ökonomie“ seiner Kräfte walten lassen, sich auf sein Werk konzentrieren, Kräfte aufstauen und ansammeln, damit diese sich im entscheidenden Moment entladen können (N 1888, 14[117], 13, S. 295).364 „Wenn sich die Productionskraft eine Zeit lang aufgestaut hat und am Ausfließen durch ein Hemmnis gehindert worden ist, dann giebt es endlich einen so plötzlichen Erguß, also ob eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes inneres Arbei363 Vgl. auch Duhamel (1994, S. 153), der in der Gleichung „Kunsterlebnis = Kunstwerk = Kunstschaffen“ den zweiten Grundsatz von Nietzsches Ästhetik ausmacht. Zur literarischen Verwendung dieses Motivs vgl. z. B. die chinesische Geschichte eines Künstlers, der auf dem Weg seines Bildes spazieren geht und darin entschwindet (Benjamin (1963), S. 40) oder „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde. 364 Nicht nur in der „grossen Politik“ gibt es daher „Werke, welche große Konzentration und Einseitigkeit verlangen“ (MA I, 481, 2, S. 315). Dies kann bis hin zu einer klosterartigen Isolation reichen als „ein Kampf gegen die Vergeudung unserer Kräfte in bloßen Reaktionen; ein Versuch, unserer Kraft Zeit zu geben, sich zu häufen, wieder spontan zu werden.“ (N 1887, 10[165], 12, S. 552) Auch mahnt Nietzsche besonders den Künstler zur „Vorsicht vor Eroticis“, der trotz seiner erhöhten Sinnlichkeit tatsächlich im Durchschnitt „ein mäßiger, oft sogar keuscher Mensch“ sei, um seine produktiven Kräfte für das Werk aufzusparen: „Es ist ein und dieselbe Kraft, die man in der Kunst-Konzeption und die man im geschlechtlichen Aktus ausgiebt: es giebt nur Eine Art Kraft.“ (N 1888, 23[2], 13, S. 600) Vgl. generell zur Notwendigkeit einer Ökonomie auch Müller-Lauter (1999b), S. 173 ff.
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ten, also eine Wunder sich vollziehe. (. . .) Das Capital hat sich eben nur a n g e h ä u f t , es ist nicht auf einmal vom Himmel gefallen.“ (MA I, 156, 2, S. 147)
Kunstwerke sind also nicht als unmittelbarer Ausbruch einer Kraft oder eines einzelnen Triebes misszuverstehen, so wie der Wille zur Macht nicht einfach ein Trieb ist, sondern enthalten bereits eine Organisation und Formgebung unterschiedlicher und teilweise gegenläufiger Kräfte, inklusive einer Transfiguration, Sublimierung und Verklärung der Antriebe.365 Dies impliziert eine gewisse Distanz: Der Künstler ist in gewisser Weise bereits fertig mit seinen Leidenschaften, bevor er sie darstellt und hat sich bereits in eine Stellung zu diesen bringen können (N 1887, 10[33], 12, S. 472 f.).366 Dazu bedarf es einer Kunst im weiten Sinne einer Kunstfertigkeit oder Technik. Der Künstler schafft sich eine „Art habitueller Rausch im Leibe“ (N 1888, 14[117], 13, S. 295), den er benötigt, und der ihn nichts so sehen lässt, wie es ist, sondern alles voller, einfacher und stärker erscheinen lässt. Der Rausch ist also kein „Selbstzweck, sondern allenfalls jener Zustand der Formlosigkeit, der die Arbeit an der Form evoziert und in dem eine Erstarrung der Form zerspringt.“ (Schmid (2000), S. 31) Nietzsche zielt, in dieser plausiblen Deutung Schmids, als Philosoph der Lebenskunst „über die dionysische Auflösung starrer Formen hinaus auf die apollinische Selbstformung des Subjekts“ (ebd.).367 Das Verhältnis des Künstlers zu seinem Werk bzw. zu sich selbst wird demnach als Maßstab der Kunst der Lebensgestaltung insgesamt genommen, beispielsweise in der Forderung, zu Dichtern unseres eigenen Lebens zu werden (FW 299, 3, S. 538), in der Rede von den „Artisten des Lebens“ (JGB 31, 5, S. 49) oder wenn Nietzsche davon spricht, dass man sein Leben wie ein Kunstwerk gestalten solle, das man immer wieder erleben möchte (N 1881, 11[165], 9, S. 505).368 Damit schließt das Gesagte an die oben zitierte Forderung an, seinem 365 Kunst kann mit Nietzsche als ein „Verwandeln- m ü s s e n ins Vollkommene“ definiert werden (GD, 6, S. 117). Zur Verklärung bzw. Transfiguration auch N 1885, 37[12], 11, S. 587 f.; N 1887, 8[1], 12, S. 324 ff.; N 1888, 14[120], 13, S. 299. Ausführlich dazu van Tongeren (1994). 366 Auch Gerhardt (1988a) betont, dass Kunst nicht der direkte Ausdruck von Trieben ist (S. 31 f.) und hebt die „Sublimierungsleistung“ des Künstlers hervor (S. 34). 367 Zur Entsprechung von Lebensleistung und künstlerischer Produktion bei Nietzsche z. B. auch Schmid (2005), S. 174 f.; Gerhardt (1988a), S. 23 sowie S. 61; Nehamas (1985) und (1998); Weijers (1994). 368 Dazu auch Visser (1994), S. 108. Angelegt ist dies bereits in seinen Ausführungen zum dionysischen Rausch in der Geburt der Tragödie: „Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden“ (GT 1, 1, S. 30; dazu auch Oosterling (1994), S. 65). Dies gilt auch für Nietzsches eigenes Leben, wie Gerhardt (2006) feststellt: „Alles geschieht mit der Prätention des ,großen Stils‘, um aus dem Leben selbst ein ,Kunstwerk‘ zu machen.“ (S. 12) Schon in seinen Jugendschriften lässt sich eine Bewunderung für den „geisterbeherrschenden Uebermenschen“ (J 2, S. 10) Lord Byron ablesen, der sein Leben wie eine Geschichte, wie ein Kunstwerk inszeniert und geführt hat (vgl. Safranski (2000), S. 25).
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gesamten Charakter „Stil“ zu verleihen, die als „grosse und seltene Kunst“ bezeichnet worden ist, sowie alles in einen „künstlerischen Plan“ einzufügen (FW 291, 3, S. 530). Es handelt sich um einen „neuen Begriff der Kunst“, bei der an Stelle des Genies der Mensch gesetzt wird, der „über sich selber d e n M e n s c h e n h i n a u s s c h a f f t . “ (N 1883, 16[14], 10, S. 502) In diesen letzten Bemerkungen ging es darum zu zeigen, dass die Angleichung nicht nur Künstler und Rezipient, sondern auch das Kunstwerk selbst umfasst. Die drei hier analytisch unterschiedenen Ebenen lassen sich offensichtlich nicht klar voneinander trennen, sondern fließen ineinander. Die produktive Kraft, die im Künstler, Rezipienten sowie im Kunstwerk zum Vorschein kommt, lässt sich als Wille zur Macht benennen (vgl. auch Oosterling (1994), S. 66). Alle drei sind somit letztlich im Kern Wille zur Macht – und nichts außerdem (vgl. Duhamel (1994), S. 155).369 Bevor zum nächsten Kapitel übergegangen werden kann, scheint zum Abschluss eine kurze Einordnung und Diskussion des Vorangegangenen sinnvoll, insbesondere, da sich somit deutlicher einige signifikante Unterschiede zur Mikropolitik neben den aufgezeigten Gemeinsamkeiten ausarbeiten lassen. Dazu sollen drei Aspekte herausgegriffen werden: Erstens wird Kunst in der Mikropolitik nahezu ausschließlich unter einer funktionalistischen Perspektive betrachtet. Kunst wird nicht um ihrer selbst willen thematisiert, sondern im Hinblick auf die Wirkungen, die sie zeitigt, und auf die Funktionen, die sie somit im organisationalen Kontext übernehmen kann. Oben wurde eine ganze Reihe von derartigen Funktionen von Kunst herausgearbeitet, die in dieser Deutlichkeit in der mikropolitischen Literatur nicht zu finden, aber implizit enthalten sind, wenn Kunst als Zeichen von Macht und als Machtmittel zur Sprache kommt. Nietzsches Zugang ist hier viel weiter gefasst. Kunst selbst steht mehr im Mittelpunkt seines Interesses und wird nicht ausschließlich als Funktion relevant. Darüber hinaus lassen sich eine Reihe von Stellen finden, in denen er sich gegen eine (zugestandenermaßen mögliche) Instrumentalisierung von Kunst wendet, beispielsweise, wenn er gegen die „Effecte“ und „Kunstmittel“ Meyerbeers polemisiert, die er als „überaus künstlich gesponnene Gewebe von Beeinflussungen aller Art“ ansieht (UB IV, 8, 1, S. 474). Auch die anfängliche Konzentration Wagners auf die Wirkungen von Theater und Oper, die nur Mittel darstellten, seinen herrschenden Gedanken auszudrücken (ebd., S. 472 ff.) und vor allem aus der Musik „ein Mittel, ein Medium, ein ,Weib‘“ gemacht hätten zum 369 Laut Nietzsche ist letztlich alles Wille zur Macht, aber dieser äußert sich, wie gezeigt, nicht immer gleich. Kunstwerke sind Ausdruck eines starken Willens zur Macht, wie er bei großen Individuen und Künstler-Naturen auftritt, deren Macht die Kunstwerke widerspiegeln (GD, 6, S. 117). Zu dieser Unterscheidung auch Gerhardt (1988a), S. 26 sowie (1984), S. 392.
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Zweck des Dramas (GM III, 5, 5, 345 f.) sowie der Einsatz übertriebener Mittel werden verschiedentlich kritisiert.370 Ausgehend von dieser Kritik an Wagner wird eine banale „expressive“ Funktion der Kunst generell in Zweifel gezogen (NW, 6, S. 422; auch Biebuyck (1994), S. 133). Besonders vehement ist Nietzsches Ablehnung einer Instrumentalisierung der Kunst durch Interessen von Religion und Moral371 – oder durch die Gesellschaft, die „Kunst und Künstler zu ihrem sclavischen Gefolge zählt, zur Befriedigung von S c h e i n b e d ü r f n i s s e n “; moderne Kunst werde durch diese Vereinnahmung zu einer Erfüllungsgehilfin einer Gesellschaft, die „durch die hartherzigste und klügste Benutzung ihrer Macht die Unmächtigen, das Volk, immer dienstbarer, niedriger und unvolksthümlicher zu machen und aus ihm den modernen ,Arbeiter‘ zu schaffen wusste“ und zu einem „wollüstige[n] Mittel gegen die Erschöpfung und die Langeweile ihres Daseins“ (UB IV, 8, 1, S. 475).372
Hier wird ein großes kritisches Potenzial 373 deutlich und damit eine Nähe zum kritischen Impuls, der durchaus auch in der Mikropolitik vorhanden ist (s. o.). Generell sollte ein Kunstwerk dagegen ganz aus sich selbst gerechtfertigt und in sich sinnvoll sein (vgl. Gerhardt (1988b), S. 59) sowie nur selbst gesetzten Regeln folgen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Kunst nicht auch Zwecke erfüllen könnte, wie Nietzsche selbst feststellt: „Der Kampf gegen Zweck in der Kunst ist immer der Kampf gegen m o r a l i s i r e n d e Tendenz in der Kunst, gegen ihre Unterordnung unter die Moral.“ Daraus folgt „noch lange nicht, dass die Kunst überhaupt zwecklos, ziellos, sinnlos, kurz l’art pour l’art“ ist (GD, 6, S. 127).
Denn sie ist, wie gezeigt, vielmehr als großes Stimulans zum Leben zweckvoll (ebd.) und „sublim zweckmäßig“ (N 1888, 14[120], 13, S. 299) auch noch darin, dass sie uns durch ihre Kraft zu lügen zum Leben verlockt, so z. B. in der Liebe, in der eine Form von Kunst wortwörtlich als „organische Funktion“ auftritt (N 1888, 14[120], 13, S. 299; H.v. m.). Kunst stellt somit, ebenso wie Erkenntnis und Moral, nach Nietzsche explizit ein „Mittel“ dar, das Leben zu steigern (N 1887, 10[194], 12, S. 572). Darüber hinaus wird deutlich, dass auch Kunst ebenso wie Kultur insgesamt nicht in einer rein dekorativen Funktion als „ D e k o r a t i o n d e s L e b e n s “ 370
Vgl. z. B. EH, 6, S. 325 sowie N 1887, 10[155], 12, S. 543. In der Kunst soll nichts mehr an „gut“ und „böse“ erinnern (N 1887, 10[52], 12, S. 481). 372 Vgl. zur Kunst, die es uns „,schmackhaft‘ “ machen kann, auch in „,entfremdete‘ Welten“ des staatlichen miteinanders einzutreten und somit einen zweifelhaften Dienst verrichtet, auch N 1887/88, 11[407], 13, S. 187. 373 „Potenzial“ ist hier wörtlich zu nehmen, denn inwieweit Nietzsche damit tatsächlich eine Kritik verbindet, ist diskussionswürdig, hält man sich vor Augen, dass seiner Meinung nach die höchsten Individuen immer auf dem Boden einer breiten Masse wachsen, die durch ihre Sklavendienste gleichsam den Humus bilden (vgl. Behler (1986), S. 138 f.). 371
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(UB II, 10, 1, S. 333) aufgeht, sondern dieses als sinnvolles Leben überhaupt erst ermöglicht – was Kunst „mächtiger als die Erkenntniß“ werden lässt (PdW, 1, S. 760; vgl. Salaquarda (1999)). Sie kann, zumindest im Frühwerk, nach Nietzsche sogar eine Rechtfertigungsfunktion erfüllen, die später zumindest noch, in Anlehnung an den Wortgebrauch aus dem ersten Teil, als kompensatorische bzw. therapeutische Funktion durchgeht, wenn sie als „guter Wille zum Schein“ das Leben ertragbar macht (FW 107, 3, S. 464).374 Und in einem späten Nachlassfragment heißt es dazu lakonisch: „Die Wahrheit ist häßlich: w i r h a b e n d i e K u n s t , um nicht an der Wahrheit zu Grunde zu gehen.“ (N 1888, 16[40], 13, S. 500) Kunst kann somit nahezu über das gesamte Werk Nietzsches hinweg eine sinnstiftende Funktion erfüllen, die, wie gesagt, nur in der Aufklärungsperspektive des freien Geistes eine vorübergehende Begrenzung und Relativierung erfährt (vgl. Gerhardt (1984), S. 385 bzw. (1988b), S. 51 f.); und selbst in dieser Zeit kommt der Kunst ein Verdienst um die „Lust am Dasein“ (MA I, 222, S. 185) zu, wirkt sie anregend und aufregend gerade durch ihre Unvollständigkeit (ebd., 178, S. 162) und „ P l ö t z l i c h k e i t “ und rettet den Menschen somit vor Langeweile (N 18776/77, 23[81], 8, S. 431 f.), was nicht zu unterschätzen ist. Auch diese unterhaltende Funktion der Kunst ist demnach keineswegs ausschließlich kritisch zu sehen, wie es oben den Anschein hätte haben können. Dass Kunst, durch ihre Möglichkeit in einem weiten Sinne Mitteilung zu sein, darüber hinaus auch eine kommunikative Funktion erfüllt, sollte nach den vorangegangenen Ausführungen deutlich sein. Und in Form von Festen als „höherer Kunst“, die „Erinnerungszeichen und Denkmäler hoher und seliger Momente“ „auf der großen Feststrasse der Menschheit“ hinterlassen, kann sie auch eine Erinnerungsfunktion wahrnehmen (FW 89, 3, S. 446).375 Kurzum: Kunst enthält auch bei Nietzsche ganz klare funktionale Aspekte – und zwar auf allen Ebenen von Künstler, Kunstwerk und Rezipient. Insofern ist der These zu widersprechen, dass es bei Nietzsche gar nicht um die Funktion von Kunst gehe.376 Allerdings, und das ist hier der Punkt, nicht in der Ausschließlichkeit, wie das bei der Mikropolitik der Fall ist.377 374 Abel (1986) beschränkt die Funktion der „Kompensation“ demgegenüber auf das frühe Werk, während im späten Werk ihre Funktion als „organisierende welt-, sinn-, form- und gestalt-schaffende Kraft“ in den Vordergrund trete (S. 25). Zu einer Entlastungsfunktion der Kunst, die nicht resignativ, sondern lebenssteigernd konzipiert sei, vgl. Schulz (1983, S. 6 f., S. 20 f.). Explizit zur Funktion der Kunst in Nietzsches Philosophie auch Oosterling (1994), S. 65; Salaquarda (1999), S. 2; Heller (1983), S. 445, dazu Stambaugh (1983). 375 Auch Schmücker (2001, S. 16) interpretiert „Denkmale“ mit Utitz (1914, S. 65) als Funktion von Kunst. 376 So Schüle im Nietzsche-Handbuch, hg. v. Ottmann (2000), S. 197 ff. 377 Die Debatte um Funktionalismus vs. Autonomie der Kunst kann hier nicht vertieft werden. Angemerkt sei nur, dass selbst Vertreter einer Autonomie von Kunst, diese nicht als zwecklos bezeichnen müssen. Auch und gerade eine autonome Kunst kann
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Zweitens steht bei der Mikropolitik die Wirkung der Kunst auf Rezipienten im Mittelpunkt. Dabei ist nicht primär das Machtverhältnis von Künstler zum Rezipienten entscheidend, sondern die Distinktions- und Legitimationsvorteile, die mit Kunst Dritten gegenüber erzielt werden können. Nietzsche interessiert dagegen primär die Perspektive des Schaffenden. Selbst der Rezipient wird bei einer entsprechenden Ausstattung mit Machtwillen als Schaffender konzipiert, wenn auch einige reaktive Komponenten bei schwächeren Naturen verbleiben, die Kunst als ein direktes Machtmittel einsetzbar machen und zu einer Asymmetrie führen können. Allerdings klingen durchaus auch bei ihm Distinktionspotenziale an, beispielsweise wenn die Kunst nur für Künstler ist oder bestimmtes Wissen vorausgesetzt werden muss. Auch ist die beschriebene Angleichung von Künstler, Kunstwerk und Rezipient zumindest ansatzweise in der Mikropolitik auffindbar, und zwar in der oben dargelegten Transferfunktion, die in gewissem Rahmen eine Angleichung von Rezipient und Kunstwerk impliziert, sowie in der Übertragung von originär künstlerischen Lebensstilen auf Rezipienten, wie dies in bestimmten „communities“ (wie z. B. den Fahrrad-Kurieren oder Agenturmitarbeitern) festzustellen ist. Damit kommen wir zum dritten und letzten Aspekt: dem der Reichweite der Kunstkonzeption. Kunst ist bei Nietzsche als prominente Gestalt des Willens zur Macht „so umfassend wie nur irgend möglich“ zu denken, wie es oben mit Recki (2000) hieß (S. 524). Weiterhin ist bereits angerissen worden, dass diese Konzeption nicht nur die gesamte Kultur sowie das Selbstverhältnis der Menschen in ihrer individuellen Lebensgestaltung, sondern darüber hinaus ganz basale Lebensvollzüge umfasst sowie eine Deutung der Welt selbst „als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk“ (N 1885/86, 2[114], 12, S. 119). Leben wird in Analogie zur Kunst gedacht.378 Der dem Leben zu Grunde liegende Wille zur Macht in
Zwecke bzw. Metazwecke erfüllen. Dies lässt sich m. E. auch für Nietzsche konstatieren: Es lassen sich, wie gesehen, Autonomieaspekte in seiner Kunstvorstellung finden. Dies schließt aber weder das Befolgen interner, potenziell selbst gesetzter „Conventionen“ aus (N 1888, 14[119], 13, S. 297) noch, dass Kunst gewisse externe Zwecke erfüllt. Somit wird drittens nicht ausgeschlossen, dass die großen Wirkungen, die Kunst entfalten kann, auf einer anderen Ebene als Mittel eingesetzt werden können, um gänzlich andere Zwecke zu erfüllen. Im Gegenteil: Ohne diese Möglichkeit des Ge- und natürlich auch des Missbrauchs wäre eine Forderung nach Unabhängigkeit der Kunst gänzlich unnötig. Die Frage nach Autonomie ist also als normative zu verstehen, als Frage danach, ob und wann Kunstwerke eingesetzt werden sollten. 378 Dabei wird laut Gerhardt (1988a) der Terminus der Kunst „nicht diffus auf alle vitalen Prozesse angewandt, sondern die Lebensphänomene werden umgekehrt auf den Begriff der Kunst zugespitzt.“ Der Begriff der Kunst gehe dem des Lebens daher methodisch voraus (vgl. S. 25). Zusammen mit der Möglichkeit einer graduellen Abstufung des Willens zur Macht zwischen den Polen „stark“ und „schwach“, sei es daher möglich, das künstlerische Schaffen sowohl „an der Basis als auch in den Gipfelpunkten des Lebens wirksam zu sehen. Die dynamische Totalisierung kunstanalogen Schaffens führt demnach nicht zur Zersetzung der strengen Maßstäbe der Kunst.“ (S. 27)
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seiner Produktivität und inhärenten Steigerungsdynamik wird am durchsichtigsten im Kunstwerk des Künstlers (vgl. Heidegger (1961, Bd. 1, S. 88). Die Kunst selbst kann andersherum als Steigerungsform der organisierenden Grundfunktionen des Lebens gedeutet werden: „Die Kunst kann in das Leben zurückgeholt werden, weil das Verhältnis des Schaffenden zu seinem Material nicht anderes ist, als die höchste Manifestation des Grundverhältnisses des Lebens selber, die von Macht und Überwältigung.“ Und auch das Kunstwerk „wird in das organische Leben zurückgeholt, weil bereits das Leben selbst als das eigentliche Kunstwerk verstanden werden kann.“ (Visser (1994), S. 107)
Die Selbstorganisation des Lebens wird demnach in Analogie zur Kunst gedacht, die Kunst aber nach Analogie des Lebens (vgl. Gerhardt (1984), S. 392). Dieser Gedanke kann hier nicht in seinen Einzelheiten und Schwierigkeiten ausgedeutet werden; und auf den Aspekt der Selbstorganisation wird im folgenden Kapitel noch zurückzukommen sein. Wichtig war es aber, zum Abschluss dieses Kapitels den Unterschied zur Reichweite der Kunst innerhalb der Mikropolitik zu kennzeichnen, die sozusagen von einem „herkömmlicheren“ Kunstbegriff ausgeht, dessen Umfang auf Kunstwerke im engeren Sinne begrenzt ist.
c) Zusammenfassung Macht und Ästhetik Betrachtet man das gesamte Kapitel im Rückblick, lässt sich zunächst einmal grundsätzlich konstatieren, dass eine ästhetische Dimension der Macht in beiden Theorieansätzen nachgewiesen werden konnte, die darüber hinaus einen hohen Stellenwert besitzt. Ästhetik ist mehr als ein „Beiwerk“ für die Machtkonzeptionen, wie es zu Beginn dieses Kapitels einleitend hieß. Damit ist die These des Kapitels bestätigt. Ferner wurde eine grundsätzliche Ähnlichkeit der beiden Konzepte bezüglich der Ästhetik der Macht bzw. der Macht der Ästhetik ausgemacht, die darin besteht, dass Ästhetik Macht voraussetzt sowie ihrerseits eine gewisse Macht zu entfalten im Stande ist. Macht drückt sich ästhetisch aus, in räumlicher Position und Größe, in Glanz, Pracht und Schönheit (Ästhetik der Macht). Dieser Zusammenhang ist verinnerlicht und somit werden Position, Größe, Glanz, Pracht und Schönheit ihrerseits zu Zeichen für gleichsam „dahinterliegende“ Stärke und Macht. Diese Zeichen können, gemäß dem Moment der Instrumentalität, gezielt als autoritative Mittel verwendet werden. Der Einsatz von Ästhetik bekommt somit seinerseits eine eigene Machtkomponente verliehen (Macht der Ästhetik). Es lässt sich weiterhin festhalten, dass die ästhetische Dimension der Macht es offensichtlich in besonderer Weise vermag, Legitimitätsansprüche glaubhaft zu vermitteln und geltend zu machen, sei es durch Distinktion, Drohung, Abschreckung und (verinnerlichte) Allgegenwart oder durch „überwältigende“ (!) Schön-
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
heit und Erhabenheit, die als eine Art „zwangloser Zwang“ ein leichteres Nachfolgen und Anerkennen einer (Über-)Macht auslösen können. Ein gravierender Unterschied zwischen den Theorien scheint dagegen prima facie darin zu bestehen, dass in der Mikropolitiktheorie der Einsatz von ästhetischen Machtmitteln eindeutig auch aus einer kritischen Perspektive analysiert wird, wenn auch nicht ausschließlich. Dies sucht man bei Nietzsche häufig vergebens. Eine tiefer gehende Kritik an der (automatischen) Legitimierung durch Ästhetik und dem Fortbestehen der eventuell nur subtileren Form des Zwangs ist an entscheidenden Stellen nicht zu finden und vor dem Hintergrund seiner elitäraristokratischen Gesinnung vielleicht auch gar nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Das leichte Nachfolgen und Gehorchen mit „liebenswürdigste[r] Miene“ drückt in gewisser Weise die höchste Form der Macht aus (N 1886/87, 7[3], 12, S. 258). Es wirkt so, als besäße Nietzsche ein großes Vertrauen in die Authentizität der Machtästhetik, die ihm eine Art „Wasserzeichen“ der Macht zu sein scheint, durch das „Fälschungssicherheit“ garantiert sei. Als Grund für dieses Vertrauen wurden oben die hohe Originalität und Authentizität ausgemacht: Ästhetische Merkmale sind nicht leicht nachzuahmen oder zu fälschen, nicht zu „improvisieren“, sondern benötigen viel Zeit bis sie nach viel verinnerlichter Arbeit zu der mußevollen „Arbeitslosigkeit“ ihrer höchsten Vollkommenheit gelangen (M 40, 3, S. 408).379 Nietzsche geht hier anscheinend davon aus, dass sie somit kein Zufall seien, sondern originäre Ausdrücke eines starken und dauerhaften Willens zur Macht. Inwieweit dies jedoch bereits durch Arbeit (die ja z. B. auch aus dem Ressentiment geboren sein kann) und Zeit gewährleistet sein soll, ist zumindest fraglich – auch nach seiner eigenen Philosophie. Denn sonst tut sich Nietzsche auch nicht gerade durch die unkritische Würdigung der „Früchte langer Zeit“ hervor, sondern eher durch das Zerbrechen „alter Tafeln“. Gerade an diesen Stellen eröffnet sich daher das m. E. durchaus vorhandene kritische Potenzial seiner Theorie, auch der ästhetischen Machtausübung gegenüber, das oben schon bezüglich der Rolle angesprochen worden ist, die moderne Kunst als Erfüllungsgehilfin einer reinen Arbeitsgesellschaft spielt. Dieses Potenzial lässt sich auch an seiner polemischen Kritik am Christentum festmachen, das in seiner kirchlich-autoritären Ausprä379 An der Voraussetzung der Arbeit wird deutlich, dass es für Nietzsche selbst nicht mehr wirklich um einen „Geburts-“ bzw. „Geblütsadel“ im herkömmlichen Sinne gehen kann. Er spricht ausdrücklich nicht von bisherigen Aristokraten, sondern von neuen (N 1886/87, 5[61], 12, S. 207 f.). „Ich rede hier nicht vom Wörtchen ,von‘ und dem Gothaischen Kalender: Einschaltung für Esel.“ (N 1885, 41[3], 11, S. 678) Auch nach Ottmann (1999) meint die von Nietzsche anvisierte Form der Aristokratie nicht eine „der Geburt, nicht des Geldes, nicht der Herkunft, nicht einmal mehr des genialen Talents. Es war am ehesten eine Aristokratie der Moral, die sich aus Arbeitern und Bürgern ausscheiden würde, jene versammelnd, die ein Leben im Zeichen von Geld und Besitz, von Bequemlichkeit und Wohlstand verachten würden.“ (S. 145)
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gung immer auch auf der Klaviatur einer sinnlichen Machtästhetik gespielt hat380 – ohne dass ihre Legitimität damit in Nietzsches Augen jedoch gestiegen wäre. Diese Kritik geht vielmehr bis in die Anfänge des Christentums mitsamt ihrer „Wort- und Gebärden-Falschmünzerei als K u n s t “ zurück (AC 44, 6, S. 219). Des Weiteren nimmt er gerade die ästhetische Zurschaustellung von Moralität ins Visier, findet die „Art moralische Augen zu machen“ verdächtig (N 1880, 1[55], 9, S. 17), verspottet die bisherige „Art Feierlichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick, Moral“ (FW 382, 3, S. 637; JGB, 5, S. 11) und entlarvt die „Ceremonien, die Amts- und Standestrachten, die ernsten Mienen, das feierliche Dreinschauen, die langsame Gangart, die gewundene Rede und Alles überhaupt, was Würde heisst“ als Mittel, „fürchten machen“ zu wollen, obwohl sie selber „im Grunde furchtsam sind“ (M 220, 3, S. 194 f.; H.v. m.). Nicht jede (wirkungsvolle) Ästhetik ist demnach automatisch legitim, sondern muss auf den jeweiligen Willen zur Macht befragt werden, der in ihr zum Ausdruck kommt. Dass auch dafür wiederum ästhetische Kriterien relevant sind und bleiben, zeigt eine letzte Äußerung Nietzsches aus diesem Kontext, in der er über die Evangelien sagt: „Freilich: würden wir sie s e h e n , auch nur im Vorübergehn, alle diese wunderlichen Mucker und Kunst-Heiligen, so wäre es am Ende, – und genau deshalb, weil i c h keine Worte lese ohne Gebärden zu sehn, m a c h e i c h m i t i h n e n e i n E n d e . . . Ich halte eine gewisse Art, die Augen aufzuschlagen, an ihnen nicht aus.“ (AC 44, 6, S. 219)
10. Macht und Organisation In diesem abschließenden Kapitel geht es um den generellen Zusammenhang von Macht und Organisation – ein Zusammenhang, der aus meiner Sicht zentral für beide Konzepte ist, der folglich im Mittelpunkt dieser Arbeit steht und dem daher auch der Titel dieser Arbeit gewidmet ist. Folgerichtig ergeben sich vielfältige Bezüge zu den vorausgegangenen Ausführungen, die im Folgenden teils explizit hergestellt werden, teils implizit mit einfließen. Einen gemeinsamen Berührungspunkt haben diese Bezüge in der Einheitsproblematik, die gleichzeitig den Ausgangspunkt für die anschließenden Überlegungen bildet: Einheit ist für beide Konzepte in gewisser Weise ein Problem.381 Wenn, wie bei Nietzsche, alles Sein 380 Dies gilt teils wortwörtlich, im Falle des Orgelspiels, teils im übertragenen Sinn: Man denke an die oben erwähnten imposanten Kirchenbauten, das Spiel mit Lichteffekten oder den gezielten Einsatz von bewusstseinsbeeinflussenden Duftstoffen wie dem Weihrauch. Vgl. zu diesen „Mitteln, durch welche der Mensch in ungewöhnliche Stimmungen versetzt wird“ auch MA I, 130, 2, S. 123. 381 Insofern kann ich die Aussage Abels (1984): „Nicht die Beharrung, sondern das Werden ist das Rätsel“ (S. 42) zumindest in dieser Ausschließlichkeit nicht teilen. Denn ausgehend von der Diagnose des permanenten Werdens allen Seins – das durchaus als veritables Rätsel gelten kann, auf das, wie im ersten Teil dargelegt, auch wirklich
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letztlich Werden ist, jede Substanz eigentlich aus multiplen dynamischen Relationen besteht, wie kommt dann der zumindest zeitweilige Bestand von individuellen Einheiten zu Stande, mit denen wir uns in der Welt konfrontiert sehen? Diese Frage nach dem Entstehen und der grundsätzlichen Möglichkeit von konkreten Einheiten bzw. von Einheit als solcher entspricht im strategisch-mikropolitischen Kontext der Ausgangsfrage, wie soziale Einheit in Form einheitlichen kollektiven Handelns vor dem Hintergrund mikropolitischer Akteure mit unterschiedlichen Interessen und Zielen möglich wird. Wie ist also, allgemein formuliert, Einheit überhaupt möglich? Wie man den vorangegangenen Ausführungen dieser Arbeit entnehmen kann, lautet die erste Antwort auf diese Frage: durch Organisation. Nietzsche verwirft explizit und immer wieder ganz grundsätzlich ontologische Vorstellungen vollständig einheitlicher und dauerhafter Gebilde, seien es Atome, Dinge, Menschen oder sonstige „Einheiten“. Dies alles „giebt“ es für ihn so nicht.382 Einheit, Dinglichkeit, Substanz und Dauer bezeichnet er generell als Lügen (GD, 6, S. 75 f.), die Rede von der Einheit scheint ihm regelrecht „wider den Geschmack“ zu gehen: „Von der ,Einheit‘, von der ,Seele‘, von ,Person‘ zu fabeln, haben wir uns heute untersagt“ (N 1885, 38[4], 11, S. 577). Unser „Ich“ ist für ihn nur eine „scheinbare Einheit“ (N 1885/86, 2[91], 12, S. 106), ein adäquateres Verständnis von der Art unserer „Subjekt-Einheit“ bekommen wir am Leitfaden des Leibes als „Gesellschaftsbau vieler Seelen“ (JGB 19, 5, S. 33; N 1885, 40[20], 11, S. 638 f.). Ein Mensch ist demnach ebenso wenig eine einfache Einheit wie eine Pflanze, ein Tier, die Welt als ganze oder gar das All.383 Denn erstens steht nichts fest, sondern alles ist und bleibt grundsätzlich im Fluss: „ D a u e r n d “ ist vor diesem Hintergrund nur das, „dessen Veränderungen wir nicht sehen, weil sie zu allmählich und zu fein für uns sind.“ (N 1881, 11[228], 9, S. 529) Und für die unser Maßstab zu „kleinlich“ sind, wie er bereits früh schreibt (KGW II, 4, S. 267). Zweitens ist in einem strengem Sinn nichts wirklich einheitlich, sondern alles bis ins Kleinste hinein vielheitlich-relational (vgl. Teil 2 A. II. 2.). Letzte, unteilbare Teilchen oder statische Einheiten existieren somit grundsätzlich nicht: „Die Natur ist nach innen ebenso unendlich als nach außen: wir gelangen jetzt bis zu den Zellen u. zu den Theilen der Zelle: aber es giebt gar keine Grenze, wo man
Nietzsches Aufmerksamkeit gerichtet ist –, wird in einem zweiten Schritt die Möglichkeit zur Einheitsbildung und somit zumindest der Anschein eines gewissen „Beharrens“ durchaus ebenfalls zu einem Rätsel und Problem (s. auch Müller-Lauter (1999), S. 39 ff.; Gerhardt (1996), S. 299; Körnig (1999), S. 194; zu Nietzsches Suche nach Einheit als „Einheit des Lebens“ auch Hogh (2000), S. 168 ff.). 382 Vgl. z. B. N 1888, 14[79], 13, S. 258 f.; ebd. 11[73], S. 36; auch N 1876/77, 23[26], 8, S. 413. 383 Vgl. N 1888, 22[20], 13, S. 592; N 1887/88, 11[111], 13, S. 52; GD, 6, S. 97 bzw. N 1887/88, 11[99], 13, S. 47 f.; N 1886/87, 7[62], 12, S. 317.
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sagen könnte, hier ist der letzte Punkt nach innen, das Werden hört bis ins unendlich Kleine nie auf.“ (KGW II, 4, S. 270)384
Alles Wesenhafte wird, wie dargelegt, durch spannungsgeladene Relationen von dynamischen Quanten gebildet, die ganze Welt ist „essentiell RelationsWelt“ (N 1888, 14[93], 13, S. 271). Erst die Organisation, die spezifische Ausgestaltung und Anordnung dieser Relationen konstituiert nun Gebilde, die wir als Einheiten benennen können, die uns „Eins“ bedeuten, ohne genau genommen „eins“ zu sein. „Alle Einheit“ ist für Nietzsche demnach „n u r a l s O r g a n i s a t i o n u n d Z u s a m m e n s p i e l Einheit“ (N 1885/86, 2[87], 12, S. 104; kursiv v. m.). Andersherum betrachtet, entsteht in diesem Zusammenspiel und durch diese Organisation somit etwas, das tatsächlich als Einheit auf uns wirkt und das in seiner Bedeutung für uns durchaus sehr real sein kann, denn die Relationalität einer Einheit beweist per se nichts gegen deren Realität, wie im Kapitel zur Relationalität der Macht bereits angesprochen worden ist.385 In dieser Hinsicht sind Einheiten nicht einfach abzutun, sondern prägen entscheidend unsere Welt. Daher ist es erlaubt, in einem „relativen“ Sinn von Einheiten zu sprechen (vgl. N 1887/88, 11[73], 13, S. 36). Allerdings ist es wichtig, diese Art von Einheit richtig zu verstehen, d. h. sie nicht als monolithische, sondern als organisierte Einheit aufzufassen. Unter Rückgriff auf die verschiedenen Verwendungsweisen des Organisationsbegriffes zu Beginn dieser Arbeit könnte man daher auch formulieren, dass durch Organisation, verstanden als fortlaufender Prozess des Organisierens von Vielfältigem, Gebilde von relativer Dauer und Einheit entstehen, die mit Nietzsche wiederum als Organisationen, i. S. genereller Organisiertheiten, angesprochen werden können, und die u. U. auch in der spezifischeren Form institutionaler Organisationen vorliegen. Nietzsche selbst verwendet den Terminus „Organisation“ an diversen Stellen und in unterschiedlichsten Kontexten, ohne allerdings eine Definition anzugeben oder den Organisationsbegriff selbst ausdrücklich in der dargelegten Weise zu differenzieren.386 Wie beim Begriff der Macht, setzt Nietzsche auch hier offensichtlich ein Grundverständnis als gegeben voraus. Entscheidend ist, dass alles, was ist, Organisation ist, und dass dabei die Prozessualität 384 Vgl. zu dieser Stelle auch Müller-Lauter (1971), S. 33, Anm. 157; Kaulbach (1979), S. 130. Zum „Bemühen“ Nietzsches, „Einheit so zu denken, daß sie aus der Vielheit hervorgeht“ auch Körnig (1999), S. 146 ff. 385 Vgl. N 1881, 13[11], 9, S. 620; vgl. dazu z. B. auch Müller-Lauter (1999), S. 40 f. u. S. 66. 386 Vgl. u. a. ZB, 1, S. 653, S. 729 u. S. 752; UB III, 6, 1, S. 402; MA I, 55, 2, S. 75; MA II 2., 22, 2, S. 555 sowie ebd., 218, S. 653; M 109, 3, S. 98; JGB 61, 5, S. 80; GM II, 8, 5, S. 306; GM III, 18 u. 19, 5, S. 384; W, 6, S. 27; AC 27 u. 58, 6, S. 197 u. S. 245; N 1871/72, 14[25], 7, S. 384; N 1883, 22[1], 10, S. 603; N 1884, 25[310], 11, S. 92; ebd., 27[23], S. 281; N 1885, 2[114], 12, S. 118; N 1887, 9[91], 12, 386; N 1887/88, 11[74], 13, S. 37; N 1888, 18[3], 13, S. 532.
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des Organisierens auch innerhalb der verschiedenen Organisiertheiten nicht etwa zum Erliegen kommt, sondern fortwährend andauert, sich Einheiten somit in einem permanenten Fluss des (Re-)Organisierens befinden. Auch innerhalb der strategisch-mikropolitischen Organisationstheorie bilden sich Einheiten durch und nur durch Organisation, i. S. eines Organisierens. Organisation als dessen Produkt wird dabei ebenfalls nicht als substanzielle Einheit mit einem irgendwie festen Inneren angesehen, sondern eher als funktionale Form, in deren Innerem immer nur „tätige Bewegung“ zu finden ist, die das Beharrungsvermögen und die Stabilität dieser sozialen Organisiertheit durch rekursive Bezugnahme permanent (re-)produzieren muss (vgl. Ortmann (1997), S. 29). Dies leitet sich bereits aus der im Methodenkapitel angesprochenen Bedeutung des Flussgedankens für die Mikropolitik ab.387 In der Folge sind, analog zu Flüssen, Unternehmen und Organisationen allgemein nicht als „unwandelbare Substanzen, sondern als fortbestehende Formen“ anzusehen (Vickers (1967); zit. nach Weick (1985), S. 64). Das „Innere“ derartiger Organisiertheiten ist durch Bewegung und Vielfältigkeit gekennzeichnet sowie durch Spannung, Gegensätzlichkeit und Konflikt, wie in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich dargelegt worden ist (vgl. z. B. Teil 2 A. II. 3.): „Eine Organisation ist hier letzten Endes nichts anderes als ein Gebilde von Konflikten und ihre Funktionsweise das Ergebnis der Auseinandersetzungen zwischen den kontingenten, vielfältigen und divergierenden Rationalitäten relativ freier Akteure, die die zu ihrer Verfügung stehenden Machtquellen nutzen.“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 56 f.; H.v. m.)
Jede einheitsbildende Organisation ist daher in gewisser Weise auch ein „Problem“, ein äußerst fragiles und prekäres Gebilde, dessen Fortbestand nicht als gegeben angesehen werden kann. Vielmehr sind die „Kohäsion“ und „Integration“ der Organisation „ständig bedroht durch die zentrifugalen Tendenzen, die durch das motivierte Handeln ihrer Mitglieder einfließen, wenn diese, in Verfolgung ihrer persönlichen, immer divergenten, wenn nicht widersprüchlichen Strategien, ganz natürlich ihre eigene Freiheitszone zu schützen oder gar auszuweiten suchen, indem sie ihre Abhängigkeit von anderen reduzieren oder – anders gesagt – die Interdependenz begrenzen und einschränken, die sie an die anderen Teilnehmer bindet. Überspitzt formuliert könnte man sagen, daß eine Organisation nicht so sehr wegen, als vielmehr trotz des Handelns ihrer Mitglieder existiert.“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 58)
Ordnung ist aus mikropolitischer Sicht daher generell eine permanente „Herausforderung“ (Neuberger (2006), S. III), und keine Einheitsbildung kann als vollständig stabil oder endgültig gesichert gelten. Ordnung ist immer auch „Ordnung am Rande des Chaos.“ (Ortmann (2003), S. 14 u. S. 274)388 Anderer387
Vgl. z. B. Neuberger (1995), S. 88; Ortmann (1997), S. 28. Grundsätzlich zum „problem of order“ auch Ortmann (2003), S. 38 ff. Bei der immer wieder dennoch sich vollziehenden Ordnungsbildung kann mit Gerhardt (2007) 388
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seits können sich, vor allem durch die dargelegten rekursiven Strukturbildungsprozesse, auch gewisse Stabilitäten herausbilden, die zumindest Zeiträume in einem bestimmten Rahmen überdauern können (vgl. z. B. Teil 1 B. II. 2.; Teil 2 A. II. 6.). Und die Organisation als ganze kann sogar einen Vorteil aus den vorhandenen Gegensätzen ableiten, wenn es gelingt, diese so in das organisationale Geschehen einzubinden, dass eine funktionale Einheit entsteht und deren produktive Potenziale nutzbar gemacht werden können (vgl. Neuberger (2006), S. 205 f.). Als theoretischer Regulations- und Integrationsmechanismus – Ortmann (2003) bevorzugt es an einigen Stellen von „Konsonanz statt von Integration“ zu sprechen (S. 42), um die Wechselseitigkeit der Konstitutionsverhältnisse zu unterstreichen – tritt hierbei, wie gesehen, das Konzept des Spiels auf den Plan, das die Entstehung und Erhaltung von Gebilden zumindest relativer Dauer und Einheit plausibilisieren soll. Einheit wird somit auch von der strategisch-mikropolitischen Theorie als Organisation und Spiel, mit Nietzsche zu sprechen: als „Zusammenspiel“, verstanden. Als erste Antwort auf die eingangs gestellte Frage kann daher rekapitulierend festgehalten werden, dass Einheit in beiden Konzepten durch die fortdauernde Organisation einer Vielheit ermöglicht wird, wobei die beiden ersten Verwendungsweisen von Organisation, nämlich als Prozess und Produkt, gewissermaßen in eins fallen. Wodurch wird nun, so kann weiter gefragt werden, Organisation überhaupt möglich, und wovon hängt die konkrete Ausgestaltung, die spezifische Organisation dieser Art von vielheitlich-organisierter „Einheit“ ab? Die Antwort lautet, nach den bisherigen Ausführungen dieser Arbeit wohl nicht überraschend: von Macht, bzw. genauer: von den jeweiligen Machtkonstellationen. Jede Organisation, jede An-, Über- und Unterordnung stellt für Nietzsche den situativen Ausdruck für eine spezifische Konstellation von Willen zur Macht dar: Kräfte prallen aufeinander, werden sich durch zeichenhafte und interpretative Prozesse der gegenseitigen Darstellung, Mitteilung und Einschätzung zu Mächten und Gegenmächten, die miteinander in eine Auseinandersetzung, in einen Kampf im weitesten Sinne eintreten. Dieser Kampf ist gekennzeichnet durch Mächte, die aufeinander ausgreifen, sich wechselseitig Widerstand leisten, sich überwinden, „vergewaltigen“, ausbeuten und instrumentalisieren wollen und die sich in diesem Zuge u. U. sogar vernichten, die aber auch gemeinsame Zielrichtungen ausloten, sich anerkennen, „arrangiren“ und zeitweilig „ c o n s p i r i r e n “ können, um zusammen lokale Machtzentren zu bilden und noch mehr Macht zu erlangen (N 1888 14[186], 13, S. 373). Kommt es zu einer gewissen Etablierung und Dauerhaftigkeit der Beziehung, beispielsweise durch eine relativ stabile Unterordnung unter eine herrschende daher im gesamtgesellschaftlichen Kontext auch von einem „Wunder der Politik“ gesprochen werden (S. 375 f.).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Macht, einen gewissen Ausgleich oder eine temporäre Kooperation zwischen ungefähr gleich großen Mächten, können sich auf diese Weise funktionale Einheiten ausprägen, die sich zeitweise selbst erhalten. Dabei bleiben Spannung und Dynamik grundsätzlich bestehen: Jede Einheitsbildung ist wiederum als Mittel anzusehen, um „ g r ö s s e r e Macht-Einheiten zu schaffen“ (GM II, 11, 5, S. 313). Die generelle Ausrichtung auf Überwindung und Steigerung, auf mehr Macht, bleibt der grundsätzliche Antrieb und die Basis jeder Erhaltung von Einheit, auch der wechselseitigen Erhaltung von Untereinheiten. Im Zuge dieser Prozesse, für die im Verlauf dieser Arbeit die Tendenz zu asymmetrischen (Rang-)Ordnungsstrukturen und Hierarchiebildungen ausgemacht worden ist (vgl. Teil 2 A. II. 7.), kann es zu einer ausgefeilten Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Teilen und zu einem regelrechten „Dienst-Leistungs“-Verhältnis kommen, wie Nietzsche mit Blick auf schwächere Teile ausführt: „Denn entweder müssen sie sich selber zu einer gleichwiegenden Macht zusammenthun oder sich einem Gleichwiegendem unterwerfen (ihm für seine Leistungen Dienste leisten).“ (MA II 2., 22, 2, S. 555; H.v. m.)
Der dazu notwendige (auch kommunikative) Austausch vollzieht sich über die Darstellung von Willensäußerungen, insbesondere über die Medien von Befehl und Gehorsam, die, wie dargelegt, immer eine wechselseitige Anerkennung und ein „Zugestehen“ von Macht implizieren. Wobei jede Dienstleistung, jede Unterordnung und jeder Gehorsam noch von dem Willen durchdrungen ist, selbst auf die eine oder andere Weise Herr zu werden und Macht auszuüben. Insofern ist von (verdeckt oder offen) widerstrebenden Kräften in den untergeordneten Positionen immer auszugehen, ebenso wie von einer Vielzahl wechselseitiger Abhängigkeiten, von gegenseitigen Instrumentalisierungsversuchen und einem grundsätzlich fortdauernden Kampf (vgl. Teil 2 A. II. 3., 4., 8.). Die aus diesen komplexen Prozessen resultierenden Gebilde, die in uns zumindest den Eindruck von Funktionalität und Zweckmäßigkeit erwecken, gehen über die Möglichkeiten reiner Kräfte weit hinaus: Es sind Mächte nötig, die primär auf derartige Formgebung, Gestaltung und Ordnungsbildung, kurz: auf Organisation, abzielen (vgl. dazu auch Gerhardt (1996), S. 217). Einheit ist immer nur „Organisation unter der kurzfristigen Herrschaft dominierender Machtwillen“ bzw. „nur als Organisation eines Gegen- und Miteinander von Machtquanten Einheit“ (s. Müller-Lauter (1999), S. 40, 44 u. 66; H.v. m.). Erst Macht- und Herrschaftsverhältnisse, in die alle in den vorangegangenen Kapiteln ausgearbeiteten Charakteristika derartiger Beziehungen potenziell einfließen, können demnach solchermaßen organisierte Gebilde relativer Einheit und Stabilität hervorbringen und prägen entscheidend deren Gestalt.389
389 Vgl. z. B. auch Abel (1982), S. 369; Figl (1982), S. 101; Müller-Lauter (1999), S. 50. „The more powerful an interpreting power center is, the greater will be the
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Im Verlauf dieser Arbeit ist an unterschiedlichen Stellen darauf hingewiesen worden, dass Macht nötig ist, um Ordnung herzustellen und für einen gewissen Zeitraum festzustellen, noch weiter gehend: dass sich Macht in derartigen Ordnungen ausprägt und jede Organisation selbst auf die „Ordnung von Machtsphären und deren Zusammenspiel“ (N 1887, 9[91], 12, S. 386) zurückgeführt werden kann (vgl. u. a. Teil 2 A. II. 4., 8., 9.). Jede Einheit ist somit grundsätzlich sowie in ihrer spezifischen Organisation „Macht-Einheit“ bzw. „Macht-Complex“ (GM II, 11, 5, S. 313). An dieser Stelle sei noch einmal ausdrücklich die Relativität hervorgehoben, die sowohl die Dauer (Erhaltung) als auch die Einheit (Identität) dieser „fest-gestellten“ Gebilde betrifft (vgl. ebenfalls Abel (1982), S. 396). Auch wenn es, am menschlichen Maßstab gemessen, durchaus Herrschafts-Gebilde von relativ starker Einheit oder sehr langer Dauer geben kann – ein Paradebeispiel aus dem gesellschaftlichen Bereich ist für Nietzsche die feste und dauerhafte „Organisations-Form“ des Imperium Romanum (AC 58, 6, S. 245)390 –, so sind diese Einheiten doch niemals absolut einheitlich und bestehen niemals ewig. Darüber hinaus muss man sich die einheitsbildenden Konstellationen selbst auch nicht statisch, sondern in sich dynamisch vorstellen, wie aus den Strukturmerkmalen der Machtbeziehungen leicht ersichtlich wird. Am besten lässt sich diese Art der Einheit nach Maßgabe von lebendigen Einheiten begreifen (vgl. Teil 2 A. II. 8.), die fortwährend entstehen und sterben und zu deren Leben selbst ein permanentes Aufnehmen, Einverleiben und Ausscheiden sowie ein „fließendes Machtgrenzen-bestimmen“ gehört (JGB 19, 5, S. 33; N 1885, 40[20], 11, S. 638 f.).391 Dabei kann es durchaus, und muss es auch, zu einer gewissen Fest-Stellung von Kräfteverhältnissen und zur Ausbildung dementsprechender Rangordnungen kommen. Ein Organismus ist laut Abel (1984) „im Grunde nichts anderes als der zu einer relativ einheitlichen Organisation gelangte Ausdruck dieser fortwährenden Kräfteprozesse, wobei sich ein Machtwille als herrschend über eine jeweilige Vielheit der Teile durchgesetzt hat und nun das Verhältnis von Teil und Ganzem in der Binnenstruktur der gesamten Machtordnung mit Erfolg vorzuschreiben, d. h. seine organisierende Kraft und seine Imperative durchzusetzen in der Lage ist.“ (S. 113) sphere it tries to organize, and the more lasting its stamp on that sphere.“ (Salaquarda (1999), S. 9; H.v. m.) 390 Zu dem Anspruch, „Herrschafts-Gebilde“ von einer „Dauer über Jahrtausende“ zu schaffen s. N 1885/86, 2[57], 12, S. 87. Zu einem Willen, „sich über Jahrtausende hin Ziele setzen“ zu können, für Nietzsche ein Zeichen für „grosse Politik“, vgl. auch JGB 208, 5, S. 140. 391 Vgl. Gerhardt (1996), S. 263 sowie Gerhardt (2005). Ausführlich zur Deutung von Macht-Organisationen als Organismen vgl. Abel (1982), S. 373 f. bzw. (1984), S. 110 ff. Für ihn geht damit allerdings eine Uminterpretation und Auflösung des traditionellen, wesentlich von der Stoa geprägten Organismusbegriff einher. Zum Organismus detailliert auch Müller-Lauter (1999), S. 76 ff. Zu einer generellen Rekonstruktion des Lebensbegriffs bei Nietzsche sowie einer Übersicht über die einschlägigen Interpretationen zu diesem Thema, vgl. Hogh (2000).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Aber der Prozess der Feststellung ist mit der Bildung eines Organismus keinesfalls beendet; vielmehr ist das Leben selbst bereits mehrfach „als eine dauernde Form von P r o z e ß der K r a f t f e s t s t e l l u n g e n “ definiert worden (N 1885, 36[22], 11, S. 560; kursiv v. m.). Der Prozess geht also weiter, die Mächte müssen sich immer wieder aufs Neue bewähren, wobei sie ausdrücklich einem ungleichen Wachstum unterliegen (vgl. ebd.). Dies führt dazu, dass sich die Machtsphären fortwährend verschieben (vgl. N 1887/88, 11[111], 13, S. 52), wobei jede Macht-Verschiebung Auswirkungen an anderer Stelle im Ganzen des „Systems“ hat, nicht im Sinne eines kausal-mechanischen Hintereinanders, sondern in Form eines gleichzeitigen und verschränkten Neben-, Mit- und Ineinanders der Machtprozesse, die jeweils zu einem „Neuarrangement der Kräfte“ führen (N 1888, 14[95], 13, S. 273).392 Machtorganisationen nach Maßgabe eines Organismus besitzen somit keinen festen Mittelpunkt und auch kein unumstößliches „Oben“ und „Unten“, sondern sind durch komplexe, rekursive und mehrdimensionale Prozesse des Herrschens und Beherrschtwerdens, des Gehorchens und Widerstrebens sowie der wechselseitigen Abhängigkeit sowohl zwischen den „Teilen“ als auch im Hinblick auf ein „Ganzes“ bezeichnet, das sich in einem fortdauernden „Kampfspiel“ (N 1885, 36[22], 11, S. 560) gleichsam aus sich selbst heraus erst bilden muss und dessen Einheit sich, bis zu seinem unumgänglichen Verfall, immer wieder zu aktualisieren und selbst zu regulieren hat.393 Dieser ganze Zusammenhang wird ausdrücklich als nicht-mechanischer konzipiert, vielmehr als „ungeheure Synthesis von lebendigen Wesen und Intellekten“, die – selbst denkend, fühlend, wollend – nicht als „Seelen-Atome“ zu gelten haben, sondern „als etwas Wachsendes,
392 Vgl. auch N 1885/86, 2[143] u. 2[139], 12, S. 136 f. Zu dem an anderer Stelle bereits thematisierten Moment der Gleichzeitigkeit (vgl. Teil 2 A. II. 6.) s. Gerhardt (1996), S. 324; auch Abel (1984), S. 115. 393 Zur Bedeutung der „Selbstregulirung“ bei Nietzsche, mit dem er kritisch an den Begriff der „Selbstregulation“ von Roux anknüpft, vgl. ausführlich Müller-Lauter (1999), S. 113–119. Bereits in der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung thematisiert Nietzsche die „ p l a s t i s c h e K r a f t eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur (. . .) aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen.“ (UB II, 1, 1, S. 251; H.v. m.) Dies erinnert unmittelbar an die Charakterisierung der Dinge als Naturzwecke, wie Kant sie am Beispiel des Baumes vornimmt. In diesem Zusammenhang entwirft Kant auch das Modell eines Organismus als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen. (Vgl. KU, § 64 f., AA 5, S. 369 ff.) In einem solchen Wesen ist nach Kant jeder Teil nicht nur für andere Teile da, sondern darüber hinaus auch durch andere Teile hervorgebracht. In Maschinen kann „ein Theil (. . .) zwar um des andern Willen“ da sein, wie sich am Beispiel ineinandergreifender Zahnräder einer Uhr verdeutlichen lässt, „aber nicht durch denselben“ (KU, § 65, AA 5, S. 374; H.v. m.). Dies ist anders in lebendigen, sich selbst erzeugenden, organisierenden und erhaltenden Naturprodukten, die von sich selbst in mehrfacher Hinsicht gleichzeitig Ursache und Wirkung sind.
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Kämpfendes, Sich-Vermehrendes und Wieder-Absterbendes“ (N 1885, 37[4], 11, S. 576 f.). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Beschreibung von Kaulbach (1979), nach der Einheit (einer Zelle, eines Organismus, eines Menschen, eines menschlichen Gemeinwesens etc.) bei Nietzsche „nicht als Zusammengesetztsein aus unteilbaren, atomaren Elementen verstanden werden [darf]. Vielmehr muß sie als Ganzes, als ,Eins-heit‘ begriffen werden, welche sich in jedem der Teile vergegenwärtigt. (. . .) Es handelt sich um eine dynamische, sich einigend-herstellende Einheit, nicht bloße Verknüpfung (Zusammensetzung) von schon vorhandenen, selbständigen Teilen.“ (S. 130; H.v. m.)
Hier wird, neben den deutlichen Bezügen zu Leibniz394, mit dem Gedanken einer sich selbst herstellenden Einheit das Prinzip von Selbstorganisation angesprochen. Da diese Einheitsbildung immer nur vor dem Hintergrund und auf der Basis von Macht möglich ist und die prozessualen Gebilde selbst als Machtgebilde anzusehen sind, kann von einer Selbstorganisation der Macht gesprochen werden. Als wesentliche Komponente und grundlegenden Antrieb dieser Selbstorganisation, bei der Macht gleichermaßen das „Prinzip der Veränderung“ und das „Veränderte“ in einem ist (S. 304), macht Gerhardt (1996) das Machtgefühl aus: „Es drängt zum Einsatz der Kräfte, es gibt dem Erfolg Bedeutung und treibt gerade auch gegen Widerstand und bei Risiko zu neuen Erfolgen an. Es stellt sich nicht erst im Sieg ein, sondern begleitet schon die Vorbereitungen und beflügelt den Kampf. Jedes Hindernis steigert den Machtimpuls. Im Sieg ist es das Medium, in dem der große Augenblick erfahren wird.“ (S. 160)
Darüber hinaus, und das war der Ausgangspunkt dieser Überlegungen, wird die innere Dynamik der Machtkonstellationen noch einmal deutlich, die oben im Zusammenhang mit der Relativierung der Einheit von Machtgebilden angeführt worden ist. Für den Gedanken einer „fixen Einheit“ nach Art eines aus Teilen zusammengesetzten Aggregates, Apparates oder Artefaktes ist demnach kein Raum (vgl. W 7, 6, S. 27). Der Machtorganisation, wie sie hier rekonstruiert worden ist, fehlt gänzlich der „Maschinen-Charakter“ (N 1884, 25[426], 11, S. 124).395 Die Einheitlichkeit von Machteinheiten ist also als dynamische aufzufassen. Die Form bleibt „flüssig“ (GM II, 12, 5, S. 315). Daher ist auch kein unlösbarer Widerspruch darin zu sehen, dass Macht als Inbegriff einer dynamischen und treibenden Kraft, gleichzeitig für die „Fest-Stellung“ relativ dauernder und einheitlicher Gebilde sorgen kann. Alles ist und bleibt immer irgendwie in Bewe394 Vgl. Exkurs in Teil 1 A. II. 2.; „Leibniz hatte von ,seelenartiger‘ Einheit gesprochen, welche die Teile des Ganzen in einer Weise einigt, wie die Seele ihre einzelnen Funktionen wie Sehen, Hören, Denken usw. einigend durchdringt.“ (Kaulbach (1979), S. 130) 395 Vgl. ebenfalls N 1884, 25[432], 11, S. 126; dazu z. B. auch Abel (1984), S. 117 ff.
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gung, wie es oben hieß, auch innerhalb dieser Gebilde. Aber Bewegung ist relativ, perspektivisch, ebenso wie das Beharren. Das, was uns als „,objektiv‘ dauernd, seiend, ,an sich‘“ erscheint, ist nicht etwa als Stillstand zu verstehen und muss nicht einmal ausschließlich das „Langsam-Wechselnde“ (N 1887, 9[40], 12, S. 353) sein, sondern kann als „spezifische Form der Bewegung in der allgemeinen Bewegung des Werdens“ angesehen werden, als in irgendeiner Weise organisierte Veränderung (vgl. Gerhardt (1996), S. 306 f.). Einheiten können somit vielleicht am besten als relativ gleichförmige, aufeinander abgestimmte und koordinierte bzw. selbst-organisierte und -regulierte Bewegung einer Vielheit interpretiert werden, die sich nach Art eines „Fließgleichgewichts“ bis zu einem gewissen Grad (auch bei Zu- und Abflüssen, bzw. gerade durch diese) erhält, und die für uns den Anschein von Einheit und Stabilität erweckt.396 Wobei auch wir selbst, wie gesehen, genau genommen keine unumstößliche Einheit bilden, sondern einen „Complex des Geschehens“, der „in Hinsicht auf andere Complexe [nur] scheinbar dauerhaft“ ist, „z. B. durch eine Verschiedenheit im tempo des Geschehens, (Ruhe-Bewegung, festlocker: alles Gegensätze, die nicht an sich existieren und mit denen thatsächlich nur Gradverschiedenheiten ausgedrückt werden, die für ein gewisses Maaß von Optik sich als Gegensätze ausnehmen.“ (N 1887, 9[91], 12, S. 384; H.v. m.)
Dass wir überhaupt etwas als Einheit wahrnehmen und benennen können, und was als Einheit aufgefasst wird, hängt hierbei essenziell von unseren Organen sowie von unserer Grammatik und unseren „Begriffen“ ab und somit laut Nietzsche von der „Bedürftigkeit“ des Betrachters: „Ein Ding = seine Eigenschaften: diese aber gleich allem, was u n s an diesem Ding a n g e h t : eine Einheit, unter die wir die für uns in B e t r a c h t k o m m e n d e n Relationen zusammenfassen. Im Grunde die an uns w a h r g e n o m m e n e n Veränderungen (. . .). In summa: Objekt ist die Summe der erfahrenen H e m m u n g e n , die uns b e w u ß t geworden sind.“ (N 1885/86, 2[77], 12, S. 97 f.)397
396 Auch Kaulbach (1979) weist im Zusammenhang mit den Herrschaftsprinzipien bei Leibniz und Nietzsche auf die biologische Kategorie des „Fließgleichgewichts“ hin (S. 147). Ein Fließgleichgewicht kann man mit Reichholf (2008) als stabilen Ungleichgewichtszustand auffassen. Es handelt sich also nicht um einen statischen Gleichgewichtszustand, „sondern um einen höchst turbulenten, alles andere als gleichmäßig ruhigen Fluß von Stoffen und Energie“; „(d)as Fließgleichgewicht bleibt, dem Bild des strömenden Flusses durchaus entsprechend, fern vom Gleichgewicht“, auch wenn der Fluss für uns „gleichzubleiben scheint“ (ebd., S. 96). Zu einem Versuch, Leben bei Nietzsche mit dem Begriff der „Fluktuanz“ als „Substanz im Fluß“ bzw. „flüssige Form“ zu erfassen, vgl. Stegmaier (1992). Der Sinn des Fluktuanz-Gedankens sei es, „im Horizont der Selbstauslegung des Lebens denkbar zu machen, wie ,etwas‘ unter Lebensbedingungen eine Lebenseinheit, d. h. überhaupt ,etwas‘, ein selbständiges Wesen, sein und sich zugleich in seinem Wesen wandeln, wie ,etwas‘ also geschichtlich sein oder ,leben‘ kann“ (S. 191). 397 Zur erkenntnistheoretischen Dimension dieser Überlegungen z. B. auch Colli, Nachwort KSA 13, S. 654 f.
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Aus menschlicher Sicht ist Einheit also immer eine Zusammenfassung und aktive Feststellung der jeweils für uns relevanten Relationen. Dabei herrscht ein Wille zur Einordnung und zur Vereinheitlichung und damit auch zur „Anähnlichung“ und Gleichmachung vor, der im organischen Bereich als Wille zur Einverleibung und Assimilation auftritt. „Alles Denken, Urtheilen, Wahrnehmen als V e r g l e i c h e n hat als Voraussetzung ein , G l e i c h setzen‘, noch früher ein , G l e i c h machen‘. Das Gleichmachen ist dasselbe, was die Einverleibung der angeeigneten Materie in die Amoebe ist.“ (N 1887, 5[65], 12, S. 209)398
Vor dem Hintergrund, dass alles im Werden begriffen ist, wird „ E r k e n n t n i ß n u r m ö g l i c h a u f G r u n d d e s G l a u b e n s a n S e i n . “ (N 1885/86, 2[91], 12, S. 106) Es geht hierbei weniger um „ein Bewußtwerden von etwas, ,an sich‘ fest und bestimmt wäre“, sondern um ein „ a k t i v e s B e s t i m m e n “, wozu ein Wille zur Macht nötig ist, der in Form eines Willens zur Wahrheit auch als ein „Fest- m a c h e n , ein Wahr-Dauerhaft- M a c h e n “ auftritt (N 1887, 9[91], 12, S. 384 f.). Das ist einerseits vergröbernd, vereinfachend und in gewisser Weise verfälschend399, andererseits ist dieses „Zurechtmachen“ und „Fest-Stellen“ von eigentlich Nicht-Festem aber notwendig für Erkenntnis, für eine sinnvolle Orientierung in der Welt sowie ganz basal zur Ermöglichung von Leben: „Das Leben ist auf die Voraussetzung eines Glaubens an Dauerndes und RegulärWiederkehrendes gegründet; je mächtiger das Leben, um so breiter muß die errathbare, gleichsam seiend gemachte Welt sein. Logisirung, Rationalisirung, Systematisirung als Hülfsmittel des Lebens.“ (N 1887, 9[91], 12, S. 385)
Feststellen – und somit in gewisser Weise auch Irren bzw. Täuschen – ist also eine Art Grundvorgang und -voraussetzung des Lebens und ist als ein Ausdruck des Willens zur Macht nicht generell zu verwerfen.400 Allerdings darf das Feststellen auch nicht zu einer Hypostasierung von Einheit führen: 398 Vgl. ebenso N 1885/86, 2[90], 12, S. 106; s. bereits WL, 1, S. 880 f.; N 1872/73, 19[230] u. [236], 7, S. 492 ff.; zum Willen, Einheiten zu erzeugen auch N 1878, 32[8], 8, S. 561. 399 Und zwar in der Weise, dass der eigentliche Charakter des Willen zur Macht als Steigerung des Machtgefühls und Impuls zur Bewegung sich nicht unverdeckt zeigt. Das „Falsche“ ist demnach „Umwandlung des wahren Wesens des Willens zur Macht. Dieses wahre Wesen kann jedoch in allem Umgewandelten, ja noch als Bedingung von Möglichkeit und Notwendigkeit solcher Umwandlungen aufgewiesen werden.“ (MüllerLauter (1999), S. 49 u. S. 46) „Dem Werden den Charakter des Seins a u f z u p r ä g e n “ wird von Nietzsche an einer Stelle sogar als der höchste Wille zur Macht bezeichnet, auch wenn er eine „ ( z ) w i e f a c h e F ä l s c h u n g , von den Sinnen her und vom Geiste her“ beinhalte (N 1886/87, 7[54], 12, S. 312). 400 Zum von Nietzsche bereits früh erkannten Zusammenhang von Irrtum und Leben vgl. z. B. N 1881, 11[162], 9, S. 504: „Leben ist die Bedingung des Erkennens. Irren ist die Bedingung des Lebens und zwar im tiefsten Grunde Irren. Wissen um das Irren hebt es nicht auf! Das ist nichts Bitteres!“ Daher gelte die Gleichung: „Erkenntnis = Irrthum, der organisch wird und organisirt“ (N 1881, 11[197], 9, S. 520; H.v. m.).
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„Alles Seiende stellt fest. Und zwar mit Notwendigkeit. Das Fest-Stellen ist ein Grundzug des Willens zur Macht. Nur ändern sich Fest-stellendes und Fest-gestelltes fortlaufend.“ (Müller-Lauter (1999), S. 67)
Wir deuten im Zuge dieser Feststellungsprozesse eine Vielheit – nicht zuletzt mittels der Fähigkeit unseres Intellekts und unserer Vernunft, Einheiten zu bilden (vgl. Gerhardt (2005)401 – so, als ob es sich um eine Einheit handelte, wodurch wir gleichermaßen Einheit konstruieren. Der Mensch ist als „ f o r m e n b i l d e n d e s “ und „ r h y t h m e n - b i l d e n d e s G e s c h ö p f “ (N 1883/84, 24[14], 10, S. 650) demnach ein Einheiten organisierendes Wesen und kann mit seinem „Fühlen, Vorstellen, Denken“ (ebd.) als „der Ursprung der Organisation aller im Werden zeitweilig auftretenden Einheiten“ betrachtet werden (Gerhardt (1996), S. 299 f.) – zumindest aller ihn tangierenden Einheiten, da eingestandenermaßen „auch die anderen Wesen ,ihre‘ Einheiten bilden. Die Besonderheit der menschlichen Welt kommt erst durch die spezifischen Bedingungen der menschlichen Lebensorganisation zustande“ (ebd., S. 300).
Die Einheiten, die der Mensch durch Vereinfachung, Vereinheitlichung und Verbindung erschafft, können hierbei recht komplexe Dimensionen annehmen: Ortmann bezieht sich in seinen organisationstheoretischen Ausführungen explizit auf die nicht zu unterschätzende (und auch von Nietzsche nicht unterschätzte) Fähigkeit des Menschen, mittels der Sprache, „auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fließendem Wasser“ „unendlich complicirte(.)“ Gebilde zu errichten, die gleichermaßen stabil und flexibel sein müssen; denn „um auf solchen Fundamenten Halt zu finden, muss es ein Bau, wie aus Spinnefäden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von dem Winde auseinander geblasen zu werden. Als Baugenie erhebt sich solcher Maassen der Mensch weit über die Biene: diese baut aus Wachs, das sie aus der Natur zusammenholt, er aus dem weit zarteren Stoffe der Begriffe, die er erst aus sich fabriciren muss.“ (WL, 1, S. 882; H.v. m.; ebenfalls zitiert in Ortmann (2004), S. 54)402
Mit dieser Metaphorik, die einen „Bau ohne Fundamente“ zu denken erlaubt und die somit theoretisch die Möglichkeit von Organisationsformen mit einer „Absage an jedweden Fundamentalismus“ kombiniert, kommt Nietzsche auch in Ortmanns Augen erneut dem nahe, „(w)as wir heute Selbstorganisation nennen“ (Ortmann (2004), S. 54).403 401 „,Geistigkeit‘“ ist demnach durchaus „ein Mittel zur relativen Dauer der Organisation“ (N 1887/88, 11[74], 13, S. 37), das allerdings für Nietzsche, wie einem anderen Fragment zu entnehmen, im Gesamtprozess eine untergeordnete Rolle spielt: „es fehlt jeder Grund, dem Geiste die Eigentümlichkeit zu organisiren und zu systematisiren zuzuschreiben. Das Nervensystem hat ein viel ausgedehnteres Reich: die Bewußtseinswelt ist hinzugefügt.“ (N 1888, 14[144], 13, S. 328 f.) 402 Genau genommen, „fabriziert“ allerdings auch die Biene, anders als beispielsweise Wespen, das Material für die Waben „aus sich“, nämlich aus speziellen Wachsdrüsen an der Unterseite ihres Hinterleibes.
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Bei aller Bewunderung für das „gewaltige(.) Baugenie“ (WL, 1, S. 882) des Menschen ist Nietzsche unermüdlich darin, uns das „als ob“, die (notwendige) Fiktion und den (konstitutiven) Schein, der auch für Ortmann zentral für die Möglichkeit und das Funktionieren von Organisation ist, vor Augen zu führen und im Bewusstsein präsent zu halten. Dass etwas notwendigerweise als „Voraussetzung alles Lebendigen und seines Lebens (. . .) für wahr gehalten werden m u ß “, heißt für ihn „ n i c h t , daß etwas w a h r i s t . “ (N 1887, 9[38], 12, S. 352). Dabei macht er auch vor unserem Selbstverständnis keinen Halt: Tatsächlich sind wir selbst „eine Vielheit, welche sich eine Einheit eingebildet hat“ (N 1881, 12[35], 9, S. 582), wofür er sich vor allen Dingen immer wieder auf den Leib als „Kronzeugen“ beruft. Der Mensch ist nach dieser Lesart eine zur Einheit organisierte Vielheit von Kräften, die eine relative Eigenständigkeit erlangt hat (vgl. auch Müller-Lauter (1999), S. 42, Anm. 45) – und somit eine Machtorganisation, die eins bedeutet, ohne eins zu sein. Angemerkt sei, dass sich – auch vor dem Hintergrund dieser Selbstdeutung – über die enge Verbindung von Macht und Sinn für den Menschen die Möglichkeit eröffnet, der „Gefahr der Gefahren“ (N 1885/86, 2[100], 12, S. 110), nämlich der drohenden Bedeutungs- und Sinnlosigkeit, zu entgehen. Sinn muss nicht Täuschung sein, sondern andersherum kann Täuschung, in der hier umkreisten Bedeutung als lebensnotwendige Fiktion, Sinn sein. Das ist auch nach Ortmanns Auffassung das, „was Nietzsche, genau besehen, sagt.“ (Ortmann (2004), S. 54) Sinn, verstanden als im weitesten Sinne einheitliche Ausrichtung auf ein Ziel oder Zweck, ist für Nietzsche nicht an sich oder in den Dingen gegeben, sondern muss aktiv geschaffen, gestiftet und ins Dasein „hineingelegt“ werden (N 1887, 12, 9[48], S. 359). Dabei bezeichnet er es als „Gradmesser von W i l l e n s k r a f t “, wie weit man den Sinn in der ersteren Variante – als gegebenen, in den Dingen liegenden – entbehren kann, wie weit man es aushält, in einer an sich sinnlosen Welt zu leben: „ w e i l m a n e i n k l e i n e s S t ü c k v o n i h r s e l b s t o r g a n i s i r t . “ (N 1887, 9[60], 12, S. 366) Dazu ist unweigerlich ein Wille zur Macht nötig – gleichsam als „produktive Möglichkeit der Wiederherstellung dessen, was nie bestanden hat“, wie man mit Plessner (2003, S. 199) sagen könnte. Da der Wille zu Macht Einheit nicht nur herstellt, sondern gleichermaßen ist, kann Nietzsche an anderer Stelle sogar soweit gehen, allen Sinn als Wille zur Macht zu bezeichnen.404
403 So auch Gerhardt (2006), S. 188. Ausführlich dazu Körnig (1999). Weitere Metaphern für diese grundsätzlichen zirkulären Prozesse der Selbstorganisation, die aus sich selbst heraus immer neue Gebilde hervorzubringen vermögen, ohne sich zu erschöpfen, liefern Ortmann (2003) in Form von Dünenlandschaften, die durch dynamische „WindSand-Systeme“ entstehen (S. 282) sowie Kaulbach (1979) mit dem Bild eines „römischen Brunnens“ (S. 155). 404 Vgl. N 1885/86, 2[77], 12, S. 97 sowie N 1887/88, 11[96], 13, S. 44.
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
„Durch den ,Willen zur Macht‘ wird in jede Kraft ein Sinn hineingelegt. Deshalb gilt für den Menschen, genauer: für das Individuum, daß es seinen Sinn nur findet, wenn es sich im Sinne der Willen zur Macht zu bewegen und auszulegen versteht. Es ist daher eine bis heute noch nicht wirklich verstandene metaphysische Konsequenz Nietzsches, wenn er den Sinn eines Individuums genau darin sieht, daß es sich selbst als Wille zur Macht begreift.“ (Gerhardt (2006), S. 193)
Als Zwischenresümee lässt sich festhalten: Für jede Einheitsbildung (sowie für deren Erkenntnis, die wiederum mit mehr oder weniger sinnvollen Einheiten operieren muss) ist Wille zur Macht als gestaltende, organisierende und fest-stellende Kraft bzw. als „inhärentes Organisationsprinzip“ nötig (Körnig (1999), S. 181). Sobald die Bindekraft nicht mehr ausreicht oder anders gesagt: Wenn sich die permanent verschiebenden Machtkonstellationen innerhalb dieses Geflechts über einen gewissen Grad hinaus ändern, kann die jeweilige vielheitliche Einheit zu Vielheit zerfallen, wie im Verlauf dieser Arbeit anhand einer Reihe von Beispielen aus diversen Kontexten, u. a. biologischer, psychologischer, ästhetischer, kultureller und sozialer Art, verdeutlicht worden ist. Am Beispiel von Zellgebilden konstatiert Nietzsche etwa: „Die Zeugung, der Zerfall eintretend bei Ohnmacht der herrschenden Zellen das Angeeignete zu organisiren“ (N 1885/86, 2[76], 12, S. 96; H.v. m.). „Zweiheit“ wird demnach „als Folge einer zu schwachen Einheit“ interpretiert (N 1888, 14[174], 13, S. 360).405 Gleiches lässt sich für das Subjekt konstatieren, das, gleich der Seele, als interne „Subjekts-Vielheit“ (JGB 12, 5, S. 27), als „Vielheit von Subjekten“ aufgefasst wird, deren „Zusammenspiel und Kampf“ (N 1885, 40[42], 11, S. 650) es als Quasi-Einheit und Macht-Komplex ohne festen „Mittelpunkt“ erhält: „(I)m Falle es die angeeignete Masse nicht organisiren kann, zerfällt es in 2. Andererseits kann es sich ein schwächeres Subjekt, ohne es zu vernichten, zu seinem Funktionär umbilden und bis zu einem gewissen Grad mit ihm zusammen eine neue Einheit bilden.“ (N 1887, 9[98], 12, S. 392; H.v. m.)406 405 Vgl. auch die folgende, bereits in Teil 2 A. II. 8. angeführte, Stelle: „(W)o Ein Wille nicht ausreicht, das gesamte Angeeignete zu organisiren, tritt ein G e g e n w i l l e in Kraft, der die Loslösung vornimmt, ein neues Organisationscentrum, nach einem Kampfe mit dem ursprünglichen Willen“ (N 1886/87, 5[64], 12, S. 209; dazu ausführlicher Müller-Lauter (1999, S. 134 f.), der darüber hinaus den Bezug zu Rolphs herstellt). Die Verteilung von gleich großen Machtgewichten auf zwei verschiedene Stellen innerhalb der Einheit kann hier der Grund für eine Trennung sein, die dennoch indirekter Ausdruck und Folge eines Willens zur Macht ist: „um nicht fahren zu lassen, was erobert ist, tritt der Wille zur Macht in zwei Willen auseinander (unter Umständen ohne seine Verbindung unter einander völlig aufzugeben)“ (N 1887, 9[151], 12, S. 424; teilweise exzerpiert aus Herrmann (1887); dazu Müller-Lauter (1999b) sowie Günzel (2004), S. 194). An anderer Stelle zieht Nietzsche es darüber hinaus in Erwägung, dass im Falle von Zeugungsprozessen derartige „Macht-Äquivalenzen“ Voraussetzungen für die „Fortentwicklung“ sein könnten (N 1884, 26[274], 11, S. 221 f.). 406 Wobei auch diese Macht-Einheit ausdrücklich nicht als „,Substanz‘“ zu verstehen ist, „vielmehr als Etwas, das an sich nach Verstärkung strebt; und das sich nur indirekt ,erhalten‘ will (es will sich ü b e r b i e t e n –)“ (N 1887, 9[98], 12, S. 392). Dies
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Oder auch für „ein menschliches Gemeinwesen“, das „eine Einheit ist“ und somit – wie jede Einheit – „ein H e r r s c h a f t s - G e b i l d e , das Eins b e d e u t e t , aber nicht eins i s t . “ (N 1885/86, 2[87], 12, S. 104) Werden die Fliehkräfte nicht durch eine größere Macht gebunden, drohen auch hier der Zerfall und die Zersplitterung in partikulare Untereinheiten. Organisation benötigt also Wille zur Macht, als von innen heraus wirkende Kraft, durch die „Teile“ – letztlich selbst in sich unablässig wandelnde Konstellationen von instabilen, wachsenden und abnehmenden Machtquanten – in die Lage versetzt werden, sich zu einem organischen Ganzen zu verbinden, das uns als eine Einheit gegenübertritt, die mit rein mechanistischen Vorstellungen nicht adäquat zu erfassen ist.407 Vielmehr kommt es zu einer dynamischen und „einigend-herstellenden Einheit“ aus sich selbst heraus, wie oben mit Kaulbach (1979, S. 130) formuliert worden ist. Der Wille zur Macht ist dabei jeder einzelnen Kraft eigentümlich und als „Wille zur Herstellung der Einheit über der Vielheit zu interpretieren“ (ebd., S. 145; H.v. m.). Durch die der Macht eigenen Agonalität, in deren Zuge Antagonismen und Krieg ausdrücklich als „Daseins- und Steigerungsbedingungen“ nicht nur vom Menschen, sondern von allen „festen und dauerhaften Complexen“ bestehen bleiben (N 1887, 10[194], 12, S. 573; H.v. m.; vgl. Teil 2 A. II. 3.), sowie durch die damit zusammenhängende starke Bedeutung von Widerstand und „Eigenmacht“, ist hierbei gleichzeitig einer einseitig harmonisierenden Lesart dieser Prozesse vorgebeugt: Es geht nicht um „eine harmonische Integration und Reintegration der Teile zur Mitte des Ganzen“, und es handelt sich auch „nicht um ein kampfloses, harmonisch-befriedetes Stabilitätsgebilde.“ (Abel (1984), S. 114) Vielmehr ist die Integration und Reintegration als immer wieder neu zu leistende Aufgabe und, mit Neuberger gesprochen, als „Herausforderung“ anzusehen. Macht ist hier ebenfalls nötig, um die unumgänglichen Gegensätzlichkeiten überhaupt miteinander in Verbindung bringen sowie die daraus resultierenden Spannungen aushalten und produktiv machen zu können. Nietzsche bezeichnet es ausdrücklich als „Ziel“, „die höchste Spannung der Vielheit von Gegensätzen zur Einheit zu bringen“ (N 1883, 17[27], 10, S. 547).408 macht es nach Nietzsches eigenem Dafürhalten „ganz und gar nicht nöthig, ,die Seele‘ selbst dabei los zu werden und auf eine der ältesten und ehrwürdigsten Hypothesen Verzicht zu leisten“ (JGB 12, 5, S. 27), wie bereits in Teil 2 A. II. 3. erwähnt. 407 Dies ist im Übrigen auch der Punkt, den Nietzsche an der Vorstellung eines, in seinen Augen viel zu mechanistischen, Gesellschaftsvertrages kritisiert (vgl. Kaulbach (1979), S. 130). Auch das Christentum wird von ihm als „ A g g r e g a t - B i l d u n g “ mit dekadenten Zügen diffamiert (AC 51, 6, S. 231). 408 Die Bedeutung von Gegensätzen hat insbesondere auch Müller-Lauter exponiert: „Auf die Frage aber, was denn die unablässig sich wandelnden Organisationen von Willen zur Macht sowohl zusammenbringe und in sich zusammenhalte wie auch zerfließen lasse, ist die letzte Antwort: es sind Gegensätze, die alle Aggregation wie auch alle Disgregation ermöglichen, und zwar sowohl die Gegensätze, die einer Organisation je
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In besonders gelungenen Fällen kann es m. E. jedoch durchaus zu einer gewissen Harmonie kommen, als eine Art „Schwebezustand“ in der permanenten Bewegung, als ein spannungsfreier Moment vor dem Hintergrund andauernder Agonalität und latenter Spannung, in dem Gegensätze gleichsam zwanglos gebändigt scheinen, ohne in Erschlaffung zu münden, Entgegengesetztes in eine nahezu perfekt funktionierende Verbindung, einen „Flow“, eintritt und unterschiedliche Teile zu einem organischen Ganzen zusammenfinden, das wir unwillkürlich als „ästhetisch“ bzw. „schön“ empfinden. Eine derartig organisierte Einheit in der Vielheit, die gewissermaßen eine gelungene Verbindung zwischen apollinischer Formgebung und dionysischer „Weite des Horizonts“ (Kaulbach (1979), S. 135) darstellt, ist Ausdruck und Zeichen höchster Macht, wie vor allem im Kapitel über Macht und Ästhetik gezeigt worden ist.409 Bedeutsam für unseren Kontext von Macht und Organisation ist darüber hinaus, dass nicht nur Macht für Organisation notwendig ist, und sich größere Macht häufig in einem höheren Grad an Organisiertheit niederschlägt, sondern dass aus Organisation andersherum auch in mehrerlei Hinsicht Macht gewonnen werden kann. So spricht Nietzsche z. B. im oben bereits herangezogenen Aphorismus ausdrücklich davon, dass „Schwache“ Macht im Kampf gegen „Stärkere“ generieren können, indem sie sich zu einer gleich- oder sogar überwiegenden Macht organisieren (MA II 2., 22, 2, S. 555). An anderer Stelle führt er die Brahmanen an, die sich „mit Hülfe einer religiösen Organisation (. . .) die Macht“ (JGB 61, 5, S. 80; H.v. m.) gaben, nimmt die Dauer und Komplexität von „Organisation“ – an dieser Stelle: der jüdischen „Rasse“ – „beinahe als Formel für Überlegenheit“ (N 1888, 18[3], 13, S. 532; H.v. m.) oder thematisiert konkret die „Schutzwehr einer festen Organisation“, wie der Institution einer Bildungsanstalt (ZB, 1, S. 729 bzw. UB III, 6, 1, S. 402; H.v. m.). Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass Nietzsche keinesfalls alle dieser Organisationsformen gleichermaßen gutheißt: An unzähligen Stellen, vor allem im Zusammenhang der Genealogie der Moral, setzt er sich kritisch mit dem paradoxen Phänomen auseinander, dass faktisch häufig gerade die Schwachen die Herrschenden sind und den „eigentlich“ Starken ihre Werte aufzwingen.410 Er konstaimmanent sind, als auch diejenigen, die ihr ,von außen‘, von einer anderen Organisation her, entgegentreten.“ (Müller-Lauter (1999, S. 24; S. 9 ff.; ausführlich dazu auch Müller-Lauter (1971)) Dass es zu einer derartigen „mächtigen Spannung“ auch durch die Verbindung des Apollinischen mit dem Dionysischen kommt, zeigt Kaulbach (1979), S. 135. 409 Einen interessanten Hinweis auf die Möglichkeit einer „authentischen, integrierenden und friedvollen Kooperation“ bei Nietzsche im Hinblick auf einen Begriff von Liebe, „die Gegensätze durch Freude überbrücke“ (MA II, 75, 2, S. 408), ohne sie zu leugnen oder aufzuheben, gibt Hogh (2000), S. 194 f. 410 Vgl. z. B. bereits UB I, 2, 1, S. 173; auch N 1888, 13[138], 13, S. 322 f. Wobei sich natürlich die Frage stellt, wer denn letztlich in welcher Hinsicht der „eigentlich Stärkere“ ist, und was damit bezeichnet werden soll, worin also die „Eigentlichkeit“ der
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tiert, gegen Darwin gerichtet, sogar ein „unvermeidliches Herr-werden der mittleren, selbst der u n t e r m i t t l e r e n Typen.“ (N 1888, 14[123], 13, S. 303) Der Dauerhafteste, Robusteste und am besten Angepasste ist in Nietzsches Augen also keineswegs immer der Höhere (vgl. auch Abel (1984), S. 40 f.). „Jener Wille zur Macht, in dem ich den letzten Grund und Charakter aller Veränderung wieder erkenne, giebt uns das Mittel in die Hand, warum gerade die Selektion zu Gunsten der Ausnahmen und Glücksfälle nicht statt hat: die Stärksten und Glücklichsten sind schwach, wenn sie organisierte Heerdeninstinkte, wenn sie die Furchtsamkeit der Schwachen, der Überzahl gegen sich haben.“ (N 1888, 14[123], 13, S. 303; H.v. m.)411
Auch das scheinbare „Paradox (. . .), dass die gebündelte Ohnmacht zu einer veritablen und schließlich alles andere in den Schatten stellenden Macht auf Erden avanciert“ (Himmelmann (2006), S. 71), lässt sich demnach auf Organisationsformen von Willen zur Macht zurückführen. Schwache nutzen gezielt Organisation, auch im institutionalen Sinn, um ihre Macht zu steigern und „sich oben zu halten“ (N 1888, 14[137], 13, S. 322). Wie man sieht, geht es dabei um mehr als um die „grosse Zahl“, um die bloße Quantität der Kräfte: auch eine gewisse Klugheit, Findigkeit und List, die durch Schwäche nach Nietzsche im Übrigen gefördert werden412, gehören dazu – und vor allem: die richtige „Bündelung“ der Kräfte, sprich: Organisation. Dies ist relevant für unseren Gedankengang, auch wenn das, was sich hier organisiert und durchsetzt, wie gesagt, nicht immer Nietzsches Vorstellung eines „höheren Typus“ entspricht. Und selbst dieser kommt nicht etwa ohne Organisation aus, sondern ist gerade durch die „größere Summe coordinirter Elemente“, also durch die „unvergleichlich größere Complexität“ seiner Organisation ausgezeichnet, die ihm Macht in Form von Schönheit, Genie, Schaffenskraft und Produktivität bescheren kann – die mitunter aber auch
Stärke genau besteht. Indizien für wirklich Starke im Sinne Nietzsches sind aus meiner Sicht, dass sie erstens als Einzelexemplare stark sind, also Organisationsformen jenseits ihrer eigenen Organisation (wie die Herde, den Staat usw.) nicht unbedingt benötigen. Zweitens, dass sie es schaffen, bei gleichzeitigem Zulassen eines hohen Maßes an Vielfalt und Werden, relativ zwanglos Gegensätzliches zu vereinen und somit sinnvolle und auch ästhetische Einheit und Organisation herzustellen, sei es im Hinblick auf sich selbst oder andere. Starke sind, drittens, folglich durch eine hohe Produktivität und Schaffenskraft sowie durch lebensbejahende „Aufgangs-Instinkte“ gekennzeichnet (N 1888, 13[138], 13, S. 322 f.). 411 Insofern ist auch die Ausrichtung auf „äußerste(n) Erfolg“ sowie der Anspruch „die Erde“ zu besitzen, die Russell (2009) beim Christentum ausmacht (vgl. S. 15), aus meiner Sicht allein kein hinreichendes Gegenargument gegen Nietzsches Kritik am Christentum, eine Sklavenmoral zu propagieren. 412 „(D)ie Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr, – das macht, sie sind die grosse Zahl, sie sind auch k l ü g e r “, denn sie haben letzlich mehr Geist, weil sie mehr Geist benötigen (GD, 6, S. 120 f.). Dies ist eine nicht zu unterschätzende Macht: Auch der im Vergleich zu anderen Tieren eigentlich schwache Mensch „gilt uns als das stärkste Thier, weil er das listigste ist: eine Folge davon ist seine Geistigkeit.“ (AC 14, 6, S. 180)
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bedingt, dass er anfälliger ist und im darwinistischen Überlebenskampf gegenüber „mittleren“ und „untermittleren“ Typen häufig unterliegt (N 1888, 14[133], 13, S. 317). Daraus lässt sich ersehen: Aus Organisation kann offensichtlich in verschiedenerlei Hinsicht Macht abgeleitet werden. Grundsätzlich scheint Nietzsche „ g e s t e i g e r t e ( . ) “ und „ o r g a n i s i r t e ( . ) M a c h t “ zusammen zu denken (N 1887/88, 11[83], 13, S. 40), mehr noch: ein gewisses Maß an Organisation muss für jede Macht augenscheinlich immer bereits vorausgesetzt werden. Dies wird auch gestützt durch für die grundlegenden Ausführungen Müller-Lauters (1999), in denen „der“ Wille zur Macht analysiert wird als „fortlaufende und wandelnde Organisation von Machtwillen, die in sich selbst organisierte Machtwillen sind“ (S. 87; H.v. m.). Die oben für alles Sein beschriebene Denkbewegung „von einem auf die Vielen, die in sich selber je organisierte und instabile Einheiten, ohne einen beständigen Seinskern“ sind, lässt sich, über die Gleichung von Welt und Wille zur Macht, demnach auch auf letzteren übertragen: „Ein Wille zur Macht (. . .) ist eine sich gegenüber anderen Machtwillen besondernde Organisation von Machtquanten. (. . .) Was Nietzsche jeweils einen Willen zur Macht nennt, ist faktisch Gegenspiel und Zusammenspiel von vielen sich ebenfalls zu Einheiten organisierten Willen zur Macht. Und jeder Wille ist seinerseits in das Gegenund Miteinander eines umfassenderen Machtwillens eingefügt“ (ebd., S. 51 f.; letzte H.v. m.).
„Die“ Willen zur Macht organisieren also nicht bloß, sondern „sind“ ihrerseits nur als Organisation, im Sinne der dargelegten Macht- bzw. Herrschaftsorganisation (vgl. auch Abel (1982), S. 373). Der Wille zur Macht ist somit gleichermaßen organisiert wie organisierend. Macht und Organisation sind demnach wechselseitig und unlösbar miteinander verwoben. Jede Organisation ist nach Nietzsche auf Macht angewiesen, so wie Macht ihrerseits ein Mindestmaß an Organisation voraussetzt und sich selbst wiederum in der Gestaltung, Anordnung und Formgebung, kurz: in der Organisation einer fortwährend im Fluss befindlichen Vielheit ausprägt. Da auf Grund von dessen Universalität letztlich alles Wille zur Macht ist, können diese Macht/Organisations-Prozesse, wie in diesem Kapitel an verschiedenen Beispielen beleuchtet, auch als Selbstorganisation des Willens zur Macht gedeutet werden. Auch für die strategisch-mikropolitische Theorie ist in einem ersten Schritt Einheit als Organisation von Vielheit charakterisiert worden, die – so die These – in ihrer Möglichkeit und spezifischen Ausgestaltung von Macht abhängt. Diese von Nietzsche her bekannte grundsätzliche Denkbewegung des Auflösens von Einheit in eine „Vielheit relationaler Beziehungsgeflechte“ (Abel (1984), S. 65), aus denen sich wiederum Einheiten i. S. relativ dauerhafter und stabiler Gebilde durch Macht/Organisations-Prozesse bilden, findet sich auch in einer Reihe von thematisch angrenzenden Arbeiten wieder: Zu erinnern wäre hier z. B. an Foucault (1999), der sich Macht als eine „Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen“
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(S. 113), als Raum von Kräfterelationen und eine Art Beziehungsnetz ohne festen Mittelpunkt vorstellt, für das sich allerdings gewisse Knotenpunkte und „Maschen der Macht“ lokalisieren lassen (Foucault (2005), S. 239). Des Weiteren zu nennen wären Elias (1996), der von „Figurationen“ spricht, in denen Machthaber und Machtunterworfene lediglich zwei Positionen in einem komplexen Netz von Relationen ausmachen413, Arendt (2002), die eine relationale Pluralität als „Grundvoraussetzung“ der Macht herausstellt (S. 254), sowie Mann (1990), für den Gesellschaften „aus vielfältigen, sich überlagernden und überschneidenden sozialräumlichen Machtgeflechten“ bestehen (S. 14). Wichtiger für unseren Kontext ist, dass Einheit auch innerhalb der Mikropolitiktheorie als Organisation und Zusammenspiel derartiger „dynamischer Geflechte“ von Machtrelationen zu verstehen ist (Brüggemeier (1996), S. 8). Konkrete soziale Organisationen werden, wie gesehen, als Konglomerat aneinandergereihter Spiele betrachtet. Diese Spiele sind nun ausdrücklich als Machtspiele konzipiert, die sich aus einer Vielzahl von Machtstrategien der Akteure zusammensetzen, die strategisch Bezug auf die ihnen jeweils zur Verfügung stehenden Machtquellen nehmen und die mit den anderen Akteuren durch ein dynamisches Geflecht aus Machtbeziehungen verbunden sind. Die Regeln dieser Machtspiele werden in der mikropolitischen Theorie in Übereinstimmung mit Crozier/Friedberg explizit als „Ausdruck der inneren Machtverhältnisse einer Organisation“ (Küpper/Felsch (2000), S. 151) interpretiert, wie im ersten Teil ausführlich dargelegt worden ist [vgl. Teil 1 B. I. 2. d); II. 2.]. Die Spielstruktur wird somit auf eine innere Machtstruktur (Machtstruktur i. e. S.) zurückgeführt: „Unter einer Spielstruktur verstehen wir diejenigen operativen Regeln der Verhaltensstruktur eines Handlungssystems, die sich in den Machtbeziehungen der Akteure (als u. U. vielfach verwobenes Geflecht von Kooperations- und Konkurrenzbeziehungen) herausgebildet haben und von den beteiligten Akteuren als gemeinsame Grundlage ihres je unterschiedlichen strategischen Verhaltens akzeptiert werden, über die also Konsens besteht.“ (Küpper/Felsch (2000), S. 49; H.v. m.)
Anders gesagt: Organisation und Zusammenspiel, die soziale Einheitsbildung überhaupt erst ermöglichen, sind geprägt von Macht, besser noch: sie sind als unmittelbarer Ausdruck von Macht zu verstehen. Das, was dort organisiert wird bzw. was sich dort in diesem komplexen Zusammenspiel selbst organisiert, sind Machtbeziehungen. Das wird immer wieder deutlich, z. B. in der Thematisierung von Organisationen als so genannte Machtkonfigurationen durch Küpper/Felsch (2000, S. 131 ff.) 413 Insofern muss ich an dieser Stelle den ansonsten aufschlussreichen Ausführungen Häußlings (2000) ausdrücklich widersprechen, wenn er aus dem „relationalen Charakter“ der Macht bei Elias einen Gegensatz zu Nietzsche konstruiert: „Elias’ Machtkonzept hat mit demjenigen Nietzsches wenig gemein. Bei Elias tritt der relationale Charakter von Macht zentral in den Vordergrund.“ (S. 243) Dasselbe gilt, wie gesehen, für Nietzsche.
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in Anlehnung an Mintzberg, in der Beschreibung von Macht als „soziale[m] Geflecht“ (Ortmann (1984), S. 118) oder in der Bezugnahme Ortmanns auf das Konzept der Machtfiguration: Dieser Begriff steht ebenfalls für ein „komplexes Geflecht reziproker Machtbeziehungen, ein Netzwerk von Machtverteilungen, in dem die Veränderung einer Relation sogleich Folgen für das Gesamtgefüge hat“ (Girschner/Sofsky/Paris (1985), S. 4; zit. nach Ortmann et al. (1990), S. 22, Anm. 10).
Das erinnert darüber hinaus stark an das oben bereits angesprochene Moment der Gleichzeitigkeit des Willens zur Macht (vgl. Gerhardt (1996), S. 324). Auch das Geflecht aus Willen zur Macht muss sich, da nach Nietzsche die Kraft in der Summe „unveränderlich groß“ bleibt und sich „nicht verbraucht, sondern nur verwandelt“, gleichzeitig an einer Stelle „mindern“, wenn es sich an anderer „häuft“ (N 1885, 38[12], 11, S. 610), so dass „jede Macht-Verschiebung an irgendeiner Stelle das ganze System bedingt“ (N 1885/86, 2[143], S. 137). Derartige „Häufungen“ können auch aus organisationstheoretischer Perspektive als „Ballungszentren“ oder „Knotenpunkte“ im Netz von Macht und Organisation interpretiert werden: Machtbeziehungen verdichten und intensivieren sich an diesen Stellen und können sich u. U. verstetigen und zu Machtorganisationen von relativer Dauer und Einheitlichkeit etablieren.414 Allerdings darf man sich weder die Verschiebungen noch die dabei entstehenden und vergehenden Einheiten hierbei als mechanischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen vorstellen. Ebenso wie Nietzsche, betonen auch die hier rezipierten Organisationstheoretiker immer wieder die Nicht-Determiniertheit der Prozesse, die Kontingenz der Ereignisse sowie die (Handlungs-)Spielräume, die sich innerhalb der Abläufe aus machttheoretischer Perspektive ergeben und auch ergeben müssen. Man kann es laut Crozier/Friedberg, wie oben bereits zitiert (vgl. Teil 2 A. II. 8.), „nicht genug wiederholen, daß in einem theoretischen Rahmen, der die genaue Determinierung aller Elemente eines Gebildes durch die Struktur dieses Gebildes behauptet, es keinen Platz für das Konzept der Macht gibt.“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 310, Anm. 19)
Auch für Küpper/Felsch (2000) scheidet daher „jedwede Form eines kausalen Determinismus organisationalen Handelns aus unserer machttheoretisch begründeten Handlungstheorie von vornherein aus.“ (S. 151) Gleiches nehmen auch Ortmann et al. (1990) für sich in Anspruch (vgl. S. 3, S. 38 ff.). Damit einher geht ein dynamischeres Verständnis von Organisationen, deren Funktionsweise nicht 414 Zu machtgeprägten Institutionalisierungen als Lösungen, die relativ freie Akteure mit ihren jeweiligen Zwängen und Ressourcen für das Problem der Kooperation gefunden haben, vgl. Crozier/Friedberg (1993), S. 65 ff. Detailliert setzen sich mit den verschiedenen Formen der Machtinstitutionalisierung vor allem auch Küpper/Felsch (2000) auseinander, wie im ersten Teil dieser Arbeit dargelegt worden ist [vgl. B. II. 2.; B. I. 2. d)].
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mehr dem tayloristischen „Modell einer Maschine“ entspricht: Man kommt zu einem Bild, das „viel komplexer, viel ,verworrener‘ und auch konfliktgeladener“ ist (Crozier/Friedberg (1993), S. 56; H.v. m.), so wie wir uns bei Nietzsche das „Geflecht“ der Willen zur Macht mit seinen mannigfaltigen Ein- und Rückwirkungen „gar nicht kompliziert genug denken können.“ (Gerhardt (1996), S. 325)415 Auch die Definition dessen, was zur Organisation jeweils dazugehört und was nicht, ist dabei keineswegs immer klar. Grenzen „verflüssigen“ sich gewissermaßen und werden durch komplexe Austauschprozesse über die immer wieder thematisierten Relais an den Rändern der Organisation, sowie nicht zuletzt durch neue Organisationsformen, wie z. B. den strategischen Netzwerkunternehmen, zunehmend unschärfer (vgl. Sydow (1992a,b); Ortmann/Sydow (1999)). Neben dieser Erosion der Ränder ist – analog zu Nietzsche – auch kein eindeutiger Mittelpunkt der Machtgebilde mehr auszumachen. Vielmehr ist von verschiedenen lokalen und instabilen Zentren auszugehen, die sich fortwährend verschieben, die wachsen und abnehmen können und die in allem agonal aufeinander bezogen bleiben. Ortmann (2003b) geht z. B. in den komplexitätstheoretischen Erweiterungen des ursprünglichen Modells von einem Konzept „einer sich b e s t ä n d i g v e r ä n d e r n d e n u n d v e r s c h i e b e n d e n und gleichwohl und eben dadurch eine g e w i s s e , a l l e r d i n g s p r e k ä r e S t a b i l i t ä t wahrenden Trajektorie“ aus, also von einer Ordnung auf Basis von instabilen (pfadabhängigen) Verläufen (S. 197; gesperrt v. m.; vgl. auch Ortmann (2003), S. 274). Dies entspricht somit en gros der Charakterisierung der Prozesse anhand von Abläufen im Organismus, wie sie oben für Nietzsche rekonstruiert worden sind. Dass gerade Crozier/Friedberg sich jedoch nicht nur von maschinenhaften Modellen, sondern auch von einer Sichtweise auf Organisationen nach Maßgabe von Organismen distanzieren, ist m. E. schlüssig nur damit zu erklären, dass sie diesen eine harmonisierende Tendenz zu unterstellen scheinen, in denen der Konflikt und die allgegenwärtige Bedrohung der Einheit nicht mehr die ihnen gebührende Rolle spielten. „Denn im Gegensatz zu den Annahmen bestimmter Verfechter der ,systemischen‘ Analyse, die Organisationen ungerechtfertigterweise ,organischen‘ oder ,kybernetischen‘ selbstregulativen Systemen angleichen, sind die Integration oder die Kohäsion einer Organisation, ebensowenig wie ihr Fortbestand natürliche und automatische Gegebenheiten.“ (Crozier/Friedberg (1993), S. 57)416 415 Vgl. zur Deutung der Wille zur Macht-Ordnungen als „Geflecht“ z. B. auch Stegmaier (1994), S. 89. Selbst der Begriff des „Geflechts“ könne dagegen nach Ortmann (1984) vor dem Hintergrund der Komplexität und Unübersichtlichkeit der tatsächlich ablaufenden mikropolitischen Prozesse noch einen zu hohen Grad an Ordnung implizieren. Daher ist er an einigen Stellen eher geneigt, von einem „Gestrüpp“ zu sprechen (S. 118). 416 „Die Organisation als Problem behandeln“ bedeutet aus ihrer Sicht „also den Versuch eine Denkweise auszuarbeiten, die die ,Natur‘ und die Schwierigkeiten kollektiven Handelns zu analysieren und zu verstehen ermöglicht“, wobei sie ausdrücklich nicht
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Dass dies nicht notgedrungen miteinander einhergeht, dass „funktionierendes“ Leben bzw. funktionierendes organisiertes Handeln und Konflikt also keinesfalls als Gegensätze zu gelten haben und somit Organismen durchaus als geeignete Metapher für Organisationen auch im gesellschaftlichen Bereich dienen können, zeigen m. E. sowohl die Ausführungen Nietzsches als auch, zumindest ansatzweise, die der Mikropolitiktheorie. Denn interessanterweise bringt auch die letztere, obwohl bis hierher dezidiert auf den sozialen Gegenstandsbereich dieser Theorie hingewiesen worden ist (vgl. v. a. Teil 2 A. I.), an dieser Stelle eine gewisse Parallelität zwischen organisatorischen und organischen Prozessen und somit einen Bezug von Macht und Organisation zum Leben ins Spiel: So sprechen Küpper/Felsch (2000) davon, dass in mikropolitischer Sichtweise „Organisationen mit ,Leben‘ erfüllt sind“ (S. 153). Auch nach Ortmann „tobt das Leben“ in Organisationen, die folglich keinesfalls als „blutarme Gebilde“ mit einem „dürre[n] Skelett“ aus formal-rationalen Prozeduren Linien, Stäben usw. anzusehen seien (Ortmann et al. 1990, S. 3). Noch deutlicher wird Ortmann (2003) im Zuge seiner Ausführungen zur Selbstorganisation, in der er den „Funktionskreis des Lebens“ (S. 170) mit Vorgängen des Erkennens und Handelns in Verbindung bringt, die für Organisationsabläufe konstitutiv sind: „So ist das Leben, das Sehen, das Kommunizieren, das Handeln – es bewegt sich, wenn es denn gutgeht, in kreativen Zirkeln.“ (S. 186 f.; ausführlicher weiter unten)417 Gleichsam als „kleiner lebendiger Wirbel in einem todten Meere“ (UB II, 1, 1, S. 253), wie man mit Nietzsche anfügen könnte. Dabei gelingt es, den Konflikt nicht auszublenden, sondern mitzudenken. Die Organisationsprozesse und die damit verbundene Einheitsbildung werden gerade nicht einseitig harmonisierend als konflikt- oder spannungsfrei gedeutet. Spannungen, Gegensatz und Konflikt werden vielmehr als Grundbedingungen von Or-
„von der Natur zur Organisation“ vorgehen, sondern andersherum „die Reflexion über die Organisation (als künstlicheres und daher leichter zu analysierendes Phänomen) für das Verständnis der ,Natur‘“ benutzen wollen (Crozier/Friedberg (1993), S. 11; H.v. m.). Hier ist zumindest der Zusammenhang von Organisation und Natur erkennbar. Aufschlussreich, wenn auch nicht unproblematisch, erscheint eine Anmerkung im unmittelbaren Kontext dieser Ausführungen, in der sie unter Verweis auf H. Simon „das Studium der künstlichen Maschine“ als „ein gutes Mittel zum Verständnis des natürlichen, eigentlich zu untersuchenden Organismus“ kollektiven Handelns betrachten. Aufschlussreich insofern, dass als eigentlicher Gegenstand Organisation als Organismus angeführt wird, problematisch insofern, dass sie hier, wenn auch aus heuristischen Gründen, hinter die Ablehnung maschinenhafter Vorstellungen von Organisation zurückfallen. 417 Auch der Bezug zu rekursiven Prozessen, wie sie Giddens beschreibt, sowie die ausdrückliche Offenheit des mikropolitischen Ansatzes für Arbeiten der Systemtheorie, die ihren Ausgang u. a. in Arbeiten bedeutender Biologen wie L. von Bertalanffy, H. Maturana und F. Varela oder H. von Förster genommen hat, könnten als Indizien für die These herangezogen werden. Zu weiteren naturwissenschaftlichen „Vorbildern“, wie z. B. M. Eigen, vgl. Ortmann (2003), S. 275 f.
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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ganisation ausgemacht und ebenso wenig wie bei Crozier/Friedberg als „organisatorische Dysfunktionen“ angesehen (Crozier/Friedberg (1993), S. 57). Allerdings besteht auf der Basis dieser Grundbedingungen durchaus die Möglichkeit einer gewissen Integration, Kohäsion oder, mit Ortmann gesprochen: Konsonanz. Gemäß der strategisch-mikropolitischen Auffassung lassen sich integrative Kräfte im organisatorischen Kontext – wie am „Standardbeispiel“ ausgiebig erläutert [vgl. z. B. Teil 1 B. I. 2. d)] – vor allem insofern ausmachen, als Machtbeziehungen einen wechselseitigen Prozess darstellen, bei dem jeder Akteur wenigstens teilweise auf die Bedürfnisse und Erwartungen der anderen Akteure eingehen und bestimmte formelle sowie informelle Spielregeln befolgen muss, wenn er am Fortbestand der Interaktion interessiert ist. Und dies ist er, sofern er dadurch seinen eigenen Machtbereich erhalten und ausbauen kann. Auch hier ist, ganz ähnlich zu Nietzsche, der Erhalt des Ganzen folglich an das Machtinteresse des Einzelnen gebunden und wird allenfalls indirekt angestrebt: Über das primäre Interesse zur Erhaltung und Steigerung des eigenen Machtbereiches kann ein gewisses „überlappendes“ Interesse am Fortbestand des Spiels bzw. der Organisation als ganzer und damit wiederum die Koordination organisierten Verhaltens und die Eindämmung von zentrifugalen Kräften erklärt werden. Akteure werden sich infolgedessen nicht vollständig beliebig verhalten, wie Ortmann (2003) auch am Beispiel von Regelverletzungen thematisiert: Denn „wenn eine Regel schon nicht ihre Einhaltung evoziert, dann oft genug doch die Not der Legitimation ihrer Verletzung – oder die mimetische Geschicklichkeit, sich in den Grauzonen der Regelabweichung zu bewegen.“ (S. 272)
Dies bewusst oder unbewusst antizipierend „halten die Akteure ihre Abweichung, von sich aus oder als Resultat der Interaktions-,zwänge‘, in Grenzen“ die nicht von vornherein gegeben sind, sondern sich als „emergentes Resultat“ des Verhaltens der Akteure „einspielen“ und „einschleifen“418: „Was als Regelverletzung zählt; was davon stillschweigend toleriert und was dann doch verpönt oder skandalisiert wird; welche Ausmaße es annimmt; ob es im Rah418 Den generellen Prozess des „Einspielens“ von Ordnung zwischen Akteuren, u. a. auf der Basis von Regelabweichungen, die selbst zur Regel werden können, beschreibt literarisch auch Proust: „Wenn ich sage, daß abgesehen von sehr seltenen Ereignissen, wie eben diese Niederkunft, der ,Train-train‘ meiner Tante unveränderlich feststand, so spreche ich nicht von den regelmäßig wiederkehrenden Abweichungen, die innerhalb der bestehenden Einförmigkeit eine zweite Art von Ordnung etablierten. So zum Beispiel fand am Samstag, wenn Françoise nachmittags zum Markt in Roussainville-le-Pin ging, das Mittagessen für alle eine Stunde früher statt. Meine Tante hatte sich so gut diese allwöchentliche Abweichung von der Regel zu eigen gemacht, daß sie nunmehr auf diese Gewohnheit wie auf jede andere hielt. Sie war so gut ,eingefahren‘ damit, wie Françoise es nannte, daß, wenn sie etwa eines Samstags bis zum Mittagessen die sonst gewohnte Stunde hätte abwarten sollen, sie das ebensosehr gestört hätte“ (Proust (1967), S. 148 f.; H.v. m.).
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Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
men bleibt oder überhand nimmt und organisationale oder gesellschaftliche Ordnung gefährdet oder sogar zerstört, das ergibt sich dann als Effekt selbstorganisierter Prozesse, in denen Intentionen, Entwürfe und Steuerungsversuche, etwa als Kontextsteuerungen eine kleinere oder größere, niemals jedoch eine determinierende Rolle spielen können.“ (Ortmann (2003), S. 272)
Hier werden erneut deutlich der nicht-deterministische Zusammenhang der Abläufe insgesamt angesprochen sowie der Gedanke einer Selbstorganisation der Prozesse. Durch diese Selbstorganisation können sich selbst vor dem Hintergrund permanent drohender Regelverstöße, Konflikte, Auseinandersetzungen und einem dauernden Wandel, der „eine schier unwiderstehliche Dynamik“ entfalten kann, nichtsdestotrotz „prekäre, gestundete, oft aber auch recht zählebige Ordnungen einstellen und halten“ (ebd.). Konsens evolviert gewissermaßen aus Konflikt. Fortdauernde Machtspiele können sich zu „konkreten Handlungssystemen“ (Türk (1989), S. 130) vernetzen und dabei relativ stabile und dauerhafte Organisationseinheiten hervorbringen, für die institutionelle Organisationen im Grunde nur ein Beispiel sind (vgl. Ortmann (1992b), S. 218). Die Theorie kann somit Dynamik und Ordnung gleichermaßen erfassen, „indem sie beides auf endogene Kräfte und Mechanismen der Selbstreproduktion oder aber der Selbstverstärkung zurückführt, die in komplexen, dynamischen Systemen am Werk sind.“ (Ortmann (2003), S. 273; H.v. m.)
Dies erinnert deutlich an den Willen zur Macht als endogene, von innen heraus wirkende, gleichermaßen organisierte und organisierende Kraft, der dynamische Macht-Ordnungen gleichsam aus sich selbst heraus hervorbringt. Da, wie gesehen, auch innerhalb der Mikropolitik sämtliche hier beschriebene Prozesse (wenigstens immer auch) als Machtprozesse anzusehen sind, und Macht das Medium und die Grundlage von Organisation(en) ist, kann, ganz ähnlich zu den Ausführungen bei Nietzsche, durchaus von einer Selbstorganisation der Macht gesprochen werden. Im Zusammenhang dieser Selbstorganisationsprozesse geht Ortmann (2003) auf eine Reihe von Einzelheiten ein, die hier ein wenig ausgiebiger, wenn auch bloß ausschnittsweise, wiedergegeben werden sollen, um einen etwas detaillierteren Eindruck vermitteln und dezidiert auf einige Parallelen zu Nietzsche hinweisen zu können. Ausgangspunkt der Überlegungen ist dabei die Möglichkeit der Selbst(re)produktion von Ordnung in Form zirkulärer Prozesse (vgl. S. 273 ff.): „1. Ursprunglose Ursprünge können im Rahmen einer Zirkularität gedacht werden, für die es eine ganze Reihe verschiedener Namen und Denkfiguren gibt: Rückkopplung, Wiedereinspeisung, Rekursivität, Supplementarität, um die wichtigsten zu nennen. Viktor von Weizsäckers Gestaltkreis, Gadamers hermeneutischen Zirkel, Gehlens Handlungskreis, Neissers Wahrnehmungszyklus zähle ich ausdrücklich dazu. (. . .) Wir müssen uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Auch das stellt nicht gleich ein paradoxes Problem, insofern die erforderliche Zirkularität eine rekursive ist. Wir haben es nicht zwangsläufig mit einem circulus vitiosus oder mit Hegels schlechter Unendlichkeit zu tun.
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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2. In diesen Zirkeln, Spiralen oder Wendeln bewirkt das Handeln der Akteure unintendierte Folgen und Ketten von Folgen, wobei immer eine Aktion, Kommunikation, Operation, Transformation die nächste auslöst, mit entweder reproduzierender, stabilisierender Wirkung oder aber mit dem Effekt der Selbstzerstörung: Selbstorganisation im Gegensatz zu Intention und Entwurf und doch nicht ohne intentionales Handeln.“
Dies hat unter Berücksichtigung der nur „graduellen“ nicht „hermetisch autopoietischen“ Geschlossenheit (Punkt 3) sowie des Einflusses von (externem und internem) Zufall eine besonders schwierige Kontrollierbarkeit und Prognostizierbarkeit der Ergebnisse von intentionalen Eingriffen, Steuerungs- und Regulationsversuche zur Folge. So genannte „small events“ können als „Anstöße“ oder „Auslöser“ dienen, auf die immer gemäß der inneren Organisation reagiert wird: „Innen aber oder im Verhältnis zur Umwelt, jedenfalls aber selbsterzeugt innerhalb komplexer Systeme, gibt es chaotische Entwicklungen, antagonistische Reaktionen und selbstorganisierte Kritizität“,
die ebenfalls die Ordnung gefährden können (Punkt 5 u. 6 bei Ortmann (2003), S. 274; H.v. m.). Hier wird m. E. eine große Nähe zu den bei Nietzsche ausführlich thematisierten „Auslösungsprozessen“ deutlich. „Zufälle lösen Prozesse aus“, wie Ortmann explizit bemerkt, „die mit großer Notwendigkeit ihren Verlauf nehmen, und umgekehrt: diese Prozesse erzeugen teils zufällige, chaotische Resultate“ (ebd.). Und auch um die eigentümliche Verbindung von Zufall und Notwendigkeit kreist eine Reihe von Aufzeichnungen Nietzsches. Indes muss in Organisationen immer auch mit der Fiktion einer (intentionalen) Steuerbarkeit der Organisation gearbeitet werden (vgl. Ortmann (2004)). Darüber hinaus wird erneut unterstrichen, dass Ordnung „jederzeit bedroht durch Zufall“ und „immer prekär“ ist: Ordnung ist in diesem Konzept „im Extrem ,order for free‘, spontane Ordnung, die sich einspielt, und sie ist dynamisch, nämlich ,Bewegung in immer gleichen Bahnen‘. Dafür stehen Konzepte wie Eigenwerte, Attraktoren und durchbrochene Gleichgewichte.“ (Ortmann (2003), S. 273, Punkt 4)
Damit wird eine weitere Parallele zu Nietzsche augenscheinlich, dessen Verständnis einer dynamischen Ordnung oben als „relativ gleichförmige, aufeinander abgestimmte und koordinierte bzw. selbst-organisierte und -regulierte Bewegung einer Vielheit“ interpretiert worden ist. Dauerhaftigkeit von (organisationalen) Strukturen als Strukturiertheiten im Sinne Giddens’ muss dabei durch rekursive Schleifen sozialen Handelns erzeugt bzw. permanent reproduziert werden. „Beständigkeit ist insoweit (immer wieder neu hervorzubringendes) Resultat beständig wiederkehrender sozialer Praxis.“ (Ortmann (2003b), S. 200) Wie bereits mehrfach angeklungen, hebt Ortmann (2003, S. 146 ff.) insbesondere die Bedeutung der Mimesis für diesen Kreislauf sowie für dessen ordnungsbildende Stabilität hervor:
384
Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
„Organisation (. . .) ist immer auch die Organisation von Mimesis – die auf Dauer gestellte Restriktion und Ermöglichung mimetischer Orientierung im Handeln. Schüler und Lehrer in der Schule, Soldaten und Offiziere im Militärlager, Musiker und Dirigenten im Orchester, Arbeiter und Vorgesetzte in der Fabrik sind einander nicht einfach gemäß einer Foucaultschen Logik des zwingenden Blicks der Disziplinarmacht räumlich zugeordnet, sondern auch gemäß den raumzeitlichen, visuellen und emotionalen Bedingungen mimetischer Orientierung – am Vorbild des Meisters, am Rhythmus des Nachbarn am Fließband, am Spiel der ersten Geige (und aller anderen Orchestermitglieder), an der Schrift auf der Tafel, am Gleichschritt des Vordermanns.“ (S. 163 f.)
Mimesis erleichtert demnach die rekursive Bezugnahme, „wäre, genaugenommen, die Nachahmung einer begehrten Wiederholung – Sich-Anschmiegen an eine Welt, deren Ordnung wir uns mimetisch erschließen, während und indem wir sie, handelnd, errichten“ (ebd.).
Mimesis bietet somit eine „zwanglose Antwort“ auf die Frage, wie und wieso soziale Einheitsbildung vor dem Hintergrund der Komplexität, Dynamik und Paradoxie der Welt überhaupt funktionieren kann und – bei aller Unwahrscheinlichkeit – auch erstaunlich häufig funktioniert (S. 279). Allerdings kann Mimesis allein das Funktionieren einer Ordnungsbildung organisationaler oder gesellschaftlicher Art nur bedingt plausibilisieren, geschweige denn garantieren. Sie ist vielmehr vor einem weiteren Horizont der Macht zu sehen: Vor dem Hintergrund der Ausführungen zu Macht und Ästhetik, insbesondere zu den habituellen, inkorporierten Aspekten der Macht, lässt sich m. E. Mimesis eindeutig innerhalb einer ästhetischen Dimension der Macht verorten. Sie ist somit unter eine Kraft zu subsumieren, die Ortmann als ganze ausdrücklich als „Korrekturmechanismus“ des immer wieder drohenden Zerfalls einer stets prekären Ordnung anführt (vgl. S. 279 ff.). Alle Dimensionen des interaktiven Handelns stehen aus mikropolitischer Sicht unter der Leitdimension dieser Macht (s. o. Abb. 6). So wird auch noch einmal aus dieser Perspektive deutlich, dass Macht eine gewisse Organisation hervorbringt. Allerdings wird durch die Rekursivität von Struktur und Handlung gleichermaßen klar, dass Organisation ihrerseits das Machthandeln ermöglicht und restringiert, dass also eine gewisse „Organisiertheit (. . .) jedem Tätigsein immer schon vorausgesetzt werden muss“ bzw. Handeln die „Organisation des Organisierten“ ist, wie Abel (1984, S. 9) bzw. Gerhardt (2005) formulieren (S. 300).419 Ebenso wie bei Nietzsche stehen Macht und Organisation auch in mikropolitischer Lesart in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Dieser Zusammenhang gilt nicht nur für Regeln der Sanktionierung, sondern auch für solche der Signifikation, also der Wahrnehmung und Sinn gebenden In419 „Denn um Handeln zu können, brauchen wir den geregelten Zusammenhang äußerer und innerer Ordnung, ja, Handeln ist selbst ein Organisieren des bereits Organisierten“ (Gerhardt (2005), S. 300; H.v. m.).
A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
385
terpretation des (organisationalen) Geschehens.420 Innerhalb dieser rekursiven Prozesse – die als ganze in dem „Funktionskreis des Lebens“ stattfinden und sich zum Teil auch an dessen Widerständigkeit orientieren (müssen) (Ortmann (2003), S. 283 f.) – wird Sinn über die Verinnerlichung und Anwendung von Modalitäten, wie bestimmter organisationaler Deutungsschemata, Mythen, Symbole, Redeweisen, Leitbilder usw. produziert bzw. reproduziert (s. o. Abb. 6 u. 7). Diese Modalitäten setzen sich nicht machtunabhängig durch, sondern basieren auf spezifischen Machtkonstellationen, und ihre machtgestützte Etablierung zeitigt ihrerseits wiederum Machtwirkungen, wie Ortmann et al. (1990) am Beispiel organisationaler Leitbilder aufzeigen (vgl. S. 60 ff.). Organisation ist dabei auch in mikropolitischer Sicht in mehrfacher Hinsicht auf „Fest-Stellungen“ der Macht angewiesen: „Organisation impliziert Feststellung – die Feststellung von Sinn und die Feststellung von Handlungsweisen, Status und Funktionen.“ (Ortmann (2004), S. 200) Allerdings ist, wie dargelegt, auch innerhalb dieser Theorie dieses Feste nicht wirklich als fest anzusehen, sondern vielmehr in sich dynamisch. Insofern muss auch hier und erneut auf eine Fiktionen zurückgegriffen werden: „Es sind Feststellungen, die mit der Fiktion der Feststellbarkeit operieren müssen, um sie zu realisieren, so gut es eben geht, und so lange es gut geht.“ (Ortmann (2004), S. 200; vgl. dazu auch Neuberger (2006), S. 317 f.)
Weitere Anknüpfungspunkte im Zusammenhang mit den Ausführungen Ortmann zur Selbstorganisation, die hier nicht weiter entfaltet werden können, stellen zum einen das Verhältnis zum Gedanken der Evolution dar, bei dem jeweils die Bedeutung des Organisationsinneren gegenüber rein äußerlichen Faktoren hervorgehoben wird: Komplexe dynamische Systeme evolvieren laut Ortmann (2003) „nicht allein durch Auslese, sondern durch ein Wechselspiel von Selektions- und Selbstorganisationskräften“ (Punkt 9, S. 273) – ebenso wie Nietzsche den inneren, selbst organisierten Anteil der „von Innen her formschaffenden Ge420 Inwiefern auch Ressourcen, insbesondere „harte“ allokative Ressourcen, dieser Reproduktion unterliegen, thematisiert Ortmann (2003b, S. 200 ff.). Dabei sei es seiner Auffassung nach einerseits „gar nicht einzusehen, warum den Ressourcen der Status des Sozialen aberkannt werden sollte, wenn sie doch, wie hier, ausdrücklich in ihrer Sinnhaftigkeit und Verwendbarkeit sozialen Zusammenhängen gemeint und definiert sind. Wasser und Sand mögen ja reine Natur sein, erhalten aber neue Eigenschaften, wenn sie in menschliche, soziale, praktische Sinn- und Verwendungszusammenhänge eingerückt werden. Zement ist ohne diesen Sinnzusammenhang nichts als mehr oder minder feste Materie. Als Ressource ist er ein potentielles Mittel, Mauern, Gebäude und Straßen zu bauen“ und somit ein „Moment sozialer Praxis“. Allerdings habe er im Unterschied zu Regeln, die nur im Handeln existieren, eine „vom Handeln abgelöste Existenz als Materie“. Dies gelte sogar für so genannte „immaterielle“ oder „intangible Ressourcen“ wie Wissen und Können. Regeln seien somit allgemein Weisen des Handelns, also des Prozessierens, während Ressourcen Arten von Beständen darstellten: „Ein Fluss – sei es ein buchstäblicher oder ein Wissensfluss – wird zur Ressource nur, weil er als Fluss bestand hat.“ (S. 204)
386
Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
walt, welche die ,äußeren Umstände‘ a u s n ü t z t , a u s b e u t e t “ gegenüber Darwin starkmacht, der seiner Auffassung nach den Einfluss des Äußeren bis „ins Unsinnige ü b e r s c h ä t z t “ (N 1886/87, 7[25], 12, S. 304)421; und zum anderen die Dezentrierung des Subjekts (Punkt 12), für die Ortmann Kronzeugen wie Giddens, Derrida, Kappelhoff und Freud heranzieht, für die aber Nietzsche nach den bisherigen Ausführungen wohl als mindestens ebenso zentral gelten muss. Abschließend ist zu konstatieren, dass die Denkfigur des Auflösens von „monolithischen, homogenen“ Einheiten (vgl. Elsik (1997), S. 11) in organisierte Vielheiten, die sich m. E. eindrucksvoll an Nietzsches Wille zu Macht als Pluralität – gerade auch in Abgrenzung zum schopenhauerschen Willensbegriff – studieren lässt, sich auch in der mikropolitikorientierten Organisationstheorie wiederfindet: Auch hier wird nicht „alles auf einen bewegenden Willen“ (Neuberger (1995), S. 3; H.v. m.) im Sinne eines einheitlich verstandenen Willens zurückgeführt, der womöglich noch einem one best way folgt. Nicht ein „zentraler Wille“ setzt sich durch (ebd., S. 185), sondern es existieren zahlreiche autonome Handlungszentren, wie z. B. im Kapitel über die Intentionalität der Macht ausführlich dargelegt worden ist. Strukturen und Prozesse werden „nicht als einem zentralistischen Willen entspringend“ aufgefasst (Türk (1989), S. 122), sondern das Augenmerk wird auf individuelles bzw. koalitionäres strategisch-taktisches Handeln gelenkt. Einheiten werden als prozessuale Organisation und Zusammenspiel eines dynamischen Geflechts aus multiplen Beziehungen verstanden und daher als Formen von allenfalls relativer Einheitlichkeit und grundsätzlich vorübergehendem Bestand, die sich in rekursiven und (selbst-)organisatorischen Prozessen permanent reproduzieren müssen, um sich zumindest zeitweise zu erhalten. Die spezifischen Relationen innerhalb dieses Geflechts werden von der strategisch-mikropolitischen Theorie, ganz analog zu Nietzsche, als „Kräfteverhältnisse“ angesehen, bei dem eine Seite mehr herausholen kann als die andere, aber nicht alles – und somit als Machtverhältnisse, die durch Agonalität, wechselseitige Instrumentalität und Intentionalität, Asymmetrie, aktiven und passiven Widerstand usw. gekennzeichnet sind. Organisation basiert demnach auf Macht. Andersherum ist Macht essenziell auf Organisation angewiesen. Macht und Organisation verweisen somit wechselseitig aufeinander.422 Es gibt eine „grundlegende 421 Vgl. dazu z. B. auch Müller-Lauter (1999, S. 100 ff.), der darüber hinaus auf die Mehrdimensionalität von Nietzsches Darwin-Kritik hinweist. Zur „grundsätzlichen Priorität des Internen vor dem Externen“ s. auch Abel (1984), S. 42. Als „trotz einiger Einwände entschiedener Darwinist in allen Phasen seines Schaffens“ wird Nietzsche dagegen von Stegmaier (1987) präsentiert (S. 269). 422 Dies ließe sich mit Arendt (2002) auch folgendermaßen fassen: „Was eine Gruppe von Menschen als Gruppe zusammenhält, wenn der immer flüchtige Augenblick des Zusammenhandelns verflogen ist, und was wir heute Organisation nennen, ist Macht, die wiederum ihrerseits dadurch intakt gehalten wird, daß die Gruppe sich nicht zerstreut.“ (S. 254; H.v. m.)
B. Schlussbetrachtung
387
Verbindung von Macht und Organisation“, wie Crozier/Friedberg (1993, S. 324, Anm. 133) ausdrücklich konstatieren. Organisation wird hier von den Autoren in einem weiten Sinn als grundsätzliche Organisiertheit aufgefasst. Organisation in diesem Sinne ermöglicht und prägt die Entwicklung von Machtbeziehungen durch ihre spezifische Struktur, und die Existenz von Machtbeziehungen ihrerseits sind synonym mit der Existenz eines „Minimums an Organisierung“ (ebd., S. 319, Anm. 91): „Macht und Organisation sind unlöslich miteinander verbunden“ (S. 47). Das Gleiche gilt, wie gesehen, für Nietzsche. Daher kann für beide Theorien – und m. E. auch darüber hinaus – mit Blick auf den grundsätzlichen Zusammenhang von Macht und Organisation festgehalten werden: Zu Organisation ist Macht nötig, Macht prägt sich in Organisation aus und Macht bedarf ihrerseits der Organisation – erst recht, um mehr Macht zu generieren.
B. Schlussbetrachtung In den vorangegangenen Ausführungen sind, nach der Deskription in Teil 1, eine Reihe von begrifflichen und inhaltlichen Anknüpfungspunkten zwischen den Machtkonzepten von Nietzsche und der strategisch-mikropolitischen Organisationstheorie ausgemacht und analysiert worden. Trotz des nur eingeschränkt vergleichbaren Ausgangspunktes und der u. a. damit verbundenen unterschiedlichen Terminologie, dem nur partiell deckungsgleichen Analysegegenstand sowie einer nahezu vollständig anderen Theorieerwartung der Machtkonzepte, haben sich hierbei Überschneidungen hinsichtlich verschiedener Merkmale der Machtbegriffe ergeben, die sich in einem tabellarischen Überblick folgendermaßen zusammenfassen lassen (siehe nächste Seite). Diese Merkmale, dies sei angemerkt, erheben ausdrücklich keinen Anspruch auf Vollständigkeit: Im Gegenteil sind an diversen Stellen der Arbeit weitere, zumindest teilweise übereinstimmende Momente angeklungen, denen in dieser Arbeit jedoch nicht ausgiebiger nachgegangen werden konnte. Als besonders vielversprechend für weitergehende Ausarbeitungen und Vergleiche erscheinen z. B. die Dimensionen von Macht und Identität bzw. von Macht und Freiheit, die u. a. im ersten Teil [vgl. B. I. 2. b)] sowie im Kapitel zu Macht und Widerstand bereits eine wichtige Rolle gespielt haben. Ausgangspunkt könnte hier die enge Kopplung von Macht und Identität sein, die innerhalb der Mikropolitiktheorie insbesondere von Felsch (1999) sowie Küpper/Felsch (2000) differenziert ausgearbeitet worden ist. Macht setzt nach mikropolitischer Lesart einen (wenn auch noch so residualen) Bereich der Identität voraus, und der Prozess der Identitätsbildung bzw. -behauptung kann seinerseits adäquat nur als Machtprozess begriffen werden. Vorgänge der Identitätsbildung und Machtausübung können demnach nur analytisch unterschieden werden und stehen in einem untrennbaren wechselseitigen Verhältnis zueinander (vgl. Felsch (1999), S. 164).
388
Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
Merkmale der Macht 1. Universalität Umwertung
Crozier/Friedberg
Küpper/Ortmann
Nietzsche
ja, bezogen auf soziale Welt
ja, bezüglich gesamter werdender Welt
eingeschränkt/Macht ist notwendig
je nach Zeitindex; später nahezu uneingeschränkt
(Macht ist „gut“) Macht als Gegenstand/ Besitz
nein
Macht als Attribut
nein
ja
Wahrnehmungs- und Interpretationsabhängigkeit 3. Agonaler Charakter
Konsens möglich
u. U., bspw. in inkorporierter Form ja
2. Relationalität Macht als Beziehung
ja, aber „strukturell unterfüttert“
ja
ja, allerdings mit Betonung konsensualer Momente
ja
ja, allerdings Konflikt im Vordergrund
ja
ja, temporär, um Macht zu mehren, zu wachsen, zu überwinden, sich zu steigern usf.
ja
5. Intentionalität
ja
7. Asymmetrie
ja
ja
4. Instrumentalität
6. Intransitivität
nein
eingeschränkt möglich (vgl. Ortmann (1992b))
ja
ja, grundsätzlich
8. Widerstand möglich (verdeckt oder offen)
ja, eingeschränkt durch Hierarchie/ Rangordnung
ja, aber eingeschränkt durch Hierarchie/ Rangordnung
Machtbeziehungen in der Regel asymmetrisch, aber auch ungefähr gleich wiegende Mächte möglich ja
Widerstand nötig
ja
nicht unbedingt
ja
aktive Suche nach Widerstand
nein
nein
ja
9. Ästhetische Dimension (Ästhetik der Macht – Macht der Ästhetik)
nein
10. Macht/Organisation als ineinander verschränkter Komplex
ja
ja
Abb. 13: Schematischer Überblick über die Merkmale der Macht (Quelle: Eigenerstellung)
B. Schlussbetrachtung
389
Dies lässt sich nach den vorausgegangenen allgemeinen Ausführungen zur Einheitsbildung als Macht- und Organisationsprozess des Vielen m. E. auch für Nietzsche proklamieren. Die Verknüpfung von Macht und Identität gilt explizit auch für den Bereich der Identität des menschlichen Individuums, das eine individuelle Machteinheit darstellt, aber eben als organisierte Einheit von vielen, auch widerstrebenden Kräften zu verstehen ist und somit auf der Basis einer Selbsterkenntnis als „dividuum“ (MA I, 57, 2, 2, S. 76).423 Identität ist immer erst durch Macht zu leisten und nach Häußling (2000) bei Nietzsche nicht mehr „klassisch“ zu verstehen, sondern als ein „unentwegt Über-sich-hinaus-Schaffen selbst“ (S. 187). Das Selbst entsteht dabei auch für Nietzsche, ähnlich der sozialpsychologischen Vorstellung einer balancierten und balancierenden Identität, im Spannungsfeld mit anderen und resultiert erst aus dem Zusammenleben mit diesen (vgl. Gerhardt (1996), S. 153). Die Spannung innerhalb dieses Feldes ist ernst zu nehmen, wie die Bedeutung des Widerstandes gezeigt hat. Die anderen treten uns als ein derartiger (notwendiger) Widerstand gegenüber und die eigene Fähigkeit, Widerstandspotenziale gegen deren Ansprüche aufzubauen und ein gewisses Maß an Spannung auszuhalten, ist essenziell für die Möglichkeit einer eigenen Identitätsbildung. Somit ließe sich die im Kontext der Mikropolitik mehrfach angesprochene identitätstheoretische Fundierung des Widerstandes, also die notwendige Verteidigung seiner Handlungsspielräume und somit seiner Macht zum Erhalt der eigenen Identität, m. E. auch für Nietzsche ausarbeiten. Identität ist daher nicht zuletzt von Autonomiebereichen abhängig und spielt in den Bereich von Macht und Freiheit hinein. Freiheit ist in beiden Konzepten nicht absolut zu verstehen und gerade für Nietzsches Konzept (v. a. als Willensfreiheit verstanden) keinesfalls unproblematisch. Dennoch ließe sich m. E. zum einen die Möglichkeit negativer Freiheit (i. S. einer Unabhängigkeit von anderen) erörtern. Stichworte bei Nietzsche wären hier z. B. die „grosse Loslösung“ von der „Sittlichkeit der Sitte“ in Menschliches, Allzumenschliches, für die – neben einer oftmals großen Leidensfähigkeit (vgl. M 18, 3, S. 31) – ein gehöriges Widerstandspotenzial nötig ist424; innerhalb der Mikropolitiktheorie ist die Rede von einer defensiven Komponente, die dem Schutz des eigenen Handlungsspielraums dient. In beiden Fällen ist Macht essenziell für die Möglichkeit von Freiheit. Zum anderen spielt ganz augenscheinlich auch positive Freiheit (i. S. einer Selbstbestimmung oder Selbstgesetzgebung) für beide Konzepte eine Rolle, wie der Begriff des Autonomiebereiches bei Crozier/Friedberg ja bereits impliziert. Bei Nietzsche sei hier exemplarisch nur auf die Bedeutung der Formel vom 423 Ausführlicher dazu Gerhardt (1996), S. 323, S. 177 f. sowie Gerhardt (2006), S. 128. 424 Vgl. zur Unabhängigkeit z. B. auch FW 98, 3, S. 452 sowie die Ausführungen in Teil 2 A. II. 1.
390
Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
freien Geist verwiesen, auf die drei Verwandlungen des Geistes und auf die Thematik der Selbstüberwindung im Zarathustra sowie auf das „ s o u v e r a i n e I n d i v i d u u m “ in der Genealogie der Moral.425 Auch und gerade für eine solche Form der Freiheit als Selbstbestimmung ist Macht unumgänglich und ließe sich daher zu Recht als „Selbstmächtigkeit“ oder „Selbstmacht“ (Ottmann (1999), S. 352) fassen.426 Weitere Anknüpfungspunkte würden die Zusammenhänge von Macht und Werten bzw. von Macht und Wissen bieten, die nach der strukturationstheoretisch erweiterten mikropolitischen Theorie auf der normativen bzw. signifikatorischen Ebene anzusiedeln sind (vgl. Abb. 6). Ganz analog zur Argumentation für die ästhetische Dimension der Macht, die ja selbst einen Teil der letzteren Ebene darstellt, ließe sich eine Gemeinsamkeit darin finden und m. E. auch sehr gut belegen, dass in beiden Konzepten Wissen und Werte einerseits als Ausdruck bestehender oder vergangener Machtverhältnisse, andererseits aber auch selbst wiederum als Machtmittel fungieren können. Des Weiteren könnte m. E. die an diversen Stellen eingeflochtene Verbindung von Macht und Konsens noch vertieft und als eine eigenständige Dimension ausgearbeitet werden, gerade auch als Komplementär zu der in dieser Arbeit stark betonten Konflikthaftigkeit und Agonalität von Machtbeziehungen. Hier wäre insbesondere die Bedeutung wechselseitiger Anerkennung und Akzeptanz hervorzuheben, ohne die komplexere Macht- und Herrschaftsformen schlicht nicht möglich wären, was in dieser Arbeit bereits durch die Betonung der Macht und der enormen Widerstandspotenziale Untergebener angeklungen ist.427 Beachtenswert erscheint in diesem Kontext auch der Zusammenhang von Macht und Spiel, der v. a. innerhalb der Kapitel zur Agonalität und Intentionalität der Macht sowie im letzten Kapitel zu Macht und Organisation thematisiert worden ist. Wenn Einheit ein organisiertes Zusammenspiel ist, wie für beide Konzepte hervorgehoben wurde, dann rücken unwillkürlich die jeweils verwendeten Spielkonzepte mit ihrem spezifischen Verhältnis von Konfrontation und Kooperation in den Fokus. Ausgangspunkt für weitere Überlegungen könnte hier m. E. die angerissene Kategorisierung von Spielen als Glücks- und Verwandlungsspielen, ekstatischen Spielen sowie Kampfspielen nach Callois (1960) sein. Nietzsches Ausführungen würde ich primär in die letzte Kategorie (Agon) einordnen, wenn auch eine ganze Reihe anderer Aspekte bei ihm eine Rolle spielen. Mo425
Vgl. u. a. ZA I, 4, S. 29 ff.; S. 74 ff.; II, S. 146 ff.; GM II, 2, S. 293 f. Die „wahre Macht“ ist die „Macht über sich selbst“ (N 1880, 4[257], 9, S. 163), wie in Kap. II. 1. dieses Teils bereits zitiert. Vgl. ausführlich zur Freiheit als Selbstbestimmung bei Nietzsche Himmelmann (1996), (2001), (2002) sowie auch Gerhardt (2006), insbesondere S. 128 ff. und S. 205 ff. 427 Die Möglichkeit konsensualer Momente macht z. B. jüngst auch Ibbeken (2008) vor dem Hintergrund eines grundsätzlichen „Konkurrenzkampfes“ verschiedener Perspektiven aus (vgl. S. 89 ff.). 426
B. Schlussbetrachtung
391
mente des Ekstatischen (Ilinx) findet man beispielsweise im Dionysischen, in der Betonung des Rauschhaften, beim Macht- und Überlegenheitsgefühl, MimicryAspekte sind anzutreffen in seiner Vorliebe für das Spiel mit verschiedenen Masken, Rollen, Identitäten, Perspektiven etc. Dem Motiv des Glücksspiels (Alea) kommt z. B. in der Metaphorik des „Würfelspiels“ im Hinblick auf den Zufall eine gewisse Bedeutung zu. Und auch die Dimension von Macht und Rationalität böte wohl, um nur noch einen letzten Punkt zu nennen, genügend Material für eine tiefer gehende Analyse. Dabei dürfte sich zeigen, dass sich einerseits Anknüpfungspunkte in der Vernunftkritik beider Ansätze finden lassen, und zwar immer dann, wenn Vernunft als machtfreie, „objektive“ und von Interessen unabhängige Größe ausgegeben werden soll. Auf der anderen Seite würde m. E. für Nietzsche deutlich werden, dass er Vernunft nicht generell verneint (hier sei noch einmal an den „Sieg über die Kraft“ aus der Morgenröthe erinnert oder auch an die „grosse Vernunft des Leibes“ aus dem Zarathustra), sondern Vernunft vielmehr als einen speziellen Fall des Willens zur Macht deutet und somit ebenfalls als eine Organisation von Kräften, die Einheiten schafft, also organisierend wirkt. Eine solche enge Verbindung von Macht und Vernunft ließe sich auch innerhalb der mikropolitischen Theorie aufzeigen, die Rationalität gerade in den Kontext von Macht stellt, wie bereits in der Einleitung angedeutet worden ist, und von einer „kommunikativ-mikropolitisch sich herstellende[n] Vernunft“ (Ortmann et al. (1990), S. 54) ausgeht. Ob die in dieser Arbeit bisher ausfindig gemachten und ausgearbeiteten Parallelen nun, um einen Begriff aus einer weiteren Disziplin, der Biologie, zu bemühen, eher nach Art von „Homologien“ (i. S. v. strukturellen Übereinstimmungen auf Grund einer gemeinsamen „evolutionären“ Herkunft) oder als „Analogien“ (i. S. v. funktionalen Übereinstimmungen entwicklungsgeschichtlich verschiedener Ansätze) zu interpretieren sind, ob also, anders formuliert, die Autoren der strategisch-mikropolitischen Organisationstheorie in der Genese ihrer Theorien von Nietzsche (direkt oder indirekt) beeinflusst bzw. durch einen gemeinsamen Einfluss durch „Dritte“ geprägt sind oder einfach in Anbetracht des theoretischen „Problems“ der Macht zu ähnlichen „Lösungen“ kommen, ist hier zweitrangig und wäre Thema einer eigenen Untersuchung. Daher an dieser Stelle nur soviel: Ein gemeinsamer ideengeschichtlicher Bezugspunkt auf Dritte ist z. B. in der Vorstellung der Welt als „flüssiger“ und „fließender“ ausgemacht worden, die bis zu den Vorsokratikern zurückreicht, und für die Heraklit als Ahnherr steht. Gleiches gilt für die enge Verbindung von Macht und Wissen, die von Francis Bacon exponiert worden ist (vgl. Teil 2 A. I.). Auch bei einer These wie der von der Untergebenenmacht könnte man der genealogischen Frage nachgehen, inwiefern beide Theorien von einer gemeinsamen Quelle – z. B. von der Herr-Knecht-Dialektik Hegels – beeinflusst sind. Die
392
Teil 2: Komparative Untersuchung der Machtkonzepte
in der Einleitung bereits erwähnte Anmerkung Ortmanns (2004) weist, zumindest für seine Person, darüber hinaus eindeutig auf eine indirekte Linie der Beeinflussung, von Nietzsche selbst ausgehend, hin: „Bei aller Sorge um Gefahren, die von seinem Denken geradezu gesucht und heraufbeschworen werden: ein Buch über (notwendige) Fiktionen des Organisierens verdankt auch ohne eigene Nietzsche-Rezeption diesem Denker und seinen Folgen mehr, als jedenfalls mein Schubladendenken zunächst einzuräumen geneigt war.“ (S. 53; H.v. m.)428
Darüber hinaus sind mit der bereits in der Einleitung und v. a. im methodologischen Teil angesprochenen Reihe von begrifflichen Anknüpfungspunkten und dem Eingang von kompletten Nietzsche-Zitaten in die mikropolitische Organisationstheorie zumindest Ansätze einer direkten Einflusslinie auszumachen.429 Nichtsdestotrotz können – auch, da allein schon auf Grund der zeitlichen und methodologischen Unterschiede der Konzepte nicht von einer vollständigen Homologie auszugehen ist – die in dieser Arbeit nachgewiesenen Überschneidungen als Indizien dafür gewertet werden, dass den entsprechenden Merkmalen tatsächlich und über einen eventuellen genetischen Zusammenhang hinausgehend eine gewisse funktionale Relevanz für eine adäquate Erklärung des Phänomens der Macht zukommt. Sie sind es daher auch aus diesem Blickwinkel m. E. allemal wert, sowohl von der Organisationstheorie als auch von der Nietzsche-Forschung zumindest registriert zu werden und können in gewissem Maße als Unterstützung und Untermauerung der jeweilig eigenen Ergebnisse interpretiert werden (vgl. dazu auch Teil 2 A. I.). Dies ist ein Nutzenaspekt, der aus einer interdisziplinären Beschäftigung, wie sie in dieser Arbeit unternommen worden ist, resultiert. Ein weiterer Nutzen kann in einer produktiven Irritation gesehen werden, die dazu führt, „organisationale Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen“ (Auer/ Welte (1997), S. 6) bzw. organisationstheoretische. Eine hervorragende Möglichkeit für eine derartige produktive Irritation stellt z. B. die Reflexion über die ästhetische Dimension von Macht dar, die laut Ortmann et al. (1990) bisher „in der sozialwissenschaftlichen, geschweige der organisationstheoretischen oder gar betriebswirtschaftlichen Diskussion, so gut wie keine Rolle spielt“ (S. 29) und zu der sich bei Nietzsche, wie gesehen, nicht nur ein breiter Fundus an Überlegungen und Erkenntnissen finden lässt: Ästhetik wird darüber hinausgehend in einer Weise als zentral angesehen für Machtprozesse, und zwar gleichermaßen als 428 An anderer Stelle, an der es in Anlehnung an Goffman um das „vertrackte Verhältnis von Zynismus und Ernsthaftigkeit und von Schein/Fassade/Maske und wahrem Gesicht“ geht, räumt Ortmann (2004) ein: „Der Geist Nietzsches spukt auch da, wo man ihn nicht vermutet.“ (S. 112) 429 Vgl. als einen Auszug Gellrich/Luig/Pfriem (1997), S. 523; Ortmann (2003), S. 175; Ortmann (2004), S. 54, S. 134 f., Anm. 79, S. 198; Weiskopf (2002); Munro (2005); Neuberger (1995), S. 110 u. S. 116; Neuberger (2006), S. 224, Anm. 52, S. 303 ff., 322, 328, Anm. 77, 333, 347, 363 ff., 371, 513, 522, 530, 539.
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Machtausdruck sowie Machtmittel, wie das für die Mikropolitik so bisher nicht der Fall ist. Und auch die Worte Ortmanns (1995) über Foucaults Ansatz einer „Mikrophysik“ der Macht könnten in dieser Hinsicht für Nietzsches Konzeption vom Willen zur Macht mindestens ebenso gut Geltung beanspruchen: [Er] „kennt zwar keine trennscharfe Auseinanderlegung von handlungs- und systemtheoretischer Perspektive (so Honneth (1985)), vertieft aber dennoch – oder gerade deswegen? – unser Verständnis mikropolitischen Geschehens in Organsationen“ (S. 33).
Weiterhin heißt es dort, dass „wir Foucault eine nicht-affirmative Version des Gedankens [verdanken], daß Macht (auch) von unten kommt, also nicht auf der Matrix einer Zweiteilung abgebildet werden kann, die Beherrscher und Beherrschte einander einfach entgegensetzt und in der Macht schlicht von oben nach unten ausstrahlt. So entsteht gedanklicher Raum für das, was wir Mikropolitik nennen.“ (Ortmann (1995), S. 34)
Dieser Gedanke Foucaults, wohl nicht zuletzt selbst mitgeprägt durch dessen ausgiebige Nietzsche-Rezeption, ist ebenfalls bereits in aller Deutlichkeit bei Nietzsche zu finden, wie an diversen Stellen dieser Untersuchung nachgewiesen (vgl. v. a. II.8).430 Grundsätzlich hat sich gezeigt: Bei Nietzsche verflüchtigen sich die Grenzen sowohl zwischen dem „Oben“ und „Unten“, deren generelle Existenz er bereits in dem berühmten Aphorismus „ D e r t o l l e M e n s c h “ aus der Fröhlichen Wissenschaft in Frage stellt431, als auch zwischen dem „Innen“ und „Außen“ (MA I, 15, 2, S. 35). Diese Worte markieren für ihn keine feststehenden ontologischen Bereiche mehr, sondern Perspektiven, die von der jeweiligen (Macht-) Position abhängen. Dies ist in dieser Arbeit u. a. anhand der Deutung von Machteinheiten nach Maßgabe von Organismen verdeutlicht worden: Macht prägt sich dabei in komplexen Herrschaftsordnungen aus, in eine „Organisation, der Herrschende und Beherrschte auf je ihre Weise zugehören. Die Grenzlinie zwischen dem Innen- und Außenbereich hat keinen eindeutigen Verlauf. (. . .) Herrschaft ist der Begriff für den organisatorischen Komplex, dem auch die Unterworfenen angehören. Da er diesen Komplex als eine lebendige Einheit auffaßt, steht auch hier der Grenzverlauf nicht fest, denn unabhängig von der relativen Ausdehnung oder Einschränkung des Herrschaftsbereichs findet an der Grenze ein stän430 Zur Prägung Foucaults und zum „displacement of Marx by Nietzsche“ gerade in diesem Punkt einer „radicalization of power“ vgl. Giddens (1995), S. 261 ff. Die Vielzahl der Einflüsse Nietzsches auf Foucault insgesamt aufzuzeigen, würde, wie in der Einleitung bereits bemerkt, ebenfalls ein eigenständiges Thema darstellen. Mit Breuer (1987) ist festzuhalten, dass Macht im nietzscheschen Sinne eines Willens zur Macht für Foucault „zum Universalschlüssel für alle gesellschaftlichen und geistigen Phänomene“ avanciert (S. 323). 431 „Giebt es noch ein Oben und ein Unten?“ (FW, 125, 3, S. 480; vgl. auch N 1881, 14[25], 9, S. 631).
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diger Austausch statt. Anziehung und Abwehr einerseits, Einverleibung und Ausscheidung andererseits lassen den Gedanken an feste Bestände im Außen und im Innen gar nicht erst aufkommen.“ (Gerhardt (1996), S. 263)
Die Gefahr einer „allzu ordentliche[n] Theorie mit allzu klaren Fronten“, die laut Ortmann (1995) einem „angemessenen Verständnis des Handelns und des mikropolitischen Tauziehens in Betrieben“ im Wege stehen würde, das von partiellen Interessenkonvergenzen über zeitweise Koalitionen bis hin zu Intrigen, Grabenkämpfen, Ängsten und Konsensbedürfnissen reicht, besteht also nicht (S. 35). Vielmehr sind „ungerade Frontverläufe und wechselnde Fronten“ (ebd.)432 sowie verschwimmende Grenzverläufe, wie sie dem grundsätzlichen mikropolitiktheoretischen Verständnis von Organisationen entsprechen, geradezu programmatisch für Nietzsches Verständnis von Machtabläufen als „lebendigen“ Prozessen: Es ist von permanenten dynamischen Verlagerungs- und Verschiebungsprozessen auszugehen, bei denen es immer zu Veränderungen der Frontund Grenzverläufe kommt, so dass auch der „Mittelpunkt des Systems“ sich beständig verschiebt (N 1887, 9[98], 12, S. 391).433 Diese Vorgänge können nach Nietzsche explizit nicht auf kausalmechanische Gesetzmäßigkeiten reduziert werden, wie v. a. im vorangegangenen Kapitel noch einmal hervorgehoben worden ist, sondern sind als fortwährender Machtkampf zu verstehen, so wie generell in der Welt keine unumstößlichen Gesetze herrschen, sondern „jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht.“ (JGB 22, 5, S. 37) Durch diese Charakteristika seiner Auffassung von Machtprozessen kann Nietzsche als „Kronzeuge“ gegen jegliche starre, quasi-mechanistische und deterministische Entwürfe von Organisationen mit „Maschinen-Charakter“ herangezogen werden, gegen den sich, wie gesehen, explizit auch die hier vorgestellten Organisationstheoretiker wenden.434 Vielmehr bietet sein Konzept vom Willen zur Macht jedem theoretischen Vorhaben einer „Dynamisierung der Organisationstheorie“ (Türk (1989), S. 51) sowie jeder Suche nach der „Triebstruktur“ von Organisationen (Ortmann (1992b), S. 224), nach den „treibenden Kräften“ des (organisationalen) Wandels (Küpper/Felsch (2000), S. 228 sowie Türk 432 Ebenso Ortmann et al. (1990), S. 399. Auch Küpper/Felsch sehen die Möglichkeit der Akteure, die „,Fronten [zu] wechseln‘“ (S. 162), was mitunter weitreichende Folgen für die Statik des Netzwerkes der Spiel- und damit der inneren Machtstruktur einer Organisation haben könne. 433 Zu dieser fortdauernden „Bewegung der Grenze“ auch Fink (1992), S. 183. Das Sein wird beschrieben als „unablässige Vernichtung der Grenzen, aber nicht in einem absoluten Aufheben von Grenze überhaupt, sondern als unruhige Bewegtheit aller Grenzen“ (ebd.). Zum generellen Gedanken einer „schwankende[n] Frontlinie“, hier zwischen „Umwelt“ und „Welt“, bei der jede Sicherheit „einer Unsicherheit abgekämpft“ ist, vgl. auch Plessner (2003), bei dem darüber hinaus die v. a. im letzten Kapitel angesprochene Zirkularität anklingt, wenn er die Zwischenstellung beschreibt als eine, „für die nichts festliegt, ohne festgelegt zu werden, und nichts festgelegt werden kann, ohne schon festzuliegen.“ (S. 198) 434 Vgl. exemplarisch Ortmann (1992a), S. 22.
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(1989), S. 73) bzw. nach den „Triebkräften der Veränderung“ (Türk (1989), S. 54) vielfältige Anregungen, durchaus auch in Form von Irritationen – ohne dabei allerdings die Möglichkeit von Einheitsbildungen aus den Augen zu verlieren, wie ebenfalls das Kapitel über Macht und Organisation deutlich gezeigt hat. Daran wird auch ersichtlich, dass das Vorhandensein gewisser Grenzverläufe für die Vorstellung von Einheit unumgänglich ist, und seien sie auch noch so instabil, beweglich und durchlässig. Es geht also nicht um ein absolutes „Aufheben von Grenze überhaupt“ (Fink (1992), S. 183). Auch dies lässt sich an Organismen verdeutlichen, die ohne eine (semi-permeable) Membran, ohne eine gewisse Abgrenzung, gar nicht überlebensfähig und auch von außen gar nicht unterscheidbar und abgrenzbar von ihrer Umwelt wären, so dass von einem Austausch und Stoffwechsel nicht sinnvoll die Rede sein könnte. Wie im Methodenkapitel bereits konstatiert, kann sich Leben somit immer nur zwischen den jeweils lebensfeindlichen Extrempolen von absolutem Wandel und kompletter Starrheit abspielen. In diesem Zusammenhang wurde auf den Prozesscharakter und die Stabilität als gegenläufige Grundbestimmungen des Lebens hingewiesen (vgl. Himmelmann (2006), S. 24 ff.), die nichtsdestotrotz gleichermaßen zum Leben gehören – und somit zum Willen zur Macht. Auch Crozier/Friedberg (1993) kritisieren ausdrücklich die Tendenz, Macht ausschließlich mit (bestehender) Ordnung zu identifizieren, statt „sie in ihrer ganzen Komplexität und widersprüchlichen Dynamik zu betrachten und sie als das zu analysieren, was sie tatsächlich ist: Eine unausweichliche, nicht aus der Welt zu schaffende Dimension des Werdenden wie des Bestehenden, der Bewegung wie der Stabilität“ (S. 15; H.v. m.).
Diese Worte hätten durchaus von Nietzsche stammen können, bei dem Macht sowohl als treibende als auch als fest-stellende Kraft angesprochen wird, die gewissermaßen apollinische wie dionysische Momente vereint. Im Kapitel über Macht und Organisation wurde dieser Widerspruch nun insofern als nicht unlösbar beschrieben, als eben auch das Feste und Stabile nicht als unbewegt und starr, sondern als in sich dynamisch charakterisiert worden ist. Pointiert gesagt: Der Wille zur Macht stellt nicht fest, indem er zum Stillstand bringt, sondern indem er Bewegung organisiert. Einheit wurde in diesem Sinne als synchronisierte, organisierte bzw. sich selbst organisierende Bewegung, als ein „Fließgleichgewicht“ beschrieben, bei dem es zu (immer nur temporären und lokalen) Balancezuständen unterschiedlicher dynamischer Kräfte und Mächte kommt – wobei der verwendete Organisationsbegriff selbst, wie gesehen, bei Nietzsche keineswegs klar abgegrenzt ist. Das scheint ihm auch nicht nötig, wirken aus seiner Sicht doch letztlich grundsätzlich die gleichen Kräfte, respektive Mächte, in „Organen“, „Organismen“ und Organisationen aller Art (N 1886, 6[26], 12, S. 244). Die jeweiligen Konstellationen der Willen zur Macht bilden die Grundlage aller leiblichen, sozialen, politischen, künstlerischen und sonstigen Organisationsformen.
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Eine gewisse Nähe zum Prinzip der Selbstorganisation und zu dem Gedanken, Leben als einen paradigmatischen Fall dieser (Selbst-)Organisation zu sehen, ist sogar für die Organisationstheorie ausgemacht worden, deren eigentlicher Gegenstandsbereich die soziale Welt ist.435 Tragender Gedanke ist auch hier die Dynamik als Grundlage für Ordnung: Alles scheinbar Bleibende muss eigentlich fortlaufend ersetzt werden, wie Ortmann durch ein Zitat von Giddens am Beispiel von Hautzellen einer bestimmten Physiognomie erläutert, „die – durch genau diesen Prozeß – ihre strukturelle Identität aufrechterhält“ (Giddens (1984), S. 146; dazu auch Ortmann (1992b), S. 221).436 Diese Überlegung zu dynamischem, aber in irgendeiner Weise organisiertem Wechsel als Grundlage von Stabilität, Einheit und Identität lässt sich aus dem organischen Bereich auf soziale Organisationen übertragen, die sich, wie an diversen Stellen dieser Arbeit ausgeführt, nach strategisch-mikropolitischer Lesart ebenfalls durch die Handlungen ihrer Mitglieder permanent rekursiv „erneuern“, stabilisieren und organisieren müssen. Ordnung wird daher von dieser Theorie allenfalls als „fraglose“, also gleichsam als ewige, statische und unumstößliche Ordnung unterminiert, ohne dadurch die grundsätzliche Möglichkeit von „selbsterzeugte[n] Ordnungskonstruktionen“ negieren oder Ordnung grundsätzlich kritisieren zu wollen (Ortmann (2003), S. 42). Ein „Mindestmaß“ an Ordnung gilt vielmehr als notwendige Bedingung der Möglichkeit sozialen Handelns und „muß jedenfalls unterstellt werden können. Und wirklich: Wohlfeil wäre es, jeden Wunsch nach Ruhe und Ordnung als Angst vor dem Chaos zu denunzieren. Starre Ordnung indes, die ,Stimmung des Zeitlosen und Ewigen‘ und wider die ,Frechheiten der Gegenwart‘, auch das wußte Thomas Mann, ,ist Opposition gegen die geschehende Geschichte zugunsten der geschehenen, das heißt des Todes‘. Soziale Ordnung ist gefährdet und gefährlich, lebensnotwendig und lebensbedrohend.“ (Ortmann (2003), S. 11)
Es ist demnach nicht davon auszugehen, dass es im „Inneren der Organisationen kein Chaos mehr gibt und geben darf“, allerdings ist der Grad des tolerierbaren oder sogar kreativitätsfördernden Chaos’ abhängig „von den Funktionserfordernissen und Machtverhältnissen der Organisation“ (ebd., S. 24) – wodurch einmal mehr auf den Zusammenhang von Macht und Organisation verwiesen ist. Ordnung spielt sich vor diesem Hintergrund also zwischen den Polen von absoluter Starrheit und vollständigem und chaotischen Wandel ab. Als ein „Ge435 Ebenso ist im vorangegangenen Kapitel auf Vorbehalte gegenüber der theoretischen Parallele von „Organisation“ und „Organismus“ bei Crozier/Friedberg sowie auf mögliche Gründe dafür hingewiesen worden, die aber nicht als zwingend eingeschätzt worden sind. 436 Vgl. dazu bereits Platon: „Denn auch von jedem einzelnen Lebenden sagt man ja, daß es lebe und dasselbe sei, wie einer von Kindesbeinen an immer derselbe genannt wird, wenn er auch ein Greis geworden ist: und heißt doch immer derselbe, ungeachtet er nie dasselbe an sich behält, sondern immer ein neuer wird und altes verliert an Haaren, Fleisch, Knochen, Blut und dem ganzen Leibe.“ (Symposion, 207 d4 ff.)
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währsmann“ für ein derartiges Denken, der durch die essenzielle Verbindung von Macht und Organisation versucht, dynamische Ordnung zwischen den Extremen lebensfeindlicher „Lähmung, Mühsal, Erstarrung“ auf der einen Seite und (ebenso lebensfeindlicher) totaler „Feindschaft und Chaos“ auf der anderen Seite zu denken, wurde hier Nietzsche präsentiert (GD, 6, S. 27), für dessen Machtverständnis darüber hinaus eine Reihe von Parallelen mit dem strategisch-mikropolitischen herausgearbeitet worden ist. Ob dieses Ergebnis hinreichend ist, um den in der Einleitung angesprochenen Versuch als gelungen ansehen zu können, bleibt letztlich wohl „dem Einzelnen überlassen“, wie Weik (1996, S. 394) in Bezug auf postmoderne Impulse für die Betriebswirtschaftslehre äußert. Ihrer Antwort auf die Frage, ob wir durch derartige Impulse mehr wissen, ist m. E. auch im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Nietzsches Gedankenwelt zuzustimmen, in der bekanntermaßen viele der „postmodernen“ Einsichten längst vorweggenommen sind: „(J)a. Wir wissen mehr, schon wenn das marginalste Teil, die unwahrscheinlichste Facette dem großen Puzzle hinzugefügt wird. Wir wissen – oder lernen – vor allem, daß Untersuchungsobjekt und -subjekt bedeutend vielschichtiger sind, als uns konsistente Theorien vorgaukeln wollen“ (ebd.).
Hier klingt das mit an, was ich oben als „produktive Irritation“ bezeichnet habe. Weiterhin heisst es dort zum Nutzen eines derartigen Wissens: „Hier scheiden sich, gerade in einer so anwendungsbezogenen Wissenschaft wie der Betriebswirtschaftslehre, sicher die Geister. Insofern die Organisationswissenschaft Theorie ist und sein will, kann die Postmoderne interessante Impulse geben, insofern sie Unternehmensberatung ist und sein will, ist zumindest die postmoderne Epistemologie völlig unbrauchbar“ (ebd.).
Gleiches ließe sich aus einer derartigen Perspektive wohl auch für weite Teile von Nietzsches Philosophie konstatieren. Dass dies aber durchaus nicht notwendigerweise so sein muss, habe ich an einigen Stellen dieser Arbeit angedeutet, beispielsweise in dem Postskriptum zum Kapitel über Macht und Widerstand, in dessen Zuge auf die praktische Relevanz eines Wissens um die Normalität, Plausibilität und u. U. sogar Nützlichkeit des Auftretens von Konflikten, Spannungen und Widerständen hingewiesen worden ist, wie es sich gerade auch bei Nietzsche gewinnen lässt. Andersherum ist m. E. auch der Nutzen für die Philosophie nicht zu unterschätzen, die ein „konkretes Anwendungsgebiet“ ihrer auf der Grundlage von Nietzsches fragmentarischem Entwurf vom Willen zur Macht rekonstruierten und abgeleiteten machttheoretischen Einsichten geliefert bekommt und somit die Möglichkeit zu Konkretionen und empirischen Unterfütterungen einer Theorie, die – wohl nicht zuletzt auf Grund ihrer weitreichenden Theorieerwartung und ihres nahezu unbegrenzten Gegenstandsbereiches und trotz ihrer teilweise plastischen Illustrationen aus dem Bereich der belebten Natur – nicht per se vor der Gefahr gefeit ist, sich ins allzu Abstrakte zu verlieren.
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Aus meiner Sicht gibt es also sowohl positive Nutzenpotenziale zwischen den Theorien der verschiedenen Disziplinen als auch zwischen Theorie und Praxis. Ganz zu schweigen davon, dass eine derartig strikte Trennung zwischen Theorie und Praxis, wie sie in dem obigen Zitat angeklungen ist, m. E. generell nicht haltbar ist. Und auch weder von den hier herangezogenen Mikropolitiktheoretikern proklamiert wird, die sich gleichermaßen eine „theoretisch reflektierte“ wie „realitätsmächtige“ Organisationsforschung wünschen (vgl. Ortmanns Vorwort als Herausgeber der Reihe „Organisation und Gesellschaft“), noch von Nietzsche, der eine strikte Trennung von Theorie und Praxis grundsätzlich ablehnt (N 1888, 14[107], 13, S. 285 f.). Jede Erweiterung und Komplexitätssteigerung des eigenen Wissens und der eigenen Vorstellung von den sich abspielenden Vorgängen, die wir als „Macht“ und „Organisation“ zu benennen pflegen, bringt neue Verhaltensmöglichkeiten und Handlungsspielräume im theoretischen und praktischen Umgang mit diesen Phänomenen mit sich – und infolgedessen gleichsam neue Macht im Umgang mit Macht und Organisation. Besonders betont wurde dabei die Erkenntnis, dass der Machtbegriff weit über den engeren organisationalen, bei Nietzsche sogar über den sozialen Bereich hinaus auf die Organisation von Bewegung, Wandel und Wechsel bezogen ist: „Dabei stellt er, wie jeder Begriff, etwas fest, dies aber nur im Hinblick auf Veränderung. (. . .) Sobald sich ein Element des Werdens im ständigen Wechsel auch nur einen Moment lang erhalten will, braucht es Mittel, um die disparaten Ereignisfolgen zusammenzuhalten. Der generelle Begriff für alle diese Mittel ist Macht. Also ist es das Werden in der von Nietzsche vertretenen Allgemeinheit, welches an Macht zu denken nötigt, sobald es Einheiten gibt, die ,werden‘, die sich in der unvermeidlichen Veränderung gleichwohl durchhalten wollen.“ (Gerhardt (1996), S. 306)
Als ein spezifischer und konkreter Fall derartiger auf Macht angewiesener Einheiten können aus einer solchen Perspektive Organisationen im institutionalen Sinn interpretiert werden.
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CD-Rom Friedrich Nietzsche. Historisch-kritische Ausgabe, mit User Guide, 1995, Berlin/New York Friedrich Nietzsche. Werke, hg. von Karl Schlechta, mit der Biographie von Curt Paul Janz, 2004, München (= Digitale Bibliothek, Bd. 31) Max Weber. Gesammelte Werke, 2001, Berlin (= Digitale Bibliothek, Bd. 58)
Sachwortverzeichnis Absicht 53, 78, 88, 97, 189, 205, 209, 214, 346 Abstoßung 45, 47–48, 82, 91, 169, 189 Accounting 136, 278 Affekt 82–83, 347 Agon 178, 195, 390 Agonalität 91, 99, 143, 173, 175–176, 179–182, 187, 189–190, 193–195, 225, 230, 240, 242, 246, 248, 264, 373–374, 386, 390 Akteur 25, 103–107, 109–110, 113, 116, 119–122, 125–127, 130, 132, 134, 137, 144, 147, 161, 169, 174–175, 198, 203, 205, 208–209, 217, 227, 232, 237, 240, 255–256, 261, 280, 295, 302, 314, 321, 381 Aktus 24, 89, 351 Akzeptanz 126–127, 177, 266, 390 Alea 391 Allianzen 138, 140 als ob 81, 86, 97, 181, 211, 307, 331, 338, 370–371 Ambiguitätstoleranz 113 Analogie 24, 80, 98, 144, 211, 213, 215, 218, 327, 341, 356–357, 391 Anarchie 27–28, 156, 203–204, 268 Anerkennung 111, 163, 230, 237, 245, 259, 286, 292, 350, 364, 390 Anschlussfähigkeit 30 Anthropologie 158, 274 anthropomorph 80, 88, 188–189 Antrieb 52, 65, 146, 163, 167, 185–186, 194, 244–245, 317, 320–321, 352, 364, 367 Anzeichen 48, 214, 216, 312, 317, 320 Anziehung 45, 47–48, 82, 91, 169, 189, 267, 394 apollinisch 157, 183, 352, 374, 395
Arbeitsleistung 117–118, 123 Arbeitsmarkt 294 Arbeitsplatz 261, 294–295 Arbeitsstil 286, 310 Arbeitsteilung 18, 112, 123, 151, 174, 184, 200, 207, 236, 250, 364 Arbeitsvermögen 117–118, 123, 264 Architektur 25, 135, 272–276, 278, 280– 281, 283–284, 286–287, 293, 303, 309, 315–316, 319, 334–341, 349 Arena 29, 179 aristokratisch 194, 358 Asket 166–167 Assessment-Center 289 Ästhetik 135, 170, 223, 228, 262, 269, 271–273, 275, 279, 286–287, 291, 294–296, 298, 301, 312, 315–317, 319–322, 331, 334, 342, 344, 348, 350–351, 357–359, 388, 392 Asymmetrie 109, 114, 140, 174, 225, 227–231, 233–234, 236–240, 255, 262– 263, 281–282, 348, 356, 386, 388 Attribut 107, 134, 388 Augenblick 80, 104, 203–204, 219–220, 223, 304, 339, 367, 386 Ausgangspunkt 144 Auslegung 37, 40, 51, 53, 78, 96–97, 99, 155, 165, 171 Austausch 61, 90, 108–109, 127–128, 138, 140, 237–238, 259, 267, 364, 394–395 Außen 62, 88, 98, 157, 182, 245, 272, 303, 330, 336, 393 Autonomie 115, 178, 256, 288, 347, 355 Autonomiebereich 115, 139, 175 Autorität 21, 24, 135, 160, 206, 231, 275, 278, 286, 305–306, 308, 311
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Sachwortverzeichnis
Balancemodell 111, 113 Befehl 82–84, 95, 224–225, 227, 252, 267, 364 Befehlen 83, 95, 191, 251–252, 259, 265–266, 324 Besitz 23, 109, 170–171, 232, 239, 270, 286, 299–300, 333, 335, 358, 388 Besitzstand 107, 134, 170, 217 best practices 314 Bewegung 44, 46, 50–52, 54–59, 63, 76– 78, 90–91, 93, 98–99, 108, 150, 154– 155, 158, 164, 180, 187–188, 190, 194, 224, 234, 254, 272, 305, 319, 334, 362, 368–369, 374, 383, 394–395, 398 Bewusstsein 66–67, 69, 73, 77, 111, 192, 203, 275 Biologismus 48 Bluffen 128 böse 161–162, 186, 194, 354 bounded rationality 27, 106 Bricolage 204, 209 business policies 29 Chance 23, 114, 120, 189, 223, 245, 266, 295 Chaos 156, 192, 268, 345, 362, 396–397 Christentum 194, 320, 339, 358, 373, 375 Dauer 19, 62, 116, 120, 122, 223, 225, 235, 258, 303, 327, 360–361, 363, 365, 370, 374, 378, 384 Dauerhaftigkeit 363, 383 Dekadenz 320, 343 Determinismus 137, 153, 267, 307, 378 Deutung 39, 81, 230, 301, 307, 317, 325, 348, 352, 356, 365, 379, 393 Deutungsleistung 106, 126, 171–172 Deutungsschemata 134–135, 171, 228, 385 Dienst nach Vorschrift 124, 259, 264 Ding an sich 69–70, 73–74, 79, 81, 83, 170, 349 dionysisch 36, 156, 183, 352, 395 Disposition 58, 89, 147, 302–303
Distanz 192, 210, 276, 284, 287, 297, 304, 323, 327, 343, 346, 349, 352 Distinktion 284–286, 300, 323–324, 348–349, 357 Disziplinarmacht 280–281, 384 Disziplinierung 178, 277 Drang 59, 93, 95, 113, 175, 202, 235, 242, 246, 252, 256, 345, 348 Drohung 123, 174, 177, 182, 230, 279, 295, 307, 321, 357 Dualismus 126, 132, 153–155, 157 Dualität 66, 126–127, 132–133, 147, 154, 208, 283, 307 Durchsetzungsmacht 82, 97, 261 Dynamik 19, 52, 59, 87, 90, 96–97, 99, 108, 118, 122, 126–127, 140, 155, 180, 184, 193, 203, 232, 234, 274, 289, 364, 367, 382, 384, 395–396 dynamis 24, 51, 55–59, 63, 89 Effektivität 19, 262 Effizienz 19, 27, 279 Egoismus 87, 145 Eigenwert 383 Einfachheit 330, 337 Einfluss 24, 29, 106, 136, 177, 179, 209, 218, 231, 247–248, 269, 276, 285, 287, 310–311, 315, 329, 331, 339, 344, 386, 391 Einheit 19, 29, 37, 39, 44, 50, 60–62, 65, 81, 83, 89, 92, 95–96, 155–156, 183– 184, 199, 212, 252, 267, 284, 302, 320, 325, 331–332, 338, 359–377, 379, 389–390, 393, 395–396 Einverleibung 191, 253, 267, 303, 305– 306, 369, 394 Einzigartigkeit 111–112 Eitelkeit 87, 216, 317 Ekel 323, 343 Empathie 113 Empfänger 347–349 Empfindungen 226, 280, 290 energeia 55–57, 59, 89 entelecheia 55, 57
Sachwortverzeichnis Entelechie 59, 63 Entladung 85, 142, 158, 328 Erkenntnis 42, 60, 64, 66–70, 72–75, 77, 79, 200–201, 305, 354, 369, 372 Erklären 48, 58, 71 Erwartung 25, 111–115, 120, 125, 137, 221, 229–230, 381 Etwas-Wollen 85–86, 96, 213 Evolution 312, 385 Ewige Wiederkehr des Gleichen 39, 44, 222 Experiment 33, 157 Experimentalphilosophie 85, 157, 159 Expertenmacht 233, 282 Explosion 49, 84, 142, 221, 328 Externalisierung 138 Fiktion 53, 189, 371, 383, 385 Formalstruktur 29, 126, 137–138, 140 freier Geist 355, 390 Freiheit 24, 54, 84, 115, 125, 161–163, 167, 177, 183, 193–194, 200, 213, 240, 245, 252, 304, 307, 320, 387, 389–390 Funktionen der Kunst – Dekorationsfunktion 300, 354 – Distinktionsfunktion 297, 300–301 – Entlastungsfunktion 355 – Erinnerungsfunktion 355 – expressive Funktion 296, 354 – Identitätsbildungsfunktion 291–292, 296 – Image bildende Funktion 296 – Irritationsfunktion 293 – Kommunikationsfunktion 355 – Kompensationsfunktion 294, 296, 355 – Legitimationsfunktion 290, 300, 336 – Motivationsfunktion 294, 296 – organische Funktion 354 – Provokationsfunktion 293 – Rechtfertigungsfunktion 355 – Schmuckfunktion 296 – Signalfunktion 296, 301 – sinnstiftende Funktion 355
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– Status indizierende Funktion 296, 300–301 – Therapiefunktion 294, 296, 355 – Transferfunktion 290, 296, 356 – unterhaltende Funktion 355 Funktionskreis des Lebens 380, 385 Furcht 87, 148, 162 Gedächtnis 133, 221–222 Gefühl der Kraft 82, 318 Gefühl der Macht 43, 87–88, 143, 162– 163, 246, 252 Gegenmacht 173–174, 234, 242, 343 Gegensatz 48, 130, 155–156, 180, 182– 184, 194, 204, 219, 224, 244, 377, 379–380, 383 Gegenseitigkeit 109–110, 115, 205, 236, 240, 246, 255–256, 269 Gegenstandsbereich 144, 150, 152, 159, 164, 265, 380, 396–397 Gegenüber 25, 46, 92, 107, 111–112, 120–121, 169, 172, 230, 239, 242, 256 Gegner 179, 191, 194, 245, 263, 270 Gehen 304, 323, 328, 344, 359 Gehorchen 83, 95, 191–192, 249–252, 259, 266, 315, 358 Gehorsam 84, 95, 227, 251, 257, 319, 321, 338, 364 Geist 24, 41, 54, 81, 157, 162, 168, 200, 290, 328, 339, 355, 375, 390, 392 Geld 21, 23–24, 109, 132, 134–135, 199, 287, 301, 358 Genie 93, 184, 347, 375 Gerechtigkeit 136, 172, 200, 237–238 Gesellschaft 17–19, 29, 33, 111, 150– 151, 184, 193–195, 231, 303–304, 306, 326, 337–338, 354 Gesetz 53, 80, 213, 259, 338 Gewalt 24, 58, 95, 161, 166–168, 193, 196, 200, 242, 249, 267, 281, 319–321, 335, 344–346, 386 Glanz 316, 357 Gleichgewicht 109, 236, 239, 368, 383 Gleichheit 176, 238–239
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Sachwortverzeichnis
Gleichzeitigkeit 223, 366, 378 Gott 44, 63, 183, 239, 338, 340, 342 Grammatik 368 Grausamkeit 87, 148, 162, 166–168, 196, 344 Grenze 47, 61, 78, 91, 94, 109, 135, 167, 224–225, 234–235, 253, 267, 307, 314, 341, 349, 360, 379, 381, 393–395 Größe 36, 49, 130, 137, 170, 190, 223, 244, 251, 274–276, 279, 303, 308, 310, 315, 322, 328, 337, 357 Gruppe 17, 25, 84, 91, 107, 111, 117, 130, 138–140, 146, 176, 194, 206–207, 261–265, 291, 299–300, 302, 310, 386 Gruppenmacht 262 Habitus 272, 301–302, 304–308, 310, 312–315, 322–324, 326–327, 329, 333– 334, 340 Haltung 85, 271, 287, 289, 302, 305– 306, 309–311, 319, 322, 334 Handeln 15–16, 30, 67, 69, 72–73, 104, 112, 132 – autoritativ-administratives Handeln 135 – interaktives Handeln 130, 384 – interessegeleitetes Handeln 139 – kollektives Handeln 15, 102–103, 116, 131, 151, 161, 164, 360, 379–380 – kommunikatives Handeln 133 – menschliches Handeln 24, 146, 149, 153, 314 – mikropolitisches Handeln 130, 136– 137, 228 – organisationales Handeln 127, 137, 378 – organisiertes Handeln 102, 125 – rationales Handeln 27 – regelgeleitetes Handeln 126–127 – sanktionierendes Handeln 133 – soziales Handeln 133, 146, 150, 161, 288, 383, 396 – wirtschaftliches Handeln 135 Handlungsbereich 17, 175, 256, 258
Handlungserwartung 230 Handlungsmöglichkeit 24–25, 106, 110, 119–120, 137, 146, 161, 175, 203, 205, 258, 314 Handlungsspielraum 25, 110, 115, 122– 123, 125, 175, 255–256, 259, 389, 398 Handlungssystem 126, 137, 310 Hässlichkeit 316, 318–320, 342 Herde 64, 84, 200, 253, 261, 375 Herr-Knecht-Dialektik 250, 391 Herrschaft 24, 83, 95, 108, 133–134, 136, 166, 194, 201, 229, 250, 259, 267, 270, 279, 296, 314, 320, 364, 393 Hierarchie 116, 218–219, 224, 226–230, 252, 261–262, 279, 286, 297–298, 388 Hindernis 367 Homologie 276, 302, 391–392 Ich 37, 47, 50, 74, 85, 111–114, 192–193, 244, 336, 360 Ich-Identität 113 Idealtypus 159 Identifikation 114, 117, 137, 238, 291 Identität 35, 103, 110–116, 129, 167, 175, 178, 240, 245, 255–256, 282, 292, 296, 312, 365, 387, 389, 396 identitätstheoretische Fundierung 110, 115 Ilinx 391 impression management 289 Individualität 111–112, 114, 284 Individuum 50, 91, 104, 106, 111–113, 151, 159, 186, 191, 193, 215, 222, 303–304, 337, 372, 390 Information 118–120, 128, 174, 228, 289 Informationsasymmetrie 229, 261 Informationsparadox 120 Inkommensurabilität 151–152 Inkorporierung 272, 298, 302–303, 305, 315, 322, 348 Innen 53, 62, 65, 68–70, 74, 76, 80, 88, 95, 98, 144, 147, 157, 165, 184, 189, 195, 232, 245, 272, 277, 290, 293, 296,
Sachwortverzeichnis 303, 330, 336, 360–361, 373, 382–383, 385, 393 Innenperspektive 98 Innovation 161, 197, 261, 263–264, 288 Innovationsspiele 129, 177 Instinkt 83, 345 Instinktsicherheit 247 Institutionalisierung 128, 228 Instrumentalität 90, 198, 200–202, 206, 209, 214, 319, 357, 386, 388 Integration 103, 128, 154, 177, 208, 362–363, 373, 379, 381 Integratormacht 138, 140, 262 Intention 33, 78, 85, 167, 209, 289, 383 Intentionalität 90, 198, 206–207, 209– 211, 214, 386, 388, 390 Interaktion 111–114, 125–126, 131, 170, 206, 381 Interdependenz 137, 233, 362 Interesse 27, 29, 35, 88, 108, 112, 119– 120, 125, 129–131, 136–140, 146, 148, 173–174, 176–177, 197–198, 203, 205, 215, 237, 259, 262–264, 266–269, 288, 317, 334, 354, 360, 381, 391 Interessenheterogenität 29, 108 Interessenhomogenität 108, 174 Interessenkonflikt 173–175 Internalisierung 113, 228, 277–278, 323 Interpretation 25, 32, 53, 79, 86, 119, 124, 128, 136, 144, 152, 158–159, 162, 165, 171–172, 179, 189, 199, 230, 239, 243, 344, 346, 350, 365, 385 Intransitivität 109, 216–219, 224–225, 227, 388 Irritation 268, 392, 395, 397 Irrtum 22, 145, 369 Kampf 45, 52, 87, 90–91, 94, 101, 142, 148, 172–197, 199–200, 225–226, 230, 236, 238, 240, 247, 249–250, 252–253, 264, 286, 306, 350–351, 354, 363–364, 367, 372, 374 Kapital 21, 287, 299, 301, 303, 305–306, 325
425
Kausalität 49–50, 52, 66–67, 70–71, 130, 366 Klasse 302–304, 312 Klassengeschmack 308 Kleidung 271, 285–287, 302, 308, 310, 322, 326–327, 331–334 Koalitionen 138, 179, 214, 233, 265, 394 Kommunikation 118–119, 164, 232, 279, 288, 311, 314, 383 Komplexität 17, 92, 103, 112, 120–121, 190, 204, 216, 250–251, 260, 267, 279, 282, 287, 318, 338, 347, 374, 379, 383–384, 395 Konflikt 27–28, 154–155, 173–177, 180– 182, 195, 197, 264, 362, 379–380, 382, 388 Konkurrenz 152, 173, 178, 180, 186, 233 Konkurrenzbeziehungen 101, 108, 126, 138–140, 173, 177, 262–263, 377 Können 24, 84, 86, 326, 344, 385 Konsens 108, 119, 121, 126, 128, 150, 154, 176–177, 179, 182, 240, 266, 294, 377, 382, 388, 390 konstitutionstheoretisch 101, 131, 152, 154, 217–218, 225 Konstruktion 100, 135–137, 171–172, 211, 246 Konsum 270, 299, 301 Kontingenz 127–128, 136, 139, 176, 204, 260, 283, 307, 362, 378 Kontrolle 100, 108, 110, 115–119, 121, 127, 134, 137–138, 140, 145, 169, 175, 217, 228–229, 233, 250, 255, 268, 278, 280 Kooperation 128, 180 Kooperationsbeziehungen 101, 108, 126, 138–140, 174, 177, 233, 262, 377 Kopplung 108, 197, 204, 387 Körper 24, 46, 63, 70, 72–73, 77, 149, 193, 212, 223, 271–272, 276, 278, 280, 287, 302–304, 307–310, 312–315, 319, 321, 328, 332, 334, 336, 343 Körperlichkeit 196, 309, 314, 323, 329 Kosten 120, 262 Kraft-Combination 47, 52, 91
426
Sachwortverzeichnis
Kraft-Magazin 221 Kraft-Punktuation 60 Kraft-Widerstand 240 Kraftauslösung 84 Kräftekonstellation 45–46, 52, 97, 142, 169, 188, 240 Kräfteverhältnis 63, 91, 95, 109, 116, 140, 142, 169, 190, 255 Kraftgefühl 52, 318, 334 Krieg 95, 184–185, 187, 195–196, 247, 311, 373 Kultivierung 167, 178, 180–182, 185, 326 Kultur 25, 91, 95, 162–163, 167, 182, 184–186, 188, 195, 271, 284, 286, 298–299, 303, 306, 312, 325–326, 332, 337, 340–341, 354, 356 Kunst 42, 44, 91, 183–185, 187, 192, 195, 202, 247, 253, 271, 278, 287–302, 305, 310, 318, 321, 326, 330, 332, 336, 338–359 Kunstbetrachter 290, 346, 349 Künstler 56, 187, 215, 290–291, 293, 296, 341–342, 345–356 Kunstwerk 56, 183, 287–288, 290, 293, 296, 300, 318, 337, 341–342, 345, 348–357 Leben 16, 22, 42, 44, 47–48, 52, 62, 69, 78–79, 94, 113, 149, 151, 156, 158, 169, 178, 190, 196–197, 207, 231, 236, 244, 252, 320, 323, 342–343, 345, 352, 354–358, 365–366, 368–369, 380, 395– 396 lebendiger Wirbel 380 Lebensstil 291, 302–303, 333 Legitimation 105, 132, 134, 136, 286, 314, 334, 381 Legitimität 136, 290, 300, 306, 311, 319, 324, 327, 337, 359 Leib 66, 70, 72–75, 77–78, 81, 83, 95, 151, 191, 193, 223, 248, 251, 253, 272, 303–304, 314, 320, 325–326, 329, 331, 341, 371 Leiblichkeit 144, 309, 315, 322, 328
Leistung 17, 112, 184–185, 218, 222, 236, 294, 340 Leitbilder 171, 208, 231, 311, 385 Liebe 21, 52, 87, 148, 163, 200, 239, 348, 354, 374 List 48, 148, 239, 375 ludus 178 Lüge 22, 354, 360 Lust 21, 36, 81, 87, 96, 145, 162, 166, 185, 197, 241–242, 244, 246, 255, 317–319, 323, 338, 342, 345, 355 Lustgefühl 243, 318 Macht der Zahl 261, 265 Machtasymmetrie 233–234, 297, 307, 311 Machtbasen 171, 261, 264 Machtentfaltung 220, 351 Machterfahrung 96 Machtgefühl 43, 87–89, 93, 96–97, 145, 169, 222, 241–242, 252, 318, 327, 345, 367, 369 Machtgeschehen 63, 90, 211, 269, 316 Machtmittel 132, 135, 148, 166, 171, 221, 259, 270–271, 274–276, 283, 285–288, 292, 295–297, 311, 319, 321–322, 324, 327, 329, 331–332, 334–335, 338, 340–341, 346, 351, 353, 356, 390, 393 Machtorganisation 95, 214, 366, 378 Machtquantum 62, 97, 195, 212, 247 Machtrelation 35, 173, 377 Machtspiele 127, 142 Machtsteigerung 236, 244 Machtstrategie 102–103, 123, 127, 137, 177, 217, 233, 256, 377 Machtstreben 131, 146, 198, 259 Machtstruktur 106, 124, 126–127, 177, 206, 211, 377, 394 Machtverhältnisse 61, 114, 137, 200– 201, 222, 266, 283, 311, 319, 326, 328, 377, 386, 390 Macht/Organisations-Prozess 376 Maklermacht 138, 140, 262
Sachwortverzeichnis Managementmacht 138, 262 Maschinenstillstände 125 Maske 64, 391 Maximierung 236 me-too-Verhalten 314 Mechanismus 48, 50, 52, 58, 106–107, 121, 125, 161, 190, 206, 230, 252, 373, 394 Mehr 86, 93, 95, 179, 190, 205, 221, 231–232, 235–236, 254, 345 Mehrdeutigkeit 20, 204 Mehrung 87, 90, 93, 175, 214 Mensch 18, 24, 39, 64, 66, 72, 74–75, 79, 81, 92, 111, 144, 157, 180, 185, 192–193, 205–206, 225–226, 243, 252, 282, 307, 310, 317, 320, 323, 325, 339, 351–353, 359–360, 370–371, 375, 393 Menschheit 64, 215, 239, 355 Metapher 26, 29, 380 Metaphysik 37, 45, 53, 55–56, 60, 69, 72, 74–75, 85, 149, 342–343, 350 Metaspiele 129, 177 Methode 102, 145, 147, 149, 158, 259 Methodologischer Individualismus 104 Methodologischer Rationalismus 104 Mimesis 273, 303, 313–314, 383–384 Mimicry 391 Mitleid 87, 166, 239 Mitteilungsmittel 200, 346 Mittel 23, 27, 89–90, 108, 110, 156, 162–163, 166, 197–202, 205, 214–216, 270–271, 273, 275, 278, 281, 287, 292–293, 309, 313, 319, 341, 346, 354, 357, 364, 375, 398 Mode 312, 333 Möglichkeit 22, 24–25, 52, 55–59, 63, 77, 89, 97, 107, 109–110, 112–113, 121, 124, 128, 136, 140, 160, 172, 179, 183, 204, 208, 215–217, 223, 236, 244, 248, 252, 254–255, 257, 259–260, 262–264, 266, 268, 289, 314, 334, 350, 356, 360, 369, 374, 389–390, 394 Monopol 232–234, 253 Monopolisierung 23, 240
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Moral 42, 91, 94, 194–195, 200, 222, 253, 262, 278, 322, 324, 340, 343, 354, 358–359, 374, 390 Motiv 37, 61, 68, 77–78, 91, 146, 148, 182, 187, 225, 236, 252, 324, 391 Motivation 68–69, 147, 267, 294, 351 Musik 296, 299, 310, 340–341, 344–345, 347, 349, 353 Muße 333 Muskeln 45–46, 52, 82, 319, 329, 342, 344, 349 Natur 17, 24–25, 42, 47, 53, 55, 68, 71, 75–76, 78, 93, 95, 108, 121, 151, 153, 157, 162, 169, 180, 183–186, 188–189, 194, 198, 200–201, 213, 215, 226, 235–236, 243, 247, 253, 274, 303, 305–306, 313–314, 317, 322, 327–328, 330, 335, 360, 370, 379, 385, 397 Netz 64, 149, 207–208, 210, 377–378 Nihilismus 39, 79, 343 Normalarbeitsvertrag 291 Normen 26, 113, 127, 134–136, 164, 228–229, 286 Notwendigkeit 22, 25, 27, 82, 84, 110, 121, 124, 165, 206, 216, 230, 246, 259, 304, 327, 330, 351, 369–370, 383 Objektivismus 153–154, 303, 307 Ohnmacht 162–163, 253, 274, 318, 372, 375 one best way 19, 26, 29, 105, 386 Ontologie 37, 59, 170, 187 Ordnung 51, 59–60, 78, 124, 130, 153– 156, 159–160, 178, 180, 190, 204, 214, 226, 253, 270, 278, 303, 323, 338, 340, 345, 362, 365, 379, 381–384, 395–396 Organismus 16–17, 29, 52, 76, 191, 193, 199, 215, 319, 341, 365–367, 379–380, 396 paida 178 Panopticon 277–278, 281–282 Paradigma 152–155, 231, 336 Pathos 63, 97, 99, 196, 243, 347, 349
428
Sachwortverzeichnis
Quantum 92, 97, 190, 213, 222, 226, 240, 250, 323, 349
Reiz 78, 96, 189, 243, 248 Rekonstruktion 34, 36–37, 41–42, 80, 85, 88, 112, 197, 234, 365 Rekursivität 131, 133, 136, 280, 320, 382, 384 Relais 103, 232–233, 263, 379 Relation 16, 74, 76, 82, 95, 155, 160, 168, 171, 209, 216, 226, 239–240, 250, 263, 378 Relativität 144, 169, 213, 365 Religion 183, 343, 354 Repräsentation 19, 123, 323 resistance to change 261 Ressentiment 166, 358 Rezipient 219, 288, 290, 296, 300–301, 329, 338–339, 342–351, 353, 355–356 Rhythmus 96, 241, 303, 341, 344, 384 Rollenflexibilität 113 Routinespiele 129, 177 runaway-Evolution 312
Rache 95, 148, 166, 348 Rang 92, 133, 202, 226, 249, 279, 323, 325, 364 Rangordnung 95, 151, 192, 224–225, 249–250, 278, 331, 388 Rationalisierung 208, 245 Rationalitätshypothese 102, 147 Raum 35–36, 45, 47, 66, 70–71, 79, 97, 132, 144, 172, 179, 191, 193, 198, 212, 217–221, 223–225, 228, 280–281, 284– 285, 289, 303–304, 337, 367, 377, 393 Rausch 335, 344–345, 352 reale Möglichkeit 56–57, 89, 220 Realität 39, 56, 60, 72, 118, 136, 172, 179, 200, 213, 231, 260, 299, 361 Recht 39–40, 44–45, 77, 165, 172, 176, 182, 184, 196, 200, 238, 251, 275, 277, 336, 390 Redlichkeit 343 Reduktion 121, 191, 213, 233, 268 Reduktionismus 317 Regeln und Ressourcen 133, 218–219 Reichtum 21, 287, 301
Sanktion 123, 135, 259, 278 Schein 22, 159, 172, 247, 342–343, 350, 355, 371, 392 Schmerz 96, 241 Schönheit 21, 308, 312, 316–321, 324, 326, 338, 342, 357–358, 375 Schwache 87, 91, 166, 168, 191, 200, 249–251, 264, 283, 374–375 Schweigen 305, 311, 329, 347 Seele 63, 144, 192, 318, 322, 326, 333, 335–336, 338, 340, 360, 367, 372–373 Sein 22, 24, 49, 51, 72, 99, 105, 145, 149, 157, 170, 187–188, 306, 326, 348, 359, 369, 376, 394 Selbstbehauptung 183 Selbstbestimmung 24, 111, 254, 389–390 Selbstbindungswirkung 123, 252, 259, 265 Selbsterfahrung 52–53, 62, 72, 87–89, 98, 144, 188, 272 Selbsterhaltung 73, 93–94, 191, 235– 236, 317 Selbsterkenntnis 68, 73, 111, 389
Perspektivenvielfalt 34, 144, 154 Perspektivismus 37, 155, 159 Pfadabhängigkeit 379 Pluralität 98, 214, 377, 386 politics 29 Politik 29, 131, 181 Potenz 24, 55, 57, 89, 274, 288, 342 Pracht 316, 322, 344, 357 praktischer Sinn 304 Praxis 133, 209, 282, 302–303, 307, 383, 385, 398 Produktivität 156, 192–194, 268, 282, 340, 343, 357, 375 Projektmanagement 269 Psychologie 85–86, 146, 273–274, 336 psychologischer Zugang zur Macht 86, 88, 145
Sachwortverzeichnis Selbstgenuss 145 Selbstmacht 390 Selbstorganisation 16, 133, 209, 357, 367, 370–371, 376, 380, 382–383, 385, 396 Selbstregulierung 252–253, 366 Selbstüberwindung 39, 44, 94, 244, 259, 323, 333, 390 Sieg 51, 53, 76, 82, 98, 148, 157, 167, 178, 192, 222, 225, 241, 243, 249, 317, 335, 337, 344, 367, 391 Signaling 289, 291–292, 313 Signifikation 118, 132, 134, 136, 171, 273, 384 Sinn 105, 131, 137, 183, 198, 214, 371– 372, 384–385 Sinnkonstitution 132 Sinnstiftungspotenzial 158 Sklaverei 162, 200 Sozialisation 104–105, 127, 147 Soziologie 146, 230, 314 Soziomorphie 192 Spannung 61, 181, 184, 193–194, 220, 240, 306, 319, 328, 343, 347, 362, 364, 373–374, 389 Spezifikation von Machtbeziehungen 108 Spiel 35–36, 38, 45, 53, 64, 94, 101– 104, 106, 108, 116, 124–129, 139, 141, 176–179, 188, 206, 216, 234–235, 240–241, 254, 258, 264, 284, 286, 304, 308, 359, 363, 380–381, 384, 390, 394 Spielraum 124, 183, 256, 282, 314, 320 Spielstruktur 126–127, 177, 232, 377 Sprache 304, 309, 312, 315, 328–329, 332, 338, 346–347, 370 Sprechweise 213, 304, 306, 311, 325, 328–329 Staat 26, 95, 149, 160, 184–186, 200, 215, 226, 231, 271, 336–337, 375 Stabilität 62, 150, 156, 362, 364, 368, 379, 383, 395–396 Stärke 24, 45, 87, 96, 166, 168, 185, 188, 239–240, 243–244, 316–322, 327– 329, 335, 347, 351, 357, 374–375 Statussymbole 181, 286, 295, 315, 337
429
Steigerung 18, 44, 50, 62, 87, 90, 93–94, 167, 184–186, 199, 225, 235–236, 238, 241–242, 331, 343, 364, 369, 381 Stil 39–40, 63, 65, 156, 274, 284, 291, 296, 310, 320, 326, 330–337, 346, 353 Stimulans 186, 343, 354 Stolz 87, 252, 316, 331–332, 335 strategische Aufklärung 120–122 strategische Informationssuche 119, 122–123, 137, 289 strategische Unternehmensnetzwerke 18, 103 strategisches Informationsangebot 119, 123, 137, 289 Streik 181 Streit 173, 187, 274, 323 Strukturationstheorie 30, 101, 132, 134, 154, 218, 227, 273, 283 Subjekt 23–24, 66–68, 74, 79, 81, 85, 144, 155, 157, 192, 199, 208, 274, 352, 360, 372, 386 Subjektivismus 154–155, 303, 307 Sublimierung 167, 194, 352 Substanz 55, 61, 168, 171, 360, 368, 372 Supplementarität 382 Symbol 25, 274 Systemtheorie 30, 150, 380 Tat 24, 99, 104, 186, 248 Tausch 108, 110, 134, 146, 169, 173, 176, 227, 233 Täuschung 82, 123, 242, 270, 307, 371 Technologie 135 Teleologie 18, 48, 50, 60, 236 Theorie und Praxis 100, 398 Theorieerwartung 34, 48, 144, 150, 159, 387, 397 Tier 75, 143, 222, 226, 360, 375 Tod 44, 237, 396 Tod Gottes 39, 340 Trajektorie 379 Transaktionskosten 262 Transformationsproblem 117–118, 123
430
Sachwortverzeichnis
treibende Kraft 52–53, 97–98, 144, 184, 189, 317, 367 Trieb 51–52, 80–81, 83, 91, 93, 184, 235, 321, 346, 352 Tugend 166, 183, 194, 244 Tun 50, 72, 326 Typus 129–130, 200, 375 Überbietung 236 Übergang 44–46, 62, 162, 189, 330 Überlegenheit 82, 117, 167, 201, 260, 300, 306, 319, 325, 333, 374 Übermensch 31, 39, 44 Umwertung 160–165, 168, 196, 388 Unabhängigkeit 162, 168, 251, 356, 389 Universalität 140, 160–161, 163–164, 168, 195, 198, 237, 246, 376, 388 Unsicherheitsbereich 119, 123, 137, 145, 205, 339 Unsicherheitsquelle 116, 125 Unsicherheitszone 110, 116–118, 138, 140, 144, 169, 250, 255, 258, 279, 283, 309 Unterfütterung 132, 136, 307 Untergebener 116, 123–124, 251, 258– 260, 268, 295, 314, 321, 390 Unternehmen 18, 29, 143, 151, 179, 181, 233, 261, 275, 284, 292–294, 362 Unternehmensführung 268, 339 Unternehmenspolitik 29–30, 131 Ursache 22, 40, 45–46, 49–50, 52, 56, 66, 68–69, 71–72, 78, 96, 189, 198, 203, 242, 318 Veblen-Güter 300 Vereinfachung 330, 334, 346, 370 Verhaltensstruktur 124, 126–127, 140, 377 Verhandlungsführer 139 Verhinderungsmacht 261–262, 265 Vermögen 24–25, 40, 55, 57, 60, 85, 90, 192, 198, 205, 242, 287, 300, 304, 345, 350
Vernunft 18, 24, 48, 51, 74, 82, 167, 200, 229, 239, 245, 249, 320, 330, 341, 370, 391 Verstehen 68, 71, 339, 346 Vertrauen 63, 120–121, 158, 249, 324, 358 Viabilität 236 Vielfalt 20, 27, 31, 130, 192, 232, 375 Vielfältigkeit 184, 207, 282, 362, 376 Volk 21, 193, 239, 318, 332, 366 Vollmacht 24 Vorbild 270, 313, 331, 338, 341, 380, 384 Vorhersagbarkeit 122, 255 Vornehmheit 40, 306, 314, 322–326, 331 Vorstellung 56, 66, 70, 72, 74, 122, 194, 289, 291 Wahrhaftigkeit 158 Wahrheit 22, 44, 66, 70, 73–74, 78, 80, 99, 239, 282, 318, 355 Wahrnehmung 25, 79, 135, 138, 273, 276, 302, 384 Wandel 51, 55, 93, 100–101, 153–156, 161, 257, 261, 348, 382, 395–396, 398 Werden 36–37, 63, 91, 93, 99, 149, 154, 159, 172, 187, 190, 247, 348, 359–361, 369–370, 373, 375, 398 Werkzeug 17, 24, 51, 73, 199–201, 215, 244, 309 Wert 62, 97, 118, 158, 233, 325, 344 Werte 127, 136, 194, 196, 200, 262, 293, 310, 345, 374, 390 Wettbewerb 181, 233, 236 Wettkampf 173, 178, 185–186 Widersprechen 248, 254 Widerstandsmacht 261–262 Widerstehen 246–248, 250–251, 254, 265 Widerstreben 95, 191–192, 241, 246, 251–252, 254, 257, 265–266 Wille zum Leben 44, 54, 63, 65, 78–79, 81, 93 Wille zum Nichts 79 Wille zur Wahrheit 247, 369 Willensfreiheit 242, 389
Sachwortverzeichnis Wirklichkeit 25, 48, 55–57, 59, 62–63, 79, 89–90, 147, 155, 159, 172, 177, 207, 213, 227, 343, 347, 350 Wirksamkeit 55, 218, 224, 270, 311, 327 Wirkung 22, 24, 49–50, 53, 60, 62–64, 66, 68, 77, 82, 84, 89, 97, 107, 109, 126, 130, 160–161, 167, 169–170, 184, 189, 198, 203, 212, 214, 217, 220, 235, 245, 247, 260, 270–271, 274–275, 278, 281, 287–288, 293–294, 306, 312, 319, 321, 327, 331, 333–334, 338–339, 341, 343, 346, 348, 351, 356, 383 Wissen 54, 118, 143, 240, 301, 304, 309, 314, 326, 330, 356, 369, 385, 390–391 Wollen 54, 68, 72, 74, 78, 81–86, 96, 188, 213, 244, 249, 252, 263, 290, 326, 346 Wunsch 68, 84, 97 Zählt Als 307 Zeichen 25, 40, 86, 95, 106, 162, 166– 167, 248, 254, 259, 271, 275, 279, 302, 308, 310–311, 313, 316, 318–321, 324,
431
328–330, 337, 344, 346–348, 350–351, 353, 357–358, 365, 374 Zeit 30, 32, 41, 43, 45, 56, 63–64, 66– 67, 70–71, 79–80, 93, 120, 132, 191, 193, 204, 217–225, 228, 251, 285, 299, 303–304, 324–326, 328–329, 333, 337, 351, 355, 358 Ziel 16, 19, 36, 55, 57, 63, 78, 97, 108, 159, 162, 183, 197–198, 201–203, 206–210, 213–214, 244, 257, 371 Zirkel 67, 380, 382–383 Zufall 21, 227, 324–325, 358, 383, 391 Zulieferer 232 Zuschreibung 112, 130 Zweck 16, 26–28, 78, 162–163, 166, 198, 201–203, 206, 213–216, 247, 271, 288, 354, 371 Zweckmäßigkeit 17–18, 214, 364 Zweckrationalität 26, 29, 176, 203–204, 209