Macht und Ohnmacht von Gewerkschaftstheorien in der Gewerkschaftspolitik [1 ed.] 9783428462636, 9783428062638


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German Pages 257 Year 1987

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Macht und Ohnmacht von Gewerkschaftstheorien in der Gewerkschaftspolitik [1 ed.]
 9783428462636, 9783428062638

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Internationale Tagung der Sozialakademie Dortmund

Macht und Ohnmacht von Gewerkschaftstheorien in der Gewerkschaftspolitik Herausgegeben von

Hans Pornschlegel

Duncker & Humblot · Berlin

Macht u n d Ohnmacht von Gewerkschaftstheorien i n der Gewerkschaftspolitik

18. I N T E R N A T I O N A L E TAGUNG DER S O Z I A L A K A D E M I E D O R T M U N D I n Zusammenarbeit m i t dem Deutschen Gewerkschaftsbund u n d der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf

Macht u n d Ohnmacht von Gewerkschaftstheorien i n der Gewerkschaftspolitik

Herausgegeben von Prof. Hans Pornschlegel

D Ü N C K E R & H U M B L O T / B E R L I N

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Macht und Ohnmacht von Gewerkschaftstheorien in der Gewerkschaftspolitik / hrsg. von Hans Pornschlegel. - Berlin : Duncker u. Humblot, 1987. (... Internationale Tagung der Sozialakademie Dortmund ; 18) ISBN 3-428-06263-9 NE: Pornschlegel, Hans [Hrsg.], Sozialakademie : ... Internationale Tagung ...

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1987 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Hermann Hagedorn GmbH & Co, Berlin 46 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06263-9

Vorwort Die Gewerkschaften in der Krise? Krise der Gewerkschaften? Die Krise und die Gewerkschaften? Die Antworten auf diese Fragen fallen unterschiedlich aus. Beobachter unterschiedlicher Positionen sind sich darüber einig, daß vor allem in der letzten Dekade eine deutliche Veränderung von Stellung und Stellenwert der Gewerkschaften in den westlichen Ländern zu verzeichnen ist. Nachhaltige politische Wandlungen, vielfach in Richtung eines politischen Konservatismus und Liberalismus, veränderte Einstellungen in der jüngeren Generation, insbesondere gegenüber sozialen Organisationen, sowie innergewerkschaftliche Auseinandersetzungen haben die sozialökonomische Stellung und den Stellenwert der Gewerkschaften in vielen Punkten verändert, wenngleich ihre grundlegende Rolle als zentrale Arbeitnehmerorganisation geblieben ist. Es scheint immer aktuell, zugleich aber über den Tag hinausweisend, einmal die Frage zu stellen, inwieweit Theorien der Gewerkschaften über sich selbst, aber auch Theorien anderer über die Gewerkschaften die Gewerkschaftspolitik geprägt haben und prägen werden. Die Frage nach Macht und Ohnmacht solcher Gewerkschaftstheorien war daher, in verschiedenen Facetten, Gegenstand der 18. Internationalen Tagung der Sozialakademie Dortmund. Zugleich wurde damit eine frühere Tradition wieder aufgegriffen, wonach fachübergreifende Thematiken in das Zentrum einer solchen Diskussion mit internationalen Bezügen eingebracht werden sollten. Der Veranstalter legt die Ergebnisse dieses internationalen Gespräches mit der Erwartung vor, daß die Analysen und Beurteilungen von unterschiedlichen Positionen aus ebenso für die nächsten Jahre diskussionswürdig sein werden wie die unterschiedlichen Konzepte, die dort teilweise vorgetragen wurden. Der Herausgeber dankt allen Referentinnen und Referenten dieser Tagung, die teilweise Schwierigkeiten hatten, Theorien in einem strengen Sinne aufzufinden und zu analysieren, die jedoch durch eine Analyse von Strukturen und Entwicklungen Wichtiges zum Thema beitrugen, die vor allem indirekte Aufschlüsse über Theorieansätze und Theoriedefizite zuließen. Die Beiträge dürften über den Tag hinaus auch in der politischen, wissenschaftlichen und gewerkschaftlichen Diskussion ihren Wert behalten. Ein Dank auch an den Deutschen Gewerkschaftsbund, insbesondere Frau Ilse Brusis, und an die Hans-Böckler-Stiftung, besonders Herrn Dr. Gerd Leminsky, die die Tagung tatkräftig und nachhaltig unterstützten. Dank an den

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Vorwort

Minister für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, der die Einladung der Referentinnen und Referenten ermöglichte und damit auch sein wissenschaftliches und forschungspolitisches Interesse bekundete. Dank aber auch all denen, die in der Sozialakademie Dortmund zur Organisation der Veranstaltung Wesentliches beitrugen, vor allem dem Herrn Regierungsamtsrat H.-H. Hotop, Herrn E. O. Nolle für deren vielfaltige organisatorische Hilfe. Ein ganz besonderes Wort des Dankes an Frau Brigitta Horoba, die über das Tagungssekretariat sicherstellte, daß vor allem die Nahtstellen zwischen organisatorischer Vorbereitung und wissenschaftlichen Beiträgen über die Referenten funktionierten, die auch für die Umschrift und Korrektur vieler Beiträge verantwortlich zeichnet. Dank auch allen übrigen, die durch Rat, Tat und stille Unterstützung wirkten. Die Sozialakademie Dortmund konnte damit ein Stück ihrer Funktion realisieren, die in der Vermittlung zwischen Wissenschaft, Politik und gewerkschaftlichen Interessen als einer „freien Lehr- und Forschungsstätte" (so die Satzung) liegt. Mögen alle, die diese Probleme und Themen diskutieren, Anregungen erfahren, auch im Widerspruch. Hans Pornschlegel

Inhaltsverzeichnis Hans Pornschlegel Einleitung

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Ilse Brusis Gewerkschaftstheorien in der Gewerkschaftspolitik aus der Perspektive des Deutschen Gewerkschaftsbundes

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I. Gewerkschaftstheorien und Gewerkschaftspolitik in unterschiedlichen Kulturkreisen

Jim Baker Gewerkschaftspolitische Entwicklungen in den Vereinigten Staaten von Amerika . . .

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Masami Nomura Betriebsgewerkschaften und Arbeiter in Japan

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Klaus Mehrens Gewerkschaftstheorien und Gewerkschaftspolitik in der Bundesrepublik und Europa

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II. Gewerkschaftstheorien in Einheitsgewerkschaften: Ansätze, Probleme, Perspektiven

Gerhard Leminsky Das Beispiel Deutscher Gewerkschaftsbund

67

Günter Bechtle Die italienische Version der Einheitsgewerkschafts als Aktionseinheit: Entstehung, Erfolg, Grenzen und Zerfall

Perygrin

79

Warneke

Bericht über die Diskussion des Themas „Gewerkschaftstheorien und Gewerkschaftspolitik in unterschiedlichen Kulturkreisen"

89

III. Gesellschaftspolitische Modelle in Gewerkschaftstheorien

Rudolf Meidner Das gesellschaftspolitische Modell der schwedischen Gewerkschaftsbewegung...

95

Peter Jansen Frankreichs „Modernisierung" der Gewerkschaftsbewegung?

105

Inhaltsverzeichnis

8

Peter Kühne Bericht über die Diskussionen des Themas „Gesellschaftspolitische Modelle in Gewerkschaftstheorien"

119

IV. Wirtschaftsdemokratie und -kontrolle in Gewerkschaftstheorien

Sabine Erbés-Séguin Kollektiwerhandlungen und Wirtschaftskontrolle in Frankreich

125

Ulrich Borsdorf Wirtschaftsdemokratie und Mitbestimmung

135

Hans Pornschlegel Bericht über die Diskussion des Themas „Wirtschaftsdemokratie und -kontrolle in Gewerkschaftstheorien"

155

V. Arbeitsmarkt und Kollektiwerhandlungen in Gewerkschaftstheorien

Sophie G. Alf Das Beispiel der italienischen Gewerkschaften

161

Walther Müller-Jentsch Arbeitsmarkt und Kollektiwerhandlungen in Gewerkschaftstheorien — Überblick

ein 179

Ilse Lenz Mikroelektronische Rationalisierung und Dynamisierung der Arbeitsmärkte: Herausforderungen für die japanischen Gewerkschaften

199

Wolfgang Böhm Bericht über die Diskussion des Themas „Arbeitsmarkt und Kollektiwerhandlungen in Gewerkschaftstheorien"

219

VI. Gewerkschaftspolitische Leitbilder für die Zukunft

Friedhelm Hengsbach Sozialethische und sozialpolitische Dimensionen

225

Fritz-Heinz Himmelreich Gewerkschaftstheoretische Leitbilder für die Zukunft — Perspektiven aus Arbeitgebersicht

237

Sophie G. Alf Gewerkschaftstheoretische Leitbilder fur die Zukunft — Ein Beitrag aus der Sicht italienischer Gewerkschaften

245

Hans Pornschlegel Auszüge aus der Podiumsdiskussion

249

Referenten, Diskussionsleiter und Berichterstatter der 18. Internationalen Tagung der Sozialakademie Dortmund

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Einleitung Von Hans Pornschlegel, Dortmund In einem Übersichtsbeitrag zur internationalen Situation der Gewerkschaften griff Lecher die Frage auf, ob die Gewerkschaften die Verlierer der Epoche seien. Nach einer glanzvollen Renaissance der Gewerkschaften nach dem II. Weltkrieg in den meisten westlichen Ländern, erscheinen diese heute manchen als eine Nachhut einer Periode raschen Wachstums in Industrie und Dienstleistungen, die abgelöst zu werden scheint von einer post-industriellen Ära. Während liberalistische Ideen und das Unternehmertum in einer Reihe westlicher Länder — so in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Großbritannien und in der Bundesrepublik — neuen Auftrieb erhielten, mit Etiketten wie „dynamisch, innovativ, flexibel, zukunftsorientiert und technologiefreundlich" versehen, heften manche gutmeinenden, aber mehr noch manche kritischen Beobachter den Gewerkschaften Attribute an, die nach gestern klingen: bürokratisch, ideologisch fixiert, verknöchert, klassenkampforientiert. Gibt es eine Gewerkschaftskrise oder spiegelt sich in den Gewerkschaften nur eine Krise wider, die den Arbeitsmarkt, die Weltwirtschaft, die Umbrüche in den nationalen Wirtschaften und in der Weltwirtschaft, die auch die Gesellschaften selbst erfaßt hat? Diese, hier schwarz-weiß skizzierten Fragen konnte die 18. Internationale Tagung der Sozialakademie Dortmund „Macht und Ohnmacht von Gewerkschaftstheorien in der Gewerkschaftspolitik", 26.-28. Nov. 1985 in Dortmund nur bedingt aufgreifen. Dies geschah in einer breiten Auffacherung in Maastricht, wo vom 22. bis 24. November 1985 das European Center for Work and Society eine Europäische Tagung mit dem Thema „Die Rolle der Gewekschaften im kommenden Jahrzehnt" abhielt. Diese Konferenz setzte sich mit der Rolle der Gewerkschaften in den einzelnen Nationen, im Unternehmen und am Arbeitsplatz, gegenüber verschiedenen Personengruppen und schließlich in der internationalen Verflechtung auseinander. Der Dortmunder Konferenz ging es —durchaus in inhaltlicher Abstimmung durch Behandlung dort nicht erörterter Probleme — um die Frage, welche theoretischen Konzepte Gewerkschaftspolitik bisher geleitet haben, welche Theorieansätze erkennbar sind, die auch in der Zukunft tragfähig oder erprobenswert erscheinen. Es steht dieser wissenschaftlichen Akademie gut an, als eine Lehr- und Forschungsstätte die Frage nach den theoretischen Konzepten zu stellen, die Programmatik, Strategien und Taktiken der Gewerkschaften bestimmen. M i t Theorien geht es um systematisch geordnete Mengen von Aussagen bzw. Aussagesätzen über den Bereich der Wirklichkeit oder des Denkens. In einer

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Einleitung

Welt, in der wirtschaftliches, soziales und politisches Handeln stark wissenschaftlich geprägt ist, gewinnt auch die entsprechende Fundierung gewerkschaftlicher Programmatik und Strategie an Bedeutung für die Sicherheit künftigen Handelns. Dies gilt auch für die Verortung und die politische Einschätzung von Gewerkschaften durch die Wissenschaft, die Politik, die Medien, den Bürger. Hier wurden daher ausgewählte, wenngleich zentrale Aspekte gewerkschaftlicher Theorien, aber auch Aspekte von Theorien über Gewerkschaften, zur Debatte gestellt. Die Anlage der Tagung geht davon aus, einen Überblick über wichtige Entwicklungslinien solcher Theorien (oder deren Hintergrund) in USA, in Japan, in Europa zu geben. Es werden diskutiert: — die besonderen Probleme und Bedingungen einheitsgewerkschaftlichen Denkens, — allgemeine gewerkschaftstheoretische Leitbilder für die Gesellschaft und — theoretisch fundierte Vorstellungen zur Wirtschaftsdemokratie im weiteren Sinne über die Wirtschafts- und Unternehmensverfassung, — schließlich solche für das Handeln auf den Arbeitsmärkten. Ansatzpunkte und Tragfähigkeit von Leitbildern einer künftigen Gewerkschaftspolitik bilden den Abschluß der Erörterung. Es wurde schon bei der Planung erkennbar, daß in einigen Feldern, in einigen Ländern gewerkschaftstheoretische Ansätze schwach ausgeprägt, kaum vorhanden sind, wie die Berichte und Diskussionen zeigen werden. Hier gibt es vielfach ein Vakuum — auch dies ein wissenschaftlich wie politisch gleichermaßen wichtiger Sachverhalt. Die Berichte spiegeln diese Theoriedefizite deutlich wider. Die Thematik berührt ein interdisziplinäres Feld unterschiedlicher gewerkschaftstheoretischer Ansätze mit teilweise langen Traditionen und empirischen Befunden über gewerkschaftliches Handeln und Gewerkschaftspolitik in ausgewählten westlichen Gesellschaften. Die Tagung sollte einen Überblick über den Forschungsstand und einen Erfahrungs- und Meinungsaustausch über den Komplex vermitteln. Es ist zu hoffen, daß der auf dieser Tagung erarbeitete Überblick über Theorien und Umsetzungsprobleme sich anregend auswirken wird auf — die weitere Diskussion und Fortentwicklung von Gewerkschaftstheorien, — die Rolle solcher Theorien in der praktischen Gewerkschaftspolitik, — die allgemeine wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Diskussion in verschiedenen Disziplinen, wie Sozialpsychologie, Organisationssoziologie, politische Wissenschaft.

Einleitung

Sicherlich können die Beiträge in einem solchen, durchaus beschränkten Rahmen kein Ersatz für umfangreiche und aufwendige Studien sein. Sie sollen eine Anstoßfunktion für Forschung und Lehre haben, aber auch für die Diskussion in und um Gewerkschaften.

Gewerkschaftstheorien in der Gewerkschaftspolitik aus der Perspektive des Deutschen Gewerkschaftsbundes Von Ilse Brusis, Düsseldorf Das Thema „Gewerkschaftstheorien" taucht immer dann in der innergewerkschaftlichen Auseinandersetzung auf, wenn weitreichende Entscheidungen über die zukünftige Rolle der Gewerkschaften bevorstehen oder gerade getroffen wurden. In der Geschichte der Gewerkschaften der Bundesrepublik lassen sich bisher zwei solche entscheidenden Auseinandersetzungen erkennen. Die eine liegt in den 50er Jahren, die andere am Ende der 60er Jahre. Die Kontroverse über Gewerkschaftstheorien in den 50er Jahren steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um das Betriebsverfassungsgesetz, die Mitbestimmung und die Remilitarisierung. Die zweite Kontroverse über Gewerkschaftstheorien in den Gewerkschaften steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die Große Koalition, die Konzertierte Aktion und die Notstandsgesetze. Vielleicht erleben wir heute eine dritte Kontroverse. Doch lassen Sie mich zunächst zu den beiden angedeuteten historischen Kontroversen etwas sagen, bevor ich mich in die aktuelle Auseinandersetzung begebe. Welche Bedeutung für die Konzeption von gewerkschaftlichen Handlungsstrategien eine Auseinandersetzung um Gewerkschaftstheorien zukommen kann, erkennt man, so meine ich, sehr gut an der Rede des DGB-Vorsitzenden Christian Fette vom 10. August 1952. Er sagte etwa einen Monat nach der Niederlage im Kampf um das Betriebsverfassungsgesetz: „Ich habe von den Gewerkschaften als einer öffentlichen, nichtstaatlichen Organisation gesprochen. Ich stehe nicht an, zu erklären, daß sie die öffentliche Organisation ist, die einzige, die einen maßgeblichen Einfluß im Staat mit Recht fordern kann. Denn über das Recht auf diesen Einfluß entscheiden drei Dinge: — die Konzeption, — die Zahl der hinter ihr stehenden Menschen und — der Wert der von diesen Menschen für das Allgemeinwohl geleisteten Arbeit. Weil die Gewerkschaften die Voraussetzungen erfüllen, die für ihre Charakterisierung als freie öffentliche Organisation entscheidend sind, weil sie die wesentlichste Funktion innerhalb des politischen Gemeinwesens erfüllen und weil sich ihr Interesse mit dem Interesse der Allgemeinheit deckt, deshalb haben

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Ilse Brusis

sie das Recht, ihre Stimme zu erheben, und die Pflicht, ihren Forderungen — wenn nötig — Nachdruck zu verleihen." Einige Passagen weiter in derselben Rede stellt Christian Fette die Frage: „ A u f welchen Gebieten der staatlichen Gesamtpolitik erstrecken sich denn nun die Ansprüche der Gewerkschaften auf Mitwirkung"? Er selbst gab darauf die Antwort: „ A u f alle, meine Damen und Herren!" In diese Rede des damaligen DGB-Vorsitzenden Christian Fette sind Beiträge verschiedener Diskutanten des „Europäischen Gesprächs" vom 28. - 30. Juli 1952 eingegangen. Das „Europäische Gespräch" war in den 50er Jahren eine Einrichtung des DGB, das im Rahmen der Ruhr-Festspiele stattfand. Das „Europäische Gespräch 1952" stand unter dem Motto „Die Gewerkschaften im Staat". Die Organisatoren des Gesprächs, das Kultur-Referat des DGB-Bundesvorstandes, hatten längere Zeit darüber beraten, ob der Titel der Veranstaltung „Staat und Gewerkschaften" oder „Gewerkschaften und Staat" lauten sollte. Beim ersten Vorschlag befürchteten sie, daß er zu demonstrativ Staat und Gewerkschaften gleichberechtigt auf eine Stufe stelle, während ihnen beim zweiten Vorschlag die Gefahr zu bestehen schien, es könnte daraus ein Vormachtsanspruch der Gewerkschaften gegenüber dem Staat abgeleitet werden. Während also der Titel der Veranstaltung die Vormachtstellung des Staates gegenüber den Gewerkschaften signalisierte, konnte der Inhalt der Rede Christian Fettes eindeutig als eine Kampfansage der Gewerkschaften an die Einschränkung gewerkschaftlicher Autonomie durch den Staat begriffen werden. Allerdings entsprach die Praxis der Gewerkschaften in der Auseinandersetzung um das Betriebsverfassungsgesetz nicht eindeutig den in der Rede von Christian Fette niedergelegten Prinzipien. Mir scheint, daß diese Konstellation auch ein Lehrstück für das Thema unserer Veranstaltung sein könnte. Betrachten wir die Theorie, die Grundlage dieser Rede war, so entdecken wir, daß Christian Fette hier Gedanken von Victor Agartz, Theo Pirker und anderen aufnimmt, die damals am Wirtschaftswissenschaftlichen Institut des DGB arbeiteten. Theo Pirker hat die in der Rede Fettes aufleuchtende Auffassung im Februar des Jahres 1952 in einem Aufsatz der Gewerkschaftlichen Monatshefte unter dem Titel „Die Gewerkschaften als politische Organisation" niedergeschrieben. Diese Konzeption war innerhalb der Gewerkschaften nicht unumstritten. Die Gewerkschaften hatten durch ihre Praxis deutlich gemacht, daß sie ihre Organisation nicht entsprechend diesem Konzept als politische Organisation sahen, denn im Unterschied zur Auseinandersetzung um die Mitbestimmung hatten sie in dieser Frage keinen Streik angedroht, sie erkannten die Entscheidung des Parlaments bezüglich des Betriebsverfassungsgesetzes ohne Kampfandrohung an. Während sie also in der Auseinandersetzung um die Montanmitbestimmung, die Legitimität der Entscheidungen, die gegen die Gewerkschaften gerichtet waren, durch die Androhung des Streiks infrage stellten — und damit gaben sie auch zu erkennen, daß sie bereit waren, als „politische Organisation" aufzutreten —,

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verzichteten sie auf eine solche Vorgehensweise in der Auseinandersetzung um das Betriebsverfassungsgesetz. Damit verzichteten sie in dieser Auseinandersetzung auf den von Christian Fette formulierten Anspruch, in allen politischen Fragen mitzuwirken. Trotz dieser Praxis verwendete Christian Fette nach der Niederlage im Kampf gegen das Betriebsverfassungsgesetz die Formulierung „Gewerkschaften seien ein öffentlicher nichtstaatlicher Verband". Dies war exakt die theoretische Definition, aus der Theo Pirker und andere die Pflicht der Gewerkschaften ableiteten, sich in der Auseinandersetzung um die Betriebsverfassung und später auch um die Remilitarisierung gegen Beschlüsse des Parlaments zu engagieren, ja gegen Beschlüsse des Parlaments gewerkschaftliche Kampfmittel einzusetzen. A m Ende der 60er Jahre erlebten wir in den Gewerkschaften erneut eine Auseinandersetzung um die Gewerkschaftstheorien. Diese Auseinandersetzung ging einher mit dem Kampf der Gewerkschaften gegen die Notstandsgesetze und dem Ringen um die Position zur Beteiligung der Gewerkschaften an der Konzertierten Aktion. Einen wesentlichen Schub erhielt diese Auseinandersetzung durch die wilden September-Streiks 1969. Im März 1970 veranstaltete die DGB-Bundesschule Bad Kreuznach eine Tagung „Gewerkschaftstheorie heute". Der DGB-Vorsitzende Heinz-Oskar Vetter hielt auf dieser Tagung ein Grundsatzreferat, in dem er sich mit der Bedeutung des Grundsatzprogrammes der Gewerkschaften von 1963 für die zukünftige Politik der Gewerkschaften auseinandersetzte. I m Abschluß seiner Rede sagte Vetter: „Das Grundsatzprogramm des DGB trägt den Forderungen unserer Zeit weitgehend Rechnung. Die in ihm zum Ausdruck kommende Theorie spiegelt in überzeugender Weise die Tatsache wider, daß der DGB eine Einheitsgewerkschaft ist, in der alle weltanschaulichen Arbeitnehmergruppen sich zu gemeinsamer Arbeit und damit zur Durchsetzung gemeinsamer Ziele zusammengefunden haben. I n den Gewerkschaften vollzieht sich ein ständiger demokratischer Willensbildungsprozeß, an dem alle weltanschaulichen Gruppen gleichen Anteil nehmen. Eine eindeutige Zuordnung der im DGB-Grundsatzprogramm formulierten Gewerkschaftstheorie zu einer bestimmten Meinungsgruppe ist deshalb nicht möglich. Diese Eigenständigkeit unserer Organisation und damit auch unserer Theorie ist offenkundig." Damit erklärte Vetter die Kontroverse der 50er Jahre um die Theorie von Gewerkschaften als nicht-staatlichen, öffentlichen Verband für abgeschlossen. Denn die Theorie von Gewerkschaften als öffentlicher, nicht-staatlicher Verband und politische Organisation war ja davon ausgegangen, daß die Einheitsgewerkschaft keine proportional unter den politischen Fraktionen aufgeteilte Gewerkschaft sei, sondern eine Einheitsgewerkschaft, die ohne die Vermittlung über die politischen Parteien selbständig auf das Parlament Einfluß nehmen konnte und sollte. Heinz-Oskar Vetter hingegen ging in seiner Rede ausdrücklich von der Trennung von politischen und gewerkschaftlichen Aufgaben aus.

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Für politische Aufgaben hält er lediglich die Parteien für zuständig. Dagegen, so Vetter, seien von größter Wichtigkeit Theorien, die sich mit dem Einstellungswandel der Gewerkschaftsmitglieder wie auch der Nicht-Mitglieder zu den „Auswirkungen des sozialen Wandels in einer entwickelten Industriegesellschaft" befaßten. Denn gerade die Nicht-Wahrnehmung der Bedeutung der Gewerkschaften in der Öffentlichkeit zwinge die Gewerkschaften, sich stärker mit Gewerkschaftstheorien auseinanderzusetzen. Als Grundzug der modernen Arbeitnehmermentalität analysierte Vetter die Tendenz zur „Individualisierung" und „Personalisierung". Die Gewerkschaften würden vielfach als „Dienstleistungs- und Versicherungsbetriebe" verstanden, deren Aufgabe es sei, optimale Leistung zu erbringen. Dem Zug der Zeit folgend, werde eine zunehmende, an materiellen Fragen orientierte Motivierung der Arbeitnehmer erkennbar. Weniger die Ideologie, sondern mehr der materielle Erfolg stünden im Vordergrund der Interessen. Von heute aus gesehen läßt sich sagen, Heinz-Oskar Vetter hatte 1970 richtig erkannt, daß nur eine Minorität von Gewerkschaftern und Gewerkschafterinnen auf eine Reaktivierung der Gewerkschaften als öffentlicher Verband, als politisch handelnde Organisation setzte. Entscheidend für die zunehmende Zustimmung zu gewerkschaftlicher Politik waren die großen lohnpolitischen Erfolge der Gewerkschaften in der ersten Hälfte der 70er Jahre. Die noch von Ernst Mandel auf der Tagung 1970 angenommene zunehmende Entfremdung zwischen Gewerkschaftsorganisation und Mitgliedern aufgrund der Mitarbeit der Gewerkschaften an der Konzertierten Aktion, traf nur für geringe Teile der Mitgliedschaft zu. Insgesamt verzeichneten wir in den 70er Jahren einen steigenden Organisationsgrad; meines Erachtens wurden hierdurch auch die Bemühungen auf dem gewerkschaftstheoretischen Gebiet nicht in dem Maße vorangetrieben, wie Heinz-Oskar Vetter es noch 1970 für notwendig hielt. Die beiden von mir skizzierten Situationen in den 50er und am Anfang der 70er Jahre haben eines gemeinsam: Die Auseinandersetzung von Gewerkschaften mit Gewerkschaftstheorien findet funktional statt. 1952 ist der Traum der gesellschaftlichen Neuordnung durch politische Initiative der Gewerkschaften endgültig ausgeträumt, folglich für die Theorie von den Gewerkschaften als „öffentlicher Verband" aus der gewerkschaftlichen Argumentation herausgenommen. Diese verwandelt sich in einen Bestandteil der — uns oft vorgeworfenen — Sonntagsreden oder Drohgebärden. Ende der 60er Jahre und zu Beginn der 70er Jahre erkennen die Gewerkschaften, vor allem im Zusammenhang der wilden September-Streiks 1969, einen Vertrauensverlust ihrer Mitglieder. Als dieser jedoch nicht in dem Maße eintritt, wie er von zumeist linken Kritikern prognostiziert wird, verliert die Diskussion um den „Funktionswandel der Gewerkschaften" — dies war das damalige Schlagwort — seine Bedeutung. Dieser funktionale Umgang von Gewerkschaf-

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ten mit Gewerkschaftstheorien findet meines Erachtens seine Begründung darin, daß jede politische Theorie implizit in ihren eigenen Kriterien bereits normative, d. h. handlungsrelevante Aussagen enthält. Diese Aussagen können — wie an den zwei Beispielen gezeigt — in Konflikt mit den von den Gewerkschaften selbst aufgestellten Handlungsnormen kommen. Wenn man davon ausgehen müßte, daß die Gewerkschaftstheoretiker uns sagen müßten, was wir wollen, welche Ziele wir haben und welche Handlungsstrategien wir zu wählen hätten, dann wäre dies sicherlich eine Schwäche der Gewerkschaften. Denn ζ. B. die Theorie von Gewerkschaften als öffentlicher, nicht-staatlicher Verband enthält ja gleichzeitig die Konzeption bzw. Handlungsaufforderung an die Gewerkschaften, sich als politische Organisation zu betätigen, daß heißt die gewerkschaftlichen Kampfmittel auch in einer politischen Auseinandersetzung einzusetzen. Darüber können jedoch nicht die Theoretiker, sondern müssen wir, als die Verantwortlichen, entscheiden. Und in der Tat ließe sich von einer Schwäche der Gewerkschaft reden, falls es wahr wäre, daß wir über die Beweggründe und Ziele unseres Handelns nicht selbst Auskunft geben könnten. Gewerkschafter wie auch Wissenschaftler sollten sich dieser Spannung immer bewußt bleiben. Veranstaltungen und Kongresse, auf denen versucht wird, diese Spannung herunterzuspielen oder gar zu verschweigen, führen meines Erachtens zu nichts, denn Lernen kann so nicht stattfinden. In der Auseinandersetzung mit Gewerkschaftstheoriei^können meines Erachtens sowohl die Wissenschaftler als auch wir Gewerkschafter lernen, gegenseitig unsere Handlungsnormen auf ihre Gültigkeit hin zu befragen. Die Theoretiker, die in den 50er Jahren die Konzeption der Gewerkschaften als „öffentlichen Verband" konzipiert und die dann ähnlich wie ζ. B. Pirker zur Auffassung gelangten, die Gewerkschaften seien eine „blinde Macht", sprechen heute von einem „Ende der Arbeiterbewegung". Ähnlich argumentieren heute diejenigen, die in den 60er Jahren vom Funktionswandel der Gewerkschaften sprachen, mit dem „Abschied vom Proletariat". Schon die gewählten Begriffe lassen erkennen, daß diese Themen („Ende der Arbeiterbewegung", „Abschied vom Proletariat") funktional keinesfalls die Ansprüche der Gewerkschaftsbewegung in der Öffentlichkeit legitimieren können. Allerdings wissen wir selbst nur zu gut, daß die Kritik eines nicht geringen Teils unserer Mitglieder an unserer Organisation darin besteht, daß sie nicht mehr das leistet, was sie in den 70er Jahren leistete. Sie kann es auch nicht mehr, denn die Spielräume, die wir in den 60er Jahren ausnutzen konnten, existieren heute ökonomisch nicht mehr. Die Kritik besteht gerade darin, daß wir ihnen den Schutz, den sie von einer Versicherung erwarten, heute oft nicht bieten können. Das heißt, sie sehen uns gerade als die Versicherung, die wir nie sein wollten. 2

Tagung Dortmund 1985

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Andererseits wissen wir, daß viele uns gar nicht zutrauen, mit den Problemen, die sie selbst für wesentlich halten, zum Beispiel Umweltzerstörung, fertig zu werden, ja, sie halten uns unter Umständen für diese Probleme gar nicht zuständig. Die Theorien oder Meinungen, die vom „Ende der Arbeiterbewegung" sprechen oder vom „Abschied vom Proletariat", reflektieren diese Stimmungen, und als solche haben wir sie sehr ernst zu nehmen. Wenn ich zum Ende meiner Ausführungen noch einmal die Frage nach Macht und Ohnmacht der Gewerkschaftstheorie in der Gewerkschaftspolitik stelle, so muß ich der Aussage, die Gewerkschaften setzten sich mit Gewerkschaftstheorie funktional auseinander, hinzufügen, daß wir heute unsere eigenen Mängel nicht nur beklagen dürfen, sondern uns beispielsweise mit den Theorien auseinandersetzen müssen, die uns diese Mängel erklären. Ob wir in dieser Phase der Reflexion am „Ende" sind, wage ich zu bezweifeln. Allerdings könnte sich herausstellen, daß Theoretiker und Theorien, die in den 50er, 60er und 70er Jahren nicht funktional waren, uns heute doch eine ganze Menge zu sagen haben. Denn eines ist klar: Den Vertrauensverlust, den uns einige Mitglieder konstatieren, gilt es aufzuheben. Dies werden wir nur dann können, wenn wir Kompetenz Zugewinnen.

I. Gewerkschaftstheorien und Gewerkschaftspolitik in unterschiedlichen Kulturkreisen

Gewerkschaftspolitische Entwicklungen in den Vereinigten Staaten von Amerika Von Jim Baker, Paris

Die Vereinigten Staaten standen und stehen vor einer Reihe von Problemen in Staat und Gesellschaft, die in ähnlicher Form auch den deutschen Gewerkschaften zu schaffen machen. Das schwere Problem der Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten wurde schon angesprochen. Auch bei uns gibt es gravierende Arbeitslosenziffern mit schwerwiegenden individuellen Folgen. Der Oberbürgermeister dieser Stadt sagte heute früh: „Wie kann jemand in Frieden schlafen, wenn es gleichzeitig über zwei Millionen Arbeitslose gibt". Ich möchte hier D. Frazer, einen amerikanischen Gewerkschaftsführer zitieren, der auch gefragt wurde, wie er denn schlafen könne. Er sagte: „Ich schlafe wie ein Säugling: eine Stunde Schlaf, eine Stunde Weinen, eine Stunde Schlaf, eine Stunde Weinen In einem tiefgreifenden Wandel geht der Trend von den Verarbeitungsindustrien zum Dienstleistungssektor. Wie dramatisch diese Veränderungen sind, mag folgendes Beispiel verdeutlichen: Während es 1940 300 Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe gegenüber je 100 in den Dienstleistungsbereichen gab, hat sich das Verhältnis 1980 in 113:100 geändert. Dies brachte große Probleme für die gesamte Gesellschaft, noch größere für die Gewerkschaften. Die traditionellen Bereiche der Produktion waren es, in denen die Gewerkschaften gut organisiert waren; diese Sektoren befinden sich in einer rückläufigen Entwicklung. Der Dienstleistungssektor, in dem die Gewerkschaften traditionell schwach vertreten waren, breitet sich aus. Im Ergebnis führt dies zu einem erheblichen Verlust an Mitgliederzahlen für die Gewerkschaften. Die Gewerkschaften haben es auch bisher nicht vermocht, dort genügend neue Mitglieder zu gewinnen. Zu all dem kommt eine starke antigewerkschaftliche Welle, die uns entgegenschlägt, ζ. B. in Form von Unternehmensberatern, deren Aufgabe es ist, Gewerkschaften zu schwächen und zu zerstören. In einem gewissen Sinne läßt sich diese Entwicklung als ein „Klassenkampf" bezeichnen, der von oben inszeniert wird. Diese antigewerkschaftliche Strömung nimmt vielfältige Formen an: Dazu zählen so altmodische Methoden wie das Feuern von Arbeitnehmern wegen gewerkschaftlicher Aktivitäten, was den übrigen Arbeitnehmern Furcht einflößen soll. Eine modernere, raffiniertere Form besteht darin, den Arbeitnehmern das Gefühl zu vermitteln, daß sie in den Unternehmen bestens

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aufgehoben seien und dort auch die Möglichkeit hätten, Einfluß zu nehmen. Diese Aufzählung könnte noch erheblich ausdifferenziert werden; mir scheint jedoch, daß die Hauptprobleme damit hinreichend skizziert sind, um die es geht. Die Beteuerungen mancher Arbeitgeber in Form von Kooperationsangeboten sind daher mit äußerster Skepsis zu betrachten. Das bedeutet andererseits nicht, daß wir nicht gerne mit den Arbeitgebern zusammenarbeiten wollen, wenn diese bereit sind, unsere Existenz und unsere Funktion in vollem Umfang anzuerkennen. Es liegt in jedermanns Interesse, daß beide Seiten Wege und Möglichkeiten zur Kooperation finden, mit der die Interessen der Unternehmen und der Arbeitnehmer weiterentwickelt werden können. Wenn jedoch die Unternehmen mit Strategien spielen, mit denen das Vertrauen der Arbeitnehmer gewonnen, die Vertrauensbasis der Gewerkschaften jedoch zerstört werden sollte, sind wir daran nicht interessiert. Es läßt sich auch in bestimmten Unternehmerkreisen, auch über unser Land hinaus, ein Denken feststellen, das von einer „natürlichen Wirtschaftsordnung" ausgeht, die einen „vollkommenen Arbeitsmarkt" unterstellt. In diesen Vorstellungen gibt es nur schwache Gewerkschaften, oder die Gewerkschaften kommen darin überhaupt nicht vor. In unserer Vorstellung von einer „natürlichen Ordnung" gibt es als entscheidende Faktoren Gewerkschaften und die Solidarität der Arbeitnehmer. Überall in der Welt, wo Gewerkschaften zugelassen sind, existieren diese. Und selbst dort, wo die Organisation von Arbeitnehmern verboten ist, lebt die Solidarität der Arbeitnehmer. Das Beispiel Polen hat eindrucksvoll gezeigt, wie in ganz kurzer Zeit eine machtvolle freie Gewerkschaftsbewegung entstehen konnte. Ähnliches gilt für das rasche und kräftige Erstarken der „schwarzen" Gewerkschaften in Südafrika, die unter ähnlich schwierigen Bedingungen arbeiten müssen. Diese Beispiele machen klar, welche Kraft die Solidarität der Arbeitnehmer und ihre Organisationen darstellen, ohne Rücksicht darauf, welche Regime herrschen. Wenn Arbeitnehmer einmal die Erfahrung der eigenen Organisation gemacht haben, daran Geschmack gefunden haben, ist es außerordentlich schwer, solche Organisationen wieder zu zerstören. Diese Entwicklungen führen zu unüberwindlichen Veränderungen in den Gesellschaften, welche diese nachhaltig beeinflussen. Der Dachverband der amerikanischen Gewerkschaften AFL-CIO geht derzeit durch einen Prozeß der internen Klärung hinsichtlich seiner Strategien für die Zukunft. Es wird analysiert, was richtig, was falsch gemacht wurde und wird. AFL-CIO versucht, die Kommunikation mit den Arbeitnehmern, mit den Arbeitnehmervertretern ebenso zu verbessern wie die Operationsbasis in den Betrieben. Die Stärke von AFL-CIO liegt ganz in den Händen der angeschlossenen Einzelgewerkschaften und deren Mitgliedern. Es ist deren grundlegende Aufgabe zu organisieren, Tarifverhandlungen zu führen und Dienstleistungen für die Mitglieder bereitzustellen. Die Rolle von AFL-CIO ist es eher, das Los der Arbeitnehmer in der Gesellschaft im Ganzen zu verbessern durch politische

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und legislative Aktivitäten sowie durch die Koordinierung des Vorgehens der angeschlossenen Einzelgewerkschaften. Die letzten Jahre machten uns klar, daß wir uns nicht länger auf den Schutz der Arbeitnehmer durch Schutzgesetze verlassen können, da diese schwach sind, unzureichend interpretiert oder gar nicht angewandt werden. Die Unternehmer haben mit ihren Beratern Mittel und Wege gefunden, diese Gesetze in unverschämter Weise zu verletzen. Wir müssen daher alles tun, um die Kommunikation mit unseren Mitgliedern zu verbessern. Dabei geht es nicht nur um die Mitglieder, die mit Problemen zu uns kommen, sondern auch um diejenigen, die keine besonderen Probleme haben. Es gibt hierzu Pilotprojekte in einigen Staaten, in denen versucht wird, die Kommunikation mit den einzelnen Mitgliedern zu verbessern. Im Rahmen unserer Gesetze muß die Gewerkschaft eine Wahl in einem Betrieb gewinnen, wenn sie die Arbeiter in diesem Betrieb vertreten und als Verhandlungspartei anerkannt sein will. Dies führte dazu, daß wir in diesem Land Hunderttausende, ja Millionen von Arbeitnehmern haben, die zwar schon für eine gewerkschaftliche Vertretung gestimmt haben, die aber niemals selbst in den Genuß einer solchen kamen. Es breitet sich daher immer mehr die Überzeugung aus, daß Mittel und Wege gefunden werden müssen, um all die Menschen in irgendeiner Form gewerkschaftlich zu organisieren, die für den Gewerkschaftsgedanken aufgeschlossen sind, bisher aber keine angemessene Vertretung in ihren Betrieben gefunden haben. Wenn in einem Betrieb bisher eine Wahl zur Anerkennung einer Gewerkschaft verloren ging, waren die Stimmen all derer, die dafür waren, verloren. Wir meinen, daß wir uns um diese Wähler weiterhin kümmern und mit ihnen in Kontakt bleiben sollten. Eine solche Art Mitgliedschaft wäre auch für diejenigen offen, die ihren Arbeitsplatz wegen Betriebsschließungen verloren haben oder die aus anderen Gründen arbeitslos sind. Wir unternehmen neue und erhebliche Organisationsanstrengungen in den neuen Dienstleistungssektoren, in den Bereichen des öffentlichen Dienstes, wo wir erheblich an Mitgliedern gewinnen konnten, was wenigstens teilweise die Verluste an Mitgliedern aus den Grundindustrien ausgeglichen hat. Wir bemühen uns auch um eine verbesserte Kommunikation mit der amerikanischen Öffentlichkeit. Wie Sie wissen, ist gerade in den USA das Fernsehen hierbei von ausschlaggebender Bedeutung. So sind wir bemüht, Gewerkschaftsfunktionären auf nationaler, staatlicher und regionaler Ebene die Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vermitteln, die sie brauchen, um erfolgreich im Fernsehen auftreten zu können. Es werden Fernsehprogramme gestaltet, die im ganzen Land verbreitet werden. Wir drängen angeschlossene Gewerkschaften, sich innerhalb von A F L - C I O zusammenzuschließen, obwohl wir sie dazu nicht zwingen können. Wir haben derzeit 96 angeschlossene nationale Einzelgewerkschaften. Wir haben auch heute noch viele Einzelgewerkschaften, die in der gleichen Branche organisieren und aktiv sind; dies ist völlig anders als bei Ihnen in der Bundesrepublik Deutschland, wo der Deutsche Gewerkschaftsbund 17 Einzelgewerkschaften hat. Diese Entwicklungen weisen auf eine sehr lebhafte

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und spannende Auseinandersetzung in den Gewerkschaften, die sich vor allem um deren künftige Rolle in der Gesellschaft und Wirtschaft dreht. Allen diesen Bestrebungen liegt die Überzeugung zugrunde, daß alle Arbeiter das Recht haben, sich zu organisieren, das Recht haben müssen, dieses auch auszuüben, ohne daß die Unternehmen oder die Regierung hierbei eine beherrschende Rolle spielen dürfen. Der Vorzug unserer internationalen Arbeit liegt darin, daß sie unsere eigenen Ziele und Probleme in eine übergreifende Perspektive einbringt. Wir alle haben, ohne Rücksicht auf nationale und politische Herkunft, das Recht, für unsere Interessen zu kämpfen. Das ist der Schlüssel zu unserer nationalen Existenz, aber auch zu unseren internationalen Aktivitäten. Das Recht auf Vereinigungsfreiheit, auf Koalitionsfreiheit ist das fundamentale Anliegen, das alle freien Gewerkschaften in der Welt zusammenbindet, wie AFL-CIO und den DGB. Dieses Grundrecht kommt uns nicht nur als Gewerkschaften und Gewerkschafter zu, es liegt auch der Ausübung aller anderen Grundrechte zugrunde. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ist ohne Bedeutung, wenn nicht gleichzeitig gewährleistet ist, daß es wirksam organisiert und ausgeübt werden kann. Das Grundrecht auf Freiheit der Religion und ihre Ausübung ist bedeutungslos, wenn das Bilden von Kirchen und religiösen Gemeinschaften nicht zugelassen ist. Insoweit liegt hier eine Grundfrage sowohl der Gewerkschaftsrechte als auch der Menschenrechte. Hier ist ein Faktor, den wir nicht aus den Augen lassen dürfen, wenn wir Frieden und Abrüstung in der Welt herbeiführen wollen. Wir müssen uns daran erinnern, daß wir diese Forderungen aufstellen können, weil wir die Grundrechte der Koalitions- und Meinungsfreiheit haben, gewisse demokratische Grundrechte, weil wir das Recht haben, unsere Regierungen offen und öffentlich anzugreifen. Wir können eigene Kandidaten für öffentliche Ämter aufstellen, und wir brauchen keine Furcht zu haben, daß wir wegen solcher Aktivitäten in Gefängnissen oder psychiatrischen Stationen landen. Weil wir, insbesondere in den Vereinigten Staaten, diese Grundrechte gesichert wissen, blicken wir, trotz mancher Probleme, optimistisch in die Zukunft. Die Probleme, denen die amerikanische Gewerkschaftsbewegung gegenübersteht und die gewerkschaftsfeindlichen Aktivitäten der Unternehmer haben Vorläufer in der amerikanischen Geschichte. Die grundlegende Notwendigkeit für die Existenz von Gewerkschaften besteht nach wie vor und wird nicht vergehen. Wir unternehmen alles, um unsere derzeitigen Schwierigkeiten zu überwinden, und wir werden sie überwinden, trotz der unternehmerischen Gegenkampagne. Wie Abraham Lincoln sagte: „ D u kannst einige Leute einige Zeit zum Narren halten; D u kannst einige Leute ständig zum Narren halten, doch Du kannst niemals alle Menschen auf Dauer zum Narren halten!" Übersetzung: Hans Pornschlegel

Betriebsgewerkschaften und Arbeiter in Japan Von Masami Nomura, Okayama Japan Nach der Ölkrise 1973 zeigte die japanische Wirtschaft „gute Leistungen" mit relativ hohen Wachstumsraten (durchschnittlich 4,5 % in den Jahren 197584) und niedriger Arbeitslosigkeit (2,7 % im Jahre 1984). Die aggressive Exportoffensive hat dazu viel beigetragen. Es ist oft gesagt worden, daß die japanischen kooperativen und flexiblen Industrial Relations die Exportoffensive ermöglichten, und daß die Betriebsgewerkschaft eine Grundlage solcher Industrial Relations ist. Vom Standpunkt der europäischen Manager erscheint Japan als „Modell Japan". Für die europäischen Gewerkschaften bedeutet Japan eine „Exportdrohung gegen die Gewerkschaften" (Dettloff/Kirchmann 1981). M i r scheint, im Streit um das „Modell Japan" in den europäischen Ländern sind die Informationen über die japanischen Industrial Relations noch mangelhaft. In diesem Papier möchte ich zuerst einige Besonderheiten der japanischen Betriebsgewerkschaften skizzieren. Dann werde ich auf die Entstehungsgeschichte eingehen. Danach werde ich die Gewerkschaftspolitik in den 80er Jahren darstellen. Dabei lege ich den Schwerpunkt auf die Beziehungen zwischen den Gewerkschaften und der japanischen Gesellschaft. I. Organisationsform der Betriebsgewerkschaft Es gibt auch in Japan Industriegewerkschaften wie die deutsche Industriegewerkschaft Metall (ζ. B. die Industriegewerkschaft der Seeleute); aber über 90 % aller Organisierten sind in Betriebsgewerkschaften zusammengeschlossen. Wichtige Besonderheiten der Betriebsgewerkschaften sind: (1) In den meisten großen Betrieben gibt es drei Kategorien von Arbeitnehmern: Stammarbeitnehmer, Arbeitnehmer auf Zeit, und Sub-Kontrakt-Arbeitnehmer (Shagaiko). Unter diesen können sich nur die Stammarbeitnehmer in der Betriebsgewerkschaft zusammenschließen. Auf Zeit beschäftigte Arbeitnehmer sind unorganisiert. Sub-Kontrakt-Arbeitnehmer sind ebenfalls meistens unorganisiert. Wenn die Betriebsgewerkschaft der Stammarbeitnehmer sich entschließt, die Gründung separater Betriebsgewerkschaften für die SubKontrakt-Arbeitnehmer zu unterstützen, dann haben diese Arbeitnehmer Chancen, eine Gewerkschaft zu organisieren. Unabhängig vom Einfluß der Betriebsgewerkschaft der Stammarbeitnehmer eine eigene Gewerkschaft zu gründen, ist für die Sub-Kontrakt-Arbeitnehmer sehr schwierig, weil eine solche

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Gewerkschaft starkem Druck von der Seite der Betriebsgewerkschaft der Stammarbeitnehmer und des Managements des Stammbetriebes ausgesetzt ist. (2) In den meisten Großunternehmen wird ein Neueingestellter, gleichgültig ob er Angestellter oder Arbeiter ist, automatisch Mitglied der Betriebsgewerkschaft auf Grund der „union-shop"-Vereinbarung. Der Gewerkschaftsbeitrag wird monatlich vom Management abgezogen und an die Betriebsgewerkschaft abgeliefert. Dieses System schwächt das Mitgliedschaftsbewußtsein. Wenn der Arbeitnehmer beim Erreichen des meist bei 60 Jahren liegenden Pensionierungsalters oder aus eigenen Motiven aus dem Unternehmen austritt, verliert er die Mitgliedschaft in der Betriebsgewerkschaft automatisch. Da die Betriebsgewerkschaft heterogene Elemente organisiert, wird sie sich in der Regel in einem großen Arbeitskonflikt spalten. Der typische Spaltungsprozeß läuft wie folgt ab: M i t der Verlängerung des Arbeitskampfes verbreiten sich unter den Arbeitnehmern Befürchtungen, das Unternehmen gehe unter. Nach geheimen Kontakten mit dem Management gründen die Angestellten und „Meister" eine zweite Betriebsgewerkschaft. Sie propagiert aktiv, daß die Linken nur den Zusammenbruch des Unternehmens wollen, und daß die Arbeitnehmer damit ihre Arbeitsplätze verlieren. Auf der anderen Seite bedroht das Mangagement die kämpfenden Gewerkschaftsmitglieder mit massiven Entlassungen. Dann tritt die Mehrheit der Arbeitnehmer in die zweite Betriebsgewerkschaft über. Nach dem Kampf existieren zwei Betriebsgewerkschaften nebeneinander. Trotz der geringen Mitgliederzahl kann die Minderheitsgewerkschaft (die erste Gewerkschaft) größeren Einfluß auf die innerbetrieblichen Industrial Relations mit aktiver und heftiger Kritik an der Mehrheitsgewerkschaftspolitik ausüben. (3) Die meisten Betriebsgewerkschaften schließen sich zu einer Branchenföderation zusammen, wie die Branchenföderation der Automobil-Arbeitnehmer, oder die Branchenföderation der Eisen- und Stahlindustrie-Arbeitnehmer usw. Aber solche Branchenföderationen sind nur „Föderationen" der Betriebsgewerkschaften. Die einzelne Betriebsgewerkschaft behält ihre volle Selbständigkeit — Satzung, Finanzen, Auswahl der Funktionäre und das Streikrecht. Die Funktionäre der Branchenföderation werden von den großen Betriebsgewerkschaften nominiert. Sie sind also mehr Vertreter der Betriebsgewerkschaft als Leiter der Branchenföderation. Wenn eine Branchenföderation sich zum Streik entschließt, bedeutet das, daß sie den einzelnen Betriebsgewerkschaften „Streik" empfiehlt. Die einzelnen Betriebsgewerkschaften haben zu entscheiden, ob sie den Streik tatsächlich beginnen. Die Branchenföderation wird mit den nach den Mitgliederzahlen festgelegten Beiträgen der einzelnen Betriebsgewerkschaften finanziert. U m Beiträge an die Branchenföderation zu sparen, gibt die Betriebsgewerkschaft oft falsche Mitgliederzahlen an. Seit langem wird behauptet, daß es unbedingt nötig ist, die Branchenföderation zu stärken, um den Einfluß der Gewerkschaften auf Industrie und Gesellschaft zu vergrößern. Die

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Reformen wurden durch den Betriebsegoismus gebremst. In einigen Bereichen, wie der Eisen- und Stahlindustrie oder den Privateisenbahnen, wo die Konkurrenz zwischen den Unternehmen nicht so stark ist, konnten die Branchenföderationen ihren Einfluß auf die Betriebsgewerkschaften verstärken. (4) Die Funktionäre der Betriebsgewerkschaft sind zugleich die Arbeitnehmer des betroffenen Betriebs. Auch die hauptamtlichen Funktionäre geben ihre Betriebszugehörigkeit nicht auf. Wenn sie aus dem Unternehmen austreten, müssen sie auch die Betriebsgewerkschaft verlassen. Die Betriebsgewerkschaft beschäftigt einige Angestellte, aber sie sind bloße Hilfskräfte und haben kein Recht auf die Verwaltung der Organisation. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die hauptamtlichen Funktionäre vom Unternehmen finanziert. Damals bedeutete diese Praxis keineswegs, daß die Betriebsgewerkschaft eine „gelbe" war. Finanzierung des Gehalts der hauptamtlichen Funktionäre durch das Unternehmen wurde als errungenes Recht der kämpfenden Gewerkschaft betrachtet. M i t dem revidierten Gewerkschaftsgesetz vom Jahre 1949 wurde diese Praxis verboten. Auch danach hatten die Betriebsgewerkschaften keine eigenen Gehaltstabellen für die hauptamtlichen Funktionäre. Das Gehalt des hauptamtlichen Funktionärs wird entsprechend dem Gehalt oder dem Lohn festgelegt, den er bekäme, wenn er nicht zum hauptamtlichen Funktionär gewählt worden wäre, sondern als normaler Arbeitnehmer den ganzen Tag für das Unternehmen arbeiten würde. Der Hauptgrund dafür liegt in den Besonderheiten der Karriere der hauptamtlichen Funktionäre. Es gibt ganz wenige Arbeitnehmer, die hauptberufliche Funktionäre werden wollen. Die überwiegende Mehrheit der gewählten hauptamtlichen Funktionäre kehrt zu ihren ehemaligen Arbeitsplätzen zurück, nachdem sie mehrere Jahre in der Betriebsgewerkschaft gedient haben. Die Verlängerung der Amtszeit hätte für sie zur Folge, daß die Rückkehr zum Arbeitsplatz schwieriger würde, weil wegen der raschen Innovationen ihre Fachkenntnisse veralten. U m die innerbetriebliche Karriere zu sichern, wollen sie so bald wie möglich auf ihre Arbeitsplätze zurückkehren, gleichgültig ob sie aus der Produktion kommen oder aus dem Angestelltenbereich. Warum ist der Beruf der Gewerkschaftsfunktionäre so reizlos? Es gibt zwei Gründe dafür: Erstens hat der Gewerkschaftsfunktionär in der japanischen Gesellschaft keinen hohen Status. Trotz der Tatsache, daß nicht wenige Führer der Branchengewerkschaften oder der nationalen gewerkschaftlichen Zentren sich an den Beratungskomitees der nationalen oder lokalen Regierungen beteiligen, wird ihre Stellung nicht hoch bewertet. Die linken Intellektuellen betrachten sie oft als „Gewerkschaftsbonzen", und die Konservativen sehen in ihnen bloße Unruhestifter. Der niedrige Rang der hauptamtlichen Funktionäre muß aber als Ausdruck der sozialen Lage der Lohnarbeiter betrachtet werden. Die Lohnarbeiter selbst halten sich für minderwertiger als die Angestellten und die anderen „geistigen" Berufe. A u f diese Mentalität werde ich später noch näher eingehen.

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Der zweite Grund ist der Mangel an solider Organisation der Betriebsgewerkschaft. Nicht selten wird die Gewerkschaft als bürokratisch kritisiert. Aber wenn man sie mit den europäischen Gewerkschaften vergleicht, dann kann man sagen, daß die Bürokratie in den japanischen Gewerkschaften unterentwickelt ist. Das wird gerade an der Karriere des hauptamtlichen Funktionärs deutlich. Die japanische Gewerkschaft hat keine bestimmten Aufstiegswege für den Funktionär wie in der Bundesrepublik Deutschland. Dazu hat die Idee der „Basisdemokratie" sehr beigetragen. Diese Idee hat ihre Wurzeln in der „Demokratisierungsbewegung" unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals war „Demokratisierung" die Parole der Zeit. Die Gewerkschaft wurde als einer der wichtigen Träger der „Demokratisierung" betrachtet. U m dieser Erwartung zu entsprechen, mußte sie zunächst zeigen, daß ihre Organisation ganz „demokratisch" ist. Daraus resultieren zwei Maximen: Viele Versammlungen, Sitzungen, Ausschüsse, kurze Amtszeit und häufiger Wechsel der Funktionäre. Diese Maximen sollten als Präventivmittel gegen die „Diktatur der Führer" und als Mittel zur Verwirklichung der demokratischen Organisation dienen. Obwohl die Bürokratisierung danach allmählich zugenommen hat, hat diese Idee noch Einfluß auf die gewerkschaftliche Organisation. (5) Als Funktionäre werden in der Regel „Meister" und „Vorarbeiter" gewählt. Diese haben somit eine Doppelrolle als „Meister" und Gewerkschaftsfunktionär. Nicht wenige Gewerkschaften verfolgen in ihrer Politik informell den Grundsatz, daß die innergewerkschaftliche Hierarchie der innerbetrieblichen Hierarchie entsprechen soll. Diese Personalunion wird oft von den Europäern als Indiz dafür angesehen, daß die japanischen Arbeitnehmer unter dem starken Druck des Managements stehen und daß sie keine authentischen Interessen Vertreter haben. (Dohse / Jürgens / Malsch 1984). Das werde ich später erörtern. (6) Der Organisationsgrad nimmt allmählich ab (1974 - 33,9 %, 1979-31,6 %, 1984 - 29,1 %). In absehbarer Zeit wird der Organisationsgrad noch weiter abnehmen, denn die am raschesten wachsende Branche ist der Groß- und Einzelhandel, wo der Organisationsgrad sehr niedrig ist (9,3 %). In der Branche, die im Wachstumstempo den zweiten Rang einnimmt (Dienstleistungsgewerbe), ist der Organisationsgrad ebenfalls niedrig (18,0 %). Im öffentlichen Dienst, wo der Organisationsgrad am höchsten ist (78,4 %), stagniert die Beschäftigung als Folge der von der Regierung betriebenen „Rationalisierung der Verwaltung". In den großen Privatunternehmen der verarbeitenden Industrie sind die Arbeitnehmer sehr gut organisiert, aber in diesem Bereich nimmt die Zahl der auf Zeit beschäftigten Arbeitnehmer rasch zu, die nicht zum Beitritt in die Betriebsgewerkschaft berechtigt sind. Nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ nimmt die Macht der Gewerkschaften ab. Innerhalb der Organisation wächst der Anteil der Angestellten, die weniger Interesse an der Gewerkschaft haben. Auch unter den Lohnarbeitern sind die Jüngeren indifferent gegenüber der Gewerkschaft

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geworden. Nach einer empirischen Untersuchung in der ersten Hälfte der 50er Jahre zeigten die japanischen Arbeiter eine „Doppelloyalität", nämlich, sie waren sowohl dem Management wie der Betriebsgewerkschaft gegenüber loyal (Odaka 1953). Der Anteil dieses Typs nahm in den 60er Jahren allmählich ab. Stattdessen stieg der Anteil der Arbeitnehmer, die beiden gegenüber indifferent sind. Die Ölkrise im Jahre 1973 erweckte in den Arbeitnehmern drastisch das Bewußtsein der Betriebszugehörigkeit. Aber nach der Überwindung der Ölkrise zeigen die Neueingestellten wieder ein indifferentes Verhalten zu dem Betrieb und der Gewerkschaft. Doch hier muß betont werden, daß Indifferenz nicht dasselbe ist wie Kritik. Wenn eine neue Krise kommt — ζ. B. Protektionismus in den USA und damit die drastische Verminderung des Exports —, kann man mit Sicherheit voraussagen, daß das Bewußtsein der Betriebszugehörigkeit noch einmal dramatisch zunimmt. Gegenwärtig jedenfalls leidet die Betriebsgewerkschaft an dem zunehmend indifferenten Verhalten der Mitglieder. II. Entstehungsgeschichte der Betriebsgewerkschaft Die Betriebsgewerkschaften als Organisationsform wurden von einer empirischen Untersuchung im Jahre 1947 „entdeckt" (Institut für Sozialwissenschaft bei der Universität Tokio 1950). Damals nahm man an, daß die Betriebsgewerkschaften erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, und daß die Gewerkschaften in der Vorkriegszeit ähnlich wie in Europa Berufs- oder Industriegewerkschaften waren. Aber historische Studien über die Arbeiterbewegung vor dem Krieg stellten fest, daß schon vor dem Krieg nicht wenige Betriebsgewerkschaften existierten. Die Entstehungsursachen sind die folgenden: (1) Der Ursprung der Betriebsgewerkschaft lag in den 20er Jahren. Einige Betriebsgewerkschaften existierten zwar schon vorher, aber sie gewannen erst in den zwanziger Jahren an Boden in der Gewerkschaftsbewegung. Die Lage des Arbeitsmarktes trug dazu viel bei. In der Depression unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich die Segmentierung des Arbeitsmarktes. Die Großunternehmen entließen zahlreiche Arbeiter. Gleichzeitig führten die Großunternehmen eine Reihe Reformen durch, um die unentbehrlichen gelernten Arbeiter zu halten. (a) Einzelne Großunternehmen gründeten Betriebsschulen für die Ausbildung der gelernten Arbeiter. Aufgenommen in diese Schulen wurden Absolventen der öffentlichen Grundschulen. Die Großunternehmen stellten nur die Absolventen der Betriebsschulen neu ein. (b) Die Großunternehmen sicherten informell die „lebenslängliche Beschäftigung" und ermöglichten den Stammarbeitern innerbetrieblichen Aufstieg. Aber das bedeutete nicht, daß die Stammarbeiter ein Recht auf „lebenslängliche Beschäftigung" hatten, oder daß sie automatisch mit den Dienstjahren in höhere Stellen befördert wurden. Die Personalbeurteilung der Stammarbeiter durch das Management spielte eine große Rolle.

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(c) Der Lohn wurde periodisch mit dem Dienstalter erhöht. Jedoch muß betont werden, daß das Ausmaß der periodischen Lohnerhöhung je nach dem Ergebnis der Personalbeurteilung verschieden sein konnte. (d) Die Höhe der Abfindung im Fall des Ausscheidens hing von dem Lohn ab, den der Arbeiter zuletzt empfing. Das bedeutete, daß die Abfindung um so höher war, je mehr Dienstjahre der Arbeiter absolviert hatte. (e) Das Lohnniveau der Stammarbeiter in Großunternehmen stieg gegenüber dem Durchschnittslohn an. Bis dahin rechnete man selbst die gelernten Arbeiter in Großunternehmen der „unteren Gesellschaftsschicht" zu, wie die arbeitenden Armen. Also bedeutete die Erhöhung des Lohnniveaus der Stammarbeiter, daß sie sich von den unteren Schichten abhoben. Der Arbeitsmarkt der Stammarbeiter begann sich zu schließen. A u f der anderen Seite stellten die Großunternehmen temporäre Arbeiter ein, um Fluktationen der Produktion zu bewältigen. Damit wurde der Arbeitsmarkt gespalten (Hyodo 1971). (2) Für die Stammarbeiter in den Großunternehmen wurde nun das Unternehmen ihre Lebensbasis. M i t der Abschottung des Arbeitsmarktes wurde es für die Stammarbeiter natürlich, sich innerbetrieblich zu organisieren. Die überbetriebliche Gewerkschaftsbewegung hatte nur geringen Einfluß auf die Großunternehmen, da das Management der Großunternehmen sich mit allen Mitteln gegen die überbetriebliche Gewerkschaftsbewegung schützte, und ferner die überbetriebliche Gewerkschaftsbewegung in einigen Großunternehmen schwere Niederlagen in großen Kämpfen erlitt. Innerbetriebliche Organisationen der Arbeiter entwickelten sich in zwei Richtungen. Zum einen organisierte das Management die Stammarbeiter zwangsweise in Fabrikausschüssen, die als Kommunikationsorgan zwischen dem Management und den Arbeitern dienen sollten. Die Vertreter wurden von dem Stammarbeitern gewählt oder vom Management nominiert. Diese Vertreter verhandelten mit dem Management über Wohlfahrtsangelegenheiten. Der Fabrikausschuß war keine selbstständige Organisation der Arbeiter. Andererseits schlossen sich die Stammarbeiter zu selbständigen Organisationen zusammen. Diese Organisationen unterschieden sich jedoch in zwei Punkten von den gegenwärtigen Betriebsgewerkschaften. Erstens hatten sie keine „union-shop"-Vereinbarungen. Zweitens, die Mitgliederschaft wurde auf die Lohnarbeiter beschränkt. Vor dem Zweiten Weltkrieg war das Großunternehmen stark hierarchisch organisiert — Stammangestellte, Hilfsangestellte, Stammarbeiter und temporäre Arbeiter. Diese Hierarchie basierte auf der Schulbildung. Die Absolventen der Universitäten konnten als Stammangestellte eingestellt werden, die Absolventen der Mittelschulen als Hilfsangestellte, und die Absolventen der Grundschulen als Arbeiter. Die Hierarchie war so strikt, daß die Beförderung von einer Gruppe zu einer höheren Gruppe fast unmöglich war. Die Arbeitsbedingungen waren zwischen den Gruppen sehr verschieden.

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Unter solchen Bedingungen war es für die Stammarbeiter undenkbar, mit den Angestellten zusammenzuarbeiten (Ujihara 1961; Komatsu 1971). (3) Während des Zweiten Weltkrieges wurden alle Gewerkschaften verboten, stattdessen wurde eine Zentralorganisation der Arbeit „Sanpo" (wörtlich: „Organisation zum Dienst für das Vaterland durch die Industrie") geschaffen. Auf betrieblicher Ebene wurde eine Betriebs-„Sanpo" gegründet, die dem Fabrikausschuß ähnelte. In der Tat wurden in vielen Großunternehmen die Fabrikausschüsse in Betriebs-„Sanpo" umbenannt, ohne größere funktionale Veränderungen. „Sanpo" erinnert an die Deutsche Arbeitsfront (DAF) und deren Vertrauensrat in der Zeit des Nationalsozialismus. Tatsächlich geht die „Sanpo"-Bewegung auf den ideologischen Einfluß des Nationalsozialismus zurück. Aber in einem Punkt war die „Sanpo"-Bewegung von der D A F sehr verschieden. Während die D A F das Leistungsprinzip betonte, legte man in der japanischen Bewegung mehr Wert auf die Erhaltung des Lebens als auf die Leistung. Und die Lohnform begann, vom Tageslohn zum Monatslohn überzugehen. Ferner hatte die Idee der Betriebsgemeinschaft einen Einfluß auf die Gewerkschaftsbewegung der Nachkriegszeit (Showa-Dojinkai 1960). (4) Nach der Niederlage des Faschismus entwickelten sich die Gewerkschaften sehr rasch, überwiegend in der Form der Betriebsgewerkschaft. Die Gründe dafür sind folgende: (a) Wie schon erwähnt, war das Gefühl der Betriebszugehörigkeit und die Idee der Betriebsgemeinschaft stark unter den Arbeitern. (b) Während des Krieges und unmittelbar nach dem Krieg war der Lebensstandard auch der Angestellten sehr niedrig. Nicht wenige Angestellte beteiligten sich aus idealistischen Motiven an der neugeborenen Gewerkschaftsbewegung. Oft beherrschten sie die Bewegung auf Grund ihrer Intelligenz. Dieses Verhalten der Angestellten begünstigte die Kooperation zwischen den Arbeitern und Angestellten. (c) „Demokratisierung" war die Parole der Zeit. Für die Gewerkschaft war die „Demokratisierung des Betriebs" das Hauptziel. Konkret bedeutete sie die Abschaffung der strikten innerbetrieblichen Hierarchie. Früher wurden nur die Stammangestellten „Shain" (wörtlich: Mitglieder des Unternehmens) genannt. Aber im Zuge der Demokratisierungsbewegung konnten auch die Hilfsangestellten und Stammarbeiter „Shain" genannt werden. Und nicht wenige Großunternehmen gaben den Stammarbeitern die Chance, vom Arbeiter zum Manager aufzusteigen. Folglich verstärkte die Demokratisierung die Idee der Betriebsgemeinschaft. Aber die temporären Arbeiter wurden aus der Betriebsgemeinschaft ausgeschlossen, weil sie nur auf Zeit beschäftigt waren. (d) Unmittelbar nach dem Krieg war die Produktion gelähmt. Aber die TopManager der Großunternehmen genossen keine Autorität mehr, weil sie den Krieg unterstützt hatten. Darüber hinaus begann die Amerikanische Besatzungsmacht, die Großunternehmen von Sympathisanten des Militarismus zu

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säubern. In dieser Situation hatten die Arbeitnehmer einschließlich des mittleren Managements die Produktion direkt in der Hand. Die Organisation, die die Produktion aufnahm, benannte sich die Gewerkschaft. Da die Einheit der Produktion das Unternehmen war, wurde die Gewerkschaft auf Betriebsebene organisiert. Später wurde das mittlere Management aus der Gewerkschaft ausgeschlossen, weil Gewerkschaften, die auch das mittlere Management aufnahmen oder ihm sogar eine führende Rolle einräumten, aus der Sicht der amerikanischen Besatzungsmacht ungesund waren. Von der Revision des Gewerkschaftsgesetzes im Jahr 1949 an verloren die mittleren Manager die Mitgliedschaft. (e) Diejenigen Gewerkschaftsführer, die schon vor dem Krieg an der überbetrieblichen Gewerkschaftsbewegung teilnahmen, konnten keinen Einfluß auf die neu und rasch geborenen Betriebsgewerkschaften gewinnen. (5) Nach der Niederlage der radikalen Gewerkschaftsbewegung in den ersten zehn Jahren nach dem Krieg begann die Zeit des hohen wirtschaftlichen Wachstums. Die Konkurrenz auf dem Binnenmarkt war heftig. Ferner war die technologische Lücke zwischen Japan und den europäischen Ländern nicht klein. Wenn die Betriebsgewerkschaft „hohe Löhne wie in Europa" verlangte, antwortete das Management: „Glauben Sie, daß unser Unternehmen mit hohen Löhnen wie in Europa bestehen kann, ohne das europäische Technologieniveau einzuholen? Wie können wir auf dem Binnen- und Weltmarkt weiterleben? Ferner, wenn wir nur in unserem Unternehmen den Lohn erhöhen würden, dann würden wir sicher auch den Binnenmarkt verlieren. Lohnerhöhung ohne Produktivitätserhöhung bedeutet den Untergang unseres Unternehmens und damit ihre Arbeitslosigkeit. Wir leben in einem Land, in dem alle Materialien sehr knapp sind, mit Ausnahme der Arbeitskräfte. Nur mit fleißiger Arbeit können wir überleben. Fleißige Arbeit — hohe Produktivität — Erfolg des Unternehmens — Prosperität unseres Landes — bessere Arbeitsverhältnisse, das muß unser Ziel sein!" Diese Auffassung des Managements wurde von der Betriebsgewerkschaft geteilt. I I I . Gewerkschaftspolitik in den 80er Jahren I . Rahmenbedingungen der Gewerkschaftspolitik

Die Rahmenbedingungen der Gewerkschaftspolitik verändern sich auch in Japan, wie in den europäischen Ländern. M i t der Ölkrise im Jahre 1973 ist auch die japanische Wirtschaft in eine Phase niedrigen Wachstums übergegangen. In den 80er Jahren kommen noch neue Erscheinungen hinzu. (1) Die Verschärfung der Konkurrenz auf dem Weltmarkt zwingt die Unternehmen zur Erhöhung der Produktivität mit allen Mitteln. Man kann überall ein Schlagwort hören — Flexibilität. Flexibilität der Produktion, Flexibilität der Beschäftigung, Flexibilität der Arbeitszeit, Flexibilität der

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Arbeitsstruktur usw. Obwohl die Flexibilität in japanischen Unternehmen stets größer war als in den europäischen, wird dennoch versucht, sie weiter zu erhöhen. (2) Die Privatisierungspolitik der Regierung zerstört die starke Gewerkschaftsbewegung in den öffentlichen Unternehmen und im öffentlichen Dienst. A m 1. April 1985 wurden Nippon Telefon und Telegraph (NTT) und Nippon Tabak privatisiert. Jetzt steht die Privatisierung und die Teilung der Japan National Railways (JNR) auf der Tagesordnung. Die Privatisierung des N T T wurde ohne die Teilung des Unternehmens durchgeführt, weil N T T schwarze Zahlen schreibt und kooperative Industrial Relations hat. Ferner hat N T T als Unternehmen mit hochentwickelter Technologie eine erfolgversprechende Zukunft. Auch die Gewerkschaft bei N T T unterstützt die Privatisierung, um den Spielraum der Verhandlungen über die Arbeitsbedingungen zu erweitern. Ganz anders ist die Situation der JNR. Diese ist tief in den roten Zahlen. Die Regierung führt das hauptsächlich auf die „anomalen" Industrial Relations bei den JNR zurück. Nach Meinung der Regierung führt die zu starke Stellung der Gewerkschaften bei den JNR zur Zerstörung der Betriebsordnung und der Arbeitsmoral. Der Beratungsausschuß der Regierung über die Sanierung der JNR schlug im Juli 1985 folgende Maßnahmen vor: (a) Das Unternehmen soll am 1. April 1987 in 6 private Unternehmen geteilt werden. Damit werden auch die Gewerkschaften bei den JNR in 6 Gewerkschaften geteilt (b) Die Gesamtzahl der Beschäftigten in den neuen sechs Unternehmen soll 183.000 sein. Das bedeutet, daß insgesamt 93.000 Beschäftigte ihre Arbeitsplätze verlieren. Die Regierung beschloß, diesen Vorschlag mit allen Mitteln durchzusetzen. Bis jetzt ist keine nennenswerte Massenbewegung dagegen entstanden. Selbst die Gewerkschaften bei den JNR sind skeptisch, ob sie wirklich die Durchführung dieses Vorschlages blockieren können. Die meisten Gewerkschaften in privaten Unternehmen unterstützen sogar den Regierungsvorschlag. Diese Situation zeigt, wie isoliert die militanten Gewerkschaften in den öffentlichen Unternehmen sind. (3) Die sogenannte „Mikroelektronik-Revolution" verändert die Rahmenbedingungen der Gewerkschaftsbewegung. Obwohl ihr langfristiger Einfluß auf die Gesellschaft noch unklar ist, ist es ganz sicher, daß sie die Beschäftigungsmenge, die Beschäftigungsstruktur und die Qualifikationsanforderungen erheblich verändert. (4) Die Arbeitsmarktsituation veränderte sich seit der Ölkrise: Statt Arbeitskräftemangel herrscht nun Arbeitskräfteüberschuß. Trotzdem ist die statistische Arbeitslosigkeit mit 2,7 % sehr viel niedriger als die in den europäischen Ländern. 3

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Es wird oft behauptet, daß die japanische Arbeitslosenstatistik mit der europäischen nicht verglichen werden kann, da die Definition der Arbeitslosigkeit verschieden sei. In Japan wird als arbeitslos definiert, wer einen Arbeitsplatz sucht und in der letzten Woche des Monats nicht mehr als eine Stunde gearbeitet hat. Wenn man die Definition der europäischen Länder auf Japan übertrüge, so würde die statistische Arbeitslosigkeit in Japan erheblich zunehmen. Diese Behauptung wird aber von neueren Studien nicht bestätigt. Sie kommen zu dem Ergebnis, daß die statistische Arbeitslosigkeit nicht erheblich zunehmen würde, wenn die europäische Definition der Arbeitslosigkeit auf Japan angewandt würde. Die Hauptgründe für die niedrige Arbeitslosigkeit sind: Erstens das relativ hohe Wirtschaftswachstum, und zweitens das Verhalten der Hausfrauen, die in der Hochkonjunktur als Arbeiterinnen in kleinen Unternehmen, meistens in den Unternehmen ihrer Männer arbeiten und in der Depression zu Hause bleiben. Solche Hausfrauen suchen während der Phase der „Arbeitslosigkeit" keine Arbeit, gehören also nicht zu den Arbeitslosen im Sinne der Statistik (Ono 1981).

2. Gewerkschaftspolitik in der Sackgasse

(1) Lohnpolitik. Die Lohnerhöhung wird jährlich im Frühjahr auf Betriebsebene verhandelt. Vor den innerbetrieblichen Verhandlungen beschließen die Branchenföderationen der Gewerkschaften über die Lohnforderung, die die einzelnen Beetriebsgewerkschaften in den innerbetrieblichen Verhandlungen mit dem Management anmelden sollen. Dabei gehen sie von zwei Prinzipien aus. Erstens, die Lohnerhöhung soll über der Inflationsrate des vorigen Jahres liegen, um den realen Lebensstandard zu erhöhen. Zweitens, die Lohnerhöhung soll nicht übermäßig sein, um die Volkswirtschaft zu sichern. A u f der anderen Seite publiziert der Zentral-Arbeitgeberverband (Nikkeiren) eine Richtlinie für die Lohnverhandlungen. Er beharrt auf dem Produktivitätsprinzip, nach dem die Lohnerhöhung unter der Produktivitätssteigerung liegen soll, weil sonst die Inflation die Volkswirtschaft schädige. Bei den innerbetrieblichen Verhandlungen werden ferner der Unternehmensgewinn, das Unternehmensprestige und Rücksicht auf kooperative Industrial Relations in Betracht gezogen. Wie anzunehmen, enden die Verhandlungen mit einer Lohnerhöhung, die zwischen der Gewerkschaftsforderung und dem Angebot der Arbeitgeber liegt. Seit der Ölkrise wurde immer deutlicher, daß die Angebote der Arbeitgeber viel größeren Einfluß hatten als die gewerkschaftlichen Forderungen. Heute sprechen die meisten Gewerkschaften von einer Niederlage im Lohnkampf oder zumindest von einem ungenügenden Erfolg. Aber ob die Gewerkschaftsführer dies wirklich ernst meinen, ist fraglich. Tatsächlich glauben sie nicht im Ernst daran, daß ihre offiziellen Forderungen realisiert werden können. Ihre wirklichen Forderungen sind nicht so weit vom Angebot der Arbeitgeber entfernt.

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Die Lohnerhöhungen in den privaten Unternehmen werden in direkten Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern vereinbart. Aber für die Lohnerhöhungen in öffentlichen Unternehmen spricht der Arbeitsausschuß für die öffentlichen Unternehmen Empfehlungen aus, die von den Parlamenten beschlossen werden. Bei der Festlegung der Lohnerhöhung in diesem Sektor vergleicht der Arbeitsausschuß das Lohnniveau zwischen den privaten und den öffentlichen Unternehmen. Die Frage, ob ein öffentliches Unternehmen schwarze Zahlen schreibt oder nicht, spielt nur eine untergeordnete Rolle. Der Hauptgrund dafür, daß die Gewerkschaft bei Nippon Telefon und Telegraph (NTT) die Privatisierung von N T T unterstützte, liegt genau hierin. Sie glaubte, daß die Privatisierung höhere Lohnerhöhungen ermöglichen würde, da N T T hohe Gewinne erzielt. Die Lohnerhöhung für die Staats- und Gemeindebeamten wird von der Zentralen Personalbehörde bzw. von den Gemeindepersonalbehörden festgelegt und von den Parlamenten bzw. von den Gemeindeparlamenten beschlossen. Da das Gesetz das Streik- und Verhandlungsrecht den staatlichen Beamten entzieht, soll die Gehaltsempfehlung der Zentralen Personalbehörde unbedingt verwirklicht werden. Aber 1982 beschloß die Regierung, den Vorschlag für dieses Jahr zu ignorieren. Zwar protestierten die Gewerkschaftsführer, einschließlich der Gewerkschaften des Privatsektors dagegen, aber die Gewerkschaften der staatlichen Beamten waren von den breiten Massen isoliert. Die Kritik an den Beamten nimmt in diesen Tagen rasch zu. Man wirft ihnen vor, daß sie trotz ungenügender Leistung sichere Arbeitsplätze hätten, und daß das Gehaltsniveau zu hoch sei. Tatsächlich ist das Gehaltsniveau nicht hoch, aber trotzdem ist diese Kritik sehr populär. Der Spielraum für die Gewerkschaften der Beamten ist jetzt sehr begrenzt. Welchen Einfluß haben die Gewerkschaften auf Lohnerhöhungen? Anfang der 70er Jahre untersuchte ein Regierungsausschuß, ob auch in Japan eine Einführung der Einkommenspolitik nötig sei, um die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften zu kontrollieren. Der Endbericht des Untersuchungsausschusses aber erklärte eine Einkommenspolitik für unnötig, da nach der Meinung des Ausschusses die Verhandlungsmacht der japanischen Gewerkschaften nicht ausreiche, um übermäßige Lohnerhöhungen durchzusetzen. Diese Situation dauert bis heute an. Die Lohnfrage hat zwei Seiten: Die jährliche Erhöhung des Durchschnittslohns und das Lohnsystem. Das einzelne Unternehmen hat sein jeweils eigenes Lohnsystem, das für Außenseiter oft schwer zu durchschauen ist. Nicht selten kennen noch nicht einmal die Führer der Branchenföderationen die Lohnsysteme der angeschlossenen Unternehmen. Da das Lohnsystem in Japan sehr kompliziert ist, kann ich auf diesen Punkt hier nicht eingehen. (Über das Lohnsystem in der Automobilindustrie, Nomura 1985). Im allgemeinen hängt der Lohn des einzelnen Arbeitnehmers vom Lebensalter, den Dienstjahren, der innerbetrieblichen Qualifikation, der Fähigkeit und der Persönlichkeit ab. 3*

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Gegenwärtig stellen die Betriebsgewerkschaften keine Forderungen nach einer Reform des Lohnsystems. (2) Arbeitsplatzpolitik. In der Arbeitsplatzpolitik kann man drei Probleme unterscheiden: Die Verkürzung des normalen Arbeitstages, die Kontrolle der Überstunden einschließlich der Feiertagsarbeit und die Inanspruchnahme des Urlaubs. (a) Verkürzung des normalen Arbeitstages. Die durchschnittliche reguläre Arbeitszeit pro Beschäftigte betrug 1983 2.079 Stunden, in den großen Unternehmen waren es 1.972 Stunden. Angesichts der Kritik der ausländischen Gewerkschaften versuchen die japanischen Gewerkschaften neuerdings, die Arbeitszeit zu verkürzen. Das Ziel ist, den Durchschnitt in der gesamten Wirtschaft unter 2.000 Stunden, und den Durchschnitt in den großen Unternehmen unter 1.900 Stunden zu senken. Dieses Ziel soll in drei Jahren realisiert werden. Meiner Meinung nach ist es aber sehr schwierig, dieses Ziel zu erreichen. U m die Verhandlungen über die Arbeitszeit auf Betriebsebene zu illustrieren, führe ich ein Beispiel aus einem Unternehmen in der Automobilindustrie im Jahre 1983 an. Vor der Verhandlung beschloß die Branchenföderation der Automobilgewerkschaften, eine Senkung der Jahresarbeitszeit auf 1.960 Stunden zu fordern. Die normalen Arbeitszeiten in der Automobilindustrie liegen zwischen 1.992 und 1.976 Stunden (mit Ausnahme eines Unternehmens, das die Arbeitszeit der Wechselschichtarbeiter auf 1.942 Stunden festgelegt hat). Gemäß dem Beschluß forderte die Betriebsgewerkschaft die Verkürzung von 1.992 auf 1.976 Stunden durch Einführung zweier zusätzlicher Feiertage. Bei den Verhandlungen begründete die Gewerkschaft ihre Forderung damit, daß auch die Freizeit wichtig sei für die Erhaltung der Arbeitsmotivation und die Bereicherung des Lebens, und daß die Arbeitszeit ihres Unternehmens länger sei als die der anderen japanischen und ausländischen Unternehmen. Dabei fügte sie hinzu: „Arbeitszeit ist die Quelle des sozialen Reichtums und wir glauben nie, daß wir es um so besser haben, je kürzer die Arbeitszeit ist". Darauf antwortete das Management, erstens bestehe schon ein Gleichgewicht zwischen Arbeitszeit und Freizeit, zweitens entspreche die Arbeitszeit ungefähr der bei G M und den Konkurrenzunternehmen, drittens habe die Verkürzung der Arbeitszeit sehr negative Wirkungen auf die Zulieferer und Vertriebsunternehmer. „Wir sind jetzt mitten im weltweiten Krieg um den Kleinwagenmarkt. Um den Krieg zu gewinnen, müssen wir die Arbeitszeit wichtiger denn je nehmen. Die Verkürzung ist unmöglich". Nach den Verhandlungen sagte das Management schließlich zu, man sei höchstens bereit, die Arbeitszeit für die Wechselschicht um 8 Stunden zu verkürzen. Die Gewerkschaft war mit dieser Antwort zufrieden, und auf dem Gewerkschaftstag des folgenden Jahres wurden keine weiteren Forderungen nach Verkürzung der Arbeitszeit beschlossen. Diese Situation auf der betrieblichen Ebene zeigt, wie ich meine, daß die Verkürzung der Arbeitszeit ohne den starken Druck der ausländischen Gewerkschaften undenkbar ist.

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(b) Kontrolle der Überstunden. Die Jahresarbeitszeit pro Arbeiter in der verarbeitenden Industrie betrug 1982 2.136 Stunden in Japan, 1.682 in der Bundesrepublik Deutschland, 1.851 in den USA. Die sehr lange effektive Arbeitszeit der japanischen Arbeiter ist auf drei Faktoren zurückzuführen: Lange Normalarbeitszeit, viele Überstunden und die geringe Inanspruchnahme des Urlaubs. Pro Jahr werden in Japan 191 Überstunden geleistet, in der Bundesrepublik 78 und in den USA 120. Die zahlreichen Überstunden ergeben sich aus zwei Gründen. Für den Arbeitgeber sind die Überstunden ein billiges Mittel zur Anpassung der Arbeitsvolumen an die Produktion. Für die Überstunden ist ein Lohnzuschlag zu zahlen, der aber meist nur 30 % des Normallohns beträgt. Würde der Arbeitgeber zusätzliche Leute einstellen, so stiegen die Arbeitskosten mehr als bei einer Ausdehnung der Überstunden. Auf der anderen Seite sind die Arbeiter an Überstunden interessiert, da ihre Normallöhne nicht ausreichen, um ihren Lebensstandard zu erhalten. Die Überstundenzulagen sind in den Familienbudgets der Arbeiter fest eingeplant. In diesem Sinne haben die Arbeitgeber recht, wenn sie sagen, daß die Überstunden nicht von ihnen selbst, sondern von den Arbeitern verlangt werden. Für die Kontrolle der Überstunden gibt es zwei Möglichkeiten: Erstens eine Lohnerhöhung, die es den Arbeitern ermöglicht, ihren Lebensstandard ohne Überstunden zu halten. Dieser Weg ist schon deshalb für die Gewerkschaften nicht gangbar, weil sie sich auf „vernünftige Lohnerhöhungen gemäß der volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten" beschränken wollen. Zweitens Erhöhung der Überstundenzulage, um die Überstunden teuer zu machen. Neuerdings fordern einige Gewerkschaften eine Erhöhung der Überstundenzulagen. Aber ob diese Forderung durchgesetzt werden kann oder nicht, ist noch unklar, da auch die Gewerkschaften davon ausgehen, daß Überstunden als Beschäftigungspuffer für die Stammarbeiter notwendig sind. (c) Urlaub. Es ist bekannt, daß die japanischen Arbeitnehmer ihren Urlaub nicht voll nutzen. Nach der Statistik hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf 15,1 Tage Urlaub; tatsächlich genutzt werden aber nur 8,7 Tage (57,6 %). Aber diese Statistik vermittelt ein falsches Bild, denn nach den in Japan geltenden Manteltarifverträgen kann man den nichtbenützten Urlaub bis zu einem gewissen Grad auf das nächste Jahr übertragen. Wenn man diesen übertragenen Urlaub in Betracht zieht, hat man mehr Urlaubstage zur Verfügung. Nach den Angaben der Gewerkschaften in der Automobilindustrie betrug die reale Nutzungsrate des Urlaubsanspruchs 1983 bei Toyota 26,5 %, bei Nissan 38,2 %, bei Mazda 20,2 %, bei Mitsubishi 38,1 %, und bei Honda 50,6 % (JAW 1984). Die Situation in den anderen Industrien ist nicht sehr viel anders als in der Automobilindustrie. Als Hauptursache der niedrigen Nutzungsrate des Urlaubs muß auf die knappe Personalkalkulation hingewiesen werden. Das Management kalkuliert den Personalbedarf unter der Voraussetzung, daß die Abwesenheitsrate nur 5 % beträgt. Regulär wird in den Großunternehmen an 249 Tagen im Jahr gearbeitet.

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Die Abwesenheitsrate von 5 % bedeutet, daß ein Arbeiter nur an (249 χ 5 % = ) 12.5 Tagen abwesend sein kann. Die unvollkommene Nutzung der Urlaubstage ist also durch die Kalkulation des Managements programmiert. Das Management übt Druck auf die Arbeiter aus, die festgelegte Anwesenheitsrate nicht zu unterschreiten. Andererseits werden jedoch Arbeitnehmer, die ihren Urlaub „willkürlich" nutzen, auch von ihren Kollegen kritisiert, die sich zusätzlich belastet sehen, da der für das Produktionsprogramm nötige Personalbedarf nicht gedeckt werden kann. Wer Urlaub oft „willkürlich" nimmt, isoliert sich von seinen Kollegen, da er von ihnen als unkooperative Person betrachtet wird. Oft behaupten die Arbeitgeber und sogar auch manche Gewerkschaftsführer, die „Selbstverwirklichung durch Arbeit" mache die Arbeitsmoral der japanischen Arbeiter aus, und die niedrige Nutzung des Urlaubs sei ein natürliches Resultat der hohen Arbeitsmoral. Diese Behauptung ignoriert die restriktive Kalkulation der Anwesenheitsquote durch das Management. Damit möchte ich die hohe Arbeitsmoral der japanischen Arbeiter nicht bestreiten. Der Erfolg der Qualitätszirkel in Japan wäre ohne die Moral der „SelbstVerwirklichung durch Arbeit" nicht zu verstehen. Auf diese Frage der Arbeitsmoral werde ich später zurückkommen. (3) Neue Technologie. Obwohl Japan in der Einführung der Mikroelektronik-Technologie den europäischen Ländern voraus ist, haben die japanischen Gewerkschaften bis vor kurzem keine Strategie im Hinblick auf die Mikroelektronik (ME) entwickelt. Die Hauptgründe dafür sind, erstens, daß die MEGeräte in der Automobil- und Elektroindustrie sehr rasch eingeführt wurden. Die Konjunktur in beiden Industrien war sehr gut, und daher brauchten die Gewerkschaften keinen Beschäftigungsabbau zu befürchten. Zweitens: Die meisten Gewerkschaften in den privaten Großunternehmen verfügen über keine Tradition des Kampfes gegen die Rationalisierung. Zunächst Erhöhung der Produktivität, dann Verbesserung der Arbeitsverhältnisse — diese Logik wird von den Gewerkschaften akzeptiert. Drittens: U m die Konkurrenz auf dem Weltmarkt zu gewinnen, ist die Einführung der ME-Geräte nach Meinung der Gewerkschaftsführer notwendig. Nach der Enqueteuntersuchung des „Japan Institute of Labor" antworteten 53,6 % der befragten Betriebsgewerkschaftsführer, daß sie die Einführung der ME-Geräte „im Prinzip unterstützen", und 36.6 % meinten, daß sie „unumgänglich" sei. Also akzeptieren insgesamt 90,2 % der Betriebsgewerkschaftsführer aktiv oder passiv die Einführung der MEGeräte (JIL 1984). Neuerdings beginnen einige Branchenföderationen und die Zentralorganisationen, die Grundlinien der Politik gegenüber der Mikroelektronik für die Betriebsgewerkschaften festzulegen. Die Hauptrichtlinien der verschiedenen Organisationen sind ähnlich: Konsultation vor der Einführung der ME-Geräte, genügende Sicherheit und Hygiene an den neuen Arbeitsplätzen, Ausbau der Umschulung und Weiterbildung, keine Entlassungen. Ob diese Richtlinien von den Betriebsgewerkschaften befolgt werden, ist noch nicht abzusehen. Eine

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einflußreiche Betriebsgewerkschaft, die von Nissan, Schloß 1983 eine Vereinbarung über die Einführung der neuen Technologie ab, die folgendes vorsah: (a) Konsultation vor der Einführung der neuen Technologie, (b) keine Entlassungen und keine „lay-offs" wegen der Einführung der neuen Technologie, (c) keine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen infolge der Einführung der neuen Technologie, (d) Sicherheit und ausreichender Gesundheitsschutz, (e) genügende Ausbildung und Umschulung der betroffenen Arbeiter. Diese Betriebsvereinbarung ist zweifellos von großer Bedeutung, aber ich möchte hinzufügen, daß die Entstehung der Vereinbarung zum Teil auf die betriebsspezifischen Industrial Relations zurückzuführen ist. Aus dem Fall Nissan kann nicht geschlossen werden, daß sich solche Betriebsvereinbarungen künftig verallgemeinern werden. (4) Privatisierung. In bezug auf die Privatisierung der öffentlichen Unternehmen gibt es keine einheitliche Politik der japanischen Gewerkschaftsbewegung. Auf der einen Seite protestiert eine der Zentralorganisationen, Sohyo, gegen die Privatisierung. Sohyo findet große Unterstützung unter den Gewerkschaften in den öffentlichen Unternehmen. Sohyo behauptet, daß die privaten Großunternehmen die Privatisierung im Interesse ihrer Profite betrieben und die öffentlichen Funktionen der Unternehmen ignorierten. A u f der anderen Seite unterstützt die zweitgrößte Zentralorganisation, Domei, die Privatisierung. Domei wirft den Gewerkschaften in den öffentlichen Unternehmen vor, daß die dort beschäftigten Arbeitnehmer nicht so effizient wie die der privaten Unternehmen seien, was erhöhte Verwaltungskosten der öffentlichen Unternehmen zur Folge habe. Domei verlangt von der Regierung, (a) Kürzung der Regierungsausgaben, (b) Reduzierung des Personalbestandes, (c) Reduzierung der Gehälter und Bonuszahlungen, (d) Privatisierung der öffentlichen Unternehmen. Domei behauptet, daß mit der Privatisierung die Produktivität der öffentlichen Unternehmen zunehmen würde, so daß deren Budget ohne Steuererhöhungen saniert werden könnte. In diesen Forderungen von Domei drückt sich eine Abneigung der Arbeitnehmer in den privaten Unternehmen gegen die Arbeitnehmer in den öffentlichen Unternehmen aus. Die Arbeitnehmer in den privaten Unternehmen werfen den Beschäftigten der öffentlichen Unternehmen vor, sie genössen trotz der hohen Verschuldung der öffentlichen Unternehmen sichere Arbeitsplätze und bemühten sich nicht um eine Erhöhung der Produktivität.

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A m heftigsten kritisiert Domei einige Gewerkschaften bei den Japan National Railways (JNR). Die langfristige Verschuldung von JNR beträgt 37 Billionen Yen. Bei den JNR gibt es mehrere Betriebsgewerkschaften. Anfang der 70er Jahre begann das Management eine neue Kampagne zur Erhöhung der Produktivität. In dieser Kampagne kritisierte das Management die „klassenkampforientierten" JNR-Gewerkschaften „Kokuro" (Gewerkschaft der JNRArbeitnehmer) und „Doro" (JNR-Lokomotivführergewerkschaft), und beförderte Arbeitnehmer auf höhere Posten nur unter der Bedingung, daß sie aus diesen Gewerkschaften austraten. Das war eine offensichtlich illegale Praxis, die nach dem Gewerkschaftsgesetz verboten ist. Die beiden Gewerkschaften kämpften mit Unterstützung von Sohyo energisch gegen die Kampagne zur Erhöhung der Produktivität. Die öffentliche Meinung stand auf der Seite der Gewerkschaften. Der Konflikt wurde politisiert, und schließlich erkannte der Arbeitsausschuß für die öffentlichen Unternehmen im Oktober 1971 den illegalen Charakter der Kampagne an. Danach mußte der Präsident von JNR sich bei den beiden Gewerkschaften entschuldigen. Nach dem großen Sieg waren die beiden Gewerkschaften in der Lage, die Beförderungspraxis und die Verteilung der Arbeiter auf die einzelnen Arbeitsplätze weitgehend zu kontrollieren (Hyodo et al. 1981). Im Jahr 1975 schlossen sich die beiden Gewerkschaften dem einheitlichen, von der Föderation der Gewerkschaften in den öffentlichen Unternehmen organisierten Streik für die Wiederherstellung des Streikrechts im öffentlichen Dienst an. Nach einem Streik von acht Tagen mußten sie angesichts der unnachgiebigen Politik der Regierung den Streik ohne Erfolg beenden. Ferner wandte sich die öffentliche Meinung zunehmend gegen die Gewerkschaften, weil man glaubte, daß die strikte Kontrolle der Gewerkschaften über die Arbeitsbedingungen sich negativ auf die Arbeitsmoral auswirke. In der Tat räumen selbst der JNR-Gewerkschaft nahestehende Sozialwissenschaftler ein, daß „Kokuro" nicht selten einseitig das Prinzip „mehr Geld für weniger Arbeit" betonte und den öffentlichen Charakter der JNR ignorierte (Hyodo 1984). Trotzdem spielten die JNR-Gewerkschaften mit ihrer Politik strikter Kontrolle der Arbeitsverhältnisse eine wichtige Rolle in Japan. Eines der Hauptziele der Regierung, die sie mit der Privatisierung der JNR verfolgt, ist offenbar die Auflösung der JNRGewerkschaften. Schon ist die Privatisierung und Teilung der JNR mit der Unterstützung von Domei geplant. Damit würden die Gewerkschaften in den privaten Unternehmen größeren Einfluß auf die japanische Gewerkschaftsbewegung gewinnen.

IV. Betriebsgewerkschaften und japanische Arbeiter Aus den oben erläuterten Schwächen der japanischen Gewerkschaften kann man leicht den Schluß ziehen, daß es keine Interessenvertretungen der Arbeitnehmer in Japan gibt, und daß die japanischen Arbeitnehmer individuali-

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siert und der Produktivitätspolitik des Managements ausgeliefert sind. Wäre einfach dies der Fall, wäre das Problem nicht so kompliziert. Seit langem werden die Betriebsgewerkschaften von japanischen Sozialwissenschaftlern kritisiert. Es wird immer wieder behauptet, daß es, um die Schwäche der Betriebsgewerkschaften zu überwinden, unbedingt nötig sei, Industriegewerkschaften wie in den europäischen Ländern aufzubauen. Bisher ist diese Forderung kaum verwirklicht worden. Die Beschlüsse der Branchenföderationen haben zwar grösseren Einfluß auf die Politik der betroffenen Betriebsgewerkschaften als früher. Doch die Grundstruktur der Betriebsgewerkschaft besteht unverändert fest. Seit der Ölkrise 1973 veränderte sich die Meinung der Sozialwissenschaftler allmählich zugunsten der Betriebsgewerkschaften. Nun verbreitete sich die Ansicht, daß die Betriebsgewerkschaften sehr gut für die Arbeitnehmer seien. Erstens hätten sie mit mäßigen Lohnforderungen und positivem Verhalten gegenüber der Rationalisierung wesentlich zur Überwindung der Ölkrise beigetragen. Damit konnte die japanische Volkswirtschaft „gute Leistungen" vorweisen. Zweitens regelten sie, im Gegensatz zur bisher herrschenden Ansicht, die Arbeitsverhältnisse innerhalb des Betriebs. Drittens sei nach den empirischen Untersuchungen die Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder mit der Tätigkeit der Betriebsgewerkschaft zufrieden. Diese Interpretation wird jetzt von der Regierung, den Arbeitgebern, den Gewerkschaftsführern und von nicht wenigen Sozialwissenschaftlern propagiert. Die Behauptung, daß die Betriebsgewerkschaft die innerbetrieblichen Arbeitsverhältnisse erfolgreich regelt, erscheint mir sehr zweifelhaft. Zum Beweis dieser Behauptungen wird darauf hingewiesen, daß das Management die Betriebsgewerkschaft oft über Fragen der Überstunden, Leiharbeit, Umsetzungen usw. konsultiert, und daß das Management stets die Betriebsgewerkschaft informiert (JIL 1983). Aber daß das Management die Gewerkschaft häufig konsultiert, bedeutet nicht zugleich, daß die Gewerkschaft die Arbeitsverhältnisse erfolgreich regelt. Wenn die Gewerkschaft fast alle Anträge des Managements akzeptiert, kann man dann von einer Regelung der Arbeitsbedingungen durch die Gewerkschaft sprechen? Oftmalige Konsultationen können mit häufigen Überstunden und Leiharbeit koexistieren. Das ist die typische Praxis in Japan. Trotzdem bleibt noch die Frage offen, warum die Gewerkschaftsmitglieder mit der gegenwärtigen Tätigkeit der Betriebsgewerkschaften nicht unzufrieden sind. Nach einer Enquete in der Elektroindustrie im Jahre 1980 sind von den männlichen Gewerkschaftsmitgliedern mit der Tätigkeit der betroffenen Betriebsgewerkschaft „ziemlich zufrieden": 5,2 %, „ i n gewissem Grad zufrieden": 47,9 %, „etwas unzufrieden": 36,2 %, „ganz unzufrieden": 9,3 %. Also ist eine knappe Mehrheit zufrieden. 1978 waren 60,2 % der männlichen Gewerkschaftsmitglieder mit der Tätigkeit der Betriebsgewerkschaft zufrieden. Über die

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Beziehung zu ihrem Unternehmen meinten 71,8 % der männlichen Gewerkschaftsmitglieder, daß sie für ihr Unternehmen gern arbeiten. Ferner beurteilen die männlichen Gewerkschaftsmitglieder ihre Arbeit als „ziemlich befriedigend": 15,6 %, „ i n gewissem Grad befriedigend": 60,0 %, „wenig befriedigend": 21,4 %, „gar nicht befriedigend": 2,8 % (JFEMWU 1981). Also sind drei Fragen zu beantworten: (1) Warum sind die Arbeitnehmer trotz der Schwächen der Betriebsgewerkschaft mit ihrer Tätigkeit nicht so unzufrieden? (2) Wenn es keine starke Gegenkraft gegen das Management innerhalb des Unternehmens gibt, ist anzunehmen, daß die Arbeitnehmer einem starken Zwang zur Produktivitätserhöhung unterworfen sind. Warum wollen sie dennoch gern für das Unternehmen arbeiten? (3) Warum ist die Motivation der Arbeitnehmer so hoch? Zu (1): Die Arbeitnehmer erwarten von der Gewerkschaft nicht viel. Aufgrund der „union-shop"-Vereinbarung wird der Arbeitnehmer mit der Neueinstellung automatisch zum Gewerkschaftsmitglied. Sein Beitrag wird automatisch von seinem Lohn abgezogen. Folglich ist das gewerkschaftliche Bewußtsein schwach. „Ich bezahle den Beitrag an die Gewerkschaft, also soll die Gewerkschaft für mich etwas tun", diese Denkweise findet sich bei japanischen Gewerkschaftsmitgliedern kaum. Das ist ein Grund, warum die Arbeitnehmer mit der Betriebsgewerkschaft nicht so unzufrieden sind. Ein zweiter Grund liegt in der hohen Aufstiegsmotivation der Arbeiter, die individuelle Konkurrenz unter den Arbeitern zur Folge hat. Die japanischen Arbeitnehmer legen auf die Gleichheit der Chancen mehr Wert als auf die Gleichheit der Resultate. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es eine starke Ungleichheit der Zugangschancen für die höhere Schulbildung. Die Schulbildung entschied über das Berufsschicksal. Wer nur die Grundschule absolviert hatte, hatte keine Chance, zum Angestellten befördert zu werden. Damals wurden die Arbeiter als zur Unterklasse gehörig betrachtet. Es gab sehr klare Unterschiede in den Arbeitsbedingungen zwischen Arbeitern und Angestellten. Die Lebensgeschichte vieler Führer der Gewerkschaftsbewegung zeigt, daß die Empörung über die Ungleichheit der Chancen für sie Hauptmotiv für die Teilnahme an der Bewegung bildete. Viele bekamen sehr gute Noten an der Grundschule, aber aus wirtschaftlichen Gründen war es ihnen nicht möglich, ihre Schulausbildung fortzusetzen. „Warum muß ich Arbeiter bleiben? Nur wegen der Armut! Diese Ungerechtigkeit muß abgeschafft werden!" Aus dieser Motivation heraus verlangten sie die Anerkennung der Arbeiter als Persönlichkeit. Für Arbeiter war es sehr natürlich, daß die „Demokratisierungskämpfe" unmittelbar nach dem Krieg auf eine Gleichberechtigung zwischen Arbeitern und Angestellten zielten. Daß die Betriebsgewerkschaft beide gemeinsam organisiert, ist von dieser Mentalität der Arbeiter her zu erklären (Nimura 1984). In diesem Sinne wurde das Unternehmen demokratisiert. Und mit dem

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raschen wirtschaftlichen Wachstum seit den 50er Jahren verbesserte sich die wirtschaftliche Lage der Arbeiter allmählich. Damit wurde die Gleichheit der Chancen bei gleicher Schulbildung allmählich verwirklicht. Es ist bekannt, daß die Chancen zur Fortsetzung der Ausbildung von den Schulnoten abhängen. Wer keine guten Noten hat, muß auf eine weitere Schulausbildung verzichten. Auch nach dem Krieg hing es von der Schulausbildung ab, ob man als Arbeiter oder Angestellter eingestellt wurde. In diesem Sinne haben die Arbeiter weiter das Gefühl der Minderwertigkeit. Aber ihre Chancen für den innerbetrieblichen Aufstieg haben sich verbessert. Die Folge war, daß sich die Konkurrenz unter den Arbeitern verstärkte. Zu (2): Loyalität zum Unternehmen. Die Loyalität japanischer Arbeitnehmer zum Unternehmen läßt sich auf vier Gründe zurückführen. Erstens bedeutet die sogenannte „lebenslange Beschäftigung" eine relativ hohe Sicherheit des Arbeitsplatzes. Zweitens: Die Konkurrenz um den innerbetrieblichen Aufstieg zwingt die Arbeitnehmer dazu, eine hohe Loyalität zum Unternehmen zu demonstrieren. Ihre Berufsschicksale sind mit der Entwicklung des Unternehmens eng verbunden. Drittens: Da die Arbeiter eine hohe Arbeitsmotivation entwickeln, akzeptieren sie auch eine hohe Arbeitsintensität. Viertens: Die Meister vermitteln zwischen den Interessen der Arbeitnehmer und dem Management. Da die Meister und Vorarbeiter zugleich die Stütze der Betriebsgewerkschaft sind, müssen sie zwischen den Arbeitnehmer- und Managementinteressen lavieren. Sie neigen dazu, die Managementinteressen zu vertreten, doch können sie die Arbeitnehmerinteressen nicht ignorieren. Sonst würden sie die Unterstützung ihrer Untergebenen verlieren, und damit würde die Arbeitsmoral der Arbeiter sinken (Über die Funktion der Meister in Japan, Nomura 1985). Zu (3): Hohe Motivation zur Arbeit. Warum entwickeln die Arbeiter eine so hohe Arbeitsmotivation? Der Hauptgrund liegt darin, daß die Arbeiter aus der Unterschicht in eine höhere soziale Schicht aufsteigen wollen. Ein solcher Aufstieg ist auf zweierlei Weise möglich: Erstens durch innerbetrieblichen Aufstieg. Zweitens indem der Arbeiter viel in die Schulausbildung seines Sohnes investiert. Damit wird seine Familie von einer Arbeiter-Familie zur Angestellten-Familie. „Ich bin nur ein unbedeutender Arbeiter, ich möchte nicht, daß auch mein Sohn dieses miserable Gefühl haben muß", das ist eine typische Meinung japanischer Arbeiter. Die Folge ist, daß die Examenkonkurrenz sich verschärft. Ein zweiter Grund für die hohe Arbeitsmotivation liegt im Mangel an einer vergleichbaren Arbeiterkultur, wie sie in Deutschland schon zur Zeit des Kaiserreichs von der SPD und den Gewerkschaften entfaltet wurde. Ohne eine solche Arbeiterkultur ist es für die Arbeiter schwierig, ein Gefühl der Gemeinsamkeit zu entwickeln und zu erhalten, das die Basis der Gewerkschaftsbewegung ist. Da es eine solche Arbeiterkultur nicht gab, hatten die japanischen Arbeiter nur eine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, das waren ihre Arbeitsplätze. Die japanischen Arbeiter sind zwar mit ihrem Berufsschicksal als

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Arbeiter gar nicht zufrieden, aber ohne etwas, was dem Leben einen Sinn gibt, könnte man nicht weiter leben. Selbst Verwirklichung ist ein ursprüngliches Bedürfnis des Menschen. Für die japanischen Arbeiter war das die Arbeit. Selbstverwirklichung durch Arbeit, das charakterisiert die Mentalität der japanischen Arbeiter. Wenn ich die Konkurrenz der japanischen Arbeiter um Aufstieg betone, könnte der Eindruck entstehen, als ob die menschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz unangenehm und unkooperativ seien. Das ist nicht der Fall. Nach einer Enquete in der Eisen- und Stahlindustrie im Jahre 1981 leiden nur 8,8 % der Gewerkschaftsmitglieder unter schlechten menschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz (JFISWU 1982). Wieso kann die individuelle Konkurrenz mit guten menschlichen Beziehungen koexistieren? Die Antwort ist in der Mentalität der Arbeiter zu suchen. Die japanischen Arbeiter empfinden eine Gleichmacherei bei den Löhnen und Arbeitsbedingungen ohne Rücksicht auf die individuellen Fähigkeiten als ungerecht. Bessere Leute sollen bessere Arbeitsbedingungen genießen. Aber wenn der Unterschied der Arbeitsbedingungen zwischen den besseren und den schlechten Arbeitern zu groß wird, dann ist das auch ungerecht. Also akzeptieren japanische Arbeiter die Konkurrenz, aber sie soll nicht zu allzu großen Unterschieden führen. Wichtig ist daher die „Objektivität" der Beurteilung der individuellen Fähigkeiten und der nicht allzu hohe Grad der Differenzierung. Wenn diese Bedingungen vom Management erfüllt werden, dann ist die individuelle Konkurrenz mit guten menschlichen Beziehungen vereinbar. V. Ausblick Gegenwärtig verschärft Japan die internationale Konkurrenz auf dem Weltmarkt. Das „Null-Summen-Spiel" muß mit einem Erfolg der Japaner und einem Verlust der Ausländer enden. Viele japanische Arbeiter meinen, daß sie erst jetzt die europäischen Länder überholen, die für die Japaner schon seit über 100 Jahren als einzuholende Länder galten. Bisher orientierten die Japaner sich stets am Muster anderer Länder. Bis zur Meiji-Revolution 1868 war das Vorbild unbedingt China. Danach wurde Deutschland Vorbild, nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg waren es die USA. Jetzt ist Japan das Vorbild für die Ausländer! Japan als Nummer eins! Ein solcher nationalistischer Stolz ist ein wesentliches Element der politischen und gesellschaftlichen Lage in Japan im Zuge des neuen Konservatismus. Gibt es in Japan gegenwärtig Momente, die die Industrial Relations von innen heraus verändern könnten? Ich bin sehr skeptisch, ob das zutrifft. Zwar gibt es einige Faktoren, die Veränderungen der Industrial Relations bewirken. Das Durchschnittsalter der Japaner wird sich erhöhen. I m Unternehmen bedeutet das, daß die Aufstiegschancen der Arbeitnehmer sinken. Das wirkt sich auf die Arbeitsmotivation negativ aus. Der Generationenabstand macht die Kommuni-

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kation zwischen den Vorgesetzten und den Arbeitern schwieriger. Aber diese Faktoren wirken nur langsam und verändern die Industrial Relations nicht grundsätzlich. Auch in Japan fehlt es nicht an nicht-konformen Strömungen der Gewerkschaftsbewegung wie bei der Japan National Railways. Diese Strömungen sind jedoch als Folge der heftigen Angriffe der Regierung geschwächt. Man kann sagen, daß mit der Privatisierung der öffentlichen Unternehmen auch die Industrial Relations „privatisiert" werden. Die Behauptung, daß die Betriebsgewerkschaften in den privaten Unternehmen keine andere Möglichkeit haben, als eine unternehmerfreundliche Politik zu treiben, trifft nicht zu. Fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren nicht wenige Betriebsgewerkschaften radikal genug, um eine Arbeiterkontrolle über die Unternehmen zu entwickeln. In den letzten Jahren versuchten einige Betriebsgewerkschaften in Bankrott gegangener Unternehmen, die Produktion durch die Arbeitnehmer selbst weiter zu betreiben (Totsuka 1982). Denn unter welchen Umständen werden Betriebsgewerkschaften radikal? Wenn das TopManagement auf die Leitung des Unternehmens verzichtet und die Arbeitnehmer im Stich läßt, oder wenn die Gewerkschaft dem Management nicht vertraut, dann wird sie radikal. Aber eine solche Situation gibt es in den privaten Großunternehmen gegenwärtig nicht. Die japanischen Arbeiter sind mit den gegenwärtigen Industrial Relations zufrieden. Japans einziger Reichtum sind seine Arbeitskräfte. M i t Hilfe des Fleißes der Arbeiter kann man viel exportieren und damit die Arbeitslosigkeit niedrig und die Gesellschaft stabil halten. Darin besteht das „nationale Interesse", sich an der Verteidigung der japanischen Industrial Relations zu beteiligen. Wieso kritisiert Ihr die japanischen Betriebsgewerkschaften? So lauten die Argumente des Neokonservatismus. Meiner Meinung nach sind die japanischen Industrial Relations jedoch aus zwei Gründen zu kritisieren: Erstens, wenn sich die internationale Konkurrenz noch weiter verschärft, werden sich die Arbeitsbedingungen nicht nur im Ausland, sondern auch in Japan verschlechtern. Offenbar ist es vor allem Japan, das die internationale Konkurrenz antreibt. Die japanischen Gewerkschaften sind verpflichtet, die Konkurrenz zu mildern, indem sie bessere Arbeitsbedingungen in Japan durchsetzen. Zweitens: Die Tatsache, daß die japanischen Arbeiter ihre Selbstverwirklichung durch Arbeit anstreben, bedeutet nicht, daß sie dies aus freier Wahl und eigener Entscheidung taten. Solche Wahlmöglichkeiten hatten die Arbeiter bisher gar nicht. Bisher konnten sie subjektiv gar nicht wählen, ob ihnen die Arbeit oder das Familienleben wichtiger sei. U m das Familienleben zu genießen, ist eine Verkürzung der Arbeitszeit und eine volle Nutzung des Urlaubs nötig. Aber bis heute ist die Arbeitszeit noch lang. Überstunden sind monatlich, wöchentlich und täglich fest eingeplant. Die Gewerkschaften sind nicht daran interessiert, die Überstunden drastisch zu senken. Wegen der unzureichenden

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Personalausstattung können sie ihren Urlaub nicht voll nutzen. Die Gewerkschaften fordern nicht ernsthaft die Einstellung zusätzlichen Personals. Dies ist an den japanischen Gewerkschaften zu kritisieren. Meiner Meinung nach sollte den japanischen Arbeitern die Möglichkeit gegeben werden, frei zu entscheiden, ob sie die Arbeit, Familienleben oder eine Kombination beider bevorzugen. Natürlich wäre denkbar, daß sie auch unter dieser Voraussetzung die Arbeit wählen. Aber das wäre dann etwas anderes. Wichtig wäre, daß japanische Arbeiter die Chance bekämen, individuell zu entscheiden, wo ihre Präferenzen liegen. Gegenwärtig beginnen die japanischen Gewerkschaften zögernd, eine Verkürzung der Arbeitszeit zu fordern. Diese Forderung wurde jedoch nur infolge der Kritik aus dem Ausland auf die Tagesordnung gesetzt. Historisch gesehen, wurden die grundlegendsten Reformen stets nur unter dem Druck des Auslandes durchgeführt, wie die Meiji-Revolution 1868 und die Demokratisierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich bin skeptisch, ob die Japaner ihre Gesellschaft von innen her reformieren werden. Wahrscheinlich werden sich die japanischen Industrial Relations unter dem Druck von außen verändern. Als solche Pressionen gelten jetzt die protektionistische Bewegung in den USA und die Kritik der europäischen Gewerkschaften an japanischem Sozialdumping. Ich hoffe von Herzen, daß diese Pressionen sich positiv in Sinne einer humanen Umgestaltung der Industrial Relations und der Gesellschaft in Japan auswirken.

Für die Korrektur meines Referats danke ich Herrn Dr. Christoph Deutschmann herzlich.

Literatur

Die Titel aller japanischen Bücher und Aufsätze sind in deutsch übersetzt. Wer japanisch lesen kann, wird leicht Originaltitel, die Autoren und die Verlage finden. Dettloff, Ariane / Kirchmann, Hans, 1981: Arbeitsstaat Japan. Exportdrohung gegen die Gewerkschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch. Dohse, Knuth/Jürgens, Ulrich /Malsch, Thomas, 1984: Vom „Fordismus" zum Toyotismus"? Die Japan-Diskussion in der Automobilindustrie. IIVG/pre 84-212. Wissenschaftszentrum Berlin. Hyodo Tsutomu, 1971: Entwicklung der Industrial Relations in Japan. Tokio: University of Tokyo Press (japanisch). Hyodo Tsutomu (Hg.), 1984: Vorschläge zur Arbeiterbewegung in JNR. Tokio: Daiichi Shorin Verlag (japanisch).

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Hyodo Tsutomu / Hayakawa Seijiro / Mitsuoka Hiromi / Endo Koshi, 1981: Arbeiterbewegung in JNR. In: Roshi Kankei Chosakai (Hg.), Industrial Relations in der Übergangszeit. Tokio: University of Tokyo Press (japanisch). Institut für Sozialwissenschaften beider Universität Tokio, 1950: Gewerkschaften nach dem Krieg. Tokio: University of Tokyo Press (japanisch). JAW (Confederation of Japan Automobile Workers' Unions), 1984: Untersuchungen über die Arbeitsbedingungen in der Automobilindustrie (japanisch). JFEMWU (Japan Federation of Electrical Machine Workers' Unions), 1981: Die 8. Untersuchung über das Bewußtsein der Gewerkschaftsmitglieder (japanisch). JFISWU (Japan Federation of Iron and Steel Workers' Unions): 1982: Untersuchung über das Leben und das Bewußtsein der Gewerkschaftsmitglieder (japanisch). JIL (Japan Institute of Labour), 1983: Industrial Relations in den 80er Jahren. Tokio: JIL (japanisch). JIL (Japan Institut of Labour), 1984: Einführung der ME-Geräte und die Gewerkschaften. Ergebnisse empirischer Untersuchungen. Tokio: JIL (japanisch). Komatsu Ryuji, 1971 : Entstehung der Betriebsgewerkschaften. Tokio: Ochanomizu Shobo Verlag (japanisch). Nagayama Sadanori, 1984: Ist japanische Arbeitslosigkeit zu niedrig? in: Nihon Rodo Kyokai Zasshi, März (japanisch). Nimura Kazuo, 1984: Entstehung der Betriebsgewerkschaften. In: Kenkyu Shiryo Geppo des Ohara Instituts für soziale Fragen bei Universität Hosei. Nr. 305 (japanisch). Nomura Masami, 1985: Modell? Japan — Welches Modell? Unterschiede im System industrieller Beziehungen bei zwei Automobilunternehmen. In: Park/Jürgens/Merz (Hg.), Transfer des japanischen Managementsystems. Berlin: Express Edition GmbH. Odaka Kunio, 1953: Human Relations in der Industrie. Tokio: Yuhikaku Verlag (japanisch). Ono Akira, 1981: Arbeitsmarkt in Japan. Tokio: Toyo Keizai Shinpo Verlag (japanisch). Showa-Dojinkai, 1960: Historische Studie über die Lohnstruktur in Japan. Tokio: Shiseido Verlag (japanisch). Totsuka Hideo, 1982: Kurs der Arbeiterbewegung. Tokio: University of Tokyo Press (japanisch). Ujihara Shojiro, 1961: Industrial Relations in Japan. Tokio: University of Tokyo Press (japanisch).

Gewerkschaftstheorien und Gewerkschaftspolitik in der Bundesrepublik und Europa Von Klaus Mehrens, Frankfurt am Main

1. Einleitung In der Bundesrepublik wird gegenwärtig durch Teile der Regierungsfraktionen und Arbeitgeber gemeinsam ein Angriff auf das Streikrecht und die Streikfahigkeit der Gewerkschaften vorgetragen. In dieser Situation fallt es schwer, diese Herausforderung nicht zu dem allein bestimmenden Thema eines Referats über theoretische Grundlagen der Gewerkschaftspolitik zu machen. Der Versuch, über die Veränderung des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes das Streikrecht auszuhöhlen, ist in der Tat die größte Herausforderung der Gewerkschaften seit 1945. Die Entschlossenheit, mit der von Seiten des DGB, der I G Metall und der anderen Einzelgewerkschaften auf diese Herausforderung reagiert wird, ist nicht zuletzt aus der Entstehungsgeschichte der Gewerkschaften heraus zu erklären. Denn die zunächst relativ lockeren Zusammenschlüsse der Arbeiter, die um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts als sogenannte Koalitionen entstanden, waren, ebenso wie die dauerhafteren Formen der Werkvereine, Gewerkgenossenschaften oder Gewerkschaften, zentral auf die kollektive Arbeitseinstellung ausgerichtet. Die Koalition war ihrem Wesen nach Kampforganisation. Aus „ . . . der Erfahrung heraus erwächst das Bestreben, der Koalition dauernden Charakter zu geben und mittels regelmäßiger Beiträge Fonds zur Kriegsführung anzusammeln, und so entsteht die Elementarform der modernen Gewerkschaft. Sie ist überall in erster Linie Streikvereinigung, der Streik ist ihr eigentlicher Zweck." So charakterisierte Eduard Bernstein die Entstehung der Gewerkschaften im Jahre 1909. Angesichts der Breite der gewerkschaftlichen Aktivitäten, wie wir sie heute kennen, wird man diesen Satz in seiner Absolutheit sicherlich nicht verwenden können, weder in der Bundesrepublik noch in Europa insgesamt. Dennoch bleibt die Tarifpolitik und bleibt der Streik oder die Fähigkeit zum Streik zentraler und wichtigster Bestandteil gewerkschaftlicher Politik. Die Einschränkung oder Beseitigung wirksamer Streikfahigkeit, die die geplante Veränderung des § 116 bedeuten würde, träfe damit die Gewerkschaften an ihrem Lebensnerv. 4

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Das Thema dieser Konferenz ist allerdings breiter angelegt. Es wäre falsch, angesichts dieser Breite das eben angesprochene aktuelle Thema, das auch in bezug auf Gewerkschaftstheorien und ihre Konfrontation mit der politischen Wirklichkeit wichtige Schlüsse zuläßt, aus dem Auge zu verlieren. Ich werde im Verlauf meiner Ausführungen erneut darauf zurückkommen. Ich möchte vorher einige Fragestellungen aufgreifen, in denen verschiedene Elemente von Gewerkschaftstheorien konfrontiert werden mit der historischen und aktuellen Situation und wo Konsequenzen gezogen werden für eine zukünftige Ausrichtung der Gewerkschaftspolitik, wo dies möglich erscheint. Ich konzentriere mich bei diesen Überlegungen vor allem auf die Entwicklung in Deutschland und der Bundesrepublik und werde die Entwicklung in anderen europäischen Ländern nur von Fall zu Fall vergleichend heranziehen. Ich bitte dafür um Verständnis. Im ersten Teil werde ich mich konzentrieren auf die gewerkschaftlichen Zielvorstellungen, im zweiten auf die Wege ihrer Durchsetzung. Der dritte abschließende Teil entwickelt einige zukunftsbezogene Grundgedanken zu den Durchsetzungsbedingungen und Möglichkeiten gewerkschaftlicher Politik in den vor uns liegenden Jahrzehnten.

2. Historische Mission oder praktische Lebenshilfe 2.1 Der „historische Auftrag der Gewerkschaften"

Der Protest gegen unwürdige Lebensverhältnisse und das Streben nach der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen waren die Hauptgründe für das Entstehen von Koalitionen und Gewerkschaften. Über viele Jahrzehnte hinweg erforderte dieser Kampf Aufopferung und Verzicht. Die Ergebnisse waren besonders in den Anfangsjahren bescheiden. Die Aussicht auf eine bessere Welt half dabei, bittere Not, gesellschaftliche Diskriminierung und politische Verfolgung zu ertragen. In den verschiedensten Formen traf man daher immer wieder auf die Darstellung der historischen Mission der Arbeiterbewegung, Parteien wie Gewerkschaften. Gerhard Beier hat das so formuliert: „ A m Anfang standen die Ideale der französischen Revolution, deren materielle Verwirklichung für das Proletariat erkämpft werden sollte. Es ging um eine brüderliche Gesellschaft der Freien und der Gleichen. Die Arbeit als Quelle des Reichtums stellte den zentralen Wert dar. Der arbeitende Mensch sollte das wahre Subjekt des geschichtlichen Fortschritts bilden. Klassenbewußtsein äußerte sich als Senduhgsbewußtsein im Geiste universaler Menschheitsvorstellungen. Die klassenlose Weltgesellschaft auf der Basis gemeinsamen Eigentums an den Produktionsmitteln wurde erstrebt. Internationale, soziale Republik hieß das politische Ziel. Die völkerverbindende Solidarität der Arbeiter galt als erfolgversprechendes Mittel, um diesen Weltsozialstaat zu verwirklichen."

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Angesichts der aktuellen Tagesaufgaben, mit denen sich die Gewerkschaften herumschlagen mußten, ergab sich für viele der führenden Funktionäre — an erster Stelle Karl Legien — schon relativ früh eine Art Arbeitsteilung zwischen der Arbeit der Partei und der Gewerkschaften in bezug auf die historische Mission der Arbeiterbewegung. Gänzlich offenbar wurde diese Differenzierung in der Zeit der Weimarer Republik. Während des Kapp-Putsches hatte sich die Gewerkschaftsbewegung im Generalstreik bereits als starkes Bollwerk zum Schutze der jungen Republik verstanden. Diese historisch wichtige Funktion verfestigte sich im Laufe der Jahre und wurde zu einer Art „Organisationsfetischismus", der von vielen Anhängern der Gewerkschaftsbewegung nicht verstanden wurde. Eine rückläufige Bedeutung der Arbeiterbewegung insgesamt war die Folge. M i t den immer noch dürftigen Lebensbedingungen konnte das Reich der Freiheit, die neue Gesellschaft doch wohl noch nicht erreicht sein. Hierin lag die Enttäuschung. Die historische Mission der Arbeiterbewegung verlor in der Folgezeit weiterhin an Glaubwürdigkeit und Attraktivität, nicht zuletzt wegen der Spaltung der Internationale in das freiheitlich-sozialistische und das dogmatisch-kommunistische Lager. Wesentliche Wiederbelebungsversuche des Gedankens vom geschichtlichen Auftrag gab es auch nicht in der Geschichte der Bundesrepublik. Als historische Mission wurde in den ersten Nachkriegsjahren wohl eher die konkrete Verpflichtung zum solidarischen Wiederaufbau verstanden. Die Diskussion um eine langfristige Perspektive hat allerdings nie aufgehört. Denn auch wenn es richtig bleibt, daß die Kraft eines Schlagwortes oder auch einer Zukunftsvision die Stärke der Organisation nicht ersetzen kann, so trifft doch gleichzeitig zu, daß neben den konkreten Zielsetzungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen und zur Verringerung der Entfremdung auch weiterreichende gesellschaftspolitische Perspektiven gehören, um die Kraft der Organisation wirklich nutzen zu können. Das kann und soll kein Gesellschaftsmodell als Endzustand sein. Das kann aber eine Perspektive sein, die die Bedingungen aufzeigt, unter denen eine an solidarischen Prinzipien orientierte Gesellschaft realisiert werden kann und die die Kräfte und Machtverhältnisse darstellt, die dieser Realisierung entgegenstehen oder ihr förderlich sind.

2.2 Stabilisierung oder Überwindung des Systems

In demselben Konfliktzusammenhang zwischen täglicher Kompromißnotwendigkeit und langfristig angelegter Gesellschaftsveränderung bewegt sich seit vielen Jahrzehnten die Kontroverse über die Rolle der Gewerkschaften als Ordnungsfaktor auf der einen Seite oder als Gegenmacht auf der anderen. Welche Funktion und damit welche Zielsetzungen stehen im Mittelpunkt? Lassen sich 4*

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beide Funktionen gleichzeitig erfüllen? Lassen sich beide Zielsetzungen gleichzeitig anstreben? Diese Diskussion geht bis in die heutige Zeit hinein. Sie bestimmt zahlreiche innergewerkschaftliche Auseinandersetzungen. Dabei macht die Geschichte sehr deutlich, daß ein Ungleichgewicht auf Dauer weder nach der einen noch der anderen Seite tragbar ist. Nach wie vor liegt die vorrangige Aufgabe der Gewerkschaften darin, die unmittelbaren Arbeits- und Lebensbedingungen ihrer Mitglieder zu verbessern. Dazu gehört in erster Linie die Sicherung der materiellen Existenzgrundlagen und eines angemessenen Lebensstandards. Dazu gehört die Verkürzung der Arbeitszeit und die Humanisierung der Arbeitsbedingungen. Dazu gehört schließlich auch die Durchsetzung und Praktizierung wirksamer Mitbestimmungsregelungen. Sie sind und bleiben allerdings verpflichtet — und auch das ist Bestandteil ihrer Existenzgrundlage — die kurzfristig angestrebten Ziele in Übereinstimmung zu halten mit langfristig angestrebten politischen Veränderungen. Dies erfordert häufig Kompromisse, deren Qualität langfristig über Glaubwürdigkeit und Attraktivität der Gewerkschaften mit entscheiden. Grundsätzlich können die Gewerkschaften deshalb aus dem Spannungsfeld zwischen Anerkennung und teilweise auch Stabilisierung des bestehenden Systems auf der einen Seite und der Funktion als Motor zur Weiterentwicklung und Veränderung eben dieses Systems nicht entfliehen. Hier die richtige Balance zu finden, ist ganz zweifellos eine entscheidende Voraussetzung für die zukünftige politische Stärke der Gewerkschaften auf allen Ebenen. 2.3 Brauchen wir neue Perspektiven

Die Erfahrungen der Weimarer Zeit, als die Gewerkschaften zeitweise ihren Bollwerkcharakter überbetont haben, könnten auch für die gegenwärtige Situation in der Bundesrepublik, aber auch in anderen Industrieländern Bedeutung haben. Damals versuchte man, über die Perspektive der Wirtschaftsdemokratie ein neues Identifikationsmerkmal zu schaffen. Dieses Ziel gilt — wenn auch in veränderter Form — noch heute. Andere Bereiche sind hinzugekommen. Ein gewisses Defizit an attraktiven langfristigen Perspektiven wird dennoch immer wieder spürbar. Nahezu auf allen Feldern sind gesellschaftspolitische Vorstellungen und der Kampf um Machtpositionen seit langer Zeit nicht so polarisiert gewesen wie in diesem Jahrzehnt. Dies gilt sowohl national wie international. In vielen Ländern sind die Gewerkschaften in Abwehrkämpfe, nicht nur zur Sicherung von Arbeitsplätzen und Arbeits- und Lebensbedingungen ihrer Mitglieder verstrickt, sondern zur Sicherung ihrer eigenen Durchsetzungsfähigkeit und teilweise ihrer Existenz. Es liegt daher nahe, sich auf diese Abwehr und

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vor allem auf die Erhaltung der eigenen organisationspolitischen Stärke zu konzentrieren. Aber organisatorische Stärke ist niemals Selbstzweck. In Zeiten, in denen die Zukunftsaussichten ungewisser sind, wächst das Verlangen nach längerfristigen Perspektiven für das eigene Handeln. Entscheidungen, die heute getroffen werden, beeinflussen den Problemdruck der kommenden Jahre und gleichzeitig die Entscheidungsspielräume für morgen und übermorgen. Seit Mitte der 70er Jahre ist das Vertrauen in die Dauerhaftigkeit bestimmender Entwicklungstrends mehr und mehr verlorengegangen. In verschiedenen Bereichen ist ungewiß, in welche Richtung die Entwicklung gehen wird und wie sich als Folge die Lebensbedingungen in den kommenden Jahrzehnten gestalten werden. Der Wille, nicht zum Spielball ökonomischer und technischer Prozesse zu werden, zwingt daher zur eingehenden Beschäftigung mit den Bestimmungsgründen der Zukunftsentwicklung. Richard Löwenthal hat das Denken in geschichtlichen Zusammenhängen, das Suchen nach geschichtlichen Entwicklungslinien als Deutschlands möglicherweise größten Beitrag zur europäischen Kultur bezeichnet und gleichzeitig auf die Gefahren hingewiesen, die entstehen, wenn solche Zukunftsvorstellungen oder Prophetien mißbraucht werden. U m die Entwicklung eines neuen Weltbildes oder eines geschlossenen Gesellschaftsmodells kann es deshalb nicht gehen. Dennoch: Die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften sind seit jeher immer wieder in der Situation, auf ökonomische, technische und teilweise auch auf gesellschaftspolitische Bedingungen reagieren zu müssen, die sie selbst noch oder nur am Rande beeinflussen. Diese Bedingungen sind gegenwärtig für offensive Arbeitnehmervertretung vergleichsweise ungünstig. Das Bestreben, über ihre weitere Entwicklung in der Zukunft größere Gewißheit zu erhalten und damit für die politische Tagesarbeit eine konkretere mittel- und langfristige Perspektive zu gewinnen, ist deshalb gerade in der aktuellen Situation naheliegend und verständlich. Die Diskussion um solche Perspektiven hat es in den Gewerkschaften immer gegeben. Sie hat sich in den letzten Jahren intensiviert. Sie ist durch die Diskussion um die Zukunft der Arbeit, um die Zukunft der Industriegesellschaft, die sich vor allem an den neuen technologischen Entwicklungen entzündet hat, entscheidend gefördert worden. Der neue Anlauf zur Verkürzung der Arbeitszeit war und ist Teil einer solchen gesellschaftlichen Perspektive geworden.

3. Zwischen Konflikt und Kooperation Nicht weniger, sondern eher mehr als die gewerkschaftspolitischen Zielsetzungen und die historische Mission der Arbeiterbewegung sind innere und äußere Strukturen der Gewerkschaften, ihr Verhältnis zu Staat und Parteien,

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ihre Basisorientierung und Demokratiefahigkeit und nicht zuletzt das Maß ihrer Autonomie bzw. Integration in ökonomische und gesellschaftspolitische Abläufe Gegenstand theoretischer Erörterungen gewesen. Angesichts der umfassenden historischen und aktuellen Diskussion zu diesen Themen können hier nur wenige Stichworte genannt werden.

3.1 Autonome Interessenvertretung oder „befestigte Gewerkschaft"?

Die entstehenden Gewerkschaften des vorigen Jahrhunderts stießen von Anbeginn an auf eine Abwehrfront von Unternehmern und Staat. Wichtiger als der Aufbau eigener Organisationen und die Entwicklung eigener Aktivitäten erschien den Unternehmern in der Anfangsphase der Ruf nach staatlicher Repression. Auch hier erkennen wir heute wieder deutliche Parallelen. Solange es Polizei und Justiz gelang, die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung mit Hilfe von Verboten klein zu halten, solange diese durch Spaltung zusätzlich geschwächt und in ihren Wirkungsmöglichkeiten beschränkt war, konnten die Unternehmer in der Tat den ökonomischen Zwang und die Repressionsmittel des freien Arbeitsvertrages und der Kündigung für ausreichend und ein organisiertes Vorgehen, also auch den Zusammenschluß zu Arbeitgeberverbänden, für verzichtbar halten. Sozialistengesetze und zahllose andere Repressionen verhinderten den Aufstieg von Gewerkschaften und Arbeiterparteien aber keineswegs. Aufgrund der Kriegsereignisse und der Revolution von 1918 wurde vielmehr die endgültige Anerkennung der Gewerkschaften erreicht. Koalitionsfreiheit und Aussperrungsverbot wurden Merkmale der Weimarer Verfassung. Damit waren die Vorausetzungen geschaffen für das, was Götz Briefs, einer der einflußreichsten konservativen Gewerkschaftstheoretiker der Nachkriegszeit, als befestigte Gewerkschaft bezeichnet. Ihre Merkmale sind: — Die Anerkennung durch den Staat, die öffentliche Meinung und die Arbeitgeber, die mit der Übertragung halböffentlicher Kompetenzen an die Gewerkschaften einhergeht. — Die rechtliche Verpflichtung der Arbeitgeber, die Gewerkschaften als Verhandlungspartner anzuerkennen. — Die Befestigung auch gegenüber den Arbeitern, die von leichtem Druck bis zur Zwangsgewerkschaft reichen kann. In ähnlichem Zusammenhang spricht zum Beispiel Dahrendorf, der inzwischen die Gewerkschaften insgesamt für eine überflüssige und aussterbende Spezies hält, von der Institutionalisierung des Klassengegensatzes. Die Entschärfung der Klassenkonflikte, die er damit verbunden sieht, bewertet er durchaus positiv.

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Briefs dagegen zieht aus seiner Beschreibung, die in Elementen durchaus der aktuellen Realität entspricht, eine andere Konsequenz. Er beschwört die Gefahr eines Syndikaten Totalismus. Und ruft mit seiner These vom drohenden Gewerkschaftsstaat in letzter Konsequenz nach einem Verbändegesetz und staatlicher Intervention zur Beschneidung der angeblichen Übermacht der Gewerkschaften. Beunruhigend ist, daß Analysen dieser Art, die vor allen Dingen in den 50er Jahren beträchtlichen Einfluß hatten, ihre Nachwirkungen bis in die heutige Diskussion hinein behalten haben. In einer Situation, in der die Gewerkschaften zwar nicht um ihr Überleben kämpfen, aber doch in wichtigen Kernbereichen ihrer Aktivität massiv angegriffen werden, ist dies von einer besonderen bitteren Ironie. Der institutionalisierte Klassengegensatz mit all seinen vielfaltigen Regelungen, die vor allem in der Bundesrepublik rechtlichen, in anderen Ländern eher informellen Charakter haben, beseitigt den zugrundeliegenden Konflikt zwischen Arbeit und Kapital keineswegs. Das sieht auch Dahrendorf so: „Der Konflikt organisierter Interessengruppen ist vom Klassenkampf zum quasi demokratischen Streitgespräch geworden. Es ist darum nicht minder ein Klassenkonflikt". Dieser Klassencharakter der Auseinandersetzungen ist in den Jahren der Krise wieder deutlicher hervorgetreten. Die Konsequenzen für die Politik der Gewerkschaften haben sich in den Arbeitskämpfen um Arbeitszeit bereits herauskristallisiert: Der Widerstand der Arbeitgeberseite, auch gegen kleine Fortschritte, wird härter und geschlossener. Die Koalition zwischen Regierung und Unternehmen zeigt kaum Risse. Die Nutzung autonomer Spielräume, die auch weiterhin vorhanden sind, wird wichtiger. In diesem Zusammenhang hat der Einstieg in die Wochenarbeitszeitverkürzung entscheidende Bedeutung, nicht zuletzt als Signal, daß diese autonome Interessenwahrnehmung auch in Krisenzeiten möglich bleibt. Durch die Politisierung der tariflichen Konflikte werden allerdings auch die Gewerkschaften gezwungen, die Verbindung von Betriebspolitik, Tarifpolitik und Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik neu zu definieren. Deutsche und europäische Gewerkschaften waren niemals auf die Regelung von betrieblichen Bedingungen beschränkte Organisationen. Heute ist die überbetriebliche politische Dimension wieder neu gefordert. Gewerkschaftliche Erfolge in der Betriebs- und Tarifpolitik können nur allzu leicht durch staatliche Einflußnahme erschwert oder verhindert werden. Sie können durch staatliche Maßnahmen konterkariert werden. Die gewerkschaftliche Mobilisierungsfahigkeit kann durch Einflüsse außerhalb der betrieblichen Wirklichkeit entscheidend geschwächt werden.

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All das zwingt zu gewerkschaftlichen Aktivitäten über den Betrieb hinaus, Aktivitäten, die die Gewerkschaften immer betrieben haben, die aber in der gegenwärtigen Krisensituation einen neuen Stellenwert bekommen.

3.2 Gespaltene Gesellschaft oder einheitliche Interessenvertretung

Wie alle Großorganisationen ist auch für die Gewerkschaften von zahlreichen Theoretikern die Verselbständigung des Apparats von der Mitgliederbasis konstatiert worden. Ich will mich nur deshalb mit diesem Vorwurf beschäftigen, weil — gerade angesichts der oben geschilderten Herausforderungen — die kritische Analyse der Mobilisierungsfahigkeit und die Einschätzung der Organisationsstärke entscheidende Voraussetzung für eine realistische Politik sind. Auffassungen, die davon ausgehen, daß die Funktionäre ganz oder weitgehend unabhängig von der Mitgliedschaft politische Entscheidungen und Richtungen angeben können, verkennen, daß Gewerkschaften noch viel stärker als etwa politische Parteien auf die Mitglieder angewiesen sind, da zum Beispiel im Streikfall die Mitglieder die Beschlüsse der Organisationsgremien ausführen müssen. Aber auch schon im normalen Tagesgeschäft zeigen Austritte, Verweigerung von Beitragserhöhungen usw. sehr empfindlich an, wie die Mitglieder die betriebene Politik beurteilen. Die Absicherung der Mitglieder basis ist damit eine entscheidende Voraussetzung für organisationspolitische Stärke. Die Gefährdung dieser Basis muß ein eindeutiges Alarmzeichen für jede Gewerkschaft sein. Eine solche Geiahrdung könnte durch gewollte oder zumindest in Kauf genommene Spaltung unserer Gesellschaft eingeleitet werden. Die Reduzierung des Arbeitsvolumens in den vergangenen Jahren, die sich weiter fortsetzen wird, hat über die Arbeitsmärkte zu der sozial schwerwiegendsten Spaltung unserer Gesellschaft geführt. Zwischen 15 und 20 Prozent unserer Bevölkerung — je nach dem, wie hoch die sogenannte stille Reserve angesetzt wird —, sind bereits heute vom Verkauf ihrer Arbeitskraft ausgeschlossen. Das für den sozialen Status, für die Zuteilung von Lebenschancen, aber auch für das eigene Selbstwertgefühl wichtigste Kriterium, nämlich die Teilnahme an der Erwerbsarbeit, ist für sie entfallen. Aber auch innerhalb der verbleibenden Erwerbsbevölkerung zeichnen sich zunehmende Spaltungen und Differenzierungen ab. Die nicht nur auf die Arbeitszeit bezogene Flexibilität erzeugt andere Erwerbsstrukturen, die den Unterschied zwischen zahlenmäßig schwankenden Randarbeitnehmergruppen und einen stabilen Kern von festangestellten firmenspezifischen Stammarbeitnehmern zu einem der wichtigen Unterscheidungskriterien machen werden. Damit werden die Konturen eines Beschäftigungssystems erkennbar, bei dem zur Existenz einer festen industriellen Reservearmee außerhalb der Betriebe die Existenz einer beweglichen industriellen Reservearmee innerhalb der Betriebe

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hinzukommt. Die Trennung von Stammarbeitnehmern und Randbelegschaften wird durch vielfaltige tarifpolitische Initiativen der Arbeitgeber und Gesetzesvorhaben der Bundesregierung initiiert und unterstützt. Weitere Flexibilisierung der Arbeitszeit und Differenzierung der Löhne, Aufweichung sozialversicherungs- und arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften, befristete Arbeitsverträge und Leiharbeit und nicht zuletzt neue Formen der Heimarbeit weisen in diese Richtung. Alle diese Tendenzen der objektiven und subjektiven Spaltung innerhalb des Beschäftigungssystems wirken darauf hin, daß die Bereitschaft und die Fähigkeit zum solidarischen Verhalten unterminiert und zerstört wird. Die individuelle Konkurrenz verschärft sich auch innerhalb des gemeinhin als privilegiert betrachteten Teils der Arbeitnehmerschaft. Zu den ohnehin bestehenden Problemen der Arbeitslosen, die sich durch die zunehmende Dauer der Arbeitslosigkeit und die damit sinkende Chance auf die Wiedereingliederung in das Erwerbsleben verschärfen, kommt die unterschiedliche Betroffenheit der einzelnen Gruppen. Männer und Frauen, Jugendliche und ältere Arbeitnehmer, Deutsche und Ausländer, qualifizierte und weniger qualifizierte Arbeitnehmer werden gegeneinander ausgespielt. Auch dies ist durch politische Maßnahmen angelegt und wird sich unter Status quoBedingungen verschärfen. Aus den genannten Tendenzen ergibt sich die Gefahr, daß die gewerkschaftliche Aktivität sich auf den Bereich der Kernbelegschaften reduziert, während die Mobilisierungsfähigkeit sowohl bei den Randbelegschaften als auch besonders bei den Arbeitslosen selbst kaum noch gegeben ist. Gleichzeitig erhöht sich die Integrations- und Anpassungsbereitschaft der Kernarbeitnehmer an die Interessen des Betriebes bzw. des Unternehmens. Hier ergeben sich für die gewerkschaftliche Durchsetzungsfahigkeit ernsthafte Probleme, die vor allem dadurch angegangen werden müssen, daß den Ursachen der gesellschaftlichen Spaltung offensiv entgegengetreten wird. Die Chancen liegen darin, daß durch eine aktive Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die hauptsächliche Ursache der beschriebenen Spaltung beseitigt wird. Sie liegen weiterhin darin, daß schon heute die Mobilisierung auch und gerade derjenigen betrieben wird, die sich im gefährdeten Randbereich befinden und die bereits in die Arbeitslosigkeit abgedrängt worden sind. Sie liegen schließlich nicht zuletzt darin, diese Mobilisierung umzusetzen in gesellschaftspolitische Initiativen, um politischen Druck dort auszuüben, wo die Beschäftigungskrise mißbraucht wird, um Privilegien abzusichern und die Vertretungsmacht der Arbeitnehmer zu schwächen. In der theoretischen Diskussion würde eine solche negative Entwicklung in Richtung auf eine gespaltene Interessenvertretung am ehesten mit dem Begriff des selektiven Korporatismus bezeichnet werden, der von verschiedenen Autoren für die Bundesrepublik bereits konstatiert wurde. Selektiver Korporatismus läßt sich aber ganz sicher nicht an der Mitgliederstruktur, zum Beispiel am

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Facharbeiteranteil, ablesen. Er ergibt sich vielmehr vor allem aus der betriebenen Politik und liegt dann vor, wenn diese Politik nicht mehr auf die Vereinheitlichung der Arbeits- und Lebensbedingungen, sondern auf die unmittelbare Vertretung partikularer Interessen gerichtet ist. Es wäre sicherlich lohnend, die Gewerkschaftspolitik der letzten Jahre gerade in ihrer differenzierten Ausprägung einmal an diesem Kriterium zu überprüfen. Ich kann und will das an dieser Stelle nicht tun, sondern lediglich feststellen, daß die Gefahr der zunehmenden Aufspaltung der Interessen und der Interessenvertretung, die im übrigen bereits wesentlich früher begonnen hat, so zum Beispiel bei der Verankerung der Leitenden Angestellten im Mitbestimmungsgesetz 76, erkannt ist und daraus Konsequenzen gezogen worden sind. Als Beispiel nenne ich auch hier die Politik der Wochenarbeitszeitverkürzung, die ausdrücklich und in ihrer formulierten Zielsetzung diesen Tendenzen entgegenwirken sollte und weiterhin soll. Nicht umsonst war der Widerstand der Arbeitgeber und der Bundesregierung gerade gegen diese Forderung so massiv und unter Belastungsgesichtspunkten geradezu irrational. Durch das eben Gesagte wird die Aufgabe für nahezu alle Gewerkschaften nicht berührt, die organisatorische Basis dort zu verstärken, wo sie heute noch zu schwach ist. Dies gilt vor allem in den kleinen und teilweise in den mittleren Betrieben, im Handwerk, dessen Arbeitgeber wiederholt Vorreiter für gewerkschaftsfeindliche Aktivitäten gewesen sind. Dies gilt darüber hinaus im Bereich der Angestellten vor allem da, wo hohe Qualifikation noch immer mit Distanz oder feindlicher Haltung gegenüber den Gewerkschaften einhergeht.

3.3 Konflikt oder Kooperation

I m letzten Teil dieses Abschnitts soll die organisationspolitische Orientierung angesprochen werden, die in der theoretischen Diskussion mit den Begriffen kooperative und konfliktorische Gewerkschaftspolitik bezeichnet wird. Ungeachtet der historischen Diskussion, die ich an dieser Stelle nicht erneut aufgreifen möchte, werden in Anlehnung an die Untersuchungen von Bergmann, Jakobi und Müller-Jentsch kooperative Gewerkschaften folgendermaßen gekennzeichnet: Sie versuchen die Mitgliederinteressen durch Anpassung ihrer Forderungen an konjunktur- und wachstumspolitische Erfordernisse zu realisieren. Konfliktorische Gewerkschaften dagegen versuchen, die Mitgliederinteressen durch unmittelbare Umsetzung in tarifpolitische Forderungen und Strategien zu realisieren. Diese Begriffe der theoretischen Diskussion sind sicherlich zu unscharf und in ihren Konsequenzen zu wenig ausgeleuchtet. Sie sind in neueren Untersuchungen dann auch weiter differenziert worden. Dennoch werden sie auch heute noch

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— bedingt durch ihre Unschärfe — häufig diskriminierend verwendet; zum Beispiel in der Weise, daß die Gewerkschaften der romanischen Länder einschließlich Frankreichs als konfliktorisch und damit als antikapitalistisch, die deutschen Gewerkschaften dagegen als kooperativ und damit als systemstabilisierend bezeichnet werden. Eine solche Einstufung greift sicherlich bei weitem zu kurz. Konsequenzen aus einer solchen Diskussion lassen sich sicherlich nicht mit so nichtssagenden Sätzen ziehen, wie: „So viel Kooperation wie möglich, so viel Konflikt wie nötig", wie man ihn aus dem Godesberger Programm der SPD entlehnen könnte, wo er allerdings auf Markt und Planung bezogen ist. Die Konsequenzen kann man nur dadurch ziehen, daß man als Gewerkschaft die Konfliktfähigkeit erhält und verstärkt; nicht um notwendigerweise eine grundsätzlich konfliktorisch orientierte Organisation zu werden, sondern um konfliktfahig zu werden oder zu bleiben, und dies nicht nur in tarifpolitischer Hinsicht, sondern auch betriebspolitisch und gesellschaftspolitisch. Denn wenn man die heute erkennbaren Tendenzen und Entwicklungslinien fortschreibt, dann werden Arbeitnehmerinteressen in der Zukunft immer weniger im friedlichen Einvernehmen vertreten werden können.

4. Gewerkschaftliche Ansatzpunkte zur Gestaltung der Arbeitsgesellschaft 4.1 Arbeitszeit verkürzen — Arbeit menschlicher machen

Zahlreiche Tendenzen und Entwicklungslinien deuten hin auf erschwerte Durchsetzungsbedingungen für gewerkschaftliche Ziele und Vorstellungen. Voraussetzung für die Durchsetzung inhaltlicher Positionen ist deshalb zunächst: — die Erhaltung und Stärkung der zahlenmäßigen und organisatorischen Kraft der im DGB zusammengeschlossenen Einzelgewerkschaften und die stärkere Einbeziehung der Arbeitnehmergruppen, die in den Gewerkschaften bisher noch unterrepräsentiert sind, — die Verknüpfung von betrieblicher Gegenwehr, die auf die Absicherung, die volle Ausschöpfung und den Ausbau der betriebsverfassungsrechtlichen Möglichkeiten gerichtet ist, mit einer tarifpolitischen Gegenoffensive, — die Verbindung von tarifpolitischer und gesellschaftspolitischer Mobilisierung und, damit einhergehend, die verstärkte offensive Vertretung gewerkschaftlicher Anliegen und Ziele in der Öffentlichkeit. Alle diese Punkte sind von inhaltlichen Positionen nicht zu trennen und stehen mit diesen in enger Wechselwirkung. I m inhaltlichen Bereich selbst behält in der Zukunft die Arbeitszeitpolitik durch Tarifvertrag und durch Gesetz ihre eindeutige Priorität. Dabei steht außer Frage, daß die wöchentliche Verkürzung der Arbeitszeit unter beschäftigungspolitischen Gesichtspunkten die effektivste Form darstellt. Über die beschäftigungspolitische Sichtweise hinaus müssen

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jedoch auch Kaufkraftargumente und sozial- und humanisierungspolitische Motive in die Überlegungen einbezogen werden. Das weitere Ansteigen der Massenarbeitslosigkeit muß über die Umverteilung der Arbeit begrenzt bzw. verhindert werden. Damit würde gleichzeitig die Entsolidarisierung von Beschäftigten und Arbeitslosen unterbunden und die Aufspaltung der Arbeitsplatzbesitzer in verschiedene Gruppierungen erschwert. Gleichzeitig muß aber auch das weitere Absinken der Massenkaufkraft durch die Stabilisierung und Verbesserung des Reallohnniveaus vermieden werden. Arbeitszeitverkürzung, besonders in der Form der Reduzierung der täglichen Arbeitszeit, sorgt für die bessere Vereinbarkeit der unterschiedlichen Anforderungen von Beruf und Familie bzw. von Arbeit und Freizeit. Arbeitszeitverkürzung hat gerade in dieser Hinsicht auch eine gesellschaftsverändernde Komponente. Die Gefahr der Flexibilisierung muß erkannt und ihre negativen Begleiterscheinungen müssen verhindert werden. Die Tarifpolitik muß darauf Rücksicht nehmen, daß wachsende Arbeitsbelastungen durch ungünstige Dauer und Lage der Arbeitszeit vermieden werden müssen. Das bedeutet, daß die individuelle Flexibilisierung der Arbeitszeit nach den Anforderungen der Betriebe verhindert werden muß. Allgemein geht es darum, der Strategie von Arbeitgebern und konservativer Politik entgegenzutreten, die die Verfügungsgewalt über die Anwendungsbedingungen menschlicher Arbeitskraft in bezug auf ihren Preis, auf die Arbeitszeit und die Arbeitsorganisation den betrieblichen Erfordernissen nutzbar machen will, wirksam entgegenzutreten. Zugleich geht es darum, eine umfassende „,konkrete Utopie" einer an menschlichen Prinzipien orientierten Gesellschaft zu entwickeln, in der die humane Arbeitswelt eine zentrale Stelle einnimmt. Zur Durchsetzung einer solchen Utopie werden tarifpolitische Aktivitäten in der Zukunft auch zur Absicherung und Weiterentwicklung von Mitbestimmungsrechten für Arbeitnehmer, vor allen Dingen auf der betrieblichen Ebene dienen. Mitbestimmungsrechte bei der Einführung neuer Technologien, bei der Festlegung von Lohn- und Leistungsstrukturen, die dringend erforderlich wären, sind nur unzureichend gegeben. Hier müssen offensive tarifpolitische Initiativen wirksam werden. Es stellt sich allerdings die Frage, ob mit den bisherigen Strukturen in den Betrieben und auch mit den weiter zu entwickelnden Mitbestimmungsmöglichkeiten die humane Gestaltung der Arbeitswelt tatsächlich erreicht werden kann. Angesichts der Einführung neuer Techniken im Informationsbereich muß darüber nachgedacht werden, ob zusätzlich zu den erforderlichen Arbeitszeitverkürzungen zeitliche Spielräume geschaffen werden können, die durch die Arbeitnehmer nach dem Kriterium der sozialen Beherrschung der Technologien genutzt werden können. Dies würde Zeit bedeuten für Arbeitskreise, die sich der Humanisierung der Arbeitsorganisation widmen und nicht nach dem unternehmensbezogenen Motiv der Qualitätszirkel oder anderer

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Führungskonzepte arbeiten. Dies würde auch Zeit bedeuten für die Erarbeitung von Gegenkonzepten zu leistungssteigernder Rationalisierung, aber auch zu Produktionskonzepten, deren Sinn von den Arbeitnehmern nicht geteilt wird. Eine solche zeitliche Untermauerung und Verstärkung der Mitbestimmungsrechte könnte verhindern, daß trotz aller Anstrengungen das Feld des Betriebes der Verfügungsgewalt des Kapitals und seinen Technikkonzepten überlassen bleibt. Sie könnte damit die Trennung zwischen Arbeits- und Lebenswelt mit all ihren negativen Auswirkungen abbauen und mildern helfen. 4.2 Ausweitung der gewerkschaftlichen Handlungsfelder

Schwerpunkt der gesellschaftspolitischen Offensive wird in den kommenden Jahren ebenfalls eindeutig die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit sein. Dazu gehört sowohl die öffentliche Propagierung der Arbeitszeitverkürzung als auch die offensive Vertretung der gewerkschaftlichen Forderungen nach einer qualitativ orientierten Wachstumspolitik sowie nach politischen Maßnahmen mit der Zielsetzung einer sozialen Beherrschung der Produktivitätsentwicklung. Weitere Schwerpunkte liegen im Kampf gegen den fortgesetzten Sozialabbau sowie im aktiven Eintreten für eine reformfahige, an solidarischen Grundwerten orientierte Gesellschaft. Dazu gehört vor allem die weitere Demokratisierung, in erster Linie durch die Einführung der qualifizierten Mitbestimmung auf allen Ebenen. Neben diesen „traditionellen" Arbeitsgebieten der Gewerkschaften im politischen Raum bringt der zu erwartende Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft neue Handlungsnotwendigkeiten. Ausgangspunkt ist jedoch in jedem Fall die Arbeitszeitpolitik und deren Erfolg; denn nur die Arbeitszeitverkürzung kann die Aufspaltung der gesellschaftlichen Arbeit und der Gruppen der Gesellschaft verhindern helfen. Dennoch gibt es Gründe dafür, die Aufmerksamkeit auch auf andere Bereiche zu lenken. Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern, in- und außerhalb von Hochschulen, kann dazu dienen, die Aufgabenfelder von Wissenschaft und Forschung stärker als bisher auf die Humanisierungs- und Emanzipationsziele der Gewerkschaften im Erwerbssektor auszurichten. Es könnte gleichzeitig der kritischen naturwissenschaftlichen technischen Intelligenz ein attraktives gewerkschaftsnahes Arbeitsgebiet erschlossen werden und die Verbindungen dieser Arbeitnehmergruppe, die auch als Multiplikatoren Bedeutung haben, zu den Gewerkschaften gestärkt werden. Die Notwendigkeit zu Überlegungen für die Präsenz im Nichterwerbssektor ergibt sich auch aus dem umfassenden Vertretungsanspruch für die heute und in Zukunft Ausgegrenzten und Benachteiligten, wie zum Beispiel Arbeitslose, Teilzeitarbeitnehmer, Heimarbeiter, ausländische Arbeitnehmer, Jugendliche oder Frauen. Diese Gruppen können betriebsgebunden nicht oder nur schwer erreicht werden, bedürfen wegen ihrer Isolation aber ganz besonders des

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gewerkschaftlichen Schutzes. Schließlich muß — als weiteres Beispiel — die Ausgliederung von Arbeitslosen aus den Gewerkschaften, die mit der zunehmenden Aufspaltung in Arbeitsplatzbesitzer und Arbeitslose verbunden ist, vermieden werden. Hier reicht aktive Beschäftigungspolitik mit möglicherweise erst mittel- und langfristig zu erreichenden Erfolgen nicht aus. Unter all diesen Aspekten, die zweifellos noch ergänzt werden könnten, muß geprüft werden, ob zusätzlich zur betriebsbezogenen Arbeit auch am Wohnort, am Stadtteil oder anderen Bezugspunkten anknüpfende gewerkschaftliche Aktivität sinnvoll sein kann und ob sie mit vertretbarem Aufwand durchgeführt werden kann. 4.3 Erhaltung der gewerkschaftlichen Kampfkraft

Ich möchte zum Schluß anknüpfen an die Ausführungen, die ich an den Anfang dieses Referats gestellt hatte. Wie ein roter Faden zieht sich durch die gewerkschaftstheoretische Diskussion das Thema der gewerkschaftlichen Handlungsfähigkeit und in diesem Zusammenhang vor allem des Streikrechts und der Streikfahigkeit. Dies ist in der Tat der entscheidende Punkt in der theoretischen Diskussion ebenso wie in der praktischen Politik. Diese Aussage gilt ungeachtet der vielfaltigen Herausforderungen, denen sich Gewerkschaften gegenwärtig gegenübersehen und die ich nur zum Teil ansprechen konnte. Das Streikrecht wird in der gegenwärtigen Situation nicht bestritten. Es ist im Grundgesetz garantiert, auch wenn die Rechtsprechung schon gegenwärtig dieses Recht erheblich einschränkt und deformiert. Die Streikfahigkeit und damit die Substanz des Streikrechts wird dagegen massiv angegriffen. Das muß den Widerstand aller Gewerkschafter hervorrufen. Ich möchte mit zwei Zitaten schließen. Das erste stammt von Götz Briefs. Er sagte: „Wenn die Demokratie nicht mehr durch religiöse und moralische Sanktionen gesichert ist noch durch nationale Überzeugung gedeckt ist, wenn sie also pragmatisch entartet und in das Geschiebe großer Verbände geraten ist, dann lebt sie davon, daß diese Blöcke sich im Gleichgewicht befinden. Wenn aber einer von ihnen übermächtig wird in Verbindung mit einer politischen Klassenpartei, dann ist die Demokratie existentiell gefährdet und kann ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen". M i t diesen Formulierungen trifft Götz Briefs exakt die Realität, wenn auch im gegenteiligen Sinn, den er ursprünglich gemeint hat. Denn er sprach — wie ausgeführt — von der drohenden Übermacht der Gewerkschaften. Davon sind wir weit entfernt. Daß die Gewerkschaften noch stärker in die Defensive gedrängt werden, muß verhindert werden. Sie müssen durchsetzungsfahig und gestaltungsfähig bleiben. Denn — und dies ist das zweite Zitat —: „Freie und unabhängige Gewerkschaften sind eine Voraussetzung jeder demokratischen Gesellschaft."

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So formuliert in aller Klarheit das Grundsatzprogramm des DGB in seiner Präambel. Die Gewerkschaften haben sich im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder verändert. Verändert haben sich auch die theoretischen Ansätze zu ihrer Analyse und zur Fundierung der praktischen Arbeit. Der Grundgedanke, der solidarische Zusammenschluß von Arbeitnehmern zur Durchsetzung ihrer Interessen, zur Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen, bleibt unverändert gültig.

IL Gewerkschaftstheorien in Einheitsgewerkschaften: Ansätze, Probleme, Perspektiven

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Tagung Dortmund 1985

Das Beispiel Deutscher Gewerkschaftsbund Von Gerhard Leminsky, Düsseldorf I. Einleitung und Abgrenzung 1. Der Begriff „Einheitsgewerkschaft" wird auf hochentwickelte westliche Industriegesellschaften bezogen, insbesondere auf die im Deutschen Gewerkschaftsbund zusammengeschlossenen Gewerkschaften, d. h. auf eine Organisation der Gewerkschaften, unabhängig von Berufsgruppen, politischen Richtungen/konfessionellen Orientierungen oder ständischen Differenzierungen. Die Bedeutung der Einheitsgewerkschaft ist dabei mehr als eine Frage „zweckmäßiger Organisation"; sie beruht auch auf Wertvorstellungen über eine demokratische, solidarische und auf Mitgestaltung der Arbeit gerichtete Gewerkschaftspolitik. Nur am Rande: Der Begriff Einheitsgewerkschaft ist nicht sehr glücklich, weil er möglicherweise eine schematische Einheit suggeriert, die der Wirklichkeit nicht entspricht 1 . 2. Der Begriff „Gewerkschaftstheorie" wird als breiter und offener Zusammenhang von aufeinander bezogenen wissenschaftlich nachprüfbaren Hypothesen verstanden, der auf (Einheits-)Gewerkschaften im obigen Sinne bezogen ist. Der Begriff Gewerkschaftstheorie, der damit analytisch aufgefaßt wird, legt allerdings die Prüfung von Überlegungen nahe, die die Gesamtheit der sozialen Realität Gewerkschaften betreffen. Der Blick muß deshalb mehr auf Zusammenhänge, etwa von Programmatik, Organisationsstrukturen und Politikfeldern, als auf Einzelaspekte gerichtet werden 2 . 3. Die Beziehung zwischen Einheitsgewerkschaft und Gewerkschaftstheorie wird unter den Gesichtspunkten behandelt, wie Wissenschaft die soziale Realität Gewerkschaft beeinflußt hat bzw. wie sich das Verhältnis von Wissenschaft zu Gewerkschaften entwickelt hat, oder wo besonders erklärungsbedürftige Sachverhalte vorliegen. Das Schwergewicht liegt dabei auf den realen Beziehungen in der Bundesrepublik und auf der gegenwärtigen Situation. Die Analyse geht von gewerkschaftlichen Problemen aus und nicht von Theorieansätzen. 1 Vgl. Borsdorf U., Hemmer, H. O. und Martiny, M . (Hrsg.), Grundlagen der Einheitsgewerkschaft. Historische Dokumente und Materialien. Köln, Frankfurt a. M. 1977. 2 Als aktuelle zusammenfassende Darstellung vgl. Müller-Jentsch, W. Soziologie der industriellen Beziehungen. Eine Einführung. Frankfurt, New York 1986.

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Gerhard Leminsky

II. Wissenschaft und Gewerkschaft Einheitsgewerkschaften vereinen in einer Organisation unterschiedliche Zielvorstellungen, unterschiedliche Mitgliederstrukturen und unterschiedliche Politikansätze. Theorieansätze, die diese Sachverhalte im Sinne von „Gewerkschaftstheorie" erklären, müssen deshalb erstens Bandbreiten statt Zielpunkte, Willensbildung und Ausgleich unterschiedlicher Interessen, Festlegung von Strategien im Kräftefeld divergierender Einflüsse zum Gegenstand haben und sie müßten zweitens — nach meiner Auffassung — zumindest ansatzweise den Zusammenhang von Zielen, Organisationsformen und konkreter Politik im Blick haben. 1. Es gibt keine Gewerkschaftstheorie speziell für Einheitsgewerkschaften, nicht notwendig ein Nachteil sein muß. Theorieansätze, die auf Einheitsgewerkschaften bezogen sind, müssen jedoch der in diesem Prinzip angelegten Differenzierung und Kompromißhaftigkeit gerecht werden, um ihre Politik und ihre Strukturen angemessen zu erklären. Die Absichten, die früher mit „Gewerkschaftstheorie" verfolgt wurden, haben sich — teilweise — in zwei Richtungen weiterentwickelt: 2. Wissenschaft, die sich mit Gewerkschaften und gewerkschaftlichem Handeln auseinandersetzt, hat in den 70er Jahren den Begriff der „arbeitnehmerorientierten Wissenschaft" entwickelt. Dahinter steht die Vorstellung, nicht eine besondere Theorie für Gewerkschaften als die Organisation abhängiger Arbeit zu entwickeln, sondern auf die Gestaltung und Berücksichtigung von auf Arbeit gerichtete Vorstellungen in jede Art von Wissenschaft zu tragen (Interessenbezug, Praxisbezug, Kooperation), was zu wissenschaftsinternen Kontroversen besonderer Art geführt hat, und wobei die Beziehung zu den Gewerkschaften besonders eng ist 3 . 3. In neuerer Zeit wird auch der Begriff „Arbeitspolitik" verwendet. Er verweist auf die Regulierung der Arbeit als eine zentrale politische Gestaltungsaufgabe. Dieser Ansatz ist von zentraler Bedeutung für die Gewerkschaften, weil er die Trennung von Wirtschaft /Technik und Staat/Gesellschaft aufhebt und auch Wirtschaft als Gestaltungsbereich begreift 4 . 4. Für die Bundesrepublik, die deutschen Gewerkschaften und die Wissenschaft lassen sich die zuletzt genannten Ansätze beispielhaft am Problem der „Humanisierung der Arbeit" verfolgen. Sie zeigen, daß eine Zusammenarbeit von Wissenschaft und Gewerkschaften institutioneller Grundlagen bedarf,

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Katterle, S. und Krahn, K. (Hrsg.), Wissenschaft und Arbeitnehmerinteresse. Köln 1979. 4 Vgl. neuestens: Naschold, F. (Hrsg.), Arbeit und Politik. Gesellschaftliche Regelung der Arbeit und der sozialen Sicherung. Frankfurt, New York 1985, und Säbel, C. F., Work and Politics. Cambridge, London, New York 1982.

was

Das Beispiel Deutscher Gewerkschaftsbund

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eine mittelfristige Orientierung erfordert, an konkreten gemeinsam festgelegten Problemen anknüpfen sollte und Forschung — wenn sie auf soziale Zusammenhänge bezogen ist — nicht ohne Aspekt der Umsetzung und Folgen betrieben werden sollte. Dies hat sich ansatzweise durch Kooperationsverträge und Kooperationsstellen an Hochschulen, durch die Arbeit von wissenschaftlichen Instituten oder durch das Engagement von einzelnen Forschern bewährt — was aber im Zuge der „Wende" allenthalben wieder eingeschränkt wird 5 . 5. Wissenschaft wird in dem Maße für die Gewerkschaften wichtiger, wie Wissenschaft zum eigenständigen Produktionsfaktor wird und in der sozialen Realität Veränderungen in qualitativen Sprüngen ermöglicht, auf die sich Gewerkschaften nicht durch Lernen und Erfahrung vorbereiten können (Stichwort: „Neue Technologien"). Auf diese Zusammenhänge sollte auch unter dem Thema „Gewerkschaftstheorie in Einheitsgewerkschaften" hingewiesen werden dürfen. Es wird daraus deutlich, daß eine systematische Analyse von Problemen abhängiger Arbeit und ihrer Interessenvertretung besondere Strukturbedingungen im Wissenschaftsbereich erfordern, die zur Zeit nur ungenügend und mit abnehmender Tendenz gegeben sind. Damit soll nicht von dem Sachverhalt abgelenkt werden, daß sich die Gewerkschaften im Umgang mit Wissenschaft ebenfalls oft schwertun. Gewerkschaftliche Programmatik in der Einheitsgewerkschaft 6

Eine „eigenständige" Programmatik kann es nur in Einheitsgewerkschaften geben. Richtungsgewerkschaften beziehen ihre Zielvorstellungen von ihrer Partei oder der Kirche; Berufsgruppen brauchen bei enger Zielsetzung keine eigene Ideologie, ständische Organisationen sind in konservativem Standesdenken verwurzelt. Einheitsgewerkschaften sind aufgrund ihrer Größe stets auch politische Machtfaktoren, die sich als unabhängig vom Staat bzw. den politischen Parteien und als unabhängig von den Unternehmen definieren. Einheitsgewerkschaften sind stets reformistisch: Sie müssen am Bestehenden anknüpfen, um die Interessen der abhängig Beschäftigten zu vertreten, aber sie weisen in ihren Zielvorstellungen über die bestehenden Ordnungen hinaus. Dabei überwiegen freiheitlich-sozialistische bzw. sozialdemokratische Leitbilder; in vielen Fällen ist der Einfluß christlichen Gedankenguts beträchtlich. Die Rolle von Kommu5 Zusammenfassende Übersicht: Leminsky, G., Mitbestimmung und Wirtschaftsdemokratie. In: Handbuch zur Humanisierung der Arbeit, Hrsg. Bundesanstalt für Arbeitsschutz, Bd. II, Bremerhaven 1985. 6 Leminsky, G. und Otto, B., Politik und Programmatik des Deutschen Gewerkschaftsbundes, 2. Aufl., Köln 1984. Vgl. zum folgenden besonders den einführenden Aufsatz zum Grundsatzprogramm 1981 des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

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nisten in der Einheitsgewerkschaft wird vor allem in der Bundesrepublik bei Programmdiskussionen als besonders problematisch eingeschätzt (in der konkreten Politik ist dies jedoch ohne größere Bedeutung). Die Mischung der einzelnen Programmelemente, in der Geschichte begründet, bedeutet, daß Einheitsgewerkschaften, zumal der DGB, in ihren Programmen Bandbreiten von Zielvorstellungen, Einzelvorstellungen und Mindestbedingungen enthalten, die sich aus ihrer Tradition und aus der jeweils aktuellen Gesamtlage ergeben und erst vor diesem Hintergrund ihr Gewicht erhalten. Ein solches Programm erhält seine Bedeutung nicht primär durch wissenschaftliche Konsistenz. Es erhält seinen Stellenwert durch die Zustimmung der Mitgliedschaft, schafft Integration und Abgrenzung zugleich, damit auch Identifikation. Die Tatsache z.B., daß sich die Diskussion um das neue Grundsatzprogramm des DGB von 1981 auf — das Verständnis von Einheitsgewerkschaft und in Verbindung damit auf den Toleranzbegriff sowie auf — die Stellung der Gewerkschaften im Rahmen der Verfassung mit dem Sozialstaatspostulat konzentrierte, bedeutete keine „neue Orientierung", sondern eine Klärung in Auseinandersetzungen, die ζ. T. mehr außerhalb als innerhalb der Gewerkschaften geführt wurden 7 . Wichtig scheint in diesem Zusammenhang, daß sich die programmatische Orientierung der Gewerkschaften in den letzten Jahren beträchtlich verbreitert und vertieft hat. Dabei wird zunehmend versucht, Zielvorstellungen mit Möglichkeiten der Umsetzung zu verknüpfen; man denke — neben dem Aktionsprogramm — an Vorschläge zur Vollbeschäftigung, zur Humanisierung der Arbeit, zur Technologiepolitik, zu Zielvorstellungen in bezug auf einzelne Gruppen usw. Dieser Trend zu Teilkonzepten weist auf die Notwendigkeit differenzierter Vorgehensweisen zu verschiedenen Problemen hin. In neuester Zeit ist ein weiterer, konsequenter Schritt von der Zielvorstellung zur Umsetzung mit einem kampagnenartigen Vorgehen zu verzeichnen: Aktuelle Stichworte sind die Aktionswoche des DGB von Oktober 1985 und die Kampagne Arbeit und Technik der I G Metall 8 . Diese Entwicklungslinien der Programmatik sind nur von der Gesamtlage der Arbeit in der Bundesrepublik zu verstehen: Vom Appell an Staat und Parteien zu einer stärkeren Besinnung auf die „eigene Kraft". Vom mehr statischen Denken in alternativen Systemen oder Institutionen zu einem mehr problem- und prozeßorientierten Denken, was wiederum ein 7

Vgl. dazu Lemisky, G., Zum Grundsatzprogramm '81 des Deutschen Gewerkschaftsbundes. In: Leminsky/Otto, Politik und Programmatik, a.a.O., S. 13f. 8 Vgl. zur Aktionswoche: Ernst Breit, Gemeinsam gegen eine Politik für wenige. In: Gewerkschaftliche Monatshefte 8/85; zum „Aktionsprogramm Arbeit und Technik" vgl. Der Gewerkschafter. Monatsschrift für Funktionäre der I G Metall 2/85.

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stärkeres Anknüpfen an unmittelbares Mitgliederinteresse bedingt. Zugleich stellt sich die Frage nach den Beteiligungsmöglichkeiten der Mitglieder in weit stärkerem Maße als dies vorher der Fall war. Es bleibt die Frage — bei aller Anerkennung der Notwendigkeit, auf unterschiedliche Strukturen mit unterschiedlichen Lösungen zu reagieren —, wie die Einheitsgewerkschaft auch auf programmatischer Ebene eine auf das Arbeitsleben bezogene konkrete Utopie zu formulieren vermag, die über unterschiedliche Ansätze hinweg alle Mitglieder in eine gemeinsame Solidarität einzubinden vermag. Dies ist nicht eine akademische Denksportaufgabe; sie resultiert aus den Veränderungen von Wirtschaftsentwicklung, Mitgliederstrukturen und gewandelten Wertvorstellungen, nicht zuletzt auch aus Unternehmerstrategien. Diese Schlüsselfrage ist jedoch nicht für sich von zentraler Bedeutung, sondern in bezug auf ihre Ausprägung in Organisationsstrukturen und konkreten Politikfeldern. Einheitsgewerkschaft und Organisationsstrukturen 9

Die Kraft der gewerkschaftlichen Organisation beruht darauf, daß sie die Interessen der abhängig Beschäftigten wirksam vertreten können gegenüber Staat und Unternehmen. Auch hier lassen sich — wiederum in Zusammenhang mit Zielvorstellungen und neuen Entwicklungen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft — bedeutsame Änderungen feststellen. Doch vorab: Bei historischer Betrachtung zeigt sich eine große Kontinuität in den gewerkschaftlichen Organisationsstrukturen, etwa im Verhältnis von Organisation und Mitgliedschaft, in der internen Organisation, in der Art der innergewerkschaftlichen Willensbildung. Da die Komplexität der Gewerkschaftsorganisation ein Spiegel der Differenziertheit des Arbeitslebens ist, wird die außerordentliche Bedeutung der innergewerkschaftlichen Demokratie unmittelbar deutlich. Eine Vielzahl von Interessen, die jeden Arbeitnehmer teilweise sehr unterschiedlich betreffen, müssen abgestimmt werden. Das ist kein mechanischer Prozeß, es ist politische Willensbildung, an deren Ende der gewerkschaftliche Standpunkt steht. Dies ist eine demokratische Integrationsleistung der Gewerkschaftsorganisation in einer Einheitsgewerkschaft, die m.E. bisher nicht genügend anerkannt worden ist (Gegenbeispiel: Fluglotsen). Einerseits verleiht die Breite der vertretenen Interessen der Einheitsgewerkschaft Geschlossenheit, andererseits kann diese

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Die oft vernachlässigte Bedeutung der Organisationsstrukturen hat Streeck deutlich herausgearbeitet: Streeck, W., Gewerkschaftliche Organisationsprobleme in der sozialstaatlichen Demokratie. Königstein/Ts. 1981. Allgemein dazu auch: Müller-Jentsch, Soziologie der industriellen Beziehungen, a.a.O., S. 68ff.

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Geschlossenheit bei heterogenen Mitgliederinteressen auch zu Schwierigkeiten bei der Mitgliedermobilisierung führen. Dieses abstrakt feststellbare Spannungsverhältnis erhält seine praktische Bedeutung in bestimmten konkreten Situationen, z. B. bei der Aufstellung tarifpolitischer Forderungen, beim Bedarf solidarischer Unterstützung in und zwischen Gewerkschaften, bei gegenseitiger finanzieller Hilfe usw. Die Formalisierung innergewerkschaftlicher Willensbildung in der Einheitsgewerkschaft hat sich ohne Zweifel bewährt, auch wenn die Komplexität der Organisation zu „langen Wegen" führt. Spontanes Handeln und schnelles Aufgreifen von Mitgliederbedürfnissen werden dadurch erschwert. Eine wichtige Aufgabe wird sein, die Organisation mehr nach unten zu öffnen, ohne die Schlagkraft der Spitze zu mindern. Stichworte: Dezentralisierung, Rationalisierung, Beteiligung (Rolle von Ehrenamtlichen, Vertrauensleuten, interessierten Mitgliedern usw.). Dabei sollte durch den behaupteten Gegensatz von Basis und Apparat keine falsche Frontstellung geschaffen werden. Der gewerkschaftliche „Apparat" ist nicht nur ein funktionelles Erfordernis, er ist darüber hinaus auch ein Bewahrer gewerkschaftlicher Tradition, eine Garant für die gewerkschaftlichen Gesamtinteressen, ein Sprecher von Unterprivilegierten oder in den Gewerkschaften oft nur gering Vertretenen (gemessen an der Mitgliederzahl), z.B. Ausländern, anderen Problemgruppen. Aber der Apparat darf sich auch nicht verselbständigen — bei aller Notwendigkeit zu professioneller Kompetenz. Die Frage, ob die Gewerkschaften überwiegend die Mitgliederinteressen im engen Sinn, nämlich im Produktionsbereich, zu vertreten haben, oder ob sie auch Anwalt der Unterprivilegierten sein können oder sollen, wird aufgrund der Mitgliederstrukturen allein sicher eher im Sinne enger Interessenwahrnehmung entschieden. Gewerkschaftliche Traditionen, programmatischer Anspruch und die Rolle des Apparats können diese Grenzen jedoch auch überwinden (Beispiel: Aufnahmen von Arbeitslosen in Gewerkschaften) 10. Zu den aktuell wichtigen Fragen zählt ohne Zweifel die Entwicklung von Mitglieder- und Beschäftigungsstrukturen, wobei z. B. bei den deutschen Einheitsgewerkschaften (DGB) die derzeitige Mitgliederstruktur die Beschäftigungsstruktur der 50er Jahre widerspiegelt. Anders ausgedrückt: Die Gewerkschaften haben die Veränderungen auf eine Dienstleistungsgesellschaft, den Aufstieg der Angestellten und die Bedeutung neuer Arbeitnehmergruppen in ihrer Mitgliedschaft nicht nachvollziehen können. Darüber hinaus kann ihre Kraft auch in den bisherigen „Hochburgen" in Gefahr geraten, wenn bei 10 Vgl. in kontroverser Position einerseits Heinze/ Hinrichs/ Offe / Olk, Interessendifferenzierung und Gewerkschaftseinheit — Bruchlinien innerhalb der Arbeiterklasse als Herausforderung für gewerkschaftliche Politik. In: Gewerkschaftliche Monatshefte 6/81, S. 33 ff. und andererseits Streeck, W., Einheitsorganisation und Interessendifferenzierung — Anmerkungen zum Begriff der Vereinheitlichung, ebenda, S. 354 ff.

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zunehmender Technisierung Produktionsprozesse durch wenige Schlüsselkräfte aufrechterhalten werden können, wie die Streiks der letzten Jahre gezeigt haben. Diese Aspekte im Zusammenhang haben zu einer Neubelebung der gewerkschaftlichen Diskussion um die „technische Intelligenz" der Arbeitnehmerschaft geführt, die näher an die Gewerkschaften herangeführt werden sollte, wozu man organisatorische Freiräume und strukturelle Möglichkeiten auch der Beteiligung schaffen muß. Zugleich muß die gewerkschaftliche Politik so angelegt sein, daß diese Gruppen ihre Interessen hier wiedererkennen können (Beginn mit offenen Formen der Zusammenarbeit) 11 . Eine Frage von ähnlicher Bedeutung ist die Gewinnung der Jugend für die Gewerkschaften. Die Gewerkschaften waren einmal „junge Organisationen", die Hoffnungsträger für die Jugend waren. Glaubt man neueren Studien, so werden heute viel Jugendliche durch typische Züge von Großorganisationen eher abgeschreckt 12. Auch dies bestätigt den Bedarf an „Öffnung nach unten", an Einbeziehung der Mitgliedschaft; professionelle Wahrnehmung gewerkschaftlicher Aufgaben ist wichtig, aber der menschliche Kontakt, die Möglichkeit zu spontanem Handeln, das Eingehen auf verschiedene Bedürfnisse, Glaubwürdigkeit und Umgang miteinander, dürfen nicht verlorengehen — die Gewerkschaften müssen Bewegung bleiben. Es kann hier offen bleiben, ob der für die Bundesrepublik typische Dualismus der Interessenvertretung eine Stärkung der Gewerkschaften bedeutet, was mehrheitlich vermutet wird. Solange und sofern es gelingt, die Betriebsräte und Personalräte in die Gewerkschaften einzubeziehen, werden die Gewerkschaften mit der Arbeit in den Betrieben weitgehend identifiziert, was Organisationskraft und Mitgliedschaft stabilisieren dürfte. Gefahrlich wird es, wenn in gering organisierten Betrieben der Betriebsrat ein Instrument des Managements oder nur betriebsegoistischer Interessenvertretung wird, weil dann die Gewerkschaften nicht Zugang zu den Betrieben finden, was für sie von existentieller Bedeutung ist 1 3 . I m Falle von Konflikten ist nicht zuletzt die Streikbereitschaft oder noch genereller die Aktivierung für gewerkschaftliche Forderungen davon abhängig, wie die Forderungen durch die betrieblichen Vertrauensleute, durch Betriebsund Personalräte ständig mit den Belegschaften diskutiert werden. 11 Zu Angaben und Problemstellungen um technische Intelligenz und Gewerkschaften vgl. das entsprechende Schwerpunktheft 10-11/1984 der Zeitschrift „Die Mitbestimmung". Monatszeitschrift der Hans-Böckler-Stiftung. 12 Instruktiv und aktuell dazu das Heft „Jugend und Gewerkschaften". Gewerkschaftliche Monatshefte 2/86 mit der Darstellung neuer Forschungsergebnisse von SOFI (Baethge/ Hantsche/ Pelull/ Voskamp) und infas (Feist/ Krieger). 13 „Dualismus der Interessenvertretung" kann in diesem Sinne nur bedeuten, daß ein starker Betriebsrat im Sinne der Vertretung von Arbeitnehmerinteressen nur bei einer starken Gewerkschaftsorganisation möglich ist.

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Insgesamt könnte die Fähigkeit der Gewerkschaften, neue Probleme aufzugreifen oder ihre Kraft auf bestimmte Schwerpunkte zu konzentrieren, sorgfaltiger beurteilt werden, wenn die organisationsstrukturellen Bedingungen genauer eingeschätzt werden würden. „Noch nicht einmal der selbstverständliche Umstand, daß sich innerhalb einer Einheitsgewerkschaft, wie der DGB sie verkörpert, unter den Bedingungen einer langandauernden Krise die Konfliktlinien vermehren, wird auf die wirklichen Interessendifferenzierungen der Arbeitnehmerschaft selbst, sondern auf auseinanderstrebende politische Prioritäten in den Köpfen von Gewerkschaftsfunktionären zurückgeführt" 14 . Wie sich schon bei den Zielvorstellungen zeigte: Die realen Differenzierungen, ja teilweise Strukturbrüche in verschiedenen Organisationsbereichen setzten die Einheitsgewerkschaft neuen Belastungen aus, zumal Unternehmer und politische Gruppierungen die Möglichkeit nutzen, einzelne Gruppen von Arbeitnehmern gegeneinander auszuspielen. Generell gilt, von rühmlichen Ausnahmen abgesehen, daß in wissenschaftlichen Analysen zu wenig beachtet wird, daß politische Ziele stets durch die Gewerkschaftsorganisation in einzelnen Handlungsfeldern umzusetzen sind. Wer die Bedingungen und Strukturen dieser Gewerkschaftsorganisation mit ihren teilweise „spezifischen Rationalitäten" (aufgrund von Betriebsgrößen, Mitgliederstärke, gewerkschaftlicher Tradition, Qualifikationsstrukturen, Unternehmerstrategien usw.) nicht berücksichtigt, wird auch gewerkschaftliches Handeln nicht einschätzen können. Dies muß im übrigen auch innergewerkschaftlich deutlicher gemacht werden, da eine konkrete Solidarität bei abweichenden Strategieansätzen nur dann erwartet werden kann, wenn unterschiedliches Verhalten einsehbar und nachvollziehbar ist, und wenn die Gründe dafür akzeptiert werden (wenn z. B. anders zentrale Interessen nicht zu verteidigen sind). Daß oft schon mit wenigen Stichworten unterschiedliche Politikansätze durch verschiedene Strukturen verdeutlicht werden können, mögen drei Beispiele (IGBE, HBV, I G M ) andeuten 15 : a) Industriegewerkschaft Bergbau und Energie: Homogener Arbeitszusammenhang der Beschäftigten, hohe Solidarität und Mitgliedschaft, enger Zusammenhang mit Energiepolitik und staatlicher Sozialpolitik, regional ausgeprägte Konzentration. Starke Gewerkschaft, kann (nicht zuletzt aufgrund ihrer Stärke) auf Streik weitgehend verzichten. Enge Kooperation mit dem Staat zur Sicherung der eigenen Existenzgrundlage notwendig und sinnvoll, solange Veränderungen sozial und im Konsens kontrollierbar sind. b) Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen: Gewerkschaft mit hohem Anteil „neuer" und relativ junger Mitglieder; ständisch ausgerichtete 14 Ernst Breit, Fortschritt — gegen, ohne oder durch die Gewerkschaften. In: Gewerkschaftliche Monatshefte 1 /85, S. 5. 15 Zusammenfassende Analysen dieser Art liegen bisher noch nicht vor.

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Beschäftigte zum Teil in konkurrierenden Organisationen. Zunehmender Rationalisierungsdruck durch technologischen Wandel im tertiären Sektor. Damit hoher interner Konsolidierungsbedarf, Bedarf an zeitgemäßer Interessenvertretungs- und Tarifvertragspolitik für Angestellte mit modernkritischer Perspektive. c) Industriegewerkschaft Metall·. Hoher Anteil gewerkschaftsbewußter Facharbieter in Industriezweigen mit ausgeprägter privatwirtschaftlicher Dynamik und vielen Großbetrieben; Größe und Bedeutung macht sie zur wichtigsten DGB-Gewerkschaft. Streikfahigkeit und Streiknotwendigkeit als unabdingbare Voraussetzung für effektive Interessenvertretung. Zugleich strukturell bedingte Interessen bei Rüstungskonversion, alternativer Produktion, Industriepolitik, Humanisierung der Arbeit. Besondere Prägung durch Bedingungen des „fortgeschrittenen Kapitalismus". Einheitsgwerkschaften sind damit, wie diese Beispiele zeigen, im Gegensatz zu ihrem Namen vielfältiger als meist vermutet wird, wobei die Unterschiede durch jeweils unterschiedliche Bedingungen zu erklären sind. Inhaltliche Schwerpunkte für einheitsgewerkschaftliches Handeln

Schutz-und Gestaltungsmöglichkeiten gewerkschaftlicher Politik sind durch Druck auf den Staat, gesetzliche Regelungen und Tarifpolitik gegeben. Nachdem lange Zeit gewerkschaftliche Reformpolitik (Betriebsverfassung, Mitbestimmung im Unternehmen, Sozial- und Bildungspolitik usw.) und autonome Tarifpolitik weitgehend unverbunden nebeneinander standen, zeichnen sich unter Beibehaltung der Strukturen Gewichtsverlagerungen ab. Hier können lediglich Stichpunkte angemerkt werden, die Probleme der Einheitsgewerkschaft illustrieren, sie jedoch nicht im einzelnen behandeln. Als zusammenfassender Hinweis der innergewerkschaftlichen Abstimmungsprozesse sei auf den Geschäftsbericht und die Antragslage zum DGB-Kongreß von Mai 1986 verwiesen. Der Appell an die Parteien reicht nicht, er muß durch gewerkschaftlichen Druck ergänzt werden. Mitbestimmung und Tarifpolitik werden als sich ergänzende Ansätze begriffen 16 (z.B. 38,5 Std. und Umsetzung im Betrieb), was vor allem bei qualitativen Forderungen besonders deutlich in Erscheinung tritt. Neben Forderungen auf „nationaler Ebene" treten regionale, sektorale und problembezogene Schwerpunkte auf, wodurch Konflikte z.T. nach unten verlagert werden, was Aktivierung der Mitgliedschaft mit gewerkschaftlichen Zielen und entsprechende organisatorisch/strukturelle Konsequenzen verlangt. Die Bereitschaft zum Eingehen von Konflikten wird wichtiger, ohne daß

16 Vgl. zur Entwicklung dieses Zusammenhangs aus der Sicht der Mitbestimmung: Leminsky, G., Mitbestimmung. In: WSI-Mitteilungen 12/83, S. 697ff.

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Kooperation mit Staat und Unternehmen nicht weiterhin ein wichtiger Grundzug bliebe. Dabei gibt es zwischen den Gewerkschaften erhebliche Unterschiede, die strukturelle Ursachen haben und nicht mit „progressiv" oder „konservativ" zu fassen sind. Kategorien wie Korporativismus werden dem Problem nicht gerecht. Konflikthafte und kooperative Interessenaustragungen stehen teils nebeneinander, teils lösen sie sich zeitlich ab (Beispiel: Stahl, Textil, Bau). Es fehlt an empirisch fundierten Analysen, die solchen Fragen mit Bezug auf die Gewerkschaften nachgehen. Was die inhaltlichen Hauptfelder der gewerkschaftlichen Politik angeht (Beziehungen zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem, Arbeit und Beschäftigung, Schutz und Sicherheit usw.), so sind die Hauptschwerpunkte geblieben. M i t der Unternehmerstrategie für Flexibilisierung und Individualisierung, die von den Regierungsparteien kräftig gefördert wird (Arbeitszeiten, Teilzeitarbeit), befristete Arbeitsverhältnisse, Abbau von Schutzmaßnahmen, (Leiharbeit) werden die auf kollektives Handeln abgestellten Vorgehensweisen der Gewerkschaften prinzipiell herausgefordert. Die „Attraktivität" solcher Strategien liegt darin, daß sie vordergründig an wichtige Bedürfnisse der Arbeitnehmer anknüpfen, insbesondere nach mehr individueller Gestaltung und Beteiligung. Der Nachteil liegt in der leichten Manipulierbarkeit, wenn das Schutznetz kollektiver Absicherung durchlöchert wird. Hier zeigt sich wiederum die schwierige Aufgabe gewerkschaftlicher Politik, die sich auch in Zielen und Organisationsstrukturen spiegelt: Wie kann kollektives / solidarisches Handeln mit Gestaltungsräumen für einzelne und Gruppen verbunden werden. Wege dazu müssen sowohl Öffnungsklauseln in Tarifverträgen, Verstärkung der Gewerkschaftsarbeit vor Ort, als auch Mitbestimmung am Arbeitsplatz sein, um einige Beispiele anzugeben. Der auf absehbare Zeit alles beherrschende Komplex wird die Sicherung von Arbeit und Beschäftigung sein, modisch als Zukunft der Arbeit bezeichnet17. Bisher ist es weder den Gewerkschaften noch den ihnen verbundenen Wissenschaftlern gelungen, genügend deutlich zu machen, daß in einer Situation, die über Marktmechanismen Vollbeschäftigung nicht erreichen kann, der Staat mit Maßnahmen für qualitatives Wachstum eingreifen muß (die von Arbeitszeitverkürzungen und Kontrolle des technischen Wandels begleitet sein müssen). Die dazu gemachten Vorschläge sind nicht widerlegt worden; ihr volkswirtschaftlicher Nutzen ist nachweisbar, eine Finanzierung ist möglich: Die Gewerkschaften müssen für solche Lösungen kämpfen, die Wissenschaft sollte weiterhin und verstärkt die Argumente gegen solche Lösungen und die dahinterstehenden Wertvorstellungen so konkret und empirisch wie möglich lokalisieren. Bislang versuchen die Gewerkschaften, neben Druck auf Regierung und Parteien durch 17 Zusammenfassend und materialreich zu einem großen Teil der angegebenen Aspekte: Schwerpunktheft „Zukunft der Arbeit" der WSI-Mitteilungen 3/86 (Jubiläumsheft: 40 Jahre WSI).

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betriebliche, regionale oder sektorale Aktivitäten ansatzweise aktiv zu werden: Produktentwicklung, Regionalaktivitäten, Sicherung von Ausbildungsplätzen, Arbeitszeitverkürzung, vorzeitige Pensionierungen oder Vorruhestand für Ältere usw. Hier darf der Staat nicht aus der Pflicht entlassen werden 18 . Selbst in stark beeinflußten Bereichen mit starker Mitbestimmung ist häufig nur eine „Kontrolle des Abbaus" möglich. Gesellschaftliche und politische Folgen — von den sozialen für die Arbeitnehmer abgesehen — sind unabsehbar. Die früher erreichte „Abkoppelung" von Arbeit von den Schwankungen der wirtschaftlichen Abläufe — zentraler Indikator für Freiheit und Sicherheit im Arbeitsleben—wird unter dem Druck von Unternehmerpolitik und konservativer Regierung immer mehr zurückgenommen. Die Flexibilisierung der Arbeit ist dafür der deutlichste Ausdruck. Insgesamt wird die Arbeit in sich rationalisiert und flexibel den Bedürfnissen der Produktion angepaßt, was durch neue Technologien (EDV) wesentlich erleichtert wird. Diese Probleme sind auf einzelwirtschaftlicher Ebene nicht zu lösen, sollten aber zugleich das Potential für gewerkschaftliche Politik erhöhen. Unternehmen und Betrieb bleiben zentrale Handlungsfelder. Durch Multinationalisierung, Ausgliederungen, Divisionalisierung und verschiedene juristische Konstruktionen können die Rechte von Gewerkschaften und Interessenvertretungen aus den Angeln gehoben werden, indem Entscheidungsinstanzen für sie nicht mehr erreichbar sind. Gleichzeitig wird die Arbeit selbst durch Zeitund Fristverträge, Leiharbeitnehmer, Scheinselbständigkeit segmentiert und auseinanderdividiert bis hin zur Perspektive des Teleheimarbeiters. Gegenkonzepte ganzheitlicher neuer Arbeitsformen mit sozialer Kontrolle neuer Technologien liegen vor. Doch liegt hier ein riesiges Feld für Wissenschaft und gewerkschaftliche Politik. Gewerkschaften können deshalb weniger denn je ohne Wissenschaft bestehen. Die Zusammenarbeit muß verstärkt werden. Das Wort von Eugen Kogon auf dem Kongreß der I G Metall 1972 in Oberhausen zum Thema „Aufgabe Zukunft — Qualität des Lebens" sollte uns mahnen. „Erlahmt oder erlischt in den Funktionärskreisen die Bereitschaft und womöglich die Fähigkeit zu praxisbezogener theoretischer Kritik?" (Bd. 9, S. 206).

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Den Gewerkschaften ist es bisher noch nicht befriedigend gelungen, diese Ansätze konzeptionell und handlungsorientiert zusammenzufügen und durchzusetzen. Ob dies mit einer zeitgemäßen Weiterentwicklung des Wirtschaftsdemokratiebegriffs zu leisten ist, bleibt abzuwarten. Vgl. auch analog die Roth-Farthmann-Kontroverse in der Programmdiskussion der SPD im März /April 1986 im Vorwärts und im SPIEGEL. Vgl. auch Scharpf, F. W., Neue Arbeitsmarktpolitik in einem wirtschaftspolitischen Gesamtkonzept. In: Dierkes/Strümpel (Hrsg.), Wenig Arbeit, aber viel zu tun. Neue Wege der Arbeitsmarktpolitik, Opladen 1985, S. 167 ff. Breit angelegte Überlegungen zum Zusammenhang Wirtschaftskrise, Wirtschaftsdemokratie und Vergesellschaftung in: Heseler/Hickel (Hrsg.), Wirtschaftsdemokratie gegen Wirtschaftskrise — Über die Neuordnung ökonomischer Machtverhältnisse, Hamburg 1986.

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In der gegenwärtigen Situation arbeitet die Zeit nicht für die Gewerkschaften. Es wird alles getan, um sie institutionell zu schwächen: Einschränkung ihrer Streikmöglichkeiten über § 116 AFG; Zurückdrängen der Gewerkschaften aus der Mitbestimmung in Unternehmen, die damit ihre integrierende Klammer verlieren würde; Auseinanderdividieren von Arbeitnehmergruppen und Schwächung solidarisch-kollektiven Handelns auf allen Ebenen. Wissenschaft reagiert darauf von disziplinorientierten Ansätzen her, wodurch oft der Blick für die Gesamtentwicklungen verstellt wird, besonders im Bereich der Ökonomie. Der Dialog sollte gestärkt werden, auch wenn er aus der Sicht der Wissenschaft nicht — mehr — karriereförderlich ist. Sowohl die Wissenschaftliche Konferenz als auch die Technologiepolitische Konferenz des DGB haben gezeigt, daß das Potential für einen Dialog immer noch substantiell ist. Für die Gewerkschaften liegt in der Wirtschaftskrise — gemessen an den Beschäftigungs- und Umweltproblemen —jedoch nicht nur eine Bedrohung. In dieser Entwicklung liegt auch die Chance des Aufbruchs zu neuen Ufern.

Die italienische Version der Einheitsgewerkschaft als Aktionseinheit: Entstehung, Erfolg, Grenzen und Zerfall Von Günter Bechtle, München

Im Mittelpunkt des folgenden Beitrags steht die Entstehung und das Schicksal der italienischen Einheitsgewerkschaft in Form der Aktionseinheit, wie sie sich seit Mitte der 60er Jahre herausgebildet, Ende der 60er- Anfang der 70er Jahre ihren magischen Höhepunkte erreicht hat, ohne sich je stabilisieren zu können.

I. Die politisch verordnete Einheitsgewerkschaft in der Restaurationsphase der italienischen Wirtschaft A m 3. Juni 1944 entsteht durch den Vertrag von Rom die italienische Einheitsgewerkschaft in Form der Erschaffung eines einzigen Bündnisorgans für das ganze nationale Territorium auf gemeinsame Initiative der kommunistischen, christlichen und sozialistischen Gewerkschaftsflügel. Dieses einheitliche Bündnisorgan erhält den Namen: C G I L (Allgemeiner italienischer Arbeiterverbund). Diese Einheitsgewerkschaft läßt sich charakterisieren als Bestandteil des italienischen Befreiungskampfes zu Kriegsende, dem die großen Parteien durch die Einheitsgewerkschaft die Bedeutung eines Volkskampfes zu geben versuchen. Dies ist Ausdruck einer Politik des Antifaschismus durch die Massenparteien in Form einer autonomen Einheitsgewerkschaft. Damit trägt diese Einheitsgewerkschaft eine eindeutig parteipolitische und antistaatliche Matrix. Dabei ist die Autonomie der CGIL von allen Parteien nicht Ausdruck eines gelösten, sondern eines erst noch zu lösenden Problems als „Conditio sine qua non" der Überlebensfahigkeit einer einheitlich-unitarischen Gewerkschaft. Und was zur Stunde der Gründung galt, gilt auch noch heute: Die Autonomie der Gewerkschaften ist ein Instrument zur Herstellung ihrer Einheit und nicht umgekehrt. Hinter diesem extrem verkürzten, historischen Rückgriff steht die These, daß Entstehungsprozeß und Zerfall der italienischen Einheitsgewerkschaft immer mit drei Spannungsmomenten konfrontiert ist: die Einheit als politisches Programm einer sich als Machtsubjekt verstehenden politischen Gewerkschaft, die Einheit in der Praxis permanenter Verhandlungen und die Einheit einer organisierten Interessenvertretung, von deren Organisationsmacht die Praxis von Politik abhängt.

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Allerdings: was die programmatischen Inhalte und politischen Ideologien dieser politisch motivierten Einheitsgewerkschaft betrifft, so ist für sie gleichzeitig hochgradige Ambivalenz, ja Widersprüchlichkeit charakteristisch. Sie vertritt nämlich gleichzeitig: — eine nationale Klassenpolitik mit hegemonialen Zügen für alle Lohnabhängigen: Beschäftigte, Arbeitslose, Rentner, Studenten etc.; sie ist damit zugleich — eine antikapitalistische Machtinstanz mit der Idee alternativer Wirtschaftsund Gesellschaftsmodelle, wie sie von Kommunisten und Sozialisten vertreten werden; und sie ist — eine unabhängige Einheitsgewerkschaft als Basis einer besseren Vertretung der von ihr repräsentierten ökonomischen Mitgliederinteressen; und sie ist — eine wirksame organisatorische Durchsetzungsform von Kollektiwerträgen, die den Klassenkampf besser einzufrieden vermag; und schließlich bietet sie — die Möglichkeit einer Schutzpolitik für gewerkschaftliche Interessen, womit die Gefahr verringert wird, daß die Gewerkschaft als Instrument politischen Kampfes „mißbraucht" wird. Insofern waren Idee und Programm der politisch verordneten Einheitsgewerkschaft im Keim die „Quadratur des Kreises" von Unabhängigkeit zwecks Einheit auf der einen und Einheit als antikapitalistische Klassenpolitik bei gleichzeitiger Vertretung von Mitgliederinteressen — auch als Einheit von Politik und Ökonomie bezeichnet — auf der anderen Seite. Die Idee der Möglichkeit einer Einheitsgewerkschaft läßt sich nicht begründen, ohne sie in der italienischen Arbeiterkultur der „Gleichheit von Arbeit" zu verankern. Diese Gleichheitsstruktur aber hat wiederum sehr unterschiedliche Wurzeln: Ihr einer Nährboden ist die marxistische Tradition, in der „Gleichheit von Arbeit" als Recht auf Kollektivverhandlungen gegen Verzerrungen des Arbeitslohnes auf dem von kapitalistischer Ausbeutung grundsätzlich geprägten Arbeitsmarkt. Es handelt sich nicht um die Idee des „gerechten Lohnes" — sowohl Leistungs- wie Bedürfnisideologien sind hier fehl am Platz —, es geht um die kollektive Durchsetzung des Rechts auf einen der Reproduktion von Arbeitskraft angemessenen Lohn. Der andere Nährboden der Gleichheitsidee ist die katholische Kultur einer über Klassengrenzen hinausreichenden Solidarität innerhalb der „Welt der Arbeit" und der damit verbundenen Vorstellung eines gerechten Lohnes. Eine dritte Wurzel der Arbeiterkultur der Gleichheit, die sich weder aus der marxistischen noch aus der katholischen Tradition nährt, besteht in der Gleichheit derjenigen, die sich an ihrem Arbeitsplatz als Bürger anerkennen und als solche Demokratie und Entscheidungsmacht für sich beanspruchen.

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Die Einheit von hegemonialer und systemtranszendierender Klassenpolitik und realistische Interessenvertretung unter dem Diktat ihrer ökonomischen Systemkompatibilität sowie demokratische Teilnahme waren und sind die spannungsreichen Bewegungsmomente, die in der 40-jährigen Geschichte Macht und Ohnmacht des theoretischen Selbstverständnisses in der gewerkschaftspolitischen Praxis prägen. II. Der kalte Krieg in der Gewerkschaft und ihre Spaltung Die Umsetzung theoretischer Positionen in die gewerkschaftliche Praxis wird entscheidend davon geprägt, zu welcher jeweiligen historischen Gesamtkonstellation sich die folgenden Einflußgrößen zusammenfügen: — die politische Zusammensetzung von Regierung und Parlament (sind die Arbeitnehmerparteien an der Regierung oder in der Opposition?); — der ökonomische Verteilungsspielraum und damit der Ausbau oder Abbau des Wohlfahrtsstaates; — die Beschäftigungslage auf dem Arbeitsmarkt; — die technische und organisatorische, tayloristische oder nach-tayloristische, Struktur der Produktivkräfte und damit verbunden. — die soziale Gliederung der Arbeitnehmerschaft. Die politische Matrix der Einheitsgewerkschaft des Vertrags von Rom erweist sich in den 50er bis Anfang der 60er Jahre als deren Achillesferse: In dem Maße, wie die Einheits-CGIL reell oder potentiell die kapitalistische Restaurationspolitik, wie sie von Christdemokraten und Liberalen mit mehr oder weniger offensichtlicher ausländischer Unterstützung vertreten wird, bedroht, wird die Spaltung unvermeidlich. Der kalte Krieg der 50er Jahre wird auch zum Krieg innerhalb der Gewerkschaften. Es sind die Jahre der antikommunistischen Hetzkampagne, des Attentats auf den Parteiführer Togliatti, einer radikalen, antigewerkschaftlichen Politik der Unternehmen (allen voran die Fiat), des Kampfes der Christdemokraten gegen den politischen Streik, um zu verhindern, daß die Arbeiterschaft gegen die herrschende Wirtschaftspolitik sich mobilisieren läßt, aus der Angst, der kommunistische Flügel der C G I L könnte zum Transmissionsriemen der kommunistischen Partei werden. Gleichzeitig macht die Kirche immer stärker gegen eine gemeinsame Präsenz von Katholiken und Marxisten in der Gewerkschaft mobil. Die Folge von all dem ist 1950, neben dem Austritt der Kommunisten und Sozialisten aus der Regierung und der Abspaltung einer sozialdemokratischen Partei mit klarem antikommunistischen Kurs aus der PSI, die Spaltung des Gewerkschaftsbundes in die kommunistisch-sozialistische C G I L (über vier Millionen Mitglieder), die katholische Gewerkschaft der CISL (über zwei Millionen Mitglieder) und der sozialdemokratisch-republikanischen U I L (et6

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was über eine Million Mitglieder). Als Fazit dieser „dunklen Jahre" der italienischen Gewerkschaftsgeschichte läßt sich festhalten: je schwächer die gewerkschaftliche Machtposition in der und durch die politische Spaltung, desto stärker ist die Rückbindung an die jeweilige Partei. Eine autonome Gewerkschaftspolitik, d. h. nicht eine apolitische, sondern eine nichtparteiliche Gewerkschaft, ist als Voraussetzung einer Einheitsgewerkschaft nicht länger erfüllt. Folgerichtig ist die Fähigkeit, die Interessen der Arbeitnehmerschaft zu vereinigen und in Verhandlungsforderungen zu überführen, daran gebunden, daß man über ein politisches Handlungsmonopol verfügt. Entscheidend war es für die Gewerkschaft, in dieser sehr ungleichzeitig verlaufenden Industrialisierungsphase überhaupt die Anerkennung eigener Verhandlungsrechte und weit weniger bestimmte Verhandlungsinhalte und -bedingungen durchzusetzen. In einer solchen Situation, in der die politisch-ideologische pluralistische Gewerkschaft um ihre gesellschaftliche Verortung als legitime Interessenvertretung kämpft, ist eine Zentralisierung und Bürokratisierung der gewerkschaftlichen Apparatstrukturen fast eine zwanghafte Folge. Der italienische Gewerkschaftspluralismus ist hochgradig ideologiebedürftig und gerade im Gegenteil zu den Unions angelsächsischer Prägung nur wenig im sozialen Kontext der realen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsverhältnisse der Arbeitnehmer verankert.

I I I . Die Einheitsgewerkschaft als Aktionseinheit: Entstehung, Erfolge, Zerfall „Die einzig mögliche Form zu einer einheitlichen Gewerkschaft zu gelangen ist die, sie zu praktizieren" (V. Foa). Zwischen 1960 und 1966 kommt es zu einer Reihe von Forderungsbewegungen insbesondere in der Metall-, Chemie- und Textilbranche, die nach anhaltenden Arbeitskämpfen zu Abschlüssen in national bedeutenden Firmengruppen und Sektoren führen. Diese Bewegung bezog ihre Stärke nicht zuletzt aus der Tatsache, daß sie sich in den Betrieben als eine praktische Aktionseinheit der den drei Richtungsgewerkschaften angehörenden Arbeiter herausbildete — im Kontrast zum organisatorischen und ideologischen Konkurrenzkampf, den sich die Gewerkschaftsbünde nach ihrer Spaltung lieferten. Die Forderung nach der Verlagerung der Verhandlungen von der zentralisierten, nationalen zur betrieblichen Tarifverhandlung wurde erstmals 1960 im Tarifabschluß für die Elektromechanische Branche durchgesetzt. Der Durchbruch dieser neuen Forderungsstrategie gelang dann den Metallgewerkschaften in den 1962 / 63 abgeschlossenen Tarifverträgen. Nicht nur die Arbeitgeber, auch die Gewerkschaftszentralen leisteten anfangs Widerstand gegen eine Veränderung der zentralisierten Tarifverhandlungen. Einer der Hauptgründe dafür war die Sorge der Bundeszentralen, die Auflösung einer koordinierten Lohnpolitik in eine Unzahl korporativistischer Einzelaktionen nicht verhindern zu können.

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Der entscheidende Schritt zur Verschmelzung von Belegschafts- und Gewerkschaftsorgan erfolgte im Dezember 1970 durch die Anerkennung der Delegiertenstruktur als Betriebsinstanz der Gewerkschaft durch die CGIL. Die besondere Entwicklung der Delegiertenräte bis zu diesem Zeitpunkt hatte eine solche Entscheidung erleichtert: Die in den Betriebskämpfen von 68/69 erfolgte Defacto-Anerkennung der Delegierten durch viele Betriebsleitungen war 1970 in den Tarifverträgen wichtiger Industriezweige formalisiert worden. Damit war der Widerstand der Unternehmen gegen Belegschaftsorgane mit gewerkschaftlicher Verhandlungsfahigkeit endgültig gebrochen. M i t dem im Mai 1970 erlassenen Gesetz Nr. 300, dem sog. Arbeiterstatut, wurde die Ausweitung der gewerkschaftlichen Basisorgane auf alle Produktionsbereiche ermöglicht. Durch diese Form der gesetzlichen Anerkennung der Delegiertenstruktur, in der die „spontaneistischen" und die gewerkschaftlichen Elemente der Delegiertenbewegung sich vermischen, sind die Delegiertenräte nur noch als Gewerkschaftsorgane lebens- und entwicklungsfähig. Auch CISL und U I L vollziehen 1971 in einem von den drei Bünden unterzeichneten Dokument im Prinzip die Anerkennung der Delegiertenstruktur als Basisorgan einer künftigen Einheitsgewerkschaft. Die theoretisch-konzeptionellen Grundsätze der Einheitsgewerkschaft als Aktionseinheit lassen sich wie folgt zusammenfassen: — Die Einheit ist möglich auf Basis einer autonomen Arbeiter- und Gewerkschaftsinitiative: Nur wenn die Arbeiterklasse einheitlich ihre Kampffähigkeit im fortgeschrittenen Bewußtsein ihrer Ausbeutung bestätigt, verlieren die gewerkschaftlichen Kämpfe ihren apolitischen und trade-unionistischen Stempel, und das Verhältnis zwischen Gewerkschaftskampf und Gesellschaftssystem wird wieder Thema. — Innerhalb der katholischen Gewerkschaftbewegung bilden sich progressive innovatorische Kräfte heraus, für die die gewerkschaftliche Einheit dem Willen entsprach, sich eng an Bewußtsein und die materielle Lage der Arbeiter, Techniker und Angestellten zu binden. Allerdings versucht die Leitung der CISL das Problem der Einheitsgewerkschaft von oben her zusammen mit den anderen Gewerkschaftsspitzen zu „verwalten". „Aber die Realität war stärker als konservative Schlauheit. Nie war die Einheitsgewerkschaft so weit fortgeschritten, als zu dem Zeitpunkt, an dem man in den Gewerkschaftszentralen kaum mehr davon sprach." (Foa 1969). — Insofern das Urteil über die damals vorherrschende Organisationspraxis der Gewerkschaften kritisch ausfallt, weil sie aufgrund ihrer bürokratisierten Strukturen mit Delegationsprinzip unfähig ist, massenhaft artikulierte Ansprüche zum Ausdruck zu bringen , kann ihre Erneuerung nur auf dem Weg der Beteiligung der Arbeiterschaft gelingen und d.h., daß der Einigungsprozeß ein Prozeß von unten kommt und daß im Verlauf der 6*

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Konstruktion dieser Einheit sich die bestehenden Gewerkschaftstrukturen selber verändern. — Unter der Voraussetzung, daß die Stabilität des herrschenden ökonomischsozialen Systems angestrebt wird und die Gewerkschaft demzufolge allein die Aufgabe übernimmt, eine Umverteilung des Sozialprodukts zugunsten der Arbeitnehmer zu erreichen, ohne den Antriebsmechanismus der vorherrschenden Produktionsverhältnisse in Frage zu stellen — auch wenn dieser Mechanismus nicht überwindbare Barrieren gegen ein reales Wachstum des Arbeitseinkommens zur Folge hat — dann erhält das Problem der Einheitsgewerkschaft eine ökonomistische und korporatistische Prägung: Die Gewerkschaft wird gestärkt als ein Baustein des pluralistischen Staates. Die Kehrseite der in diesem Fall der Gewerkschaft zugestandenen institutionellen Macht ist die Schwäche im Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Arbeitnehmern. Wenn man dagegen davon ausgeht, daß die Gewerkschaft keine pressure group ist, sondern daß nur die gewerkschaftliche Praxis zählt, die in der Lage ist, Machtverhältnisse zu ändern, dann erfolgt die Suche nach Gewerkschaftseinheit grundsätzlich außerhalb jedes institutionellen Rahmens. In diesem Fall lehnt man jede Unterordnung von Forderungen unter vorweg stabilisierte Gleichgewichtsbedingungen ab (wie ζ. B. die der Regierungspläne), und man beansprucht, daß die Arbeitskraft die einzig unabhängige Variable in der sozialen Dynamik zu sein hat. — Schließlich ist eine gewerkschaftliche Aktionseinheit nur realisierbar, wenn die Konzeption der Arbeiterparteien als alleiniges-historisches Subjekt revolutionärer Aktion in Frage gestellt wird. Die Konzeption einer hierarchisierten Arbeiterpartei als Gralshüter von Wahrheit und Wissenschaft, als intellektuelle Kraft, die sich über den blinden Objektivismus und Ökonomismus der Massen stellt — diese Konzeption ist massiv in Frage zu stellen, womit gleichzeitig die Auflösung ideologisch überfrachteter Gewerkschaftsflügel gefordert wird. A l l dies klingt wieder nach einer neuen „Quadratur des Kreises", von unten: eine Politik für die Klasse durch die Klasse. Deshalb ist zu fragen, wie und was sich von dieser theoretisch-konzeptionell begründeten gewerkschaftlichen Aktionseinheit in ihrer Praxis durchgesetzt hat, worin ihre Erfolge, ihre Grenzen und Niederlagen bestehen: — Zunächst ist festzuhalten, daß die Aktionseinheit von einer hegemonialen Figur, dem sog. Massenarbeiter, getragen wird. Dieser ist nicht die Speerspitze der Bewegung, aber ihr Rückgrat. Ihre sozio-kulturellen Merkmale sind allerdings nicht die des Fließbandarbeiters der 30er Jahre in den fordistisch organisierten Automobilfabriken. Der italienische Massenarbeiter ist Träger einer vor allem bäuerlichen und Landarbeiterkultur mit der Erfahrung von Arbeitskämpfen, und er betritt die Szene zu einem Zeitpunkt, wo das allgemeine Schulbildungsniveau in Italien einen qualitativen Sprung

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im Sinne einer breiten Öffnung nach vorne macht. Diese Figur konfrontiert sich hochgradig konfliktuell mit den Arbeitsbedingungen einer entqualifizierten, repetitiv-monotonen Arbeitssituation. Und Praxis und Erfolg der gewerkschaftlichen Aktionseinheit sind vor allem die Integration dieses italienischen Typs des Massenarbeiters in die italienische Gesellschaft, konkret seine Teilnahme am Sozialstaat. — Der Massenarbeiter, der vorwiegend aus dem Süden und aus dem Tertiärsektor kommt, verkörpert insbesondere jene „Gleichheit von Arbeit", von der schon weiter oben als einem historischen Baustein der Einheitsgewerkschaft die Rede war. Der Egalitarismusgedanke drückt sich allerdings in zwei sich zum Teil sogar ausschließenden politischen Inhalten aus: Es handelt sich einmal um ein Gesellschaftsbild, in dem Statusunterschiede innerhalb der arbeitenden Klasse — unterschiedliche Arbeitsleistung, unterschiedliche Arbeitsmühe, unterschiedliche Einflußmöglichkeiten — durch eine „symbolische Aktion", nämlich der gleichen Entlohnung abhängiger Arbeit, ausgelöscht werden. Hier macht sich die katholische Kultur des „gerechten Lohnes" als Lohngleichheit, die solidarisch faktische bestehende Differenzen kompensiert, bemerkbar. Zum anderen aber bedeutet Egalitarismus auch Rechtsgleichheit und eine Verschiebung der Machtverhältnisse. Nur auf diesem Hintergrund wird der zentrale Forderungsinhalt der Aktionseinheit — nämlich die Kontrolle der Arbeitsorganisation in einem umfassenden Sinn (Zeiten, Belegschaftsstärke, Produktionsvolumen etc.) — verständlich, ebenso wie die Tatsache, daß die sich neu herausbildenden Teilkollektive der Arbeiterschaft — Techniker, hochqualifizierte Angestellte und „Facharbeiter" — sich für die Idee der Lohngleichheit stark machten. Wie auch immer: In der Aktionseinheit für gleichen Lohn verbünden sich sog. Arbeitereliten mit dem dequalifizierten Massenarbeiter. Auf die konkreten Verhandlungserfolge — Abschaffung der „Lohnkäfige" (d.h. regional unterschiedlicher Lohnniveaus), Durchsetzung der Einheitseinstufung von Arbeitern und Angestellten, automatischer Inflationsausgleich durch die gleitende Lohnskala — sei hier nur verwiesen. Entscheidend bleibt für den Ausgangspunkt (es handelt sich um nicht mehr und um nicht weniger) der Aktionseinheit die Verkoppelung der beiden Inhalte der egalitären Idee zu einem einheitlichen Verhandlungspaket: Die Kontrolle der Arbeitsorganisation und dadurch mögliche Qualifizierungschancen mit einem für breite Massen möglichen, ja garantierten Lohnaufstieg. Wo liegen nun die Grenzen, wo die Niederlagen einer solchen auf der Aktionseinheit aufbauenden Einheitsgewerkschaft? Hier seien zwei, m.E. zentrale Argumente zur Diskussion gestellt: (1) Die Aktionseinheit hat sich zu keinem Zeitpunkt als Grundlage eines „neuen" Systems industrieller Beziehungen stabilisiert bzw. institutionalisiert. Und dies nicht nur, weil der soziale Konsens der anderen Seite nie zustande kam,

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und man im Gegenteil darauf setzte, die Delegiertengewerkschaft politisch zu zerschlagen (symptomatisch der Fiat-Fall von 1981) und weil man die internationale ökonomische Krise seit dem Ende der 70er Jahre gezielt zu diesem Zweck nutzte. Genauso wichtig erscheinen mir gewerkschaftsendogene Gründe: Es ist nie gelungen, die Aktionseinheit organisatorisch in die zentralistischen Strukturen des Gewerkschaftsapparates umzusetzen. Dies gelang — und auch nur vorübergehend — den Metallarbeitergewerkschaften, die sich 1972 auch zur organisatorischen Einheit der F L M zusammenschlossen. Dieser, auch von der westdeutschen Linken euphorisch gefeierte historische Moment, ließ allzu leicht vergessen, daß auf der Ebene der zentralen Gewerkschaftsbünde ungefähr genau das Gegenteil stattfand. Glaubt man einer kritischen Beobachtung aus den eigenen Reihen der Gewerkschaften zum damaligen Zeitpunkt, so überwiegt der Eindruck, daß man es mit den „drei chinesischen Affen" zu tun hat, von denen einer nicht redet, der andere nicht sieht und der dritte nicht hört. Die drei Richtungsgewerkschaften hatten sich zwar auf die Einberufung außerordentlicher Kongresse zur Auflösung der jeweiligen Organisation, die die Voraussetzung für eine Neugründung bilden sollte, im Jahre 1972 geeinigt. In diesem Jahr sollte auf der unitarischen Vertreterversammlung der Basisorgane der entscheidende Schritt zur Institutionalisierung/Reglementierung der unitarischen Basisorgane getan werden. Anders als vorgesehen wurde das Jahr 1972 aber nicht zum Gründungsjahr einer neuen Einheitsgewerkschaft. Rechtsgerichtete Kreise außerhalb und innerhalb der Gewerkschaften blockierten den Vereinigungsprozeß „von unten". Als das unter diesen Bedingungen maximal Erreichbare wurde im Juli 1972 mit dem sog. „Föderativpakt" die schon seit langem praktizierte Aktionseinheit zwischen den Richtungsgewerkschaften sozusagen nachträglich ratifiziert. Es entstand die „unitarische Förderation C G I L - C I S L - U I L " . Bis heute ist die italienische Gewerkschaftsbewegung über diese Vereinigung von oben nicht hinausgekommen; im Gegenteil: Es entwickelt sich die schizophrene Struktur einer unitarischen Basisorganisation bei einer gleichzeitigen Festschreibung der organisatorischen Autonomie der drei Bünde. Das heißt praktisch: Entweder man ist sich einig und insofern aktionsfähig, oder man legt sich gegenseitig lahm. (2) Der Hauptgrund der Lähmung der Aktionseinheit liegt aber m. E. darin, daß der auf dem Grundgedanken des Egalitarismus aufbauende Forderungskatalog einer Kontrolle der kapitalistischen Arbeitsorganisation de facto sukzessive degeneriert in einer passiven und defensiven Erstarrung, die die Einsatz- und Nutzungsmöglichkeiten von Arbeitskraft in einem hohen Maß blockiert. War diese „Rigidität" von Arbeitskraft zunächst ein wirksames politisches Instrument gegen tayloristische Nutzungsprinzipien eines total durch die Betriebsleitungen geregelten Zugriffs auf die Nutzung von Arbeitskraft, wird dieselbe Rigidität mit der Krise des Taylorismus und einer umfassenden Flexibilisierung des Produktionsprozesses mit Hilfe neuer Technologien (womit auch die Figur des Massenarbeiters neue Konturen annimmt)

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zum Bumerang. Dies nicht zuletzt deswegen, weil der qualitative Sprung von einer rigiden Kontrolle der Arbeitsorganisation auf die überbetriebliche Ebene gesellschaftlicher Reformen — Wohnung, Beschäftigung und Arbeitsmarkt, Bildung, Renten — nie gelang. Gegenüber der technisch-organisatorischen Restrukturierung der Produktionsprozesse in den Betrieben lief letztlich die Aktionseinheit, wie im Wettlauf zwischen Hase und Igel, ins Leere.

Literaturhinweise Marisa Malfatti / Riccardo Tortora : Il cammino dell'Unità De Donato Bari 1976 Vitorio Foa: Quale futuro per l'unita sindacale. Luigi Marinaci : I rapporti tra sindacato e Stato, Percunsi di lettura. Bruno Trentin (conversazione con): Idea e pratica dell'egualianza nell'esperienza del sindacato italiano. in: Quaderni di Rassegno sindacale n. 114-115.

Bericht über die Diskussion des Themas „Gewerkschaftstheorien und Gewerkschaftspolitik in unterschiedlichen Kulturkreisen" Von Perygrin Warneke, Dortmund Erstens: Der Beitrag von Gerhard Leminsky, Hans-Böckler-Stiftung, kennzeichnet Einheitsgewerkschaften, wie sie in hochindustrialisierten Gesellschaften vertreten sind, d. h. unabhängig von Berufsgruppen, politischen Parteien, konfessionellen Prägungen und ständischen Vertretungen. Ausgehend vom weitgefaßten Begriff Gewerkschaftstheorie, wird die Rolle der Arbeitnehmer und ihrer Emanzipation in Wirtschaft und Gesellschaft analytisch bestimmt. Folgende Schwerpunkte werden thematisiert: 1. Das Verhältnis von Wissenschaft und Gewerkschaft 2. Gewerkschaftliche Programmatik 3. Gewerkschaftliche Organisationsstruktur 4. Inhaltliche Probleme gewerkschaftlicher Politik. Zweitens: Es wird die These vertreten, unterschiedliche Gruppen mit voneinander abweichenden Zielsetzungen seien unter Beachtung der jeweiligen organisatorischen Bedingungen zu berücksichtigen. Besondere Bedeutung komme in diesem Zusammenhang zum einen der arbeitnehmerorientierten Wissenschaft zu, die durch Interessenbezug, Praxisbezug und Kooperation gekennzeichnet sei, und zum anderen der Arbeitspolitik, bei der es um die Gestaltung der Arbeit gemäß den Interessen der Arbeitnehmer als politische Aufgabe gehe. Als Beispiele für eine auch institutionell notwendige Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaft und Wissenschaft werden genannt: Projekte zur Humanisierung der Arbeitstätigkeit sowie die Kooperationsstellen Hochschulen — Gewerkschaften. Besondere Bedeutung mißt der Referent der Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Wissenschaft bei. Drittens: Die gewerkschaftliche Programmatik könne nur aus der Einheitsgewerkschaft selbst heraus entwickelt werden. Diese stelle einen Machtfaktor dar und erfordere notwendigerweise eine bürokratische Organisationsstruktur, auch wegen der zunehmenden Professionalisierung arbeitnehmerbezogener Interessenvertretungen. Daher seien kurzfristige Anpassungen an politische Änderungen erschwert. Die Legitimation bezieht die Einheitsgewerkschaft aus der Zustimmung ihrer Mitglieder. Demzufolge ist sie freiheitlich, sozialistisch, sozialdemokratisch, christlich orientiert. Sie muß notwendigerweise reformistisch sein, d. h. ihre Politik muß an bestehende Strukturen anknüpfen, selbst wenn diese verändert werden sollen. Grundsatzprogramme sind aber nicht aus sich selbst heraus, sondern auch unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen

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Entstehung zu beurteilen. Sie sind das Ergebnis von Abstimmungen durch die Mitglieder. Für die Beurteilung der gewerkschaftlichen Programmatik sind neben den Grundsatzprogrammen auch Teilkonzepte, wie Aktionsprogramme, Aktionswochen (erinnert wird hier an die Aktionswoche der I G Metall „Arbeit und Technik") von Bedeutung. Konsequenzen ergeben sich damit für die Organisationsstruktur, die Mitgliedschaft und die praktische Politik. Es gehöre auch zu den Aufgaben gewerkschaftlicher Arbeit, Utopien zu formulieren, die über die Einzelinteressen hinausgehen und gemeinsame Zielvorstellungen und Handlungsmöglichkeiten erlaubten. Viertens: Die gewerkschaftliche Organisationsstruktur, demokratisch bestimmt, ist in ihrer Effizienz abhängig von wechselseitiger, ζ. B. finanzieller und solidarischer Unterstützung. Die bürokratische Großorganisation verstärkt zwar Einflußmöglichkeiten, erschwert aber andererseits spontanes Handeln und begründet daher in der Diskussion manchmal unzutreffende Gegenüberstellungen, z.B. von Mitgliedschaft und gewerkschaftlichem Apparat. Probleme werden gesehen in der nicht synchronen Entwicklung von Mitgliederstrukturen und Beschäftigungsstrukturen, beispielsweise neue Arbeitnehmergruppen in wissenschaftlich-technischen Bereichen, in der Zunahme von Beschäftigten im Dienstleistungssektor und im Angestelltenbereich. Ein weiteres Problemfeld ist die Gewinnung von Jugendlichen und die teilweise unzureichende Einbeziehung von Personal- und Betriebsräten in gewerkschaftliche Politik. Gewerkschaftliches Handeln als Ergebnis von Entwicklungen folge gerade in Einheitsgewerkschaften der spezifischen Kenntnis von Strukturen und Strategien ihrer Mitgliedergewerkschaften. A m Beispiel der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie, der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen und der I G Metall wird diese Voraussetzung deutlich, z.B. durch die wechselseitige Unterstützung der Mitglieder stellt man die jeweiligen Forderungen der Einzelgewerkschaften sicher. Erinnert sei an die Auseinandersetzungen im gewerkschaftlichen Bereich bei der Verkürzung der Wochenarbeitszeit. Fünftens: Inhaltliche Schwerpunkte einheitsgewerkschaftlicher Politik zielen neben der Tarifpolitik vorrangig auf die Lösung von Beschäftigungsproblemen. Zu sichern seien kollektive, solidarische Rechte durch die Gewerkschaften. Notwendig müßten neue Konzepte der Gewerkschaften in Zusammenarbeit mit der Wissenschaft entwickelt werden. Beispielsweise sei Vollbeschäftigung gegenwärtig wohl kaum noch zu realisieren; man müsse sich sogar fragen, ob sie überhaupt im Hinblick auf ökonomische Ziele noch wünschenswert sei. Die Verkürzung der Wochenarbeitszeit zeige, daß dafür ein hoher Preis mit zunehmender Flexibilität und Intensivierung der Arbeit zu zahlen sei. Im Beitrag Bechtles wird die italienische Entwicklung gekennzeichnet durch den Weg der erfolgreichen Einheit zum Verfall in Richtungsgewerkschaften. Erstens: Die politische, von den Parteien verordnete Einheitsgewerkschaft ist parteipolitisch und antistaatlich ausgerichtet. Sie ist geprägt durch die Ideen

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des Volkskampfes und Antifaschismus: die Autonomie der Gewerkschaften als Instrument zur Herstellung der Einheit. Geprägt wird die Einheitsgewerkschaft in Italien von der Idee der Gleichheit, die in der marxistischen und katholischen Tradition sowie in dem Gedanken von der Gleichheit der Bürger ihre Wurzeln hat. Zweitens: Die Umsetzung theoretischer Positionen in gewerkschaftliche Politik wird entscheidend von folgenden Einflußgrößen geprägt: 1. der politischen Zusammensetzung von Regierung und Parlament, 2. dem ökonomischen Verteilungsspielraum, 3. der Beschäftigungslage auf dem Arbeitsmarkt, 4. den Strategien der Unternehmen und 5. der sozialen Gliederung der Arbeitnehmerschaft. In dem Maße, wie die Einheitsgewerkschaften in Italien tatsächlich oder potentiell die kapitalistische Restaurierungspolitik bedrohen, werde ihre Spaltung unvermeidlich. Drittens: Die Einheitsgewerkschaft als Aktionseinheit ist nur möglich auf Basis einer autonomen Arbeiter- und Gewerkschaftsinitiative bei einem Reinigungsprozeß von unten nach oben, bei Schwächung der institutionellen Macht. Praxis und Erfolg der gewerkschaftlichen Aktionseinheit sind vor allem die Integration des italienischen Massenarbeiters in die italienische Gesellschaft und seine Beteiligung am Sozialstaat. Die Aktionseinheit hat sich zu keinem Zeitpunkt als Grundlage eines neuen Systems industrieller Beziehungen stabilisiert bzw. institutionalisiert. Viertens: In einem neueren deutsch-italienischen Forschungsprojekt zu Durchsetzungsmöglichkeiten von Fabrikräten oder Delegierten in Italien und von Betriebsräten in Deutschland wurde festgestellt, daß bei der Durchsetzung von Interessen gegenüber dem Unternehmen und dem Staat eine stärkere Gegenmacht sich in Italien als in Deutschland zeige. Wärend in Italien eine fortschreitende Machtverschiebung konstatiert wurde, ergab sich für die Bundesrepublik Deutschland eher eine Tendenz zum Machterhalt. Der Referent wies aber darauf hin, daß dieser Untersuchung keine allgemeine Gültigkeit zukommen könne. In der abschließenden Diskussion dieser beiden Referate ging es um die Bedeutung der Wissenschaft für gewerkschaftliches Handeln. Das Spannungsverhältnis der Einzelgewerkschaften untereinander, ζ. B. unterschiedliche Auffassungen über die Verkürzung von Wochen- und Lebensarbeitszeit, Abgrenzungen gegenüber Kommunisten wurden hierbei erörtert. Die Einbeziehung von Randbelegschaften in gewerkschaftliche Handlungsfelder und die Effizienz der betrieblichen Arbeitnehmervertretung in Italien und der Bundesrepublik Deutschland wurden thematisiert.

I I I . Gesellschaftspolitische Modelle in Gewerkschaftstheorien

Das gesellschaftspolitische Modell der schwedischen Gewerkschaftsbewegung Von Rudolf Meidner, Stockholm M i r ist die Aufgabe zuteil geworden, Ihnen das gesellschaftspolitische Modell der schwedischen Gewerkschaftsbewegung darzustellen. Eine erste Einschränkung ist am Platz: Wenn ich von Gewerkschaftsbewegung spreche, habe ich nur die Gewerkschaften im Auge, die Arbeiter und untere Angestellte organisieren und in dem Dachverband LO zusammengeschlossen sind. Dieser Teil der Gewerkschaftsbewegung ist historisch Teil der schwedischen Arbeiterbewegung und traditionell etwa mit der sozialdemokratischen Partei verbunden. Die jüngeren, aber in der Dienstleistungsgesellschaft rasch anwachsenden Gewerkschaften der Beamten und Angestellten haben eigene gewerkschaftliche Organisationen, die ihre politische Neutralität bewahren, und deren ideologische Konturen folglich nicht ebenso deutlich sind. Gerade eine ausgeprägte Ideologie ist aber das Charakteristikum der schwedischen Gewerkschaftsbewegung, womit ich also in meinen weiteren Ausführungen den schwedischen Gewerkschaftsbund verstehe. Aus dieser Ideologie sind die gesellschaftspolitischen Modelle entwickelt worden, die in den Jahrzehnten sozialdemokratischer Regierungsmacht zu Leitlinien praktischer Politik wurden. Es ist also, durch eine Reihe günstiger Umstände, nicht beim Theoretisieren geblieben, sondern was wir bisweilen das „schwedische Modell" nennen, ist ein von der Arbeiterbewegung getragenes, in praktischer Arbeit erprobtes Modell der Wohlfahrtsgesellschaft, in dem den Gewerkschaften eine, im internationalen Vergleich, besonders wichtige Rolle zufallt. Welche sind nun die wesentlichsten Komponenten dieses Modells? Diese Frage kann nur beantwortet werden, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Ziele die schwedische Arbeiterbewegung anstrebt. Zwei Ziele nehmen hier eine dominierende Stellung ein: Als übergeordnetes Ziel ist die Vollbeschäftigung aufzufassen. Ein weiteres Ziel von hoher Dignität ist, daß in der Vollbeschäftigungsgesellschaft eine gerechte Einkommensverteilung angestrebt wird. Aus diesen Zielen, die sich gegenseitig bedingen und verstärken, lassen sich alle Komponenten des schwedischen Wohlfahrtsmodells ableiten. Die Kraft und die Konsequenz, mit der diese Ziele in Schweden seit Jahrzehnten angestrebt werden, finden ihre Erklärung in dem Umstand, daß der politische und der gewerkschaftliche Zweig der Arbeiterbewegung in gleichem Maße diese Ziele auf ihre Fahnen geschrieben haben. In einem für die gesamte

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reformistische Arbeiterbewegung gemeinsamen Nachkriegsprogramm (1944) wurden diese Ziele und damit auch in großen Zügen die Maßnahmen für ihre Durchsetzung festgelegt. Die Sozialdemokratie hat in den Nachkriegsjahren die hauptsächliche Verantwortung für die politische und wirtschaftliche Entwicklung Schwedens getragen. Sie hat als Träger der Regierungsmacht ihre wichtigsten Aufgaben darin gesehen, die in den Kriegsjahren durch außergewöhnliche Umstände zustande gekommene Vollbeschäftigung auch in Friedenszeiten zu erhalten sowie eine lange Reihe von Reformen auf den Gebieten der Sozialpolitik, der Wohnbaupolitik, der Bildungspolitik und des Arbeitsrechts durchzuführen. Bei dieser umfassenden Reformtätigkeit, die Schweden zu einer hochentwickelten Wohlfahrtsgesellschaft machten, konnte die Regierung der Unterstützung seitens der Gewerkschaftsbewegung sicher sein. Die Vollbeschäftigung im wahren Sinn dieses Begriffs, nämlich als uneingeschränktes Recht jedes Bürgers auf Arbeit, ist also der Kern der schwedischen Wohlfahrtsideologie und Voraussetzung des Wohlfahrtsstaats. Die Erfahrungen der ersten Nachkriegszeit haben jedoch gezeigt, daß die Vollbeschäftigung gerade, wenn sie als solche erreicht ist, Probleme für die Wirtschaftspolitik schafft: Sie verstärkt die Positionen der Gewerkschaften im Lohnkampf mit den Arbeitgebern, sie kann folglich zu Lohnsteigerungen führen, die über den Produktivitätszuwachs der Volkswirtschaft hinausgehen, und bedroht damit im Endeffekt die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Die Vollbeschäftigung trägt also, so könnte man mit einer gewissen Überspitzung sagen, via Lohnpolitik den Keim ihrer Bedrohung in sich. Ein Konflikt zwischen der Forderung auf Vollbeschäftigung und dem wirtschaftlichen Zwang der Stabilisierung des Geldwertes und der Wettbewerbsfähigkeit zeichnete sich früh in Schweden ab, und zwar besonders deutlich in einem Lande mit starken Gewerkschaften, einer Arbeiterbewegung, die sich unzweideutig zur Vollbeschäftigung bekannte, und einer Volkswirtschaft, die sich nur auf den Weltmärkten behaupten kann, wenn ihr Kostenniveau wettbewerbsfähig ist. Recht frühzeitig wurde dieses Dilemma von der sozialdemokratischen Regierung und den Gewerkschaften erkannt, bloß über die Methoden zu seiner Lösung herrschte lange keine Übereinstimmung. Die Regierung glaubte, durch Überredung, Mahnungen und Richtlinien die Gewerkschaften zu lohnpolitischer Zurückhaltung zu bringen, d. h. ihre in der Vollbeschäftigungswirtschaft starke Verhandlungsposition nicht voll zu nutzen. Die Gewerkschaften ihrerseits erklärten sich außerstande, diese Verantwortung für die Stabilisierung der Wirtschaft zu übernehmen und wiesen diese Aufgabe an die Regierung zurück. In der Marktwirtschaft, so argumentierten sie, herrschen die Marktkräfte auch auf dem Arbeitsmarkt. Besteht eine starke Nachfrage nach Arbeitskräften, kann sich keine Arbeitnehmerorganisation diesen Kräften widersetzen, ohne das Vertrauen der Mitglieder und damit ihre Legitimierung zu verlieren. Es bedurfte

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der Erfahrungen eines zweijährigen Tarifmoratoriums, das in den Jahren 1949 und 1950 den Gewerkschaften von der Regierung aufgedrängt wurde, um diese These zu bestätigen. Die Verbände, unter Führung der Gewerkschaftszentrale LO, erklärten sich bereit, die geltenden Tarifverträge für zwei weitere Jahre zu verlängern. Das Ergebnis einer derartigen Bereitwilligkeit, die nicht die wirkliche Lage auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigte, war eine beträchtliche Lohnsteigerung, die besser die starke Position der Gewerkschaften widerspiegelte als das zentral mit der Regierung getroffene Abkommen über ein lohnpolitisches Moratorium. Die Gewerkschaften begnügten sich nicht mit der Tatsache, daß der Konflikt zwischen Vollbeschäftigung und Preisstabilität, anders ausgedrückt, die Wahl zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation, nicht dadurch gelöst werden kann, daß man die Gewerkschaften zu einer lohnpolitischen Zurückhaltung drängt, die von den Mitgliedern als unberechtigt und ihren Interessen zuwiderlaufend empfunden wird. Von gewerkschaftlicher Seite wurde eine Problemlösung empfohlen, die gleichzeitig Vollbeschäftigung sichern und Inflationstendenzen entgegenwirken sollte, und dies ohne die Tarifautonomie zu untergraben. Die Gewerkschaften haben mit diesem stabilisierungspolitischen Modell, das schon Ende der 40er Jahre von einigen ihrer Experten entwickelt wurde, einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung eines Problems geleistet, das nicht nur in Schweden zu einem schweren Dilemma der Regierungen wurde: wie kann Vollbeschäftigung erreicht werden und gewahrt bleiben, ohne daß sich daraus, auf dem Wege über eine offensive Lohnpolitik, inflationistische Folgen entwickeln! Die Antwort der schwedischen Gewerkschaften auf diese Schicksalsfrage ist zu verstehen aus ihrer Sorge um die Existenz einer starken, vom Vertrauen der Mitglieder getragenen und von staatlichen Eingriffen in die Tarifverhandlungen freien Gewerkschaftsbewegung, die sich von Arbeitslosigkeit und Inflation gleichermaßen bedroht wußte. Sie fühlte die Verpflichtung, ein konstruktives Modell für eine Stabilisierung zu entwickeln, das nicht auf traditioneller Einkommenspolitik, d.h. in der Praxis lohnpolitischer Restriktivität, basiert, sondern die Verantwortung für die Wirtschaftspolitik den Politikern überläßt. Der Kern dieses gewerkschaftlich inspirierten Gegenmodells zu der herkömmlichen Einkommenspolitik ist die Einsicht, daß in einer dynamischen Volkswirtschaft stets expansive und stagnierende aber auch schrumpfende Wirtschaftszweige nebeneinander existieren, daß auch in der Hochkunjonktur gewisse Regionen schwach entwickelt sind und gewisse Kategorien von Arbeitskräften an schwacher Nachfrage leiden. Sollten auch diese „Inseln der Arbeitslosigkeit eliminiert werden, würde das eine Erhöhung der Gesamtnachfrage erfordern, die in den Teilen der Wirtschaft, in denen bereits Vollbeschäftigung herrscht, zu Engpässen und inflationistischen Überhitzungserscheinungen führte. 7

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Die Lösung des Problems besteht darin, daß die Regierung eine straffe Steuerund Geldpolitik führt, die die Nachfrage, die Unternehmergewinne und damit die Fähigkeit der Unternehmer, ständig höhere Löhne zu zahlen, in Schranken hält. Es mag eigenartig anmuten, daß Gewerkschaften eine Politik befürworten, die es ihnen erschwert, eine aggressive Lohnpolitik zu führen. Die Erklärung des scheinbaren Paradoxes liegt natürlich darin, daß die Alternative zu einer derartigen restriktiven Politik den Gewerkschaften die undankbare Aufgabe zuweisen würde, durch lohnpolitische Zurückhaltung die Verantwortung für wirtschaftliche Stabilität zu tragen. Die restriktive Wirtschaftspolitik bedarf aber einer wichtigen Ergänzung. Zweifellos muß sie in schwachen Branchen, Regionen und Betrieben sowie für Gruppen von Arbeitnehmern mit schwacher Wettbewerbsfähigkeit (ζ. B. unzureichende Ausbildung, Arbeitshandikapp) zu Beschäftigungsproblemen führen. Es ist auch wahrscheinlich, daß eine Verminderung der Unternehmergewinne den Investitionswillen der Unternehmer schwächt. Die Gewerkschaften wollen aber weder die Vollbeschäftigung noch das Wirtschaftswachstum aufgeben. Sie setzen daher voraus, daß eine restriktive Wirtschaftspolitik mit selektiven beschäftigungs- und industriepolitischen Maßnahmen ergänzt wird. Die Instrumente der selektiven Arbeitsmarktpolitik sind Ausbildung, Berufsberatung, Arbeitsvermittlung, Mobilitätsbeihilfen, notfalls öffentliche Arbeiten und geschützte Werkstätten. Hier finden wir also, in einem Gutachten, das vor 35 Jahren formuliert wurde, zum erstenmal die gewerkschaftliche Forderung nach einer Arbeitsmarktpolitik, die dann in den kommenden Jahren voll von den sozialdemokratischen Regierungen akzeptiert und zu einem Kernstück ihrer Politik gemacht wurde. Damit erschöpft sich jedoch nicht der ideologische Beitrag der Gewerkschaften zum Schwedischen Modell. Wie einleitungsweise bereits erwähnt wurde, stehen für die Gewerkschaften wie auch für die gesamte Arbeiterbewegung zwei Ziele im Vordergrund: Vollbeschäftigung und eine egalitäre Einkommensverteilung. Die Verantwortung für die Verwirklichung des Vollbeschäftigungsziels ist Sache der Regierung. Nach gewerkschaftlicher Auffassung kann das vorgeschlagene stabilisierungspolitische Modell, das eine Kombination von Restriktivität mit generellen Mitteln und einer selektiven Arbeitsmarktpolitik beinhaltet, diese Aufgaben erleichtern. Für die Einkommensverteilung trägt jedoch die Gewerkschaftsbewegung die hauptsächliche Verantwortung. Der Staat mag mit Hilfe eines progressiven Steuersystems schwache Gruppen begünstigen, durch den Ausbau des Sozialversicherungssystems Kranke, Arbeitslose und Rentner gegen Einkommensverluste absichern oder auch gewisse Aufgaben im Bildungs- und Gesundheitswesen, in der Kinder- und Alterfürsorge übernehmen: die grundlegende Einkommensstruktur wird im Lohnbildungsprozeß bestimmt, und hier ist im demokratischen Staat das Verhalten der Gewerkschaften entscheidend.

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Jede echte Gewerkschaftsorganisation basiert auf dem Boden der Solidarität der angeschlossenen Mitglieder. Die schwedische Gewerkschaftsbewegung ist noch einen Schritt weiter gegangen: Sie hat diese Solidarität zum Leitstern ihrer Lohnpolitik gemacht. „Solidarische Lohnpolitik" heißt, daß die Sonderinteressen der Einzelgruppe sich dem Gesamtinteresse der Gewerkschaftsbewegung unterzuordnen haben. Die Lohnstruktur soll nicht durch Verschiedenheiten der Gewinnmargen in verschiedenen Wirtschaftszweigen, Regionen oder Betrieben bestimmt sein, sondern durch die Art der Arbeit. Gleiche Arbeit soll gleich bezahlt werden, unabhängig von der Ertragslage des Unternehmens. In demselben Gutachten, das im Jahre 1951 das Modell einer inflationsfreien Vollbeschäftigungswirtschaft vorlegte, wurden auch die Grundlagen der solidarischen Lohnpolitik formuliert, gleichsam als eine gewerkschaftliche Gegenleistung zu dem Modell einer Wirtschaftspolitik entsprechend den Vorschlägen seitens der Gewerkschaften. Denn erst mit einer Lohnpolitik, die den Interessen breiter Mitgliedsgruppen entspricht, der Gewerkschaftsbewegung eine feste ideologische Basis verleiht und dem Gewerkschaftsbund eine zentrale Rolle in den Tarifverhandlungen zuteilt, werden die Gewerkschaften voll verhandlungsfahige Partner der Regierung in ihrem Kampf für Vollbeschäftigung und Wirtschaftsstabilisierung. Hier zeichnet sich also die recht anspruchsvolle Doppelstrategie ab, die an die Wirtschaftspolitik und die Gewerkschaftspolitik gleichermaßen hohe Ansprüche stellt: Die Regierung soll den Mut haben, eine straffe Wirtschaftspolitik zu führen, aber auch den Willen und die Methoden, daraus sich ergebende Beschäftigungsprobleme mit selektiven Mitteln zu lösen. Die Gewerkschaften sollen ihre Lohnpolitik auf der Grundlage der solidarischen Lohnpolitik koordinieren und erhalten erst damit die Möglichkeit, Lohnpolitik unter dem Aspekt gesamtwirtschaftlicher Stabilität zu führen. Das ist weder Gesellschaftsvertrag noch Einkommenspolitik, weder Gefährdung der staatlichen Wirtschaftspolitik durch zu hohe Lohnforderungen noch Verletzung der Tarifautonomie. Es ist schlechthin eine Abgrenzung der Kompetenzen, die dem Staat die volle Souveränität über die Wirtschaftspolitik beläßt und den Gewerkschaften und übrigen Interesseorganisationen die Tarifautonomie garantiert. Damit war das Modell in seinen Zielsetzungen und in seinen Bestandteilen konsistent. Seine Konstrukteure waren sich schon von Anfang an klar darüber, daß die solidarische Lohnpolitik mit den Grundsätzen der Marktwirtschaft schwer vereinbar ist. In der freien, also auch von Gewerkschaften freien Marktwirtschaft, würde sich die Lohnstruktur an die Ertragslage der Unternehmen anpassen, und die ertragsreichen Betriebe würden, so nach der volkswirtschaftlichen Theorie, 7*

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durch höhere Löhne Arbeitskräfte an sich ziehen. Die schwedische Gewerkschaftsbewegung, die ja durch ihren hohen Organisationsgrad eine monopolartige Stellung einnimmt, akzeptiert nicht den Profit als Kern der Lohnbildung, sondern stellt ihre eigenen Normen auf, die mehr der Art und dem Charakter der Arbeit entsprechen. Qualifikation, Verantwortung, Vielseitigkeit, geistige und körperliche Beanspruchung, Arbeitsumwelt sollen hierbei für die Lohnfindung entscheidend sein, nicht aber der zufällige Umstand, ob man in einem mehr oder einem weniger ertragreichen Betrieb arbeitet. Schweden ist eine Marktwirtschaft wie andere Länder in Westeuropa. Wenn sich die Gewerkschaften, im Namen der Solidarität aller Arbeitnehmer, in ihrer Lohnpolitik diesen Marktkräften widersetzen, entstehen Probleme, die nur mit Hilfe des Staats gelöst werden können. Ich will zwei der wichtigsten nennen und kurz diskutieren. Das erste und schwerste Problem einer konsequent durchgeführten solidarischen Lohnpolitik entsteht, wenn Betriebe mit schwacher Rentabilität außerstande sind, den geforderten Lohn zu zahlen. Sie werden normalerweise versuchen, durch Rationalisierungen wettbewerbsfähig zu bleiben. Es muß aber damit gerechnet werden, daß diese Anstrengungen in gewissen Fällen erfolglos sind und daß Teile des Betriebs oder auch der ganze Betrieb vom Markt verdrängt werden. Die solidarische Lohnpolitik führt damit, mag es sich hier auch nur um Ausnahmefälle handeln, zu Entlassungen, Betriebsstillegungen und Arbeitslosigkeit. Die Gewerkschaften können diese Lohnpolitik nur betreiben, wenn sie sicher sind, daß der Staat mit arbeitsmarktpolitischen Mitteln diese Probleme löst. Ich habe bereits dargelegt, daß Arbeitsmarktpolitik ein wichtiges Element der Stabilisierungspolitik ist. Es zeigt sich nun, daß die gleiche Arbeitsmarktpolitik auch ein notwendiges Komplement zu der solidarischen Lohnpolitik ist. Arbeitskräfte in unrentablen Betrieben, die ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren, haben Anspruch auf Umschulung, Umzugsbeihilfen und anderen Beistand, den gut ausgerüstete Arbeitsämter leisten können, um den Entlassenen zu neuen Arbeitsplätzen zu verhelfen. Zugegebenermaßen ist eine derartige Umstellung leichter in einer expansiven als in einer stagnierenden Wirtschaft. Im letzteren Falle muß die Arbeitsmarktpolitik Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im eigentlichen Sinne ergreifen. Wir sehen also, daß sich die schwedische Arbeitsmarktpolitik von drei verschiedenen Motiven her entwickelt hat. Sie ist zum ersten ein Instrument der Vollbeschäftigungspolitik und hat die traditionelle Aufgabe, den „Suchprozeß" auf dem Arbeitsmarkt, die Vermittlung von Arbeitsplätzen und Arbeitssuchenden zu erleichtern. Das zweite Motiv ist in der stabilisierungspolitischen Strategie begründet: Die Effizienz der Arbeitsmarktpolitik entscheidet, wie weit eine Regierung es wagen kann, eine anti-inflationistische Politik zu führen, ohne das Entstehen von Arbeitslosigkeit befürchten zu müssen. Das dritte Motiv

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haben wir eben behandelt: Solidarische Lohnpolitik ist nur durchsetzbar, wenn die Regierung die Verantwortung für die sich daraus ergebenden Beschäftigungsprobleme übernimmt. Es ist diese Vielfalt von Motiven, die der schwedischen Arbeitsmarktpolitik ihre starke ideologische Basis gegeben hat und sie zu einem Kernstück des schwedischen Modells gemacht hat. Die Vollbeschäftigungspolitik, die Stabilisierungspolitik und die Lohnpolitik haben alle eine umfassende und gut ausgestattete Arbeitsmarktpolitik zur Voraussetzung. Es ist daher keineswegs ein Zufall, daß Schweden einen größeren Teil seines Sozialeinkommens und seines staatlichen Budgets für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen aufwendet als irgend ein anderes Land. Die solidarische Lohnpolitik ist jedoch auch von einem anderen Gesichtspunkt als dem beschäftigungspolitischen problematisch und erfordert staatliche Stütze. Solidarische Lohnpolitik hat, wenn konsequent durchgeführt, eine zweifache Wirkung. Sie setzt schwache Betriebe unter den Druck zur Rationalisierung und treibt sie im Extremfall zur Stillegung. Die andere Wirkung betrifft die hochrentablen Betriebe, in denen lohnpolitische Zurückhaltung die Arbeitgeber, d. h. die Eigentümer, begünstigt. M i t dem Wort eines deutschen Nationalökonomen bedeutet eine solche Zurückhaltung „ein Geschenk an die Arbeitgeber". Eine jahrzehntelang betriebene solidarische Lohnpolitik mußte also mit einer Vermögensverschiebung zugunsten der Kapitaleigentümer erkauft werden. Wenn es auch nicht direkt nachweisbar ist, kann die solidarische Lohnpolitik zu der starken Konzentration in der schwedischen Wirtschaft beigetragen haben. Hier bedarf es also einer Korrektur, die mit dem Stichwort „Vermögenspolitik" angedeutet werden kann. Seit Jahren haben die schwedischen Gewerkschaften für eine Kollektivierung der zufolge lohnpolitischer Zurückhaltung den Kapitaleigentümern zufallenden Gewinnanteile plädiert, etwa in der Form von Arbeitnehmerfonds, die gewisse Ähnlichkeit mit den in den 50er und 60er Jahren in der Bundesrepublik intensiv diskutierten Fondkonstruktionen aufweisen. Ein Vorschlag des Schwedischen Gewerkschaftsbundes im Jahre 1976 war der Auftakt zu einer zeitweise sehr hitzigen Debatte, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Seit 1984 existieren durch Parlamentsbeschluß fünf regionale Arbeitnehmerfonds, gespeist durch Gewinnabgaben der Betriebe und verwaltet von Vorständen, die mehrheitlich von Vertretern der Gewerkschaften zusammengesetzt sind. Die Fonds investieren ihre Mittel in der Hauptsache auf dem Aktienmarkt. Via Stimmrechte, die zur Hälfte den lokalen Gewerkschaften in Gesellschaften, deren Aktien von den Fonds angekauft wurden, zufallen, verspricht man sich auf längere Sicht auch eine Demokratisierung der Wirtschaft. Es mag hinzugefügt werden, daß dieses Fondsystem recht weit entfernt von den Vorschlägen

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Rudolf Meidner

liegt, die vor zehn Jahren von gewerkschaftlicher Seite formuliert wurden. Das geltende System ist nicht umfassend genug, um lohn- und vermögenspolitisch bedeutungsvoll zu werden. Es ist eher als Prinzipbeschluß zu werten, der den gewerkschaftlichen Standpunkt, daß die solidarische Lohnpolitik mit vermögenspolitischen Korrekturmaßnahmen ergänzt werden muß, anerkennt. Lassen Sie mich zusammenfassen, was ich als Grundzüge des Schwedischen Modells auffasse. Höchstrangige Ziele sind Vollbeschäftigung und eine egalitäre Einkommensstruktur. Damit Vollbeschäftigung nicht mit Preisstabilität in Konflikt gerät, muß die Wirtschaftspolitik generell restriktiv geführt werden, um die Gesamtnachfrage in Grenzen zu halten. Dies wiederum hat eine selektive, also an den schwächsten Stellen der Wirtschaft angesetzte Arbeitsmarktpolitik zur Voraussetzung. Den Gleichheitsbestrebungen des Staates, die in einem progressiven Steuersystem und in umfassenden Wohlfahrtseinrichtungen ihren Ausdruck finden, entspricht auf gewerkschaftlicher Seite die solidarische Lohnpolitik. Erst sie macht die Gewerkschaften zu einem starken Partner der Regierungen in deren Streben, eine inflationsfreie Vollbeschäftigungspolitik zu führen. Solidarische Lohnpolitik bedeutet vom volkswirtschaftlichen Standpunkt einen wichtigen Faktor für Rationalisierung, Effektivisierung und Strukturveränderungen. Vom gewerkschaftlichen Standpunkt sind die dabei entstehenden Beschäftigungsprobleme und Vermögensverschiebungen zugunsten der Kapitaleigentümer unerwünscht. Die Gewerkschaften brauchen daher die Hilfestellung des Staates in Form von aktiver Arbeitsmarktpolitik und korrigierender Vermögenspolitik. Erst wenn all diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist das Modell konsistent und funktionstauglich. Eine solche summarische Darstellung mag den Anschein geben, daß es sich hier um eine gedankliche Konstruktion handelt, ein am Reißbrett entworfenes Modell, das nicht von Bedeutung für eine Gewerkschaftsbewegung sein kann, die, wie die schwedische, im Rufe des Pragmatismus steht und sich hütet, allzuviel zu theoretisieren. Wie sehen die Realitäten hinter dem Modell aus? Oder, um an das Thema dieser Tagung anzuknüpfen: Was ist Macht und was ist Ohnmacht von Gewerkschaftstheorien? Die Antwort kann, jedenfalls teilweise, in der schwedischen Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung abgelesen werden. Der Beschäftigungsgrad ist der höchste in der westlichen Welt und das Ziel, das ganze Volk in Arbeit zu bringen, nicht so fern. Der Staat übernimmt die Verantwortung für die Beschäftigung aller, die keine Arbeitsplätze auf dem regulären Arbeitsmarkt finden. Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen — Umschulung, Rehabilitierung, öffentliche Arbeiten, Ausbildung — umfassen zeitweise 3-4% der arbeitsfähigen Bevölkerung. Die offene Arbeitslosigkeit übersteigt in der Regel nicht 3 %. Vollbeschäftigung ist die Basis der schwedischen Wohlfahrtsideologie auch in einer Umwelt, die anderen Zielen eine höhere Priorität gibt.

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Auf gewerkschaftlicher Seite ist die solidarische Lohnpolitik nicht erfolglos geblieben. Im Bereich des zentralen Gewerkschaftsbundes (LO) ist das Prinzip: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit weitgehend verwirklicht, am deutlichsten ablesbar in der Verringerung des Abstandes zwischen Männer- und Frauenlöhnen, aber auch in den sinkenden Lohndifferenzen zwischen verschiedenen Industriezweigen. Ohne hohen Beschäftigungsstand und aktive Arbeitsmarktpolitik wären diese Ergebnisse nicht erreicht worden. Starke Gewerkschaften und eine langjährige sozialdemokratische Regierungsmacht haben die Voraussetzungen geschaffen, um dieses ideologisch fest fundierte gesellschaftspolitische Modell von der Theorie in die Praxis zu überführen. Jemand hat gesagt, daß nichts so praktisch ist wie eine gute Theorie. Das setzt voraus, daß die Ziele, schon in der Theorie, vereinbar miteinander sind, daß die Mittel, diese Ziele zu erreichen, praktisch brauchbar sind, und daß man flexibel genug ist, in ständig veränderlichen Situationen neue Wege zu finden, ohne die wesentlichen Ziele aus den Augen zu verlieren. Kritiker in und außerhalb Schwedens haben in den letzten Jahren schon oft gemeint, daß das Schwedische Modell sich überlebt hat. Der Neoliberalismus will den Wohlfahrtsstaat abbauen, kollektive Lösungen durch private ersetzen, die Gewerkschaften als Träger des Solidaritätsgedankens schwächen und den Marktkräften größeren Spielraum geben. Die schwedische Arbeiterbewegung hingegen hält unerschütterlich an ihren Hauptzielen fest: Vollbeschäftigung, generelle Wohlfahrt, die allen zugutekommt, Solidarität mit den schwachen Gruppen. Das Modell für Verwirklichung diese Ziele, wie ich es hier dargestellt habe, ist sicher stets erneuerungsbedürftig und verbesserungsfähig. In seinen Grundzügen ist es ein taugliches Instrument für die Weiterentwicklung der Wohlfahrtsgesellschaft.

Frankreichs „Modernisierung" der Gewerkschaftsbewegung? Von Peter Jansen, Berlin Im Jahre 1984 konnten französische Gewerkschaften den hundertsten Jahrestag ihrer legalen Anerkennung begehen. Einen Grund zum Feiern gab dieses Datum allerdings nicht ab. Rückblicke auf gewerkschaftliche Organisationswellen wie 1935/37 und 1945/47 mußten bedenklich stimmen.. Während die Gewerkschaften damals 4 bzw. 5 Millionen Mitglieder hatten, sind heute nur noch 2,5 bis 3 Millionen Lohnabhängige bei ihnen organisiert. Der Organisationsgrad, der seit 1977/78 rückläufig ist, ist mit etwa 15 % auf einem Tiefpunkt angelangt. Ähnlich massiv ist der Rückgang bei den Arbeitskampfaktivitäten, die auf das Niveau der vor 20 Jahren erreichten Talsohle abgesunken sind. Lediglich in einem Bereich können Gewerkschaften ihren Vertretungsanspruch noch verteidigen. Überall dort, wo Lohnabhängige ihre Stimmen bei Wahlen zur Besetzung von reinen Interessenvertretungsorganen der Arbeitnehmer bzw. zur Besetzung der Arbeitnehmerbänke in paritätischen Gremien abgeben, erhalten die repräsentativen Gewerkschaftsorganisationen (CGT, CGT-FO, CFDT, CFTC, CGC) noch etwa drei Viertel der Stimmen. Weder das Bild von Klassen- und Massengewerkschaften noch das Bild einer klassenkämpferischen französischen Arbeiterklasse kann diese Realitäten einfangen. Wie werden Gewerkschaften mit einer Situation fertig, in der die von ihnen vertretenen gesellschaftspolitischen Visionen offensichtlich in eine Krise geraten sind? Wie reagieren sie auf die Tatsache, daß ihnen einerseits die Mitglieder davonlaufen, während sie andererseits von denselben Lohnabhängigen in Wahlen bestätigt werden? Dieser Frage soll zunächst nachgegangen werden, indem gesellschaftspolitische Grundsatzaussagen präsentiert werden, die auf den seit 1981 abgehaltenen Gewerkschaftskongressen artikuliert wurden. In einem zweiten Schritt sollen Erklärungsansätze für die französische Gewerkschaftskrise vorgestellt werden. Ob sich daraus die Notwendigkeit einer „Modernisierung" der Gewerkschaften ergibt, wird dabei zu überprüfen sein.

Zwischen Beharrung und Anpassung — französische Gewerkschaften nach 1981 Die Strukturen und „Gesetzmäßigkeiten" des Gewerkschaftspluralismus bewirken einen ideologisch-politischen „Profilierungsdruck". Die auf allen Handlungsfeldern in Konkurrenz zu anderen Gewerkschaftsbünden stehenden

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Organisationen müssen die Notwendigkeit ihrer eigenständigen Existenz politisch begründen. Sie müssen auf ihren Kongressen Akzente setzen, die Vorzüge und Erfolge ihrer Politik verdeutlichen. Alle französischen Gewerkschaften haben nach dem Regierungswechsel von 1981 mindestens einen Kongreß abgehalten. Es handelt sich wohlgemerkt um ordentliche, nicht um außerordentliche Kongresse. Zwangsläufig gingen sie auf diesen Kongressen auf die von der Linksregierung betriebene Politik ein. Die von der Regierung verfolgte Modernisierungsstrategie, die anhaltenden arbeitsmarktpolitischen Probleme, die von Unternehmern verfochtene „Flexibilisierungsstrategie" und der gesamte Komplex der sozialen Sicherung bestimmten die Tagesordnungen. Für programmatische Erklärungen und die Ausformulierung gesellschaftspolitischer Leitvorstellungen nahm man sich nur wenig Zeit. Dennoch machen die Kongresse deutlich, daß innerhalb des Lagers der repräsentativen Gewerkschaften zwei unterschiedliche Wege eingeschlagen werden: Auf der einen Seite stehen die Organisationen, die tendenziell dazu neigen, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen (CFDT, CFE-CGC und CFTC). Auf der anderen Seite stehen die „konservativen " Organisationen, die an ihren traditionellen Leitbildern festhalten (CGT und CGT-FO). Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß die bis aufs Messer miteinander verfeindeten Gewerkschaften CGT und CGT-FO durch einen beiden Organisationen gemeinsamen „Traditionalismus" gekennzeichnet sind, hinter dem sich jedoch sehr unterschiedliche gewerkschaftspolitische Konzeptionen verbergen. Modernisierungsbereite Gewerkschaften Die CFE-CGC hat sich auf ihrem 1984 abgehaltenen Kongreß 1 explizit für den Liberalismus ausgesprochen. Ihre gegen den „Kollektivismus" und den „allmächtigen Staat" gerichtete Kritik ist nicht ausschließlich an die Linksregierung adressiert. Sie bezieht sich grundsätzlich auf das System der indikativen Planwirtschaft, das dem Staatsinterventionismus vor allem dann strukturellen Vorschub leistet, wenn ein hoher Prozentsatz der Wirtschaftsunternehmen verstaatlicht ist. Befürwortet wird eine liberalsoziale Marktwirtschaft, deren Realisierung man sich von den derzeitigen Oppositionsparteien verspricht. Bei Transformationsprozessen, die in diese Richtung gehen, ist die CGC bereit, eine gesellschaftspolitische Verantwortung zu übernehmen. Die in diesem Konzept angelegte Zurückdrängung des Staates will die CGC dazu ausnutzen, um ihre Kompetenzen und die ihrer (potentiellen) Mitglieder auszubauen. Vorrangiges Ziel bleibt die Interessenvertretung für ihre Klientel, die Angestellten und Führungskräfte. Das berufsständische Moment bleibt voll erhalten.

1

Confédération Française de l'Encadrement — Confédération Générale des Cadres. 26 e Congrès de la CGC in: Liaisons Sociales (LS) W No 67/84 du 12 juin 1984.

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Die CFTC, deren letzter Kongreß 1985 stattfand 2 , hat die christliche Ausrichtung ihrer Organisation bekräftigt. Im Unterschied zur CGC will sie sich nicht durch den Liberalismus vereinnahmen lassen, weil er mit einer gewerkschaftlichen Solidarpolitik unvereinbar ist. Jedoch kritisiert auch die CFTC den „zunehmenden Staatsinterventionismus" (Etatismus). Sie sucht nach einem Mittelweg zwischen den Extremwerten von „Liberalismus" und „Etatismus", optiert für Strukturen einer „echten Konzertation". Der von ihr gesuchte „konstruktive Dialog" im Unternehmen und in der Gesellschaft entspricht dem Leitbild „einer weder verstaatlichten noch anarchistischen Gesellschaft." Da die Interessen von Kapital und Arbeit nicht als antagonistisch verstanden werden, wird die Notwendigkeit einer Systemüberwindung nicht gesehen. Die CFDThaX auf ihrem im Sommer 1985 abgehaltenen Kongreß 3 unfreiwillig das Dilemma deutlich gemacht, in das systemüberwindende Strategien geraten sind. Auf der einen Seite bekräftigt sie die programmatische Orientierung an einer „sozialistischen, selbstverwalteten Gesellschaft", hält am Konzept der autogestion fest. Auf der anderen Seite spricht sie sich für die „Anpassung der Gewerkschaftsbewegung" an wirtschaftliche, technologische und kulturelle Wandlungsprozesse aus. In Anlehnung an Traditionen der sozialistisch inspirierten französischen Gewerkschaftsbewegung verficht die CFDT einen Pan-Syndicalismus, „in dem die Verteidigung von Interessen der Lohnabhängigen nicht vom Entwurf einer solidarischen Gesellschaftsveränderung getrennt ist". M i t dem seit Beginn der 70er Jahre entwickelten Leitgedanken der autogestion orientiert sich die CFDT an einem „Modell" ohne Modellcharakter. Genaugenommen ist die autogestion eine Negation bestehender gesellschaftspolitischer Alternativen. Der Kapitalismus und totalitäre Abweichungen von der kommunistischen Theorie werden radikal abgelehnt, wobei der letztgenannte Punkt die Herausbildung einer dauerhaften Achse zwischen CGT und CFDT verhindert. Von einer umverteilenden, aber nicht gesellschaftsverändernden Sozialdemokratie distanziert sich die CFDT ebenfalls. „Unser Anspruch besteht darin, eine sozialistische, selbstverwaltete Gesellschaft zu konstruieren, die im Rahmen ihrer Entwicklung dazu tendiert, alle Formen der Ausbeutung, der Herrschaft (Dominierung) und der Entfremdung abzubauen. Diese Gesellschaft tendiert zu einer gleichmäßigen Verteilung von Macht und Wissen. Sie erlaubt die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Teilhabe an diesem Entwicklungsprozeß". Die demokratietheoretischen Ideale der CFDT kennzeichnen den Anspruch dieser Organisation. Er wird beispielsweise dort praxisrelevant, wo die CFDT sich für das Arbeitermitspracherecht engagiert. Die Betonung einer notwendi2 Confédération Française des Travailleurs Chrétiens, 42 e Congrès de la CFTC, in: LS W No 4/85 du 9 janvier 1985. 3 Confédération Française Démocratique du Travail, 40 e Congrès de la CFDT, in: LS W No 75/85 du 3 juillet 1985.

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gen Emanzipation des Individuums (hier schlägt sich auch die christliche Vergangenheit der erst 1964 konstituierten CFDT nieder) ist der eigentliche Motor für die Modernisierungsbereitschaft in der CFDT. Gleichzeitig versteht sich die CFDT insofern als Klassengewerkschaft, als sie versucht, nicht nur die Interessen der „Arbeitsplatzbesitzer", sondern auch die der Arbeitslosen zu vertreten. Aus der Suche nach einer solidarischen Politik resultiert die Risikobereitschaft auf dem Feld der Flexibilisierung der Arbeitszeiten und der Arbeitsvertragspolitik. Eine vergleichbare Gesprächsbereitschaft zeigt auf diesem Feld nur noch die CGC. Die Traditionalisten Die CGT-FO, die ihren letzten Kongreß 4 im Dezember 1985 durchführte, hat ein „trade-unionistisches" Selbstverständnis. Sie vertritt die Auffassung: „Gewerkschaften dürfen nicht die Rolle von politischen Parteien übernehmen. ... die Gewerkschaftsbewegung ist unserer Meinung nach kein Träger eines Gesellschaftsmodells im politischen Sinn". Gewerkschaften haben in ihrem Zuständigkeitsbereich für Verbesserungen und gegen Auswüchse des kapitalistischen Systems) zu kämpfen. Einen gesellschaftlichen Führungsanspruch oder eine Beteiligung an der Führung können und dürfen sie nicht fordern, ohne ihre Existenzberechtigung zu verlieren. Der von der CGT-FO ausformulierte Anspruch einer solidarischen und zugleich individualistischen Gewerkschaftspolitik basiert auf der Auffassung, daß es immer Herrscher und Beherrschte gibt. Weil der Klassenkampf ewig währt, muß nach einem vertraglich geregelten Interessenabgleich gesucht werden. Gewerkschaftliche Kollektivverträge stehen „im Gegensatz zu einseitigen (Unternehmer-) Entscheidungen, zur Selbstverwaltung (autogestion) und zur vom Gesetz beanspruchten Priorität". Die CGTFO spricht sich gegen alle Formen von Korporativismus aus. Sie bekräftigt die Gegenmachtfunktion von Gewerkschaften in demokratischen Gesellschaftsstrukturen. Auf dieser Ebene erweist sich der konservative Charakter der CGTFO. Die Betonung gewerkschaftlicher Verhandlungskompetenzen geht Hand in Hand mit der Ablehnung einer Mitbestimmung nach bundesdeutschem Muster. Auch andere Formen einer betrieblichen Demokratisierung (das Arbeitermitspracherecht 5) werden von ihr abgelehnt, sobald dadurch individuelle Arbeitnehmerrechte und nicht kollektiv-gewerkschaftliche Vertretungsrechte verankert werden. Die von der CGT-FO vertretene Kritik am Kapitalismus führt diese Organisation nicht zur Propagierung eines sozialistischen Gesellschaftssystems.

4 Confédération Générale du Travail — Force Ouvriere, 15 e Congrès de la CGT-FO, in: LS W No 144/84 du 19 décembre 1984. 5

Vgl. L. Kißler (Hrsg.), 1985: Industrielle Demokratie in Frankreich, Ffm/New York.

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Auch hier bleibt sie Gefangener der eigenen (antikommunistischen) Organisationsgeschichte6. Zu einem Traditionalismus ganz anderer Art ist die CGT zurückgekehrt. Bei der CGT, die als einzige Gewerkschaftszentrale zwei Kongresse 7 in der Zeit zwischen 1981 und 1985 abgehalten hat, wird die enge Verflechtung zwischen Regierungspolitik und gesellschaftspolitischen Aussagen, die bei allen französischen Gewerkschaften zu beobachten ist, extrem deutlich. Der im Juni 1982 abgehaltene Kongreß stand noch voll unter dem Vorzeichen des gerade vollzogenen Regierungswechsels und der Ernennung kommunistischer Minister. Dementsprechend wurde für eine Politik der Strukturreformen optiert, in der ein Mittel zur Realisierung des französischen Wegs zum Sozialismus gesehen wurde. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen die Nationalisierungen, die im marxistisch geprägten Gesellschaftsbild der CGT einen zentralen Stellenwert haben. Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiterparteien und die Entprivatisierung der Produktionsmittel, die als zentrale Voraussetzungen für systemüberwindende Transformationsstrategien angesehen wurden, waren gerade realisiert worden. Dementsprechend hoch waren die Erwartungen in die staatliche Reformpolitik und die vermeintlich zwangsläufigen positiven Folgewirkungen der Nationalisierungen (Arbeitsplatzsicherung, Kaufkraftsteigerung u.ä.m.). Der anschließende Kongreß vom Herbst 1985 fand unter veränderten Ausgangsbedingungen statt. Im Sommer 1982 war die Sparpolitik eingeleitet worden. Im Sommer 1984 waren die kommunistischen Minister aus der Regierung ausgetreten. Die Hoffnungen auf den französischen Weg zum Sozialismus hatten sich zerschlagen. So wurde der 85er Kongreß von 1985 zu einer Generalabrechnung mit der Regierung — aber die Chance einer kritischen Überprüfung der eigenen Strategien wurde kaum genutzt. Ihre gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen werden mit dem Begriff des demokratischen Sozialismus umrissen. Die CGT spricht sich für die Demokratisierung der Wirtschaft aus. Nachdem rechtstechnische Maßnahmen wie die Nationalisierung nicht die gewünschten Erfolge gebracht haben, setzt sich in der CGT eine nuanciertere Beurteilung dieses in der Nachkriegszeit euphorisch überschätzten Mittels durch. Während sie früher ihre Kritik auf die Profitontntierung kapitalistischer Privatunternehmer konzentrieren konnte, wenn es galt, das Grundübel des französischen Wirtschaftssystems zu benennen, so muß sie nun bei einem Beschäftigungsanteil des öffentlichen Sektors von etwa 30% erklären, warum die erhoffte positive Auswirkung der Nationalisierung ausblieb. Folgerichtig richtet sich ihre Kritik nun auf das kurzfristige finanzpoliti-

6

Vgl. P. Jansen/L. Kißler/P. Kühne/C. Leggewie/O. Seul , 1986: Gewerkschaften in Frankreich, Geschichte, Organisation, Programmatik, FfM/New York. 7 Confédération Générale du Travail, 41 e Congrès de la CGT, in: LS W No 78 / 82 und e 42 Congrès de la CGT, in LS W No 147/85 du 16 décembre 1985.

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sehe Effizienzdenken. Gleichzeitig wird nun stärker als vorher betont, daß die aktive, permanente Einschaltung der Lohnabhängigen auf allen Entscheidungsebenen zum Garanten einer wirklichen Demokratisierung werden müsse. Die auf die Spitze getriebene Demokratie ist — so die CGT — nichts anderes als der Sozialismus, die „autogestion". Damit integriert die CGT basisdemokratische Vorstellungen der CFDT, die hier aber auch einen taktischen Stellenwert haben. Nachdem die Aktionseinheit an der Spitze (Regierungsbündnis von KPF und PS) gescheitert ist, wird nun nach Möglichkeiten einer Aktionseinheit an der Basis gesucht. Der gesellschaftspolitische Traditionalismus führt auf der Ebene der praktischen Politik zu einer weitgehenden Isolierung der CGT. Der von ihr betriebene Versuch einer „Wiederbelebung" klassenkämpferischer Attitüden findet (vorläufig?) weder bei den Lohnabhängigen noch bei anderen Gewerkschaften eine positive Resonanz. Existenz- oder Transformationskrise? Resultiert die Krise der französischen Gewerkschaftsbewegung daraus, daß Gewerkschaften funktionslos werden, oder wird sie durch Wandel und Zunahmen gewerkschaftlicher Funktionen verursacht? Die Krise drückt sich zunächst in einem Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrades aus. In den letzten 10 Jahren ist er in Frankreich von ca. 20 % auf etwa 15 % zurückgegangen. Verlierer waren die an sozialistischen Perspektiven orientierten Organisationen (CGT, CFDT), während die gemäßigten Gewerkschaften (CGT-FO, CFTC, CGC) ihren Mitgliederstand in etwa stabilisieren konnten. Tabelle 1 Mitgliederentwicklungfranzösischer Gewerkschaften Organisation

Mitgliederzahl

Jahr*

CGT CFDT CGT-FO CFTC CFE-CGC

835 000 681000 600000 223 000 150000

1984 1983 1985 1984 1983

Mitgliederbewegung - 50% seit 1975 - 25% seit 1975 ± 0% seit 1975 + 10% seit 1983 - 3 % seit 1982

* Zahlenangaben der U I M M (Arbeitgeberverband Metall), nach: „Le Monde", 7.11.85

Französische Gewerkschaften sind unmittelbar vom wirtschaftlichen Strukturwandel betroffen. Sie machen es sich allerdings zu leicht, wenn sie die Mitgliederkrise ausschließlich auf die entsprechenden Umschichtungen der

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Erwerbstätigenstruktur zurückführen wollen. Dieses Argument läßt völlig außer acht, daß der Anteil der lohnabhängig Beschäftigten an der erwerbstätigen Bevölkerung seit 1954 rapide gestiegen ist. Von damals 54% ist er auf nahezu 85% geklettert, ohne daß Gewerkschaften zum Nutznießer dieser Entwicklung geworden wären. Trotz theoretischer Auseinandersetzungen um die „neue Arbeiterklasse" (S. Mallet) und die Perspektiven einer „postindustriellen Gesellschaft" (E. Tourraine) hat sich die französische Gewerkschaftsbewegung nicht auf die Konturen einer Dienstleistungsgesellschaft einzustellen vermocht, in der die Industriearbeiterschaft zu einer Minderheit geworden ist. Tabelle 2 Umschichtungsprozesse bei lohnabhängig Beschäftigten in der Privatwirtschaft Branche

Veränderungen 67/84

Industrie Bauwirtschaft Transport und Handel Versicherungen und Banken Dienstleistungen (o. Handel)

- 7,2% -23,1% + 63,8% + 91,0% + 30,0%

1984 (abs) 4,9 1,2 4,7 0,6 3,2

Mio. Mio. Mio. Mio. Mio.

nach: „Le Peuple" Nr. 1202 v. 12.9.85

Den 6,2 Millionen, die in Industrie und Bauwirtschaft beschäftigt sind, stehen nunmehr 11 Millionen Arbeitnehmer im Tertiärsektor gegenüber. Dieser Trend zur Dienstleistungsgesellschaft wird sich nach einer Prognose des Plankommissariats 8 fortschreiben. Für das Jahr 2000 wird vorhergesagt, daß mehr als 65 % der Erwerbstätigen ihr Einkommen im Tertiärsektor finden werden. Arbeitsplätze im Bereich der Industrie werden einen Beschäftigungsanteil von 17% stellen. M i t der Veränderung der Beschäftigungsstrukturen erschwert sich der Zugang zu Mitgliedern für Industriegewerkschaften. Zum einen sind Angestellte in französischen Gewerkschaften unterrepräsentiert. Deren Anteil nimmt — auch durch die steigende Bedeutung der Verwaltungsapparate von Industrieunternehmen in der Erwerbstätigenstruktur, aber zu. Der Einsatz neuer Techniken und die dadurch ausgelösten Re- und Dequalifikationsprozesse 9 bewirken eine Polarisierung, die es erforderlich machen, daß Gewerkschaften Zugang zu neuen „Arbeiteraristokratien" finden. Gleichzeitig müssen sie den Kontakt zu den Dequalifizierten aufrechterhalten, die Gefahr laufen, in ein Lumpenproleta8

Vgl. LS SI No 714 du 21 octobre 1985. Vgl. B. Coriat/ Ph. Zarafian 1986: Tendenzen der Automatisierung und Neuzusammensetzung der Lohnarbeit, in: Prokla Nr. 62, Berlin. 9

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riat verwandelt zu werden. Entweder werden sie arbeitslos und entgleiten damit traditionellen gewerkschaftlichen Organisationsansätzen, oder sie finden sich in der Reservearmee von Lohnabhängigen mit prekären Arbeitsverträgen (Leiharbeiter, Arbeitnehmer mit befristeten Arbeitsverträgen) wieder. Welche Entwicklungschancen hier die von der CFDT initierte „Industriegewerkschaft Leiharbeit" bzw. die unabhängige „Gewerkschaft der Arbeitslosen" haben, bleibt abzuwarten. Beide Organisationsgründungen machen jedoch deutlich, daß die organisatorischen Fixierung an Industriezweigen möglicherweise langfristig wieder durch eine Rückkehr zu berufs- bzw. problemspezifischen Organisationsansätzen abgelöst werden könnte. Daß die Arbeitslosen in einem arbeitsmarktpolitischen Dualismus einen Druck auf gewerkschaftliche Organisationsstrukturen ausüben können, geht aus der bereits erwähnten Prognose des Plankommissariats hervor. Selbst unter günstigsten Wachstumsprognosen sind Arbeitslosenquoten zwischen 14% und 17% zu erwarten. Gegensteuerungen scheinen dem Plankommissariat nur möglich, wenn entweder im Jahresdurchschnitt 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen würden (der Durchschnitt der Jahre 1959-1974 lag bei 160.000), oder wenn die Arbeitszeit bis 1994 auf durchschnittlich 30 Stunden pro Woche gesenkt würde. Gewerkschaften, die sich den Arbeitslosen in Form einer Wiederbelebung eines gewerkschaftlichen Hilfsvereinswesens zuwenden (neue „Associationen" werden zu diesem Zweck gegründet), weichen die alte Trennungslinie zwischen „alten" und „neuen" sozialen Bewegungen auf. Sie wenden sich damit verstärkt gesamtgesellschaftlichen Problemen zu — was das Risiko einer Vereinahmung für ordnungspolitische Zwecke vergrößert. Ein klassisches Problem — das der gewerkschaftlichen Organisierung in Kleinbetrieben — könnte sich in Zukunft noch zuspitzen. Jüngste arbeitsmarktpolitische Entwicklungen haben gezeigt, daß neue Arbeitsplätze nicht von Groß-, sondern von Kleinunternehmen geschaffen werden. In Kleinbetrieben (bis 99 Arbeitnehmer), in denen Gewerkschaften traditionell schlecht Fuß fassen, sind gegenwärtig etwa 50% der Lohnabhängigen beschäftigt. Auch dadurch, daß die Arbeitskollektive über diesen Weg kleiner werden, wird die Praktizierung industriegewerkschaftlicher Vorstellungen erschwert. Alte französische Vorstellungen über „regionalgewerkschaftliche" Organisationsprinzipien, wie sie in den „Arbeitsbörsen" bestehen, könnten dadurch eine neue Bedeutung bekommen. Alle bisher genannten Umschichtungsprozesse üben zweifellos einen Modernisierungsdruck auf französische Gewerkschaften aus. Die Notwendigkeit, sich auf neue wirtschafts- und beschäftigungspolitische Strukturen einzustellen, ist nicht nur durch das Organisationsverhalten der Lohnabhängigen bedingt. Die Mitgliederkrise stürzt französische Gewerkschaften in eine offene Finanzkrise. U m Kampagnen gegen „Trittbrettfahrer" zu vermeiden, werden Radikallösungen wie der obligatorische Gewerkschaftsbeitrag ins Spiel gebracht. Gewerkschaften verstehen sich zunehmend als halb-öffentliche Institu-

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tion. Sie erbringen öffentliche Dienstleistungen, fordern eine öffentliche Finanzierung. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, daß diese aktuelle Diskussion das Stadium eines Gesetzesentwurfs erreichen wird, verdeutlicht sie einen gewerkschaftlichen Bewußtseinswandel. Nicht mehr die Tradition des „militantisme ", die ihr Rückgrat im aktiven Engagement von Gewerkschaftern hatte, sondern die „institutionalisierten Gewerkschafter" werden zum eigentlichen Träger der Gewerkschaftspolitik. Gewerkschaften entwickeln sich von Mitgliedsorganisationen zu „ Wahlvereinen". Dieser Trend wurde in der zweiten Hälfte der 70er Jahre — parallel zu dem Rückgang von Mitgliederzahlen — verstärkt deutlich. Im Unterschied zur dramatischen Mitgliedererosion kann hier festgestellt werden, daß die Wahlbeteiligung nur leicht rückläufig ist 1 0 . Sie lag 1983/84 knapp unter 70%. Etwa die Hälfte der Arbeitnehmer stimmte für linke Gewerkschaften (CGT: 29%; CFDT: 21,5%). Ein Viertel der Stimmen entfielen auf die repräsentativen (staatlich anerkannten) Konkurrenzorganisationen (CGT-FO: 12,6%; CFTC: 3,9%, CFE-CGC: 6,9%). Andere, diesen Zentralen nicht angeschlossene Gewerkschaften blieben unter 5%. Auch der von gewerkschaftlich nicht organisierten Kandidaten erzielte Stimmenanteil blieb mit etwa ca. 20 % relativ stabil. Die Ergebnisse der Betriebsausschußwahlen lassen es nicht zu, von einem allgemeinen Vertrauensschwund gegenüber Gewerkschaften zu sprechen — auch wenn Meinungsumfragen immer wieder zu dieser Erkenntnis kommen. Der Kontrast zwischen Mitgliedererosion und einem nur leicht veränderten Wahlverhalten legt eine Schlußfolgerung nahe: offensichtlich ersetzt der Gang zur Urne den Gewerkschaftsbeitritt. Gekoppelt mit dem seit 1976/77 zu beobachtenden massiven Rückgang der Arbeitskampfaktivitäten deutet die organisationspolitische Abstinenz auf eine grundlegende Veränderung im Verhältnis Arbeitnehmer-Gewerkschaften hin. Organisations- und Wahlverhalten zwingt Gewerkschaften in die Gremienarbeit. Die Präsenz in Gremien fordert ihre Konsens-, nicht ihre Konfliktfahigkeit. Dies wird beispielsweise von Edmond Maire (Generalsekretär der CFDT) erkannt, der den Streik mit einiger Überspitzung als veraltetes Mittel bezeichnet. Statt dessen plädiert er dafür, mehr auf die Ausnutzung der Möglichkeiten institutioneller Gremienarbeit zu setzen. Der von „Wählern" ausgehende Institutionalisierungsdruck kommt derzeit um so mehr zur Geltung, als andere gesellschaftspolitische Entwicklungen tendenziell gleiche Auswirkungen haben. Dies gilt beispielsweise für die von der Regierung verabschiedeten arbeitsrechtlichen Reformen, die auf die Etablierung eines sozialen Dialogs abzielen: Die Sozialpartner sollen den Staat

10

8

Vgl. LS L No 131 du 13 juillet 1985.

Tagung Dortmund 1985

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tendenziell durch die Entfaltung verhandlungs- und vertragspolitischer Aktivitäten entlasten. Die von Gewerkschaften begrüßte Novellierung des Kollektivvertragsrechtes zwingt Unternehmer in periodische Tarifverhandlungen hinein. Gewerkschaften erfahren hier einen potentiellen Funktionszuwachs. Damit ist ein tendenzieller Funktionswandel insofern verbunden, als ihnen ein „verantwortungsbewußtes Verhalten" abverlangt wird. Im Kontext der aktuellen volkswirtschaftlichen Entwicklung kommt dies der Aufforderung gleich, gesamtwirtschaftlichen Interessen die Priorität gegenüber Partikularinteressen der Lohnabhängigen zuzuordnen. Besonders deutlich wird dies im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die „dritte industrielle Revolution", die in Frankreich unter dem Begriff der „Modernisierungspolitik" 11 diskutiert wird. Modernisierung wird mit einem zukunftsorientierten Krisenmanagement verwechselt, in dem „neue Technologien" für Ziele des Wirtschaftswachstums und der Arbeitsplatzbeschaffung mobilisiert werden sollen. U m die internationale Konkurrenzfähigkeit der französischen Wirtschaft und vor allem der Industrie zu stärken, wurde eine umfassende Modernisierungsstrategie lanciert. Wie das „Paradepferd" der neuen Technologien, die Elektronik — besteht die Modernisierungsstrategie aus zwei Komponenten. Als „hardware" erscheint die produktionstechnische Erneuerung. Die „software" wird durch eine sozialpolitische Modernisierung gebildet. Deren zentraler Bestandteil ist die Demokratisierung von Betrieben und Unternehmen und der rechtlich abgesicherte Anspruch auf den „sozialen Dialog". Daß es sich hier um eine Doppelstrategie handelt, wird — so will mir scheinen — von französischen Gewerkschaften kaum wahrgenommen. Sie setzen sich entweder mit den Problemen des Einsatzes neuer Technologien auseinander, oder sie befassen sich mit der politischen Herausforderung, die die Renaissance der neo-liberalen Ideologie an sie richtet. Französische Gewerkschaften haben sich in die „heilige Allianz der Modernisierungspolitik" einbinden lassen. Nicht analysierte kurzfristige Auswirkungen einer alle Bereiche erfassenden Rationalisierungswelle, sondern spekulative langfristige Erwartungen bestimmen ihr Verhalten. Besonders ausgeprägt ist dies bei der CFDT. Die Flucht in neue Technologien wird als Element einer zukunftsgestaltenden Politik verstanden. Neue Technologien sollen Frankreich befähigen, im internationalen Verdrängungswettbewerb zumindest sektorale Wachstumsraten zu erzielen, die langfristig das Beschäftigungsproblem lösen. Während früher in Nationalisierungen und Steigerungen der Massenkaufkraft Mittel zum Ausstieg aus der Krise gesehen wurden, wird nun die ganze

11 Vgl. P. Jansen/U. Willier, 1985: Modernisierung und Renaissance der Industriegesellschaft in Frankreich, in: pds Heft 2, S. 92-108, Marburg.

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Hoffnung auf neue Technologien konzentriert. Ein neuer Mythos wird geschaffen. „Dritte industrielle Revolution" und neo-liberaler Diskurs sind aber zwei Seiten einer Medaille. Im Kontext der „Weltwirtschaftskrise" (besser wäre es, von einer weltweiten arbeitsmarktpolitischen Krise zu sprechen) verändern sich die Marktanforderungen. Traditionelle Strategien einer industriellen Großserienproduktion, die auf die Ökonomie der standardisierten Massenfertigung abstellten, sind nur noch bedingt zeitgemäß. Schneller fluktuierende Markttendenzen erfordern — so lautet die Logik — eine flexible Organisation der Produktion. Dies betrifft nicht nur die Produktionstechnik, in der der Einsatz von Informatik eine flexible Automation erlaubt. U m die hier erforderlichen hohen Investitionssummen schnell amortisieren zu können, ist eine Ausweitung der Maschinenlaufzeit erforderlich. Die „Anpassung der Beschäftigungsbedingungen" an Erfordernisse der modernen Produktionsstrukturen 12 läßt aus unternehmerischer Sicht kollektive Arbeiterschutznormen (Gesetze, nationale Branchenverträge) als unzulässige Einschränkungen ihrer unternehmerischen Entfaltungsmöglichkeit erscheinen. Eine „soziale Modernisierung" des rigiden Systems kollektiver Schutznormen wird von Unternehmerseite für erforderlich gehalten. Die vom französischen Unternehmerverband (CNPF) bereits 1975 entwickelten Ansätze der Flexibilisierungsstrategie werden nun mit Argumenten des Neo-Liberalismus ideologisch untermauert. Kollektivnormen, so wird behauptet, behindern das arbeitende Individuum in seiner freien Entfaltung, stünden beispielsweise einer freien Gestaltung der Arbeitszeit im Wege. Einen gewissen Flankenschutz bekommen die Unternehmer durch eine Studie der O E C D 1 3 . Hier wird die These aufgestellt, daß eine zu starke Reglementierung der Beschäftigungsbedingungen durch Verträge und Gesetze „einen erheblichen psychologischen Zwang auf die Unternehmer ausübe, der sie von Einstellungen abhalte. Der Unternehmerverband fordert mit dem Argument, daß dadurch neue Arbeitsplätze geschaffen würden, eine Flexibilisierung des Kündigungsschutzrechtes, der gesetzlichen Arbeitszeitregelungen, des Einsatzes von Leiharbeitern und der Vergabe befristeter Arbeitsverträge. Die Vernetzung von produktionstechnischer Innovation und arbeitsorganisatorischer Flexibilisierung (die für bestimmte Gruppen der Lohnarbeiterschaft mehr Rigiditäten mit sich bringt, weil sie einseitig kapitalorientiert ist) macht die neue Qualität der „dritten industriellen Revolution" aus. Nicht mehr die enge Mensch-Maschine Beziehung, sondern das Verhältnis ArbeitsgruppeMaschinensystem/Produktionssystem wird zum Gegenstand von Rationalisierungsstrategien, die als „Modernisierung" und „Liberalisierung" verkauft werden. 12

Vgl. Conseil National du Patronat Français, Assemblée générale du CNPF, in LS W No 146/84 du 21 décembre 1984. 13 Vgl. LS SI No 708 du 25 septembre 1985. 8*

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Rein theoretisch stellt die Ideologie des Neo-Liberalismus (wenn sie von ihren Protagonisten ernstgenommen wird) keine existenzielle Bedrohung für Gewerkschaften dar. Im Gegenteil: Das Ziel des Neo-Liberalismus besteht in der Zurückdrängung des Staates aus ökonomischen und sozialen Regelungsbereichen. Bedrohlich wird für Gewerkschaften dabei weniger die Beschneidung wirtschaftspolitischer Funktionen des Staates, auch wenn die Realisierung sozialistischer Gesellschaftsperspektiven dadurch erschwert wird. Gefährlicher wirken die Forderungen nach einer „Deregulierung". Hier wird die staatliche Regelungskompetenz im Bereich industrieller Beziehungen weitgehend in Frage gestellt. Aber wenn der Abbau erworbener Schutzrechte nicht in den Zustand einer „Regellosigkeit" einmünden soll, muß das entstehende „Machtvakuum" durch eine autonome „Rechtsetzung" der Verbände strukturiert werden. Die Forderung nach einem „schwachen Staat" ist schlechterdings unvereinbar mit der gleichzeitigen Forderung nach schwachen Gewerkschaften. Dies wird sowohl von der Regierung als auch der Opposition und den Unternehmerverbänden so gesehen. Aber obwohl im neo-liberalen Diskurs die Existenz starker Gewerkschaften zu einer Funktionsvoraussetzung für ein liberales Wirtschaftssystem erklärt wird, sind in der Praxis eher negative Auswirkungen zu erwarten. So wird das auf die Gewerkschaften übertragene Prinzip der uneingeschränkten Konkurrenz zu einem Instrument gegen reale Privilegien der repräsentativen Gewerkschaftszentralen. Ihre Vorrechte sollen gekappt werden. Dadurch werden Voraussetzungen für eine Gründungswelle „autonomer" Betriebsgewerkschaften geschaffen, die den Unternehmern die von ihnen zur Zeit favorisierte Verlagerung des Verhandlungsgeschehens in Betriebe und Unternehmen erleichtern könnten. Auch dort, wo Politiker und CNPF sich für starke Gewerkschaften aussprechen, schwingt eine gehörige Portion Kritik mit. Die „archaischen Ideologien" französischer Gewerkschaften werden ins Visier genommen. Sie beziehen sich in erster Linie auf die „Politisierung" (der CGT). Paradoxerweise enthalten aber gerade die von diesen Kritikern entwickelten Vorstellungen über neu von Gewerkschaften zu berücksichtigende Ziele enorme Politisierungspotentiale. Dies gilt beispielsweise für die Anregungen des ehemaligen Premierministers Raymond Barre, der die auch hierzulande geläufige Auffassung vertritt, Gewerkschaften hätten in Zukunft mehr zu sein als nur Spezialisten eines „Sozialprotektionismus". Nicht die Verteidigung des Besitzstandes von „Arbeitsplatzinhabern", sondern eine die Interessen aller Erwerbsfähigen berücksichtigende Politik werde erforderlich. Die den Gedanken der „Solidarität" aufgreifende Argumentation (gedacht wird beispielsweise an Probleme wie: Integration Jugendlicher in das Berufsleben, Neuregelung sozialer Sicherungssysteme, . . . ) ist weit problematischer, als es auf den ersten Blick aussieht. Wenn, wie auch in der Bundesrepublik, gefordert wird, Gewerkschaften mögen neue, jenseits tradierter Bereiche der Kollektivvertragspolitik liegende Hand-

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lungsfelder erschließen, dann werden Gewerkschaften überfordert. Vor dem Hintergrund der Krise ( = gefährdete Konkurrenzfähigkeit der französischen Wirtschaft) bedeutet dies, daß Gewerkschaften partikulare (ausschließlich arbeitnehmerorientierte) Interessen dann zurückzustellen haben, wenn das Ziel der internationalen Konkurrenzfähigkeit ( = einzig effizientes Mittel des Krisenmanagements) gefährdet wird. M i t den Argument des Gemeinwohls wird Gewerkschaften die Legitimationsgrundlage für ihre bisher betriebene Politik entzogen. Die Frage, ob die Gewerkschaften sich in einer Existenz- oder einer Transformationskrise befinden, wird meiner Ansicht nach auf dieser Ebene zu beantworten sein. Falls der Neo-Liberalismus nach den nächsten Wahlen politikfähig werden sollte, kann er für die etablierten Gewerkschaften zu einer viel existenzielleren Bedrohung werden als der technologische Wandel. Auf Auswirkungen des technologischen Wandels können Gewerkschaften sich im Zweifelsfall einstellen. Auswirkungen einer neo-liberalen Politik sind dagegen unkalkulierbar; denn hier handelt es sich nicht um eine in sich geschlossene (transparente) Gesellschaftstheorie, sondern um eine in sich widersprüchliche Ideologie. Warum der Neo-Liberalismus hier so scharf attackiert wird, ist vielleicht schon bei den Ausführungen über Flexibilisierung und Gemeinwohlorientierung angeklungen. Wie soll beispielsweise eine gewerkschaftlich ausgehandelte Flexibilisierung aussehen, die vorrangig an betriebsspezifischen Bedürfnissen orientiert ist, gleichzeitig aber volkswirtschaftliche Belange berücksichtigen soll? Nationale und regionale Rahmenverträge könnten bei der Konkurrenz dieser Zielgrößen kaum mehr als Orientierungshilfen für die gewerkschaftliche Betriebspolitik abgeben. Der Neo-Liberalismus, der auch die Existenzberechtigung des Unternehmerverbandes ankratzt, stellt eine betriebspolitische Herausforderung an die Gewerkschaften dar. Hier könnten sie — falls sie sich betriebswirtschaftlichen Belangen nicht beugen wollen — möglicherweise sehr schnell kurzgeschlossen werden. Es sollte nicht vergessen werden, daß in einer Reihe von Betrieben die gewählten betrieblichen Interessenvertretungsorgane entgegen gesetzlichen Vorschriften bereits zum „Verhandlungspartner" der Unternehmensleitung geworden sind. Sie stellen einen Ersatz für betriebliche Einheitsgewerkschaften dar, der der Kontrolle der Gewerkschaftszentralen entgleitet. Bereits heute werden beispielsweise auf dieser Ebene auch von CGTFunktionären „Flexibilisierungsverträge" mit unterzeichnet — obwohl die CGT-Zentrale sich strikt dagegen ausspricht. Schlußbemerkung Müssen französische Gewerkschaften sich „modernisieren"? Die gesellschaftspolitischen Positionsbestimmungen, die anhand der Kongresse kurz umrissen wurden, haben jegliche Anziehungskraft verloren. Gefragt sind

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offensichtlich Gewerkschaften, die bereit sind, die Belange von Industrie und Wirtschaft in ähnlicher Form als legitim anzuerkennen, wie dies gegenwärtig bei französischen Arbeitnehmern der Fall ist. Die „Sozialdemokratisierung" der sozialistischen Partei begünstigt anscheinend ein an Gewerkschaften gerichtetes „entideologisiertes" Anforderungsprofil: sie sollen auf Betriebsebene in Institutionen und geregelten Verhandlungen eine für Kapital und Arbeit gleichzeitig förderliche Politik betreiben. Damit sind die Gewerkschaften überfordert. Die Tatsache, daß sie entweder keine klaren Zielperspektiven mehr haben, bzw. Visionen eines sozialistischen Gesellschaftssystems weniger denn je realisierbar sind, bewirkt eine Krise des gewerkschaftlichen Selbst Verständnisses. In der Konsequenz hinkt die gewerkschaftliche Theoriebildung der tagespolitischen Praxis — die durch mehr Konzessionen gekennzeichnet ist, als die Theorien es zulassen — nach. Ob dies in eine „Modernisierung" der Gewerkschaften einmündet, wird sich nach den nächsten Parlamentswahlen entscheiden. Möglicherweise wird ein neo-liberaler Frontangriff auf die Gewerkschaften eine „traditionsbezogene Re-Ideologisierung" bewirken, so daß unser Bild einer konfliktbereiten Gewerkschaftsbewegung wieder stimmig wird.

Bericht über die Diskussionen des Themas „Gesellschaftspolitische M o delle in Gewerkschaftstheorien" Von Peter Kühne, Dortmund In der Arbeitsgruppe wurde das Verhältnis von Gewerkschaftstheorie und -praxis an den ausgeprägt unterschiedlichen Beispielen Frankreichs und Schwedens diskutiert. Im Falle der französischen Arbeiterbewegung wurde ein Auseinanderklaffen von Theorie, jedenfalls als Reform- und Transformationsstrategie, und aktueller gewerkschaftlicher Praxis festgestellt, für die schwedische Arbeiterbewegung dagegen eine weitgehende Übereinstimmung von Theorie und durchaus erfolgreicher Praxis. Bezogen auf beide Fälle wurde der zentrale Stellenwert staatlichen Handelns in gesellschaftspolitischen Modellen der Gewerkschaften deutlich. I m Fall Schweden spielt der sozialdemokratisch regierte Staat die ihm von den Gewerkschaften zugedachte Rolle. Dies trägt entscheidend — so jedenfalls der Referent — zur erfolgreichen Umsetzung gewerkschaftlicher Zielvorstellungen bei. Im anderen Fall Frankreich hat sich die dortige Regierung — u. zw. auch als Regierung der Linken — abrupt der ihr zugewiesenen Rolle entzogen. Die von den großen Dachverbänden CGT und CFDT mitformulierten emanzipatorischen Zielsetzungen des gemeinsamen Regierungsprogramms wurden bereits ein Jahr nach Regierungsantritt zu einer weltmarktorientierten Überlebensstrategie eher monetaristisch-neoliberalen Zuschnitts verkürzt. Auch die reformorientierte Anfangsphase der Linksregierung, die ja von den Gewerkschaften, jedenfalls von den Linksgewerkschaften weitgehend mitgetragen wurde, stand unter dem Leitstern einer Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft: über den Kampf um Weltmarktpositionen, über quantitatives Wachstum und Prozesse gesamtwirtschaftlicher Rationalisierung sollte ein grundlegendes Ziel der Linksregierung, der Abbau der Massenarbeitslosigkeit, bewirkt werden. Das Modernisierungsziel war allerdings eng verknüpft mit emanzipatorischen Zielsetzungen, die es den Lohnabhängigen ermöglichen sollten, den Prozeß der Modernisierung nicht nur zu ertragen oder mitzutragen, sondern auch aktiv zu gestalten. Als emanzipatorische Vorhaben wurden in der Diskussion genannt: — die Revitalisierung einer gesamtstaatlichen Wirtschaftsplanung unter Beteiligung der Gewerkschaften, — die erhebliche Ausweitung des öffentlichen Sektors durch ein umfängliches Programm der Nationalisierungen in entscheidenden Bereichen der Industrie,

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— die Demokratisierung der Wirtschaft durch erweiterte Kontroll- und Mitspracherechte der Arbeitnehmer sowie der repräsentativen Gewerkschaften und — die gesetzliche Verpflichtung der Tarifkontrahenten (d.h. bezogen auf Frankreich, vor allem der Arbeitgeberverbände), sich jährlich zu kollektiven Verhandlungen zusammenzufinden. Dieser Verknüpfung von Gesellschaftsreformen und Modernisierung steht seit 1982/83 eine Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik gegenüber, die Reformpolitik weitgehend zu Gunsten eines bloß technokratischen Krisenmanagements aufgegeben hat. Der Paukenschlag, mit dem diese Politik für die Arbeitnehmer eröffnet wurde, war der eines allgemeinen Lohnstops. Dies hat inszwischen zu einer tiefen Verunsicherung der Wähler der Linksregierung geführt. Die Verunsicherung wurde dadurch verstärkt, daß auch die nun verfolgte Linie die Massenarbeitslosigkeit keineswegs abgebaut, sondern eher erhöht hat. Von den Legitimationsverlusten der Linksregierung werden zunehmend auch die Gewerkschaften erfaßt. Insbesondere CGT und CFDT sind — wie das Referat von Peter Jansen zeigte — von massiven Mitgliederrückgängen betroffen. Beide Dachverbände befinden sich deshalb in einem schwierigen Suchprozeß nach einer stimmigen theoretischen Neuorientierung. Ein Diskussionsteilnehmer brachte dies auf die Formel: Die Theorie der Gewerkschaften hinkt in Frankreich hinter der Praxis her. Als Tendenz läßt sich bisher erkennen (und darüber mag der 1986 stattfindende 52. Kongreß der CGT näheren Aufschluß geben), daß die CGT den Kurs einer negativen Abgrenzung bevorzugt und — soweit ihre Mobilisierungsfähigkeit dies noch zuläßt — zu konfliktorischen Mustern der Konfliktaustragung zurückkehrt. Durch den Ausschluß der KPF aus der Regierung und die wahrscheinliche Rückkehr der rechten Parteien in die Regierung nach den Wahlen zur Nationalversammlung im Frühjahr 1986 wird dieser Prozeß der Reorientierung der CGT gefördert. Demgegenüber scheint sich die CFDT stärker auf den Prozeß der Modernisierung einzulassen, ihn, soweit ihre Kräfte reichen, in seinen sozialen Auswirkungen verhandelbar zu machen und dadurch mitzugestalten. Dies gilt insbesondere auch für das unternehmerische Begehren nach flexibler Gestaltung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsprozesse. Das von Rudolf Meidner vorgestellte schwedische Modell der Wohlfahrtsgesellschaft konnte aufgrund besonderer Bedingungen offenbar bruchlos bis heute umgesetzt werden. Als besondere schwedische Bedingungen sind zu nennen: — starke zentralisierte Gewerkschaften, — eine seit 1932 nahezu kontinuierlich regierende Sozialdemokratie, — die Möglichkeit einer beiderseits akzeptierten Rollenzuweisung im Wirtschafts- und Gesellschaftsprozeß und

Diskussionen „Gesellschaftspolitische Modelle in Gewerkschaftstheorien"

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— eine daraus erwachsende relativ starke Position der Arbeiterbewegung insgesamt. Es konnte eine Art gesellschaftliches Gleichgewicht hergestellt werden, das es der Arbeiterbewegung erlaubt, unternehmerische Macht auf ein korporatives System gesamtgesellschaftlicher Absprachen zu verpflichten. Vorrangige Ziele der Gewerkschaften in Schweden sind seit eh und je und aktuell Vollbeschäftigung und eine gerechte Einkommensverteilung. Rudolf Meidner legte dar, wie diese beiden Ziele jedenfalls annäherungsweise im Rollenspiel von Gewerkschaften und Staat einerseits und über korporative Absprachen mit den Unternehmern andererseits verwirklicht werden. Als Elemente eines derartigen Rollenspiels wurden in der Diskussion die folgenden herausgearbeitet: 1. Die Verantwortung für die gesamtwirtschaftliche Stabilität liegt eindeutig bei der Regierung. Sie wird verwirklicht zum einen durch eine, wie Rudolf Meidner ausführte, kraftvolle Steuer- und Geldpolitik zur Beschränkung von Nachfrage und Unternehmensgewinnen. Zum anderen durch eine gezielte Arbeitsmarktpolitik, um der Gefahr einer Schwächung der Investitionsbereitschaft und damit einer Gefährdung der Vollbeschäftigung entgegenzuwirken. 2. Der so gesetzte wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Rahmen ermöglicht es den Gewerkschaften, sich sozusagen ohne Gesichtsverlust, lohnpolitischer Zurückhaltung zu befleißigen, jedenfalls dann, wenn die internationale Wettbewerbsfähigkeit Schwedens als gefährdet erscheint. 3. Was das Ziel der egalitären Einkommensverteilung angeht, so wurde erreicht, daß gleiche Arbeit überall in Schweden gleich bezahlt wird, ganz unabhängig von der Ertragslage der Unternehmen und Branchen. Auch hier zeigt sich ein Spiel mit verteilten Rollen. Aufgabe der Gewerkschaften ist es, eine entsprechende Lohnstruktur durchzusetzen. Dies kann gelegentlich und in letzter Konsequenz zu Firmenzusammenbrüchen führen, deren negative Auswirkungen dann wiederum durch eine extensive staatliche Arbeitsmarktpolitik aufgefangen werden müssen. Hochrentable Betriebe werden demgegenüber zur Teilvergesellschaftung ihres Produktivvermögens verpflichtet. Seit 1984 wurden 5 regionale Arbeitnehmerfonds als Modelle der Arbeitsnehmerbeteiligung am Produktivvermögen eingerichtet. Das schwedische Modell — so jedenfalls Rudolf Meidner — scheint auch unter Bedingungen hoher Kapitalkonzentration (und hier eines hohen Grades an Internationalisierung des Großkapitals), sodann ausgeprägter Exportorientierung und erheblicher Modernisierungsschübe zu funktionieren. Einbrüche auf dem Arbeitsmarkt waren jedenfalls bisher nicht zu verzeichnen. Auch die bürgerliche Regierungskoalition von 1976-1982 hielt sich im wesentlichen an den erzielten gesamtgesellschaftlichen Konsens. Von einer Wirtschaftskrise — dies vernahmen die Teilnehmer der Arbeitsgruppe mit Staunen — könne deshalb in Schweden keine Rede sein.

IV· Wirtschaftsdemokratie und -kontrolle in Gewerkschaftstheorien

Kollektivverhandlungen und Wirtschaftskontrolle in Frankreich Von Sabine Erbés-Séguin, Paris I. Grundzüge der französischen Situation Ein kurzer Rückblick über die letzten zwanzig bis dreißig vergangenen Jahre erscheint notwendig, da, trotz vieler ökonomischer und politischer Änderungen, die meisten Züge der französischen Arbeitsbeziehungen unverändert blieben. Etwa zwischen 1950 und 1970 schienen Lohnerhöhungen und eine relativ verbesserte Verteilung des Wohlstandes ebenso stabil zu sein wie die wirtschaftliche Expansion. Doch, trotz mancher Ähnlichkeiten, sind die Grundzüge der Beziehungen zwischen den Sozialpartnern und der Einfluß des Staates in Frankreich deutlich anders als in der Bundesrepublik Deutschland. Drei Punkte scheinen hierbei von Bedeutung: Erstens: Während dieser Periode lassen sich die Lohnerhöhungen als „allgemeiner Gegenwert" (équivalent général) für alle anderen Forderungen beschreiben. In meinem Verständnis ist der „allgemeine Gegenwert" das, was es erlaubt, alle Forderungen sozusagen in Lohnerhöhungen zu „übersetzen". Solche Forderungen, die manchen Streiks zugrunde lagen, hatten zu Beginn des Konfliktes oder der Verhandlungen häufig ganz andere Anlässe als den Lohn: es ging vielfach um Arbeitszeit, Arbeitsorganisation, Lohn- und Gehaltsgruppenmerkmale. Aber solche Forderungen waren lange Zeit nicht verhandlungsfahig, denn die Erfordernisse einer wirtschaftlichen Produktion und der Ausgleich der Beschäftigungslage ließen anscheinend keine Änderung in den Arbeitsbedingungen zu. Die Volkswirte haben viel über die keynesianische Wirtschaft und den Zusammenhang zwischen Kaufkraft und wirtschaftlichem Fortschritt geschrieben. Trotzdem stellten die Forderungen, die sich nicht auf das Arbeitsentgelt bezogen, in dieser Zeit einen wichtigen Aspekt der Wirtschaftspolitik der Unternehmer dar. Das Konzept des „allgemeinen Gegenwertes" — damals der Lohn — erscheint notwendig und wichtig, um die Macht bzw. Ohnmacht der französischen Gewerkschaften zu erklären. Durch Nutzung des Entgeltes als „allgemeiner Gegenwert" gelang es den Arbeitnehmern, über Lohnerhöhungen zu vermeiden, daß die Gewerkschaften durch Streiks oder/und Verhandlungen deren eigene Entscheidungsmacht in der Wirtschaft wirklich in Frage stellten. Nun sind aber seit Anfang der 80er Jahre zunehmend die Löhne nicht mehr verhandlungsfähig; ein bedeutender Aspekt der Probleme, mit welchen die Gewerkschaften sich jetzt auseinandersetzen müssen, liegt in eben dieser Lage.

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Zweitens: Der vorgenannte Punkt läßt sich nur verstehen, wenn das System der Kollektivverhandlungen näher betrachtet wird. Seit 1950 wurden die Verhandlungen auf mehreren Ebenen geführt: — I m Betrieb gelten seit 1982 die sogenannten Auroux-Gesetze (benannt nach dem damaligen Arbeitsminister). Danach müssen die Sozialpartner im Betrieb und in den Industriezweigen einmal im Jahr über Löhne diskutieren. Das Gesetz schreibt aber nicht vor, daß diese Verhandlungen zu einem positiven Verhandlungsergebnis führen müssen. — Die meisten Verhandlungen beziehen sich auf einen ganzen Industriezweig auf nationaler Ebene (nationale Branchenverhandlungen). Hierbei ist die Ausgangslage in den verschiedenen Bereichen, insbesondere bei den Löhnen, recht ähnlich: die Tariflöhne sind etwa 30 % bis 60 % von den Effektivlöhnen entfernt. Für die Arbeitgeberseite sind daher Diskussionen auf dieser Ebene problemloser als solche im Betrieb. Sie möchten auch frei bleiben, diese Fragen auf Betriebsebene zu diskutieren oder auch nicht zu diskutieren. Dies hängt von der wirtschaftlichen und sozialen Lage ab. Trotzdem gibt es bei einer Betrachtung der Kollektivverhandlungen in den Betrieben doch erhebliche Unterschiede von Betrieb zu Betrieb und von Periode zu Periode. In Wirklichkeit hängen danach die Kollektivverhandlungen sehr stark von der Konjunktur und dem „guten Willen" der Arbeitgeber ab: Die Kollektivverträge für die Branche bilden einen minimalen Rahmen, der nur für diejenigen Arbeitnehmer gilt, die nur den jeweils geringstmöglichen Lohn verdienen. Drittens: Was jetzt noch „Wohlfahrtsstaat" genannt werden darf, spielt in Frankreich eine vielfache Rolle. Die traditionelle Politik der Einmischung des Staates und die Legalisierung bzw. Verrechtlichung vieler sozialer Leistungen haben die Stellung der Gewerkschaften gestützt. Dadurch ergibt sich für Frankreich ein gemischtes System: Die Kollektiwerhandlungen beziehen sich meistens nur auf Mindestlöhne, ergänzt durch staatliche Interventionen; hinzu kommt eine relative Machtlosigkeit der Gewerkschaften. Trotz allem ergab eine solche Kombination für die Arbeitnehmer relativ viele materielle Vorteile. Aber, im Sinne eines „Gegenwerts" hat dieses gemischte System die Gewerkschaften von irgendeiner Beteiligung am ökonomischen Entscheidungssystem ferngehalten. Da spielten zu Beginn der 50er Jahre die Löhne die doppeldeutige Rolle als „allgemeiner Gegenwert" aller anderen Forderungen, seit diese verhandlungsfahig geworden waren. Andererseits sind durch diesen Prozeß die Gewerkschaften für den Staat wichtige Partner geworden und konnten eine gewisse Rolle als Gegengewicht zur vorherrschenden Stellung der Unternehmer spielen. Allessandro Pizzorno 1 schrieb, daß das französische System durch den Mangel eines institutionalisierten Mechanismus, den er als den „politischen

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Tausch" (political exchange), charakterisiert sei. Ein solcher politischer Tausch erfordere eine einheitliche, zentralisierte Arbeiterbewegung, die von einer starken Gewerkschaft kontrolliert sein müsse, damit sie Willen und Kraft habe, sich an die vorgegebene Ordnung anzupassen. Als „Gegenwert" des so erreichten sozialen Friedens erhalten die Gewerkschaften gewisse Vorteile. In Frankreich sei dies, trotz einer seit 15 bis 20 Jahren steigenden Institutionalisierung, nicht der Fall. Andererseits hat der relativ geringe Grad der Institutionalisierung auch Vorteile: Die Mobilisierung der Arbeitnehmer ist einfacher, wenigstens war dies bis Anfang der 80er Jahre der Fall, also in einer Periode wirtschaftlichen Wachstums ohne grundsätzliche, strukturelle Änderungen in der Wirtschaft. Jetzt stellte sich auch die Frage, was unter veränderten Bedingungen geschieht, wenn die institutionelle Grundlage des sozialen Dialoges schwächer ist als in anderen Ländern? Die französischen Gewerkschaften sind, mehr als andere, wirtschaftlichen Fluktuationen ausgesetzt: — Für die Mitglieder sind keine besonderen Vorteile „reserviert"; überhaupt haben die Gewerkschaften eher einen Kundenkreis als eine Mitgliedschaft, und dieser Kundenkreis fluktuiert mit der wirtschaftlichen Lage. — Trotz seit 1968 verbesserter Gesetze sind die Gewerkschaftsvertreter in den Betrieben häufig noch schlecht geschützt. — Die Kollektiwerhandlungen, besonders in den Betrieben, hängen sehr stark von der Konjunktur und auch vom guten Willen der Arbeitgeber ab, zumindestens bis zur Einführung der Auroux-Gesetze. Noch wichtiger ist die Tatsache, daß die strukturellen Veränderungen der Wirtschaft sich in wechselnden Arbeitsformen, Arbeitszeiten und Inhalten der Arbeit ausdrücken. Die Weiterentwicklung der neuen Arbeitsformen wird sicherlich noch viele Jahre anhalten. Es läßt sich vermuten, daß in der Konsequenz ein anderer „allgemeiner Gegenwert" den Lohn ablösen wird; dieser kann dann nur die Arbeitsbedingungen betreffen. Doch die Gewerkschaften scheinen, weder in Frankreich noch in vielen anderen Ländern, noch nicht hierzu bereit zu sein. Ihre Rolle wird es ζ. T. sein, einen neuen, verhandlungsfahigen „Gegenwert" zu schaffen. In einer Phase, in der ein Konzept eines solchen neuen „Gegenwertes" erarbeitet wird, könnte die politische Rolle der Gewerkschaften, d. h. ihre direkte Rolle der Wirtschaftspolitik, steigen.

II. Die Entwicklung der sozialökonomischen Lage, die Praxis der Sozialpartner und des Staates seit Beginn der Krise Erstens: Seit Anfang der 70er Jahre haben sich die verschiedenen Regierungen zum Ziel gesetzt, die notwendigen Veränderungen der Industriestrukturen zu unterstützen. Zugleich bemühten sie sich, die schroffen sozialen Folgen dieser

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Veränderungen zu mindern und zu erleichtern. Diese zwei Aspekte der Politik gehören zusammen; sie ließen sich auch mit sehr verschiedenen Arten des ökonomischen Eingriffes seitens der Rechts- oder Linksparteien kombinieren (Beispiel: die Verstaatlichungs- und Entstaatlichungspolitik). Tatsächlich blieben die Gewerkschaften hierbei von den wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen und hatten nur symbolische Möglichkeiten des Eingriffs. So verfolgen sie seit der Zeit des gemeinsamen Linksprogramms, und schon davor seit 1974/75, eine Kampagne zugunsten eines Verstaatlichungsprogrammes. Dieses Programm wurde 1981 sofort umgesetzt, sicherlich teilweise, um die Gewerkschaften zu befriedigen. Zweitens: Dieses Programm hat aber einen höchst symbolischen Stellenwert. Die wirtschaftliche Lage läßt sich hierdurch nicht ändern; andererseits sind einige Industriezweige, wie die Stahlindustrie, seit zwanzig bis dreißig Jahren aufgrund vieler Investitionen des Staates praktisch verstaatlicht. Erst in den Jahren 1972 bis 1975 läßt sich ein Wendepunkt in den Beschäftigungstrategien der Arbeitgeber bemerken. Bis dahin hatten die meisten Firmen eine Strategie der Beschäftigungserhaltung verfolgt (ausgenommen in schrumpfenden Firmen). Aber seit dieser Zeit stellen sie sich auf flexible Beschäftigungsformen ein. Dadurch beginnt auch das bisherige Modell der Kollektivverhandlungen zerstört zu werden, das auf dem Lohn als „allgemeinem Gegenwert" aufbaute. Drittens: Seit 1981 hat die Linksregierung während der ersten 3 Jahre ihrer Amtszeit die Unterstützung der Arbeitnehmer, besonders durch Kündigungsschutz und öffentliche Interventionen in der Wirtschaft, erheblich verstärkt. Die Regierung versuchte auch, die Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern zu ermutigen. Hier zwei Beispiele: Das Gesetz vom 23. 12. 1981 über die Verkürzung der Arbeitszeit von 40 auf 39 Stunden geht davon aus, daß die Anwendung dieses Gesetzes in den Betrieben und Branchen diskutiert werden muß. Die Kollektivverhandlungen sind nun in jedem Jahr obligatorisch („Auroux"Gesetze vom August 1982). Aber die Regierung bemüht sich gleichzeitig, ihre Rolle als Vermittler in einer wechselnden Konjunktur zu verstärken. Sie versucht, die Frontstellungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern abzubauen. Insbesondere hat die Regierung Maßnahmen auf sich genommen, welche die Sozialpartner selbst nicht ohne weiteres von ihren eigenen „Truppen" hätten annehmen können, so z. B. die Verkürzung der Arbeitszeit auf Seiten der Arbeitgeber oder die befristeten Arbeitsverträge auf Seiten der Arbeitnehmer. Viertens: Seit 1984 sind die Änderungen in der Arbeitspolitik besonders stark. Schon seit mehr als 10 Jahren werden Begriffe wie der Arbeitsvertrag oder auch einfach der Begriff der Arbeit nicht mehr so klar und eindeutig gefaßt. Betrachtet man die Entwicklung des Arbeitsrechtes in diesem Bereich, zeigt sich, daß Begriffe und Inhalte unter dem Druck der strukturellen Veränderungen der Wirtschaft zersplittern. Seit 1981 wurde versucht, mit mehreren Gesetzen diese Entwicklung einzugrenzen. Unter dem Druck der Arbeitgeber, Produktivitätserhöhungen zu erreichen, förderte die Regierung 1984 Kollektivverhandlungen

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über die Flexibilisierung der Arbeit. Die Regierung schlug im gleichen Jahr ein Abkommen vor, das Verhandlungen auf allen Ebenen, auch auf nationaler, über die jährliche Arbeitszeit in Gang bringen sollte, wobei die Lage der verschiedenen Bereiche berücksichtigt werden sollte. Doch im Dezember 1984 scheiterten die Verhandlungen. Als Konsequenz scheinen sich mehr und mehr Unternehmer daran zu gewöhnen, gegen das Gesetz von 1982 über die Arbeitszeitverkürzung zu verstoßen. Andererseits wurden die Möglichkeiten für befristete Arbeitsverträge erweitert. Das herkömmliche Arbeitsrecht scheint mehr und mehr in Frage gestellt. Die Regierung bemühte sich, wie alle Regierungen in Frankreich seit Jahrzehnten, diese Entwicklung unter Kontrolle zu bekommen. Ende 1985 wurde ein Gesetzentwurf über die Arbeitszeitordnung eingebracht. Unter bestimmten Bedingungen können die Unternehmen über das herkömmliche Arbeitsrecht hinweggehen, aber müssen in diesen Fragen unbedingt ein Abkommen mit den Gewerkschaften in den betroffenen Branchen abschließen. Diese Entwicklung erscheint aus mehreren Gründen interessant: — Hier wird die Vermischung von Kollektivverhandlungen und Intervention des Staates — ein typischer Zug der französischen Entwicklung — besonders deutlich sichtbar. — Hier wird die Fiktion einer möglichen Regelung der Arbeitsbedingungen durch das Arbeitsrecht besonders klar. — Überhaupt wird erkennbar, daß sich dadurch die Bedingungen der Kollektivverhandlungen gegenüber vor 10 oder 20 Jahren völlig verändert haben: Über die Löhne läßt sich überhaupt nicht mehr diskutieren, nur über die Arbeitsbedingungen, besonders über die Arbeitszeit. Da hiermit traditionelle Pfeiler der Kollektiwerhandlungen erschüttert werden, zeigen sich auch die Gewerkschaften geteilt und unsicher in dieser Situation. Nur die CFDT und CGC (Angestelltengewerkschaft) sind derzeit im großen und ganzen für den Gesetzentwurf, unter der Bedingung, daß dieser zu einer wirklichen Arbeitszeitverkürzung führe. — Letzter Aspekt der Entwicklung in den letzten Jahren ist die Bemühung der Regierung, die sozialen Konflikte zu vermindern. Dies betrifft u. a. auch die Arbeitermitsprachegruppen und alle Auroux-Gesetze. Diese Gesetze bringen vor allem eine Erweiterung der bisherigen Institutionen der Beteiligung von Arbeitnehmern. Es gibt mehr Funktionen und Arbeitsmöglichkeiten für die Betriebsdelegierten (délégués du pérsonnél) besonders in kleineren Betrieben und Unternehmen mit mehreren Betrieben oder Anlagen. Im letzten Fall wird ein Gesamt- bzw. Konzernausschuß eingeführt. Die Arbeitermitsprachegruppen sind eine weitere Form der Beteiligung von Arbeitnehmern, die sich nicht zwangsläufig über die Gewerkschaften artikulieren. Die Arbeiter haben demnach ein Recht zu einem „direkten und kollektiven Ausdruck über den Inhalt und die Organisation ihrer Arbeit" (éxpression dirécté et collective sur le contenu et l'organisation de leur travail). Die Lage erscheint aber ziemlich doppeldeutig: 9

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— Zwar erlauben die „Auroux"-Gesetze eine stärkere Institutionalisierung der Kollektivverhandlungen mit obligatorischen Verhandlungen, in jedem Jahr Information der Arbeitnehmervertreter über die wirtschaftliche, technische Lage und Beschäftigungsmaßnahmen der Arbeitnehmer im Gesamtunternehmen oder Konzern, die neuen Rechte der Arbeiter im Betrieb sowie die Arbeitermitsprachegruppen in jeder Firma. Diese Maßnahmen haben die Sozialpartner im Rahmen der Kollektivverhandlungen auszufüllen. So scheinen diese Gesetze die Stellung der Gewerkschaften in den Betrieben zu verstärken, zugleich aber auch einen Schritt zur Stärkung der Betriebszugehörigkeit zu bedeuten. Der Arbeitgeberverband (CNPF) war gegen diese Konzeption, bevor das Gesetz verabschiedet wurde. — Die Beurteilung in den Gewerkschaften ist nicht einheitlich: In den verschiedenen Gewerkschaften gibt es einige, die glauben, daß die Arbeitgeber über einen Konsens der Arbeitnehmer im Betrieb den Einfluß der Gewerkschaften auf die Betriebs- und Arbeitsorganisation verhindern oder eindämmen könnten. Andere sehen im Gegenteil die Möglichkeit, daß Arbeitnehmer und Gewerkschaften daraus eine andere Vorstellung der Mitbestimmung gegenüber den Arbeitgeberstrategien entwickeln könnten. — Seit zwei Jahren wurden 4000 Verhandlungen durchgeführt, um Arbeitermitsprachegruppen einzurichten. Die Untersuchungen zeigen, daß erstens: in Firmen, in denen es vorher schon eine gewisse Beteiligung der Arbeitnehmer gab, die neuen Arbeitermitsprachegruppen wenig Erfolg aufweisen. Es zeigt sich aber auch, daß die Gewerkschaften die Orientierung dieser neuen Gruppen kaum kontrollieren können. Praktisch liegt die Organisation dieser Arbeitermitsprachegruppen in solchen Firmen meist beim mittleren Management; zweitens: in kleinen oder mittleren Firmen hat die Einrichtung der Arbeitermitsprachegruppen die Managementmethoden durchaus beeinflußt und verändert. Hier bietet sich auch für die Gewerkschaften ein guter Ansatzpunkt, ihren Einfluß erneut geltend zu machen und ggf. zu verstärken. — Die konkreten Ergebnisse der Gruppentreffen erscheinen relativ gering; die Gruppen sind sehr verstreut und isoliert, da es keine Strukturen gibt, die der Zentralisierung der Entscheidungsprozesse auf Arbeitgeberseite gegenübergestellt werden könnten. Einige hohe Funktionäre der CGT sind der Auffassung, daß die Arbeitermitsprachegruppe als ein Instrument geplant wurde, um damit eine Konkurrenz gegen die Gewerkschaften zu organisieren und zu etablieren. Inzwischen neigt der Arbeitgeberverband zu einer deutlichen Strategie der Diversifikation in den Sozialbeziehungen. Hierfür nutzt er die Arbeitermitsprachegruppen ebenso wie die Qualitätszirkel, die direkt von der Hierarchie der Firmen organisiert werden. 1981 gab es kaum 500 solcher Qualitätszirkel, aber

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im Mai 1984 gab es schon mehr als 10.000, die etwa 200.000 Arbeitnehmer berühren. I I I . Theorie und Praxis der Gewerkschaften Die Lage der französischen Gewerkschaften läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: — Sie haben keinen wirklichen Zugang zu den wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen. — Trotz des höheren Grades einer gesetzlichen Regelung (aufgrund der ,,Auroux"-Gesetze) ist der Einfluß auf die Kollektiwerhandlungen tatsächlich noch relativ gering. — Nach wie vor sind die Gewerkschaftsstrukturen durch geringe Mitgliederzahlen und schwache Institutionalisierung, besonders in den Betrieben, gekennzeichnet; es gibt aber einen ziemlich großen Kreis von Sympathisanten. — Nach wie vor besteht ein gewerkschaftlicher Pluralismus aufgrund des ideologischen Überbaus. — Es bestehen verschiedene Ebenen der Kollektiwerhandlungen; während die Gewerkschaften auf den nationalen Ebenen relativ stark sind, besteht eine starke Diskrepanz zum Ort der notwendigen Mobilisierung der Arbeiter, d. h. zum Betrieb. Erstens: Die hier vorgestellten charakteristischen Züge erklären die schon seit langer Zeit festgestellte und vielfache Trennung zwischen verschiedenen Stufen der Praxis und der Selbstdarstellung der Gewerkschaften; dies bezieht sich einerseits auf deren Kritik an den wirtschaftspolitischen Zielrichtungen des Staates und der Arbeitgeber und der anderen Seite, nämlich die Nutzung eigener Strategien auf Seiten der Gewerkschaften. Hier bestehen zwischen den Gewerkschaften die größten Unterschiede. Die Gewerkschaften benutzen andererseits günstige Aspekte der wirtschaftlichen und sozialen Konjunktur, um alltägliche Forderungen im Betrieb sowie auf nationaler Ebene zu begründen. In diesem Feld sind die Auffassungsunterschiede zwischen den verschiedenen Gewerkschaften am geringsten ausgeprägt und der Einfluß der Masse der Sympathisanten am stärksten. Zweitens: Die Forderungen verändern sich von Zeitperiode zu Zeitperiode. Bis Ende der 70er Jahre erlaubte die Hochkonjunktur eine gewisse Institutionalisierung des Lohnes als „allgemeinen Gegenwert" für alle anderen, möglichen Forderungen. In gewisser Weise galt eine solche Institutionalisierung als Ersatz für einen wirklichen Einfluß der Gewerkschaften auf das Wirtschaftssystem. Dieses langfristige Modell wird jetzt, sehr langsam, durch ein anderes abgelöst. Der neue, absehbare „allgemeine Gegenwert" könnte sich auf die Arbeitsbedin9*

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gungen für alle beziehen. Schon seit den 70er Jahren gibt es Hinweise in dieser Richtung: — Die langen und schwierigen Kollektivverhandlungen über die Arbeitszeit dauerten mehrere Jahre (von 1978 bis 1982) und kamen erst mit der Linksregierung zu ersten Ergebnissen. Die wirklichen Verhandlungen fangen aber jetzt erst an: Die Unruhe und Auseinandersetzungen über die Arbeitszeitordnung (unter Einschluß der Regelung der Lage der Arbeitszeit) geben hiervon deutliches Zeugnis. — Die Streiks über Beschäftigungsprobleme, insbesondere über Entlassungen, hatten immer ganz besondere Bezüge: Sie dauerten in den 70er Jahren besonders lange und wurden ziemlich „politisiert", wie es damals hieß. Der Fall Lip in Besançon ist der berühmteste; aber es gab viele solcher Fälle, und es gibt noch einige. Gemeinsames Merkmal all dieser Konflikte ist es, daß trotz der starken Mobilisierung fast nie dauerhaft akzeptable Lösungen gefunden wurden. Hier treten wirklich grundsätzliche Probleme auf, die nur auf der politischen und gesamtwirtschaftlichen Ebene eine Lösung finden können. — Der traditionelle Begriff des Arbeitsvertrages auf der Betriebsgemeinschaft (der Betrieb als Arbeitsstätte mit einem einzigen Arbeitgeber, auch als klarer rechtlicher Begriff) wird langsam völlig aufgesprengt. Dieses Auflösen der rechtlichen und ökonomischen Grenzen der Arbeitsbedingungen erscheint als eines der größten Probleme der kommenden Jahre. — Die aufgestellten Forderungen sind von Industriezweig zu Industriezweig, aber auch innerhalb jeder Branche von Ort zu Ort ziemlich unterschiedlich. So gibt es z. B. schon lange in der chemischen Industrie „gute" Kollektiwerträge über die Löhne, die für die ganze Branche gelten. Dagegen gibt es in der Elektro- und Elektronikindustrie nur Diskussionen und gewisse Konsense über die Effektivlöhne in jedem Unternehmen, aber nicht über die tariflichen Grundlöhne. Das gleiche gilt für Merkmale und Relationen der Lohn- und Gehaltsgruppen. Diese vielfältigen Unterschiede innerhalb der Kollektivverhandlungen und innerhalb der Gewerkschaften hängen zum Teil — aber dieser Teil erscheint wichtig — von der Entwicklung der sozialökonomischen und auch der politischen Konjunktur ab. Es läßt sich deshalb die These formulieren, daß keine Forderung allgemeingültig aufgestellt werden kann und darf, auch nicht in Kollektivverhandlungen, also auch nicht losgelöst von der sozialökonomischen Lage. Dann haben aber diese Forderungen keine dauerhafte Bedeutung, da sie nur unter gewissen Bedingungen verhandlungsfahig sind. So wird sich die umfassende soziale und ökonomische Bedeutung jeder Forderung grundsätzlich ändern, wenn diese aus dem Bereich des Verhandlungsfahigen in den des NichtVerhandlungsfahigen übergeht, oder umgekehrt.

Kollektierhandlungen und Wirtschaftskontrolle in Frankreich

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Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Gewerkschaften mehrere Funktionen erfüllen sollen: Eine traditionelle Funktion, d.h. schon erworbene Leistungen und Vorteile zu schützen; eine andere ist es, neue, verhandlungsfahige Forderungen zu formulieren; dies sollte für die Gewerkschaften jetzt eine wichtige Rolle in der Wirtschaftspolitik sein. Diese läßt sich auch als die politische Rolle der Gewerkschaften (d. h. außerhalb der politischen Parteien) kennzeichnen. Wenn die Gewerkschaften weiter in die Machtverschiebungen auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet eindringen wollen und sollen, müssen sie sich hierzu der politischen Parteien bedienen. Wenn derzeit die Gewerkschaften als relativ machtlos erscheinen, läßt sich dies vielleicht dadurch erklären, daß sie jetzt alternative Modelle zu den Lohnverhandlungen finden müssen. Dies wird ein sehr langer und mühsamer Prozeß sein.

Wirtschaftsdemokratie und Mitbestimmung* Ulrich Borsdorf, Düsseldorf 1. Anknüpfungspunkte: „Monopolfrage" und „Organisierter Kapitalismus" Für gewöhnlich gilt, wenn die gewerkschaftliche Programmatik in historischer Perspektive beleuchtet wird, die „Wirtschaftsdemokratie" als ideengeschichtlicher Vorläufer der Mitbestimmung in der Form der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg 1 . Man müßte also eigentlich erwarten, daß die wiederentstehenden deutschen Gewerkschaften nach 1945 an das WirtschaftsdemokratieKonzept von 1928 erinnert hätten, so wie sie in vielen anderen Bereichen den Bezug zur Weimarer Demokratie und ihrer Arbeits- und Sozialverfassung herstellten. Dies vermied jedoch Böckler auf der ersten Gewerkschaftskonferenz der britischen Zone im März 1946, wenn er sagte: „Politische Demokratie, die wir anstreben, hat zur Voraussetzung wirtschaftliche Demokratie. Die Frage der Wirtschaftsdemokratie spielte im Ersten Weltkrieg bereits eine große Rolle" 2 . Das war ein undeutlicher Bezug, für den es wohl nur eine Erklärung gibt: Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte es eine erkennbar starke Tendenz zur Betriebsund Unternehmenskonzentration und zur Monopolisierung von Teilmärkten gegeben. Diese Tendenz wurde unter kriegswirtschaftlichen Bedingungen von Militärverwaltung und Regierung bewußt forciert; es ergab sich ein planwirtschaftliches Lenkungssystem, in dem Zwangssyndikate und Kartelle eine tragende Rolle spielten. Eine Kriegsverwaltungszentrale entstand, die Produktion und Verteilung kontrollierte;. Löhne und Preise unterlagen — in Abstimmung mit den Wirtschaftsverbänden — der Regelung durch öffentliche Institutionen 3 . Die Generalkommission der Freien Gewerkschaften und der SPD-Parteivorstand nahmen diese Entwicklung zum Anlaß, eine Studie anferti-

* Vgl. die ausführlichere Fassung dieses Aufsatzes in: WSI-Mitteilungen 3/86, S. 264278. 1 So z.B. zuletzt Leminsky, G., Mitbestimmung und Wirtschaftsdemokratie, in: Handbuch zur Humanisierung der Arbeit, hrsg. von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz, Dortmund, 2. Bde., Bremerhaven 1985, S. 797-819. 2 Protokoll der ersten Gewerkschaftskonferenz der britischen Zone vom 12. bis 14. März 1946, Hannover-Linden, o.O. 1946, S. 19 (im folgenden zitiert als: Protokoll Hannover, 1946). 3

Dazu grundlegend: Petzina, D., Gewerkschaften und Monopolfrage vor und während der Weimarer Republik, in: Archiv für Sozialgeschichte, X X . Band, 1980, S. 195-217, S. 206.

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gen zu lassen, die 1916 unter dem Titel „Monopolfrage und Arbeiterklasse" erschien 4. In ihr konstatierte Heinrich Cunow, die industrielle Kartellierung sei „entschieden eine höhere Wirtschaftsstufe ( . . . ) als die frühere zersplitterte Produktion. Sie sei ebenso wie der Übergang zur maschinellen Großindustrie eine entwicklungsgeschichtliche Notwendigkeit", der man nicht mit der willentlichen Rückkehr zur freien Konkurrenz begegnen könne, sondern aus der Sicht der Arbeiterbewegung gleichsam als eine Chance begreifen müsse. Denn die Kartellierung der Industrie stelle eine „notwendige Wirtschaftsstufe dar, die einer späteren, höheren, den Weg bereitet und ebnet: der sozialistischen Wirtschaftsorganisation" 5 . Eine Schlüsselrolle in diesem gesetzmäßig ablaufenden Prozeß spiele der Staat, selbst wenn die gegenwärtige Tendenz noch eindeutig zum Privatmonopol hinneige, meinte einer der Mitverfasser, Wilhelm Jansson. Man müsse jedoch, wenn die Voraussetzungen gegeben seien, für Staatsmonopole eintreten, denn wirtschaftspolitisch sei das Staatsmonopol ein „sozialistisches Prinzip". Deshalb müsse das Ziel der Politik der Arbeiterbewegung die „Demokratisierung aller Staatseinrichtungen" 6 sein. Der Demokratisierungsbegriff dieser Denkschrift war allerdings eigentümlich eng; an keiner Stelle wird zum Beispiel explizit die Realisierung der politischen Demokratie gefordert. Offenbar konnten sich prominente Sozialdemokraten und Gewerkschafter 1916 den Übergang zu einer sozialistischen Wirtschaft ohne den demokratischen Staat als Zwischenstufe durchaus vorstellen. Es wird klar, wie problematisch es war, als Böckler 1946 den Beginn der Diskussion um eine Demokratisierung der Wirtschaft in den Ersten Weltkrieg zurückverlegte. Er tat dies vielleicht aber insofern absichtlich, als die „Wirtschaftsdemokratie" in der Fassung von 1928 ein Konzept der sozialdemokratischen Gewerkschaften gewesen war und deshalb für den einheitsgewerkschaftlichen Rahmen des Jahres 1946 nicht recht taugte. Die Monopoldiskussion des Jahres 1916 aber hatte 1917 zu einer gemeinsamen Eingabe der Richtungsgewerkschaften an Reichskanzler Bethmann-Hollweg geführt, die in einen 20 Punkte umfassenden Katalog von „Mindestforderungen" gefaßt war 7 und eindeutig die Handschrift Cunows trug. Die von ihm entwickelten institutionellen Ideen zur Monopolkontrolle, vor allem die Wahl von Arbeitervertretern in die Monopolverwaltungen, markierten die zentralen Punkte per Eingabe. Allen Zeitbedingtheiten zum Trotz haben wir es in diesen „staatskapitalistisch" 4 Jansson, W. (Hrsg.), Monopolfrage und Arbeiterklasse. Drei Abhandlungen von Heinrich Cunow, Otto Hue und Max Schippel, Berlin 1917. Das Buch erschien nicht als offizielle Stellungnahme, sondern ausdrücklich in eigener Verantwortung der Autoren. 5 Cunow, H., Kartellmonopol, in: Jansson, Monopolfrage, a.a.O., S. 79f. 6 Jansson, W., Für oder wider die Monopole, in: Jansson, Monopolfrage, S. 240. 7 Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, hrsg. von Hermann Weber, Klaus Schönhoven und Klaus Tenfelde, Bd. 1: Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Resolution 1914-1919, bearbeitet von Klaus Schönhoven, Köln 1985, S. 327-337.

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angelegten Lösungsvorschlägen zur Monopolfrage mit Vorläufern eigenständiger wirtschaftspolitischer Positionen der Gewerkschaften zu tun, die wohl nicht direkt in die „Wirtschaftsdemokratie" mündeten, aber zu ihrer Vorgeschichte gehören, weil sie versuchten, einer als neu erkannten Entwicklung des Kapitalismus programmatisch zu entsprechen. Noch vor dem Ersten Weltkrieg (1910) hatte der spätere Protagonist der „Wirtschaftsdemokratie", Rudolf Hilferding, sich mit seinem Werk „Das Finanzkapital" als marxistischer Theoretiker profiliert 8 . Hilferding untersuchte die neue Rolle, die das sich ausbreitende Finanzkapital spielte; seiner Meinung nach bedeutete sie ihrer „Tendenz nach die Herstellung der gesellschaftlichen Kontrolle über die Produktion", wenn auch in „antagonistischer Form", denn die Herrschaft verbleibe in den Händen der Oligarchie. Deren Entmachtung sei die „letzte Phase des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat". Es sei gerade die vergesellschaftende Funktion des Finanzkapitals, die die Überwindung des Kapitalismus erleichtere, denn wenn das Finanzkapital die wichtigsten Produktionszweige kontrolliere, genüge es, wenn der vom Proletariat eroberte Staat sich des Finanzkapitals bemächtige. Die Herrschaft über die Großindustrie bedeute im Grunde schon die wirksamste gesellschaftliche Kontrolle, die eine sofortige unmittelbare Vergesellschaftung nicht erforderlich mache. Das Finanzkapital schaffe also „organisatorisch die letzten Voraussetzungen für den Sozialismus"9. Den Übergang konnte sich Hilferding damals jedoch nur abrupt vorstellen. „ I n dem gewaltigen Zusammenprall der feindlichen Interessen schlägt schließlich die Diktatur der Kapitalmagnaten um in die Diktatur des Proletariats" 10 . Parteipolitisch waren die gewerkschaftlichen Monopoltheoretiker und der Hilferding des „Finanzkapitals" weit voneinander entfernt, doch beiden Konzeptionen liegen die marxistischen Theoreme der Konzentration und der Akkumulation zugrunde, und beide betrachten die im Gang befindliche Entwicklung als eine historisch notwendige, gesetzmäßig zum Sozialismus führende Stufe. Während die gewerkschaftlichen Monopoltheoretiker allerdings glaubten, die Linien des „Kriegssozialismus" verlängern und die dafür „reifen" Privatmonopole nach und nach verstaatlichen zu können, um auf diese Weise die Arbeiterbewegung am wirtschaftspolitischen Geschehen zu beteiligen, war der Hilferding der Vorkriegszeit auf einen notwendigen Zusammenbruch, auf einen revolutionären Zusammenprall der „ausgebeuteten Volksmassen" mit der herrschenden Klasse fixiert.

8 Vgl. Stephan, C., Zwischen den Stühlen oder über die Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis. Schriften Rudolf Hilferdings 1904 bis 1940, Bonn 1982, S. 43. 9 Zitiert nach der von der SED herausgegebenen Neuauflage: Hilferding, R., Das Finanzkapital, Berlin 1947, S. 513 f. 10 Hilferding, R., Das Finanzkapital, a.a.O., S. 518.

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Offenbar unter dem Eindruck des politischen Einblicks, den der Theoretiker Hilferding als Lehrer an der SPD-Parteischule in Berlin (1906 / 07) und dann als Redakteur des „Vorwärts" bekam, revidierte er diese rigide Vorstellung. Da die Arbeiterbewegung in politischen und gewerkschaftlichen Kämpfen mit dem Kapitalismus die „Verwirklichung seiner schlimmsten Verelendungstendenzen" durchkreuzt habe, habe sie ihn für sich „erträglicher", ja eigentlich erst „existenzfähig" gemacht. Die Arbeiterschaft sei dabei kampffähiger und selbstbewußter als je eine unterdrückte Klasse geworden, aber ihr unmittelbarer revolutionärer Antrieb sei gemildert. Gleichzeitig habe das Finanzkapital „die Tendenz, die Anarchie der Produktion zu mildern". Es enthalte Keime zu einer Umwandlung der anarchisch-kapitalistischen in eine organisiert-kapitalistische Wirtschaftsordnung. Die ungeheure Stärkung der Staatsmacht, die das Finanzkapital und seine Politik erzeugt hat (sie!), wirkt in derselben Richtung. Entgegen seiner früheren Anschauung, die Entwicklung könne nur in einem Zusammenprall enden, meinte Hilferding nun: „Anstelle des Sieges des Sozialismus erscheint eine Gesellschaft zwar organisierter, aber herrschaftlich, nicht demokratisch organisierter Wirtschaft möglich, an deren Spitze die vereinigten Mächte der kapitalistischen Monopole und des Staates stünden, unter denen die arbeitenden Massen in hierarchischer Gliederung als Beamte der Produktion tätig wären. Anstelle der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft durch den Sozialismus träte die den unmittelbaren materiellen Bedürfnissen der Klassen besser als bisher angepaßte Gesellschaft eines organisierten Kapitalismus" 11 . Politisch gesehen war dieser 1915 veröffentlichte Aufsatz Hilferdings mit dem Titel „Arbeitsgemeinschaft der Klassen?" eine Attacke gegen die Kriegspolitik der Führung von SPD und Gewerkschaften, wie sie im Buch über die Monopolfrage zum Vorschein kam. Auf der theoretisch-programmatischen Ebene aber bedeutete die dort formulierte Einsicht in die Flexibilität des Kapitalismus und die Folgen, die sich daraus für die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung ergaben, daß die sozialistische Gesellschaftsordnung prinzipiell eine schrittweise zu lösende politische Aufgabe war und nicht das ökonomisch bedingte, notwendige Ergebnis eines plötzlichen Umschlagens. Damit bereitete Hilferding den Boden für die spätere Annäherung zwischen den Flügeln in Gewerkschaften und Sozialdemokratie, die schließlich mehrheitlich auch das Wirtschaftsdemokratie-Konzept trugen.

11

Hilferding, R., Arbeitsgemeinschaft der Klassen?, in: Der Kampf, 8. Jg. (1915), Nr. 10, S. 321-329. Vgl. dazu und zum folgenden Winkler , Η . Α., Einleitende Bemerkungen zu Hilferdings Theorie des Organisierten Kapitalismus, in: derselbe (Hrsg.), Organisierter Kapitalismus, Göttingen 1974, S. 9-18.

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2. Die Entwicklung des Konzepts der Wirtschaftsdemokratie 2.1 Übergänge

Das Ende des Ersten Weltkrieges und die Novemberrevolution beschleunigten den Strom wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Neuordnungskonzeptionen. Sie reichten von den korporatistischen Tendenzen, die sich praktisch (wie etwa die Zentralarbeitsgemeinschaft [ZAG] und der Eisenwirtschaftsbund) oder theoretisch (wie etwa Rathenaus „Neue Wirtschaft" und die „gebundene Planwirtschaft" von Wisseil und MoellendorfT 12 ) aus den Zwängen der Kriegswirtschaft und der Demobilmachung ergaben, bis hin zu den revolutionären Rätemodellen. Die seit 1917 und deutlicher noch ab 1918/19 sich manifestierende Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung bildete auch in den freien Gewerkschaften die Scheidelinie in der Flut von Ideen, die in der Aufbruchstimmung der jungen Republik gegen die herrschende Ökonomie anrannte. Die Sozialisierung war zerredet, bevor sie politisch erstickt wurde, die Rätebewegung wurde in das Betriebsrätegesetz abgelenkt, der Reichswirtschaftsrat führte bald ein Schattendasein, die Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG) brach auseinander — die Inflation restrukturierte die Wirtschaft nach liberal-kapitalistischem Muster mit sozialstaatlichen Korrekturen. Dennoch hinterließen die Revolution und die Sozialisierungsdebatte gesetzliche Regelungen und Institutionen, die unabhängig vom theoretischen Strang der Diskussion in bescheidenem Ausmaß praktische Wirkung entfalteten. Das Kohlenwirtschaftsgesetz und das Kaliwirtschaftsgesetz von 1919 schufen nicht nur die entsprechenden, paritätisch besetzten Branchenräte (Reichskohlenrat, Reichskalirat), sondern bestimmten auch die Beteiligung von Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsräten der größten Syndikate sowie die Wahl eines Mitglieds des Vorstandes bzw. der Geschäftsführung auf Vorschlag der Arbeitervertreter. Die Bestimmungen des Betriebsrätegesetzes, zu denen von 1923 an auch die Entsendung von Arbeitnehmervertretern in die Aufsichtsräte gehörte, haben mittelfristig, so könnte man vermuten, zu einer Veränderung von Managementmethoden zumindest in Großbetrieben geführt, die in diesem Zusammenhang bedeutsam wurden: Großbetriebe sahen sich gezwungen oder hielten es für opportun, in ihrer Verwaltung die mit „Sozialpolitik" befaßten Elemente zu stärken oder zu institutionalisieren, um einen Widerpart oder Ansprechpartner für den Betriebsrat zu haben. Doch auf der Suche nach den ideengeschichtlichen Wurzeln der „Wirtschaftsdemokratie" sollen sowohl diese eher zaghaften Ansätze einer Mitbestimmungspraxis wie auch das konzeptionelle Knäuel der frühen zwanziger Jahre übersprungen und der Faden soll an dem Punkt wieder aufgenommen werden, an dem er von den freien Gewerkschaften und der Sozialdemokratie fast gleichzeitig weitergesponnen wurde. 12 Vgl. Novy, K., Strategien der Sozialisierung. Die Diskussion der Wirtschaftsreform in der Weimarer Republik, Frankfurt/M. 1978.

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Hilferding war es, der die wiedervereinigte SPD in die Lage zu versetzen versuchte, die langfristigen Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Wirtschaft seit der Jahrhundertwende mit den politischen Erfahrungen seit dem Kriegsende („Das große Erlebnis der Demokratie") theoretisch-programmatisch zu verbinden. In den Jahren 1924/25 entfaltete er seinen Begriff des organisierten Kapitalismus und ergänzte ihn um den der Wirtschaftsdemokratie: „Die Periode der freien Konkurrenz neigt sich dem Ende zu. Die großen Monopole werden zu den entscheidenden Beherrschern der Wirtschaft . . . Die früher getrennten Formen des Industrie-, Handels- und Bankkapitalismus streben in der Form des Finanzkapitals zur Vereinheitlichung. Dies bedeutet den Übergang von dem Kapitalismus der freien Konkurrenz zum organisierten Kapitalismus". Käme dieser organisierte Kapitalismus zu ungehemmter Entfaltung, „wäre das Ergebnis . . . eine in antagonistischer Form hierarchisch organisierte Wirtschaft". Diese aber geriete gerade wegen ihres Regelungsbedürfnisses, das auch das Arbeitsverhältnis (Rationalisierung, Qualifizierung, Sozialpolitik) erfaßt, in einen immer größeren Widerspruch zur „Masse der Produzenten", denen die „Usurpation der Wirtschaftsmacht ( . . . ) durch die Besitzer der konzentrierten Produktionsmittel" immer unerträglicher wird. Dieser Widerspruch erzwinge den Kampf, er sei nur durch die Umwandlung in die „demokratisch organisierte Wirtschaft" zu beseitigen: „Die bewußte gesellschaftliche Regelung der Wirtschaft durch die Wenigen und für deren Machtzwecke wird zur Regelung durch die Masse der Produzenten. So stellt der Kapitalismus, gerade wenn er zu seiner höchsten Stufe gelangt, das Problem der Wirtschaftsdemokratie". Sie zu erreichen sei ein „ungeheuer kompliziertes Problem" und könne sich nur in einem „langdauernden (evolutionären) historischen Prozeß vollziehen", in dem die Wirtschaft immer mehr der demokratischen Kontrolle unterworfen werde. Die Gewerkschaften verließen ihre Rolle als bloße „Organe der Sozialpolitik" und würden „Träger einer demokratischen Produktionspolitik" 13 . Diese Entwicklung macht, so Hilferding, auch ein neues Staats- und ein neues Demokratieverständnis nötig. Die zu Unrecht „bürgerlich" genannte Demokratie sei in Wirklichkeit eine „wichtige Errungenschaft des Proletariats" 14 , weil sie ihm die Möglichkeit eröffne, um die Staatsmacht zu kämpfen; dieser (politische) Kampf mache die sich ständig verschärfenden Klassenkämpfe immer offenbarer. Der Versuch Hilferdings, die strategische Lage der Sozialdemokratie unter den Bedingungen der sozio-ökonomischen Wandlungsprozesse der kapitalistischen Wirtschaft im politischen Rahmen einer parlamentarischen Demokratie neu zu bestimmen und daraus handlungsleitende Perspektiven zu entwickeln, war eine theoretische Leistung, die allerdings unter dogmatisch-marxistischen

13 14

Hilferding, R., Probleme der Zeit, in: Die Gesellschaft, 1. Jg. (1924), H. 1, S. 1-17. Protokoll SPD, Heidelberg 1925, S. 275.

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Gesichtspunkten einige Schwachstellen aufwies 15 . Sie war darauf angelegt, marxistische Grundüberlegungen der Interpretation gesellschaftlicher Prozesse — den Klassengegensatz und die Konzentrationsbewegung zum Beispiel — nicht aufzugeben, aber zwischen dem „Staatssozialismus" und dem „Sozialismus der Despotie" der russischen Bolschewiki einen offensiv-reformistischen Weg zu einem demokratischen Sozialismus zu finden. Sie versöhnte die Sozialdemokratie mit der Weimarer Demokratie, erklärte den Staat zu einem politisch lohnenden Kampffeld und führte so die SPD gewissermaßen theoriegeleitet auf den Boden der Praxis zurück, den sie in der Zwischenzeit frustriert verlassen hatte. Es ist auffällig, wie differenziert—im Verhältnis zum WirtschaftsdemokratieKonzept von 1928 — Hilferding 1924 noch die Funktion des Staates sieht: nämlich keineswegs „klassenunspezifisch". Ebenso verwendet Hilferding den Begriff „Sozialismus" 1924 sehr zurückhaltend, er hat längst nicht die teleologische Funktion, die er im Konzept von 1928 zugewiesen bekommt. Als Schwäche seines Konzeptes offenbarte sich aber schon jetzt eine Minderbewertung der Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, indem er deren „Unstetigkeit" zwar konstatierte, aber sich von der „Organisierung" des Kapitals eine Milderung der Krisen, zumindest der Rückwirkung auf die Arbeiter versprach. Dies könne um so besser gelingen, je mehr die Produzentenorganisationen (die Gewerkschaften) sich zur „freiwilligen Mitwirkung" entschlössen. Die Gewerkschaften stünden aus begreiflichen Gründen dem Staat noch weit fern, doch müßten sie „umworben, dem Staatszweck gewonnen werden" 16 . 2.2 Die freien Gewerkschaften: Suche nach einem Programm (1919-1925)

Die programmatische Unsicherheit der Gewerkschaften nach dem Ersten Weltkrieg hatte mehrere Ursachen, von denen die Spaltung der SPD nur eine war. Der 1919 gegründete A D G B sah sich genötigt, den politischen Parteien gegenüber seine Neutralität auszusprechen. Nichtsdestoweniger haben die zum Teil erbitterten politischen Fraktionskämpfe auf der Linken die Arbeit der Gewerkschaften in den Anfangsjahren der Weimarer Republik fast gelähmt. Die im Juli 1919 verabschiedeten „Richtlinien für die künftige Wirksamkeit der Gewerkschaften" versuchten, die beträchtlichen Unterschiede zwischen der Arbeitsgemeinschaftspolitik und dem Rätesystem verbal zu überbrücken, was nicht zur Präzisierung der gewerkschaftlichen Vorstellungen über den „Weg der wirtschaftlichen Demokratie" beitrug. Darunter wurden verstanden: die Arbeitsgemeinschaften; der schrittweise Übergang von der Privatwirtschaft zur Gemeinwirtschaft; die „Betriebsdemokratie" (die auch in sozialisierten oder 15 16

Winkler , Η . Α., Einleitende Bemerkungen, S. 12. Hilferding, R., Probleme der Zeit, S. 10.

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gemeinwirtschaftlichen Betrieben gelten sollte); örtliche, regionale Reichsarbeiterräte (als Selbstverwaltungsorgane der Volkswirtschaft); „Wirtschaftskammern". Das „Mitbestimmungsrecht der Arbeiter" müsse, beim Einzelbetrieb beginnend, bis in „die höchsten Spitzen der Wirtschaftsorganisation" verwirklicht werden. Im Zentrum dieses Programms stand die Feststellung: „Die Gewerkschaften erblicken im Sozialismus gegenüber der kapitalistischen Wirtschaft die höhere Form der volkswirtschaftlichen Organisation" 17 . Der A D G B gelangte in den folgenden Jahren nicht zu einer deutlicheren Formulierung seiner Vorstellungen zur Wirtschaftsdemokratie, daran änderte auch Rudolf Wissells Referat auf dem Leipziger Kongreß von 1922 wenig, im Gegenteil trug es zu noch größerer Unschärfe der Begrifflichkeit auf diesem Felde bei 1 8 . Dieser Mangel wurde auch in den Gewerkschaften empfunden, so daß man sich entschloß, dem Thema Wirtschaftsdemokratie auf dem Breslauer Kongreß 1925 zwei Referate zu widmen. Es gab Grund genug, eine programmatische Neuorientierung der freien Gewerkschaften anzustreben: Die Organisationskrise der Gewerkschaften, die hauptsächlich eine Folge der Hyper-Inflation des Jahres 1923 gewesen war, aber sicher auch im engeren Sinne politische Gründe hatte, war mit dem Eintritt in die Phase der relativen Stabilisierung ab 1924 nicht überwunden: Zwischen 1920 und 1926 hatte sich die Mitgliedschaft halbiert (von 8,49 auf 4,31 Millionen), Kämpfe um den Achtstundentag waren verlorengegangen, hohe Arbeitslosigkeit war eine Dauererscheinung geworden, die kommunistische Opposition war zumindest zeitweise erheblich angewachsen. Fritz Tarnow, der Vorsitzende des Holzarbeiterverbandes, faßte die gewissermaßen sozialpsychologische Situation in den Gewerkschaften wohl treffend zusammen, wenn er sagte, im „Seelenleben der deutschen Arbeiter" sei etwas gebrochen, die Illusion sei geplatzt, man könne, wenn man im Besitz der politischen Macht sei, alle jahrealten Ziele der Arbeiterbewegung erreichen. Die Enttäuschung darüber, daß dies nicht möglich gewesen sei, sei „das innere Unglück der deutschen Arbeiterbewegung gewesen", und: „Hier finden sich auch die Ursachen der kommunistischen Bewegung; denn Zehntausende, nicht die Schlechtesten, haben es einfach nicht ertragen können, kein Ideal mehr zu haben". Und dann formulierte Tarnow sozusagen die propagandistische Funktion der „Wirtschaftsdemokratie": „Wir brauchen in der Gewerkschaftsbewegung nicht eine Sonne am Firmament, sondern ein Ziel, das auf Erden zu verwirklichen ist, dessen Verwirklichung wir uns immer mehr nähern, so daß jeder sehen kann: es kommt einmal die Zeit, wo es anders wird, wir schreiten

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Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 29. Jg. (1919), Nr. 29, S. 314ff. 18 Vgl. Abdruck der Entschließung, in: Korrespondenzblatt des ADGB, 32. Jg. (1922), Nr. 28, S. 399. Die skeptische Einschätzung findet sich selbst bei Schwarz, s. Handbuch, der Gewerkschaftskongresse, Berlin 1930, S. 111.

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immer weiter vorwärts, dem Ziel entgegen. Das ist eine ungeheure Werbekraft, die in der Idee liegt, daß wir das Endziel, die Umformung der Wirtschaft und damit der Gesellschaft, im täglichen Kampf Schritt für Schritt erreichen können" 1 9 . Es gelang dem Kongreß nicht, die „Idee" zu formulieren. Die Referate Paul Hermbergs und Herbert Jäckels waren aneinander vorbeikonzipiert, und der Beschluß des Kongresses zur Wirtschaftsdemokratie war kaum mehr als die Zusammenfassung überkommener Positionen. Die Gewerkschaften waren, das hatte Tarnow scharf gesehen, programmatisch-propagandistisch in eine Sackgasse geraten. Es fehlte eine brauchbare Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung und ihrer Auswirkungen auf die gesellschaftliche Kräftekonstellation, eine theoretische Überhöhung gewerkschaftlicher Praxis in Staat und Gesellschaft — ohne die traditionellen sozialistischen Fernziele unerreichbar erscheinen zu lassen. Es fehlten eine theoretische Rechtfertigung des gewerkschaftlichen Reformismus und ein Nachweis seiner grundsätzlichen systemüberwindenden Funktion. Die 1926 gegründete „Forschungsstelle für Wirtschaftspolitik", die von den Freien Gewerkschaften, der SPD und den Genossenschaften getragen wurde, erhielt deshalb den Auftrag, die bis dahin nur in Umrissen erkennbare Vorstellung von der „Wirtschaftsdemokratie" in ein geschlossenes Konzept zu gießen. 3. „Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel" (1928) 3.1 Die Grundzüge des Konzepts

1928 präsentierte Fritz Naphtali das gewerkschaftliche Konzept der Wirtschaftsdemokratie dem Hamburger Kongreß der Gewerkschaften. Es beruhte im wesentlichen auf Rudolf Hilferdings Theorie vom organisierten Kapitalismus und deren Verbindung mit einem neuen Demokratie- und Staatsverständnis. Ein Jahr zuvor hatte Hilferding — immer mehr Politiker als Theoretiker — auf dem Parteitag der SPD in Kiel die Partei für den Wahlkampf des Jahres 1928 und den Eintritt in ein Koalitionskabinett vorbereitet. Seine Beschwörung: „Ein großer Sieg der Sozialdemokratie erscheint als möglich" 2 0 sollte sich im Mai 1928 bewahrheiten, so daß die Veröffentlichung des gewerkschaftlichen Wirtschaftsdemokratie-Konzeptes in eine Zeit politischer Aufbruchstimmung fiel: Eine sozialdemokratisch geführte Reichsregierung schien der Garant dafür zu sein, einen guten Teil dessen politisch zu realisieren, was in dem Konzept programmatisch angelegt war.

19 Protokoll des 12. Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands, Breslau 1925, S. 231 f. 20 Protokoll SPD, Kiel 1927, S. 184.

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Das Wirtschaftsdemokratie-Konzept nahm die Kritik an der Unvollkommenheit der politischen Demokratie zu seinem Ausgangspunkt, denn sie habe keine „endgültige Befreiung der Massen" gebracht, ja noch nicht einmal die „schlimmsten Formen der Ausbeutung" verschwinden lassen. Daraus wurde aber keine Negation der politischen Demokratie abgeleitet, sondern die Auffassung, die formale Gleichberechtigung aller Bürger sei praktisch erst dann verwirklicht, wenn es in der Wirtschaft nicht mehr „Herrschende und Beherrschte" geben, wenn die „wirtschaftliche Autokratie" 2 1 gebrochen sei. Zwar seien die Organisationsformen, in denen sich die Wirtschaft entwickele, „hochkapitalistisch", aber letztlich gehe davon „ein großer Antrieb in der Richtung der Entwicklung zur Demokratisierung" aus 22 . Das war vorsichtig formuliert, und Naphtali zog es auch vor, im Unterschied zu Hilferding, den Begriff „Spätkapitalismus" nicht zu verwenden, denn man wisse noch nicht, wie spät es denn sei 23 . Die Organisierung des Kapitalismus in machtbeherrschende Monopole bringe zwei Momente seiner Überwindung mit sich: Erstens die (soziale) Bewegung, die sich gegen eine solche „Wirtschaftsbeherrschung durch die einzelnen Unternehmergruppen" zur Wehr setze, und zweitens die Aufhebung der Konkurrenz und der Planung, die der Kapitalismus selbst in das System der freien Wirtschaft einbaue, was aber dem Wesen nach ein sozialistisches Wirtschaftsprinzip sei 24 . Im Anschluß an Hilferding, der 1927 behauptete, er sei immer ein Gegner der „Zusammenbruchstheorie" gewesen, wandte sich auch Naphtali gegen den revolutionären Attentismus in der Vorkriegssozialdemokratie — und griff damit gleichzeitig die KPD-Politik an. Man könne nicht „hübsch warten", bis der Sozialismus da sei, sondern man müsse an den Wandlungsprozessen des Kapitalismus ansetzen, um dem Endziel, der Wirtschaftsdemokratie, näherzukommen 25 . Denn die Struktur des Kapitalismus selbst sei veränderlich, und daraus folge, „daß der Kapitalismus, bevor er gebrochen wird, auch gebogen werden kann" 2 6 . So bildlich dies gesprochen war, so unklar blieb es auch — ist das „bevor" zeitlich gemeint oder eher als „anstatt"? Naphtali versuchte einer grundsätzlichen Kritik aus den eigenen Reihen zuvorzukommen, indem er sagte, die Wirtschaftsdemokratie sei kein Ersatz für den Sozialismus, sondern eine „Ergänzung der sozialistischen Idee in der Richtung der Klärung des Weges zur Verwirklichung"; Sozialismus und

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Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel. Hrsg. im Auftrag des A D G B von Fritz Naphtali, Berlin 1928 (im folgenden: Wirtschaftsdemokratie, . . . ) , S. 14. 22 Wirtschaftsdemokratie, S. 30. 23 Protokoll ADGB, Hamburg 1928, S. 175. 24 Protokoll SPD, Kiel 1927, S. 168. 25 Protokoll ADGB, Hamburg 1928, S. 174. 26 Wirtschaftsdemokratie, S. 12.

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Wirtschaftsdemokratie seien als Endziel untrennbar miteinander verknüpft. Das Ziel bleibe also unverändert, aber der Weg dahin habe sich mit der Wandlung des Kapitalismus verändert, aus einem „fernen Traum" sei ein Wachstumsprozeß geworden, eine praktische Aufgabe: „Der Weg zur Verwirklichung führt über die Demokratisierung der Wirtschaft" 27 . Wie das Endziel, der Sozialismus, in Einzelheiten aussehen solle, darüber verweigerte Naphtali die Auskunft; die Überführung der Produktionsmittel auf die Gemeinschaft und eine daraus folgende klassenlose Gesellschaft sollten jedoch seine Grundzüge sein. Naphtali verzichtete bewußt darauf, die „zukünftige Wirtschaft im Detail auszumalen", weil dies in die „Utopie" hinein und zu „Zukunftsstaatsschilderungen" führe, die „nützlich und angenehm zu lesen sein mögen, die aber nicht die Grundlage für eine praktische Bewegung abgeben können" 2 8 . Naphtalis Ansatz war insofern realistischer, als er von vorhandenen Institutionen und Tendenzen ausging und sie zum Entwicklungspotential des Prozesses in Richtung auf die Wirtschaftsdemokratie erklärte. Das Konzept der Wirtschaftsdemokratie ist der erste großangelegte Versuch eines gewerkschaftlichen Programms und insofern zu seiner Zeit einzig. Indem es die grundsätzliche Flexibilität des Kapitalismus, seine Anpassungsfähigkeit behauptet und daraus Schlußfolgerungen für eine veränderte Politik der Arbeiterbewegung zieht, ist es der Rolle des Revisionismus (Eduard Bernstein) in der SPD vergleichbar. Dem geschickten Rhetoriker Tarnow fiel es zu, die Notwendigkeit einer „Revision" der Auffassungen von Marx und Engels zu fordern: Deren „große, geniale Leistungen" bedürften der Anpassung an die jeweiligen ökonomischen Zustände; aber, so erklärte er den Kongreßteilnehmern nach Naphtalis Referat, „wenn Marx und Engels heute leben würden, säßen sie hier bei uns, und wir hätten Karl Marx das Referat übertragen, was Naphtali gehalten hat, ( . . . ) es wäre dem Sinn nach nicht anders ausgefallen" 29 . Das mag schon damals bezweifelt worden sein, besonders an einem Punkt, der nicht nur von marxistischer Seite kritisiert worden ist: Das Staatsverständnis des Wirtschaftsdemokratie-Konzepts war alles andere als marxistisch, es war idealistisch: „Der Staat aber ist ein Gemeinwesen, das heißt, eine über allen einzelnen stehende öffentliche Körperschaft, die einen Gemeinwillen ausdrückt" 30 . Diese größte analytische Schwachstelle des Konzeptes war um so unverständlicher, als ζ. B. Hilferding sehr wohl eine klassen- und herrschaftsspezifische Interpretation des Staates geliefert hatte. War die Idealisierung des Staates eine theoretische Schwäche, so war die daraus abgeleitete Fixierung auf eben diesen

27 28 29 30

10

Wirtschaftsdemokratie, S. 10. Protokoll ADGB, Hamburg 1928, S. 173. Protokoll ADGB, Hamburg 1928, S. 210. Wirtschaftsdemokratie, S. 15.

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Staat als fast ausschließliches Instrument zur Durchsetzung der wirtschaftsdemokratischen Ziele der folgerichtige Hauptmangel des Konzeptes. So historisch vernünftig und praktisch lange überfallig der Versuch war, die sozialdemokratischen Gewerkschaften auch theoretisch mit der politischen Demokratie in Form der Republik zu versöhnen, sie zumindest als verteidigenswerten Handlungsrahmen zu akzeptieren — das scheint mir eine der wesentlichen Funktionen des Konzeptes gewesen zu sein — er hätte auch auf dem Hintergrund seines ideengeschichtlichen Ortes nicht zu einer solchen Mißinterpretation der Rolle des Staates in einer kapitalistischen Industriegesellschaft führen müssen. Wie Gustav Radbruch hatten Hilferding und Naphtali erkannt, wie hinderlich eine ausschließliche Interpretation der Demokratie als „Leiter zum Sozialismus" 31 der realistischen Neuformulierung gewerkschaftlicher Strategien war. Geradezu visionär hatte Hilferding 1925 den italienischen Faschismus gesellschaftspolitisch eingeordnet und erkannt, wie gefahrlich es sein würde, zwischen der als „bürgerlich" verdammten Demokratie und dem Faschismus nur deswegen analytisch nicht mehr unterscheiden zu können, weil die Produktionsverhältnisse dieselben seien. Trotzdem fehlten ihm im Wirtschaftsdemokratie-Konzept Hinweise darauf, wie wenig die Demokratie auf Seiten derer, denen die Wirtschaftsdemokratie abgetrotzt werden sollte, überhaupt ein akzeptierter Boden der Auseinandersetzung war. Gleiches gilt für die Eigentumsfrage, die ja zentral berührt war, wenn es um die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel ging. Wahrscheinlich war es Hugo Sinzheimer, der im arbeitsrechtlichen Teil in dieser Hinsicht einen eher skeptischen Unterton anschlug: „Die Wirtschaftsdemokratie ist erst erreicht, wenn jener freiheitsrechtlichen Entwicklung der Arbeit (gemeint sind ζ. B. die Tarifverträge, U. B.) aber auch eine gemeinheitsrechtliche Entwicklung des Eigentums entspricht. Davon sind wir noch weit entfernt" 32 . Indem das Konzept die gewerkschaftliche reformistische Praxis mit dem erklärten Ziel der Arbeiterbewegung, dem Sozialismus, in Einklang brachte, hatte es eine integrierende, ja geradezu therapeutische Funktion für die Anhänger und Funktionäre von SPD und Gewerkschaften. Sie konnten sich nun sagen, ihre bisherige und zukünftige Arbeit führe, allen Anfeindungen zum Trotz, eben doch zu dem Ziel, das in der täglichen Praxis aus den Augen zu geraten drohte. Ganz auf der Linie des marxistischen Denkens blieb die Vorstellung einer dauernden, gesetzmäßigen „Höherentwicklung", deren vorletzte oder letzte Stufe man erreicht zu haben glaubte: eine Denkfigur, die immer noch „heilsgeschichtlich" angelegt war. Optimismus durchzieht das Wirtschaftsdemokratie-Konzept. In vieler Hinsicht war es eine glatte Fortschreibung sozialpolitischer Errungenschaften, die ja 31 Mommsen, H., Klassenkampf oder Mitbestimmung. Zum Problem der Kontrolle wirtschaftlicher Macht in der Weimarer Republik, Köln 1978, S. 14. 32 Wirtschaftsdemokratie, S. 142.

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überdies zum Teil aus der Zeit der Bürgerblock-Kabinette stammten, wie etwa das A V A V G von 1927. Allzusehr war es aus der Stabilitätsphase der Weimarer Republik nach vorn und auf die Wahlen von 1928 hin gedacht. In diesem Zusammenhang war einer der größten Mängel der fehlende Hinweis auf die grundsätzliche Krisenhaftigkeit kapitalistischer Wirtschaft, obwohl beide Väter des Konzeptes über — wenn auch unterschiedliche — Krisen-„Theorien" durchaus verfügten 33 . Hilferdings allerdings, wie er schon 1924 dargelegt hatte, war von der krisenmildernden Wirkung der Organisierung des Kapitalismus überzeugt. Die 1929 einsetzende Krise nicht in ihrer ganzen Wucht und Bedeutung vorhergesehen zu haben, wird man den Autoren kaum zum Vorwurf machen können; aber die völlige theoretische Abstinenz gegenüber Krisenphänomenen war auch kaum mit dem Argument zu verteidigen, das Naphtali in einem Nachwort zur 5. Auflage (1931) vorbrachte: Er habe nie behauptet, der Weg werde kampflos, „gleichsam automatisch ( . . . ) in eine sozialistische Gemeinwirtschaft der Zukunft" führen, deshalb gebe es keinen Grund, angesichts der Wirtschaftskrise von dem Konzept abzugehen34. Die Liste der Schwach- und Blindstellen des Konzeptes ließe sich leicht verlängern — wäre allerdings auch historische Besserwisserei, zum Beispiel: Probleme und Folgen der Rationalisierung spielen keine Rolle — obwohl Naphtali auf dem Kongreß deren Janusköpfigkeit scharf analysierte. Auch Hilferdings Denkansatz, als Folge der Entwicklung des Kapitalismus eine soziale Differenzierung in der Arbeiterklasse zu erkennen (und damit als für die Gewerkschaften politikrelevant zu erklären), fiel unter den grünen Tisch der WirtschaftsdemokratieTheoretiker. Und schließlich wären auch die Fragen aufzuwerfen, ob Monopolisierung die einzige oder auch nur die wichtigste Tendenz sei, die den Charakter des Kapitalismus verändere, und wie die sich nicht monopolisierenden Wirtschaftszweige in ihrer Bedeutung einzuschätzen seien. Neben dem Einwand, das Konzept verzichte auf Angaben zu Strategien seiner Verwirklichung, ist einer der am häufigsten vorgebrachten der, es unterbewerte Demokratisierungsansätze, die auf Betriebs- und Unternehmensebene hätten greifen können. Das ist bedingt richtig; in der Tat ist der Abschnitt „Betriebsdemokratie und Wirtschaftsführung" sehr kurz und blaß — bis auf den deutlichen Satz, daß die Betriebsräte nicht Träger der Demokratisierung der Wirtschaft sein könnten 35 . In den direkten Zusammenhang unseres Themas gehört aber ein offenbar gelegentlich übersehener Absatz: „Neben dieser Demokratisierung durch Stärkung der Staatsmacht gegenüber der Wirtschaft steht aber die Forderung einer unmittelbaren Vertretung der Arbeitnehmerschaft in der Geschäftsführung der einzelnen monopolartigen Unternehmungsorganisatio-

33

Weinzen, H. W., Gewerkschaften und Sozialismus. Naphtalis Wirtschaftsdemokratie und Agartz' Wirtschaftsneuordnung, Frankfurt/M., New York 1982, S. 70ff. 34 Wirtschaftsdemokratie, 5. Aufl. 1931, S. 191 ff. 35 Wirtschaftsdemokratie, S. 153. 10*

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nen ( . . . ) " 3 6 . Die Frage nach nicht nur allgemein-ideologischer Verbindungslinie zwischen Wirtschaftsdemokratie und Mitbestimmung ließe sich ausschließlich aufgrund dieses Absatzes bejahen. In der Tat ist die hier geforderte Beteiligung von Vertretern der Arbeitnehmerschaft in der Geschäftsführung von Unternehmern eine gedankliche Wurzel der Montanmitbestimmung. Doch das Wirtschaftsdemokratie-Konzept hat seinen eindeutigen Schwerpunkt auf der überbetrieblichen Ebene. Naphtali traute einer UnternehmensMitbestimmung — wenn man diesen Begriff überhaupt schon verwenden kann — zunächst kaum mehr als eine Informationsfunktion zu, meinte aber, langfristig könne auch eine „Machtposition" daraus werden. Entschieden geringeren Wert maß er den Betriebsräten bei; dies nicht nur wegen der Unvollkommenheiten des Betriebsrätegesetzes von 1920. Er bezweifelte, daß auf die Führung der Wirtschaft über die Betriebsräte Einfluß genommen werden könnte, auch dann nicht, wenn sie im Aufsichtsrat säßen. Die Betriebsräte sollten sich auf die Gestaltung des Arbeitsverhältnisses und die praktische Arbeitsgestaltung im Betrieb konzentrieren. Sein Haupteinwand gegen eine Verflechtung der Betriebsräte in den Prozeß der Demokratisierung der Wirtschaft war aber die Furcht vor einem Betriebsegoismus, der dem Prinzip der „Unterwerfung des einzelnen Betriebes unter die Gesamtinteressen" allzuleicht widersprechen könnte 37 . Das Wirtschaftsdemokratie-Konzept war eindeutig auf die gewerkschaftliche Repräsentation von Arbeitnehmerinteressen ausgerichtet. Das schließlich, was heute etwa als basis-demokratisch oder als Mitbestimmung am Arbeitsplatz bezeichnet werden kann, ist in seinem Denkhorizont überhaupt nicht zu finden. Der Demokratie-Begriff des Konzeptes war repräsentativ-korporatistisch, nicht partizipatorisch-pluralistisch, es war entscheidungsnah, aber basisfern 38. Die Reaktion auf das Wirtschaftsdemokratie-Konzept in den Lagern der Arbeiterbewegung war sehr unterschiedlich. Die K P D rückte es in die Nähe des Faschismus39, die Christlichen Gewerkschaften behaupteten ihre Affinität, beklagten aber den „Materialismus" des Programms 40 , die Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften reklamierten gar ein Erstgeburtsrecht an der Idee der Wirtschaftsdemokratie 41 . Sozialistische Kritiker rügten vor allem das Staatsver-

36

Wirtschaftsdemokratie, S. 34f. Protokoll ADGB, Hamburg 1928, S. 221. 38 Leminsky, G., Otto, B., Politik und Programmatik des DGB, Köln 1974, S. 32. 39 Ulbricht, W., Wirtschaftsdemokratie oder Wohin steuert der ADGB? Berlin o.J. (1928). 40 Kollektiver Kapitalismus als Sozialismus. Der Weg der freien Gewerkschaften, in: Zentralblatt der christlichen Gewerkschaften Deutschlands, 28. Jg. (1928),Nr. 19,S. 253255, abgedruckt in: Weinzen, Wirtschaftsdemokratie heute?, Berlin (West) 1980, S. 146148. 41 Vgl. die Aufsätze in: Weinzen, Wirtschaftsdemokratie heute?, S. 152-155. 37

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ständnis und kritisierten die auf Kooperation zielenden Züge des Konzeptes. Im Unternehmerlager waren neben der grundsätzlichen, vehementen Ablehnung jene Stimmen am interessantesten, die gerade das für gefahrlich hielten, was auf der Seite der Linken am meisten kritisiert wurde: Die Gefahr systemimmanenter Reformschritte 42 schien ihnen größer als die voluntaristisch-systemstürzenden Parolen auf dem radikalen Flügel der Arbeiterbewegung. Bei allen Schwächen, auf die die zeitgenössische Kritik und solche aus heutiger Sicht sattsam hingewiesen hat: Das Konzept der Wirtschaftsdemokratie gewinnt, je mehr man es aus der Sicht seiner Gegner wahrnimmt. Da wird es unversehens zu einer zwar zeitgebundenen, aber realistischen Verbindung von „gesellschaftlichem Transformationsmodell und sozialreformerischer Tagesarbeit" 4 3 .

4. Die programmatische Spaltung der Gewerkschaften: „Umbau der Wirtschaft" und Arbeitsbeschaffung (1931/32) Je mehr sich die 1929 einsetzende Wirtschaftskrise ausweitete und vertiefte, je mehr das optimistisch-gradualistische Modell der Wirtschaftsdemokratie auch in der Gegenoffensive der Unternehmer an Realitätsgehalt verlor, desto mehr büßte es eine vorübergehend hohe Integrationsfunktion ein. Es ging nun nicht mehr um den Ausbau einmal erkämpfter — oder erworbener — gewerkschaftlicher Positionen und Rechte, sondern um deren bald immer aussichtslosere Verteidigung. Das galt zum Beispiel für das Tarifvertragsrecht und das Schlichtungswesen44, so unzulänglich beide den Gewerkschaften bis dahin erschienen waren. Die Arbeitslosenversicherung, das Paradestück der sozialen Verfassung der Weimarer Republik — auch im Wirtschaftsdemokratie-Konzept zentraler Beweis („Sie ist ( . . . ) ein lebendiges Stück der werdenden Wirtschaftsdemokratie" 45 ) für die Aufbaufahigkeit des Sozialstaates und die grundsätzliche Möglichkeit wirtschaftlicher Selbstverwaltung — wurde ein erstes Ziel der unternehmerischen Angriffe auf den ohnehin prekären Status quo des sozialpolitischen Konsens, auf das kollektive Arbeitsrecht. Sie wurde das Werkzeug, mit dem die SPD 1930 aus der Regierungskoalition gehebelt wurde

42

Vgl. Weisbrod, B., Schwerindustrie in der Weimarer Republik, Wuppertal 1978, S. 491. 43 Kuda, R., Das Konzept der Wirtschaftsdemokratie, in: Vetter, H.O. (Hrsg.), Vom Sozialistengesetz zur Mitbestimmung, Köln 1975, S. 253-274, S. 267; vgl. dazu auch: Mar tiny, M., Integration oder Konfrontation? Studien zur Geschichte der sozialdemokratischen Rechts- und Verfassungspolitik, Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 128. 44 Weisbrod, B., Konsens oder Konflikt? Unternehmer und Gewerkschaften 1928 bis 1933, in: Breit, E. (Hrsg.), Aufstieg des Nationalsozialismus, Untergang der Republik, Zerschlagung der Gewerkschaften, Köln 1984 S. 137 ff. 45 Wirtschaftsdemokratie, S. 151.

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— nicht ohne gleichzeitig den Gewerkschaften dafür die Verantwortung zuzuschieben46. Die programmatische Reaktion der Gewerkschaften auf die Krise war alles andere als einheitlich 47 : Im Sommer 1931 veröffentlichte der A D G B zunächst, als erste Antwort auf die Krise — und zugleich als im Vorwort versteckt formulierte Absage an die Höhenflüge der „Wirtschaftsdemokratie" —, ein von mehr als einem Dutzend Autoren verfaßtes Buch über die 40-Stunden-Woche, in dem die Forderung der Gewerkschaften nach Arbeitszeitverkürzung als einem konkreten Instrument der Krisenbewältigung in aller wissenschaftlichen Sorgfalt begründet wurde 48 . Wenig später begannen Wladimir Woytinsky, Fritz Tarnow und Fritz Baade die Ausarbeitung eines großangelegten Arbeitsbeschaffungsprogramms, das später, nach den Initialen der Urheber, als „WTB-Plan" bekannt geworden ist. Der WTB-Plan war ein Vorschlag zu einer aktiven, antizyklischen Konjunkturpolitik, sozusagen ein präkeynesianischer Versuch, statt Deflationspolitik à la Brüning, deficit spending zugunsten öffentlicher Aufträge für Arbeiten ohne Produkte (Straßenbau, Melioration, Siedlungsbau etc.) zu betreiben: Hebung der Massenkaufkraft, Wiederankurbelung der gelähmten Wirtschaft von der Konsumseite her. Dies rief die Marxisten in der SPD und in den Gewerkschaften auf den Plan. Der Plan sei „unmarxistisch", meinte z.B. Hilferding, weil er perspektivlos die kapitalistische Wirtschaft wieder ankurbele, abgesehen einmal davon, daß man ihn schon deshalb ablehnen müsse, weil er mit Sicherheit die Inflation im Gefolge haben werde 49 . A m Krankenbett des Kapitalismus „Arzt und Erbe" gleichzeitig sein zu wollen, wie Tarnow es formuliert hatte, das war Hilferding zu unmarxistisch gedacht. Zur gleichen Zeit erstellte eine andere Gruppe von gewerkschaftlichen Wirtschaftspolitikern, die den marxistischen Theoretikern in der SPD näherstanden, u. a. Hans Arons, das Programm „Umbau der Wirtschaft", in dem die Zeit für gekommen erklärt wurde, Schlüsselindustrien und Banken zu verstaatlichen und die zentral geplante Bedarfsdeckungswirtschaft einzuführen. Es war ein heute verzweifelt wirkender Versuch, die „Welle antikapitalistischer Sehnsucht" (ein Schlagwort Gregor Strassers!) in gewerkschaftliche Bahnen zu

46 Vgl. jetzt das abgewogene Urteil bei Winkler , Η . Α., Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924-1930, Berlin, Bonn 1985, S. 815 ff. 47 Schneider, M., Das Arbeitsbeschaffungsprogramm des ADGB, Bonn-Bad Godesberg 1975, S. 103 ff. 48 Die 40-Stunden-Woche. Untersuchungen über den Arbeitsmarkt, Arbeitsertrag und Arbeitszeit. Hrsg. im Auftrag des A D G B von Theodor Leipart, Berlin 1931. 49 Schneider, M., Das Arbeitsbeschaffungsprogramm, S. 132ff.

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lenken, der „gefühlsmäßigen Empörung Weg und Ziel zu weisen" 50 , wie es im Vorwort hieß. Ohne den Zwang, eine Koalition programmatisch begründen zu müssen, wie es das Konzept der Wirtschaftsdemokratie zumindest objektiv getan hatte, und unter dem Eindruck der ökonomischen und politischen Folgen der Wirtschaftskrise, bedeutet es eine Rückkehr zu einer im engeren Sinne marxistischen Interpretation der Entwicklung, verzichtete aber vollständig auf eine analytische Anstrengung, wie sie das „Wirtschaftsdemokratie-Konzept" immerhin im Ansatz versucht hatte. Die alte Zusammenbruchstheorie lebte wieder auf. In ihrem Grundirrtum, die kapitalistische Krise sei die Endkrise des Kapitalismus, waren jedoch die Umbau-Theoretiker nicht allein. Es gelte nun „den Raum zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu gestalten", meinten die Verfasser des „Umbau"-Programms 51 . Wie immer dieser Raum verstanden werden sollte, als Zwischenraum in einer zeitlichen Abfolge oder als „dritter Weg" — zumindest politisch gab es ihn nicht. Diese beiden, in Ansatz, Ziel und Reichweite stark voneinander abweichenden Programme zum Ausbau der Wirtschaft und zur Arbeitsbeschaffung wurden vom Krisenkongreß des A D G B im April 1932 zu einem Programm mit dem Titel „Wiederaufbau durch Arbeitsbeschaffung" aneinandergefügt. Das gewerkschaftliche Arbeitsbeschaffungsprogramm hatte zwar politisch keine Chance, weil die Regierung Brüning es selbstverständlich ablehnte, aber es bekam bei dem Versuch Kurt von Schleichers, eine „Querfront" unter Einschluß des linken NSDAP-Flügels zu bilden, eine gewisse Brückenfunktion. Die „Umbau"-Theoretiker aber bewiesen mit ihren Forderungen, wie sehr die Weltwirtschaftskrise auch eine Krise des Marxismus war 5 2 . 5. Neuordnung nach 1945: Sozialisierung und/oder Mitbestimmung? Die Erfahrung eines ungehemmten Kapitalismus, die Rückkehr zur Autokratie der Unternehmer im Betrieb, wie sie das nationalsozialistische Arbeitsrecht ermöglicht hatte, die Verstrickung großer Teile der deutschen Wirtschaft in den Aufstieg und die Herrschaft des Nationalsozialismus, die Bändigung der ihrer Organisationen beraubten Arbeiterschaft mit einem System von Terror und Bestechung, der Zusammenbruch von Staat und Wirtschaft bei Kriegsende waren die empirischen Voraussetzungen einer programmatischen Neuorientierung der Gewerkschaften in den Jahren des Wiederaufbaus. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß diese Programmatik alles andere als in sich konsistent war.

50

Umbau der Wirtschaft. Die Forderung der Gewerkschaften, Berlin 1932, S. 3. Umbau der Wirtschaft, S. 3. 52 Stephan, C., Wirtschaftsdemokratie und Umbau der Wirtschaft, in: Luthardt, W. (Hrsg.), Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Weimarer Republik. Materialien zur gesellschaftlichen Entwicklung 1927-1933, 2 Bde., Frankfurt/M. 1978, Bd. 1, S. 281353, S. 289. 51

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Zum einen hatte sie sich mit dem Zustand einer zusammengebrochenen Wirtschaft und deren ungewisser Zukunft auseinanderzusetzen, zum anderen mit den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Siegermächte und nicht zuletzt auch damit, daß die Bedingungen der Einheitsgewerkschaft einen viel breiteren innerorganisatorischen Kompromiß erforderten, als dies in der Weimarer Republik nötig gewesen war. Dieser Situation des ersten Nachkriegsjahres, in dem der Zusammenbruch jede theoretische Erörterung über eine künftige Wirtschaftsordnung möglich zu machen schien, gab Hans Böckler auf der eingangs zitierten ersten Gewerkschaftskonferenz im März 1946 Ausdruck. Neue Wirtschaftsformen seien notwendig, doch: „Welches aber sollen die Formen sein? Verstaatlichung auf der ganzen Linie? Genossenschaftliche Betriebsform? ( . . . ) Wir kamen bis jetzt zu keinen Lösungen. Eines steht fest, allergrößter Einfluß der Arbeitnehmer auf die Wirtschaft muß sein". Hauptsächlich um seinen Plan der Einheitsgewerkschaft zu begründen, erläuterte Böckler, wie er den Zustand der deutschen Wirtschaft ein Jahr nach dem Kriegsende einschätzte: „Der Kapitalismus liegt in seinen letzten Zügen. Er ist im Augenblick aktionsunfahig (...) Wir haben nicht mehr den alten Klassengegner gegenüber". Ohne sich auf die künftige Form der Wirtschaft festlegen zu wollen — Böckler dachte zwischen den Polen von Verstaatlichung und Genossenschaft — äußerte er die Überzeugung, die zentralistische Einheitsgewerkschaft in der von ihm bevorzugten Form sei nötig, weil auch die Wirtschaft zentral gelenkt sein werde, denn „Wirtschaft läßt sich nicht von unzähligen Stellen organisieren; sie muß von einer Stelle aus dirigiert werden". Er war offenbar auch bereit, in einer Wirtschaft, in der die Gewerkschaften „der maßgebende Faktor" seien, über das Streikrecht nachzudenken 53 . A u f der überbetrieblichen Ebene dachte Böckler und mit ihm die erste Gewerkschaftskonferenz an eine gleichberechtigte Beteiligung in den Wirtschaftskammern 54. Böckler äußerte jedoch noch einen weiteren Plan, den er aber offenbar nicht abstimmen ließ: „Also der Gedanke ist der: Vertretung in den Vorständen und Aufsichtsräten der Gesellschaften" 55. Das war die Forderung nach Unternehmensmitbestimmung samt Arbeitsdirektor, eingebettet in ein noch vages Konzept einer künftigen Wirtschaft. Ein knappes halbes Jahr später beschlossen die Gewerkschaftsvertreter der britischen Zone, zwar eine Beseitigung der privaten Monopole zu fordern, warnten jedoch davor, „in eine Vielzahl isoliert arbeitender Unternehmen zurückzufallen". Konzerne und Trusts sollten nicht einfach zerschlagen werden, sondern man solle sie „bereinigen" und dann in die staatliche Lenkung

53

Protokoll der ersten Gewerkschaftskonferenz, Hannover 1946, S. 19 f. Vgl. die Entschließung Nr. 6, in: Protokoll der ersten Gewerkschaftskonferenz, Hannover 1946, S. 56. 55 Protokoll der ersten Gewerkschaftskonferenz, Hannover 1946, S. 33. 54

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einbeziehen oder in Staatsbesitz überführen. M i t dem Staat war ein Zentralstaat gemeint; Gemeinden, Provinzen und Ländern sollten lediglich Mitwirkungsrechte eingeräumt werden. Die Parität in Aufsichts- und Kontrollorganen von Unternehmen wurde auf dieser zweiten Konferenz erneut gefordert, doch nicht der „Arbeitsdirektor" als Vorstandsmitglied. Die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat aber sollten von den Gewerkschaften ausgewählt werden, wobei „mindestens zwei aus dem Betriebsrat" 56 genommen werden sollten. Die Gewerkschaften wollten offenbar die „Mitbestimmung" nicht den Betriebsräten überlassen, betriebsegoistischen und syndikalistischen Tendenzen einen Riegel vorschieben; und sie wollten sich den Weg für den Einbau der betrieblichen Mitbestimmung in überbetriebliche, gesamtgesellschaftliche Formen freihalten. Die Mitbestimmung, die von 1947 an in den entflochtenen Werken der Eisenund Stahlindustrie eingeführt wurde und das Modell für die Montanmitbestimmung von 1951 abgab, beruhte also zum Teil auf der entsprechenden gewerkschaftlichen Forderung, zum Teil aber auch auf einer vorübergehenden Konstellation, die sich im Winter 1946/47 ergab 57 . Der „Arbeitsdirektor", über den es bis dahin keinen Kongreßbeschluß gab, wurde den Gewerkschaften im Dezember 1946 zugestanden, Böckler hatte ihn gefordert 58 . Dies aber auch nicht aufgrund plötzlicher Eingebung, sondern weil seit Ende 1945/Anfang 1946 sowohl bei Klöckner wie auch bei den Vereinigten Stahlwerken zwischen Betriebsräten und Unternehmensleitungen entsprechende Verhandlungen begonnen hatten und offenbar keiner der Beteiligten so recht wußte, worauf er sich einließ, als er diesen Schritt wagte 59 . Böckler rechtfertigte seinen Schritt auf dem Gründungskongreß des DGB der britischen Zone im April 1947, indem er sagte: „Das, was in Eisen und Stahl bislang geschehen ist, (ist) nichts anderes als allerhöchstens der erste kleine Schritt zur Demokratisierung eines Teils unserer Wirtschaft ( . . . ) ich hätte mir dauernd einen Vorwurf gemacht, wenn ich versäumt hätte, die Gewerkschaften einzugliedern in Eisen und Stahl ( . . . ) . Wenn ( . . . ) das der einzige Gewinn wäre ( . . . ) , daß wir ein Beispiel gegeben hätten der Möglichkeit eines solchen Verfahrens, so wäre deswegen schon unser Entschluß gerechtfertigt. Wir sehen durchaus nicht einen entschiedenen Anfang einer Sozialisierung in solchen Maßnahmen" 60 .

56

Protokoll der Gewerkschaftskonferenz, Bielefeld 1946, S. 24. Borsdorf, U., Der Anfang vom Ende — die Montanmitbestimmung im politischen Kräftefeld der frühen Bundesrepublik, in: WSI-Mitteilungen 3/1984, S. 181 -195, S. 183, bzw. Thum, H., Mitbestimmung in der Montanindustrie. Der Mythos vom Sieg der Gewerkschaften, Stuttgart 1982. 58 Schmidt, E., Die verhinderte Neuordnung 1945-1952, Frankfurt 1970, S. 76 ff. 59 Vgl. Potthoff, E., Der Kampf um die Montanmitbestimmung, Köln 1957, S. 31 ff. 60 Protokoll 1. Bundeskongreß des DGB für die britische Zone vom 22.-25. April 1947 in Bielefeld, S. 28. 57

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Das Modell der Montanmitbestimmung war also nicht der zuerst verwirklichte Teil eines — 1946 nicht vorhandenen — Gesamtkonzeptes der Gewerkschaften zur Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft, sondern entstand aus der Politik einiger Betriebsräte in der Montanindustrie und einer Konstellation, die sich in der Gemengelage von Entflechtung, Demontage, Sozialisierungsabsichten und Sozialisierungsfurcht um die Jahreswende 1946/47 zwischen der britischen North German Iron and Steel Control (NGISC), den betroffenen Unternehmen und der noch inoffiziellen Gewerkschaftsführung in der britischen Zone unter Hans Böckler ergab 61 . Die Verbindung zur „Wirtschaftsdemokratie-Konzeption" war, wie gezeigt wurde, sehr dünn. I m Frühjahr 1947 war es schwer zu ahnen, daß weitergesteckte Ziele der Gewerkschaften sich nicht würden erreichen lassen und die Mitbestimmung sogar das werden sollte, um das die Gewerkschaften zu kämpfen sich gezwungen sahen.

61 Dazu demnächst: Müller, G., Der Mitbestimmungskonflikt 1945-1948. Britische Besatzungsmacht. Unternehmer und Gewerkschaften in der Auseinandersetzung um die wirtschaftliche Mitbestimmung im Betrieb, Diss, phil., Düsseldorf 1986; sowie die Ergebnisse des Projektes „Mitbestimmung in der Kohle- und Energiewirtschaft der Bundsrepublik Deutschland", das von N. Ranft bearbeitet wird.

Bericht über die Diskussion des Themas „Wirtschaftsdemokratie und Kontrolle in Gewerkschaftstheorien 44 Von Hans Pornschlegel, Dortmund Das Referat Erbes-Séguin schilderte und analysierte den Zusammenhang zwischen Kollektivverhandlungen und Wirtschaftskontrolle in Frankreich, ausgehend von der zentralen Rolle, die früher die Lohnerhöhungen als „allgemeiner Gegenwert" („equivalent général") spielten, die — bei Aufrechterhaltung der relativen Stellung der Arbeitgeberseite — den relativen sozialen und ökonomischen Ausgleich bewirkten. Die Einflüsse der neueren Arbeitsgesetzgebung mit steigender Institutionalisierung und einem Staat, dessen Sozialpolitik in die Krise geriet, wurden analysiert. Die Schwerpunkte der Auseinandersetzung haben sich inzwischen zu Fragen der Arbeitszeit und -bedingungen verschoben. Die zwiespältige Rolle der Mitarbeiter-Mitsprachegruppen (droit d'expression) gegenüber 10 000 Qualitätszirkeln wurde erörtert. Das Auseinanderfallen gewerkschaftlicher Theorie und Praxis wurde verdeutlicht. Politische Vorstellungen der Gewerkschaften müßten nach wie vor über die Parteien vermittelt werden. In der Diskussion wurden anhand der Besetzung der Uhrenfabrik LIP und anderer Unternehmen Anlässe, Methoden und Gründe des Scheiterns solcher Maßnahmen erörtert. Die relativ starke Stellung des Eigentümers und die Notwendigkeit einer — von der Belegschaft angestrebten — entsprechenden Absatz-, Produktions- und Finanzpolitik führten im Verlauf zu Konflikten, die das Scheitern der Experimente beschleunigten. Antigewerkschaftliche Praktiken in Frankreich führen z. B. zum Einsatz von Detekteien seitens der Arbeitgeber, die „handverlesene", nicht gewerkschafts„anfallige" Mitarbeiter aussuchten. Der Typ der „autonomen" Unternehmensgewerkschaft — mit nationalen Zusammenschlüssen — hat sich verbreitet. Die institutionelle und funktionelle Zersplitterung der Rolle von Personalvertretern, Betriebsausschüssen und den Mitarbeiter-Mitsprachegruppen wurde auf dem Hintergrund der französischen Rechtslage ausführlich diskutiert. Hierbei erscheint die Rolle der Mitsprachegruppen besonders ambivalent. Die Gewerkschaft CFDT hat dem Centre National du Recherche Scientifique einen entsprechenden Untersuchungsauftrag erteilt, da bisher vorliegende Erkenntnisse teilweise als günstige Voraussetzungen für gewerkschaftliches Handeln in konkreten Betriebsproblemen darstellen, teilweise wird jedoch diese

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Einrichtung als ein weiteres Instrument zur Aufsplitterung von Belegschaftsvertretungen interpretiert. Der Beitrag Borsdorf hatte Wirtschaftsdemokratie und Mitbestimmung in Theorie und Praxis der deutschen Gewerkschaften zum Gegenstand. Er analysierte ausführlich die immanenten Grenzen von Naphtalis Vorstellungen zur Wirtschaftsdemokratie und die historische Entwicklung der von ihm „theorielos" genannten Mitbestimmung. Es wurden die besonderen historischen Bedingungen deutlich gemacht, welche die Durchsetzung des Montanmitbestimmungsgesetzes 1951 ermöglichten. Borsdorfs Hauptkritik an der Montanmitbestimmungspraxis richtet sich gegen die Rücknahme des gewerkschaftlichen Einflusses auf den Aufsichtsrat und auf die Arbeit der Arbeitsdirektoren und weiteren Mitbestimmungsträgern. Die beiden Ideen zugrundeliegende Konzeption einer Demokratisierung der Wirtschaft wurde von ihm nach wie vor als unverzichtbare, alternativlose Perspektive gesehen. In der lebhaften Diskussion wurden folgende Fragen vor allem angesprochen: — Obgleich den Mitbestimmungsträgern ursprünglich die Wahrnehmung gesamtwirtschaftlicher und -gesellschaftlicher Interessen übertragen werden sollte, konnten diese tatsächlich nicht eingebracht werden; das Unternehmen begrenzte den Handlungsrahmen. — Es fehlt die „Mitbestimmung" am Arbeitsplatz. Dem stimmte der Referent zu, auch sah er — mit den Diskutanten — Grenzen der derzeitigen Praxis im einseitig gehandhabten Prinzip der Repräsentativität. Dies müsse durch geeignete Formen der Beteiligung der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz ergänzt werden, was auch den Vorstellungen des DGB entspräche. Es müsse auch auf den Wertwandel unter der Mitgliedschaft Rücksicht genommen werden, die nicht nur parlamentarische Vertretungsformen wünsche. — Die Isolierung des Montanmitbestimmungs-Modells wurde im Zusammenhang mit den Vorstellungen einer überbetrieblichen Mitbestimmung in Wirtschafts- und Sozial- sowie Strukturräten als nach wie vor zur Lösung anstehende Probleme angesprochen, die auch verstärkt Fragen der Gesundheit und der Umwelt einzubeziehen hätten. — Der Theoriegehalt der Mitbestimmungsidee wurde außerordentlich kontrovers diskutiert; ebenso war Borsdorfs These von der Unattraktivität des Sozialismus für den Arbeiter aufgrund erkennbarer Erfahrungen in Osteuropa umstritten. — Unbeschadet einiger funktioneller Probleme erscheine die Montanmitbestimmung nach wie vor als funktionsfähig. Ihre Beeinträchtigung und Gefahrdung komme vor allem aus den Rahmenbedingungen und Strukturen der Montanindustrien.

Diskussion „Wirtschaftsdemokratie und Kontrolle in Gewerkschaftstheorien" 157

— Die Notwendigkeit, aber auch die Schwierigkeiten der Verteidigung des Modells der Montanmitbestimmung wurde vor allem von Vertretern aus dem Bereich der IGBE dargelegt. Borsdorf betonte den revisionistischen Charakter der Idee von Wirtschaftsdemokratie und Mitbestimmung. Er warnte vor dem Irrtum, eine Krise im Kapitalismus, wie sie sicher gegeben sei, mit einer Krise des Kapitalismus zu verwechseln. Ein Diskutant betonte die Notwendigkeit einer neuen Sozialismusdiskussion in den Gewerkschaften; doch wurde diese These im Hinblick auf die Probleme einer Einheitsgewerkschaft in Frage gestellt. Im Gesamtzusammenhang des Themas wurde die Rolle von Wissenschaft für die Gewerkschaften in Frage gestellt und für Konzentration auf pragmatische Lösungen dringlicher Probleme plädiert. Dem wurde lebhaft widersprochen: Gewerkschaftsprogrammatik, Strategieentwicklung und Handlungsorientierung seien ohne wissenschaftliche Vorleistungen auch in den Gewerkschaften nicht denkbar. Sabine Erbes-Séguin sieht im fehlenden wissenschaftlichen Hintergrund und Personal der französischen Gewerkschaftsarbeit — aus Mangel an Mitteln — einen wesentlichen Grund für deren Schwäche. M i t einer Charakterisierung der Grenzen der Mitbestimmung — und alternativer Modelle — in lohnabhängigen Arbeitsverhältnissen, in der Kapitalbeschaffung und -Sicherung der Unternehmen sowie in den Marktkräften beendet der Diskussionsleiter die Aussprache.

V. Arbeitsmarkt und Kollektiwerhandlungen in Gewerkschaftstheorien

Das Beispiel der italienischen Gewerkschaften Von Sophie G. Alf, Rom 1. Einleitende Bemerkungen Die Formulierung der vorgegebenen Fragestellung dieses Referats hat mich etwas ratlos gemacht. Nach meinen Erfahrungen sind nämlich das gewerkschaftliche Selbstverständnis und die Analysen und Interpretationen, die gewerkschaftliches Handeln leiten, kaum je direkter Ausfluß von Theorien. Auch im Nachhinein unternehmen Gewerkschaften selten eine systematische Anstrengung, Geschehenes theoretisch aufzuarbeiten, zu sehr sind sie Ausdruck des Hier und Heute. Unbestreitbar haben verschiedene Gewerkschaftsorganisationen unterschiedliche Gesellschaftsbilder und politische Bezugsrahmen und diese sind um so klarer definiert, je stärker sich eine Gewerkschaft auf eine verbündete politische Partei (christliche, sozialistische, sozialdemokratische oder kommunistische) bezieht. Aber die Mehrzahl sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien in Westeuropa hat durch die Übernahme von Regierungsverantwortung oder einer verantwortlichen Oppositionsrolle einen stärker pragmatischen als programmatischen Charakter angenommen und damit klare ideologische Konturen verloren, die sich an Theorien festmachten. Damit will ich nicht unterstellen, daß das Handeln von Gewerkschaften und politischen Parteien des „linken Spektrums" ein bloßes begriffsloses in den Tag „Hineinwursteln" ist. Aber die Interaktion von Begreifen, sich einen-Begriffmachen (Theorie) und Handeln ist nicht unmittelbar, sondern findet in einem Prozeß statt, der dem der geologischen Sedimentierungen vergleichbar ist, in denen sich Altes mit Neuem überlagert, Altes mitgeschleppt und nur langsam mit Neuem ergänzt wird. Doch hat es in diesem Jahrhundert für die Organisationen der Arbeiterbewegung dramatische Sprünge gegeben, wie die Erfahrung der Oktoberrevolution und des Faschismus und Nationalsozialismus und die daraus resultierende Spaltung in feindliche Blöcke zeigt. Nach der relativ kurzen Phase der Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg haben aber in der Mehrzahl der europäischen Gewerkschaften Vorstellungen die Oberhand gewonnen, die von einer relativ stabilen linearen Entwicklung des wirtschaftlichen Wachstums, der Ausweitung sozialstaatlicher Garantien und einer nicht grundsätzlich gefährdeten Vollbeschäftigung als unwiderruflich erreichter Entwicklungsstufe ausgingen. Diese Überzeugungen, lange von der Realität bestätigt, sind nun seit einem Jahrzehnt gründlich erschüttert; aber es 11 Tagung Dortmund 1985

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hat Zeit gebraucht, ehe die Gewerkschaften — und nicht nur sie — wahrgenommen haben, daß es sich bei der Krise, deren Beginn gewöhnlich (unzulässig vereinfachend) mit dem ersten Erdölpreisschock von 1973 gleichgesetzt wird, nicht lediglich um einen vorübergehenden Einbruch, sondern um eine grundsätzliche historische Zäsur handelte. Erst 1979 stellte der damalige DGB-Vorsitzende, Heinz Oskar Vetter, auf dem DGB-Kongreß in München die gewerkschaftliche Strategie der Lohnmäßigung als Mittel zur Überwindung der Krise infrage. Die Formel: der Lohnverzicht von heute, das sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen — war damit in den Augen der Gewerkschaften endgültig unglaubwürdig geworden. Andererseits ergab sich aus dieser Einsicht in die Realität des „jobless growth", des Wachstums ohne vermehrte Beschäftigung, nicht unmittelbar eine Alternative. Die gängigen Vorschläge, nämlich dieser Entwicklung mit einer entscheidenden staatlichen Nachfragestützung entgegenzutreten und die staatliche Regulierung der Produktion und Verteilung gesellschaftlichen Reichtums überhaupt zu verstärken, erfuhren in dem einzigen europäischen Land, in dem sie durch den Wahlsieg der französischen Linkspartei im Mai 1981 „an die Macht gelangten", schnell eine deutliche Niederlage. Ratlosigkeit breitete sich aus, gemischt mit einer wachsenden Bereitschaft, die in der Vergangenheit erworbenen „Besitzstände" jedenfalls nicht widerstandslos aufzugeben. Aber auch dies hat etwas Hilfloses, Vorläufiges, ist wie von der Ahnung getragen, daß das Rüstzeug der Vergangenheit nicht mehr ausreicht und neues noch kaum in Sicht ist. Zusätzliche Verunsicherungen entstanden durch scheinbare Widersprüche wie dem, daß das Wählerpotential mit Fortschreiten der Krise keineswegs klare Mehrheiten für sozialistische oder sozialdemokratische Parteien schuf, sondern daß es im Gegenteil klare Mehrheitsentscheidungen für eine politische Wende nach rechts gab (von Ausnahmen, die fast als Anomalien erscheinen, abgesehen). Diese konservativ-rechten Kräfte der „Wende", überzeugt vom Ursprung aller Übel und Turbulenzen in den Störungen des freien Waltens des Markts, wobei Gewerkschaften häufig als hauptverantwortliche Störfaktoren gebrandmarkt wurden, repräsentieren also demokratisch legitimierte Mehrheiten. Auch dies hat ein übriges beigetragen zur wachsenden Ratlosigkeit der Gewerkschaften, die sich ausdrückt in Fragen wie „Überleben oder Überwintern?", wobei die Alternative auch davon abhängt, wie weit es den Gewerkschaften gelingen wird, dem fortschreitenden Prozeß der Zersplitterung des Arbeitsmarkts entgegenzuwirken. Die unterschiedliche Krisenbetroffenheit verschiedener Regionen, Branchen, Betriebe und Arbeitnehmergruppen führt zusammen mit der hohen Arbeitslosigkeit zu einer Entsolidarisierung, der Gewerkschaften um den Preis ihrer eigenen Zukunft gegensteuern müssen. Wenn sie dies auch inzwischen weitgehend als ihr vordringlichstes Problem erkannt haben, so fehlt jedoch eine

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Theorie, die eine Strategie der politischen Vereinheitlichung begründen könnte. Die vorhandenen Vorstellungen über die gewerkschaftlichen Aufgaben angesichts dieser Situation können zudem auch innerhalb einer Einheitsgewerkschaft unterschiedlich sein, sei es zwischen den Einzelgewerkschaften oder auf verschiedenen Ebenen der Organisation. U m so wahrscheinlicher sind Differenzen dieser Art in Richtungsgewerkschaften verschiedener ideologischer Tradition und Parteibindung, wie sie in Italien bestehen.

2. Die italienischen Gewerkschaften und die Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen in Italien In Italien gibt es drei große, miteinander konkurrierende Richtungsgewerkschaften: CGIL: kommunistisch-sozialistische Richtungsgewerkschaft, Mitgliederstand 1983: 3.157.214 unter den aktiv Erwerbstätigen (und fast 1,4 Millionen Rentner), vertritt 46,8 % der in den drei großen Dach verbänden organisierten Gewerkschaftsmitglieder; CISL: linkskatholische Tradition, in der Vergangenheit starke Bindung an die christdemokratische Partei, in den letzten fünfzehn Jahren zunehmende Autonomie. Mitgliederstand 1983: 2.357.140 aktiv Erwerbstätige (und fast 600000 Rentner), vertritt 34,8 % der Gewerkschaftsmitglieder der drei Dachverbände; UIL:

Bindungen an die sozialistische, die sozialdemokratische und d#ie republikanische Partei. Mitgliederstand 1983: 1.232.669 (und über 1,1 Millionen Rentner, vertritt 18,3% der Gewerkschaftsmitglieder der drei Dachverbände.

Von den 14,8 Millionen abhängig Beschäftigten Italiens waren also 1983 6.747.497 in einem der drei großen Dachverbände organisiert, die zwischen 1972 und 1984 in der Einheitsförderation CGIL-CISL-UIL verbunden waren. Dies entspricht einem Organisationsgrad von 45,5%. Seit 1980 ist jedoch ein ununterbrochener Mitgliederverlust im Gang: allein die C G I L hat zwischen 1980 und 1984 453.114 Mitglieder verloren und nur noch unter den Rentnern zugenommen. Auch der Versuch, arbeitslose Jugendliche zu organisieren, ist gescheitert: von 14.060 im Jahr 1982 ist die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder auf 8.600 im Jahr 1984 gesunken. Da es auch den beiden anderen Gewerkschaften ähnlich geht und deren Mitgliedszahlen inzwischen nur noch unter den Rentnern steigen (die Rentneranteile betragen inzwischen für die C G I L 31 %, für die CISL 24 % und für die U I L 9 % der Gesamtmitgliedschaften), zeichnet sich hier eine Entwicklung ab, die die Gefahr der „Entsyndikalisierung" real erscheinen läßt. Neben den drei großen Dachverbänden gibt es zahlreiche sogenannte autonome Gewerkschaften, die insgesamt nur etwa 500.000 Mitglieder, jedoch in einigen Organisationsbereichen, vor allem des öffentlichen Dienstes, großen 11

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Einfluß haben. In den jüngsten Jahren gibt es außerdem von Seiten einiger Arbeitnehmergruppen (vor allem mittleren und höheren Angestelltengruppen im kaufmännischen und technischen Bereich) starke Bestrebungen, sich dem Vertretungsanspruch durch die großen Gewerkschaften zu entziehen und eigene paragewerkschaftliche Vereinigungen zu begründen. Die Konstituierung selbständiger Berufsgewerkschaften ist bisher allerdings nicht erfolgt, nicht zuletzt weil diese Entwicklung auch von der Mehrheit der Arbeitgeber nicht ermutigt worden ist. Es handelt sich jedoch um pressure groups wachsender Stärke, die den Gewerkschaften große Probleme schaffen. Der Grad der Verrechtlichung der italienischen Gewerkschaften ist formal sehr gering. In der Verfassung gibt es nur wenige Artikel, die die Gewerkschaften betreffen, vor allem die Artikel 39 und 40, für die allerdings bis heute die vorgesehenen Ausführungsgesetze fehlen. Der Artikel 39 besagt: „Die Gewerkschaften unterliegen keiner anderen Verpflichtung als ihrer gemäß den Normen des Gesetzes zu erfolgenden Eintragung bei den lokalen oder zentralen Ämtern. Bedingung für die Eintragung ist, daß die Gewerkschaftsstatuten eine interne Ordnung auf demokratischer Grundlage aufweisen. Die eingetragenen Gewerkschaften sind juristische Personen. Aufgrund einer einheitlichen, ihrer Mitgliederzahl entsprechenden Vertretung, können sie kollektive Arbeitsverträge abschließen, welche für alle Angehörigen der Berufsstände zwangsläufig bindend sind, auf die sie sich beziehen."

Die in der Verfassungsnorm vorgeschriebene Eintragung und die damit verbundene Erklärung der Gewerkschaften zu juristischen Personen sind nie erfolgt. Bis heute tragen die Generalsekretäre der Gewerkschaftsbünde die rechtliche Verantwortung, nicht ihre Organisationen. Allerdings hat das Arbeiterstatut von 1970 (das mit seinen knapp 30 Artikeln bis heute die umfangreichste geschlossene Gewerkschaftsgesetzgebung darstellt) den Artikel 39 der Verfassung aufgenommen und verändert, in dem es (in Art. 19) eindeutig die „repräsentativen Gewerkschaftsorganisationen" privilegiert und damit praktisch eine Ausschlußklausel gegenüber allen Gewerkschaften schafft, die nicht den drei großen Dachorganisationen angehören. Außerdem sind im Jahre 1957 die Kollektivverträge als allgemeingültig („erga omnes") erklärt worden, obwohl aufgrund der Nichterfüllung des Artikels 39 der Verfassung das Verfassungsgericht hiergegen wiederholt Bedenken angemeldet hat. Der Artikel 40 der Verfassung regelt in einem lapidaren Satz das Streikrecht: „Das Streikrecht wird wahrgenommen im Rahmen der darüber bestehenden Gesetze".

Diese Gesetze gibt es nicht, wurden aber in den letzten Jahren immer wieder gefordert, was bislang nur zur Formulierung eines gewerkschaftsinternen Verhaltenskodex geführt hat, indem sich diese verpflichten, Streiks in lebenswichtigen Bereichen der öffentlichen Dienstleistungen nach bestimmten Modalitäten durchzuführen (Vorankündigung, Garantie der Mindestversorgung etc), ohne daß dies zur Anerkennung eines ultima-ratio-Prinzips schlechthin geführt hätte.

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3. Die Grundzüge der Gewerkschaftspolitik in den jüngsten Jahren Die Entwicklung der italienischen Gewerkschaften bis zu den frühen siebziger Jahren wird in groben Zügen als bekannt vorausgesetzt. In den Jahren 1968 bis 1975 kam es zur Entfaltung einer außerordentlich starken Macht der Gewerkschaften, die sich auf die Mobilisierung der Basis, die Entstehung basisdemokratischer Strukturen (Delegiertenräte), einen wachsenden Organisationsgrad und die weitreichende Überwindung der zwischengewerkschaftlichen Konkurrenz stützen konnte. Die Annäherung zwischen den Richtungsgewerkschaften wurde gefördert durch die Unvereinbarkeitserklärung von politischen und gewerkschaftlichen Funktionen, was 1972 die Bildung der sogenannten Einheitsföderation CGIL-CISL-UIL ermöglichte (paritätisch zusammengesetztes Gremium von 90 Personen), die als Vorstufe zu einer möglichen Verschmelzung in einer gemeinsamen Organisation konzipiert war. An der Spitze und an der Basis (mit den einheitlichen Delegiertenräten) wurde damit eine Vereinheitlichung erreicht. Auch einige Industriegewerkschaften (vor allem Metall, Textil und Chemie) schlossen sich eng zusammen. In jenen Jahren entstand das neue gewerkschaftliche Verhandlungssystem der sogenannten „artikulierten" Verhandlungsebenen: dreijährige nationale Kollektiwerträge auf Branchenebene, dazwischen betriebliche Verhandlungsrunden. Andererseits gewann auch die Ebene der Spitzen Verhandlungen zunehmende Bedeutung, auf der die Einheitsföderation sowohl gegenüber den Regierungen als auch gegenüber den Arbeitgeberverbänden als Verhandlungspartner fungierte. 1 Die Gewerkschaftsstrategien zielten auf eine Veränderung des Arbeitsmilieus und der Arbeitsorganisation ab, auf höhere Löhne und eine einheitliche Einstufung von Arbeitern und Angestellten innerhalb einer neuen Lohnstruktur, die eine starke Verringerung der Lohn- und Gehaltsgruppen und der Unterschiede in der Bezahlung sowie auch die arbeitsrechtliche Gleichstellung verschiedener Arbeitnehmergruppen anstrebte. Außerhalb der Betriebe wurden die Gewerkschaften gleichzeitig zur stärksten Massenbewegung im Kampf um soziale Reformen; Sie wurden Adressaten unerfüllter Ansprüche und Forderungen auch von Gesellschaftsschichten, die nicht zu den Lohnabhängigen gehörten. Man sprach in diesem Zusammenhang von „pansyndikalistischen" Bestrebungen und einem illegitimen Versuch der Gewerkschaften, in den Zuständigkeitsbereich der politischen Parteien und des Parlaments einzudringen. Die starke Mobilisierungswelle jener Jahre schwemmte die kommunistische Partei zu ihren Wahlerfolgen von 1975 und 1976 und in den Bereich der Regierungsverantwortung. 1

Die verschiedenen Aspekte gewerkschaftlicher Verhandlungspolitik waren Gegenstand der 16. Internationalen Tagung der Sozialakademie Dortmund von 1981. Vgl. Peter Kühne (Hrsg.) Gewerkschaftliche Betriebspolitik in Westeuropa. Vergleiche und Möglichkeiten der Zusammenarbeit, Berlin, 1982.

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In der Folge der ersten Erdölpreiskrise kam es zu einer dramatischen Verschlechterung der ökonomischen Bedingungen, die sich in hohen Handelsund Zahlungsbilanzschwierigkeiten, extrem hohen Inflationsraten (1974: 19,6%; 1975: 17,1%) und dem Zwang zu mehreren Abwertungen der Lira ausdrückten. Unter diesen Bedingungen wurde das Jahr 1975 gleichzeitig zum Höhe- und zum Umkehrpunkt der außerordentlichen gewerkschaftlichen Machtentfaltung der vorausgegangenen Jahre. In jenem Jahr schlossen die Zentralvereinigung der italienischen Arbeitgeberverbände (Confindustria) und die Einheitsföderation CGIL-CISL-UIL ein folgenreiches Abkommen ab, in dem ein neuer Mechanismus für die Berechnung der „gleitenden Lohnskala", des seit den unmittelbaren Nachkriegsjahren bestehenden Teuerungsausgleichs für Löhne und Gehälter, vereinbart wurde. Während dieser Ausgleich zuvor differenziert nach Lohn- und Gehaltsgruppen erfolgte, wurde mit dem Abkommen von 1975 ein im Geldausdruck gleicher Indexpunkt eingeführt. Dieses Abkommen wurde von den Gewerkschaften als Höhepunkt der egalitaristischen Einkommensstrategie gefeiert und als wirksamer Schutz vor inflationsbedingten Einkommensverlusten: im Gegenzug wurde jedoch von den Gewerkschaften eine Mäßigung der Lohnforderungen erwartet. Dies schränkte ihren Verhandlungsspielraum erheblich ein. Erst im Laufe der Jahre danach erwiesen sich die Nachteile dieses Abkommens klar: die automatischen Lohnerhöhungen über die „gleitende Lohnskala" wurden zu einer Selbstverständlichkeit, ohne daß ausreichend bewußt blieb, daß sie gewerkschaftlichen Anstrengungen geschuldet waren. Die geringen Verhandlungsspielräume in den Lohnverhandlungen führten zudem dazu, daß das gewerkschaftliche Lohngefüge immer stärker aus dem Gleichgewicht geriet, weil die Erhöhungen aus dem Inflationsausgleich aufgrund ihrer Vereinheitlichung eine extrem nivellierende Wirkung hatten. Zum anderen schützte der automatische Inflationsausgleich lediglich die Bruttolöhne vor der Auszehrung durch Inflation. Diese gerieten jedoch immer schneller in die Spirale der über lange Jahre nie berichtigten Steuerprogression, was einen zusätzlich nivellierenden Einfluß zugunsten der niedrigeren Lohn- und Gehaltsgruppen ausübte. Die Nichtberichtigung der Steuerprogression führte zu höheren Steuereinnahmen für die Regierungen, und dies ermöglichte steigende Transferleistungen an die Unternehmen sowie die Finanzierung der wachsenden Kosten der Lohnausgleichskasse. Dieses alte Institut der italienischen Arbeitsmarktpolitik war gleichzeitig mit dem Abkommen über die Neuregelung des Inflationsausgleichs von 1975 reformiert worden, vor allem zugunsten der sog. „außerordentlichen" Lohnausgleichskasse, die im Falle von Strukturkrisen einzelner Unternehmen oder ganzer Branchen Entlassungen vermeiden hilft, indem die Lohnersatzleistungen vom Staat übernommen werden. Zurecht mag hier ein ungeduldiger Vorwurf geäußert werden, was dies alles mit dem eigentlich hier gestellten Thema, nämlich dem Arbeitsmarkt, zu tun habe. Ich versuche, schnell dorthin zu gelangen, aber die aus dem Abkommen

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von 1975 entstandenen Probleme sind für die italienischen Gewerkschaften und ihre heutige Krise derart zentral, so daß ein knapper Rekurs darauf unverzichtbar ist. Außerdem ist hier bereits ein direkt unser Thema berührendes Problem angelegt: das Abkommen von 1975 in seinen beiden Aspekten, nämlich automatischer, im Geld für alle gleicher Inflationsausgleich und Lohnmäßigung einerseits, die finanzielle Auspolsterung der Lohnausgleichskasse und ihre entlassungsverhindernde Funktion andererseits, löste im Verlauf des darauffolgenden Jahrzehnts zwei Wirkungen aus: Zum einen ergaben sich aus der starken Nivellierung der Einkommensunterschiede Vertretungsprobleme der Gewerkschaften im Bereich der Höherqualifizierten und deren nachlassende Bereitschaft zur Solidarität mit den „Opfern des Arbeitsmarkts". Andererseits bestand ein relativ starker Kündigungsschutz, garantiert durch die Lohnausgleichskasse, für den Teil der Lohnabhängigen, die in den Schutzbereich dieser Regelung fallen. Damit verstärkte sich die Spaltung zwischen einem „garantierten" und einem „prekären" Arbeitsmarkt. Diese Probleme, obgleich klar angelegt, bleiben in den Jahren 1976-79 weitgehend im Hintergrund. Die indirekte Regierungsbeteiligung der kommunistischen Partei, ermöglicht durch ihre starken Stimmengewinne in den Wahlen von 1975 und 1976, erschien den Gewerkschaften als eine Chance, lange geforderte Strukturreformen (im Bereich der Sozial-, Arbeitsmarkt- und Industriepolitik) durchzusetzen und auf diesem Wege wirtschaftlichen Fehlentwicklungen gegenzusteuern. Die Lohnpolitik geriet gegenüber diesen Zielen in den Hintergrund. Tatsächlich gelang in jenen Jahren ein ökonomischer Sanierungsprozeß (Senkung der Inflationsrate und des Handels- und Zahlungsbilanzdefizits). Auch wurde ein wichtiges Gesetz zur Bekämpfung der hohen Jugendarbeitslosigkeit erlassen, das allerdings mehr Hoffnungen schuf als schließlich eingelöst wurden. Nicht zuletzt unter der massiven Bedrohung durch den Terrorismus, die in jenen Jahren entstand, blieb vieles Stückwerk, da sich zunehmend alle politischen Anstrengungen auf die Bekämpfung dieser Gefahr richteten und ein „Ausnahmezustand" entstand, der alle anderen Probleme als zweitrangig erscheinen ließ. Im selben Jahr 1979, als an dieser extremen Zerreißprobe auch die Koalition der Nationalen Einheit zerbrach und die K P I auf einen harten Oppositionskurs umschwenkte, machte der zweite Erdölpreisschock auch die unzulänglichen Bemühungen um die Überwindung der Wirtschaftskrise zunichte. Die Inflation stieg sehr schnell wieder auf bedrohlich hohe Raten an. Nicht zuletzt in der Folge der neueren politischen Entwicklung gingen die Arbeitgeber auf einen harten Konfrontationskurs zu den Gewerkschaften. Die Erneuerung der 1978 abgelaufenen Kollektiwerträge erforderte sechs Monate und weite Streikbewegungen, ohne daß die Ergebnisse positiv bewertet werden konnten. Geforderte Arbeitszeitverkürzungen blieben an eine Überprüfung der Produktivitätsfortschritte gebunden und wurden dann nicht verwirklicht, die Lohnzuwächse waren gering und die Gewerkschaften hatten große Mühe, sie so zu

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verteilen, daß der entstandenen Einkommensnivellierung zumindest entgegengesteuert wurde, was letzten Endes niemanden zufrieden stellte. Die seit den Kollektivverträgen von 1976 erlangten Informationsrechte wurden erweitert, doch gelang es den Gewerkschaften auch weiterhin nicht, diese wirklich umzusetzen. Die achtziger Jahre begannen im Zeichen einer historischen Niederlage der Gewerkschaften, als sie anläßlich der angekündigten Massenentlassungen bei FIAT (dem großen Automobilkonzern, der in Italien immer als „Gewerkschaftsbarometer" funktioniert hat), in einen 35-tägigen Totalstreik traten. Dieser radikalisierte sich um so stärker, je mehr Beschäftigte ihr „Recht auf Arbeit" forderten. Durch den Protestmarsch Zehntausender von FIAT-Beschäftigten (der sogenannte Marsch der 40 000), unterstützt von einem Großteil der Turiner Bevölkerung, erlitten die Gewerkschaften eine traumatische Niederlage. Zwar erreichten sie ein Abkommen, das sofortige Entlassungen zugunsten der Lohnausgleichskasse vermied; doch wäre dieses Ergebnis auch ohne den Streik möglich gewesen. Stattdessen besiegelte der Ausgang dieser Auseinandersetzung eine Spaltung innerhalb der abhängig Beschäftigten, die bereits zuvor latent angelegt war, die aber die Gewerkschaften und in erster Linie die CGIL, in eine mit ihrem Selbstverständnis, alle Lohnabhängigen zu vertreten, schwer zu vereinbarende Lage brachte. Immer stärker erschien die C G I L als eine Organisation, die historische Relikte, wie den angelernten Massenarbeiter der industriellen Serienproduktion vertrat, der durch die massiven Umstrukturierungsprozesse in der Industrie zunehmend seine zentrale Rolle einbüßte. Die Niederlage bei FIAT hatte Signalwirkung, die Gewerkschaften wurden zunehmend in einen rein defensiven Kampf um die Erhaltung von Arbeitsplätzen gezwungen und in den Augen der öffentlichen Meinung als die Hauptverantwortlichen der Wirtschaftskrise stigmatisiert. Das gesellschaftliche Kräfteverhältnis, das sich seit 1968 zugunsten der Gewerkschaften verschoben hatte, kehrte sich um. In den darauffolgenden Jahren wurde ein Großteil der gewerkschaftlichen Kraft in schwierigen und langwierigen Verhandlungen mit den Arbeitgeberverbänden und den Regierungen aufgerieben, in deren Zentrum vordergründig eine Neuformulierung des Abkommens über den Inflationsausgleich von 1975 (im Jahre 1982 von den Arbeitgebern aufgekündigt) stand, die im Kern jedoch auf eine totale Neuorientierung der Rolle und Funktion der Gewerkschaften im gesellschaftspolitischen Kontext abzielte. Die Herausforderung war stark genug, alte ideologische Differenzen zwischen den drei Gewerkschaftsorganisationen, die in dem Jahrzehnt größter Machtentfaltung zu einer fruchtbaren Synthese gefunden hatten, wieder aufbrechen zu lassen. Daran zerbrach im Jahre 1984 auch der Einheitspakt und die organisatorische Lösung der Einheitsföderation. Im Verlauf dieser Auseinandersetzung, deren Details oft extrem technischer Natur waren, nur noch für engagierte Aktivisten verständlich, veränderte sich

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die Natur der italienischen Gewerkschaften, von ihnen selbst fast unbemerkt, in einer ganz gravierenden Weise: von gesellschaftlichen Massenorganisationen, fähig eben, diese Massen zu lenken und zu motivieren, entschwebten sie zunehmend in ein direkten Bedürfnissen und Erwartungen unerreichbares politisches Gefilde, den politischen Parteien und ihrer grundsätzlichen politischen Sonntagsreden immer ähnlicher. Ob diese Entwicklung vermeidbar gewesen wäre und unter welchen Bedingungen, ist eine Frage, die hier nicht geklärt werden kann. Das Nachdenken darüber und die Bereitschaft zur Selbstkritik hat jedoch in jüngster Zeit in den italienischen Gewerkschaften begonnen. Wahrscheinlich ist es in Zeiten großer und in beschleunigtem Tempo stattfindener Umwälzungsprozesse gerade für große Massenorganisationen, wie Gewerkschaften, schwer, angemessen schnell und vorurteilslos auf neue Situationen aktiv zu antworten. Die italienischen Gewerkschaften strudelten jedenfalls immer stärker in eine Strömung, die sie nur noch defensiv handlungsfähig werden ließ, eine Defensive, die gegenüber der traditionellen Basis zudem wenig erfolgreich war und alle Kräfte band, die notwendig gewesen wären, um eine breitere Legitimation gegenüber neuen Interessenlagen und Bedürfnissen herzustellen. Der wachsende Teil der vom gewerkschaftlich garantierten Arbeitsmarkt Ausgeschlossenen, d. h. vor allem arbeitslose Jugendliche, wurden auf diese Weise den Gewerkschaften gegenüber indifferent, wo nicht zu potentiellen Gegnern. Durch die Ausdifferenzierung innerhalb der stabil Beschäftigten, ihre Zersplitterung in unterschiedliche, manchmal gegensätzliche Interessenlagen, büßten die Gewerkschaften zusätzlich an Legitimation ein. Ihr Anspruch, außer den Interessen der Lohnabhängigen auch die allgemeinen Interessen des Landes wahrnehmen zu wollen, scheiterte nicht nur an dem entschiedenen Kurs der Unternehmer, in vergangenen Jahren verlorene Dispositions- und Entscheidungsspielräume zurückzugewinnen, sondern auch an der extremen politischen Instabilität. Arbeitsmarktund Beschäftigungspolitik kann nie ein ausschließlich gewerkschaftliches Handlungsfeld sein, sondern ist, zumal in Krisenperioden, stark auf die staatliche Intervention angewiesen, auf entscheidungsfahige politische Mehrheiten, wie es sie in Italien nicht gibt. Die Gewerkschaften allein konnten dieses Vakuum nicht ausfüllen, obwohl ihnen die aus der negativen Arbeitsmarktsituation drohenden Gefahren bewußt waren. Die CISL versuchte mit verschiedenen Vorschlägen, die Solidarität zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen zu stärken, und die C G I L stellte bereits ihren Nationalen Kongreß von 1981 unter das Motto der „Wiedervereinigung des Arbeitsmarkts". Dennoch blieb über lange Jahre die gewerkschaftliche Kraft gebunden durch die Probleme der Lohnindexierung und Besteuerung, letzten Endes also Fragen der Reallohnverteidigung der tarifvertraglich abgesicherten Teile der Beschäftigten.

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4. Gewerkschaften und Arbeitsmarkt Der zentrale Konflikt der frühen achtziger Jahre, der das Arbeitgeberlager, wechselnde Regierungen und die Gewerkschaften in mühseligen und langwierigen Verhandlungen band, war der grundsätzliche Verteilungskonflikt unter den verschärften Bedingungen extrem hoher Inflationsraten. Der Einzug der neuen Technologien, damit verringertem Arbeitskräftebedarf und radikale Veränderungen der Angebots- und Nachfragebedingungen auf dem Arbeitsmarkt, im Rahmen einer stagnierenden Produktion, blieb zwangsläufig am Rande der Wahrnehmung. Arbeitslosigkeit wurde in erster Linie zu einem Generationsproblem, indem ein großer Teil der zudem besonders zahlenreichen jungen Jahrgänge vom geregelten und gewerkschaftlicher Kontrolle unterworfenen Arbeitsmarkt von vornherein ausgeschlossen blieb. Die gewerkschaftliche Einflußmöglichkeit reichte gerade noch so weit, die Opfer der industriellen Umstrukturierungsprozesse in den mittleren und großen Industriebetrieben durch den Rückgriff auf die Lohnausgleichskasse zu sichern (die weder für den Bereich der weitverbreiteten Handwerksbetriebe noch für den privaten Dienstleistungssektor Geltung hat). Die wenigen vorhandenen Garantien gegen Arbeitslosigkeit in Anspruch zu nehmen und zu verteidigen, bedeutete angesichts des Fehlens umfassend orientierter Sicherungssysteme gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit notwendig einen Rollenwechsel für die Gewerkschaften. Gegen ihr Selbstverständnis, ihre politischen Traditionen und gegen ihren Willen wurden sie zu einem Faktor, der die Segmentierungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt verstärkte und befestigte. Wirtschaftlich schwache Gebiete sowie die Arbeitskräfte der kleinen Betriebe im Handwerks- und Dienstleistungsbereich fielen weitgehend aus gesetzlichen und gewerkschaftlichen Schutzbestimmungen heraus. Daneben gab und gibt es allerdings noch den breiten Bereich des schwarzen Arbeitsmarkts, dessen realer Umfang auf Schätzungen angewiesen ist. Zu diesem Bereich gehören etwa 500 000 arbeitende Kinder im schulpflichtigen Alter, zwischen 500 000 und 700 000 ohne Arbeitserlaubnis arbeitende Arbeitsimigranten (aus den Maghreb-Ländern, Schwarzafrika u.a.). Dazu kommen etwa 700 000 Heimarbeiter, die trotz aller gewerkschaftlichen Anstrengungen auch weiterhin fast vollständig von Schutzbestimmungen ausgeschlossen sind. Selbst das Arbeitsministerium ist auf Schätzungen angewiesen, in denen es zu einer Zahl von 1 950 000 Personen gelangt, die einer nicht gesetzlichen oder tarifvertraglich geregelten Beschäftigung nachgehen. In dieser Zahl sind nicht die geschätzten 2 Millionen Personen berücksichtigt, die neben einer geregelten, versicherungspflichtigen Hauptbeschäftigung regelmäßig Nebenbeschäftigungen nachgehen, die Einkommen ermöglichen, auf die weder Steuern noch Sozialversicherungen gezahlt werden. Der Bereich der schwarzen Nebentätigkeiten reicht dabei hinein in den gewerkschaftlichen Regelungsbereich, ebenso wie die Schwarzarbeit derjenigen, die oft seit Jahren weiterhin als beschäftigt gelten, die Lohnausgleichszahlungen der öffentlichen Kasse beziehen und aufbauend auf dieser Grundsicherung einer „schwarzen" Tätigkeit als

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Lohnabhängige oder Selbständige nachgehen. Im Jahre 1984 entsprachen die Stunden, die aus der Lohnausgleichskasse vergütet wurden, 314 000 VollzeitArbeitnehmern, die nicht in der Arbeitslosenstatistik auftauchen, da sie weiterhin formal Beschäftigte ihrer früheren Arbeitgeber bleiben. Die nachstehend aufgeführten Tabellen geben einen guten Überblick über die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, wobei betont werden muß, daß viele der oben genannten Phänomene der offiziellen statistischen Erfassung unzugänglich sind. Die erste Tabelle zeigt die Entwicklung der Erwerbsbevölkerung, der Beschäftigung und der Arbeitslosigkeit im Zeitraum 1974-84. A n ihr sind die wichtigsten Strukturmerkmale abzulesen, in erster Linie die gleichzeitige Zunahme der Erwerbsbevölkerung, der Beschäftigung (mit der einzigen Ausnahme des Jahres 1982, in der die Beschäftigung um 51 000 Personen zurückging) und der Arbeitslosigkeit. Das Arbeitskräfteangebot erhöhte sich im Verlauf des gesamten Jahrzehnts aufgrund der steigenden Erwerbsbeteiligung von Frauen und dem Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge von Jugendlichen ins Erwerbsalter. Wie stark vor allem diese Altersgruppe von Arbeitslosigkeit betroffen war und ist, zeigt das Anwachsen der arbeitslosen Berufsanfanger von 488 000 im Jahre 1974 auf 1 168 000 im Jahre 1984. Im gleichen Zeitraum sind die Arbeitslosen im engen Sinne (die vor ihrer Arbeitslosigkeit beschäftigt waren) von 194 000 auf477 00 angestiegen. Allerdings müßte dieser Gruppe von Arbeitslosen ein schwer zu bestimmender Anteil der 314 000 Personen (1984) zugerechnet werden, die aus der Lohnausgleichskasse bezahlt wurden, was in vielen Fällen eine Form der versteckten Arbeitslosigkeit darstellt. Unter der Rubrik „Andere Arbeitslose" sind die Arbeitslosen aufgeführt, die dem Arbeitsmarkt nur unter bestimmten Bedingungen zur Verfügung stehen. Die zweite wichtige Entwicklung, die aus der ersten Tabelle ablesbar ist, sind die innerhalb des Jahrzehnts erfolgten Verschiebungen zwischen den Wirtschaftsbereichen: Sowohl die Landwirtschaft als auch die Industrie haben Arbeitskräfte freigesetzt; zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten sind allein im öffentlichen und privaten Dienstleistungssektor entstanden. Die Tabelle unterscheidet nicht zwischen abhängigen und selbstständig Beschäftigten. Von insgesamt 20 644 000 Beschäftigten im Jahre 1984 arbeiteten 14 747 000 in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis, d.h. knapp über 70 % der insgesamt Beschäftigten. In der Landwirtschaft betrug das Verhältnis zwischen Selbständigen und abhängig Beschäftigten 64% zu 36%, in der Industrie 16,4 % zu 83,6 % und im Dienstleistungsbereich 30,9 % zu 69,1 %. Da der Dienstleistungsbereich nicht nach privaten und öffentlichen Dienstleistungen unterscheidet, der öffentliche allein jedoch circa 4 Millionen abhängig Beschäftigte hat, ist das Verhältnis zwischen Selbständigen und Abhängigen verfälscht und dürfte eher bei 50 zu 50 liegen. Die zweite Tabelle zeigt die Verteilung der Wohnbevölkerung nach ihrer Stellung auf dem Arbeitsmarkt in den Jahren 1983-84. Hierbei ist besonders interessant, daß mit der (seit 1977) angewandten Erhebungsmethode, mit der

Andere Gesamt Arbeits- Erlosen- werbsrate Quote

Quelle: Berechnungen des Arbeitsministeriums auf der Basis von ISTAT-Statistiken.

Erklärungen zur obenstehenden Tabelle: Veränderungen: gemeint sind die Veränderungen gegenüber dem jeweiligen Voqahr. Arbeitslose: Die italienische Statistik unterteilt diese in Berufsanfänger (auf der Suche nach der ersten Anstellung), Arbeitslose im engen Sinne, d. h. Arbeitnehmer, die einen Arbeitsplatz verloren haben (hier mit „Ältere" bezeichnet) und „Andere", das sind diejenigen, die zwar zur Zeit keine Arbeit haben, jedoch auf der Suche nach einer Arbeit sind. Beschäftigte: Die Tabelle führt unterschiedslos abhängig Beschäftigte und Selbständige auf.

20650 19539 3401 7614 8524 488 194 429 1 111 5,4 20 861 211 96 19635 3 261 7636 8738 509 245 472 1226 5,9 21 177 316 122 19757 3228 7526 9003 601 254 565 1420 6,7 55 266 21476 299 181 19938 3 130 7617 9191 690 210 638 1538 7,2 38,9 55 446 21577 101 79 20017 3 069 7577 9371 787 210 563 1560 7,2 38,9 55 602 21898 321 195 20212 2989 7 583 9640 859 224 603 1686 7,7 39,4 55657 22171 273 275 20487 2899 7699 9889 882 211 591 1684 7,6 39,8 55 774 22 439 268 57 20544 2 732 7 647 10615 989 215 691 1895 8,4 40,2 55995 22545 106 - 51 20493 2522 7527 10444 1 156 281 615 2052 9,1 40,3 56228 22 821 276 64 20557 2 526 7352 10679 1292 352 620 2264 9,9 40,6 23037 216 87 20644 2426 7039 11 179 1 168 477 746 2393 10,4 40,8

Arbeitslose Berufs- Ältere anfanger

1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984

BeBeLandInAndere werbs- schäfschäfwirtsch. dustrie Bev. tigte tigte

Veränderungen

Gesamt- Er- ErBev. werbsBev.

Jahr

Erwerbsbevölkerung (in 1000)

Tabelle 1

172 Sophie G. A l f

Erwerbsbevölkerung

22 821

23 039

1984

Quelle: ISTAT (Statistisches Zentralinstitut)

3. Gesamte Wohnbevölkerung 3.1. Erwerbsquote (Erwerbsbevölkerung zu Gesamtbevölkerung) 3.2. Arbeitslosenrate (Erwerbsbevölkerung zu Arbeitsuchenden)

2. Personen, die nicht zur Erwerbsbevölkerung zählen 2.1. Personen im erwerbsfähigen Alter (14-70 Jahre) - davon haben erklärt, unter bestimmten Bedingungen arbeiten zu wollen - Personen, die keine Arbeit suchen - Personen unter 14 oder über 70 Jahre

56229 40,58% 9,92%

17933

33 407 18 574 641

56344 40,89% 10,37%

33 306 19 656 777 17979

1.1. Beschäftigte 20557 20648 - davon haben sich sofort als beschäftigt bezeichnet 19 870 19 839 - davon haben erklärt, nicht beschäftigt zu sein, aber in der Erhebungswoche gearbeitet zu haben 687 809 1.2. Arbeitssuchende 2264 2390 - davon zuvor Beschäftigte 352 477 - davon Berufsanfänger 1292 1 167 - davon Personen, die erklärt haben, nicht beschäftigt zu sein, aber Arbeit zu suchen 620 746

1.

1983

Wohnbevölkerung nach ihrer Stellung auf dem Arbeitsmarkt 1983 und 1984 (in 1000)

Tabelle 2

Das Beispiel der italienischen Gewerkschaften 173

174

Sophie G. A l f

viermal jährlich in einer repräsentativen Stichprobe die Arbeitsmarktdaten erhoben werden, auch einige der „Grauzonen" des Arbeitsmarkts ausgeleuchtet werden können. So erlauben Rückfragen sowohl unter denjenigen, die sich spontan als nicht-beschäftigt bezeichnen, als auch unter denen, die sich den Arbeitslosen zurechnen, jeweils hohe Zahlen (für 1984 respektive 809 000 und 746 000) von Personen, die entweder in der Erhebungswoche gearbeitet haben oder die ihre Bereitschaft zu einer Arbeitsaufnahme erklären, obwohl sie offiziell nicht zur Erwerbsbevölkerung gehören. Außer einem Gesetz zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, das zwischen 1978 und 1980 ein dreijähriges Sonderprogramm realisierte, konnten die Gewerkschaften in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik wenig erreichen. Auch jenes Gesetz mußte im Nachhinein als Mißerfolg verbucht werden, weil schließlich nur insgesamt 40 000 Jugendliche von den über 900 000, die sich in die von dem Gesetz vorgesehenen Listen eingeschrieben hatten, vermittelt werden konnten; davon kamen 30 000 in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Dienstes unter. Die Privatindustrie hatte das Gesetz aufgrund der damit verbundenen Auflagen weitgehend boykottiert, obwohl diese im wesentlichen nur darin bestanden, die Jugendlichen gemäß einer nach sozialen Kriterien mitbestimmten Rangfolge einzustellen. Die Einstellungen im öffentlichen Dienst wurden von den Gewerkschaften eher negativ beurteilt, weil sie keinerlei Effizienzkritierien unterworfen wurden und die dringend erforderliche Neuordnung und Höherqualifizierung der Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung eher behinderten als förderten. Als Voraussetzung einer wirksamen Arbeitsmarktpolitik fordern die Gewerkschafen seit Jahren eine umfassende Reform der Arbeitsvermittlung und die Einrichtung von Institutionen, die eine aktive Arbeitsmarktpolitik erst ermöglichen würden. I m Rahmen der bestehenden, völlig veralteten Regelungen sind die Arbeitsämter letztlich Stellen der passiven Registrierung von Arbeitslosigkeit; nur ein Bruchteil der tatsächlich vermittelten Stellen geht auf Anstrengungen der Arbeitsvermittlung zurück. Auch die Arbeitgeber versuchen nach Möglichkeit, die Arbeitsämter zu umgehen, da das Gesetz ihrer freien Auswahl der Arbeitskräfte Hindernisse entgegenstellt. Bei gleicher Qualifikation muß der Arbeitslose eingestellt werden, der den ersten Platz auf der Vermittlungsliste einnimmt. Obwohl diese Bestimmung (von der es nur wenige Ausnahmen gibt) zu einer geradezu systematischen Umgehung geführt hat, wollten die Gewerkschaften nicht ganz auf die Schutzfunktion gegenüber den schwachen Gruppen auf dem Arbeitsmarkt verzichten, die das Gesetz, zumindest auf dem Papier, gewährleistet. 1983 wurden die Bestimmungen dann auf gesetzlichem Wege und gegen den Protest der Gewerkschaften dahingehend gelockert, daß heute nur noch 50 % der Vermittlungen nach den Listenplätzen erfolgen müssen. Was die Gewerkschaften anstreben und wofür auch schon etliche Gesetzesvorlagen erarbeitet worden sind, ist jedoch die Einrichtung regionaler Beschäftigungskommissionen, denen als operativer Arm Arbeitsmarktagenturen zugeordnet

Das Beispiel der italienischen Gewerkschaften

175

werden sollen. Gleichzeitig soll eine Vereinheitlichung der Lohnersatzleistungen erfolgen, die eine Gleichbehandlung im Falle von Arbeitslosigkeit garantieren können. In den letzten beiden Jahren ist einiges in Bewegung gekommen, bevor noch die gesamte Arbeitsmarktreform verabschiedet werden konnte, sind mit einem Gesetz vom Dezember 1984 die regionalen Beschäftigungskommissionen eingerichtet worden, die auch die Möglichkeit der experimentiellen Erprobung neuer Maßnahmen und Vorgehensweisen bieten. Beschäftigungsfördernde Maßnahmen der jüngeren Zeit sind weiterhin ein Gesetz, das Teilzeitarbeit regelt, jedoch von den Gewerkschaften wegen seiner offenkundigen Regelungsdefizite kritisiert wird und die Einrichtung besonderer, auf maximal 24 Monate befristeter Ausbildungs-Arbeitsverträge für Jugendliche; hierbei wurden den Gewerkschaften (außer bei den öffentlichen Stellen) ein Verhandlungs- und Kontrollrecht über die geplanten Ausbildungsgänge zugestanden. M i t Interesse beobachten die Gewerkschaften auch die Entwicklungen im Arbeitsministerium, das ungewohnte Initiativen entwickelt hat. So hat der Arbeitsminister zur Vorbereitung eines in Aussicht gestellten zehnjährigen Beschäftigungsprogramms eine Expertenkommission zur Erforschung der Arbeitsmarktprobleme eingerichtet, die vor einigen Monaten ihren Bericht vorgelegt hat. Viele Vorschläge dürften auf eine Flexibilisierung des Arbeitsmarkts durch Ausweitung von Teilzeitarbeit und befristeten Arbeitsverhältnissen hinauslaufen, Vorschlägen, denen die Gewerkschaften heute nicht mehr nur noch ablehnend gegenüberstehen. Dies mag verwundern, wird aber verständlich angesichts der an den Gewerkschaften vorbei erfolgten Deregulierung des Arbeitsmarkts, die nicht verhindert werden konnte oder doch nur um den Preis einer Spaltung der Lohnabhängigen in einen kleiner werdenden garantierten Teil und eine flexible Verfügungsmasse (einschließlich der schwarzen und grauen Arbeitsmärkte). Die Gewerkschaften, in erster Linie die CGIL, betrachten Arbeitsmarktpolitik jedoch nicht als unabhängige Variable und stellen deswegen ihre Vorstellungen zur Beschäftigungspolitik in den Rahmen von industriepolitischen Forderungen. Häufig bleibt dabei unklar, ob sie sich das Problem der Arbeitslosigkeit als lösbar vorstellen. Dagegen geht das Arbeitsministerium ganz klar davon aus, daß der Markt allein zumindest bis zum Jahre 2000 nicht in der Lage sein wird, auch nur annähernd Vollbeschäftigung herzustellen. Daher wird der Förderung von Genossenschaften und Selbständigenexistenzen großes Gewicht zugemessen. Eine entscheidende Strategie der Arbeitszeitverkürzung hat seit Jahren zwischengewerkschaftliche Konflikte verursacht. Die CISL setzt sehr entschieden auf Arbeitszeitverkürzung und räumt einer Umverteilung der Arbeit Vorrang bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit ein: Weniger arbeiten, damit alle Arbeit haben; dieses bereits 1977 geprägte Schlagwort drückt dies klar aus. Obwohl auch die C G I L die gemeinsamen Forderungen des Europäischen

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Sophie G. A l f

Gewerkschaftsbundes nach Arbeitzeitverkürzung unterzeichnet hat, bleibt sie gegenüber dieser Strategie als Allheilmittel weiterhin skeptisch. Eine allgemeine, drastische Arbeitszeitverkürzung (die nach Meinung fast aller Experten die einzige wirklich beschäftigungswirksame Form ist) könnte nur um den Preis von Lohnkürzungen realisiert werden. Das würde fast unvermeidlich zu einer weiteren Ausbreitung der unkontrollierten schwarzen Nebenarbeit führen. Die C G I L gibt daher einer Strategie der verhandelten flexiblen Arbeitszeitverkürzung den Vorzug, deren Beschäftigungseffekte jedoch gering bleiben, weil sie mit produktivitätserhöhenden Umstrukturierungsprozessen Hand in Hand gehen. In den Forderungskatalogen für die im Jahre 1986 zur Erneuerung anstehenden Nationalen Kollektivverträge nehmen Arbeitszeitverkürzungen eine wichtige Rolle ein. Was durchsetzbar sein wird, ist jedoch höchst ungewiß. Die Weigerung der Arbeitgeber ist total, und unter den abhängigen Beschäftigten ist diese Forderung nicht sehr mobilisierungsfähig. Wahrscheinlich wäre es schon viel, wenn eine systematische Einschränkung der hohen Überstundenzahlen möglich wäre. Wie unpopulär Arbeitszeitverkürzungen sind, haben auch die Ergebnisse in den Verhandlungen um die sogenannten „Solidaritätsverträge" gezeigt, die 1983 eingeführt wurden. Diese Verträge sehen zwei verschiedene Möglichkeiten vor. Die erste soll Entlassungen bzw. die Überstellung in die Lohnausgleichskasse vermeiden durch eine gleichmäßige Verringerung der Arbeitszeit aller Beschäftigten (eines Betriebs oder Abteilung), wobei die für alle verkürzte Arbeitszeit zu 50 % aus der Lohnausgleichskasse erstattet wird. Diese Form der defensiven Solidaritätsverträge hat eine relativ weite Verbreitung gefunden. Die zweite Form der Solidaritätsverträge sieht dagegen den freiwilligen Verzicht auf einen Teil der Arbeitszeit vor allem älterer Arbeitnehmer zugunsten der Einstellung arbeitsloser Jugendlicher vor, also eine Art job sharing zwischen den Generationen. Da auch in dieser Form der Solidaritätsverträge kein voller Lohnausgleich für die verkürzte Arbeitszeit vorgesehen war, kam es nur ganz vereinzelt zum Abschluß solcher Verträge. Es ist wohl deutlich geworden, daß die italienischen Gewerkschaften in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ebensowenig Patentrezepte haben wie alle anderen: sie sind auch noch gezwungen, sich für eine grundsätzliche Reform des Arbeitsmarkts und für die Schaffung von effizienten Strukturen für eine aktive Beschäftigungspolitik sowie eine größere Gleichstellung verschiedener Arbeitslosengruppen einzusetzen, die in anderen Ländern seit Jahrzehnten besteht. Ein durch ständige politische Krisen erschüttertes System ist zudem kaum fähig, notwendige und überfällige grundsätzliche Reformen zu leisten. Das erfolgreiche Handeln von Gewerkschaften in modernen Staaten ist jedoch auf das Funktionieren der staatlichen Ebene angewiesen. Das Fehlen eines funktionierenden Staates und öffentlicher Verwaltung, die außer Effizienz auch Anpassungsfähigkeit an die veränderten wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedin-

Das Beispiel der italienischen Gewerkschaften

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gungen aufwiesen, stellt nicht nur im Bereich der Arbeitsmarktpolitik ein ernstes Problem für die Gewerkschaften dar.

12 Tagung Dortmund 1985

Arbeitsmarkt und Kollektiwerhandlungen in Gewerkschaftstheorien — ein Überblick Von Walther Müller-Jentsch, Paderborn Vorbemerkung Während der Ausarbeitung meines Vortrags sind mir immer wieder Zweifel gekommen, ob ich die Erwartungen des Veranstalters und die der Zuhörer richtig antizipiere. Der Titel ist komplex und mehrdimensional. Arbeitsmarkt und Kollektivverhandlungen stellen schon für sich einen komplizierten Zusammenhang dar, der ausführliche Erörterungen rechtfertigte. Nun heißt es aber: Arbeitsmarkt und Kollektivverhandlungen in Gewerkschaftstheorien — angezeigt ist damit eine Reflexion des genannten Zusammenhangs im Lichte von Theorien, Gewerkschaftstheorien wohlgemerkt. Schaut man auf das Rahmenthema dieser Veranstaltung: „Macht und Ohnmacht von Gewerkschaftstheorien in der Gewerkschaftspolitik", dann ergibt sich als dritte Reflexionsebene der Rückbezug dieses im Lichte von Gewerkschaftstheorien reflektierten Zusammenhangs von Arbeitsmarkt und Kollektiwerhandlungen auf die Gewerkschaftspolitik. Ich hoffe auf Ihr Verständnis, wenn ich die umrissene Komplexität in der Weise reduziere, daß ich mich auf die ersten beiden Reflexionsebenen konzentriere und die Gewerkschaftspolitik vorerst ausklammere. Zwar ist mir die Dringlichkeit der Probleme, vor denen die Gewerkschaften heute stehen, wohl bewußt (ich werde zum Schluß meines Referats auch auf sie eingehen), aber dennoch erscheint es mir als sinnvoll und notwendig, die gegenwärtigen Probleme nicht allzu kurzatmig anzugehen, sondern sie in einen theoretischen und historischen Zusammenhang zu stellen. Im folgenden diskutiere ich den dynamischen Zusammenhang zwischen Arbeitsmarkt und Kollektivverhandlungen in drei Schritten. Nach einer kurzen einleitenden Skizze über die Herausbildung des Arbeitsmarktes und seiner Komplementärinstitutionen (Abschnitt 1) referiere ich drei klassische gewerkschaftstheoretische Ansätze (Abschnitte 2-4). Mich leitet hierbei kein antiquarisches Interesse, sondern die Überzeugung, daß diese Theorien historisch keineswegs überholt sind. In einem zweiten Schritt versuche ich, unter Heranziehung neuerer Theorieansätze entscheidende Leerstellen in den klassischen Theorien ansatzweise auszufüllen (Abschnitte 5-7). Und in einem dritten Schritt hebe ich auf den Arenencharakter der Tarifautonomie ab und skizziere die jüngsten Herausforderungen für die zukünftigen Kollektivverhandlungen (Abschnitt 8). (Eine letzte Vorbemerkung: Kollektivverhandlungen, Tarifautonomie und Collective Bargaining werden im folgenden synonym gebraucht). 12*

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Walther Müller-Jentsch

1. Die Entstehung freier Arbeitsmärkte und ihrer Komplementärinstitutionen Die historische Herausbildung freier Arbeitsmärkte in den kapitalistischen Marktwirtschaften des 19. Jahrhunderts hat Karl Polanyi in seinen wirtschaftshistorischen Studien als das Resultat eines säkularen De-Regulierungsprozesses beschrieben. In seinem Verlauf wurden die — bis weit ins 18. Jahrhundert vorherrschenden — zünftigen, gesetzlichen und behördlichen Regulierungen der Arbeitsverhältnisse 1 aufgehoben. A n ihre Stelle traten individuelle Vereinbarungen zwischen „Marktteilnehmern": Anbietern und Nachfragern von Arbeitskraft. Dieser Vermarktungsprozeß war Ausdruck und Folge einer zweifachen gesellschaftlichen Evolution: erstens der Durchsetzung bürgerlicher Freiheiten (Freiheit der Person, Gewerbe- und Vertragsfreiheit, Recht auf Eigentum etc.) und zweitens der funktionalen Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Teilsystemen, hier insbesondere der Trennung von Staat und Wirtschaft. M i t der „Freisetzung" der Wirtschaft aus den sozialen und normativen Bindungen der traditionalen Gesellschaft entstand aus den vorher bloß vereinzelten Märkten ein ausschließlich nach Marktmechanismen (Angebot und Nachfrage) gesteuertes ökonomisches System, dem schließlich auch die Allokation der gesellschaftlichen Arbeit und die Distribution ihrer Ergebnisse überantwortet wurde. Die Herauslösung und Autonomisierung der — in allen früheren Gesellschaftsformationen „eingebetteten" — Wirtschaft aus ihren gesellschaftlichen Verhältnissen hat Polanyi als einen verhängnisvollen Transformationsprozeß beschrieben, der Mensch und Natur der „Warenfiktion" überantwortet und damit den Marktmechanismus für das Leben der Gesamtgesellschaft bestimmend werden läßt. Denn materielles Wohlergehen wurde nunmehr „ausschließlich von den Trieben des Hungers und des Gewinnstrebens bestimmt oder, genauer gesagt, von der Angst vor dem Verlust des Lebensunterhalts und von der Profiterwartung" (1979, S. 133). Der Einbruch von Marktprinzipien in die soziale Lebenswelt oder — anders gesagt — die Kommodifizierung der Arbeit setzte eine soziale Dynamik frei, die unter dem Euphemismus „soziale Frage" in die moderne Sozialgeschichte eingegangen ist. Sie führte zur Herausbildung einer selbstbewußten und sich kollektiv organisierenden Arbeiterklasse, welche ihrerseits über die Bildung von Gewerkschaften und Parteien, durch Arbeitskämpfe und Wahlrechtsbewegungen soziale und politische Rechte erkämpfte und sozialstaatliche Einrichtungen erzwang. Kurz, Klassenkampf und Sozialpolitik führten zur „Konstitutionalisierung" der Wirtschaft (Habermas 1981, Bd. 2, S. 530), d. h. der Wirtschaftsliberalismus wurde durch eine fortschreitende Re-Regulierung der Arbeitsverhältnisse gebändigt.

1 Beispielsweise enthielt das Preußische Landrecht Vorschriften über Annahme und Entlassung von Lehrlingen und Gesellen, über das Recht derselben auf die Vorhandene Arbeit, über Lohn und Kost der Gesellen, über Sonntagsarbeit und vieles mehr.

Arbeitsmarkt und Kollektivverhandlungen in Gewerkschaftstheorien

181

In der langen Prosperitätsphase nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte ein weiterer Ausbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates, dessen konzeptionelle Grundlagen Beveridge und Keynes schufen. In Verfolgung seiner Wachstumsund Vollbeschäftigungspolitik führte der moderne Interventionsstaat weitere wirtschafts- und sozialpolitische Regulierungen ein. In vielen Ländern kam es zur Institutionalisierung eines „tripartistischen" Steuerungsverbundes zwischen staatlicher Bürokratie, gewerkschaftlichen und unternehmerischen Verbandseliten. Dieser (teils implizite, teils explizite) „keynesianische Sozialvertrag" zwischen Arbeit, Kapital und Staat erzeugte als typische Folgeprobleme eine Überforderung der materiellen Konzessionsspielräume (die sich in inflationären Spiralen, steigenden Lohnquoten, zunehmender Staatsverschuldung und Währungskrisen äußerte) sowie Rigiditäten im Produktions- und sozialstaatlichen System. Strukturelle Verschiebungen auf dem Weltmarkt, die langanhaltende und weltweite Wirtschaftskrise und nicht zuletzt die Kumulation von Folgeproblemen keynesianischer Wirtschaftsregulierungen haben in führenden Industrieländern (USA, Großbritannien, Bundesrepublik) zu einem wirtschaftspolitischen Strategiewechsel geführt und erneut die De-Regulierung der Arbeitsverhältnisse auf die Tagesordnung gesetzt. In diesem — hier äußerst gerafft wiedergegebenen — Zyklus von DeRegulierung, Re-Regulierung und erneuter De-Regulierung von Arbeitsverhältnissen reflektiert sich eine Realdialektik der strukturellen Interessengegensätze auf dem Arbeitsmarkt und im Produktionsprozeß. Die Entstehung von komplementären Institutionen zum Arbeitsmarkt (ReRegulierung), insbesondere die Herausbildung des Systems der Kollektivverhandlungen (Tarifautonomie /Collective Bargaining) ist in klassischen Gewerkschaftstheorien als ein notwendiger und folgerichtiger Evolutionsprozeß erklärt und beschrieben worden. Ich werde zunächst die theoretischen Erklärungsansätze von Lujo Brentano, Sidney und Beatrice Webb sowie des frühen Goetz Briefs diskutieren, bevor ich auf neuere Entwicklungen und Theorien zu sprechen komme. Die Marxsche Gewerkschaftstheorie bleibt hier außer Betracht — nicht, um einer modischen Trendwende Reverenz zu erweisen, sondern weil Marx Kollektivverhandlungen zwar nicht für unnötig, aber doch nicht als die eigentliche Aufgabe der Gewerkschaften angesehen hat. 2. Die „Unwahrheit des freien Arbeitsvertrages" (Lujo Brentano) Lujo Brentano (1844-1931), der Mitbegründer des „Vereins für Socialpolitik", hat mit luziden Analysen den Charakter der „Arbeit als Ware" und des „Arbeiters als Warenverkäufer" beschrieben; auf seine Ergebnisse stützen sich auch heute noch sozialökonomische Analysen des Arbeitsmarktes (z. B. die von Offe/Hinrichs 1984). Brentanos Ausgangspunkt ist die kritische Überprüfung des in der Nationalökonomie seiner Zeit vorherrschenden Vergleichs des Warenverkaufs mit dem Tausch der Arbeitskraft. Er hält diesen Vergleich für

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Walther Müller-Jentsch

unzulässig, weil er zwei Besonderheiten des Arbeiters als Verkäufer nicht in Rechnung stellt: „Die eine ist die Untrennbarkeit des Gutes, das er verkauft, seine Arbeit, von seiner Person; die andere ist, daß er regelmäßig nichts hat, wovon er leben kann, als den Verkauf seiner Arbeit." (1909, S. 1110; ähnlich auch 1890, S. XIX). Aus diesen Besonderheiten der Arbeitskraft resultiert eine doppelte Asymmetrie zwischen Kapital und Arbeit: 1. Der Arbeiter steht unter Angebotszwang. Da er weder über Produktionsnoch sonstige Subsistenzmittel verfügt, bleibt ihm keine andere Wahl, als seine Arbeitskraft anzubieten, und zwar vorbehaltlos, da er nicht warten kann. Somit fehlt ihm „die Voraussetzung, von der die Nationalökonomie ausgeht, daß der Arbeiter gleich anderen Warenverkäufern im stände sei, das Angebot seiner Ware der Nachfrage anzupassen" (1890, S. XIXf.). Im Gegensatz dazu ist der Unternehmer in seiner Nachfrage elastisch; er kann Einstellungen hinauszögern, Arbeitskräfte durch Maschinen ersetzen oder auch an anderen Orten mit für ihn günstigeren Arbeitsmarktbedingungen Produktionsstätten eröffnen, ohne daß sein Lebensstandard beeinträchtigt würde. 2. Der Arbeitsvertrag begründet ein Herrschaftsverhältnis. Da Warenverkäufer und Verkauftes nicht voneinander zu trennen sind, erwirbt der Unternehmer mit dem Kauf der Arbeitskraft zugleich die Mitverfügung über die Person des Arbeiters. Die Freiheit des Arbeiters, über seine Arbeitskraft verfügen zu können, erlischt,sobald er sie verkauft hat. Dies schlägt sich im Arbeitsvertrag dergestalt nieder, daß zwar die Leistung des Unternehmers — in Form des Lohnsatzes — spezifiziert, die Leistung des Arbeiters jedoch nur in groben Umrissen festgelegt wird. Die Nutzung der lebendigen Arbeit erfolgt unter der Direktionsgewalt des Unternehmers. Es waren diese Machtasymmetrien und Marktungleichgewichte zu Ungunsten der (nichtorganisierten) Arbeiter, die dem Diktum von der „Unwahrheit des freien Arbeitsvertrages" (1890, S. XIV) seinen Sinn gaben. Die bürgerliche Rechtsordnung hatte zwar die Gleichberechtigung des Arbeiters mit dem Arbeitgeber prinzipiell anerkannt (was Brentano als einen „formalen Fortschritt" ansah), aber die damit verbundene materielle Verschlechterung ignoriert. Als Liberaler argumentiert Brentano systemimmanent, wenn er den Arbeitsmarkt als einen unvollkommenen Markt betrachtet und die Arbeiterkoalitionen als notwendige Korrektivorgane identifiziert. Aus dem ihm zu seiner Zeit reichhaltig gebotenen Anschauungsmaterial, insbesondere aus England, über die vielfältigen Organisierungsversuche der Arbeiter und ihrer Arbeitsniederlegungen entwickelte er die Vorstellung einer zwingend notwendigen Fortentwicklung des Arbeitsvertrags. Demnach sollten Koalitionen das regeln, was früher Gesetzgebung und Behörden geregelt hatten. Erst Organisierung und Kollektivverhandlungen, so die Brentanosche Schlußfolgerung, versetzen die Arbeiter in die Lage, als gleichberechtigte

Arbeitsmarkt und Kollektierhandlungen in Gewerkschaftstheorien

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Warenverkäufer aufzutreten und wie jeder Marktteilnehmer an der Bestimmung der Vertragsbedingungen mitzuwirken. Nicht als störendes, systemfremdes Element der Marktordnung, sondern gleichsam als den Schlußstein im Gebäude der liberalen Wirtschaftsordnung betrachtet Brentano die gewerkschaftlichen Organisationen. Arbeitseinstellungen sind für ihn ein vermeidbares Übel, typisch für eine Übergangsphase; nach Anerkennung der Gewerkschaften durch die Unternehmer könnten an ihre Stelle Kollektivverhandlungen zwischen den Organisationen treten. „So ist denn der Arbeitsvertrag, wo seine Entwicklung am vorgeschrittensten ist, da angelangt, wo er nach der ökonomischen Natur des Vertragsobjekts naturgemäß anlangen mußte: er wird nicht mehr von dem einzelnen Arbeitgeber dem einzelnen Arbeitnehmer diktiert, sondern von der Organisation der Arbeitgeber mit der Organisation der Arbeiter für alle Mitglieder beider Organisationen vereinbart. Nunmehr erst ist der 'freie Arbeitsvertrag 4 eine Wirklichkeit." (1890, S. X X X I X ) .

3. Collective Bargaining (Sidney und Beatrice Webb) Beatrice (1858-1943) und Sidney (1859-1947) Webb, die berühmten Historiker der britischen Gewerkschaftsbewegung und einflußreichen Mitglieder der reformsozialistischen Fabian Society, haben den Begriff Collective Bargaining geprägt und mit sozialhistorischem Inhalt gefüllt. In ihrer Gewerkschaftstheorie figurieren Kollektivverhandlungen (Collective Bargaining) als die wichtigste von drei Methoden, die ihnen zufolge den Gewerkschaften zur Erreichung ihrer Ziele zur Verfügung stehen. Die beiden anderen Methoden sind solidarische Unterstützung (Mutual Insurance) und gesetzliche Verfügung (Legal Enactment). Mutual Insurance (d.h. die Einrichtung von Hilfskassen zur gegenseitigen Unterstützung bei sozialen und persönlichen Notfallen, bei Streiks und Arbeitslosigkeit) ist die älteste Form gewerkschaftlicher Praxis; sie steht ebenso wie Legal Enactment (d.h. die politische Einwirkung auf die Gesetzgebung zugunsten der Lohnarbeiter) in einem mehr oder weniger komplementären Verhältnis zum Collective Bargaining 2 ). Vergeblich sucht man bei den Webbs eine Definition von Collective Bargaining; sie erläutern es durch eine Reihe von Beispielen und grenzen es insbesondere vom individuellen Bargaining ab. In ihrem ersten Beispiel vergleichen sie Individualvertrag und Kollektiwertrag wie folgt: „ I n unorganisierten Gewerben nimmt der einzelne Arbeiter, der sich um eine Arbeitsstelle bewirbt, die von dem Unternehmer gemachten Bedingungen an oder lehnt sie

2 Die frühen Berufsgewerkschaften gründeten ihre Interessenpolitik ausschließlich auf der Methode der „Mutual Insurance". Verhandlungen mit Unternehmern waren ihnen unbekannt; sie setzten ihre Bedingungen einseitig fest; wenn der Arbeitgeber sie nicht akzeptierte, veranlaßten sie ihre Mitglieder, das Arbeitsverhältnis aufzukündigen (strike in detail) und weiterzureisen.

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ab, ohne mit seinen Arbeitsgefahrten in Verbindung zu treten und ohne einen anderen Punkt als die Bedürfnisse seiner Lage in Überlegung zu ziehen. Er schließt mit dem Unternehmer über den Verkauf seiner Arbeitskraft einen streng individuellen Vertrag ab. Wenn aber eine Gruppe von Arbeitern sich vereinigt und Vertreter abschickt, die für die ganze Körperschaft die Verhandlungen führen, ändert sich die Sachlage sofort. Anstatt daß der Unternehmer eine Reihe einzelner Verträge mit isolierten Individuen abschließt, sieht er sich jetzt einem Kollektivwillen gegenüber und setzt durch einen einzigen Vertrag die Grundsätze fest, nach denen zur Zeit alle Arbeiter einer bestimmten Gruppe, Klasse oder eines Grades von ihm angenommen werden." (S.u. B. Webb 1898, dt. Ausg., Bd. 1, S. 154).

In weiteren Beispielen gehen die Webbs über den „Werkstatt-Vertrag" ihres ersten Beispiels hinaus und erörtern sukzessive lokale, regionale und schließlich nationale Kollektivverträge. Je größer das Gebiet und je umfangreicher die Zahl der Arbeitnehmer, für die Kollektivverträge abgeschlossen werden, um so notwendiger werden Gewerkschaften; nur sie können den Kollektivverträgen Geltung, Effektivität und Kontinuität verschaffen: „Ohne die Existenz eines Gewerkvereins in einer bestimmten Industrie wäre es fast unmöglich, eine für einen ganzen Distrikt gültige allgemeine Regel, geschweige denn ein nationales Abkommen zu erreichen.(...) Außerdem kann allein ein Gewerkverein den Mechanismus für die selbsttätige Auslegung und die friedliche Revision des allgemeinen Abkommens liefern. Der Gewerkvereinsmechanismus gibt also in der Tat der kollektiven Vertragsschließung Dauer und Elastizität" (S.u. B. Webb 1898, Bd. 1, S. 159).

Die Webbs betrachten die Gewerkschaft als eine Preis-setzende Agentur, die die Marktkräfte zu modifizieren sucht; sie sind nicht gegen Wettbewerb generell eingestellt, sondern gegen die unregulierte Konkurrenz auf den Arbeitsmärkten. Sie unterscheiden zwei kontrastierende Strategien, mit denen Gewerkschaften diesen Zweck erreichen können; ihnen ordnen sie wiederum zwei verschiedene Gewerkschaftstypen zu: 1. Partikularistische Schließungsstrategien, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren („Restriction of Numbers"). „ M a n sucht dieses Ziel dadurch zu erreichen, daß man entweder die Zahl der Lernenden beschränkt, oder aufgrund ihres Geschlechts, oder ihrer früheren Beschäftigung, oder mangelnder Lehrlingsausbildung, Personen ausschließt, die der Unternehmer einzustellen bereit ist" (S.u.B. Webb 1898, Bd. 2, S. 229). Dieser Strategie entspricht eine Gewerkschaft vom Typus der exklusiven Berufsgewerkschaft (Craft Society), die von der Doktrin der „vested interests" geleitet wird und ihre fachspezifischen Arbeitsmärkte durch Monopolisierung zu kontrollieren sucht. 2. Universalistische Regulierungsstrategien, die Mindeststandards für Lohnund Arbeitsbedingungen setzt („Common Rules"), die kein Arbeitgeber unterschreiten darf. Die Webbs erwähnen hier insbesondere den Standardlohnsatz, den Normalarbeitstag und Mindestbedingungen im Hinblick auf Ausbildung, Sicherheit, sanitäre Einrichtungen und dergl. Der dieser Strategie entsprechende Gewerkschaftstypus ist die offene, der Doktrin des „living wage"

Arbeitsmarkt und Kollektivverhandlungen in Gewerkschaftstheorien

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verpflichtete Massengewerkschaft, wie sie im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in der Bewegung des „New Unionism" entstand und zum vorherrschenden Typus der hochindustrialisierten Gesellschaften wurde. Als eine klassische Theorie der Gewerkschaft als „bargaining agent" für ihre Mitglieder hat der englische Industrial Relations-Experte Allan Flanders (1975, S. 213) die Webbsche Theorie eingestuft (ein Urteil, das natürlich auch für die Brentanosche Theorie zutrifft). Primär an Marktaktivitäten interessiert, behandeln die Webbs Collective Bargaining als kollektives Äquivalent und Alternative für die individuelle Vertragsschließung. Ihr Gewerkschaftsmodell ist das eines Arbeitskartells, das gegen den Widerstand der Unternehmer die Methode der kollektiven Vertragsschließung durchsetzt. Erörterungen über mögliche unternehmerische Interessen an diesem „Gewerkvereinsmechanismus" stellen die Webbs nicht an. Und mehr im Titel ihres theoretischen Werkes — Industrial Democracy 3 — als in ihrer Analyse klingt eine weitere wichtige Funktion des Collective Bargaining an, die der paritätischen Beteiligung von Repräsentanten der Arbeitnehmer an der Regelung und Gestaltung der Arbeitsbedingungen. 4. Gewerkschaften als „Schutzgehäuse gegen die Kommerzialisierung der Arbeitskraft" (Goetz Briefs) Unter den nachklassischen Gewerkschaftstheorien zählt die des frühen Goetz Briefs (1889-1974) zu den differenziertesten. Obwohl den Ideen des Sozialkatholizismus verpflichtet, finden sich in ihr starke Parallelen zur sozialistischen Gewerkschaftstheorie. Deutlich macht dies bereits ihr Ausgangspunkt, die Analyse der Lohnarbeit im Kapitalismus. „Lohnarbeiter ist der freie, besitzlose, selbstverantwortliche Mensch, der seine Arbeitskraft zu fremdbestimmten Leistungen veräußert und im Lohn seine einzige, jedenfalls seine entscheidende Einkommensquelle hat" (1927, S. 1110). Zu diesem bereits von Brentano hervorgehobenen Merkmal fügt Briefs als weiteres hinzu: Wenn der Status des Lohnarbeiters nicht mehr ein temporärer oder eine bloße Durchgangsstufe ist, sondern zum dauerhaften und erblichen, daher proletarischen Schicksal geworden ist, „wächst Gewerkschaft aus den Bedingungen des Kapitalismus hervor" (ebd.). Dauer und Erblichkeit ergeben sich aus dem Charakter des Lohns, der als Konsumfonds nicht akkumulationsfähig ist. Briefs unterscheidet „zwei Drehpunkte des proletarischen Lebensschicksals": den Arbeitsmarkt und den Betrieb. In bezug auf den Arbeitsmarkt konstatiert er mit Brentano den Angebotszwang und das Überangebot der Lohnarbeit, weshalb die Vertragsfreiheit juristische Fiktion bleibt. Über die Theorien Brentanos und der Webbs hinaus gehen seine Ausführungen über den Betrieb. 3

Den Begriff „industrielle Demokratie" beziehen die Webbs stärker auf den inneren Aufbau der Gewerkschaften und auf die positiven Auswirkungen der Gewerkschaften auf das politische Gemeinwesen.

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Gleichwohl setzt er auch hier mit dem Brentanoschen Argument von der Untrennbarkeit der Ware Arbeitskraft von der Person des Arbeiters ein. Nicht viel anders als die Sozialisten leitet er aus der Verfügung über die Person des Arbeiters nach Vertragsabschluß die Fremdbestimmtheit der Arbeit ab. „Der Begriff der Fremdbestimmtheit umgrenzt am klarsten die Stellung des Arbeiters in Unternehmung und Betrieb: fremdbestimmt ist die Arbeitsstätte, die Arbeitsart und weithin die Arbeitsintensität, die besondere Arbeitsmethode, die Arbeitszeit, das Arbeitsmittel, der Arbeitszweck, die Arbeitsorganisation, fremdbestimmt ist das sachliche Ergebnis des Arbeitsprozesses wie seine marktmäßige Verwertung." (1927, S. 1111). Hinzu kommen vom Betrieb ausgehende spezifische Gefahrdungen (physische Gefahren durch Unfälle, Berufskrankheiten, vorzeitige Abnutzung des Arbeitsvermögens; psychische und geistige Belastungen) und nachteilige Folgewirkungen auf die Freizeit. Aus der profunden Analyse der proletarischen Lage auf dem Arbeitsmarkt und im Betrieb zieht Briefs den folgenreichen Schluß, daß Koalitionen zwar am Warencharakter der Arbeit anknüpfen, aber keineswegs von dem Motiv geleitet sind, „diesen Warencharakter vollendet realisieren zu wollen" (1927, S. 1116), wie Brentano unterstellt hatte. I m Gegenteil, „Gewerkschaft bildet sich seitens ihrer Träger als Protest und Abwehr gegen die strenge Marktgesetzlichkeit, unter der Arbeit steht. Sie kann also den Sinn haben, das Warengesetz für die Arbeit zu beschränken und gar aufzuheben" (1927, S. 1116). Infolgedessen zielt die Gewerkschaft auf einen fairen Lohn, einen standesgemäßen Lebensstandard oder gar auf die Beseitigung des Lohnsystems selbst. Kurz, die Gewerkschaft ist als „klassenreine, d.h. nur Lohnarbeiter umfassende" Organisation — in der schönen Briefschen Formulierung — „Schutzgehäuse gegen die Kommerzialisierung der menschlichen Arbeitskraft" (1927, S. 1117). Als solche ist sie „in ihrem Wesenskern keine Institution der liberalen Marktwirtschaft" (ebd.). Unbeschadet dessen muß sie mit den Realitäten der Marktverfassung und der Marktlage rechnen, so daß sie typischerweise einen doppelseitigen Charakter hat: nach innen ist sie Genossenschaft, nach außen Preis- und Konditionenkartell. Diese Unterscheidung zwischen zwei „gewerkschaftlichen Zweckkreisen", einem innergewerkschaftlichen, auf gegenseitiger Hilfe beruhenden, und einem äußeren, die Interessenvertretung gegenüber Dritten umfassenden Zweckkreis, deckt sich zum Teil mit den Webbschen Methoden der solidarischen Unterstützung (Mutual Insurance) und der kollektiven Vertragsschließung (Collective Bargaining). Zwischen beiden Zweckkreisen besteht insofern ein Wechsel Verhältnis, als die inneren Zwecke direkt oder indirekt für die Erfüllung der äußeren Zwecke wichtig werden (z. B. Arbeitslosen-, Reise-, Streik- und Gemaßregeltenunterstützung als Mittel zur Kontrolle des Arbeitsmarktes). Die referierten Gewerkschaftstheorien von Brentano, den Webbs und Briefs sind historisch keineswegs überholt. Ihre stringente Ableitung der Komplimen-

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tärinstitutionen des Arbeitsmarktes aus den Besonderheiten der Ware Arbeitskraft und ihre endogene Erklärung der gewerkschaftlichen Methoden, Strategien und Zweckkreise aus den Asymmetrien des Arbeitsmarktes sind essentielle Bestandteile sozialökonomisch orientierter Arbeitsmarkt- und Gewerkschaftstheorien der Gegenwart. Zwei Desiderate lassen diese Theorien indessen offen: Zum einen unterstellen sie ein abstraktes Arbeitsmarktmodell, vergleichbar dem der (Neo-) Klassik, und lassen die unterschiedlichen Strukturen von Arbeitsmärkten (etwa die heute geläufige Dreiteilung in fachspezifische, Jedermanns- und betriebsinterne Arbeitsmärkte) außer Betracht. Zum anderen finden die unternehmerischen Interessen an Kollektivverhandlungen keine systematische Erörterung. Ich möchte nunmehr diesen Desideraten nachgehen und dabei gleichzeitig neuere Theorieansätze einbeziehen.

Arbeitsmarktstrukturen und gewerkschaftliche Organisationsformen Arbeitsmarktstrukturen haben insbesondere im Kontext der Segmentationstheorien (Doeringer/Piore 1971; Sengenberger 1978) zunehmende Beachtung gefunden und eine mittlerweile breite empirische Forschung stimuliert. Einig sind sich diese Theoretiker, daß die primäre Verursachung der Arbeitsmarktsegmentation den spezifischen Beschäftigungsinteressen der Unternehmer zuzuschreiben ist, daß aber gleichwohl korporative Gewerkschaftsstrategien (ζ. B. Besitzstandwahrung durch soziale Schließung) — sekundäre Effekte auf die Segmentation haben (Rubery 1978). Der Zusammenhang zwischen Arbeitsmarktstrukturen und gewerkschaftlichen Organisationsformen, in neuerer Zeit häufig am Beispiel der japanischen Unternehmensgewerkschaften diskutiert, hat bislang noch keine adäquate theoretische Reflexion gefunden — zumindest mangelt es an einer mit den klassischen Gewerkschaftstheorien vergleichbaren Stringenz der Analyse dieses Konnexes. Ich möchte mich daher im folgenden auf einige vorläufige Bemerkungen beschränken; sie haben eher den Charakter eines Theorieprogramms als den einer bündigen theoretischen Erklärung. In welchem Ausmaß Gewerkschaften Arbeitsmärkte kontrollieren können, hängt von ihrem Vermögen ab, die Substituierbarkeit von Arbeitskräften einzuschränken. Von strategischer Bedeutung ist, in welchem Verhältnis Arbeitsmarktstrukturen und Organisationsprinzipien stehen. Allgemein können Gewerkschaften aus der Korrespondenz zwischen ihrer Organisationsform und den für ihr Rekrutierungspotential relevanten „Berufsschneidungen" und Arbeitsmarktsegmenten marktstrategische Vorteile ziehen. Arbeitsmarktimmanente Organisationsprinzipien sind — neben der räumlichen Dimension — Beruf, Betrieb und Industrie. Können die Unternehmer, bei begrenztem Arbeitskräftezustrom auf den lokalen Arbeitsmärkten, ihre Nach-

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frage räumlich ausdehnen, geraten die Gewerkschaften ins Hintertreffen, wenn sie ihren Organisationsbereich nicht ausdehnen. Sind die Unternehmer vorwiegend auf beruflich qualifizierte Arbeitskräfte angewiesen, dann bildet die beruflich-exklusive Organisation der Facharbeiter, die Berufsgewerkschaft, eine adäquate Basis für erfolgreiche Marktstrategien. Gehen die Unternehmer dazu über, unter Ausnutzung technischer und arbeitsorganisatorischer Rationalisierungen, qualifizierte Arbeiter durch angelernte Arbeitskräfte zu ersetzen, dann geraten berufsverbandlich organisierte Gewerkschaften unter den Zwang, ihre Organisationsdomäne auch auf jene Arbeiterkategorien auszudehnen, die von den Unternehmen als „Reservearmee"für die qualifizierten Arbeiter substituiert werden können. Die gegenüber allen Berufs- und Arbeiterkategorien offene Massengewerkschaft (sei's als Industriegewerkschaft, sei's als General Union) kann unter diesen Bedingungen marktstrategisch erfolgreicher operieren; organisatorische Stärke gewinnt sie durch die „große Zahl" und die Förderung von Klassensolidarität. Es war kein Zufall, daß das in der Frühindustrialisierung entstandene System der Berufsgewerkschaften in der Phase der Hochindustrialisierung unter Transformationsdruck geriet. Die mit der (großbetrieblichen) Massenproduktion einhergehende Umstrukturierung der Arbeitsorganisation nach tayloristischen und fordistischen Prinzipien untergrub die berufliche Machtposition der exklusiv organisierten Facharbeitergruppen und zwang ihnen neue, den veränderten Arbeitsmarkt- und Produktionsbedingungen adäquatere Organisationsformen auf (Müller-Jentsch 1985). Mit wachsender Bedeutung betriebsinterner Arbeitsmärkte stellt sich die Frage, ob nunmehr Formen dezentraler Organisierung — Betriebsgewerkschaften etwa — über marktstrategisch günstigere Ausgangspositionen verfügen als zentralistische Organisationsformen. Die jüngsten Erfahrungen der japanischen Gewerkschaften lehren indes, daß marktkonforme Organisationsprinzipien allein nicht ausreichen, um erfolgreiche Tarif- und Organisationspolitik zu betreiben. Freilich können Organisationsformen auch zu leeren Hüllen werden. So besteht die begründete Vermutung, daß die westdeutschen Gewerkschaften nurmehr der Form als dem Inhalt nach Industriegewerkschaften darstellen. „Sind die Gewerkschaften für 'alle' da?" fragte vor einigen Jahren eine Gruppe Bielefelder Soziologen (Heinze u.a. 1980). Ihre Befunde und die anderer 4 verneinten diese Frage. Die für die westdeutschen Gewerkschaften typische Überrepräsentation von männlichen Facharbeitern (und Betriebsräten) in den gewerkschaftlichen Wahlgremien sowie die vorwiegend quantitativ orientierte Lohn- und Arbeitszeitpolitik stempeln sie primär zu Organisationen der qualifizierten Kernbelegschaften und Stammarbeitnehmer. Insofern verlängern ihre Organisationsstrukturen nur die dominanten Arbeitsmarkt strukturen.

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Zu nennen sind hier die Analysen von Esser 1982 und Billerbeck u.a. 1982.

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Eine Politik im Interesse der schwächeren Gruppen auf dem Arbeitsmarkt liefe hingegen auf die organisationsinterne Brechung der Arbeitsmarktstrukturen durch solidarische Lohnpolitik und qualitative Arbeitspolitik hinaus. Evident ist, daß die gewerkschaftliche Machtbasis für eine solche Politik nicht allein im Arbeitsmarkt begründet sein kann, sondern der Absicherung im politischen System bedarf 5 . Joint Regulation: Das unternehmerische Interesse an Kollektiwerhandlungen Die Historiographie der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung schreibt die Geschichte ihres Sujets nicht ohne Grund als eine heroische. In ihr figurieren die Organisationen des Proletariats als Träger des Fortschritts, die in erbitterten Kämpfen reaktionären Unternehmern aufzwingen mußten, was Menschenrecht und Vernunft geboten. Nicht viel anders liest sich auch die Geschichte der Tarifautonomie — eine Leseart, die nicht falsch, aber unvollständig ist. Historisch orientierte Arbeiten der sog. Oxford School der britischen Industrial Relations-Forschung (Flanders, Clegg, Fox) haben auf Unternehmerseite nicht nur handfeste Interessen an Kollektivverhandlungen ausgemacht, sondern auch Arbeitgeberinitiativen zu ihrer Durchsetzung nachgewiesen6. Letzteres traf vornehmlich für Sektoren zu, die durch handwerklich hochqualifizierte Produktion und fachspezifische Arbeitsmärkte gekennzeichnet waren (u. a. Metallverarbeitung, graphisches Gewerbe, Baugewerbe). Im wesentlichen waren es die beiden folgenden Interessen, die den Unternehmern Kollektivverhandlungen und Tarifverträge als akzeptabel erscheinen ließen: Erstens bestand auf ihrer Seite das Interesse, die „work rules" und „restrictive practices" der autonomen Regelung durch gut organisierte Arbeitskollektive und Craft Societies zu entziehen und sie zu einem Gegenstand bilateraler Verhandlungen zu machen. Bei diesen traditionellen Arbeitspraktiken („Custom and Practice") und einseitig gesetzten, z.T. in Gewerkschaftssatzungen festgeschriebenen Regeln handelte es sich einerseits um Gewohnheitsrechte aus der Gildentradition, andererseits waren sie Bestandteil berufsgewerkschaftlicher Strategien zur Kontrolle des Zugangs zum Arbeitsmarkt. Die Einrichtung einer „bargaining machinery" konnte auch Resultat sein von „a joint victory for employers and trade union leaders over the hostility of a rank and file which was still wedded to the traditions of unilateral regulations" (Clegg/Fox/Thompson 1964, S. 471). Zweitens erkannten Unternehmer, zumal in lohnintensiven Branchen, früh, daß ein einheitlicher Lohntarif, sofern von organisatorisch starken Verbänden beider Seiten vereinbart, die Lohnkosten aus der Konkurrenz nehmen konnte, 5 Prototypisch hierfür ist die hegemoniale Position der Arbeiterorganisationen im politischen System Schwedens. 6 So Flanders 1954, Clegg/Fox/ Thompson 1964, Child 1967, Price 1980, Fox 1985.

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so daß Tarifverträge zum Kartell-Ersatz gegen die sog. „Schmutzkonkurrenz" werden konnten 7 . Generell machten die Unternehmer die Erfahrung, daß Tarifverträge nicht nur eine Kartellfunktion haben, sondern auch Ordnungs- und Befriedungsfunktionen wahrnehmen können. Durch sie wurden Arbeitsnormen und Lohnstrukturen nicht nur überschaubarer und stabiler, sondern auch — da auf Kompromiß und Konsens zwischen beiden Seiten beruhend — gegenüber den Beschäftigten leichter zu legitimieren 8 . Die Kompatibilität der Interessen beider Arbeitsmarktparteien in Rechnung stellend, hat Allan Flanders (1968) sein Konzept von der Joint Regulation dem des Collective Bargaining der Webbs entgegengestellt. Für sein Verständnis betont der Begriff Collective Bargaining zu stark die ökonomische Funktion des Aushandelns von Löhnen und Arbeitsbedingungen. Joint Regulation soll demgegenüber zum Ausdruck bringen, daß wir es mit einem normsetzenden Prozeß („rule-making process") zu tun haben, in dem „private Gesetzgeber" Regeln und Normen paritätisch festsetzen, die die Rechte, den Status und die Sicherheit der Arbeiter gegenüber dem willkürlichen Gebrauch unternehmerischer Macht schützen. In der deutschen Diskussion sind ähnliche Überlegungen zur Funktion der Tarifautonomie von Weitbrecht (1969) vorgetragen worden, der darin ein paritätisches Konfliktregelungs- und Normsetzungsverfahren sieht, vermittels dessen kompromiß- und verpflichtungsfähige Arbeitsnormen generiert werden. Im Kontext der Joint Regulation können Gewerkschaften weder als reine „pressure groups" noch als bloße „bargaining agents" für ihre Mitglieder begriffen werden. Sie sind repräsentative Organisationen, die zwar Ansprüche im Namen ihrer Mitglieder (oder generell der Arbeitnehmer) geltend machen, aber in relativer Unabhängigkeit von ihrer Zustimmung handeln müssen. Denn als „private Gesetzgeber" müssen Gewerkschaften kompromiß- und verpflichtungsfahig bleiben. Heute ist weitgehend anerkannt, daß die Gewerkschaften durch Bündelung, Interpretation und Transformation, kurz: durch die Mediatisierung von Arbeitnehmerinteressen auch für die Unternehmer nützliche Funktionen wahrnehmen. Sie sind nolens volens zu „intermediären Organisationen" (Müller-Jentsch 1982) geworden, die pragmatisch zwischen Kapital- bzw. Systeminteressen einerseits und Arbeiter- bzw. Mitgliederinteressen andererseits vermitteln. Der Zwang zur Interessenvermittlung bedeutet freilich nicht, daß den Gewerkschaften im fortgeschrittenen Kapitalismus keine Wahl- und Freiheits-

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So im deutschen Buchdruckgewerbe (vgl. Müller-Jentsch 1983). Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht ziehen Addison / Gerlach 1983 ähnliche Schlußfolgerungen aus amerikanischen Untersuchungen; insbesondere aus den von Freeman j Medoff 1984. 8

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Spielräume für strategische und politische Optionen mehr blieben. Diese sind jedoch eingeschränkt auf prinzipiell drei Politikvarianten, die ihrerseits wiederum an bestimmte, wenn auch historisch kontingente Voraussetzungen gebunden sind. Die stabilste Form möglicher Verhandlungsstrategien ist die der Kooperation. Neben ihr existieren als weitere Varianten die konfliktorische und die Sozialkontrakt-orientierte Verhandlungspolitik. Gemeinsam ist allen dreien die pragmatische, auf Ausgleich und Kompromiß zielende Interessenpolitik, unter faktischer Anerkennung der kapitalistischen Verwertungszwänge und Marktgesetzlichkeiten als Rahmenbedingungen gewerkschaftlichen Handelns. Die kooperative Politik vermag die Interessen Vermittlung ausdrücklich auf die systemund kapitalfunktionalen Erfordernisse abzustellen; ihr „Wohlverhalten" steht unter der Erwartung, an späteren Wachstumsgewinnen beteiligt zu werden und/oder politische Zugeständnisse zu ernten. Konfliktorische Politik tendiert dahin, Mitgliederinteressen auch unter (partieller) Verletzung der kapitalistischen Funktionslogik zu vertreten; ihr „Störverhalten" will Konzessionen erzwingen, wenn auch der Ausgang ungewiß ist, da ausgeübte Organisationsmacht ungeplante Konsequenzen in Form systemischer Sanktionen (Arbeitslosigkeit. Inflation) und unternehmerischer Gegenmobilisierung nach sich ziehen. Sozialvertrags-orientierte Politik respektiert zwar die ökonomischen Systemzwänge, nicht zuletzt um jene genannten Konsequenzen zu vermeiden, fordert aber für die Rücksichtnahme auf übergeordnete ökonomische Zwänge (z.B. Weltmarkt) und für den Verzicht auf die Ausübung potentieller Organisationsmacht substantielle Konzessionen, etwa Strukturreformen unterhalb der Systemebene (z.B. Steuerreform, Sozialgesetzgebung, Mitbestimmung). 9 7. Tarifautonomie aus evolutionstheoretischer Sicht Ich möchte meine Ausführungen über theoretische und historische Erklärungen der Tarifautonomie als eine komplexe und multifunktionale Komplementärinstitution des Arbeitsmarktes um eine Interpretation aus evolutionstheoretischer Sicht 10 ergänzen. Bekanntlich gibt es in allen industriekapitalistischen Ländern Tarifvertragssysteme, die einerseits strukturelle Gemeinsamkeiten haben und andererseits erhebliche Differenzen in ihren institutionellen Ausprägungen aufweisen können (für einen historisch-strukturellen Vergleich des englischen Systems des Collective Bargaining mit dem deutschen der Tarifautonomie s. Müller-Jentsch 1983). Die Tarifautonomie ist funktionales Erfordernis kapitalistischer Markt-

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Erfolgreichstes Beispiel einer Sozialvertrags-orientierten Gewerkschaftspolitik finden wir gegenwärtig in Schweden; vgl. dazu auch den Beitrag von R. M eidner in diesem Band. 10 Sozialwissenschaftliche Konzepte der Evolutionstheorie sind u.a. von Habermas 1976, Willke 1982 und 1984 sowie Kitschelt 1985 entwickelt worden.

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gesellschaften, aber sie ist weder bewußt geplant noch durch externe Bedingungen determiniert, sondern ein Institutionensystem, dessen Evolution sich den Interaktionen und Lernprozessen der (kollektiven) Akteure des Arbeitsmarktes sowie den dadurch ausgelösten institutionellen Innovationen und Selektionen verdankt. Abstrakt gesagt, sind Institutionen und Organisationen Systeme mit dem Vermögen aktiver Selbstorganisation (Autopoiesis), d.h. sie sind keine passiven, adaptiven Gebilde im Evolutionsprozeß, sondern besitzen Autonomiespielräume, die sie — nach interner Logik und eigendynamisch — für umweltorientierte Selbststeuerung nutzen. Die Evolution eines sozialen Systems vollzieht sich innerhalb gewisser Bandbreiten möglicher Variationen; deren Selektion erfolgt durch gesellschaftliche Akteure mit Lernpotentialen und unter Berücksichtigung interner und externer „constraints". Da die Richtung der Evolution nicht eindeutig determiniert ist, kann sie auch nicht prognostiziert werden (schließlich gibt es evolutionäre Sackgassen). Erst die „rationale Nachkonstruktion" (Habermas 1976, S. 184 ff.) vermag die immanente Logik der Evolution freizulegen. M i t diesem noch relativ abstrakten Konzept können wir auch Tarifautonomie als ein evoluierendes System rational nachkonstruieren. Ihre Entstehung und Dynamik verdankt sie dem interessengeleiteten und strategischen Handeln von Akteuren mit konfligierenden Zielen. Häufig wiederkehrende Interessenkämpfe zwischen den Arbeitsmarktparteien erzeugten einen Konfliktregelungsbedarf, der eine typische Sequenz institutioneller Innovationen auslöste. In der Frühzeit der Industrialisierung versuchten die Arbeiter den Preis ihrer Ware durch Organisierung und Arbeitsniederlegungen zu beeinflussen; die Unternehmer ihrerseits verteidigten ihre Marktvorteile durch Gegenorganisierung und Aussperrung. Auf diese Weise kurzfristig erzeugte Angebots- bzw. Nachfragebeschränkungen sollten die Gegenseite zur Akzeptierung des jeweils geforderten bzw. angebotenen Preises für die Arbeitskraft zwingen. Da Verhandlungen zunächst unüblich waren, endete der Ausstand in der Regel mit Sieg oder Niederlage. Diese vor allem mit wirtschaftskonjunkturellem Wechsel wiederkehrenden Konfliktkonstellationen provozierten Lernprozesse und Initiativen zur Bildung von Schiedsgerichten, Einigungsämtern oder Schlichtungskommissionen, gewöhnlich unter der Leitung unparteiischer Persönlichkeiten. Später traten, mit zunehmender Konsolidierung und Bürokratisierung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, an ihre Stelle direkte Verhandlungen zwischen beiden Organisationen. Diese mußten erst eigene Rollen für formalisierte Beratungen und Verhandlungen ausdifferenzieren; denn Tarifverhandlungen forderten den Konfliktparteien neue Verhaltensweisen ab: sachliche und argumentative Kommunikation, Auseinandersetzung mit gegnerischen Argumenten, Verständnis für die andere Seite. Mußten Gewerkschafter lernen, wirtschaftlich zu argumentieren, so die Unternehmer, Gewerkschaftsfunktionäre als gleichberechtigte Verhandlungspartner zu akzeptieren. Die frühen Schieds- und Schlichtungsverfahren unter unparteiischer Leitung dienten

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gewissermaßen der Einübung in friedliche und routinemäßige Kollektivverhandlungen 11 . Diese historische Sequenz von Arbeitskampf— Schlichtung — Verhandlung ist im entwickelten Tarifvertragssystem, in exakter Umkehrung, als Abfolge von Regelungsstufen zur Beilegung eines Tarifkonflikts institutionalisiert worden, Strukturell gesehen, beinhaltet dieser evolutionäre Prozeß, daß sich in historischen Knotenpunkten die widerstreitenden Interessen von Sozialgruppen in relativ dauerhaften Kompromißstrukturen niederschlugen und sich als intermediäres Organisations- und Institutionensystem zwischen die Klassensubjekte Kapital und Arbeit geschoben haben. Wir haben es hier mit „geronnenen Interessenkonstellationen" zu tun, die ihre Entstehungsanlässe tradieren, eine relative Stabilität und Resistenz gegenüber Veränderungen der sozio-ökonomischen Umwelt besitzen und erst jenseits kritischer Schwellenwerte erneut unter Transformationsdruck geraten. Da dieses institutionelle Arrangement zu regulieren versucht, was sich einer endgültigen Regulierung entzieht, den Klassenkonflikt stillzustellen, behält es den Charakter eines auf Dauer gestellten Provisoriums. 8. Neue Herausforderungen Die Tarifautonomie ist und bleibt eine Arena, in der über Lohnsätze und Arbeitsnormen verhandelt und gestritten wird, wobei Kräfteverhältnisse und Machtprozesse zwischen den Sozialkontrahenten, freilich auch „wirtschaftlicher Realismus" über die materiellen Ergebnisse entscheiden. Da die Kräfteverhältnisse und Machtprozesse durch die rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen beeinflußt werden, suchen die Kontrahenten auch die Arena ihrer Interessenkämpfe zu modifizieren. Sie tun dies teils in paritätischen Verhandlungen (z.B. durch Änderung ihrer Schlichtungsvereinbarungen), teils durch einseitige Vorstöße ins arbeitsrechtliche Niemandsland (z.B. durch Erprobung neuer Kampfmittel). Insbesondere nach harten Arbeitskämpfen werden gewöhnlich durch die Arbeitsgerichte innovative Taktiken und Strategien der Konfliktparteien einer gerichtlichen Prüfung unterzogen und danach entweder verworfen oder — wie immer modifiziert — dem Korpus des kollektiven Arbeitsrechts einverliebt. Auf diesem Wege fand der erweiterte Warnstreik, nach seiner flexiblen Erprobung durch die I G Metall, und auch die Aussperrung, nach ihrem extensiven Gebrauch in den Arbeitskämpfen 1978, ihre rechtliche

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Brentano zeigte an der Entwicklung des englischen Schieds- und EinigungsVerfahrens, daß die „Negotiation", d.h. die direkte Verhandlung zwischen den Führern der beiderseitigen Organisationen erst in einem späteren Stadium üblich wurde. Es waren vornehmlich starke Gewerkvereine, die schließlich direkte Verhandlungen den Einigungsverfahren mit Unparteiischen vorzogen, während schwache Gewerkvereine mit geringer Mitgliederzahl solche Verfahren weiterhin wünschten {Brentano 1890, S. X X X I I I f.). 13

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Sanktionierung.. Das aktuellste Beispiel für Bestrebungen, den Kampfrahmen der Tarifvertragsparteien zu verändern, ist die von Arbeitgeberverbänden (und Teilen der Regierungskoalition) betriebene Änderung des § 116 Arbeitsförderungsgesetz. Diese arbeitsrechtlichen Waffengänge sind indes nur die Spitze eines Eisberges. Viele Anzeichen weisen auf einen gesellschaftlichen Strukturwandel, ja auf einen „Periodenbruch" hin, der auch in Schlagworten von der „dritten industriellen Revolution", der „Krise des Sozialstaatsprojekts" (Habermas), dem „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts" (Dahrendorf), der „Krise des Fordismus und Taylorismus" (Aglietta, Lipietz, Hirsch, Kern / Schumann) und dem „Ende der Massenproduktion" (Piore/Säbel) seinen Niederschlag gefunden hat. Für das System der Tarifautonomie im allgemeinen und für die Gewerkschaften im besonderen setzt die gegenwärtige sozioökonomische Entwicklung zwei Herausforderungen frei: auf der Makroebene vollzieht sich ein wirtschaftspolitischer Strategiewechsel, und auf der Mikroebene zeichnen sich die Konturen eines neuen Produktionsmodells ab. Der wirtschaftspolitische Strategiewechsel vom Keynesianismus zum Monétarisme, von der Nachfrage- zur Angebotspolitik verändert die soziopolitischen Rahmenbedingungen für Kollektiwerhandlungen nachhaltig. Denn die Stärkung der Marktkräfte durch Deregulierung ist das erklärte gemeinsame Ziel neokonservativer Regierungskoalitionen, ob in USA, Großbritannien oder der Bundesrepublik. Bestrebungen, das Arbeitsrecht „gelenkiger" zu machen, führen zur Aufweichung arbeitsrechtlicher Schutzfunktionen und stellen das Konzept des „Normalarbeitsverhältnisses" in Frage. Steht hinter dem wirtschaftspolitischen Strategiewechsel das — vermeintliche oder reale — Scheitern des Keynesianismus, dann stehen hinter dem neuen Produktionsmodell die verschärfte Weltmarktkonkurrenz und veränderte Nachfragestrukturen (stagnierende Nachfrage nach Massengütern, steigende Nachfrage nach Qualitätsprodukten). Auch wenn damit noch nicht das „Ende der Massenproduktion" in Sicht ist, resultieren doch aus der wachsenden Produktvielfalt, den abnehmenden Losgrößen und dem häufigen Modellwechsel Zwänge zur Flexibilisierung von Produktion und Lagerhaltung, die das Management mit Hilfe der neuen Techniken, einer neuen Logistik und einem „sophisticated personnel management" zu bewältigen sucht. Aus diesen Entwicklungen ergeben sich für das System der Tarifverhandlungen und für die Gewerkschaften folgenreiche Tendenzen: 1. Tendenzen zur Deregulierung. Etablierte Kündigungs- und sonstige Arbeitsschutzbestimmungen stehen zur Disposition und mit ihnen das Konzept des „Normalarbeitsverhältnisses". Befürworter von Deregulierungen argumentieren, daß viele arbeitsrechtliche und tarifliche Regulierungen beschäftigungs-

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hemmend seien und die unternehmerische Flexibilität einschränken. Gleichwohl geht es nicht um einen ersatzlosen Fortfall von Regulierungen, sondern häufig nur um einen Wechsel der Regulierungsebene auf die nächst niedrigere: von der gesetzlichen auf die tarifliche, von der tariflichen auf die betriebliche, von der betrieblichen auf die einzelvertragliche. 2. Konflikte um die Beschränkung bzw. Ausweitung der Verhandlungsgegenstände. So wird Technik von den Gewerkschaften immer stärker als ein neuer Gegenstand für Tarifverhandlungen und betriebliche Vereinbarungen gefordert, während die Unternehmer ihre Managementvorrechte für diese und andere Bereiche stärker zur Geltung bringen und Verhandlungen ablehnen. 3. Die Tendenz zur Verlagerung von der tarifpolitischen zur betrieblichen Verhandlungsebene. Das Management strebt eine Aufweichung der flächendeckenden Standardisierung von Löhnen und Arbeitszeiten an. Industrieweite Tarifverträge könnten in Zukunft an Bedeutung gegenüber betrieblichen Abkommen und Zusatzvereinbarungen verlieren. Exemplarisch war diese Tendenz schon an der betrieblichen Umsetzung der tariflich vereinbarten Wochenarbeitszeitverkürzung abzulesen. Mit weiterer Arbeitszeitverkürzung werden der betrieblichen Arbeitszeitflexibilisierung sicherlich noch größere Variationsmöglichkeiten geboten. 4. Die damit einhergehende Tendenz, daß die Betriebsräte einen Zuwachs an Verhandlungs- und Regelungsfunktionen erfahren, die die Funktionen der Gewerkschaften als „bargaining agent" beeinträchigen. Betriebsräte und Managern könnten künftig die Schlüsselrolle für die Gestaltung und Administration der industriellen Beziehungen zufallen, wobei die Gewerkschaften mehr und mehr in die Rolle von Dienstleistungsorganisationen für die Betriebsräte (Beratung, Koordination) zu geraten drohen. 5. Die Tendenz des Managements, durch vorausschauende Personal- und Organisationspolitik kollektive Interessenrepräsentation überflüssig zu machen. „Unionism without unions", nennen das die Amerikaner. In großen und modern geführten Unternehmen übt sich das Management im pfleglichen Umgang mit seiner Stammbelegschaft, bietet Möglichkeiten zur innerbetrieblichen Qualifizierung, macht Partizipationsangebote (Qualitätszirkel, Lernstatt). Dieses geht einher mit der Tendenz, daß im „Milieu" der industriellen Kernsektoren, Hochtechnologiebereiche und prosperierenden Zukunftsindustrien Facharbeiter neuen Typus entstehen, eine neue „Arbeitnehmeraristokratie", die — im Gegensatz zur „Arbeiteraristokratie" des 19. Jahrhunderts — nur schwache gewerkschaftliche Bindungen und Loyalitäten kennt. 6. Die Tendenz zur Auflösung des einheitlichen Typus von Lohnarbeit, zur Aufsplitterung des rechtlichen und kollektivvertraglichen Status der Arbeitenden. Neben den relativ privilegierten Stammarbeitern und Stammangestellten in vollzeitlichen, unbefristeten Beschäftigungsverhältnissen gibt es eine anwachsende Masse disponibler Randarbeitnehmer, der Teilzeitbeschäftigten, der 13*

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Leiharbeiter, der Heimarbeiter und der unselbständig Selbständigen mit Subkontrakten. Hinzu kommt die Spaltung der Gesellschaft in „Arbeitsplatzinhaber" und Arbeitslose. Angesichts dieser Entwicklungen und Herausforderungen haben die Gewerkschaften ihre schwierigsten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte noch vor sich. Sicherlich wird die soziale Welt der entwickelten Industrieländer auch in Zukunft die Gewerkschaften nicht entbehren können. Aber der uns vertraute Typus der Massengewerkschaften — primär Organisationen qualifizierter und angelernter Industriearbeiter, orientiert an großflächiger, standardisierter Tarifpolitik und zehrend von der ideologischen Schwungkraft der traditionellen Arbeiterbewegung — wird m. E. bald der Vergangenheit angehören. Das heißt nicht, daß gewerkschaftliche Großorganisationen sich notwendigerweise auflösen werden; wohl aber, daß sie ihre Organisationsstrukturen und ihre Interessenpolitik dezentraler, gruppen- und betriebsbezogener ausrichten müssen. Wollen sie sich dabei nicht zum A D A C für Arbeitnehmer zurückentwickeln, sondern ihren Anspruch als Solidargemeinschaft der von abhängiger Arbeit Lebenden aufrechterhalten, dann stehen sie vor der Notwendigkeit, eine neue, überzeugende gesellschaftliche Utopie zu entwickeln, und den Begriff des gesellschaftlichen Fortschritts neu zu definieren.

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Mikroelektronische Rationalisierung und Dynamisierung der Arbeitsmärkte: Herausforderungen für die japanischen Gewerkschaften Von Ilse Lenz, Münster/Westf. Der japanische Kapitalismus durchläuft gegenwärtig eine Phase tiefgreifender Veränderungen. Die mikroelektronische Rationalisierung hat in allen Branchen Fuß gefaßt und neue große Sparten, wie die Datenverarbeitung, entstehen lassen. Der Umfang des Dienstleistungssektors nimmt zu, und es ist eine Reorganisation des „klassischen Dualismus" zwischen Groß- und Kleinbetrieben zu beobachten. Das in Japan weit verbreitete Leitwort von der „postindustriellen Gesellschaft" bezieht diese Veränderungen in eine Perspektive eines tieferen Wandels ein und zielt darauf, ihnen eine umfassende, „systemische" Legitimität zu verleihen. In diesem Prozeß wird den japanischen Gewerkschaften eine zentrale Rolle zugeschrieben, wobei sich die Wertungen scheiden. „Optimisten" betonen die Bedeutung der japanischen Betriebsgewerkschaft bei der Bewältigung der weltwirtschaftlichen Depression nach dem Steigen der Rohstoffpreise 1973 und bei der Einführung der mikroelektronischen Technologien. Kritiker weisen daraufhin, daß der Rückgang der Mitgliederzahlen, ein steigendes Desinteresse an Gewerkschaftspolitik und der Verfall des Arbeitskampf-Niveaus als deutliche Anzeichen für eine Krise der Betriebsgewerkschaft zu lesen seien1. Die japanischen Betriebsgewerkschaften sind zugleich „Objekt und Träger" dieses Wandels. Sie werden mit neuen Bestimmungsfaktoren der gewerkschaftlichen Politik konfrontiert. Gerade die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt drängen auf eine Neuorientierung hin: Die Unternehmen entwickelten unter dem Druck einer gesteigerten Konkurrenz auf dem Weltmarkt und den Binnenmärkten eine abgestufte Palette „flexibler Beschäftigungsformen". Die herkömmliche Trägerschicht der „japanischen industriellen Beziehungen", die männliche Stammarbeiterschaft, wird allmählich erodiert. Dies bringt neue Herausforderungen für die Gewerkschaften mit sich, die sich in einer „begrenzten Kooptation" auf die Interessenvertretung der Stammbelegschaft konzentriert hatten. Sie stehen vor dem Dilemma, daß eine Umorientierung zwar notwendig, aber risikoreich gerade für die Erhaltung ihrer bisherigen Trägerschicht erscheint, 1

Eine optimistische Wertung vertritt u. a. Koshiro 1983. Kritische Positionen beziehen aus unterschiedlichen Perspektiven u.a. Kawanishi 1984, Nomura (in diesem Band) und Tokunaga 1983.

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während ein Verharren auf der bisherigen vorrangigen Repräsentation der männlichen Stammarbeiter mit dem Rückgang dieser Gruppe einen Bedeutungsverlust mit sich bringen kann. So bewegt sich die gewerkschaftliche Diskussion in der sozialökonomischen Transformation zwischen den Ansätzen, die bisherige begrenzte Repräsentation zu erhalten und zu aktualisieren und einigen in Keimform vorhandenen Versuchen, den gewerkschaftlichen Einfluß auf andere Schichten auszuweiten. Insgesamt verhält sich dieser Diskurs eher reaktiv zu den seit Mitte der 1970er Jahre sich verstärkenden Bestrebungen zur betrieblichen Rationalisierung und zu dem gesamtgesellschaftlichen Wandel unter dem Leitwort der „Informationsgesellschaft". Die initiierende Rolle liegt eher bei der Regierung, oder wie im Fall der verstärkten Rationalisierung, bei den Großunternehmen.

Zu dem Arbeitsmarkt und den industriellen Beziehungen in Japan2 Der japanische Arbeitsmarkt ist in mehrere Sektoren gespalten. Eine wichtige Trennlinie verläuft zwischen den permanent Beschäftigten vor allem der Großunternehmen und den verschiedenen Gruppen der instabil Beschäftigten, wie etwa Teilzeitarbeiter/innen, Zeitarbeiter, Saisonarbeiter usw. Eine weitere markante Differenzierung besteht zwischen den Beschäftigten in Klein- und Mittelbetrieben und in Großunternehmen in bezug auf Beschäftigungssicherheit, Löhne und Aufstiegschancen; diese Sektoren sind weitgehend gegeneinander abgeschottet. Die tiefgehende geschlechtliche Spaltung des Arbeitsmarktes 3 verstärkt diese Fragmentierungen zum Teil, zum Teil kompliziert sie sie: Zwei große Gruppen der instabil Beschäftigten, Teilzeitbeschäftigte und Heimarbeiter, sind in der Mehrheit Frauen. Auch in dem expandierenden Bereich der Leiharbeit haben sich „weiblich besetzte Felder", wie Büroarbeit und Gebäudereinigung herausgebildet (s.u.). Bestimmte Bereiche der instabilen Beschäftigung wurden also zu „Frauenreservaten", in anderen sind Frauen relativ zu

2

Angesichts der Fülle der Literatur zu den industriellen Beziehungen in Japan erscheint ein sehr kurzer Überblick in diesem Rahmen angebracht. Doch sind einige zusätzliche Hinweise zur Struktur der Gewerkschaften notwendig: Es gibt in Japan sowohl Betriebs- als auch Branchengewerkschaften (wie im Fall der Seeleute). Da Betriebsgewerkschaften sich häufig in Arbeitskämpfen gespalten haben, existieren in vielen Betrieben zwei oder mehrere Gewerkschaften mit unterschiedlicher allgemeinpolitischer und „betriebspolitischer" Ausrichtung. Die Betriebsgewerkschaften sind Branchengewerkschaften und verschiedenen, eher politisch definierten nationalen Dachverbänden affiliiert, führen aber die Tarifverhandlungen eigenständig durch. Die übergeordneten Verbände haben eher koordinierende, stützende und anregende Funktionen. Vgl. auch die umfassende Einführung bei Shirai 1982 und bei Park 1982. Arbeitsorientierung und -beziehungen konnten nicht im einzelnen erörtert werden. 3 Zu den sozialen Ursachen der geschlechtlichen Spaltung des Arbeitsmarkts vgl. Lenz 1981. Vgl. auch die Überlegungen von Cl. Deutschmann 1986.

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ihrem Anteil an den abhängig Beschäftigten leicht überrepräsentiert, wie etwa in den Kleinfirmen bis zu 29 Mitarbeitern (Rodosho fujinkyoku 1985). Männlich besetzte instabile Beschäftigungsfelder sind ζ. B. die Wander- oder Saisonarbeit. All diese Gruppen sind kaum gewerkschaftlich organisiert; instabil Beschäftigte können in der Regel nicht Mitglied der Betriebsgewerkschaften werden. Die Kerngruppe der permanent Beschäftigten bilden die Stammbelegschaften der Großbetriebe. Nur für sie gelten die „typisch japanischen industriellen Beziehungen" mit den folgenden wichtigsten Merkmalen: 1. die Garantie permanenter Beschäftigung 2. ein mit der Beschäftigungsdauer steigender Lohn und entsprechende Aufstiegsmöglichkeiten (Senioritätslohn) 3. eine Vertretung durch Betriebsgewerkschaften. Allerdings umfaßte diese Gruppe bereits in der Mitte der 1970er Jahre nur ca. 30 % der abhängig Beschäftigten (Ernst 1980:21). U m 1981 war laut einer Schätzung des Japan Productivity Centre ihr Anteil auf unter 30 % gesunken (Kemmochi 1983:225). Ein zentrales Kriterium für den Zugang zu der Stammbelegschaft war die Einstellung direkt nach dem Abschluß an der Schule oder der Universität; in der Expansion des Arbeitsmarktes in den 1960er und frühen 1970er Jahren war allerdings auch ein „Quereinstieg" durch Arbeitsplatzwechsel von einer anderen Firma häufig (chuto saiyosha). Auch unter den permanent Beschäftigten ist eine geschlechtliche Spaltung des Arbeitsmarktes in dem Sinne zu beobachten, daß langfristige Beschäftigung, berufliche Fortbildung und innerbetrieblicher Aufstieg vorwiegend den männlichen Kernbelegschaften zukommen, während Frauen häufig auf einfache, repetitive und assistierende Funktionen mit kurzfristiger Beschäftigungsperspektive beschränkt werden (Herold 1980; Rodosho fujinkyoku 1985:13-17). So werden zwar Frauen nach einem allgemeinbildenden Abschluß auch mit permanenter Beschäftigungsgarantie eingestellt. Doch wurde das Prinzip der Dauergarantie noch in jüngster Zeit häufig durch betriebliche Pensionsregeln speziell für Frauen durchbrochen, die ihre Kündigung bei Eheschließung, Schwangerschaft oder im mittleren Alter (30-45 Jahre) vorsahen. Immerhin hat sich — u.a. durch eine Reihe von Musterprozessen betroffener Frauen und der Gewerkschaften — der Anteil der Firmen mit gleichen Ruhestandsregeln für Mann und Frau von 23,5 % im Jahre 1976 auf 80,5 % im Jahre 1985 erhöht (ibid.: 17). Eine Reihe von Anzeichen deutet jedoch darauf hin, daß ein informeller Druck auf Kündigung fortbesteht. Getrennte innerbetriebliche Ausbildung und die Zuweisung von Arbeitsplätzen nach Geschlecht beinhalten, daß auch das zweite Prinzip des Senioritätslohns für Frauen kaum Geltung hatte 4 . Schließlich kam der Interessenvertretung für weibliche Beschäftigte im 4

U.a. aufgrund der internationalen Veränderungen im Zuge der Dekade der Frau wurde im Jahre 1985 ein Gesetz zur Chancengleichheit in der Beschäftigung von Mann und Frau (abgekürzt: Danjo koyo kintoho) unter Federführung des Arbeitsministeriums

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Rahmen der Betriebsgewerkschaften kein großer Raum zu (Herold 1980; Cook, Hayashi 1980). Ein großer Teil der Frauen bildet also eine marginalisierte Gruppe der permanent Beschäftigten, die sozusagen „ i n der Tür" zwischen stabilen und instabilen Beschäftigungsverhältnissen steht. Ziehen wir die Auswirkungen im Bereich instabiler Beschäftigungsverhältnisse hinzu, so erweist sich die geschlechtliche Spaltung des Arbeitsmarktes neben der Qualifikation als strukturierender Faktor in der Zuweisung von Arbeitsmarktchancen. Innerhalb der sich überwiegend als ethnisch homogen begreifenden japanischen Bevölkerung kommen ihr Funktionen zu, die der ethnischen Spaltung des Arbeitsmarktes in den USA und Westeuropa in etwa analog sind, oder sehr kurz gesagt: „Die Frauen sind Frauen und 'Gastarbeiter' zugleich" 5 . Die hier nur kurz skizzierte innere Fragmentierung der Lohnarbeiterschaft bietet ein spannendes Feld für „arbeitspolitische" Untersuchungsansätze 6, die die Rolle von staatlichen und betrieblichen „politischen" Auseinandersetzungen für die Gestaltung der Lohnarbeitsverhältnisse betonen. Gerade Burawoy's Frage nach Bereichen des Konfliktes und der Konsensbildung zwischen Arbeiterschaft, Gewerkschaften und Management in der „Arbeitspolitik" ist nützlich, um die Entwicklung der industriellen Beziehungen in Japan nach 1955 zu verstehen. Denn die Dauerbeschäftigung und die Lohnsteigerung nach Dienstzeit beruhen nicht auf einer Kontinuität zu vormodernen oder „traditionellen" Lohnarbeitsformen und sind nicht durch einen pauschalen Rekurs auf die japanische Kultur zu erklären. Vielmehr entwickelten sie sich in jahrzehnte-

verabschiedet. Während es sich auf „administrative guidance" als das übliche Verfahren stützt und keine Sanktionen vorsieht, fordert es zur Chancengleichheit bei der Beschäftigung, insbesondere bei Einstellung, Arbeitsplatz-Zuweisung (Allokation), Beförderungen usw. auf und verbietet Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bei beruflicher Bildung, Sozialzulagen, Altersgrenzen/Pensionierung und Kündigung. Zugleich hebt es in technischen und administrativen Berufen Teile des Frauenarbeitsschutzes wie Begrenzung der Überstunden, Verbot der Nachtarbeit auf oder lockert die Bestimmungen (Rodosho fujinkyoku 1985:84). Das Grundkonzept besteht in einer Gleichstellung der weiblichen zu den männlichen Arbeitskräften und somit der Relativierung und möglichen Aufhebung der geschlechtlichen Arbeitsmarktspaltung. Doch erschwert das Fehlen der Sanktionen die reale Durchsetzung. Weiterhin wirkt die geschlechtliche Arbeitsteilung in der Familie darauf hin, daß Hausfrauen und Mütter nicht in ähnlich hohem Maße für den Betrieb verfügbar sind wie männliche Beschäftigte (vgl. Lenz 1981), deren umfassende betriebliche Beanspruchung nicht hinterfragt wird. So wird nicht eine Beschränkung der Überstunden und Arbeitszeitverkürzung auch für Männer erwogen, sondern eher die Arbeitsbedingungen der Frauen denen männlicher Stammarbeiter angepaßt. Insofern bleibt der Erfolg des Gesetzes abzuwarten. 5 Vgl. auch Herold 1980; zu der Spaltung des Arbeitsmarktes nach Geschlecht, Minderheitenzugehörigkeit im Fall der buraku und ländlicher Migration vgl. die umfassende Studie von Ernst 1980. 6 Vgl. ζ. B. die Ansätze in Jürgens, Naschold 1983; Naschold 1985 sowie von Burawoy 1985.

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langen Auseinandersetzungen zwischen qualifizierten Facharbeitern, Gewerkschaften oder betrieblichen Interessenvertretungen und dem Management der Großunternehmen als Teil eines Management-Systems, das auf die Kontrolle der Facharbeiter durch ihre langfristige Integration in die Betriebe setzte. So könnte die „klassische Form" der industriellen Beziehungen mit ihren drei Tragpfeilern der Dauerbeschäftigung, des Senioritätslohnes und der Betriebsgewerkschaft als „begrenzte Kooptation" zwischen den männlichen Stammbelegschaften und dem Management aufgefaßt werden. Gegen sozialökonomische Sicherung durch die Beschäftigungsgarantie und eine gewisse Beteiligung am Prosperieren des Unternehmens im Rahmen des Senioritätslohnes zeigten die Stammbelegschaften eine hohe betriebliche Loyalität und straffe Arbeitsmoral, die in geringen Fehlzeiten und in Fügsamkeit gegenüber der steigenden Arbeitsintensität zutage trat. Die Übernahme kultureller Normen wie der starken Gruppenorientierung und der vertikalen Autorität zwischen Alt und Jung führte zu einer „Verdichtung" der betrieblichen Beziehungen und verstärkte das „Betriebsgemeinschaftsdenken" der Stammarbeiter (Tokunaga). Dennoch beruht die angedeutete „begrenzte Kooptation" in ihrem Kern auf einer ökonomischen Interessenorientierung, die sich im Gegensatz zu Westeuropa soziale Sicherung nicht von der eigenen Qualifikation und den individuellen Chancen auf dem Arbeitsmarkt, sondern von der Verankerung im Betrieb und von dessen Prosperität verspricht. In der langen industriellen Expansionsphase des „hohen Wirtschaftswachstums" von 1955-73 kam ihr durchaus ein gruppenspezifischer ökonomischer Realismus zu: die Ausweitung der Betriebe ermöglichte sowohl eine Dauerbeschäftigung als auch einen kontinuierlichen Aufstieg auf dem internen Arbeitsmarkt der Großfirmen für die Stammarbeiter. Zudem schien sie den Übergang breiter, bisher peripherer Gruppen in die Stammarbeiterschaft mit sich zu bringen und in diesem Sinne nivellierend zu wirken. Darauf deutete ζ. B. der rasche Aufstieg von Zeitarbeitern in die Gruppe der permanent Beschäftigten in den großen Automobilwerken um 1970 hin. Doch ab 1973 vertieften sich die Spaltungen auf dem Arbeitsmarkt erneut. Ein Teil der Gewerkschaften hat die klassische Form der industriellen Beziehungen als „Erfolgsmodell" in ihre eigene Theorie des Arbeitsmarktes und gewerkschaftlicher Strategien übernommen. Der stellvertretende Vorsitzende der Japanischen Föderation der Elektro-Arbeiter-Gewerkschaften (Denkiroren), H. Kawaguchi, kam kürzlich zu folgender Wertung: „ I t is true that Japanese industry offers lifetime employment and a wage system based on seniority and that unions are organized in individual companies. These things however, did not exist from the very beginning. In other words, the history of the labour movement after the second world war was one long fight against layoffs and the struggle for establishing employment security, or lifetime employment, and for eliminating differences in status within the ranks of blue collar workers as well as establishing the right of negotiation between labour and management (democratization of businesses and

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industries). I would like people to be aware that the basis for individual company unions today is founded on this tradition of organized labour activity" (Kawaguchi 1985:287).

Diese „Selbst-Theorie" der Gewerkschaften von ihrer Funktion auf dem Arbeitsmarkt, in der sie als Tragpfeiler und Verfechter der „japanischen industriellen Beziehungen" erscheinen, entsprach wohl aufgrund ihres partikularen wirtschaftlichen Realismus den Interessen der Stammarbeiter in der Phase bis 1973. Da jedoch die instabil Beschäftigten nicht gewerkschaftlich organisiert waren und nach 1950 auch nicht in die Betriebsgewerkschaften aufgenommen wurden, fiel die Gewerkschaftsbewegung als horizontal nivellierende Instanz der Verteilung weitgehend aus. Die instabil Beschäftigten blieben weitgehend ungeschützt und hatten zum Teil Verschlechterungen ihrer Lage hinzunehmen, wie die Teilzeitarbeiter/innen ab ca. 1973 (Shinotsuka 1982:105ff.). M i t der allmählichen Erodierung der Stammarbeiterschaft im Zuge der Arbeitsmarktbewegungen zur Bewältigung der weltwirtschaftlichen Depression und der Rationalisierung wird diese „Selbst-Theorie" auch für die Stammarbeiter brüchig, und der Druck auf eine Neuorientierung steigt. Dabei wirkt sich die bisherige Verfestigung und Kristallierung der „japanischen industriellen Beziehungen" im Bewußtsein der betrieblichen Gewerkschaftsführer tendenziell hemmend aus. Zur Dynamisierung der Arbeitsmärkte nach der ersten Rohstoffkrise 1973 In Anlehnung an viele japanische Darstellungen kann das Jahr der Rohstoffkrise 1973 als ein Markstein tiefgreifender Veränderungen betrachtet werden. In der Folge erreichten die Großunternehmen in bestimmten Industriebranchen (Elektro, Automobil) durch rigide Programme zur Kostensenkung und Produktivitätserhöhung eine Verstärkung und Ausweitung ihrer Position auf dem Weltmarkt und besonders den Absatzmärkten in den US, Westeuropa und in Ostasien. Umgekehrt beinhaltete diese Strategie, daß die Exportabhängigkeit der japanischen Industrie über das bisher aufgrund der umfassenden Rohstoffimporte notwendige Maß hinaus weiter anstieg. Insofern wurde die internationale Konkurrenz in den Initiativen des Managements zur Rationalisierung und „Flexibilisierung" der Beschäftigung als „Anreiz und Stachel", als Orientierungsgröße für das Wohlergehen des Betriebs und der Nation beschworen. Die Unternehmen konnten sich bei der Rationalisierungswelle der 1970er Jahre sowohl auf die Betriebsloyalität der Kernbelegschaften als auch auf einen diffusen, aber wachsenden wirtschaftlichen Nationalismus stützen, der durch die relativ rasche Bewältigung der Weltwirtschaftskrise um 1973 in Japan verstärkt wurde. Die Betriebe führten die mikroelektronische Rationalisierung — im Unterschied zu Westeuropa, wo das Schwergewicht zunächst im Bürobereich lag — simultan in der industriellen Produktion und im Büro ein (Kemmochi 1983). Etwa um 1970 lösten in den Planungsvorlagen des Ministry of International

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Trade and Industry (MITI) die „Zukunftsindustrien" im Bereich der Mikroelektronik, der Biotechnologie usw. die Konzentration auf die Schwerindustrie als Basis des Wirtschaftswachstums ab. In einer konzertierten Aktion zwischen Staat und Großunternehmen wurden in der Folge sowohl die Entwicklung von Hochtechnologie als auch ihre Umsetzung in betrieblichen Rationalisierungsprogrammen vorangetrieben (Kevenhörster 1983; Kemmochi 1983). Die Verbindung zwischen Herstellern / Entwicklern und Anwendern vorrangig aus der „zivilen" Industrie, wobei die langlebigen Konsumgüterbranchen Elektro /Elektronik und Automobil eine Vorreiterrolle hatten, gab der mikroelektronischen Rationalisierung in Japan ein besonderes Profil gegenüber der Orientierung auf militärische Anwendung in den US (vgl.ibid, Halfmann 1984). Es wäre zu überlegen, ob sie nicht eine spezifische Eigenständigkeit, Originalität in den Anwendungsfeldern und eine besondere Dynamik ermöglichte. Bis 1980 war die Einführung von Robotern, CNC Maschinen und automatisiertem Transport und Lagerhaltung in der Industrie fortgeschritten. In der Folge gingen die Unternehmen zur Systemrationalisierung durch die Einführung von C A D / C A M Systemen über und experimentierten mit „mannlosen" (sie) Fabriken (Kemmochi 1983), die freilich weiterhin Spezialisten für Wartung und Programmierung brauchen. Im Bürobereich, in Banken und Versicherung setzte sich die Computerisierung weitgehend durch, was zugleich eine Dezentralisierung der Beschäftigung durch on-line Betrieb ermöglichte. Während die Beschäftigung im industriellen Sektor stagnierte, wuchs sie im tertiären Sektor, in Handel und Dienstleistungen, in den 1970ern bedeutend an. 1982 waren in der produzierenden Industrie 12.000.800 Personen, in Handel/Verkauf 8.820.000 Personen und in Dienstleistungen 8.929.000 Personen abhängig beschäftigt (Rodosho 1985:fu 25). Die Gewichtsverlagerung zum tertiären Sektor stützt das Leitwort des Übergangs zu einer postindustriellen Gesellschaft. Zugleich impliziert sie einen Machtverlust der Gewerkschaften, deren herkömmlicher Rückhalt in der produzierenden Industrie und dem öffentlichen Dienst lag, während die Organisationsrate im tertiären Sektor gering ist (Kobayashi 1984). Parallel zu diesen Umstrukturierungen trat eine „Dynamisierung von Teilarbeitsmärkten" (Lutz, Ernst, Sengenberger 1984) zutage. Bestimmte instabile Beschäftigungsformen, vor allem die Teilzeitarbeit und die Leiharbeit, sind rasch angeschwollen. Während die Heimarbeit insgesamt zurückging, nahm sie in ausgewählten Industriebranchen nach einem Tiefstand um 1973 erneut zu. Diese Renaissance instabiler Beschäftigungsverhältnisse verbindet sich mit den Unternehmensinteressen nach erhöhter „Flexibilität" in der verschärften internationalen Konkurrenz und dem wirtschaftlichen Wandel. Doch die Rückseite der Medaille bilden Tendenzen zur erneuten „Rigidisierung" der permanenten Beschäftigungsformen, wie sie sich etwa in der zunehmenden Internalisierung der Arbeitsmärkte der Großunternehmen, den wieder wachsenden Überstunden

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gerade in technischen Berufen usw. ausdrücken (s.u.). Diese polarisierenden Trends bauen teilweise wiederum auf der geschlechtlichen Spaltung des Arbeitsmarkts 4 auf, da die instabilen „flexiblen" Bereiche (außer von Teilen der Leiharbeit) überwiegend von Frauen besetzt werden und andererseits die Anforderungen an die Kernbelegschaften ζ. B. in Form von Überstunden usw. von einem dem Unternehmen voll zur Verfügung stehenden Arbeiter ausgehen, der nicht durch „Familienarbeit" anderweitig belastet ist. Die Teilzeitarbeit/Kurzzeitarbeit ist seit den 1960ern heftig angewachsen und wurde seitdem „feminisiert". Die Daten über Kurzarbeit umfassen neben Teilzeitarbeit auch Saisonarbeit und irreguläre Beschäftigung 7. Betrug 1960 der Frauenanteil an den 1,3 Millionen Kurzzeitarbeitern nur 42,8 %, so hatte er sich 1976 auf 61,1 % von 3,1 Millionen erhöht und war 1984 auf 70,7 % von 4,6 Millionen gestiegen. Die Zahl der Kurzzeitarbeiterinnen, die zumindest ab den 1970ern fast ausschließlich in Teilzeitarbeit beschäftigt sein dürften, hat sich von 570.000 im Jahre 1960 (mit einem Anteil von 8,9 % an den weiblichen abhängig Beschäftigten) auf 1.980.000 im Jahre 1975 (17,4 %)und auf 3.280.000 im Jahre 1984 (22,1 %) erhöht. Fast jede vierte abhängig Beschäftigte befindet sich also in einem Teilzeitverhältnis (vgl. Tabelle 1; Rodosho fujinkyoku 1985:fu 27). Von der Verteilung der Teilzeitarbeiterinnen über die Branchen her gesehen, zeigt sich in den Branchen Handel/Verkauf und Dienstleistungen mit ihrem relativ hohen Frauenanteil auch ein markanter Trend zur Zunahme der Teilzeitarbeit: 1974 umfaßten die Teilzeitarbeiterinnen in Handel/Verkauf bereits 7,6 % aller abhängig Beschäftigten und 1975 19,2 % der weiblichen abhängig Beschäftigten; 1982 hatte sich ihr Anteil an den abhängig Beschäftigten auf 11,1 % und an den weiblichen abhängig Beschäftigten auf 29,6 %, also fast ein Drittel, erhöht. Im Dienstleistungssektor betrug ihr Anteil an den abhängig Beschäftigten 1974 7,5 % und 1982 8,7 %. Unter den weiblichen abhängig Beschäftigten machten sie dort 1975 17,4 % und 1984 20,3 % aus. Aber auch in der produzierenden Industrie waren 1984 18,5 % aller weiblichen abhängig Beschäftigten Teilzeitarbeiterinnen, während ihr Anteil an allen abhängig Beschäftigten 1982 bei 5,6 % lag (vgl. Tabelle 2; Rodosho 1985:fu 25, fu 30). In den wachsenden Sektoren Handel /Verkauf und Dienstleistungen, die zusammen um 1982 42,2 % der abhängig Beschäftigten außerhalb der Landwirtschaft umfaßten—während der Anteil des tertiären Sektors insgesamt bei 55,7 % lag — schlägt sich die „Flexibilisierung" der Beschäftigung u.a. durch die Zunahme der Teilzeitarbeit deutlich auf die gesamte Beschäftigungsstruktur nieder. In der produzierenden Industrie ist demgegenüber ein Trend zur Zunahme instabiler Beschäftigung vor allem unter den weiblichen Beschäftigten zu erkennen. 7 Ich beziehe mich auf die Angaben der „Untersuchung der Arbeitskräfte" (Somucho:Rodoryoku chosa). Eine einführende Diskussion der unterschiedlichen Definitionen der Teilzeitarbeit in Japan findet sich bei Shinotsuka 1982:89-91.

Mikroelektronische Rationalisierung und Dynamisierung der Arbeitsmärkte 207

Ziehen wir die Betriebsgrößen hinzu, so war der Anteil der Teilzeitarbeiterinnen an den weiblichen Beschäftigten 1984 besonders hoch in den Kleinbetrieben mit 1-29 Beschäftigten, wo er mit 29,9 % fast ein Drittel umfaßte. Aber auch in den Großunternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten war er von 12,3 % im Jahre 1974 auf 18,9 % im Jahre 1984 angewachsen; so überschreitet die Zunahme instabiler Teilzeitbeschäftigung die Grenzlinien des „herkömmlichen Dualismus" zwischen Klein- und Großbetrieben. Auch in den letzteren stellt sie ein Feld instabiler, schlechter geschützter Arbeitsverhältnisse dar, das gegen den Bereich der permanent Beschäftigten insofern abgeschottet ist, daß Übergänge dorthin kaum möglich sind und kein Zugang zur betrieblichen Interessenvertretung besteht. Tabelle 1 Zunahme der Kurzzeitarbeit 1960-1984

Zahl der Kurzzeitbeschäfiigten Anteil an abhängig Beschäftigten (%) Zahl der weibl. Kurzzeitbeschäfiigten Anteil an weibl. abhängig Beschäftigten (%)

1960

1970

1,33 6,3 0,57 8,9

2,16 3,53 3,90 4,64 6,7 9,9 10,0 11,1 1,30 1,98 2,56 3,28 12,2 17,4 19,3 22,1

1975

1980

1984

Quelle: Rödöshö fujinkyoku 1985: fu27

Die betrieblichen Strategien bei der verstärkten Teilzeitbeschäftigung beziehen sich auf das Interesse an weitgehend unqualifizierten Arbeitskräften zu niedrigen Löhnen, die ohne besonderen Schutz durch rechtliche oder informelle innerbetriebliche Regelungen rasch zu entlassen sind. Gaben laut Untersuchungen des Arbeitsministeriums 1965 die Betriebe als vorrangige Motive „Mangel an jungen Arbeitskräften" und „Kostensenkung" an, so wurden 1983 für die Beschäftigung „regulärer Teilzeitarbeiter" vor allem einfache „Arbeitsinhalte, die auch Teilzeitbeschäftigte ausfüllen können" und darauf „Senkung der Personalkosten" genannt. Danach folgte als Motiv die einfache „Anpassung an die Beschäftigungslage" durch den geringen Kündigungsschutz; es wurde vor allem bei mit Tages- oder Kurzzeitverträgen beschäftigten Teilzeitkräften betont (Rodosho fujinkyoku 1985:59-60). Vergleichbar zur Entwicklung in Westeuropa und den US in den 1970er Jahren sind die Teilzeitbeschäftigten überwiegend Hausfrauen, häufig mit Kindern, die nun auf den Arbeitsmarkt drängen. Da die geschlechtliche Arbeitsteilung die Hausarbeit, die Versorgung der Kinder und evtl. der Eltern fast ausschließlich der Ehefrau zuweist und andererseits öffentliche Einrichtungen, wie z.B. Kindergärten nicht für eine Vollberufstätigkeit der Frauen eingerichtet sind (Lenz 1981), steht sowohl vom Arbeitsplätze-Angebot als auch von ihren persönlichen Möglichkeiten her diesen Frauen häufig nur

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Teilzeitbeschäftigung offen. Diese Vorgaben erschweren es, von einer freiwilligen Entscheidung für die Teilzeitarbeit zu sprechen; immerhin wünscht laut einer Reihe von Untersuchungen ein gewisser Teil von ihnen in Wirklichkeit eine permanente Beschäftigung (Shinotsuka 1982:95-6). Ein weiteres regulierendes Moment ist der staatliche Steuer-Freibetrag für Lohneinnahmen des Ehepartners, denn die Teilzeitarbeiterinnen versuchen zum Teil, diesen Rahmen nicht zu überschreiten 8. Die steigende Erwerbstätigkeit der Mütter durchbricht auch in Japan in der Realität die „klassisch-industrielle" Norm der „modernen Hausfrau und Mutter", so daß die M-Kurve der weiblichen Beschäftigung über das Lebensalter allmählich in der Mitte abflacht. Doch beruhen die Bedingungen ihrer Beschäftigung noch weitgehend auf dieser Norm und der daraus abgeleiteten Vorstellung des „weiblichen Nebenverdienstes". Der Begriff der Teilzeitarbeit (part time/paato taimu) bezeichnet in Japan nicht primär eine zeitliche Festlegung, sondern einen Beschäftigtenstatus im Gegensatz zu den permanent Beschäftigten. Dies wird u.a. an den langen Arbeitszeiten der Teilzeitbeschäftigten deutlich: sie lagen in der produzierenden Industrie über 35 Std. und in Handel/Verkauf über 30 Std. wöchentlich (vgl. Tabelle 3). In diesen Bereichen und in Dienstleistungen ist die wöchentliche Arbeitszeit seit 1973 angestiegen; zugleich wuchs die Differenz zu den Löhnen der vollzeitbeschäftigten Frauen (Shinotsuka 1982:105-6). Bei 33,2 % der befragten Firmen arbeiteten die Teilzeitkräfte 7-8 Std. täglich und bei 4,8 % mehr als 8 Stunden 9 . Nur ca. 1/3 gab eine Arbeitszeit unter 5 Std. täglich an (Rodosho fujinkyoku 1985:65-66). Der Status der Teilzeitbeschäftigten ist gekennzeichnet durch geringe Absicherung, niedrige Löhne und Ausschluß aus der betrieblichen Interessenvertretung. Allerdings wurde im Laufe des letzten Jahrzehnts eine stärkere Formalisierung erreicht, so daß auch Teilzeitbeschäftigte nun — in unterschiedlichem Ausmaß — Anspruch auf einen festgelegten Arbeitstag, Urlaub, Pausen usw. haben (ibid:65). Da die Beschäftigungsgarantie für die permanent Beschäftigten jedoch auf informellem Verständnis und nicht auf rechtlichen Festlegungen beruht, sind die Teilzeitbeschäftigten nicht einbezogen. Die Löhne liegen ein Viertel unter den durchschnittlichen Frauenlöhnen; häufig bewegen sie sich leicht über oder an den regionalen Mindestlöhnen (ibid:67; Shinotsuka 1982:106). Obwohl über den Umfang noch keine genauen Angaben vorliegen, scheint Einigkeit über eine rasche Ausweitung der Leiharbeit im letzten Jahrzehnt zu bestehen, die durch die rechtliche Anerkennung der Leiharbeit im Sommer 1985

8 Vgl. die Diskussion um dieses Problem im Monthly Journal of the Institute of Labour. 9 Eine in Tokyo durchgeführte Untersuchung gibt noch etwas längere Arbeitsstunden für Teilzeitarbeit an, vgl. Tokyo rodo kijunkyoku 1985:5.

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noch zugenommen haben dürfte. Das Arbeitsministerium sieht in dieser Beschäftigungsform einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt: Einerseits könne so die Nachfrage nach „Spezialisten" mit Sonderqualifikationen erfüllt werden, die angesichts der eher allgemein qualifizierenden Berufsbildung der Stammarbeiter mit ihrer Distanz zu ausgeprägten Berufsprofilen auf Schwierigkeiten stößt. Andererseits fänden so Personen mit Vermittlungsproblemen einen Job, etwa Hausfrauen und Mütter oder junge Spezialisten, die ihre Arbeitszeit selbst mitbestimmen wollen (Rodosho fujinkyoku 1985:71).

Tabelle 2 Verteilung der Kurzzeitarbeiterinnen (KZA) über ausgewählte Branchen (in 1000 Personen) 1975

1980

1982

Prod. Industrie Anteil an KZA (%) Anteil der KZA an weibl. abh. Besch. (%)

560 28,3 15,8

650 25,4 17,1

670 23,6 17,3

770 23,5 18,5

Handel, Verkauf Anteil an KZA (%) Anteil der KZA an weibl. abh. Besch. (%)

550 27,8 19,2

840 32,8 24,2

980 34,5 26,5

1180 36,0 29,6

Dienstleistungen Anteil an KZA (%) Anteil der KZA an weibl. abh. Besch. (%)

530 26,8 17,4

690 27,0 18,2

780 27,5 19,3

900 27,4 20,3

1984

Quelle: Rödöshö fujinkyoku 1985: fu 28 Da einige ausgewählte Branchen referiert wurden, ergibt die Summe des Anteils der jeweiligen Branche an den KZA nicht 100%.

Der Frauenanteil in einzelnen Sparten der Leiharbeit ist hoch. I m Bereich „Gebäudereinigung und -erhaltung" liegt er bei 60,7 %, wobei 90 % der Frauen einfachen Putztätigkeiten nachgingen. In der Büroarbeit beläuft er sich auf 94,4%; ein Teil der Beschäftigten hat Spezialqualifikationen, wie Tippen auf europäischen Maschinen usw. Die Leiharbeit beruht hier überwiegend auf Tagesbeschäftigung oder gar einfacher Registrierung, so daß eine Beschäftigungsgarantie und somit eine existenzielle Absicherung fehlt. Unter den Leiharbeitern in der Datenverarbeitung, die am stärksten durch die Kluft zwischen Spezialistenqualifikation und auf breite Aligemeinqualifikation orientiertes Anstellungssystem geprägt ist, stellen weibliche Beschäftigte nur ca. ein Drittel (35,8 %). Doch sind sie zu 78 % in einfachen Tätigkeiten als Datentypistin usw. eingesetzt (ibid:71 -2). Der Frauenarbeitsschutz mit seinem Verbot der Nachtarbeit dürfte in der Datenverarbeitung mit ihren extrem langen 14 Tagung Dortmund 1985

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Arbeitsstunden ein Einstellungshindernis bedeuten 10 . Die Arbeitsbedingungen in der Software-Industrie, die häufige Nachtarbeit, manchmal rund um die Uhr, beinhalten, sind auch für männliche Beschäftigte überfordernd, so daß man häufig von einer physischen und psychischen Erschöpfung mit 35 Jahren spricht 11 . So erscheint auch die Leiharbeit als ein — neuer — Bereich instabiler Beschäftigung mit teilweise hoher Belastung und geringer sozialer Sicherung, der sich stark auf Frauenbeschäftigung stützt. Diese Externalisierung von Beschäftigungsrisiken auf Frauen oder ggfs. Arbeitsmigranten entspricht einem internationalen Trend; sie ist auch in der Bundesrepublik festzustellen 12. In Japan haben die Unternehmen bei ihren Beschäftigungsstrategien, in denen sie die permanente Beschäftigung mit verschiedenen instabilen Formen kombinieren (s. u.), relativ größere Handlungsspielräume; denn eine horizontale Einbindung der Interessen der instabil beschäftigten Gruppen in die Gewerkschaftspolitik fehlt einstweilen. Doch haben auch ζ. B. die deutschen Industriegewerkschaften die Interessen dieser Gruppen arbeitsmarktpolitisch selten offensiv vertreten. Die allgemeinen Problemlagen und Herausforderungen, die sich aus der Dynamisierung der „instabilen" Teilarbeitsmärkte ergeben, ähneln sich. Sie sind wohl nicht mehr mit einem breiten Dualismus von „Kernbelegschaft" und „Randbelegschaften" zu erfassen, da letztere vor allem im Kontrast zur „Kernbelegschaft" definiert wurden und die sehr unterschiedliche Genese der sie konstituierenden Gruppen und die differenziellen betrieblichen Strategien bei ihrer Beschäftigung „eingeebnet" werden. Denn unter Berücksichtigung soziokultureller Zusammenhänge wäre nach den Ursachen unterschiedlicher betrieblicher Kalküle bei der Beschäftigung der instabilen Gruppen, bzw. den auftretenden Kombinationen stabiler und verschiedener Formen instabiler Beschäftigung zu fragen, wie sie etwa in der Anstellung von Spezialisten mit „neuen Qualifikationen" als Leiharbeiter im Kontrast zur Verwandlung einfacher Tätigkeiten in Teilzeitarbeit zutagetreten. Ebenso stellen sich die Fragen nach den jeweiligen Motivationen, Qualifikationen und Reproduktionsformen der einzelnen Beschäftigten-Gruppen und nach ihren Chancen der Durchsetzung in den betrieblichen und überbetrieblichen Auseinandersetzungen. Die staatliche Arbeitsmarktpolitik stellt in der Veränderung der Arbeitsmärkte eine regulierende Größe dar, die durchaus eigenständig handeln und Normen 10 Der Frauennanteil könnte sich durch die Lockerung des Verbotes der Nachtarbeit im Gesetz zur Chancengleichheit der Beschäftigung von Mann und Frau erhöhen (vgl. Anmerkung 4). 11 Vgl. Kagaku gijutsu to keizai no kai 1982:81-89; Kemmochi 1983:181-3; diese Einschätzung wurde in den Experteninterviews wiederholt vorgebracht. 12 Vgl. Möller 1982 sowie die Erfahrungen von G. Wallraff bèi seiner teilnehmenden Beobachtung in der Rolle eines türkischen Leiharbeiters.

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setzen kann. In Japan hat das Arbeitsministerium 1984 Richtlinien zur Teilzeitbeschäftigung (Paato taimu rodo taisaku yoko) veröffentlicht, die eine stärkere Normierung und verträgliche Regelung der Teilzeitarbeit bezweckten. 1985 wurde das Gesetz zur Kontrolle der Unternehmen und der Arbeitsbedingungen in der Leiharbeit erlassen (ibid:72,86). Während diese Maßnahmen zu einer Standardisierung der instabilen Beschäftigungsverhältnisse und zur Vermeidung von Mißbräuchen beitragen können, so beinhalten sie zugleich ihre ausdrückliche rechtliche Anerkennung. Kritiker sprechen deswegen von einer Verfestigung der Arbeitsmarkt-Spaltungen durch die staatlich-öffentliche Regelung 1 3 . Veränderungen in der Stammarbeiterschaft 14 Auch für die Stammarbeiterschaft, den zentralen Tragpfeiler der „japanischen industriellen Beziehungen", haben die wirtschaftliche Umstrukturierung und die mikroelektronische Rationalisierung beträchtliche Veränderungen gebracht. Das Konzept der allgemeinen betrieblichen Bildung wird nun verstärkt mit Konzepten zu „human ressources development" verbunden, an denen sich auch einzelne Gewerkschaften beteiligen. Die Förderung „menschlicher Ressourcen" erscheint als ein Leitziel und zugleich als ein Instrument in der Bewältigung der mikroelektronischen Innovation. Deuten sich so Veränderungen in der Qualifikationsstruktur an, so hat sich die innerbetriebliche Mobilität im Zuge der Rationalisierung durch Zunahme der Umsetzungen erhöht. Es wird von einer anders gewichteten Altersstruktur in den mikroelektronischen „Zukunftsarbeitsplätzen" ausgegangen, bei der jungen männlichen Arbeitskräften die Schlüsselrolle zukommt (Rodosho 1985:141-263). Überwogen in dem Zeitraum von 1973 - 80 die reaktiven Bestrebungen, durch Rationalisierung, „Flexibilisierung" und rigide Kostensenkung auch im Bereich der Personalkosten die Auswirkungen der Krise aufzufangen, so scheinen die Flexibilisierungsstrategien nach 1980 sich eher auf die fortschreitende Rationalisierung und technische Innovation zu beziehen. Trotz der Garantie der permanenten Beschäftigung beschränkten sich die Freisetzungen im ersten Zeitraum nicht auf die instabilen Gruppen, wo sie verstärkt auftraten, sondern zogen auch Stammarbeiter, teils mit langer Betriebszugehörigkeit, in Mitleidenschaft (Kemmochi 1983:222ff.). Die Gegenwehr der Betriebsgewerkschaften gegenüber dieser Außerkraft-Setzung der Grundlagen ihrer „begrenzten Kooptation" blieb verhalten; zwar führten sie intensiv betriebliche Verhandlungen, doch kaum Abwehrstreiks durch. Insgesamt verweisen die im internationalen

13 14

14*

So einige Experteninterviews während meines Forschungsaufenthalts 1985. In diesem Rahmen können nur einige wichtige Trends skizziert werden.

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Vergleich niedrigen Arbeitslosenquoten auf eine erfolgreiche Bewältigung der Rezession, die sich mit einer zunehmenden Internalisierung (Sano 1981) und einer erneuten Vertiefung der Spaltung der Arbeitsmärkte verband. Vor allem folgende Merkmale der „japanischen industriellen Beziehungen" wurden als Ursache für die Bewältigung der Krise und die rasche mikroelektronische Rationalisierung gesehen: die Garantie der Dauerbeschäftigung schaffe eine grundlegende Loyalität zum Betrieb und eine positive Arbeitsorientierung. Beides ermögliche eine hohe Flexibilität auch der permanent Beschäftigten, während die Ableitung der Beschäftigungssicherheit von den Berufsstrukturen und Qualifikationen eine starre Struktur der Arbeitsplätze begünstige, da ein Wandel der Berufe und Arbeitsplätze den Beschäftigten bedrohlich erscheine. Das innerbetriebliche, allgemein orientierende Ausbildungssystem und der Senioritätslohn wirken sich ebenfalls förderlich auf die Flexibilität aus, da ein Arbeitsplatzwechsel leichter durchzuführen sei und die Lohnbewertung nicht grundlegend berühre (vgl. u.a. Koshiro 1983). In diesem Rahmen wurde bei den Stammbelegschaften eine erhöhte Mobilität und Flexibilität u.a. durch innerbetriebliche Umsetzungen oder aber durch Abordnung in andere Betriebe des gleichen Unternehmens oder „befreundeter" Firmen oder schließlich durch Delegation in unterstellte Klein- und Mittelbetriebe (shukko) erreicht. Diese Formen, die parallel zueinander angewandt werden, beinhalten eine — wenn auch eingeschränkte— Fortsetzung der Beschäftigungsgarantie. Die meisten Umsetzungen erfolgen in den mittleren Altersgruppen, während ältere männliche Beschäftigte eher delegiert oder abgeordnet werden. Die Produktionsarbeiter in Automobilfirmen, die für eine Zeitlang als Vertreter im Verkauf eingesetzt werden, sind nur ein besonders markantes Beispiel für diese Trends. Nach Daten der Elektroindustrie werden Frauen kaum umgesetzt und delegiert, sondern bei Umstellung eher entlassen (Lenz 1987). Insofern reflektiert der Einbezug in die Flexibilisierung auch die innerbetriebliche Stellung. Eine Reihe von Anzeichen deutet daraufhin, daß die hohe Stellung der älteren Beschäftigten im technischen Fortschritt unterminiert wird. Neben dem bereits erwähnten Trend zur Delegation in Klein- und Mittelbetriebe steht das Abflachen der Lohnkurven ab dem Alter von 40 Jahren 15 . Schließlich werden an mikroelektronischen „Zukunftsarbeitsplätzen" mit integrierten Arbeitsinhalten vor allem junge männliche Arbeitskräfte ausgebildet und eingesetzt16. Die Flexibilisierung des Einsatzes auch der Stammarbeiterschaft verbindet sich mit erneuten Rigidisierungstendenzen, die sich vor allem in einer verstärk-

15

Vgl. eigene Erhebungen bei einzelnen Firmen sowie Lutz, Ernst Sengenberger 1984. Vgl. Lenz 1987 und die darin zitierten Untersuchungen der Forschergruppe zum Einfluß der Mikroelektronik auf die Beschäftigung am National Institute of Employment and Vocational Research unter der Leitung von Prof. Ujihara. 16

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ten Internalisierung der Arbeitsmärkte und ihrer Abschottung nach außen sowie in der wieder leicht wachsenden Forderung nach Überstunden manifestieren (Sano 1981; Deutschmann 1985). Gerade in technischen Berufen sind tägliche lange Überstunden keine Seltenheit; häufig hat nur der Mittwoch einen „normalen Arbeitsschluß". In der Praxis bedeutet dies die Ausrichtung des gesamten Lebenszusammenhangs der männlichen Stammarbeiterschaft am Subsystem Betrieb 17 . Entsprechende Verkümmerungen des Engagements in der Familie, außerbetrieblichen Verbänden oder den Gewerkschaften sind nicht verwunderlich (Deutschmann 1985). Flexibilität und das Puzzle der Beschäftigungsformen Bei einem vorläufigen Versuch, die Arbeitsmarkt-Veränderungen auf die betrieblichen Beschäftigungsstrategien der Großunternehmen zu beziehen, ergibt sich zunächst ein Bild der Variation, Auflösung und Zersplitterung. Die Betribe setzen auf Flexibilisierung sowohl im Einsatz der permanent Beschäftigten als auch der instabil beschäftigten Gruppen. Sie kombinieren unterschiedliche Beschäftigungsformen an ähnlichen oder sogar gleichen Arbeitsplätzen, im Interesse möglichst großer unternehmenszentrierter Flexibilität 18 ; ein krasses Beispiel dafür sind Programmierräume, in denen permanent beschäftigte Programmierer und Leiharbeiter nebeneinander herarbeiten. Ein auffallender Trend ist das Auseinandertreten der Instanzen der Beschäftigung und der Anstellung, das nicht nur im Fall der Leiharbeit auftritt. Vielmehr werden z. B. einzelne Produktionsabteilungen in der Elektroindustrie in Tochterunternehmen und damit in formell selbständige Betriebseinheiten überführt. Damit sind die dort permanent Beschäftigten wegen der organisatorischen Trennung zunächst aus der bisherigen Betriebsgewerkschaft ausgegliedert. Aber auch andere Motive, wie die niedrigeren Lohnkosten in Klein- und Mittelbetrieben oder die Externalisierung von Beschäftigungsrisiken bei variablem Produktionsumfang — wie etwa in der Datenverarbeitung — mögen bei diesen Ausgliederungen eine Rolle spielen. Ich besichtigte eine neu „auf der grünen Wiese" erbaute Elektronikfabrik, bei der die Produktionsabteilung als eigenständiges Unternehmen ausgegliedert war, während der technische und administrative Bereich ein zweites, „kooperierendes" Unternehmen unter dem gleichen Dach darstellte. Eben diese Tendenzen zur institutionellen Ausgliederung sind nur noch schwer mit dem Konzept des internen Arbeitsmarktes zu erfassen. Bei 17

Der Frauenarbeitsschutz sieht Beschränkungen für Überstunden für weibliche abhängig Beschäftigte vor, die in technischen und administrativen Berufen 1985 durch das „Gleichstellungsgesetz" aufgehoben wurden, vgl. Anmerkung 4. 18 Ich habe die Typologie von unternehmenszentrierter vs. gewerkschaftszentrierter Gestaltung betrieblicher Bedingungen von Park 1982 übernommen.

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vorläufiger Sichtung könnte hypothetisch von betrieblichen Konzepten der Gesamtbeschäftigung gesprochen werden, die wie in einem Puzzlespiel unterschiedliche, aufeinander abgestimmte Beschäftigungsformen (Teilzeitarbeit, Leiharbeit, untergeordnete Klein- und Mittelbetriebe) um den verbleibenden Kern der permanent Beschäftigten kombinieren. Die Planung und die Initiative in diesem äußerlich verwirrenden „Patchwork"-Muster liegt zu einem weiten Teil bei den Großkonzernen; andererseits experimentiert aber auch eine kleine Gruppe von dynamischen Klein- und Mittelbetrieben mit dieser neuen Flexibilität und gibt diesen Prozessen zusätzliche Anstöße 19 . Angesichts der Trends zur Auffacherung und Zersplitterung der Teilarbeitsmärkte existieren wenig klare Zukunftsperspektiven auf gewerkschaftlicher Seite, wobei eine Eingrenzung auf die permanent Beschäftigten als eine objektive, aber noch kaum bewußte Handlungsschranke wirkt. Verlautbarungen der Kapitalseite und der Betriebsgewerkschaften stimmen in der Forderung nach dem Erhalt der loyalen Schicht der permanent Beschäftigten auch in der mikroelektronischen Transformation und im Übergang zur „postindustriellen Gesellschaft" überein. Während allerdings erste Gesamtkonzepte zur Neuordnung des Arbeitsmarktes von den Unternehmerverbänden vorliegen, scheinen die Betriebsgewerkschaften sich auf den Schutz des Sektors der permanent Beschäftigten zu konzentrieren 20 . Der einflußreiche Wirtschaftsverband Keizai doyukai schlug 1984 in einer Erklärung die Schaffung eines intermediären „dritten Arbeitsmarktes" für Personen mit besonderen technischen Qualifikationen und Spezialwissen vor. Durch flexible Beschäftigungsformen, wie Leiharbeit, Kurzzeitbeschäftigung und Weitervermittlung von Fachkräften zwischen den Unternehmen, solle er den kurz- und mittelfristigen Bedarf an „Spezialisten" regulieren, der in der mikroelektronischen Rationalisierung erheblich zunähme. Zugleich hätten so Angehörige von „Problemgruppen" auf dem Arbeitsmarkt, wie ältere Arbeitskräfte und Hausfrauen, die über Spezialqualifikationen verfügen, erhöhte Vermittlungschancen. Ein solcher intermediärer Arbeitsmarkt könne auch der Erhaltung der Schicht der permanent Beschäftigten dienlich sein, die der Wirtschaftsverband vor allem aus ordnungspolitischen Aspekten vertritt: sie verkörpern das betriebliche „Gemeinschaftsgefühl" (kyodotai no isshiki), das gegenseitige Vertrauen, und tragen die Betriebsgewerkschaft (Keizai doyukai 1984).

19 Die Mehrheit der Klein- Und Mittelbetriebe ist eher Objekt der Reorganisation der Beschäftigungsverhältnisse und der Subkontraktbeziehungen. 20

An dieser Stelle kann nicht auf die Entwicklung der Positionen und das Wechselverhältnis zwischen gewerkschaftlichen Dachverbänden, Branchengewerkschaften und Betriebsgewerkschaften eingegangen werden. Prof. J. Bergmann und C. S. Kang führen eine Untersuchung dazu durch.

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Sowohl die Dachgewerkschaften als auch die Betriebsgewerkschaften haben ca. 1983 eine Reihe von Schutzabkommen in bezug auf die mikroelektronische Rationalisierung abgeschlossen, wobei das Abkommen der herkömmlich unternehmensnahen Nissan-Betriebsgewerkschaft wie ein Fanal wirkte. Die wesentlichen Klauseln sind im allgemeinen 1. Information oder Mitsprache vor der Einführung der Technologie 2. Kündigungsschutz und ggfs. Mitsprache bei Umsetzungen usw. 3. kompensatorische Maßnahmen wie Umschulung für besonders betroffene Gruppen, wie ältere Beschäftigte und Frauen 4. Arbeitssicherheit und Unfallschutz. In der Praxis betrieblicher Verhandlungen wird wohl besonderer Nachdruck auf den Schutz älterer männlicher Arbeiter durch Umschulung/Weiterbildung gelegt. Denn durch die mögliche Marginalisierung dieser Gruppe ist das Modell der garantierten Dauerbeschäftigung und der Seniorität bedroht, das die Betriebsgewerkschaften mit erkämpft haben. Damit ist auch die Legitimation ihrer „ begrenzten Kooptation" potentiell erschüttert. Ein Umdenken von der vorherigen unbedingten Unterstützung der mikroelektronischen Rationalisierung zur Stellung von Bedingungen zeichnet sich deutlich ab (Gendai sogo kenkyu shudan 1984). Einige Branchengewerkschaften, die von raschem Mitgliederschwund aufgrund des Rückgangs der permanent Beschäftigten betroffen sind (Textil) oder der Reorganisation des Arbeitsmarkts intensiv ausgesetzt sind (Elektro), haben die Diskussion um eine horizontale Ausweitung der Gewerkschaften in die breite Mehrheit der noch nicht organisierten Bereiche der Klein- und Mittelunternehmen und der instabil Beschäftigten aufgenommen. Allerdings scheint auch die Textilarbeiter-Gewerkschaft Zensen domei bei ihrer Öffnung für Teilzeitarbeiter/innen sich noch weitgehend im Stadium der Absichtserklärungen zu befinden. Bei einer Umfrage des Japan Institute of Labour bei 604 Betriebsgewerkschaften zu ihrer Politik gegenüber der Rationalisierung 1983 gaben ca. zwei Drittel der Organisierung von Teilzeitbeschäftigten die geringste Priorität (Japan Institute of Labour 1984:18). In der Elektroindustrie haben einige Betriebsgewerkschaften sich für die Organisierung von Beschäftigten der Klein- und Mittelbetriebe, die in regulären Subkontraktbeziehungen zu ihrem Unternehmen stehen, in eigene Gewerkschaften ausgesprochen. Diese sollen formell selbständig, aber in einem Kleinverband mit der Betriebsgewerkschaft des Großunternehmens „alliiert" sein. Einige solcher Gewerkschaftsverbände sind — unter Dominanz der Betriebsgewerkschaft des Stammunternehmens — bereits zustandegekommen. Die japanischen Gewerkschaften stehen in den 1980er Jahren am Scheideweg. Sie sind konfrontiert mit der Wahl zwischen einer konservierenden Interessenvertretung des sich verkleinernden Sektors der permanent Beschäftigten und einer horizontalen und demokratischen Ausweitung auf die breiten, nichtorga-

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nisierten Bereiche. Die letztere Strategie erfordert neben einer grundlegenden gedanklichen Umorientierung auch das Zurückgewinnen der Initiative und erhebliche Energien. Und der weiterbestehende Erfolg der japanischen Konzerne auf dem Exportsektor mag solche Überlegungen zusätzlich unattraktiv erscheinen lassen. Dennoch wird die japanische Gesellschaft auch angesichts der Gefahr ökonomischer, weltwirtschaftlich oder lokal verursachter Rückschläge darauf angewiesen sein, mögliche Alternativen zu einer „flexibilisierten und doch rigiden Exportleistungsökonomie" zu suchen und zu entwickeln. Wie sich die japanischen Gewerkschaften bei dieser Wahl entscheiden, wird die Konstellation für eine demokratische gesellschaftliche Transformation in die propagierte „postindustrielle Zukunft" entscheidend mitbestimmen. Anmerkungen Dieser Artikel steht im Zusammenhang eines größeren Forschungsvorhabens zu den Auswirkungen der mikroelektronischen Rationalisierung auf die industrielle Frauenarbeit. Neben vorliegender Literatur bezieht er Ergebnisse eines von der D F G geförderten Forschungsaufenthalts in Japan im Sommer 1985 ein, bei dem Experteninterviews und eine Reihe von Betriebsbesichtigungen durchgeführt wurden. In diesem Zusammenhang möchte ich Professor Ujihara, Professor Sung Jo Park, Professor Wienold und Professor Yamamoto besonders für ihre Unterstützung und Anregungen danken. Aufgrund der Fülle der Materialien konnte in diesem Rahmen nur die zitierte Literatur in die Bibliographie aufgenommen werden.

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Bericht über die Diskussion des Themas „Arbeitsmarkt und Kollektiwerhandlungen in Gewerkschaftstheorien" Von Wolfgang Böhm, Dortmund Das Einleitungsreferat von Prof. Müller-Jentsch wählte ganz bewußt einen historischen, theoretischen Einstieg. Dem lag die Annahme zugrunde, daß ohne ein Minimum an Theorie Geschichte nicht gedeutet werden kann. Ohne aufgearbeitete Geschichte kann aber auch keine Standortbestimmung in der Gegenwart vorgenommen werden. Ohne beides gibt es keine Perspektiven für die Zukunft. Müller-Jentsch wies in seinem Referat darauf hin, daß die Theorie die Rolle der Gewerkschaften seit ihrem Entstehen ständig begleitet und gedeutet habe. In einer Zusammenfassung können nur 2 Beispiele herausgegriffen werden: Lujo Brentano hatte gemeint, daß Gewerkschaften geradezu eine Funktionsbedingung für die Marktordnung sind. Da der einzelne Arbeitnehmer zwar formal Vertragsfreiheit hat, aber materiell viel zu schwach ist, kann der Markt als Mechanismus überhaupt nur funktionieren, wenn der Einzelne sich kollektiviert. Gewerkschaften wurden also nicht als störend oder notwendiges Übel für eine Marktordnung angesehen, sondern sozusagen als Krönung, als Schlußstein, als unverzichtbare Funktionsbedingung. Eine völlig andere Position zeigt sich beim jüngeren Goetz Briefs. Dieser definiert Gewerkschaften umgekehrt als Protest gegen Marktgesetze, als Schutzgehäuse gegen die totale Kommerzialisierung der Arbeit. Nicht eine marktgerechte Vergütung ist erstrebenswert, sondern eine faire und gerechte Vergütung. Und das sei im Zweifel etwas anderes als eine durch die Marktkräfte austarierte Vergütung. Es ist keine Frage, daß je nach Selbstverständnis andere Politiken und Aktivitäten abgeleitet werden. Der Referent versuchte sodann, die Geschichte der Arbeitsbeziehungen als einen Prozeß sich abwechselnder Deregulierung und erneuter Regulierung der Arbeitsbeziehungen zu deuten. Als Musterbeispiel für eine Deregulierung steht die Ablösung des alten Zunft- und Gesinderechts im 19. Jahrhundert durch die Liberalisierung und Kommerzialisierung der Arbeitsbeziehungen. Dieser das ganze letzte Jahrhundert prägenden Deregulierung der Arbeitsverhältnisse stehe gerade in allerneuester Zeit wieder eine Regulierung von Arbeitsverhältnissen gegenüber, die sog. Konstitutionalisierung der Wirtschaft. In Umbruchzeiten wie der unseren kommen Themen wie: „das Ende von..." in Mode, ζ. B. Ende des kapitalistischen Systems, der Industriegesellschaft usw. In einer solchen Stimmung des Periodenumbruchs wird natürlich auch nach dem Ende von Gewerkschaften gefragt. Der Referent meinte, daß die auslaufende Industriegesellschaft

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durch zwei ökonomische Vorgaben geprägt sei, die auch die Stellung von Gewerkschaften und von Arbeitnehmern berühren. Das sei einmal die abnehmende Losgröße in der Industrie. Wo früher die Massenfertigung Trumpf war, gibt es heute im Grunde genommen eine Einzelfertigung, z.B. das Automobil, das auf der Fertigungsstraße nach den Wünschen des Abnehmers als Einzelstück gefertigt wird. Hinzu kommt eine völlig neue Form der Materialwirtschaft, neue Formen der Logistik, die auf der einen Seite die Störanfälligkeit erhöhen. Wenn gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen enorme Tiefen- und Breitenwirkung haben, dann ohne Rücksicht auf ihre Minimax-Theorie, sondern weil bei diesen Produktionsstrukturen jeder Eingriff weitreichende Folgen habe. Der Referent leitete daraus einen objektiven Zwang der Industrie zur Flexibilisierung ab, die er in sechs Statements zusammenfaßte: 1. Es erstaunt nicht, wenn behauptet wird, das Arbeitsrecht müsse gelenkiger gemacht werden. 2. Es beginnt ein neuer Streit um die Verhandlungsgegenstände zwischen den Tarifpartnern, z. B. wird die Frage, ob neue Techniken eingeführt werden, nicht mehr akzeptiert als Entscheidung allein des Investors. Die Einführung neuer Techniken soll durch Konsens unter den Tarifvertragsparteien geregelt werden. 3. Es sei eine Kompetenzverlagerung von der Tarifebene zu Betriebsvereinbarungen zu beobachten. Beispiel: Wochenarbeitszeit. 4. Wo früher Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften die Weichen stellten, seien heute die Manager einerseits und Betriebsräte andererseits die Entscheidungsträger. 5. Durch die Differenzierung und Flexibilisierung entwickle sich eine neue Arbeitnehmeraristokratie ohne wirkliche Gewerkschaftsbindung. 6. Es tauchen immer mehr Randarbeitnehmer auf: Leiharbeit, Zeitarbeit, Heimarbeit, Werkvertrag haben Konjunktur. Trotz dieser Veränderungen würden die Gewerkschaften mit Sicherheit nicht verschwinden, aber sie würden sich ändern müssen. Es steht nicht das Ende der Gewerkschaften bevor, aber es könnte das Ende der Massengewerkschaften bevorstehen. Nach Meinung des Referenten gebe es für die Gewerkschaften nur zwei Optionen: Entweder die Gewerkschaften ändern sich selbst nach einem Bild, das sie von sich selbst und ihrem Umfeld entwerfen, dann brauchen sie Theorie. Oder die Gewerkschaften werden geändert vom Umfeld, ob sie wollen oder nicht. Dann wird es auch künftig noch Gewerkschaften geben, aber dann eher als eine Art A D A C für Arbeitnehmer. So, als hätte der Theoretiker die anschließenden Länderberichte bestellt, kamen alle diese Aspekte bei der Berichterstattung über zwei so unterschiedliche Systeme wie Italien und Japan wieder. Sophie A l f berichtete darüber, daß nach ihrer Einschätzung die große Zeit der italienischen Gewerkschaften zwischen 1968 und 1975 gelegen habe. Damals sei

Diskussion „Arbeitsmarkt und Kollektiwerhandlungen"

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es den Gewerkschaften mit ihrem Dachverband gelungen, sich als politischen Ordnungsfaktor darzustellen und akzeptiert zu werden, vom Staat und von den Arbeitgeberverbänden. Nach dem Selbstverständnis der Gewerkschaften war Höhepunkt dieser Entwicklung die Festschreibung der sog. scala mobile, d.h. die totale Anpassung der Lohnentwicklung an die Inflationsentwicklung. Leider habe sich gezeigt, daß ein solches System auch Tücken habe. Da die Steuergesetzgebung unverändert blieb, da die Progression gleich blieb, führte die scala mobile zwangsläufig zu sinkendem Realeinkommen. Erste Erschütterungen zeigten sich 1979 mit dem Ende der Koalition der nationalen Einheit. Von den Gewerkschaften sozusagen als Tiefpunkt und als Trauma empfunden wird die Niederlage im großen Arbeitskampf gegen Massenentlassungen bei FIAT im Herbst 1980. 1982 meinten die Arbeitgeber so stark zu sein, daß sie das Grundlagenabkommen über die scala mobile kündigten. Seither ist der Staat als Interventionist auf dem Plan. Hauptziel der staatlichen Politik ist die Inflationsbekämpfung. Die italienischen Gewerkschaften sehen sich folgenden Problemen gegenüber: Der Staat als Dauerpartner mit Interventionsabsichten, eine Zersplitterung des Arbeitsmarktes, ein massiver Mitgliederschwund bei allen großen Gewerkschaften seit 1980, Neugründung von Gewerkschaften, ein neuer Typ des Arbeitnehmers ohne traditionelle Gewerkschaftsbindung, Gewerkschaften für höhere Angestellte. Die Gewerkschaften sind zum Handeln gezwungen, sie wissen das auch. Sie stellen die Frage: „Überleben oder überwintern?" „Offensiv neue Politiken machen oder sich einigen?" Ein Konzept ist gefragt, eine Theorie ist nicht vorhanden. Dr. Ilse Lenz, die über Japan berichtete, leitete ihr Referat mit den Worten ein: „Vieles in Japan ist verblüffend ähnlich, und trotzdem ist in Japan alles ganz anders". Sie unterschied die Entwicklung in Japan in drei Phasen: Es gab eine Expansionsphase von 1945 bis 1973. In dieser Zeit wurde das ausgebildet, was man das System des innerbetrieblichen Arbeitsmarktes in Japan nennt, beruhend auf einem Stamm von permanent Beschäftigten mit beamtenähnlicher Stellung, daraus abgeleitet das sogenannte Senioritätsprinzip; ähnlich wie im deutschen Beamtenrecht werde der Mitarbeiter mit zunehmender Verkalkung immer wertvoller. Er bekommt automatische Vergütungszuschläge. Zweitens das System der Betriebsgewerkschaften, die anfangs durchaus erfolgreich waren: Bei Lohnfragen, bei Arbeitszeitverkürzungen und auch bei der Einflußnahme auf die Arbeitsbedingungen. Seit 1973 diskutiert man den sogenannten Ölschock. Die Industrie zog daraus zwei Konsequenzen: Erhöhung der Produktivität bedeutete für japanische Verhältnisse etwas ganz Ungeheuerliches: es kam zu Massenentlassungen, von denen auch die sogenannten permanent Beschäftigten nicht verschont blieben. Die Frage sei, wie konnte das ohne massiven Widerstand der Gewerkschaften geschehen? Die Antwort der Referentin: In einer solchen Situation schlägt die Betriebsorientierung die Gewerkschaftsorientierung. Die Erscheinung hat zu einem massiven Légitima-

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tionsverlust der Betriebsgewerkschaften geführt. Seit 1980 ist eine Entwicklung der Instabilisierung und Relativierung zu beobachten. Relativiert wird die Beschäftigungsgarantie, relativiert das Senioritätsprinzip. Das Ganze äußert sich in Erscheinungen, die hier unter dem Stichwort „Japanisierung der Wirtschaft" wohl bekannt sind: Zunahme der Leiharbeit, Teilzeit bis hin zu NurHausfrauen-Schichten, Abend-Hausfrauen-Schichten mit halber oder sogar mit nur 1/3 Vergütung dessen, was einem Normallohn entspricht. Auslagerung von Produktionen, verlängerte Werkbank, Verlagerung von Produktionen in kostengünstigere Regionen. Wenn man das geschlossene Bild des innerbetrieblichen Arbeitsmarktes der Expansionsphase vergleicht mit heute, dann entspreche dies dem Unterschied zwischen einem ausgemalten Bild und einem Puzzle. Man erkenne noch zentrale Teile des Bildes, es gebe auch in sich stimmige Stücke, aber das Gesamtbild müsse man sich eigentlich hinzudenken: Destrukturierung eines Strukturprinzips. Die Diskussion kann ich hier aus Zeitgründen in einzelnen nicht nachzeichnen. Vielleicht eine Anmerkung: Die Frage nach der Theorie kam interessanterweise aus Japan, vom Kollegen Nomura, der fragte: Gibt es in der westlichen Welt eine Theorie über Gewerkschaften, die unter den Bedingungen des entwickelten Kapitalismus die Notwendigkeit von Gewerkschaften nachweist, so daß man daraus vielleicht Anforderungen an Gewerkschaften ableiten könnte? Die Antwort war wahrscheinlich typisch für die gesamte Tagung. Es gibt viele Erklärungsansätze, eine geschlossene Theorie über Gewerkschaften heute gibt es nicht.

VI. Gewerkschaftstheoretische Leitbilder für die Zukunft

Sozialethische und sozialpolitische Dimensionen Von Friedhelm Hengsbach SJ., Frankfurt am Main Ein Jahr nach dem — wie es hieß — härtesten Arbeitskampf in der Geschichte der Bundesrepublik, in dem die I G Metall und die I G Druck und Papier den Einstieg in die 35-Stundenwoche bzw. den Abschied von der 40-Stundenwoche durchsetzen konnten, sind die Gewerkschaften zum Gegenstand einer breiten öffentlichen Diskussion geworden. Richtete sich das sozialwissenschaftliche Interesse an den „Gewerkschaften in der Krise" 1 zunächst auf deren reaktives Verhalten in der ökonomisch und politisch kritischen Situation seit Mitte der 70er Jahre, die durch die Dollarkurs-Freigabe, die Ölpreiserhöhung und die Aufdeckung der Grenzen des Wachstums ausgelöst wurde, so standen schließlich die Arbeitnehmerorganisationen selbst sowie deren Theorie und Praxis im Brennpunkt der K r i t i k 2 . Den Gewerkschaften wird ein angeschlagenes Selbstbewußtsein vorgehalten, seitdem der Wachstumskonsens zerbröckelt ist, die Finanzierungsengpässe des Sozialstaates offensichtlich und die Verteilungskämpfe national und international heftiger geworden sind. Sie hätten sich durch neue Technologien, ein verändertes Verständnis der Erwerbsarbeit, durch sinkende Mitgliederzahlen, Distanz zu Angestellten und Jugendlichen sowie durch Mißmanagement und Skandale in eigenen Einrichtungen in die Defensive treiben lassen und seien den Herausforderungen der Zukunft nicht gewachsen. Auch wenn der Vorsitzende des DGB klarstellte: „Ich sehe die Gewerkschaften nicht in einer Krise" 3 , scheinen die Gewerkschaften irritiert. Haben sie sich in dem Tarifpartner verschätzt? War das Vertrauen auf den Sozialstaat naiv, die Einschätzung gesellschaftlicher Trends voreilig, die Lohnpolitik ein Irrweg? Ist die zündende gesellschaftliche Vision über dem alltäglichen Pragmatismus der kleinen Schritte abhanden gekommen? Müssen die gewerkschaftstheoretischen Leitbilder für die Zukunft selbst noch entworfen werden?

1

Esser, J., Gewerkschaften in der Krise, Frankfurt 1982. Gewerkschaften: Krise hinter der Fassade, Wirtschaftswoche Nr. 50/1985, S. 1; Gewerkschaften: Knirschen im Gebälk, Wirtschaftswoche Nr. 50/1985, S. 76-92; Lecher, W., Überleben in einer veränderten Welt, Die Zeit Nr. 18/1985, S. 44f.; Gewerkschaft im Umbruch, Die Neue Ordnung 3/1985, S. 171 -215; Angestellte und Gewerkschaften, WSIMitteilungen 8/1985, S. 437-473; Gewerkschaftliche Monatshefte 12/1985, S. 642-676. 3 Martens, E., Eine Krise gibt es nicht, Zeit-Gespräch mit dem DGB-Chef Ernst Breit zum Mitgliederschwund, Die Zeit 18/1985, S. 27. 2

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Tagung Dortmund 1985

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Wenn Vertreter katholischer Soziallehre nach gewerkschaftstheoretischen Leitbildern für die Zukunft gefragt werden, könnten sie geneigt sein, vergleichsweise zu antworten, wie ähnliche Institutionen, nämlich die Kirchen, auf kritische Situationen ihrer Geschichte, da bisherige Handlungsmuster unwirksam geworden sind, Zukunftserwartungen unübersichtlich werden und gängige Theorien ihre Überzeugungskraft eingebüßt haben, zu reagieren pflegen. Der Ruf nach radikaler Reform lautet dann in der Regel: Zurück zu den Quellen, d.h. Rückbesinnung auf die ursprüngliche Intuition, Erinnerung an die Aufbruchsphase der Bewegung, Reformulierung der Leitbilder des Anfangs. Entsprechend läßt sich die Reform der Gewerkschaften skizzieren: Die ursprüngliche Intuition wieder gewinnen, die alten Leitbilder beleben, neue Leitbilder anpacken! 1. Die ursprüngliche Intuition wiedergewinnen (1) Der Ursprung der Gewerkschaftsbewegung Mitte und Ende des vergangenen Jahrhunderts lag in der Wahrnehmung einer wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Randlage der Industriearbeiter. Das System einer freien Marktwirtschaft unterwarf alle Tauschgegenstände — eingeschlossen die Ware Arbeitskraft — dem anonymen Steuerungselement des Wettbewerbs und der Preise. Das System des Kapitalismus konzentrierte die Entscheidungsmacht über Produktionsrichtung und Produktionsvolumen ausschließlich in der Hand der Kapitaleigner bzw. der von ihnen berufenen Unternehmensleitungen, die über die arbeitenden Menschen wie über reine Produktionsfaktoren verfügten 4. Diese zweifache Erniedrigung des arbeitenden Menschen, der — anstatt aufgrund der Personenwürde als eigentliches Subjekt der Arbeit zu gelten — zur reinen Ware auf dem Arbeitsmarkt und zum bloßen Produktionsfaktor im Unternehmen entwertet worden ist, hat eine extrem asymmetrische Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und eine extrem asymmetrische Beteiligung an der wirtschaftlichen Entscheidungsmacht herbeigeführt. M i t wachsendem Leidensdruck hat diese extreme Klassenlage der Industriearbeiter einen ethischen Protest und eine politische Widerstandsbewegung ausgelöst. (2) Der ethische Protest richtete sich gegen ein ausschließlich instrumentelles Verständnis menschlicher Arbeit. Die gesellschaftlich organisierte Arbeit reicht in eine religiöse Dimension hinein, insofern Gottes Schöpfung und menschliche Arbeit so aufeinander bezogen sind, daß die menschliche Arbeit Ausdrucksform und Vermittlung der Schöpfertat Gottes sein kann. Arbeit ist Mit-Schöpfung, Umwandlung nämlich

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Vgl. Papst Wojtyla , Die menschliche Arbeit (Laborem exercens) Nr. 8, 20.

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einer Welt, die vom Kampf ums Dasein bestimmt wird, in eine Gesellschaft, die von wechselseitiger Anerkennung, Solidarität und Sympathie geprägt ist. Arbeit ist außerdem eine Weise der Menschwerdung, insofern derjenige, der arbeitet, eine mit Selbstbewußtsein und Freiheit ausgestattete menschliche Person ist, die sich in der Arbeit selbst bestimmt und selbst verwirklicht. Arbeit ist schließlich eine Grundlage gesellschaftlicher Gleichheit, insofern sie vorhandene Privilegien des Standes, des Blutes oder der Ausbildung einebnet und alle am Produktionsprozeß Beteiligten auch am wirtschaftlichen Entscheidungsprozeß beteiligt, gesellschaftliche Differenzierungen allenfalls vom abweichenden Beitrag zur arbeitsteiligen Produktion und zum arbeitsteiligen Entscheidungsprozeß her begründet. (3) Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist eine Geschichte des politischen Widerstandes. Die spontanen, relativ lockeren Zusammenschlüsse von Arbeitern auf regionaler Ebene sowie die 1868 gebildete umfassende Organisation der Arbeiterschaft mußten sich gegenüber dem Staat und den Arbeitgeberverbänden behaupten. Gegen Koalitions- und Streikverbote der preußischen Gewerbeordnung, gegen das Strafgesetzbuch, insbesondere den Erpressungsparagraphen, mit deren Hilfe Lohnforderungen zurückgewiesen und kontraktbrüchige Streikende sanktioniert werden sollten, gegen die Anwendung der Sozialistengesetze auf Gewerkschaftsmitglieder, gegen schwarze Listen, gelbe Gewerkschaften und ähnliche Repressalien der Unternehmer ist schließlich die Koalitionsfreiheit für jedermann und alle Berufe erkämpft und in der Weimarer Reichsverfassung verankert worden. Der politische Widerstand und die kämpferischen Auseinandersetzungen waren darauf gerichtet, den gnadenlosen Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt durch die Anerkennung des Sozialstaates und der Tarifautonomie schrittweise aufzuheben sowie die kapitalistische Unternehmensstruktur in eine arbeitsorientierte Unternehmensverfassung umzuwandeln, insofern sie dem Vorrang der Arbeit vor dem Kapital dadurch Geltung verschafft, daß sie das Unternehmen als Gemeinschaft von Personen begreift und die Leitungskompetenz in erster Linie aus dem gemeinsamen Interesse der Belegschaft ableitet 5 . Die ursprüngliche Intuition der Gewerkschaftsbewegung besteht also in der Wahrnehmung gesellschaftlicher Benachteiligung, in einem ethischen Protest gegen die bestehende Ungerechtigkeit und in einem politischen Kampf zur Herstellung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Gleichheit. Erst wenn diese ursprüngliche Intuition wiedergewonnen wird, lassen sich alte Leitbilder beleben und neue anpacken.

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Vgl. 2. Vatikanisches Konzil, Die Kirche in der Welt von heute, Nr. 68; Papst Paul VI, Ansprache an die internationale Arbeitsorganisation 1969, Nr. 21; Papst Paul VI, Apostolisches Schreiben (Oktogesima adveniens) 1971, Nr. 47. 15*

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2. Alte Leitbilder beleben Die gewerkschaftstheoretischen Leitbilder, die aus der eben skizzierten ursprünglichen Intuition hervorgehen, haben durchweg eine mehrdimensionale Struktur. Warum? Sie greifen auf etwas aus, das noch nicht da ist: eine arbeitsorientierte Marktwirtschaft; und sie spiegeln zugleich etwas, das schon da ist: die soziale Zähmung der kapitalistischen Marktwirtschaft. Die Belebung der alten gewerkschaftstheoretischen und -praktischen Leitbilder ist also zugleich eine Belebung, d. h. Wiederherstellung bzw. auch Akzentuierung dieser Spannung zwischen dem „Noch nicht" und „Schon". Sie sollen im folgenden an vier Beispielen erläutert werden: (1) Eigeninteresse I Allgemeines Interesse Die Gewerkschaften sind von unten, aus dem Zusammenschluß der Industriearbeiter, hervorgegangen. Sie haben die Interessen ihrer Mitglieder gebündelt und mächtig vertreten. Ihre Repräsentanten werden demokratisch gewählt, ihr tarifpolitisches Handeln unterliegt der laufenden Kontrolle durch die Basis. Ohne die fortwährende Rückbindung an die Bedürfnisse, Vorlieben und Interessen der abhängig Beschäftigten, wären die Funktionsträger zwischen Mitgliedern und Tarifgegnern sowie einer kritischen Öffentlichkeit zerrieben worden. Daß die Gewerkschaften diesen Bedürfnissen ihrer Mitglieder gerecht geworden sind, ist anscheinend unumstritten: der Anteil an gesellschaftlichem Reichtum sowie die Beteiligung an wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen hat sich in den letzten 100 Jahren dermaßen verändert, wie sie anfänglich kaum auszudenken waren. Die gewerkschaftliche Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten ist außerordentlich wirksam gewesen und hat beachtliche Erfolge aufzuweisen. Die Gewerkschaften sind aber niemals bloße Interessenvertretungen. Und das zurecht. Denn die ursprüngliche, extrem asymmetrische wirtschaftliche und gesellschaftliche Verteilungssituation hat den kämpferischen Einsatz für die Eigeninteressen zugleich zu einem Kampf um soziale Gerechtigkeit werden lassen. Die Gewerkschaften sind in den kämpferischen Auseinandersetzungen um Chancengleichheit zum Anwalt des allgemeinen Interesses geworden, weil die verfassungsrechtliche Sicherung der Freiheit für jeden, wie sie der Rechtsstaat zu gewährleisten beabsichtigte, uneingelöst blieb, solange nicht auch die materiellen Voraussetzungen für jeden geschaffen waren, diese Freiheitsrechte in Anspruch zu nehmen. Die Transformation des bürgerlichen Rechtsstaates in den demokratischen Sozialstaat mit umfassender Beteiligung der abhängig Beschäftigten ist mit ein wesentliches Ergebnis des gewerkschaftlichen Engagements6. In der ökonomisch und vor allem politisch kritischen Situation der 80er Jahre ist die Verzahnung der eigenen Interessenvertretung und des Einsatzes 6

Vgl. Papst Wojtyla , Die menschliche Arbeit (Laborem exercens) 1981, Nr. 8, 20.

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für das allgemeine Interesse unaufgebbar. Der gesetzlich herbeigeführte Abbau von Sozialleistungen, die hohe Arbeitslosigkeit, die Reallohneinbußen der abhängig Beschäftigten und das durch den Einsatz neuer Techniken verschärfte soziale Klima in den Betrieben rufen lautstark nach einem Gegengewicht gegen den aus den angelsächsischen Ländern herüberwehenden Trend einer liberalen Wirtschaftstheorie, einer freien Marktwirtschaft, einer „kapitalistischen Nascherei", die überwiegend den Interessen der selbst ernannten Leistungsträger nützt. Die wachsende Asymmetrie der Verteilung und Beteiligung ruft nach der Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten und der bereits aus dem Produktionsprozeß Ausgegrenzten, nach einer konfliktfähigen Bewegung und Organisation, die im Engagement für ein Teilinteresse von unten das allgemeine Interesse verfolgt. (2) Systembejahung / Systemumwandlung Die Gewerkschaften agieren systemkonform. Sie haben mit der Marktsteuerung durch Wettbewerb und Preise Frieden geschlossen; sie akzeptieren im Großen und Ganzen den Produktivitätsfortschritt als Grenze des Verteilungsspielraums für den neu geschaffenen wirtschaftlichen Reichtum. Sie rechnen auch mit der wirtschaftlichen Macht des Tarifgegners und lassen ihn mit taktischen Arbeitskampfmitteln ausgestattet. Dem gegenüber haben sie eine Gegenmacht aufgebaut, gegen ihn und mit ihm den Arbeitsmarkt als bilaterales Monopol organisiert. Sie selbst bedienen sich souverän der rechtlich zugelassenen strategischen und taktischen Arbeitskampfmittel. Die Gewerkschaften bejahen den technischen Fortschritt und den Unternehmergewinn, die Privatautonomie und Differenzierungen in der Lohnstruktur als Voraussetzungen eines wachsenden Lebensstandards, der letztlich allen zugute kommt. Sie arrangieren sich mit den Unternehmensleitungen bei Massenentlassungen, bei Betriebsstillegungen, sperren sich nicht gegen Anpassungsmaßnahmen in Problembranchen und Problemregionen, die durch den internationalen Wettbewerbsdruck erzwungen werden. Die Gewerkschaften haben sich darauf eingelassen, Aufsichtsratsmandate zu übernehmen und Entscheidungen über arbeitssparende Investitionen mitzutragen. Sie haben sich an der Konzertierten Aktion der 70er Jahre sowie an dem technologiepolitischen Dialog der 80er Jahre beteiligt, Ihnen gehören Handelsunternehmen, Baugesellschaften, Großbanken, die sich an der einzelwirtschaftlichen Rentabilität orientieren. Andererseits bleibt der Systemvorbehalt der Gewerkschaften bestehen. Die kapitalistische Marktwirtschaft bejahen sie nur bedingt. Der Friede mit dem System ist eigentlich ein Moratorium. Ein solcher Kompromiß auf Zeit verliert das Ziel der Systemumwandlung nicht aus dem Auge: die mindestens paritätische Mitbestimmung, eigentlich die Selbstbestimmung und Selbstorganisation der Betriebe durch die Belegschaft. Ziel bleibt eine Lohngerechtigkeit, die Entlohnungsdifferenzen weniger auf Ausbildungszertifikate,

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Kopf- oder Handarbeit, Frauen- oder Männerarbeit gründet, sondern diese ausschließlich durch abweichende Risiken, Belastungen, Verantwortung, Marktlage und öffentliche Bedürfnisse rechtfertigt, die Begabungsdifferenzen nicht ausschließlich als privates Gut begreift, das der eigenen Anstrengung zu verdanken sei, und das der einzelne restlos für sich beanspruchen könnte, sondern immer auch als öffentliches Gut, das nicht ohne Mitwirken der anderen zustande gekommen ist, dessen Früchte die anderen auch mitgenießen dürfen. Ziel bleibt ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das der grundlegenden Gleichheit aller arbeitenden Menschen einen höheren Rang einräumt als deren Differenzierung.

(3) Gruppensolidarität / Option für die ganz unten Die Gewerkschaftsbewegung hat z.Z. der umsichgreifenden Industrialisierung die Quadratur des Zirkels vollbracht: nämlich eine die Starken und Schwachen umgreifende Solidarität herzustellen, mit Hilfe der Starken die Schwächeren und Schwächsten unter den kollektiven Schutzschirm des Tarifvertrags zu stellen. Damals haben die Drucker und Bauarbeiter den Anfang gemacht, heute sind es oft die Drucker und Metallarbeiter, die für die eigenen Interessen eine Bresche schlagen, aber zugleich für die Interessen derer, die zu einer vergleichbaren Kraftanstrengung allein nicht in der Lage sind. Wie kommt diese Solidarität der Starken mit den Schwachen zustande? Das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes von 1980 zu Streik und Aussperrung unterstellt sie bei den Arbeitnehmern im Unterschied zu den Arbeitgebern als selbstverständlich. Aber sie ist ganz und gar nicht selbstverständlich. Denn die Schwachen allein können sich nicht wehren, die Starken brauchen sich nicht zu wehren. Das „Wunder" der Gewerkschaftsbewegung, die umfassende Solidarität und das Eintreten für die Schwachen ist einmal aus dem Risikobewußtsein entstanden, daß ein Dominoeffekt von ganz unten her nach und nach auch die Bessersituierten treffen könne — also aus wohl kalkuliertem Eigeninteresse. Zum anderen aus dem Klassenbewußtsein, daß die grundlegend gleiche Lebenslage der abhängigen Erwerbsarbeit als gewichtiger eingestuft wird, als die Differenzierungen des Einkommens, der beruflichen Stellung und des Prestiges, die vielleicht mehr ins Auge fallen. Und schließlich aus einer Grundstimmung der Sympathie mit den am meisten, in der Regel aber zufallig betroffenen Opfern eines scheinbar differenzierten, in Wirklichkeit aber wahllos und anonym greifenden, mit der Masse austauschbarer Arbeitnehmer kalkulierenden Filterprozesses. Diese Sympathie bringt die sogenannten Systemgewinner sogar dahin, daß sie auf eine volle Ausschöpfung der eigenen Interessen verzichten, um zu verhindern, daß ihre Kolleginnen und Kollegen aus dem ökonomischen Produktions- und Verteilungssystem ausgegrenzt werden.

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In der gegenwärtigen Krise ist die gewerkschaftliche Verzahnung der kollektiven Solidarität und der Option für die ganz unten besonders notwendig. Während Wirtschaftswissenschaftler und wirtschaftspolitische Entscheidungsträger die Flexibilisierung und Differenzierung des Arbeitsmarktes propagieren, gleichzeitig eine massive Einkommensumverteilung von unten nach oben zugunsten der sogenannten Leistungsträger durchsetzen und darüber hinaus die vorhandenen Privilegien durch elitefördernde Ausbildungskonzepte der eigenen Schicht zu erhalten suchen, müssen die Gewerkschaften sich bemühen, den Leidensdruck der sogenannten Problemgruppen auf dem Arbeitsmarkt und im Betrieb: der Frauen, Ausländer, der auszubildenden Jugendlichen und der älteren Arbeitnehmer sowie der Industriearbeiter in Entwicklungsländern in politisches Engagement umzusetzen. Gleichzeitig müssen sie verstärkt um die „Aristokraten" unter den Arbeitnehmern werben, die wirtschaftstheoretische und wirtschaftspolitische Aufklärungsarbeit vertiefen und die Angestellten, die technische Intelligenz, die fachkompetenten Arbeiter und abhängig Beschäftigten in den Industrieländern zu gewinnen versuchen. Ein neues „Gewerkschaftswunder" der 80er Jahre besteht in der Sammlung der Schwachen, nämlich derer, die ganz unten sind, zu einer Bewegung und Organisation, um aus Schwäche und Ohnmacht heraus die wirtschaftliche und gesellschaftliche Asymmetrie zu beseitigen, und in der Sammlung der Starken, um die eigenen Interessen zusammen mit den Interessen der Schwachen zu behaupten. (4) Praxisbezug I Theoriegewinnung Die Gewerkschaften beteiligen sich an der öffentlichen Diskussion über wirtschafts-, rechts- und gesellschaftswissenschaftliche, theoretische und politische Fragen. Die gewerkschaftlichen Forschungsinstitute und Publikationsorgane schalten sich ein, sobald die übrigen Einrichtungen ihre Analysen und Prognosen vorlegen, sie konkurrieren gar mit ihnen. Sie müssen allerdings einen erheblichen Aufwand, in der Regel Mehraufwand leisten, um sich gegenüber dem industriell- wissenschaftlichen, politischen und Medienkomplex Gehör zu verschaffen. Aber können sich die Gewerkschaften damit zufrieden geben, den zahlreichen Theorien eine weitere hinzuzufügen, die gängigen Argumentationsmuster durch vergleichbare plausible zu widerlegen oder durch solche zu übertreffen, die origineller ausschauen? Die Gewerkschaften verfügen über ein Potential an Wissen, das ihnen nahezu monopolartig zur Verfügung steht, das jedoch Unternehmensmanagern, Verwaltungsbeamten und Wirtschaftswissenschaftlern in der Regel versperrt ist: die betrieblichen Erfahrungen der abhängig beschäftigten Kolleginnen und Kollegen. Über die Betriebsräte und gewerkschaftlichen Vertrauensleute haben sie elementaren Zugang zu Informationen, wie sich Arbeitslosigkeit finanziell, psychisch und sozial auswirkt, wie der gleitende Abstieg über Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe aussieht,

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wie die Massenarbeitslosigkeit das Arbeitsklima in den Betrieben vergiftet. Gewerkschaftliche Analysen und Konzepte, die von solchen Erfahrungen, wie sie die Masse der arbeitenden Menschen alltäglich macht, entworfen werden, und die die Gerechtigkeit eines Wirtschaftssystems danach beurteilen, wie diese Wirtschaft das Produktionsergebnis auf alle verteilt und wie diese Gesellschaft alle am Entscheidungsprozeß beteiligt, stehen gegenüber den Krisenanalysen und strategischen Konzepten der sogenannten wissenschaftlichen und industriellen Elite konkurrenzlos da. M i r scheint, daß der gesellschaftliche Bedarf nach einer wirtschaftswissenschaftlichen Theorie, die im Praxisbezug gewonnen wird, lange nicht so stark war wie in der aktuellen Krise, und daß die Gewerkschaften eine außergewöhnliche Chance wahrzunehmen haben. 3. Neue Leitbilder anpacken Die Gewerkschaftsbewegung hat sich in ihrer mehr als 100jährigen Geschichte aktuellen Herausforderungen gestellt und dabei konkrete, auch gegensätzliche Erfahrungen gesammelt. Diese Herausforderungen und Erfahrungen sind selbst Geschichte geworden. Sie wirken als kritische und dynamisierende, aber auch als dämpfende und irritierende Elemente nach. Deshalb werden die Gewerkschaften neben der Belebung der alten Leitbilder die Berührungsängste gegenüber neuen Herausforderungen und Erfahrungen überwinden und neue Leitbilder anpacken müssen. Aber auch die neuen Leitbilder stehen unter der Spannung des „Noch nicht" und des „Schon"; sie sollen im folgenden an vier Beispielen veranschaulicht werden. (1) Effiziente Organisation / Basisbeteiligung Die Gewerkschaften haben im Laufe ihrer Geschichte Organisationsstrukturen geschaffen, die einen effizienten Entscheidungsprozeß gewährleisten: Sie bedienen sich eines hierarchischen, zentralisierten Apparates, bündeln die Interessenvielfalt ihrer Mitglieder auf die Ebene fachkompetenter, wohl informierter Repräsentanten und entwickeln ein relativ hohes Beratungsund Entscheidungstempo, das dem ökonomischen und politischen Zeitdruck halbwegs gewachsen ist. Das Tarif- und Mitbestimmungsmanagement ist an diesen Maximen orientiert. Gegenwärtig sehen sich die Gewerkschaften einer dreifachen Herausforderung ausgesetzt. Einmal ermöglichen die neuen Technologien eine radikale Veränderung der Produktionsverhältnisse in Richtung auf mehr Flexibilität und Differenzierung betrieblicher Produktions- und unternehmerischer Entscheidungsprozesse. Zum anderen haben gesellschaftliche Bewegungen in zwar funktionstüchtige und effiziente, aber auch representative und bürokratische Apparate verwandelt und sind damit in eine wachsende Distanz zu der Basis, die sie zu vertreten vorgeben, geraten. Und diese Basis, insbesondere die Jugend, treibt die innere Emigration aus der ihrer Meinung nach verkrusteten Großorganisation schließlich so weit, daß sie eine

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alternative Option formuliert: nicht ökonomische Rationalität oder politische Effizienz seien Maßstab des gewerkschaftlichen Entscheidungsprozesses, sondern die Beteiligung daran selbst. Die Gewerkschaften werden auf diese gegenwärtige Herausforderung antworten müssen. Denn zum einen erzwingen die Nachfragedifferenzierung auf den Produktmärkten, die neuen technologischen Möglichkeiten und die veränderte Einstellung zugunsten überschaubarer Einheiten der Arbeits- und Lebenswelt und gegen institutionelle Überbauten eine stärkere Basisorientierung und Dezentralisierung der Entscheidungsprozesse. Zum anderen hat die ökonomische und politische Krise der 80 er Jahre, insbesondere die Mobilisierung der öffentlichen Meinung gegen die Gewerkschaften, wie sie von den Arbeitgebern bzw. vom Staat vor und während des Arbeitskampfes in der Metall- und Druckindustrie betrieben wurde, oder die vorgeschlagene Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes und des Arbeitsförderungsgesetzes bestätigt, daß das kooperative Vertrauen der Gewerkschaften auf den Tarifpartner und den Staat nur in Grenzen gerechtfertigt war, und daß es absurd wäre, wenn die Gewerkschaftsvertreter die „Amtshilfe" der Unternehmerleitung, der Arbeitgeberverbände und der Regierung gegen die eigene Basis in Anspruch nehmen wollten. In Zukunft werden die Gewerkschaften bei der Durchsetzung ihrer Interessen erheblich mehr Vertrauen in die eigene Basis setzen müssen. Die Aktionswoche sowie Basisinitiativen der vergangenen Monate waren bereits Schritte in diese Richtung; und sie waren in der Tat ermutigend. (2) Geschlossenheit nach außen I Pluralismus nach innen Die Gewerkschaften haben die straffe Organisation, die zentrale, militärisch anmutende Entscheidungshierarchisierung mit der strukturellen Asymmetrie zwischen Kapitaleignern und abhängig Beschäftigten in einer von Haus aus und noch immer kapitalistischen Marktwirtschaft begründet. Die Arbeitnehmerorganisationen seien unbeschadet der kompensatorischen Initiativen des Sozialstaates und der Kampfparität im Rahmen der Tarifautonomie strukturell unterlegen, wenn man die Entscheidungskompetenzen im Betrieb und Unternehmen, die gängigen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Argumentationsmuster und die herrschende öffentliche Meinung in Rechnung stellt. Widerstandsbewegungen und Kampfverbände ständen eben unter erheblichem Zeitdruck und könnten sich grenzenlose Meinungsvielfalt oder gar endlose Diskussionsprozesse nicht erlauben. Gegenwärtig scheinen solche Begründungen an Plausibilitätsgrenzen zu stoßen. Einmal greifen demokratisch nicht legitimierte Herrschaftsträger (z.B. Kirchenrepräsentanten) gern auf eine solche Argumentation zurück. Zum anderen entwerfen Machteliten häufig nach außen orientierte Feindbilder und Bedrohungsängste, um die eigene Machtstellung im Innern zu festigen. Vor allem aber werden in vergleichbaren gesellschaftlichen Bewegungen jene eingefahrenen Strategien zurückgewiesen, die bestimmte Ziele

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mit Mitteln erreichen wollen, die diesen Zielen zu widersprechen scheinen. So gebe es keinen Sinn, den Frieden als Zustand der Gewaltfreiheit mit Hilfe von Gewaltanwendung anzustreben. Das Ideal der Bergpredigt lasse sich nicht mit Machtinstrumenten verwirklichen. Umweltfreundliche und sozialverträgliche Politik dürfe sich nicht auf Großtechnologien und bürokratische Organisationsformen einlassen. Vergleichsweise lasse sich die Demokratisierung der Wirtschaft nicht mit Hilfe einer zentralen gewerkschaftlichen Organisationsstruktur herbeiführen. Es mag anmaßend klingen, sich gegenüber den Gewerkschaften als Oberlehrer der Demokratie aufzuspielen. Die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland beweist, daß Gewerkschaftsmitglieder für die Verteidigung der Demokratie ihr Leben aufs Spiel gesetzt und es dabei auch verloren haben. Dennoch müssen die Gewerkschaften aktuell prüfen, ob das Unterlegenheitsargument oder die Bedrohungsvorstellung in Zukunft ausreichen werden, um den Mut zu mehr Demokratie in den Gewerkschaften selbst zurückzudrängen. (3) Parteibindung jgewerkschaftliche Autonomie Die Solidarität der Arbeiter ist im Deutschland des Kaiserreichs und der Weimarer Republik auf drei Säulen, die Genossenschaftsbewegung, die Gewerkschaftsbewegung und die politische Partei gegründet worden. Allerdings war dieses „magische Dreieck" ursprünglich in die abweichenden weltanschaulichen Blöcke eingekeilt. Während sich Unternehmervereinigungen und Arbeitgeberverbände weltanschaulicher Fesseln und konfessioneller Grenzen bald entledigten, wurde den Arbeitnehmerorganisationen die Unterordnung der eigenen wirtschaftlichen und sozialen Interessen unter weltanschaulich und religiös verbrämte, fremde politische Interessen zugemutet. Die abweichende Verflechtung gleicher wirtschaftlicher und sozialer Interessen mit unterschiedlichen weltanschaulichen Positionen wirkt auch in der Einheitsgewerkschaft nach. Der ungleiche Abstand zu bestimmten Parteien und Kirchen, nämlich die größere Nähe zur SPD sowie der größere Abstand zur katholischen Kirche ist für die Gewerkschaftsbewegung der Nachkriegszeit charakteristisch geblieben. Gegenwärtig scheint diese abweichende Nähe und Distanz einem neuen Gipfel zuzutreiben. Die Regierung der Wende läßt kaum eine Gelegenheit verstreichen, um die gesellschaftliche Position der Gewerkschaften zurückzudrängen. Die Kürzung der Sozialleistungen durch Haushaltsstruktur- und begleitgesetze, die Einschätzung der Tarifforderungen nach Arbeitszeitverkürzung der I G Metall und der I G Druck und Papier 1984 durch den Bundeskanzler, der sogenannte Franke-Erlaß, die Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes, das Beschäftigungsförderungsgesetz, die Diskussion um den Minderheitenschutz und Sprecherausschüsse bei der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes sowie die Initiative zur Änderung des § 116 A F G bestätigen die Vermutung, daß die aktuelle Form gewerkschaftsfeind-

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licher Politik seit 1945 ohne Beispiel ist. Andererseits ist es nicht ausgemacht, ob die SPD-Koalitionen in der Lage wären, eine radikale Wende herbeizuführen. Die früheren Auseinandersetzungen um das Gesetz über die Mitbestimmung im Unternehmen sowie um die Verlängerung des MontanMitbestimmungsgesetzes und überhaupt die Endphase der sozialliberalen Koalition haben eher die politischen Zwänge einer SPD veranschaulicht, die sich zur Volkspartei gewandelt hat, auf breite Zustimmung angewiesen ist und mit gewerkschaftlichen Positionen nicht einfach identifiziert werden will. Deshalb werden sich die Gewerkschaften mehr auf ihr eigenes Durchsetzungspotential besinnen müssen. Auf die Autonomie ihrer Basis und ihrer Tarifpositionen ist letztlich mehr Verlaß als auf die Hilfestellung einer Regierung, deren sozialstaatliche Verantwortung in der Regel darin besteht, tarifpolitische Vereinbarungen gesetzlich abzusichern. Institutionelle Äquidistanz zu den Parteien der F.D.P., CDU, SPD und der Grünen mag dabei mit unterschiedlicher Nähe und Ferne vereinbar sein, wenn detaillierte Sachfragen, Projekte oder Initiativen zur Debatte stehen. (4) Alte /Neue soziale Bewegungen Die Gewerkschaften stehen für die soziale Bewegung im Kern der Industriegesellschaft. Diese gilt um die Erwerbsarbeit und die technische Arbeitsteilung zentriert. Deshalb laufen die gesellschaftlichen Konflikte entlang der Demarkationsgrenze, die durch die Tarifgegner und die unternehmerische Entscheidungskompetenz gebildet wird. Der Arbeitskampf in der Metallund Druckindustrie 1984 um den Einstieg in die 35-Stunden-Woche scheint die Fortexistenz dieser Industriegesellschaft bestätigt zu haben, in der die Erwerbsarbeit weiterhin Schlüssel der gesellschaftlichen Organisation bleibt. Gegenwärtig aber lassen sich auch anders gerichtete gesellschaftliche Tendenzen feststellen. Das objektive Gewicht und die subjektive Gewichtung der Erwerbsarbeit werden geringer. Die Erwartungen jüngerer, besser qualifizierter und besser verdienender Arbeitnehmer gegenüber der Erwerbsarbeit überhaupt sowie gegenüber der Gestaltung der Erwerbsarbeit verändern sich. Mehr und mehr abhängig Beschäftigte werden von den mittelbaren ökologischen, technologischen oder politischen Folgen einer Produktion betroffen, die sie als Produzenten mitverantworten und bejahen. Infolgedessen werden jenseits des Gegensatzes von Kapital und Arbeit neue gesellschaftliche Asymmetrien wahrgenommen; dort bilden sich neue gesellschaftliche Konfliktlinien und entstehen neue soziale Bewegungen. Wie sollen die Gewerkschaften auf solche neuen Herausforderungen reagieren? Sollen sie von der gesellschaftlichen Bühne abtreten, nachdem sie die alte soziale Frage, die Verteilung des neu geschaffenen gesellschaftlichen Reichtums und die Beteiligung der Arbeiter am wirtschaftlichen Entscheidungsprozeß einer Lösung nähergeführt haben, und den unerfüllten Rest

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den neuen sozialen Bewegungen überlassen? Oder sollen sie sich den neuen sozialen Bewegungen gegenüber abgrenzen, Unvereinbarkeitsbeschlüsse verabschieden, das Tragen alternativer Plaketten neben den Gewerkschaftsplaketten disziplinarisch unterbinden? Oder sollen sie sich mit dem Staat bzw. den Arbeitgebern verbünden, um eine demonstrative Abwehrfront gegen die Alternativen aufzubauen? Die Gewerkschaften sollten, so scheint mir, die Berührungsängste vor den neuen sozialen Bewegungen überwinden, auch wenn die eigenen Konturen einer etablierten Institution im Kontakt mit konfusen Strömungen zu verschwinden drohen. Das Auftreten neuer sozialer Bewegungen signalisiert nämlich einmal einen massiven Problem- und Leidensdruck, zum anderen aber ein strukturelles und institutionelles Defizit, das diesen Druck ausgleichen könnte. So bestätigen die neuen sozialen Bewegungen in Teilbereichen einen weißen Fleck im gewerkschaftlichen Problembewußtsein. Deshalb sollten die Gewerkschaften partiell neue Koalitionen ζ. B. mit den Alternativen, mit den Umweltinitiativen, mit der Friedens- und Frauenbewegung, mit verschiedenen Dritte-Welt-Bewegungen wagen. Sind die Gewerkschaften in der Krise? Unabhängig von der Fragestellung und Fragerichtung sowie von der erwarteten Antwort werden die gewerkschaftstheoretischen Leitbilder für die Zukunft auf die ursprüngliche Intuition der Gewerkschaftsbewegung zurückgreifen, nämlich die Wahrnehmung gesellschaftlicher Ungleichheit, einen sozialethischen Protest und den sozialpolitischen Widerstand. Sowohl die wiederbelebten alten als auch die angepackten neuen Leitbilder werden nicht eindimensional und einfarbig sein, als könnten die 80er Jahre mit den Durchstartparolen der 50er und 60er Jahre bewältigt werden, oder als könnte die gegenwärtige Industriegesellschaft total verteufelt und die erwartete Gegengesellschaft ekstatisch angehimmelt werden. Die alten und neuen Leitbilder bleiben zweidimensional, in der Spannung des „Noch nicht" und „Schon"; sie rechnen mit der Lernfähigkeit einer sozialen, ökosozialen, aber immer noch kapitalistischen Marktwirtschaft und deren Umwandlung in eine arbeitsorientierte Marktwirtschaft.

Gewerkschaftstheoretische Leitbilder für die Zukunft — Perspektiven aus Arbeitgebersicht Von Fritz-Heinz Himmelreich, Köln Lassen Sie mich vorweg einige Bemerkungen zu der Rolle machen, die ich hier spielen soll, oder von der ich meine, wie ich sie am besten spielen sollte: Es ist immer ein wenig delikat, für den sozialpolitischen und politischen Gegenspieler bei Strategieanalysen und Politikdiagnosen des jeweils anderen mitzuwirken: Man will nicht den Verdacht aufkommen lassen, daß man damit selbst Politik treibe oder daß man sich etwa an seinen Schwächen und Schwierigkeiten weide. Nehmen Sie all das einmal einen Augenblick beiseite. Ich habe mir lange überlegt, an dieser Veranstaltung teilzunehmen; aber zugesagt, weil im Grunde nichts natürlicher ist, als daß in einer pluralistischen Gesellschaft sich auch die Sozialpartner über ihre gegenseitigen Verhältnisse bzw. darüber, wie sie sie jeweils sehen, unterhalten. Meine Ausgangsposition gegenüber den Gewerkschaften ergibt sich wie folgt: Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, die ich hier vertrete, hat im Jahre 1976 — das ist die zweite Vorbemerkung — einen Katalog von Leitlinien des Handelns herausgegeben, den unser damaliger Präsident, Hanns Martin Schleyer, in den Gewerkschaftlichen Monatsheften kommentieren durfte. Da steht der Satz: „Die Arbeitgeberverbände sind für funktionsfähige, starke Gewerkschaften" 1. Wir erhofften uns im Verlaufe der Zeit von dem Gegenspieler zumindest ein Zeichen der Anerkennung für diese Feststellung. Wir warten heute immer noch; geschweige denn, daß eine entsprechende Erklärung gegenüber den Arbeitgeberverbänden erfolgt ist. Wir haben uns — um dies auch darzustellen — bei der Diskussion dieses Jahres um die Frage der Lohnbildung im Rahmen der Tarifautonomie, ob und inwieweit die tarifvertragliche Mindestnorm bei der Einstellung von Arbeitslosen zu unterschreiten oder tarifliche Öffnungsklauseln einzurichten seien, sehr engagiert für die Erhaltung der friedensstiftenden Normen des Tarifvertrages ausgesprochen, der auch in Zeiten der Arbeitslosigkeit den Mindestlohn festsetzt. Ich sage dies, um auch mit einem praktischen Beispiel zu dokumentieren, daß wir engagierte Verfechter der Tarifautonomie sind. Als Instrumente des

1 Hanns M . Schleyer, Die Warnung vor der „Gefahr des Gewerkschaftsstaates", in: Gewerkschaftliche Monatshefte 4/76, S. 206.

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sozialen Spannungsausgleichs setzt sie gleich starke Partner voraus. Deswegen sind wir für starke Gewerkschaften. Zu dem mir gestellten Thema „theoretische Leitbilder der Gewerkschaften" habe ich sechs Punkte. 1.

Die deutsche Gewerkschaftsbewegung hat auf die fortgeschrittenen und flexiblen Formen der Dienstleistungsgesellschaft noch keine Antwort gefunden. Die Dienstleistungsgesellschaft, die in ihren vielfaltigen Erscheinungsformen mehrfach im Mittelpunkt der sozialen Analysen steht, repräsentiert sich u. a. durch ein zahlenmäßiges Verhältnis von Angestellten zu Arbeitnehmern, das sich in den letzten 20 Jahren quasi umgekehrt hat; es verhält sich völlig disparat zur gegenwärtigen Organisationsstruktur der deutschen Gewerkschaften, die mit dem Anteil der ihr zugehörenden Angestellten immer noch auf dem Stande von Mitte der 70er Jahre bzw. des Jahres 1978 verharrt. Die Dienstleistungsgesellschaft hat noch ein anderes Merkmal, auf das die Gewerkschaft keine Antwort gegeben hat: Seit 20 Jahren stehen wir in einem permanenten Prozeß der Höherqualifizierung, wobei die jeweilige Qualifikation auch zu anderen Bewußtseinslagen führt. Die heutigen deutschen Gewerkschaften tun immer so, als rekrutiere sich der überwiegende Teil der Arbeitnehmerschaft aus den Ungelernten und Angelernten, ohne Rücksicht darauf, daß der überwiegende Teil aus Facharbeitern und hochqualifizierten Arbeitern besteht. Fernerhin vermißt man bei den deutschen Gewerkschaften weitgehend eine Antwort auf die veränderten Bewußtseinsverhältnisse, die sich durch das Verhältnis von Arbeit und Freizeit ergeben. Herr Prof. Hengsbach hat in diesem Zusammenhang bereits schon Bemerkungen gemacht. Ich möchte mich hier — wenngleich mit etwas anderen Akzenten — anschließen. Wir haben — was die neuen Formen der Arbeitsgesellschaft angeht — so wie ich es sehe, drei Erscheinungsformen, auf die die Gewerkschaft organisatorisch, programmatisch und auch praktisch keine Antworten gibt: Das eine ist, wie schon gesagt, das Verhältnis von Freizeit und Arbeit, und andererseits die veränderte Einstellung zur Arbeit selbst. Der Wertbegriff von Arbeit, als Mittel der Identifikation der Persönlichkeit mit sich selbst, hat sich wohl bereits fundamental geändert oder beginnt jedenfalls sich nachhaltig zu verändern. Der Anteil der Frauen am Erwerbstätigen-Potential steigt seit 10 Jahren an, in großem Maße mit eigenen Interessenlagen sowohl in der Selbstdarstellung, in ihren Wertvorstellungen von Arbeit, mit ihren Arbeitszeitbedürfnissen und mit ihren besonderen Wünschen gegenüber Arbeitsbedingungen. Die deutsche Gewerkschaftsbewegung hat davon in ihrer Programmatik vergleichsweise

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wenig übernommen; sie macht, grob gesagt, im wesentlichen nach wie vor und in erster Linie die Politik der Männer. Und einen weiteren Punkt halte ich für entscheidend: Wir diskutieren heute Sozialpolitik vor dem Hintergrund eines Erwerbsverhaltens, das sich faktisch zwar in den letzten 20 Jahren fundamental geändert hat; aber auf unser sozialpolitisches Leitbild hat diese Veränderung kaum Einfluß gehabt. Ich meine damit folgendes: Das Erwerbsverhalten und die Sozialpolitik in der Nachkriegsphase, die sich in Fortsetzung der Vorkriegsphase daran orientierten, bestand in der dominierenden Tatsache, daß es in den Familien zumeist einen Verdiener gab. Unsere gesamte soziale Schutzgesetzgebung ist darauf ausgerichtet, soziale Notstände zu therapieren, die dadurch entstehen, daß dieser eine Verdiener in irgendeiner Weise in Not gerät. Unsere Arbeitszeitpolitik, unsere Mobilitätspolitik, unsere Zumutbarkeitspolitik im Arbeitsprozeß zielte und zielt ebenfalls auf dieses Verhalten ab. M i t der Zunahme des Anteils der Frauen an der Erwerbsbevölkerung nimmt aber zwangsläufig auch die Erscheinung zu, daß wir es nicht mit einem, sondern mit zweien und mehreren Verdienern, mehreren „Haushaltsvorständen", gegenüber dem Arbeitsmarkt und gegenüber dem Sozialleben zu tun haben. Das verändert auch die Interessenlagen derer, die dieses praktizieren, und natürlich auch die Verhaltenslagen. Das gilt ζ. B. für die Frage der Arbeitszeitflexibilisierung. Jenseits des tariflichen Konfliktes über diesen Themenkomplex habe ich den Eindruck, daß wir hier Gespensterschlachten fechten; der Grund dafür ist einfach. Die Gewerkschaften wollen aus Organisations- und Solidaritätsgründen offenbar nicht einsehen, daß der überwiegende Teil der Mitarbeiter aufgrund eines veränderten Erwerbsverhaltens der Haushalte — seien es Frauen oder Männer — in der Zwischenzeit selbst wachsende Flexibilisierungsbedürfnisse hat. Die betriebswirtschaftlich begründeten Flexibilisierungsangebote der Arbeitgeber kommen diesen Wünschen entgegen bzw. lassen sich mit ihnen in Einklang bringen. Die Gewerkschaften sollten sich darauf einstellen und deshalb ihre Aufmerksamkeit auf die Rahmenbedingungen der Flexibilität konzentrieren. Das ist besser, als die Flexibilisierung selbst zu bekämpfen. Wir haben im Rahmen der Veränderungen der Erwerbsarbeit Erscheinungen, die Sie alle kennen. Für diese Formen der Arbeitsgesellschaft stehen unterschiedliche Begriffe: „Neue Selbständigkeit" oder „SchattenWirtschaft". Es handelt sich dabei um vielfältige Erscheinungsformen heutiger Erwerbsarbeit. Daneben gibt es Teilzeitarbeitsverhältnisse, sei es als Student, als Rentner, als Hausfrau oder an Stelle von Vollerwerbstätigkeit mit oder ohne Versicherungspflicht; und nicht zuletzt gibt es neben der sog. „geringfügigen Beschäftigung" eine vielfaltige Kombination von alledem, die in ein und demselben Privathaushalt bzw. bei seinen Mitgliedern anzutreffen ist. Wie immer man diese Vorgänge ökonomisch generalisierend bezeichnet; eines ist gewiß: In organisationspolitischer Hinsicht sind sie häufig auch für die Gewerkschaften relevant; denn sie

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bedeuten die Auflösung eines feststehenden, ein für allemal abgeschlossenen Erwerbsverhältnisses durch mehrere quasi selbständige Dienstverträge oder Werkverträge mit sehr hoher eigener Dispositionsfähigkeit des Arbeitnehmers über Zeit und Geld — im übrigen am Ende häufig mit einem besseren Nettoergebnis als in einem normalen BeschäftigungsVerhältnis. Die gesamte Veränderung des Erwerbsverhaltens und der Erwerbsverhältnisse wird von Gewerkschaften als eine „neue A r t " von „Abhängigkeit" befürchtet. Für mich geht dieser Trend prinzipiell eher, sofern es sich um legale Dienstverträge handelt, in Richtung einer flexiblen Auflösung des erstarrten Arbeitsmarktes. Das bedeutet Zugewinn eines großen Stückes eigener Dispositionsfreiheit für den einzelnen Arbeitnehmer. M i t anderen Worten: Die Bedingungen der sozialen Lage sind anders geworden: Der Trend zur Individualisierung verstärkt sich. In dieser Feststellung treffe ich mich mit Prof. Hengsbach, wenngleich wir diesen Sachverhalt anders bewerten; denn bei einer wachsenden Zahl von Menschen rangiert heute das Einzelinteresse aufgrund der beschriebenen Umstände vor dem gesellschaftlichen Interesse; und zwar mehr als in der Vergangenheit. Ich persönlich finde das aus meiner Sicht gut so, daß sich die Differenziertheit vor der Gleichheit mehr und mehr als sichtbare Voraussetzung für die Freiheit des einzelnen herausschält. Andererseits — und das ist ebensowenig zu bestreiten — ist der Egalisierungsprozeß ebenso fortgeschritten. Nehmen Sie als Beispiel das Freizeitverhalten der Bürger, in dem sich ein großer Angleichungsprozeß des Lebensstandards, des äußeren Habitus und der Lebensgewohnheiten entwickelt hat; nehmen Sie die Urlaubsplanung, die Reiseziele, die Kommunikationsformen, die Unterhaltungsformen oder das Nachfrageverhalten gegenüber der Freizeitindustrie! Wo zeigen sich in diesem Beispiel denn heute noch in irgendeiner Form Züge der Klassengesellschaft? — Es könnten zahlreiche andere Beispiele für ähnliche Angleichungsprozesse aufgeführt werden. Die Dienstleistungsgesellschaft ist eben auch dadurch gekennzeichnet, daß sie entsprechend der beschriebenen Entwicklung in zunehmendem Maße den sozialen Neid abgebaut hat und die sog. „Klassenunterschiede" weiter einschmilzt. Die Gewerkschaften indessen operieren programmatisch immer noch auf der Ebene des sozialen Neides und versuchen auf dieser Basis Solidarität zu stiften; sie wundern sich, daß der Erfolg dieser Strategie immer schwächer wird, selbst wenn der Neid nach wie vor bewegende politische Kräfte entfalten kann. Meine weitere Feststellung liegt in der Nähe der vorangegangenen: In der Zwischenzeit hat sich die heutige Gesellschaft zu einer Mittelstandsgesellschaft entwickelt. Damit ist gemeint, daß die Lebensverhältnisse, die Einkommensverhältnisse in einer Pyramide im mittleren Teil sich weiter einander angenähert

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haben und daß außerdem die sozialen Notzustände, die früher einer Mittelstandsgesellschaft entgegen gestanden haben, sozialstaatlich abgebaut wurden. Dadurch entstehen neue Fragen für die Gewerkschaften. Die Konfliktlinien verändern sich, weil die Interessen in der Arbeitnehmerschaft an dem Sozialstaat sich auch verändert haben. Die einen sind daran interessiert, die Abgaben und die Steuerlast möglichst klein zu halten, weil sie bereits durch die Progression hautnah betroffen sind. Das ist das, was Herr Prof. Hengsbach als das Solidaritätsproblem der Starken mit den Schwachen angesprochen hat; die andern, die selbst von der Abgabelast, die damit verbunden ist, nicht in dem Maße betroffen sind, tendieren dahin, die Ausgaben des Sozialstaates eher zu vergrößern. Mit anderen Worten: Die Konfliktlagen in der Mittelstandsgesellschaft erstrecken sich in wachsendem Maße auf unterschiedliche Interessenlagen innerhalb der Gewerkschaften, innerhalb der organisierten Arbeitnehmerschaft selbst.

2. Für die Gewerkschaften ist lange der Gegensatz von Arbeit und Kapital ein motivierendes Solidarisierungselement gewesen. In der modernen Industriegesellschaft hat sich die Dualität längst aufgelöst zugunsten einer Trias, einer durch drei Faktoren bedingten Konfliktlage, eines Spannungsverhältnisses zwischen Kapital, Arbeit und geistigem Kapital. Letzteres wird durch die Ingenieure oder durch diejenigen, die über technisches und Verwaltungswissen verfügen, repräsentiert. Der eindimensionale Gegensatz von Arbeit und Kapital ist deshalb längst anderen Konfigurationen und Gegensätzlichkeiten gewichen. Sie finden ein Stück der veränderten Verhältnisse in den steigenden Zahlen der Angestellten, über die ich schon sprach. Schlußfeststellung zu den ersten beiden Punkten: Die Mittelstandsgesellschaft und die Dienstleistungsgesellschaft schmelzen die sozialen Unterschiede ein und trocknen den Nährboden für einen „Klassenverband" überkommener Prägung. An Stelle dessen tritt mehr und mehr der Zweckverband, der „Interessenverband", der seiner Natur nach von anderer Qualität ist; mehr rationale Überzeugung als emotionale Bindung verlangt. 3.

Das Verhältnis zu der jungen Generation bewegt sich etwa auf der Schnittlinie, die von Herrn Prof. Hengsbach schon in einem anderen Zusammenhang beschrieben worden ist. Für die Arbeiterbewegung war das bewegende Element neben der sog. Klassenlage auch immer ein Stück Utopie von einer neuen Gesellschaft. Diese Utopie wird heute in der jungen Generation von anderen besetzt. Die Bewegung findet weitgehend außerhalb der Gewerkschaft statt, indem sich romantische Ziele einer postindustriellen Welt in anderen Formen in den Köpfen ausbreiten. 16

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Diese von den Alternativen artikulierten Ziele harmonieren nicht mit denen der Gewerkschaften, sondern sie laufen streckenweise ihnen diametral zuwider, wie den Zielen anderer etablierter Organisationen der Industriegesellschaft auch. Andererseits ist ein gewisser Verlust der Attraktivität der Gewerkschaft in der Arbeitnehmerschaft nicht zuletzt auch eine Folge des Erfolges der Gewerkschaften selbst; auf einem hohen Wohlstandsniveau lassen sich „politische Bewegung" und materielle Interessiertheit nicht ohne weiteres miteinander verbinden; ein wesentlicher Teil der materiellen Fernziele von gestern sind heute längst weitgehend erfüllt. Deswegen sind die eigentlich treibenden Bewegungselemente der Gesellschaft weniger innerhalb der Gewerkschaft zu finden; sie liegen eher außerhalb von ihnen. So hat die Gewerkschaft Schwierigkeiten mit der jungen Generation, wie ganz allgemein die Väter mit Söhnen und Töchtern, und zwar wie alle etablierten Gruppen und Institutionen heute ihre Schwierigkeiten mit der jungen Generation haben; denn sie sucht ihre Utopien in anderen Feldern als die Erwachsenenwelt meint, daß sie sie finden könnte. 4. Lassen Sie mich etwas zu der Macht (ich suche nach einem deutschen Wort für „bargaining power"), nach der Macht, Löhne und Arbeitsbedingungen festzusetzen, sagen. Hier gibt es — wie ich sehe — zwei Widersprüche, die die Gewerkschaften nicht lösen können. Der eine Widerspruch ist die Erfahrung, daß das Lohninteresse der Arbeitsplatzbesitzer kollidiert mit den Einstellungsinteressen der Nichtarbeitsplatzbesitzer, die zum Teil nicht Mitglieder der Gewerkschaften sind; d.h. wenn sich bei latenter Arbeitsplatzknappheit die Lohnkosten verteuern, wird die Chance für Beschäftigung von allen, die zusätzlich oder neu oder wieder in den Arbeitsmarkt wollen, kleiner. Die Gewerkschaften haben in der Vergangenheit versucht, diesen Konflikt dadurch zu lösen, indem sie tatsächlich die Interessen der Arbeitsplatzbesitzer, wenngleich relativ maßvoll, mit der Lohnpolitik befrieden, die nachteiligen Folgen dieser Politik aber für die Arbeitslosen der staatlichen Sozialpolitik zu überlassen. Dafür hat es graduell sehr unterschiedliche Beispiele im letzten Jahrzehnt gegeben. Insgesamt sollte die Lösung dieses Problems auf marktwirtschaftlichen Konzepten beruhen, die sich im übrigen für die Gewerkschaften insgesamt als die erfolgreichste Basis der gesamten westlichen Welt erwiesen haben. Deswegen bleibt die Harmonisierung zwischen Arbeitsplatzbesitzerinteressen auf der einen und Interessen der Arbeitslosen auf der anderen Seite eine große Herausforderung; im übrigen nicht nur für die Gewerkschaften, sondern auch für die Arbeitgeber, die an einer „Reservearmee" von Arbeitslosen kein, aber auch gar kein gesellschaftspolitisches Interesse haben und haben können.

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Die zweite Konfliktlinie in diesem Zusammenhang ist der Sozialstaat. Ich erwähnte dies schon in anderem Zusammenhang. Er ist teuer in steuerlicher Hinsicht und bezüglich der Sozialabgaben. Das führt dazu, daß wir heute außer den primären Lohnkosten mehr als 80 % an Lohnzusatzkosten zahlen. Auch der Arbeitnehmer, besonders gut verdienende Facharbeiter, haben eine relativ hohe Abgaben- und Steuerquote. Mit anderen Worten: Die Lohninteressiertheit, oder besser gesagt, die Interessiertheit an der Lohnmacht der Gewerkschaften, verlagert sich auf eine andere Ebene: weniger auf das Verhältnis des einzelnen zum Arbeitgeber, als auf das Verhältnis des einzelnen zum Fiskus. Das ist eine andere Schlachtordnung als früher, wenn Sie so wollen. Und wenn ich das weniger militant ausdrücken soll, dann würde ich sagen, die Interessenprioritäten der Arbeitnehmer verlagern sich zunehmend von dem primären Lohn auf den sekundären Lohn. Das hat eine Fülle von Folgen, die die Gewerkschaften betreffen, aber von ihnen weniger artikuliert werden. — Unter denen, die Beitragssenkungen fordern, sind, selbst wenn es objektiv geboten wäre, die Gewerkschaften in der Regel weniger zu finden. Eher bevorzugt man anscheinend den kostenexpandierenden Ausbau des Sozialstaates, wohl wissend, daß er ohne weiteren Belastungen für alle nicht zu haben ist. Letzte Feststellung: Von den großen, von der politischen Linken favorisierten sog. „Patentlösungen", mit denen die Interessenkonflikte zwischen Kapital und Arbeit in der westlichen Welt angeblich besser gelöst werden konnten, liegen aus den letzten 20 Jahren zwei ganz wichtige Erfahrungen vor, die auch die Gewerkschaften mit in Rechnung stellen müssen. Einmal hat es sich in der ganzen westlichen Welt herumgesprochen, daß eine inflationär induzierte Wachstumspolitik keine Erfolgsstrategie zur Lösung von Beschäftigungsproblemen darstellt. Im Gegenteil, Inflationspolitik verschärft auf lange Sicht die Beschäftigungsprobleme. Das haben wir in der Bundesrepublik Deutschland erlebt und andere Staaten erleben es noch! Die zweite Einsicht, die jetzt auch der wirtschaftspolitische Sprecher des DGB als Stellungnahme zum Sachverständigengutachten geäußert hat und die sich auch in der SPD herumzusprechen beginnt, ist die, daß mit einer vorwiegenden „Nachfrageorientierung" die Mechanismen der momentanen Marktlage auch nicht zu verändern sind. M i t anderen Worten: Wir alle — auch die Gewerkschaften — bleiben im Interesse eines Abbaus der Arbeitslosigkeit im Prinzip auf eine angebotsorientierte Politik und damit auf eine Lohnpolitik der kleinen Schritte angewiesen. Es ist einsichtig, daß eine Lohnpolitik der kleinen Schritte, pragmatisch gesehen, keinen großen Resonanzboden bei denen hat, für die sie gemacht wird. Der Erfolg zahlt sich erst später aus. Dafür benötigt man unter den Mitgliedern viel Einsicht! — Aber die Erfahrung, die für den Erfolg einer solchen Politik spricht, ist unumstößlich.

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5. Die Gewerkschaften der Bundesrepublik tun sich schwer mit ihrem politischen Neutralitätsverständnis im Verhältnis zu den politischen Parteien. Die historische Vorprägung der deutschen Arbeiterbewegung brauche ich hier nicht zu behandeln. Aber die moderne Dienstleistungs- und Mittelstandsgesellschaft differenziert nicht nur ihre gesellschaftlichen, sondern auch die politischen Interessen aus. So entsteht bei den Gewerkschaften ein dialektisches Verhältnis zwischen gewünschter Einheit, die sich auch politisch repräsentiert, und notwendiger politischer Pluralität auf der anderen Seite. Als sozialpolitischer Gegenspieler wünscht man sich gerade in dieser Hinsicht von den Gewerkschaften mehr politische Ausgewogenheit und mehr Offenheit für den politischen Pluralismus.

6. Wenn ich zum Ausgangspunkt zurückkomme, und ich müßte auf die Frage nach Form und Art der Gewerkschaftsbewegung der 90er Jahre und des ausgehenden Jahrhunderts antworten, dann würde ich in Zusammenfassung des Ganzen sagen: Die Gewerkschaften müssen sich daran gewöhnen, nicht mehr Klasse zu sein, sondern mehr Interessenverband zu werden. Seine Zielsetzung liegt darin, mündige Bürger mit einem großen Selbstverwirklichungsbedürfnis zusammenzuschließen und auf differenzierte Interessenlagen in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht einzugehen. Die Arbeitgeberorganisationen sind gewöhnt, mit den Koordinierungsproblemen differenzierter pluraler Interessen im unternehmerischen Lager zu leben. Das Verhältnis des einzelnen Unternehmers zur Solidarität ist seit eh und je vielschichtig und dialektisch. Ich könnte mir gut vorstellen, daß in der Mittelstandsgesellschaft die Interessengruppen der Arbeitnehmer sich an ähnliche Solidarisierungsprobleme wird gewöhnen müssen, wenn das emotionale kollektive Band notwendigerweise schwächer wird. Alle Indizien in der Denkweise der mündigen Arbeiterschaft sprechen jedenfalls dafür. Als Zeitbeobachter stelle ich fest: Gewerkschafts-, Arbeiter- und die linke Bewegung überhaupt waren immer durch Progressivität, anders gesagt, durch einen Geist des Fortschrittdenkens gekennzeichnet. Die verharrenden Kräfte und eine gewisse Zivilisationsskepsis waren eher auf der anderen Seite des politischen Spektrums angesiedelt. Für mich ist es ein bemerkenswerter Sachverhalt, der in diesem Zusammenhang genannt werden muß und über den Tag hinaus wirkt: daß der Zukunftsoptimismus, daß das Vertrauen zum Fortschritt inzwischen von der Linken gewichen ist. An deren Stelle ist besonders eine Art säuerlich moralisierende Skepsis und weinerliche Larmoyanz getreten. Individualisierung und wachsende Freiheitsspielräume des einzelnen im Arbeitsleben werden eher gefürchtet als offensiv aufgenommen. Insgesamt steht der Zukunftsoptimismus politisch mehr auf der anderen Seite. Auch das wird man berücksichtigen müssen.

Gewerkschaftstheoretische Leitbilder für die Zukunft Ein Beitrag aus der Sicht italienischer Gewerkschaften Von Sophie G. Alf, Rom Es fällt mir schwer, einen Katalog der möglichen Leitbilder für die Zukunft der Gewerkschaften aufzustellen; aber ich fange mit den Anregungen an: Ich war mit vielen einzelnen Zustandsbeschreibungen, die Herr Dr. Himmelreich hier geleistet hat, einverstanden. Ich bin jedoch mit keiner seiner politischen und sozialen Bewertungen einverstanden. Ich möchte anfangen mit der Behauptung, daß heute Gleichheit keine Voraussetzung mehr für Freiheit sei, weil Gleichheit heute weitgehend verwirklicht sei. Es läßt sich nachweisen, daß Gleichheit ihrer Verwirklichung vor zehn Jahren schon näher war als heute. Wir sind bereits in einem rückläufigen Prozeß. Ich empfinde dies als Skandal, da der gesellschaftliche Reichtum, trotz abnehmender Wachstumsraten, historisch gesehen nie so groß war wie heute. Gleichheit war in der Vergangenheit ihrer Verwirklichung näher, weil sie gebunden war an die Vollbeschäftigung und an die Eingriffe des Sozialstaates. Es ist zum zweiten ein historisch-kultureller Skandal, weil es heißt, hinter Werte der bürgerlichen französischen Revolution zurückzufallen. Damit ist noch gar nicht die spezifische Emanzipation der Lohnabhängigen angesprochen. Wir sind erst bei ganz bürgerlichen Werten, und an denen muß die Gewerkschaftsbewegung, als Arbeiterbewegung, in allererster Linie festhalten. Sie heißen: Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit; im nachhinein haben wir Brüderlichkeit immer als Solidarität übersetzt. Die Herstellung von Solidarität und Gleichheit unter den Lohnabhängigen ist für Gewerkschaften eine ungeheuer schwere Aufgabe geworden. Dieser Prozeß kann sich nicht darin erschöpfen, daß diese Werte in Sonntagsreden und bei grundsätzlichen Veranstaltungen beschworen werden. Die Gewerkschaften müssen ganz konkrete Wege benennen können, Gleichheit und Solidarität sowohl in den Arbeitsprozessen als auch in der Gesellschaft allgemein zu verwirklichen. Damit tun sich Gewerkschaften schwer. Das hängt stark zusammen damit, daß es auch in der Vergangenheit immer Konkurrenz unter verschiedenen Gruppen von Lohnabhängigen gegeben hat, es hängt auch sicher mit der Entwicklung zusammen, die Herr Dr. Himmelreich beschrieben hat, nämlich etwa der Herausforderung durch die Dienstleistungsgesellschaft, mit den Entwicklungen am Arbeitsmarkt,

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der immer stärkeren Zersplitterung der Lohnabhängigen. Da ist sicher Solidarität nicht abstrakt durch Apelle herstellbar, sondern vielleicht ist Solidarität noch am ehesten herstellbar durch ganz konkrete gewerkschaftliche Arbeit in den Arbeitsverhältnissen, ich sage bewußt nicht nur im Betrieb, sondern in den verschiedenen gesellschaftlichen Arbeitsbereichen. Eine solide konkrete Arbeit muß von den Verschiedenheiten, von den Unterschieden ausgehen; sie darf diese nicht einfach leugnen, sondern sollte sie aufnehmen in jeweils spezifischen Antworten in konkreten Situationen. Sicherlich, nach wie vor muß es ein gewerkschaftliches Ziel bleiben, diese konkrete Arbeit sehr viel demokratischer zu gestalten, als das häufig der Fall ist, mit sehr viel mehr Beteiligungsmöglichkeiten. Gewerkschaftsmitglieder als Basis können nicht nur Objekt gewerkschaftlicher Bemühungen sein, sondern es muß ein demokratisches Wechselverhältnis geben. Die Gewerkschafter können noch sehr viel von vielen neuen Beschäftigungsgruppen lernen. Dazu zählen: eine gemeinsame Klärung des Fortschrittsbegriffs, gemeinsame Diskussionen über technologische Entwicklungen, über Möglichkeiten, technologische Entwicklungen zu beeinflussen. Gewerkschaften haben es immer schwer, grundsätzliche Werte unter den Lohnabhängigen zu vereinheitlichen. Das hängt offenbar damit zusammen, daß in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg alte Vorstellungen der sozialistischen Arbeiterbewegung immer mehr untergegangen sind. Da ist die Perspektive auf eine Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung immer vager, unklarer geworden, die früher einmal gleichgesetzt wurde mit der Möglichkeit der Emanzipation von Lohnarbeit überhaupt. Diese Verdrängung der radikalen systemüberwindenden Perspektive hängt ja nicht nur damit zusammen, daß die Gewerkschaften oder sozialistischen Parteien verbürgerlicht werden, sondern auch mit Systemvergleichen, die man seit einigen Jahrzehnten machen konnte: Daraus hat sich eine Überzeugung breit gemacht, daß vielleicht innerhalb dieses Systems mit wichtigen Veränderungsprozessen mehr Möglichkeiten bestünden, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit und Freiheit zu verwirklichen, als in sozialistischen Systemen. Das ist sicher eine große Veränderung: damit sind solche vereinigenden Werte früherer Jahrzehnte weitgehend weggefallen. Heute gibt es einen neuen Bedarf nach vereinheitlichenden Werten. In einem anderen Punkt bin ich wieder mit Herrn Dr. Himmelreich einverstanden: die Gewerkschaft der Zukunft darf nicht nur ein Interessenverband, Gewerkschaften dürfen nicht nur verschiedene Interessenverbände aufgeklärter mündiger Bürger sein, auch nicht nur ein Dienstleistungsbetrieb; das sind sie heute schon viel zu sehr: In Italien läßt sich feststellen, daß, während die Gewerkschaften unterschiedslos einen ungeheuren Mitgliederrückgang hinnehmen müssen, sie junge Leute fast gar nicht mehr gewinnen können, was natürlich auch mit der extrem hohen Jugendarbeitslosigkeit zusammenhängt. Katholische Basisorganisationen, die klar ganz einfache Werte, wie Solidarität,

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Füreinandereinstehen, konkretes Helfen anbieten, haben einen ungeheuren Zulauf. Jugendliche sind zu Hunderttausenden heute in katholischen Basisorganisationen engagiert, sehr engagiert. Sie geben einen großen Teil ihrer Freizeit zur konkreten Hilfe für gesellschaftliche Randgruppen, für Gruppen, die sich für die Interessen der Dritten Welt ganz konkret einsetzen, zur Drogenberatung, in allen gesellschaftlich vernachlässigten Bereichen. Sie engagieren sich dort ganz stark. Es besteht also ein großes Bedürfnis nach Werten. Es steht durchaus nicht nur eine ganz egoistische Verfolgung eigener Interessen im Vordergrund. Auch wenn man mit diesen Gruppen vielleicht nicht immer einverstanden sein kann, wenn man etwa als Nichtkatholik oder, wie ich, aus einer kommunistischsozialistischen Richtungsgewerkschaft kommend, sehr kritisch gegenüber diesen katholischen Basisorganisationen sein muß, sollten die Gewerkschaften aufnehmen, was sich dort ausdrückt. Sie sollten auch anerkennen, daß die Werte, die die katholische Kirche heute vermitteln kann, offenbar erfolgreicher vermittelt werden als die der Gewerkschaftsbewegung oder der linken politischen Parteien. Für die Zukunft der Gewerkschaften heißt das, allen Tendenzen zum Sozialdarwinismus entgegenzuwirken, die heute sich wieder sehr breitmachen. Solidarität mit den Schwächeren heißt: nicht Unterstützung des Stärkeren, Überleben nur der Stärkeren. Was in der Natur vielleicht gelten kann, kann doch wohl kaum für gesellschaftliche Entwicklungen wünschenswert sein. Dem Sozialdarwinismus entgegenzuwirken heißt zu versuchen, Werte wie Solidarität und Gleichheit wieder in die Gewerkschaftsbewegung fest einzubringen.

Auszüge aus der Podiumsdiskussion Von Hans Pornschlegel, Dortmund Die Podiumsdiskussion zu künftigen Leitbildern einer Gewerkschaftstheorie setzte sich lebhaft mit eher aktuellen Fragen auseinander. Es folgen einige Ausschnitte von Beiträgen der Referenten, die sich auf übergreifende Fragen bezogen. Dr. Ilse Lenz: Veränderungen in der Struktur der Frauenarbeit Die Frauen sind seit Anfang der industriellen Revolution erwerbstätig in den Fabriken. Die Frage ist, in welcher Lebensphase dies geschieht. Solange sie nicht verheiratet sind, sind sie in der Lohnarbeit tätig. Sie arbeiten als Ehefrauen eben meistens im informellen Bereich, teilweise als Dienstmädchen, weiter in allen möglichen Tätigkeiten. Da besteht das volle Interesse, einerseits das Familieneinkommen zu verbessern, andererseits auch eine eigenständige Erwerbstätigkeit zu haben. Viele Studien und internationale Quellenarbeiten belegen, daß die damit einhergehende Sozialpolitik seit Bismarcks Zeiten und erneut seit 1950 ein ideologisches Bild der sozialen Absicherung hat, das sich sehr stark an den bürgerlichen Familien orientiert. Das Problem, das wir heute haben, ist nicht, ob Frauen in flexible Arbeitsverhältnisse gehen. Wir sind ja mit Leiharbeit und Stundenverträgen in manchen Handelsbereichen konfrontiert, in denen diese Flexibilität von den Frauen wahrgenommen wird. Es besteht aber der Wunsch nach einer angemessenen sozialen Absicherung. Es geht also nicht nur darum, daß Frauen jetzt flexibel sein wollen; dazu werden sie durch Rahmenbedingungen unserer Erwerbstätigkeit gemacht. Frauen wollen aber nicht zu Mindestlöhnen flexibel sein. Das drücken sie u.a. aus durch ihr gewerkschaftliches Organisationsverhalten in den letzten Jahren. Die Frauen sind eine der wenigen Gruppen, die sehr stark auf das gewerkschaftliche Solidaritätsversprechen reagiert haben, indem sie im erhöhten Maße in den letzten Jahren in die Gewerkschaften eingetreten sind und sich an bestimmten Aktionen auch stark beteiligt haben. Die große Frage ist nun, wie die Gewerkschaften damit umgehen. Prof. Dr. F. Hengsbach: Arbeitzeitverteilung und Lohnentwicklung Es ist das Thema Teilzeitarbeit bzw. Reduzierung der Arbeitszeit mit möglichen Lohneinbußen angesprochen worden. M i r ist klar, daß das ein Tabu und für die Gewerkschaften schwer zu verdauen ist. Das vorweggeschickt. Aber jetzt möchte ich mit zwei Beispielen mich diesem Punkt nähern: Wenn in einem Betrieb jahrelang Überstunden gefahren werden, haben die Leute sich darauf

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eingestellt, auch auf das entsprechende Einkommen. Wenn nun der Betriebsrat sagt: „Wir stimmen keinen Überstunden mehr zu", dann gibt es eine Lohnreduktion gegen mehr Freizeit. Dann wird der Lohn reduziert, obwohl jahrelang diese Überstunden gemacht wurden. Zweitens: Wenn ein Betrieb vor der Produktionseinschränkung steht, weil die Marktlage es nicht mehr erlaubt, die Kapazitäten voll auszufahren, und Arbeitslose stehen an, dann ist es doch eine sinnvolle gewerkschaftliche Strategie zu sagen, wir machen Kurzarbeit, damit keiner den Arbeitsplatz verliert. Auch hier verliert man Lohnbestandteile gegen mehr Freizeit. Das ist mein Ausgangspunkt, daß so etwas auch in einem fairen Tausch durch die Gewerkschaften in bestimmten Bereichen geregelt werden kann. Ich nehme bewußt das Beispiel der Lehrer: Diese sind eine Berufsgruppe, die nur für diesen Beruf ausgebildet wird. Sie haben keine andere Chance, als diesen Beruf auszuüben. Das sind Stelleninhaber, also Arbeitsplatzbesitzer, relativ privilegiert gegenüber denen, die draußen stehen. Diese Stelleninhaber sitzen für Lebenszeit auf ihrer Beamtenstelle, die andern stehen davor, haben keine Möglichkeit, eine Stelle inne zu haben. Gerade die westdeutschen Lehrer haben, international verglichen, einen ziemlich hohen Verdienst, in zweierlei Hinsicht: einmal absolut gesehen, und auch, wenn man die Differenz zwischen dem Lohn eines Facharbeiters und dem Gehalt eines Lehrers betrachtet. Ich beziehe die Hochschullehrer immer damit ein. Dann ist es nicht mehr als recht und billig, wenn man sagt, jetzt laßt uns doch einen vernünftigen Tarifvertrag abschließen und sicherstellen, daß in dem Maße, in dem die Arbeitszeit reduziert wird und eine Lohneinbuße stattfindet, auch neue Lehrer eingestellt werden. Das halte ich also für eine ganz faire, sinnvolle Sache. Das wäre nicht der Anfang vom Ende des Tarifvertragssystems, sondern hier würde Freizeit eingetauscht gegen Lohnbestandteile. Wir können nicht davon ausgehen, daß das Arbeitsvolumen bei der steigenden Produktivität wesentlich größer wird. Wir können das Arbeitsvolumen nicht vermehren, das für bezahlte Lohnarbeit verfügbar ist. Wir können doch die Märkte, die schon verstopft sind, nicht mit noch mehr Autos und noch mehr Konsumgütern auffüllen. Wir müssen uns überlegen, wie wir dieses Problem in den Griff bekommen. Dann dürfen wir auch dieses Tabu nicht scheuen. Dr. Himmelreich: Zur Ausländerfrage Es lohnt sich, wenn wir die Ausländerfrage hier noch einmal einen Augenblick aufgreifen. Wir haben ja mehr und mehr folgendes Problem: Es gibt auf der einen Seite den Teil der ausländischen Erwerbsbevölkerung, der gefestigt ist: das ist die Bezeichnung nach dem Ausländerrecht, der also mehr als fünf Jahre hier ist, der einen festen Status hat und deswegen auf dem Arbeitsmarkt auch so zu behandeln ist wie jeder andere auch. Dieser Anteil macht fast 75% der ausländischen Erwerbsbevölkerung aus. Dies gilt natürlich erst recht für den Teil der Ausländer, die in der zweiten und dritten Ausländergeneration nachwachsen. Hier liegen ja verhältnismäßig schwierigkeitslose Integrationsvorgänge vor, sowohl bei der Arbeit wie auch in der Qualifizierung. Ich bin der Meinung, die

Auszüge aus der Podiumsdiskussion

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Notwendigkeit der Höherqualifizierung wird anhalten. Deswegen wird es sowohl für die Deutschen als auch für die Ausländer, die diesen Trends nicht folgen können — aus welchen Gründen auch immer — arbeitsmarktpolitisch schwieriger. Das gilt jetzt zweitens für die Ausländer, die über Assoziierungsverträge heute und morgen hinzukommen. Sie wissen, wir diskutieren ζ. Z. noch mit der Türkei über den Beginn der Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus der Türkei mit Zugang hier zu den deutschen Werken. Es muß damit gerechnet werden, daß der Zeitpunkt des Beginns früher liegt, als die demografische Entwicklung, d. h. also die deutsche Bevölkerungskurve und die Erwerbstätigenpotentialkurve, abschwingt. Wir werden daher vorübergehend mit Ausländern zu rechnen haben, die in das deutsche Qualifikationsmuster nicht mehr hineinpassen und die deswegen von der Natur der Sache her zunächst zur Arbeitslosigkeit verurteilt sind. Deswegen versuchen wir, gemeinsam mit den Gewerkschaften, den Zeitpunkt der endgültigen Freizügigkeit immer weiter hinauszuschieben. Nun würde ich auf Ihre Frage gerne antworten, nämlich, soll sich die Gewerkschaft des Armutsdrucks annehmen, der mit den Nichtqualifizierten verbunden ist, zu eigen machen, um sich die Ersatzdynamik der Bewegung zu verschaffen, die sie durch ihre eigenen, in das Beschäftigungssystem integrierten Mitglieder nicht mehr bekommt. Davor würde ich sehr warnen, weil sie diesen Druck auf die Dauer selbst nicht aushalten kann. Sophie Alf Zur Ausländerproblematik Ich möchte noch ganz kurz etwas zum Ausländerproblem sagen, ich habe mit großer Freude die Aktion, die der DGB gestartet hat, wahrgenommen, diese „Mach meinen Kumpel nicht an"-Bewegung. Es hat mir besonders gut gefallen, weil sie ein Beispiel ist, wo ganz konkrete Solidarität und wo konkret ein wichtiges Problem aufgenommen wird; wo der DGB sich nicht mal erst im nachhinein auf die neue Bewegung zu bewegt, die außerhalb entstanden ist. Man steigt da nicht noch schnell mal auf, wie in der Friedensbewegung, Frauenbewegung, Ökologiebewegung. Hier wird der DGB wirklich initiativ, wenn auch die Idee aus Frankreich kommt,wo die „Mach meinen Kumpel nicht an"-Bewegung eine außerhalb der Gewerkschaften entstandene Massenbewegung ist. In einem Land wie Frankreich mit einer extrem bedrohlichen Ausländerfeindlichkeit, einer bedrohlichen, die die französische Demokratie inzwischen in die Krise bringt, ist dies ganz wichtig, auch wie eine Massenbewegung ausgelöst wurde, vorwiegend von französischen Jugendlichen und den in Frankreich bereits geborenen und aufgewachsenen jugendlichen Ausländern. Wenn diese Bewegung auf Europa übergreift und von europäischen Gewerkschaften aufgegriffen worden ist (auch in England gibt es sie, sie haben diesen gleichen Slogan auch übersetzt), ist das ein wichtiger konkreter Solidaritätsbeitrag, ein ganz konkreter.

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Prof. Dr. Müller-Jentsch:

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Fortschrittsdefinitionen

A m Ende steht die Hauptfrage immer noch offen; daher will ich den Versuch machen anzudeuten, wie eine neue Gewerkschaftskonzeption zu denken ist. Die Vertretung der materiellen Interessen muß selbstverständlich der harte Kern jeder Gewerkschaft sein und bleiben. Diese muß auf die einzelnen Gruppen Rücksicht nehmen und die Interessenpolitik ihnen etwas geschmeidiger anpassen. Wenn sie dabei stehen blieben, wären sie ein reiner Interessenverband à la Fluglotsen und dergleichen. Aber die Interessenpolitik ist die „Geschäftsgrundlage". Das zweite: die Gewerkschaften müßten in ihrer Praxis auch wirkliche Solidargemeinschaft für die gesamte Arbeitnehmerschaft sein. Sie sollten insbesondere ihre starken Bataillone nutzen, um die schwächeren Gruppen zu schützen: Sie sollten also nicht nur Solidargemeinschaft für den „produktivistischen" Kern, für die Rationalisierungsgewinner sein. In der Diskussion sind ja auch die betroffenen Gruppen genannt worden: Ausländer, Arbeitslose insbesondere, brauchen diese Solidarität. Diese Solidargemeinschaft zu formen, zu praktizieren, ist deshalb so schwer geworden, weil das ideologische Dach, die Programmatik der sozialistischen Arbeiterbewegung nicht mehr da ist, oder zumindest so löcherig geworden ist, daß es überall durchregnet. Es ist traurig zu sagen, aber der Sozialismus löst bei den meisten Arbeitern, bis auf eine verschwindende Minderheit, eher Befürchtungen als Hoffnungen aus. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Die sozialistische Arbeiterbewegung ist im Niedergang, wenn nicht am Ende. Insofern wird es sehr schwierig, jetzt eine neue gesellschaftliche Utopie zu finden. Der dritte Punkt: in dieser gesellschaftlichen Utopie, ohne die auch eine Gewerkschaft als Solidargemeinschaft oder Solidarbewegung auf Dauer nicht auskommt, wäre der Fortschrittsbegriff neu zu definieren, nicht in Begriffen von Wachstum und industrieller Produktivität. Es wäre, viertens, auch der Sozialstaat neu zu definieren. Wir haben zu wenig darauf geachtet, daß der Sozialstaat auch seine Fehlentwicklungen hat, die Bürokratie, die Kosten; der Sozialstaat ist nicht zum Nulltarif zu haben. Die gesamte Bürokratie, die ihre Starrheiten und ihren Wasserkopf hat, muß ja finanziert werden. Ich frage mich, in welchem Verhältnis die realen Leistungen zur Aufrechterhaltung dieser Bürokratie stehen. Wir müssen flexiblere Formen des Sozialstaats finden. Fünftens schließlich muß es eine gesellschaftsbezogene Praxis geben, die zugleich den Interessen der Arbeitnehmer gerecht wird, aber auch die Realitäten nüchtern betrachtet. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es einen strukturellen Interessengegensatz — meinetwegen auch Klassengegensatz gibt. Wenn wir diesen nicht beseitigen können, und die Kraft ist offenbar nicht vorhanden, dann müssen wir das zunächst als Realität nehmen und versuchen, herauszuholen, was für die Arbeitnehmer am sinnvollsten ist. Die Schweden zeigen hier eine Möglichkeit: Ein radikaler Reformismus tut Not, der vom Bewußtsein ausgeht, dieses kapitalistische System kann man nicht revolutionär abschaffen. Offenbar wollen die Arbeiter auch nicht, daß es abgeschafft wird.

Auszüge aus der Podiumsdiskussion

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Nur noch eins, es hat wenig Sinn, jetzt hier Herrn Himmelreich als „Watschenmann des Kapitals" zu behandeln. Das Kapital handelt, das kann man ja bei den alten Klassikern nachlesen, nach objektiven Zwängen und Gesetzmäßigkeiten. Das sollte man nicht mit moralischen Kategorien ständig verdecken. Enzensberger hat das mal so ausgedrückt: „Soll der Geier Vergißmeinnicht fressen?" Ich will damit nicht verkennen, daß auch die moralische Empörung ihren politischen Stellenwert hat. Prof. Dr. F. Hengsbach: Leidensdruck und ethischer Protest Für mich steht schon am Ausgangspunkt der Gewerkschaftsbewegung und auch bei den laufenden Schritten der Gewerkschaftsbewegung vor allem ein Leidensdruck. Und dann etwas anderes: der ethische Protest, daß es wirtschaftliche, gesellschaftliche Ungleichheit und Unfreiheit gibt. Dieser Zustand bedeutet zumindest partielle, gesellschaftliche Ungerechtigkeit. Das mag in einer sogenannten Mittelstandsgesellschaft sehr schwierig zu identifizieren sein. Ich habe keine großen Probleme, in der Bundesrepublik des Jahres 1985 solchen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leidensdruck festzustellen und ihn auch als gesellschaftliche Ungerechtigkeit zu bezeichnen. Ich bin mir bewußt, daß ich da nicht alleine stehe. Aber wenn es schwierig wäre, in der Bundesrepublik so etwas auszumachen, so fiele es keinem mehr schwer, insgesamt die Weltwirtschaft als brutalen Kapitalismus zu bezeichnen, der keine sozialstaatlichen Korrekturen, auch keine mächtige Gewerkschaftsbewegung kennt. Vielleicht ist es wichtig, auch für die Gewerkschaftsbewegung in den starken Ländern, also in den „wirtschaftlichen Gewinnerländern", wie der Bundesrepublik und Schweden, sich gleichsam von unten her nochmals einzuordnen. Wenn Sie Schwierigkeiten haben, Armut relativ in der Bundesrepublik zu definieren, in Brasilien ist das kein Problem mehr. Damit sind natürlich eine große gewerkschaftliche Utopie und ein hoher ethischer Anspruch verbunden, den ich den deutschen Gewerkschaften nur ganz behutsam unterstellen mag. Ich sehe auf die Dauer aber gar keine andere Chance. Wenn die soziale Frage des 19. Jahrhunderts die Arbeiterfrage war, die die Gewerkschaftsbewegung ausgelöst hat, dann ist dies die soziale des 20. und 21. Jahrhunderts im internationalen Maßstab. Wenn die Gewerkschaften von daher nicht ihre Antwort finden, einmal Interessenvertretung hier in der Industriegesellschaft zu sein und noch Kraft zu finden zur Transformation dieses weltwirtschaftlich zunehmend entfesselten Kapitalismus, dann haben sie auch hier, meine ich, keine Existenzberechtigung. Hinter diesen Feststellungen stehen meine Hoffnungen und Erwartungen. Dr. Himmelreich: Prof. Hengsbach stimme ich in der Analyse zu: die soziale Frage des nächsten Jahrhunderts ist möglicherweise nicht mehr die der europäischen Arbeiter, sondern sie wird die internationale Frage in den Entwicklungsländern sein. Nur zur Therapie haben wir beide wahrscheinlich einen unterschiedlichen Zugang. Ich bin der Meinung, der funktionsfähige soziale Kapitalismus in den euro-

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päischen Ländern ist die einzige Voraussetzung, um den unterentwickelten Ländern zu helfen. Alles andere bleibt eine seminaristische Erwägung, aber keine praktische Hilfe. Frau Alf: Ich habe jetzt so oft von Herrn Dr. Himmelreich das Wort Therapie gehört. Therapiert werden Krankheiten. Mit dieser Wortwahl geben Sie ja indirekt zu, daß wir es nicht nur neutral mit irgendwelchen negativen Phänomenen zu tun haben, sondern mit gesellschaftlichen Krankheitserscheinungen. Prof Pornschlegel·. Schlußgedanken... Gestatten Sie mir eine knappe Meinungsäußerung zu der Veranstaltung, die jetzt zum Ende kommt. Wir haben, zu meiner Überraschung, eine außerordentlich weitgehende Übereinstimmung in den Analysen über die Situation von Gewerkschaften und den Rahmenbedingungen, unter denen sie arbeiten, gefunden. Wir haben selbstverständlich unterschiedliche Bewertungen in dieser Diskussion festgestellt. Ich stelle mir die Frage, ob Herr Vetter von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der hier anwesend war, recht hatte, als er sagte, es gäbe keine Gewerkschaftstheorien. Ich glaube, er hätte recht, wenn er das in einem ontologischen Sinne sähe. Borsdorf hat den Begriff in diese Diskussion eingeführt als etwas, was sein Ziel in sich selber hat. Entscheidend ist, wie Ziele gesetzt werden und wie zu solchen Zielen dann Theorien aufgegriffen oder eingebracht werden. Wir können feststellen, daß in anspruchsvollen Gewerkschaftsprogrammen Strategien weithin auf theoretischen, vielleicht manchmal fragmentarischen Annahmen beruhen, die sich über die Lage, die Zusammenhänge, die Verhaltensweisen und Ziele der Akteure im jeweiligen Feld ein Bild machen. Ich glaube, daß die Erkenntnisse aus der Tagung zweierlei andeuten: Die Gewerkschaften brauchen so etwas wie Leitbilder, die übergreifen, die reale Utopien darstellen, einerseits. Zweitens brauchen sie Theorien mittlerer Reichweite, mit denen Teilsachverhalte mit mittlerer Reichweite erklärbar gemacht werden können. Es gibt auch dann nicht die Gewerkschaftstheorie, sondern vielfältige Theorien und Ansätze für verschiedene Bereiche. Es lohnt, im Hinblick auf die neuen Herausforderungen, daran zu arbeiten, daß die gewerkschaftliche Programmatik nicht durch Theorielosigkeit einerseits in Orientierungslosigkeit und Wurstelei endet, daß andererseits Theorien mittlerer Reichweiten gesucht und vermittelt werden, die auf ihre Tragfähigkeit untersucht werden. Solche möglichen Leitbilder und solche Theorien mittlerer Reichweite, die dann nicht alles umfassen und erklären können, müssen miteinander verbunden werden. Ich hoffe, daß hierzu die Tagung mancherlei Anlässe, Anregungen und Anstöße für Betroffene und Beteiligte geliefert hat. Redaktion: Hans Pornschlegel

Referenten, Diskussionsleiter und Berichterstatter der 18. Internationalen Tagung der Sozialakademie Dortmund Sophie G. Alf\ Instituto Richerche Economiche e Socieali (1RES), Rom Jim Baker , Repräsentant für Europa, American Federation of Labor-Congress of Industrial, Organizations, Paris Dr. Günter Bechtle , Institut für sozialwissenschaftliche Forschung e.V., München Prof. Dr. jur. Wolfgang Böhm, Sozialakademie Dortmund, Lehrstuhl für Arbeits- und Sozialrecht, Dortmund Dr. Ulrich Borsdorf Wissenschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Düsseldorf; jetzt: Kustos des Ruhrland-Museums, Essen Ilse Brusis, Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstandes des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Düsseldorf Sabine Erbès-Sèguin , Centre National de la Recherche Scientifique, Groupe de Sociologie du Traviai, Paris; ζ.Zt.: Gastprofessorin für Industrial Relations, University of Warwick, Coventry Prof Dr. Friedhelm Hengsbach S. J., Theologische Hochsschule St. Georgen, Frankfurt am Main Dr. Fritz-Heinz Himmelreich, Stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Köln Dr. Peter Jansen, Freie Universität Berlin, Fachbereich Politische Wissenschaft, z.Z. Fernuniversität Hagen Dr. Gerhard Konow, Staatssekretär beim Minister für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf Prof. Dr. Peter Kühne, Sozialakademie Dortmund, Lehrstuhl für Soziologie Dr. Gerd Leminsky, Geschäftsführer der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf Dr. Ilse Lenz, Universität Münster, Institut für Soziologie, Münster/Westfalen Dr. Klaus Mehrens, Leiter der Grundsatzabteilung beim 1. Vorsitzenden der Industriegewerkschaft Metall, Frankfurt am Main Prof. Dr. Rudolf Meidner, Direktor des Arbetslifescentrum Stockholm Prof. Dr. Müller-Jentsch, Universität/ Gesamthochschule Paderborn, Fachbereich I, Abt. Soziologie, Paderborn Prof. Dr. Masami Nomura, Faculty of Economics, Okayama University, Thushima, Okayama, Japan Prof Hans Pornschlegel , Sozialakademie Dortmund, Lehrstuhl für Arbeitswissenschaft, Dortmund Akademieleiter

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Referenten, Diskussionsleiter und Berichterstatter

Günter Samtlebe, Oberbürgermeister der Stadt Dortmund, Dortmund Prof. Dr. Perygrin Warneke, schaftslehre, Dortmund

Sozialakademie Dortmund, Lehrstuhl für Betriebswirt-