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German Pages 288 [290] Year 2010
Eric Selbin Gerücht und Revolution
Eric Selbin
Gerücht und Revolution Von der Macht des Weitererzählens
Englische Originalausgabe: Revolution, Rebellion, Resistance. The Power of Story Zed Books Ltd, London & New York 2010 © 2010 by Eric Selbin
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2010 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Übersetzung: Leandra Viola Rhoese Satz: Janß GmbH, Pfungstadt Einbandabbildung: Proteste von Studenten in Teheran, 1999. © picture-alliance/AFP Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-23653-4
Inhaltsverzeichnis Eins
Prolegomenon, Apologie und Ouvertüre . . . . . . . . . . .
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Zwei
Ein Plädoyer für die Geschichten: Geschichten und sozialer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Drei
Mythos, Erinnerung, Mimesis . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vier
Der Aufstand der Anekdoten: Vier Revolutionsgeschichten . .
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Fünf
Die Geschichte von den zivilisierenden und demokratisierenden Revolutionen . . . . . . . . . . . . . .
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Sechs Die Geschichte von der Sozialrevolution . . . . . . . . . . .
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Sieben Die Revolutionsgeschichte von Freiheit und Befreiung . . . .
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Acht
Verlorene und vergessene Revolutionen: Geschichten, die wir nicht kennen und nicht erzählen . . . . . . . . . . .
205
Neun Widerstand, Rebellion und Revolution – die Geschichten entwickeln sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Eins
Prolegomenon, Apologie und Ouvertüre Prolegomenon, Apologie Gerücht und undRevolution Ouvertüre
Eine zweifellos apokryphe Geschichte, die häufig der Illustration des Endes einer Ära und des Beginns einer neuen dient, lautet, dass König Louis XVI, nachdem ihm sein Berater, der Duc de la Rochefoucauld, vom Fall der Bastille berichtet hatte, fragte: „C’est une révolte?“, woraufhin der klarsichtige und scharfsinnige Herzog antwortete: „Non, Sire, c’est une révolution“ (Cumberledge, 1953: 407). Dies ist eine der berühmtesten Vorahnungen des mit diesen reichlich gesegneten Herzogs. Man sollte jedoch nicht außer Acht lassen, dass über die Jahre selbst eine so respekteinflößende Faktenquelle wie das Oxford Dictionary of Quotations nicht umhin kam, diese Geschichte noch etwas zu verbessern. So fragt in der beinahe 40 Jahre später erschienenen vierten Auflage der König – vielleicht unter dem Druck der Geschichte, vielleicht sind auch seine Gefühle durch das zurückliegende zweihundertste Jubiläum der Revolution verstärkt worden: „C’est une grande révolte?“ Der Herzog, inzwischen zum „französischen Sozialreformer“ avanciert, versichert seinem Lehnsherrn, dass es sich bei diesen Ereignissen nicht um eine bloße Revolte, sondern tatsächlich um „une grande révolution“ (Parrington, 1992: 411; Hervorhebung durch den Autor) handelt. Der Herzog machte diese Unterscheidung vielleicht auch in Bezug auf seinen eigenen Aphorismus „es existiert eine Revolution von so umfassendem Charakter, dass sie die Geschmäcker und die Geschicke der Welt verändert“ (La Rochefoucauld, 1896: 143) und erklärte – höchstwahrscheinlich in feierlichem, ernsten Tonfall – den Fall der Bastille bedeutungsvoll zu „une révolution“.1 C’est vrai – und die meisten modernen Auffassungen von Revolution stehen dafür tief in seiner Schuld. Dann gibt es noch eine etwas aktuellere Geschichte, kaum mehr als eine Vignette und zweifellos ebenfalls apokryph. Ein Student in Mexico City besuchte ein Organisationstreffen, bei dem ein Sprecher versuchte, mithilfe einer Geschichte zu erklären, wie es ist, hingebungsvoll für eine Sache zu kämpfen. Ein Reporter fragte die inzwischen verstorbene Comandante Ramona der mexikanischen Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN), die gerade aus einer Verhandlung mit mexikanischen Regierungs-
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vertretern kam, wie lang die Zapatisten noch kämpfen würden. Die kleine Frau zuckte mit den Schultern und antwortete, dass sie, da sie bereits seit 500 Jahren im Kampf begriffen seien, genauso gut auch noch weitere 500 Jahre kämpfen könnten. Ist die Geschichte wahr? Sie erinnert an Steffens’ Kommentar zum angeblichen Kontakt des britischen Premierministers Lloyd George mit dem italienischen Duce, Mussolini: „Authentic? I don’t know … Like so many rumors, it was truer than the records … but somebody said it, somebody who understood what it was all about“ (1931: 809). Was diese Geschichte vermittelt, ist, dass ihr Kampf, der Kampf, einem anderen Zeitplan folgt, einem Plan in einer völlig anderen Größenordnung. Burckhardt berichtet davon, dass in der Renaissance im späteren Italien eine Stadt – wahrscheinlich Siena – einen besonders tapferen und talentierten militärischen Führer hatte, der sie „aus der fremdländischen Unterdrückung befreite“. Die Stadtbevölkerung war bemüht, ihrem Helden seinen Lohn zukommen zu lassen und dabei so großzügig wie möglich zu sein. Sie trafen sich täglich, um über eine Belohnung zu beraten, die diesem großen Manne würdig wäre. Nachdem sie festgestellt hatten, dass selbst ihn zum „Herrscher der Stadt“ zu machen nicht ausreichend wäre, beschlossen sie, ihn umzubringen, um ihn dann als „,Schutzheiligen anbeten‘ zu können. Und dies taten sie, womit sie dem Beispiel folgten, das der römische Senat mit Romulus vorgegeben hatte.“ Laut Burckhardt ist hierbei besonders bemerkenswert, dass es „eine alte Geschichte ist – eine von denen, die wahr sind und auch unwahr, die überall und nirgendwo stattfinden“ (Burckhardt, 1958: 40).2 Das bedeutet, dass es Zeiten gibt, zu denen größere und tiefere Einsichten zugänglich sind, unabhängig davon, ob die Geschichte absolut treu wiedergibt, „was wirklich passiert ist“, oder nicht. Diese kurzen Geschichten sind sehr unterschiedlich, sie variieren in Umfang und Ausmaß, Ton und Tenor, Intensität und Subtilität. Alle können auf eine entscheidende Grundaussage reduziert werden, die einen weitreichenderen Inhalt umfasst und eine Botschaft vermittelt, wenn auch nicht immer die ursprünglich beabsichtigte: Was aus der Geschichte wird, wie sie gehört und verstanden wird, unterliegt nicht mehr der Kontrolle des Geschichtenerzählers. Solche Geschichten stellen einen nicht endenden Moment dar, sie zeigen, dass es Konzepte und Anliegen gibt, die die Zeit überdauern und erinnern uns daran, dass wir, selbst wenn uns am Ende nichts anderes mehr bleibt, immer unsere Geschichten und somit einander haben.
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Worin besteht die Geschichte? Dass „es war einmal“ wohlvertraute, mit Zauber behaftete Worte für Kinder jeden Alters sind, liegt daran, dass die Geschichten, die sie einleiten, im Kleinen eine Erklärung dafür sind, wer, was, warum, wann, wo und wie wir waren, sind und sein werden. Zum Teil sind solche Geschichten nicht viel mehr als eine Beschreibung von Details des täglichen Lebens, sie werden genutzt, um anderen oder auch uns selbst zu vermitteln, was die materiellen und ideologischen Voraussetzungen unseres Alltagslebens ausmacht. Doch oftmals nutzen wir sie nicht nur, um aus unserem Leben zu erzählen – Erzählung und Geschichte sind hierbei nicht identisch – sondern um uns mitzuteilen, Neuigkeiten, Informationen und vieles mehr zu verbreiten: um zu führen, zu warnen, zu inspirieren, um das real und möglich zu machen, was ansonsten unrealistisch und unmöglich wäre. Geschichten ermöglichen es uns, die Umgestaltung unserer Leben und der Welt vorstellbar zu machen. Die Umgestaltung der materiellen und ideologischen Voraussetzungen unseres Alltagslebens, ganz zu schweigen von den größeren Weltgeschicken, die zumeist unseren Horizont weit übersteigen, wird oft von Revolution, Rebellion und Widerstand begleitet. Und es ist besonders die Revolution, die wir meinen und wonach wir suchen, wenn wir von Umgestaltung sprechen. Während Definitionen und Untersuchungen zum Thema Revolution kommen und gehen, haben Jahrzehnte sozialwissenschaftlicher Forschung wenig dazu beigetragen, unser Verständnis davon zu verbessern, warum Revolutionen hier und nicht dort geschehen, jetzt und nicht dann, bei diesen Menschen und nicht anderen. Die These dieses Buches lautet, dass der entscheidende Faktor zur Erklärung, wie und warum Revolutionen entstehen, die Geschichten von Revolution, Rebellion und Widerstand sind, die wir erzählen. Es ist insbesondere durch die Nutzung der Konzepte Mythos, Erinnerung und Mimesis möglich, vier archetypische Revolutionsgeschichten zu identifizieren und zu untersuchen, welche in einer überraschenden Anzahl von Orten und Kulturen über erstaunlich lange Zeiträume hinweg immer wieder auftauchen. Dies sind nicht die einzigen Revolutionsgeschichten und natürlich geht beim Versuch, sie in diese Gruppen einzusortieren, etwas verloren. Nichtsdestoweniger kann es einiges bringen, die Aussagen dieser Geschichten darüber zu verstehen, wer wir sind und wie wir uns verhalten, was wir zu tun bereit sind und unter welchen Umständen. Es ist also notwendig, die systematische Wiederaufnahme der Geschichte in die sozialwissenschaftliche Methodologie zu fördern, sich für den mächtigen, alles durchdringenden Stellenwert der Mythen, Erinnerungen und der Mimesis auszusprechen und die elementaren Geschichten zu identifizieren,
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die den bewussten Widerstands-, Rebellions- und Revolutionsbemühungen der Menschen auf einer tieferen Ebene zugrunde liegen. Von zentraler Bedeutung hierbei sind die Anerkennung des Revolutionsmythos, der Erinnerung an die Revolution sowie der Kraft der Mimesis für die Mobilisierung und Aufrechterhaltung revolutionärer Aktivitäten. Diese sind in vier elementaren Geschichten erfassbar, die ein stetiges Zeugnis der menschlichen Situation ablegen, Geschichten, die nicht „nur“ existieren, um von dieser Situation zu berichten, sondern auch gleichzeitig als Auslöser fungieren, diese zu verändern. Sowohl um unser Verständnis von Revolution zu vertiefen, als auch um den Nutzen eines solchen Konzepts zu gewährleisten, benötigen wir einen neuen Ansatz, der sich explizit auf die Gedanken und Gefühle der Menschen bezieht, die an einem Revolutionsprozess mitwirken, eine Perspektive, die versucht, die weitergegebenen (und kontinuierlich umgearbeiteten) Geschichten vergangener Mühen und Ungerechtigkeiten mit den Bemühungen für eine bessere Zukunft zu verknüpfen. Diese vier Geschichten sind: die Geschichte von der zivilisierenden und demokratisierenden Revolution, die Geschichte von der Sozialrevolution, die Revolutionsgeschichte von Befreiung und Freiheit und die verlorenen und vergessenen Revolutionsgeschichten. Jede repräsentiert einen Versuch, auseinanderliegende Stränge zu verknüpfen, die nichtsdestoweniger genug gemeinsam haben, um als Mittel der Menschen zu fungieren, der Vergangenheit einen Sinn zu geben, die Gegenwart zu erklären und eine Zukunft denkbar und möglich zu machen. Die Verbindungen sind nicht als Idealtypen gedacht und es gibt keinen Revolutionsprozess und keine Revolutionsströmung, die sich ausschließlich einer Kategorie zuordnen lassen. Viele Revolutionsprozesse lassen sich in mehreren Geschichten wiederfinden, immer abhängig davon, wer die Geschichte erzählt, wo, wann und wem. Wie ich bereits in einer anderen Arbeit betont habe (Selbin, 2003: 84), ist entscheidend, dass wir unter Berücksichtigung der materiellen und strukturellen Umstände, die unsere Untersuchungen zu Widerstand, Rebellion und Revolution bisher geleitet haben, einen Platz für die Geschichten (und Erzählungen) finden müssen, die Generationen von Revolutionären über alle Zeiten und Kulturen hinweg zum Handeln bewegt und befähigt haben. Die Rückkehr der Erzählungen in die sozialwissenschaftliche Untersuchung fundamentaler menschlicher Handlungen wie Widerstand, Rebellion und Revolution scheint überfällig, die Zeit für einen „storied turn“ in dieser Disziplin könnte gekommen sein. So löblich sie im Prinzip auch ist, hat die im 20. Jahrhundert praktizierte Ablehnung von reinen Erzählungen und „verschleiernden“ Geschichten auf der Suche nach einem umfassenderen Verständnis zu einer Distanzierung vom tatsächlichen Leben der Menschen
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geführt. Eine Konsequenz daraus ist, dass im spät- und postindustriellen Zeitalter die Geschichte und das Geschichtenerzählen so etwas wie eine Renaissance erfahren haben, vielleicht auch angetrieben von neuen Technologien, die es mehr Menschen als je zuvor erlauben, Geschichten zu erzählen, und die gleichermaßen dem uralten menschlichen Bedürfnis nach Verbindung zueinander und zu sich selbst entgegenkommen.
Die Rückkehr der Geschichten Wissenschaftler wie Byatt (2001: 166), McNeill (2000: 9) und White (1984: 19–20) haben das in Frage gestellt, was man als modernistische und postmodernistische Fixierung auf Bewusstsein und Intentionalität deuten kann, und versucht, das menschliche Bedürfnis nach Geschichten hervorzuheben. Es soll hierbei nicht der Eindruck vermittelt werden, dass Menschen „nur“ Erzähltes hören möchten; bei Geschichten geht es um einiges mehr. Sie eröffnen uns Einblicke in die Ansichten und Einschätzungen der Menschen, in ihre Konzeptionen davon, wie und warum die Welt funktioniert, sowie in ihre Auffassungen von Macht und Möglichkeit. Dies und mehr zeigt sich in Arbeiten wie Pollettas fesselndem It was like a Fever: Storytelling in Protest and Politics (2006), Tillys anspruchsvollem Klagelied The Trouble with Stories (2002) oder dem aufwühlenden Why? (2007), Smiths einsichtsreichen Stories of Peoplehood (2003) und Sammelbänden wie Bergers und Quinneys Storytelling Sociology: Narrative as Social Inquiry (2005a) oder Davis’ Stories of Change: Narrative and Social Movements (2002a). Ungeachtet ihrer Unterschiede eint diese Werke der Gedanke, dass man Geschichten als reichhaltige Wissensquellen untersuchen sollte, selbst wenn sie deren Nutzen eher zurückhaltend betrachten und sich der Schwierigkeiten und Grenzen dieses Unterfangens bewusst sind. Sie bilden das Fundament für vieles von dem, was nun folgen wird. Auch innerhalb der Revolutionsstudien wurde dem Thema Aufmerksamkeit zuteil, wenn auch nur in Maßen. So haben beispielsweise Historiker wie Sewell (2005) und Furet (1981) sowie dessen Mitarbeiter, hauptsächlich Ozouf (1991) und Baker (1990), Geschichten einen mehr oder weniger großen Platz in ihren Untersuchungen eingeräumt. Auch führende Revolutionsforscher haben den Stellenwert der Geschichte nicht völlig außer Acht gelassen: Goldstones hervorragendes Revolution and Rebellion in the Early Modern World (1991) widmet ein Kapitel einigen der Faktoren, die für die Entstehung von Geschichten verantwortlich sind, und Parkers provokanter Essay Revolutions and History: An Essay in Interpretation (1999) spricht sich
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überzeugend für den Stellenwert der Erzählung aus. Geschichte und Erzählung gehören ebenfalls zu dem beeindruckenden Aufgebot von Einflussfaktoren, die Foran in seinem Maßstäbe setzenden Versuch anführt, die neuesten Entwicklungen im Bereich der Revolutionsforschung zu erfassen: Taking Power: On the Origins of Third World Revolutions (2005). Weniger explizit betonen auch neuere Arbeiten von Holloway (2007) und Khasnabish (2007) den Einfluss mitreißender Erzählungen und Geschichten auf jeglichen Umbruchsversuch von Bedeutung. Einige Annahmen sind für die vorliegende Arbeit von zentraler Wichtigkeit. Die Wichtigste lautet, dass Menschen Geschichtenerzähler sind und dass die Geschichten, die wir erzählen, uns als Menschen definieren (als ein Volk oder das Volk); wir erschaffen, verstehen und regeln unsere Welt durch die Geschichten, die wir erzählen. Wenn es unsere Biologie ist, die uns menschlich macht, dann sind es unsere Geschichten, die uns zu Personen machen. Dies gilt insbesondere für allgemein bekannte, simple Geschichten, die gleichzeitig „universell“ und „zeitlos“ erscheinen, selbst wenn wir sie speziell auf unsere jeweiligen Umstände beziehen können, Geschichten, die überraschend allgegenwärtig sind und die selbst, wenn wir sie hier und jetzt mit dem Blick auf die Zukunft erzählen, Erinnerungen an die Vergangenheit und unsere Vorfahren wachrufen. Die hier aufgestellte These lautet, dass was und wer wir sind, untrennbar mit den Geschichten verbunden ist, die wir erzählen. Im Endeffekt sind Geschichten alles, und alles ist, in der einen oder anderen Form, eine Geschichte. Wir nutzen und modifizieren unsere Geschichten für alle möglichen Zwecke, unter anderem auch für einige, deren wir uns nicht einmal bewusst sind. Sie sind unser Mittel, die uns umgebende, vorhandene Welt zu erklären sowie die Welt zu beschreiben, welche wir uns erhoffen. Geschichten legen das vielleicht beständigste Zeugnis der Überzeugungen und Werte ab, die uns am wichtigsten sind; sie sind das entscheidende Puzzleteil, ohne das jede Antwort unvollständig bleiben muss. Wissenschaftler behaupten meist, sie würden keine Hypothesen aufstellen, zu denen sie bereits die Antwort kennen – ich denke allerdings, dass eine treffendere Darstellung des wissenschaftlichen Unterfangens die alte Anwaltsweisheit berücksichtigen müsste, nach der man niemals eine Frage stellt, zu der man nicht bereits die Antwort weiß. Die hier vorgeschlagene Antwort ist eine von vielen möglichen. Denn Antworten – verschieden zufriedenstellend und von unterschiedlicher Qualität – kommen und gehen. Es sind die Fragen, die bleiben. Diese Arbeit wird von der Frage geleitet, die so viele dazu brachte, sich mit dem Thema Revolutionen auseinanderzusetzen: Warum geschehen Revolutionen hier und nicht dort, jetzt und nicht dann, bei diesen Menschen und
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nicht anderen? Wie ich auf den folgenden Seiten ausführlich darlegen werde, befähigt das Erzählen fesselnder Geschichten die Menschen dazu, andere zu erreichen und gemeinsam zu versuchen, die materiellen und ideologischen Umstände ihres täglichen Lebens zu verändern. Durch detaillierte Befragungen und das Zusammentragen von Bestandteilen der Alltagskultur wie mündlichen Überlieferungen, Liedern, Theaterstücken, Fernsehsendungen etc. könnte es möglich sein, eine genauere Aussage über die Möglichkeit von Widerstand, Rebellion und Revolution zu jeder Zeit und in jeder Kultur zu treffen.
Was ist zu tun? Die Rückkehr der Geschichte In den frühen Tagen der Sozialwissenschaften gab es zwei Hauptprojekte. Eines war die Bemühung, die Sozialwissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg zu profilieren und sich aus der Knechtschaft „großer Männer“ und epischer Reiche sowie den damit verbundenen Fabeln und Mythen zu befreien. Das andere spiegelte den steigenden Einfluss nördlicher und westlicher liberal-bürgerlicher Konzepte wider, wobei der Hauptuntersuchungsgegenstand das atomistische Individuum war. Daraus resultierend wurde es nötig, unser Weltverständnis in klar abgegrenzte, leicht greifbare Pakete zu unterteilen, die soziale (Soziologie), politische (Politologie), wirtschaftliche (Ökonomie), psychologische (Psychologie) und sogar kulturelle (Anthropologie) Aspekte separat behandelten. Zu den ersten Opfern dieses Umbruchs zählten die Geschichten, sie wurden an den Rand abgedrängt und misstrauisch beäugt. An dieser Stelle sind zwei kurze Anmerkungen sinnvoll. Erstens: „Historie“ ist der Ausdruck, mit dem wir gemeinhin unseren Wissensvorrat bezeichnen; früher bestand dieser aus Überlieferungen, Geschichten und Sagen. Während die uns überlieferte Historie traditionell Geschichten erzählte und Fakten mit Fiktion vermischte, wurde dies plötzlich im Zuge der Aufklärung und besonders des Rationalismus des 19. Jahrhunderts entsetzt abgelehnt. Es wurde einiger Aufwand in die Erschaffung des Konzeptes investiert, dass Historiker „Handwerker“ seien, die sich ausschließlich mit „Fakten“ befassen. Während Geschichtenerzähler erfinden konnten, was immer ihnen beliebte, waren Historiker der Wahrheit verpflichtet, eine Überzeugung, die sich später im Wissenschaftsanspruch der Disziplin niederschlug und die Gesellschaftswissenschaften bis heute dominiert (Selbin, 2008: 132). Wir benötigen jedoch nicht nur die Erkenntnisse der modernen Forschung, sondern auch das traditionelle Handwerkszeug der Gelehrten und der Revolutionäre, Rebellen und Dissidenten: kraftvolle und zielgerichtete Geschichten.
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Zweitens: Diejenigen unter uns, die im nördlich/westlichen Kulturkreis leben und/oder dort studiert haben, sind wohlvertraut mit der klaren Unterscheidung von Dingen, die wir als Fakten ansehen, und anderen, die wir als Fiktion einstufen. Geschichten werden meist in den Bereich Fiktion eingeordnet. Doch es ist in der Tat ein relativ neues Unterfangen, die Myriaden von Geschichten, die wir erzählen, in Fakten und Fiktion zu unterteilen, wobei Erstere als nützlich und wichtig angesehen werden und letztere als reine Unterhaltung oder Bagatelle abgestempelt werden – sicherlich nicht als nützlicher Leitfaden für etwas von Bedeutung. Gerade in Geschichten werden jedoch tiefere Wahrheiten und verschüttete vergangene Ereignisse enthüllt und zugänglich gemacht. Die Dinge haben begonnen, sich zu ändern. Die seit den 1950ern zeitweise widerstrebend aufgenommene Erkenntnis, dass beispielsweise „Eingeborene“ uns vielleicht auch etwas Nützliches zu sagen haben könnten, hat einen Prozess eingeleitet, der sich in jüngster Zeit unter anderem in der Rehabilitation von Herodot (Strassner, 2007; Romm, 1998; Thompson, 1996) niedergeschlagen hat. Herodot gilt zwar als „Vater der Geschichtsschreibung“, wurde jedoch lange Zeit als Fabeldichter angesehen und für seine „Lügen“ verurteilt. Inzwischen wächst jedoch die Erkenntnis, man könne das Kind mit dem Bade ausgeschüttet haben und es steigt die Anerkennung dessen, was er uns mitteilen wollte. Man kann also feststellen, dass die binäre Trennung von „Fakten“ und „Fiktion“, so attraktiv sie auch sein mag, von sehr geringem Nutzen bei der Beantwortung der hier gestellten Fragen ist. Das soll nicht bedeuten, dass man Fakten erfinden kann. Hobsbawm erläutert dies sehr überzeugend folgendermaßen: „[E]ither Elvis Presley is dead or he isn’t. The question can be answered unambiguously on the basis of evidence, insofar as reliable evidence is available, which is sometimes the case. Either the present Turkish government, which denies the attempted genocide of the Armenians in 1915, is right or not“ (1993: 63). Doch selten liegen die Angelegenheiten so einfach und auch die Fragen sind es zeitweise nicht. Für vieles, was wir – mehr oder weniger sicher – „wissen“ oder mit dem wir uns näher beschäftigen möchten, gibt es nur wenige „verlässliche Beweise“. Und selbst wenn es sie gibt, kann es trotzdem genauso lehrreich sein zu versuchen, jene Menschen zu verstehen, für die Elvis nicht tot ist, und zu verstehen, warum er für sie nicht tot ist, wie festzustellen, dass er endgültig „das Gebäude verlassen hat“. Wirklich wichtig ist nur, wie die Menschen mit den Beweisen und Informationen umgehen, gerade auch wenn sie sich dafür entscheiden, nicht das zu glauben, was ihnen als „Fakt“ präsentiert wird. Das ist kompliziert, verwirrend und real. Die verwirrende Realität ist, dass unseren besten sozialwissenschaftlichen Bemühungen, alles zu kategorisieren und
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analysieren, zum Trotz Menschen letztendlich unsystematisch, kompliziert und widersprüchlich sind, Entscheidungen treffen, die ihren Interessen zu widersprechen scheinen, und sich ganz generell völlig irrational verhalten. Hinzu kommt, dass nicht wirklich klar ist, ob sie sich selbst ihrer Ansichten, ihrem Verständnis von der Welt im Allgemeinen und ihrem Platz und ihren Möglichkeiten in ihr bewusst sind – umso weniger sind ihre Beweggründe für Außenstehende erkennbar. Galeano beklagt die „arme Geschichte“: „[Sie hat] aufgehört zu atmen: In wissenschaftlichen Texten betrogen, in Klassenräumen falsch dargestellt und in Daten ertränkt haben sie sie in Museen eingesperrt und begraben, mit Blumenkränzen unter Bronzestatuen und Marmordenkmälern“ (1985: XV).3 Marcus ist darüber besorgt, „[dass] unser Geschichtsverständnis, wie es sich heute in unserer alltäglichen Kultur darstellt, eingeengt, verarmt und gehemmt ist; dass die weitverbreitete Annahme, Geschichte existiere nur in der Vergangenheit, eine Mystifizierung ist, die enormen Widerstand leistet gegenüber jeglichen kritischen Untersuchungen, die enthüllen könnten, dass diese Annahme eine Täuschung oder ein Gefängnis ist. Es besteht der Verdacht, dass wir Geschichte leben, sie erschaffen und zerstören – sie vergessen und verleugnen – auf weit vielfältigere Art und Weise als wir es je wirklich gelernt haben“ (1995: 3–4). Doch die Wiedergabe von Geschichte ist eine Aufgabe, die man nicht unterschätzen sollte. So klagt der vom Versuch, den Revolutionsausbruch in Russland zu dokumentieren, frustrierte Steffens: „Wie kann man Geschichte schreiben, an Ort und Stelle, während sie geschieht? Verschiedene Geschichten verliefen gleichzeitig, unverbunden, oft gegensätzliche Erzählungen, die sich trafen und kreuzten, und sie alle waren ,Geschichte‘. Wir hörten viele von ihnen; weit mehr noch müssen wir verpasst haben. Niemand kann, niemand wird jemals alle von ihnen hören. Geschichte ist unmöglich“ (1931: 749). Und doch hat das Enthüllen und Wiederverhüllen der Geschichte die Menschen immer fasziniert, man führe sich nur die heroischen Bemühungen der Geschichtsschreibung vor Augen. Traditionell wurde die Historie von oben herab konstruiert, von den Siegern komponiert, von den Mächtigen orchestriert, für die Bevölkerung gespielt und vorgetragen. Doch es gibt eine andere Geschichte, die in der Wahrnehmung der Menschen wurzelt, wie die Welt um sie herum sich kontinuierlich entwickelt und welchen Platz sie in diesem Prozess einnehmen. Dies ist eine Geschichte, die aus den Ideologien und Sichtweisen der Menschen gespeist wird, und die den materiellen und ideologischen Kontext des Alltagslebens wiedergibt, eine Geschichte, die über verschiedenste politischkulturelle Mittel der Bevölkerung zum Ausdruck gebracht wird. Meine These lautet, dass sich uns Historie über die Erzählungen der Menschen von
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ihrem Leben und der politischen Alltagskultur in ihrer Gesellschaft erschließt und dass diese Erzählungen für die Möglichkeit – oder das Fehlen – grundlegender Veränderungen verantwortlich sind. Eine Rückkehr zu den Geschichten und dem, was sie uns sagen können, könnte Sozialwissenschaftlern dabei helfen, grundlegende menschliche Handlungen, wie das gemeinschaftliche Verhalten, das man unter der Rubrik Revolution, Rebellion und Widerstand einordnet, besser erklären zu können. Wir müssen einen Weg finden, die Gedanken und Gefühle der Menschen, die in einen Revolutionsprozess involviert sind, zu untersuchen, eine Perspektive, die die Geschichten, die sie von vergangenen Ungerechtigkeiten und Mühen erzählen, mit ihrem Kampf für die Zukunft verbindet. Es ist unumgänglich, dass wir gemeinsam mit den übrigen materiellen oder strukturellen Voraussetzungen – den Faktoren, die normalerweise unsere Forschung leiten – die Rolle anerkennen, die Geschichten und Erzählungen über Widerstand, Rebellion und Revolution spielen. Geschichten, die Generationen von Revolutionären angeregt und ermutigt haben. In Abwandelung einer alten Phrase: Hic sunt refragatio, rebellio, et revolutio – hier sind Widerstand, Rebellion und Revolution.4
„Widerstand“, „Rebellion“ und „Revolution“: Ein beiläufiger, wenn auch essentieller Einschub „Revolution“ ist ein handlicher Sammelbegriff für eine überraschend große Zahl von gesellschaftlichen und kulturellen Ereignissen und Prozessen. Begriffe wie „Widerstand“, „Rebellion“ und „Revolution“ sind sehr eng mit sozio-politischen Angelegenheiten und gemeinschaftlichem Verhalten verknüpft und bilden daher den Ausgangspunkt dieses Einschubs. Was genau verstehen wir unter „Revolution“ und verwandten Begriffen wie „Widerstand“ und „Rebellion“? Eine große Zahl von Forschern hat viel Zeit und Aufwand in die Definition der Unterschiede zwischen Widerstand, Rebellion und Revolution investiert. Unterschiede, die von Bedeutung sind, auch wenn darauf hingewiesen wurde, dass Überschneidungen ein grundsätzliches Charakteristikum der meisten Formen zivilen Ungehorsams sind (siehe McAdam et al., 2001). Es ist wichtig, von Anfang an klarzustellen, dass Widerstand und Rebellion weder nötigenfalls noch häufig revolutionär sind. Doch beide tragen weitaus öfter zu einer Revolution bei, als man gemeinhin angenommen hat, nicht zuletzt durch die Geschichten von Rebellion und Widerstand, die ein Umfeld entstehen lassen, in dem die Revolution möglich zu erscheinen beginnt. So
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schafft die revolutionäre Vorstellungswelt („imaginary“), um Parkers treffenden Ausdruck in einer abgewandelten Form zu verwenden (2003: 46),5 einen Raum, in dem diese unterschiedlichen Formen zu finden sind und für unsere Zwecke genutzt werden können.
Widerstand Der Ausdruck „Widerstand“6 wird, wie „Revolution“, gemeinhin mit Anerkennung und Sachkenntnis benutzt, jedoch mit wenig Aufmerksamkeit für die Details. Das Konzept an sich ist etwas problematisch. Hollander und Einwohner beklagen, dass „Widerstand“ oftmals sehr unfokussiert verwendet wird, sehr häufig sei es mehr „a political stance … [than] an analytical concept.“ Nichtsdestoweniger lassen sich in all den verschiedenen Definitionen und Diskursen zwei zentrale Elemente ausmachen: „action and opposition“ (Hollander und Einwohner, 2004: 547, 538)7. Lahiri-Dutt (2003: 13) verweist auf vier Kriterien, die authentischen Widerstand in der „mainstream literature“ charakterisieren: „[E]r muss kollektiv und organisiert sein statt persönlich und unorganisiert; er muss prinzipientreu und selbstlos sein statt opportunistisch und selbstsüchtig; er muss revolutionäre Konsequenzen haben; und er muss die Basis der Herrschaft negieren statt sie zu akzeptieren.“ Scott (1985) argumentiert jedoch überzeugend, dass Widerstand in den meisten Fällen in alltäglichen materiellen Zielen begründet liegt, und nicht in einem revolutionären Bewusstsein. Er warnt davor, zu überschätzen, wozu „alltäglicher Widerstand“ fähig ist und mahnt, nicht aus den Augen zu lassen, wie komplex das Leben der meisten Menschen gestrickt ist. „Widerstand“ klar abzugrenzen ist also keine einfache Aufgabe. Widerstand kann sich auch auf eine Form von Auflehnung beziehen, die sich darin äußert, dass die Bevölkerung dem augenblicklichen Regime oder den Autoritätspersonen die Unterstützung verweigert oder nicht kooperiert. Selbst wenn dies eher passiv erscheint, ist es Ausdruck einer Aktivität, einer „Aktion“. Es ist also nötig, anzuerkennen, dass es etwas gibt, was Kampwirth (2002: 11) eine „Widerstandstradition“ („tradition of resistance“) genannt hat, „die Samen sät, die … viele Jahre später keimen, wenn die strukturellen, ideologischen und politischen Umstände richtig sind.“8 Zwar durchaus verwandt mit doch gleichzeitig abgegrenzt von Konzepten wie „political cultures of opposition“ und „relationship between culture and agency in revolutionary politics“ liegt der Fokus nach Kampwirth auf der Rolle der Familie in der Sozialisation der Kinder. Ich vertrete die These, dass Geschichten das meistverbreitete und grundlegendste Mittel in diesem Prozess sind.
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Meist spielen Frauen hierbei eine entscheidende Rolle. Denken wir nur an Scheherazade, welche die Geschichten aus 1001 Nacht erzählt. Nacht für Nacht verwebt sie die Erzählstränge ineinander, während sie versucht, ihren Tod hinauszuzögern und noch etwas weiterzuleben – was ihr gelungen ist, wohl weitaus länger, als sie oder ihre Geschichtenerzähler sich je hätten träumen lassen. Oder nehmen wir die Form des Widerstands, die Parelli (1989: 104–5) als „einen ameisenartigen Widerstand“ bezeichnet, „gemacht aus Geduld, Worten, Gesten und vor allem gekennzeichnet durch das Nichtvorhandensein von Stille. Frauen redeten, Frauen kritisierten, Frauen protestierten, wie sie es immer getan hatten, wie sie es noch immer tun … In Zeiten, in denen Stille befohlen war, sprachen sie.“ Dies ist eine geläufige Rolle für Frauen, die ihnen Raum für Widerstand zugesteht. Beide Formen sind Ausdruck einer Kraft und Tapferkeit, die zu einem großen Teil aus Jahrtausenden der Unterdrückung in patriarchalen Kulturen resultiert und sich in dem widerspiegelt, was man als „gap between tactical obedience and pragmatic evasion, obedezco pero no cumplo“ („Ich gehorche, doch ich erfülle die Aufgabe nicht“) bezeichnet hat (Rowe und Schelling, 1991: 23) – kombiniert mit dem Willen, sich zu äußern, die Stille zu füllen und die Geschichten zu erzählen. Diese inhärent subversiven Konzepte – Geduld, einen Weg finden, den Buchstaben des Gesetzes zu folgen, doch nicht dessen Geist, sowie der Wille, zu sprechen – bilden oftmals die Grundlage für Widerstand. In den meisten Fällen betrachten die Handelnden ihren Widerstand als Teil langwieriger Bemühungen, ein Konzept, das sich im kollektiven Gedächtnis der meisten Gesellschaften finden lässt. Wenn solch ein kollektives Gedächtnis auch im Allgemeinen eher die großen und glanzvollen Ereignisse beinhaltet, so gibt es auch immer das, was stillschweigend mit eingeschlossen und informell ist, diese gemeinsame Erinnerung („shared memory“) spiegelt das „Verständnis einer Gemeinschaft von ihrer … Herkunft, ihren Zielen, ihrer Entwicklung und ihrem gemeinsamen Leben“ wider (K’Meyer, 1996: 219). Eine Strategie des Widerstandes zu entwickeln ist äußerst schwierig, Widerstand als solchen zu identifizieren jedoch leicht. Die größere Herausforderung besteht darin, Widerstand zu erkennen, der sich nicht offensichtlich äußert. So schwer fassbar Widerstand auch erscheint, er ist sehr mächtig.
Rebellion Thomas Jefferson (1955a: 93) schrieb: „I hold it that a little rebellion, now and then, is a good thing, and as necessary in the political world as storms in the physical … It is a medicine necessary for the sound health of govern-
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ment.“ Vom deterministischen Beiklang abgesehen, ist Jeffersons Bemerkung sehr aussagekräftig. Sie trägt der Allgegenwärtigkeit von Rebellion Rechnung9, einer Form von Aufstand, die nur selten versucht, das gesamte System zu verändern, sondern eher darauf abzielt, einzelne Punkte des etablierten Regierungssystems zu treffen oder die Regierung umzuorganisieren, um bestimmte Missstände zu bekämpfen oder spezielle Gegebenheiten zu verändern. Im Unterschied zu ähnlichen Bemühungen wie der Revolte, dem Staatsstreich oder der politischen Revolution, sind Rebellionen zumeist spontane Aufstände, die zum Ziel haben, Anführer zu stürzen, bestimmte politische Entscheidungen oder sogar politische Institutionen zu verändern, jedoch nur selten auf die direkte Beeinflussung größerer Gesellschaftsstrukturen oder Normen und Werte abzielen. Irreführenderweise wird oftmals ein klassisches Beispiel für eine Rebellion mit dem Etikett „Revolution“ versehen, selbst wenn diese auf keiner Auflistung „großer Revolutionen“ auftaucht. Es wäre treffender, die „Amerikanische Revolution“ als eine erfolgreiche Rebellion in den britischen Kolonien Nordamerikas zu beschreiben (großzügiger betrachtet vielleicht auch als eine „politische Revolution“). Es geht hier nicht darum, die Bedeutung einer der bewegtesten Phasen in der Geschichte der USA zu schmälern, doch es handelte sich um keine echte Revolution im Wortsinn. Der besagte Konflikt war eine Rebellion, denn es ging darum, die Missachtung einer Autorität, in diesem Fall der britischen Regierung, zu demonstrieren. Außerdem sollte ein bestimmter Missstand durch Änderung der Politik, jedoch nicht der kompletten politischen Struktur, behoben werden. Zusätzlich zeigt dieses Beispiel auch, dass Widerstand, wie ihn in diesem Fall die Siedler ihren britischen Oberherrn entgegensetzten, durchaus ein Vorläufer oder Handlanger der Rebellion sein kann. Rebellionen an sich können offensichtlich Wegbereiter, quasi-revolutionäre Momente sein, die zu Revolutionen führen können;10 D. E. H. Russell definierte die Rebellion als „a form of violent power struggle in which overthrow of the regime is threatened by means that include violence“ (Russell, 1974: 6). Walton (1984) zeigt, dass Rebellionen auf den Philippinen (1946–53), in Kenia (1952–56) und Kolumbien (1946–58) zu signifikanten, wenn auch begrenzten wirtschaftlichen und politischen Reformen geführt haben und argumentiert, dass das Wort „Revolution“ seinen Nutzen verloren habe und durch „Revolte“ ersetzt werden sollte. Ich schließe mich hingegen Bell (1976: 5) an: „[A] revolt is quite a different matter, and a much less complex one. A revolt is narrower than a revolution.“ Auf jeden Fall ist die Entscheidung zur Rebellion eine außergewöhnliche, die normalerweise unter extremen Umständen getroffen wird, von Menschen, die glauben, keine andere Wahl zu haben.
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Revolution Überall auf der Welt und über alle Zeiten hinweg haben die Menschen ihre eigenen Vorstellungen vom Begriff „Revolution“ gehabt, geprägt von den Geschichten über Revolutionen, die sie erzählten. Es gibt nur wenige Konzepte, die so sehr alle Zeiten, Orte und Kulturen durchdringen, wie „Revolution“. Menschen sind nicht nur in der Lage, eine Revolution zu erkennen, wenn sie mit einer konfrontiert werden, in ihren Köpfen besteht von vornherein ein mehr oder weniger kohärentes Verständnis darüber, was eine Revolution ist und was nicht. Eine Revolution ist nichts, was die Menschen unmittelbar mit Furcht und Unruhe verbinden, für viele ist sie auch der Kampf für Nahrung, Land, Frieden, Gerechtigkeit und den Zugang zu Ressourcen und Möglichkeiten – ein Zuhause, medizinische Versorgung und Bildung. Viele Menschen assoziieren mit Revolution ein „better must come“11; generell bezeichnet der Begriff einen einschneidenden Umbruch, erreicht durch den Zusammenschluss von Menschen, die ihre Regierung stürzen und – wenn sie erfolgreich sind – weitreichende, signifikante Veränderungen in ihrer Gesellschaft bewirken. Bekannte Referenzen sind die Revolutionen in Amerika (1776), Frankreich (1789), Mexiko (1920), Russland (1917), China (1949) und Kuba (1959). Die Beständigkeit des Themas „Revolution“ ist wenig überraschend, wenn man die überaus beeindruckende Bandbreite von Faktoren berücksichtigt, die der Ausdruck umfasst. „Revolution“ ist nach wie vor schwer greifbar. Heutzutage bezeichnet der Ausdruck nicht nur die (in Ermangelung eines besseren Ausdrucks) „traditionellen“ Konzeptionen, bei denen das Hauptziel die Erreichung der Regierungsgewalt zur fundamentalen Umstrukturierung der Gesellschaft ist, sondern auch die facettenreicheren Fälle der letzten zwei Jahrzehnte: die Wirren der osteuropäischen „Farbrevolutionen“ 1989 – 91 (siehe Goldstone, 2009), die anhaltende Saga der Chiapas seit 1994 (Khasnabish, 2007), die undefinierten doch immer noch andauernden Kämpfe in Kolumbien, die verschiedenen Facetten dessen, was gemeinhin (korrekt oder nicht) als „Islamische Revolution“ bezeichnet wird, sowie die unterschiedlichen Anti-Globalisierungs-Bewegungen (Holloway, 2002). „Anti-Globalisierung“ mag übrigens ein handlicher Begriff sein, ist jedoch vielleicht eher eine Fehlbezeichnung. Wie ich an anderer Stelle bereits dargelegt habe, geht es bei Revolutionen hauptsächlich um die Menschen: „[T]hey are created by people, led by people, fought and died for by people, consciously and intentionally constructed by people“ (Selbin, 2008: 130). Hierbei soll nicht der tiefgreifende Einfluss
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sozialer, politischer und ökonomischer Strukturen außer Acht gelassen werden (Selbin, 1997b: 133), die Rolle der Ideologien, das internationale Umfeld, Metaerzählungen wie Aufklärung oder Globalisierung, Strömungen wie die Moderne oder der Fortschrittsglaube oder auch der unerbittliche Fluss der Geschichte. Wenn die Frage jedoch lautet, warum Revolutionen hier geschehen und nicht dort, jetzt und nicht dann, bei diesen Menschen und nicht anderen, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf ebendiese Menschen und ihre Welt richten. Bezogen auf die akademische Untersuchung scheinen die lange vorherrschenden Revolutionstheorien der „dritten Generation“ (Skocpol, 1979; Goodwin, 2001) denen der „vierten Generation“ Platz zu machen (Goldstone, 2001; Foran, 2005; Goldstone, 2009; Selbin, 2009a, 2009b; sowie Foran et. al., erscheint in Kürze).12 Genau wie bei den vorherigen Generationen bleiben die Erkenntnisse jedoch wichtig und nützlich; jede Generation baut auf dem Besten der vorangehenden Arbeit auf. Ich beziehe mich hier auf mehrere Quellen: Skocpols immer noch führende Definition der sozialen Revolutionen als „rapid, basic transformations of a society’s state and class structures … accompanied and in part carried through by class-based revolts from below“ (1979: 4); die Arbeiten von Goldstone (2001), Kumar (2001) und besonders Foran (2005) sowie auch meine eigene Arbeit, die dahingehend argumentiert, dass wir in unserem Verständnis von Revolution die menschlichen und kulturellen Aspekte weiter vertiefen müssen; außerdem Tillys (1978) Fokus auf die Mobilisierung der Menschen und das, was Paige (2003: 24) als ihre „metaphysischen Grundannahmen“ bezeichnet. Somit ist die Revolution das bewusste, formelle oder auch informelle Bestreben einer breit aufgestellten, aus dem Volk mobilisierten Gruppe von Akteuren, die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Institutionen, die ihr Leben bestimmen, tiefgreifend umzuwälzen; das Ziel ist dabei die grundlegende Änderung der materiellen und ideologischen Umstände ihres Alltagslebens. Dies spiegelt einen Prozess der Entstehung und des anschließenden Kampfes wider sowie ein Resultat, nämlich die Bemühungen um einen grundlegenden Wandel. Wenn beide Elemente verwirklicht werden, sind wir eher bereit, sie als ,große‘ oder ,soziale‘ Revolutionen anzusehen; kleinere Ereignisse werden oft als politische Revolutionen, Rebellionen, Revolten, Widerstände oder andere Arten kollektiven Handelns bezeichnet. (Selbin, 2008: 131)
Was die akademische ebenso wie die populäre Vorstellung von Revolution angeht, so war die Darstellungsweise des Themas in den letzten 220 Jahren überraschend eindeutig.13 In den kommenden Kapiteln werde ich zeigen, dass genau diese Vorstellung sogar schon wesentlich länger existiert. Trotz
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Tillys Hinweis darauf, „[dass] niemals eine natürliche, alle Revolutionen umfassende Geschichte möglich ist, die notwendige oder hinreichende Bedingungen spezifiziert, welche definitionsgemäß nicht wahr sind“ (2006: 159), soll der Leitgedanke hier eher der Higonnets sein, der Revolution unter Paraphrasierung Barthes’ als scriptible („schreibbar“) mit einer erzählenden Qualität begreift: „[N]ebeneinanderlaufend und ineinander verwoben verstärken sich diese Stränge gegenseitig und werden schließlich immer fesselnder … [doch] … wie Sisyphus schreiben wir das Buch der Revolutionsgeschichte und schreiben es immer wieder neu, obwohl wir wissen, dass wir sie nie ganz erfassen können.“ Er fährt folgendermaßen fort: „Manche Strukturen helfen uns zu verstehen, so wie andere dies hoffnungslos erschweren“ (1998: 324). Unser Ziel besteht darin, alles zu erfassen, was uns möglich ist, um unser Verständnis zu verbessern. Das bei Weitem bekannteste Konzept, hier mit der Bezeichnung „Sozialrevolution“ (Kapitel 6) versehen, basiert auf der Französischen Revolution von 1789. Sie ist groß, episch und einschneidend und ihr (brutales) Scheitern wird ebenso vom Nebel der Zeit verhüllt, wie ihre radikaleren Elemente. Ihre Sage zieht sich durch das 19. Jahrhundert bis nach Russland 1917, das niemals von seinen weitaus besseren Möglichkeiten Gebrauch machte und dessen Revolution beinahe so schnell wie Frankreichs als großes Versagen bzw. großer Verrat gesehen wurde – wer wollte schon zum Zeitpunkt ihres unrühmlichen Endes (oder gar 1939) Russland für sich beanspruchen? Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte man eine kleine Ahnung dessen erhaschen, was möglich sein könnte.14 Guatemala 1950–54, Bolivien 1952 – 54, BritischGuayana 1953–64, Vietnam und Algerien in den 1950ern gehörten zu den verlockenden Optionen. Es sind allerdings China und Kuba, die die Geschichte Mitte des Jahrhunderts bestimmten, und sie schließt in den meisten Fällen mit dem Iran und Nicaragua 1979. Eine letzte Bemerkung dazu, wie wir vielleicht am besten verstehen können, was eine Revolution ausmacht: Es ist nicht etwa so, dass Menschen leichtfertig kämpfen, ihr Leben und das ihrer Familie riskieren oder ihre Hoffnungen und Träume aufs Spiel setzen; trockene, distanzierte theoretische Konzepte allein werden sie nicht dazu bewegen können. Trotsky kommt zu dem zwingenden Schluss, dass Menschen nur dann eine Revolution beginnen, wenn es „keinen anderen Ausweg“ gibt (1957: 167). Selbst wenn jemand bereit ist, so weit zu gehen, sind selbstverständlich die Grundvoraussetzungen für eine Revolution völliges Engagement und tiefe Hingabe. Im Gegensatz zum Widerstand, der eine eher defensive Grundhaltung voraussetzt, oder der Rebellion, die sich eher auf die Behebung eines bestimmten Missstandes beschränkt, ist die Revolution im Grunde von Träumen und Sehnsüchten ge-
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trieben, Verzweiflung allein reicht nicht aus. Diese Träume und Sehnsüchte sind nicht einzig den Linken oder Volksnahen vorbehalten, auch Monarchisten und Konservative pflegen Imaginationen der Vergangenheit und die Ideale der Faschisten wurzeln zumeist in populären Vorstellungen und Zukunftsvisionen.15 Die „Ursachen“ einer Revolution sind ebenso kulturell wie auch sozial oder ökonomisch und es geht ebenso um das Individuum, wie es um die Gruppe oder Gemeinschaft geht.16 Angetrieben vom Versuch, die Anforderungen des Alltags unter unerträglichen Umständen zu meistern, gesteuert vom Verlangen nach Gerechtigkeit und einer Dynamik der Hoffnung, versuchen die Menschen, ihre Welt zu verändern, also die materiellen und ideologischen Umstände ihres Alltagslebens. Der Anstoß für eine Revolution ist zumeist Ungerechtigkeit, Armut, die Entrechtung der Bevölkerung sowie die Geschichten, die die Menschen von der ihnen zustehenden Freiheit und sozialen Gerechtigkeit erzählen. Diese Geschichten verleihen ihnen eine Stimme in ihrem jetzigen und zukünftigen Leben, dem ihrer Kinder und Enkel sowie innerhalb ihrer Kultur und Gesellschaft.
Revolutionsgeschichten17 Wie kann es dazu kommen, dass so unterschiedliche Faktoren wie Hoffnungen, Träume und Sehnsüchte, Wut, Ablehnung und Furcht, Ängste, Engagement und Leidenschaft sich verbinden? Wie kann es passieren, dass revolutionäre Imaginationen verschiedenster Art (Billington, 1980; Parker, 2003; Saldane, 2003; Khasnabish, 2007) angeregt werden und die revolutionären Gefühle (Firchow, 2008), die sie hervorrufen können, sich vertiefen und zu revolutionären Situationen (Tilly, 1978) führen? Wie gestaltet sich der verschlungene Pfad vom Unmöglichen zum Möglichen zum Plausiblen zum Wahrscheinlichen? Wie auch immer die verschiedenen Phasen des Revolutionsprozesses aussehen mögen – es gibt anscheinend mindestens drei (Kampf, Triumph, Transformation, siehe Selbin, 1999) und vielleicht sogar fünf (von Vorstellung und Empfinden zur konkreten Situation, gefolgt von Triumph und Transformation) – es ist an jedem Punkt des Prozesses möglich, die Geschichten von Widerstand, Rebellion und Revolution zu identifizieren, die die Menschen warnen, inspirieren und leiten. Wenn dies alles viel linearer und „progressiver“ (womit eine Progression über verschiedene Stadien gemeint ist) erscheint, als es in der realen Welt möglich ist, spiegelt das nur unsere Art wider, Geschichten zu erzählen. Bei Revolutionen geht es letztendlich um leidenschaftliche Hingabe und eine große Opferbereitschaft. Welcher übersehene oder unterschätzte Faktor
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könnte uns ermöglichen, dies zu erklären? Ich behaupte, dass es eine mythopoetische Komponente ist, die einen kleinen Einblick in die Herzen und Köpfe der Menschen erlaubt. Die Globalisierung hat Millionen von uns in eine Zeit und einen Ort wie aus einem Roman des magischen Realismus versetzt: sich gabelnde Pfade, geheimnisvolle Märkte und die liberale Demokratie; alles ganz und gar nicht das, wonach es zuerst aussah. Wohin werden wir gehen und was werden wir tun? Es scheint nicht weiter notwendig, das Fantastische, das Mystische und das Magische näher zu untersuchen, in der Tat sind wohl nur die Wenigsten bereit, „six impossible things before breakfast“ zu glauben (Carroll, 1946: 76). Und doch finden manche Leute es durchaus plausibel, dass Túpac Amaru und Túpac Katari, zwei Revolutionäre aus den Anden im 18. Jahrhundert, in verschiedenen Gestalten im Dschungelnebel, in einer anderen Person oder in mehreren Personen im gleichen Raum, wieder erscheinen können. Andere sehen (oder spüren) von Zeit zu Zeit ein Lagerfeuer und daneben das sagenumwobene weiße Pferd Emiliano Zapatas, des mexikanischen Revolutionärs aus dem frühen 20. Jahrhundert. Und die allgegenwärtigste Revolutionsfigur, Ché Guevara, wurde auch lange nach seinem Tode noch in verschiedenen Teilen von Afrika, Südamerika, Südostasien, Nepal und Palästina gesehen, passend zu der von Subcomandante Marcos, dem heutigen Anführer der Zapatisten, stammenden Behauptung, dass hinter der von ihm bevorzugten Skimaske viele verschiedene Menschen steckten und den Kampf vorantrieben, alle Marcos; so wie es die Menschen in Seattle, Genua, Davos und bei Aufständen anderswo skandierten: „Wir sind alle Marcos“, alle Zapatisten, überall und immer.18 Offensichtlich gibt es unzählbar viele Revolutionsgeschichten zu entdecken, weit mehr als wir ahnen. Doch bei all den unendlich vielen Variationen kristallisiert sich eine überraschend zeitlose, immer wieder erzählte Geschichte heraus: Sie handelt von mutigen, tapferen und hingebungsvollen – oft jungen – Menschen, die sich, nachdem ihnen die krasse Ungerechtigkeit ihrer Situation bewusst geworden ist, erheben und Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit verlangen. Diese zeitlose Geschichte reicht so weit zurück, wie wir uns erinnern können, und so weit in die Zukunft, wie wir uns vorstellen können. Während die unterschiedlichsten Leute die Geschichte erzählen können, scheint entscheidend zu sein, dass die Menschen eine Geschichte hören, die ihnen auf einer tieferen Ebene bereits bekannt ist, mit vertrauten Charakteren – vor allem Helden – und einer Handlung, die sie antizipieren können (ängstlich oder erwartungsfroh; siehe Bates, 1996: 72). Es sind Geschichten, die in der einen oder anderen Form von jeder Generation wieder neu aufgeschrieben werden, quer über alle Kulturen, eine Unzahl an Orten, erstaunlich
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lange Zeiträume und eine noch viel erstaunlichere Bandbreite von Völkern hinweg.19 Diese Geschichten werden nicht von einer Person erdacht20, sondern von allen geschrieben, sie werden über längere Zeiträume hinweg bearbeitet und von den bestehenden soziokulturellen Normen strukturiert, wenn auch nicht von den politischen Normen im engeren Sinne. Sie geben den Menschen eine „Realität“, die sie in Liedern, Theaterstücken und Geschichten verwenden können und deren mitreißende Vortragsweise mit dafür verantwortlich ist, wenn Menschen einen revolutionären Prozess beginnen, auch wenn sie nicht immer bis zum Ende dabei bleiben. Eine weitere Sache verdient es, an dieser Stelle erwähnt zu werden: meine Position als Autor. Es wäre unaufrichtig vorzugeben, dass wer und was ich bin keinen Einfluss darauf hat, was Sie lesen, und ich bin mir absolut der damit einhergehenden Gefahren bewusst, als weißer, männlicher, nordamerikanischer Sozialwissenschaftler den „Reiseführer“ um die Welt zu spielen. Ebenso stimme ich nicht mit der Auffassung überein, nach der Historiker und Sozialwissenschaftler irgendwie über den Dingen stehen und eine „objektive“ Analyse liefern können. Meiner Meinung nach ist das Beste, was man tun kann, zu versuchen, alles so abzubilden, wie es sich darstellt, und sich dabei unvermeidlicher kultureller und anderer Einflüsse bewusst zu sein. Während dies mit Sicherheit Implikationen für das Folgende haben wird, hoffe ich doch, dass die negativen Konsequenzen sich in Grenzen halten werden.
Der Rest der Geschichte Wahrscheinlich würden nur wenige Menschen behaupten, dass sich die Welt mithilfe handlicher, überschaubarer Geschichten darstellen lässt, „coherent stories endowed naturally with central subjects, highly organized plot structures, thematic integrity and moralizable conclusions“ (Graziano, 1992: 2). Das nächste Kapitel erzählt etwas über die nun kommenden Geschichten – somit ist es eine Erzählung, die aber offen für Interpretationen ist. Praktisch heißt das, einige wichtige Bestandteile des Projektes werden vorgestellt, der Leser muss den vorliegenden Darstellungen jedoch nicht zwangsläufig zustimmen, damit die späteren Teile des Buches funktionieren. Nach weiteren einleitenden Überlegungen zur Geschichte, die das vertiefen, was bisher diskutiert wurde, wird die Geschichte als Methode und Mittel untersucht, wobei insbesondere die komplizierte Problematik von Übertragung und Übersetzung thematisiert wird. Die Rolle der Erzählung als separates Element und gleichzeitig als konstitutive Komponente der Geschichte wird ebenso be-
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trachtet wie die des Geschichtenerzählers als Verbreiter der Magie. Menschen und Ereignisse kommen und gehen, Geschichten bleiben. Kapitel 3 befasst sich mit drei heuristischen Methoden: Mythos, Erinnerung und Mimesis. Diese helfen, die Geschichte generell zu situieren, und dienen der Einleitung der dann folgenden Untersuchung der vier Revolutionsgeschichten. Mythos, Erinnerung und Mimesis sind mächtige und durchdringende Leitfäden, die uns dabei helfen können, das zu finden, was den bewussten und unbewussten Bemühungen der Menschen im Bezug auf Widerstand, Rebellion und Revolution zu Grunde liegt. Die Erforschung von Mythen und Erinnerungen sowie die Anerkennung der Kraft der Mimesis für das Entstehen und Bestehen von revolutionären und verwandten Phänomenen, macht es möglich, die vier Geschichten zu deuten. Es handelt sich um nachlesbare, die Zeiten überdauernde Erzählungen, die die Situation der Menschen adressieren, Geschichten, die nicht „nur“ existieren, um von dieser Situation zu berichten, sondern auch als treibende Kräfte zu ihrer Veränderung fungieren. In Kapitel 4 geht es um das, was wir nach Benjamin (1999b: 846) „den Aufstand der Anekdoten“ nennen könnten. Unzweifelhaft ist jeder Fall von Widerstand, Rebellion und Revolution verschieden. Und doch hat auch jeder Fall mit den anderen Fällen etwas gemeinsam, so schwer fassbar oder flüchtig es auch sei. Die Sozialwissenschaften stehen den Naturwissenschaften in nichts nach, was ihre angestrengte Bemühung angeht, in allem „universale Gesetzmäßigkeiten“ aufzudecken, eine Art vereinheitlichende Feldtheorie, um eine riesige Bandbreite an Ereignissen und Prozessen zu erfassen. Die hier vorliegende Untersuchung der besonderen Arten von Kollektivverhalten bildet da keine Ausnahme.21 Gleichzeitig teilen wir das Interesse vieler Historiker an einer minutiösen Untersuchung von Details. Diese Vielzahl von Wünschen kann durch die Ausbreitung und Deutung mehrerer elementarer Geschichten erfüllt werden, die viele, wenn nicht gar die meisten, Fälle von Widerstand, Rebellion und Revolution erfassen. Um das gesamte Spektrum abzudecken, müssen einige Geschichten „oben“ beginnen, es sind elitäre Geschichten, in denen berühmte „Helden“ vertreten sind, große Prozesse widergespiegelt werden und die generell durch wichtige Ereignisse geprägt sind. Andere Geschichten wiederum wurzeln im Populären, es sind Geschichten „von unten“, die die örtliche Bevölkerung („kleine Leute“) zum Thema haben und den Fokus auf kleinere Ereignisse und permanente Prozesse legen. Die vier vorgestellten Revolutionsgeschichten sollen all dies und noch viel mehr abdecken. Nachdem die Argumentation für die Geschichte an sich abgeschlossen ist, dargelegt wurde, wie Mythos, Erinnerung und Mimesis unserem Verständnis
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helfen könnten, sowie untersucht wurde, wie Bedeutung an sich entsteht und wie Menschen mobilisiert werden, beinhaltet der nächste Buchabschnitt vier Kapitel, die ausführlich auf die jeweiligen Revolutionsgeschichten eingehen. Kapitel 5 untersucht die Geschichte von der zivilisierenden und demokratisierenden Revolution, die sich um Vorstellungen von Zivilisation (was in dieser Geschichte die „westliche“ oder „nordwestliche“ Zivilisation bedeutet, die mit der vertrauten greco-romanischen/jüdisch-christlichen Triade verbunden ist), Fortschritt, Demokratisierung und, etwas zusammenhangslos, Adel rankt; wobei die Bedeutung des Adels hier im Sinne von noblesse oblige zu verstehen ist. Diese Geschichte untermauert den Triumph der Aufklärung und wird oft von den Mächtigen genutzt, um ihren Handlungen Legitimität und somit Autorität zu verleihen. Tatsächlich handelt es sich um eine „liberale“ Erzählung, sie dient einerseits der Belehrung, andererseits ist sie eine Lobrede auf die Reform. Die bekanntesten Modelle sind England (1688), Amerika (1776) und Frankreich (1789); diese drei werden hier untersucht. Die Geschichte von der Sozialrevolution ist die bekannteste, sie umfasst sowohl einige der soeben angesprochenen elitären Aspekte als auch die noch folgenden populären Variationen. Hier trägt Frankreich im Jahre 1789 den Verdienst, das gesamte Konzept der Revolution verändert zu haben. Seit dieser Zeit bezeichnet „Revolution“ nicht mehr nur eine Variation des bereits Vorhandenen, sondern eine tiefgreifende soziokulturelle, politische und wirtschaftliche Umwälzung der Regierung, des Staates und vielleicht sogar der Welt. Den Menschen erschließt sich eine riesige Bandbreite neuer Möglichkeiten, die materiellen und ideologischen Konditionen ihres täglichen Lebens und somit ihre Welt zu verändern. Das Bestreben entspricht hierbei größtenteils der bereits genannten Definition von Revolution: der Kampf um die Staatsgewalt und schnelle und tiefgreifende Veränderungen der Staats- und Klassenstrukturen, teilweise durch zeitgleiche und sich gegenseitig verstärkende klassenbasierte Revolten, welche die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme umstürzen. Nach Frankreich sind hierfür die bekanntesten Beispiele Russland (1917), China (1949) und Kuba (1959), wobei Mexiko (1920), der Iran (1979) und Nicaragua (1979) ebenfalls oft genannt werden. In dieser Untersuchung werden wir Frankreich einen weiteren Besuch abstatten, jedoch unter Betrachtung eines anderen Aspekts, wir untersuchen Russland als Aktualisierung der Französischen Revolution im 20. Jahrhundert, sowie Kuba, welches die Revolution in die „moderne“ oder zumindest zeitnähere Welt bringt. Um die besagten Revolutionen in einen Kontext zu stellen, werden auch die Pariser Kommune, China (die Ausbreitung der Revolution in die „Dritte Welt“) und einige von Kubas Abkömmlingen auftauchen.
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Während man diese ersten beiden Geschichten durchaus noch als in Abstufungen elitär oder zumindest „top-down“ lesen kann, werden in Kapitel 7 die Bemühungen auf einem mittleren Level vorgestellt, die in der Revolutionsgeschichte von Freiheit und Befreiung zum Ausdruck kommen. Im Gegensatz zu den vorherigen Geschichten beginnt diese längere, loser gestrickte Geschichte vielleicht bereits mit Spartakus’ Sklavenrevolte 73 –71 v. Chr. oder mit der biblischen Exodusgeschichte und handelt generell von den verschiedenen Revolten und Rebellionen gegen Sklaverei, Kolonialismus und Imperialismus überall auf der Welt, in denen die Menschen versuchen, sich von Unterdrückern und Gewaltherrschern zu befreien. Es geht um Egalitarismus, Glauben und „Selbstbestimmung“; Werte, die in Form von hohlen Versprechungen Millionen von Menschen nur zu bekannt sind. Die bemerkenswertesten Beispiele sind Haiti (1791), die Sepoy-Rebellion (1857), die MahdiRebellion im damals ägyptischen Sudan (1880er), der chinesische „Boxeraufstand“ (1900) und die diversen antikolonialistischen Kämpfe des 20. Jahrhunderts. Repräsentativ für diese Geschichte sind Fälle wie Haiti, vielleicht die wichtigste und von der Welt am gründlichsten ignorierte Revolution, und Mexiko, der erste große soziale Umbruch des 20. Jahrhunderts, dem in Sachen Einfluss und Vielschichtigkeit nur China und Vietnam Konkurrenz machen. In dieser Geschichte wirft das Wiederaufleben des indigenen Widerstandes, der Rebellion und sogar der Revolution im frühen 20. Jahrhundert bereits seinen Schatten voraus. Und dann gibt es noch die Geschichte auf der Mikroebene, wenn auch eine mit gewichtigen Konsequenzen für die Makro- oder Metaebene – die fragile, wenn auch hartnäckige verlorene und vergessene Revolutionsgeschichte. Ob kurz und kompakt oder lang und lose erzählt, was die anderen Geschichten auszeichnet, ist eine chronologische und folgegebundene Erzählstruktur, teleologisch und mit erkennbarem Plot. Dies ist offensichtlich hilfreich und beim Erzählen unvermeidlich – aber auch völlig illusorisch. Hier jedoch finden wir kürzere, obskurere, kleinräumigere und begrenztere Erzählungen. Das bedeutet nicht, dass vertraute Gestalten fehlen: Frankreich, Mexiko und Russland sind hier vertreten, wenn auch eher in einzelnen, lokalen, verloren gegangenen Momentaufnahmen als in den größeren, uns wohlbekannten Prozessen. Diese vage, eher impressionistische Geschichte der Kämpfe, die uns „verloren gegangen“ sind, erzählt vom alltäglichen Widerstand, alltäglicher Rebellion und Revolution. Uns liegen zwar Beispiele vor, doch wir können unmöglich einen Überblick gewinnen, da wir nicht wissen, was unserer Aufmerksamkeit entgangen ist und entgeht. Doch nehmen wir einmal die Anabaptistische Herrschaft in Münster 1534–35, die gewaltige Sklavenrevolte im 17. Jahrhundert, die in der für ca. 70 Jahre bestehenden Republik
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Palmares im Nordosten von Brasilien resultierte, die Neun-Tages-Revolte von Masaniello 1647 im damals spanischen Neapel, die „New York Conspiracy“ der Seemänner und Hafenarbeiter 1741, die nordamerikanischen „Geistertänzer“ im 19. Jahrhundert, die „Roten Bataillone“ der Casa del Obrero Mundial in Mexiko-Stadt 1911–14, der „Drei-Tages-Sowjet“ in Ghuangzhou (die sogenannte „Pariser Kommune des Ostens“), der Naxalitaufstand in Indien 1967 (der eine immer noch existente Bewegung hervorrief) oder die Volksrepublik von Greenwich Town auf Jamaika 1980. Die Verbindungen zwischen diesen verlorenen und vergessenen Episoden und den größeren Prozessen, zu denen sie gehören, sind nicht von sich aus entstanden sondern werden, ob hierarchisch oder lateral, direkt oder indirekt, durch aktive Agitatoren oder passivere Kommunikatoren, von Menschen hergestellt. Schlussendlich können wir erörtern, wie diese Geschichten uns nicht nur dabei helfen können, herauszufinden, warum und unter welchen Umständen Revolutionen geschehen, sondern auch wo und wann. Während Menschen Geschichten ganz offensichtlich zu vielen verschiedenen Zwecken nutzen, sind sie doch grundsätzlich Werkzeuge, die wir für Aufbau und Organisation verwenden, für die Gestaltung unserer Zukunft. Somit scheint es angebracht, sie als eine Form, ja sogar die Grundform, soziopolitischen Kampfes zu behandeln. Dies beinhaltet, die Geschichten sowohl inner- als auch außerhalb ihres Kontextes zu betrachten; wobei man nicht außer Acht lassen sollte, dass „Kontext“ mehr bedeutet als nur „Situation“. McAdam et al. warnen davor, „conflict“ soweit auszuweiten, „[that] in Hegelian fashion, all politics becomes enmeshed in meaning“ (1997: 142). Wenn wir anerkennen, dass Geschichten relevanter Text sind, und zugeben, dass manchmal, vielleicht sogar generell, mehr „Wahrheit“ in diesen Geschichten zu finden ist, als in den Geschichtsbüchern, heißt das noch nicht, dass wir Alice in den Kaninchenbau folgen müssen. Die Geschichten versorgen uns mit allen relevanten Informationen und auf diesen basierend können wir zu Antworten gelangen. Natürlich ist hier Vorsicht geboten: Während Antworten kommen und gehen, sind es die Fragen, die bleiben. Die Fragen und die Geschichten. Anmerkungen 1 Eine leicht abgewandelte Version hiervon befindet sich am Anfang von Selbin, 1997a, 99 –106. 2 Dieses autoritative, komplexe und problematische Werk wurde 1860 unter dem Titel „Die Kultur der Renaissance in Italien: ein Versuch“ veröffentlicht. 3 Dem geht eine ernüchternde Klage voraus: „History classes were like visits to the
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Gerücht und Revolution waxworks or the Region of the Dead. The past was lifeless, hollow, dumb. They taught us about the past so that we should resign ourselves with drained consciences to the present: not to make history, which was already made, but to accept it“ (Galeano, 1985: XV). Dies bezieht sich natürlich auf hic sunt dracones (hier sind Drachen), was, „wie jeder weiß“ am Rande der frühen Weltkarten stand. Tatsächlich lässt sich diese Aufschrift nur auf dem „Lenox-Globus“ (1505) finden, östlich von Asien. Parker geht in einer Endnote näher auf seine sinnträchtige Formulierung ein: „By which I refer to a totality of symbolic resources available to a society to represent a real world, the entities within it and their mutual relationships“ (2003: 55, Endnote 6). Interessante Standpunkte zum Thema Widerstand lassen sich bei Scott, 1985, 1990; Virno, 1996; Groves und Chang, 1999; Turiel, 2003; McFarland, 2004; Martin, 1992; Higgins, 2000; Eckstein, 2001; Langley, 2004 und Zibechi, 2005 finden. Hollander und Einwohner (2004: 539 – 44) untersuchen auch zwei Schlüsselvariablen, Widerstand und Intention, und schlagen eine Typologie des Widerstandes vor, die sich in offen, geschlossen, unabsichtlich, zielgerichtet, von außen definiert, missglückt und versucht gliedert (2004: 544 –7). Kampwirth (2002: 11 n14) zitiert Foran (1997a: 203 – 6; 1997b: 227 – 67; 1993a: 1 –17; 1992: 3 – 27) und Wickham-Crowley (1992: 246) zu „political cultures of opposition“ sowie Selbin (1997: 123 – 33; 1999) zu „the relationship between culture and agency in revolutionary politics“. Interessante Ansichten zur Revolution finden sich bei Walton, 1984; Masters, 2004; Saxton, 2005; Dunér, 2005; Harvey, 1998; Weede und Muller, 1998; Cleary, 2000; Krauze 2001; Cannon, 2004; Armony und Armony, 2005; Schatzman, 2005. Überzeugende Belege dafür lassen sich unter anderem in Wolf, 1969 finden. Diese prägnante Formulierung stammt von dem jamaikanischen Sänger Delroy Wilson (1971). Der hymnische Songtitel wurde von Michael Manleys sozialdemokratischer und revolutionärer „People’s National Party“ aufgegriffen. Zu Jamaikas revolutionärer Natur siehe die kurze Abhandlung im ersten Abschnitt von Kapitel 4 sowie Foran (2005: 169). Ob man den Begriff „Revolution“ auf Guatemala 1944– 54, Chile 1970 –73 und Jamaika 1972 – 80 anwenden kann, ist strittig. Die paradigmatische Theorie der „dritten Generation“ findet sich bei Skocpol, 1979; Goldstone liefert 1991 eine wichtige Verfeinerung und Goodwin 2001 einen exzellenten Abschluss. Goldstone (2001) und Foran (2005) sind offensichtlich die naheliegendsten Kandidaten für die paradigmatische Theorie der „vierten Generation“, doch begreift zumindest Foran noch die ältere Definition Skocpols als „in full as my own“ (Foran, 2005: 7). Das Konzept der „Generationen“ in den Revolutionstheorien stammt von Goldstone, 1980; die mögliche „vierte Generation“ fand zuerst in Foran 1993a Erwähnung.
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13 Hier lasse ich mich von Parkers (1999) Verwendung des Ausdrucks „Erzählung“ leiten. Neuere postmoderne Arbeiten betrachten die „Erzählung“ auf eine spezielle – und durchaus hilfreiche – Weise, doch ich möchte, wie ich in Kapitel 2 näher erläutere, die Erzählung von der Geschichte abgrenzen, zumindest bis zu einem Grad der möglich und sinnvoll ist. 14 Ich möchte hiermit nicht die vielen überwältigenden Möglichkeiten außer Acht lassen, die zwischen 1910 und 1920 und dann später wieder zwischen 1934 und 1940 in Mexiko erkennbar waren. 15 Obwohl seit dem Zweiten Weltkrieg der Faschismus gemeinhin mit den deutschen Nazis assoziiert wird, standen die frühen italienischen Faschisten für eine etwas andere Perspektive, die ebenso zu Nazi-Exzessen wie auch zu quasi-monarchistischen und rechts-katholischen Auswüchsen des Neo-Faschismus wie Franco in Spanien, Salazar in Portugal, Perón in Argentinien und Vargas in Brasilien führte. 16 Nach Higonnet (1998: 13) sind Revolutionen „more cultural than social or economic in their origins and unfolding, even if social and economic forms were both critical cause and effect of cultural belief“. Er verweist auf Furet (1999). 17 Der Großteil dieses Abschnitts ist stark an Selbin, 1997b: 88 – 92 angelehnt. 18 Wie ich an einem anderen Ort (Selbin, 2000: 292; 2003: 89) zu bedenken gegeben habe, werfen solche multiplen Marcos zweifelsohne psychologisch gesehen Probleme auf – wie soll man einer solchen Nicht-Greifbarkeit begegnen, geschweige denn sie bekämpfen? 19 Diese Geschichten überleben, wie Doringer argumentiert „for centuries, in a succession of incarnations, both because they are available and because they are intrinsically charismatic“ (2000: 26). 20 Selbst wenn es sich um eine einzige Person handelte, würde diese unausweichlich mehrere andere widerspiegeln; jeder von uns ist ein Kompendium. Siehe dazu auch die Diskussion zum Thema bricolage und bricoleur in Kapitel 2. 21 Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist McAdam et al. s (2001) Programm des Zivilen Ungehorsams. In einer früheren Veröffentlichung hatten sie beklagt: „The study of wars, revolutions, rebellions, (most) social movements, industrial conflict, feuds, riots, banditry, shaming ceremonies, and many more forms of collective struggle“, die sie dem Zivilen Ungehorsam zurechnen, „has not proceeded as a unified field“ (McAdam et al., 1997: 143).
Zwei
Ein Plädoyer für die Geschichten: Geschichten und sozialer Wandel Ein Plädoyer für die Geschichten
Es lebten einmal in einem weit entfernten Land, aber doch näher, als man meint, Menschen so wie du und ich – oder vielleicht ein klein wenig anders. Diese Menschen kannten das Elend schlechter Ernten, ungünstigen Wetters, sterbender Kinder, hungernder Greise, schwerer Ungerechtigkeiten durch indifferente oder grausame Geistliche, Herrscher und weit entfernte Könige und Königinnen und davon, auf ihrem eigenen Land wenig besser als Sklaven behandelt zu werden. Und dann wurden die Tage dunkler und die Zeiten schlechter. Stellen wir uns nun vor, dass in diesem Szenario eines Tages ein Jugendlicher erscheint (es ist in den meisten Fällen ein Junge), der von dort stammt, jedoch als Baby oder Kleinkind an einen weit entfernten Ort geschickt und dort beispielsweise von einer Tante oder einem Onkel aufgezogen wurde. Der Jugendliche stellt Fragen darüber, warum das Leben so ist. Er beginnt, mit den Menschen über das Warum und Wofür zu sprechen, woraufhin die Alten oder die Schamanen oder die örtlichen Repräsentanten der Herrscher ihn warnen und ihm raten, damit aufzuhören und sich nicht den Machthabern entgegenzustellen. Manchmal hört der Jugendliche sich die Warnungen an, doch nur selten folgt er ihnen und wenn, dann nur für kurze Zeit. In den meisten Fällen tut er es nicht und er (oder jemand ihm nahestehendes) muss dafür bezahlen. Er wird wieder aufgepäppelt und gepflegt, vielleicht von einer älteren, allein lebenden Frau (mit außergewöhnlichem oder spirituellem Wissen, das sie zu einer Ausgestoßenen oder zumindest zu einer Außenseiterin macht), oder von einer Gruppe von Frauen, von denen eine oder mehrere über geheimnisvolle Kräfte verfügen, oder von einem jungen Mädchen, das mit seiner Großmutter zusammen wohnt (die sich noch an früher erinnern kann …), oder von einem Onkel (der etwas schrullig aber freundlich und hilfsbereit ist). Dann erlangt er seine Kraft zurück und beginnt, darüber nachzudenken, was er gegen das Unrecht unternehmen kann, das an der Tagesordnung ist und all diese guten Menschen unterdrückt … Und sie alle leben zumindest für die nächsten paar hundert Jahre in Frieden und Glück – so stellen wir uns das jedenfalls gern vor.
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Der „Wahrheitsgehalt“ dieser grob zusammengestückelten Geschichte und ihrer vielen Variationen ist von geringer Relevanz; ihre Fiktionalisierung trägt nur zu ihrer Attraktivität bei und macht sie somit in gewisser Weise auch realer und einflussreicher. Man sollte im Hinterkopf behalten, was Ninon de l’Enclos, eine französische Salonière aus dem 17. Jahrhundert, antwortete, als man sie fragte, ob sie glaube, dass der Schutzheilige von Paris, der Märtyrer St. Denis, tatsächlich noch zwei Meilen weit gelaufen sei, während er seinen Kopf unter dem Arm hielt: „La distance ne vaut rien. Ce n’est que le premier pas qui coute“ („Die Entfernung ist nicht von Bedeutung. Es ist der erste Schritt, der zählt.“; Gray, 1872: 34, Fußnote 1). Von Bedeutung ist, dass die Menschen die Signifikanz der Geschichte erkennen und sich darauf einlassen, aus ihr zu lernen, oder sich Inspiration und Zuspruch zu holen. Einige Jahrhunderte später berichtete eine weitere Pariserin, der Filmstar Miou-Miou, anlässlich der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution von den Ereignissen in Paris 1968. Als Jugendliche arbeitete sie in einer Polsterfabrik und wurde Zeugin der mächtigen, wenn auch nur kurzen, Kollaboration von Studenten und Arbeitern. Sie erinnert sich: „Ich verstand nichts davon, aber es bewegte mich zutiefst. Gewöhnliche Menschen wie ich begannen zu glauben, dass unsere Leben sich irgendwie ändern könnten“ (Marcus, 1995: 16). Die Macht und gleichzeitig die Prämisse der Geschichte ist, dass sie das Reich des Möglichen eröffnet.1 In diesem Kapitel geht es darum, unser Verständnis von Geschichten und ihrer Rolle in der Gesellschaft zu erweitern. Geschichten erfüllen eine wichtige, ja unverzichtbare, soziale Aufgabe. Die meisten Geschichten dienen unzweifelhaft dazu, den Status Quo zu bekräftigen (Poletta, 2006: x). Manche sagen, dies sei ihr Hauptzweck: Nach Tilly (2006: 93) dienen sie dazu, „puzzling, unexpected, dramatic, problematic or exemplary events“ wiederzugeben. Doch er bemerkt auch: „[They] help confirm, redefine, or challenge social relations“ (2006: 93), was der Punkt ist, an dem Themen wie Widerstand, Rebellion und Revolution ins Spiel kommen. Wir werden uns also eingehender mit der Geschichte an sich beschäftigen sowie mit einigen der signifikantesten Probleme, die sie aufwirft. Dies erfordert einen kleinen Exkurs über die Entstehung von Geschichten und die Rolle der Geschichtenerzähler, was wiederum unsere Untersuchung des Unterschiedes von Geschichte und Erzählung einleitet. Jedes Zeitalter hat seine Geschichten, wie auch jeder Einzelne. Diese Geschichten strukturieren und formen die Welt um uns herum. Global und historisch betrachtet sind überraschend viele Geschichten analog zu der oben dargestellten Kurzfassung gestrickt. Man findet hier die vertraute „AnfangMitte-Ende-Struktur, die eine Art von Wandel oder Entwicklung beschreibt,
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sowie eine Besetzung mit dramatis personae“ (Steinmetz, 1992: 490). Vertraut sind uns auch die Handlungen und Plots und sogar der Raum, in dem sie sich abspielen, in dem das Leben der Protagonisten stattfindet. Bei der Untersuchung der Erzählung, der wir uns ebenfalls gleich widmen werden, kommt Sewell zu dem Schluss, dass die Menschen „sich selbst“ als Protagonisten in Geschichten „von Liebe und Ehe, von Erfolg, von stoischer Selbstaufopferung, von familiären Verpflichtungen, von kollektivem Kampf, von religiöser Erneuerung … erkennen und entdecken“ (1992: 483). Vor allem, so Somers, enthüllen diese „Beziehungskonstellationen (verbundene Elemente)“, die in Zeit und Raum eingebunden sind und durch einen kausalen Erzählstrang „Einzelteile (wie instabil sie auch sein mögen) zu einer konstruierten Struktur oder einem sozialen Netzwerk (wie inkohärent oder unrealisierbar auch immer)“ verbinden (1992: 601).2 Wie wir sehen werden, ist dies nicht unproblematisch und es ist wichtig, in diese Verbindungen nicht zu viel hinein zu interpretieren. Andererseits besteht hier auch die Möglichkeit, Gemeinsamkeiten zu finden und Elemente zu identifizieren, die häufig genug wieder auftauchen, um eine Geschichte auszumachen. Das soll nicht bedeuten, dass Geschichten an sich zeitlos sind oder zwangsläufig „universelle“ kulturelle Werte beschreiben. Geschichten reflektieren die kulturellen Werte ihrer Zeit, ihres jeweiligen Ortes und ihrer Erzähler.3 Dies ist auch gar nicht anders möglich und natürlich sind die Einzelheiten der Geschichten so unterschiedlich wie ihre Erzähler. Diese Brüche können Ausdruck verschiedener Traditionen des Geschichtenerzählens sein oder aus einer weniger starken Anlehnung an die nördlich-westlichen Erzählkonventionen resultieren und es gibt metaphysische Elemente, die bestimmten Völkern, Orten und Zeiten zu eigen sind, sowie uns nicht vertraute Charaktere aus einem uns unbekannten Kanon. Geschichten sind Speicherstätten für Ansichten und Werte, eine Methode der Selbstbestätigung und der Verbindung mit anderen Menschen (oder der Abgrenzung von ihnen) und sie spiegeln die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wider, die in ihrer Kultur als „wahr“ erachtet werden.4 Gerade das Letzte ist von besonderer Bedeutung: Die „Klassiker“ unter den Geschichten sind solche, die mit unseren Ursprüngen zusammenhängen („realen“ oder notgedrungen imaginierten/erfundenen) und sie zeigen uns die Zukunft, wie wir sie uns wünschen. Wenn sie sehr mächtig sind, lassen sie Vergangenheit und Zukunft verschmelzen.5 Das Versprechen besonders fesselnder Geschichten ist die Erschaffung einer Gegenwart, in der Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig existieren und somit alles möglich erscheint. Im Gegensatz zur Geschichtsschreibung, deren Konstruktionen „commandeer the true life and confine it to the barracks“, bietet Benjamin „the street insur-
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gence of the anecdote“ (1999b: 846). Mit anderen Worten: Egal, was die Geschichtsschreibung uns lehrt, die Möglichkeit zu Widerstand, Rebellion und Revolution ist grundlegender Bestandteil des Konzeptes „Geschichte“, ungeachtet der Intentionen des Geschichtenerzählers oder des gesellschaftlichen Kontexts. Geschichten dienen laut Appiah (2003: 46) dazu, „[to] enmesh people in a single society by transmitting shared pictures of how the world is or ought to be.“ Sie vereinen Menschen eines gemeinsamen Kulturkreises, in dem bestimmte Symbole, Themen und Charaktere Wiedererkennen, Wissen und Verstehen ermöglichen. Daraus folgt, „[that] the common problems of humanity take common narrative forms in different parts of the world“ (Appiah, 2003: 46). Über alle Zeiten und Orte hinweg stößt man auf anscheinend zeitlose Erzählungen, die vom Zustand der Menschheit berichten. Es ist also durchaus plausibel, anzunehmen, dass diese Geschichten nicht „nur“ existieren, um von diesem Zustand zu berichten, sondern auch um dessen Änderung anzuregen. Die fesselndsten Geschichten sind zumeist die, in deren Mittelpunkt vertraute Motive und Charaktere stehen. Wir können sie in den berühmten Kompendien des Geschichtenerzählens finden. Hierbei handelt es sich um Zusammenstellungen verschiedenster Art und Herkunft: Die Geschichten aus 1001 Nacht,6 das chinesische Shan hai jing (Buch der Berge und Meere), Ovids Metamorphosen, die Fabeln des Aesop, die Panchatantra des Sanskrit, die heiligen Bücher der monotheistischen Weltreligionen (die Thora, die christliche Bibel, der Koran8), Boccaccios Decamerone,9 Chaucers Canterbury Tales und die Märchen der Brüder Grimm.11 Dies sind nur die bekannten, konventionellen und niedergeschriebenen Quellen. Wie so oft fehlt die Fülle von mündlich tradierten Geschichten, die man heute vor allem in Sagen, artverwandten Erzählungen (wie zum Beispiel in den amerikanischen Schelmengeschichten vom listigen Br’er Rabbit oder denen von der afrikanischen Spinne Anansi in all ihren Verkleidungen) und Liederzyklen in allen lebendigen Kulturen findet.12 Die Entwicklung oder Herkunft jeder einzelnen Erzählung ermitteln zu wollen, scheint eine nahezu unlösbare Aufgabe zu sein und geht weit über den Rahmen dieses Projektes hinaus. Nichtsdestoweniger gibt es zwischen den Geschichten, über die wir in unseren vielfältigen Kulturen verfügen, eine erstaunliche Menge an Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen. Diese Geschichten spiegeln eine Reihe von Aspekten wider: Sie sind diskursiv, rational und irrational, abhängig von Aufführung und Interpretation; sie werden auf eine oder mehrere Arten von den Erzählern weitergegeben und dennoch auf zahllose Weisen von den Hörern verstanden.13 Gleichzeitig wurzeln die Identitäten der Menschen in einer gemeinsamen Kultur, einer gemeinsamen Sprache, Ethnie, Wirtschaft, Symbolik, dem Kollektivgedächtnis,
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gemeinsamen Feinden sowie gemeinsamen Erfahrungen und Auffassungen. Diese mannigfaltigen Dynamiken konstituieren das bewusste und unbewusste „,tool kit‘ of symbols, stories, rituals and world-views“ (Swidler, 1986: 273), das in den Köpfen der Menschen existiert und welches für „repertoires of collective action“ (Tilly, 1978: 143) zuständig ist. Absichtlich oder nicht, die Menschen nutzen dieses „Handwerkszeug“ zur Interpretation und Konstruktion ihrer Welt, besonders der Vergangenheit, der Situationen, mit denen sie sich augenblicklich konfrontiert sehen, und der von ihnen ersehnten Zukunft sowie der Wege, wie sie dort hingelangen können. Geschichten sind unser Mittel, diese Areale zugänglich zu machen. Geschichten zählen zu den vielleicht größten Errungenschaften der Menschheit, sowohl was den sozialen Aspekt angeht als auch anderweitig. Tilly vergleicht sie mit der Erfindung des Pfluges beim Ackerbau (Tilly, 2006: 95). Geschichten verflechten sich in und um geschriebene, gesprochene und visuelle Diskurse und werden unvermeidlich von der Populärkultur in all ihren Manifestationen beeinflusst. Diese Beziehung ist eine komplizierte und verwickelte, sind Geschichten doch eindeutig in eben die Kulturen eingebettet, zu deren (Re-)Produktion sie beitragen. Und so scheinen sie alles in allem nur noch ein Randaspekt der Alltagskultur geworden zu sein (selbst wenn sie die Alltagskultur selbst zum Thema haben), Material, das in modernen und postmodernen Zeiten nach Belieben umgestaltet werden kann, je nach Zeit, Ort und Laune. Dies alles ist höchstwahrscheinlich „wahr“ – aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Wenn Tilly auch kein Freund der Geschichte als Methode war, musste er doch zugeben: „[W]hen most people take reasons seriously, those reasons arrive in the form of stories“ (2006: 95). Wie bereits bemerkt, dienen Geschichten dazu, Menschen in einer Gemeinschaft zu vereinen, in der bestimmte Symbole, Themen und Charaktere Wiedererkennen, Wissen, Zusammengehörigkeit und manchmal auch Handlungspläne bieten.
Die Vortheorie: ein methodologisches Manöver Es ist nicht möglich, hier eine einzelne, eindeutige Definition der Geschichte zu geben. Ebenso existiert auch keine systematische oder leicht nachvollziehbare Vorgehensweise bezüglich des Sammelns, der Interpretation und der Präsentation von Geschichten. Nachdem ich die Unzulänglichkeit der bestehenden Methoden beklagt habe, bin ich mir allerdings auch darüber im Klaren, dass es einfacher ist, „zu definieren, welche Methoden vermieden werden sollten, als eine Reihe von Methoden für den systematischen Gebrauch vorzuschlagen“ (Clark, 1973: 10). Was ich hier biete, kann man wohl am
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sinnvollsten als eine Vortheorie sehen: eine Übung, die eine grobe Orientierung darüber erlaubt, wie die Dinge funktionieren, und die Rohmaterialien zum Theoretisieren hervorbringt. In diesem Prozess werden wir es mit einer Reihe von Hypothesen zu tun bekommen: von Arbeitshypothesen auf der Mikroebene, die während der Feldforschung aufkamen, bis zu Bemühungen auf der Makroebene zur Erklärung der erkennbaren Muster und Prozesse. Vortheorien können dazu dienen, weitere Formen von Untersuchung und Forschung zu begleiten, sowie auch Theorien auf anderen Ebenen zu fundieren. Eine Vortheorie ist also der Versuch, das Terrain kartographisch zu erfassen, in dem sich manche von uns allen Warnungen zum Trotz zurechtfinden wollen, während andere in diesem nur ein wenig herumwandern möchten und wieder andere sich die Mühe von vornherein schenken. Hoffentlich können wir das Dickicht ein wenig lichten und den einen oder anderen Pfad freilegen.14 Diesen Teil der Arbeit als Vortheorie zu definieren, erlaubt Veränderungen und Modifizierungen im Laufe des Buches und bezieht idealerweise den Leser in den Prozess mit ein. Es wäre naiv, ja unaufrichtig, die Tatsache zu ignorieren, dass jeder Versuch der Theoriebildung eine Metaerzählung voraussetzt. Die Aufmerksamkeit soll sich hier jedoch nicht bekannten Metaerzählungen wie Produktionsweisen, dem Übergang von Feudalismus zu Kapitalismus, dem Aufkommen des modernen Staatssystems oder der Dichotomie zwischen Modernisierung und Abhängigkeit widmen. Unsere Metaerzählung könnte man am besten als modernistischen/materialistischen Konstruktivismus bezeichnen. Dies beinhaltet eine Verpflichtung gegenüber dem Empirischen, dem „Realen“ und ist gleichzeitig Ausdruck der Überzeugung, dass das Meiste nichtsdestoweniger, ob beabsichtigt oder nicht, von uns als modernen Menschen konstruiert wird. Zu den Konsequenzen gehört, wie bereits erkennbar ist, das Verlassen der strikten, „traditionellen“ sozialwissenschaftlichen Form, oder zumindest dessen, was seit der „behavioristischen Revolution“ in den 1960ern davon übrig geblieben ist. Die Grundannahme lautet, dass man vorsichtig gegenüber dem Mythos (oder der „Chimäre“, siehe Chartier, 1991: 4) des Ursprungs sein sollte, dass es vielmehr keinen eindeutigen „Anfang“ gibt, dass wir uns deutlicherweise beinahe immer „in der Mitte“ befinden, wie Deleuze und Guattari (1987: 25) annehmen, ein äußerst interessanter Ort, „[where] things pick up speed“ und „das Ende“ ein sich immer weiter fortbewegendes Konzept ist, das konstant umgeschrieben wird. Welche Probleme diese Auffassung auch aufwerfen mag, sie bildet die Welt nichtsdestoweniger akkurater ab, als die sonst übliche. Da Geschichten aus teils tief verwurzelten gesellschaftlichen Erinnerungen, Bedeutungen und Botschaften bestehen, ist es
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Zeit und Mühe wert, sie zu erforschen und auf ihre komplexen und verwirrenden Einzelheiten einzugehen. Trotz der offensichtlichen Probleme, die entstehen, wenn man sie als „Fakten“ behandelt, ermöglichen uns Geschichten doch einen Zugang in die Herzen und Köpfe der Menschen, wie er uns ansonsten nicht möglich wäre. Ich möchte auf keinen Fall die Geschichte als möglichen Ersatz für eine exakte intellektuelle Analyse darstellen. Es gibt jedoch keinen Grund, Geschichten nicht mit in die Analyse einzubeziehen und sie nicht sogar als Heuristiken, Wegweiser zu wichtigen Themen zu nutzen. Die Anerkennung der Macht und Wichtigkeit der Geschichten und der Informationen, die sie liefern, sollte nicht unsere Fähigkeit einschränken, unsere Forschungsergebnisse (das, was wir „wissen“) in der quasi-objektiven analytischen Terminologie darzustellen, die die Sozialwissenschaften heutzutage ausmacht. Doch das ist unsere Geschichte; unvermeidlich ist unsere Sprache als Mittel der Verständigung essentiell für das sozialwissenschaftliche Projekt und unser Wissen und unsere Sprache werden durch das geprägt, was wir den Geschichten entnehmen können, die wir sammeln und dann (wieder)erzählen. Der entscheidende Punkt ist, dass Geschichten uns einen Zugang bieten, sie sind ein weiterer Teil unseres Handwerkszeugs, den wir nutzen können, um uns ein besseres Verständnis davon zu ermöglichen, was wir sind und wohin wir gehen. Viele Geschichten sind Millionen von Menschen auf der ganzen Welt vertraut; ihre Kernelemente bleiben über Zeit, Raum und Kulturen hinweg die gleichen (siehe die Betrachtungen zur Erzählung weiter unten) und sie sind Ausdruck vieler einflussreicher und vertrauter Prinzipien. Wofür genau diese Geschichten stehen, liegt oft im Auge des Betrachters, dem es dann zufällt, andere von der Richtigkeit oder zumindest der Plausibilität seiner Interpretation zu überzeugen. Außerdem besteht für uns als „Eindringlinge“ aus der heutigen Zeit, für die jegliches Messen und Benennen eine Form der Kontrolle darstellt, ein Problem, wenn wir Bezüge zur heutigen Zeit herstellen möchten. Wir sind spät gekommen und zu diesem Zeitpunkt gibt es schlicht und einfach keine Möglichkeit mehr, festzustellen, ob beispielsweise die vielen Geschichten über gewaltige, vernichtende Überschwemmungen, heilige, gottesgleiche Männer und Frauen oder Heldengestalten und edle Individuen und Völker viele Generationen, ja möglicherweise Jahrtausende alt sind, nur verzerrte Versionen bestehender traditioneller Erzählungen, oder beides. Auf den kommenden Seiten werden wir untersuchen, ob dies überhaupt von Bedeutung ist. Unabhängig davon können wir diese Geschichten internationalisieren indem wir sie „denationalisieren“ und allen gemeinsame Motive finden, die darauf hinweisen, dass, obgleich Revolutionsangelegenheiten zutiefst regional sind, sie gleichzei-
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tig umfassendere Regeln widerspiegeln, die wir über Zeit, Raum und Kulturen hinweg darüber aufstellen, wer wir sind, wie wir uns verhalten und was in unserer Welt möglich ist. Und das ist von großer Bedeutung. Es geht weder darum, Geschichten zu privilegieren und andere Quellen auszuschließen, noch zu behaupten, dass ausschließlich Geschichten Menschen zu Handlungen bewegen. Es ist nicht meine Absicht, Geschichten und Kultur mit so abstrakten Dingen wie wirtschaftlichen Prozessen oder politischen Kräften gleichzusetzen. Allein die Anzahl der Faktoren, die man sinnvollerweise berücksichtigen muss, wenn man das Wo, Wann und Warum von Revolutionen erforscht, ist überwältigend und es hat zu diesem Thema viele unterschiedlich erfolgreiche Ansätze gegeben. Die Betroffenen durchlaufen offensichtlich eine ganze Reihe von Erfahrungen, die von Unterdrückung zu Hunger bis hin zur resultierenden emotionalen Reaktion reichen. Was eindeutig zu wenige dieser Analysen beachtet haben, die oft von elitären oder intellektuellen Diskursen geleitet wurden – ein Punkt, der auch dieses Projekt betreffen könnte – ist die Frage, zu welchem Grad das Erzählen fesselnder Geschichten eine Schlüsselfunktion besitzen könnte. Jede einzelne Geschichte kann eine Vielzahl von Bedeutungen für Erzähler und Zuhörer haben, die wiederum alle mit vielen Stimmen sprechen und von vielen Positionen aus zuhören.
Zurück zu unserer Geschichte Im Prinzip möchten Menschen Geschichten hören, die sie bereits kennen, mit vertrauten Charakteren und einer Handlung, die sie vorausahnen können – ängstlich oder erwartungsfroh (Bates, 1996: 72). Offensichtlich scheint eine Sehnsucht nach Helden zu bestehen, die auf mehr oder weniger mythische Weise über besonderes, geheimnisvolles Wissen verfügen und dabei gleichzeitig voll und ganz menschlich sind. Oftmals können sie über ihre aktuellen, zumeist trostlosen Umstände hinausblicken und sich eine bessere Zukunft ausmalen, eine Vision, von der sie träumen können und die gleichzeitig in Reichweite zu sein scheint, selbst wenn sie zeitweilig Selbstaufgabe und große Opferbereitschaft verlangt. Die Menschen greifen auf Geschichten zurück, um in der Welt, ihrem Platz in ihr und ihren (nicht vorhandenen) Möglichkeiten, einen Sinn zu erkennen. Durch Geschichten ist es den Menschen möglich, ihr Leben auf eine bestimmte Weise darzustellen (und damit zumindest die Illusion von Kontrolle und Zielgerichtetheit zu erzeugen), wobei sie nicht nur ihr eigenes Wissen und die eigenen Erfahrungen mit einbeziehen, sondern auch die ihrer Gemeinschaften. Deshalb reflektieren Geschichten das Leben der Menschen wie
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es beinahe keinem anderen Text möglich ist; sie machen das Abstrakte konkret, das Komplexe überschaubarer und die Dinge generell „realer“. Geschichten verringern die immense Komplexität der Welt, inklusive der unseres täglichen Lebens, und verkleinern sie auf eine für Menschen erfassbare Größe. Sie fügen bereits angelegten Informationsspeichern weitere Informationen hinzu und folgen im Großen und Ganzen bekannten Pfaden. Oftmals sind Geschichten Dramatisierungen und Erzählungen von nicht in der Gegenwart stattfindenden Ereignissen. Dabei sollen sie jedoch in den meisten Fällen als mehr oder weniger organisierter Ausdruck der sozialen „Realität“, der die Welt vereinfacht, die Gegenwart erklären. Geschichten ermöglichen den Menschen das „Ausprobieren“ einer anderen Welt als der Ihrigen. Nur wenige Mittel der Informationsweitergabe sind so verbreitet, so umfassend, so mitreißend, so erfüllend – und so ungeeignet, mit sozialwissenschaftlichen Methoden erfasst zu werden.
„Die Problematik der Geschichten“ Die Sozialwissenschaften betrachten die oft problematischen Erzählungen im Allgemeinen nicht besonders wohlwollend. Sie werden meist mit dem Zusatz „bloß“ versehen und als „Beschreibung“, „Journalismus“ oder, am vernichtendsten, als „Historie“ bezeichnet.15 Dieser letzte Punkt ist ein besonders seltsamer Vorwurf, wo wir doch für unsere Daten zu einem großen Maße auf Historiker und deren Forschung angewiesen sind. Wie Polletta (2006: x–xi) jedoch beobachtet, haben Geschichten eine widersprüchliche Stellung inne, „gemeinhin werden sie für authentisch und irreführend gehalten … als allgemeingültig in ihren Schlussfolgerungen und als gefährlich partikularistisch – sogar idiosynkratisch – angesehen. Das Geschichtenerzählen wird geschätzt, genossen und misstrauisch beäugt.“ Zunehmend (wenn auch noch zögerlich) wird jedoch auch die Tatsache anerkannt, dass Sozialwissenschaftler ebenfalls Geschichten erzählen und dass wir uns zumindest über die damit einhergehenden Implikationen klar werden sollten: Was bedeutet es, dass wir, selbst wenn wir „Geschichten“ nicht für voll nehmen, von ihnen abhängig sind und sie benutzen, um unsere Arbeit weiterzuentwickeln und zu verbreiten?16 Was nun folgt, ist größtenteils von den neueren Arbeiten Tillys (2002, 2006, 2007, 2008) inspiriert, die den Ge- und Missbrauch von Geschichten zum Thema haben, wobei er ihnen Einfluss und eine Rolle als Hoffnungsträger zugesteht. Es handelt sich um eine knappe Übersicht über einige der Probleme beim Umgang mit Geschichten, grob den Kategorien Wahrheit, Methodologie, Übermittlung und Übersetzung zugeordnet.
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Gerücht und Revolution
Durch Fiktion die Wahrheit erzählen Häufig ist eine der ersten Fragen, die zu einer Geschichte gestellt wird, ob sie „wahr“ ist oder nicht. Um dies mit einer Gegenfrage zu beantworten: „Ist das von Bedeutung?“ Viele Geschichten sind sicherlich wahr, wobei es natürlich darauf ankommt, was man mit diesem schwierigen Ausdruck meint, denn es ist schwer zu sagen, wessen Wahrheit für wen, wann und wo zutrifft. Doch ebenso sicher sind die meisten – was Details oder Erzählweisen angeht – auf die eine oder andere Weise nicht wahr. Wie sollten sie auch? Ist es denn irgendeiner Art von Bericht oder Wiedergabe möglich, absolut exakt und zutreffend zu sein? Wird denn nicht jeder Bericht unvermeidlich erst vom Erzähler interpretiert und dann vom Zuhörer aufs Neue interpretiert? Das soll nicht heißen, dass er – was natürlich auch passieren kann – absichtlich fiktionalisiert wird, sondern eher dem menschlichen Hang zu guten Geschichten Rechnung tragen, womit vertraute Geschichten gemeint sind, die erkannt und verstanden werden und die deshalb bestimmten Mustern und Vorgaben folgen müssen. Dass erstaunlich viele ähnliche Geschichten über so viele verschiedene Zeiten und Orte hinweg auftauchen, spricht entweder für ihre grundlegende, elementare Natur oder dafür, dass zwischen unseren Vorfahren ein wesentlich deutlicher ausgeprägter Kontakt herrschte, als allgemein angenommen. Dies wird am offensichtlichsten in den religiösen Traditionen und ihren ausgiebigen Überschneidungen, nicht zuletzt im Bereich der Schöpfungsgeschichten; doch auch in Geschichten über Tiere, inter- und intrafamiliäre Beziehungen, Anführer und Geführte, die Bemühungen der Alten, die Jungen zu belehren und umgekehrt. Oft sind dies nur kleine Geschichtchen, die Wahrheit und spontane Einfälle vermischen, um solche Fragen wie die, woher der Tiger seine Streifen oder der Leopard seine Flecken hat, zu klären. Ist also irgendeine Geschichte wahr? Ist das von Bedeutung? Vielleicht nicht. Ob eine Geschichte „wahr“ ist oder nicht, könnte weniger wichtig sein, als die Frage, ob sie es sein könnte oder sollte. Wir wissen schon lange, dass viel von dem, was als „Fakt“ bezeichnet wird, nicht zuletzt gesellschaftlich abgesegnete Geschichtsdarstellungen, die von Regierungs- oder sonstigen „offiziellen“ Dokumenten belegt werden, oft nicht mehr als spärlich verhüllte Fiktion ist und die dargestellten „Fakten“ die sind, die den Absichten des Autors und/oder denen seiner Geldgeber dienen.17 Zusätzlich wurde vieles von dem, was wir „wissen“, was als Wahrheit angesehen wird, uns über das zugänglich gemacht, was wir „Fiktion“ nennen. In beiden Fällen muss man die Existenz von etwas anerkennen, das wohl am
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sinnvollsten als „soziale Wahrheit“ bezeichnet werden kann, das Ergebnis eines breiten Konsenses, der verschiedene Interessen zu verschiedenen Ausmaßen berücksichtigt. Doch Repräsentationen der Realität und die Realität selbst sind nicht leicht voneinander zu trennen und höchstwahrscheinlich sagen Geschichten etwas über den Blickwinkel und vielleicht sogar die Motivationen der Menschen aus. Ich möchte hierbei nicht außer Acht lassen, dass Menschen zu allen möglichen Arten von Unwahrheiten fähig sind – „in everyday conversation as well as considered composition“ (Foley, 1993: 231).18 Doch diese „durchdachten Kompositionen“ sind eine Quelle von unschätzbarem Wert. Da das Thema „Wahrheit“ in der Diskussion zur „Erinnerung“ im nächsten Kapitel wieder auftauchen wird, werde ich vorerst nur drei weitere Feststellungen machen. Erstens: Es gibt einige Kulturen, in denen das Konzept der Aufrichtigkeit zutiefst auf den Worten der anderen basiert und auf der Art, wie diese Worte verstanden werden. Bei den Bemba ist beispielsweise das Ohr „the organ of truth“ und die Kriterien der Wahrheit die Worte der anderen (Maxwell, 1983: 11). Dies wirft offensichtlich eine Reihe von Fragen auf, erinnert uns aber vor allem erst einmal daran, dass nicht nur die Worte selbst von Bedeutung erfüllt sind, sondern auch die Art, wie sie gehört werden und wer sie wem auf welche Weise sagt. Die gleichen Worte können selbst unter den gleichen Umständen mit verschiedener Wirkung geäußert werden, denn manche Menschen verfügen über Autorität und andere nicht. In jeder Gesellschaft und Kultur gibt es die, deren Worte eine privilegierte Stellung einnehmen. Zweitens: Ein Großteil der Diskussion zur „Wahrheit“ spielt sich im Rahmen von Fragen der „Authentizität“ ab. Hierbei geht es um Autorität und Legitimität: Wer darf sprechen? Dies kann besonders entscheidend sein, wenn die „Wahrheit“ heiß umkämpft wird. Griswold drückt es so aus: „[A]uthentizität ist immer ein Produkt menschlichen Handelns, und der Unterschied zwischen dem Authentischen und dem Erfundenen hängt vom Kontext ab: Ein echter Warhol ist eine unechte Suppenkonserve“ (1998: 274). Sie versichert uns aber nichtsdestoweniger, dass eine „authentische Authentizität“ existiert, „der die künstliche vergleichend gegenübergestellt und für unzulänglich befunden werden könnte.“ Anders ausgedrückt, besitzen die Menschen anscheinend die Fähigkeit, zwischen dem zu unterscheiden, was behauptet, authentisch zu sein, und dem, welches es wirklich ist. Drittens: Diesen Punkten zufolge müssen Geschichten sowohl wörtlich genommen werden, als auch nicht. Hier treffen sich Burckhardts Begriff der Geschichten, die „true and not true“ sind, das Interesse der Bemba am gesprochenen und gehörten Wort, Griswolds Augenmerk auf die Authentizität und
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Steffens’ Anekdote über Gerüchte, die „truer than the records“ waren und von jemandem stammten, der verstand „what it was all about“. Geschichten müssen sorgfältig und bewusst betrachtet werden und wenn möglich unter Zugriff auf verschiedene Quellen. Selbst dann haben wir das Recht, sie für suspekt zu halten und das sollten wir wohl auch besser – ist es so wirklich passiert? Waren es die Spanier, die 1898 die USS Maine im Hafen von Havanna in die Luft sprengten? Haben die Polen Deutschland 1939 provoziert? Wurden die US-Schiffe im Golf von Tonkin 1964 von der Republik Vietnam angegriffen? Haben die Menschen sich überall in den Vereinigten Staaten für die Bürgerrechte ausgesprochen? War es der Iran (oder Afghanistan), der die Vereinigten Staaten am 11. September 2001 attackierte? Die Liste ist endlos und es ist ebenso unmöglich, die „Wahrheit“ festzustellen, wie irrelevant. Von Bedeutung ist allein das, was von einem bestimmten Zeitpunkt an zur Wahrheit erklärt wird, wie zweifelhaft diese auch sein mag.
Steht hinter dem Wahnsinn Methode? Was Geschichten angeht, wimmelt es nur so von methodologischen Bedenken. Obwohl sie häufig schon sehr alt und teils auch „standardisiert“ sind, scheinen Geschichten oftmals schwer fassbar und überaus regional begrenzt. Selbst in aneinandergrenzenden Vierteln innerhalb einer Stadt erzählt man sich zum Teil leicht unterschiedliche Versionen der gleichen Geschichten, besonders in Gesellschaften, wo sich die Menschen eher mit ihrer Nachbarschaft identifizieren als mit ihrer Stadt oder ihrem Land. Viele Geschichten sind, ungeachtet ihrer Herkunft, nur flüchtige Einblicke, die von Menschen verbreitet werden, die sich in den unterschiedlichsten Situationen befinden. Doch wie Tilly (2002: 26) es ausdrückt (mehr dazu weiter unten), gibt es solche, die man sinnvollerweise als Standardgeschichten bezeichnen kann. Diese sind „sequenzielle, erläuternde Berichte von miteinander verbundenen, selbstangetriebenen Menschen und Ereignissen, die wir manchmal Märchen, Fabeln oder Erzählungen nennen … erläuternde Darstellungen von eigenmotiviertem menschlichen Handeln.“ Diese Darstellung von Geschichten scheint sehr eng gefasst und reduziert. Die bloße Existenz der Standardgeschichten zeugt von ihrer Beständigkeit. Volkskundler haben sogar Typologien für die Klassifizierung von Mythen und Märchen entwickelt. Die gebräuchlichste ist das Zahlen- und Buchstabensystem des Aarne-Thompson-Indexes, dessen Zuordnungen sowohl auf der Geschichte als auch auf den in ihr enthaltenen Motiven beruhen.20 Geschichten scheinen gleichzeitig flüchtig und überraschend langlebig zu sein; so abhängig, wie sie nun einmal von den Men-
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schen sind, sollte dies nicht überraschen und eine hervorragende Basis für die weitere Untersuchung bieten. Zu der „regionalen Begrenztheit“ kann man feststellen, dass Geschichten stark „versioniert“ sind, also in verschiedenen Versionen vorliegen. Es gibt zum Beispiel in León in Nicaragua zahllose Geschichten über den Widerstand und die Rebellion 1978–79 gegen das diktatorische Regime Anastasio Somozas. Die Handlungen variieren nicht nur von Viertel zu Viertel, sondern manchmal sogar von Wohnblock zu Wohnblock, wobei verschiedene für sich in Anspruch nehmen, die Hauptrolle gespielt zu haben, was manchmal auf ein einzelnes Individuum oder Ereignis bezogen ist. Manchmal beinhalten die Geschichten konkurrierende Aussagen, die alle der Wahrheit entsprochen haben mögen, selbst wenn das eigentlich nicht möglich erscheint. So versteckte sich beispielweise Comandante Omar Cabezas bei diesen Menschen in diesem Barrio, führte eine Razzia in jenem durch, wurde von diesen Leuten hier versteckt, aß mit anderen zusammen in wieder einem anderen Barrio, versteckte sich tatsächlich eigentlich in diesem Viertel und lobte die Menschen in einem anderen Stadtbezirk für ihr Verantwortungsbewusstsein und ihre Tapferkeit – manchmal sogar alles zur gleichen Zeit! Als er bezüglich all dieser Geschichten befragt wurde, lachte er und bestätigte breit grinsend, dass sie selbstverständlich alle wahr seien (Cabezas, 1989). In jedem Barrio entstanden Lokalhelden und León und die heldenhafte Rolle Leóns in der Nicaraguanischen Revolution veränderte sich jeweils ein wenig, wenn auch die Besetzung und die Rahmenhandlung – und natürlich die grundlegenden Wahrheiten – größtenteils dieselben blieben. Ein weiteres Dilemma besteht darin, dass die Szenarien der Geschichten oftmals in einer summierenden, generalisierenden rhetorischen Form dargestellt werden, die Unsicherheiten vermeiden und eine Unausweichlichkeit der Handlung suggerieren soll. Solche Geschichten scheinen besonders geeignet für Menschen, die andere anführen möchten und eine mitreißende Erzählung zur Legitimation suchen. Geschichten werden häufig benutzt, um inkohärente oder widersprüchliche Vorgänge glattzubügeln und eine klare und eindeutige Vorstellung zu präsentieren. Ein Beispiel dafür könnte Maurice Bishops Rede 1982 in Grenada sein, in der er die Marschroute vorgab und sich dabei auf Marx und Engels stützte.21 Das Ziel ist hier einerseits, die Menschen davon abzuhalten, in verschiedene Richtungen zu streben, andererseits geht es darum, zu vermeiden, dass sie von unklaren Handlungen, die sie eventuell für widersprüchlich oder abschreckend halten könnten, verwirrt werden. Solche Geschichten in einen entsprechenden Kontext zu stellen und die Erzählung sensibel und nuanciert herauszulösen, ist überaus schwierig.
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Offensichtlich werden Geschichten größtenteils dadurch bestimmt, wie die Menschen ihr Umfeld, wie sie ihre Welt sehen. Trotzdem handelt es sich nicht nur um eine reine Einschätzungssache. Es handelt sich auch um die Frage, wie sie mit der Exaktheit und Reproduzierbarkeit erfasst werden können, die in den Sozialwissenschaften so wichtig sind. Momentan fehlen die Theorien, weniger die Instrumente, um den Einfluss zu messen, den eine Geschichte, ein Lied, ein Tanz oder ein Symbol auf Gesellschaften und Kulturen haben kann; sehr selten gibt es enger gefasste und gezielte Studien dazu, wie sich beispielsweise ein Song oder eine Fernsehsendung auf die Politik des Landes auswirken können.22 Wir haben es hier definitiv mit einer großen Herausforderung zu tun, jedoch mit einer, die den Aufwand wert ist, wenn man sich die möglichen Einsichten in unsere individuelle und kollektive Psyche vergegenwärtigt.
Übermittlung Übermittlungsprobleme verschiedenster Art treten täglich auf, von einfachen Anweisungen zu komplizierteren Kommunikationsvorgängen. Irgendetwas geht in beinahe jeder Übermittlung verloren oder wird hinzugewonnen: es gibt Unterbrechungen, Verfälschungen und Diskontinuitäten, die meisten davon unabsichtlich, viele auch nicht wahrnehmbar. Denken wir nur einmal an das in vielen Kulturen verbreitete Kinderspiel „Stille Post“, bei dem ein Satz flüsternd von Ohr zu Ohr weitergegeben wird, bis er wieder beim Urheber ankommt, der dann, meist unter großem Gelächter, das wiedergibt, was bei ihm angekommen ist, und den Originalsatz nennt. Solche Verfälschungen sind nur selten beabsichtigt, im Gegensatz zur „echten Welt“, wo sie manchmal bewusst in Kauf genommen werden, wenn ein Erzähler versucht, eine Geschichte zu vermitteln oder ein Zuhörer versucht, sich den Sinn der Geschichte in seinen eigenen Begriffen zu erschließen, oder die Geschichte gar auf sich zu übertragen. Noch wahrscheinlicher wird eine Verfälschung, wenn die Übermittlung über mehrere Kulturen und längere Zeitabstände hinweg erfolgt und wenn Übersetzung involviert ist. Wie beispielsweise Mexikos berühmteste revolutionäre Figur Emiliano Zapata sowohl zum Helden der mexikanischen Regierung werden konnte als auch zu dem ihrer unerbittlichen revolutionären Gegner, der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (Ejército Zapatista de Liberación Nacional, EZLN), ist interessant, jedoch nicht besonders schwierig zu verstehen (siehe unter anderem Brunk, 2008). Zapata spielt seit Langem eine Doppelrolle in Mexiko (Martin, 1992); die Menschen adaptieren die Geschichten über ihn entsprechend ihren jeweiligen Absichten. Präzise darzu-
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legen, wie Zapata zu einer wichtigen Revolutionsfigur im restlichen Lateinamerika und der Karibik werden konnte, könnte eine größere Herausforderung darstellen, doch seine Präsenz – und sogar die seines geliebten und sagenumwobenen weißen Pferdes, immer noch ein Symbol für Widerstand und Kampf – bei den Revolutionären außerhalb Mexikos ist faszinierend. In vielen Fällen ist es allerdings möglich, direkt oder indirekt die Spur der Übermittlung zu verfolgen. Malen wir uns einmal das folgende plausible, wenn auch spekulative, Szenario aus. Man kann sich relativ leicht vorstellen, dass die jungen kubanischen Revolutionäre (und der ein oder andere Argentinier), die Mitte der 1950er in Mexiko ausgebildet wurden (von einem Exilanten aus der Spanischen Republik, dem Luftwaffenoberst Alberto Bayo23), eine Menge über Zapata hörten und dass sie mit einigen der alternden Zapatisten Kontakt hatten. Zwanzig Jahre später schulten einige eben dieser Kubaner die Revolutionäre in Afrika und kämpften gemeinsam mit ihnen. Unter anderem brachten sie die Geschichten über Zapata mit. Zehn Jahre später erwähnte der damalige Außenminister und spätere Präsident Mosambiks, Joaquin Chissano, nachdem er auf eine Studie der Revolutionen in Lateinamerika angesprochen worden war, unter anderem (mit sichtbarer Begeisterung) „Zapatas weißes Pferd“ (1985). Doch was hat das zu bedeuten? Was wussten die Mosambikaner oder die Kubaner von Zapata? Wie fügten sie ihn in ihre revolutionäre Kosmologie ein? Wer war er und welche Bedeutung hatte er für sie? Es ist denkbar, dass in beiden Kulturen – in Mosambik und auf Kuba – Zapatas Pferd, besonders wenn man es als außergewöhnlich großen und weißen Hengst sieht, wichtiger wurde als der Mann. Ein tapferer Mann, der auf einem weißen Pferd für sein Volk und eine gerechte Sache kämpft, taucht in einer Reihe von Geschichten auf, in den verschiedensten Kulturen und vielen Zeiten und Orten. Wie wird eine Geschichte verbreitet, wie wird sie gehört und was geht bei der Übersetzung verloren? Selbst innerhalb eines Landes kann es eine Herausforderung darstellen, einzuschätzen, was solche Verbindungen wann und für wen bedeuten. In Nicaragua gibt es Geschichten über alternde Sandinisten aus den 1920ern und 1930ern, die sich bei der jüngeren Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront („Frente Sandinista de Liberación Nacional“) zum Dienst meldeten.24 Doch einige der „Original-Sandinisten“ waren von dem verwirrt, was sie antrafen, sahen und hörten. Für beide Seiten war es schwierig, ihre Vorstellung und ihr Verständnis von der Situation zu kommunizieren. Es kam nur selten zu Annäherungen, obwohl die verbliebenen Original-Sandinisten die jüngeren Sandinisten größtenteils zu unterstützen schienen, besonders, als die
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Kämpfe ihren Höhepunkt erreichten. Fragen bezüglich der Übermittlung von Geschichten können also sehr erhellend sein, besonders wenn es um mehrere konkurrierende Geschichten geht, die deutliche, wenn auch nur oberflächliche Ähnlichkeiten aufweisen.
Übersetzung Die Übermittlung von Geschichten wirft bestimmte Probleme auf, ihre Übersetzung hingegen wieder andere. Jedem sind die offensichtlichen Schwierigkeiten der Übersetzung bekannt; man nehme nur einmal ein vertrautes Buch und lese es in seiner Originalsprache oder versuche, eine Online-Übersetzungsmaschine zu verwenden. Doch Worte sind nicht das Einzige, was der Übersetzung bedarf. Alles, was in irgendeiner Weise als „Text“ gelesen werden kann – Kunst, Musik, Filme, Fernsehsendungen, Nachrichten, Architektur und so weiter – kann eine Übersetzung erfordern. Und das Übersetzen ist eine schwierige Aufgabe; selbst ein schlechter Übersetzer ist sich laut Benjamin darüber im Klaren, dass es etwas „Unfassbares, Geheimnisvolles, ,Dichterisches‘“ (1999a: 253) erfordert. Ein Teil des Problems ist, dass es selbst, wenn wir alles außer den Worten außer Acht lassen, „eine Nachreife auch der festgelegten Worte [gibt]. Was zur Zeit eines Autors Tendenz seiner dichterischen Sprache gewesen sein mag, kann später erledigt sein, immanente Tendenzen vermögen neu aus dem Geformten sich zu erheben. Was damals jung, kann später abgebraucht, was damals gebräuchlich, später archaisch klingen“ (Benjamin, 1999a: 256). Also ist „alle Übersetzung nur eine vorläufige Art … sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen … die Aufgabe des Übersetzers … besteht darin, diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden, von der aus in ihr das Echo des Originals erweckt wird“ (1999a: 257, 268). Dies ist offensichtlich keine geringe Aufgabe und sie übersteigt das, was man fairerweise von einem Übersetzer verlangen kann. Es handelt sich hier nicht um geringfügige oder besonders spezielle Probleme, und sie sind bei Weitem nicht die einzigen. Generell bestehen beim Übersetzen zwei Dilemmata, die man vielleicht als „Tat- und Unterlassungssünden“ („sins of commission and sins of omission“) bezeichnen könnte. Die drei verbreitetesten „Tatsünden“ sind die Simplifizierung, das Verschleppen von Konzepten oder sogar Kontexten aus dem fremden Gebiet in das eigene und die Veränderung oder das Auslassen komplexer Charaktere, Szenarien oder Verhaltensweisen, die nicht zu einer bestimmten Zeit, Kultur oder in einen bestimmten Ort passen. Die drei „Auslassungssünden“ bestehen im Nichtvorhandensein von Zwischentönen, Sachkenntnis und, nach Benjamin,
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der „flüchtigen Berührung“ („a deft touch“). Bei diesen vielfältigen Problematiken geht es speziell um ein Phänomen, das wir als „kulturelle Anpassung“ („cultural re-editing“) bezeichnen könnten. Diese „kulturelle Anpassung“ bezieht sich auf die Integration der Symbole oder Geschichten einer anderen Kultur in die eigene.25 Während dieser Vorgang für Forscher natürlich den Vorteil der besseren Vergleichbarkeit hat und die Möglichkeit bietet, bekannte Geschichten wiederzuerkennen, stellt er uns auch vor eine ganze Reihe von Problemen. Um ein offensichtliches Beispiel zu nehmen: Kulturübergreifende/multikulturelle Darstellungen Ché Guevaras sind seit ca. 40 Jahren weit verbreitet, angetrieben von seinem stetigen Aufstieg zur popstarähnlichen Ikone, einem Status, an dem sich bis heute nicht viel geändert hat.26 Doch es ist nicht ganz klar, wie hilfreich es ist, unter anderem Amilcar Cabral (Kapverden/Guinea-Bissau) als den „Ché Guevara Schwarzafrikas“ zu bezeichnen,27 während Subcomandante Marcos der mexikanischen EZLN zum „Ché Guevara seiner Generation“ erhoben wird und gleichzeitig der palästinensische Aktivist Mohammad Al-Aswad „Guevara von Gaza“ getauft wird oder der europäische und nordamerikanische Revolutionär Tom Paine im Nachhinein als „Ché Guevara seiner Zeit“ gewürdigt wird. Solche Bezeichnungen erlauben inhaltliche Verkürzungen und darüber wiederum Legitimierungen und Autoritätsansprüche, teils funktionieren sie sogar als Authentizitätsmerkmal. Selbst wenn sie auf den ersten Blick hilfreich wirken, erweisen sie sich doch nur zu oft als das exakte Gegenteil, indem sie dazu beitragen, Menschen, Orte, Ereignisse und Prozesse als austauschbar, ja sogar nach Belieben veränderbar erscheinen zu lassen. Es besteht also das Risiko, unpassende und ablenkende Schlüsse zu ziehen, die mehr in die Irre führen können, als sie erklären, und mehr verhüllen, als sie offenlegen. Die Hauptgefahr liegt darin, dass die Illusion von Kategorisierbarkeit und somit Kontrolle geschaffen wird.
Tillys „Problematik der Geschichten“ Charles Tilly, einer der einflussreichsten und brilliantesten Sozialwissenschaftler der letzten 50 Jahre behandelt in seinen letzten Arbeiten das, was er als die „Problematik der Geschichten“ bezeichnet.28 Zusätzlich zu seinen klugen Analysen erzählt Tilly auch noch eine gute Geschichte. Abgesehen von seiner etwas nicht ganz ernst gemeinten Frage, „[whether] any credible versions of realism remain“ (2002: 4), ist Tillys restliche Analyse sehr empfehlenswert. Er stellt fest, dass die Menschen gemeinhin ihr Leben als Geschichten begreifen, welche „crucial work in patching social life together“ (2002: 26)
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verrichten. Er macht die wichtige Wiederentdeckung der „zentralen Bedeutung sozialer Vorgänge, Bindungen und Beziehungen zu sozialen Prozessen und der Untersuchung der Verbindung zwischen sozialen Beziehungen auf der einen Seite und sozialen Konstruktionen auf der anderen Seite“ (2002: 5). Zusätzlich stellt er die These auf, Geschichten seien „fesselnde Darstellungen von dem, was passiert ist, was passieren wird oder was passieren soll“ und verrichteten daher „innerhalb des sozialen Lebens grundlegende Arbeit, indem sie das Engagement der Menschen in gemeinsamen Projekten bestärken, indem sie den Menschen helfen, dem, was passiert, einen Sinn zu geben, indem sie kollektive Entscheidungen und Beurteilungen kanalisieren und Menschen zu Handlungen anregen, denen sie sonst nur widerstrebend nachgehen würden“ (2002: 27). Diese Überlegungen gehen mit der elementaren Prämisse dieses Buches konform. Doch trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – des bestehenden Überflusses an Geschichten stellt Tilly fest, dass Geschichtenerzählen zwar zentraler Bestandteil des menschlichen Lebens, jedoch die Kausalstruktur zwischen „most standard stories and most social processes“ einfach nicht kompatibel sei (Tilly, 2002: 32). Obwohl sie althergebracht und zu einem gewissen Grad standardisiert sind, warnt Tilly vor den von ihm sogenannten „standard stories“. Es handele sich um „[einen] sequenziellen, erläuternden Bericht von miteinander verbundenen, selbstangetriebenen Menschen und Ereignissen, die wir manchmal Märchen, Fabeln oder Erzählungen nennen“, die „eigenmotiviertes menschliches Handeln“ (2002: 26) beinhalten würden und zumeist vergänglich und regional begrenzt seien. Obwohl es auch „superior stories“ (Tilly, 2002: xiii; 39–40; 2006: 171) gibt, die sich teils dadurch auszeichnen, dass sie „wahr“ sind, sind auch diese mit Mängeln behaftet, da sie nicht in der Lage sind, „eine Reihe von schrittweise zunehmenden, indirekten, unvorhergesehenen und ansonsten komplexen Ursachen“ (2002: xiv) darzustellen. Tilly bemängelt: „[I]n den meisten Fällen bietet das Standard-Geschichtenerzählen eine minderwertige Orientierungshilfe zur Erklärung sozialer Phänomene … Die meisten sozialen Prozesse beinhalten Ursache-Wirkungs-Beziehungen, die indirekt, schrittweise zunehmend, interaktiv, unbeabsichtigt, kollektiv und/oder durch die nicht-menschliche Umgebung vermittelt werden“ (2002: 35). Tillys gesamte Äußerung ist komplex, inhaltsschwer und beinhaltet geschickt platzierte Anekdoten, die seine überzeugenden Thesen beleben und realer werden lassen. Das Ergebnis seiner Analyse lautet, dass Geschichten von geringem Nutzen sind. Es ist allgemein bekannt, dass Geschichten problematische Leitfäden für soziale Analysen darstellen, „even when they convey truths, stories enormously simplify the processes involved“ (Tilly, 2002: 65). Diese Simplifizie-
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rung ist allerdings oft nur eine Illusion und so oder so trägt ihre Rolle und Position als Übertragungsmedium zu ihrem Wert für die Forschung bei. Wenn man davon ausgeht, dass soziale Prozesse in sich bereits wie eine Erzählung strukturiert sind, so korrespondiert unser Verständnis von ihnen und unsere Wiedergabeweise in den meisten Fällen mit der vertrauten „AnfangMitte-Ende“-Struktur und Verlaufskurve. Doch ob wir sie nun vorziehen oder nicht, unsere Welt ist voll von Geschichten, die nicht konform zum Romanmodell des 19. Jahrhunderts funktionieren, das von einer logischen Progression des Plots und einem sauberen Abschluss definiert wird. Stattdessen besitzen sie häufig ein offenes Ende, und bieten nicht nur viel Raum für Interpretationen, sondern verlangen geradezu nach ihnen, sind in gewisser Weise abhängig von ihnen. Die Menschen bringen ihre Geschichten in Konversationen ein und vertiefen und erweitern damit die Diskussion. Ein Ergebnis ist, dass sie exakt die Ursache-Wirkungs-Beziehungen widerspiegeln, die Tilly beschreibt; die besagten Geschichten sind eben solche, die die Auffassungen der Menschen bezüglich der indirekten, unmerklichen und häufig unbeabsichtigten Elemente und Aspekte in ihren Geschichten und ihrem Leben zeigen. Außerdem sind sie Ausdruck ihres Bewusstseins (und NichtBewusstseins) darüber, wie überaus interaktiv und kollektiv ihre Geschichten und ihr Leben sind. Des Weiteren spiegeln diese Geschichten auch den oft außergewöhnlich hohen Anteil zufälliger Ereignisse im menschlichen Leben wider. Dies ist es, was wir hier untersuchen wollen.
Das Erfinden und Erzählen von Geschichten: die Kunst der bricolage Es gibt unendlich viele Geschichten auf der Welt und auch Revolutionsgeschichten gibt es zuhauf, sogar mehr als historische Aufzeichnungen zur Revolution (eine beachtliche Leistung) und weiter verbreitet, als wir gemeinhin annehmen. „People rework and simplify social processes so that the processes become available for the telling“ (Tilly, 2008: 39). Doch wer „erfindet“ diese Geschichten wie und warum? Wenn die Antworten auch auf der Hand liegen – wir erfinden sie, aus all den bisher erörterten Gründen – bleibt doch der Prozess an sich rätselhaft. Meine These lautet, dass die Menschen sich an ihre Vergangenheit erinnern („remember“ beinhaltet im Englischen auch eine Assoziation vom Zusammensetzen einzelner Teile, A. d. Ü.), oftmals in mythischen Begriffen, und dass sie einander nachahmen; wir sind mimetisch. Dies führt dazu, dass sie die Welt oft wie ein bricoleur betrachten, ein Ausdruck, der in diesem Kontext besagen soll, dass sie in der Lage sind, viele verschiedene Aufgaben mit den Hilfsmitteln oder Materialien zu bewältigen, die sie gerade
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vorfinden. Oft sind dies Dinge, die sich im Laufe des Lebens angesammelt haben, bis zu dem Moment, wo sie zum Einsatz kommen.29 Der bricoleur ist weder ein rein praxisorientierter Wissenschaftler (oder Ingenieur), noch ein rein abstrakter Theoretiker, er ist also auf alles vorbereitet und kann mit jeder Situation umgehen, was sie auch für Mittel erfordern mag.30 Der Ausdruck bricoleur kann sich also auf jemanden beziehen, der seine eigenen Strategien entwickelt, um die gegebene Realität zu verstehen und mit ihr zu arbeiten. Dies geschieht nicht in einem Vakuum. Es gibt nicht nur äußere Umstände, sondern, wie Polletta vermerkt, auch aktive Zuhörer, „die die Lücken zwischen den sich entwickelnden Ereignissen und auch zwischen Ereignissen und dem größeren Ziel, auf das sie hinauslaufen, füllen … wobei sie nie ganz geschlossen werden können. Die Möglichkeit, dass dieselben Ereignisse einen anderen normativen Aspekt erbracht hätten, wenn sie mit anderen Worten beschrieben worden wäre, bleibt bestehen … wir erwarten es, Geschichten interpretieren zu müssen“ (Polletta, 2006: viii, Hervorhebung im Original). Genau wie Anführer nicht weiter oder schneller gehen können als ihre Gefolgschaft es ihnen erlaubt, und sie verhandeln und Kompromisse eingehen müssen, um diese zu überzeugen, so müssen auch Geschichtenerzähler ihre Zuhörer, ihre Umgebung und ihre Situation berücksichtigen. Es ist keine geringe Aufgabe, klare, fesselnde und authentische Geschichten zu erschaffen. Aus einem Sammelsurium von Materialien und Konzepten ein mehr oder weniger schlüssiges Ganzes zu erzeugen, kann man durchaus als Handwerk der bricoleure bezeichnen; jener, die zur „magischen Kunst“ der bricolage fähig sind, also „neue Geschichten … aus wiederverwendeten Teilen älterer Geschichten“ herstellen (Doniger, 2000: 26; Apter, 2006: 791 stellt ebenfalls den Bezug zwischen Magie und bricolage her). Dies tun Menschen in vielen Situationen, von denen nur wenige an sich außergewöhnlich sind. Viele gewinnen erst im Kontext an Bedeutung, vielleicht niemals so oft, wie unter den ungewöhnlichen Umständen, die entstehen, wenn revolutionäre Vorstellungen zu revolutionären Gefühlen werden und diese zu revolutionären Situationen heranwachsen. Aus dem Alten etwas Neues zu erschaffen ist eine Umgestaltung je nach den Erfordernissen der jeweiligen Situation, die vor allem dann geschieht, wenn die Menschen mit etwas Außergewöhnlichem, nie Dagewesenen konfrontiert werden. In solch einem Fall kann es passieren, dass sie eine Revolutions-bricolage erstellen, ein Vokabular von Worten und Konzepten aus verschiedenen Quellen, das von den Beteiligten in eine praxisorientierte Ideologie eingefasst wird. Mittels dieser stellen sie sich den Ungerechtigkeiten und Notlagen ihrer Zeit und erschaffen neue Geschichten und Zukunftsvisionen, während sie durch den Rückgriff auf vorhandene Geschichten gleichzeitig wichtige kon-
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textuelle Bezüge zur Vergangenheit aufrechterhalten. Bricoleure durchstöbern ihr Gedächtnis und ihre Kultur nach Konzepten und Vorgehensweisen, die ihnen beim Umgang mit den gegebenen Umständen helfen können. Alles in Kultur und Gesellschaft kann dabei verwendet werden. Sie machen sich beispielsweise Erinnerungen an Unterdrückung, Sagen von Belagerung und Kampf, Erzählungen von der Auflehnung, Mythen vergangenen und zukünftigen Ruhmes sowie geheimnisvolle und symbolträchtige Worte aus dem kulturellen Pantheon der Widerstands- und Rebellionsgeschichte zu eigen. Diese verwandeln sie in eine brauchbare Vergangenheit, die der Gegenwart gegenübersteht und die bis in die Zukunft hinein wirkt. Mythos, Erinnerung und Mimesis helfen uns bei der Erstellung eines Bildes der Welt, wie sie war, wie sie ist und wie sie sein könnte und sollte. Während die genaue Aufarbeitung der Herkunft und Entstehung einer bestimmten Geschichte eine sehr aufwändige und die Grenzen dieses Projektes sprengende Aufgabe ist, so können wir doch nichtsdestoweniger eine Menge Gemeinsamkeiten in den verschiedenen Geschichten aller Kulturen und Gesellschaften finden. Schriftliche und auch mündliche Geschichtensammlungen ermöglichen uns zumindest zu Teilen einen Zugang zur Historie ihrer jeweiligen Kulturen. Meine These lautet, dass während des Revolutionsprozesses alte Geschichten erzählt und gehört werden, sie dabei aktualisiert werden und somit real und verwendbar gemacht werden. Genau wie es sich bei Revolutionen nicht um zufällige, unaufhaltsame Naturgewalten handelt, werden Geschichten auch nicht entdeckt, weil sie „zufällig herumliegen“.
Die Rolle der Erzählung: Die Geschichte der Geschichte Erzählungen sind, wie Geschichten, allgegenwärtig; ohne sie funktionieren wir nicht. Ein scharf beobachtender Leser hat darauf hingewiesen, dass die Geschichten, die später in diesem Buch erzählt werden, selbst stark an eben die Art Erzählungen erinnern, von denen ich sie hier abgrenzen möchte.31 Während die Geschichte erst in jüngster Zeit wieder ihren Weg in die Sozialwissenschaften gefunden hat, so hat sich die Wichtigkeit und Nützlichkeit der Erzählung bereits seit der Arbeit von Bertaux (1981) und vielleicht schon mit der Pionierarbeit von White (1973) etabliert. Durch ihre vielen fähigen Erzähler ist sie nicht nur ein reines Mittel der Beschreibung geblieben, sondern zeigt, wie sehr die Menschen über Raum und Zeit hinweg in komplexe soziale Netzwerke eingebunden sind. Dies ermöglicht es, einzuschätzen, inwieweit die verschiedenen Erzählungen über revolutionäre Aktivitäten und Kämpfe das erweitert haben, was unterdrückte Bürger als ihre Auswahl an Möglichkeiten
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empfinden. Die Erzählung ist das Herzstück der Geschichte, zumindest in der nördlich-westlichen Tradition, doch sie ist keinesfalls mit ihr identisch. Eine Geschichte kann mehr sein als die in ihr enthaltene Erzählung. Die Erzählung von der Geschichte zu separieren ist weder haarspalterisch noch provokant gemeint und soll nicht etwa besagen, dass die Begriffe im täglichen Gebrauch nicht austauschbar wären. Teilziel dieser Übung ist es, eine exaktere Wiedergabe dessen zu ermöglichen, was in der „echten“ Welt passiert. Deshalb stelle ich die Behauptung auf, dass die Erzählung, wie unten beschrieben, der Geschichte untergeordnet ist, Geschichten also Erzählungen sein können, eine Erzählung allein jedoch keine Geschichte (siehe Glassie, 1982: 39; eine gegensätzliche Sicht findet sich bei Tilly, 2006: 64). Für die Zwecke dieses Projekts wird das Hauptaugenmerk auf den Geschichten liegen, womit hier das weitläufige, tiefreichende, ausufernde „Wirrwarr“ der Dinge gemeint ist, die Menschen erzählen; der Dinge, die ihnen am wichtigsten sind. Doch es wäre unmöglich, Geschichten zu untersuchen oder zu erklären, ohne sich ernsthaft mit dem Erzählen auseinanderzusetzen. Laut Barthes gibt es unermesslich viele Erzählungen auf der Welt, unter anderem: [in] ausformulierter Sprache, gesprochen oder geschrieben, in stehenden oder bewegten Bildern, in Gesten, und in der homogenen Mischung aus all diesen Formen … präsent in Mythos, Legende, Fabel, Märchen, Novelle, Epos, Historie, Tragödie, Drama, Komödie, Pantomimik, Malerei … Bleiglasfenster, Kino, Comics, Nachrichten, Gespräch … in dieser fast unendlichen Vielzahl von Formen ist die Erzählung quasi omnipräsent in jedem Zeitalter, an jedem Ort, in jeder Gesellschaft; es beginnt mit der eigentlichen Menschheitsgeschichte und nirgends gibt oder gab es ein Volk ohne Erzählungen. (Barthes, 1977: 79)
Um dies etwas klarer zu machen, fügt er hinzu: „[A]lle Gruppen von Menschen haben ihre Erzählungen … die Erzählung ist international, transhistorisch, transkulturell: sie ist einfach da, wie das Leben selbst“ (Barthes, 1977: 79). Angelehnt an Barthes heißt es bei Byatt, Erzählen sei „genauso Teil der menschlichen Natur wie die Atmung oder der Blutkreislauf“ (2001: 166). Also was genau macht das Erzählen aus und wie unterscheidet es sich von der Geschichte? „Erzählung“ kann offensichtlich verschiedene Bedeutungen haben. Obwohl er sich der Gefahr der „Bedeutungsverwässerung“ („dilut[ing] the meaning“) bewusst ist, betrachtet Sewell die Erzählung nichtsdestoweniger als „eine universale Kategorie der menschlichen Kulturen, der Konventionen des Geschichtenerzählens, der erkenntnistheoretischen und ontologischen Annahmen, der Berichte von Lebenserfahrungen und ideologischen Strukturen,
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die darauf abzielen, die breite Masse sozialer Bewegungen zu motivieren“ (1992: 486). Etwas weniger umfassend definiert Tilly (2002: 17) die Erzählung folgendermaßen: „[Sie umfasst] Ansprüche auf vernünftiges, verlässliches Wissen über Akteure, Motive, Ideen, Impulse, Handlungen und Konsequenzen … [und] auch 1) die Forderung nach mehr oder weniger in sich geschlossenen Handlungen und Akteuren, 2) die Voraussetzung von Ursache und Wirkung innerhalb der Erzählsequenz.“ Ein wenig prosaischer sehen Hinchman und Hinchman die Rolle der Erzählungen in den Sozialwissenschaften: „[Sie] sollten provisorisch definiert werden als Diskurse mit einer klaren, sequenzartigen Struktur, die Ereignisse auf bedeutungsschwere Weise für ein bestimmtes Publikum verbindet und dadurch Einblicke in die Welt und/oder die Erfahrungen der Menschen in ihr ermöglicht“ (1997: xvi). Auch wenn diese Konzepte nicht völlig unproblematisch sind, helfen sie doch dabei, die Erzählung von der Geschichte abzugrenzen. Es geht hier nicht darum, Geschichten völlig überzubewerten, sondern vielmehr darum, ihre Universalität anzuerkennen und die Vermutung aufzustellen, dass wir wahrscheinlich diese Geschichten als beziehungsweise mittels einer Erzählung wiedergeben; die Erzählung dient also, wenn man so will, als Methode. Während ich mich Whites Behauptung, Erzählung und Erzählen seien „reine Daten“ („simply data“)32 nicht anschließen kann, ist sein Gedanke, nach dem die Erzählung ein Mittel ist, um „knowing into telling“ zu übersetzen, beziehungsweise „the problem of fashioning human experience into a form assimilable to strictures of human meaning that are generally human rather than cultural specific“ (1981: 1; Hervorhebung im Original), überaus überzeugend. Damit möchte ich nicht sagen, dass wir in jedem Fall oder mit Leichtigkeit die besonderen Feinheiten und Problematiken anderer Kulturen ergründen könnten, sondern nur beobachten, dass „wir relativ wenig Schwierigkeiten damit haben, eine Geschichte aus einer anderen Kultur – wie exotisch uns diese Kultur auch immer erscheinen mag – zu verstehen“. Indem er sich wieder auf Barthes bezieht, vermerkt White: „[W]ie Barthes sagt, ist die Erzählung übersetzbar ohne dabei großen Schaden anzurichten, was bei Lyrik oder einem philosophischen Diskurs nicht möglich ist“ (1981: 1–2; Hervorhebung im Original).33 Obwohl Erzählungen aufgrund unserer Neigung, Geschichten so zu erzählen, wie wir sie auch gerne hören würden, größtenteils an andere, vertraute Erzählungen erinnern, muss dies nicht zwangsläufig immer der Fall sein. In dem wohl ambitioniertesten ausdrücklichen Definitionsversuch einer revolutionären Erzählung beschreibt Parker (1999: 113) diese als „eine geordnete Abfolge von Ereignisen und Handlungen innerhalb ihrer eigenen Zeitspanne.“ Weiterhin stellt die Erzählung intertemporäre Verbindungen
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her und besitzt deshalb „eine innere Kohärenz, die der Ereignissequenz eine gewisse Notwendigkeit verleiht“ (1999: 113); sie versichert mit anderen Worten, dass alles eben nur auf genau diese Weise hätte geschehen können. Erzählungen benötigen weder „evidence of causality“, noch „the possibility of repetition“ und sie beinhalten „human roles, hopes, and experiences“ (1999: 113). Die Erzählung kreiert Zusammenhänge und erstellt einen Plan für die Zukunft, „indem sie Endstadien beschreibt, Machthaber und Wandel hervorrufende Akteure bestimmt, Begründungen anbietet und einen Zeitrahmen für den Wandel liefert“ (1999: 115). Erzählende Menschen erschaffen und prägen ihre eigene Welt und die Unsere. Durch die Erzählungen, die wir konstruieren und auf die wir bauen, entstehen Zusammenhänge, Kohärenz, Verdichtung und Konkretisierung. Ich verbeuge mich vor Parkers beeindruckender Darstellung der Erzählung und werde mich an diesem Punkt nicht weiter versuchen. Es ist jedoch an der Zeit für einige Anmerkungen. Erstens: Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass verschiedene Weltsichten auf einander widersprechenden Vorannahmen beruhen können, ist es nicht allzu wichtig, dass wir zu einer eindeutigen Definition der Erzählung gelangen. Wichtiger ist, dass wir das Ausmaß erkennen, zu dem wir auf Erzählungen vertrauen, wenn wir Ordnung in das uns umgebende Chaos bringen möchten. Es gibt massenweise Geschichten und wir neigen dazu, ihnen eine Form, eine Gestalt zu verleihen, die wir wiedererkennen können, und sie mit Bedeutung zu füllen. Wie sich in den nächsten beiden Kapiteln zeigen wird, ist diese Arbeit mit den Geschichten das Feld, in das Widerständler, Rebellen und Revolutionäre sowohl diejenigen, mit denen sie arbeiten oder die sie anführen wollen, als auch diejenigen, welche sie herausfordern wollen, mit einbinden. Sie alle – diejenigen, die den Wandel suchen, diejenigen, die ihn verhindern möchten, und diejenigen, deren Entscheidung für das Ergebnis verantwortlich ist – haben eine Geschichte zu erzählen. Zweitens: Die Erzählung umfasst als Herzstück der Geschichte wenig überraschend die gleichen Elemente, die zu Anfang dieses Kapitels als konstitutiv für eine Geschichte vorgestellt wurden: Es gibt eine klassische „AnfangMitte-Ende“-Struktur mit standardisierten Plots und vertrauten Charakteren. Die Menschen sind von dem Gefühl erfüllt, dass sie die Akteure in ihren Geschichten und somit ihrer Welt sind. Außerdem bieten Erzählungen sowohl eine Karte der Welt, in der sie leben, als auch eine regelrechte Sternenkarte der großen weiten Welt, womit sie einerseits ein tiefes und umfassendes Gefühl der Verbundenheit mit einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort erzeugen, und andererseits auch mit dem, was darüber hinaus geht. Die Erzählung versieht die Geschichte mit einer Sequenz von Ereignissen (siehe dazu Berger und Quinney, 2005b: 4), spiegelt den bestehenden sozialen Kontext
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wider und erfüllt die Geschichte zu einem erheblichen Teil mit Sinn und Bedeutung. Drittens: Wie man dem Vorhergegangenen entnehmen kann, existiert zu jeder Zeit eine unüberschaubar große Zahl alternativer Erzählungen. Dies sind miteinander konkurrierende Versionen, die häufig in unkonventionelleren Formen wie Volksmärchen, Liedern, Stücken und weiteren Ausdrucksmitteln der Populärkultur vorliegen.34 Solche Formen können einerseits dazu verwendet werden, historische Aufzeichnungen zu belegen und greifbar zu machen, andererseits zeigen sie uns auch alternative Geschichtskonstruktionen. Diese reflektieren wiederum das, was Biersack als „Lokalgeschichte“ („local history“) bezeichnet, womit er sich an Geertz’ Begriff des „local knowledge“ anlehnt, mit dem „the significant worlds and the indigenous outlooks that give them life“ (1989: 74) gemeint sind. Die Menschen erschaffen ihre eigene Geschichte und erzählen diese Geschichte, wie sie selbst sie wahrnehmen. Während sie versuchen, ihrer Welt einen Sinn zu geben, werden ihre Wahrnehmungen durch ihre materiellen und sozialen Umstände und vergangenen Erlebnisse geprägt – „they are continuously reshaped in interactions with new experiences and with the claims of others“ (Foley, 1993: 485). Viertens: Es ist nicht nur so, dass die Menschen sich in den meisten Fällen für die Erzählung als Mittel entscheiden, um ihren Geschichten einen Sinn zu geben und diese dabei zwangsläufig in einer bestimmten Sprache an einem bestimmten Ort spielen lassen; wir Forscher versuchen genau das Gleiche, indem wir nach „unserer“ Erzählung suchen, die „ihre“ Erzählung für uns sinnvoll werden lässt, während „wir“ eigentlich auf der Suche nach der Bedeutung sind, die sie für „sie“ hat. Wie Sewell es ausdrückt: „[T]he narrative in which historical actors emplot themselves is crucial for understanding the course and dynamics of historical change“ (1992: 483). Und um es mit Davis (1987: 4) zu sagen: „I am after evidence of how … people told stories … what they thought a good story was, how they accounted for motive, and how through narrative they made sense of the unexpected and built coherence into immediate experience.“ Wie wir einen Weg in diese Welt finden könnten, soll Thema des nächsten Kapitels sein.
Unsere Geschichte bisher Solange wir uns erinnern können, haben wir Menschen Infrastrukturen geschaffen, das Land verändert, Straßen gebaut sowie Gebäude und Dämme errichtet. Außerdem haben wir Institutionen wie Gesundheits-, Justiz- und Informationssysteme ins Leben gerufen. Diese und unzählige weitere Struk-
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turen begleiten und ermöglichen unser tägliches Leben. Und lange bevor es den Menschen gab, hatten Pflanzen, Tiere und Mineralien bereits etwas entwickelt, was man in grober Analogie zur Infrastruktur „Öko-Struktur“ nennen könnte und was ebenso grundlegend für das tägliche Leben war und ist.35 Meine These lautet, dass die Menschen auf eine sehr ähnliche Weise eine Struktur aus Geschichten entwickelt haben, einen Geschichtenspeicher, der unserem täglichen Leben zugrunde liegt und dieses prägt. Die (Re-)Produktion von Geschichten und ihre (Um-)Gestaltung sind Teil unserer Bemühungen, uns (wieder) zu verbinden und eine Gemeinschaft aufzubauen. Solche Geschichten beinhalten größtenteils bereits bestehende Plots und Charaktere und neigen dazu, sowohl redundant (es sei denn, ihre Bedeutung war in Vergessenheit geraten) als auch repetitiv zu sein, sodass sie belehrend auf die Menschen wirken. Sie können kurz und bündig sein oder lang und verwickelt, sodass es Stunden oder Tage dauert, sie zu erzählen. Geschichtenerzähler jonglieren mit einer großen Zahl von Elementen und Aspekten, wobei sie Charaktere und Ereignisse zu einem mehr oder weniger kohärenten Ganzen verweben, das mit dem Umfeld der Zuhörer interagiert. Die Wahrheit – sei sie direkt oder indirekt – ist dabei weniger wichtig als das Ausmaß, in dem die Geschichten die Wahrnehmungen und Gefühle der Menschen wiedergeben. Sie fassen zusammen, wer wir waren und wo wir herkamen, wer und wo wir nun sind und zeigen uns, wohin wir gehen und wer wir sein möchten. In jeder Kultur, in jeder Gesellschaft gibt es lange und kurze Geschichten, mythische doch nicht zwangsläufig epische, alltägliche und solche für besondere Gelegenheiten. Der Romanautor Harry Crews (2005) erinnert sich folgendermaßen an seine Jugend: „[S]tories were everything and everything was stories. Everybody told stories. It was a way of saying who they were in the world. It was their understanding of themselves. It was letting themselves know how they believed the world worked: a right way and a way that was not so right.“ Solche Geschichten bauen zwangsläufig auf relativ zeitlosen Konzepten auf und sind in einem tiefergehenden Sinn Werkzeuge, sie werden erzählt und wiedererzählt und auf die beschriebenen Arten verwendet, es scheint also gerechtfertigt, sie als eine Form, vielleicht sogar die ursprüngliche Form, des soziopolitischen Kampfes zu verstehen.36 Geschichten und Lieder tragen dazu bei, die allgemeine wie persönliche Historie und Erinnerung zu entwickeln, aufrechtzuerhalten, umzuschreiben, (neu) zu bewerten, (neu) zu prägen, (aufs Neue) zu belegen, aufzuarbeiten und umzuformen. Dies soll nicht heißen, dass es eine Art fest definierten Kern gibt, von dem dies alles ausgeht; vielmehr handelt es sich um ein weitverzweigtes Netz mit unzählbar vielen Zugängen und Auswegen, Verknüp-
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fungen und Knotenpunkten und unermesslich vielen soziopolitischen und kulturellen Aspekten, das mit Beispielen sozialer Organisation angefüllt und von Kultur durchdrungen ist. Der vernünftigste Weg, dieses Labyrinth zu erkunden, ist der Rückgriff auf die Geschichten. Dies beinhaltet, diese Geschichten sowohl inner- als auch außerhalb ihres Kontextes zu untersuchen und dabei zu beachten, dass Kontext mehr bedeutet als nur Situation. Indem wir diese Geschichten „denationalisieren“ können wir sie gleichzeitig internationalisieren (wenn auch nicht globalisieren) und gemeinsame (wenn auch nicht universelle) Themen finden. Diese lassen vermuten, dass obgleich Revolutionsangelegenheiten zutiefst regional sind, sie gleichzeitig umfassendere Regeln widerspiegeln, die wir über Zeit, Raum und Kulturen hinweg darüber aufstellen, wer wir sind, wie wir uns verhalten und was in unserer Welt möglich ist. Es gibt Geschichten über die Vergangenheit, die wir in irgendeiner Form alle teilen. Diese erinnern oft an dicht verwobene Wandteppiche aus Mythos und „Fakten“ (oder öffentlich anerkannten Mythen), sie sind offensichtlich überaus mimetisch und entstehen aus einer Ansammlung von Erinnerungen, die selbst entweder real oder erfunden sind, doch in jedem Fall von Menschen erschaffen wurden. Es sind nicht Historie oder Vergangenheit selbst, die uns vereinen (oder uns auseinander halten), sondern die Geschichten über die historischen Ereignisse, über die Vergangenheit, die wir uns und den anderen in der Gegenwart erzählen; Geschichten über die Vergangenheit, die unvermeidlich der Gegenwart und der Zukunft dienen. Diese gemeinsamen Geschichten bauen auf kollektiven Erinnerungen auf und spiegeln diese wider. Es sind Schöpfungen, an denen man die bewussten und beabsichtigten Entscheidungen über das, was mit einbezogen wird, und das, was ausgelassen wird, ablesen kann. Die Erstellung dieser Geschichten und somit nutzbarer, manipulierbarer Vergangenheiten – wie etwa einer bestimmten Historie – ist ebenso essentiell wie unvermeidlich. Mythos, Erinnerung und Mimesis bilden den Rahmen für diesen Vorgang und liefern gleichzeitig den Ansatzpunkt.
Anmerkungen 1 Die wohl treffendste Darstellung des „Possibilismus“ lässt sich bei Darnton, 1990, finden; siehe auch Selbin, 2009. 2 Somers’ „reframed narrativity“ hat vier Bestandteile: „(1) relationality of parts; (2) causal emplotment; (3) selective appropriation; and (4) temporality, sequence, and place“ (1992: 601). 3 Roseberry (1989: 27) argumentiert, dass wir uns die Frage stellen sollten: „who is
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Gerücht und Revolution telling the tales and in what context … [for] while the tales are traditional, they are not timeless; that is, the form and the content of the tales may change in the telling“ (Hervorhebungen im Original; er zitiert Taylor und Rebel, 1981). Appiah stellt folgende These auf: „stories are meant to be improvised and embellished, reflecting the point in history when they are told and the consciousness of the storyteller“ (Lee, 2003: 6). Das Konzept der Geschichten als „reservoir of values“ stammt von Okri (1996: 21), er versteht sie allerdings als „secret reservoir“. Laut Okri (1996: 17) sind die mächtigsten Geschichten „those that resonate our beginnings and intuit our endings (our mysterious origins and our numerous destinies) and dissolve them into one.“ Dieser Klassiker der Weltliteratur ist um Scheherazades Versuch aufgebaut, ihren königlichen Gemahl davon abzuhalten, sie zu töten, indem sie ihn Nacht für Nacht mit Geschichten unterhält. Die heute bekanntesten Geschichten sind die von Ali Baba, Sindbad und Aladin. Viele der Geschichten spielen in Indien, doch ihre Ursprünge sind unbekannt und die Versionen, die heute am bekanntesten sind, werden – hauptsächlich unter dem Einfluss von Walt-Disney-Filmen – meist in einem muslimischen arabischen oder persischen Rahmen angesiedelt. Geschichten, die laut Appiah (2003: 46) „sometime before 500 AD“ zur Erbauung der Thronfolger zusammengestellt wurden. Sie sollen ihren Weg sowohl in walisische als auch in chinesische Volksmärchen gefunden haben (im ersten Fall über das Arabische). Der Koran ist etwas anders strukturiert als die beiden anderen „großen Bücher“ der monotheistischen Traditionen, er bietet keine „sustained narrative of the kind found in the Book of Exodus“ (Cook, 2000: 6). Ich möchte Malin Wimelius für den Hinweis danken. Eine Zusammenstellung von einhundert geistreichen und (für die damalige Zeit) recht lasterhaften Erzählungen, die vor dem ziemlich ernüchternden Hintergrund der Pestepidemie spielen. Von Boccaccio inspiriert geht es in diesem mächtigen, unvollendeten, epischen Gedicht um eine Gruppe von Pilgern, die zum Schrein von St. Thomas à Becket reist und sich die Zeit damit vertreibt, Geschichten zu erzählen, die eine Reihe mittelalterlicher Genres abdecken. Entgegen der traditionellen Sichtweise, nach der die Grimms bäuerliche mündliche Überlieferungen sammelten, wird in jüngeren Forschungsarbeiten vermutet, dass sie Geschichten aus bestehenden literarischen Quellen entnahmen und umschrieben. Siehe hierzu beispielsweise Zipes, 2000 und Bottigheimer, 1989. In Afrika wurden schon vor Urzeiten Geschichten von weisen Löwen, verschlagenen Schlangen und darüber, wie die Welt entstand, erzählt. Geschichtenerzähler gaben diese mündlich weiter und verliehen damit ethischen Idealen, Vorstellungen von der menschlichen Natur und den jeweiligen Kulturen eine beständige Form. Anders als europäische Sammlungen von Märchen, Mythen und Legenden,
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die weltweit zu finden sind, haben afrikanische Zusammenstellungen erst vor kurzem außerhalb Afrikas größere Aufmerksamkeit auf sich gezogen (vgl. Lee, 2003: 1). Diese Konzeption deckt sich mit Deleuzes und Guattaris Begriff von „Wespe und Orchidee“, einer Metapher für den „Buchleser“ (1987: 10 –11); siehe dazu auch Cordes Selbin, 2009: 32. Dieser Abschnitt bezieht sich auf Darstellungen der Vortheorie und Theorien auf einer mittleren Ebene in Rosenau, 1980: 126 und Merton, 1967: 39. Ein bekannter Politiktheoretiker legte Masterstudenten der Politikwissenschaften Kurzbeschreibungen verwandter Disziplinen vor. Nachdem er im doppelten Sinn mit den Sozialwissenschaften fertig war, legte er Folgendes vor: „[Die] tiefschürfendste Frage, die Historiker jemals stellen, lautet: ,Und was ist dann passiert?‘“ Wir hatten mit Geschichte abgeschlossen. Unsere Nutzung der Geschichtsschreibung als Datenquelle und unsere Abhängigkeit von den Erzählungen, die sie zur Verfügung stellt, werden bei Büthe, 2002 behandelt, wenn auch nicht weitreichend genug. Stephen Jay Gould (1981: 21 – 2) warnte, dass „sozial engebettete Aktivitäten“ wie die Forschung unvermeidlich Folgendes reflektieren: „[F]acts are not pure and unsullied bits of information; culture also influences what we see and how we see it.“ Foley ergänzt: „[T]here is considerable evidence that we do not have particularly accurate access to our own motives“ und zitiert Nisbett und Wilson, 1977. Dieser Abschnitt ist von Diskussionen mit Studenten der internationalen Friedens- und Konfliktforschung an der Southwestern University zur Arbeit Crawfords (2000) beeinflusst. Im AT-System ist beispielsweise „Aschenputtel“ Typ 510a und beinhaltet die Motive S31 (böse Stiefmutter), L55 (Stieftochter als Heldin) und D1050.1 (Kleidung, die auf magische Weise entsteht). Siehe Aarne, 1995. Zu diesem Thema siehe auch die sieben Bände von Thompson 1955 – 58; Neugierigen kann auch Ashliman, 1987 empfohlen werden. Bishop bezieht sich auf die Stelle im Kommunistischen Manifest, wo Marx und Engels die Ansicht vertreten, dass es egal ist, ob eine Einzelne oder ein Einzelner die Führung übernimmt, wenn die gemeinsame Vision der Kommunisten der Grund ist (Marx und Engels, 1978: 494). Es gibt Untersuchungen zu Reggae in der jamaikanischen Politik (Waters, 1985; King, 1998), Calypso in der östlichen Karibik (Regis, 1999), corridos in den USA (Dorsey, 2006) und Mexiko (Mulholland, 2007) sowie zu „Louie, Louie“ in den USA (Marsh, 1992). Bayo war, wie Hodges (1986: 167 –72) aufzeigt, so etwas wie eine Ein-Mann-Zerstörungstruppe, und zweifelsohne für einige der regionalen Verbindungen verantwortlich. Nach der Zerschlagung der Spanischen Republik durch die Faschisten 1939 bildete er in den 1940ern in Costa Rica die überlebenden Sandinisten sowie
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Gerücht und Revolution Mitglieder der von noblen Absichten angetriebenen, wenn auch zum Scheitern verurteilten Karibischen Legion aus, ein Zusammenschluss progressiver Kämpfer, der 1948 gegen Somoza nach Nicaragua segelte und 1949 gegen Trujillo in die Dominikanische Republik (siehe Ameringer, 1974). Bayo trainierte anschließend Castros kubanische Exilanten in Mexiko, sein „Meisterschüler“ war Ché Guevara. In Kuba unterstützen Bayo und Guevara die Ausbildung von Tausenden anderer von überall auf der Welt, unter ihnen eine neue Generation nicaraguanischer Exilanten, und vermittelten ihnen Wissen über Spanien, Sandino, Guevaras Erfahrungen mit der US-Zerstörung der Demokratie in Guatemala 1954 und den Erlebnissen auf Kuba. Die Verbindungen bestehen sowohl während einer bestimmten Zeit als auch über Jahrzehnte hinweg sowie innerhalb kultureller Grenzen und über sie hinaus. Ein FSLN militante erzählte mir eine Geschichte aus den frühen Jahren des Kampfes. Sie handelt von einem alten Mann, der einige erschöpfte und hoffnungsschwache Revolutionäre dahin führte, wo er in den 1930ern Gewehre vergraben hatte, und sich dann aufrichtete und sich „a la orden“, zu Dienst meldete. Der militante war zu jung, um sich an diese Begebenheit zu erinnern und brachte sie beinahe wie einen Katechismus hervor. Es handelt sich durchaus um eine plausible Geschichte und sie funktioniert gleichzeitig auf unterschiedlichen Ebenen. Ich habe diesen Begriff, leicht abgewandelt, von Geertz, 2000: 23 übernommen. Während ich dieses Buch schreibe, wird gerade ein weiterer Film über Ché herausgebracht. T-Shirts, die sein Gesicht zeigen, sind immer noch omnipräsent bei Berühmtheiten aus Mode, Musik und Medien sowie bei Schülern und Studenten, es gibt Bikinis, Socken und sogar eine Actionfigur. Und außerhalb von Popkultur und Styling bleibt seine beinahe rituelle Anbetung auch immer noch die Norm bei Radikalen und Revolutionären überall auf der Welt. Siehe auch Casey, 2009. Ein Name, der auch vielfach auf Pierre Mulele angewendet wurde, ein Revolutionär, der den Kampf der Lumumbisten in der ersten demokratischen Republik Kongo fortführte, sowie auf Samora Machel in Mosambik und Thomas Sankara in Burkina Faso; es mag noch andere gegeben habe, die so bezeichnet wurden und es werden sicherlich weitere folgen. Damit ist er selbstverständlich nicht der einzige. Die folgende Darstellung ist den Teilnehmern der AmSoc im Sommer 1997 geschuldet, die eine Diskussion zu Tillys Entwurf von „The Trouble with Stories“ (Tilly, 2002) führten. Mein Dank geht besonders an Francesca Polletta, die mir ihre Dateien mit dem Protokoll der gesamten Diskussion sowie einige persönlichen Korrespondenzen mit Charles Tilly zur Verfügung gestellt hat. Bei dieser Beschreibung beziehe ich mich stark auf Lévi-Strauss, 1966: 17. Siehe auch Apters Verwendung des Terminus (2006: 791). Obwohl sie zumeist mit dem afroamerikanischen Aktivisten Malcolm X verbunden wird, ist die Phrase: „mit welchen Mitteln auch immer“ („by any means necessary“) eigentlich eine Anlehnung an Shakespeares Hamlet (Protz, 1964: 2)
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sowie auch eine Strategie, die seit Jahrtausenden von Millionen Menschen angewandt wird, wenn sie mit Unterdrückung und sozialen Ungerechtigkeiten konfrontiert werden. Harald Wydra, persönliche Korrespondenz, Mai 2009. Hier bezieht er sich auf die omnipräsente Aussage Barthes’, dass Erzählung „einfach da“ sei, „like life itself … international, transhistorical, transcultural“ (1977: 79), allerdings dreht er das Zitat herum; es heißt bei ihm: „narrative is international, transhistorical, transcultural: it is simply there like life itself.“ Dies findet sich auch in Barthes, 1982: 251 – 95 und in Barthes, 1996: 45 – 60. Eine beinahe identische Version von Whites Essay lässt sich in White, 1987: 1 – 25 finden. White gibt keine Quelle bei Barthes an; dies findet sich in 1977: 121. Dies bezieht sich auf Smiths Darstellung, wo es heißt: „[Fo]r any particular narrative, there is no single basically basic story subsisting beneath it but, rather, an unlimited number of other narratives that can be constructed in response to it or perceived as related to it“; es gibt nicht nur „versions of it (,for example, translations, adaptations, abridgements, and paraphrases‘) but also those retellings that we call ,plot summaries‘, ,interpretations‘ and, sometimes, ,basic stories‘“, keine davon elementarer als andere. „[F]or any given narrative, there are always multiple basic stories that can be constructed“ und die, die wir konstruieren, reflektieren unsere „assumptions and purposes“, die wiederum „hierarchies of relevance and centrality“ erstellen und letztendlich die grundlegende Geschichte bestimmen; „the form and features of any ,version‘ will be a function of, among other things, the particular motives that elicited it and the particular interests and functions it was designed to serve“. „[A]mong any array of narratives … there is an unlimited number of potentially perceptible relations“ (Smith, 1981: 217 –18; Hervorhebungen im Original). Dies ist an Warshall, 1998 angelehnt. Eine zum Nachdenken anregende und herausfordernde Variante dieser Auffassung findet sich bei Haraway, 1991.
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Mythos, Erinnerung, Mimesis Mythos, Erinnerung, Mimesis
Wie in Kapitel 2 festgestellt, werden Geschichten in bewussten bricolageHandlungen aus verschiedensten Stückchen und Teilen zusammengesetzt. Wahrscheinlich haben die frühesten Geschichtenerzähler ihre magischen Erzählfäden einfach aus dem gesponnen, was sich gerade anbot. Es gab Geschichten, die Anklang fanden oder sich als nützlich erwiesen, und so wurden die Geschichtenerzähler und diejenigen, die sich ihre Geschichten zu Nutze machen wollten, recht schnell ziel- und zweckgerichteter und die Entstehung der Geschichten, die einen Zweck erfüllten, weniger vom Zufall abhängig. Die Entstehung einer Geschichte ist also kein wahlloser Prozess, der auf Glück oder Zufall beruht. Allerdings können diese Faktoren durchaus mit hineinspielen, wenn es darum geht, wann und wo die Geschichte zum Einsatz kommt. Doch wir sollten uns hier nicht in die Irre führen lassen: Geschichten sind ebenso von Menschen gemacht wie Revolutionen, und wie Widerstand, Rebellion und Revolution verfolgen sie ein Ziel. Es ist unsere Aufgabe, dieses zu erkennen. Geschichten sind durchkomponiert und absichtsvoll, weitestgehend verschriftlicht (manchmal sehr detailliert und genau) und werden zum Erreichen bestimmter Ziele verwendet, die wiederum größer oder kleiner, kurzfristig oder langfristig, direkt oder indirekt sein mögen. Das Ziel kann sein, etwas zu lehren, historische Ereignisse weiterzugeben, einen Weg aufzuzeigen oder eine Weltsicht zu vermitteln, wobei sich hier immer neue Ebenen auftun können, je nach Lernvorgang, hinzukommenden Ereignissen, fortschreitenden Prozessen und Zeitpunkt. Geschichten im Allgemeinen und insbesondere diejenigen, die hier zu Debatte stehen, werden erfunden. Nicht im Sinne von „künstlich erzeugt“ (wobei sie das durchaus sein können) sondern vielmehr bezogen auf etwas, was man – um eine Metapher aus dem Bergbau zu verwenden – als Finden, Abbau und Verarbeitung von Bedeutung betrachten kann. Wenn wir in diesem Bild bleiben, so machen sich die Menschen auf und suchen die Vergangenheit und die Gegenwart nach Material ab, das sie abbauen, also ausgraben und entnehmen können, um daraus mit Bedeutung angefüllte Geschichten herzustellen, die dazu nützen können, Menschen in
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einen Prozess hinein- und durch ihn hindurch zu führen. Praktisch bedeutet das, man greift auf zwei bekannte Faktoren, Mythos und Erinnerung zurück und setzt Mimesis voraus. Mythos und Erinnerung sind auf vielfältige Weise untrennbar verbunden und zum Teil können wir diese Verbindung noch nicht ganz erfassen. Wie und warum Mythos und Erinnerung separat und gemeinsam funktionieren, ist eine schwierige Frage und ihre Beantwortung übersteigt den uns gegebenen Rahmen an dieser Stelle. Diese Begriffe sind dermaßen angefüllt mit Bedeutung, dermaßen überdeterminiert, dass ihr Nutzen begrenzt ist; ich versuche, ihre Bedeutung speziell im Bezug auf das Verständnis der Geschichten von Widerstand, Rebellion und Revolution, auf die wir unseren Fokus legen, wieder herzustellen. Die Herausforderung besteht darin, sie als Heuristiken zu verwenden, ohne die Untersuchung durch ihre Komplexität weiter zu verwirren. Die Mimesis wiederum stellt uns vor ein anderes, noch verzwickteres Rätsel. Kein Bestandteil ist für die Geschichten von Widerstand, Rebellion und Revolution wichtiger als die schwer gewonnene und manchmal wackelige Überzeugung der Menschen, dass sie dem Beispiel anderer folgen können. Das Hinzukommen von Mimesis ist entscheidend: Die Geschichten zu kennen ist eine Sache, die Erinnerungen, die sie wecken (und bestätigen) eine andere; doch erst wenn die Menschen sich mit ihnen identifizieren können, wenn sie glauben, dass sie von ihnen repräsentiert werden, dann können die Geschichten, die wir hier behandeln, ihre volle Wirkung entfalten. Bei den später folgenden Geschichten stellen Mythos und Erinnerung den Kontext während die Mimesis als Katalysator wirkt. Wenn sie Geschichten erzählen, bauen Menschen – bewusst oder unbewusst – auf einer komplizierten Kombination von Mythos, Erinnerung und Mimesis auf. Am bedeutendsten ist dabei, wer und wo sie waren, wer und wo sie nun sind, wer sie sein möchten, wohin sie gehen möchten und wie sie dort hinkommen können. Dies sollte man nicht mit der Geschichtsschreibung verwechseln, diesem von den Mächtigen erschaffenen Mythos, der erklärt, wie wir an den Ort gelangt sind, an dem wir uns nun befinden, warum die Dinge so liegen, wie sie liegen, und dass sie auch so gehören. Wie wir noch sehen werden, ist die Geschichtsschreibung eine völlig andere Sache. Die folgenden Kapitel werden zeigen, dass die Geschichten, die auf unterschiedliche Weise mit dem Entstehen von, dem Einsatz in, und dem Aufrechterhalten von revolutionären Aktivitäten zu tun haben, auf den angesprochenen Punkten aufbauen: Sie sind im Mythos (oder mythischen Aspekten und Dimensionen) verwurzelt, werden von Erinnerung übermittelt, geformt und erhalten und sind zu guter Letzt oft bewusst und beabsichtigt kopierend – also mimetisch.
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Aschenputtel: zur „Chimäre des Ursprungs“ Jede der drei folgenden Kategorien wird häufig, auf jeweils unterschiedliche Weise, mit dem Begriff des Ursprungs in Verbindung gebracht: Einmal gibt es Ursprungsmythen oder die Auffassung, dass ein Mythos aus einer ursprünglichen Quelle entstanden ist, dann das Konzept einer „ursprünglichen Erinnerung“ („original memory“), das Menschen häufig sehr wichtig ist, und schließlich die Mimesis, die offensichtlich ein ursprüngliches Ereignis voraussetzt, das nachgestellt wird. „Ursprung“ impliziert nicht nur einen fundamentalen, grundlegenden Punkt oder Ort, der von jemandem zu einem bestimmten Zweck ausgewählt wurde, sondern auch den Beginn der Existenz, das Taufbecken, dem alle zukünftigen Versionen und Variationen entspringen. Der Ursprung ist der Ort der Schöpfung und des Beginns. Doch ich bin sehr skeptisch, dass wir diesen lokalisieren können, und bezweifle auch, dass man den genauen Pfad, den eine Geschichte im Laufe ihrer historischen Entwicklung eingeschlagen hat, nachvollziehen kann. Es gibt also nicht besonders viel dabei zu gewinnen, der „Chimäre des Ursprungs“ hinterherzulaufen (Chartier, 1991: 4; er bezieht sich auf Foucault, 1977a), man kann jedoch viel daraus ziehen, das Alter, ja die „Tradition“ der Geschichten von Widerstand, Rebellion und Revolution anzuerkennen. Geschichten verändern sich ständig, sie werden über Zeiten und Kulturen hinweg neu- und umgeschrieben. Während das Baummodell hier durchaus attraktiv und nützlich scheint, so gilt dies auch für das Rhizommodell von Deleuze und Guattari (1987). Ohne Frage könnten wir die AschenputtelGeschichte, würden wir nur tief genug graben, bereits vor Zehntausenden von Jahren in China lokalisieren und sie käme trotz einiger Unterschiede einer heutigen Zuhörerschaft eindeutig vertraut vor. Gleichzeitig ist die Ausbreitung der gleichen Geschichte über Kulturen, Gesellschaften und Zeiten hinweg beeindruckend. Eine solche Geschichte vereint die Menschen über Zeit und Raum hinweg mit Symbolen, Themen und Charakteren, die Wiedererkennen, Wissen und Verständnis ermöglichen. Appiahs Beobachtung, „[that] the common problems of humanity take common narrative forms in different parts of the world“ (Appiah, 2003: 46), ist also nicht weiter überraschend. Über Zeit und Raum hinweg finden sich zeitlos erscheinende Erzählungen, die die Situation der Menschen zum Thema haben. Man kann daraus schließen, dass diese Geschichten nicht „nur“ von dieser Situation berichten sollen, sondern auch eine Veränderung anregen. Wie in Kapitel 2 vermerkt, verweben sich diese Geschichten in und um jede Art von Diskursen und werden unvermeidlich von der jeweiligen All-
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tagskultur beeinflusst. Dieses Verhältnis ist sehr komplex und überdeterminiert, was nicht verwunderlich ist, wenn man berücksichtigt, dass Geschichten und Kultur, indem sie sich gegenseitig erschaffen und ihr gegenseitiges Bestehen sichern, in einer zutiefst dialektischen Beziehung zueinander stehen. Dies kann darin resultieren, dass man Geschichten als nur ein Element von vielen sehen mag, als ein noch nicht einmal besonders wichtiges. Ausgehend von dieser Sichtweise existieren sie als nicht viel mehr denn beliebige Bestandteile, die man je nach augenblicklichem Bedarf umformen kann. Außerdem ist es, wie bereits bemerkt, so, dass Geschichten dazu dienen, Menschen in einer Gemeinschaft zu vereinen, in der bestimmte Symbole, Themen und Charaktere Wiedererkennen und gemeinsames Wissen ermöglichen. Nehmen wir einmal das folgende Beispiel aus der Alltagskultur, ein Fall, der wenig mit revolutionärem Gedankengut zu tun hat, zumindest in seiner jüngsten und vertrautesten Form (allerdings vielleicht schon zur richtigen Zeit, am richtigen Ort und in den richtigen Händen).1 Es gibt eine große Zahl weitverbreiteter und beliebter Märchen, die in einer überraschenden Anzahl von Orten und Kulturen über lange Zeiträume hinweg auftauchen.2 Eines der berühmtesten ist die Geschichte Aschenputtels, in der heute bekannten Form die Erzählung von einer jungen Frau, die einst wohlhabend war, doch nun arm ist (oder zumindest gezwungen ist, in ärmlichen Verhältnissen zu leben), es schafft, das Herz eines Prinzen zu erobern und ihren vorherigen (und ihr zustehenden) Platz in der Gesellschaft wiederzuerlangen. Von dieser Geschichte gibt es mindestens 700 Versionen (Dundes, 1982: xiii; Heiner, 2007 veranschlagt 1500; und nach Snuggs, 2007, sind es über 3000)3 über einen Zeitraum von mehr als 2000 Jahren in Myriaden Kulturen und Subkulturen. Es ist eine Geschichte, die jedem bekannt ist, eines der „Familienerbstücke der Menschheit“ („heirlooms of humanity“, Ralston, 1982: 32; siehe auch Appiah, 2003: 47). „Eine Aschenputtel-Geschichte“ ist als Begriff in weiten Teilen der Welt mit mehr oder weniger der gleichen Bedeutung verbreitet.4 Daraus folgend bot sie sich dazu an, unter vielfältigen Umständen für verschiedene Zwecke von einer großen Zahl von Menschen und Institutionen angenommen und verwendet zu werden. Es ist hierbei am Wichtigsten, dass es ungeachtet der „offiziellen Geschichten“ (denjenigen, die von Gesellschaft und Kultur abgesegnet sind, sowie denjenigen, die vom Staat unterstützt werden), eine Volkstradition gibt, die sich sowohl im Austausch als auch im Widerspruch mit den offiziellen Geschichten befindet.5 Diese Volkstradition besitzt einen relativ geringen Nutzen für die „Mainstreamkultur“ und diejenigen, die diese prägen, und ist deshalb größtenteils unabhängig von ihr, auch wenn die Schöpfer der Mainstreamkultur sich ihrer ab und an zu verschiedenen Zwecken bedienen. Dennoch gibt es in
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Zeiten und an Orten, die nicht ganz so weit entfernt sind, wie man „normalerweise“ annimmt, Geschichten, die sich nicht so sehr zur Vereinnahmung eignen (und die häufig von Frauen „gehütet“ werden; siehe Tatar, 2002). Auf welche Arten die Geschichten im Laufe der Zeit auch immer adaptiert werden, die Beständigkeit der Charaktere, Situationen, Anfänge und Enden ist verblüffend hoch.6 So kommt es, dass auf jede Aschenputtel-Geschichte unzählige weitere Erzählungen kommen, die Elemente mit einbeziehen können, die uns vertraut sind, und welche von Geschichtensammlern (und Sammlern verwandter Phänomene) entweder bereits entdeckt wurden, oder unter Umständen auch noch nicht und deren viele Schichten und Ebenen unser Wissen übersteigen können. Unter Umständen können wir also nicht, wie wir es gewohnt sind, Dinge wiedererkennen, untersuchen, kategorisieren und, vielleicht am verlockendsten, uns einschalten. Es fällt uns schwer, völlig fremde Erzählungen zu erkunden und wie üblich zu „unseren“ zu machen. Es gibt keine Zusammenstellungen „klassischer“ oder archetypischer Revolutionsgeschichten, analog zu den im vorigen Kapitel aufgeführten Kompendien, obwohl einige Erzählungen in 1001 Nacht, den Fabeln des Aesop, den heiligen Schriften oder in den Märchen der Brüder Grimm als subversive Geschichten von Widerstand und Rebellion (wenn nicht gar Revolution) gelesen werden können und dies auch geschieht. Es ist aber nicht so, dass Revolutionäre nicht ihre eigenen Bücher hätten, die ihnen den Weg weisen, wenn auch hauptsächlich in den nördlichen/westlichen Kulturen. Seit über 5700 Jahren orientieren sich die Menschen an der Exodusgeschichte (die selbst ein Echo älterer Erzählungen ist) und seit 2000 Jahren an der „Bergpredigt“ (gepredigt von einem armen Tischlersohn, der von den Reichen und Mächtigen aufgrund seiner Bemühungen für die Armen und Mittellosen getötet wurde) sowie an den Lehren des Koran. Dann gibt es noch Thomas Paines Common Sense, Thomas Jeffersons „Unabhängigkeitserklärung“, die von einigen der britischen Kolonien in Nordamerika überall verbreitet wurde, und deren französische revolutionäre Verfeinerung, „die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“. Und wir leben in einem Zeitalter, das zutiefst von Marx und Engels’ Kommunistischem Manifest beeinflusst wurde. Außerdem gibt es da noch Lenins Was tun?, die mexikanische Verfassung von 1917, Maos Theorie des Guerrillakriegs (sowie die zeitweise allgegenwärtigen Zitate des Vorsitzenden Mao), Fanons Die Verdammten dieser Erde, Bayos 150 Fragen an den Partisanen, Chés Guerrillakrieg, Tansanias „Arusha-Erklärung“, Rodneys Afrika. Die Geschichte einer Unterentwicklung, Debrays Revolution in der Revolution sowie in heutiger Zeit die Sammlungen der Schriften von Zapatista Marcos (online und offline) und viele mehr.
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Wenn auch einige davon keine Geschichten im herkömmlichen Sinne sind, wie die Geschichten, die in literarischen Anthologien gesammelt werden, stehen sie doch exemplarisch für eine riesige Zahl bestehender Erzählungen. Es gibt unzählige Geschichten von Widerstand, Rebellion und Revolution, die Menschen kennen und erzählen, und manchmal, unter bestimmten Umständen, können sie Menschen in einen solchen Prozess hinein begleiten und durch ihn hindurch führen. Wie wir noch näher untersuchen werden, werden diese und viele weitere Bestandteile der Alltagskultur von denen verwendet, die einen Wandel herbeiführen möchten und nach den entsprechenden Mitteln suchen.
Mythos: Es war einmal … Häufig werden Mythen als unwahr und als reine Ausgeburten der Phantasie verstanden, im besten Falle werden sie als auf historischen Ereignissen beruhende Allegorien oder Parabeln gelesen, die sinnvolle Informationen symbolisieren oder transportieren sollen, wenn auch auf nicht vertrauenswürdige Weise. Wie Lincoln (1999: ix) möchte ich den Fokus weniger darauf legen, was ein Mythos „ist“, als vielmehr auf seinen Nutzen. Dieser besteht zum Beispiel in der Bewahrung der Beobachtungen und Reflektionen, die bis in die Gegenwart hinein nützlich zu sein scheinen (vgl. Lévi-Strauss, 1966: 16).7 Wie Lincoln zu bedenken gibt, bedarf es „erheblicher Sorgfalt und Vorsicht“, denn „es ist nicht immer der Fall, dass Mythen die Produkte und Reflexionen eines Volkes sind, das Geschichten erzählt, in denen es gewissermaßen über sich selbst berichtet. Manchmal sind Mythen Geschichten, in denen einige Menschen über andere erzählen, und manchmal ist die Existenz dieser anderen selbst ein Produkt des mythischen Erzählens“ (1999: 211). Anders ausgedrückt: „[Der Mythos] erzählt eine Geschichte über die Geschichten, die andere über die Geschichten von wieder anderen erzählt haben“ (1999: ix). Doch all diese Einschränkungen machen Mythen nicht weniger mächtig. Mythen dienen dazu, Sinn, ja selbst Wert in unser modernes Leben zu bringen und aufzuzeigen, was möglich ist (Eliade, 1953: 2). Mythen funktionieren einerseits bewahrend, andererseits auch erfinderisch (Doty, 1996: 450). Ein Mythos besteht im Wesentlichen aus Informationen, die Menschen kennen sollten und die ihnen auch allen gemeinsam bekannt sind, denn ein Mythos „[ist angefüllt mit] Bedeutung und Sinn, und aus diesem Grund sagt er für diejenigen, die ihn ernst nehmen, die Wahrheit“ (Hughes, 2004: 2). So haben beispielsweise die meisten Kulturen einen Schöpfungs- oder Ursprungsmythos. Mythen beinhalten im Allgemeinen Heldenfiguren, (Halb-)Götter oder
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anthropomorphisierte Tiere (von meist ungewöhnlicher Intelligenz) in einem epischen Rahmen. In diesem Licht betrachtet stellen Mythen das exakte Gegenteil von Historie dar, sie erscheinen ihr und ihren wahren und genauen „Fakten“ diametral entgegengesetzt. Diese Darstellung entspricht erstens nicht der Wahrheit und ist zweitens auf Dinge von Bedeutung bezogen ziemlich unglücklich, da sie dazu beiträgt, die Geschichten der Eliten und Mächtigen zu befördern, während gleichzeitig die Volkserzählungen herabgewürdigt oder sogar als nicht existent betrachtet werden. Trotz gegenteiliger Behauptungen ist es keine leichte Aufgabe, die Historie vom Mythos zu trennen – und vielleicht auch keine besonders sinnvolle. Cohen stellt die These auf, dass es das Mythische ist, was unser Verständnis der Vergangenheit beherrscht und dass, während es theoretisch leicht erscheint, Mythos und Historie zu trennen („gute Historiker schreiben … so präzise und wahrheitsgetreu wie möglich über das Verständnis von der Vergangenheit. Mythologen tun in gewissem Sinne das Gegenteil“), „die Unterscheidung zwischen Historie und Mythos [in der Praxis, im echten Leben] weitaus weniger eindeutig ist“ (1992: 82). Wissen, womit wir normalerweise Historie meinen, steht für Aufklärung, doch Aufklärung und Mythos sind dialektisch verbunden, nicht konträr (Adorno und Horkheimer, 2002: xviii). Deshalb existieren Mythen, um wichtige Informationen zu transportieren und sie werden von den meisten Menschen in den meisten Fällen als mehr oder weniger realistische Chroniken von Ereignissen (oder seltener Prozessen) akzeptiert, die in der Vergangenheit passiert sind, aber eine Bedeutung für die Gegenwart haben und die Zukunft vorausdeuten.8 Die Behauptung, „Mythos“ sei größtenteils („völlig“, nach Stigliano, 2002: 33) ein nördliches/westliches Konstrukt im theoretischen und analytischen Sinn, mag vielleicht etwas zu gewagt sein. Doch es ist unsere Aufgabe, Mythen nicht aus dem Kontext zu reißen, sie keinem „timeless discourse“ (Stigliano, 2002: 37) zuzuführen oder sie schlicht und einfach für unsere eigenen Zwecke zu nutzen. Zeit und Ort spielen für Mythen eine Rolle, wenn auch eine variable. Außerdem ist von entscheidender Bedeutung, dass der Mythos nach Barthes (1972) eine diskursive Vorgehensweise ist, die nicht nur etwas widerspiegelt, sondern auch dazu beiträgt, eine bestimmte Ideologie zu verfestigen (siehe auch Barbosa, 2005: 190). So argumentiert Barthes (1972: 146 – 8) sogar, dass der Mythos eher konservativ als radikal ist und in seiner Essenz anti-revolutionär, und wenn nur aus dem Grund, dass in einer postrevolutionären neuen Welt kein Mythos mehr existieren kann. Dies erscheint mir als eine etwas beschränkte Auffassung des Mythos und zeugt vom Unverständnis der weiter unten diskutierten Macht der Erinnerung.
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Zu einem gewissen Grad spiegeln Mythen die alltäglichen Umstände der Menschen wider und bieten ihnen eine Quelle, aus der sie schöpfen können, wenn sie mit einem Umfeld konfrontiert werden, das ihren Interessen und Wünschen feindlich gesonnen ist. Mythen werden in der Gemeinschaft erschaffen und oftmals verbinden sie in wechselnder Gewichtung die tatsächlichen Erfahrungen der Menschen und die Lehren, die ihnen mündlich übertragen wurden, als Teil des Kollektivgedächtnisses ihrer Familie oder ihrer Gemeinschaft. Während Mythen im Alltag gemeinhin „geringere“ Funktionen haben, beispielsweise zu lehren, zu warnen und zu leiten, kann man an ihnen auch „große“ Ideen ablesen, wie die Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit oder das Recht auf Eigentum. Sie scheinen das Leben zu verkomplizieren, indem sie zeigen, dass die Dinge nicht immer das sind, was sie zu sein vorgeben – die Sklavin ist eine Prinzessin, der verlorene und verwirrte Junge ein König, das alte Weib eine mächtige Magierin. Doch ebenso oft stellen uns Mythen Mittel zur Verfügung, die unbegreifliche Komplexität der Welt in etwas Simples und Verständliches zu verwandeln. Außerdem bieten sie uns einigermaßen verlässliche Richtlinien für unser alltägliches Verhalten und unsere Vorstellungen davon, wie und wer wir sein möchten. Ich möchte hiermit nicht den Eindruck erwecken, Mythen repräsentierten ebenso kohärente Glaubenssysteme wie Ideologien.9 Sie sind weder völlig unabhängige Ideensammlungen noch reine Rechtfertigungen politischer Macht. Allerdings beinhalten Mythen eine lose gestrickte Weltsicht, die Menschen auf die Ereignisse und Prozesse um sich herum beziehen können. Diesen Stellenwert haben Mythen nicht nur in der Unter- und Mittelschicht, auch die Eliten erinnern sich an geschichtliche Ereignisse über Mythen und diese vermitteln ihnen eine Weltsicht, auf die sie vertrauen. Mythen erleichtern es, Möglichkeiten abzuwägen, selbst wenn sie lange in Vergessenheit geschlummert haben – und man sie manchmal aufs Neue zusammensetzen muss; Teile, die gleichzeitig alt und neu sind. Wieder einmal treffen wir auf die Arbeit der bricoleure. Mythen sind also nicht unabhängig von Gesellschaft und Kultur, sie erschaffen und reflektieren zur gleichen Zeit die Ereignisse und Prozesse, in denen die Menschen begriffen sind. In vielen Mythen geht es, wenn auch indirekt, um Ideale von Gerechtigkeit, Gleichheit, Demokratie, vielfältigen Möglichkeiten und Freiheit (von Angst, Hunger und Krankheiten sowie Versammlungs-, Rede- und Religionsfreiheit), auf eine Weise, die geschützt ist vor den Augen und Ohren der Mächtigen und denen, die generell diesen Zielen nicht wohlgesonnen sind. Mythen zeigen uns also das Bild, das die Menschen von der Gesellschaft und der Welt haben – wie diese einmal waren, wie sie sein sollten und wie diese Vorstellung erreicht werden könnte. Und, was
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für unsere Zwecke hier noch wichtiger ist, sie können auch dazu benutzt werden, die Bemühungen der Menschen um eine fundamentale Veränderung der materiellen und ideologischen Umstände ihres täglichen Lebens einzuschränken oder zu fördern. Immer im Bewusstsein des Risikos, das mit dem Versuch, die Mächtigen zu stürzen, einhergeht, haben die Menschen an vielen Orten, zu verschiedenen Zeiten und unter allen möglichen Umständen Mythen verbreitet, von denen einige den Hintergrund für ihre Fähigkeiten und ihren Organisationswillen gebildet haben. Unter diesen Umständen ist es nachvollziehbar, dass Mythen beinahe immer einen schwierigen, umstrittenen Status inne haben und hatten. Und was noch entscheidender ist: Die Machthaber versuchen, sie zu verändern und ihre Versionen zu den Standard- oder zentralen Mythen der Gesellschaft zu machen, welche dann als Historie bezeichnet werden (wenn auch nicht immer zur Freude der Historiker). Eine solche Historie beinhaltet normalerweise eine Vielzahl von teils an den Haaren herbeigezogenen Rechtfertigungen und Rationalisierungen und die entsprechenden Mythen sollen normalerweise die Auffassung untermauern, dass die Vergangenheit zu genau dieser Situation, diesen Menschen und dieser Politik hinführen musste. Es passiert nicht selten, dass die Machthabenden versuchen, ihre eigenen Mythen zu konstruieren oder zumindest die bestehenden zu ihrem Nutzen umzuschreiben. Was das angeht, unterscheiden sie sich nicht von den Revolutionären, die sich ihnen entgegenstellen, und so kann es Kämpfe um die Kontrolle über die Mythen geben (wie auch um die Erinnerungen, siehe weiter unten). Man denke nur einmal an den bereits beinahe hundertjährigen Kampf um die Figur Emiliano Zapatas in Mexiko (Harvey, 1998; Benjamin, 2000; Stephan, 2002; Brunk, 2008). Wenn es auch immer noch mehr oder weniger die Regel ist, Mythen und ihre möglichen Rollen als unwichtig abzutun, so wächst doch langsam die Anerkennung ihrer Nützlichkeit und Allgemeingültigkeit. Vor über 30 Jahren vermerkte Lévi-Strauss: „[Sie] sind (oder scheinen) willkürlich, bedeutungslos absurd“; doch gestand ihnen dann zu, dass „sie allem Anschein nach überall auf der Welt immer wieder auftauchen“ (1979: 11 –12). Und nach und nach scheinen auch die Sozialwissenschaften zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Ohne die „Einzigartigkeit“ jedes regionalen Mythos in Abrede zu stellen, ist Lévi-Strauss’ Beobachtung ihrer universellen Verbreitung sowie seine Beobachtung, „[dass] die einfache Gegenüberstellung von Mythologie und Historie, die wir gewohnt sind vorzunehmen, keineswegs eine so eindeutige ist“ (1979: 40), der Schlüssel.10 Unabhängig davon ist es so, dass während Mythen einerseits Wandel blockieren oder verlangsamen können, sie andererseits auf vielfältige Weise dazu beitragen können, die Taten von einzelnen Menschen und Gruppen in revolutionären Prozessen zu motivieren, rationa-
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lisieren und authentisieren. An vielen Orten und zu vielen Zeiten waren Menschen hungrig, arm und mussten zusehen, wie ihre Kinder litten und starben, ohne dass sie eine Revolte begannen. Die Reichen und Mächtigen gibt es schon sehr lange, genau wie die ungerechte Verteilung von Land, Gütern und Dienstleistungen, ohne dass dies revolutionäre Situationen hervorgerufen hätte. Ob einfach oder komplex, strukturelle Umstände können nicht allein dafür verantwortlich sein, revolutionäre oder ähnliche Prozesse heraufzubeschwören. Es sind die Menschen, die dies tun. Ein Grund dafür sind Mythen. Die Geschichte von Widerstand, Rebellion und Revolution ist voll von Mythen. Viele dieser Geschichten sind unwahrscheinlich, eine große Zahl unglaublich, ja unfassbar, nicht zuletzt da einige sich leichter zu verbreiten scheinen als andere. Einige sind (oder scheinen zumindest) unmöglich: der junge vietnamesische Revolutionär Ho Chi Minh, der sich in Paris mit dem zukünftigen US-Präsidenten Franklin Roosevelt trifft und mit ihm die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten diskutiert; der Revolutionsheld der Kapverden und Guinea-Bissaus Amilcar Cabral, der Menschen in Mosambik nach seinem Tod in ihren Träumen aufsucht, das geisterhafte Auftreten des toten Revolutionshelden Ché Guevara in jedem Winkel der Erde und so weiter. Vielleicht liegt in eben dieser für uns Außenstehende augenscheinlichen Unmöglichkeit die Saat des Possibilismus verborgen (Darnton, 1990; Selbin, 2009b; zu den Möglichkeiten, die im Unmöglichen inhärent sind, siehe Rabas, 1997). Ich möchte hier nicht die Revolution romantisieren oder sie als eine zeitlose und mythische „Tradition“ darstellen. Die meisten modernen Auffassungen von Widerstand, Rebellion und Revolution sind zutiefst nachaufklärerisch, sie wurzeln oftmals im Jahr 1789 in Frankreich mit dem vermeintlichen Ende der „alten Ordnung“ und dem Beginn einer neuen, und dies hat einen großen Einfluss auf die Geschichten, die wir untersuchen werden.11 Bei den meisten Mythen rechtfertigt das Ergebnis die Mittel. Die beliebtesten Mythen eines Volkes sind häufig kollektive Mythen, und kollektive Mythen haben eine überraschende Tendenz dazu, „wahr“ zu werden (womit ich meine, dass sie dazu gemacht werden). Wieder einmal ist zu bemerken, dass es sich hierbei nicht um einen „top-down“-Prozess handelt, der von den Eliten und ihren Ergebenen vordiktiert wird; Mythen ausschließlich künstlichen Ursprungs sind schwer zu etablieren und noch schwerer aufrechtzuerhalten. Wenn es den Mächtigen in einer Gesellschaft gelingt, ihre Mythen mit populären Vorstellungen und Wünschen zu vermählen, erschaffen sie eine mächtige Kombination und eine Hegemonie baut sich auf. So zeigt Appleby (2001) beispielsweise, dass die erste Generation, die in „Amerika“ erwachsen wurde, diejenigen, die das US-Leben in den 1830ern dominierten, daran arbeiteten, einen Landesmythos von den „enterprising, inno-
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vative, and equality-loving Americans“ zu erschaffen. Dieser Mythos wurde nur selten – und nicht ohne Risiko – von den folgenden Generationen in Frage gestellt und hat viele weitere Mythen untermauert, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmten und deren Bedeutung noch andauert: der Zweite Weltkrieg war ein „guter Krieg“, der geführt wurde, um die Nazis von der Ausrottung der Juden abzuhalten, die Demokratie zu schützen und zu verteidigen und er wurde durch den Eintritt der USA und ihre Bemühungen gewonnen; in den frühen 1960ern unterstützten die meisten US-Bürger die Bürgerrechte für Afroamerikaner, waren gegen den Krieg in Südostasien und die Vereinigten Staaten haben immer die auf eine breite Bevölkerungsbasis gestützte direkte Demokratie daheim und überall auf der Welt gefördert. Damit stehen die USA nicht alleine da. Österreicher erzählen sich Geschichten davon, dass sie Hitlers „erste Opfer“ seien, die Briten und Franzosen berichten von ihren edlen Rollen während und nach der Kolonialzeit und die Schweden schwärmen von der generösen Mildtätigkeit ihres nordeuropäischen Reiches. Und solche Mythen sind beileibe nicht nur eine Spezialität der nördlich/westlichen Länder. Afghanen, Ägypter, Iraker, Perser und andere (manche auch außerhalb des Nahen Ostens) stellen ihre Länder als die „Wiegen der Zivilisation“ dar. Das subsaharische Afrika wimmelt nur so von Jahrhunderte überdauernden kollektiven Mythen, nicht zuletzt auch denen von vergangener Größe, die von den Europäern zerstört wurde – Erzählungen, die man häufig auch in Nordafrika antrifft. In Israel spielt die Masada-Festung eine große Rolle. In Südostasien wurde der moderne Mythos vom unverwundbaren weißen Europäer gekippt und machte dem wesentlich älteren Mythos von den heldenhaften vietnamesischen Kämpfern Platz. Südasien ist voll von Mythen und höchstwahrscheinlich auch die Quelle für viele moderne Mythen, nicht zuletzt derjenigen, in denen es um Widerstand geht.12 Bis heute bestehen viele mächtige Mythen der westlichen Völker vor der Eroberung durch die Europäer, wie die der Inkas, Mexikas (Azteken) und Mayas. Alte und neue Legenden sind reichlich vorhanden und viele feiern Widerstand, Rebellion und Revolution (andere wiederum warnen davor) und nähren neuere Mythen um Figuren wie Zapata in Mexiko oder Ché Guevara in der gesamten Region.13 Diese Mythen, manchmal etwas neutraler als „kulturelles Erbe“ bezeichnet („heritage“, Lowenthal, 1998), werden zu einem zentralen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses. Es ist ihr „communal and popular [character]“ (Brunk, 2008: 4), der sie zu einem so entscheidenden Faktor macht, wenn es darum geht, die Kraft der Erzählung zu verstehen. Man bedenke, dass Mythen nicht nur das gemeinsame Verständnis der Vergangenheit wiedergeben, sondern auch einen sehr großen Einfluss auf die Konzeption der Menschen von
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dem haben, was ihnen möglich erscheint. Dies führt unausweichlich zu der Frage, wer und was zum Stoff für diese Legenden wird. Wir können damit rechnen, diese Menschen, Orte und Dinge – ob Symbole oder Ereignisse – an der Schnittstelle von Mythos und Erinnerung anzutreffen, wie sie uns von der Kultur zur jeweiligen Zeit übermittelt wird. Mythos ist nach Veyne „a copy of the past“ (1983: 68). Somit ist also die Erinnerung in ihren vielen und chaotischen Manifestationen entscheidend für jegliches Verständnis davon, was möglich ist, was nicht möglich ist und was wahrscheinlich ist. „[P]ast performance [is] no guarantee of future results“, doch es ist eindeutig, dass Erinnerungen an die Vergangenheit eine sehr große Rolle spielen (können). Wie Faulkner so klug beobachtete: „[T]he past is never dead. It’s not even past“ (1951: 92). Allerdings könnte sie ein Mythos sein.
Erinnerung: „we must remember this …“ Menschen sind kompliziert und vielleicht ist kein Aspekt dessen, was uns ausmacht, komplizierter als die Erinnerung beziehungsweise das Gedächtnis. Laut Halpern ist Erinnerung, „wie wir die Welt erfahren“; sie ist etwas, auf das wir vertrauen – „gehen und träumen und reden und riechen und planen und fürchten und lieben und denken und lernen und mehr und mehr und mehr“ (2008: x). Unsere Erinnerung ist „das A und O“ (Assmann, 2006: 212), und von daher ist sie, was nicht besonders überraschend ist, zu einem sehr wichtigen Konzept in einer Vielzahl von Untersuchungsgebieten geworden. Wir alle, in den verschiedensten Gesellschaften, Kulturen, Zeiten und Orten, neigen dazu, unsere Erinnerungen so darzustellen, als ob man sie einem Film gleich abspulen könnte, doch es handelt sich vielmehr um „einen extrem fehlbaren und subjektiven Rekonstruktionsprozess“ (Muir-Broaddus, 2005). Unsere Gehirne zeichnen nicht in Echtzeit auf und unsere individuellen Erinnerungen sind unvermeidlich „selektiert, eigennützig und manchmal erfunden“ (Tilly, 2008: 125, in seiner bündigen Zusammenfassung zu Kandel, 2006). Zusätzlich handelt es sich bei unseren Erinnerungen nicht etwa um ein Archiv, sondern sie sind live, ein Wort, voller Implikationen und Konsequenzen, sie befinden sich in unseren Gehirnen „in chemischen Spuren … [die] verblassen können“, doch sie können auch durch Beobachtungen und Erfahrungen gefestigt werden (Halpern, 2008: 66). Präzision wäre hierbei reiner Zufall, und das Gedächtnis, so mächtig es auch sein mag (und das ist es), sollte als zutiefst unzuverlässig betrachtet werden, wenn es darum geht, was mit wem, wann, wo oder wie passiert ist. Diese substantiellen und ernsthaften Mängel werden unausweichlich gravierender, wenn wir das kollektive
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Gedächtnis untersuchen, dessen inhärente Konkurrenzsituationen unter Individuen und Gruppen (Lee and Yang, 2007: 5) logischer- und unvermeidlicherweise zu noch mehr Komplexität führen müssen. Nur wenige Themen werden aus dermaßen vielen unterschiedlichen Perspektiven untersucht wie das Gedächtnis. Trotz unserer Wertschätzung von Erinnerungen und ungeachtet unserer Neigung, das Gedächtnis als eine Art einzelnes, klar umgrenztes „Ding“ („thing“, Halpern, 2008: 21) zu betrachten, haben wir immer noch verblüffend wenig Ahnung davon, wie es funktioniert. Wenn wir einmal die massive (und für einige alles bestimmende) Problematik beiseite schieben, wie sehr es bei Erinnerung um Chemikalien oder Kognition geht, liegt ein Teil des Problems in der Vielfalt der Gedächtnisarten: das soziale Gedächtnis, das kollektive Gedächtnis, das gemeinsame Gedächtnis, das kulturelle Gedächtnis (Assmann, 2006: 220), das Tiefengedächtnis, das „gesammelte“ Gedächtnis („collected“ memory) (Young, 1993: 6), das öffentliche Gedächtnis, das politische Gedächtnis (Assmann, 2006: 215), dominante Erinnerungen, behelfsmäßige Erinnerungen („prosthetic memory“, Landsberg, 2004) sowie die gesamte Bandbreite im Bereich des „individuellen“ Gedächtnisses, ein zunehmend in Frage gestelltes Konzept.14 Es stellt sich also die Frage: Kann man wirklich seine eigenen Erinnerungen besitzen, isoliert vom Einfluss der anderen, der Kultur, der Gesellschaft? Alle diese Gedächtnisarten setzen sowohl Universalität voraus, als auch, verschieden stark, die Notwendigkeit eines historischen Kontexts (außer beim „individuellen Gedächtnis“). Außerdem zeigen sie, dass es ein gemeinsames Konzept gibt: „[das] historische Gedächtnis – welches eine Abstraktion und Vereinfachung der Pluralität der Erinnerungen ist, die in jeder beliebigen Gesellschaft existieren“ (Aguilar, 2002: 6). Demzufolge wird die Hauptaufmerksamkeit hier auf dem liegen, was gemeinhin als kollektives Gedächtnis bezeichnet wird, auf der Art, wie sich Menschen gemeinsam erinnern. Ich werde untersuchen, ob die Genauigkeit dieser Erinnerungen von Bedeutung ist und ob bestimmte Erinnerungen, egal wie persönlich oder räumlich begrenzt sie sind, trotzdem zu einer „globalen“ oder „universalen“ Resonanz führen können.15 Dabei soll nicht die Tatsache außer Acht gelassen werden, dass das kollektive Gedächtnis manchmal mit Regierungen oder Ideologien verbunden sein kann16, und dass es außerdem Raum für soziale und kulturelle Erinnerungen bietet. Zusätzlich bemerkt Assmann (2006: 213) völlig korrekt, dass Erinnerungen „vergänglich, unbeständig und flüchtig“ sind und dass außerdem der Schritt vom individuellen zum kollektiven Gedächtnis nicht auf einer simplen Analogie basiert (2006: 216). Nichtsdestoweniger ist das „kollektive Gedächtnis“, wie Lee und Yang (2007: 19) überzeugend argumentieren „a cultural force“, eine Kraft, mit der zu rechnen ist, besonders
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wenn es in die Semantik „of a heroic or martyriological narrative“ (Assmann, 2006: 218) eingebunden werden kann – mit anderen Worten, wenn es zum Bestandteil der Erzählung wird. Die Historie wie wir sie kennen und wie sie uns im Alltag begegnet, kann mit gutem Recht als die „offizielle Geschichte“ gelesen werden, als Erzählung – sie wird uns immer als Erzählung (re-)präsentiert – die eine Art soziopolitischer „Druckfreigabe“ durch die Mächtigen und ihre Untergebenen erfordert. Wie bereits erwähnt handelt es sich im Wesentlichen um einen „top-down“Prozess, vor allem wenn es darum geht, Geschichten aus der Volkskultur mit einzubeziehen, Erzählungen aus den „unteren Schichten“. Das kollektive Gedächtnis kann somit als antithetisch zur oder zumindest als sehr verschieden von der Historie betrachtet werden. Es ist zwar einerseits verständlich und durchaus nützlich, kollektive Erinnerungen als „Rekonstruktionen ,von unten‘, von den Menschen, um deren Historie es geht“ (Lee, 2007: 142), zu betrachten, doch es gibt auch eine andere mögliche Sichtweise. Folgt man der allgemeinen Auffassung, so gibt es eine eindeutige und kohärente Erzählung, die als objektiv und chronologisch präsentiert wird (und unausweichlich auf den augenblicklichen Moment hinausläuft), manchmal wird sie sogar als „Nationalgeschichte“ bezeichnet. Diese wird von oben herab konstruiert und es wird von den Menschen erwartet, dass sie sie glauben. Im Gegensatz dazu gibt es die „Vorstellungen der kollektiv erlebten Vergangenheit“, die eine Art „soziales Gedächtnis“ bilden, bestehend aus „,sozialen Fakten‘ … die … ,häufig Tatsachen-Ansprüche auf die Vergangenheit erheben‘“ (Lee, 2007: 142, er zitiert Fentress und Wickham, 1992: 26),17 und das von den „unteren Schichten“ aufrechterhalten und geteilt wird. Solche nicht öffentlich abgesegneten „gemeinsamen Erinnerungen“ („shared memories“) können besonders wirkungsvoll für die Opposition und somit für Widerstand, Rebellion und Revolution sein (Watson, 1994: 9), nicht zuletzt, „[weil] diese Vergangenheiten einen Rahmen bilden für die kollektiven Vorstellungen darüber, welche Handlungen grundsätzlich möglich, zulässig und erstrebenswert sind“ (Tilly, 1994: 247). Kollektive Erinnerungen sind gemeinschaftlich, sie werden von den meisten, wenn nicht sogar allen Menschen geteilt – dem kleinen Teil an der Spitze, der immensen Mehrheit „im unteren Bereich der Gesellschaft“ und den verhältnismäßig wenigen dazwischen (die oftmals denen an der Spitze verbunden sind). Sie fungieren als „Gefühlsarchiv“ („archive of feelings“), um ein nützliches Konzept von Cvetkovich (2003) zu verwenden.18 In diesem Archiv können wir all die verschiedenen Vergangenheiten finden, an die sich jeder Einzelne von uns erinnern kann, und auf diese Informationen greifen wir zurück, wenn wir unsere Gegenwart erschaffen und uns unsere Zukunft ausma-
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len. Hierbei kann man durchaus Assmanns Besorgnis verstehen: „[C]ollective memory … is too vague and conflates important distinctions“ (2006: 211),19 doch für diejenigen, die auf diesen Erinnerungen aufbauen möchten, ist dies eigentlich ein Vorteil, da sich mehr verschiedene und somit bessere Möglichkeiten bieten. Revolutionäre und andere Radikale versuchen, an das kollektive Gedächtnis zu appellieren, um die Arbeit, die sie verrichten wollen, zu rechtfertigen und zu bestätigen. Gleichzeitig bemühen ihre Gegner sich darum, die gleichen oder ähnliche Erinnerungen für ihre Ziele zu verwenden. In beiden Fällen ist das Ziel die Erinnerung an, die Verstärkung oder, wenn notwendig, das Erstellen machtvoller Gebilde zur Rechtfertigung und Verbesserung der jeweiligen Position.20 Anstelle der „thin relations“ von (relativ) oberflächlichen Verbindungen wie Hautfarbe, Geschlecht oder Klasse – die, wie wir sehen werden, trotzdem alle überaus einflussreich sind – bieten die Erinnerungen etwas, was Margalit (2002: 5) als „thick relations“ beschreibt, „verankert in einer gemeinsamen Vergangenheit oder fest vertäut in einem gemeinsamen Gedächtnis“. In diesem von uns (täglich aufs Neue) geknüpftem verzwickten Netzwerk spiegelt sich das wider, was man im Bild des Baummodells als Wurzeln von Revolution, Widerstand und Rebellion bezeichnen würde. Erinnerung wird oft als „traditionell“ betrachtet und damit zum Gegner von Veränderung und Neuerungen erklärt. Doch langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass diejenigen, die die Erinnerungen, oder in Anlehnung an Orwell „die Vergangenheit“, kontrollieren, damit auch die Gegenwart kontrollieren können (und nach Orwell gilt dies auch umgekehrt).21 Eine Aufgabe derjenigen, die den Mächtigen dienen, kann darin bestehen, den Positionen der Mächtigen Legitimität und somit Autorität zu verleihen, und die verbreiteteste Methode besteht darin, diese in vergangenen Ereignissen (und Prozessen) zu verankern (Margalit, 2002: 11). Regierungen und Eliten müssen in der Lage sein, das kollektive Gedächtnis zu kontrollieren, um zu erklären, dass ihre Existenz legitim ist, warum gerade sie die Machtpositionen bekleiden sollten und warum sie allein am besten dazu geeignet sind, andere in die Zukunft zu führen. Diejenigen, die versuchen, etwas zu verändern, müssen offensichtlich das kollektive Gedächtnis herausfordern (welches gemeinhin als Historie bezeichnet wird) und die Nationalgeschichte der Eliten in Frage stellen. Erinnerung ist hierbei von entscheidender Bedeutung, besonders wenn die Veränderer „cultural symbols, heroes, and myths“ auf „foreign entities, governments, classes, groups, and others“ anwenden, „as they attempt to exert cultural dominance and legitimacy“ (Whisnant, 1995: 4). Schauplatz des Kampfes um diese Erinnerungen ist die Historie und die Volkskultur. Dies führt uns zu drei Problemfeldern: Nostalgie, Historie und Wahrheit/Nachprüfbarkeit.
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Der Reiz der Nostalgie ist groß: Sie ist eine Form der Erinnerung, die zumeist von den Mächtigen verwendet wird, um ihre Privilegien zu legitimieren und die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die Gegenwart so ist, wie sie sein sollte. Doch auch Revolutionäre werden von Nostalgie beeinflusst, wenn sie sich beispielsweise auf eine mythisch-heroische Zeit beziehen, um ihren Kampf zu legitimieren. Rolle und Position der Nostalgie scheinen eine spezielle Problematik darzustellen, Geertz (2000: 22) sieht sie folgendermaßen: „willed nostalgia – declamatory, a pretense, worn and seen through“. In nördlichen/westlichen Kulturen, die ihrer Bildung (im nachaufklärerischen Sinne) und ihres hohen Entwicklungsstandes überdrüssig sind, besteht manchmal das Bedürfnis nach einer romantisierten Vergangenheit, in der die Welt ein besserer Ort war. Viele Menschen vertrauen nicht nur in nördlichen/westlichen Kulturen aus vielerlei Gründen auf die Illusion, dass die Historie, die unsere Gesellschaften und Kulturen prägt, auf irgendeine Weise „objektiv“ oder „unabhängig“ sei. Und das, obwohl es uns unmöglich ist, die Vergangenheit so zu schildern, wie sie war – im besten Fall können wir sie so darstellen, wie sie uns heute erscheint. Jede Diskussion der Vergangenheit ist schwierig und sollte mit Vorsicht angegangen werden, denn natürlich ist es möglich, zu diskutieren, „was passiert ist“, aber wir sollten uns darüber klar sein, dass es sich um eine reine Interpretationssache handelt. Außerdem unterstellen, ja verlangen wir innerhalb des Prozesses, die Vergangenheit in den Dienst der Gegenwart zu stellen – und daran können wir nichts ändern – eine gewisse Wahrheit und Unausweichlichkeit: Es musste so kommen. So ist die Zusammenstellung der Geschichten, die wir als Historie (oder „die Vergangenheit“) bezeichnen, einfach nur eine Reihe von Geschichten – mit Rücksicht auf Verständlichkeit, Kürze und Zweckmäßigkeit bearbeitet – die wir uns über die Vergangenheit in der Gegenwart erzählen. Wie genau und systematisch unsere Nachforschungen oder wie treu unsere Darstellungen der Historie auch sein mögen, sie sind wenig mehr als eine Kombination dessen, an das wir uns erinnern, das wir vergessen, das wir erfinden (bewusst oder unbewusst) und das uns gerade nützt, je nachdem wer wir sind und wann und wo wir uns befinden. Es sind genau diese Faktoren, die auch von entscheidender Bedeutung für unsere Vorstellungen von der Zukunft sind. Die Erhaltung der Historie ist in vieler Hinsicht ein aufwändiges Unterfangen – was aber nicht heißt, dass die Mühe gescheut werden würde. Regierungen und gesellschaftliche Gruppierungen, vor allem die Eliten, sorgen mit viel Aufwand dafür, Legitimität und Autorität zu schaffen und zu erhalten – genau die Faktoren, die das Angriffsziel von Rebellen und Revolutionären sind. Die Regisseure und Produzenten der Geschichtspflege sind die
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üblichen Verdächtigen, manche von ihnen entstammen allerdings auch dem Lager derer, die versuchen, einen Umsturz herbeizuführen. Für alle Seiten gilt, dass ihre Erfolgswahrscheinlichkeit in einem beinahe direkt proportionalen Verhältnis zu ihrer Fähigkeit steht, die ideologischen Umstände und mythologischen Voraussetzungen zu verstehen und zu benutzen, die eine Gesellschaft fundamental prägen. Meist bilden diese die Grundlage für Legitimation und Autorität. Doch es wäre ein Fehler, hier nur an kleine Gruppen von Menschen zu denken, die eine große und passive Bevölkerung steuern, ungeachtet der Versuche eben dieser Bevölkerung, die Zukunft zu erschaffen und zu lenken. Die Menschen haben ihre eigenen Geschichten, Erzählungen, Helden und Versionen. Einer meiner alten Englischprofessoren erklärte: „[E]very good story has plenty of T & A“; entschuldigen Sie mich und lassen Sie mich die Ausdrücke die er (und wir) im Kopf hatten durch Worte ersetzen, die für unsere Zwecke relevant sind: Wahrheit und Nachprüfbarkeit („truth and accountability“). Es gibt Momente, in denen man zu größeren oder tieferen Einsichten gelangen kann, ob die Geschichte nun „treu“ das wiedergibt, „was wirklich passiert ist“, oder auch nicht. Debatten und Diskussionen über das, was „wirklich passiert“ ist, sind wichtig, wenn auch auf deutliche, ja vielleicht fundamentale Weise fehlgeleitet. Higonnet (1998: 10) warnt: „[We have to be] cautious and modest in our hopes of recapturing the past ,as it really was.‘“ Wir wären sehr nachlässig, wenn wir nicht versuchen würden, gleichzeitig die Vergangenheit so weit wie möglich zu erkunden und zu erforschen, warum es die Vergangenheit ist, die uns interessiert und „zu uns spricht“. „Was wirklich passierte“ ist im Endeffekt weniger wichtig als das, was gefühlt wurde und – vielleicht noch wichtiger – wie diese Erfahrungen und Gefühle von denen, „die dort waren“ (eine weitere mächtige totemische Phrase) und denen, die von ihnen lernten, internalisiert, verarbeitet und ausgedrückt/verstanden wurden.22 Es ist also weniger wichtig, ob eine Geschichte „wahr“ oder „falsch“ ist (eine problematische binäre Unterscheidung), sondern eher, ob die Geschichte zu den gegebenen Umständen passt und uns dabei hilft, Einsicht in die naheliegenderen und größeren „Wahrheiten“ jeder Situation und jedes Prozesses zu gewinnen. Während man „wahre Fakten“ in Büchern nachlesen kann, werfen diese nur unter Umständen Licht auf die Dinge, die wirklich von Interesse und Bedeutung sind und die für die meisten Menschen „real“ sind. Diese „Realität“ wird, wie ich weiter unten aufzeigen werde, von den Menschen mithilfe von Geschichten verteidigt, erhalten und erweitert. Nach Passerini (1989: 197) ist jede autobiographische Erinnerung wahr: „It is up to the interpreter to discover in which sense, where, for which purpose.“ Dies gilt ebenso für kollektive Erinnerungen. Bezüglich eines solchen
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gemeinsam und allein aufrechterhaltenen „Gefühlsarchives“ (das sein Bestehen jedoch zu großen Teilen seiner gemeinschaftlichen Natur verdankt), ist es notwendig, darüber nachzudenken, inwiefern die Bemühungen der Menschen, ihre Vergangenheit wiederherzustellen und ihre Gegenwart zu erklären, zur absichtlichen oder unabsichtlichen Unterdrückung oder Verzerrung ihrer Gedanken und Taten führen. Da wechselnde Sorgen und Einstellungen die Bedeutung beeinflussen, die Menschen sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart zumessen, sind solche Verzerrungen unvermeidlich. Sie stellen jedoch kein signifikantes Problem dar, da es bei dem zu untersuchenden Prozess primär darum geht, wie Menschen sich selbst und die sie umgebende Welt sehen. Es ist unsere Aufgabe, die verschiedenen Auffassungen der Menschen von ihrer Vergangenheit und der ihrer Kulturen exemplarisch nachzuweisen. Die Frage ist nur, ob die Menschen die Dinge so darstellen, dass sie zumindest im weitesten Sinne zu unseren Vorstellungen passen. Erinnerungen werfen große Probleme auf, sowohl für diejenigen, die sie manipulieren wollen, als auch für Forscher, die sie untersuchen wollen; sie entziehen sich in wichtigen Punkten völlig unserer Kenntnis – wie sie entstehen, wie sie gespeichert werden, wie sie durch das Speichern beeinflusst werden (wie es sich auf ihren Erhalt oder ihr Verschwinden auswirkt) und wie sie wieder abgerufen werden (wann und warum).23 Während wir zumindest etwas darüber wissen, wie sie weitergegeben werden – und damit unvermeidlich verhandelt werden und Kompromissen unterliegen – verstehen wir bislang noch nicht wirklich, wie es passiert, „[dass] sie Individuen zu Gruppen verbinden“, und es besteht Unklarheit darüber, „ob diese Bindungen auf irgendeine Weise archaisch oder vielmehr recht modern sind.“ Und: „[D]ie leitende Annahme, dass kollektive Erinnerungen konstruiert oder konstruierbar sind, wirft schwierige Fragen über die historischen Kontexte sowie die Strukturen der zeitlichen Eingrenzung, die solche Konstruktionsarbeit ermöglichen, auf“ (Fritzsche, 2001: 91–2). Gildeas Annahme, die Erinnerung sei eine „kollektive Konstruktion der Vergangenheit durch eine bestimmte Gemeinschaft“ (1994: 10), scheint zutreffend. Das soll aber nicht heißen, dass es sich hier um eine Art quasi-mythisches „Gruppendenken“ („groupthink“) handelt. Halbwachs, der Stammvater des Konzepts vom kollektiven Gedächtnis, argumentiert: „[W]ährend das kollektive Gedächtnis Bestand hat und Kräfte aus seiner Basis in einer kohärenten Gruppe von Menschen zieht, sind es doch Individuen als Mitglieder der Gruppe, die sich erinnern“ (1980: 48). Die Übertragung dieser Erinnerungen über Generationen hinweg geschieht auf viele Arten. Wie auch immer diese aussehen mögen, im Endeffekt können wir uns die Vergangenheit zumindest in groben Umrissen aus dem kollektiven Gedächtnis erschließen. Dies setzt voraus, dass wir darauf zugreifen können und eine
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mehr oder weniger genaue Vorstellung davon haben, wie man es am besten verstehen/interpretieren könnte – und damit sind wir unter anderem wieder bei den Problemen von Übermittlung und Übersetzung. Wer oder was „macht“ also Erinnerungen, wann, wo und wie? Einerseits gibt es diejenigen, die wir als „Erinnerungsmacher“ („memory makers“) bezeichnen könnten. Darunter fallen nicht nur offensichtliche Kandidaten wie Historiker, öffentlich auftretende Intellektuelle oder Politiker, sondern auch Essayisten, Romanautoren, Filmmacher, die Medien und immer häufiger auch einfach diejenigen, die Zugang zu Computern und Internet haben, was zu einer noch weiteren Demokratisierung der Erinnerungserstellung führen wird. Auf der anderen Seite gibt es die schwächer werdende aber immer noch (lebhaft) vertretene Ansicht, dass die ländliche Bevölkerung, eingeborene oder isolierte Völker eine privilegierte Position als Hüter der reinen, „authentischen“ Vergangenheit einnähmen. Wie viel Wahrheit auch immer in dieser Weisheit enthalten sein mag, sie ist verfälschend, ja sogar gefährlich. Wir müssen uns vor solchen binären Trennungen hüten. Meine Vermutung lautet, dass es in der Realität eine Vielzahl kollektiver Erinnerungen gibt, die in verschiedene Gruppen, Institutionen und andere gesellschaftliche Vereinigungen eingebettet sind, von ihnen „geschrieben“ und ausgedrückt werden: „[I]t is in society that people normally acquire their memories … [and] that they recall, recognize, and localize their memories“ (Halbwachs, 1992: 38).24 Unsere gemeinsame Nutzung von Erinnerungen (unser „Teilhaben“) erschafft „collective memory and social frameworks for memory“ (Halbwachs, 1992: 38). Historie ist somit „weder die gesamte Vergangenheit noch alles, was von ihr erhalten bleibt. Zusätzlich zur aufgeschriebenen Historie gibt es eine lebende Historie, die sich ewig fortsetzt und sich über die Zeit hinweg immer wieder erneuert“ (Halbwachs, 1992: 64). Dies erinnert daran, dass Historie einerseits etwas anderes ist als das kollektive Gedächtnis und andererseits untrennbar mit ihm verbunden. Im Moment soll es ausreichen, zu vermerken, dass Erinnerungen, wie individuell sie auch immer sein mögen, auf einem überaus kooperativen, ja synergetisierenden Vorgang beruhen, der eine Vielzahl von Quellen, Beziehungsverknüpfungen und vorhandenen oder als vorhanden wahrgenommenen Kontexten mit einbezieht. Unsere gemeinschaftlich gepflegten und geteilten Erinnerungen dienen nicht nur dazu, uns zu verbinden, sondern befähigen uns auch dazu, jede Geschichte persönlich zu gestalten und auf einen bestimmten Moment zuzuschneiden. Hierbei ist der Kontext von entscheidender Bedeutung.25 „Gleiche“ Erfahrungen werden, selbst wenn sie feststehend und universell sind, wie beispielsweise Geburt und Tod, von unterschiedlichen Menschen in unter-
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schiedlichen Kulturen verschieden „begriffen“, also konstruiert und gedeutet. Dies hat viele Gründe, „not least being that descriptions of the self are always culture-bound“ (Zur, 1998: 19).26 Zweifelsohne sind Erinnerungen mächtig, überzeugend und absichtsvoll. Das soll nicht bedeuten, dass sie immer zweckgerichtet sein müssen, doch sie sind stets angefüllt mit Sinn und Bedeutung. Selbstverständlich spielt die Erinnerung eine Rolle wenn es um Geschichten geht – Geschichtenerzähler und Zuhörer erschaffen Historie und Kontext aus ihren Erinnerungen, füllen Lücken und konstruieren eine umfassendere, detailliertere, oftmals tiefgreifende und unausgesprochene Erzählung – die manchmal auf ungeahnte Weise an unerwarteten Orten nachhallt. Im Bezug auf Revolutionäre vermutet Benjamin (2003b: 394), dass, unabhängig von den Visionen für ihre befreiten Kinder und Enkelkinder, ihre größte Inspiration dem Bild ihrer – beziehungsweise den Erinnerungen an ihre – „versklavten Ahnen“ entspringt. Solche individuellen und gemeinschaftlichen Erinnerungen sind letztendlich nicht nur Teile einer Geschichte, sondern gehören zur Tiefenstruktur, auf der bedeutungsvolle Geschichten von Widerstand, Rebellion und Revolution aufbauen.
Mimesis: Aneignung und Adaption In einem gewissen Sinne gibt es keine fundamental menschlichere Handlung als die Mimesis. Das Aneignen und die Adaption der Handlungen anderer scheinen uns geradezu einprogrammiert zu sein – Sprache, Bewegung und vieles mehr werden auf diese Weise erlernt. Doch es macht einen Teil unseres Menschseins aus, dass dieses Lernen mehr ist als reine Mimikry. Besonders die feministische Forschung hat eine strikte Unterscheidung zwischen „Mimesis“ und „Mimikry“ eingeführt, wobei Letztere als politisch nützlich und/ oder strategisch klug und Erstere als inhärent und gefährlich konservativ angesehen wird.27 Während die meisten Mimesiskonzepte diese in irgendeiner Form als Imitation verstehen, ist mein Begriff hier weiter und umfassender. Es fällt nicht schwer, zu sehen, wo die Bezichtigung des Konservatismus herrührt. „Culture is elusive“ (Cantwell, 1994: 80), dies wird kaum jemals deutlicher als an dem, was Foran „political cultures of opposition and resistance“ (Foran, 1992, 1993b, 2005: 21; Reed und Foran, 2002) genannt hat. Für Cantwell, der sich hauptsächlich auf das Thema Kultur bezieht, repräsentiert Mimesis Stillstand, oder ist zumindest ein dazu führender Faktor. Wie bereits festgestellt, fungiert die Tradition oftmals als Bollwerk gegen Veränderungen, und wenn Überlieferungen still, im Verborgenen innerhalb von Familien (und Gemeinschaften) weitergereicht werden, können sie sich zu
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einer das Denken lähmenden, automatisierten Geschichte entwickeln. Diese kommt zwangsläufig irgendwann zum Vorschein: „[U]nbeabsichtigt, oft unbewusst, in Träumen, ganz plötzlich und unerwartet [scheint sie] sich selbst zu offenbaren … in den Erzählungen, die wir über uns selbst und andere konstruieren, oder denen wir uns zuwenden, um zu verstehen“ (Cantwell, 1994: 80–81). Während es Cantwell anscheinend darum geht, Möglichkeiten aufzuzeigen – wir werden weiter unten darauf eingehen – darf man nicht außer Acht lassen, in welchem Maße die Kultur Geschichten, genauer: Mimesis, für kontrollierende und begrenzende Zwecke nutzt. Wir erzählen Geschichten wieder und wieder, um soziale Normen und Sitten zu bestätigen und zu verstärken sowie eine gewisse Kontinuität sicherzustellen. Wir mögen vertraute Geschichten und so ist der Aufbau der meisten Erzählungen kein großes Geheimnis: erstaunlich elementare und dauerhafte mythopoetische Vorstellungen, bekannte Charaktere, Situationen und Strukturen sowie zumeist grundlegende Ängste, Träume und Wünsche. Über Äonen wurden solche Geschichten auswendig gelernt, von einer Generation an die andere mittels Erzählung oder Gesang in einem festen System weitergereicht. In einigen Teilen der Welt ist dies immer noch der Fall und selbst in den Gesellschaften, deren Kulturen heutzutage das geschriebene Wort bestimmt, muss man nur etwa ein Jahrhundert zurückschauen, um festzustellen, dass damals der Großteil der Menschen Wissen auf exakt diese Weise lernte und weitergab – durch Wiederholung, Imitation und Rezitation. Während sich die Hintergrundgeschichte ändern mag (wobei in manchen Fällen die exakte Gleichheit entscheidend für die Erzählung ist) und der Erzähler ein anderer sein kann (wiederum können gewisse Übereinstimmungen von großer Bedeutung für das Vermittelte sein), ist der wichtigste Faktor die Vertrautheit. Das Auswendiglernen langer Erzählungen oder Sagen, die Wiederholung und die Notwendigkeit, bei Charakteren und Plots zu bleiben, die sich für die Zuhörer vertraut anfühlen, blockieren die Kreativität, verhindern die Entwicklung neuer Geschichten und schließen neue Möglichkeiten aus. Diese Unterschätzung menschlicher Phantasie und menschlichen Einfallsreichtums verdient im Prinzip mehr Aufmerksamkeit. An dieser Stelle soll die Feststellung genügen, dass es nicht um das Erschaffen neuer Geschichten geht, sondern vielmehr um das Ausmaß, zu dem bereits bestehende Geschichten den jeweils aktuellen Ereignissen angepasst werden und daraus wiederum neu entstehen. Die Geschichten zirkulieren und werden gemäß den momentanen Erfordernissen umgeschrieben – damit steigt natürlich das Risiko, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Mimesis steigert also „[die] mysteriöse Möglichkeit, durch das Aneinanderreiben von trockenen Stöcken Feuer zu entfachen … in jenen Beziehungen zwischen kreativen
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Minderheiten und trägen Mehrheiten“ (Toynbee, 1934b: 247). Die Menschen sind mit anderen Worten in der Lage, fesselnde Geschichten so einzusetzen, dass sie darüber auch andere für ihr Anliegen gewinnen können, ihr Leben grundlegend umzugestalten. Und die „Neuorganisation im Leben der Mehrheit, die für die Ausübung dieses mimetischen Aktes erforderlich ist“, ist beizeiten so drastisch, dass sie sich nur in Form einer Revolution äußern kann (Toynbee, 1934b 369). Hier stoßen wir also auf Forans (2005: 21) Untersuchungsobjekt: wie Menschen über eine Kombination von „organizational capacity, lived experiences, culture, and ideology“ zur Veränderung bewegt werden. Doch die Mimesis wirft weitere Probleme auf, andere Stolpersteine, vor denen man sich in Acht nehmen muss. Zwei, die man hier erwähnen sollte, sind das Konzept der gedankenlosen, sklavischen Mimikry und das der „Ansteckungsgefahr“. In dieser häufig wenig durchdacht verwendeten Metapher wird Mimesis als eine Art Krankheit dargestellt, wie ein Virus, der über den politischen Körper weitergegeben wird. „Mimesis“ wird zumeist in einem ähnlichen Sinne wie Imitation oder Mimikry benutzt, Worte die im Allgemeinen geringschätzig verwendet werden. Mein Ziel hier ist es, geleitet von Toynbee (1934a: 191 Fußnote 1), eine solche Diskreditierung zu vermeiden. Toynbee versichert, dass er ausdrücklich den Begriff der Mimesis benutzt, „um die Konnotationen von ,unintelligenter Nachahmung‘ oder ,satirischer Imitation‘, die dem abgeleiteten englischen Wort Mimikry anhängen, zu vermeiden … [sie] bezeichnet soziale Imitationen ,ohne Vorurteil‘.“ Anstelle der Reduzierung auf eine simple, „diskreditierliche“ Auffassung von Mimikry, die nach Gaines „connotations of naïve realism, mindless imitation, mechanical copying, and even animality“ (Gaines, 1999: 93) mit sich bringt, besteht das Ziel darin, Mimesis als „way of knowing“ zu rekonstruieren.28 Solch eine (Neu-)Definition der Mimesis als „Wissensform“, wird, so fährt sie fort, in der Ersten Welt auf Widerstand stoßen, „insbesondere weil das Konzept lange Zeit mit Unwissen oder mit der ,reinen Nachahmung‘, also Reproduktion ohne irgendetwas Neues hinzuzufügen und mit dem Lernen mithilfe des Körpers ohne Beteiligung des Geistes assoziiert worden ist“ (1999: 93 – 4). Nach Gaines wird es Zeit, sich über eine solch eindimensionale Sicht der Mimesis hinwegzusetzen, denn obwohl definitiv ein Element von Mimikry vorliegt – und auch häufig leicht zu erkennen ist – ist dies im Gesamtprozess nicht entscheidend sondern eher irreführend. Die dritte Mimesis-Problematik, derer man sich bewusst sein sollte, besteht darin, Mimesis als „ansteckend“ aufzufassen. Bei dieser Metapher geht es einerseits um die Ausbreitung von Krankheiten und generell schädlichen (oder störenden) Einflüsse und in einem weiteren Sinne um die Vorstellung,
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dass Verhaltensmuster, Ideen oder Emotionen sich von Person zu Person und von Gruppe zu Gruppe weiter verbreiten. Diese überaus naturalistische und deterministische Konzeption schlägt sich beispielsweise in Brintons Formulierung der Revolution als Fieber (1965: 16), in dem auf revolutionäre Situationen angewendete Ausdruck „Quarantänesperre“ und sogar auf eine gewisse Weise in der „Domino-Theorie“ nieder. Dieser zufolge reicht ein Vorfall aus, um andere folgen zu lassen, wie Dominos, die der Reihe nach umfallen. Während es durchaus möglich ist, „[dass] ansteckendes Verhalten … einen plötzlichen Ausbruch revolutionärer Aktivität schüren kann“ (Walt, 2000: 36), würde sich dieser Ausbruch wohl eher in der Form von Widerstand oder Rebellion ausdrücken (die natürlich selbst Vorläufer revolutionärer Situationen sein können, man denke nur an die verschiedenen osteuropäischen „Samt-“ oder „Farbrevolutionen“). So überzeugend dieses Konzept also auch wirken mag, es stellt die Mimesis als einen nicht-menschlichen Prozess dar. Ohne in irgendeiner Weise die angesprochenen Problematiken schmälern oder außer Acht lassen zu wollen, können wir feststellen, dass Mimesis mehr ist als konservative Konsolidierung oder das, was wir mit Imitation (ganz zu schweigen von der Authentizitätsproblematik) oder schlicht Ansteckung assoziieren. Die Menschen sprechen oft über Veränderungen, besonders darüber, ob diese Veränderungen möglich sind oder nicht. Häufig glauben sie entmutigend geringen Chancen zum Trotz daran, dass sie möglich sind, doch in den seltensten Fällen versuchen sie, diese Veränderungen selbst zu bewirken. Es gibt Beweise dafür, dass der Entschluss zu Widerstand, Rebellion oder Revolution zum Teil daher stammt, dass die Beteiligten wissen, dass andere Menschen an anderen Orten zu anderen Zeiten und unter anderen Umständen sich ebenfalls dazu entschlossen haben. Manchmal sind diese Situationen auch näher, möglicherweise handelt es sich um den gleichen Ort, die gleiche Zeit oder die gleichen Umstände und vielleicht sind diese „anderen Menschen“ Vorfahren oder sogar Familienmitglieder. Somit wissen die Beteiligten, dass Veränderung machbar ist, sie haben gesehen, wie es gemacht wird, und dadurch scheint es real und möglich. Dies kann zum Teil mit einer Vereinnahmung von Liedern oder Symbolen einhergehen, allerdings sind diese meist von nur oberflächlicher Bedeutung. Doch die Inspiration ist da, ein Lernprozess kann stattfinden und eine Erzählung davon, was möglich ist, ist überaus wirkungsvoll. Ein nicaraguanischer Revolutionär der ersten Stunde erzählte mir davon, wie er und die anderen vom „Triumph“ in Kuba inspiriert wurden. Wie er mir mitteilte, war ihre Überlegung simpel: „Wenn die das dort machen können, so können wir es auch hier machen.“ Das „die“ und das „wir“ in dieser Äußerung sind von Bedeutung. Denn Mimesis wird, wie Erinnerung und Mythos, erst völlig und auf produktive
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Weise erfassbar, wenn man sie als kollektives oder „kulturelles“ Konzept begreift. Alle drei Faktoren sind in der Gemeinschaft am lebendigsten und ihre Lebhaftigkeit ist entscheidend für ihre Macht. Dies spiegelt sich sehr gut in Cantwells Begriff der „Ethnomimesis“ wider, wobei „Ethno“ für „Gruppen und die sie konstituierenden Kräfte“ steht und Mimesis sich als „kompliziert, aber nicht geheimnisvoll“ (1994: 5) darstellt. Er fährt fort, indem er drei Bedeutungen von Mimesis charakterisiert: Erstens „,Imitation‘, was Aristoteles zufolge die primäre Form des Lernens ist“. Diese umfasst, wie Cantwell auf Hume bezogen feststellt, nicht nur das Lernen von anderen Menschen sondern auch von der Welt an sich. Der zweite Punkt ist nach Havelock die „Personifizierung“, welche zumeist jedoch „unbewusst und spontan und überall und ständig in menschlichen sozialen Beziehungen“ erfolgt. Und drittens und vielleicht am interessantesten „das Fortschreiben der Geschichte oder das Heraufbeschwören der Zukunft, das unsere Elite und unsere Volkskultur hervorbringt“ (Cantwell, 1994: 5 – 6). Alles in allem kommt Cantwell zu dem dem Schluss: „[D]emnach ist jegliche Mimesis Ethnomimesis“ (Cantwell, 1994: 6; Hervorhebung im Original). Es ist diese Reflektion der anderen, die Mimesis genau wie Mythos und Erinnerung so überaus wichtig macht. Die bewusste und beabsichtigte Aneignung und Adaption der Handlungen einer Menschengruppe durch eine andere ist ein entscheidender Faktor für das Potenzial soziopolitischen Wandels. Man kann hier legitimerweise den Grad der Intentionalität diskutieren und es gibt mit Sicherheit auch unbewusste Imitationen, es ist jedoch nicht gesagt, dass diese äquivalent wären: Bewusstes und beabsichtigtes Imitieren und Lernen unterscheidet sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf vielen wichtigen Ebenen von einer unbewussten und unbeabsichtigten Imitation. Mimesis ist ein Bestandteil aller Gesellschaften und Kulturen. Häufig beziehen sich die Menschen auf frühere Zeiten, manchmal auch auf aktuelle Ereignisse. Ersteres geht oft mit Vorstellungen von einer heroischen/ epischen Vergangenheit einher, oder einer realen oder imaginierten Zeit, zu der das Leben „gut“ war – gerecht, fair, mit reichlich Nahrung und wenigen Gefahren versehen. Letzteres spiegelt häufiger das wider, was Martin Luther King Jr. (2004: 234) treffend als „die Dringlichkeit der gegenwärtigen Lage“ („the fierce urgency of now“) bezeichnet hat: es passiert etwas, hier und jetzt; es gibt Menschen, die etwas tun, einen Anfang machen, und das können wir auch. Die Menschen erhalten ihre Vorstellung von den Möglichkeiten über andere Menschen, Kulturen und Zeiten, normalerweise durch Geschichten von anderswo, die sie auf ihre jeweiligen Umstände anwenden, sowie über den Gedankengang: „Wenn die das dort machen können, so können wir es auch hier machen.“
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Es ist dieser letzte Faktor – die bewusste Identifikation mit anderen Menschen und ihre Nachahmung –, der für Widerstand, Rebellion und Revolution von besonderer Bedeutung war und ist. Wie die späteren Kapitel zeigen werden, in denen wir Revolutionsgeschichten betrachten, hat in der jüngeren Geschichte kein Ereignis und kein Prozess einen größeren Einfluss gehabt als die Französische Revolution von 1789. Einer der einflussreichsten Spezialisten für diese Revolution, François Furet, stellt fest: „[Sie hatte einen] Anfang, aber kein Ende … ein Versprechen von solchem Ausmaß, dass es unendlich dehnbar wird“ (1981: 3), „ein grenzenloses Versprechen der Gleichheit und einer besonderen Art des Wandels“ (1981: 5). Dies wurde zu dem Erbe, das nachfolgende Generationen unvermeidlich als Versprechen auffassten, selbst wenn es sich nach Furet um eines handelte, „das kein Ereignis je vollständig erfüllen könnte“ (1981: 7). Mayer geht sogar noch weiter, indem er behauptet: „[D]ie Mimesis der sinnbildlichen Französischen Revolution war vermutlich eine ebenso wichtige treibende Kraft in der Russischen Revolution wie die Ideologie, vor allem in den Jahren 1919–21“ (2001: 591). Eine ähnliche Vermutung hegt auch Octavio Paz: „Es war als ob das Mexiko von 1968 eine Metapher der Pariser Kommune oder des Angriffs auf den Winterpalast war: Mexiko war Mexiko, und doch war es eine andere Zeit und ein anderer Ort – eine andere Realität“ (1975: ix). Mythos und Erinnerung vereinen sich immer wieder aufs Neue und führen zu einem tiefgreifenden mimetischen Effekt. Der mimetische Effekt von Revolutionen wird schon seit Langem diskutiert und die „Beispielwirkung“ oft zitiert, wenn auch dieser Tage zumeist in Bezug auf den (angeblichen) Triumph des „Liberalismus“, der „freien Märkte“ und der Institutionen der liberalen Demokratie überall auf der Welt, ein in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts bedeutend weniger hoffnungsvoller Anblick als noch zu Ende des 20. Jahrhunderts. Nichtsdestoweniger erfüllt das Konzept der Beispielwirkung seinen Nutzen für unsere Zwecke, sowohl auf Fälle von Widerstand und Rebellion als auch auf Revolutionssituationen bezogen. Obwohl zutiefst skeptisch über den Stand der (revolutionären) Dinge, muss Knight (2001: 150 n11) doch zugeben, dass die wohlbekannte Beispielwirkung existiert, „which seems to breed political emulation throughout Latin America (perhaps the world).“ Die Formel scheint simpel: An einem oder mehreren Orten lernen Menschen, die sich unterdrückt fühlen, von anderen, mit denen sie sich identifizieren können und die bereits versucht haben, die materiellen und ideologischen Konditionen ihres Alltagslebens zu verändern; sind sie dadurch angemessen inspiriert, versuchen sie selbst, solche fundamentalen Veränderungen zu bewirken. Wieder einmal ist dazu zu sagen, dass diese Vorbilder ihre eigenen Vorfahren, ihre Zeitgenossen oder Menschen an anderen Orten sein können, nah oder weit
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entfernt – man betrachte nur den großen Einfluss, den die Pariser Kommune im Nachhinein bekommen hat, oder die unglaubliche weltweite Resonanz auf die Kubanische Revolution. Während die naturalistischen und deterministischen Anklänge sowie die Auffassung, dass es auf einer „universellen Anziehungskraft“ („universal appeal“, Walt, 2000: 38) beruht, dem Konzept von der Mimesis als Ansteckung einen negativen Beigeschmack verleihen, bleibt es doch ein starkes Bild. Sohrabi stellt unmissverständlich fest: „[D]ie ansteckende Wirkung der Revolutionen kann nicht geleugnet werden“ (2002: 45) und weist sowohl auf augenblickliche mimetische Effekte wie die Konstitutionellen Revolutionen des frühen 20. Jahrhunderts hin (Russland 1905, der Iran 1905, das Osmanische Reich 1908, Mexiko 1910 und China 1911) als auch auf eine weiter reichende Wirkung (der Zeitraum zwischen der Amerikanischen Revolution 1776 und der Russischen Revolution von 1917).29 Arendt (1965: 43) schlägt einen noch weiter gefassten mimetischen Rahmen vor: „[E]s gibt nur eine einzige, ewige Revolution.“ Diese findet, wie sie (1996: 10) ohne jede Geringschätzung bezeichnet, durch „aneignende Mimikry“ („appropriative mimicry“) statt; die Revolutionen beziehen sich aufeinander und kopieren sich. So problematisch das Konzept der Mimesis auch sein mag, so ist doch der Nutzen, der in der Erkenntnis liegt, wie stark sich Menschen auf sich selbst und andere beziehen, zu groß, um ignoriert zu werden. Benjamin (1999d: 720) stellt es so dar: „[W]e must suppose the gift for producing similarities … and therefore also the gift in recognizing them, have changed the course of history.“ Indem er sich auf Benjamin bezieht, schließt Huyssen (2000: 67) überzeugend, dass die „Multivalenz der Mimesis“ sie geradezu dazu prädestiniert, in der Diskussion genau der Art kollektiver Phänomene wie der hier besprochenen Mythen und Erinnerungen eine zentrale Rolle zu spielen. Auch wenn ich „Klassenbewusstsein“ durch „revolutionäres Bewusstsein“ ersetzen würde, misstraue ich genau wie Gaines (1999: 92) der Behauptung, „[dass] der Prozess der Entwicklung von Klassenbewusstsein unbeabsichtigt oder nachahmend ist“, während ich anerkenne, dass es ein „Unbewusstes“ geben mag, welches das bereits entwickelte politische Bewusstsein beeinflusst. Entscheidend für die hier aufgestellte These ist, nicht nur den Punkt auszumachen, an dem die Menschen anfangen, wie Revolutionäre zu denken und zu handeln, sondern auch, wann sie beginnen, sich Geschichten von Widerstand, Rebellion und Revolution zu erzählen und diese für sich anzunehmen. Geschichten, die sie und ihre Handlungen erheben und sie durch den revolutionären Prozess hindurch geleiten.
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Mythos, Erinnerung und Mimesis: Die magische Zahl Drei Der von „Trinität“ oder „Dreifaltigkeit“ abgeleitete Ausdruck „Triune“ kann zur gleichen Zeit Drei und Eins bedeuten. Während Mythos, Erinnerung und Mimesis deutlich voneinander abgegrenzte Aspekte bzw. Elemente sind und zu jedem einzelnen völlig zu Recht eine Unmenge an Literatur und Forschungsarbeit existiert, so formen die drei auch gemeinsam eine Art eisernes Dreieck, das dem Prozess zugrunde liegt, der Menschen zu Widerstand, Rebellion und Revolution veranlasst. Und es sind drei Faktoren, die sie noch stärker machen und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sie die Grundlage für eine Geschichte bilden können, die Menschen für sich annehmen und als deren Teil sie sich selbst sehen können. Erstens sind Mythos, Erinnerung und Mimesis wesentlich stärker und einflussreicher, wenn sie sich von den Träumen und Wünschen Einzelner wegbewegen und kollektiv werden. Zweitens können sie sich in der Kollektivität auf gegenseitig verstärkende Weise verbinden. Drittens können die Menschen, nachdem diese Aspekte Allgemeingut geworden sind, sie auf verschiedenste Weise für eine Reihe von Zwecken adaptieren und nutzen: „[for] confirming their own earlier views, managing relations with others, rationalizing their choices, and providing themselves with the means to organize their own motives“ (Foley, 1993: 231). Gemeinsam bilden Mythos, Erinnerung und Mimesis die Grundlage für die Erstellung und Aufrechterhaltung einer Geschichte von Widerstand, Rebellion und Revolution. Hierbei sollen nicht die strukturellen Faktoren außer Acht gelassen werden, die zu den äußeren Umständen beitragen, zu dem Kontext, in dem diese Geschichten erzählt werden. Ebenso wenig soll die Rolle der Historie geschmälert werden, auch wenn man hier einmal mehr auf Burckhardt (1979: 35) verweisen muss: „[O]ur historical pictures are, for the most part, pure constructions … mere reflections of ourselves“. Material für diese Konstruktionen sind eine Menge überaus selektiver Daten, die von leitender/ staatlicher Seite abgesegnet sind. Auch auf die Gefahr hin, etwas repetitiv zu werden: Mythen stellen in ihren verschiedenen öffentlichen Erscheinungsweisen (siehe Cohen, 1992: 83)30 eine besondere Form des kollektiven Gedächtnisses dar (siehe Barbosa, 2005: 190). Dieses wiederum bilden die Basis für die mimetische Fähigkeit, die weit davon entfernt ist, bloße Imitation zu sein (Benjamin, 1999d: 720), sondern einen Raum für Repräsentation, Erforschung und Möglichkeitserkundung schafft. Große und kleine Mythen, Erinnerungen und das Mimetische – das Wissen, dass andere ihr Leben und die Welt verändert haben – dies alles kann sich auf berauschende, wenn auch verwirrende Weise verketten.
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Hierbei wird die Frage nach Fakt oder Fiktion irrelevant; es kann sogar sein, dass sich die Wahrheit, wie in Kapitel 2 angesprochen, nur in der Fiktion zeigt. Mythos, Erinnerung und Mimesis ermöglichen uns die Untersuchung einiger der auffälligeren und, relativ gesehen, bekannteren Hoffnungsschimmer, die immer wieder aufblitzen, wenn Revolutionäre und Radikale versuchen, die Welt ihren Wünschen entsprechend umzugestalten. Große Teile der Weltbevölkerung fristen selbst zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch ihr Dasein unter der Last der Erfordernisse und Schwierigkeiten des Alltagslebens, welches nur selten mehr bereithält als den „profanen“ Kampf ums Überleben. In ihrer Realität, die häufig nicht explizit vom Bösen oder Dunklen dominiert wird, sondern von verschiedenen Stufen der Unterdrückung und Repression, ist Grau die bestimmende Farbe. Die meisten wünschen sich etwas Besseres für sich, ihre Nachbarn, ihre Kinder und Enkel; und sei es nur, um ihre Ahnen zu ehren (und unter Umständen deren Schicksal zu vermeiden). Das Versprechen von Eindeutigkeit und Klarheit, zumeist in Form einer Geschichte, egal von wem es kommen mag, ist unglaublich verführerisch. Meistens bieten solche Geschichten nicht nur die bewährte Anfang-Mitte-Ende-Struktur, die man zu vielen Zeiten und an den unterschiedlichsten Orten antrifft, sondern auch „Erklärungen“ (egal wie haltbar): wie die Dinge früher lagen, wie es zur augenblicklichen Situation kam und was getan werden kann, um diese zu ändern. Die Chance, die Welt und den eigenen Platz in ihr neu zu gestalten, ist eine „unmögliche Möglichkeit“. Was ein Volk zu einem revolutionären Prozess und seltener auch durch ihn hindurch bewegt, sind mitreißende Geschichten aus der Vergangenheit, die einen Rahmen für die momentanen Anstrengungen bilden und eine bessere Welt versprechen.
Anmerkungen 1 Es gab einen kleinen Boom, die „Originalversionen“ solcher Erzählungen zu finden oder zu erfinden. Eine der ersten (und besten) Sammlungen von Geschichten aus den frühen 1970ern ist Zipes, 1989. Ein schönes Beispiel darin ist die Vision des Merseyside Fairy Stories Collectives (1989) von Schneewittchen als radikaler Aktivistin und beherzter Revolutionärin. 2 In jüngster Zeit gab es unter einigen Märchenforschern eine Debatte, ob diese wirklich ursprünglich Volkserzählungen seien, „a repository of popular wisdoms and oral tradition, which came to rest in the hands of a few compilers in the nineteenth century“, oder vielmehr „highly artificial, manufactured literary productions, pre-distressed, like bluejeans, to look the part“ (Gopnik, 2002: 136; er
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zitiert Bottigheimer, 2002 bezüglich des „artificial, manufactured“ und Tatar, 2002 bezogen auf das Vorangegangene, und vermerkt ihre Übereinstimmung mit der Vorstellung „that fairy tales represent a long line of vernacular folk … stories“). Eine genaue Zahl zu nennen ist schwierig, das liegt zum Teil in den Diskussionen darüber begründet, was genau „eine Aschenputtel-Geschichte“ ausmacht. Einen sehr empfehlenswerten Überblick gibt Windling, 1997. Eine bereits deutlich erkennbare Version wurde Mitte des neunten Jahrhunderts in China verschriftlicht, ihre Wurzeln scheinen jedoch ca. 300 Jahre früher zu liegen: siehe Jameson, 1982: 74 – 5, 77 – 9; oder Heiner, 2007, der die spezifischere „850 – 60 Common Era“ nennt; weniger vertraute Versionen mit einem trotzdem erkennbaren Motiv bestehen seit 2000 Jahren auf dem Balkan (Rooth, 1982: 136). Dundes, 1982 enthält sehr viele Referenzen zu indigenen/„traditionellen“ Versionen Aschenputtels überall auf der Welt. Außer der Vielzahl gut dokumentierter Fälle in jedem europäischen Land und all den europäischen Kulturen und Subkulturen umfassen diese auch: Indien (S. 40, 65, 259), China (S. 71), die „Südsee“ (S. 78), „Annam“ (S. 80), Ägypten (S. 83), die Mongolei (S. 83), Tibet (S. 83), Japan (S. 117), „das südliche Arabien“ (S. 119), „Zentralasien und Byzanz“ (S. 123), „Afrika“ (S. 148), Togo (S. 158), Kamerun (S. 158), Nigeria (S. 158), Mauritius (S. 159), Südafrika (S. 159), Martinique (S. 160), Madagaskar (Malagasy) (S. 160), Angola (S. 161), Brasilien (S. 161), Marokko (S. 164), Java (S. 169), Nordamerika (Zuni) (S. 169), den Iran (S. 181) und Afghanistan (S. 181); Heiner (2007) fügt noch Vietnam und die Algonquin-Indianer hinzu und Brown (1997) ergänzt die Philippinen, Westafrika, Thailand, Korea, Zimbabwe, „Zulu“, und „Ojibwa“. Diese Unterscheidung ist zum Teil geprägt durch Barbosas Trennung von „popular and official [which] exist in the same discursive field“ (2005: 189 Fußnote 3; Hervorhebung im Original). Doch vergleiche Tilly: „the dramatis personae of political conflict, collective action and revolutions changed fundamentally between 1492 and 1992“ (1995: 28). Aber es muss eben auch nicht so sein. Er warnt: „[M]ythical thought … is imprisoned in the vents and experiences which it never tires of ordering and re-ordering in its search to find them a meaning. But it also acts as a liberator“ (LéviStrauss, 1966: 22). Für Doty (1996: 450), nehmen Mythen die Zukunft vorweg, „they guide understandings of the past and the future, the traditional and the anticipated.“ Siehe Selbin (1998; 1999: 80). Sozialwissenschaftliche Konzepte können auch als Mythen gelesen werden. Ich bin anderer Ansicht, doch er fährt folgendermaßen fort: „[There is] an intermediary level. Mythology is static, we find the same mythical elements combined over and over again, but they are a closed system, let us say, in contradistinction with history, which is, of course, an open system.“
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11 Bei Furet (1981: 3) heißt es: „[The] Ancien Régime is thought to have an end but no beginning, the Revolution has a birth but no end“, ein Punkt von einiger Wichtigkeit, auf den wir zurückkommen werden. 12 Einige dieser Mythen könnten auch aus Arabien oder Persien stammen und umgekehrt. 13 Rueschemeyer (2006: 248) erinnert uns unter Berufung auf Sorel und Pareto daran, dass soziale Doktrinen und Theorien durchaus ihre „greatest social power … as myths“ haben können. 14 Es gibt eine beeindruckende Menge an Konzepten, die man lose unter den Begriff „individuelle Erinnerung“ zusammenfassen kann. Halpern (2008: 19 – 20) führt auf: „declarative memory“ (auch bekannt als „explicit memory“ oder „memory with record“, diese beinhaltet „episodic“ und „semantic memory“) an Fakten und Ereignisse, Menschen und Ideen; „implicit memory“ (auch bekannt als „memory without record“ oder „nondeclarative memory“, die wiederum „procedural memory“ beinhaltet) für das „Tun“ („doing“) und „working memory“, verwandt mit „short-term memory“. Dies zeigt, wie sie feststellt, einen völlig anderen Weg auf, über die Erinnerung im chronologischen Sinne nachzudenken und hat einige Wissenschaftler dazu geführt, sich auch auf „long-term memory“ und „sensory memory“ zu beziehen (siehe Assmann, 2006: 212 –13), sowie „procedural“, „semantic“ und „episodic memory“. 15 Ich beziehe mich hier zu einem gewissen Maße auf Zur (1998: 19) und meine „universal“ „[in the sense that] all human beings have the same psychodynamic blueprint and logically, these dynamics follow predictable patterns vis-a-vis certain external stimuli (such as extreme violence).“ 16 Vielen Dank an Harald Wydra für den Hinweis hierauf. 17 Lee (2007: 142) fährt damit fort, Fentress und Wickham (1992: 26, Hervorhebung im Original) zu zitieren und betont das, was ich hier auch immer wieder hervorhebe: „The question of whether we regard these memories as historically true will often turn out to be less important than whether they regard their memories as true.“ 18 „[A]n exploration of cultural texts as repositories of feelings and emotions, which are encoded not only in the content of the texts themselves but in the practices that surround their production and reception“ (Cvetkovich, 2003: 7). 19 Als Lösung schlägt sie vor, spezifischere Begriffe wie „social“, „political“ und „cultural memory“ einzuführen (Assmann, 2006: 222). 20 Seit Anbeginn der Zeiten, so Plumb (1970: 11) haben die Menschen die Vergangenheit auf vielfältige Weise verwendet: „to explain the origins and purposes of human life, to sanctify institutions of government, to give validity to class structure, to provide moral example, to vivify his [sic] cultural and educational processes, to interpret the future, to invest both the individual human life or a nation’s with a sense of destiny.“ 21 Orwells berühmt-berüchtigter (und häufig falsch zitierter) Satz lautet: „[W]ho
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controls the past controls the future; who controls the present controls the past“ (1992: 260). Man denke auch an seine These, dass Geschichte andauernd neu geschrieben wird; „past events [lack any] objective existence, but survive only in the written records and in human memories“ (1992: 222). Dies erinnert an den sogenannten Stoll–Menchú-Fall. Auf der einen Seite haben wir Rigoberta Menchú’s fesselndes testimonio, I Rigoberta Menchú (1987) und auf der anderen die Bemühungen Stolls (2001), diese persönlichen Erfahrungen zu untersuchen – manche sagen auch, sie zu falsifizieren und zu entzaubern. Dies wird dadurch interessanter und problematischer, dass sich testimonio zum Teil als intensive persönliche Beschreibung definiert, die Gemeinschaftserlebnisse umfasst. Rigoberta Menchú beschreibt es folgendermaßen: „[T]his is my testimony. I didn’t learn it from a book and I didn’t learn it alone … My personal experience is the reality of a whole people“ (Menchú, 1987: 1). Eine der berühmtesten Mediationen über dieses Thema ist die Prousts zu den von einem Madeleine hervorgerufenen Erinnerungen, siehe Proust (1981). Der französische Originaltitel lautet „A la recherche du temps perdu“; siehe Proust (1954). Dies steht im Gegensatz zu Assmanns berechtigter Besorgnis über die „imperial dominance of ,one exclusive collective memory‘“ (2006: 210). Unterschiedliche Kontexte beeinflussen die Bedeutung jeder einzelnen Situation und für jede Situation bestehen potenziell mehrere mögliche Kontexte. Bezüglich der Erinnerung sollte man sich immer wieder das feministische Diktum „context is all“ ins Gedächtnis rufen. Zur zitiert Levett (1989: 22): „[E]xpressions of emotion, self and subjectivity are culturally shaped and are embedded in linguistic repertoires“ sowie ihre eigene frühere Arbeit (Zur, 1996). Außerdem vermerken Deleuze und Guattari (1987: 11): „[M]imicry is a very bad concept, since it relies on binary logic to describe phenomena of an entirely different nature.“ Gaines (geleitet durch Taussig, 1993) entlehnt diese Formulierung bei Foucault (1973). Eine dritte Form könnte die kontra-revolutionäre Mimesis sein; man betrachte die folgende, deutlich an die klassische Bastille-Anekdote aus dem ersten Kapitel erinnernde Geschichte. Im Jahre 1905 soll der russische Minister des Inneren A. G. Bulygin zu Bedenken gegeben haben, dass politische Zugeständnisse nötig sein könnten, um das Land zu beruhigen. Zar Nikolas war davon völlig überrascht und sagte zum Minister: „Man könnte meinen, Sie seien besorgt, dass eine Revolution ausbrechen könnte.“ „Eure Majestät,“ war die Antwort, „die Revolution hat bereits begonnen“ (Figes, 1996: 186). Cohen präsentiert fünf Formen dessen, was er als „Mythologisierung“ („mythologization“) bezeichnet: die alltägliche („everyday“), basierend auf den Bildern der Vergangenheit, die Menschen in ihren Köpfen haben; die autobiographische
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Gerücht und Revolution („autobiographical mythologization“); die Mythologisierung, die man in der Kunst findet; die lokale („local mythologization“), typischerweise bei Monumenten, Schreinen, Stehlen, Gedenkstätten etc. sowie die Mythologisierung, die man in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern finden kann.
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Der Aufstand der Anekdoten: Vier Revolutionsgeschichten Der Aufstand der Anekdoten
Revolutionen werden absichtlich von Menschen begonnen, die bewusst ihr Leben und oft auch das ihrer Mitmenschen verändern möchten. Dies steht im Gegensatz dazu, wie Revolutionen häufig dargestellt werden: als unkontrollierbare, unaufhaltsame und meist brutale Naturgewalten. Oder wie es in der denkwürdigen Erklärung des Abolitionisten Wendell Phillips heißt: „[R]evolutions are not made; they come“ (Skocpol, 1979: 17). Ungeachtet ihres Determinismus ist Phillips treffende Zusammenfassung ein perfektes Beispiel der Art von Maxime oder Aphorismus, die wir in einer Geschichte verwenden würden. Menschen sind Geschichtenerzähler. Sie erzählen von ihrem Leben, dem Leben der anderen sowie von der Welt um sie herum und somit sind sie die Schöpfer und Bewahrer der Historie und der Welt, in der sie leben. Revolutionen werden von Menschen gemacht, ihre Erzählungen befähigen sie dazu. Festzuhalten ist: Revolutionen werden von Menschen gemacht. Auch wenn unbeabsichtigte Auswirkungen auftreten oder Umstände, über die sie keine oder nur wenig Kontrolle haben, so sind sie doch immer noch Schöpfer ihrer eigenen Geschichte. Selbstverständlich sind sie nicht die einzigen, die Geschichte machen wollen: genau das wollen auch ihre Gegner, die augenscheinlich einen Nutzen davon haben, ihre Bemühungen zu verhindern und die, wenig überraschend, über ihre eigenen Geschichten verfügen. Sei es Widerstand, Rebellion oder Revolution, Austragungsort der Kämpfe ist für alle Beteiligten die Geschichte, die sie erzählen. Wie sich zeigen wird, können Geschichten ökonomische Nachteile relativieren, soziokulturelle Normen überwinden und sogar über militärische Macht triumphieren. Durch das Erzählen mächtiger und überzeugender Geschichten mit ermutigenden und kraftvollen (beziehungsweise auch entmutigenden, kraftlosen) Handlungssträngen und Narrativiken werden die zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhandenen Möglichkeiten deutlich; im Verlauf des Prozesses zeigen sich weitere. Das Verlangen nach Veränderung ist groß, doch Veränderungen sind oft nicht von langer Dauer, ja sie sind möglicherweise nur flüchtig. Das ist
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jedoch von weniger großer Bedeutung als es den Anschein hat. Taten, die im Moment gescheitert zu sein scheinen, können sich auf lange Sicht als produktiv erweisen, sowohl bezogen auf nicht offensichtliche Veränderungen, die trotzdem für viele wichtig sind, als auch über ihren Beitrag zum Vorrat an Revolutionserzählungen – wie so oft im Leben vieler gibt es auch hier nichts zu vergeuden. Die universelle Prämisse und das elementare Versprechen der Revolutionsgeschichten kommt so treffend in dem Slogan „better must come“1 zum Ausdruck, der mit Michael Manleys radikalem sozialdemokratischen politischen Programm im Jamaika der 1970er Jahre in Verbindung steht. Zusammen mit den Hoffnungen und Träumen der Menschen ist eine weitere entscheidende Komponente des revolutionären Potenzials der Bevölkerung ihre Konzeption von dem, was vorstellbar ist und somit zumindest theoretisch machbar. Diese eng verknüpften Komponenten finden sich sowohl in Cvetkovichs „Gefühlsarchiven“ („archives of feelings“, 2003) als auch in Parkers „revolutionärer Imagination“ („imaginary“, 2003: 46). Sie stellen die Basis für Swidlers „Handwerkszeug“ („tool kits“, 1986: 273) und Tillys „Repertoires der Kollektivhandlungen“ („repertoires of collective action“, 1978: 143) und werden meist in Form von Geschichten ausgedrückt. Manchmal bezeichnen wir diese als Historie, manchmal – wie bereits angesprochen – als Mythen, in Wahrheit haben wir es wohl zwangsläufig mit einer Mischung aus beidem zu tun. Die Menschen bewahren dieses Wissen sowohl alleine (zusätzlich natürlich zur individuellen Erinnerung) als auch kollektiv, und wie bei Mythos und Erinnerung sind die inhärente Gemeinschaft und das gemeinsame Wiedererkennen entscheidend. In den meisten Gesellschaften existieren Geschichten von Widerstand, Rebellion und Revolution angesichts von Not, Unterdrückung und Tyrannei und viele davon nehmen einen wichtigen Platz in der Volkskultur ein. Wenn es Bewegungen gelingt, auf diesen Geschichten aufzubauen, steigt damit ihre Chance auf Unterstützung aus der Bevölkerung und egal wie erfolgreich oder erfolglos ihr Unternehmen sich gestaltet, es wird als das neueste Kapitel der entsprechenden Geschichte geschrieben und gelesen werden. Geschichten definieren uns als Menschen, sie sind die Werkzeuge, mit denen wir die Welt erschaffen, erfassen und verwalten. Widerstand, Rebellion und Revolution erscheinen dann möglich, wenn Menschen mitreißende Geschichten erzählen, die denen, die ihre alltäglichen materiellen und ideologischen Umstände verändern möchte, den Glauben an die Durchführbarkeit dieses Unterfangens vermitteln, ihnen Energie geben und ihnen in manchen Fällen auch Strategien und Taktiken vorstellen, die verwendet werden können. In den meisten Fällen fühlen sich die Menschen von einer dominanten, einflussreichen Geschichte angezogen, häufig ein schweres
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Gebräu aus Namen (typischerweise Helden und Märtyrern), Daten (von Cabrera Infante (1994: 148) treffend als „gebannte Ephemera“ („incantatory ephemera“) bezeichnet2), Orten, zu beseitigenden Missständen und sogar Mitteln und Methoden, alles zusammengefügt zu einer funktionierenden Erzählung.3 Diese einzelnen Teile werden aus erzählten Geschichten, gesungenen Liedern, abgebildeten Orten oder Objekten herausgefiltert und im Stillen zusammengesetzt, vertrauensvoll, mit Hingabe, Überzeugung und manchmal auch Leidenschaft. Und häufig ist da auch noch etwas, das schwerer zu fassen ist: ein Gesichtsausdruck, ein bestimmter Blick, beinahe unmerkliche Gesten oder eine veränderte Körperhaltung, ein Tonfall oder eine Schwingung in der Stimme, ein schnelleres Sprechen oder Zögern, besonders wenn die entsprechende Person ins Träumen gerät oder frustriert vom Versuch ist, etwas Wichtiges zu vermitteln, das man vielleicht nicht in Worte fassen kann, zumindest nicht einem Fremden gegenüber. Beim Versuch, eine nützliche und nutzbare Geschichte zusammenzustellen, verwenden die Menschen die Vergangenheit, sie arbeiten sie so um, dass sie die Gegenwart erklärt und die Zukunft voraussagt, eine Zukunft, die unvermeidlich auf der Gegenwart basiert und den entmutigenden Umständen, mit denen sie konfrontiert sind. An diesen Geschichten kann man also das Zurückgreifen auf Mythos, Erinnerung und Mimesis erkennen – ob bewusst oder nicht – durch das die Menschen ausdrücken, wer sie sind, wohin sie möchten und wie sie dahin kommen. Das Vorhaben dieses Buches besteht darin, die Hauptgeschichten von Revolutionen und verwandten Phänomenen zu identifizieren, hauptsächlich die von Widerstand und Rebellion. Dies soll nicht implizieren, dass es universelle oder weltweit identische Geschichten gäbe, denn jeder Revolutionsfall ist einzigartig. Jeder Fall hat allerdings etwas mit den anderen gemein, wie gering die Überschneidung auch sein mag. Es ist zumindest möglich, grobe Umrisse zu identifizieren, entscheidende Aspekte von kollektiven Handlungen oder kollektivem Verhalten. Man kann bedeutungsvolle Prozesse erkennen und Überlegungen zu Strategien und Taktiken anstellen oder zumindest deren Resultate untersuchen. All dies verdient Beachtung und Aufmerksamkeit: Das Verlangen nach nomothetischen Erklärungen, die „alle“ unsere Fragen beantworten, nach einer Art vereinheitlichten Feldtheorie für radikales Kollektivverhalten, ist groß. Zur gleichen Zeit benötigen wir natürlich auch idiographische Berichte, die diese umfassenden Gesetzmäßigkeiten vertiefen und belegen. Da diese rar gesät sind, werden die Bemühungen dahin gehen, die Breite und Tiefe zu erfassen. Ein möglicher Ansatz dabei könnte sein, elementare Revolutionsgeschichten zu identifizieren, die über Zeiten und Orte hinweg gleichbleibend erkennbar sind.
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Wie sehen die Geschichten aus, die wieder und wieder erzählt werden; die Lieder, die gesungen, gesummt oder gespielt werden; Orte oder Gegenstände, die gezeigt werden, manchmal im Geheimen, oft mit einer Sicherheit, die von Versprechen und Ernsthaftigkeit zeugt, manchmal mit Leidenschaft? Das Letztere ist schwer definierbar, doch im Gespräch mit jemandem, der in Widerstand, Rebellion oder einen Revolutionsprozess involviert war, kann man es sehen, hören und spüren. Wie erklärt man einem Fremden, einem Bekannten oder selbst einem Freund oder geliebten Menschen eine Sache, die gleichzeitig so komplex und so simpel ist? Die Antwort besteht darin, nachzufragen, sich immer wieder zu versichern, dass die Geschichte für den anderen Sinn ergibt, dass sie klar ist, selbst wenn man weiß, dass sie es niemals wirklich sein kann. Eigentlich muss man dabei gewesen sein; Geschichten sind nur unsere besten Bemühungen, diejenigen, die nicht da waren, an die entsprechende Zeit und den entsprechenden Ort zu versetzen. Bezogen auf Widerstand, Rebellion und Revolution spielen Geschichten eine vielseitige Rolle. Die entsprechenden Ereignisse und Prozesse sind gleichzeitig in Kulturen von Widerstand, Rebellion und Revolution eingebettet und konstruieren diese, ja sie erschaffen im Prinzip Genealogien beziehungsweise Netzwerke von Widerstand, Rebellion und Revolution, die wiederum zur Erschaffung von Geschichten dienen.4 Es ist möglich, einige elementare Revolutionsgeschichten auszumachen, die den Großteil der revolutionären Aktivitäten abdecken. Einige sind elitäre Geschichten „von oben“, die zumeist berühmte Charaktere beinhalten, sich auf weitreichende Prozesse und große, epische Ereignisse beziehen. Es ist nicht ungewöhnlich für diejenigen, die sie erzählen, die entsprechenden Figuren und Umstände je nach beabsichtigter Wirkung den Erzählungen „anzupassen“. Dann gibt es noch die volksnäheren Geschichten, die von unten kommen, oft „kleinere“ Geschichten, die sich um weniger bekannte Figuren ranken oder Figuren, die zwar berühmt sind, aber durchaus eher als volksnah denn als elitär gelesen werden können. Weniger oft erwähnen oder behandeln diese Geschichten die eigentlichen großen Prozesse, sie widmen sich eher kleineren Ereignissen und messen ihnen große Bedeutung zu. Wie in Kapitel 1 besprochen, lautet die Frage, wie potenziell inkongruente Elemente wie Hoffnungen, Träume und Wünsche; Wut, Verbitterung und Trauer; sowie Engagement, Ängste und Leidenschaft sich verbinden und gemeinsam etwas schaffen können, das größer ist als die Summe der Teile. Wie werden die revolutionären Vorstellungen der Menschen angeregt, wie ihre revolutionären Gefühle erweckt und wie kommt es dadurch zu revolutionären Situationen? Wieder einmal beginnt eine Geschichte – eine Geschichte vom Wandel des Unmöglichen zum Möglichen zum Wahrscheinlichen. Dies ge-
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schieht so bereits seitdem Menschen Geschichten erzählen, doch zu ergründen, wie dieser Prozess abläuft, warum, wo und wann, bleibt eine Herausforderung. Begleitend zum gesamten revolutionären Prozess gibt es anspornende, inspirierende und zur Vorsicht mahnende Geschichten, die den Menschen helfen, den Weg zu finden. Die meisten dieser Geschichten gehen nicht unbedingt gut aus, „das Volk“ wird oftmals auf die ein oder andere Weise besiegt, nicht zuletzt auch durch sich selbst. Und natürlich werden Geschichten auch von denen „auf der anderen Seite“ verwendet, Gegengeschichten, wenn man so will, manchmal unter Verwendung der gleichen oder ähnlicher Elemente. Die Welt ist voll von Geschichten und obwohl sie auch warnen oder zurückhalten können, so gilt doch: Wo Geschichten sind, da ist Hoffnung und da sind Möglichkeiten. Auf welche geheimnisvolle Weise begeben sich die Menschen in einen revolutionären Prozess hinein und vollziehen ihn durch alle Phasen, den geringen Chancen und entmutigenden Aussichten zum Trotz? Die „geläufige“ Antwort hierauf, geprägt von denjenigen, die revolutionären Prozessen mehr oder weniger feindselig gegenüber stehen, beinhaltet relativ wenig Geheimnisvolles und ein klares Muster sowie eine deutliche Abfolge von Ereignissen: eine Gruppe Revolutionäre – die in letzter Zeit häufig als eine Art Führungselite dargestellt wird – mobilisiert und leitet eine ihnen folgende Bevölkerung (von Revolutionären und Gegnern als „die Massen“ bezeichnet) im Kampf gegen die Unterdrücker – eine kleine elitäre Schicht und deren ausländische Verbündete. Die Mittelschicht steht, sofern sie überhaupt existiert, im Kreuzfeuer dazwischen. In den seltenen Fällen, in denen die Macht des Staates niedergeschlagen wird, bauen die Revolutionäre einen neuen Staat auf und erschaffen eine neue Gesellschaftsordnung nach neuen materiellen und ideologischen Gesichtspunkten. Dabei begeistern sie genug Menschen, damit der Prozess fortschreiten kann. Scheitert dies, kann es passieren, dass sie die Menschen aufs Neue unterdrücken müssen. Ungeachtet der Frage nach ihrer Richtigkeit ist diese Erzählung die Geschichte der Revolution, wie man sie in letzter Zeit häufig antrifft, oft werden ohne Rücksicht auf die jeweiligen Umstände die einzelnen Fälle in dieses Schema hineingezwängt. Keine Geschichte ist nur für sich und aus sich heraus ausreichend. Doch Geschichten sind der Grund, warum Revolutionen gemacht werden. Geschichten sind ein zentraler Bestandteil all dieser Prozesse, sie sind nicht der einzige Faktor, doch ohne sie gibt es keinen Widerstand, keine Rebellion und keine Revolution. Man kann also Nicaragua 1979 als eine Neuerzählung von Kuba 1959 sehen, das wiederum als Russland 1917 gelesen werden kann, selbst bekanntermaßen von vielen als eine Wiederaufführung und Aktualisierung von Frankreich 1789 verstanden. Dies ist genau die Geschichte der Sozialrevolu-
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tion, die den meisten von uns vertraut ist (und auf die ich in Kapitel 6 näher eingehen werde): heroische Kämpfe um die Seelen der Menschen und Bemühungen um eine grundlegende Änderung der materiellen und ideologischen Umstände. Doch diese Vorstellung verschleiert ebenso viel, wie sie erhellt und kann durchaus in die Irre führen. Es ist natürlich sinnvoll, die Revolution in Nicaragua als in der Tradition der beinahe 200 Jahre zurückliegenden Französischen Revolution stehend zu sehen; dies erstellt einen Kontext, weist auf die Akteure hin, die wahrscheinlich involviert sind, offeriert mögliche Gründe und Konsequenzen sowie Interessen und Ziele und beleuchtet die vorliegenden Problematiken und Dynamiken. Und doch heißt dies nicht nur Zeit, Ort und Kultur zu ignorieren, sondern auch die Veränderungen, die nach so vielen Generationen unvermeidlich auftreten. Von Übermittlungsund Übersetzungsproblemen ganz abgesehen, passt selbst die zeitlich wesentlich nähere und zu einem gewissen Grad bewusst kopierte Kubanische Revolution von 1959 nicht unbedingt ins Schema, da diese in einer Zeit geschah, in der ein „dritter Weg“ für viele in der „trikontinentalen“ Welt der blockfreien Länder immer noch möglich schien.5 Ich möchte hiermit nicht den Eindruck erwecken, solche Vergleiche könnten nicht auch nützlich sein oder irgendeine Revolution sui generis bevorzugen. Man sollte sich allerdings immer vor Augen führen, dass jeder Fall eine eigene Geschichte hat, selbst, wenn man gemeinsame übergreifende Geschichten ausmachen kann, und dass jede etwas zur reichhaltigen Sammlung revolutionärer Erzählungen beiträgt.
Die Problematik der Geschichten zum Zweiten: einige Vorbehalte Trotz der wiederholten Darstellung von Widerstand, Rebellion und Revolution als eine Art (heilige) Dreifaltigkeit sind diese nicht das Gleiche und sie sind selten austauschbar; es wurde schon viel Zeit und Energie darauf verwendet, die Unterschiede zu definieren (siehe Kapitel 1). Obwohl es Ähnlichkeiten gibt – es handelt sich um ein Kontinuum kollektiver Verhaltensweisen – so sind weder Widerstand noch Rebellion zwangsläufig revolutionär und ihre Geschichten sind auf grundlegende Weise verschieden. Generalisierend dargestellt sind Widerstandsgeschichten normalerweise geringer im Wirkungsgrad (doch haben sie teils einen sehr großen Wirkungsbereich), regional zentriert und sie beinhalten „die Waffen der Schwachen“ („weapons of the weak“ Scott, 1985); Rebellionsgeschichten wiederum sind enger gefasst, konzentrieren sich auf bestimmte Missstände und gehen zumeist übel aus – Errungenschaften gehen häufig verloren und müssen wieder erkämpft werden. Beide Geschichtenarten können, wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird,
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durchaus zu einem revolutionären Umfeld beitragen. Sie beflügeln revolutionäre Vorstellungen, steigern revolutionäre Gefühle und intensivieren die Situation in einem Maße, dass Revolution nicht nur als möglich sondern auch als unausweichlich erscheint. Die Konstruktion einer solchen Unausweichlichkeit ist keine Kleinigkeit, wenn man sich das signifikant konservative Element vor Augen führt, das Geschichten, wie sie gemeinhin verstanden werden, inhärent ist. Allein die Zeit und Energie, die man auf das Auswendiglernen verwendet, können die Berücksichtigung und das Erwägen weiterer Möglichkeiten verhindern. Außerdem sind beispielsweise die meisten Märchen von Hause aus traditionalistisch geprägt, sollen Kindern ein mahnendes Beispiel liefern und sie in vorgeschriebenen Verhaltensweisen bestärken. Doch das subversive Element, das sich in vielen Geschichten versteckt, ist nicht allzu schwer auszumachen: die Älteren sind häufig bestenfalls Narren oder im schlimmsten Fall verlogene Mörder; nur weniges ist so, wie es scheint und nur diejenigen, die besonders begabt oder gelehrt sind, können sehen, was wirklich passiert. Es gibt also einerseits Geschichten und andererseits die Geschichten in ihnen. Viel hängt davon ab, wer die Geschichte erzählt, in welchem Kontext dies geschieht und welche Lebenserfahrungen der Zuhörer hat. Historisch wurden Revolutionen oftmals als Anfälle von Gewalttätigkeit oder Ausbrüche unkontrollierbarer Leidenschaften dargestellt, teils von Verschwörern angetrieben, die nicht in der Lage sind, die Massen zu kontrollieren, die sie angestachelt haben und die unausweichlich (hier erinnert das Ganze an eine nur schlecht verhüllte Moralpredigt) alles ruinieren müssen, was gut und vernünftig ist, gleich einer verheerenden Seuche oder einer schrecklichen Naturkatastrophe. Dies ist im Prinzip die Sichtweise, in der die Revolution als „Feuer in den Köpfen der Menschen“ gilt („fire in minds of men“).6 Und natürlich bewirkt Feuer eine Zustandsänderung, es ist also im revolutionären Kontext eine durchaus evokative7 und nützliche Metapher, wenn auch keine Anleitung. Ohne Frage ist Gewalt ein großer Faktor bei vielen revolutionären Prozessen (viel davon ausgehend von Konterrevolutionären) und im Anschluss an einen politischen Sieg gehen die Gewalttätigkeiten oft noch weiter. Nur selten gibt es innerhalb eines revolutionären Prozesses Gewalt nur um der Gewalt willen, einen radikalen Blutrausch, doch es hat Exzesse gegeben. Dies ist in Zeiten dramatischer Veränderungen und Möglichkeiten nicht überraschend. Die Inbrunst der Menschen ist oft sehr einprägsam, sie ist etwas, an das sie sich noch in Generationen erinnern und worüber sie sprechen werden und man kann deutlich die Hingabe in ihren Taten und die Wärme in ihren Erzählungen spüren. Es ist außerdem sehr irreführend, die Komplexität und Verschiedenheit der Völker zu ignorieren und die (hinterher
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zwangsläufig bedauernswerte) zerstörerische „Hitze des Augenblicks“ anzuführen. Die Metapher von der Revolution als „Feuer“ verhüllt mehr als sie erhellt. Hier geht es weder um Ausbrüche oder Anfälle noch um kleine Verschwörungen quasi-professioneller Revolutionäre, die undurchschaubare und geheime säkulare Ideologien weitergeben (zu einem „revolutionären Glauben“ transsubstantiiert), und damit den verlorenen religiösen Glauben ersetzen. Zwar tauchen von Leidenschaft erfasste Menschen und Momente des blinden Eifers recht häufig in den unzähligen Erzählungen auf, die in unseren Geschichten enthalten sind, doch sie sind auch nur ein Teil der Geschichte.
„Aufstand der Anekdoten“ Meine These sollte inzwischen deutlich geworden sein: Revolutionen entstehen nicht einfach aus sich heraus, wie romantisch und dramatisch das auch klingen mag, sondern sie werden absichtlich von Menschen begonnen, die bewusst ihre Welt verändern möchten – wenn auch unausweichlich mit Konsequenzen, die sie sich vorher nicht vorstellen können, und unter Umständen, über die sie nur wenig Kontrolle haben. Das primäre Mittel hierfür ist das Erzählen fesselnder Geschichten mit mitreißenden und wirkungsvollen Plots. Diese Bemühungen werden dadurch nicht weniger wichtig, dass sie überaus instabile und häufig nur flüchtige Resultate erzielen. Scheitern – also die Unfähigkeit, die verfolgten Ziele zu erreichen – ist die Norm, doch häufig bewirkt es trotzdem Veränderungen und, was noch wichtiger ist, es fügt neue Erzählungen zu den genannten hinzu, zum stetig wachsenden Speicher der Revolutionsgeschichten. Wie für so viele in einem großen Teil der Welt, gibt es wenig zu vergeuden. Erfolge, Misserfolge und das, was dazwischen liegt, alles wird Teil der revolutionären Überlieferung. Die Wahrnehmung der Bevölkerung von den verfügbaren Optionen ist die bestimmende Komponente des revolutionären Potenzials. Der von den Menschen gemeinsam gepflegte Wissensspeicher dient als Basis für das, was vorstellbar und somit machbar ist: „,tool kits‘ of symbols, stories, rituals and world views“ stellen die Grundlagen für Handlungsstrategien („strategies of action“ Swidler, 1986: 273) und Repertoires von Kollektivhandlungen („repertoires of collective action“ Tilly, 1978: 143) dar. In den in jeder Gesellschaft vorhandenen verschiedenen Kulturen lernen die Menschen aus unterschiedlichen Quellen, wie man leben, lieben, kaufen, sprechen und zuhören sollte, mit anderen Worten: wer und wo man sein sollte. In Gesellschaften, in denen eine Revolution als eine mögliche Antwort auf Unterdrückung betrachtet wird – aufgrund einer Historie voll von rebellischen
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Aktivitäten, die in der Volkskultur gefeiert werden, oder aufgrund von Revolutionsführern, die solche Traditionen in der lokalen Kultur verankert haben – ist es wahrscheinlicher, dass revolutionäre Handlungen unternommen werden, sie eine breite öffentliche Unterstützung erfahren und sie erfolgreich sind.
Wer erzählt die Geschichten und wer hört sie? Wie können solche Geschichten zum Leben erweckt werden und durch wen? Nehmen wir ein simples und doch anschauliches Beispiel. Während der revolutionären Kämpfe in Kuba 1958, als die Dinge sich noch in der Schwebe befanden, traf Fidel Castro, der Anführer der Hauptrevolutionsbewegung, eine bedeutungsvolle Entscheidung ausgehend von einer Geschichte aus dem Unabhängigkeitskrieg von 1895, als dessen Erben sich die modernen Revolutionäre betrachteten. Laut der kubanischen Volkserzählung steckten zwei der größten Helden des Kampfes, Antonio Maceo und General Máximo Gómez, vielleicht auf Geheiß von Kubas größtem Nationalhelden José Martí, die profitablen Zuckerrohrplantagen der Insel in Brand. Dies war ihr Zeichen für Hingabe, Widerstand und die Bereitschaft der Kubaner, alles für ihre Unabhängigkeit von Spanien zu opfern. Ungefähr 60 Jahre später vereinte Castro in einer entscheidenden Phase des Kampfes mit dem Ziel, den kubanischen Freiheitskampf heraufzubeschwören und die Vorstellungskraft des Volkes zu bannen, seine beiden charismatischsten Leutnants Ché Guevara und Camilo Cienfuegos und ließ sie den 1895er „Brandmarsch“ des Unabhängigkeitskrieges nachstellen, das berühmte Ereignis, bei dem die Rebellen die Zuckerrohrfelder in Brand gesetzt hatten. Dies erwies sich als brillanter Schachzug, der auf mehreren Ebenen erfolgreich war: militärisch, psychologisch und kulturell. Handlungen müssen nicht unbedingt revolutionär sein, um bedeutend zu sein, obwohl das, was als revolutionär gilt, je nach Gesellschaft oder Kultur stark variieren kann. In jeder Kultur gibt es mythische Geschichten, die über die Zeiten hinweg für verschiedene Menschen unter verschiedenen Umständen von Bedeutung sind. Während die Einzelheiten unterschiedlich sein mögen, so bauen diese Geschichten doch immer auf den Idealen auf, die bereits bei der Untersuchung des Mythos zur Sprache kamen: Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, Demokratie und vielfältige Möglichkeiten. Solche Ideale und Idealisierungen sind in einer Welt, in der sie im Alltag der Menschen recht selten vorkommen, überaus mächtig und mitreißend. Obwohl das Ausmaß und die Reichweite der entsprechenden Geschichten stark variieren können, bringt das Verfolgen der genannten Ideale zwangsläufig Not und Entbehrun-
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gen mit sich, und der Kampf ist häufig beschwerlich und belastend. Manchmal wird er durch Pausen, ja selbst durch Langeweile, unterbrochen und es stellt sich heraus, dass Geduld ein extrem wichtiger und manchmal entscheidender Faktor ist. In diesen Geschichten schafft es nicht jeder bis ans Ziel und die Verluste und Rückschritte verleihen dem Ergebnis einen bitteren Beigeschmack. Die Macht und das Versprechen solcher Geschichten sind immens und Verbindungen zu ihnen herzustellen, ja sie zeitweise sogar explizit zu übernehmen, kann ein entscheidender Vorteil für diejenigen sein, die einen sozialen Umbruch anstreben. Man nehme beispielsweise die Exodusgeschichte der hebräischen Bibel, die Revolutionären und Rebellen häufig als Referenz gedient hat, nicht zuletzt in den Sklavenaufständen – und eigentlich an jedem Ort, der mit dem Christentum in Berührung gekommen ist. Die groben Züge sind bekannt und wir sind im Großen und Ganzen mit den Implikationen der Geschichte vertraut: ein böser König, ein „verlorenes“ und bedrängtes Volk, einige mutige Anführer, mindestens einer von ihnen durch eine Vision motiviert (dem es aber unter Umständen nicht gelingen wird, zusammen mit denjenigen, die ihm folgen, das gelobte Land zu erreichen, wo Milch und Honig fließen), eine Glaubenskrise in einer kritischen Phase sowie die Ermahnung, „niemals zu vergessen“ und die Geschichte an andere weiterzugeben, sodass sie verstehen, träumen und ihren eigenen Kampf beginnen können.8 Während die Exodusgeschichte wohl im Prinzip am sinnvollsten als Befreiungsgeschichte gelesen werden kann, in der eine äußere Macht die entscheidende Rolle spielt und nicht die Menschen selber, ist es sicherlich kein Zufall, dass Revolutionäre zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten sich selbst als die modernen biblischen Israeliten verstanden haben, die gegen die jeweilige Inkarnation des Pharaos kämpfen. Die Schlüsselelemente des Plots sind sicherlich vorhanden oder leicht auf den jeweiligen Kampf zu beziehen. Menschen entwickeln ihre eigenen Geschichten, die dazu dienen, ihre Gemeinschaft, ihren Platz in der Welt und sogar das, was möglich ist, zu definieren. Deshalb versuchen die Anführer revolutionärer Prozesse bewusst, Erzählungen zu konstruieren, die auf Elementen vorhandener Geschichten aufbauen und die das Einhergehen von lokaler und universeller Relevanz betonen. Ihre Fähigkeit, mitreißende Geschichten zu konstruieren, entscheidet mit über den Erfolg der revolutionären Unternehmung. Die Verknüpfung mit früheren Kämpfen (sei es Castro in Kuba, die Sandinisten in Nicaragua oder die modernen Zapatisten in Mexiko), mit der traditionellen Kultur (wie beim afrikanischen Sozialismus in den 1960ern), oder mit den „Nationalgeschichten“ (zuletzt bei den osteuropäischen „Farbrevolutionen“) schafft für Anführer und Anhänger einen vertrauten Kontext.
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Führung ist wichtig und obwohl manchmal als Faktor überschätzt, ist sie nichtsdestoweniger unverzichtbar (vgl. Foran et al., in Kürze erscheinend, Kapitel 6). Doch Anführer erzählen die Geschichten, die sie vereinnahmen und adaptieren möchten, nicht etwa einem passiven Publikum; vielmehr ist der Dialog mit der Bevölkerung, wie Freire feststellt: „radically necessary to every authentic revolution“ (1970: 122). Das Thema „Authentizität“ habe ich schon früher angesprochen, vor allem in Kapitel 2, es soll hier ausreichen, dass die Authentizität eines jeden revolutionären Prozesses von den Einschätzungen derjenigen abhängt, die in dessen Zentrum stehen. Hierbei ist die zutiefst dialektische Natur des Verhältnisses zwischen „Anführern“ und „Geführten“ von großer Bedeutung, denn keine Gruppe kann ohne die andere erfolgreich sein (oder auch nur ihre Bemühungen aufrechterhalten). Anführer und Geführte müssen aktiv involviert sein, um einen Wandel herbeizuführen. Während also Führung entscheidend und notwendig ist, so ist ihr Vorhandensein doch noch keine Garantie für Widerstand, Rebellion oder Revolution. Ohne die Einbeziehung der Menschen, in deren Namen die Anführer zu handeln beabsichtigen, ist ein sinnvolles Handeln nicht möglich und revolutionäre Aktivitäten müssen in überflüssigen und zu nichts führenden „groupuscules“ enden.9 Wenn sie an die Macht gelangen sollten, sind Revolutionäre, die nicht im Dialog mit der Bevölkerung stehen, nicht nur dazu verdammt, die gleichen repressiven Umstände wieder einzuführen, gegen die sie ursprünglich gekämpft haben, sondern auch dazu, nur ein weiteres Kapitel (vielleicht auch nur ein Abschnitt oder eine Fußnote) in der Geschichte des Volkes zu werden. Statt als Befreier und Visionäre, die sich der Verbesserung der Lebensumstände für alle verschrieben haben, wie sie es ursprünglich sein wollten, finden sie sich in der Position isolierter, entfremdeter oder sogar aktiv unterdrückender Anführer wieder. Für die Bevölkerung hat sich nichts geändert, für sie handelt es sich nur um eine weitere grausame Drehung des Rades der Geschichte. Es ist also für Revolutionäre von großer Wichtigkeit, eine Geschichte zu finden, die sie im Dialog mit der Bevölkerung einsetzen können. Die Bevölkerung wiederum mag nun auf diese Geschichten reagieren, oder auch nicht; oftmals schreiben sie ihre eigenen Versionen oder passen die Erzählungen der Revolutionäre an ihre eigenen an. Die Menschen haben immer ihre Geschichten, ihre Erzählungen und Revolutionäre oder Konterrevolutionäre finden entweder eine Möglichkeit, an diese anzuknüpfen, oder auch nicht. Wenn sie damit erfolgreich sind, so ist es wahrscheinlicher, dass eine revolutionäre Situation aus den Vorstellungen und Gefühlen der Menschen heraus erwächst, und manchmal siegen sie sogar. Eine Revolution wird nicht
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von den Revolutionären für die Bevölkerung gemacht; auf der anderen Seite kann sie aber auch nicht ohne sie geschehen. Die Kommunikation muss in beide Richtungen erfolgen und Geschichten sind der Schlüssel dazu. Geschichten schreiben auf vielfältige Weise Historie und Erinnerung um, bevölkerungsübergreifend wie persönlich. In einer gewissen Weise sind Revolutionen weitreichende Netzwerke mit unzählbar vielen Ein- und Ausgängen sowie Knotenpunkten der soziopolitischen und kulturellen Organisation. Revolutionen wurden im Allgemeinen auf der Basis des Verhältnisses beurteilt, das die Bevölkerung zu den Revolutionären, zueinander und zum Revolutionsprozess an sich hat. Wenn Hobsbawm (1986: 21) damit Recht hat, dass „große Revolutionen“ wie Frankreich 1789, Russland 1917 und China 1949 nicht über die Erlangung der Staatsgewalt definiert sind, sondern über das Erschaffen einer neuen Orientierung für die Gesellschaft, so wird die jeweilige Revolutionsgeschichte zu einem absolut entscheidenden Faktor. Eine Revolution, die nicht in der Lage ist, eine klare und überzeugende Geschichte zu erzählen, findet sich höchstwahrscheinlich auch nicht auf dieser Liste wieder.
Revolutionsromantik und revolutionäre Tradition Der indonesische Präsident Sukarno, Schlüsselfigur für die Unabhängigkeit des Landes und selbsternannter Revolutionär, erklärte in seiner Rede zum Unabhängigkeitstag 1960: Ich gehöre zu einer Gruppe von Menschen, die in spiritueller Sehnsucht durch die Revolutionsromantik verbunden sind. Ich bin von ihr inspiriert, ich bin von ihr fasziniert, ich bin völlig in ihren Bann gezogen, sie macht mich verrückt, ich bin besessen von der Revolutionsromantik. Und dafür spreche ich Gott, der über alle Wesen herrscht, meinen Dank aus (1970).10
Diese „Revolutionsromantik“ scheint zeitlose Tradition zu haben. Die meisten modernen Auseinandersetzungen mit der Revolution beginnen in der Nachaufklärung, normalerweise mit Frankreich 1789, gemeinhin als Ende der „alten Ordnung“ und Beginn der neuen betrachtet.11 Nichtsdestoweniger gab es auch Tausende von Jahren vor 1789 bereits deutlich erkennbare, bedeutsame Akte von Widerstand, Rebellion und Revolution. Obwohl wir uns natürlich davor hüten sollten, Spartakus’ Sklavenrevolte, die biblische Exodusgeschichte oder die Vielzahl indigener und späterer Sklavenrevolten in Südamerika als moderne Revolutionen umzuschreiben, wäre es nachlässig, das revolutionäre Element dieser Erzählungen oder das Ausmaß, zu dem sie andere beeinflusst haben, zu ignorieren.
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Die Revolutionsromantik ist eine komplizierte Angelegenheit und keine durchweg positive. Viele Menschen sind durch ihren Idealismus in einen revolutionären Prozess hinein gezogen worden; viele sind dabei gestorben und noch mehr sind enttäuscht und entmutigt worden. Damit muss man rechnen, denn wie sollten auch die Ereignisse in der echten Welt, in der realen, existierenden Praxis von Widerstand, Rebellion und Revolution mit Geschichten und Vorstellungen mithalten können? Doch damit Revolutionen überhaupt beginnen können, damit Hoffnungen und Träume sich vereinen können, muss es Leidenschaft und Hingabe geben, es muss eine gewisse Romantik existieren, welche die Herzen und Köpfe der Menschen erfasst. Trotz solcher Vorwürfe handelt es sich bei der Romantisierung des bewaffneten Kampfes, dem damit einhergehenden Blutvergießen und der Aufwertung von Helden und Märtyrern nicht nur um ein Gesellschaftsspiel von „Western romantics and political scientists“, wie Geertz (2000: 22) im Bezug auf Indonesien vermutet, oder wie es Sánchez Lira und Villarreal (1995: 223) bezüglich „North American leftist intellectuals“ und deren Blick auf „violent social processes south of the border“ mutmaßen. Auch die naive, teils etwas einfältige Faszination der Jugend für die Revolution ist nicht der entscheidende Faktor. Selbst Kubaner, die von den Resultaten der Revolution nicht mehr allzu begeistert sind, bleiben doch stolz auf das, was sie getan haben und warum sie es getan haben und erinnern sich an die Romantik der barbudos; Nicaraguaner werden poetisch, wenn sie von den heldenhaften Guerillakriegern in den Bergen erzählen und der Landbevölkerung, die sie ernährte (wenn es auch die Armen in der Stadt waren, die einen großen Teil des Kämpfens und Sterbens übernahmen; Massey 1987: 20 – 21), und selbst in Russland ist es möglich, einzelne zu finden, die sich nach Ambition und Grandezza der Revolution sehnen, die sie vom Hörensagen kennen. Trotz Elend und Gewalt liegt über dem ganzen Prozess eine Aura von Dramatik und Spannung (inklusive Angst), die in dieser Form rar, berauschend, ja in gewisser Weise mythisch ist. Viel davon zeigt sich in der Konzentration auf Individuen, einzelne Revolutionäre, die als romantische Helden dargestellt werden. Wie es Almond (1996: 19) ausdrückt: „[G]eschichten von individueller Tapferkeit sind meist inspirierender als abstrakte Ideale … Menschen, die inbrünstig an etwas glauben, sind häufig sehr mitreißend – selbst wenn sich ihre Überzeugungen nicht mit unseren eigenen decken.“ Dazu addiere man ihre häufig tragischen Schicksale und erhalte Helden, die kurz und intensiv leben, vor ihrer Zeit sterben und eine schöne Geschichte hinterlassen – Märtyrer für die Sache, durch Selbstaufopferung geadelt und geliebt von den Göttern, die sie zu sich rufen, sowie von denen, die sie zurücklassen.
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Der Italiener Giuseppe Garibaldi war einer der ersten großen romantischen Revolutionäre. Er kämpfte erst für ein vereintes Italien, dann für die Unabhängigkeit Brasiliens und die Uruguays und kam dann zurück, um in einigen der Revolutionen von 1848 in den Regionen mitzukämpfen, die sich schließlich zu Italien zusammenschließen sollten – ein Kampf, der ihn den Rest seines Lebens begleitete. Er war der Ché Guevara des 19. Jahrhunderts. Der Mexikanischen Revolution entstammt eine der prägendsten Revolutionsfiguren des 20. Jahrhunderts, Emiliano Zapata, der radikale Bauernvertreter, der erklärte, es sei „besser, auf den Füßen zu sterben, als auf den Knien zu leben“ (dieser Ausspruch stammt allerdings unter Umständen von einem weiteren Revolutionsmärtyrer, Práxedis Guerrero; siehe Albro, 1996). Am anderen Ende des 20. Jahrhunderts versuchte die mexikanische Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) über ihre Namenswahl eine weltweit anklingende Revolutionsromantik heraufzubeschwören. Doch keiner verkörpert die romantische revolutionäre Figur so vollkommen wie der argentinische Arzt und kubanische Revolutionär Ché Guevara. Ché war der „romantic adventurer, Red Robin Hood, the Don Quixote of communism, the new Garibaldi, the Marxist Saint-Just, the Cid Campeador of the wretched of the earth, the Sir Galahad of the Beggars, the secular Christ, the San Ernesto de la Higuera revered by the Bolivian peasants“ (Löwy, 1973: 7). Wenn man Ché als die Inkarnation des romantischen Revolutionärs bezeichnen kann,12 so ist seine inspirierende Proklamation: „a true revolutionary is guided by a great feeling of love“ (1967a: 136) wohl das sine qua non der revolutionären Romantik.13 Jeder dieser Schnappschüsse verstärkt den Eindruck, dass Revolutionen ihrem Wesen nach erzählende Prozesse sind und dass es demzufolge eine Geschichte der Revolution gibt, eine revolutionäre Tradition. So oxymoronisch die Formulierung auch scheinen mag, es gibt eine Revolutionstradition, in der es von Geschichten nur so wimmelt. Diese sind im günstigsten Fall unwahrscheinlich und scheinen manchmal schlichtweg unmöglich – obwohl gerade in dieser Unmöglichkeit die Hoffnung schlummert und die Saat des „Possibilismus“ liegt.14 Wie bereits bemerkt, haben die Erscheinungen Chés an verschiedenen Orten auch weit nach seinem Tod 1967 den Menschen dabei geholfen, sich als Teil eines größeren Kampfes zu begreifen. Während der junge vietnamesische Patriot Nguyen Tat Thanh (später unter dem Namen Ho Chi Minh bekannt geworden) anscheinend dem US-amerikanischen Amtsapparat niemals näher gekommen ist als bei der Einreichung seiner Petition für die vietnamesische Selbstbestimmung, die bei der Versailler Konferenz 1919 in den Händen Präsident Woodrow Wilsons Chefadjutanten, Colonel House, landete, so kursieren doch hartnäckig Gerüchte über seine
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Treffen mit Wilson (oder mit Franklin Roosevelt, damals ein junger Assistenzsekretär bei der Navy). Diese Geschichten, laut denen die beiden die Unabhängigkeitserklärung (welche in seiner Petition zitiert wird; Duiker, 2001: 59–60) bei gemeinsamen Treffen entweder in New York, Boston, London oder Paris diskutierten, muss man als Beleg der Überzeugung und der Hingabe an den Kampf verstehen. Ob die Geschichten wahr sind oder nicht, von Bedeutung ist allein der Beitrag, den sie zur Überlieferung leisten und zur Erzähltradition der Revolution. „Tradition“ wird gemeinhin mit der Aufrechterhaltung eines status quo assoziiert sowie mit der Sehnsucht nach vergangenen, konservativeren Zeiten – wohl kaum der Stoff, aus dem Revolutionen gemacht sind. Doch trotz dem, was Shils (2006: 2) als unser Verlangen nach „alles durchdringender Veränderung“ („pervasive changefulness“) bezeichnet, so zeigt er doch auch völlig korrekt, wie wichtig uns beständige Institutionen sind und dass wir häufig von ihnen geleitet werden, „with rules inherited from a long past … an inheritance which has been passed down through many generations.“ Ein Teil dessen, was 1789 repräsentierte, war das Ende der „Traditionalität“ und der Beginn des Progressivismus (Shils, 2006: 5–6). Nichtsdestoweniger ist die Tradition das, was weitergegeben wird (vgl. Shils, 2006: 12), und wir geben tatsächlich alles erdenkliche weiter, außer „einzelnen konkreten Handlungen“, die nicht mehr existieren, nachdem sie durchgeführt wurden, sind sie doch „the most evanescent of things“ (Shils, 2006: 12). Doch selbst wenn wir Tradition mit Konservatismus, Phlegma, ja Stillstand assoziieren, so kann sie doch gleichzeitig Inspiration, Grundlage und Sicherheit sein und sie ist überraschend formbar: Traditionelle kulturelle Symbole erweisen sich als „quite flexible in practice“ und helfen so einer „given revolutionary coalition“ die Bandbreite ihrer Möglichkeiten festzustellen (Burns, 1996: 352). Evans bemerkt beispielsweise unter Bezugnahme auf Foucault im Hinblick auf den innerfranzösischen Widerstand gegen den Krieg in Algerien: „[T]here was a whole tradition of struggles which were transmitted orally, or in writing or songs etc.“ (1997: 10; Foucault, 1977b: 21–2). Es ist kaum überraschend, dass Revolutionäre basierend auf ihren eigenen oft langen (doch siehe Hobsbawm, 1983: 2) Kampftraditionen versuchen, Worte, Daten, Symbole und mehr zu einer lesbaren und nutzbaren „Tradition“ zusammenzubauen (wieder einmal die bricolage), die ihre Bemühungen legitimiert. Zusätzlich verwenden und adaptieren Geschichtenerzähler frei Material aus der allgemeinen kulturellen Tradition und so sind diese Geschichten „traditional … [but] not timeless; that is, the form and the content of the tales may change in the telling“ (Roseberry, 1989: 27, Hervorhebung im Original; er zitiert Taylor und Rebel, 1981). Während die „erfundenen Traditionen“
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(„invented traditions“, Hobsbawm, 1983: 2) ohne Frage per se suspekt sind, so können selbst die traditionellsten Erzählungen in fähigen Händen und im richtigen Kontext den Zwecken von Widerstand, Rebellion und Revolution dienen. Dies führt uns zurück zur Historie.
Die „geheime“ Geschichte oder das, was wir beim Erzählen „vergessen“ Historie an sich ernst zu nehmen ist einfach; wie wir mit ihr umgehen sollen, wie viel Glaubwürdigkeit und Bedeutung wir ihr beimessen sollen, ist weitaus weniger klar. „Articulating the past historically,“ so Benjamin (2003: 399), „does not mean recognizing it ,the way it really was‘.“15 Und tatsächlich ist beispielsweise laut McGranahan für die Tibeter „Historie … gefangen zwischen dem, was ,wirklich geschehen ist‘, und der erkenntnistheoretischen Dunkelheit des historischen Gedächtnisses“ (2005: 570; sie zitiert Daniel, 1996; Taussig, 1984) – eine Formulierung, die wohl das Erleben der meisten von uns widerspiegelt. Für die Tibeter, so sagt sie, besteht Historie aus „Wahrheit und Angst. Und ein paar Lügen.“ Wir haben zwar bereits einige Male den schmalen und außerordentlich flexiblen Grat zwischen „Fakten“ und „Fiktion“ betrachtet, doch es ist wieder einmal Zeit, ihn in Erinnerung zu rufen. Die Genauigkeit, nach der wir in den Sozialwissenschaften und der Wissenschaft im Allgemeinen verlangen, ist in diesem Fall höchstens illusorisch und unter Umständen auch schlicht unnötig. Traditionsgemäß wurde Historie von oben herab konstruiert, von den Siegern komponiert, von den Mächtigen instrumentiert und für die Bevölkerung gespielt und aufgeführt. Etliche Forscher stimmen darin überein, dass Historie nicht nur ausgedacht sein kann, sondern dies sogar unvermeidlich ist. Hobsbawm (1983: 13) zeigt: „[D]ie Historie, welche Teil des Wissensfundus oder der Ideologie der Nation, des Staates oder der Bewegung wurde, ist … das, was ausgewählt, niedergeschrieben, bebildert, verbreitet und institutionalisiert wurde von denen, deren Funktion es ist, eben genau das zu tun.“ Und Carrs Erklärung, dass der Historiker im Großen und Ganzen die Fakten bekommen wird, die er erhalten will („History means interpretation“ 1961: 26), scheint nicht mehr strittig zu sein. Doch nach wie vor gibt es laut Cohen (1997: xiii– xiv) „Spannungen zwischen der Historie, die Menschen machen, die in gewissem Sinne fixiert ist, und den Historien, die Menschen schreiben und verwerten, die für immer im Wandel begriffen zu sein scheinen.“ Geschichtsschreiber beteiligen sich absichtlich oder unabsichtlich am Schaffensprozess, während sie die Aufzeichnungen anfertigen. Und diese Aufzeichnungen bedürfen einer regelmäßigen Aktualisierung, denn wie Lewis (1975: 11) im Bezug auf die Bil-
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ligung des Christentums durch die Römer feststellte: „[A] new future required a different past.“ Die staatlich abgesegnete, gesellschaftsbestätigende, monolithische16 Historie muss auf dem neuesten Stand bleiben und die offizielle Geschichte muss die einzig denkbare bleiben, so einfach, klar und eindeutig wie möglich, mit wenig Spielraum für Fragen oder Interpretationen. Doch es existiert auch eine andere Historie. Diese wurzelt in der Wahrnehmung der Menschen davon, wie sich die Welt um sie herum entwickelt hat und welchen Platz sie in ihr einnehmen. Sie basiert auf der praktischen Weltanschauung der Menschen und spiegelt den materiellen wie ideologischen Kontext ihres Alltagslebens wider, es ist eine Historie, die sich über die verschiedenen Mittel der Volkskultur äußert. Sie ist auf gewisse Weise „zerlumpt“ und „zerfetzt“; so gibt es etwa in den Anden den Volksglauben, nach dem die Geschichte ein Stück Stoff ist, das von Frauen gewoben wird, die in der Lage sind, „den Kett- und den Schussfaden, die Textur und die Formen der Beziehungen zu erkennen, und die mit der Vorder- und Rückseite vertraut sind und den Wert und die Bedeutung des detaillierten Musters verstehen, und so weiter“ (Andean Oral History Workshop, 1990: 180). Es ist eben diese Form der Geschichte, die häufig am wichtigsten ist, und sie muss denen bekannt sein, die Widerstand, Rebellion und Revolution beginnen. Ein Teil des Problems ist möglicherweise die Sprache. Was, wenn uns die sprachliche Ausdrucksmöglichkeit fehlt, bestimmte Momente zu beschreiben oder zu erfassen? Und was unter Umständen noch problematischer ist: Was, wenn unsere Sprache Möglichkeiten begrenzt, Verstehen einschränkt, Erklärungen erschwert? McGranahan (2005: 580) betont: „[E]vents are real not because they happened, but because they are told in culturally meaningful ways.“ Das Erzählen, so unvollkommen es als Prozess sein mag, ist von großer Bedeutung: „[D]iejenigen Geschichten, die es am überzeugendsten schaffen, die ,Fakten‘ der Vergangenheit eines Volkes zu belegen, werden zum Kern der politischen Gemeinschaft dieses Volkes“ (Thompson, 1996: 1). Nichtsdestoweniger ist es extrem schwierig, vieles von dem, was folgt, besonders in den Kapiteln 7 und 8, in die Sprache der Sozialwissenschaften und der Historiker zu fassen. Wie so häufig befinden sich die wirklich interessanten Dinge „irgendwo dazwischen“, außerhalb dessen, was innerhalb der Historie erfassbar wäre. Ein Ergebnis der traditionellen Herangehensweise an die Historie – die sich dank einer beeindruckenden Zahl von Abhandlungen zu diesem Thema im späten 20. Jahrhundert vielleicht nicht mehr lange halten wird – zeigt sich in Hegels (2009: 51) Beobachtung, dass „Revolutionen, Wanderungen und die wildesten Veränderungen“ sich nicht in Geschichtsbüchern finden lassen. Diese Aufzeichnungen sind nicht etwa „zufällig über solche Zeiträume untergegangen, sondern weil sie nicht [haben] vorhanden sein können, haben wir
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keine“ (Hegel, 2009: 51). Da ihnen das offizielle „Geschichtssiegel“ fehlt, passieren die wirklichen Dinge, die für echte (Entscheidungen treffende) Menschen in der wirklichen Welt von Bedeutung sind, außerhalb des Spektrums, das im Rahmen der „Historie“ erfassbar ist. „[T]he great ruptures and oppositions are always negotiable, but not the little cracks and imperceptible ruptures“ (Deleuze und Parnet, 1983: 84). Da es der Staat ist, der – hauptsächlich über Intellektuelle – die Geschichtsschreibung betreibt, werden solche Phänomene schlicht als nicht existent betrachtet. Da die meisten Auseinandersetzungen über die Bedeutung historischer Phänomene eben durch die Ereignisse bestimmt sind, die der Staat für wichtig erachtet, wird den Vertretern einer alternativen Historie wenig Beachtung zuteil und wenn, so werden sie marginalisiert. Doch das heißt nicht, dass diese Menschen nichts wüssten. Vielmehr wird hier eine klassische Herangehensweise an die Geschichte deutlich, die sich über die Maßen auf das Vertikale und Chronologische konzentriert. Meine Bemühung geht dahin, die Betonung wieder auf das Horizontale zu legen und nicht nur dem Impetus einer geordneten Abfolge, sondern auch dem Bedürfnis danach zu widerstehen, zumindest in dem Maße, wie dies möglich ist.17 Die Aufgabe besteht darin, unsere Vergangenheit unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Stimmen und Quellen zu erforschen und zu beleuchten. Unsere Vergangenheiten verbinden sich und bestimmen, wer wir sind. Dies wiederum prägt unseren Glauben davon, was möglich ist, wie diese Dinge erreicht werden könnten und was sie bedeuten werden. All diese Vergangenheiten existieren gleichzeitig in der Gegenwart, nach Fuentes gibt es keine „living future with a dead past“ (1996: 16, 124). Somit ist die Historie beziehungsweise jeder Versuch, die Vergangenheit zu erforschen oder über die Zukunft zu spekulieren, unvermeidlich durch die Gegenwart vorgeprägt und jegliche Bemühungen, die Gegenwart zu untersuchen, werden unausweichlich von der Vergangenheit und möglicherweise auch unseren Erwartungen an die Zukunft beeinflusst. Während es offensichtlich ist, dass die Voraussetzungen kaum jemals diejenigen sein werden, die sie sich aussuchen würden, schreiben Menschen doch ihre eigene Geschichte.18
Geschichte machen und Verbindungen herstellen ohne andere zu fetischieren oder ihre Exotik überzubewerten Im Jahre 1919 kletterte To Duc Thang, ein französischer Seemann (und zukünftiger Präsident der Demokratischen Republik Vietnam sowie der erste Präsident der Sozialistischen Republik Vietnam) den Mast eines Schlachtschiffes hinauf, das als Flaggschiff der französischen Flotte im Schwarzen
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Meer diente, und hisste unter dem Jubel der Besatzung die Flagge der Pariser Kommune, die rote Flagge der Revolution, wodurch er die französische Beteiligung an der Intervention der Alliierten im entstehenden Sowjetrussland verzögerte.19 Die rote Flagge war kurz zuvor von den Russen wiederbelebt worden, die beispielswiese in einem berühmten Poster von 1921 für sich in Anspruch nahmen: „Die Toten der Pariser Kommune sind unter der roten Flagge der Sowjets wieder auferstanden“ (Almond, 1996: 19). Im Jahre 1871 hatten die Kommunarden ihre rote Flagge als „Flagge der Weltrepublik“ (Engels, 1978: 623) verstanden. Und ob von Bedeutung oder reiner Zufall: Die rote Flagge wurde ebenfalls beinahe ein Jahrhundert vor der Pariser Kommune während Shays’ Rebellion in den USA 1786 gehisst (teils zusätzlich mit einer grünen Pinie versehen und manchmal mit einer Schlange und dem Spruch „Don’t Tread on Me“) und eine noch frühere Form gab es im Mai 1736 in Savannah, Georgia, wo sich die Teilnehmer eines Aufstands von besitzlosen, leibeigenen Iren gegenseitig durch ein rotes Band am Handgelenk erkennen konnten – ein Ereignis, das als „Red String Conspiracy“ in die Geschichte einging. Die Geschichte von To Duc Thang und der französischen Flotte zeigt das, was man als eine Art geheime Historie von Widerstand, Rebellion und Revolution bezeichnen kann, vielleicht sogar als alternative Historie unserer und früherer Zeiten, entlang der Ereignisse erzählt, die die reguläre Geschichtsschreibung versehentlich oder absichtlich oftmals ausklammert. Damit soll nicht gesagt werden, dass nur diejenigen, die die Welt verändern möchten, Geschichte machen oder dass sie einen besonderen Zugang zu Erzählungen haben. Jeder kann mitspielen und tut das auch. Während die meisten Geschichten, die in unserem Kontext von Interesse sind, von denen erzählt werden, die wir „das Proletariat“, „die Massen“, „die Arbeiter“, „die Bauern“, „das Volk“ oder auch in jüngerer Zeit „die Allgemeinheit“ („multitude“, Hardt und Negri, 2000, 2004) nennen,20 so können doch auch „die Mittelschicht“, „das Bürgertum“ und selbst „die Elite“ Teil des Prozesses werden und in die Handlungen einbezogen sein. Den Behauptungen der zurückliegenden Jahrhunderte zum Trotz ist nichts an den Reichen, Besitzenden besonders, nichts an der Mittelschicht charakteristisch, nichts an der Arbeiterklasse signifikant und nichts an den Armen speziell. Das einzige, was von Bedeutung ist, sind die Geschichten, der Kampf und der Wille, etwas Sinnvolles zu schaffen. Die Versammlungen der Globalisierungsgegner in Nordamerika und Europa, ihre Demonstrationen für die modernen Zapatisten und ihre Verbreitung zapatistischer Geschichten sind trotz der bestehenden Unterschiede nicht weniger wirkungsvoll. Auch wenn sie in vielerlei Hinsicht eine grobe Verallgemeinerung ist, so schaffte die mächtige Formulierung „Wir sind alle
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Zapatisten“ es doch, eine Verbindung zwischen jungen Leuten in Seattle, die hauptsächlich aus der Mittel- und Oberschicht stammten, Maya-campesinos in Chiapas und weit entfernten Zeiten und Kämpfen herzustellen – beispielsweise zu Zapata in der Mexikanischen Revolution, indigenen Widerständen gegen die europäischen Eroberer in Südamerika und zu vielen anderen. Dies illustriert die menschliche Überzeugung, dass sie Teil eines gewaltigen Vermächtnisses von Namen, Orten und Daten sind, die Geschichten von Widerstand und Kampf erzählen, und dass es ihnen endlich zu dieser Zeit und an diesem Ort möglich sein wird, zu siegen. Und das ist es wohl auch, worauf Geschichten unsere Aufmerksamkeit am deutlichsten lenken: Die Intensität und Unmittelbarkeit, die häufig, ob korrekt oder nicht, mit Widerstand, Rebellion und Revolution verbunden werden, helfen uns nicht unbedingt bei unseren Untersuchungen. Darum ist auch weiterhin das Gesamtbild, die longue durée, der größere Kontext, dessen Beachtung Historiker wie Braudel oder Sozialwissenschaftler wie Tilly fordern, von Bedeutung.21 Ich möchte hier nicht übertrieben strukturalistische Erklärungen heranziehen. Je länger der zu betrachtende Zeitraum, desto größer ist der Prozess und desto umfassender muss auch das Gesamtbild sein. Das große, umfassende und gewaltige Gesamtbild (vgl. Tilly 1984) ist entscheidend dafür, wie und warum sich Geschichten verbreiten, einige Elemente dazugewinnen und andere verlieren und Menschen und Orte weit über ihre jeweiligen Bereiche hinaus beeinflussen. Zur gleichen Zeit muss diese kurze Liste langer Ereignisse in das eingebettet werden, was Hunt (1984: 21) „revolutionäre Beschwörungen“ („revolutionary incantations“) nennt, „Wörter, die in bestimmten Kontexten geäußert werden … weisen auf nichts Geringeres hin als die Zugehörigkeit zur revolutionären Gemeinschaft.“22 Es gibt eine Makroebene und es gibt eine Mikroebene und um die hier untersuchten Verknüpfungen zu verstehen, benötigen wir beide. Dies ist nicht das einzige Problem, was weder einfach noch schnell zu lösen ist. Es gibt auch noch das Dilemma mit dem „Anderen“ („the Other“). „Das Andere“ kann auf verschiedene Weise und auf den unterschiedlichsten Ebenen verstanden werden. Entscheidend für unser Projekt ist das Verständnis, dass andere Menschen zu anderen Zeiten eben nicht wir sind. Darnton (1984: 4) erinnert uns daran: „[A]ndere Menschen sind anderes. Sie denken nicht so wie wir. Und wenn wir ihre Art zu denken verstehen wollen, sollten wir uns daran machen, diese Andersartigkeit zu erfassen … Wir müssen immer wieder wachgerüttelt werden aus einem falschen Gefühl der Vertrautheit mit der Vergangenheit, müssen immer wieder in kleinen Dosen etwas Kulturschock verabreicht bekommen.“ White (1998: 13) pflichtet bei: „[J]ede gute Geschichte beginnt mit Fremdheit. Die Vergangenheit sollte nicht behaglich
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sein. Die Vergangenheit sollte kein vertrautes Echo der Gegenwart sein, denn wenn sie vertraut ist – warum sollten wir sie wieder aufgreifen? Die Vergangenheit sollte so befremdlich sein, dass man sich fragt, wie es sein kann, dass man selbst und die Menschen, die man kennt und liebt, aus solch einer Zeit kommen.“ Unsere beste Gelegenheit, in diese Fremdheit Einsicht zu gewinnen, besteht über die Geschichten, die weitergegeben werden; Geschichten, die Ausdruck der Gemeinschaft sind und es uns ermöglichen, gemeinsame Überzeugungen und Verbindungen zu identifizieren. Sie mögen Fremde sein, doch es sind unsere Fremden. Dies bringt einen weiteren wichtigen Aspekt der folgenden Geschichten ins Spiel, in denen wir diese „anderen“ treffen, die Fremde sind und es doch auch nicht sind. Wie bereits bemerkt, haben die Fundamente der kulturell monolithischen Historie über die letzten Jahrzehnte angefangen zu bröckeln, nicht zum Gefallen aller, denn der Begriff der „objektiven“ Historie wurde angegriffen und die Theorien von der Geschichte der „großen Männer“ wurden in Frage gestellt. An ihrer Stelle hat sich ein wertvoller, wenn auch nicht ganz einfacher Versuch entwickelt, die subjektive Perspektive einzunehmen und die Historie aus anderen Blickwinkeln als denen, die sie über den Großteil der letzten Jahrtausende dominiert haben, zu dokumentieren. Doch eine Überbetonung des Regionalen oder eine romantische Verklärung der „echten“ Menschen, wie nützlich dies in Maßen auch sein mag, löst nicht das Problem, wenn immer noch dieselben Parameter wie in der „traditionellen“ Historie vorausgesetzt werden. Keine der hier untersuchten Geschichten ist demnach Teil des wohlmeinenden Versuches eines alternden, weißen, nordamerikanischen Sozialwissenschaftlers, Menschen und Völker im Nachhinein zu „rehabilitieren“ oder sich in orientalistischen Phantasien zu ergehen (ich beziehe mich hier auf Said, 2003; Getson, 2002).23 Nur zu oft verfielen Forscher und Aktivisten in ihren lobenswerten Bemühungen, die Historie der Armen, Enteigneten, Unterdrückten und Geschlagenen wiederzuentdecken der trügerischen Annahme, dass indigene Völker geradezu per definitionem gut, weise und großzügig seien, Musterexemplare „einfacherer“ Gemeinschaften, die mit sich und ihrer Umwelt im Einklang lebten. Eine solche Romantisierung und der inhärente Paternalismus („wir werden den Stimmlosen eine Stimme geben“) betonen die „Andersartigkeit“ so, dass keinem damit gedient ist, und tragen in sich eben die zerstörerische Dynamik, die bekämpft werden soll. Das soll nicht etwa heißen, dass die Menschen nicht großzügig und gütig gewesen wären oder es noch sind, sondern darauf hinweisen, dass sie unter Umständen in für uns dumm oder boshaft erscheinenden Gesellschaften leben können, die auf komplizierten Hierarchien und Kastensystemen von
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großer Grausamkeit aufbauen – einige indigene Völker waren einst die Supermächte und Imperialisten ihrer Welt. Collier, ein hochgeachteter Chiapas-Forscher, warnt vor einer Idealisierung von bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften: „Ich sehe solche Gemeinschaften als weitaus weniger egalitär und als durch Klassen und Politik differenzierter an als es viele andere Forscher tun. Das Aufrufen zu kollektiven Gefühlen geht oftmals einher mit dem Streben nach persönlicher Macht“ (1999: x). Alle menschlichen Gemeinschaften sind komplex, keine ist „edler“ oder „weniger edel“ als irgendeine andere. Die Inkas in Mittel- und Südamerika besaßen beispielsweise eine der am sozial und politisch weitesten entwickelten Gesellschaftsformen der Welt. Ihr Prototyp des Sozialstaates ging dem in Europa um mehr als 500 Jahre voraus. Außerdem zeichneten sie sich in den frühen Jahren ihres Reiches durch eine Leidenschaft dafür aus, in die Nachbarstaaten einzufallen und diese zu erobern. Die Azteken wiederum erschufen ein Reich, das sich durch eine komplexe agrarkulturelle Wirtschaftsform auszeichnete sowie durch ihre Eroberungen und politisch-religiösen Praktiken, die eine Vorliebe für Menschenopfer erkennen lassen, oft unter Bevorzugung noch schlagender Herzen und zu Zeiten in überaus großem Ausmaß. Die Mayas und andere ethnisch verwandte Gruppen, „weit entwickelt“ und zunehmend in vielen Bereichen als überaus kultiviert anerkannt, betrachteten die Kriegsführung als zentrales Element ihrer Kultur und gelegentlich fanden die Mächtigen auch einen Anlass für Menschenopfer. Aus den verschiedensten Gründen war jede dieser Kulturen einmal in ihrer jeweiligen Welt eine Supermacht und unterdrückte – bei aller nötigen Rücksichtnahme auf kulturelle Unterschiede und Konstrukte – Teile ihrer eigenen Bevölkerung oder derjenigen, die sie eroberten. Außerdem wissen wir, dass es Gegner dieser Mächte gab, und können daher mit Recht vermuten, dass viele Menschen in diesen Gesellschaften angesichts der Unterdrücker oder Invasoren für eine soziale Gerechtigkeit kämpften, lange bevor die flegelhaften Europäer mit ihren perversen Sitten und Bräuchen auftauchten. Dies alles und die Variationen hiervon, die man in der ganzen Welt und zu jeder Zeit finden kann, könnten einen zu dem Schluss gelangen lassen, dass, von unserem nicht zu unterschätzenden Charme abgesehen, wir Menschen ein ziemlich fieser Haufen sind.24 Sogar noch kontraproduktiver als die Völker der Vergangenheit auf flache, zweidimensionale Weise darzustellen, ist die immer noch bestehende Neigung „gebildeter“ nachaufklärerischer, westlich geprägter Menschen, ihnen ein exotisches und geheimnisvolles Image anzudichten – den Armen, den Enteigneten, den „Verlierern der Geschichte“. Solche Klischees eignen sich auch sehr gut dazu, sie als unergründlich und „undurchdringlich“ darzustel-
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len, teils grenzt diese Darstellung daran, Boshaftigkeit zu implizieren. Aus diesem Blickwinkel lautet die Erzählung, dass für diese exotischen und geheimnisvollen Völker das Leben ein Kampf ist, den sie stoisch ausfechten, als das „Salz der Erde“, gesegnet mit gesundem Menschenverstand, Edelmut und wertvoller Weisheit; und interessanterweise werden sie gerade wegen Letzterer häufig als verbittert und boshaft abgestempelt.25 Es ist sehr wichtig, dass wir in den folgenden Geschichten diese Tendenzen und Versuchungen erkennen und dass wir uns darüber bewusst sind, dass die Unterschiede zwischen „uns“ und „denen“ sehr gering oder gar inexistent sind.
Die vier Revolutionsgeschichten: ein letzter Gedanke, bevor wir aufbrechen Mornets (1933: 471) klassische These, dass der Ursprung der Französischen Revolution die eine Geschichte ist und ihre Historie wiederum eine andere, mag angefochten werden,26 beinhaltet allerdings auch eine nützliche Lehre: Es gibt haufenweise Geschichten über Revolutionen, sogar noch mehr als historische Ereignisse, und das ist nicht zu unterschätzen. Außerdem sind diese Geschichten in ihren verschiedenen Formen viel verbreiteter als gemeinhin angenommen. Wir können natürlich einzelne Muster wiedererkennen, doch zusammengenommen ergeben sie eine Ansammlung jenseits unserer Vorstellungsmöglichkeiten, ein rhizomisches, allem zu Grunde liegendes Netzwerk. Auch auf die Gefahr hin, abgedroschen zu klingen: Jede Revolution ist gleichzeitig einzigartig und teilt doch etwas mit allen anderen Revolutionen, so gering diese Überschneidung auch sein mag. Es ist nicht überraschend, dass jeder einzelne Fall uns dazu anspornt, nachzuforschen und ideographische Berichte zu verfassen – denjenigen von uns, die sich in dieses Gebiet begeben, offenbaren sich hier spannende Prozesse, die voll von faszinierenden Ereignissen sind. Doch die sozialwissenschaftliche Forderung nach nomothetischen Erklärungen bringt uns auch dazu, Dinge gesammelt zu betrachten, um allumfassende Gesetzmäßigkeiten zu zeigen. Kurz gesagt: Wir wollen alles. Da wir uns der Unerreichbarkeit dieses Ziels bewusst sind, versuchen wir zumindest, die Breite und die Tiefe auszuloten. Mein Vorschlag dazu lautet, die elementaren Revolutionsgeschichten zu betrachten, die man unabhängig von Zeit und Ort erkennen kann. Ein letzter Gedanke zu diesem Unterfangen.27 Die Sozialwissenschaften – und in einem gewissen Rahmen auch die Humanwissenschaften – waren eine große Hilfe bei der Untersuchung der Vielzahl von formalen und institutionellen Vereinbarungen, die unser Leben strukturieren, und einige unserer
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größten Forschungserfolge konnten wir im „politischen“ Bereich erzielen. Doch was passiert, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die Intelligenz und Kreativität von Menschen richten, für die das Politische einen Teil des Lebens ausmacht? Wir versuchen, unsere Untersuchungen auf menschlichen Erfahrungen aufzubauen, den Erfahrungen eben der Menschen, die Widerstand, Rebellion und Revolution leben. Anstatt sich aus verständlichen Gründen auf die institutionalisierten Faktoren und Vorgänge zu konzentrieren, die Revolution „definieren“, wird sich unsere Aufmerksamkeit vielmehr auf Werte und Überzeugungen richten sowie auf die Praxis, in der eine Gemeinschaft versucht, das zu erreichen, was einem Einzelnen nicht möglich ist. Ein solcher Ansatz ist bei Weitem nicht ausgereift, er könnte durchaus chaotisch enden. Wie könnte es auch anders sein, wenn man sich die beeindruckende Mischung aus Idealismus (Menschen, die ihre privaten Träume und Wünsche über öffentlichen Formen der Zusammenarbeit verwirklichen wollen) und Pragmatismus (wie kommen wir jetzt und heute von hier nach dort?) ansieht, die mit Freiwilligkeit und Handlungseifer versetzt ist. Die Losung lautet Menschlichkeit und die Heuristiken sind Gerechtigkeit und Wahrheit, praktische Taten sind die treibende Kraft. In all diesen Fällen erfahren wir Historie sowohl vertikal als auch horizontal, sowohl chronologisch als auch mythologisch; Mythos, Erinnerung und Mimesis sind entscheidend bei unserem Versuch, unser Verstehen und unsere Erklärungen zu erweitern und zu vertiefen. Die folgenden grob gezeichneten Geschichten, selbst die abstraktesten, zeigen uns kleine, alltägliche Handlungen, die von einzelnen Menschen vollbracht werden, die durch ihre Menschlichkeit und ihre Überzeugungen vereint werden. Diese Geschichten ehren sie und ermöglichen denjenigen von uns, die hinsehen wollen, Einblicke in revolutionäre Prozesse.
Anmerkungen 1 Wie in Kapitel 1, Endnote 11 bemerkt, wird diese exzellente Zusammenfassung der elementaren Revolutionsprämisse mit Michael Manleys semi-radikaler und (zumindest im ostkaribischen Kontext) innovativer Bewegung im Jamaika der frühen 1970er in Verbindung gebracht, die im Wahlsieg der People’s National Party im Jahre 1972 gipfelte. Zwei Jahre später erklärte Manley Jamaika zu einem „demokratisch-sozialistischen“ Staat, der sich der Umverteilung des Reichtums und der Unabhängigkeit von ausländischer Kontrolle verschrieben habe. Den gesamten Vorgang zu beschreiben, der als Revolution begann, geht hier etwas zu weit, siehe dazu Foran, 2005: 169; und Foran et al., in Kürze erscheinend. Wenn auch die verbreitete Meinung in den USA lautete, dass es sich um eine Revolution
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handelte, so wäre die vernünftigere Lesart wohl, dass es sich um eine Rebellion oder Revolte handelte, bei der es der Bevölkerung darum ging, ihre sozialen Umstände angesichts einer zunehmend repressiven politischen Struktur zu verbessern. Siehe Panton, 1993: 41, 31; eine treffende Analyse findet sich auch bei Ferguson, 1999: 295. „Gebannt“ („incantatory“), wie es in Cabrera Infantes klugem Wortspiel heißt, scheinen sie zu sein, doch auch der Ausdruck „Ephemera“ ist bemerkenswert. Benjamins (1999c: 476) folgende Erkenntnis scheint Cabrera Infantes Sichtweise zu bestätigen: „[T]o write history means giving dates their physiognomy“, also sowohl eine oberflächliche Wichtigkeit als auch eine tiefere Bedeutung. Doch man denke an Marx’ (1978a: 595) berühmte Ablehnung von geborgten Namen, Schlachtrufen und Kostümen, all den „traditions of all the dead generations weigh[ing] like a nightmare on the brain of the living“. Ich denke hier weniger an Foucaults Konzept von Genealogien und deren (inhärentem) Ausdruck von Widerstand als an Hooks Idee, eine „kulturelle Genealogie des Widerstandes“ zu dokumentieren, die uns dabei hilft, von „present strategies of opposition and resistance that were effective in the past and are empowering in the present“ (1995: 148) zu lernen und auf ihnen aufzubauen. Dieser Gedanke erinnert an Philips (1998) Ansatz: Sie beginnt mit ihrem Familienstammbaum und folgt, basierend auf mündlichen Überlieferungen, einer rapiden und unchronologischen Spirale nach außen, wobei sie weitere Genealogien wie Ortsnamen, die Vermächtnisse vergangener Reiche und Eroberer sowie Menschenrassen und ihre Bewegungen im Lauf der Zeit streift, ein Erbe des Widerstandes, des Schweigens und der verlorenen Geschichten, der Zugehörigkeit und der afrikanischen Vergangenheit. Diese Begriffe bedürfen einer Erklärung: Der sogenannte „dritte Weg“ bezog sich von den 1950ern bis 1970ern auf die Synthese von Kapitalismus und Sozialismus, einen Mittelweg zwischen US- und Sowjetideologien. „Trikontinental“ bezieht sich auf die Idee der Solidarität zwischen den Völkern Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und der Karibik und die Bewegung der blockfreien Länder entstand direkt aus der als „Bandung-Konferenz“ bekannten anti-kolonialistischen afro-asiatischen Konferenz 1955. Fire in the Minds of Men ist der Titel von Billingtons (1980) Untersuchung der „Ursprünge des revolutionären Glaubens“. Ein Genre, das man am treffendsten als „anti-revolutionär“ bezeichnen kann, untersucht Revolutionen unter diesem Aspekt; herausragende Vertreter sind Zamoyski, 2000 und Durschmied, 2001. Ihnen gemein ist Faszination, Verachtung und Mitleid für das, was sie als revolutionären Glauben bezeichnen; einen Glauben, der ihnen zufolge von einigen Individuen oder kleinen Gruppen aufrechterhalten, in apostolischer Abfolge („apostolic succession“ Billington, 2000: 3) weitergegeben wird und zu nichts als Chaos, Mord, Verrat, Tod und Zerstörung führt. Die Opfer sind zumeist die Anhänger. Vgl. Billington: „The heart of the revolutionary faith, like any faith, is fire: ordi-
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Gerücht und Revolution nary material transformed into extraordinary form, quantities of warmth suddenly changing the quality of substance. If we do not know what fire is, we know what it does. It burns. It destroys life; but it also supports it as a source of heat, light, and – above all – fascination. Man, who works with fire as Homo faber, also seems foredoomed in his freedom to play with it as Homo ludens“ (1980: 5). „Bekannt“ bedeutet in diesem Fall, dass viele Menschen an unterschiedlichen Orten davon überzeugt sind, die groben Züge der Geschichte zu kennen. Eine überzeugende Untersuchung der Exodusgeschichte als Revolutionserzählung findet sich bei Walzer, 1985; siehe auch Dovlo, 2002. Dieses schöne Portmanteau-Wort vereint „group“ mit „corpuscule“ oder „miniscule“ um die Assoziation einer sehr kleinen politischen Gruppe zu erwecken. Die erste mir bekannte Verwendung dieses Wortes erfolgte durch Protestierende bei einer Demonstration im Mai 1968 in Frankreich (Azenstarck, 2008). Dieser Auszug der Rede vom 17. August 1960 wurde ursprünglich unter dem Titel „Laksana Malaekat Jang Menjerbu dari Langit Djalannja Revolusi Kita“ veröffentlicht („Wie ein Engel, der vom Himmel her angreift: Der Weg unserer Revolution“). Ein weiterer Auszug beinhaltet das oben Wiedergegebene und: „That is why I … never tire of appealing and exhorting … make the revolutionary spirit surge on, see to it that the fire of our revolution does not die, or grow dim, not even for a single moment. Come then, keep fanning the flames of the leaping fire of revolution! Brothers and sisters, let us become logs to feed the flames of revolution!“ Siehe Higgins und Higgins, 1963: 115; diese Version wird auch von Myrdal, 1968: 375, Fußnote 4 zitiert. Selbst 1789 hat viel seiner mächtigen Aura erst im Nachhinein erhalten, aus den folgenden quasi-revolutionären Episoden in Frankreich 1830, 1848 und 1871, dem Rest Europas 1848, und Russland 1917. Der Dichter Andrei Condrescu (1999: 6) stellt die Frage: „[What if Che] instead of being longhaired and intensely romantic, had been as ugly as the Cuban Secret Service made him when they sent him to start another revolution in Bolivia. What if Che had been physically loathsome?“ Ist der „schöne Körper“ nötig? Man könnte noch eine von ihm an seine Kinder gerichtete Äußerung hinzufügen, nach der die „schönste Qualität“ eines Revolutionärs seine Fähigkeit ist, „any injustice committed against anyone, anywhere in the world“ zu fühlen (Guevara, 1987: 371). Das Konzept des „Possibilismus“ stammt von Darnton (1990); ein Anwendungsversuch findet sich bei Selbin, 2009b; während Rabas, 1997 die Möglichkeiten, die im Unmöglichen vorhanden sind, untersucht. Er nimmt hier Bezug auf Leopold von Rankes einflussreiche Feststellung, dass es die Pflicht des Historikers sei, die Vergangenheit abzubilden, „wie sie wirklich war“ („as it really was“ 1887). Nicht jeder schließt sich dieser Interpretation an und einige sind der Ansicht, dass es sich um ein Missverständnis handelt; siehe beispielsweise Iggers, 1962.
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16 Daniel würde „unitarisch“ („unitary“ 1996: 53) sagen. Er bemerkt: „History is theoretical discourse that is in the main … simplex. It is underwritten by chronology and a logic of cause and effect. Furthermore, this kind of history … is endogenous to European culture and civilization in a manner and to an extent that it is not to South Asia, especially Hindu South Asia. […] If myth, as a way of being in the world, is multiplex, then on structural grounds alone the likelihood of its striking up a discordant relationship with a ,single-minded‘ simplex history is greater than that of its generating discordance with a multiplex history. Multiplex histories are more easily accommodated within the multiplexity of lived experience. A simplex history is more likely to assert, with impetuosity, its independence, shrilly proclaiming its exclusive claim to the truth. Its story tends to be unitary“ (1996: 52, 53). 17 Unser Konzept von Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft ist überraschend instabil (und problematisch), so dass wir es meistens vorziehen, nicht zu genau darüber nachzudenken. Trotz der besten post-aufklärerischen Bemühungen derjenigen im Norden/Westen und in ihren imperialistischen und neoimperialistischen Außenposten, sie zu messen und festzulegen, bleibt die Zeit bemerkenswert unbeständig. Sie verstreicht auf unregelmäßige Weise (wobei die Dynamik natürlich nicht in zwei Dimensionen begreifbar ist), besonders für die große Mehrheit der Menschen, die „Zeit“ nicht auf die gleiche Art „messen“ wie wir im Norden/Westen es tun. So leben beispielsweise Millionen in einer Zeit, die zu geringen Teilen auf Chronologie, aber zu großen Teilen auf Mythologie basiert. 18 Es gibt durchdachte postmoderne Demonstrationen des Gegenteils. Eine der am nachdenklichsten stimmenden stammt von Baudrillard (1994: 23 – 4): „[T]he fact is that we no longer make history, we have been reconciled with it and protect it as if it were a masterpiece in danger. Times have changed. Today we have a ,vision‘ of a Revolution perfectly pious in the way it alludes to human Rights – not even a nostalgic vision, instead, one that is recycled in postmodern intellectual comfort(ing) terms. A vision that allows the elimination of Saint-Just from The Dictionary of the Revolution. ,Overrated rhetoric‘ says François Furet, the perfect historian of the repentance of Terror and glory.“ 19 Obwohl dies im Westen (und in Russland) wenig Erwähnung findet, war die Intervention der Alliierten des Ersten Weltkrieges 1919 – 21 eine der größten multinationalen militärischen Operationen der letzten hundert Jahre. Zehntausende von Truppen aus Kanada, der Tschechoslowakei, Frankreich, den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Italien, Japan, Polen und weiteren Ländern verbrachten drei Jahre damit, die Bemühungen der verschiedenen Weißen Armeen zu unterstützen, die Revolution zurückzuschlagen. Siehe Willett, Jr., 2003; Moore, 2002; Saul, 2001; Bradley, 1984; Goldhurst, 1978; oder Swettenham, 1967. 20 Nach ihnen beginnt dieses Konzept bei Machiavelli, 1985; und taucht bei Spinoza, 1955; sowie Hobbes, 1998 auf. Eine interessante Überlegung dazu bietet Callinicos, 2007: 159 – 62.
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21 Die longue durée nach Fernand Braudel (und weiteren Vertretern der AnnalesSchule) soll eine historische Welle von großer Länge bezeichnen, die Jahrhunderte und mehr umfasst. Braudel sprach sich für die Untersuchung der Aspekte des Alltagslebens aus, die nach seiner Auffassung für das Potenzial soziopolitischen Wandels verantwortlich waren – inklusive Klima, Geographie, Biologie und Technologie; außerdem – damit einhergehend – was die Menschen aßen, was sie trugen, wie und wohin (und warum) sie reisten. Die longue durée ist in Braudels Konzept eine der drei Zeitlichkeiten, die gemeinsam dynamisch zur historischen Entwicklung beitragen. Die anderen beiden sind évenémentielle, kurzlebige, dramatische Ereignisse und Handlungen „großer Männer“ sowie conjonctures, längere, zyklische Prozesse, die bis zu fünfzig Jahre andauern können. Seine Methode fasst er in Braudel, 1979 zusammen. 22 In diesen letzten Sätzen verwende ich Tilly (1984) und Hunt (1984) für meine Zwecke. Hunt bezieht sich auf die Französische Revolution, Tilly stellt Theorien über sozialen Wandel auf. 23 Es wäre unachtsam von mir, nicht darauf hinzuweisen, dass solche „orientalistischen Phantasien“ ihr Gegenstück in der Fetischisierung und Exotizierung eines mythischen und monolithischen „Westens“ haben. Said selbst bemerkte im Vorwort einer späteren Ausgabe seines Buches: „[N]either the term Orient nor the concept of the West has any ontological stability; each is made up of human effort, partly affirmation, partly identification of the Other“ (2003: xii). 24 Natürlich gibt es wie immer auch andere Interpretationsmöglichkeiten. Berücksichtigt man die verschiedenen kulturellen und analytischen Vorannahmen, die zweifelsohne eine Rolle spielen, so scheint es überaus wahrscheinlich, dass unterdrückte Völker kämpfen werden, um ihr Los zu verbessern. 25 Wir leben in einer Zeit, in der von uns verlangt wird, zu glauben, dass es Menschen und Völker gibt, denen ihr Elend egal ist, oder die dieses akzeptieren, um die Chance zu erhalten, so zu „sein wie wir“ (siehe beispielsweise Johnson, 1992; Ferguson, 2004; Friedman, 2000), und dass einige religiöse oder ethnische Gruppierungen ihr Leben oder das ihrer Kinder weniger wertschätzen, als es Christen, Juden und Hindus tun. Eine besonders ruchlose Schöpfung in dieser Richtung war die durch die Medien (in ihrer Rolle als Hüter und Beschützer der Mächtigen) in der Vietnam-Ära geschickt in der Öffentlichkeit verbreitete Überzeugung der US-Politiker, dass für die indigenen und besitzlosen Völker „ein Menschenleben nicht viel zählt“ („life is cheap“). Dem Tod musste also dementsprechend auch nicht die gleiche Bedeutung beigemessen werden, wie bei uns in den nördlich-westlichen Regionen üblich, das Leben „dort“ musste ertragen werden, es wurde als eine lange Verkettung von Elend dargestellt, selten einmal durch Höhepunkte der Freude durchbrochen oder auch umgekehrt durch Tiefpunkte der Verzweiflung. Diese Darstellungsweise konnte man in letzter Zeit wieder in den USA und anderswo beobachten, beispielsweise im Bezug auf Afghanistan und den Nahen Osten.
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26 Higonnet erklärt: „[T]hat is not the view I take“ (1998: 8; Hervorhebung im Original). 27 Ich beziehe mich in diesem Abschnitt auf die Arbeiten Thamy Pogrebinschis; siehe Pogrebinschi, 2007a, 2007b.
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Die Geschichte von den zivilisierenden und demokratisierenden Revolutionen Zivilisierende und demokratisierende Revolutionen
Im Prinzip gibt es zwei elitäre Revolutionsgeschichten. Die erste ist die Geschichte von den zivilisierenden und demokratisierenden Revolutionen. Die zweite ist die Geschichte von der Sozialrevolution (siehe Kapitel 6). Die Letztere ist sicherlich die bekannteste und von ihr existiert auch eine populäre oder zumindest populistische Version. In den modernen Darstellungen der Revolution – denjenigen, die entweder mit Frankreich 1789 beginnen, oder dieses in den Vordergrund stellen – wetteifern diese beiden Geschichten in gewisser Weise um den Ehrenplatz. In der Geschichte von der Sozialrevolution nimmt Frankreich 1789 die Position der echten oder Urrevolution ein, des grundlegenden Moments, dem sowohl die moderne Welt als auch alle zukünftigen Konzepte und Auffassungen von Revolution entspringen, zumindest etwa für die nächsten 200 Jahre. Im Gegensatz dazu stellt derselbe Prozess in der Geschichte von den zivilisierenden und demokratisierenden Revolutionen zwar auch den Vorboten der modernen Welt dar, jedoch steht die Französische Revolution für einen Abschluss, einen Höhepunkt und sie beinhaltet sogar eine Warnung – sie ist ein warnendes und mahnendes Beispiel dafür, was passiert, wenn Ereignisse zu weit gehen, und sie lässt einen Blick darauf erhaschen, was sonst noch hätte passieren können. Die zentralen Themen sind Zivilisierung, Fortschritt, Demokratisierung und – etwas ironisch – Adel. Der „Edelmut“ des Adels zeigt sich hier einerseits in der Aufgabe seiner Vormachtstellung als auch, damit einhergehend, in einer gewissen noblesse oblige von Seiten der Eliten, die das Wahlrecht erweitern. Diese zivilisierende und demokratisierende Revolutionserzählung untermauert den Triumph der Aufklärung und kommt häufig zum Einsatz, wenn Staaten und Eliten die Legitimität und Autorität für sich nutzen möchten, die sie anscheinend konnotiert. Es handelt sich im Endeffekt um eine zutiefst „liberale“ Revolutionsgeschichte und somit um eine Erzählung, die vor Radikalismus und Revolutionen warnt, während sie gleichzeitig ein Loblied auf Mäßigung und Reformen singt. Wir werden uns hier auf die drei Schlüsselfälle dieser Erzählung konzentrieren: die politischen Revolutionen
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Gerücht und Revolution
in Großbritannien (1688) und darauffolgend in einigen seiner nordamerikanischen Kolonien, in den entstehenden Vereinigten Staaten (1776) und in Frankreich (1789). Letztere wird in dieser Geschichte schlussendlich missbilligend betrachtet. Frankreich als weltweit erste große Sozialrevolution ist zentraler Bestandteil des nächsten Kapitels (und taucht auch in anderen Kapiteln in Nebenrollen auf). Ausgangspunkt dieser Geschichte ist die Konstruktion einer „westlichen Zivilisation“, bei der Begriffe von Bürgertum und Demokratie im Vordergrund stehen. Selbstverständlich sind zu diesem Thema viele Bücher verfasst worden, sie erzählen von einer eurozentrischen Kultur, die ihren Ursprung in Griechenland hat und die einem konstruierten Bild vom Orient gegenübersteht, der durch Persien und den Nahen und Mittleren Osten repräsentiert wird. Hier werden frühe Demokratiekonzepte den Griechen zugeschrieben, ein anerkennender Blick auf den römischen Senat geworfen und gelegentlich auch regionalen Helden und Kämpfen überall im nachmittelalterlichen Europa Beachtung geschenkt, denen es darum ging, die Umklammerung der Kirche zu lockern und die Herrschenden zur Rechenschaft zu ziehen – von einiger Bedeutung ist also beispielsweise die lutherische Reformationsbewegung. Diese Geschichte beinhaltet die zumindest flüchtige Erwähnung der „Glorious Revolution“ im 17. Jahrhundert in England (wenn auch die Levellers, Diggers und andere ihres Schlages kaum oder gar nicht genannt werden) und findet ihren Höhepunkt dann in den Zwillingsrevolutionen in Amerika 1776 und Frankreich 1789. In dieser Geschichte ist diesen drei „liberalen“ und, für ihre Zeit, demokratischen Revolutionen vieles gemeinsam. Besonders die Betonung von Freiheit und Demokratie wird als entscheidend für die moderne (europäische und nordamerikanische) Form der „Zivilisation“ betrachtet. Nachdem sie also zum Kern der Sache vorgestoßen war (das europäische Durcheinander aus Grafschaften, Fürstentümern, Königreichen und Staaten), war die Revolution abgeschlossen, von kleineren Anpassungen und Nachbesserungen in den nächsten etwa 150 Jahren einmal abgesehen. Die US-Revolution wurde als die liberale Revolution verehrt und setzte Standards, beinahe alle nachfolgenden Revolutionen konnten dem Vergleich nicht standhalten. Es gibt jedoch noch einige besondere Bestandteile dieser Geschichte, die man nicht unerwähnt lassen sollte. Einige Versionen der Geschichte beinhalten den 1848er „Frühling der Völker“ (oder „Frühling der Nationen“), das Ergebnis der liberalen Revolutionen in ganz Europa,1 in dem es hauptsächlich um eine Ausweitung der Rechte der Bevölkerung ging und um die Verfestigung der Demokratie (wobei es hiervon, wie wir noch sehen werden, auch radikalere Interpretationen gab). Es ist auch nicht ungewöhnlich, in dieser
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Geschichte auf modernisierende Revolutionen wie die Meiji-Restauration 1868 in Japan zu treffen oder auf die „Jungtürken“ (Türkei 1919), auch wenn in diesem Fall die Betonung eher auf „zivilisierend“ als auf „demokratisierend“ liegt.2 Außerdem beinhaltet diese Geschichte Klagen bezüglich der vergeudeten Möglichkeiten der Revolutionen im Iran und in Russland 1905 sowie in den frühen Jahren der Chinesischen Revolution (1911) mit Sun Yat Sen (Sun Zhongshan) und sie trauert um das nicht genutzte Potenzial der Mexikanischen Revolution ab 1917 bzw. 1920. In jüngerer Zeit fallen als Beispiel oft die osteuropäischen „Farbrevolutionen“ 1989, was die schwierige Frage aufwirft, ob diese europäischen Staaten eine „Zivilisierung“ nötig hatten. Unser Hauptthema ist jedoch die Geschichte von England, Amerika und Frankreich als den drei großen bürgerlichen Revolutionen.
Die griechisch-römische und jüdisch-christliche Basis Die zivilisierende und demokratisierende Geschichte ist stark durch eine Baumstruktur geprägt und wurzelt in der nördlich-westlichen Zivilisation, die mit der vertrauten griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Basis der westlichen Kultur verbunden ist. Die westliche Kultur, so lautet die Geschichte, besteht aus einer fest umrissenen Gesamtheit von Künsten, Wissenschaften, politischen Praktiken und philosophischen und religiösen Prinzipien, die sie von anderen Zivilisationen unterscheidet. Ob dies so stimmt oder nicht, diese Geschichte hat über Jahrhunderte überzeugt und wurde durch Imperialismus und Globalisierung überall verbreitet. In dieser Erzählung kamen Zivilisation und Demokratisierung zuerst bei den Griechen auf, wurden von den Römern etwas modifiziert und dann entscheidend von der hebräischen Bibel beeinflusst, besonders darüber, wie sie von den Christen in Zentraleuropa gelesen wird – wie wir noch sehen werden, ist dieselbe Bibel mit dem Alten Testament und einigen seiner Hauptgeschichten auch für andere Erzählungen von Widerstand, Rebellion und Revolution von großer Wichtigkeit. Lässt man die eigene Interpretation und die vielen Probleme, die sich durch diese spezielle Konzeptualisierung ergeben, außer Betracht, so ist die zivilisierende und demokratisierende Geschichte trotz ihrer inhärenten Widersprüchlichkeiten nicht weniger mächtig. Das alte Griechenland war nicht etwa eine homogene Gesamtheit, es gab vielmehr Hunderte von Stadtstaaten. Vieles von unserem Wissen über Griechenland leitet sich aus unseren Informationen über Athen ab und dorther stammen auch die frühesten Demokratiebegriffe ca. 400 – 500 v. Chr. Die Demokratie galt als suspekt, man fürchtete, sie könne zu einer Herrschaft des
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Pöbels führen, und Aristoteles bezeichnete sie als eine pervertierte Regierungsform. Seiner Sicht nach ist eine konstitutionelle Republik die beste mögliche Regierungsform, doch aus Gründen des Bevölkerungswachstums erscheint die Demokratie als mehr oder weniger unausweichlich. Während sie für Aristoteles immer noch der Oligarchie oder der Tyrannei vorzuziehen ist, so geht er doch davon aus, dass sie in der Praxis zu einem Desaster führen muss – einer Herrschaft der Bedürftigen, die weder Zeit noch Neigung zum Regieren haben. Die damalige Demokratie war exklusiv (es durften nur männliche Bürger wählen), direkt und beinhaltete besondere Eigenheiten (wie etwa die Ächtung als Strafe), aber sie war durchaus in ihrer Grundform erkennbar.3 Sie kann sicherlich zu Recht als Ursprung der westlichen liberalen Demokratie gelten. Zeitgleich mit dem Aufkommen der Demokratie in Athen blühten Kunst und Literatur auf. Diese im Nachhinein als „goldenes Zeitalter“ betitelte Glanzzeit des Theaters (Aeschylus, Aristophanes, Euripides, Sophokles), der Geschichtsschreibung (Herodot, Thukydides) und der Philosophie (Sokrates, Aristoteles, Platon) wird oftmals als Grundlage der „westlichen Zivilisation“ betrachtet. Während die Kritiken von Aristoteles und Platon entscheidend für den Niedergang der Demokratie verantwortlich sind, ist doch die frühe Zeit der demokratischen Praxis und des „zivilisierten“ Verhaltens von großer Bedeutung für unsere Geschichte. Das Kernstück dieser Geschichte stammt aus Rom, basiert größtenteils auf der von den Griechen praktizierten Demokratie und im Mittelpunkt steht die Repräsentation und Rolle des Senats. Während die Verfassung größtenteils nicht verschriftlicht war, mündlich weitergegeben wurde und der Senat sich aus den Mächtigen zusammensetzte, waren die Bürgerrechte in den „zwölf Tafeln“ erfasst. Außerdem konnten Stämme und Versammlungen gegründet werden, auf denen die Repräsentation basierte. Es gab einen enormen Bürokratieaufwand, der als Zeichen der Zivilisation gesehen wurde, und eine beeindruckende Zahl von Offiziellen und Verwaltungsgebäuden. Außerdem war Rom ebenfalls eine Kulturstätte und aufgeschlossener für fremde Einflüsse als Athen; besonders die griechische Kultur war in allen Bereichen sehr einflussreich. Die römische Architektur, das Ingenieurswesen und die Bautechniken etablierten sich als Indikatoren der Zivilisation. Was Athen angeht, so hatte das Bedürfnis nach Stabilität und einem starken Herrscher zum Niedergang der Demokratie geführt, doch das änderte nichts daran, dass die Geschichte der Demokratie stetig weitergeschrieben wurde und sich entwickelte. „Jüdisch-christlich“ („Judeo-Christian“) ist ein Ausdruck, der vor allem in Nordamerika von Christen benutzt wird, die ihre Verbundenheit zur Tradition des Alten Testaments betonen möchten. Bezogen auf die Geschichte von der zivilisierenden und demokratisierenden Revolution ist der wichtigste
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Bibelteil das zweite Buch, Exodus, das die Geschichte der Flucht aus der Tyrannei in die Freiheit erzählt. Walzer (1985: 5) geht sogar so weit, zu sagen, dass die Bezugnahmen auf den Exodus in der politischen Geschichte des Westens („oder zumindest in der Geschichte von Protest und radikalem Bestreben des Westens“) dermaßen verbreitet sind, dass er sie nur bemerkt, wenn sie fehlen. Während die Exodusgeschichte zumindest für Walzer keine Theorie der Revolution beinhaltet,4 so ist sie doch ein Teil des „kulturellen Bewusstseins des Westens – sodass einige politische Ereignisse (unterschiedliche Ereignisse, jedoch zu einer bestimmten Auswahl gehörend) innerhalb des narrativen Rahmens, den sie bietet, lokalisiert und verstanden werden. Diese Geschichte machte es uns möglich, andere Geschichten zu erzählen“ (1985: 7). Und das Geschichtenerzählen ist für Revolutionäre von großer Wichtigkeit. In diesem Kontext muss man einen weiteren Aspekt der christlichen Tradition erwähnen: die protestantische Reformation. Diese begann im frühen 16. Jahrhundert als Versuch, die römisch-katholische Kirche zu reformieren. Sie wurde durch die 95 Thesen ausgelöst, die der Theologe Martin Luther an das Tor der Allerheiligenkirche, der Universitätskapelle in Wittenberg nagelte, wo er eine Professur innehatte (wenn auch einige den Beginn erst auf seine Exkommunikation vier Jahre später datieren). Von kirchlichen und doktrinellen Aspekten einmal abgesehen war die Reformation in vieler Hinsicht von großer Bedeutung für das, was einmal die Geschichte von der zivilisierenden und demokratisierenden Revolution werden sollte. Zuerst einmal unterstützte und erweiterte sie die aufkommende liberale (und kapitalistische) Privilegierung des Individuums – nur der individuelle Glaube war von Bedeutung. Außerdem führte die Reformation trotz Luthers anderweitiger Intentionen zur Entstehung protestantischer Sekten und zur Trennung von Kirche und Staat; die Oberhäupter neu entstehender Staaten taten sich häufig mit den Anführern protestantischer Sekten zusammen. Und schlussendlich gab es (zumindest theoretisch) nach den Vereinbarungen zum Westfälischen Frieden 1648, die die Reformation abschlossen und deutlich den kulturellen und politischen Einfluss des Papstes in Europa begrenzten, das Recht auf freie Religionsausübung. Zusammengenommen stellen diese drei Bestandteile – die Griechen, die Römer und die jüdisch-christliche Tradition – so etwas wie ein eisernes Dreieck, auf dem die Geschichte von der zivilisierenden und demokratisierenden Revolution ihr Gefüge errichtet. Viele Teile dieser Konstruktion sind fragwürdig, manche passen nicht ganz zusammen und viele zeugen nicht nur von einer rückwärts gelesenen Historie, sondern sogar von deren freier Interpretation für jeweils aktuelle Zwecke. Sie bilden ideales Geschichtenmaterial.
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Die nicht nur „glorreiche“ Revolution: Englands liberaler Moment 1688 England im 17. Jahrhundert nimmt einen kuriosen Platz innerhalb der Revolutionsgeschichten ein. Revolutionäre Aktivitäten gab es in England an sich kaum: „[T]here is no evidence of a real ,revolution‘ in England in any specific century“ (Macfarlane, 1986: 163). Nichtsdestoweniger kann man den englischen Bürgerkrieg zu Recht als revolutionäre Situation lesen und, wie in den folgenden Kapiteln näher ausgeführt, hatten die Levellers und Diggers in dieser Ära durchaus revolutionäre Vorstellungen und Gefühle. Doch in der Geschichte von Zivilisierung und Demokratisierung steht die „Glorious Revolution“ von 1688 im Vordergrund, hauptsächlich wegen der revolutionären Aktivitäten, die in ihr zum Abschluss kamen. Außerdem stellt 1688 ein Rätsel dar. Was in England am ehesten an eine Revolution grenzte und von den meisten als solche anerkannt werden würde, ist wohl der englische Bürgerkrieg 1640–60, von manchen als „puritanische Revolution“ bezeichnet (beispielsweise von Walzer, 1982) und von anderen als „die Englische Revolution“ (besonders von Hill, 1940, 1961, 1984, 1997a, 1997b). Ausgelöst durch Kämpfe zwischen Schottland und England (und zu einem gewissen Maße auch Irland) bezüglich der politischen Vorherrschaft und der religiösen Konformität (und Fragen der Toleranz) kam es zu einem überaus langwierigen Kampf zwischen dem König mit seiner Vorstellung von absoluter Macht und dem Parlament, das seine Rechte und Privilegien absichern wollte. Die Parlamentarier und ihre Verbündeten, nicht zuletzt die radikalen Levellers und die proto-kommunistischen Diggers, verlangten „no taxation without representation“ („keine Steuern ohne Mitbestimmungsrecht“) und wollten willkürlichen Haftstrafen ein Ende setzen (das Habeas-Corpus-Recht). Sie beendeten die Zensur, weiteten das Gerichtssystem aus und töteten letztendlich im Jahre 1649 einen König. Dieser Zeitabschnitt von 1640 – 49 war, wie Lachmann bemerkt, „anomalous in English history for its radicalism and the significant involvement of popular forces“ (1997: 86); nach Halliday handelte es sich um „[a] mass revolt from below“ (1999: 47). Und obwohl die Unterschicht gegenüber den Händlern und der Mittelschicht wenig Chancen hatte und die meisten der radikaleren Errungenschaften innerhalb der 20 Jahre bis die Monarchie 1660 wieder hergestellt wurde wieder zurückgesetzt wurden, kann man doch radikale demokratische Bestrebungen identifizieren und die erste liberale Revolution erkennen. Deren Niederschlagung in der Konterrevolution 1659–60 führte viele dazu, mit noch intakten Träumen und Wunschvorstellungen in die „Neue Welt“ umzusiedeln. Ob der Zeitraum von 1640 – 60
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eine „echte Revolution“ darstellte, kann diskutiert werden, doch es gab mit Sicherheit revolutionäre Aspekte. Was genau macht 1688 dann so bedeutend? Die genauen Ereignisse im Jahre 1688 sind im Kontext dieser Geschichte von relativ geringer Bedeutung. Wieder einmal gab es einen Konflikt zwischen der Krone und dem Parlament und wieder ging es um religiöse Schwierigkeiten, doch diesmal kam noch ein sich regender Nationalismus hinzu. Die Thronbesteigung des katholischen Königs James II im Jahre 1685 hatte Besorgnis bezüglich der religiösen Konformität geweckt und er geriet nach kurzer Zeit mit dem Parlament in einen Streit über seine königlichen Prärogative. Doch der entscheidende Faktor war wohl die verbreitete Auffassung, er geriete zunehmend unter den Einfluss des Franzosen Louis XIV. Dieser war ebenfalls Katholik und es wurde vermutet, dass er ein europaweites Imperium anstrebte. Die Rufe nach Restauration und der Rückkehr zu früheren Zeiten wurden laut – in diesem Sinne handelte es sich also um einen konservativen Moment. Im verzweifelten Versuch, die protestantische Herrschaft wieder herzustellen, lud man die Holländer, zu diesem Zeitpunkt Frankreichs Hauptgegner, mehr oder weniger zu einer Invasion ein. Sie wurden mit englischen Mitteln unterstützt, mit ihnen kämpften englische und schottische Streitkräfte und sie wurden als nationalistische Bewegung willkommen geheißen. James II floh nach Frankreich und hatte somit abgedankt. Das verhandelte Abkommen, ein elitärer Pakt, war teils restaurierend, teils modernisierend. Letzteres besonders in den drei Gebieten, wo das Parlament von John Lockes liberalen Ideen beeinflusst wurde: die königliche Macht wurde auf vom Parlament sanktionierte Aktionen begrenzt, eine Rechteerklärung (später „Bill of Rights“ genannt) wurde verkündet – im Prinzip der Prototyp einer Verfassung, und das parlamentarische Recht, untragbare Herrscher auf ordentlichem Wege zu ersetzen, wurde festgelegt. Wenn dies der Ausgang eines revolutionären Prozesses war, der beinahe 50 Jahre vorher begonnen hatte, so war es wohl ein recht sang- und klangloses Ende. Doch für den Liberalismus (und in einem gewissen Maße auch für den Kapitalismus, da weitere Feudalbeziehungen einbrachen) war es ein triumphaler Augenblick. Nur 50 Jahre später würde ein französischer Schriftsteller darüber sagen: „[eine] große Revolution … die Europa in Staunen versetzte“ (Baker, 1990: 207, er zitiert Jurieu). Und tatsächlich waren es laut Baker die Franzosen, die als erste die Ereignisse von 1688 als „la Révolution d’Angleterre“ (1990: 207) bezeichneten. Für unsere Zwecke von besonderer Bedeutung ist Bakers Vermerk, dass nach der französischen Lesart die Ereignisse insofern revolutionär waren, als dass es um das Aufkommen etwas völlig Neuen ging, während gleichzeitig die Restauration früherer Zeiten begrüßt wurde: „[Eine] wahrhaftige Rückkehr … zu den grundlegenden Gesetzen … gleichzeitig der
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Beginn einer neuen Ära, der die Wiedererlangung der Freiheit ankündigte“ (1990: 207). Finley geht so weit, die „Glorious Revolution“ als eine Überschreitung des Rubikons zu sehen: bis dato hatte der Ausdruck „Revolution“ keine politische Bedeutung gehabt und somit handelte es sich nun um „den großen Graben, der die modernen Revolutionen von allen vorherigen ,Revolutionen‘ trennt“ (1986: 50). Vielleicht nahm die Revolution von 1688 auch deswegen diese Rolle ein, weil es sich bei ihr, wie Malia (2006: 6) zu bedenken gibt, um den abschließenden Teil Englands vorhergegangener Revolution handelte und sie eine beruhigende „Restauration“ darstellte (man beachte: „[D]ie ursprüngliche Bedeutung von Revolution ist die Rückkehr zu einem Ausgangspunkt“). Er schließt nichtsdestoweniger, dass man sie „zutreffenderweise“ als Revolution interpretieren kann (2006: 137) und dass der gesamte Abschnitt von 1640–88 als eine „Langzeitrevolution“ („long-term revolution“) gesehen werden kann. Diese Vorstellung eines langen Prozesses, in dem Vernunft eine große Rolle spielt, passt sehr gut zum Konzept der zivilisierenden und demokratisierenden Revolutionsgeschichte. Die „Glorious Revolution“ prägt diese Geschichte auf mehrere bedeutende Arten. Obwohl es sich definitiv um eine „Restauration der monarchistischen Macht zu ihrer früheren Rechtschaffenheit und Herrlichkeit“ handelte, zeigt Arendt auch: „[Es war] das Ereignis, durch das der Begriff [Revolution] paradoxerweise seinen festen Platz in der Sprache von Politik und Geschichte fand … [und] das uns den klaren Beweis eines neuen Geistes, des Geistes der Neuzeit vor Augen zu führen scheint“ (1965: 43). Dies wird auch von Dunn vermerkt: „[Ihre] Träume waren revolutionär genug in dem Sinne, dass sie ihnen zeigten, was möglich war“ (1989: 5; Hervorhebung im Original). Huntingtons Behauptung, es habe sich um einen Vorläufer der modernen Revolution gehandelt – „[its] purpose and effect … radically modern“ (1968: 265) – scheint demnach nachvollziehbar. Das Jahr 1688 markierte eindeutig die Konsolidierung der bürgerlichen Herrschaft und steckte die Autoritätsgrenzen von Krone und Parlament ab; die englischen Monarchen konnten fortan nicht mehr ohne Zustimmung des Parlaments regieren. Die Resultate gingen nicht spurlos an den benachbarten Nationen vorbei: „[I]n vollem Bewusstsein des liberalen Charakters der englischen konstitutionellen Ordnung schlugen einige Menschen [in Frankreich] sie als eine Art Model vor“, wenn auch nur für eine (begrenzte) Reform (Malia, 2006: 160). Parker (1999: 146) vermutet, dass die Ansicht der englischen Radikalen in folgende Richtung ging: „[D]ie Ereignisse von 1688 stellten die einzige ,Revolution‘ dar, die nötig war, und [ihre] (einigermaßen begründete) Hoffnung [war], dass die liberalen Grundsätze dieser Bewegung in einer eher allmählichen Reformbewegung erfolgreich verbreitet werden könnten, um
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die vollen Implikationen der Revolution, die bereits Vergangenheit war, zu verwirklichen.“ Malia vertritt die Überzeugung, dass die „Glorious Revolution“ nicht als Revolutionsmodell für das restliche Europa anwendbar sei „… [because] it was not exportable“ (2006: 160). Doch dies trägt nicht der Macht einer Geschichte der liberalen Revolution Rechnung, die sich dem verschrieben hatte, was man zunehmend als Zivilisierung betrachtete, sowie, wenn auch in begrenztem Umfang, der Demokratisierung. Und es gab einige, die dies sowohl in Europa als auch auf der anderen Seite des Atlantiks in den britischen Kolonien in Nordamerika zur Kenntnis nahmen.
Die revolutionäre Tradition, sich der Revolution entgegenzustellen: Amerika seit 1776 Die sogenannte „Amerikanische Revolution“5 von 1776 ist die vielleicht berühmteste nicht-revolutionäre Revolution, zumindest in dem Sinne, wie wir den Ausdruck normalerweise verwenden; dies macht sie in vieler Hinsicht zum perfekten Vorzeigeobjekt dieser eher zurückhaltenden liberalen Revolutionsgeschichte. Während die Amerikanische Revolution unzweifelhaft einen der großen revolutionären Momente, wenn nicht gar Prozesse, repräsentiert, sucht man in den meisten akademischen Abhandlungen zur Revolution vergeblich nach ihr. Dort wird sie meist als politische Revolution behandelt und häufig – und vielleicht am nutzbringendsten – auch als Unabhängigkeitskrieg; denn wie technisch korrekt es auch wäre, sie als Kampf der „nationalen Befreiung“ oder als „antikolonialistischen“ Kampf darzustellen, man würde sie ohne guten Grund aus dem Kontext reißen. Dieses Paradoxon wird von Kumar (2008: 225) untersucht, der die Amerikanische Revolution nach Brinton (1965: 4–5) als „groß“ bezeichnet und sie (zusammen mit England) zu den „Großen Drei“ – Frankreich, Russland, China – zählt, nur um dann festzustellen: „[W]ir nennen die gewaltsame Sezession Amerikas vom britischen Staat bereitwillig eine Revolution (die ,Amerikanische Revolution‘)“ (2008: 229), eine Sichtweise, die nicht unbedingt für ihre Größe spricht. Im deutlichen Gegensatz zu Frankreich, Russland und China – doch darin ähnlich wie England – stellten die Amerikaner keine wirklichen Bemühungen an, ihr soziales und ökonomisches (sowie auch psychologisches und kulturelles) europäisches Erbe tiefgreifend zu verändern. Gleichzeitig versuchten sie, bestimmte europäische Ideen zu vertiefen. Wir werden in den folgenden Geschichten wiederholt darauf zurückkommen, was genau an einem bestimmten Fall revolutionär war und warum er wichtig war. Es wäre ein Fehler, zu ignorieren, dass die Amerikanische Revo-
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lution bezogen auf die Ablehnung der Restauration und die Umformulierung der Politik auf neue und wichtige Weise revolutionär war. Sakwa (2001: 154) stellt sie als ein Paradebeispiel von „Aufklärungsrevolutionismus“ („Enlightenment revolutionism“) dar, das gefolgt wird von der Französischen Revolution. Außerdem kann man leicht erkennen, wofür sie von Bedeutung war und wie stark sie andere beeinflusst hat. In allen folgenden Geschichten kann man die Bezüge sehen. Wir müssen hier also nur die vertraute Erzählung der Ereignisse wiederholen, die gemeinhin als die Amerikanische Revolution von 1776 bezeichnet werden. Vor 1776 hatten die meisten Bemühungen der amerikanischen Kolonialisten bereits etwa ein Jahrzehnt lang eine bessere Repräsentation und mehr Unabhängigkeit innerhalb des britischen Systems zum Ziel. Das Hauptaugenmerk lag auf der Aufhebung belastender Gesetze, einer Erleichterung der wachsenden Schulden und der Reformierung bestehender politischer Institutionen, um diese mehr mit dem in Einklang zu bringen, was man als besondere amerikanische Bedürfnisse und Interessen ansah, die sich von denen des „Mutterlandes“ unterschieden. Mit Augenmerk auf die englischen Gesetze und inspiriert von der Englischen Revolution (Kumar, 2001: 72), also vor allem mit dem Ziel der Ersetzung widrig eingestellter oder unempfänglicher Anführer, begannen die volksnahen Klassen zu agitieren und einige Eliten versuchten, Unterstützung aus dem Volk zu bekommen, um die Missstände zu beseitigen oder andernfalls Unabhängigkeit zu verlangen. Als sich die britische Krone neu organisierte und ihre Herrschaft wieder verstärkte, Steuern erhöhte und mehr Truppen einsetzte, stieg die Anspannung. Diesen imperialistischen Maßnahmen stand zunehmen eine liberale und republikanische Rhetorik gegenüber, die sich auf die britische Verfassungsregelung bezog, sich gegen die britischen Forderungen richtete und zu gewalttätigen Ausschreitungen anstiftete, um den Ernst der Lage deutlich zu machen. Die Dinge gelangten im „Tea Act“ von 1773 zum Höhepunkt, der in der berühmten „Boston Tea Party“ resultierte, was wiederum Zwangsmaßnahmen nach sich zog (um die Bostoner zu bestrafen), und dies wiederum führte zum ersten Kontinentalkongress 1774. Ungefähr sieben Monate später, am 19. April 1775, schossen britische Truppen auf die Miliz in Massachusetts, der Schuss wurde „überall auf der Welt“ vernommen (Emerson, 1994: 125). Wochen später trat der zweite Kontinentalkongress zusammen und etwas mehr als ein Jahr danach, am 4. Juli 1776, wurde die Unabhängigkeitserklärung verabschiedet. Die Unabhängigkeitserklärung ist eine der radikalsten öffentlichen Urkunden aller Zeiten. Diese hauptsächlich von Thomas Jefferson verfasste Erklärung fordert das Recht auf Selbstbestimmung, beinhaltet ein kurzes,
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mächtiges Plädoyer für die elementaren Menschenrechte („Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden … mit gewissen unveräußerlichen Rechten, darunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit“) sowie Vorwürfe gegenüber dem König und rechtfertigt das Bedürfnis der Siedler, die Verbindungen abzubrechen und Unabhängigkeit zu erlangen. Jeffersons Erklärung führt den Demokratiegedanken in die Regierung ein, indem er dem Volk das Recht zuspricht, eine Regierung zu verändern oder zu verwerfen, die sich destruktiv auf die gemeinsamen und gleichen Rechte von „Leben, Freiheit und dem Streben nach Glückseligkeit“ auswirkt (das Letztere ist an Rosseau angelehnt, eine drastische Variation vom „life, liberty, and property“ des liberalen Locke), außerdem verkündet er das revolutionäre Ideal, dass Regierungen „ihre Machtansprüche von der Zustimmung derer, die von ihnen regiert werden“, ableiten müssen. Wir haben es hier mit einem eindeutig liberalen Fanfarenstoß und Manifest zu tun, dessen Bedeutung auch nicht durch seine darauf folgende Bändigung in der US-Verfassung geschmälert wird. Dort wird Freiheit eher mit Eigentum als mit Demokratie verknüpft, da diese immer noch den suspekten Anklang einer Herrschaft des Pöbels hatte und somit nichts Gutes für die Begüterten und Privilegierten verhieß, die Nutzen aus ihrer neuen Position ziehen wollten. Natürlich sind auch unzählige weitere Interpretationen möglich (siehe unter anderem Nash, 2005; Zinn, 2005), und es gibt seit Anfang des 20. Jahrhunderts alternative Sichtweisen darüber, wie die Amerikanische Revolution ablief und was sie repräsentierte (Beard, 2004, 1965; Hofstadter, 1948). Wie in späteren Kapiteln detaillierter ausgeführt, vor allem in der Untersuchung der Geschichte von Befreiung und Freiheit und der Revolutionsgeschichte der Verlorenen und Vergessenen, gibt es noch einige weitere Dimensionen in diesem revolutionären Prozess, der zur Entstehung der Vereinigten Staaten führte. In der ersten Geschichte spielen vor allem die frühen Radikalen eine wichtige Rolle, in der zweiten die revolutionären Kämpfe, die auch weitergingen, nachdem der Erfolg bereits sichtbar war. Und dann gibt es diesen Umschwung in der Erzählung: Nachdem es die Revolution vollbracht hatte und die Welt in Staunen versetzt hatte, schlug Amerika prompt eine neue Richtung ein und begann damit, sich Revolutionen in beinahe jeder Form, an jedem Ort und zu jeder Zeit entgegenzustellen. Toynbee vermutet, dass sich Amerika, wenn es an seine bedeutsame Revolution erinnert wurde, „verlegen und verärgert“ fühlte und daher eher die Rolle Roms erwählte: „immer wieder die Reichen gegen die Armen unterstützend in allen ausländischen Gesellschaften, die unter seine Herrschaft fielen; und, da die Armen – bis dahin – immer und überall weitaus zahlreicher gewesen
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sind als die Reichen, führte Roms Politik zu Ungleichheit, zu Ungerechtigkeit und zum kleinsten Glück derer, die mit der größten Zahl vertreten waren“ (1962: 92). Arendt (1965: 216) fürchtet, dass das Scheitern, die Amerikanische Revolution in die weltweite revolutionäre Tradition einzubinden, nicht nur für die Außensicht auf Amerika negativ war, „wenn sogar Revolutionen auf dem amerikanischen Kontinent sprechen und handeln als ob sie den Wortlaut der Revolutionen in Frankreich, Russland und China auswendig kennen, ohne aber jemals von so etwas wie der Amerikanischen Revolution gehört zu haben“, sondern auch daheim zu einer intensiven Furcht vor der Revolution führte, „[bedingt durch das] Unvermögen, sich daran zu erinnern, dass es eine Revolution war, die die Vereinigten Staaten hervorbrachte, und dass die Republik nicht durch ,historische Notwendigkeit‘ oder natürliche Entwicklung geschaffen wurde, sondern durch einen wohlüberlegten Akt: die Gründung der Freiheit.“ Ob aus Furcht oder aus der Überzeugung heraus, dass die langsame, reformistische, liberale Revolution das Mittel der Wahl sei: Die Vereinigten Staaten haben sich weltweit zur größten und bestimmenden anti-revolutionären Macht entwickelt. Somit hat es einen durchaus ironischen Beiklang, dass die Amerikanische Revolution das Kernstück, das glänzende Beispiel einer liberalen Revolution ist, also das Herz der Geschichte von der zivilisierenden und demokratisierenden Revolution. In dieser Geschichte geht es um eine mutige und entschlossene Gruppe „neuer Männer“ („new men“, sie sind alle männlich und alle weiß, siehe beispielsweise Nash, 2005: xvi ff. oder Linebaugh und Rediker, 2000: 211–47) in der „neuen Welt“, die sich von den Fesseln der „alten Welt“ befreien und neu beginnen. Diese Revolution ist einerseits alten Werten verpflichtet und blickt gleichzeitig keck nach vorn, geht jedoch dabei nicht zu weit oder zu schnell. Das Augenmerk liegt auf der Freiheit, die von Gesetzen behütet und durch ein System gegenseitiger Kontrolle bewahrt wird. Der aufkommende „Republikanismus“ wurde als die neue Auffassung von Demokratie verstanden und die Demokratie war nicht länger eine Pöbelherrschaft sondern wurde in eine Herrschaft der Zivilisierten uminterpretiert. In dieser überaus mächtigen Form avancierte „Amerika“ zu einem Leuchtfeuer für die restlichen Nationen der Welt und seine mitreißende Botschaft überquerte den Atlantik und gelangte zurück nach Frankreich.
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Wenn gute Revolutionen schlecht ausgehen: Frankreichs abschreckende Erzählung von 1789 Die Französische Revolution wird an dieser Stelle nur kurz angerissen, ihr großer Auftritt folgt in der Geschichte von der Sozialrevolution im nächsten Kapitel. Nichtsdestoweniger ist sie ein zentraler Bestandteil dieser Geschichte und mit Sicherheit entscheidend für den Erzählverlauf. Es ist durchaus angebracht, hier noch einmal auf Mornets (1933: 471) bereits im letzten Kapitel erwähnte Beobachtung zurückzukommen, dass der Ursprung der Französischen Revolution die eine Geschichte ist und ihre Historie wiederum eine andere, wenn auch hier die Betonung auf der erzählten Geschichte liegen sollte. Selbst eine oberflächliche Bestandsaufnahme der wirklich bemerkenswerten Menge an wissenschaftlicher und populärer Literatur zum Thema 1789 zeigt, dass es nicht eine Französische Revolution gab, sondern viele. In der Geschichte von der zivilisierenden und demokratisierenden Revolution ist Frankreich die gute Revolution, die schlecht ausging: „gut“ in ihren frühen, liberal geprägten Jahren, „schlecht“, als die Beteiligten über das hinaus schossen, was vorher geplant war, und die Dinge „zu weit“ gingen. Jede Geschichte über die Französische Revolution muss die folgenden drei Faktoren berücksichtigen. Erstens: Ungeachtet seiner vielen Probleme war Frankreich im Jahre 1789 einer der beiden wichtigsten, mächtigsten und einflussreichsten Staaten überhaupt und Paris war die Hauptstadt der Welt. Zweitens: Frankreich war geprägt durch das relativ repressive Ancien Régime und durch einen immer noch größtenteils feudalen Status, mit all dem, was dies für die sozialen, politischen und ökonomischen Beziehungen bedeutete. Und schließlich: Während Frankreichs nicht abschätzbare Hilfestellung für die amerikanischen Revolutionäre den Sieg über ihre Gegner, die Briten, möglich gemacht hatte, so erwies sich dieser Sieg doch als zweischneidiges Schwert. Nicht nur war das Regime bankrott, Soldaten und Staatsmänner kehrten auch mit „radikalen“ Ideen von republikanischer Selbstverwaltung zurück.6 Trotz des so robusten Anscheins war nicht alles in Ordnung. An dieser Stelle beginnen die Erzählstränge sich zu gabeln und in der zivilisierenden und demokratisierenden Geschichte wird nun Frankreichs riesiger bäuerlicher Bevölkerungsschicht und den wachsenden Massen der Armen in den Städten nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt – ihre Geschichten tauchen erneut in den folgenden Kapiteln auf. Im Jahre 1787 berief der König, der mit einer unlösbaren Finanzproblematik und wachsender Unzufriedenheit konfrontiert war, eine „Notabelnversammlung“ ein, welche aus seinen Offiziellen
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und Repräsentanten von Aristokratie und Kirche bestand. Allerdings konnten sie sich nicht auf einen gemeinsamen Weg einigen. Handlungsunfähig und weiterer Möglichkeiten beraubt, zog der König in Erwägung, die Generalstände einzuberufen, eine Körperschaft, welche das französische Volk repräsentierte. Gemäß des späten Feudalismus war Frankreichs durchstrukturierte patriarchale Gesellschaft nach Stellung und Funktion geordnet, was sich grob in den drei Ständen widerspiegelte: der erste Stand, der Klerus; der zweite Stand, der Adel; der dritte Stand, alle anderen. Historisch hatten die ersten beiden Stände solche Vorgänge bestimmt und mussten deshalb zu Recht davon ausgegangen sein, dass dies immer noch der Fall wäre. Der König wiederum war sich sehr wohl bewusst, dass er für die Beseitigung ihrer Missstände Verantwortung trug (Sewell, 1985: 67) und muss einkalkuliert haben, dass ein solcher Schachzug das Risiko wert war. In dieser Version der Geschichte war sich der König im Großen und Ganzen darüber klar, dass etwas getan werden musste, und mit Unterstützung oder zumindest Duldung des Adels und einigen seiner neuen Verbündeten aus dem aufstrebenden wohlhabenden Bürgertum, berief er die Generalstände ein, um den französischen Staat zu modernisieren und möglicherweise die Position des Adels und seiner Verbündeten zu verbessern. Wie Sewell vermerkt, markiert dies das Ende der absolutistischen Monarchie (1985: 67). Während kaum ein Zweifel darüber besteht, dass der König, der Klerus und der Adel davon ausgingen, dass diese Einberufung zu ihrem gegenseitigen Vorteil ablaufen würde, hatten sie völlig den unerwartet eigenständig denkenden und mächtigen dritten Stand unterschätzt, der all ihre Pläne vereitelte. Wenn man sich den Mechanismus des Prozesses vor Augen führt, hätte das nicht passieren dürfen. In einer Zeit großer Anspannung wurde ein elementares Wahlsystem eingeführt und die Stände legten dem König Beschwerdehefte vor (cahiers de doléances). Es erscheint kaum überraschend, dass etwa sechs Wochen nachdem die Generalstände Anfang Mai 1789 zum ersten Mal in 175 Jahren einberufen worden waren, der dritte Stand mit einigen Unterstützern aus den anderen beiden Ständen sich selbst zur französischen Nationalversammlung umdefinierte und angesichts der königlichen Bemühungen, diese zu unterdrücken, eine Verfassung schrieb. Einen Monat später, am 14. Juli, markierte der Fall der Bastille (eine Geschichte, die wegen ihrer mächtigen sozialrevolutionären Symbolik im nächsten Kapitel erzählt wird) den Zusammenbruch jeglicher bedeutungsvoller königlicher Autorität, wenn auch noch einige Wochen lang eine gewisse Verbundenheit zum König verblieb. Nur zwei Monate nach ihrer ersten Zusammenkunft stimmte die Nationalversammlung am 4. August dafür, feudale Rechte abzuschaffen, wenn dies auch eher symbolische als reale Bedeutung
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hatte, und etwa drei Wochen später folgte dann die Menschen- und Bürgerrechtserklärung. Die liberale Reformierung Frankreichs hatte begonnen und die Widerspenstigkeit des Königs verhieß nichts Gutes.7 Die Menschen- und Bürgerrechtserklärung ist ein direkter Abkömmling der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, allerdings mit einigen entscheidenden Ergänzungen und einer neuartigen Wendung: diese Gleichheit und diese Rechte bezogen sich auf die Menschen überall (Frauen und Sklaven waren genau wie in den USA allerdings ausgeschlossen). Das Volk steht im Mittelpunkt, in seiner Gestalt als Nation ist es der Träger der höchsten Staatsgewalt und besitzt somit Legitimität und Autorität. Die Rechte beinhalteten „Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung“ sowie die Freiheiten, die in der amerikanischen „Bill of Rights“ aufgeführt werden, wie etwa Rede- und Religionsfreiheit, Freiheit von willkürlichen Festnahmen und – in dem Bemühen, speziellen Missständen des Ancien Régime vorzubeugen – die Vermutung der Unschuld bis zum Beweis des Gegenteils. Außerdem gerechte Strafen, angemessene Steuern für das Allgemeinwohl, bewaffnete Streitkräfte, die der Gesellschaft dienen sollen, die Enteignung von Eigentum für die Öffentlichkeit unter Zahlung einer gerechten Entlohnung und die Rechenschaftspflicht von Amtspersonen. Es ist ein bemerkenswertes – wenn auch zumindest in dieser Version der Geschichte reformistisches – Dokument, das zur Präambel der französischen Verfassung von 1791 wurde. In ihrem ersten Jahr war die Revolution somit von einer moderaten, wenn auch nichtsdestoweniger dramatischen Reform bestimmt, die den Spuren von 1688 und 1776 folgte. Die zivilisierende und demokratisierende Geschichte erzählt von einem wohlmeinenden, wenn auch überforderten, König, der damit zu kämpfen hat, seinen Verlust „absoluter“ Macht zu akzeptieren und der zu ungeduldig ist, sich mit „seinen“ Leuten zu einigen, die an einer Art konstitutioneller Monarchie arbeiten. Während der „Oktobertage“ brachten unzufriedene und hungrige Frauen die königliche Familie und die Abgeordneten von Versailles zurück nach Paris, wo diese sich daran machten, die Handelsfreiheit einzuführen (inklusive einer Unterdrückung der Arbeiterverbände), die Provinzen des Landes durch Départements zu ersetzen, Wahlen abzuhalten, ein einheitliches System von Gerichtshöfen und rechtlichen Bestimmungen einzuführen sowie – ein kontroverser Zug – das kirchliche Eigentum zu verstaatlichen und die Geistlichen zu besolden, sowohl um die Macht der Kirche zu brechen als auch aus finanziellen Gründen. An dieser Stelle gehen die beiden Geschichten wirklich auseinander. In der folgenden Geschichte der Sozialrevolution ist dieses erste Jahr der Reformen, das im Angesicht einer widerspenstigen Aristokratie zur Verfassung von 1791 führt, auf gewisse Weise der Zeitpunkt, an dem die Dinge richtig losgehen. In
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der zivilisierenden und demokratisierenden Geschichte ist es der Anfang vom Ende. In dieser Erzählung wollten die „Linken“ mehr (es gab jetzt „links“ und „rechts“, schlicht und einfach darauf basierend, wo die Teilnehmer bei den ersten Treffen der Nationalversammlung gesessen hatten) – nicht zuletzt Republikanismus und ein Referendum über das Schicksal der königlichen Familie. Die Verdammung der Revolution durch Papst Pius VI. im Februar 1791 mochte den König ermutigt haben, sich an seine Verwandten und Freunde außerhalb Frankreichs zu wenden, und zweifellos bestätigte sein Versuch, im Juni mit seiner Familie aus Frankreich zu flüchten, die schlimmsten Befürchtungen der Linken und besiegelte das Schicksal der Monarchie. Die königliche Sanktionierung der Verfassung im September war von geringer Bedeutung. Nachdem ihre Arbeit verrichtet war, löste sich die Versammlung der Generalstände auf, Wahlen wurden abgehalten und im Oktober 1791 tagte dann die neue legislative Versammlung, was zu preußischen und österreichischen Drohungen einer Zwangswiedereinführung der Monarchie führte. Aus Angst vor einer Invasion erklärte die Versammlung im April 1792 Österreich den Krieg (dreisterweise, zumindest in dieser Geschichte, im Namen aller Menschen gegen alle Könige) und die Revolution nahm einen deutlich radikaleren Verlauf. Die königliche Familie wurde des Verrats bezichtigt, die Revolution in Gefahr gesehen und am 10. August 1792 stürzte ein Aufstand in Paris die Monarchie und verlangte nach einer verfassungsgebenden Versammlung, die dann am 22. September die Französische Republik ausrief. Im Dezember stand der König wegen Hochverrats vor Gericht und wurde für schuldig befunden. Er wurde am 21. Januar 1793 gegen den Willen der Gemäßigten guillotiniert, die selber innerhalb der nächsten sechs Monate aus der Regierung gedrängt wurden und im Oktober gemeinsam mit der Königin der Guillotine entgegensehen mussten. Für die Gemäßigten hatte die Revolution begonnen, ihre Kinder zu fressen, und fortan kam es zu immer mehr rapiden und dramatischen Veränderungen.8 Die zivilisierende und demokratisierende Geschichte kommt somit in Frankreich zu einem vorwurfsvollen Schluss: zu viel, zu früh, zu weit, zu schnell – der liberale Traum wird zerstört, er fällt einem unkontrollierbaren Feuer zum Opfer (oder auch einem Fieber, vgl. Brinton, 1965: 16). Nichtsdestoweniger steht 1789 für die Geburt eines Volkes (später auch für die Geburt „des Volkes“), aktualisiert den Demokratiegedanken, der mit dem alten Griechenland und dem alten Rom verbunden ist, die beide häufig in dieser Geschichte auftreten, und schafft Liberalismus und Demokratie aus „Amerika“ direkt in den Bauch der Bestie – das monarchische Europa. Und hier nehmen mehrere wichtige Begriffe – Zivilisation, Fortschritt, Demokratie – eine neue, uns heute vertraute, Bedeutung an.
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Man kann hier nur Wydra (2008: 29) zustimmen: „[Die Franzosen] machten die Demokratie populär, indem sie die egalitäre christliche Auffassung von der Würde des Menschen in die Aufklärungstradition der Emanzipation des Menschen einwoben … [es] handelt sich um den Geburtsort demokratischer Politik“. Wie er allerdings auch korrekt bemerkt, war die Zeit der Demokraten, die sich damals erst langsam entwickelten, noch nicht gekommen (Wydra, 2008: 32). Diese ermahnende Erzählung wird treffend von Negri (2008: 253) zusammengefasst. Nach ihm besteht die Revolutionsdarstellung der „revisionistischen Schulen“ („revisionist schools“) aus einer Phase der „libertarian insurrection“ (den Liberalen) gefolgt von „Jacobin terror“ (Zentralisierung und der Wille, Terror als Mittel zu benutzen) und einem Ende im „bourgeois Thermidor“ (einer Zeit der Mäßigung oder vielleicht sogar einer Rückkehr zu vorrevolutionären Zeiten). Und das ist das beliebteste Ende dieser Geschichte: Die Franzosen sind durch ihre eigenen Exzesse einsichtig geworden, haben die Fehler ihrer Herangehensweise erkannt und finden ihren Weg zurück in die Zivilisation hin zur Liberaldemokratie.
Zurück in die Zukunft: Die revolutionären Revivals der liberalen Revolutionen Ob man sie als „liberale Revolutionen“ oder „Aufklärungsrevolutionen“ bezeichnet, die „Glorious Revolution“ in England 1688, die Amerikanische Revolution von 1776 und die Französische Revolution von 1789 bilden das Kernstück der Geschichte von der zivilisierenden und demokratisierenden Revolution. Eine jede sah ihre Wurzeln in Griechenland, Rom und der jüdisch-christlichen Tradition und jede führte auch anderswo zu Widerstand, Rebellion und Revolution, genau wie es die europäischen Monarchen befürchteten. Zu den Unruhen, die mehr oder weniger eindeutig in diese Kategorie gehören, zählen die Revolten in Belgien 1789–90 (die zu den sehr kurzlebigen Vereinigten Staaten von Belgien führten), die Haitianische Revolution 1791, die Polnische Revolte von 1794 (der Kosciuszko-Aufstand), Grenadas FédonRebellion 1795 und die Irische Rebellion 1798. Seltener werden noch die verschiedenen lateinamerikanischen Unabhängigkeitskriege hinzugezählt, obwohl man natürlich in allen liberale Elemente ausmachen konnte. Der nächste Fall, der deutlich an die liberalen Revolutionen der Geschichte von Zivilisierung und Demokratisierung anklingt, ist Europa im Jahre 1848. Wie so oft erscheinen uns die Revolutionen dieses Jahres in unterschiedlichen Gestalten. Es handelte sich im Grunde um liberale oder bürgerliche Revolutionen, die hauptsächlich darauf ausgerichtet waren, der wachsenden Mittel-
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schicht in der Region einen größeren Stellenwert zu sichern und demokratisch-kapitalistische Normen zu etablieren. Was immer auch das „wahre“ Ziel dieser Aufstände war, sie breiteten sich erstaunlich weit und schnell aus, besonders für eine Zeit, in der sich Neuigkeiten noch relativ langsam herumsprachen. Es gab Aufstände in Palermo und Neapel sowie den meisten der Staaten, die später zu Italien gehören würden; Paris und anderen Teilen Frankreichs; Berlin (Preußen), Bayern und den meisten der später zu Deutschland gehörenden Staaten; Dänemark (Schleswig); überall im Habsburgischen Reich (besonders in Österreich und Ungarn); der Schweiz, Polen und Rumänien. Außerdem gab es kleinere Revolten in Tschechien, der Ukraine, der Slowakei, Serbien und sogar in Brasilien.9 Wenn Trevelyans Analyse „1848 was the turning point at which modern history failed to turn“ (1922: 292) stimmt, so nur in dem Sinne, dass die Geschichte keine revolutionäre Wendung nahm. Doch, wie Hobsbawm (1996b: 10) vermutet: „[F]or their occurrence and for fear of their recurrence, the history of Europe in the next twenty-five years would have been very different. Eighteen forty-eight was very far from being ,the turning point where Europe failed to turn.‘“ Obwohl zu viele Anforderungen und Anspannungen die Revolutionen schwächten, kann man doch nicht bestreiten, dass Zivilisation und Demokratie hinterher weiter verbreitet waren. Ausgehend von der Mitte Europas breitet sich die Geschichte der Zivilisierung und Demokratisierung aus. Hierzu zählt die Verfassungsrevolution 1905 in Russland, die fehlschlug, sowie die in Persien, die teilweise erfolgreich war. Gelegentlich wird die republikanische Revolution 1910 in Portugal erwähnt, die in gemischten Ergebnissen resultierte, sowie die Mexikanische Revolution, die innerhalb der nächsten zehn Jahre der erste große soziale Umbruch des 20. Jahrhunderts werden sollte. Man könnte mit Recht argumentieren, dass die komplizierte nationalistische Revolution in Bolivien 1952 und Portugals „Nelkenrevolution“ von 1974 auch in den Kontext dieser Geschichte passen würden. Erstere endete in einer Abfolge von Militärregimes während Letztere eine erfolgreiche konstitutionelle und demokratische Regierung ins Leben rief und in gewisser Weise die osteuropäischen „Farbrevolutionen“ von 1989 vorwegnahm. Besser als alle anderen passen die Ereignisse von 1989 zur zivilisierenden und demokratisierenden Geschichte, auch wenn es sich hier um erst kurz zurückliegende und teils problematische Ergänzungen handelt. Dies liegt zum Teil in ihrem Wesen begründet, für die man das treffende Schachtelwort „Refolutionen“ („refolutions“) geschaffen hat, was „a non-revolutionary revolution“ konnotiert und demokratisch gesinnte, hauptsächlich städtische Ereignisse mit wenig oder keiner Gewaltanwendung bedeutet, geprägt von
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Akten zivilen Ungehorsams und angeführt von der Opposition oder „reformierten“ Eliten, die geschickt mit Medien und Technologie umgehen und bereit für Verhandlungen sind (siehe Garton Ash, 1989a: 1; 1989b: 9).10 Diese Fälle scheinen nicht besonders viel mit Frankreich im Jahre 1789 gemeinsam zu haben, Wydra (2008: 44) sieht sie sogar eher als dessen Umkehrung. Auch scheinen sie nicht mit dem amerikanischen oder dem englischen Beispiel konform zu gehen, wenn auch Kumar (2001: 132, er zitiert Bozóki, 1992: 166–7) argumentiert: „[D]ie Mehrheit der östlichen mitteleuropäischen Länder erlebte in den Jahren 1989–90 einen ,demokratischen Wandel‘ nach dem Vorbild der ,Glorreichen Revolution‘ von 1688 – 89 in England (,dem ersten erfolgreichen Wandel‘).“ Er hat diese These im Laufe der Zeit weiter ausgebaut: „[D]ie Revolutionäre von 1989 strebten danach, die etwas widerspenstigen und ungeordneten Beispiele des 20. Jahrhunderts zu vermeiden und zu den ruhigeren und ehrenwerteren Prinzipien der älteren Generationen zurückzukehren, derjenigen Menschen, die die Revolutionen von 1688, 1776 und – zumindest in der frühen Phase – 1789 gemacht hatten“ (Kumar, 2008: 225). Dieser Vergleich erscheint intuitiv sinnvoll (genau wie die Furcht vor militärischen Aktionen) und doch besteht die größte Übereinstimmung mit den europäischen 1848er Revolutionen, zumindest in ihren liberal-bürgerlichen Ausprägungen. Die „Farbrevolutionen“ von 1989 wurden unter Bezugnahme auf „den Frühling der Nationen“ „der Herbst der Nationen“ genannt, ein Vergleich, der passend erscheint, wenn man auch bemerken muss, dass die modernen Revolutionäre wesentlich erfolgreicher waren, als ihre Landsmänner vor 140 Jahren. Dies ist sicherlich ein Themengebiet, das man in einer vergleichenden Revolutionsforschung vertiefen müsste und welches immer mehr in die Geschichte eingebunden werden wird. Im Endeffekt ist die Geschichte von der zivilisierenden und demokratisierenden Revolution eine misstrauische, skeptische, in der die Revolution als „good bad but not evil“11 dargestellt wird, zumindest, wenn das Ziel die Liberalisierung ist. Sie erzählt von im Grunde rein politischen Revolutionen, was treffend erscheint, hatte doch die Revolution bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine hauptsächlich politische Bedeutung, und war „das Haupterbe der Englischen, Amerikanischen und Französischen Revolutionen“ (Kumar, 2001: 220). Weiterhin stellt Kumar (2001: 220, er wiederholt hier Brinton, 1965: 250) die überzeugende These auf, dass die Ziele der drei Revolutionen, die diese Geschichte bestimmen, sich „more or less adequately“ in der Parole der Französischen Revolution zusammenfassen lassen: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Und während diese forsche Prinzipienerklärung offen für Interpretationen sei, die „utopian dimensions“ erreichen könnten, so beinhalteten doch für die meisten Historiker „the historic examples of England,
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America, and France … achievable ends and something of the institutional means towards them“ (Kumar, 2001: 220). Das Augenmerk liegt hier auf der Zerstörung alter, überholter Konzepte und Regierungsstrukturen und dem Aufbau angemessener politischer (und in dieser Geschichte damit verbundener ökonomischer) Einrichtungen, um die Ziele von Liberalisierung und Demokratisierung zu erreichen. Die Revolutionen der zivilisierenden und demokratisierenden Geschichte werden als weitreichend bis zutiefst demokratisch dargestellt. Dies wird vor allem durch den Kontrast mit den Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten deutlich, die ihnen vorangingen; in den europäischen Monarchien gab es wenig, was einer Demokratie nahegekommen wäre. Außerdem ist eine Annahme der Geschichte, dass ein Volk nicht nur der Macht der Elite Grenzen setzen, sondern diese auch zur Rechenschaft ziehen kann – also das Recht und die Möglichkeit besitzt, die Machthaber zu entfernen, wenn sie die Unterstützung der Bevölkerung verlieren – da Autorität, Legitimität und Herrschaftsgewalt beim Volk liegen. Dies ist eine mächtige Geschichte und sie hat viele Anhänger, man könnte sogar die These aufstellen, dass sie die Entscheidungsträger der US-Außenpolitik zu Anfang des 21. Jahrhunderts bezüglich der USAktionen im Irak und in Afghanistan geleitet hat. Gleichzeitig scheinen die Erzähler dieser Geschichte vor den weiteren, tieferen sozialen und kulturellen Implikationen einer solchen Erzählung zurückzuschrecken. Eben diese Aspekte, die soziokulturellen Implikationen und Konsequenzen, machen das Herzstück der Geschichte von der Sozialrevolution aus.
Anmerkungen 1 Der außerhalb Europas bemerkenswerteste Fall war die brasilianische „Praieira“ Revolte 1848 im Staat Pernambuco; in manchen Fällen, wie bei der „Matale“ Revolte in Sri Lanka, sind die Verbindungen weniger deutlich, auch wenn Hobsbawm (1996a: 10) sagt: „[D]irect influence may be detected … a few years later in remote Colombia.“ Dies bezieht sich wahrscheinlich auf den Kolumbianischen Bürgerkrieg 1860–62, der in den relativ kurzlebigen Vereinigten Staaten von Kolumbien (1863– 86) resultierte. 2 Diese beiden können, genau wie Ägypten 1952 und Peru 1968 sinnvollerweise mit Trimberger (1978) als „Revolutionen von oben“ bezeichnet werden. 3 Diese zusammenfassende Beschreibung stammt von Thukydides (1951: 104): „Its administration favours the many instead of the few; this is why it is called a democracy. If we look to the laws, they afford equal justice to all in their private differences; if no social standing, advancement in public life falls to reputation for
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capacity, class considerations not being allowed to interfere with merit; nor again does poverty bar the way, if a man is able to serve the state, he is not hindered by the obscurity of his condition. The freedom which we enjoy in our government extends also to our ordinary life.“ Walzer (1985: 7) fügt hinzu: „[I]it would make little sense to try and construct a theory out of the biblical account.“ Abgesehen von der durchaus relevanten Frage, ob sie die Bezeichnung „Revolution“ verdient hat, gibt es auch noch die Problematik des Begriffs „amerikanisch“. Der Ausdruck bezieht sich offensichtlich auch auf all jene die in Mittel- und Südamerika („the Americas“) leben, nichtsdestoweniger wurde er in den letzten paar hundert Jahren zumeist mit den Vereinigten Staaten und ihren Bewohnern in Verbindung gebracht. Ich werde mich hier besseren Wissens zum Trotz dieser Nutzungsweise beugen. Dasselbe gilt auch für andere Länder in Europa und die spanischen Kolonien in Mittel- und Südamerika. Meine Kollegin Lisa Leff erinnerte mich vorsichtig daran, dass der Ausdruck „liberal“ noch nicht gebräuchlich war. Brinton (1965: 121) schreibt diesen berühmten Satz dem „French moderate Vergniaud“ zu und zitiert ihn so: „[T]he revolution, like Saturn, devours its children.“ Das vollständige Zitat des Redners und Anführers der Girondisten Pierre Vergniaud lautet: „Citizens, we have reason to fear that the Revolution, like Saturn, will successively devour all its children, and only engender despotism and the calamities which accompany it“ (Bowers, 1950: 340). Siehe die obenstehende Anmerkung Nr. 2. Der Ausdruck „refolution“ wird gemeinhin mit Garton Ash (1989a: 1; 1989b: 9) in Verbindung gebracht und soll „a non-revolutionary revolution“ konnotieren. Auf die gleiche Weise hat er auch „revorm“ geschaffen und in weiteren Artikeln auch „revelection“ und „telerevolution“ verwendet. Deane (1990: 48) bezeichnete die Phrase als „Garton Ash’s neologism“, was Garton Ash in seinen Essays von 1990 verwendet. Vor ungefähr 20 Jahren, im Mai 1988 schrieb Kwame Ture (gebürtig Stokely Carmichael) an Mike Miller, nachdem die beiden sich bei einem Treffen des Student Nonviolent Coordinating Committee getroffen hatten: „[A]s to revolution versus reform, I’m taken with a couple of new formulations: ,revorm‘ or ,refolution.‘ Both may imply that there needs to be a basic change in the relations of power and property, but I don’t want to throw everything out. Pol Pot and Shining Path leave me cold“ (Miller, 1998: 31). Zitat aus „Give Him a Great Big Kiss“ von den Shangri-Las, geschrieben von George „Shandow“ Morton; 1965, Red Bird Records.
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Die Geschichte von der Sozialrevolution Die Geschichte von der Sozialrevolution
Die Geschichte von der Sozialrevolution ist eindeutig die Revolutionsgeschichte schlechthin, es ist diejenige, die den Begriff geprägt hat. Seit über 200 Jahren ist sie nicht nur die bekannteste Revolutionsgeschichte, sondern auch die, die den Begriff definiert, der Standard, an dem alle anderen gemessen wurden und dem beinahe alle nicht entsprechen konnten. Diese Geschichte ist den Menschen überall auf der Welt vertraut, die Details lauten vielleicht jedesmal etwas anders, doch immer finden sie in ihr das Versprechen auf einen Ausweg aus ihren jetzigen Umständen. Die Geschichte der Sozialrevolution ist auch die paradigmatische Geschichte für Generationen von Revolutionsforschern, sie bleibt konstant, während verschiedene Theorien kommen und gehen. Außerdem ist diese Geschichte aus den weiter unten aufgeführten Gründen auch ein Bezugspunkt sowohl für Frankophile als auch für Frankophobe: Erstere sehen die Französische Revolution von 1789 als Startschuss für die moderne Welt und als das Medium, über das die Demokratie im monarchisch geprägten Europa Einzug hielt (im Bauch der Bestie), wodurch „das Volk“ seine Möglichkeiten erkannte; Letztere wiederum lehnen sie aus eben diesen Gründen ab und betrachten sie als die Wurzel vieles Schlechten und vielen Übels in der modernen Welt. Meist zentriert sich diese Geschichte um den Aufruf zu liberté, égalité, fraternité (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), sie ist mächtig und mitreißend.1 In der Geschichte der Sozialrevolution bedeutete Revolution lange Restauration, was zu einer gewissen Zeit bestimmt seine Berechtigung hatte, besonders wenn man daran glaubte, dass das, wozu man zurückkehrte, ein besseres, reineres, ja ein goldenes Zeitalter war. Diese Geschichte nimmt von solchen Fantasien Abstand (denn das sind sie in den meisten Fällen) und stellt den französischen Revolutionsprozess als Umsturz des gesamten Konzeptes der Revolution dar. Wie wir in Kapitel 1 gesehen haben, war es König Louis XVI Berater La Rochefoucauld, der seinem Herrn versichert, dass es sich bei den Ereignissen nicht nur um eine Revolte, sondern um eine Revolution handelte – und die Bedeutsamkeit dessen ist inzwischen klar.2 Die Revolution war nicht mehr nur eine weitere Drehung des Rades der Geschichte, von nun an
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bedeutete sie eine tiefgreifende soziokulturelle Umstrukturierung der Gesellschaft, des Staates, vielleicht der Welt. Karl Marx, der bedeutendste Theoretiker der Sozialrevolution, argumentierte, dass die Revolution „nicht länger ihre Poesie aus der Vergangenheit beziehen musste, sondern nur noch aus der Zukunft“; die Vergangenheit muss abgelegt werden, damit sie die Revolution nicht erstickt, welche, „um zu ihrem Ziel zu gelangen … die Toten ihre Toten begraben lassen muss“ (1978a: 597). Was passiert ist, ist passiert und es ist Zeit für etwas Neues. Es gibt drei Hauptbestandteile in der Geschichte von der Sozialrevolution (dies ist teilweise von Skocpol, 1979: 4 übernommen)3. Erstens: das Entstehen oder die Schaffung revolutionärer Situationen und der Kampf um die Übernahme der Staatsgewalt, teils durch klassenbasierte Revolten. Zweitens: die tatsächliche Einschränkung der Macht und Kontrolle des Staates. Und Drittens: die tiefgreifenden Bemühungen, nicht nur die politischen und ökonomischen Institutionen und Strukturen des Staates zu verändern, sondern auch die sozialen, psychologischen und kulturellen Systeme, möglichst gleichzeitig und sich gegenseitig verstärkend. Diese Elemente bestimmen die Sozialrevolutionsgeschichte und unterscheiden sie von den rein politischen und ökonomischen Umstrukturierungen, die in der zivilisierenden und demokratisierenden Geschichte die Hauptrolle spielen. Die Veränderungen sind rasant und tiefgreifend, weitreichend und voller Konsequenzen – eine neue Welt beginnt. Die Menschen sind auf einmal mit endlosen Möglichkeiten konfrontiert, die materiellen und ideologischen Umstände ihres Alltagslebens zu verändern und ihre Welt neu zu gestalten. Diese Geschichte ist auf verschiedenen Ebenen sehr populär und umfasst in gewisser Weise sowohl die vorangegangene, elitär geprägte Geschichte, als auch die volksnäheren Geschichten, die noch folgen werden. Sie findet immer noch auf der ganzen Welt Anklang und ist weit verbreitet, davon zeugen die überraschend allgegenwärtigen jährlichen Feiern zum Sturm auf die Bastille. Es besteht kein Zweifel darüber, dass die Französische Revolution von 1789 zumindest in der verbreitetesten Version der Geschichte der Archetyp ist: sie ist groß, sie ist episch, sie ist einflussreich und ihre Momente des Versagens sind ebenso im Nebel der Zeit versunken wie ihre radikaleren Elemente. Wir werden hier also Frankreich aufs Neue einen Besuch abstatten, wenn sich auch die Geschichte bezüglich Klang und Grundhaltung deutlich von der letzten unterscheidet; die Römer und Griechen spielen zwar auch eine Rolle, doch das Augenmerk ist auf das Neue, auf die Zukunft gerichtet, ohne sich umzudrehen und zurückzusehen. In den nächsten mehr als 100 Jahren erzählen die von der Revolution Inspirierten die Geschichte des Kampfes und bemühen sich, die beste Fortsetzung zu finden, während gleichzeitig die Eliten und ihre Staats-
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verwalter Gruselgeschichten von scheinbar unvermeidlichen Exzessen konstruieren. Gelegentlich werden die Fehlschläge von 1848 erwähnt sowie die halb in Vergessenheit geratene aber extrem einflussreiche Pariser Kommune (1871), die mit ihrem Scheitern eine mächtige mythopoetische Stellung eingenommen hat. Häufiger trifft man auf Mexiko 1910–1920, die erste große soziale Umbruchssituation des 20. Jahrhunderts, auch wenn ihre wechselhafte Geschichte eine Herausforderung darstellt (diese Komplexitäten werden in den nachfolgenden Geschichten intensiver erläutert und weiter ausgebreitet). Es besteht keine Frage darüber, dass als nächstes die Russische Revolution von 1917 kommt, für einige eine Art Verlängerung von 1789 ins 20. Jahrhundert hinein; die Chinesische Revolution (1949), auf die wir hier nicht im Detail eingehen, gehört immer in diese Geschichte hinein, ihre epische Erzählung (1911–49) wurde zwar von zwei Weltkriegen unterbrochen, erweist sich jedoch als entscheidend für die Ausweitung der Sozialrevolution in den Bereich, der bald als „Dritte Welt“ bezeichnet wurde.4 Und dann bewegt sich die Geschichte weiter zum Jahr 1959 auf Kuba, was die Sozialrevolution in die moderne Welt bringt und den – wenn auch inzwischen etwas überholten – bedeutendsten Meilenstein setzt. Für viele endet hier die große Geschichte der Sozialrevolutionen. Es war eine Zeit lang nicht ungewöhnlich, Vietnam (1975), ein weiteres Beispiel für einen langen Zeitraum (1945–75), oder Algerien (1954 – 62) hier mit inbegriffen zu sehen, inzwischen werden jedoch beide eher als nationale Befreiungskriege klassifiziert. In jüngerer Zeit beinhalten manche Versionen der Geschichte zwei Teile des revolutionären Trios von 1979 – Nicaragua, Iran und Grenada (Letzteres fällt aus dem Rahmen, da es sich um ein eher gemäßigtes und nur sehr kurzes Ereignis handelte; siehe unter anderem Heine, 1991; Selbin, 1999). Nicaragua nimmt in dieser Geschichte eine etwas schwierige Rolle ein – es handelte sich unzweifelhaft um die letzte bewaffnete Revolution, die in der Tradition von 1789 stand, und gleichzeitig wird sie manchmal mit einer gewissen Degradierung und Entwürdigung des Konzeptes in Verbindung gebracht. Die nicaraguanischen Revolutionäre hatten ihre Niederlage 1990 in der Wahlkabine, wenn auch die Rückkehr zumindest einiger von ihnen im Jahre 2008 darauf schließen lässt, dass die Sache noch nicht völlig zu Ende ist. Das Endergebnis der Revolution im Iran, von manchen als die letzte große Revolution bezeichnet (sicherlich eine verfrühte Auszeichnung), bleibt ebenfalls zweifelhaft. Niemand würde ernsthaft in Frage stellen, dass etwas Wichtiges geschehen ist, für den Iran, die Region und die Welt. Nichtsdestoweniger fällt der Iran allzu oft akademischem Orientalismus oder ethnozentrischer „Verwirrung“ zum Opfer, wie uns die umstrittenen Wahlen 2009 wieder einmal gezeigt haben. Man kann durchaus berechtigt eine
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Trennlinie zwischen der iranischen und der islamischen Revolution ziehen, doch die Letztere scheint das größere Vermächtnis zu beinhalten und sie entspricht, wenn auch auf nicht ganz offensichtliche Art (weiter unten angerissen) der elementaren Prämisse der sozialrevolutionären Geschichte. Zwei weitere Punkte sind erwähnenswert, bevor wir uns unserer Erzählung zuwenden. Es scheint kaum einen Zweifel darüber zu geben, dass die Sozialrevolution eine konstante und omnipräsente Angstvorstellung von Eliten, Entscheidern und Politikern ist. Während Widerstand und Rebellion ihre direkte Aufmerksamkeit auf sich ziehen, lauert die Sozialrevolution im Hintergrund. Und gleichzeitig ist dies die Geschichte, die Revolutionsform, die für die meisten am inspirierendsten ist. Obwohl die Mittel und Methoden sich unterscheiden, sind es die großen Aspekte, die Ereignisse, die zusammen ein noch gewaltigeres Ganzes bilden, welche die epische Geschichte von der Sozialrevolution erschaffen. Dies lässt sich an ihren drei Musterbeispielen Frankreich, Russland und China beobachten.
Der Gründungsmoment: Frankreich 1789 und die neue Bedeutung von Revolution Die Französische Revolution von 1789 wird häufig als die „Urrevolution“ oder die „echte“ Revolution dargestellt, als Inbegriff der Sozialrevolution (doch siehe Higonnet, 1990: 69). Sie ist weit mehr als eine Legende oder ein Mythos, ihr Status ist der eines welthistorischen Ereignisses, dessen Auswirkungen bis heute spürbar sind. Auch unter Berücksichtigung einer gewissen Vorsicht bezüglich der „Chimäre des Ursprungs“ („chimera of origins“ Chartier, 1991: 4; er bezieht sich auf Foucault, 1977a) steht die Französische Revolution als ein epochaler Moment da, dessen monumentales Wesen die nächsten 200 Jahre im Bezug auf revolutionäres Denken, kritische soziopolitische Konzepte und moderne Weltsichten bestimmt hat. Im Gegensatz zur Geschichte von der demokratisierenden und zivilisierenden Revolution sind die Details, die „Fakten“ von geringer Bedeutung, wenn auch einige weiter unten erwähnt werden. Wirklich wichtig ist vielmehr die Entstehung des „cult of revolution as the way history works“ (Malia, 2006: 6), eine Perspektive, in der die Französische Revolution das Modell für den Fortschritt repräsentiert. Die Ehrfurcht, die in dieser Geschichte bezüglich der Französischen Revolution deutlich wird, und das Ansehen, das sie beinahe überall genießt (was sich auf überaus merkwürdige Weise in ihrer an einen Disney-Film erinnernden Zweihundertjahrfeier zeigte, die sehr nah an eine peinliche Karikatur
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grenzte) bedeuten nicht zwangsläufig, dass ihr Vermächtnis unangefochten oder unzweifelhaft wäre. Es gibt weniger positive Versionen, die allerdings immer noch in eine quasi-mythische Aura gehüllt sind, in denen der revolutionäre Prozess dazu führt, dass Terror in einer völlig nichtsahnenden Welt ausbricht (siehe beispielsweise Chaliand und Blin, 2007: 92, 95 –112). Diese Darstellung der Revolution wurde in letzter Zeit von einer wachsenden Anzahl von Politikern diskutiert und durch prominente zeitgenössische Forscher wie François Furet und sein Umfeld verworfen, die versucht haben, die Ereignisse eher als völlig normal und alltäglich im sich entwickelnden Drama Frankreichs neu zu konzeptualisieren (Kaplan, 1995: 54 – 60). Pierre Chaunu, ein Forscher abseits dieser Gruppe steigert diese Auffassung ins Extreme und vertritt beispielsweise die bei Kaplan (1995: 31) zitierte Ansicht: „[I]f one reinserted the Revolution into the progression of forty-five thousand years of history, ,that leaves 44,994 years that merit equally our attention.‘“ Und wir tun gut daran, uns eine pointierte, amüsante und beinahe sicherlich apokryphe Anekdote ins Gedächtnis zu rufen: Als einer der genauesten politischen Beobachter des 20. Jahrhunderts, der chinesische Premierminister Zhou Enlai, in den frühen 1970ern nach der Bedeutung der Französischen Revolution befragt wurde, antwortete er, es sei noch zu früh, um sich dazu zu äußern.5 Auch über 220 Jahre nach ihrem Beginn bleibt sie eine große Herausforderung für die Forschung. In der Geschichte der Sozialrevolution nimmt das Datum 14. Juli 1789, der Fall der Bastille, eine zentrale Stellung ein. Jules Michelet, ein französischer Historiker aus dem 19. Jahrhundert, meint dazu: „[A]n diesem Tag war alles möglich … die Zukunft war greifbar … das soll heißen, dass die Zeit nicht mehr existierte, alles war ein helles Aufflackern der Ewigkeit“ (zitiert nach Kimmel, 1990: 1860). Sewell erweitert diesen Moment auf etwa zehn Tage, den 12.–23. Juli 1789 und ist der Ansicht, es handelte sich um „eine außergewöhnliche Periode der Angst, des Jubels, der Gewalt und der kulturellen Kreativität, die die Weltgeschichte veränderte“ (1996: 845). Arendt ihrerseits erkennt hier „eine vollkommen neue Geschichte, eine Geschichte, die nie zuvor gekannt oder erzählt worden war … im Begriff sich zu entfalten“ (1965: 28). Die Menschen fungierten dabei als „Handlungsträger in einem Prozess, der das Ende der alten Ordnung beschrieb und die Geburt der neuen Welt herbeiführte“ (1965: 42). Und genau dieser Moment eröffnete, um noch einmal auf Darntons treffende Formulierung zurückzukommen, eine ganze Welt des Possibilismus („possibilism“ 1990: 17, 19). In der Geschichte von der zivilisierenden und demokratisierenden Revolution gelten die dramatischen Ereignisse des Julis 1789 und auch noch des gesamten ersten Jahres danach als révolte nobiliaire oder aristokratische Reaktion
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(siehe Dunn, 1989: 6). In der Geschichte von der Sozialrevolution liegt das Hauptaugenmerk eher auf dem oben erwähnten Neuanfang und ist dabei von Thomas Paines einige Jahre zuvor in Common Sense geäußerter These geprägt: „[W]e have it in our power to begin the world over again“ (Paine, 2000: 44). Zusätzlich sucht das selbstbestimmte Volk, die im Entstehen begriffene französische „Nation“, hier den Weg in die Zukunft angesichts immer mehr feindlicher Mächte im Inneren wie im Äußeren. Während es also immer mehr Reformen gab, waren sie weder weitreichend genug noch rechtzeitig für ein Volk, das sich zunehmend von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit angezogen fühlte. Die unerklärlich scheinende und zum Scheitern verurteilte Entscheidung des Königs zu einem Fluchtversuch mit seiner Familie im Juli 1791 läutete das Ende der zerbrechlichen konstitutionellen Monarchie ein; seine mutmaßliche Verschwörung mit den früheren Verbündeten in Österreich und Preußen verstärkte alle düsteren Vorahnungen. Frankreich eröffnete im April 1792 den Krieg, woraufhin der Radikalismus stark anstieg, da es für Beobachter immer eindeutiger wurde, dass die königliche Familie Landesverrat begangen hatte. Am 10. August 1792 stürzten die Pariser im Auftrag der Nation die Monarchie und beriefen eine verfassungsgebende Versammlung ein, die etwa sechs Wochen später (am 22. September 1792), wenige Tage, nachdem der Krieg eine günstige Wendung für Frankreich genommen hatte, die neue Französische Republik ausrief. Nun blieb nur noch übrig, mit der reformistischen Ära aufzuräumen, und so wurde im Dezember der König, nun schlicht unter dem Namen Louis Capet bekannt, des Landesverrats für schuldig befunden und am 21. Januar 1793 guillotiniert (seine Frau ereilte noch im selben Jahr das gleiche Schicksal). Dies geschah entgegen der Einwände der Gemäßigten in der Regierung, die sich nach Ansicht der radikaleren Revolutionäre nicht dazu durchringen konnten, die Fesseln der alten Ordnung abzustreifen. Damit beginnt die Geschichte der Sozialrevolution: Die Revolutionäre gingen mit Schwung, Kreativität und Elan daran, ihre und unsere Welt, im eigenen Land wie auch in anderen Ländern, neu zu gestalten. Es handelt sich hier um eine sehr einseitige Geschichte, weniger großzügige Interpretationen stellen eher den „Terror“ in den Mittelpunkt – die zehn Monate (September 1793 bis Juli 1794) der intensiven, oft gewalttätigen Auseinandersetzungen über die Notwendigkeit der Exzesse des Revolutionsprozesses und dessen Richtung. Obwohl diese späteren Ereignisse unauslöschlich mit der Geschichte der zivilisierenden und demokratisierenden Revolution verbunden sind und sie die Geschichte mit einem gewissen Pessimismus und Schrecken belasten, ist es nichtsdestoweniger möglich, einige dieser Ereignisse als „verlorene Momente“ oder aufblitzende Möglichkeiten zu verstehen. Sie gehören zu den verlorenen und vergessenen Revolutionsgeschichten. In der Geschichte von
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der Sozialrevolution jedenfalls stellten die Ereignisse in Frankreich einen einzigartigen und noch nicht dagewesenen Versuch dar, die Welt zu verändern. Nachdem sie die Landschaft verändert hatten und die Karte Frankreichs so umgestaltet hatten, dass sie simpel und ordentlich war – die revolutionäre Parole könnte Simplifizierung gelautet haben6 – widmeten die Revolutionäre ihre Aufmerksamkeit etwas anderem. Die Menschen verlangten nach Repräsentation, Regeln, Umverteilungen und mehr. Im Frühling 1793 wurden die Rufe der Öffentlichkeit nach sozialen und ökonomischen Kontrollen sowie mehr Sicherheit und Schutz für die Revolution laut. Es wurden Komitees für die öffentliche Sicherheit geschaffen und ein Revolutionstribunal ins Leben gerufen, das sich der größer werdenden Sorgen bezüglich des Landesverrats annehmen sollte. Diese schufen und lenkten den „Terror“. Preiskontrollen (das „Maximum“) wurden eingeführt und weitere wirtschaftliche Maßnahmen diskutiert. Ende Mai enthoben die radikaleren Regierungsmitglieder die gemäßigteren ihres Amtes und entwarfen im August eine weitere Verfassung, die allen Männern das Wahlrecht zubilligte. Diese wurde jedoch nie umgesetzt. Mit dem neuen „generellen Maximum“ wurden für eine Vielzahl von Gütern Preisgrenzen festgelegt und strenge neue Richtlinien für die Gesellschaft geschaffen. Die internen Kämpfe zwischen den verschiedenen revolutionären Fraktionen dauerten an. Im Zuge des Versuchs der Radikalen, den Revolutionsprozess zu zentralisieren und ihre Position zu festigen, wurden im Oktober die Königin und viele gemäßigte Revolutionsführer hingerichtet. Wie um dem gesamten Prozess einen Stempel aufzudrücken, vollbrachten sie Anfang Oktober ihre bislang kühnste Tat und führten eine völlig neue Zeitrechnung ein. Der neue Kalender und auch die damit einhergehenden Versuche, die ideologischen und materiellen Umstände des Alltagslebens der Bevölkerung zu verändern, erwiesen sich als enorm wirkungsvoll. Die Revolutionäre wollten, wie Darnton (1990: 5) aufzeigt, „Zeit und Raum“ neu erschaffen. Hier sehen wir die Französische Revolution als Herzstück der Geschichte von der Sozialrevolution, als ihre Inspiration. Der neue Kalender war gemäß der Abkehr von der Kirche und hin zur Natur in vier Jahreszeiten von jeweils drei Monaten eingeteilt, deren Namen an den Jahreszeiten orientiert waren. So wurde beispielsweise der Zeitabschnitt vom späten Oktober bis Mitte November als Brumaire, „Nebel“, bezeichnet, Nivése, „Schnee“, ging von Ende Dezember bis Ende Januar, die Zeit von Ende April bis Ende Mai wurde Floréal, „Blume“, genannt und der Thermidor, „Hitze“, umfasste Mitte Juli bis Mitte August. Jeder Monat von dreißig Tagen bestand aus drei Wochen, jede wiederum aus zehn funktional benannten Tagen (erster, zweiter, dritter und so fort) – womit die biblische Einheit von sieben Tagen aufgelöst wurde; die
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fünf übrigen Tage wurden zu öffentlichen Feiertagen.7 Der neue Kalender wurde auf den 22. September 1792 (der Tag der Ausrufung der Republik) zurückdatiert und war bis 1805 in Verwendung (er lebte später kurz in der Pariser Kommune 1871 wieder auf). Inspiriert von ihren Anführern und manchmal auch ihnen voraus, hatte die Bevölkerung damit begonnen, Frankreich und sich selbst neu zu gestalten. In einer Gesellschaft, die voll war von Namen und Bezeichnungen, die direkt oder indirekt eine Hommage an die königliche Familie und die Kirche darstellten, benannten die Menschen ihre Städte um (nach Darnton, 1990: 6 ungefähr 6000), ihre öffentlichen Plätze, Kirchen (die Kathedrale Notre Dame de Paris wurde in „Tempel der Vernunft“ umgetauft) und allein in Paris 1400 Straßen (Darnton, 1990: 6). Die Menschen änderten ihre eigenen Namen und zusätzlich auch die ihrer Alltagsgegenstände – beispielsweise die von Schachfiguren und Spielkarten – und die „Bienenkönigin“ wurde zur „Legebiene“ (Brinton, 1965: 179; Darnton, 1990: 7). Dieser neue Geist erfasste selbst zwischenmenschliche Beziehungen: In der Anrede wurde monsieur zu citoyen und „[sie] ersetzten unzählige Titel durch die einheitlichen Anreden ,citoyen‘, ,frère‘ und ,tu‘“ (Billington, 1980: 24). Dieser letzte Punkt zeigt den wohl eindeutigsten und aufschlussreichsten Veränderungsversuch: die Einflussnahme auf den persönlichen Sprachgebrauch und damit auf die persönlichen Beziehungen. Darnton (1990: 8) stellt dies folgendermaßen dar: „[I]ntimität wird im Französischen durch das Pronomen tu ausgedrückt, im Unterschied zu vous, was bei der formellen Anrede gebraucht wird … unter dem Ancien Régime war [tu] für asymmetrische oder sehr persönliche Beziehungen vorbehalten … Die Französische Revolution wollte jeden zu tu machen.“8 Darnton berichtet weiterhin, dass ein Département im Südwesten sogar die Verwendung der vous-Form verbot (1990: 8), und dass im Jahre 1794 eine Petition an die Nationalversammlung gerichtet wurde, dies ebenfalls zu veranlassen. Die Bemühungen waren emsig, leidenschaftlich, begeistert und tiefgreifend. Am Höhepunkt der Revolution (und dies hatte großen Einfluss auf ihre Nachwirkung) stand die Tugend im Zentrum von allem; diese neue Welt sollte besser werden als die alte. Frankreich sollte eine egalitäre und demokratische Gesellschaft werden (zumindest für Männer) und die Sklaverei wurde abgeschafft. Die Wirtschaft würde frei und offen sein, die Reichen müssten Steuern zahlen und Besitztümer würden umverteilt. Es gab Regelungen für die soziale Absicherung, sodass das Leben der großen Mehrheit nicht mehr wie noch kurz zuvor von Hobbes (2008: 94) beschrieben „solitary, poor, nasty, brutish and short“ ablaufen musste. Eine bessere Welt schien zum Greifen nah.
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Es ist immer leicht, Historie rückwärts zu lesen, die Herausforderung besteht darin, es nicht zu tun. Wir wissen von dem Terror, den brutalen inneren Streitigkeiten, die im Jahre 1794 zum Höhepunkt kamen, als Robespierre und die anderen Jakobineranführer erst im März die „Linke“ niederschlugen (die enragés oder Héberisten) und dann im April die „Rechte“ (die etwas gemäßigteren Radikalen, die von Danton angeführt wurden). Im Mai wurde der Kultus des Höchsten Wesens ins Leben gerufen, ein Versuch, eine neue, säkulare Religion zu schaffen, doch er fand nur wenig Anklang und befremdete viele. Im Juli wurden Einkommenskontrollen eingeführt, ein Versuch, der fortdauernden Wirtschaftskrise Einhalt zu gebieten. Diese Maßnahmen besiegelten alle zusammen die wachsende Unbeliebtheit der Regierung und führten zum Zusammenbruch des Terrors und dem Ende Robespierres und Saint-Justs am 27. Juli 1794. Die „Thermidorianische Reaktion“, so benannt nach dem Monat, in dem sie begann, gab daraufhin einer Phase des Revolutionsprozesses, die sich durch eine gemäßigte oder sogar konservative Kurskorrektur, ja eine Gegenreaktion, auszeichnete, ihren Namen (Malia, 2006: 303; Brinton, 1965: 205–36). Und auch wenn der Thermidor „the end of the forward surge of revolutionary change“ (Malia, 2006: 91) anzeigte, lagen die Dinge insgesamt doch nicht ganz so unkompliziert. Die Radikalen waren weiterhin an der Macht und im September wurde die Trennung von Kirche und Staat offiziell gemacht. Während überall in Frankreich Waffenstillstandsverhandlungen liefen, um Widerstand und Rebellionen zu beenden, musste die Regierung sich immer noch mit radikalen Aufständen auseinandersetzen, in denen „Brot und die Verfassung von 1793“ verlangt wurden, und gleichzeitig den „Weißen Terror“ bekämpfen, mit dem die Konservativen sich rächten. Die verbliebenen Gemäßigten wurden jedenfalls wieder im Schoß der Revolution begrüßt und es wurde nach einem neuen Weg für einen gemäßigteren und trotzdem noch resoluten Revolutionsprozess gesucht. Und an dieser Stelle kommt der Glanzauftritt der Französischen Revolution in der Geschichte der Sozialrevolution zu einem Ende. Nur wenig ist aus der konservativen (oder gemäßigten, es kommt auf die Perspektive an) Reaktion zu machen, die bestimmend für das Jahr 1795 war und die in einer weiteren, hauptsächlich liberalen Verfassung gipfelte, sowie in einer Zwei-Kammern-Legislative, die indirekt durch männliche Steuerzahler gewählt wurde und ihrerseits ein ausführendes „Direktorium“ aus fünf Männern wählte. Im Jahre 1796 wurde Babeufs proto-sozialistische Verschwörung der Gleichen9 zerschmettert, bevor sie wirklich beginnen konnte; dies mag zum überraschenden Wahlerfolg der Monarchisten 1797 beigetragen haben, die sich dann wiederum zerstreuten, was zum Wiederaufstieg der Radikalen bei den Wahlen 1798 führte. Zwischen diesen Polen hin- und her gerissen und mit
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unzähligen Schwierigkeiten konfrontiert, wandten sich die gemäßigten Republikaner 1799 ihrem versiertesten General – Napoleon – zu, der am 18. Brumaire (9. November) das „Direktorium“ seines Amtes enthob und innerhalb kürzester Zeit alle Errungenschaften der Revolution rückgängig machte. Er machte der Regierung nach dem Repräsentationsprinzip ein Ende, führte die Zensur ein, minimierte die Rechte, die der Bevölkerung verlieben waren, stellte die Rechte der Kirche und des Adels wieder her und erschuf eine neue Monarchie, die in vieler Hinsicht mächtiger war als die alte, trotz seiner Verbundenheit zu liberalen Prinzipien wie Rationalität und Privateigentum. Doch dies ist nicht mehr der Teil der Französischen Revolution, der im Mittelpunkt der Geschichte steht. Die Essenz der Französischen Revolution, wie sie im Mittelpunkt der Geschichte von der Sozialrevolution steht, lässt sich an einer unwahrscheinlich klingenden (und beinahe sicher auch unwahren) Anekdote ablesen: Nachdem die Preußen von der französischen Revolutionsarmee 1793 zu einem kritischen Revolutionszeitpunkt besiegt worden waren, soll Goethe zu seinen geschlagenen Landsmännern gesagt haben: „[A]n diesem Ort und diesem Tag beginnt eine neue Epoche in der Weltgeschichte und ihr könnt sagen, dass ihr hier wart und es miterlebt habt“ (Boyle, 2003: 128). Furet, einer der einflussreichsten und renommiertesten Forscher zur Französischen Revolution, ist zwar bezüglich ihrer Wichtigkeit und weltweiten Auswirkung skeptisch, betont aber nichtsdestoweniger, dass sie ein geradezu unglaubliches Versprechen von „unbegrenzter … Gleichheit und einer bestimmten Art des Wandels“ (1981: 3, 5) enthielt. Dieses Vermächtnis wurde in den nachfolgenden Revolutionen, vor allem in Mexiko und Russland (Mayer, 2001: 591; und Paz, 1975: ix) sowie in China, in Kuba und an vielen anderen Orten weiterentwickelt. Es ist nicht schwer zu verstehen, dass dieses „welthistorische Ereignis“ („world historical event“ Wallerstein, 1990; Skocpol und Kestnbaum, 1990; doch siehe Higonnet, 1990) einen deutlichen Einfluss auf die nächsten 200 Jahre hatte und immer noch hat. Zum zweihundertsten Jahrestag der Französischen Revolution stellte Darnton (1990) eine ausgezeichnete Frage: Was war so revolutionär an der Französischen Revolution? Dies ist keine einfache Frage, auch wenn Darnton eine findige Antwort anbietet. Dunn (2008: 17) verweist auf die Größenordnung: „[I]nnerhalb weniger kurzer Monate des Jahres 1789 drückte das französische Volk einer politischen Idee unauslöschlich seinen Stempel auf, die seitdem die Weltgeschichte beeinflusst hat.“ Obwohl er die Französische Revolution mit „revisionistischen Schulen“ assoziiert, stellt auch Negri (2008: 253) sie in den Mittelpunkt dessen, was die Revolutionsgeschichte werden würde: „[Ein] evolutionärer Versuch von … libertärem Aufruhr,
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jakobinischem Terror, bourgeoisem Thermidor.“ Und ungeachtet seiner Bedenken sieht auch Furet (1981: 79) sie als das erste „Demokratieexperiment“. Für Callinicos (2008: 159) begann sie „das politische Projekt der Emanzipation des Menschen … hinterließ [es] jedoch unvollendet.“ Sewell (2004: 95) versucht, ein heutiges Äquivalent in puncto Größe, Gewaltigkeit und Einfluss zu finden: „[M]an stelle sich vor, wie der Rest der Welt heute reagieren würde, wenn eine verblüffend radikale Revolution in den Vereinigten Staaten stattfinden würde. Als sich Paris 1789 erhob, konnte die Welt lediglich in gespannter Aufmerksamkeit zusehen.“ Jedes Mal wenn die Geschichte erzählt wird, erhält sie diese Aufmerksamkeit und sie richtet unsere Vorstellungskraft auf das, was laut Darnton der entscheidende Punkt ist: die Möglichkeiten. Was nach Darnton an der Französischen Revolution so revolutionär war und warum sie immer noch von Bedeutung ist, ist die geradezu greifbare Anwesenheit des Möglichen; der Chance, eine neue Welt zu erschaffen. Anders als in der zivilisierenden und demokratisierenden Geschichte geht es hier nicht um die Rückkehr in ein goldenes Zeitalter. Es ist vielmehr dieser umfassende Possibilismus, der die Französische Revolution so revolutionär machte und auch die anderen Fälle auszeichnet, die man in diese Kategorie einordnen kann. In der Geschichte von der Sozialrevolution finden die Menschen, also die Bevölkerung als eine bewusste Gruppe, die zu zielgerichteten Handlungen fähig und durch Träume und Wünsche verbunden ist, scheinbar grenzenlose Möglichkeiten, die materiellen und ideologischen Umstände ihres Alltagslebens neu zu gestalten und sich und ihre Welt zu ändern. All das, was sie nicht war und nie sein konnte, macht die Revolution doch insgesamt nicht weniger erstaunlich. Sie bleibt weniger für die realen Ereignisse im Gedächtnis, als für ihr Vermächtnis. Und vielleicht ist es auch einfach noch zu früh, um etwas darüber sagen zu können.
Die Revolution in der „echten“ Welt: Russland 1917 So wie die Französische Revolution mit ihren Forderungen nach Freiheit und Gleichheit in gewisser Weise das 19. Jahrhundert einleitete, ließ die Russische Revolution 1917 mit ihren Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit für alle und dem kollektiven Besitz der Produktionsmittel keinen Zweifel darüber aufkommen, dass ein neues Jahrhundert begonnen hatte. Es ist leicht, den russischen Revolutionsprozess aus der französischen Sicht zu sehen (oder umgekehrt; siehe Furet, 1981: 6), denn sowohl ihre Befürworter als auch ihre Gegner verstanden die Ereignisse „as immediate consequences of 1789“ (Arendt, 1965: 50). Solche einfachen Schlüsse, wie verlockend sie auch sein
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mögen, verschleiern jedoch immer mehr, als sie erhellen. Anders als im Falle Frankreichs – und der allgemein beliebten Geschichten – gibt es keine klare Anfang-Mitte-Ende-Struktur: zwar gibt es den „libertären“ Aufstand, doch er geht in etwa 70 Jahre „Jakobinischen Terror“ in Kombination mit lähmender Bürokratie über und es kommt nie zum „Thermidor“ (siehe Malia, 2006: 6). Wesentlich sinnvoller ist es, Russland 1917 als weltweit erste erklärtermaßen sozialistische und selbsternannt marxistische Revolution zu sehen. Für mehr als 100 Jahre bildete die Französische Revolution allein den Kern der sozialrevolutionären Geschichte. Die europäischen Revolutionen von 1848 schlugen fehl, bis darauf, dass einige dazu beitrugen, liberaldemokratische und bürgerliche Ideen zu verbreiten, was auf Dauer zu etwas offeneren Wirtschaftssystemen und der relativ zurückhaltenden Ausweitung des Wahlrechts auf die männlichen Angehörigen der Mittelschicht führte. Während es sich bei der japanischen Meiji-Restauration von 1868 um eine „revolution from above“ (Trimberger, 1978) gehandelt haben mag, war doch an ihr wenig Revolutionäres. Die konstitutionelle Revolution 1905 in Persien führte kurzzeitig zu einer konstitutionellen Monarchie, doch mehr auch nicht, und die konstitutionelle Revolution in Russland 1905 schlug völlig fehl, außer vielleicht in einem weiteren Sinne, auf den ich weiter unten näher eingehen werde. Die republikanische Revolution 1910 in Portugal war von gemischtem und begrenztem Erfolg gekrönt. Die Mexikanische Revolution 1910 begann als bürgerlich-liberaler Prozess und ging größtenteils auch auf diese Art weiter. Auch wenn sie eindeutig sozialrevolutionäre und radikale Aspekte (die in den folgenden Kapiteln untersucht werden) beinhaltete, erreichte sie nie diesen Status. Und obwohl die Chinesische Revolution 1911 im Jahre 1912 zur Republik China führte, kann man sie wohl selbst wohlwollend nur als schwache, bürgerlich-liberale Revolution lesen, die den Weg für eine Ära von Restauration, Rebellion und Revolution ebnete, die schlussendlich beinahe vier Jahrzehnte später in einer Sozialrevolution enden sollte. Erwähnenswert ist, dass mit Mexiko und China trotz der gegebenen Einschränkungen die Flagge der Revolution bereits zu Beginn des Jahrhunderts in den Teilen der Welt gehisst wurde, die später „Dritte Welt“ genannt werden würden. Manche sehen – im Guten wie im Schlechten – eine direkte Verbindung zwischen Frankreich 1789 und Russland 1917. Und genau wie im Falle Frankreichs glauben viele Menschen, dass Russland nicht nur nicht in der Lage war, die größten Hoffnungen und Pläne in die Tat umzusetzen, sondern diese Ideale sogar verraten hat, auf tragische und allzu leichtfertige Weise. Und 1991, als die Russische Revolution offiziell zu Grabe getragen wurde, erhoben nur wenige Anspruch auf den toten Körper, es war ein unwürdiges Ende für einen Revolutionsprozess, der, wie im Falle Frankreichs, versprochen hatte, die
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Welt auf positive Weise zu verändern. Wenn auch Steffens (1931: 799) etwas oberflächliche Aussage „I have been over into the future, and it works“10 im Nachhinein besonders bedauerlich erscheint, so spiegelt sie doch eine Empfindung der Möglichkeiten wider, die zu diesem Zeitpunkt zu bestehen schienen und die eine Rolle in der Geschichte der Sozialrevolution spielen. Ob nun die Russische Revolution ähnlich zu den drei Stadien ablief, die man meist mit der Französischen Revolution assoziiert, oder auch nicht, so kann man doch in jedem Fall drei unterschiedliche aber verbundene Revolutionen ausmachen: die gescheiterte konstitutionelle Revolution von 1905, die bürgerliche liberaldemokratische Revolution im Februar 1917 und die berühmte Oktoberrevolution von 1918, die hier im Mittelpunkt steht.11 Lenin (1980b: 566) sah diese drei Revolutionen als zusammengehörig an und las sie als einen einzigen großen Prozess.12 Auf der anderen Seite ist es auch durchaus lohnend, die drei Revolutionen als separate Ereignisse zu sehen. In den Revolutionsgeschichten werden sie meist getrennt betrachtet, wobei die ersten beiden kaum mehr als Fußnoten sind. Der konstitutionellen Revolution von 1905 wird gemeinhin eine kleine Rolle als Beispiel für einen Fehlschlag in der Geschichte von der zivilisierenden und demokratisierenden Revolution zugestanden, ein bürgerlich-liberaldemokratischer Versuch, eine überaus abgeschwächte quasi-konstitutionelle Monarchie in einer rückschrittlichen Gesellschaft zu etablieren, die für eine solche Veränderung nicht bereit war. Ein einschneidendes Ereignis, der „Blutige Sonntag“, ein Massaker an über 100 friedlichen Demonstranten vor dem Winterpalast des Zaren am 9. Januar 1905 findet sich manchmal in den Revolutionsgeschichten der Verlorenen und Vergessenen. Obwohl kein bleibender oder signifikanter Wechsel erfolgte, entstand doch eine revolutionäre Situation, ein Moment, den Lenin so definiert, dass die Herrschenden nicht mehr auf gewohnte Weise regieren können, die ausgebeuteten Klassen in größerer Not und schlimmerer Verzweiflung als sonst sind und die untersten Schichten sich nicht länger unterdrücken lassen. Er betont allerdings, dass diese Faktoren nicht zwangsläufig zu einer Revolution führen müssen (1918b: 97).13 Wenn 1905, wie Lenin behauptet, eine „Generalprobe“ für 1917 war (1980b: 521), dann besteht wenig Zweifel daran, dass es deutlich zu den nachfolgenden Ereignissen beitrug. Nur selten wird die Februarrevolution 1917 erwähnt, meist wird sie in die größere Geschichte mit einbezogen, die später im gleichen Jahr folgte, oder von ihr überschattet – als eine „erste Stufe“ der Revolution. Allerdings kann sie auch in der zivilisierenden und demokratisierenden Revolutionsgeschichte als Beispiel dafür auftauchen, was „hätte sein können“. Aus dieser Perspektive handelte es sich um deutlich mehr als nur eine spontane Explosion, die Zar Nicholas II stürzte, das russische Kaiserreich beendete und den
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Weg für die Bolschewiken ebnete. Der Prozess begann in St. Petersburg am Internationalen Frauentag, als die Frauen nach Brot verlangten und einen Generalstreik lostraten. Die Truppen des Zaren, hauptsächlich seine loyalen Kosaken, weigerten sich, die Proteste aufzulösen, und damit begann der Zusammenbruch der Monarchie. In die entstehende Lücke trat eine weitgefächerte Koalition, bestehend aus Liberalen jeder Couleur und vielen Sozialisten, die eine vom Volk gewählte verfassungsgebende Versammlung schaffen, eine demokratisch gewählte Exekutive einrichten und die gesamte Politik und Wirtschaft reformieren wollten. Ein erster Versuch wurde von der oberen Mittelschicht und liberalen Angehörigen der Elite, der Konservativen und der Industriellen dominiert und von den „Sowjets“ (Räten), Arbeiterverbänden, Soldaten und Seemännern mit Skepsis aufgenommen, sodass eine „ZweiMächte“-Situation entstand. Bald darauf ergriffen die gemäßigten Sozialisten (die berühmtesten unter ihnen waren die Menschewiken) die Macht und versuchten, den Reformprozess voranzutreiben und die Demokratie einzuführen. In der zivilisierenden und demokratisierenden Geschichte ist dies die junge liberalsozialistische (für ihre linken Gegner bourgeoise) Regierung, die dann in einem Staatsstreich von den Bolschewiken gestürzt wird. Ungeachtet ihrer Bedeutung taucht keine dieser ersten beiden Revolutionen wirklich in der Geschichte von der Sozialrevolution auf, die in ihrer geläufigsten Version sehr wenig detailliert ist, zumindest bezogen auf die Handlungen der Revolutionäre (im Gegensatz zu denen der Opposition). In diesem sozialrevolutionären Rahmen steht 1905 als Moment des völligen Versagens da, der zeigte, dass radikalere Mittel nötig sein würden – dem Zaren, seinen Ministern und Lakaien war nicht zu trauen – und im Februar 1917 wurde dann schließlich der despotische Zar und seine korrupte herrschende Clique gestürzt. Unangebrachterweise versuchte man dann, die Monarchie durch eine bürgerliche liberaldemokratische Republik zu ersetzen. Erst als die Liberalen und die gemäßigten Sozialisten im „Roten Oktober“ ihres Amtes enthoben wurden und Arbeiter, Soldaten und Seemänner in einer Proletarier-Bauern-Koalition an die Macht gelangten, begann die eigentliche Revolution, die Sozialrevolution. Wir erinnern uns an Sewells Aussage, dass das Herzstück der Französischen Revolution in zehn Tagen im Juli 1789 liegt („die die Weltgeschichte veränderten“); analog dazu sprach der US-Journalist John Reed (1990), der von der Russischen Revolution berichtete, bezogen auf den Oktober 1917 von „zehn Tagen, die die Welt erschütterten“. Es geht dabei jeweils um die Schlüsselereignisse der Geschichte: einmal um den Fall der Bastille, das andere Mal um die Stürmung des Winterpalastes. Dies wirft die Frage nach der Dynamik zwischen der Französischen und der Russischen Revolution auf. Die russischen Revolutionäre wollten sich unbe-
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dingt als Teil einer „inexorable revolutionary tradition“ (Corney, 2004: 8) darstellen, in der die Französische Revolution zu einem „Konzept“ oder einem „Ding“ geworden war („concept … thing“ Corney, 2004: 10),14 bei dem das bloße Datum zur Identifikation ausreichte und das überfrachtet war mit Bedeutung. Sie wollten, dass 1917 zu einem ebensolchen „welthistorischen Ereignis“ würde. Viele sahen 1789 als Vorbild und stellten bewusst die Verbindung zu diesem Prozess her; „the Bolsheviks self-consciously proclaimed themselves as the architects of the only real revolution since the French Revolution“ (Rees und Donald, 2001: 3; siehe auch Soboleva, 2008). Dies hatte tatsächlich zur Folge, dass viele Menschen Russland 1917 als einen Sprössling von Frankreich 1789 ansahen. Im Laufe der Zeit änderte sich diese Ansicht bei den Revolutionären selbst, denn viele begannen, 1789 als eine bürgerliche liberaldemokratische Revolution zu betrachten und bezogen sich lieber auf die Pariser Kommune 1871 (die in dieser Geschichte nur eine Nebenrolle spielt, jedoch in der Revolutionsgeschichte der Verlorenen und Vergessenen in Kapitel 8 eine große Bedeutung bekommt). Bereits 1917 verglich Lenin (1918a: 24) die Sowjets mit der Pariser Kommune (Roman, 2003: 39) und Corney (2004: 6) weist darauf hin, dass die Revolutionäre solche Verbindungen sogar noch früher herstellten.15 Dies ist zumindest in gewissem Maße bedeutsam, da die Revolutionäre darauf bedacht waren, die Fehler ihrer Vorgänger zu vermeiden. Sie waren also, wie Lenin (1980a: 84) bemüht war zu betonen, nicht an sklavischer Imitation interessiert; sie hatten nicht die Absicht, „Ansichten, Programm, Slogans und Handlungsmethoden“ zu kopieren. Ihr Programm war „neu“, nicht „alt“: „[Sie] haben einen neuen Slogan: die revolutionär-demokratische Diktatur der Proletarier und Bauern [sowie] neue Handlungsmethoden [mit dem Ziel] einer vollständig sozialistischen Revolution“ (Lenin, 1980a: 84). Die Verbindung bestand dennoch, sie wurde registriert und sie war tiefgreifend. Doch ganz egal, wer im Oktober 1917 wen imitierte, so war es doch, wie Dunn (1989: 26) feststellt, eine überraschend kleine Gruppe von Männern, die „in a great, if crumbling, empire“ die Macht ergriffen. Und dies mithilfe eines Aufstands, den Malia (2006: 270) „lächerlich“ nennt und verblassend neben anderen, geschichtsträchtigeren revolutionären Momenten. In der Geschichte von der Sozialrevolution scheiterte die bürgerliche liberaldemokratische Regierung der Februarrevolution in verschiedenen Koalitionen, selbst unter Leitung der gemäßigten Sozialisten (insbesondere den Menschewiken) daran, den Arbeitern Brot zu geben, das Land für die Bauern umzuverteilen, den wirtschaftlichen Zusammenbruch zu bewältigen und nicht zuletzt Russlands ruinöse Rolle im Ersten Weltkrieg zu beenden. All dies kommt in der revolutionären Parole „Frieden, Brot, Land“ zum Ausdruck.
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Soldaten, Seeleute und Arbeiter wollten, dass ihren Bedürfnissen entsprochen und die neue Welt, die ihnen angekündigt worden war, in die Realität umgesetzt wurde, oder zumindest Schritte in diese Richtung unternommen wurden. Als die Menschewiken die Unterstützung der Öffentlichkeit und – noch entscheidender – die des Militärs verloren, nahmen die Soldaten und Seeleute des Sowjets Petrograd (früher St. Petersburg) unter Trotsky (einem früheren Menschewiken) die Angelegenheiten in die Hand und erklärten sich selbst zu den Anführern (wobei sie für einige Monate noch der Unterstützung der linken Sozialrevolutionäre bedurften).16 Das bolschewikische Versprechen, den Krieg zu beenden, eine Arbeiter-und-Bauern-Regierung zu schaffen, Land umzuverteilen und die Arbeiterkontrolle einzurichten, erwies sich als sehr populär, besonders in den Städten (in ländlichen Gegenden wurden immer noch die Sozialrevolutionäre bevorzugt). Alle Macht lag bei den Sowjets, was im Prinzip bedeutete, dass nur das Militär, die Arbeiter und die Bauern das Wahlrecht hatten – und somit das Recht, eine Revolution anzufangen und eine neue Ordnung einzuleiten. Wie sich herausstellen sollte, entgegen einer unerbittlichen Opposition. Ein Bürgerkrieg brach aus, voll von abrupten Umschwüngen durch die Interventionen der großen Mächte.17 Vier Jahre lang mussten die Revolutionäre gegen gewaltige Hindernisse ankämpfen, um ihre Stellung zu verteidigen. Am Ende waren sie erfolgreich, doch es bleibt die Frage, ob sie die Revolution verteidigt hatten, die sie ursprünglich angestrebt hatten, oder ob sie ihrer Vision nicht auch großen Schaden zugefügt hatten. Dieser Frage wird zum Teil in Kapitel 8 nachgegangen, wo es um die brutale Zerschlagung der Kronstadt-Rebellion von 1921 geht, in der radikale Seemänner und Zivilisten freie Wahlen und einen Vielparteienstaat verlangten, sowie Rede- und Versammlungsfreiheit.18 Ähnlich wie die französischen Revolutionäre machten sich auch die Russen daran, ihre Gesellschaft völlig neu zu gestalten. Die Gesetzgebung bezüglich Ehe, Familie und Vormundschaft von 1918 war die progressivste Familiengesetzgebung der Welt, wenn auch nur wenig davon so umgesetzt wurde, dass es tatsächlich für große Teile der Bevölkerung relevant wurde. Außerdem wurden Einrichtungen für Kinder eröffnet, das Bildungssystem der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und eine soziale Absicherung eingerichtet. Banken und Züge wurden verstaatlicht, gefolgt von der Schwerindustrie. Mode, Kunst und Architektur änderten sich und spiegelten die neue „Sowjet“Ästhetik wider. Und getreu der Tradition der Französischen Revolution bestand auch die Notwendigkeit, einige Bestandteile der alten Sprache auszulöschen – beispielsweise wurden alle Titel abgeschafft und durch „Genosse“ ersetzt – und neue Wörter zu erschaffen, die es den Menschen erlaubten, ihre neue Welt mit Sinn zu füllen. Die Schattenseite war die damit einhergehende
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Bemühung, die realen oder imaginierten „Feinde“ des revolutionären Prozesses zu eliminieren.19 Nur wenige dieser oder der nachfolgenden Ereignisse spielen eine Rolle in der Geschichte von der Sozialrevolution. Wie Corney (2004: 2) überzeugend darlegt, war „the telling of October“ eine brisante und überaus angespannte Angelegenheit, „a sprawling process of suppression and creation“; und heute ist sie das nicht weniger. Trotz der damit einhergehenden Implikationen stand das Jahr 1917 für die nächsten etwa 70 Jahre für ein welthistorisches Ereignis, das überaus bedeutungsvoll war, selbst wenn die Ereignisse an sich nicht besonders ungewöhnlich waren. Die Standarderzählung, die immer noch zu Kontroversen führt, trägt nur wenig dazu bei, die Bedeutung oder die Auswirkungen dieses Prozesses auf die Geschichte von der Sozialrevolution einzufangen. In gewisser Weise war das die Herausforderung, mit der sich die Revolutionäre konfrontiert sahen – wie sollte man etwas, was durchaus als reiner Staatsstreich betrachtet werden konnte, in die zweitgrößte Revolution der Welt verwandeln? So verschiebt sich der Fokus von dem, was sie taten und wie sie es taten auf ihre Überlebenskämpfe und die Kämpfe für soziale Gerechtigkeit in einer Welt, die beidem feindlich gesinnt war. Die Geschichte von der Sozialrevolution akzeptiert und propagiert schlussendlich das, was Furet (1999: 62) „the universal spell of October“ nennt. Die genaue Art und Eigenheit dieses „Zaubers“ zu erkennen ist nicht einfach, doch es ist möglich, einige Elemente zu identifizieren. Zuerst einmal schien der „Rote Oktober“ eine „grand revolutionary series“ (Malia, 2006: 288) abzuschließen, die, obwohl es sich größtenteils um Fehlschläge handelte, zutiefst die Art verändert hat, wie Menschen über ihre Möglichkeiten dachten, und die dazu beitrug, eine Vielzahl von Kämpfen für soziale Gerechtigkeit und besonders auch für das Recht auf Selbstbestimmung der Völker zu entfachen. Zweitens zeigt sich der Beitrag der Russen zu dieser Geschichte als intellektuelle, psychologische und vielleicht auch emotionale Erben der Französischen Revolution in dieser treffenden Äußerung Lenins: „Revolutions are festivals of the oppressed and the exploited“. Er fährt fort: „[A]t no other time are the mass of the people in a position to come forward so actively as creators of a new social order, as at a time of revolution. At such times, people are capable of performing miracles“ (1980a: 125). Und schließlich hat die Russische Revolution Millionen auf der ganzen Welt dazu inspiriert, sich den ihren Interessen und Wünschen feindlich gesonnenen Eliten und ihren Verbündeten entgegenzustellen. Trotz der unzähligen Fehlschläge – und die Liste ist lang und tragisch – war doch die Inspiration vorhanden. Lenin etwa glaubte daran, dass sie im Begriff waren, die Weltrevolution vorzubereiten.20
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Hierzu ist eine Nachbemerkung angebracht. Malia (2006: 288) sieht eine gewisse Ironie darin, dass der „Rote Oktober“, der die Reihe der „großen“ Revolutionen abschloss (er schließt China hierbei als „conceptually … an encore“ aus), heute wenig mehr als einen Abschnitt auf dem Weg zum großen Zusammenbruch 1989 – 91 darstellt, in dem die „irreversible conquests“ der Revolution durch „the most successful counterrevolution in history“ ausgelöscht wurden. Für viele sei es so, als ob 1917 nie stattgefunden hätte, „… its results … repealed and its presuppositions refuted“. Man könnte hinzufügen, dass heute vor allem die grausamen Exzesse Stalins in Erinnerung geblieben sind, auch wenn diese angeblich der Weltrevolution dienen sollten. Sowohl 1917 als auch danach hing die Einstellung zur Oktoberrevolution größtenteils davon ab, wer und wo man war. Rosenberg und Young (1982: 55) formulieren es folgendermaßen: Für die Clydeside-Arbeiter in England, für die rebellischen französischen Truppen in Verdun, für Karl Liebknecht und radikale deutsche Arbeiter in Berlin, für chinesische Radikale in Peking und Shanghai spiegelte der Bolschewismus den Triumpf der Unterdrückten wider, die Macht der gewöhnlichen Männer und Frauen, der historisch und sozial Machtlosen. Das Heldentum Lenins und der Oktober wurden fast unmittelbar zu wichtigen Symbolen. Der lange Schatten mobilisierter russischer Arbeiter signalisierte das Potenzial der einfachen Leute weltweit.
In der Geschichte von der Sozialrevolution bleibt das weltweit verbreitete Bild selbst heute noch das der leidenschaftlichen, engagierten und selbstverleugnenden Revolutionäre, die glaubten, einem höheren Ziel zu dienen, und dabei mit heldenhaften Soldaten, Seemännern, Arbeitern und Bauern zusammenarbeiteten und von ihnen unterstützt wurden. Sie erklärten der Welt, dass nun alles jedem gehörte, und dies im Namen aller, zum Wohle aller und zum Zwecke der sozialen Gerechtigkeit.
Die Revolution in der „modernen“ Welt: Kuba 195921 Wenn es einen einzelnen Fall gibt, der das zeitgenössische Verständnis von Revolution am deutlichsten geprägt hat, dann ist es wohl die Kubanische Revolution von 1959. Heutzutage wird uns das Konzept „Revolution“ manchmal wie ein Hollywood-Szenario präsentiert: Eine kleine, entschlossene Gruppe von Freiheitskämpfern erkämpft sich ihren Weg aus den Bergen entgegen einer repressiven, autoritären Diktatur und erringt dabei die Gefolgschaft der Bevölkerung; sie ergreifen die Macht und erschaffen eine kühne neue Gesellschaftsordnung, anders als jede andere zuvor, in der alles möglich
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ist. Oft in Vergessenheit gerät dabei, dass es mehr als jedes andere Einzelereignis oder jeder andere Prozess die Kubanische Revolution war, die für dieses Hollywood-Szenario verantwortlich ist. Aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt auch aufgrund des Anbruchs des Medienzeitalters, ist das Bild, das die meisten Menschen in den Köpfen haben, die Kubanische Revolution, sie ist ein naheliegender Bezugspunkt. Wenn auch die Revolutionen der Vergangenheit nicht die Zukunft vorherbestimmen – im Gegensatz zu den Behauptungen nach 1789 und 1917 – so stellen uns diese Ereignisse und Prozesse doch nichtsdestoweniger die Sprache und die Konzepte zur Verfügung, die wir benötigen, um die Zukunft zu verstehen. Und genau so, wie Frankreich unser Verständnis von Russland bestimmt hat und Russland unser Verständnis von China, so beeinflusst auch Kuba, wie wir uns die Revolutionen der Zukunft vorstellen, wie sie aussehen werden, wie sie sich abspielen werden und ob sie von Bedeutung sein werden. Selbst wenn sich die Kämpfe in jüngerer Zeit nicht mehr so deutlich am kubanischen Beispiel orientieren, bleibt die Kubanische Revolution doch ein integraler Bestandteil der Geschichte von der Sozialrevolution. An dieser Stelle sollte man kurz auf den offensichtlich in der Geschichte von der Sozialrevolution fehlenden Fall eingehen: China. China ist in mehrerer Hinsicht von großer Bedeutung: es brachte die Revolution in die „Dritte Welt“, es handelte sich um eine echte, nach vorn gerichtete Bauernrevolution (im Gegensatz beispielsweise zu Mexiko) (Dunn, 1989: 70 –71); es war China, das den Nationalismus wieder in den Mittelpunkt stellte (wenn auch Russland ebenfalls stillschweigend Abstand von seinen universalistischen Illusionen genommen hatte); und es war China mit seiner sozialen „anti-colonial revolution“ (Foran, 1997b: 236), das den deutlichsten Einfluss auf die antikolonialistischen Kämpfe nach dem Zweiten Weltkrieg hatte. Paige (2003: 27) geht sogar so weit, dass China eine Revolution war „in a way that the Bolshevik revolution never was“. Und gleichzeitig ist China schwer zu kategorisieren: die Revolution dauerte etwa 38 Jahre an („the longest revolution“; Foran, 2005: 46); ihr eindeutig sozialrevolutionärer Charakter war gleichzeitig zweitrangig zu ihrem Status als „supremely a nationalist revolution“ (Dunn, 1989: 70); und die Rolle der beiden Weltkriege innerhalb des ganzen komplexen Prozesses zu begreifen, stellt eine knifflige analytische Herausforderung dar. Foran kommt letztlich zum dem Schluss, es habe sich um eine zutiefst nationalistische („China den Chinesen“) Sozialrevolution gehandelt, bei der es um soziale Gerechtigkeit ging (2005: 53; er zitiert Lomparis, 1996: 142). Er beginnt also dort, wo wir aufhören: mit Dunns Beobachtung, „[dass die] Chinesische Revolution vermutlich schwerer überzeugend zu charakterisieren (und deshalb auch schwerer zu erklären) ist als irgendeine andere
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historische Revolution; überwältigend in ihrer Reichweite, verwirrend langwierig, fortwährend diffus bezüglich ihrer Ziele, politisch im Großen und Ganzen nach wie vor ungelöst und schrecklich verhüllt und ganz und gar undurchsichtig“ (1995: 389). Die Chinesische Revolution hat einen langen Schatten geworfen, in dieser Geschichte ist sie ein Geist, der die Erzählung immer wieder heimsucht. Und es ist Kuba, nicht China, das zum modernen Archetyp der Revolution geworden ist, mit einem Plot aus großen Erwartungen und großen Enttäuschungen, Fehlschlägen und Triumphen, durchsetzt von Themen wie Erneuerung, Erlösung und Hoffnung. Selbst wenn weniger in die Tat umgesetzt wurde, als man einst für möglich gehalten hatte, so haben doch nicht nur Kubaner aller Gesellschaftsschichten eine Revolution vollbracht, sondern diese dadurch auch für andere an allen möglichen Orten möglich erscheinen lassen. Ich habe in einer anderen Arbeit die Behauptung aufgestellt: „[N]o event of the past fifty years has affected so many people, in so many places, for so much time and continues to do so as the Cuban Revolution“ (Selbin, 2009a: 21). Dies ist eine ziemlich weitreichende Behauptung, wenn man bedenkt, was sich alles ereignet hat. Doch denken wir an einige Schlüsselereignisse – den kalten Krieg, anti-kolonialistische/anti-imperialistische Befreiungskämpfe, die Ereignisse von 1968, die osteuropäischen „Farbrevolutionen“ 1989 – oder auch an weniger große Ereignisse wie die Aktivitäten der Zapatisten in Mexiko oder die Proteste gegen die Welthandelsorganisation: Der kubanische Revolutionsprozess ist als wegweisendes Beispiel von entscheidender Bedeutung für diese Entwicklungen, sowohl auf das Gute als auch auf das Schlechte bezogen, und am wichtigsten ist er als machtvolle Inspiration dafür, dass man trotz überaus schlechter Voraussetzungen etwas erreichen kann. In der Geschichte von der Sozialrevolution gab es kurze, verlockende Ahnungen einer anderen Welt, die nach dem Ersten Weltkrieg möglich war, zu einem großen Teil waren sie durch die Russische Revolution inspiriert; die meisten gehören nun zu den verlorenen und vergessenen Revolutionsgeschichten (Kapitel 8). Wir treffen hier auf Berlin 1918, die kurzlebigen Räterepubliken in München und Ungarn, die biennio rosso („zwei roten Jahre“) in Italien 1919–20, und das „Rote Wien“ 1918–38. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es sogar noch aufregendere Möglichkeiten: die Kommunisten, die die anti-faschistische Opposition anführten, schienen nahe daran zu sein, in Italien und Griechenland die Macht zu ergreifen; außerdem gab es – wie weiter oben bemerkt – die Revolution in China sowie radikale und bahnbrechende Prozesse verschiedenster Art in Vietnam 1945–75, Indonesien 1945–49, Malaysia 1948–60, Guatemala 1950–54, dem Iran 1951–53, Bolivien 1952–54, Kenia 1952–60, Britisch-Guayana 1953–64 und Algerien
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1954–62. Die meisten lassen sich eher der Revolutionsgeschichte von Freiheit und Befreiung (Kapitel 7) zuordnen. Keine von ihnen spielt sich jedenfalls dort ab, wo die Geschichte von der Sozialrevolution uns als nächstes hinführt: Kuba. Das Vermächtnis der Kubanischen Revolution ist weit verbreitet und umfassend; man kann es überall ausmachen. Ungeachtet dessen, dass Frankreich die Revolution in ihrer modernen Form eingeführt hat, und ungeachtet der Bedeutung des russischen Revolutionsprozesses für das 20. Jahrhundert ist es Kuba, das die Revolution der heutigen Weltgemeinschaft nahegebracht und der großen Mehrheit der Menschen als plausibles Mittel dargestellt hat. Kuba hat wie nie zuvor verdeutlicht, dass eine entschlossene Gruppe von Menschen, die bereit ist, zu kämpfen, Opfer zu bringen und Risiken auf sich zu nehmen, eine Revolution machen kann. Es ging um Willen und Entschlossenheit, Courage und vielleicht auch ein wenig Glück. Die Geschichte von der Sozialrevolution handelt von der Entschlossenheit der Menschen und ihrer Gemeinschaften, ihrer Leidenschaft und Sehnsucht sowie ihr Wunschbild einer besseren Welt.22 Niemand würde leichtfertig die Entscheidung treffen, zu kämpfen, das eigene Leben und das seiner Familie zu riskieren oder Hoffnungen und Träume aufs Spiel zu setzen. In Kuba entschieden sich viele Menschen für den Kampf. Das Zusammentreffen der Wirren revolutionärer Rhetorik und revolutionärer Ideale mit der Realität des tatsächlichen Revolutionsprozesses erschwert eine klare Sicht auf die Ereignisse in Kuba, doch die groben Umrisse sind durchaus erkennbar. Bei dem Versuch, eine Rebellion gegen den kubanischen Diktator Fulgencio Batista anzufachen, führten Fidel Castro und einige Kollegen am 26. Juli 1953 einen schlecht geplanten Angriff auf die Moncada-Baracken durch, was zu Castros Festnahme und seiner berühmtem Verteidigung „die Geschichte wird mich freisprechen“ führte. Nach einer kurzen Haftstrafe ging er nach Mexiko, wo er eine kleine Rebellengruppe rekrutierte und organisierte, die die Revolution zum Ziel hatte. Im Jahre 1956 kehrten diese Männer als Bewegung des 26. Juli zurück nach Kuba (so benannt nach dem fehlgeschlagenen Aufruhr in Moncada) und machten sich, nachdem sie heftige Verluste erlitten hatten, auf den Weg in die Berge, um dort den Dialog mit der bäuerlichen Bevölkerung zu suchen, was sich als bahnbrechend erweisen sollte. Die nächsten zwei Jahre waren eher durch einen Positionskrieg (ideologische Auseinandersetzungen) als durch einen Manöverkrieg (militärische Auseinandersetzungen) bestimmt; in dem Kampf ging es von Anfang an primär um die Errichtung einer neuen Gesellschaft.23 Die Ergreifung der Staatsgewalt kam eher überraschend, nachdem Batista nach einer scheinbar unbedeutenden Niederlage am 1. Januar 1959 floh und damit sein Regime
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auseinanderbrach – ein Verlust, der von den meisten Menschen im Land sehr begrüßt wurde. Der Sieg der überaus populären Revolutionäre, los barbudos (die Bärtigen) über den Diktator und seine Verbündeten fesselte die Vorstellungskraft der Menschen überall auf der Welt. Da sie mehr oder weniger einem institutionellen und strukturellen Vakuum24 gegenüberstanden und sich der Unterstützung einer großen Anhängerschaft25 sicher sein konnten, erschienen die Vorstellungen der jungen Revolutionäre davon, einen neuen Staat, eine neue Gesellschaft und neue Welt aufzubauen, durchaus plausibel. Wie Castro später sagen würde, hatten sie sich das Recht erkämpft, eine neue Welt aufzubauen – die eigentliche Revolution. Um eine Formulierung zu verwenden, die Castro bezüglich einer anderen Revolution benutzte (Grenada 1979, eine der vielen von Kuba inspirierten): „[It was] a big revolution in a small country“ (Sunshine, 1988: 168). Und auf der ganzen Welt nahmen die Menschen Kenntnis von ihr. Nachdem ihr Land sehr lange von einem aufgezwungenen spanischen Modell bestimmt worden war und dann von einem importierten US-amerikanischen dominiert wurde, konnten sich die Kubaner, wie schon die Franzosen und Russen vor ihnen, schnell für die Aufgabe erwärmen, ihre Gesellschaft neu zu gestalten. Patria, „Vaterland“ war die neue, alles umfassende Parole und der Stolz, der früher dem Besitz von USamerikanischen Gütern gegolten hatte, übertrug sich nun auf kubanische Güter, Dienstleistungen und Ästhetiken. Die Mode wandelte sich (die guayabera, ein langes Hemd für Männer war „in“, Anzüge waren „out“), Film, Ballett, Musik und Literatur wurden in einem nationalistischen Rahmen neu konzipiert und neue Gesetze wurden verabschiedet (allein im ersten Jahr etwa 1500; Paige, 2003: 24), die alle möglichen bedeutenden und unbedeutenden Dinge veränderten, darunter fiel nicht zuletzt das Verbot von Diskriminierung aufgrund von Rasse oder Geschlecht. Militärbaracken wurden in Schulen, Krankenhäuser und Kliniken umgewandelt und private Clubs und Privatstrände wurden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Analphabetismus wurde sehr erfolgreich bekämpft und eine Landreform unternommen. In deutlicher Anlehnung an Frankreich wollten die Kubaner sogar die Sprache verändern, bestrebt, ihr Spanisch zu „de-amerikanisieren“ und ihm neue Begriffe und Konzepte hinzuzufügen, wie es die Russen getan hatten.26 Die Menschen wollten sich selbst verändern, sich selbst „revolutionieren“. Diese Geschichte übergeht rücksichtslos mehrere entscheidende Faktoren, nicht zuletzt, dass mehrere Gruppierungen von Revolutionären beteiligt waren (wenn auch nur Castros bereits die neue Gesellschaft plante),27 sie lässt die entscheidende Rolle der Stadtguerilla außer Acht (siehe hierzu besonders Sweig, 2004) und ignoriert, dass in bestimmten entscheidenden Augenblicken reines Glück den Ausschlag gab. Und genau so, wie die Russen eine
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einheitliche, überzeugende „Oktobererzählung“ erschaffen wollten (siehe beispielweise Corney, 2004; von Geldern, 1993), so bemühten sich auch die kubanischen Revolutionäre um ihren „Mythos der Sierra“, besonders um die Erzählung des sagenumwobenen großen Vorbilds, den asthmatischen argentinischen Arzt Ernesto „Ché“ Guevara, eine Figur, auf die wir in den folgenden Kapiteln zurückkommen werden. Am wichtigsten ist bei dieser Geschichte, dass, egal welche Version sie gehört hatten, einige Menschen sich daraufhin auf den Weg nach Kuba machten, wo sie von Guevara und dessen und Castros Mentor Alberto Bayo sowie weiteren Veteranen ausgebildet und anschließend zurück geschickt wurden, um die Revolution überall zu verbreiten. Die Millionen, die nicht kommen konnten, wurden in ihren bereits bestehenden Kämpfen bestärkt und ermutigt – in Algerien, Vietnam, Kolumbien, Malaysia, Zentralamerika und dem subsaharischen Afrika. Weit wichtiger als die Ausbildung (oder die geringfügige Unterstützung) war die Geschichte, die überall auf der Welt erzählt wurde: eine kleine, engagierte Gruppe von Revolutionären, die sich um das Wohl der Bevölkerung sorgte und auf ihre Unterstützung angewiesen war, hatte nicht nur einen wesentlich stärkeren Feind bezwungen, sondern auch die Vereinigten Staaten, eine der beiden Supermächte weltweit. Nachdem sie ihr Ziel erreicht hatten, machten sie sich daran, das Land bezüglich Gesundheitswesen, Bildung, Nahrung und Wohnmöglichkeiten genau so zu verändern, wie sie es versprochen hatten, wodurch sie das Leben von Millionen verbesserten. Diese Aktionen machten den revolutionären Kampf überaus populär und romantisierten ihn, sie gaben den Entrechteten der Welt neue Kraft bei schwierigen Entscheidungen – wenn die das dort machen können, warum sollten wir hier es nicht auch können? Dadurch wurde der Revolutionsprozess auf Kuba laut Ché Guevara zu einem „,bad example‘ of national and international dignity, … Each time that an impudent people cries out for liberation, Cuba is accused; and it is true in a sense that Cuba is guilty, because Cuba has shown the way … the way of struggle … in a word, the way of dignity. The Cuban example is bad, a very bad example … defying danger, advancing toward the future“ (1969: 123). Und Kuba stellte sich nicht damit zufrieden, nur ein Beispiel zu sein; es ließ den Worten Taten folgen und schickte auch in andere Länder bewaffnete revolutionäre Unterstützung, hauptsächlich nach Südafrika. Von größerer Bedeutung für die allgemeine Wahrnehmung des Revolutionsprozesses auf Kuba war allerdings, dass auch Ärzte, Krankenschwestern, Lehrer, Ingenieure und Bauarbeiter geschickt wurden. Und in dem Maße, wie für die Mehrheit der Weltbevölkerung diese Menschen zum Gesicht der Kubanischen Revolution wurden, so wuchs auch die Statur, das Format der Revolution. Es gibt einige weitere wichtige Bestandteile der Geschichte von der Sozial-
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revolution. Zuerst einmal handelte es sich bei der kubanischen um eine postkoloniale/postimperialistische Revolution auf der südlichen Erdhalbkugel. Abgesehen vom Falle Mexikos, wobei es sich eher um einen dramatischen sozialen Umbruch handelte, als eine zusammenhängende Sozialrevolution, waren Revolutionen für den Norden vorgesehen, wo scheinbar die einzigen Veränderungen von Bedeutung passierten. Die Kubanische Revolution zeigte, dass Revolutionen im Süden für die Menschen im Süden gemacht werden konnten. Hier ging es nicht nur um den reinen Import von europäischen (oder chinesischen) Ideen, sondern vielmehr um einen neuen Kampf für eine neue Welt, bei dem neue Strategien und neue Taktiken benutzt wurden, die sich aus den neuen kubanischen Ereignissen ergaben – wenn es eine alte Geschichte war, so wurde sie zu einer neuen gemacht.28 Außerdem schien Kuba den überzeugenden Beweis dafür zu liefern, dass das Gute über das Böse siegen kann, selbst angesichts großer Widrigkeiten. Eine auf breiter Basis aufbauende Volksrevolution stürzte einen brutalen Diktator, von dem allgemein angenommen wurde, dass er die Unterstützung der Vereinigten Staaten genoss (zu deren aus Batistas Perspektive zeitlich sehr ungelegenem Treuebruch in den meisten Versionen dieser Geschichte nichts vermerkt wird29) und die von mächtigen Syndikaten des organisierten Verbrechens, für die Kuba wenig mehr als ein Spielplatz war. Die Erzählung wurde nur noch besser, als die Feindseligkeit der USA stärker wurde und die neue kubanische Gesellschaft sogar noch heftigeren Zerstörungsversuchen entschlossener Gegner widerstand. In einer Welt, die nach Ansicht der meisten Kubas Existenz feindlich gesonnen war, galt schon das reine Überleben als Auszeichnung. Und schließlich, und das könnte der wichtigste Punkt in der Geschichte von der Sozialrevolution sein, bot Kuba das Beispiel einer tatsächlich existierenden Revolution, die den Gegenspielern zum Trotz zu funktionieren schien und den Menschen eine Gelegenheit bot, ihr revolutionäres Recht umzusetzen, die materiellen und ideologischen Konditionen ihres Alltagslebens zu verändern. Nichtsdestoweniger kann man, wie bei Frankreich, Russland und China zuvor, nur schwer behaupten, dass die Kubaner vollständig erfolgreich waren, wenn natürlich auch viel davon abhängt, was man wie werten möchte. Nichtsdestoweniger haben die Kubaner eine Menge erreicht. Wenn die Revolutionäre auch nicht die enorme Aufgabe vollbracht haben mögen, die sie sich selbst gestellt hatten – in der besten Tradition der Sozialrevolution wollten sie nicht nur ihr eigenes Dasein sondern auch die Welt um sich herum komplett neu gestalten – wäre es unaufrichtig, die vorhandenen, realen Erfolge zu verleugnen oder zu schmälern. Selbstverständlich gibt es berechtigte Zweifel daran, ob die Bürgerrechte immer respektiert wurden und ob nicht manchmal die Bedürfnisse der Menschen durch den Staat vordiktiert wur-
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den, doch die Erzählung innerhalb der Erzählung ist immer noch die von Menschen, die eine bessere Welt für sich und ihre Kinder erschaffen wollten und die ihre ambitionierten Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit mit anderen an verschiedenen Orten teilen wollten. Letztendlich hat Kuba in vielerlei Hinsicht eine neue Episode in der Geschichte von der Sozialrevolution eingeleitet. Die Sozialrevolution war nun fest im Süden und der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verankert. Wenn die Französische Revolution den Niedergang des Feudalismus und seiner Begleiterscheinungen angekündigt hatte, so hatte die Revolution auf Kuba diesen Kampf direkt in den Bauch der modernen Bestie gebracht – Lateinamerika und die Karibik unter dem wachsamen Blick der Vereinigten Staaten. Und es stand nach Pérez (1999: 482) vielleicht sogar noch mehr auf dem Spiel: „[D]as vorherrschende Paradigma der ,Zivilisation‘ war im Wandel begriffen. Die Macht der Revolution bestand in ihrem Potenzial, die Standards, an denen Zivilisation gemessen wird, brauchbar umzuordnen, und in dem Prozess eine Vision einer alternativen moralischen Ordnung heraufzubeschwören.“30 Die Geschichte von der Sozialrevolution beginnt also mit den Bemühungen der Franzosen, eine neue Welt zu schaffen, bewegt sich weiter nach Russland und China und zu deren Vorstellungen, was sie angesichts unbewältigbarer Herausforderungen tun und sein wollten und kommt dann in Kuba an, welches die Revolution in die Gegenwart befördert und sie real, machbar und bedeutungsvoll erscheinen lässt – eine Geschichte, die von jedem überall und zu jeder Zeit erzählt werden kann.
Die Revolutionsgeschichte schlechthin Die Kubanische Revolution ist der zeitgenössische Inbegriff der Geschichte von der Sozialrevolution und sie wird durch Ché Guevara verkörpert. Dunn (1989: 200) stellt sogar folgende These auf: „[Sie] belebte die Plausibilität der revolutionären Rolle als eine Option für die Zukunft wieder und nicht bloß als eine glorreiche Verschönerung einer vergehenden Phase der Geschichte.“31 Seit Jahrzehnten inspiriert sie und ermutigt sie weltweit zu Revolution, Rebellion und Widerstand, wenn es auch nur wenige Fälle von erfolgreichen Sozialrevolutionen gibt. Manchmal geschehen diese in Form von direkter Imitation – erfolgreich etwa bei der Sozialrevolution in Nicaragua 1979 (und auch kurz in Grenada 1979) und bei den anti-kolonialistischen Revolutionen in Angola und Mosambik; weniger erfolgreich in Bolivien, Peru, Venezuela, El Salvador und anderswo. In anderen Fällen war der Einfluss eher indirekt, beispielsweise in Sansibar (1964), Benin (1972), Äthiopien (1974) und Burkina Faso (1983), in keinem dieser Fälle handelte es sich um eine Sozialrevolution. Es gab auch
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etwas unklarere Zusammenhänge, die eher mit Kampfgeist und Ermutigung zu tun hatten, wie zum Beispiel in Vietnam, Laos und Kambodscha 1975,32 Afghanistan (1978) und dem Iran (1979), oder auch einfach mit dem Gefühl des Möglichen, das Kuba in Wahlsituationen gefördert hat, etwa in Chile (1970) und Jamaika (1972). Besonders nebulös doch nichtsdestoweniger real und mächtig war die Wichtigkeit des kubanischen Beispiels für die Studenten, Arbeiter und Intellektuellen überall auf der Welt im Jahr 1968. Wenn es von den beteiligten Ländern auch nur in Nicaragua und dem Iran zu einer Sozialrevolution kam, so strebten sie doch alle (und viele weitere Länder auch) nach einer solchen, teilweise, weil die Kubanische Revolution Bestandteil ihrer Vorstellungswelt geworden war, das jüngste Kapitel in der mitreißenden Geschichte der Sozialrevolution. Arendt (1965: 43) behauptete „es gibt nur eine einzige, ewige Revolution“, was durchaus zu den universalistischen Illusionen derjenigen passt, die an einem sozialrevolutionären Prozess beteiligt sind. Camus gab 1946 zu bedenken: „1789 and 1917 are still historic dates, but they are no longer historic examples“ (zitiert nach Kumar, 2001: 216). Etwa 20 Jahre später widersprach ihm Brinton (1965: 249), der behauptete: „[T]he mid-twentieth-century search for social justice has moved to Asia, Africa, and Latin America […] in China, in Ghana, in Cuba, they want what they think we in the West wanted when we began our revolutions, something still summarized best by the French Liberté, Égalité, Fraternité“ (1965: 250). Sozialrevolutionen wollen mit Sicherheit diese Prinzipien einführen – und häufig noch viele weitere. Das Ziel ist eine weltweite Revolution, die durch ökonomische, politische, soziokulturelle und psychologische Veränderungen der jetzigen und allen kommenden Generationen soziale Gerechtigkeit bringt. Es besteht kein Zweifel darüber, dass der Geschichte von der Sozialrevolution eine enorme Macht innewohnt. Sie ist die intensivierte Verbindung der Träume und Sehnsüchte der „Linken“, wie wir sie seit 1789 nennen, und repräsentiert dementsprechend die schlimmsten Albträume der „Rechten“. Nach Lenin (1980a: 125) ist sie das Fest „der Unterdrückten und Ausgebeuteten“ („of the oppressed and exploited“), bei dem Menschen, die vorher lange unterdrückt worden waren, die Kontrolle über die materiellen und ideologischen Voraussetzungen ihres Lebens zu erringen suchen. Dies beinhaltet unausweichlich, dass sie denen die Macht entreißen, die sie augenblicklich besitzen. Einerseits spiegelt die Sozialrevolution somit das Versprechen des Aufklärungszeitalters wider. Andererseits wird sie auch deutlich von einem donquichottischen Idealismus bestimmt – man denke nur an einen überaus einflussreichen Aphorismus, Chés hoffnunglos romantische Aussage: „[A] true revolutionary is guided by a great feeling of love“ (Guevara, 1967a: 136).
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In diesem Sinne stellt die Sozialrevolution vielleicht eine zweifache Revolution dar, die teils deswegen so selten ist, weil beide Elemente vorhanden sein müssen, Vision und Organisation, denn nur beide zusammen ermöglichen die öffentliche Umsetzung der privaten Träume und Wünsche der Menschen. Dies ist mit Sicherheit der Hauptgrund, warum wir die Revolutionen, die zur Geschichte der Sozialrevolution gehören, die „großen Revolutionen“ nennen.
Anmerkungen 1 Zu dieser Phrase, die erst im Nachhinein Berühmtheit erlangte, siehe Roberts, 1976. Eine interessante Untersuchung, die erforscht, warum nicht alles so sein muss, wie es zu sein scheint, findet sich bei Ozouf, 1998. 2 Dunn dazu: „[H]e was not exercising remarkable foresight. What he wished to emphasize was the massive essentially more than human, uncontrollable character of the forces at work. Mere men make revolts. But revolutions are to be traced to forces of a more cosmic scale“ (1989: 3). Abgesehen von den naturalistischen Implikationen scheint dies es genau zu treffen. 3 Skocpols paradigmatische Definition der Sozialrevolution lautet: „rapid, basic transformations of a society’s state and class structures … accompanied and in part carried through by class-based revolts from below“ (1979: 4). 4 Man bedenke, dass Malia China „conceptually at least“ als ein „encore“ zur Russischen Oktoberrevolution von 1917 betrachtet (2006: 288); während Dunn (1995: 389) meint: „[While it is hard to] characterize convincingly (and therefore harder also to explain) than any other historical revolution … [i]t is also, palpably, of immense political and historical importance – very possibly, now that the cold war has ended without unleashing full-scale thermonuclear war, the single most important historical event of the twentieth century.“ 5 Es ist unmöglich, hierzu eine verlässliche Quelle zu finden, vielleicht, weil es sich so nie zugetragen hat; siehe Gittings, 2007: 61. Die meisten Versionen schreiben die Bemerkung Zhou zu, manche Mao Zedong; ein Großteil beinhaltet den USStaatssekretär Henry Kissinger, einige andere nennen den französischen Botschafter André Malraux. Wiedergaben ohne Nennung einer Quelle gibt es reichlich, auch bei geachteten Forschern; siehe beispielsweise Sick, 1995: 145; Prins, 1998: 793; Rosenberg, 1999: 91; Vatikiotis, 2005/06: 27; Fischer, 2006: 340; oder Aron, 2006: 443. 6 Der frühe Revolutions-Slogan „ein König, ein Gesetz, ein Gewicht, ein Maß“ zeigt deutlich das Bedürfnis nach eindeutigeren Regeln und Vorschriften. 7 Trotz seines universalistischen Anspruchs ist ein solcher Kalender, wie Brinton (1965: 179) aufzeigt, leider bei Weitem nicht überall anwendbar, man denke nur an Australien.
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8 Vgl. Darnton: „Parents said tu to children, who replied with vous. The tu was used by superiors addressing inferiors, by humans commanding animals, and by lovers – after the first kiss, or exclusively between the sheets. When French mountain climbers reach a certain altitude, they still switch from the vous to the tu, as if all men become equal in the face of the enormousness of nature“ (1990: 8). 9 François-Noël „Gracchus“ Babeuf (sein nom de guerre ist eine Hommage an den römischen Reformer Gracchi) und die Verschwörung der Gleichen gehören zu den interessantesten Fußnoten der Revolution, wir werden ihnen wieder in der Revolutionsgeschichte der Verlorenen und Vergessenen begegnen (Kapitel 8). Das „Manifest der Gleichen“ von Sylvain Maréchal ist ein faszinierendes Dokument. Babeuf schlug das Konzept der „Vorhutpartei“ lange vor Lenin vor, dessen berühmtestem Verfechter (Pilbeam, 2001: 34), und wollte die erste „kommunistische“ Revolution einläuten (siehe beispielsweise Dunn, 1989: 6). 10 Die berühmtere Version „I have seen the future, and it works“ wurde häufig von Steffen verwendet und wird ihm von seiner Frau E. Winter (1933) zugeschrieben. 11 Wie vielfach bemerkt wurde, entsprechen diese Monate dem Julianischen Kalender, Julius Cäsars reformierten Version des römischen Kalenders. Nach der Revolution wurde der Gregorianische Kalender von Papst Gregor XIII eingeführt, ein Kalender, der schon lange überall in Europa verbreitet war. 12 Lenin stellt dies des Öfteren fest; sehr deutlich wird es in „,Left-Wing‘ Communism – An Infantile Disorder“ und nirgendwo eindeutiger als an dieser Stelle: „The fundamental law of revolution, which has been confirmed by all revolutions and especially by all three Russian revolutions in the twentieth century“ (1980b: 566). 13 Tilly (1978, 1995, 2002) bezieht sich in seiner überzeugenden Darstellung revolutionärer Situationen auf Lenin. Gleichzeitig teilt er dessen Ansicht, dass dies keine Vorzeichen für zukünftige Revolutionen sein müssen. Hobsbawm verweist auf die hier gegebenen Möglichkeiten und meint: „,[R]evolutionary situation[s]‘ are thus about possibilities, and their analysis is not predictive.“ Er beschreibt sie als „short-term crisis within a system with long-term internal tensions, which offers good chances of a revolutionary outcome“ (Hobsbawm, 1986: 19). 14 Er bezieht sich auf Anderson, 1991: 80; welcher wiederum Hobsbawm, 1996a: 169 zitiert. 15 Billington (1980: 346) geht so weit, zu behaupten: „[T]he Commune … provided the Russian Revolution with its holy relics.“ 16 Offiziell wurde die Revolution vom militärischen Revolutionskomitee des Sowjets Petrograd angeführt. 17 Siehe Kapitel 4 Anmerkung 9 zur großen multinationalen Intervention der Alliierten des Ersten Weltkrieges im russischen Bürgerkrieg im Auftrag der konterrevolutionären Kräfte. 18 Die entscheidenden Momente hier sind wohl die Niederschlagung der KronstadtRebellion 1921 (siehe Kapitel 8) und „the defeat of the workers’ opposition and
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ban on factions at the Tenth Party Congress“ (Paige, 2003: 26; er zitiert Furet, 1999: 90). Vielen Dank an Harald Wydra für die Erinnerung (persönliche Korrespondenz, Mai 2009). Arendt präsentiert uns eine Anekdote, die darauf schließen lässt, dass ihn auch etwas profanere Gedanken beschäftigten (wenn sie denn „wahr“ ist): „[W]hen asked to state in one sentence the essence and the aims of the October Revolution, [Lenin] gave the curious and long-forgotten formula: ,Electrification plus soviets‘“ (1965: 65). Dieser Abschnitt bezieht sich stark auf Selbin, 2009a. Die Erfolge und Fehlschläge der Kubanischen Revolution sind heiß umstritten, vielleicht noch mehr als die jeder anderen Sozialrevolution. Wie man Kuba und den revolutionären Prozess betrachtet, der es seit fünfzig Jahren prägt, hängt davon ab, wo man herkommt und wie man positioniert ist. Der Unterschied kann einfach darin liegen, ob man aus Miami oder Managua stammt. Doch andererseits ist die Sache auch kompliziert und sagt viel über die Interessen, Neigungen und die Beteiligung des Betrachters aus. Ich bin mir der Komplexität meiner Position(en) bewusst und der vielen möglichen Interpretationen der unzähligen Realitäten, welche die kubanische Revolutionserfahrung ausmachen. Wie Trotzky so treffend feststellt, wählen die Menschen das Mittel der Revolution nur, wie bereits in Kapitel 1 vermerkt, wenn es „keinen anderen Ausweg“ gibt (1957: 167); siehe auch Goodwin, 2001. So schickte beispielsweise 1958 Castro seinen Bruder Raúl von ihrem Bollwerk in der Sierra Maestra in die Sierra Cristal, um dort eine zweite Front zu eröffnen. Nachdem sie die Region militärisch gesichert hatten, bekämpften die Revolutionäre den Analphabetismus, führten Gesundheits- und Bildungsprogramme ein, Gewerkschaften, eine bürgerliche Verwaltungsstruktur, eine Miliz und eine Agrarreform. Sie waren darauf bedacht, den sozialen Normen vor Ort zu entsprechen, waren sehr zugänglich und erzeugten so eine starke Verbundenheit bei der Bevölkerung. Siehe dazu Selbin, 1999: 82, hauptsächlich bezogen auf eine der besten kurzen Beschreibungen dieser Bemühungen, Judson, 1984: 139 – 49. Während des Machtkampfes schien die alte Gesellschaft zur Selbstzerstörung entschlossen zu sein. Die Zeit vor und während der Revolution gestaltete sich laut Pérez folgendermaßen (1990: 239): „[S]ocial structures were in disarray, the political system was in crisis, the economy was in distress. National institutions were in varying degrees of disintegration and disrepute, and because they had not served Cuba well, if at all, they were vulnerable.“ Als die Revolutionäre das repressive Regime zerschlugen, das auf den Grundlagen der alten Gesellschaftsordnung aufbaute, brachen diese Grundlagen stückchenweise in sich zusammen und die Institutionen und Menschen, die übrig blieben, waren befleckt und gebrandmarkt durch ihre Mittäterschaft. Pérez-Stable (1999: 62): „[O]n January 1, 1959, Fidel Castro, the Rebel Army,
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Gerücht und Revolution and the July 26th Movement were incontestably the liberators of Cuba, and virtually all Cubans supported them“. Eine interessante Untersuchung zum Einfluss der Revolution auf das Spanisch Kubas findet sich bei Pino, 1975. So gab es beispielweise 1958 eine bedeutende Revolutionsarmee in der zentral gelegenen Sierra Escambray, die Rebellenstreitkraft des von Studenten geführten revolutionären Direktorats. Die Bewegung des 26. Juli war selbst zu einem gewissen Maße eine lockere Verbindung, die unablässig kleinere, einzelne Gruppierungen in sich aufnahm, was nicht immer kampflos ablief. Wenn Parker auch treffend bemerkt, dass das sowjetische Modell eine alternative und überaus wichtige „version of modernity“ bot, so erhielt sich Kuba doch „a certain independence in relation to both Soviet-style modernity and its alternatives“ (1999: 84, Hervorhebung im Original, er zitiert Castañeda, 1993: 74). Eine nützliche Kurzdarstellung der Abwendung der Vereinigten Staaten von Batista findet sich bei Foran, 2005: 62 – 3. Siehe im Gegensatz dazu Pérez-Stables provokante (und kluge) Beobachtung „the Cuban Revolution was not a solar eclipse; it was a traffic jam“ (1998: 180). Etwas weniger freundlich ergänzt er: „[I]t has bred a kind of vaudeville of revolution“ (Dunn, 1989: 200). Die alle drei überaus inspiriert vom revolutionären Prozess in China waren und den Lehren, die sie, als Frankreichs koloniale Besitztümer, aus 1789 gezogen hatten.
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Die bisherigen Revolutionsgeschichten waren alle episch und groß, sie wurden als großangelegte Kämpfe um das Wesen der Zivilisation dargestellt oder als Vorboten einer weltweiten Revolution mit dem Ziel allumfassender sozialer Gerechtigkeit. Es sind teleologische Erzählungen, die sich an der uns allen vertrauten klassischen Anfang-Mitte-Ende-Struktur orientieren. Die Revolutionsgeschichte von Freiheit und Befreiung deckt sich in großen Teilen mit dieser Struktur, handelt es sich doch ebenfalls um eine sich weiterentwickelnde Erzählung, in der Menschen sich in beschwerlichen Situationen befinden und gezwungenermaßen handeln müssen. Doch diese Geschichte ist auch mit „prosaischeren“ Dingen verknüpft: alltägliche Probleme und Dynamiken, die mit Freiheit und Befreiung in Verbindung stehen. Das soll nicht etwa bedeuten, dass sie weniger bedeutungsvoll wären; für diejenigen, um deren Leben es geht, bedeuten sie mindestens genau so viel, wenn nicht sogar mehr, wie die Auseinandersetzungen über Metaerzählungen. Trotz ihrer Ähnlichkeit handelt es sich bei Freiheit und Befreiung („freedom“ und „liberation“, A. d. Ü.) um unterschiedliche Konzepte und eine klare Trennung macht durchaus Sinn. Arendt bemerkt beispielsweise bezogen auf Frankreich 1789: „[D]ie Befreiung von Tyrannei bedeutete nur für einige wenige Freiheit und war für die vielen, die weiterhin Not und Elend zu ertragen hatten, kaum zu spüren“ (1965: 74). Und Horsley und Stendahl (2000: 217) unterscheiden: „[B]efreiung bietet die Möglichkeit eines kompletten Umsturzes unterdrückender Strukturen, die Möglichkeit einer Revolution“, während sich Freiheit „durch die Grenzen, die freie Menschen für sich selbst akzeptieren“, definiert. Revolutionäre wie Frantz Fanon (1965) argumentierten: „[W]enn Freiheit bewilligt oder gewährt wird, ist dies keine echte Befreiung; wahre Befreiung erreicht man nur, wenn man dafür kämpft“ (Jinadu 1986: 68). Aus einer völlig anderen Perspektive heraus stellt Horowitz (1972: 90) besonders im Bezug auf die moderne Revolution fest: „[Befreiung hat mit dem] Abbau von Einschränkungen und der Steigerung sozialer Mobilität zu tun“ (eine schlüssige Verknüpfung), während es bei Freiheit
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mehr um die „politische Ebene des Lebens“ geht.1 Arendt (1965: 29) meint: „[Während] es wahr sein mag, zu sagen, das Befreiung und Freiheit nicht das Gleiche sind“, kann es doch sein, dass solche Axiome in Vergessenheit geraten sind, „weil Befreiung stets eine große Rolle spielte und die Begründung von Freiheit seit jeher unsicher, wenn nicht völlig aussichtslos war“. Nichtsdestoweniger argumentiert der Befreiungstheologe Gustavo Gutiérrez (1983: 186): „[F]reiheit kann immer nur die Folge eines Befreiungsprozesses sein“. Gleichzeitig gibt er zu bedenken, dass Freiheit nicht durch „moderne Rechte und Demokratie“ entstehen kann (was seine Skepsis gegenüber den Idealen der Aufklärung ausdrückt, siehe Bell, 2001: 64). Die hier vertretene Auffassung ist, dass die Verbindung von Freiheit und Befreiung in der vorliegenden Geschichte meist spontan und instinktiv erfolgt, auch wenn das Zusammenspiel kompliziert und verwirrend sein kann. Die zivilisierende und demokratisierende Geschichte und die Geschichte von der Sozialrevolution zeichnen sich durch drei wichtige Gemeinsamkeiten aus. Zuerst einmal sind sie beide zu einem gewissen Teil elitäre Geschichten, zumindest in dem Sinne, als dass sie hauptsächlich von den Siegern geschrieben werden, wie kurzlebig der Sieg auch sein mag (wie im Falle Frankreichs). Außerdem sind sie grundlegend für die heutigen Gesellschaften – so haben wir angefangen und hier stehen wir heute. Konsequenterweise sind dies die berühmtesten Revolutionsgeschichten, also diejenigen, die zumeist mit diesem Ausdruck verbunden werden. Doch wie wir gesehen haben, sind sie auch relativ rar gesät. Die zivilisierende und demokratisierende Geschichte beinhaltet nicht viel mehr als drei Fälle: England 1688, Amerika 1776 und Frankreich 1789. Die Geschichte von der Sozialrevolution ist nur wenig umfassender – meist einigt man sich auf Frankreich 1789, Russland 1917, China 1949 und Kuba 1959; manchmal werden noch Mexiko 1910, Nicaragua 1979 und der Iran 1979 hinzugerechnet. Die beiden Geschichten umfassen also gerade mal zehn Fälle in etwas mehr als dreihundert Jahren. Das ist ziemlich wenig, wenn man sich vor Augen führt, wie weitverbreitet die Idee und die Praxis der Revolution war und ist. Zum Zweiten sind in beiden Geschichten Freiheit und Befreiung grundlegende Themen. In der zivilisierenden und demokratisierenden Geschichte treten diese hauptsächlich bezüglich Schutz vor der Regierung auf, als im Prinzip negative Rechte wie Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, das Recht auf Eigentum, habeas corpus und so weiter. Die Geschichte von der Sozialrevolution erweitert und vertieft dies und stellt fest, dass diese Rechte zwar ein notwendiger Anfang sind, sie aber noch lange nicht ausreichen; die Menschen müssen außerdem von der Regierung zugestandene grundlegende positive Rechte besitzen: Schutz vor Hunger und Seuchen, das
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Recht auf Behausung, die Sicherung eines minimalen Lebensstandards, das Recht auf Bildung und Respekt vor dem Individuum (Menschenwürde) und seiner Kultur. In beiden Fällen geht es um die Befreiung von der Tradition, insbesondere von Feudalismus und Monarchie (wenn das Letztere auch nicht unkompliziert ist) sowie von Furcht und Aberglauben (hier treffen wir auf den Rationalismus der Aufklärung), diese Faktoren bestimmen soziale Normen und schränken die Menschen in ihrem Denken und Handeln ein. Die dritte und letzte gemeinsame Komponente ist, dass beide Geschichten trotz ihrer ausdrücklich vorwärts gerichteten und progressiven Tendenzen janusartig ein Gesicht der Vergangenheit zuwenden, zu den Griechen und besonders zu den Römern. Wie Marx (1978a: 595) vermerkte, hüllte Frankreich sich „alternately in the guise of the Roman Republic and the Roman Empire“ und jede darauf folgende Revolution bemühte sich, der Französischen nachzueifern. Die Revolutionsgeschichte von Freiheit und Befreiung hat ihre Ursprünge ebenfalls in Rom, zumindest in ihren verbreitetesten Variationen, und legt anfänglich den Schwerpunkt auf die Bevölkerungsemanzipation, woraufhin bald Rechte und Souveränität folgen. Doch die Perspektive ist in diesem Fall umfassender und beinhaltet eine große Bandbreite von Fällen. Ein Ergebnis hiervon ist, dass wir es mit einer längeren und loser gestrickten Erzählung zu tun haben als bei den beiden vorangehenden; sie ist im Großen und Ganzen chronologisch, enthält jedoch überraschend viele Abweichungen. Wir werfen hier einen eher flüchtigen Blick auf die bekannteren Fälle und untersuchen dann intensiv zwei Episoden, die in beinahe jeder Version der Erzählung eine große Rolle spielen und viele der Schlüsselelemente beinhalten. Haiti ist der vielleicht wichtigste revolutionäre Prozess weltweit und gleichzeitig der, der beinahe nie beachtet wird; es handelt sich um einen komplexen Fall, in dem viele Elemente dieser Geschichte enthalten sind. Außerdem ist da Mexiko, der erste große soziale Umbruch des 20. Jahrhunderts, dem in puncto Weitschweifigkeit, Wirrnis und Vielzahl der involvierten Ereignisse nur China und Vietnam Konkurrenz machen. Mexiko beinhaltet Elemente aller anderen Bestandteile dieser Geschichte und auch einige Aspekte der Revolutionen der Verlorenen und Vergessenen. Abschließend wird kurz untersucht, inwiefern die Anfang des 21. Jahrhunderts wieder aufgekommenen indigenen Bemühungen um Widerstand, Rebellion und Revolution in dieser Geschichte verwurzelt sind.
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Tausende zur Auswahl: vier grobe Kategorien Auf der Suche nach einem mehr oder weniger konkreten Anfangspunkt der Geschichte, ihren Ursprüngen und ihrem Impetus, stößt man auf Rom, genauer auf Spartakus’ Sklavenrevolte gegen die Römer (73 –71 v. Chr.). Während Finley (1986: 54) davon ausgeht, dass – so „dramatisch und beängstigend“ sie auch gewesen sein mochte – nichts wirklich Revolutionäres an der Sklavenrevolte gewesen war, und dennoch wohnte ihr eine gewisse aufrüttelnde Macht inne.2 Und obwohl über das eigentliche Ereignis nur wenig bekannt ist, so weiß man doch, dass es eine recht große und in gewisser Weise erfolgreiche Revolte gewesen sein muss, die einige Berühmtheit erlangte. Für diese Geschichte am wichtigsten ist, dass Jahrhunderte später im Jahre 1770 der radikale französische Philosoph Abbé Raynal nach einem „schwarzen Spartakus“ verlangte, der die Sklaverei auf den westindischen Inseln beenden sollte, und dass tatsächlich Toussaint L’Ouverture, der Anführer der Sklavenrevolte und Revolution auf Haiti als der „schwarze Spartakus“ bezeichnet wurde (Meltzer, 1993: 120). Nicht lange darauf schrieb Marx an Engels: „Spartacus emerges as the most capital fellow in the whole history of antiquity. A great general …, of noble character, a real representative of the proletariat of ancient times“ (1861; Hervorhebung im Original). Und es war vielleicht eine Reaktion auf diese Aussage (der Brief wurde 1913 in Stuttgart erstveröffentlicht), dass die revolutionäre marxistische Gruppe, die während des Ersten Weltkriegs in Deutschland um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg entstand, sich selbst Spartakusbund nannte und eben jene Figur als Prototyp des Revolutionärs sah: „fire and spirit … soul and heart … will and action for the revolution of the proletariat … all need and yearning for happiness, all resolution for battle of the class conscious proletariat. The Spartacus, by which I mean socialism and world revolution“ (Liebknecht, zitiert in Futrell, 2001: 90).3 Im Jahre 1920 nahm Spartakus bereits eine wichtige Rolle in den russischen Feierlichkeiten zu den Ereignissen von 1917 ein, während der Festumzüge, die mit ihrer Abfolge historischer Szenen inklusive der Sklavenrevolte laut Corney „ein Gefühl von revolutionärer Unerbittlichkeit“ erzeugen sollten (Corney 2004: 75). Die inspirierende Sage des Sklaven, der sich einem gigantischen Imperium entgegenstellt, hat eindeutig einen großen Einfluss auf Widerstand, Rebellion und Revolution gehabt. Es gibt noch unzählige weitere Beispiele für die Revolutionsgeschichte von Freiheit und Befreiung, die Quellen dieser Erzählung sind sehr weit gefächert. Viele von ihnen, wie etwa die Spartakusgeschichte, können als hauptsächlich auf die Freiheit bezogen gelesen werden. Andere, wie die Exodusgeschichte
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der hebräischen Bibel, die sich in verschiedenen Formen überall dort finden lässt, wo das Christentum verbreitet war und ist (siehe Kapitel 4), sind eher Befreiungsgeschichten, beziehungsweise in den meisten Fällen Geschichten der Selbstbefreiung (wenn auch nicht immer, die Exodusgeschichte selbst beinhaltet zumindest zum Teil die Befreiung durch eine äußere Macht). Unabhängig vom Schwerpunkt – Freiheit, Befreiung, oder eine Kombination aus beidem – gibt es eine große Menge an Beispielen von Widerstandsbewegungen, Rebellionen und Revolten, die alle revolutionäre Implikationen haben, meist sind sie gegen Sklaverei, gegen Kolonialismus und gegen Imperialismus gerichtet. Der gemeinsame Nenner ist ein Volk, das versucht, sich von den alles kontrollierenden Herren oder Tyrannen zu befreien. Im Allgemeinen ist das Ziel der Menschen vornehmlich Gleichheit und Selbstbestimmung, meist für sich selbst und ihre Nachbarn, manchmal auch umfassender für ihr Land oder ihren Staat. Hierbei gibt es mehrere größere Kategorien. Die erste umfasst hauptsächlich Sklavenrevolten oder Rebellionen wie die des Spartakus, obwohl viele davon auch zur Revolutionsgeschichte der Verlorenen und Vergessenen gehören. Wichtige Beispiele sind: der große Aufstand in England 1381 („The Great Rising“), eine Revolte von Leibeigenen, der indigene Widerstand während der Eroberung Südamerikas durch die Spanier bereits 15194 und die Rebellion Manco Incas 1536–72, die mit der Enthauptung seines letzten Sohnes Túpac Amaru endete. Dann die große Anden-Rebellion 1780, angeführt von Túpac Amaru II und Túpac Katari (alle Túpacs verbinden sich in der Erinnerung der Bevölkerung und liefern den Stoff für Volkserzählungen) und die 70 Jahre andauernde Sklavenrevolte in Brasilien, die sich auf die von ehemaligen Sklaven gegründete Republik Palmares konzentrierte, welche in den 1690ern etwa 20 000 Einwohner hatte (Meltzer, 1993: 86)5 und deren Anführer angesichts der holländischen und portugiesischen Invasoren 1696 eher in den Tod gingen, als sich zu ergeben6. Dann gibt es noch die Sklavenrevolte auf Haiti 1791, die oftmals als einzig erfolgreicher Sklavenaufstand betrachtet wird, und Revolten in der restlichen Karibik wie beispielsweise die Fédon-Rebellion auf Grenada 1795–96. Haiti hatte eine gewisse Vorbildfunktion inne, als die Sklavenrevolten (und Kämpfe gegen die Sklaverei) in Mittel- und Südamerika sich mit den antikolonialistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts zu verbinden begannen. Diese beinhalteten in den noch jungen Vereinigten Staaten den Sklavenaufstand Gabriel Prossers 1800, den Andry-Aufstand 18117 und die Aufstände, die 1822 von Vesey und 1831 von Nat Turner angeführt wurden (in beiden stand die Exodusgeschichte im Mittelpunkt) sowie im heutigen Guayana La Resouvenir von 1823 und die unwahrscheinlich klingende geschichte von John Brown und seiner gegen die Sklaverei gerichteten Rebellion
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in den vorbürgerkrieglichen Vereinigten Staaten, die heute bekannter ist als zum Zeitpunkt ihres Geschehens 1855–59. Eine weitere Kategorie sind Fälle mit eindeutig weiter gefächerten Zielen. Gleichzeitig mit den Sklavenrevolten und ähnlichen Ereignissen gab es antikolonialistische Kämpfe. In überraschend vielen Fällen wird in dieser Erzählung auf die Amerikanische Revolution und insbesondere die Unabhängigkeitserklärung verwiesen, die sich als zeitlose Inspirationsquelle für antikoloniale Aktivisten herausgestellt hat. So beginnt beispielsweise die vietnamesische Unabhängigkeitserklärung von 1945 mit den berühmten Worten: „[A]lle Menschen wurden gleich erschaffen … durch ihren Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet, darunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit.“ Außerdem erscheint in dieser Geschichte die Haitianische Revolution von 1791, die weiter unten behandelt wird, und manchmal werden auch die Kriege mit eingeschlossen, die der Befreiung Südamerikas von Spanien dienten. Dass diese oft nicht mit dazu gerechnet werden, mag zum Teil an ihren Ergebnissen liegen, die der Mehrheit der Bewohner in der Region bemerkenswert wenig wirkliche Befreiung und Freiheit verschafften (siehe McAuley, 1997: 174–5). Parker (1999: 34) schlägt vor, diese Kriege sinnvollerweise als „nationale Befreiungsrevolutionen“ („national liberation revolution“) zu verstehen und nimmt damit eine weitere Kategorie vorweg. Immerhin bleiben diese Anstrengungen weltweit nicht unbeachtet, und so ist die Errichtung eines Monuments für Südamerikas größten Befreiungshelden, Simón Bolívar, im postrevolutionären Namibia immerhin eine gute Erinnerung daran, worum es eigentlich ging. Meist geht es mit der Geschichte dann bei der Sepoy-Rebellion 1857 gegen die britische Kolonialherrschaft in Indien weiter. Einige ihrer Helden und Heldinnen sind in Indien zu Hauptfiguren der Folklore geworden, die auch in den folgenden Auseinandersetzungen immer wieder heraufbeschworen und eingesetzt wurden und werden.8 Eher regional als international bekannt sind die Erzählungen von der Mahdi-Rebellion im ägyptischen Sudan in den 1880ern (der unter ottomanischer Oberherrschaft stand, jedoch von den omnipräsenten Briten verwaltet wurde) und von den zeitgleichen Revolten gegen die Kolonialherrschaft in Algerien, Dahomey (Benin), Ashantiland (sowohl von den Ndebele als auch von den Shona in Südafrika), in Sierra Leone und in den Hausa-Fulani-Staaten (nördliches Nigeria). Revolten und Rebellionen blieben in Afrika allgegenwärtig, waren doch schließlich in den 1910ern nur Äthiopien und Liberia nicht von den „großen Mächten“ kolonialisiert. Ein weiterer regional bedeutsamer Bestandteil dieser Geschichte ist der Kampf der Kubaner für die Unabhängigkeit von Spanien 1868–78 (der sogenannte „große Krieg“), 1879–80 (der „kleine Krieg“) und, am berühmtesten, der kubanische Unab-
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hängigkeitskrieg 1895–98. Dieser Letztere brachte auch die Aktivität der Vereinigten Staaten in die Region; in Lateinamerika und der Karibik ist es überall bekannt, dass die Dreimonatsintervention der Vereinigten Staaten letztendlich darin resultierte, dass Kuba sowohl nichts mehr mit den eigentlichen Vertragsverhandlungen zu tun hatte, als auch nichts mit Spaniens Kapitulation und dass es die US-Flagge war, nicht Kubas, die in Havanna gehisst wurde. Und auch wenn er nur selten in die Geschichte mit aufgenommen wird, so kann auch der Irische Unabhängigkeitskrieg 1919–219 gegen Großbritannien legitimerweise hier hinzugezählt werden. Ein bekannterer Teil der Revolutionsgeschichte von Freiheit und Befreiung liegt in der Übergangsphase zwischen Antikolonialismus und Antiimperialismus. Der sogenannte „Boxeraufstand“ in China 1900 – 01 (I Ho Chuan/ Yi Ho Tuan, „Fäuste gerechter Harmonie“), hatte zum Ziel, die verschiedenen fremden Mächte aus einzelnen Teilen des Landes zu vertreiben. Obwohl China nicht im traditionellen Sinn die Kolonie eines einzelnen Landes war, wurde es doch zur damaligen Zeit (und, was für die hier erzählte Geschichte wichtiger ist, von vielen seither) als kolonisierter Ort und die Chinesen als kolonisiertes Volk angesehen, der Gnade fremder Mächte ausgeliefert, die sich nehmen konnten, was sie wollten, und taten, was immer ihnen beliebte. Viele sahen dies bestätigt, als nach dem Ersten Weltkrieg die zuvor von den Deutschen kontrollierte Konzession (Shandong/Qing-dao) an Japan statt zurück an China ging. Dieses Ereignis wird gemeinhin als Auslöser der 1919er Bewegung des 4. Mai gesehen, auch wenn es wohl nur ein Faktor von vielen war. Hierbei handelte es sich um eine anti-imperialistische Bewegung und sie gilt als entscheidender Moment sowohl für die Gründung der kommunistischen Partei Chinas als auch für das Zustandekommen der Revolution 1949.10 Die dritte Kategorie beinhaltet viele der nationalen Befreiungskriege des 20. Jahrhunderts, eine verwickelte aber ergiebige Kategorie. Wie Parker (1999: 40) bemerkt: „[T]his is an extraordinarily difficult group to separate out [but] distinctive enough to justify.“ Oft handelte es sich um eine Mischung aus antikolonialistischen und anti-imperialistischen Kämpfen, während eine Ära zu Ende ging und eine neue begann. Solche Kämpfe hatten nicht nur die Freiheit und Befreiung der Menschen zum Ziel, sondern boten in vielen Fällen auch radikal neue politische, soziale und ökonomische Orientierungen sowie den damit einhergehenden psychologischen Wandel.11 Die Erzählung gewinnt an Tempo, nachdem sich die Versprechungen der Sieger des Ersten Weltkrieges an die Bevölkerung in der kolonisierten Welt bezüglich einer „Selbstbestimmung der Völker“ als leer erwiesen.12 Angestoßen von dem Beharren der Großmächte auf ihren Vorrechten und zum Teil durch die
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Ereignisse in Russland befördert, gab es allein im Frühling 1919 viele sich gegenseitig beinflussende Unruhen von verschiedener Länge und verschiedenem Ausmaß in Ägypten (März) und Korea (die Bewegung des 1. März), es gab Gandhis Satyagraha-Bewegung (passiver Widerstand) in „Britisch Indien“ (April) und die bereits erwähnte Bewegung des 4. Mai in China. Diese wiederum führten zu einer weltweiten Aufstandswelle, von den holländischen Ostindischen Inseln zu den britischen Westindischen Inseln,13 die nur von einem zweiten, wiederum hauptsächlich europäischen „Weltkrieg“ unterbrochen wurde (der vielen als eine Fortführung des Ersten Weltkrieges erschien, der für wenige gut ausgegangen war). Wieder einmal sollten die kolonisierten Völker für Demokratie und Freiheit kämpfen und diesmal ironischerweise auch gegen Faschismus und Unterdrückung; wieder wurden zahlreiche generöse Versprechungen gemacht. Und in einer schaurigen Wiederholung machten die Kriegssieger wieder einmal ihre Ansprüche auf Entscheidungsgewalt und Autorität geltend und bereiteten sich darauf vor, mit der Unterdrückung ihrer Kolonien fortzufahren. Überall auf drei Kontinenten, in Afrika, Asien, Lateinamerika und der Karibik sowie in Ozeanien brachen alle Arten von Kämpfen aus, diese waren nun viel häufiger als früher bewaffnet und revolutionär sowie antikolonialistisch, anti-imperialistisch und antidiktatorisch. Verschieden erfolgreich waren die Kämpfe in Vietnam 1945–75, Indonesien 1945–49, auf den Philippinen 1946–54, in Malaysia 1948–60, Kenia 1952–60, Algerien 1954–62, im portugiesischen Kolonialkrieg 1961–74 (Angola, die Kapverden, Guinea-Bissau und Mosambik), in Südafrika 1961–94 und Namibia 1966–90. Außerdem werden häufig noch die anti-imperialistischen Kämpfe mit demokratischen Mitteln in die Geschichte mit einbezogen, wie etwa in Guatemala 1950–54, im Iran 1951–53, in Bolivien 1952–54, in Britisch-Guayana (1953–64), auf Jamaika (1972–80) und in Chile (1970–73). Besonders wichtig ist hierbei das Ausmaß, in dem sich all diese Ereignisse auf verschiedenen Ebenen gegenseitig verstärkten und beeinflussten. Es waren Beziehungen, die man bereits bei der Bandung-Konferenz 1955 erkennen konnte und die sich später dann in der Bewegung der Blockfreien Staaten und bei der Trikontinentalen Konferenz noch deutlicher zeigten. Doch abgesehen von den Treffen der Anführer und deren Solidaritäts- und Glaubensbezeugungen ist am beeindruckendsten, wie die Menschen an den unterschiedlichsten Orten immer häufiger ihre Hoffnungen mit denen anderer Menschen gleichsetzten, sich mit den anderen identifizierten und sich versicherten: „Wenn die das dort machen können, so können wir es auch hier machen.“ Die Revolutionsgeschichte von Freiheit und Befreiung beinhaltet auch einige Fälle, die in mehreren der hier vorgestellten Geschichten auftauchen.
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Frankreich 1789 erscheint hier beispielsweise weniger aufgrund der Einführung der Demokratie, sondern vielmehr wegen seines Befreiungscharakters; Egalitarismus ist ein wichtiges Thema,14 nicht zuletzt wegen der Zerstörung des Feudalismus und der damit einhergehenden aristokratischen Privilegien. Auf ähnliche Weise könnte das starke Gefühl der Freiheit, das mit der russischen Revolution verbunden ist, besonders mit dem Februar 1917, diese zu einem Teil der Geschichte machen. Wie auch immer man den faszinierenden und zum Scheitern verurteilten revolutionären Prozess in Grenada 1979 – 8315 charakterisieren möchte (und es scheint auf Grenada eine Vielzahl von Möglichkeiten gegeben zu haben), so gibt es sicherlich keine bessere Zusammenfassung dieser Geschichte als die stolze Feststellung „is freedom we making here now“ (zitiert in Hodge und Searle, 1981: 82; Searle, 1984: 118). Und hier stoßen wir auch wieder auf das Rätsel von Mexikos verwickeltem Revolutionsprozess 1910–20, das uns bereits an anderer Stelle begegnet ist. Die Mexikanische Revolution wird hier als viele Handlungsstränge umfassende, vielschichtige Geschichte dargestellt, die unter anderem den Aufstieg Emiliano Zapatas (und des Zapatismus) beinhaltet sowie die Wandlung Villas vom (Sozial-)Banditen zum Revolutionär, die Ereignisse in Aguascalientes und Artikel 27 der Verfassung von 1917.
Haiti und Mexiko: Momente von Freiheit und Befreiung Ungeachtet all ihrer Unterschiede sind die revolutionären Prozesse in Haiti und Mexiko durch einige Gemeinsamkeiten verbunden. In beiden Fällen zeigt uns die Revolution als Momentaufnahme ein Aufblitzen tiefer Erkenntnis und Bedeutung, die Gründe werden weiter unten eingehender untersucht. Dies ist nicht überraschend, wenn man sich die jeweiligen elementaren Prämissen vor Augen führt, zumindest in der Form, wie sie allgemein in Erinnerung sind. Bei Haiti handelte es sich um den ersten großen sozialen Umbruch in der Neuen Welt (beziehungsweise in der für die Europäer neuen Welt), den ersten großen sozialen Umbruch im 19. Jahrhundert und außerdem um die weltweit erste (und bis heute einzige) erfolgreiche Sklavenrevolte. Mexikos Referenzen sind nicht weniger eindrucksvoll: Es handelte sich um den ersten großen sozialen Umbruch des 20. Jahrhunderts und ganz abgesehen von dem auch ansonsten vielschichtigen Charakter war es die weltweit erste erfolgreiche Landarbeiterrebellion (Dunn, 1989: 49–50, 70; Malia, 2006: 305). Sie wurde von dem Verlangen nach ¡tierra y libertad! (Land und Freiheit) angetrieben.16 In beiden Fällen scheint viel von der Intensität, der Dramatik und der Bedeutung im Nebel der Zeiten und der Erinnerung verloren gegangen zu
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sein und auch in dem, was im Laufe der Zeit bei diesen Prozessen herausgekommen ist, die so vielversprechend begonnen hatten.
Haiti: „Hinter den Bergen – mehr Berge“ Die Haitianische Revolution, so behauptet Popkin (2007: 1), war „eins der bedeutenden Ereignisse, die unsere moderne Welt definierten“ und das zum Teil, da nur Haiti im deutlichen Kontrast zu zeitgleichen Revolutionen in Amerika und Frankreich deutlich machte, „dass Freiheit inkompatibel mit Leibeigenschaft ist und dass Gleichberechtigung für alle Menschen egal welcher Rasse gelten muss“. Dies vorausgesetzt und unter dem Aspekt betrachtet, dass es als Sklavenrevolte begann, ist es nicht überraschend, dass Haiti eine zentrale Rolle in der Revolutionsgeschichte von Befreiung und Freiheit spielt, vor allem für die Menschen in der afrikanischen Diaspora. Und doch scheint, wie Trouillot (1995: 98) bemerkt, die Stimme der Haitianischen Revolution erstickt worden zu sein („silenced“), es war eine „unthinkable revolution“, die in Popkins (2007: 2) Worten zu einem „non-event“ wurde, „at best a marginal presence“.17Und vielleicht ist das Verschwinden Haitis aus dem revolutionären Pantheon nicht verwunderlich, denn dieser Prozess weicht sicherlich stark von anderen Revolutionsgeschichten ab. Man führe sich einmal die Umstände vor Augen: afrikanische Sklaven, ungebildet nach damaligem westlichen Standard, waren inspiriert von der Revolution in Frankreich – dem Land ihrer Kolonialherren – und dem augenscheinlichen Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Sie begannen einen Aufstand und erlangten nicht nur ihre Unabhängigkeit, sondern besiegten im Zuge der Erhaltung dieses Status auch alle drei herrschenden Kolonialmächte der Welt (Frankreich, Großbritannien und Spanien). Haiti war somit Schauplatz der ersten erfolgreichen Sklavenrevolte, die erste „schwarze“ Republik, erst die zweite unabhängige Republik in der westlichen Hemisphäre und „the first free nation of free men to arise within, and in resistance to, the emerging constellation of Western European empire“ (Lowenthal, 1976: 657). Dadurch war der einzige schwarze, unabhängige, französischsprachige Staat der Welt nicht nur „ein geistiger Nachkomme der Französischen Revolution, er stellte als der erste nicht-europäische postkoloniale Staat der modernen Welt auch eine erhebliche Herausforderung dar“ (Fauriol, 1996: 520). Und damit trug Haiti definitiv eine sehr große Bürde. Die Haitianische Sklavenrevolution von 1791 ist eine relativ klar umgrenzte Angelegenheit und wird in dieser Geschichte auch als solche dargestellt.18 Das Ziel war nicht etwa, sich von Frankreich zu distanzieren (Dubois,
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2004: 3), sondern vielmehr, einen Anspruch auf die Versprechen von 1789 und die Menschen- und Bürgerrechtserklärung zu erheben. Die Aristokratie der Plantagenbesitzer in Frankreichs gewinnbringendster Kolonie hatte keinerlei Absicht, diese versprochene Neuordnung zu akzeptieren und schien zu einer Art von Unabhängigkeit zu neigen, die ihr fortgesetzte Herrschaft und Reichtum garantierte. Nachdem sie lange zugesehen hatten, wie gemischtrassige („Mulatten“) und „freie Farbige“ von einer kleinen Gruppe weißer Plantagenbesitzer abgewiesen und brutal behandelt wurden, erhoben sich am 22. August 1791 die Sklaven überall auf der Insel und kämpften sowohl gegen die grausamen Praktiken der weißen Herrscher als auch gegen das System der Sklaverei an sich. Relativ schnell versammelte ein freier Farbiger, FrançoisDominique Toussaint L’Ouverture, die Sklaven, freien farbigen Bürger und Mulatten und führte sie gemeinsam in den Kampf.19 Es handelte sich um eine grausame und brutale Angelegenheit, bei der viele starben, und viele Besitztümer der Weißen wurden zerstört. Zwei Jahre nachdem die Revolte begann, im August 1793, wurde die Sklaverei abgeschafft. Die Sklavenrevolte war erfolgreich gewesen, zumindest was das erste Ziel der Emanzipation anging – diese aufrechtzuerhalten sollte die nächste Herausforderung und zum Ausgangspunkt der eigentlichen Revolution und der unabhängigen Republik werden. Die Wurzeln der Revolution sind mit denen der Sklavenrevolte verschlungen und gehen ihr in gewisser Weise zeitlich voraus. Im Jahre 1792 kontrollierten die ehemaligen Sklaven mindestens ein Drittel der Insel und hatten begonnen, die sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen zu ändern, inklusive der üblichen damit einhergehenden psychologischen und kulturellen Anpassungen. Der Zeitraum von 1792–1802 war, wie Knight (2000: 112) zu bedenken gibt, überaus chaotisch: „[E]s waren nicht weniger als sechs sich bekriegende Fraktionen gleichzeitig auf dem Feld: Sklaven, freie Farbige, petits blancs, grand blancs und spanische und englische Truppen sowie die Franzosen, die vergeblich Ordnung und Kontrolle wieder herzustellen versuchten.“ Nichtsdestoweniger begann sich im Zuge der Ausbreitung von Macht und Kontrolle der ehemaligen Sklaven ihre Auffassung von Freiheit und Gleichheit ebenfalls auf der Insel zu verbreiten. Im Jahre 1802 versuchte Napoleon, die Sklaverei wieder einzuführen. Er überlistete Toussaint, inhaftierte ihn und machte ihm einige seiner Verbündeten abspenstig, wenn auch nur kurzzeitig. Nach einigen eher ruhigen Monaten griffen die französischen Truppen die kampferprobten ehemaligen Sklaven an, die inzwischen für die Ideale der Französischen Revolution im Klang der Marseillaise kämpften. Nachdem sie die Franzosen vernichtend geschlagen hatten, erklärte JeanJacques Dessalines, der andere bedeutende Anführer der Haitianischen Revo-
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lution, am 1. Januar 1804 Haiti zu einer „freien Republik“. Und innerhalb eines Jahres tat er es Napoleon gleich und krönte sich selbst zum Kaiser.20 Die Haitianische Revolution einzuordnen ist nicht leicht. Es handelt sich um einen komplexen und verworrenen Fall, und rassistische, ethnozentrische Vorurteile haben zweifellos zu seiner Marginalisierung beigetragen. Es scheint eindeutig, dass es in den frühen Jahren einen doppelten Fokus auf „die nachhaltige Entwicklung von beidem, Freiheit und sozialer Gleichheit“ (Nesbitt, 2008: 23; Hervorhebung im Original) gab, doch dann kam es nach und nach zu einem Bruch zwischen denen, die eine Art individualistischen bürgerlichen Liberalismus anstrebten, und denen, die einen egalitäreren Kommunalismus verfolgten (Nesbitt, 2008: 23).21 Diese Trennung wurde weiter vertieft, als deutlich wurde, dass die sogenannte „umfassende Emanzipation“ nur wenig mehr bedeutete als „erzwungene Plantagenarbeit“ (Nesbitt, 2008: 20) und dass der angestrebte Kampf für „eine emanzipatorische Sozialstruktur, die allen eine freie Entwicklung ermöglichen würde“ (Nesbitt, 2008: 14–15), nicht stattfinden würde. Wenigstens ein Teil des Problems entstammte, wie McAuley (1997: 177) bemerkt, höchstwahrscheinlich der „begrenzten Vorstellungskraft der haitianischen revolutionären Führung … teilweise bedingt durch ihre Ursprünge in der Sklaverei, die aber auch gleichzeitig die Quelle ihrer Kraft war“. Er fährt fort: „Der ,aufgeklärte‘ Despotismus militarisierter Landwirtschaft … konnte sich schnell in den blinden Despotismus der erneuten Versklavung verwandeln, und tat dies auch“; und schließt, dass „die Führerschaft des einzigen antikolonialen Kampfes, der gleichzeitig den Umsturz der Sklaverei bedeutete“, darin gescheitert ist, die uneingeschränkte Freiheit zu bringen oder auch nur mehr Befreiung (McAuley, 1997: 178). Und dies erklärt vielleicht auch die Abwesenheit in den wissenschaftlichen und populären Revolutionserzählungen. Und obwohl sie eigentlich den „resignierten Pessimismus“ der Haitianer zum Ausdruck bringen soll, so könnte die Maxime dèyè mòn gen mòn („hinter den Bergen – mehr Berge“) (Ferguson, 1993: 75) auch gut dazu dienen, das Scheitern der Revolutionsforscher zu verdeutlichen. Fauriol (1996: 517, er zitiert Logan, 1971) bietet die folgende Erklärung: „Haiti begann als eine ,rätselhafte Macht‘, verwandelte sich in eine ,Anomalie‘, wurde zu einer ,Bedrohung‘ … und war schließlich ein ,Ausgestoßener‘ unter den Nationen der Erde“. Es verbleibt als ein „ausgestoßener“ und größtenteils vergessener Revolutionsfall. Man sollte in der Geschichte von Freiheit und Befreiung auf keinen Fall die Macht und die Position des Revolutionsprozesses auf Haiti unterschätzen. In der gesamten Hemisphäre war der Einfluss der Haitianischen Revolution spürbar und bis heute bleibt sie ein Meilenstein. In der Karibik regte sie Sklavenrevolten auf benachbarten Inseln an, insbesondere die Fédon-Rebellion
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1795 auf Grenada. In Südamerika schrieb Bolívar: „[Ein] Sklavenaufstand war ,tausendmal schlimmer als eine spanische Invasion‘“ (McAuley, 1997: 174). Knight (2000: 113–14) vermerkt, dass sie einen Einfluss auf die neu entstandenen Vereinigten Staaten hatte, vor allem im Bezug auf „Sprache, Religion, Politik, Kultur, Küche, Architektur, Medizin und den Konflikt zur Sklaverei.“ Und sie wurde, wie James (1989) zuerst 1938 argumentierte, mittels einer weiteren transatlantischen Reise, wie wir sie schon einmal beobachtet haben, von den Vereinigten Staaten nach Frankreich und zurück nach Mittel- und Südamerika,22 zu einer machtvollen Erzählung für die Entkolonialisierung Afrikas. Die Afrikaner lasen sie als eine Geschichte, in der sich afrikanische Sklaven gegen ihre europäischen Herren erhoben und diese besiegten (siehe auch Williams, 1944; Blackburn, 1989; Genovese, 1992). An all diesen und noch weiteren Orten erinnert man sich an Haiti als einen Volksaufstand, der dazu führte, dass die Beteiligten – ähnlich den bricoleurs – in einer „meisterhaften politischen Improvisation“ auf „kreative Urteilsfällungen mit jeglichen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen“, zurückgriffen (Nesbitt, 2008: 29, 31). Es handelte sich um einen „Teil eines anhaltenden Kampfes für Freiheit und Menschenrechte“ (Forsdick, 2008: 6), der für viele Menschen auf der Welt auch heute noch aktuell ist.
Mexiko und seine vielen Revolutionen Während die Haitianische Revolution größtenteils vergessen ist oder ignoriert wird, so hat die Mexikanische Revolution ein völlig anderes Schicksal ereilt. Eine Kombination aus zu großer Präsenz, Unterschätzung und absichtlicher Manipulation hat sie mehr oder weniger uninteressant werden lassen, sie ist zu einer Hintergrundkulisse für Lebensmittel- und Bierwerbungen geworden. Dies scheint ein ziemlich ungewöhnliches Ende für ein dermaßen fesselndes Ereignis zu sein, das für viele im Mittelpunkt der Revolutionsgeschichte von Befreiung und Freiheit steht. Knight fragt provokant, welche Art von Revolution in Mexiko stattgefunden hatte: „Eine bourgeoise? Eine nationalistische? Oder schlicht eine ,große Rebellion‘?“ (1985: 1). Für Gilly war Mexiko eine der ersten drei erfolgreichen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, die „eine zunehmende Flut von ländlichen und von Bauern organisierten Rebellionen“ erzeugten, „[welche] die Kolonialreiche des 19. Jahrhunderts untergrub und überrollte“ (2003: 116). Diese Aussage ist sicherlich schwer von der Hand zu weisen und doch ist es nicht einfach, eine einzelne „Mexikanische Revolution“ auszumachen; in dieser Geschichte gibt es sicherlich viele verschiedene Revolutionen. Und es ist klar, dass die Mexikanische
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Revolution, obwohl es sich in keiner Weise um ein Einzelereignis oder einen einzelnen Prozess handelte, eindeutig revolutionäre Elemente umfasste. Wenn sie auch am bekanntesten für ihren bäuerlichen Charakter und ihre epische Spanne ist, so beinhaltet sie doch ebenfalls bürgerliche liberaldemokratische Bestandteile, die Arbeiter nehmen eine kleine aber immerhin vorhandene Rolle ein, es gibt einige Charakteristika der Sozialrevolution sowie eine Art konstitutionelle Revolution – und all diese Faktoren werden von denjenigen mit einbezogen, die die Revolutionsgeschichte von Befreiung und Freiheit erzählen. Die Mexikanische Revolution begann als kaum mehr denn ein politischer Aufstand und noch dazu als ein inter-elitärer. Mexiko war im Jahre 1910 liberal aber nicht demokratisch, es gab bestenfalls vage Ideen von persönlicher und allgemeiner Freiheit. Mexikos alternder Diktator Porfirio Díaz und seine Minister hatten über drei Jahrzehnte des Porfiriato damit verbracht, nach der positivistischen Maxime von „Freiheit, Ordnung und Fortschritt“ zu regieren, wie sie von den científicos vertreten wurde („Wissenschaftler“, ein Spitzname für die Modernisierer um Díaz). In der Praxis hatte das Freiheit für die Entwicklung des Handels mit dem Ausland und der Industrie bedeutet, Ordnung durch pan o palo („Brot oder der Stock“) und den Ausbau des Eisenbahn- und Telegraphennetzes. Was seltener in der Geschichte Erwähnung findet, ist, dass die steigende Zahl von campesino-Unruhen und die Entstehung einer sozialistischen und anarchistischen Opposition immer öfter das Zurückgreifen auf „den Stock“ nötig machte. Es war eine Zeit, die treffend als „reich an Ausdrücken des Widerstandes gegen Díaz’ Herrschaft“ (Foran, 2005: 37) beschrieben wurde. Dieser Widerstand kam auch von Liberalen und Kapitalisten, und so war auch Francisco Madero, der „Apostel der Demokratie“, Sprössling einer der reichsten Familien Mexikos, der in Europa und den Vereinigten Staaten zur Schule gegangen war, davon überzeugt, dass Mexiko der Demokratie und politischen Freiheit bedurfte. In seiner Kampagne zur Präsidentschaftswahl 1910 versammelt er eine große Koalition um sich, die „die den Arbeitern und Bauern wohlgesonnene, nationalistische und demokratische Sehnsucht eines großen Teils der Gesellschaft“ (Foran, 2005: 38) vereinte und dabei gleichzeitig nordamerikanische Interessen berücksichtigte. Díaz brachte ihn Anfang Juli hinter Gitter und gewann günstigerweise später im gleichen Monat die Wiederwahl. Im Oktober brach Madero aus dem Gefängnis aus und floh in die Vereinigten Staaten, von wo aus er seinen Plan von San Luis Potosí verbreitete, ein grundsätzlich reformistisches Dokument, in dem er freie Wahlen versprach, vage Anklänge an eine Landreform erkennen ließ und den Arbeitern das Recht auf Tarifverhandlungen versprach. Er beschwor die Bevölkerung, sich am 20. November 1910 zu er-
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heben. Reformer, Radikale und Revolutionäre überall im Land folgten dem Ruf und teils dank der Aufstände im Süden (Emiliano Zapata in Morelos) und im Norden (Pascual Orozco und Francisco „Pancho“ Villa in Chihuahua) stimmte Díaz im Mai 1911 dem Rücktritt zu. Im Oktober wurde Madero reibungslos zum Präsidenten gewählt. Die Koalition, an deren etwas wackeliger Spitze sich Madero befand, war von ihrer Gegnerschaft zu Díaz zusammengeschweißt worden; Díaz soll gesagt haben „Madero has unleashed a tiger; let us see if he can control him“ (Knight, 1990b: 218). Und sicherlich führten der Zusammenbruch des alten Regimes und die zögerlichen Schritte des neuen, das nun Überreste von Díaz’ Regime beinhaltete, zu einer explosiven Situation. Emiliano Zapata und die Agrarkommunalisten forderten „Land und Freiheit“ und verlangten eine ernstzunehmende Landreform, was der Hauptteil des Plans von Ayala (1911) war. Dieser Plan war das, was in der Mexikanischen Revolution, die eher von Generälen als von Intellektuellen bestimmt war, einem ideologischen Manifest am nächsten kam. Das darin enthaltene radikale Agrarprogramm erwies sich 1917 als sehr einflussreich und tauchte erneut im Jahre 1994 auf. Im Norden agitierten Orozco und die colorados („die Roten“) für den sozialen Wandel und bessere Arbeitsbedingungen.24 Beide Gruppen wollten mehr, als Madero und seine Verbündeten bereit waren, ihnen zuzugestehen. Da sie nicht fähig war, den konkurrierenden Ansprüchen für die Aufrechterhaltung des Status quo und den Bedürfnissen der Arbeiter in den Städten nachzukommen und sie außerdem von einer Vielzahl von kleinen und großen Aufständen geplagt wurde, konnte die Mitte – wenn Madero denn die Mitte war – sich nicht halten. Im Februar 1913 unterdrückte General Victoriano Huerta im Auftrage Maderos eine konservative Rebellion und entmachtete und tötete diesen dann. Diese Konterrevolution führte zu vier Jahre dauernden intensiven Kämpfen, Villas Aufstieg zum Anführer des nördlichen Bündnisses und vielen der Ereignisse, die man meist mit der Mexikanischen Revolution verbindet, besonders mit der Variante in dieser Geschichte. Zapata, Villa, Venustiano Carranzas „white-collar revolutionaries“ (Knight, 1990b: 22) und andere reformierten die ursprüngliche Madero-Koalition (Knight, 1990b: 18), um Huerta niederzuwerfen, doch sie konnten sich untereinander nicht einig werden. In den folgenden Jahren gab es einige Ereignisse, die von zentraler Wichtigkeit für die Geschichte von Freiheit und Befreiung sind. Das erste war das bereits erwähnte revolutionäre Agrarmanifest der Zapatistas, der Plan von Ayala, der im „revolutionären Süden“ – in Morelos (Zapatas Heimat), Guerrero und Teilen von Puebla – bereits zur Umsetzung gelangte (Gilly, 2005a: 128–9). Zur gleichen Zeit umkämpften die drei großen Mächte die Haupt-
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stadt und weite Teile des Landes; im Prinzip kontrollierte Villa den Norden, Zapata den Süden und Carranza und sein fähigster General Álvaro Obregón kontrollierten nach weiteren Verhandlungen das Zentrum.25 Inmitten all dieser Kämpfe spielt ein Ereignis im Dezember 1914 eine große Rolle in dieser Geschichte: es ist der Moment, an dem Zapata und Villa Carranzas „konstitutionalistische Armee“ aus Mexico City vertreiben und die Hauptstadt übernehmen; in der Erzählung setzte sich Villa herrschaftlich auf dem Präsidentensitz während Zapata diesbezüglich Bedenken äußerte.26 Dieses Ereignis erlangte auf verschiedensten Wegen Unsterblichkeit, nicht zuletzt durch das Internet und YouTube, doch der für unsere Geschichte wichtige Punkt ist, dass sich beiden Männern die Möglichkeit bot, die Staatsgewalt an sich zu reißen und keiner es tat. Die damit einhergehende Implikation ist, dass sie nicht für die Erringung von Macht kämpften, sondern für Freiheit und Gerechtigkeit. In einer Geschichte, in der die Menschen oft dem Verlangen nach Macht um ihrer selbst willen erliegen, selbst wenn sie Besseres gelobt hatten, ist dies ein unwiderstehlich anziehendes Bild. Der Strudel der Ereignisse kam nicht zum Stillstand. Obregón formierte die konstitutionalistische Armee neu und besiegte Villa nach einer Reihe von Kämpfen 1915, womit dessen Rolle als bedeutende Macht im Revolutionsprozess effektiv vorbei war. Obwohl Zapata seine Position im Süden absichern konnte, war doch seine nationale Reichweite begrenzt durch seine überaus lokale und von den campesinos geprägte Perspektive, die sich teils der Wiederherstellung der kommunalistischen Tradition verschrieben hatte.27 In Mexiko-Stadt verabschiedeten die Konstitutionalisten populäre Agrarreformgesetze und versuchten, sich den immer radikaleren Arbeitern anzunähern, wobei Obregón eine große Rolle spielte. Dies ging nicht lange gut und der wachsende Radikalismus der Arbeiter entwickelte sich mehr und mehr zu einer Bedrohung; im Jahre 1916 wurde ein Generalstreik blutig von der konstitutionalistischen Regierung niedergeworfen. Obwohl all diese Geschehnisse ihre Implikationen haben, so wirken sie sich doch nicht direkt auf die Geschichte von Freiheit und Befreiung aus. Was allerdings immer in dieser Geschichte Erwähnung findet, ist die mexikanische Verfassung von 1917. Ende November 1916 tagte eine verfassungsgebende Versammlung, in der die verschiedenen reformistischen Fraktionen repräsentiert waren, die meisten radikaleren Vertreter allerdings von den Konstitutionalisten ausgeschlossen worden waren (Dunn, 1989: 64). Man kann es als Zeichen der Zeit sehen, dass das Dokument nichtsdestoweniger die Reformierung sowohl des landwirtschaftlichen Sektors als auch der Arbeiterbewegung beinhaltete (Dunn, 1989: 64; Benjamin, 2000: 69) und dass eine Gruppe von reformistischen Abgeordneten aus der Mittelschicht eine
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Verfassung erstellte, bei der es sich nach Gilly (2005a: 233) um „die fortschrittlichste der Welt“ handelte, „[auch wenn] sie nicht sozialistisch war“.28 Dies ist sicherlich wahr, doch es war nichtsdestoweniger eine deutliche Absage an die Vergangenheit und ein weitaus reformistischeres Dokument, als irgendeine bürgerliche liberaldemokratische Verfassung zuvor. Foran (2005: 43) bezeichnet sie treffend als „gemäßigt … [mit] entschiedenen revolutionären Zielen“. Diese Ziele beinhalteten: Das Verbot von Sklaverei und Diskriminierung jeder Art (Artikel 1); die Anerkennung der indigenen Identität Mexikos (Artikel 2); ein öffentliches Schulsystem (Artikel 3); eine umfassende Landreform, die Erklärung von Öl und Bodenschätzen zu öffentlichen Besitztümern, deutlich begrenzte Rechte auf Güterbesitz in Mexiko für NichtMexikaner (Artikel 27); garantierte und erweiterte die Rechte für Arbeiter, inklusive eines Acht-Stunden-Tages und des Rechts auf Organisation und Streiks (Artikel 123) sowie die Trennung von Kirche und Staat (Artikel 130). Auch wenn Knight (1990b: 329) anmerkt: „[D]er neuen Verfassung … wurde häufig zu viel Aufmerksamkeit geschenkt, ihr wurde für die damalige Zeit zu viel Bedeutung zugesprochen“,29 so wird sie doch auch heute noch in großen Teilen Lateinamerikas mit Ehrfurcht betrachtet und ist ein wichtiger Bestandteil der Erzählung von Freiheit und Befreiung. Zwischen 1917 und 1920 kam der Revolutionsprozess stolpernd zum Stillstand. Zapata versuchte, seine Basis in Morelos zu schützen und die Spannungen wuchsen zwischen Carranza – dem Titel nach Präsident – und Obregón, der mit seinen radikaleren reformistischen Verbündeten mehr denn je der Anführer war. Im Jahre 1919 wurde Zapata ermordet. Viele inner- und außerhalb Mexikos sind überzeugt, dass ihm bewusst war, dass er sich in einer aussichtlosen Situation befand und dass er als Märtyrer nützlicher wäre, als lebendig – sein sagenumwobenes weißes Pferd und selbst sein Lagerfeuer leben in der populären Erinnerung fort, sie tauchen als Vision immer wieder in Mexiko und manchmal auch an völlig anderen Orten in revolutionären Imaginationen und Situationen auf.30 Nach zehn Jahren, die von Widerstand, Rebellion, Revolution und zahlreichen damit einhergehenden Veränderungen geprägt waren, trat ein gemäßigtes, reformistisches Regime unter Obregón die Herrschaft an; Zapata war tot; Villa wurde kurz darauf ermordet (1923) und die Rufe nach sozialer Gerechtigkeit wurden leiser und geisterhaft. Genau wie die zeitgleiche russische Revolution führte die Institutionalisierung der Mexikanischen Revolution (mit Ausnahme von Lázaro Cárdenas’ Präsidentschaftszeit 1934–40) hauptsächlich zu negativen Resultaten: Unterdrückung, Konservatismus, lähmende Bürokratie und Ineffizienz sowie Stillstand. Zur gleichen Zeit war das Verlangen nach sozialer Gerechtigkeit ein zentrales Element der Ereignisse und Prozesse, die laut akademischer und populärer Geschichts-
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schreibung die Mexikanische Revolution ausmachen. Und obwohl sie auch im Nachhall des Revolutionsprozesses noch in aller Munde waren, erreichten solche Ansprüche ihren Höhe- und Endpunkt wohl während Cárdenas’ Präsidentschaft. Danach wurde die Verbundenheit der Mächtigen im Staat zur sozialen Gerechtigkeit zu nicht viel mehr als einem Lippenbekenntnis; ein deutliches Ende stellt das Tlatelolco-Massaker von 1968 dar.31 Es wurde endlos darüber debattiert, um was für eine Art von Revolution es sich hier eigentlich gehandelt hatte. Unter Berücksichtigung von Benjamins Mahnung „[it] was not the French Revolution … seek[ing] to abolish history and begin the nation anew“ (2000: 54), fasst Buenfil (2000: 88) die drei Hauptperspektiven folgendermaßen zusammen: „[Es gibt] diejenigen, die argumentieren, dass es eine echte Revolution war, diejenigen mit der Meinung, dass es sich bloß um eine Rebellion handelte, und diejenigen, die darin eine Reihe zusammenhangloser Umstürze mit verschiedenen Zielen und Ausgängen sehen“. Foran (2005: 44–5) stellt zusammenfassend die von den meisten führenden Forschern vertretenen Ansichten dar. Ungeachtet aller möglichen verschiedenen Perspektiven ist die Mexikanische Revolution für viele Menschen ein sehr wichtiger Bestandteil der Revolutionsgeschichte von Freiheit und Befreiung.
„Keep your eyes on the prize“ „The only thing we did wrong, Stayed in the wilderness a day too long“ heißt es in Wines 1956er Neuauflage des afroamerikanischen Spirituals „Gospel Plow – Keep Your Eyes on the Prize“. Es geht so weiter: „But the one thing we did right, Was the day we started to fight.“ Wir haben es hier mit einer Miniaturausgabe der Revolutionsgeschichte von Freiheit und Befreiung zu tun. In dieser Geschichte ist ein Volk versklavt (in Rom, in Ägypten, in Leibeigenschaft, in Ketten, in Armut, in den Fabriken) und niemand kommt, um ihm zu helfen. Doch die Menschen können und werden sich selbst befreien – sich selbst, ihre Kinder und ihre Kindeskinder. Es wird ein lange und anstrengende Reise werden und nicht jeder wird es bis zum Ziel schaffen, doch sie werden nicht aufgeben; eines Tages werden sie an einem Ort von Frieden und Gerechtigkeit leben und sterben, den sie selbst geschaffen haben. Dies ist das Prinzip und das Versprechen von Spartakus, dem Exodus, den Sklavenrevolten, der antikolonialistischen und anti-imperialistischen Kämpfe, den nationalen Befreiungskriegen und der Ideologien, bei denen es um die Befreiung von Gruppen und Individuen aus der Unterjochung geht. Die Forderungen sind Befreiung und Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte, Land, Frieden und Brot, sie drücken die Überzeugung aus, die aus Zapatas
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berühmten Worten spricht, nach denen es besser ist, „auf den Füßen zu sterben, als auf den Knien zu leben“.32 Seit Haiti 1791 wurde die Revolutionsgeschichte von Freiheit und Befreiung größtenteils als etwas verstanden und dargestellt, das sich außerhalb des nördlich-westlichen Kulturkreises abspielt. Es gibt Ausnahmen (die Sklavenaufstände in den Vereinigten Staaten oder die Kämpfe in Irland beispielsweise), doch im Großen und Ganzen handelt es sich um eine Geschichte, die sich „da drüben“ an der Peripherie (oder der Semi-Peripherie) bei „diesen Völkern“ abspielt, an Orten, die in jüngerer Zeit als „die dritte Welt“ oder „die Entwicklungsländer“ bezeichnet werden. Auf der anderen Seite findet diese Geschichte aber auch direkt im Bauch der Bestie statt, mit Erzählungen, welche die Armen, die Marginalisierten und die Unterdrückten in einigen der kolonialen und neo-kolonialen Länder unterstützen. Das am nächsten liegende Beispiel ist die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten, doch es gibt weitere Erzählungen von Freiheit und Befreiung auch überall in Europa, Nordamerika und anderen Staaten auf der Welt mit weißen Bewohnern, wo die aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Religion oder anderen Faktoren Marginalisierten und Enteigneten von den Befreiungskämpfen der Menschen an anderen Orten angespornt und bestärkt werden. Es gibt sogar in den einflussreichen Industrienationen einige, die ihre Freiheit als fundamental mit der Befreiung anderer an anderen Orten zusammenhängend empfinden und an einer neuen Geschichte der Emanzipation mitwirken. Denken wir nur einmal an die gewaltige, geradezu emotionale Reaktion in Nordamerika, Europa und im Rest der Welt als die EZLN, die zeitgenössischen mexikanischen Zapatisten, sich am 1. Januar 1994 zu Revolution, Rebellion und Widerstand erhob – die Debatte darüber, was es genau ist, dauert noch an.33 Sie forderten Menschenwürde und Gerechtigkeit, stellten verunsichernde Fragen („Warum sind alle so still? Ist das die ,Demokratie‘, die ihr wolltet?“; zitiert nach Weinberg, 2002: 187) und sprachen eine mitreißende Herausforderung aus („Es ist nicht nötig, die Welt zu erobern. Es reicht aus, sie zu erneuern. Uns. Heute.“; Marcos et al., 1998: 19). Schnell kam die Antwort Todos somos Zapatistas („Wir sind alle Zapatisten“), die Unterstützung floss nach Chiapas, dem südlichsten und ärmsten Staat Mexikos und auch anderswo wurden die Menschen ermutigt. Das berühmteste Beispiel sind wohl die Unruhen beim Gipfel der WTO in Seattle 1999 und generell die Gegenbewegungen zur Welthandelsorganisation, die angeregt wurden vom Kampf der Zapatisten. Egal ob wir die Zapatisten nun als die letzten Revolutionäre des 20. Jahrhunderts oder als die ersten des 21. Jahrhunderts betrachten wollen, Gilly
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(2005b: 41) glaubt jedenfalls, dass es sich bei dem Volksaufstand 2003 in Bolivien um „die erste Revolution des 21. Jahrhunderts“ handelte. Ohne dass wir uns zu detailliert damit beschäftigen müssten, um was für eine Art Revolution es sich hier gehandelt haben mag, ist es doch eindeutig, dass Gillys Sprache und Erzählstruktur sich mit der hier behandelten Geschichte deckt: Er erinnert uns an die Notwendigkeit „,long memory‘ (antikoloniale Kämpfe, prähispanische ethische Ordnung) und ,short memory‘ (revolutionäre Macht von Bauernvereinigungen und Milizen seit der Revolution von 1952)“ in Einklang zu bringen (2005b: 47, Hervorhebung im Original; er zitiert Cusicanqui, 2003). Außerdem gibt er zu Bedenken: „[Eine] Revolution ist nichts, was im Staat selbst, in seinen Institutionen und unter seinen Politikern passiert. Sie kommt von unten und von außerhalb“ (2005b: 52; Hervorhebung im Original). Insbesondere sieht Gilly dies wenn das Ruder übernommen wird – mit der Gewalt ihrer Körper und der Wut ihrer Seelen – von eben denjenigen, die von unten und von außerhalb gekommen sind: jene, die immer ins Abseits gedrängt werden, jene, die Befehle entgegennehmen, jene, auf die die Herrscher als eine Masse von Wählern hinabblicken, als Wählerschaft, als Lasttiere, als Umfragelieferanten. Es passiert, wenn diese aufstehen, sich ein politisches Ziel setzen, sich selbst entsprechend ihrer eigenen Entscheidungen und Auffassungen organisieren und – mit Klarheit, Überlegung und Gewalt – ihre Welt in die Welt derer, die herrschen, einbringen und, wie im vorliegenden Fall, bekommen, was sie verlangt haben. (2005b: 52)
In einer Analyse, die sehr gut zur Revolutionsgeschichte von Freiheit und Befreiung passt, kommt Gilly (2005b: 53) zu dem Schluss, dass es zwar im Falle Boliviens bequemer oder beruhigender sein mag, zu sagen, es habe sich nicht um eine Revolution gehandelt, „sondern vielmehr um eine große Unruhe, eine Rebellion, eine Revolte, in der viele Fehler gemacht wurden, die keine Führungsgruppe hatte, die lediglich für Benzin und Kakaosäher kämpfte, eine Volksbewegung, ein großer Aufstand und nicht mehr“. Dies hieße jedoch, ihr diese Bezeichnung zu verweigern – und „ihr die Bezeichnung zu verweigern bedeutet, ihre Protagonisten zu verneinen – die Indios, die Cholos, die Frauen und Männer Boliviens subalterner Klassen – und ihren schwierigen Sieg“ (2005b: 54). In dieser langen, verwickelten Geschichte erschaffen die Menschen aus vielfältigen kulturellen Quellen verschiedene Teile einer Volkserzählung von Befreiung und Freiheit, welche die Machthabenden entweder unterdrücken oder nur verwenden, wenn sie ihnen zum Vorteil gereicht. Die Erzählungen von den Kämpfen dienen dazu, sich gegenseitig zu bestärken und zu unterstützen, nicht zuletzt auch damit, dass Menschen an unterschiedlichen Orten
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über weite Zeitabstände hinweg zunehmend ihre Hoffnungen mit denen der anderen identifizieren. Einige haben vermutet, dass mit dem scheinbaren Triumph von Liberalismus und Kapitalismus diese Geschichte nun am Ende ist. Doch das ist unwahrscheinlich. Trotz geringer Beachtung durch Politiker, der Presse und selbst vieler Akademiker, kämpfen Millionen von Menschen jeden Tag darum, sich aus der Unterdrückung zu befreien und gleiche Rechte und soziale Gerechtigkeit zu erlangen. Diese Bemühungen werden jedoch häufig von Beobachtern aus dem nördlich-westlichen Raum und ihren Gleichgesinnten als unerklärliche Handlungen verängstigter und verwirrter Menschen (miss-)gedeutet, oder schlimmer noch, als Handlungen von Menschen, die sich stur der unausweichlichen neoliberalen Welle entgegenstellen, die doch alle Boote anheben wird, wenn sie es nur zulassen. Das Versagen neoliberaler ökonomischer Politiken und der neoliberalen Demokratie, das Leben der Menschen grundlegend zu verbessern, heißt, dass die Revolutionsgeschichte von Freiheit und Befreiung weiterhin relevant sein wird. Und obwohl der liberaldemokratische Kapitalismus weiterhin die Vorstellungen davon prägt, was möglich ist, sollten wir nicht zulassen, dass er die Interessen und Sehnsüchte derjenigen verschleiert und verdeckt, die von ihm marginalisiert und ausgegrenzt werden. Wie die nächste Geschichte zeigt, in der es um die Revolutionen der Verlorenen und Vergessenen geht, geht da draußen einiges vor – und man sollte nichts als selbstverständlich ansehen.
Anmerkungen 1 Außerdem schreibt er: „While liberation is consonant with various forms of government, freedom is only possible through a republican form of government“ (Horowitz, 1972: 90). 2 Finley (1986: 54) meint, dass die bemerkenswerteste Tatsache an der Geschichte der Sklaverei die weitgehende Abwesenheit jeglicher Aufstände ist und dass „[at least from] the slave revolts of the late Roman Republic, the greatest in antiquity“ keinerlei andauernder Freiheitskampf entstand. 3 Das vollständige Zitat lautet: „The Spartacus – by which I mean fire and spirit, I mean soul and heart, I mean will and action for the revolution of the proletariat. And Spartacus – by which I mean all need and yearning for happiness, all resolution for battle of the class conscious proletariat. The Spartacus, by which I mean socialism and world revolution.“ Futrell (2001: 90) ergänzt dazu: „[T]he failure of the Spartakusbund and the murder of Liebknecht and Luxemburg added resonance to the value of Spartacus as an icon.“ 4 Im Jahre 1519 eröffnete das indigene Oberhaupt Enriquillo auf der Insel Hispa-
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Gerücht und Revolution niola den Kampf gegen seinen encomendero und die örtlichen Obrigkeiten. Siehe Castro, 1999a: xv. Schwartz (1994: 121) beziffert sie als 11 000, was jedoch immer noch eine beeindruckende Zahl ist. Dies war eine eindrucksvolle Entscheidung und sie verbindet die Verteidiger von Palmares mit anderen Radikalen überall auf der Welt und zu anderen Zeiten, wie etwa denen in Masada im alten Israel, den Cariben auf Grenada mit ihrem Todessprung und denjenigen, die es vorzogen, eher in der Pariser Kommune zu sterben, als in das Leben zurück zu gehen, zu dem sie vorher gezwungen gewesen waren und zu dem sie wieder gezwungen gewesen wären. Die Andry-Rebellion wurde von Charles Deslondes angeführt, einem haitianischen Sklaven, der von der Haitianischen Revolution inspiriert war; Andry war der Name des Besitzers der Plantage, wo das Ereignis stattfand. Zwar ist die Sepoy-Rebellion das berühmteste Ereignis, ihr gingen jedoch weitere voraus, die in der Region immer noch bekannt sind: Kerala 1793–97 und 1800–05; Travancore 1808–09 (mit der Unabhängigkeitserklärung von Kundara); der KolAufstand 1831; der Santhal-Aufstand 1855; sowie die Kutch-Rebellion 1816–32. Sowohl Bezeichnung als auch genaue Datierung der Kämpfe in Irland sind schwierig. Der Osteraufstand von 1916 wird gemeinhin als Revolte bezeichnet. Die Aufstände zwischen 1919 und 1921 werden meist Irischer Unabhängigkeitskrieg genannt, während in Jahren 1922 – 23 der Irische Bürgerkrieg stattfand. Im Hinblick auf das Vorhergehende siehe (unter anderem) Wasserstrom, 2005: 59, der die Bedeutung der Bewegung in Chinas politischer Mythologie als „roughly comparable to that of the Boston Tea Party“ bezeichnet; und Perry, 2005: 33; zu Letzterem siehe Wasserstrom, 2003: 261. Zum Thema der psychologischen Implikationen, die mit solchen nationalen Befreiungskämpfen einhergehen, bleibt die ausschlaggebende Quelle Fanon, 1965. Manela (2001: 100) vermutet: „[F]or a brief period of time … [it] appeared to millions worldwide as the herald of an emerging new world in which all peoples will be granted the right to determine their own future.“ Für ihn erstreckt sich diese „tumultuous period in international affairs“ in etwa „from the promulgation of the Fourteen Points in January 1918 to the conclusion of the Versailles Peace Treaty in June 1919“ und er bezeichnet sie als „Wilsonian Moment“, war doch der Präsident der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson, Verfasser der „vierzehn Punkte“, die Verkörperung dieser Vision und dieses Versprechens gewesen. Er ergänzt: „[T]he vision of an international order based on self determination was articulated by other world leaders as well, most prominent among them British Prime Minister David Lloyd George and Soviet Leader V. I. Lenin“ (2001: 119). Laut einer Erzählung, die der englischsprachigen Bevölkerung in der Karibik wie auch den britischen „kämpfenden Völkern“ (Gurkhas, Kenianer und südafrikanische Truppen, die viel Kämpfen und Sterben für die Briten übernommen haben) wohlvertraut ist, riefen am 17. Dezember 1918 mehr als fünfzig westindische Un-
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teroffiziere, die als Teil der britischen Streitkräfte in Europa kämpften, die „Caribbean League“ ins Leben. Die Liga hatte Mitglieder aus Britisch Guayana im Süden und Westen, aus den Bahamas im Norden sowie aus den meisten Orten dazwischen. Sie verlangten das Selbstbestimmungsrecht für die Bevölkerung der Karibik und gelobten, einen Generalstreik oder mehr zu organisieren, sobald sie wieder zu Hause wären. Einige taten dies dann auch 1919, hauptsächlich in Trinidad und Belize. Siehe unter anderem James, 1999: 63 – 4. Dies beinhaltet den Begriff eines umfassenden Egalitarismus, wie er mit SaintJust, Rabaut Saint-Étienne und der radikalen Linken der Revolution verbunden wird. Im Jahre 1790 beharrte Saint-Etienne als Vorsitzender der neu gegründeten Nationalversammlung darauf „[that] all the established institutions of France only crown the misery of the people; to make people happy it is necessary to renovate, to change the ideas, the laws, the morals … to change the men, the things, the words … to destroy everything, yes everything; for everything must be started anew“ (Almond, 1996: 31; Lasky, 2004: 473). Dieser Gedankengang liegt später auch der Kulturrevolution in China 1966 –76 zugrunde, besonders in ihren ersten Jahren; den Roten Khmer in Kampuchea (Kambodscha) 1975 –79; und vielleicht am allerdeutlichsten dem peruanischen Sendero Luminoso („Leuchtenden Pfad“) von 1980 – 95. Der von Heine (1991) herausgegebene Band bietet einen guten Überblick, der diese Revolution ebenfalls als verfrüht beendet darstellt. Eine vergleichende Untersuchung mit einer scharfsinnigen und einsichtsreichen Analyse Grenadas findet sich bei Meeks, 2001; Selbin, 1999 ist ein ebenfalls vergleichender Versuch. Eben diese Parole tauchte später auch in der Russischen Revolution 1917 auf. Es ist unwahrscheinlich, dass die Russen sie von den Mexikanern übernommen haben – die Landbevölkerung an beiden Orten teilte sicherlich diese Bedürfnisse auch unabhängig voneinander. Die russischen Revolutionäre waren jedoch bestimmt mit den Ereignissen in Mexiko vertraut. Es gab in den Vereinigten Staaten viele Versuche, diese beiden Revolutionen in Verbindung zu bringen, besonders dahingehend, die Mexikaner als eine Art kommunistische Bedrohung darzustellen (siehe Spenser, 1999) oder als „Bolschewiken an der Grenze“ („Bolsheviks on the border“). Doch siehe Knight, der im Gegensatz zu den meisten anderen Forschern behauptet: „[T]he Haitian Revolution represents the most thorough case study of revolutionary change anywhere in the history of the modern world“ (2000: 103). Er führt einige Arbeiten auf, die dies belegen. Der zweihundertste Jahrestag 2004 brachte diesem Thema wieder mehr Aufmerksamkeit, doch in jüngerer Zeit argumentieren Dubois, 2004; Blackburn, 2006; Popkin, 2007; und Forsdick, 2008 alle wieder gegenteilig. Eine inspirierende Variante, die man in Erwägung ziehen sollte, ist Linebaugh und Redikers (2000: 319) Verständnis Haitis als „the first successful workers’ revolt in modern history.“
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19 Dubois (2004: 5) spricht sich dagegen aus, Rassenzugehörigkeiten in Erklärungen mit einzubeziehen. 20 Mit einem Seitenblick zur alten Welt, in der er und seine Landsleute sich befanden, bezeichnete Dessalines sein Volk als die „Inkas der Sonne“ (Linebaugh and Rediker, 2000: 330). 21 Nesbitt (2008: 25) weist darauf hin, dass für die neue Führungselite Freiheit „the universal, uncompromised abolition of chattel slavery for the first time in world history“ bedeutete, eine Freiheit, die sich in der Konstruktion transzendenter sozialer Mechanismen (konstitutioneller, juristischer, militärischer, religiöser, vaterländischer, moralischer) niederschlägt, die sicherstellen, dass diese Vorgabe auch in einer Nation eingehalten wird, die zwischen einer „erleuchteten“ Elite und den „nicht erleuchteten“ Bauern trennt. Für andere wiederum bedeutete Freiheit „the construction of an undivided, stateless egalitarianism, with its own attendant forms of violence: the systematic suppression of the expression of individuality among its members to assure the reproduction of social equality.“ 22 Linebaugh und Rediker, die selten eine Verbindung außer Acht lassen, zeigen zumindest in einigen Fällen eine kürzere Wegstrecke auf. Sie verweisen darauf, dass zwei Schlüsselfiguren der Haitianischen Revolution, Henri Christophe und André Rigaud, in den französischen Regimentern in Nordamerika kämpften und somit als, wie sie es so treffend ausdrücken, „Überträger“ („vectors“) der Revolution fungiert haben könnten (2000: 241). 23 Dieser Abschnitt ist stark an Gilly, 2005a und Knight, 1990a: 1990b angelehnt. 24 Orozcos colorados kombinierten „cowboys, miners, lumberjacks, Indians, and farmers“ (Richards, 2004: 26). 25 Gilly (2005a: 124 – 5) ordnet diesen Bereichen auch unterschiedliche politische Einflüsse zu: Zapata und die Befreiungsarmee des Südens standen links und forderten „a deepening of the social content of the evolution and the implementation of the Ayala Plan“; Villa und die nördliche Division definiert er als „moving into an even closer alliance with Zapatism“; Carranza war „rechts“ und Obregón war mit Carranza und Villa verbunden. Dunn (1989: 57) beschreibt Villa auf ähnliche Weise; ihm zufolge unterstützte dieser die zapatistische Agrarreform „in a gingerly manner“. 26 Gilly (2005a: 154) meint: „[T]hey took turns sitting in the presidential chair“. Newell (1997: 112) stimmt damit überein, fügt jedoch hinzu, dass Zapata „uncomfortably“ dort saß. Katz (1998: 437) lässt in seiner Beschreibung Villa auf dem Sitz Platz nehmen und positioniert Zapata neben ihn. Er betont, welch großen Einfluss die weltweite Verbreitung auf dieses Bild hatte. 27 Katz (1998: 436) argumentiert, dass Zapata ein regional verwurzelter Militärmensch mit einem – allerdings begrenzten – nationalen soziopolitischen Plan war, während Villa ein Mann des Militärs auf nationaler Ebene war, mit einer bestenfalls regionalen Planung bezüglich Gemeinderäten und der Landreform. 28 Knight wiederholt genau diese Punkte und bestätigt trotz seiner Überzeugung,
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dieser Verfassung würde generell eine zu große Bedeutung unterstellt (1990b: 329), sie sei „one of the most radical of its time“ (1990b: 470) gewesen. Und doch: „[D]espite denunciations of its „Bolshevik“ character … [it] was not even socialist“ (1990b: 471). 29 Knight (1990b: 470) kritisiert „[the] many accounts … [where] the 1917 Constitution is seen as the consummation of revolutionary aspirations [since] it only imperfectly represented popular, revolutionary hopes: it was conceived without direct popular participation; it was drawn up in haste and chaos, rather than calm deliberation; and its limpid provisions contrasted with the murky reality.“ 30 Die Geschichten gehen immer weiter – in Kuba, El Salvador, Mosambik, Nicaragua und an anderen Orten; Martin Guevara stellte einmal fest, dass sein Bruder sei, wie Zapatas weißes Pferd – „he is everywhere“ (zitiert in Ryan, 1998: 36). Zapatas Pferd hat unter anderem eine wichtige Rolle in einem Kinderbuch über Revolutionäre inne (Thomas, 1998: 37). Die mexikanische Regierung versuchte, Zapata als Figur zu verwenden, und auch viele andere berufen sich auf seinen Geist. „Because of these connections with the past, Buena Vistans view themselves as the custodians of the memory of Zapata and the Zapatista fighters. They are particularly concerned with the authenticity of images of Zapata and the revolutionary fighters that the government tries to use to gain legitimacy. The issue of authenticity became important in the state of Morelos almost immediately after the assassination of Emiliano Zapata. In 1926, six years after Zapata’s death, Robert Redfield recorded a corrido in Morelos that raised the question of whether the government troops killed the ,real Zapata.‘ The corrido ends: ,It is certain and cannot be doubted, but they were deceived about Zapata, they cannot put Zapata down‘“ (Martin, 1992: 181 – 2). Hier sind wir wieder im Reich von Mythos und Geschichte, wo der Schlüssel für alles im Erzählen liegt. 31 Die Wichtigkeit der Ereignisse bei Tlatelolco und ihres Nachspiels sollte nicht unterschätzt werden; erst nach dreißig Jahren und der Wahlniederlage der Partei, die die Revolution gemacht hatte, der Institutionalisierten Revolutionspartei (PRI), widerfuhr den Getöteten und Verletzten Gerechtigkeit. Im Jahre 1968 wurden das erste Mal seit einer Generation wieder Rufe nach sozialer Gerechtigkeit in Mexiko laut, hauptsächlich von Studenten, der zukünftigen Elite des Landes und von Ablegern der Regierungspartei. Diesen Rufen wurden Kugeln entgegengesetzt. Man ist sich zwar immer noch nicht über die Anzahl der Toten und Verletzten im Klaren, doch es besteht kein Zweifel darüber, dass wie in einem schlechten Film an eben dem Ort, der die drei Kulturen ehren sollte, die die Mexicanidad ausmachen – indigene Völker (Azteken/Mexika, Maya, etc.), die koloniale (spanische) Bevölkerung und ihre gemeinsamen Nachkommen (Mestizen) (Vasconselos, 1997) – das mexikanische Militär im Auftrag der PRI die Rufe der Studenten nach Gerechtigkeit und Demokratie damit erwiderten, dass sie einige massakrierten, viele inhaftierten und unter Umständen einige verschwinden ließen. Tlatelolco bleibt ein in ein Leichentuch gehülltes Geheimnis, eine klaffende
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Wunde in der mexikanischen Gesellschaft, ein immer noch in der Luft liegender Pesthauch. Es war ein einfacher Protest, der sich zu einem Akt des Märtyrertums entwickelte, der an sechzig Jahre zuvor erinnerte. In einer soziokulturellen und psychologischen Landschaft, einer kollektiven Erinnerung, die zunehmend von Menschen und Orten bevölkert wurde, die für soziale Gerechtigkeit standen, gesellte sich der Geist von 1968 zu dem Zapatas. 32 Wie bereits in Kapitel 4 bemerkt, stammt dieses sinnträchtige romantische Epigramm, das gemeinhin mit Zapata verbunden wird, wahrscheinlich von dessen befreundetem Revolutionär und Märtyrer Práxedis Guerrero; siehe Albro, 1996. 33 Eine treffende Beschreibung wäre wohl so etwas wie: „Eine bewaffnete und clevere technisch versierte soziale Bewegung mit einem ausgeprägten Gespür für Öffentlichkeitswirksamkeit und einem Hang zu Straßen-/Dschungelperformances, welche die gelegentliche Zurschaustellung von kleinen und leichten Waffen umfassen (dies beinhaltet ihre Äußerungen).“
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Verlorene und vergessene Revolutionen: Geschichten, die wir nicht kennen und nicht erzählen Verlorene und vergessene Revolutionen
Im Jahre 1917, inmitten der Prärie der südlichen USA, fand an den schlammigen Ufern des South Canadian River im ländlichen Oklahoma die sogenannte Green Corn Rebellion statt, ein ethnien- und klassenübergreifender sozialistischer Volksaufstand. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gab es im heutigen Deutschland weitreichende und heftige Bauernaufstände. In Münster in Westfalen entwickelte sich dabei eine überaus radikale, proto-sozialistische Bewegung. Unter den Igbo-Frauen in Nigeria kam es 1929 zu einem massiven antikolonialen Aufstand. Die kurzlebige anarchistische Republik in der Baja California (Mexiko) 1911 ging der ebenfalls nur flüchtigen Anarchie in der Ukraine (1919–21) auf der anderen Seite der Erde voraus. Im März 1921 kam es kurzzeitig zur Kronstadt-Rebellion der anarchistischen (oder sozialrevolutionären) Seemänner, Soldaten und Bürger im neugegründeten Sowjet-Russland. Immerhin brachte es diese auf einige Tage mehr als die ephemere zwölftägige „República Socialista de Chile“, die 1932 von General Marmaduke Groves angeführt wurde. Und auch die jungen USA erlebten ihren Teil an Widerstand, Rebellionen und Revolutionen, beispielsweise Shays’ Rebellion (1786–87), die Whiskey-Rebellion (1791–4) und Fries’ Rebellion (1799–1800). Im Jahre 2009 gab es, neben vielen anderen Ereignissen von unterschiedlicher Wichtigkeit, die anscheinend von der iranischen Bevölkerung ausgehenden Proteste aufgrund der sehr umstrittenen Wahlergebnisse, die man als „Grüne Revolution“ bezeichnete. Verärgerte Letten nannten die Demonstrationen angesichts der ökonomischen Sorgen des Landes spöttisch eine „Pinguinrevolution“ und ein elitärer golpe d’estado (Staatsstreich) in Honduras bewirkte eine für dieses Land erstaunlich starke Widerstandsbewegung. Auf welche Art man sich an diese Ereignisse und Prozesse in den kommenden Jahren erinnern wird, ist noch nicht abzusehen, doch es wäre naiv, anzunehmen, sie würden nicht zu einem Stück des schweren Stoffes werden, an dem wir alle weben.
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Es scheint verlockend, davon auszugehen, dass es sich bei der Geschichte von den Revolutionen der Verlorenen und Vergessenen um ein Sammelsurium von Bagatellen handelt – eine kleine Insel voll von revolutionären und verwandten Momenten, die nirgendwo hineingehören und wenig oder keine Bedeutung haben. In dieser Geschichte stoßen wir auf „Revolutionen, Wanderungen und die wildesten Veränderungen“, von denen Hegel glaubte, dass man sie absichtlich nicht in die Geschichtsbücher aufgenommen hatte: „weil [diese Aufzeichnungen] nicht [haben] vorhanden sein können, haben wir keine“ (Hegel, 2009: 51). Da ihnen die Präsenz, der Fluss fehlt, den wir mit „Historie“ verbinden, ignorieren wir nur zu oft die Dinge, die außerhalb ihrer Reichweite liegen: „[T]he great ruptures and oppositions are always negotiable, but not the little cracks and imperceptible ruptures“ (Deleuze und Parnet, 1983: 58). Indem sie die Möglichkeiten und Chancen ergriffen, ihr Leben zu ändern, haben sich überraschend viele Menschen dazu entschieden, Handlungen zu vollbringen, die man durchaus als alltäglichen Widerstand, alltägliche Rebellion oder Revolution bezeichnen kann.1 Solche Formen des Kollektivverhaltens stecken voller Konsequenzen und sind zumindest im Kontext dieser Geschichte hauptsächlich durch bewusste und absichtliche Taten definiert.2 Bei diesen „Momenten sozialer Kreativität“ („moments of social creativity“, Markoff, 1997: 1139) handelt es sich um Fälle, wo Menschen und Gesellschaft sich als besonders offen für diejenigen erweisen, die von solchen Episoden fasziniert sind. Der Glaube des Menschen an die (Un-)Möglichkeiten und an seine immanenten Fähigkeiten, sowohl die Welt als auch sich selbst zu verändern, ist anscheinend grenzenlos. Und obwohl wir uns verständlicher- und notwendigerweise zum großen Maßstab hingezogen fühlen (Tilly, 1984), zu den Metaerzählungen, die die Komplexität unseres Lebens in einen sinnvollen Rahmen stellen sollen, erinnert uns beispielsweise Markoff an die Notwendigkeit „to study the messy details of historical processes and not just the grand trends“ (1997: 1139). Diese Ereignisse auf der Mikroebene, die häufig mit Alltäglichem zusammenhängen, können schwerwiegende Auswirkungen auf die Makroebene haben. Die komplexen, verwickelten Anstrengungen der Menschen zur Verwirklichung ihrer eigenen Träume und Sehnsüchte, deren Intentionalität den Beteiligten oft gar nicht bewusst sein mag, werden häufig von Dynamiken wie Hoffnung, Angst oder Not angetrieben. Und diese können den räumlichen, zeitlichen und psychologischen Rahmen schaffen, in dem konter-hegemoniale Handlungen möglich sind, mit denen die Menschen versuchen, Macht über die materiellen und ideologischen Umstände ihres Alltagslebens zu gewinnen. Bis hierher haben wir die kurze, streng durchchoreographierte zivilisierende und demokratisierende Revolutionsgeschichte, die etwas ungeordne-
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tere, jedoch beeindruckend lineare sozialrevolutionäre Revolutionsgeschichte und die längere und loser strukturiertere Revolutionsgeschichte von Befreiung und Freiheit betrachtet. Alle drei beinhalten eine größtenteils chronologische und mehr oder weniger aufeinander aufbauende Erzählung, die einen Ausgangspunkt hat (die „Glorious Revolution“; Frankreich 1789; Spartakus’ Sklavenaufstand), sich von dort ausgehend entwickelt und dann zu einem mutmaßlichen Endpunkt gelangt (Frankreich 1789; Kuba 1959, Nicaragua und der Iran 1979; außerdem hat sich heute weltweit zumindest theoretisch die Verbundenheit zu Freiheit und Befreiung durchgesetzt). In jedem dieser Fälle ist der Plot leicht zu erschließen. Könnte es denn anders sein? Dass es bequem und allgemein üblich ist, eine klare und chronologische Geschichte zu erzählen, sollte uns jedoch nicht die Augen vor der Tatsache verschließen lassen, dass wir damit eine Illusion erschaffen. Alle bisherigen Geschichten sind nicht von sich aus linear, sondern wurden nur so dargestellt. Was sie außen vor lassen, ist von genau so großer Bedeutung, wie das, was sie beinhalten. Immerhin sind wir darauf konditioniert, auf eine bestimmte Weise zu sehen und zu hören und die Dinge dementsprechend mit Sinn zu füllen. Die bislang erzählten drei Geschichten sind relativ zusammenhängend und solide, egal ob sie mit einem schlüssigen Plot ausgestattet oder loser strukturiert sind. Die Revolutionen der Verlorenen und Vergessenen gehören zu einer sehr lose verbundenen doch gleichermaßen soliden Geschichte. Sie beinhaltet kleinere Erzählungen, die nicht von größeren Prozessen eingerahmt sind, auch wenn es sich um Vorboten oder Nachfolger solcher handeln mag – die dann verloren und vergessen wurden. Ein Beispiel ist hier die Spanische Revolution 1936–37, die völlig vom Bürgerkrieg 1936–39 begraben wurde. Die Geschichten sind also meist räumlich begrenzt und besitzen einen speziellen Bezugspunkt, oft sind sie etwas unergründlich, von begrenzter Reichweite und isoliert, wenn auch diese Sicht der Dinge nicht zwangsläufig von denen geteilt werden würde, um deren Leben es geht. Dies bezieht sich natürlich nur auf die Geschichten, die wir „kennen“; man kann unmöglich feststellen, was uns aufgrund schlechter Übermittlung und Übersetzung verloren gegangen ist oder nur in dürftiger Form vorliegt. In dieser vageren und in gewisser Weise impressionistischeren Geschichte der Kämpfe, die uns verloren gegangen oder vergessen sind, geht es um alltäglichen Widerstand, alltägliche Rebellionen und Revolutionen. Es gibt unüberschaubar viele Beispiele und das sind nur die, die uns bekannt sind. Die Menschen haben zu beinahe jeder Zeit und an beinahe jedem Ort ihre eigenen Versionen. Obwohl es große Unterschiede bezüglich Tenor und Tonfall gibt, treffen wir wieder auf die gleichen alten Bekannten: lang verblasste wilde Revolutio-
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nen in den jungen Vereinigten Staaten, die französischen sans-culottes und ihre Forderung nach einer Volksdemokratie 1793 oder auch die Pariser Kommune von 1871; die vergessenen demokratischen Momente und die Kronstadt-Rebellion in Russland; die rätselhafte Anarchie in der Ukraine (Makhno, der Anführer der Bewegung, liegt ironischerweise neben Lenins Helden, den Pariser Kommunarden auf dem Père Lachaise begraben) und die anscheinend zahllosen verlorenen und vergessenen Momente in Mexiko, von denen manche Millionen bekannt sind, andere vielleicht nur wenigen Dutzend. Und obwohl einige der Revolutionen der Verlorenen und Vergessenen bekannter sind als andere, so wird doch keiner eine besonders herausragende Position zugestanden. Solch überaus eigenständige und unterschiedliche Ereignisse zu verbinden, wenn auch nur grob, kann irreführend sein und führt unter Umständen zur Reduktion auf eine reine Auflistung. Doch über ihr bloßes gemeinsames Auftreten bauen diese nur flüchtig existenten Ereignisse ein riesiges, offenes Netzwerk beständiger Mikro-Momente auf. An dieser Stelle sind einige Hinweise angebracht. Wie bereits festgestellt wurde, kann sich erstens der zwangsläufig begrenzte Versuch, verlorene und vergessene Revolutionsmomente einzufangen, nur auf die beziehen, die uns bekannt sind. Dabei mag es durchaus Fälle von Widerstand, Rebellion oder Revolution geben, die sich uns entziehen, wenn wir in nördlich-westlichen, männlichen, linearen, progressivistischen Herangehensweisen an Wissen verankert sind. Zweitens kann es vorkommen, dass, auch wenn diese speziellen Momente im Großen und Ganzen verschwunden und nicht mehr sichtbar sind, sie anderswo und zu einer anderen Zeit („elsewhen“ Bey, 1991: 101) wieder auftauchen, manchmal mit deutlichen Verbindungen, gelegentlich mit etwas loseren. In manchen Fällen kann ihr Verschwinden schlicht Ausdruck der Entscheidung sein, angesichts von Übermacht und Vorrechten der anderen zu fliehen und zu einem anderen Zeitpunkt den Kampf wieder aufzunehmen. Und schließlich entstehen die Verknüpfungen zwischen diesen verlorenen und vergessenen Ereignissen nicht einfach aus der Luft heraus, sondern, ob lateral oder hierarchisch, direkt oder indirekt, durch Menschen, die Geschichte schreiben. Jedes Volk scheint seine eigenen Versionen solcher Geschichten zu haben, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. In vielen Fällen sind dies nicht wesentlich mehr als Berichte über die Orte und Räume, die zumindest ein paar Menschen kurzzeitig durchschreiten.3 Trotz ihrer Kürze können diese Momente Spuren hinterlassen; man nehme nur einmal die ausladenden Boulevards in den europäischen Hauptstädten, die nach den 1848er Revolutionen geschaffen wurden, um das Manövrieren von Kavallerie und Artillerie zu erleichtern. In solchen Fällen werden Personen, Orte und Zeiten,
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Geschichten über Widerstand und Kampf wiederverwertet – wie Collier und Mazzuca (2008: 479) betonen: „,deep‘ and ,thick‘ is not necessarily unique or unrepeatable“ – normalerweise mit der Überzeugung, dass irgendwie diesmal „wir“ gewinnen werden. Die anderen Botschaften sind ebenfalls eindeutig. „Wir“ sind Teil eines großen und von Geschichten umrankten Vermächtnisses, das jedoch fast nie von denen gefeiert wird, die mächtig genug dazu wären. Auch wenn es nur wenige geschafft haben, ist es immer besser, es zu versuchen; wir müssen es versuchen. Ungeachtet der Unmittelbarkeit und Intensität der augenblicklichen Kämpfe, zeugt „unsere“ Geschichte doch von Langlebigkeit, egal, ob die Mächtigen das anerkennen oder nicht. In dem Maße, wie das möglich ist, sollten wir hier versuchen, die Dinge weder von oben zu betrachten, wie in den ersten beiden Geschichten, noch von unten, wie in der letzten, sondern längsseitig auf der gleichen Ebene. Die zusätzliche Herausforderung besteht darin, die Angelegenheiten sowohl von „außen“ zu untersuchen, indem wir vom Konzept der Historie und unseren konventionellen Auffassungen von ihr Abstand nehmen, als auch von „innen“, indem wir nach alternativen Quellen suchen, die nur selten herangezogen werden. Hier befinden wir uns deutlicher als bei jeder anderen Geschichte im Reich des Mythos, des Poetischen, der Erzählung und des Liedes. Manches ist reine Andeutung, vieles wird bewusst verschleiert, um es vor den Mächtigen zu schützen sowie vor dem Zugriff derer zu bewahren, die durch ihr bloßes Interesse Misstrauen erwecken – denn warum sollte man etwas darüber wissen wollen und was hat man mit der Information vor? „Sag besser nichts, Kind – wenn sie danach fragen müssen, dann wissen sie nicht Bescheid.“4 Die Geschichte der verlorenen und vergessenen Revolutionen durchzieht unsere Vergangenheit und umgibt uns auch in der Gegenwart. Zweifellos ist es möglich, sinnvolle Zuordnungen nach Ort (Spanien, Mexiko, Indonesien, Ghana, Kanada), Volk (Maya, Basken, Kurden, Kung San, Finnen) oder Art (Fromme, Sozialbanditen oder – Piraten, verborgene Botschaften, Geister von Tieren, eine andere oder transzendente Welt) vorzunehmen – es gibt unendlich viele mögliche Klassifikationen. Eine solche Taxonomie überschreitet aber erstens den Rahmen dieses Projektes und würde zweitens, was wichtiger ist, durch den Versuch, zu regulieren und somit einzuschränken, die Idee dieser Geschichte zerstören. Was stattdessen folgt, ist hauptsächlich eine Sammlung von Stichproben „verlorener“ und „vergessener“ Geschichten. Wir werden uns auf diejenigen konzentrieren, die einen Status erreicht haben, der nicht nur lokal begrenzt und obskur ist, und die Gemeinsamkeiten mit anderen MikroErzählungen von individuellem und kollektivem Kampf aufweisen, der erkennbar mit Widerstand, Rebellion und Revolution verbunden ist.
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Funken der Hoffnung: Entscheidende Momente verlorener und vergessener Revolutionen Es ist bezüglich der Geschichte der verlorenen und vergessenen Revolutionen immer wieder erstaunlich, wie viele dieser „Momente“ uns bekannt sind und wie viel wir über sie wissen. Man könnte versucht sein, dies als einen Effekt des „Informationszeitalters“ zu betrachten, damit würden wir jedoch die weltweiten Netzwerke früherer Zeiten ignorieren – Berichte von „Abenteurern“, Soldaten und Seemänner, die nach Hause schrieben, die Verfasser von Briefen im Allgemeinen (vor allem solche, die sich für bestimmte Themen einsetzten, etwa für die Abschaffung der Sklaverei oder das Ende des FüßeAbbindens in China), Abtrünnige, Reisende und Vagabunden. Dieses Netzwerk weist eine gewisse Offenheit gegenüber Informationen auf, die nicht in vorgefertigte Kategorien zu passen scheinen, eine Bereitschaft, Ungereimtheiten und Unschlüssigkeiten in der Erzählung sowie offene Enden zu tolerieren. Die meisten von uns erleben natürlich solche Mehrdeutigkeiten im Alltagsleben, doch sie sind normalerweise nicht das, was wir in den Erzählungen suchen, die wir zu konstruieren geneigt sind. Nichtsdestoweniger können Geschichten dazu den Raum bieten. Während einige Details wohl nur wenigen bekannt sind, sind andere weiter verbreitet. Es erscheint beispielsweise nicht völlig überraschend, dass namibianischen Revolutionären die Marseillaise bekannt ist, oder dass Ché-T-Shirts in Teheran 1979 sehr weit verbreitet waren (Taheri, 1986: 254). Dann allerdings gibt es Menschen aus Mosambik, denen Zapatas weißes Pferd vertraut ist und nicaraguanische campesinos, die trotz ihrer „Ungebildetheit“ nach nördlichwestlichen Maßstäben über die „große Schlacht“ von Cuito Cuanavale informiert sind, einem entscheidenden Wendepunkt für den Antiimperialismus und die Revolution in Südafrika. Die Palästinenser wiederum erkennen den amerikanischen Arbeiterbewegungsaktivisten Joe Hill als jemanden an, „[der] an Spartakus’ Seite kämpfte … der in den 1970ern in Chile war und in El Salvador und Guatemala. Aber gerade jetzt … ist Joe Hill Palästinenser“ (Lynd and Grubacic, 2008: 196). Mexikanischen Revolutionären ist Louis Riel bekannt, ein multi-ethnischer Mestizen-Anführer, der 1869–70 die „Red River Rebellion“ und 1885 die „North-West Rebellions“ in der Kanadischen Prärie leitete. Es gibt junge Indianer in den Vereinigten Staaten, die mit den Widerstandsstrategien der hauptsächlich indigenen modernen mexikanischen Zapatisten und denen der kanadischen Inuit vertraut sind. Solche Beispiele sind wertvolle Erinnerungen an die Verbindungen und Verknüpfungen über Zeiten und Orte hinweg, mithilfe derer die Menschen eine revolutionäre Imagination
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erschaffen, die Symbole, Namen, Daten, Orte, Missstände, Geschichten, Mittel und Methoden umfasst, auf die sie zurückgreifen, wenn sie die Gegebenheiten und ihre Möglichkeiten abwägen.5 Diese kulturelle Quelle für Taktiken, Strategien und Inspirationen ist nicht unumkämpft. Diejenigen, die Widerstand überwinden wollen, Rebellionen verhindern und sich Revolutionen entgegenstellen (oder sie für ihre Zwecke manipulieren möchten), versuchen ebenfalls, eine soziale Imaginationswelt aufzubauen, die ihren Standpunkt unterstützt. So versuchte beispielsweise die mexikanische Regierung sehr lange, Zapata als historische Figur für sich zu beanspruchen (und zu kontrollieren), um ihre Legitimität und Autorität zu untermauern. Etwas erfolgreicher war die bolivianische Militärregierung, der es 1967 gelang, sich Guevaras revolutionären Internationalisten teils dadurch entgegen zu setzen, dass sie sich als wahren Erben der nationalistischen Revolution in Bolivien 1952 darstellte. Und es ist vielleicht keinem anderen Land und keiner anderen Gesellschaft so erfolgreich gelungen, die revolutionäre Vergangenheit dermaßen zu manipulieren, wie den Vereinigten Staaten von Amerika, die selbige seit 200 Jahren als Legitimation nutzen, sich daheim wie an anderen Orten auch noch so geringen Reform-, Widerstands- und Rebellionsversuchen entgegenzusetzen – ganz abgesehen von Revolutionen, die überaus effektiv als etwas den USA völlig Fremdes umgeschrieben wurden. In den meisten Fällen sind solche reaktionären Bemühungen allerdings schwer umzusetzen und aufrechtzuerhalten. Es ist im Allgemeinen eher wahrscheinlich, dass die Bemühungen der Eliten oder Staatsverantwortlichen, ihre Glaubwürdigkeit beim Volk geltend zu machen, mit deutlicher Skepsis betrachtet werden. Deshalb arbeiten die Machthaber intensiv daran, revolutionäre Momente auszurotten oder aus dem Gedächtnis zu tilgen. Worin bestehen diese Momente? Wir können uns nur auf diejenigen beziehen, die auch außerhalb regionaler Grenzen bekannt geworden sind und bei denen es sich um erkennbare Formen von Widerstand, Rebellion und Revolution handelt. Die arabischen Assassinen im frühen Mittelalter haben nicht viel mehr als ihren Namen hinterlassen, aber doch eindeutig die Despoten in Angst und Schrecken versetzt (und jeden anderen, der ihnen in die Quere kam). Und obwohl die Statue Étienne Marcels vor dem Pariser Hôtel de Ville (der Stadthalle) an der Seine steht, erinnern sich doch nur wenige an den Arbeiterstreik, den er 1357 lostrat (Hussey, 2005: 23). Dieser wiederum war Teil der größtenteils in Vergessenheit geratenen Jacquerie, eines hauptsächlich bäuerlich geprägten Volksaufstandes in Frankreich während des Hundertjährigen Krieges. Und es waren Piratenenklaven im 17. und 18. Jahrhundert, die einen Vorgeschmack auf die Demokratie boten, was durchaus die aufkommende Demokratiewelle in Europa beeinflusst haben mag. Man kann in
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ihnen frühe Ansätze der öffentlichen Wohlfahrt und Vorläufer eines modernen Versicherungssystems erkennen. In Amerika fanden Kämpfe für mehr Gerechtigkeit statt, die viele Rassen umfassten, wie etwa die „New Yorker Verschwörung“ von Afroamerikanern, spanischen und irischen Seemännern und Hafenarbeitern sowie armen Weißen im Jahre 1741, die zu einem Modell für die Kooperation von Besitzlosen wurde, die gemeinsame Ziele erreichen wollen.6 Das multiethnische Bauernbündnis („Farmers’ Alliance“) im Süden der Vereinigten Staaten Ende des 19. Jahrhunderts verlangte faire Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse, setzte sich dafür ein, dass sich Transport- und Kommunikationsmittel in der öffentlichen Hand befinden sollten, gründete Kooperativen und sprach sich für eine an der Bevölkerung orientierte Wirtschaftspolitik aus. Zur gleichen Zeit wurden in Frankreich bourses de travail („Arbeitsbörsen“) gegründet und Arbeiterbewegungen setzten sich für gegenseitige Hilfsleistungen, Bildung und Organisation ein – mit Unterstützung einiger Regierungsangehöriger. Dank des Kolonialismus verbreiteten sich diese Gedanken überall im immer noch gewaltigen französischen Reich. Bevor wir einige Ereignisse etwas tiefergehend untersuchen, könnte ein Beispiel für die sorgfältig gehütete und überraschend lange schwelende Glut der Revolution von Nutzen sein. Der Generalstreik in der settimana rossa („Roten Woche“) 1914 der Arbeiter in Ancona (Italien), der einige Gemeinden dazu brachte, sich nach Art der Pariser Kommune 1871 in „Kommune“ oder „Arbeiterrepublik“ umzubenennen (Harvey, 1994: 429), inspirierte Fabrikübernahmen und Selbstverwaltung der Arbeiter in den „zwei roten Jahren“ (biennio rosso, 1919–20), die wiederum in die faschistischen „zwei schwarzen Jahre“ (biennio nero, 1921–22) übergingen, die zur Machtergreifung der Faschisten in Italien führten. Zu einer ähnlichen Dynamik – Fabrikübernahmen und Arbeiterselbstverwaltungen, die auf eine quasi- bzw. neofaschistische Reaktion stießen – kam es 1936 in Spanien, 1969 in Italien während des autunno caldo („heißen Herbstes“) und in Chile zwischen 1970 und 1973. Vielleicht hatten sie aus der Vergangenheit gelernt, denn diesmal folgten die Italiener nicht dem Sirenengesang des autoritären Systems. Die argentinischen fabricas recuperadas („zurückeroberte Fabriken“), ein Phänomen des frühen 21. Jahrhunderts, haben (bislang) noch nicht zu einer faschistischen Reaktion geführt und im Jahre 2005 trafen sich Aktivisten aus der gesamten Region bei der Encuentro Latinoamericano de Empresas Recuperadas („Lateinamerikanischen Versammlung zurückeroberter Betriebe“) in Venezuela. Mit dieser Zusammenkunft wurde eine bewusste Verbindung über die letzten mehr als einhundert Jahre geschaffen, über zwei Weltkriege, den kalten Krieg, die brutale Militärdiktatur in Chile, einen „schmutzigen Krieg“ in Argentinien und das Aufkommen des Neoliberalismus hinweg – um den
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Kampf in einen historischen Kontext einzureihen. Verlorene und vergessene Geschichten von Widerstand, Rebellion und Revolution können ebenfalls zurückerobert werden und ab und an geschieht dies auch. Es ist hierbei notwendig, vorsichtig vorzugehen. Kategorisierung, Anpassung, ja selbst Definition sind genau die Vorgänge, die dieser Geschichte entgegenlaufen. Sich darin zu versuchen und diese Momente tatsächlich existierender Veränderung in einen Rahmen zu pressen, führt dazu, Kontext und Inhalt Schaden, ja Gewalt zuzufügen. Wir alle sind Mittäter in diesem Prozess, indem wir kurze Momente tiefer Bedeutung und grundlegender Absichten nehmen und daraus eine Historie erschaffen, eine Geschichte, die so bekannt ist, dass ein nordamerikanischer Sozialwissenschaftler, der tief im Zentrum weit entfernt von den Rändern steht, sich dieser Momente bewusst ist und Informationen zuordnen kann. Dementsprechend haben wir es hier nicht mehr mit dem prächtigen Wandteppich zu tun, an dem die Menschen in den anderen Geschichten gewoben haben. Vielmehr spiegelt diese Geschichte all die Dinge wieder, die nicht passen und auch nicht passen können, die aber trotzdem real sind – und in manchen Fällen sogar noch realer dadurch werden, dass sie nicht passen, dass sie nicht auf die gleiche alte Geschichte reduziert werden können. Die folgende kurze Sammlung längerer Geschichten beinhaltet zwangsläufig einen Prozess der Anordnung und somit Kontrolle, die Erstellung einer Taxonomie, die nicht nur eine Aussage darüber trifft, was sie bedeuten, sondern auch, warum sie bedeutsam sind (oder auch warum sie nicht bedeutsam sind, warum sie fehlen und innerhalb unserer „Folksonomie“7 zu wünschen übrig lassen). Ein solches Zusammenscharen trifft sie im Kern ihres romantischen Wesens, denn ihre Macht liegt in ihrer Flüchtigkeit und darin, dass sie keinem gehören. Wir sollten bedenken, dass diese Fälle von Widerstand, Rebellion und Revolution sich in dieser Kategorie befinden, weil sie „gescheitert“ sind, zumindest nach konventionellen Erfolgsmaßstäben. Die berühmteste (wenn man das denn so sagen kann) verlorene und vergessene Revolution ist wohl die Pariser Kommune von 1871: ein großer, romantischer, epischer revolutionärer Misserfolg.
Die größte „vergessene“ Revolution: die Pariser Kommune 18718 Die glühende, flüchtige Existenz der Kommune ist wohlvertraut und ihr Einfluss unwiderlegbar – Marx pries ihre Errungenschaften; sie war Lenins „festival of the oppressed“ (1980a: 125) und er wurde in ihrer roten Flagge begraben; Mao bezog sich häufig und bereits sehr früh auf sie und man kann
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wohl sagen, dass die Eliten und Staatsverantwortlichen überall in Europa für die nächsten 100 Jahre (1968 ist in gewisser Weise die erste und letzte Wiederholung) sie zutiefst fürchteten. Doch es ist eben diese Furcht und Abscheu, die zu ihrer Aufnahme in diese Geschichte führt: wie bei vielleicht keinem anderen vergleichbaren Ereignis gab es aktive Bemühungen, die Kommune zu vergessen. Anlässlich des zweihundertsten Jahrestages der Französischen Revolution 1989 wurden zwar die vielen revolutionären Momente Frankreichs gefeiert, die Kommune fehlte jedoch völlig. Es gab Anstrengungen, sie nicht nur aus der formalen Historie zu entfernen, sondern auch aus der gelebten Erfahrung der Menschen: es sollte sichergestellt werden, dass sie nicht zu einem Bestandteil der populären Erinnerung wurde. Was hat es mit diesem Ereignis auf sich, das im Nachhinein gleichzeitig so viel Bewunderung und Abscheu hervorrief? Während des Deutsch-Französischen Krieges hatte sich Paris 1870 für fünf Monate im Belagerungszustand befunden. Um der verfahrenen Situation ein Ende zu bereiten, machte die französische Regierung drastische Zugeständnisse, die von den Menschen in Paris nicht durchweg mit Wohlwollen aufgenommen wurden. Da sie sich vor einem Aufstand der Arbeiterklasse fürchtete, versuchte die Regierung, die Waffen wieder einzufordern, die sie zur Verteidigung der Stadt ausgeteilt hatte, und so begann der Kampf. Die Pariser weigerten sich, ihre Waffen wieder herzugeben und stimmten am 26. März 1871 dafür ab, dass die Kommune die Stadt verwalten sollte. Die Nationalversammlung zog sich ironischerweise nach Versailles zurück. Die Kommune schaffte auf der Stelle Polizei und Armee ab, richtete öffentliche Schulen ein (und stellte den Schülern in manchen Fällen Schulmaterialen, Nahrung, ja selbst Kleidung zur Verfügung) und verkündete die Trennung von Kirche und Staat. Sozialisten, Anarchisten, libertäre Republikaner, Feministinnen9 und andere organisierten sich und arbeiteten gemeinschaftlich. Die Zeitrechnung von 1789 wurde wieder eingeführt, die rote Flagge gehisst, die Nachtarbeit in den Bäckereien beendet, unverheirateten Partnern der Mitglieder der Nationalgarde Renten gewährt, feierlich eine Guillotine verbrannt, die Vendosule abgerissen und viele öffentliche Feiern und Konzerte veranstaltet. In diesem spontanen Ausbruch zeigte sich eine tiefgreifende Ablehnung von Herrschaft und Kontrolle – für Marx (1871)
waren sie in dieser Hinsicht noch viel zu „scrupulous“ (er bespöttelte ihre „good nature“) – und eine umfassende Bejahung der unzähligen Möglichkeiten. Doch diese fête de l’imagination konnte nicht von Dauer sein, nicht zuletzt weil die Machthaber selbstverständlich die einhergehenden Implikationen und Konsequenzen nicht unterstützen konnten: Die Menschen regierten sich selbst, Arbeiter und Arme, ja selbst Frauen, nahmen die Rolle öffentlicher Bediensteter ein und die soziale Etikette wurde als schwerwiegend gefährdet betrachtet.
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Beinahe von Anfang an hatte es Scharmützel zwischen Regierungstruppen und Kommunarden gegeben. Angestachelt vom zunehmend kompromisslosen Verhalten der Kommunarden und ihrer Missachtung der Konventionen (und zusätzlich gereizt durch das neu gegründete deutsche Reich), verschärften die Truppen aus Versailles ihre Attacken und marschierten am 21. Mai ins Zentrum von Paris ein, woraufhin das Gemetzel begann. In der später als La Semaine sanglante („die blutige Woche“) bekannt gewordenen Zeit wurden Zehntausende im Kampf getötet oder hingerichtet, nachdem sie sich ergeben hatten. Die letzten 150 von ihnen wurden an der Mur des fédérés („Wand der Kommunarden“) auf dem Friedhof Père Lachaise erschossen. Tausende weitere wurden hingerichtet, inhaftiert oder in französische Strafkolonien deportiert. Besonders Frauen und Kinder gehörten zu den Opfern. Viele entschieden, dass es besser sei, auf den Füßen zu sterben, als auf den Knien weiterzuleben. Im Gegenzug boten auch andere europäische Ländern an, Truppen zu entsenden; dieser öffentliche Aufstand durfte nicht toleriert werden und musste auf möglichst brutale Weise niedergeschlagen werden – es musste Salz in die Erde gestreut werden, sodass dort nie wieder etwas sprießen konnte. Diese Taktik erwies sich als ziemlich effektiv. Die hervorstechende Sacré-Cœur-Basilika wurde auf dem Montmartre errichtet, dem symbolträchtigen höchsten Punkt in Paris, wo die Kommune ihre Anfänge hatte, und sie wurde darauf geweiht, für die vermeintlichen Sünden der Kommunarden zu büßen (Harvey, 1979: 377; 2003: 311–40). Doch immer noch klingt Marx’ aufwühlende Grabrede nach: „working, thinking, fighting, bleeding Paris – almost forgetful, in its incubation of a new society, of the cannibals at its gates – radiant in the enthusiasm of its historical initiative!“ (1978b: 641),10 auch lange nachdem die Versailler Regierung und die Dritte Republik in Vergessenheit geraten sind. Die Ironie ist auffällig: Trotz aller Bemühungen in diese Richtung geriet die größte der verlorenen und vergessenen Revolutionen bei denen, die Geschichte machen wollten, weder in Verlorenheit noch in Vergessenheit. Selbst als die Mächtigen und Privilegierten versuchten, sie aus der Geschichte auszulöschen, ergriffen noch viele ihr rotes Banner und trugen es voran. Doch je mehr dieses „Fest der Unterdrückten“ bei den Armen und Entrechteten der Welt bekannt wurde, desto mehr wurde es aus der offiziellen Geschichte herausgeschrieben. Die Kommune wurde als Fußnote für kommunistische Revolutionäre an den Rand gedrängt und erst mit Russland und dann mit China in Verbindung gebracht. Erst mit den gescheiterten Studenten- und Arbeiterprotesten 1968 rückte die Pariser Kommune wieder in die öffentliche Aufmerksamkeit. Castoriadis (1992: 259; Hervorhebung im Original) verglich Paris im Mai 1968 mit der Kommune und stellte (auf beide Fälle be-
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zogen) fest: „[T]hese weeks [were] for us no less important and no less meaningful than three thousand years of Egyptian pharaonic history.“11 Solchermaßen kontextualisiert, erwiesen sich die Ereignisse von 1968 für die Machthaber als nicht weniger schreckenerregend als ihrerzeit die Kommune. Diese war jedoch nur kurzzeitig für diejenigen von Interesse, die nach anderen Möglichkeiten für Veränderung suchten. Nach wenigen Jahren geriet die Geschichte der Pariser Kommune wieder ins historische Abseits. Pilbeam (2001: 37) bezeichnete sie als „reformistisch“ und Malia (2006: 248) las sie nicht als revolutionär, sondern als „einen letzten tragischen Zufall“, wenn er auch zugestehen muss: „[S]ie hinterließ einen mächtigen Mythos für ,das nächste Mal‘“. Nichtsdestoweniger trug dieses scheinbar unmögliche Ereignis dazu bei, das Verständnis von Revolution neu zu gestalten und bereitete in vielerlei Hinsicht die im 20. Jahrhundert folgenden Revolutionen vor (vor allem Russland und China). Bezogen auf die Geschichte der verlorenen und vergessenen Revolutionen bleibt das Paradoxon bestehen. Einerseits ist diese Geschichte weder verloren noch vergessen, trotz bewussten und zielstrebigen Bemühungen, ihre Existenz zu leugnen. Es handelte sich um die erste großstädtische, proletarische Revolution, die erste, die in einer sich entwickelnden militärisch geprägten Industrienation stattfand (Billington, 1980: 346) und die erste, die eine völlig andere Organisation der Machtverteilung anstrebte. Außerdem markierte sie den Übergang von nationalen zu transnationalen Revolutionen (Billington, 1980: 347), was sich symbolisch zu einem nicht geringen Ausmaß darin niederschlug, dass fortan die internationale Revolutionshymne nicht mehr die französische „Marseillaise“ war, sondern die „Internationale“, die direkt nach dem Untergang der Kommune von einem ehemaligen Kommunarden geschrieben worden war. Gleichzeitig verdichtete sich die Geschichte der Pariser Kommune im Laufe der Jahre zu einem Mysterium, dem Kern jeder geheimen Geschichte der folgenden revolutionären Zeit, ein Vermächtnis, das relativ wenigen, und doch gleichzeitig vielen bekannt war und dessen Mythen und Erinnerungen weiterlebten.
Die proletarische Revolution in Mexiko-Stadt 1912 –1612 Es ist nicht ungewöhnlich, die Ereignisse in Mexiko als Sozialrevolution zu betrachten und im letzten Kapitel tauchten sie in der Revolutionsgeschichte von Freiheit und Befreiung auf. Nur wenige würden sich dagegen aussprechen, die Revolution in Mexiko 1910–20 als ersten großen sozialen Umbruch im 20. Jahrhundert und als weltweit erste umfassende Bauernrevolution anzuerkennen. Ihre größten Helden sind der radikale Agrarreformer Emiliano
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Zapata und der Sozialbandit Pancho Villa, zu dessen Gefolgschaft ländliche Arbeiter wie Bergarbeiter, Holzfäller und Eisenbahner gehörten.13 Das bedeutendste Vermächtnis der Revolution ist die Agrarreform und damit das Prinzip, dass Land und Öl und Bodenschätze den Bewohnern des Landes gehören. „[What it] emphatically was not was a workers’ revolution“ (Knight, 1984: 51; Hervorhebung im Original). Knight verweist darauf, dass keine Arbeiterpartei versuchte, an die Macht zu kommen, keine Arbeiterräte eingerichtet wurden und die Arbeiter keinerlei Anstrengungen unternahmen, die Industrie zu kontrollieren. Der Beitrag der Arbeiter war „limited and largely reflexive“ (1984: 51). Doch wo waren sie in diesem zunehmend industrialisierten Land? So wie es aussieht, befanden sich viele Arbeiter tatsächlich mitten drin. Die wachsende städtische Arbeiterschicht in Mexiko befand sich vor allem in Mexiko-Stadt, in den großen Hafenstädten Veracruz, Tampico, Acapulco und in den Städten an der Grenze zu den Vereinigten Staaten: Chihuahua, Juárez, Cananea. Der Arbeiterklasse in Mexiko ging es relativ gut und sie schloss sich mit Beginn der Revolution hauptsächlich den gemäßigten Kräften um Madero und seinen Oberschichts- und Elitekreisen an. Ich möchte hier jedoch nicht die ebenfalls stattfindenden wirklichen Kämpfe außer Acht lassen oder das Wachstum einer anarchistischen Arbeiterbewegung, die hauptsächlich mit den Brüdern Magón und den Magonista in Verbindung stand.14 Sie bildeten die treibende Kraft hinter der völlig in Vergessenheit geratenen sechs Monate währenden multinationalen, multiethnischen anarchistischen Republik Baja im Jahre 1911.15 Nichtsdestoweniger gab es die meisten Unruhen unter den Arbeitern in Mexiko-Stadt, das innerhalb des Porfiriato, der drei Jahrzehnte dauernden Diktatur von Porfirio Díaz, stark industrialisiert worden war, und es war auch dort gewesen, wo die Casa del Obrero Mundial („Haus des Weltarbeiters“) zur Jahrhundertwende gegründet worden war und dann von der Diktatur wieder stillgelegt wurde. Das Herannahen der Revolution brachte die Arbeiter wieder in den Kampf zurück, wenn auch zuerst „as individuals rather than as an organized force“ (Gilly, 2005a: 148). Im Sommer 1912 wurde die Casa wieder ins Leben gerufen. Die Casa war mehr als nur eine Arbeitervereinigung, sie wollte die Arbeiterbewegung beeinflussen sowie die Madero-Regierung und eine internationalistische und anarchistische Perspektive in die stattfindenden Ereignisse einbringen. Hart (1997: xii) fasst zusammen: „[Die] 150 000 Mitglieder wollten die Selbstverwaltung der Arbeiter in den Fabriken, Land für die Bauern und eine starke Einschränkung der Macht der Regierung und ausländischer Kapitalisten.“ Sie waren nach Gonzales (2002: 146) nicht an einem „Umsturz [des] kapitalistischen Systems“ interessiert und unterstützten Ma-
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deros hauptsächlich reformistisches Regime (doch siehe Richards, 2004: 26). Während der Diktatur Huertas 1913–14 (nachdem dieser Madero entmachtet hatte) wurde die Casa unterdrückt, um dann von Obregón auf die Seite der Konstitutionalisten gezogen zu werden – ein Geniestreich und eine nicht unkontroverse Entscheidung (Gilly, 2005a: 199). Dies führte zur Schöpfung der sagenumwobenen und überaus erfolgreichen (über die Jahre in der Erinnerung immer mythischere Formen annehmenden) „Roten Bataillone“. Diese Bataillone bestanden aus einer Ansammlung von „Tischlern, Maurern, Steinmetzen, Schneidern, Setzern, etc.“, die sich Zapata und Villa als „forces of reaction“ mit deutlichem Erfolg (McLynn, 2001: 344) entgegenstellten. Teils durch ihre Erfolge inspiriert und mit ihren Verbündeten, den Konstitutionalisten, mächtiger denn je, begannen die Mitglieder der Casa, ihre Positionen stärker voranzutreiben, sie gründeten überall Gewerkschaften und streikten, wo sie nur konnten. Doch die Konstitutionalisten begannen, zurückzurudern, lösten die Roten Bataillone auf und zogen die Eisenbahnarbeiter, die sich zu diesem Zeitpunkt unter militärischer Obergewalt befanden, zum Wehrdienst ein. Räumlichkeiten der Casa wurden geschlossen und der Druck auf die Arbeiterschaft wurde mit einer Mischung aus Versprechungen und Drohungen erhöht, die stark an die pan o palo – Politik („Brot oder der Stock“) erinnerte, mit der Gegnern während des Porfiriato begegnet worden war. Im Frühling 1916 schien ein Streik gegen die Regierung zu wichtigen Zugeständnissen zu führen; den nicht eingehaltenen Versprechungen folgte ein weiterer Generalstreik im Sommer 1916. Zu diesem Zeitpunkt stellte sich die Regierung brutal ihren vorherigen Verbündeten entgegen, erklärte sie nach Kriegsrecht zu Hochverrätern und drohte Streikenden mit der Todesstrafe. Der Streik brach zusammen und mit ihm die Casa. In gewisser Weise war die Arbeiterschaft einen Vertrag mit dem Teufel eingegangen, indem sie sich nicht den progressiven agrarischen Kräften Zapatas im Süden oder Villas radikalen agrarischen und ländlichen Arbeitern im Norden anschloss, sondern den gemäßigten konstitutionalistischen Kräften (und Überbleibseln des Porfiriato) (siehe Dunn, 1989: 50). Am Ende stellte es sich als „eine seltsame Allianz für das revolutionäre Proletariat“ (Dunn, 1989: 68) heraus, und eine ziemlich kleine Arbeiterbewegung musste feststellten, dass sie überflüssig war und leicht abgedrängt werden konnte. Wenn sie auch noch etwas bekannter ist, als die anarchistische Republik in der Baja, ist doch auch diese Episode innerhalb des Wirbelwindes der Mexikanischen Revolution größtenteils in Vergessenheit geraten. In Diskussionen oder Betrachtungen zur Unterstützung der mexikanischen Arbeiterschaft der 1968er Studenten oder der Beziehungen zwischen Arbeiterschaft und modernen Zapatisten
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ist es fast unmöglich, irgendeinen Hinweis auf das Vermächtnis der Casa del Obrero Mundial zu finden. Im Revolutionsmuseum in Chihuahua war im Jahre 2000 ein Museumsangestellter ängstlich darum bemüht, auf die vielen verschiedenen Schichten hinzuweisen, aus denen diejenigen stammten, die mit Villa und der División del Norte („nördliche Division“) ritten und kämpften. Arbeiter, so sagte er, seien der Schlüssel gewesen. Sie waren organisiert, sie waren zuverlässig und sie arbeiteten hart. Sie seien nicht so gewesen, so fügte er hinzu, wie die Arbeiter in Mexiko-Stadt, die gemeinsame Sache mit der Regierung machten und nicht wussten, was sie wollten.16 Für manche gehören die Arbeiter also eher zu den Verlorenen als zu den Vergessenen.
Sozialistische Rebellen im ländlichen Oklahoma: die Green Corn Rebellion 191717 Die Vereinigten Staaten werden nur selten mit Sozialismus in Verbindung gebracht. Im 19. Jahrhundert gab es kleine Grüppchen von Utopisten, die hauptsächlich in ländlichen Gegenden versuchten, Modellgesellschaften zu erschaffen, und spätere Immigranten, hauptsächlich Deutsche, brachten sozialdemokratische Vorstellungen mit sich, die auf europäischen sozialistischen Idealen aufbauten. Zur Zeit der Jahrhundertwende waren die meisten Sozialisten des Landes in der Sozialistischen Partei Amerikas organisiert, einer breit aufgestellten, viele Ethnien und Klassen umfassenden Versammlung von ländlichen und städtischen Arbeitern. Viele von ihnen waren Immigranten, die häufig Landarbeiter waren, bodenständige Farmer, Sozialreformer und Geschäftsbesitzer. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine deutliche, wenn auch häufig regional begrenzte Anhängerschaft und einige Sozialisten wurden zum Bürgermeister gewählt, in das Parlament des Bundestaates, sie fungierten als Staatsbeamte – und in North Dakota gab es sogar einen pro-sozialistischen Gouverneur. Der Präsidentschaftskandidat der sozialistischen Partei, Eugene Debs, erzielte in den Wahlen 1912 und 1920 über 900 000 Stimmen. Die Great Plains schienen zu dieser Zeit ein besonders fruchtbarer Boden zu sein; wie Burbank (1976) es ausdrückt: „[F]armers voted red.“ Obwohl man ihn gemeinhin nicht mit radikaler oder auch nur fortschrittlicher Politik in Verbindung bringt, war der Bundesstaat Oklahoma in den südlichen Great Plains ein Ort, auf dessen kargem Boden die sozialistische Partei und verwandte Organisationen gut gediehen und der sich als einer der sozialistischsten Bundesstaaten des ganzen Landes erwies. Im Jahre 1912 gab es hier den höchsten Stimmanteil für den sozialistischen Kandidaten und
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Oklahoma hatte auch „den höchsten Pro-Kopf-Parteianteil in Amerika“ (Lipset and Marks, 2001: 135). Indem sie auf „drei der radikalsten Dokumente aller Zeiten, nämlich das Kommunistische Manifest, die Unabhängigkeitserklärung und die Bergpredigt“ (Bissett, 1999: 196) aufbauten, schafften es die Sozialisten in Oklahoma, Teil der Gemeinschaft zu werden. In den Wahlen 1914 fielen über 20 Prozent der Stimmen dem Gouverneurskandidaten der sozialistischen Partei zu und „mehr als 175 Sozialisten wurden in dem Jahr in Kommunal- und Bezirksämter gewählt, sechs von ihnen sogar ins Parlament“ (Bissett, 1999: 126). Mit ihrer agrarisch geprägten Perspektive, die die Landarbeiter als die Arbeiterklasse betrachtete (Bissett, 1999: 5) und unter Verwendung der Bildlichkeit und Sprache des Christentums (Bissett, 1999: 91), um ihre Botschaft zu verbreiten, schufen sich die Sozialisten eine starke Basis. Tausende versammelten sich im Spätsommer nach der Ernte bei sogenannten „sozialistischen Camps“ („socialist encampments“) zu Musik, Unterhaltung und Bildung (Bissett, 1999: 121–2). Alles schien in die richtige Richtung zu gehen. Doch dann traten die Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg ein. Es war eine Sache, in Oklahoma im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts dafür einzutreten, dass Schwarze von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen durften, oder dass Frauen dieses überhaupt erhielten. Es galt als legitim, die Regelungen und Preise in der Landwirtschaft zu kritisieren und sogar eng mit der organisierten Arbeiterschaft zusammenzuarbeiten (Sellars, 1998).18 Eine ganz andere Sache war es wiederum, den Kriegseintritt der USA nicht gutzuheißen und sich gegen das Militärkommando zu stellen. Die Green Corn Rebellion war ein viele Ethnien („blacks and poor whites and Seminole Indians“; Dunbar-Ortiz, 1997: 14) und viele Klassen umfassender, desorganisierter und etwas chaotischer Aufstand im August 1917 an den Ufern des South Canadian River in Hughes County, Oklahoma. Ziel war es wohl, gegen den Eintritt der USA in den europäischen Krieg und den damit verbundenen Einzugsbefehl zu demonstrieren, vielleicht ging es auch um mehr. Dunbar-Ortiz (1997: 16) zufolge hatten die Protestierenden entschieden, sich aus ihren Fesseln zu befreien, in Washington einzumarschieren, dort Präsident Wilson zu stürzen (siehe Burbank, 1976: 134), den Krieg zu beenden und die nationale Wirtschaft zu reformieren, „[um] ,der Arbeiterklasse wieder zu dem vollen Ertrag ihrer Arbeit zu verhelfen.‘“ Sie brannten Brücken nieder, durchschnitten Telegraphenleitungen und wollten Besitztümer konfiszieren. Sie waren bewaffnet (anscheinend mit Pistolen und kleinkalibrigen Gewehren) und waren sich darin einig, Gewalt anzuwenden. DunbarOrtiz (1997: 16) stellt die Behauptung auf: „[Sie] vergifteten Essen und Brunnenwasser.“ Unter der Mitwirkung von einigen Muskogee-Indianern kam es zu einer Vielzahl von Handlungen:
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Sie teilten sich in Truppen auf, einige rekrutierten alle, die sich der Rebellion bisher noch nicht angeschlossen hatten, andere brannten Scheunen nieder, wieder andere sprengten die Texaco-Pipeline in die Luft, einige Gruppen zerstörten Eisenbahnbrücken und kappten Telefon- und Telegraphenkabel, und andere rissen Zäune nieder und befreiten die Nutztiere, damit diese die Baumwollfelder zertrampelten. Nach einem langen Sommertag der Zerstörung versammelten sich die etwa 500 Rebellen in ihrem neu befreiten Gebiet, um zu feiern, zu schlemmen und sich auszuruhen. (Dunbar-Ortiz, 1997: 17)
Unterstützt wurden sie vom radikalen Flügel der Sozialistischen Partei Oklahomas und von einigen befreundeten Weggefährten der quasi-sozialistischen Working Class Union aus Arkansas. Die Reaktion ihrer Freunde und Nachbarn kam schnell und heftig. Rasch fand sich eine bewaffnete Truppe zusammen, es kam zu einigen Gefechten und die Rebellen wurden auseinander getrieben (Burbank, 1976: 135). Sieben starben, einige Hundert wurden festgenommen und fünfundsiebzig wanderten hinter Gitter. Auch wenn es noch einige Informationen zu diesem Ereignis gibt, so wurde es doch schon vor langer Zeit aus der offiziellen Geschichte der Vereinigten Staaten und selbst Oklahomas entfernt. Vieles von dem, was wir heute wissen, ist zeitgenössischen Artikeln aus den Lokalzeitungen entnommen oder Artikeln, die damals in sozialistischen Magazinen erschienen. Eine weitere Quelle sind Erinnerungen Einzelner, beispielsweise die, welche DunbarOrtiz (1997) von ihrem Vater hörte, oder die von Cunningham und Friesen (1999) gesammelten. Die Informationen sind also dort draußen und es ist möglich, Menschen zu finden, die Geschichten von dem scheinbar Unmöglichen erzählen – Sozialisten in einem der konservativsten Bundesstaaten der USA, die versuchen, ihre Region zu „befreien“ und dabei verquere Ideen davon haben, die Regierung zu stürzen und das Land komplett zu verwandeln. Und zumindest einer Version der Erzählung zufolge wollten sie mit der Angelegenheit fertig sein, bevor es zur Pflanzzeit wieder nach Oklahoma ging. Dies ist eine verlorene und vergessene Geschichte, doch eine, die es durchaus wert ist, wieder entdeckt zu werden, wenn auch nur, um uns an tief schlummernde Hoffnungen und Wünsche zu erinnern.
Der Versuch, einen Sack Flöhe zu hüten: einige weitere flüchtige Beispiele Der Ereignisse, die man möglicherweise aufführen könnte, gibt es endlos viele und es wäre ein völlig sinnloses Unterfangen, sie alle sammeln zu wollen. Doch man sollte einige weitere erwähnen, um einen Eindruck von der ganzen
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Breite und dem Ausmaß der Möglichkeiten zu ermöglichen; sie werden hier mehr oder weniger geographisch geordnet. In manchen Fällen gibt es viel zu entdecken, in anderen scheinbar wenig: ein Name, ein Ort, ein Moment, der für irgendjemanden irgendwo einmal von sehr großer Bedeutung war. In Lateinamerika und der Karibik gab es beispielsweise unter anderem die marxistische Kolonne Prestes in Brasilien von 1924 – 27, die nationalistische Rebellion Sandinos in Nicaragua 1926–34 und Farabundo Martís revolutionäre marxistische Vision in El Salvador 1932, die zur Entstehung des dreitägigen Arbeiter-Bauern-Sowjets in Tacuba führte (Paige, 1997: 118). In den frühen 1920ern waren in Chile und an anderen Orten die Wobblies („Industrial Workers of the World“) aktiv. Im Jahre 1948 begann in Kolumbien la violencia. Ihr schwieriges Vermächtnis, welches bis heute äußerst zwiegespalten wahrgenommen wird, ist immer noch präsent und aktiv. In Ecuador fand 1944 die „Glorreiche Mairevolution“ statt. Der von der Frente Obrero y Liberación (Anderson und Dynes, 1975) angeführte Aufstand 1969 in Curaçao liegt zwar im Dunkeln, ist jedoch bekannter als die Volksrepublik von Greenwich Town in Jamaika 1980, die in diesem Land kaum den Status einer Fußnote innehat (Gray, 2004). Was im 21. Jahrhundert in Venezuela passiert, ist unklar – handelt es sich wirklich um die Bolivarische Revolution? Währenddessen sieht Gilly (2005b) die erste Revolution des neuen Jahrhunderts in Bolivien. Europa zu erfassen, ist völlig unmöglich, einige wenige Beispiele werden genügen müssen. Es gab die Bauernaufstände in Deutschland 1525 (von einigen als erste echte marxistische Revolution gesehen19) und die Neun-Tages-Revolte von Masaniello im damals spanischen Neapel 1647. Es gab Kosakenrebellionen 1670–71 („Razins Revolte“) und 1707–08 (die „Bulavin-Rebellion“), in denen ein besseres Leben für die Bauern und weniger Regierungskontrolle gefordert wurden. Im Jahre 1910 kam es in Portugal zu einer wenig bekannten Revolution und beinahe 65 Jahre später, im Jahre 1974, führte die „Nelkenrevolution“ zur Unabhängigkeit für das portugiesische Afrika. 1918 kam es in Berlin zu einem bedeutungsvollen revolutionären Moment.20 1919 gab es kurzlebige Räterepubliken in München und Ungarn, 1923 auch in Hamburg. Außerdem gab es die 20 Jahre des „Roten Wien“ zwischen den Weltkriegen (1918–38) und die Finnische Revolution 1917 (Alapuro, 1998). In Spanien kam es 1934 zum Aufstand der Bergleute in Asturien und von 1936 bis 1939 zur Radikalisierung in Madrid, im „Roten Barcelona“ und in Andalusien. Die französische Niederlage bei Dien Bien Phu – meist als vietnamesischer Triumph betrachtet – und der folgende Rückzug aus Südostasien brachten die imperialistische Machtposition des Landes auf der ganzen Welt ins Wanken, nicht zuletzt in Nordafrika. Binnen sechs Monaten kam es zum
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Krieg in Algerien und nach zwei Jahren waren Marokko und Tunesien unabhängig. Ungarn 1956 und der „Prager Frühling“ 1968 spielten auch in den osteuropäischen Revolutionen 1989 eine bedeutende Rolle und blieben den Menschen in ganz Europa in Erinnerung. Das baskische Volk in Nordspanien und Südfrankreich kämpft bis heute für die Selbstbestimmung. In den Vereinigten Staaten kam es während der amerikanischen Revolution zu vielen verschiedenen kleinen Kriegen, doch diese werden heute alle zu einem großen verschmolzen; die unzähligen Sklavenrevolten, die im vorigen Kapitel erwähnt wurden, die noch nicht näher untersuchten Kämpfe der indigenen Bevölkerung und John Browns guerrilla-basierte „Verfassung für eine freie Republik“ („Constitution for a Free Republic“) von 1855 – 59. Es gab die „Haymarket Martyrs“ im späten 19. Jahrhundert und die indigenen Geistertänzer. Im frühen 20. Jahrhundert kam es immer wieder zu Massakern an Arbeitern, die sich zu organisieren versuchten. Außerdem gab es religiöse oder politische Bewegungen beziehungsweise Experimente wie die sozialistischen „Llano del Rio“-Gemeinschaften in Kalifornien (1914 –18) und Louisiana (1918–38). In Los Angeles kam es während des Zweiten Weltkriegs zu sogenannten „Zoot Suit Riots“ zwischen Soldaten und mexikanisch-amerikanischen Jugendlichen. Zur gleichen Zeit wurden Amerikaner japanischer Abstammung in Internierungslager gesperrt. 1970 wurden unbewaffnete Studenten an der Jackson State und der Kent State University erschossen und in Berkeley kam es nach dem „blutigen Donnerstag“ (15. Mai 1969) zu mehreren „People’s Park Riots“. Ebenfalls an diese Stelle gehören die New Yorker „Stonewall Riots“ von 1969 und die massiven Proteste gegen die World Trade Organization (WTO) in Seattle 1999. Weitere Anti-WTO-Mobilisierungen folgten in Doha 2001, Cancún 2003 und Hong Kong 2005. Im April 2001 kam es in Quebec City in Kanada zu massiven Protesten gegen das Abkommen zur freien Handelszone in Süd- und Mittelamerika (Free Trade Area of the Americas (FTAA)). In Asien gab es 1904 in Ost-Java Kasan Mukmins Volksaufstand mit dem Ziel, die „Europäer“ zu stürzen. Die koreanische Unabhängigkeitsbewegung des Ersten März 1919 beeinflusste die chinesische Bewegung des Vierten Mai, sowie Gandhi in Indien. In ihr spielte Yu Gwansun eine Rolle, die als koreanische Jeanne d’Arc bekannt wurde. In China gab es 1927 wichtige Ereignisse in Guangzhou (in der Provinz Kanton), dort kam es zum „Drei-Tages-Sowjet“ (der sogenannten „Pariser Kommune des Ostens“), und in Hunan, wo größere Unruhen zur Herbsternte stattfanden. Der „Phu Rieng Do“-Arbeiteraufstand in Vietnam 1930 war ein großer Sieg für die sich gerade organisierenden kommunistischen Kräfte. Eine frühe Frauenbewegung führte zur 1859er „Upper Cloth“-Revolte in Teilen Indiens. In Südasien gab es von 1946–51 die Telan-
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gana-Bewegung, eine von Kommunisten angeführte Bauernrevolte im Prinzenreich Hyderabad (Welch, 1980) und in der Region Naxalbari im Bezirk Darjeeling in West-Bengalien kam es 1967 zu einem Aufstand, dessen Einfluss bis heute spürbar ist. Von 1920 bis 1921 gab es in Persien die wenig bekannte und kurzlebige Räterepublik Gilan (manchmal auch als „Persische Sozialistische Sowjetrepublik“ bezeichnet). Und der „Siakal-Vorfall“ im Iran 1971 ist zwar kaum mehr bekannt, könnte aber eine Rolle in der Iranischen Revolution 1979 gespielt haben. Die Beteiligten des burmesischen „8888-Aufstands“ im Jahre 1988 forderten Demokratie – und man reagierte mit Waffengewalt. Ein beständiges Beispiel für Widerstand liefert die indische Baliapal-Bewegung im späten 20. Jahrhundert. In der arabischen Welt und in Afrika gab es Ereignisse wie die KaocenRevolte der Tuareg im nördlichen Niger gegen die Franzosen 1916 –17. Die Dhofar-Rebellion von 1962–75 erzwang Modernisierungsmaßnahmen im Oman und endete erst mit der Intervention iranischer Truppen. An der Schlacht von Mirbat 1972 waren britische und jemenitische Streitkräfte beteiligt. Die sozialistische Revolution 1962 im Jemen wurde zu einem Schlüsselereignis für den arabischen Anti-Imperialismus und den Nasserismus; ihr folgte von 1962–70 im Nordjemen ein Bürgerkrieg. Der nigerianische Bürgerkrieg 1967–70 endete beinahe in der Gründung des neuen Staates Biafra. Trotz ihres großen regionalen Einflusses wurde den Revolutionen in Sansibar 1964 und in Burkina Faso 1983 nur wenig Aufmerksamkeit zuteil. Auch die revolutionären Möglichkeiten, die sich 1979 in Ghana boten, sind bisher größtenteils unerforscht. Der Kampf der von den Sahraui gegründeten Polisario („Volksfront für die Befreiung von Saguia el-Hamra und Río de Oro“) in der westlichen Sahara besteht in unterschiedlichen Formen bereits seit über einer Generation. Es gab Dutzende von „blutigen Sonntagen“ auf der ganzen Welt. Zu ihnen gehören: London am 13. November 1887, eine Demonstration gegen die Zwangsmaßnahmen in Irland; der 22. Januar 1905 in St. Petersburg, als unbewaffnete, friedliche Demonstranten Zar Nicholas II eine Petition überreichen wollten und von der kaiserlichen Garde niedergeschossen wurden; das Everett-Massaker, eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen örtlichen Behörden und Angehörigen der „Industrial Workers of the World“ (IWW, die „Wobblies“) in Everett, Washington, am 5. November 1916; der blutige Sonntag während des Irischen Unabhängigkeitskrieges am 21. November 1920 in Dublin; der 7. März 1965, als 600 Bürgerrechtsdemonstranten außerhalb von Selma, Alabama von Bundes- und örtlicher Polizei mit Gummiknüppeln und Tränengas attackiert wurden und schließlich der 30. Januar 1972, als 27 Bürgerrechtsdemonstranten in Derry, Nordirland, erschossen wurden.
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All diese Ereignisse und Millionen weitere gehören zu unserem gemeinsamen Erbe, sie sind Teil des Kampfes, mit dem die Menschen ihre und unsere Welt verändern wollten, Teil der Geschichte der verlorenen und vergessenen Revolutionen. Man sollte dabei nicht vergessen, dass diese Kämpfe für diejenigen, die sie lebten, selten verloren oder vergessen sind, genauso wenig wie für diejenigen, die von ihnen hören oder die ihre Erinnerung aufrecht erhalten wollen. Und obwohl viele nicht in den Geschichtsbüchern oder bei regionalen und nationalen Feierlichkeiten auftauchen, heißt das nicht, dass sie nicht in unserer Erinnerung fortbestehen, als Mythen, die auf ihre Erweckung und auf eventuelle Nachahmer warten. Wie also bleiben diese unbekannteren Momente lebendig?
„Überträger“ der Revolution: eine kurze Nebenbemerkung21 An dieser Stelle darf eine weitere Angelegenheit nicht unerwähnt bleiben. Die Verbindungen zwischen den verlorenen und vergessenen Momenten (und den größeren Prozessen, von denen sie ein Teil sein mögen) entstehen nicht einfach aus der Luft heraus. Ob sie hierarchisch oder lateral sind, direkt oder indirekt, durch aktive Agitatoren oder passive Kommunikatoren vermittelt, die Verbindungen werden durch Menschen hergestellt, die ihren Worten Taten folgen lassen, wenn auch manche mehr als andere. Bei vielen handelt es sich um nur regional oder national bekannte Figuren, nicht besonders berühmt aber wichtig – hier mag man an Fédon gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Grenada denken, die Brüder Magón in Mexiko oder auch Mustafa Kamil und Muhammad Farid beim Aufstand in Ägypten 1919. Manche wurden zu überregional und sogar international bekannten Figuren, beispielsweise Amilcar Cabral von den Kapverden oder Ho Chi Minh aus Vietnam in den 1970ern. Im Laufe der Jahrhunderte haben Tausende, absichtlich oder unabsichtlich, die Botschaft von Widerstand, Rebellion und Revolution verbreitet. Einige von ihnen gehören zu denen, die nach Hobsbawm (1988: 12) mit Bertolt Brechts Worten „die Länder öfter wechseln als die Schuhe“. Das moderne Paradebeispiel ist hier wohl Ché Guevara, der argentinische Arzt, der am Demokratieexperiment in Guatemala teilnahm, mit den radikalen Sozialdemokraten und jungen Marxisten in Mexiko zusammenarbeitete, wo er mit Exilkubanern in Kontakt kam, dann dabei half, die Kubanische Revolution anzuführen, daraufhin in den Kongo ging und schließlich nach Bolivien übersiedelte, wo er starb; teils durch die Machenschaften derer in den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, die das Gefühl hatten, seine Reisen und
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Versuche, Revolutionen anzufachen, sollten besser enden. Beim Verlassen Kubas 1965 schrieb diese rastlose Gestalt an ihre Eltern: „wieder einmal spüre ich Rosinantes Rippen an meinen Fersen“ (1967b: 142), womit er auf Don Quixotes edles Ansinnen anspielte, an verschiedenen Orten für Gerechtigkeit zu sorgen.22 Und wie wir bereits gesehen haben, ist es sogar noch viel verblüffender, wie viele Orte Ché nach seinem Tod besucht zu haben scheint. Heutzutage ist er natürlich durch seine Omnipräsenz zu etwas beinahe Alltäglichem geworden. Thomas Paine war ein Brite, der die Revolution sowohl nach Amerika als auch nach Frankreich bringen wollte und das Ziel einer weltweiten „Republik der Menschen“ („Republic of Man“) verfolgte – Freiheit und Demokratie überall auf der Welt. Sein Ruf lautete: „[E]s steht in unserer Macht, die Welt neu zu beginnen. Eine Situation wie heute hat es seit den Tagen Noahs nicht gegeben. Die Geburt einer neuen Welt steht bevor“ (2000: 44) – und dieser Ruf hallte wider in „towns as different as Dublin and Dubrovnik, Philadelphia and Warsaw, Berlin and Santo Domingo“ (Keane, 1995: x). Und immer noch wird von Radikalen in Lateinamerika und Asien auf Paine verwiesen (Dyck, 1993: 117); zuletzt sogar noch vom Präsidenten der Vereinigten Staaten in seiner Antrittsrede (Obama, 2009). In den 1830ern und 1840ern kämpfte die französische Tochter eines peruanischen Vaters Flora Tristan für Sozialismus, Feminismus, bessere soziale Umstände und die Verbindung von Frauenund Arbeiterrechten in Peru, Frankreich und Großbritannien. Nimtz (2002) verweist darauf, dass Marx und Engels eigentlich „prototypical transnational actors“ sind, nicht wegen ihrer Reisen, sondern wegen ihrer Bemühungen um weltweite Kommunikation und Vereinigung. Der Italiener Giuseppe Garibaldi wird häufig als Ché Guevara des 19. Jahrhunderts bezeichnet (doch siehe Sinclair, 1998: 113; oder Riall, 2007: 8, die beide zu einem umgekehrten Schluss kommen).23 Garibaldi kämpfte für den Liberalismus in Italien sowie Uruguay und wandte dann seine Energien der Sozialistischen Internationalen zu; 30 Jahre lang war er in der Region, die (zum Teil dank seiner Bemühungen) zum späteren Italien werden sollte, an jedem Kampf von Bedeutung beteiligt. Er war auf der ganzen Welt für seinen leidenschaftlichen Kampf für die Gerechtigkeit berühmt. Es gab einmal eine kurze Zeit (etwa von 1919– 39), zu der tatsächlich eine internationale kommunistische Verschwörung existierte, die die Weltherrschaft an sich reißen wollte, wie so viele im „Westen“ immer fürchteten. Die Agenten der Komintern waren Menschen wie der allgegenwärtige indische Marxist M. N. Roy, der eine marxistische Rebellion in Indien anführte, dabei half, kommunistische Parteien in Mexiko und Indien zu gründen, und wichtige Rollen an so diversen Orten wie Deutschland, dem Nahen Osten, Russ-
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land, Indonesien und China spielte. Die deutsche Aktivistin Olga Benario (später Prestes) war in Deutschland, Russland, Frankreich, Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Brasilien aktiv. Ihr erster Ehemann Otto Braun (ein weiterer deutscher Marxist) war überall in Europa tätig, wurde jedoch (als Li De) am berühmtesten für die Rolle, die er in der Chinesischen Revolution spielte.24 Dies sind natürlich nur einige wenige der uns bekannten Vertreter. Wesentlich häufiger werden die revolutionären Neuigkeiten von Menschen verbreitet, von deren Existenz wir nicht einmal ahnen. So berichtet zum Beispiel Linstroth (2000) detailliert davon, wie Basken in Zentralamerika kämpften, auf Kuba und in Nordafrika ausgebildet wurden, vertraut waren mit den Kämpfen der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, den kolumbianischen marxistischen Revolutionären und den Zapatisten in Mexiko und somit dabei halfen, Geschichten in drei Kontinenten zu verbreiten, in vier oder mehr Regionen und bei unzähligen Menschen. Revolutionäre aus aller Welt haben ihre Geschichten überall auf der Welt verbreitet.
Verloren und vergessen, doch nur eine Erinnerung entfernt Die hier vorgestellte Geschichte der verlorenen und vergessenen Revolutionen ist nicht unkompliziert und viele mögen an der Auswahl der aufgeführten Beispiele etwas auszusetzen haben. Die Fälle, von denen wir wissen, selbst wenn sie sich nur am Rande unseres Bewusstseins befinden, gehören zu unserem kollektiven Gedächtnis. Sie schlummern direkt unter der Oberfläche und warten darauf, aus dem „reichen Fundus an Geschichten, denen alle [Revolutionäre] einen hohen Stellenwert einräumen“ (Anderson, 1992: xii), wiedererweckt zu werden. „Revolutionen“, so sagte Zapata, „werden kommen und Revolutionen werden gehen, doch ich werde mit meiner weitermachen“ (Womack, 1970: 197–8). Zapatas Revolution erwies sich zwar weder als verloren, noch als vergessen, doch seine Aussage hallt nach. Obwohl es die berühmten Revolutionen, die großen Rebellionen und die großangelegten Akte des Widerstandes sind, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, ist es durchaus möglich, dass im Endeffekt die kleineren, regional begrenzten, ja selbst die alltäglichen Taten die bedeutungsvollen sind. Doch haben sie die größte Bedeutung? Das lässt sich nicht so einfach beantworten. Thomas Jefferson, der unbestrittenerweise etwas von Revolutionen verstand, oder zumindest von wichtigen politischen Rebellionen, war im Bezug auf Shays’ Rebellion (1786–87) der Ansicht: „[A] little rebellion now and then is a good thing, and as necessary in the political world as storms in the physical“ (1955a: 93). In
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einem weiteren Brief äußerte sich Jefferson ähnlich: „God forbid we should ever be 20 years without such a rebellion“ (1955b: 355). Solche Ereignisse sind seiner Ansicht nach notwendig, damit die Herrschenden von Zeit zu Zeit daran erinnert werden, dass ihr Volk den Geist des Widerstandes aufrechterhält. „Let them take arms,“ fährt er etwas düsterer fort (wenn dies auch eindeutig faszinierend auf einige romantische Revolutionäre wirken muss), „the tree of liberty must be refreshed from time to time with the blood of patriots & tyrants. It is its natural manure.“ In weiten Teilen der Geschichte von den verlorenen und vergessenen Revolutionen geht es um die Art Revolutionen, von denen Jefferson spricht, und es wurde mit ziemlicher Sicherheit das Blut von Patrioten, Tyrannen und vielen anderen vergossen. Die Form von Widerstand, Rebellion und Revolution, die hier dargestellt wurde, mag wenig episch und wenig großartig sein und könnte sogar etwas lächerlich erscheinen (man denke an die zwölf Tage währende sozialistische Republik in Chile, die Sozialrevolutionäre in Oklahoma oder die „Volksrepublik“ auf Jamaika). Für die Beteiligten jedoch sind diese Ereignisse durchaus real und bedeutungsvoll und von Zeit zu Zeit tauchen sie auf überraschende Weise wieder auf – so lassen sich beispielsweise die Wurzeln der Sozialisten, die in Chile 1970 an die Macht kamen, bis zu den sozialistischen Ereignissen 1932 nachverfolgen. Dies ist außerdem eine Erinnerung daran, dass diese Geschichte deutlicher als irgendeine der anderen zeigt, wie überwältigender Macht mit Geduld und Akzeptanz entgegengetreten wird, obwohl der Wille besteht, diese Macht herauszufordern – mit Symbolen, Worten, Gesten und manchmal auch mit Schweigen. Zusammen mit den großen Geschichten von Frankreich 1789, Russland 1917 oder Kuba 1959, sind dies die Geschichten, auf die sich die Menschen überall auf der Welt beziehen, die sie umschreiben und zu den ihren machen, wenn sie die Erzählungen von ihrem eigenen Leben und Kampf erstellen. Selbst wenn sie nicht die Vergangenheit wiederherstellt, die Gegenwart (neu) vermittelt oder die Zukunft erschafft, so ist es doch ihre Geschichte von Widerstand, Rebellion und Revolution.
Anmerkungen 1 Diese Ausdrücke stehen kurz davor, in die Nutzlosigkeit abzudriften; dabei ist ihre Bedeutung eigentlich relativ eindeutig und sollte noch eindeutiger werden. Einige Versuche der Bedeutungsklärung finden sich bei Scott, 1985 (alltäglicher Widerstand), indirekt bei Hadden, 2001: 23 (alltägliche Rebellion) und etwas versteckt bei Becker, 1996: 19 (alltägliche Revolution). Mit „alltäglicher Revolution“ („everyday revolution“) ist nicht „the revolution of everyday life“ gemeint (Vaneigem, 2001).
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2 Hierbei möchte ich natürlich nicht außer Acht lassen, dass unbeabsichtigte Konsequenzen sich zwangsläufig verselbständigen und dies nicht immer einkalkuliert werden kann; außerdem gibt es immer äußere Umstände, die nicht kontrollierbar sind. 3 Dies Letzte ist eine Paraphrase des Filmtitels Sur le passage de quelques personnes à travers une assez courte unité de temps („Über das Durchschreiten einiger Personen eines überaus kurzen Zeitraums“) aus dem Jahr 1959. Der Regisseur war Guy Debord, der führende Theoretiker der Situationisten. 4 „Better to keep it quiet, child – if they have to ask, they don’t know.“ Mit diesem Rat wollte ein Verwandter eines Arztes aus Grenada diesen von dem mit mir vereinbarten Interview bezüglich der dortigen Revolution abhalten. 5 Das hier verwendete Konzept der Imagination („imaginary“) bezieht sich auf Castoriadis’ (1998: 3) Definition, nach der es sich um eine radikale „creation of forms/figures/images“ auf individueller wie auch sozialer Ebene handelt. Das Konzept der „revolutionären Imagination“ („revolutionary imaginary“) ist Singer (1986) entliehen. Lippens (2003) liefert eine spannende Analyse der zapatistischen „imaginary of justice and punishment“, die auf der psychoanalytischen Arbeit Lacans aufbaut, der oft als Schöpfer dieses Konzepts genannt wird. 6 Egerton (2002: xiii) beschreibt sie als eine „eskapistische Rebellion“ („escapist rebellion“), also als „less coherent“ und „less overtly political“. 7 Das schöne und sich immer größerer Beliebtheit erfreuende Schachtelwort „folksonomy“ stammt von Thomas Vander Wal und bedeutet inzwischen eine Art kollektive, von den Nutzern erschaffene, nicht-hierarchische „bottom up“-Taxonomie; siehe http://en.wikipedia.org/wiki/Folksonomy. Man sollte erwähnen, dass Vander Wal diese Verwendungsweise des Wortes abgelehnt hat („[It is] completely unglued from anything I recognize“; www.vanderwal.net/random/entrysel.php?blog=1750). Seine ursprüngliche Definition, die sich nicht allzu sehr von der augenblicklichen Verwendungsweise zu unterscheiden scheint, ist hier zu finden: www.vanderwal.net/ random/entrysel.php?blog=1750. Hier mag man an Borges (1975: 104) denken, der in einem wundervollen Essay vor den Gefahren der Klassifizierung warnt: „[O]bviously there is no classification … that is not arbitrary and conjectural.“ 8 Dieser Abschnitt ist stark an Horne, 1965; Tombs, 1999 und Shafer, 2005 angelehnt. Ich danke Leslie Haire. 9 Siehe hierzu insbesondere Gullickson, 1996 und Eichner, 2004. 10 Arendt (1965: 64) äußert sich erstaunt über Marx’ Begeisterung für die Kommune, denn „[it] contradicted all his theories and all his predictions.“ 11 Paz (1975: ix) begreift Mexiko 1968 als Metapher der Pariser Kommune. 12 Dieser Abschnitt ist stark an Gilly, 2005a; Hart, 1997 und Knight, 1990a, 1990b angelehnt. 13 Knight (1984: 65) bezeichnet sie als „Halbproletarier“ („semi-proletarians“), was treffend erscheint. 14 Welche Benjamin (2000: 54 – 5) weniger als „a revolutionary faction“ denn als „revolutionary (or anarchist) ,voice‘“ bezeichnet.
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15 Anfang Mai 1911 fiel eine kleine Armee von mexikanischen und internationalen (hauptsächlich aus den USA stammenden) Revolutionären, die mit Magón und der anarcho-sozialistischen mexikanischen liberalen Partei in Verbindung standen, von den Vereinigten Staaten aus in Tihuana in der Baja California in Mexiko ein. Die Revolutionäre besiegten das dort stationierte mexikanische Militär und gründeten eine Republik. Siehe hierzu insbesondere Blaisdell, 1962; Hart, 1997: 254; 2006: 364; Taylor, 1999. 16 Interview mit einem Museumsangestellten (2000), Revolutionsmuseum in Chihuahua, Mexiko. 17 Dieser Abschnitt lehnt sich an Burbank, 1976; Bissett, 1999; Lipset und Marks, 2001 an. 18 Angesichts der in diesem Kapitel behandelten Themen scheint es erwähnenswert, dass in dieser Zeit die Wobblies, die schließlich als eine internationale Arbeiterorganisation konzipiert sind, in Oklahoma, in der Baja California und in Chile vertreten waren (Alba, 1968: 47). 19 Eine etwas überholte Ansicht, die im früheren Osteuropa recht verbreitet war; siehe beispielsweise Ozment, 1981: 272; Zagorin, 1982: 38; Fulbrook, 2004: 40. 20 Doch man beachte Webers Beschreibung der Ereignisse als „blutiger Karneval“, der den „ehrenhaften Namen der Revolution“ nicht verdient „the honorable name of revolution“ (Mommsen, 1990: 296); ich bedanke mich bei Harald Wydra für den Hinweis. 21 Dieser Abschnitt ist stark an Selbin, 2008: 142 – 3 angelehnt. 22 Die komplizierte und überaus bedeutungsschwere Übertragung von Quixote (und auch Galahad) in die „Neue Welt“ wird auf sehr interessante Weise bei Reiss, 1997 behandelt. 23 Für Sinclair (1998: 113) war Guevara „the Garibaldi of his age“; und Riall (2007: 8) beobachtet: „[I]n global consciousness, the place of Garibaldi, it may be argued, was taken by Che Guevara, a figure of a rather different order, who nonetheless shared with the ,hero of two worlds‘ some important characteristics.“ 24 Obwohl dies sehr unwahrscheinlich klingt, glauben manche, dass Braun lange bevor er Mao beim „Langen Marsch“ 1934 – 36 in China begleitete, auch am langen Marsch der „Kolonne Prestes“ 1924 – 27 in Brasilien beteiligt gewesen war. Prestes sollte der spätere Ehemann von Brauns damaliger Frau, Olga Benario, werden. Wesentlich wahrscheinlicher ist, dass jemand anderes aus der Komintern, der mit Prestes zusammenarbeitete, den Namen Otto Braun verwendete. 25 Dieser Abschnitt ist stark an Selbin, 2008: 143 – 4 angelehnt.
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Widerstand, Rebellion und Revolution – die Geschichten entwickeln sich Die Geschichten entwickeln sich
Der Autor Taibo glaubt, in dem spanischen Anarchisten Sebastián San Vicente einen authentischen, linken Helden der Mexikanischen Revolution gefunden zu haben. Dieser erzählt ihm Geschichten von der Pariser Kommune, dem Roten Barcelona und den „Haymarket Martyrs“ des 1. Mai in Chicago (vgl. Taibo, 2000: 12).1 Nachdem es ihm jedoch nicht gelingt „any record“ von San Vicentes Beteiligung an der Revolution in Asturien 1934 zu finden (2000: 167), kommt er ins Grübeln: Die Wobblies in Chile. Die Chinesische Revolution ab 1925? Hong Kong, Canton oder Shanghai 1927? Deutschland? Hamburg? Spanien? Madrid, Barcelona oder Andalusien? Afrika? Unter irgendwelchen anderen Palmen? Argentinien? Ich durchblättere die Jahrgänge 1925 bis 1928 von La Protesta in Valadés’ Archiv. Es ist, als ob man eine Nadel im Heuhaufen sucht. Die Imagination könnte vielleicht die fehlende Verbindung zwischen dem Sebastián San Vicente, der im Juli 1923 aus Mexiko verschleppt wurde, und Otto Brauns (Li-thes) spanischem Freund auf dem Langen Marsch im Jahr 1934 in China herstellen. Ein wenig Fiktion könnte den Mann, der auf den Golf von Mexiko starrt, und Romeros spanischen Freund in der Huk-Rebellion auf den Philippinen verbinden. Man könnte sogar sagen, San Vicente war Sánchez, der Kolumbianer, der Durruti dabei half, eine Bank in Buenos Aires auszurauben. Doch diese Verbindungen können der Belastung nicht standhalten, sie brechen einfach auseinander und hinterlassen einen Mann, der am Kai von Veracruz steht. (2000: 168)
Diese knappe und durchdachte Auflistung („[storytellers] authenticate themselves by the way they articulate collective memory“; Apter, 2006: 7902) fasst ungefähr 70 Jahre Widerstand, Rebellion und Revolution zu einem handlichen und gleichzeitig respekteinflößenden Bündel zusammen. Widerstand und Rebellion werden von Menschen beschlossen und es sind Menschen, die Revolutionen machen. Zu einem nicht geringen Teil tun sie das, indem sie Geschichten erschaffen. Geschichten, die wiederum ihre Menschlichkeit ausmachen.3 Wir haben es mit einem engmaschigen Netzwerk zu tun, das wir auf eigene Gefahr auseinanderreißen; selbst wenn wir sie
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neu erschaffen und verwenden, bleiben wir in unsere Geschichten verwoben. Und obwohl Geschichten viele verschiedene Funktionen erfüllen können, sind sie immer potenziell subversiv und nach Okri „immer eine Form von Widerstand“ (1996). Entscheidend dafür, wie Geschichten funktionieren, sind „Gedächtnis, Mythos und Historie, organisiertes Erinnern und vorsätzliches Vergessen“ (Benjamin, 2000: 14). Ich persönlich würde, trotz meiner Abneigung gegenüber Brintons (1965) Krankheits-Metaphorik, noch ergänzen: „[Wir] leben in einer ansteckenden Welt“ (Walt, 2000: 34). Daraus lässt sich schließen, dass die Menschen die Geschichte kennen, sie kennen den Plot, wenn es auch zwangsläufig viele verschiedene Stimmen, Absichten, Umstände und somit Resultate gibt. Und trotzdem existiert das, was Weinstein (2007: 28) als „bemerkenswerte Konzentration um eine Reihe von Kernüberzeugungen davon, wie Auflehnung organisiert werden sollte“, beschreibt, „und diese Strategien … haben sich weit über Gebiete und Gruppen mit unterschiedlichen Motivationen ausgebreitet“. Der Plot bleibt also überraschenderweise gleich und die Auffassungen davon, wie und wann die Dinge geschehen sollten, bleiben bestimmend und beständig. Aber: „[M]ehrere alltägliche Manifestationen des gesellschaftlichen Lebens betonen, wie neue Diskurse auf alte politische Praktiken angewendet werden können, während neue Praktiken durch alte Bedeutungen inspiriert werden können“ (Rodgers, 2009: 86).4 Eine solche Verbindung von „oppositionellem Verhalten der Vergangenheit mit Formen des Wiederstands in der Gegenwart“ erschafft „Möglichkeitsräume“, in denen eine andere Zukunft denkbar ist (Hooks, 1995: 151).5 Da Revolutionen eine „unfinished agenda“ haben, bleiben sie relevant, ob sie nun weiterhin geschehen oder auch nicht, „[bedingt durch] das Bedürfnis der Menschen – sowohl als Individuen als auch in großen Kollektivbewegungen – zu träumen“ (Halliday, 1999: 335, 338). „[R]evolutionen sind wie Wanderungen in die Zukunft … [wo] das gelobte Land existiert … in den Köpfen derer, die an sie glauben“ (Nodia 2000: 164). Diese Sammlung von absichtlich entlehnten Beobachtungen verdeutlicht die elementaren Prämissen unseres Projektes. Das Buch begann mit drei mehr oder weniger idiosynkratischen, nicht unbedingt intuitiven Definitionen, nahm einen kurzen Umweg über die Betrachtungen zu Mythos, Erinnerung, Mimesis und damit einhergehende Problematiken und arbeitete sich dann durch vier Geschichten durch, welche die vielfältigen verschiedenen Versionen von Widerstand, Rebellion und Revolution erfassen sollten, die Menschen erschaffen haben, während sie sich bemühten, grundlegende Veränderungen der materiellen und ideologischen Umstände ihres Alltagslebens zu bewirken. Die Lektionen (in Ermangelung eines besseren Wortes) dieser Geschichten könnte man folgendermaßen
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zusammenfassen. Erstens: Definitionen sind durchaus von Bedeutung und Revolutionen sind keine Revolten. Zweitens: Egal, ob in der Vergangenheit oder in der Gegenwart – andere Menschen sind einfach andere Menschen (Darnton, 1984: 4) und sie denken unterschiedlich über die Dinge; um sinnvoll damit umzugehen, müssen wir diese „Andersartigkeit“6 akzeptieren. Außerdem könnte die „Wahrheit“, zumindest in ihrer putativ westlichen, liberalbürgerlichen Version, weniger wichtig sein, als das, was die Menschen als ihre Wahrheit betrachten – und die mythologische Zeit ist eine andere als die chronologische Zeit. Drittens: Obwohl Geschichten definitionsgemäß örtlich gebunden und einzigartig sind, gibt es auch – wahre oder unwahre – Geschichten, die man überall wiederfindet. Und schließlich: Die einzelne Geschichte mag an sich fragil sein, doch Geschichten sind auch beständig, sie werden über Generationen immer und immer wieder erzählt. Diese vier Beobachtungen fügen sich zu einer Momentaufnahme eines überraschend komplexen Arbeitsmittels zusammen. Zur Untersuchung dieser Geschichten sind einige Heuristiken hilfreich. Meine These lautet, dass es sehr nützlich sein könnte, dazu die Konzepte von Mythos, Erinnerung und Mimesis heranzuziehen. Dabei sollte man sich bewusst sein, dass sie alle mit gewissen Schwierigkeiten behaftet sind und keines unproblematisch ist. Mythen bieten eine große Menge an Informationen darüber, wie Menschen die Welt sehen und wie sie laut ihnen sein sollte. Die Erinnerung ist eine Fundgrube davon, „was wirklich passiert ist“ und wann es passierte. Mimesis wiederum ist mehr als reine Imitation – sie kann sogar zu Innovation führen, wenn die Menschen sich das aneignen und das adaptieren, was andere vor ihnen gegen die Missstände in ihrem Leben getan haben. Meine Theorie lautet, dass diese Bemühungen mithilfe eines bricolage-Prozesses von den Menschen zu Geschichten von Widerstand, Rebellion und Revolution transformiert wurden, und dass diese uns dabei helfen, zu erklären, warum Revolutionen hier und nicht dort geschehen, jetzt und nicht dann, bei diesen Menschen und nicht anderen. Die richtige Geschichte am richtigen Ort zur richtigen Zeit – könnte irgendetwas zufälliger sein? – ermöglicht und befördert revolutionäre Aktivitäten und vergrößert die Wahrscheinlichkeit, dass revolutionäre Imaginationen zu revolutionären Gefühlen reifen, die wiederum die Grundlage revolutionärer Situationen bilden und damit auch die Möglichkeit revolutionärer Resultate. Bei der Geschichte von der zivilisierenden und demokratisierenden Revolution handelt es sich um eine prinzipiell elitäre Geschichte von großer Macht. Dies zeigt sich sowohl in ihrem Versprechen als auch in ihrer Warnung: Eine Revolution ist eine furchterregende Sache, begib dich auf eigene Gefahr hinein und rechne mit dem Schlimmsten. Diese Geschichte geht vom
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Triumph der Aufklärung aus und wird zumeist von den Mächtigen verwendet, um ihrer Position eine offizielle Legitimation zu verleihen. Die Geschichte von der Sozialrevolution ist die wohl bekannteste und am leichtesten erfassbare. Im Mittelpunkt stehen drastische, dramatische Forderungen der Bevölkerung nach einer fundamentalen gesellschaftlichen Veränderung, wobei das Alte weggewischt wird und dem Neuen weichen muss.7 Sie ist episch, großartig, ruhmreich und ein (romantisierter) Fehlschlag. Diese unmögliche Geschichte handelt vor allem von Emanzipationsbemühungen von den verschiedensten Herren zu allen Zeiten: Sklaventreiber, Kolonialisten, Imperialisten. Die verlorenen und vergessenen Revolutionsgeschichten wiederum versuchen, kurze Eindrücke von alltäglichem Widerstand, alltäglicher Rebellion und Revolution abzubilden, die unzählbaren „kleineren“, obskureren Geschichten des Kampfes. Eine Betrachtung dieser Geschichten, wie diese verlaufen und warum sie so verlaufen, sollte uns nicht nur dabei helfen können, zu verstehen, wie Revolutionen sich ereignen, wann und bei wem, sondern auch, wie wir mögliche zukünftige Ereignisse verstehen könnten. Obwohl Geschichten natürlich viele verschiedene Zwecke erfüllen, sind sie doch im Grunde genommen Werkzeuge, die wir zu Aufbau und Organisation unseres gegenwärtigen und weiteren Lebens verwenden. Es erscheint also durchaus sinnvoll, sie als eine Form, vielleicht sogar die Grundform, des sozio-politischen Kampfes zu betrachten. Dies beinhaltet, dass man diese Geschichten inner- und außerhalb ihres Kontextes verstehen muss, und dabei ist zu berücksichtigen, dass Kontext mehr bedeutet als nur „Situation“. Geschichten sind beständig, geduldig und überraschend langlebig. Arendt (1965: 220) bemerkt: „Erfahrungen und sogar die Geschichten, die aus dem, was die Menschen tun und ertragen, aus den Ereignissen und Vorgängen, erwachsen, gleiten zurück in die Sinnlosigkeit, die dem lebendigen Wort und der lebendigen Tat innewohnt, sofern nicht immer und immer wieder von ihnen erzählt wird.“ Erzählen und Wiedererzählen sind von großer Bedeutung, diese Handlungen schaffen Sinn und treiben uns voran.
Eine kurze Unterbrechung: die letzte Geschichte In dieser letzten Geschichte geht es um die Geschichten an sich und ihre verschiedenen Schichten und Ebenen. Die modernen Chassidim sind eine mystisch geprägte jüdische Gruppierung, die im 18. Jahrhundert in Osteuropa von Rabbi Baal Shem Tov gegründet wurde, einem Mann, von dem – wie von vielen anderen in anderen Geschichten – behauptet wurde, er habe den gro-
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ßen Namen Gottes gekannt. Er wusste also von Dingen und verstand Dinge, die den meisten von uns fremd bleiben. Außerdem war er, wie man in verschiedenen Geschichten nachlesen kann, eine Art Magier, in diesem Falle ein Meister der angewandten Kabbalistik. Und drittens war er auch noch ein Magus, der seinem Volk verbunden war, der es beschützen und dessen Schicksal verbessern wollte. Diese Chassidim stellten sich den traditionellen Auslegungen des Talmud entgegen, indem sie die Meinung vertraten, dass Gottes Präsenz uns alle ständig umgebe und darum jedes Wort und jede Tat diesem immer aufmerksamen Gott dienen müsse. Wie die folgende Geschichte zeigt, sollte es sich lohnen, diese Lehre treu zu befolgen. Einmal hatte der Baal Shem eine besonders schwierige Aufgabe, denn das jüdische Volk war von einem großen Unglück bedroht. Genau wie in früheren schwierigen Situationen ging er in einen bestimmten Teil des Waldes, um dort zu meditieren und zu beten. Er entzündete ein spezielles Feuer, sprach ein besonderes Gebet und wie in den anderen Fällen geschah ein Wunder. Eine Generation oder mehr danach war der Schüler des Rabbis, der „Maggid“ von Mesritsch, in einer ähnlich schlimmen Lage. Er bedurfte göttlicher Hilfe und ging in den Wald (er kannte den Ort), doch er musste Gott bekennen, dass er nicht mehr wusste, wie man das rituelle Feuer entzündete. Er kannte jedoch das Gebet und hoffte, dass dies und seine Anwesenheit genug sein würden – und so war es. Und noch einmal verging etwa eine Generation und es stellte sich eine große Aufgabe; die Juden befanden sich erneut in Gefahr und Rabbi Mosche-Leib von Sassov wusste, was zu tun war. Er ging in den Wald (er kannte die entsprechende Stelle), musste jedoch eingestehen, dass er weder wusste, wie man das Feuer aufbaute und entzündete, noch das Gebet kannte. Doch er kannte den Ort und vertraute darauf, dass dies ausreichend sein würde – und so war es. Wieder verstrich eine lange Zeit, mindestens eine Generation, und wieder drohte den Juden Unheil. Rabbi Israel von Rizhin wurde als Erbe der anderen herbeigerufen. Er wusste, was zu tun war, aber wusste nicht, wie er es tun sollte. Er saß in seinem Haus, stützte seinen Kopf auf die Hände und sprach traurig zu Gott: „Ich kann das Feuer nicht entzünden und kenne das Gebet nicht; ich kann nicht einmal die Stelle im Wald finden. Ich kann nur die Geschichte erzählen und das muss ausreichen, es muss reichen, damit du eingreifst und dein Volk rettest.“ Und es reichte. Die Geschichte war genug.
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„We tell ourselves stories in order to live“ Die Beziehung zwischen Geschichte, Geschichtenerzähler und Zuhörer oder Konsument der Geschichte, der sie in der ein oder anderen Form für sich verwendet, ist eine sehr komplexe (der Konsument ist dabei nicht passiv; Polletta (2006: 10) vermerkt: „[G]eschichten verlangen unsere interpretatorische Mitarbeit“). Trotzdem besteht kein Grund, sich zu fühlen, als sei man mit Alice zusammen in den Kaninchenbau gefallen. Hilfreich ist hier Deleuzes und Guattaris (1987: 10 –11) Metapher der „Wespen-Orchidee“: „[D]ie Verschmelzung der natürlichen Grenzen zwischen einer Wespe und einer Orchidee im Bestäubungsprozess fungiert als Metapher für die Beziehung zwischen Buch und Leser – Ersteres kann keine Verwirklichung erfahren, es sei denn, es wird gelesen, und Letzterer kann sich nicht als Leser selbst verwirklichen, es sei denn, es gibt ein Buch, das er lesen kann. Die beiden formen also zusammen die symbiotische Einheit ,Buch-Leser‘, wobei die Grenze zwischen ihnen während des Leseprozesses zeitweise verwischt“ (Cordes Selbin, 2009: 35). Geschichten sind nicht immer wohlgeordnete Berichte8 – diese Rolle habe ich hier für die Erzählungen vorgesehen – und sie können „schwierig“ sein (vgl. Niemi und Ellis, 2001), doch Geschichten sagen uns, wer wir sind (und somit auch, wer wir waren). Sie sagen uns, wer wir nicht sind, wie wir sein sollten und was wir tun sollten, um dahin zu gelangen, wo wir hin möchten. Sie halten uns am Leben. In Didions (1979) Worten: „[W]e tell ourselves stories in order to live.“ Wir füllen die Geschichten mit Leben und im Austausch ermöglichen uns die Geschichten ein Verständnis und eine Vorstellung von der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Sie sind essentiell. Geschichten sind wie Menschen – sie sind reizvoll und sie sind gefährlich. Wenn man einmal die Geschichte gehört hat, wenn man einmal Bescheid weiß, ist man deshalb gefährlicher, sich selbst und anderen gegenüber, ob als Handelnder oder als Zeuge (wodurch man auch eine Art Handelnder ist). Stille sollte nicht als Vergessen verstanden werden; es gibt verbotene Gegengeschichten, Untertöne in der offiziellen Historie, ein populäres Gegengewicht zu den offiziellen Geschichten und geordneten Erzählungen. Diese mögen zwar heldenhafte Armeen und edle Eliten portraitieren, die sich blutrünstigen Horden entgegenstellen, doch die Bevölkerung weiß es besser – sie weiß, wer die Waffen und die Macht hat. Und sie weiß, was geschehen ist, oder hat zumindest ihre Geschichte, ihr Wissen davon, was „wirklich passiert ist“. Die „Geschichte“ ist eine weitgefasste Kategorie (vgl. Smith, 2003: 44), doch auch eine sehr nützliche. Geschichten entspinnen sich in und um
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schriftliche, mündliche und optische Diskurse und sie werden zwangsläufig durch die Alltagskultur in ihren vielen unterschiedlichen Manifestationen beeinflusst. Diese Beziehung ist eine bedeutungsschwere und komplexe, da Geschichten Teil gerade der Kulturen sind, die sie zu erzeugen helfen. Einmal subsumiert (obwohl sie natürlich selbst auch die Alltagskultur subsumieren), kann es passieren, dass sie als nicht viel mehr denn Begleiterscheinungen der Alltagskultur erscheinen – in modernen und postmodernen Zeiten als wenig mehr denn ein Material, das man nach Lust und Laune umgestalten kann. Und auch wenn dies der Wahrheit entsprechen mag, ist da doch noch mehr. Geschichten vereinen Menschen zu einer Gemeinschaft, in der bestimmte Symbole, Themen und Charaktere Wiedererkennen und gemeinsames Wissen ermöglichen. Symbolträchtige politische Handlungen, das kollektive Gedächtnis und der soziale Kontext der Politik sind von zentraler Bedeutung für das Verständnis und die Untersuchung revolutionärer Prozesse. Geschichten liefern uns den nötigen Zugang und das nicht nur regional und spezifisch. Revolutionen sind gleichzeitig zutiefst lokal und überaus global. Lange Zeit galt die Revolution als global, dem allgemeinen Konsens zufolge seit etwas mehr als 200 Jahren (1789), die oben aufgeführten Geschichten und neuere Untersuchungen zur Revolution lassen jedoch auf einen weit längeren Zeitraum schließen. Es ist wenig sinnvoll, das Lokale dem Globalen gegenüberzustellen, oder das Transnationale dem Nationalen. Lokale, regionale und nationale Formen der Auseinandersetzung sind seit Langem zentraler Bestandteil jeder Gesellschaft und die verbreitetesten Kollektivhandlungen – Sozialbewegungen, ziviler Widerstand, Demonstrationen – haben oft auch über ihren jeweiligen Schauplatz hinaus Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dies ist gerade im Medien- und Informationszeitalter besonders zutreffend geworden. Solche Internationalisierungen von Widerstand, Rebellion und Revolution waren immer ein langer und geschichtenumwobener Prozess, die Informationen wurden von Nomaden und Reisenden verbreitet, über Briefe, Erzählungen, Lieder und in anderer Form. Man kann in diesen Geschichten grundlegende Motive ausmachen, die zeigen, dass obwohl alle Fälle von Widerstand, Rebellion und Revolution an sich lokal sind, sie auch umfassendere und tiefere Einsichten darüber vermitteln, was möglich ist. Dass solche Verbindungen leicht auszumachen sind, ist nicht überraschend. Menschen schaffen bereits seit sehr langer Zeit verschiedenste Infrastrukturen wie beispielsweise Kanäle, Straßen und Gebäude. In jüngerer Zeit setzt sich die Erkenntnis durch, dass Informations-, Justiz- oder Gesundheitssysteme ebenfalls Infrastrukturen sind. Diese sind in vielen Fällen vom Lokalen und Spezifischen beeinflusst, obwohl sie eigentlich transnational
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sind. Solche Infrastrukturen ermöglichen unser tägliches Leben – wenn sie aufrechterhalten und gepflegt werden und funktionieren.9 In einer sehr ähnlichen Form haben die Menschen eine Geschichtenstruktur erschaffen, einen Geschichtenspeicher, der unserem Alltagsleben zugrundeliegt und es prägt. Wir nehmen Geschichten auseinander und setzen sie neu zusammen, um uns mit anderen zu verbinden und Gemeinschaften aufzubauen – oder aus dem gegenteiligen Grund. Es geht mir hier nicht darum, andere Quellen zugunsten von Geschichten auszuschließen, oder den Eindruck zu vermitteln, dass ausschließlich Geschichten Menschen zu ihren Taten bewegen. Ich möchte auch nicht Geschichten in so etwas scheinbar Fernes und Abstraktes wie ökonomische, politische oder soziale Kräfte und Vorgänge auf Makro- oder Metaebene verwandeln.10 Mein Vorschlag lautet nicht etwa, systematische und exakte intellektuelle Analysen von mess- und identifizierbaren Variablen einfach durch Geschichten zu ersetzen. Ich hoffe jedoch, dass diese Arbeit gezeigt hat, dass Geschichten selbst produktiv mit einbezogen, sogar als Heuristiken verwendet werden können und exakt und systematisch analysiert werden können. Die Menge der Faktoren, die man sinnvollerweise berücksichtigen kann, wenn man die grundlegende Frage dieses Projektes untersuchen möchte – warum es hier und nicht dort, jetzt und nicht dann, bei diesen Menschen und nicht bei jenen zu Revolutionen kommt – ist schlicht überwältigend: Unterdrückung, Hunger, Emotionen, demographischer Druck oder wirtschaftliche Krisen sind nur einige der offensichtlicheren. Es hat eine große Menge beachtlicher Bemühungen gegeben – die Revolutionsforschung ist ein ergiebiges Feld – doch viel zu wenige dieser Analysen, die häufig im Rahmen eines konservativen intellektuellen Diskurses erfolgen, berücksichtigen die mögliche Schlüsselfunktion des Erzählens mitreißender Geschichten. Die Anerkennung von Macht und Wichtigkeit der Geschichten muss nicht etwa unsere Fähigkeit einschränken, die Forschungsergebnisse in die quasi-objektive, analytische Terminologie zu fassen, die in den Sozialwissenschaften heute üblich ist. Geschichten dienen uns als ein weiteres Werkzeug um ein besseres Verständnis davon zu bekommen, wer wir sind, was wir vorhaben und wohin wir gehen könnten. Der Schlüssel zur Beantwortung von Revolutionsfragen liegt in der Fokussierung auf Menschen und Strukturen und die Aufmerksamkeit sollte sich nach wie vor hauptsächlich auf die Menschen und ihre bewussten Revolutionsbemühungen richten (wobei man nicht die Fülle möglicher unbeabsichtigter Konsequenzen außer Acht lassen sollte). Die Frage lautet, wie, warum und wo sie diese anstellen; relevante Antworten haben mit den Geschichten zu tun, die Menschen unter Verwendung von Mythos, Erinnerung und Mimesis erzählen. Es gibt Geschichten über die Vergangenheit, die alle
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kennen, oder die zumindest genug Wiedererkennungswert besitzen, um Anklang zu finden. Häufig ähneln diese prunkvollen Wandteppichen, in denen Mythen und sogenannte „Fakten“ – man könnte von staatlich anerkannten Mythen sprechen – miteinander verwoben sind. Sie sind deutlich, ja sogar betont mimetisch und werden aus einem Speicher von Erinnerungen gespeist, die selbst wiederum real oder imaginiert sein mögen, doch in jedem Fall absichtlich von uns für unsere Zwecke erschaffen wurden.
Widerstand, Rebellion und Revolution: Menschen machen ihre eigene Geschichte Egal auf welcher Ebene und in welcher Situation – was Menschen verbindet, sind Geschichten. Und außer uns einfach nur zu verbinden, sind Geschichten – beziehungsweise Geschichte, Historie und Erzählungen – auch das Mittel, mit dem wir uns und anderen von der Vergangenheit berichten. Jede dieser Geschichten über die Vergangenheit dient zwangsläufig der Erfassung der Gegenwart und bietet eine Vorstellung von der Zukunft. Und ihre Bedeutung und Existenz hängt von ihrer Kollektivität ab, von unseren Erinnerungen, die wiederum persönlich gefärbte Ergebnisse bewusster Entscheidungen darüber sind, was man mit einbeziehen oder außen vor lassen sollte. Die Erschaffung dieser Geschichten ist ebenso essentiell wie unvermeidlich. Alle Geschichten beziehen sich zu einem gewissen Grad auf die Vergangenheit, ob die erzählten Geschichten nun jüngere vergangene Ereignisse behandeln (wie die nachaufklärerischen Geschichten von der zivilisierenden und demokratisierenden Revolution oder der Sozialrevolution), Teil einer etwas älteren Sage sind (wie die Revolutionsgeschichte von Befreiung und Freiheit), oder sogar einer zeitlosen Erzählung angehören, die weit in die Vergangenheit reicht (wie die verlorenen und vergessenen Revolutionsgeschichten). Gleichzeitig blicken all diese Geschichten so weit in die Zukunft, wie wir uns nur vorstellen können, wenn auch manchmal ein Auge fest auf die Vergangenheit gerichtet bleibt. Andauernd werden neue Geschichten erschaffen und dem Speicher hinzugefügt – die osteuropäischen „Farbrevolutionen“ 1989, die Bewegung der WTO-Gegner, „verhandelte Revolutionen“ in Nepal oder Osttimor, ja sogar Revolutionen an den Wahlurnen in Venezuela und Bolivien (jeweils verschiedener Art) oder Revolutionen, welche die Welt verändern möchten, ohne die Macht an sich zu reißen (Holloway, 2002)11 – und natürlich sind da all die Geschichten, die noch ihrer Entstehung harren. Doch man sollte auch ein wenig Vorsicht walten lassen. Die endlose Ausweitung vorhandener revolutionärer Möglichkeiten in alle Richtungen ist
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wenig nützlich. Warum sollte man beispielsweise nach neuen Variationen von Frankreich 1789 oder sogar der Tschechoslowakei 1989 suchen? Bei allem gebührenden Respekt für Zhou Enlai ist es vielleicht doch nicht zu früh, sondern zu spät, um eine Aussage zu treffen.12 Und auf einer anderen Ebene ist wiederum auch klar, dass nicht jeder Fall von „Containern“ oder nomadischer Lebensart – „Lifestyle-Anarchie“ – sich sinnvoll als Fall von Widerstand, Rebellion und Revolution interpretieren lässt, auch wenn natürlich immer Elemente davon enthalten sein können. Wenn wir jedoch andererseits gewillt sind, eine freiwillig obdachlose Person, die außerhalb des sozialen Netzes lebt und sich von Pizzaresten ernährt, oder (vielleicht etwas ergiebiger) einen Protestierenden, der an einem sonnigen Tag im Jahre 1969 (oder 1970) mit einem Ziegelstein ein Spiegelglasfenster der Bank of America an der Telegraph Avenue in Berkeley einwirft, als Teil eines „moment of madness“ (Zolberg, 1972) zu begreifen, bei dem die Autoritätsfrage ungeklärt bleibt, dann stehen am anderen Ende des Kontinuums Frankreich 1789, Russland 1917 und welcher soziale Umsturz auch immer als nächstes kommen mag, und es ergibt sich eine Welt von Forschungsmöglichkeiten. Unsere besten sozialwissenschaftlichen Methoden haben sich bisher als wenig mehr denn „satisficing“ erwiesen, ein hübsches Schachtelwort mit einer eher enttäuschenden Bedeutung: hinreichend.13 Trotz einiger herausragender Forschungsarbeiten haben wir immer noch nur wenige überzeugende Antworten auf die Fragen, die man gemeinhin bezüglich Herkunft, Entstehung und Entwicklung von Revolutionen stellt. „Objektive“ (und für viele daher auch beruhigende) Methoden der sozialwissenschaftlichen Analyse haben sich bis heute nicht als sensibel genug erwiesen, das Rätsel der Revolutionen völlig zu erforschen und zu erklären. Sie scheinen überaus ungeeignet (manchmal auch aktiv kontraproduktiv), um den Ausdruck in den Augen einer Person zu erfassen, ihren Tonfall, ihre Leidenschaft, die Wichtigkeit, die Zapatas weißes Pferd, Chés Barett, Sandinos Hut, Hos Tropenhelm, Bambusgehstock und dünner Bart oder Cabrals Strickmütze für sie haben kann – diese Dinge sind dermaßen bedeutungsträchtig, dermaßen signifikant, dass ihre Heraufbeschwörung und Verwendung die unausweichliche Konsequenz sind. Solche bedeutungsschwangeren Symbole, die mit ihnen verbundenen Talismane und die Bezüge, die sie herstellen, bieten uns die Möglichkeit, das Wie und Warum zu verstehen. Es ist möglich, auf die Geschichten zuzugreifen, die Menschen von Widerstand, Rebellion und Revolution erzählen, und darüber eine Menge revolutionärer Ereignisse zu entschlüsseln oder zumindest „schreibbar“ („scriptable“)14 zu machen, deren Verständnis sonst meist nur auf eine nationale Ebene be-
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grenzt ist. Dadurch werden sie für Fremde so „lesbar“, wie es nur eben möglich ist. Hierbei handelt es sich nicht etwa um ein „objektives“ Unterfangen und das kann es auch gar nicht sein, man bringt immer eine gewisse Vorprägung mit.15 Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass jeder einen bestimmten Ausgangspunkt hat, und uns bei unseren Untersuchungs- und Erklärungsbemühungen der strikten, radikal offenen Gleichbehandlung verpflichten. Unter dieser Prämisse habe ich mich in diesem Buch bemüht, eine Geschichte von den Geschichten über Widerstand, Rebellion und Revolution zu erzählen, von den Sagen, die weitergegeben werden, den Liedern, die gesungen oder gespielt werden, oder den Orten, die portraitiert werden – leise, zuversichtlich mit Hingabe und Überzeugung. Manchmal ist da eine Leidenschaft, eine Regung, die schwer zu beschreiben ist, doch der man unweigerlich begegnet, wenn man mit jemandem spricht, der in Widerstand, Rebellion und Revolution involviert war – ein bestimmter Gesichtsausdruck, eine lauter werdende oder stockende Stimme, eine veränderte Körperhaltung, eine Geste, vielleicht das Verfallen in Stille oder Träumerei, oder vielleicht auch eine gewisse Frustration beim Versuch, einem Eindringling etwas so Tiefgreifendes zu erklären. Wie vermittelt man einem Fremden, einem entfernten Bekannten oder selbst einem Freund oder einer geliebten Person eine Angelegenheit, die gleichzeitig so komplex und so simpel ist? Oftmals dadurch, dass der Erzähler wiederholt fragt, ob die erzählte Geschichte Sinn ergibt, ob man sie versteht, ob sie klar ist, selbst wenn er (und man selbst auch) weiß, dass sie das nie wirklich sein kann. Geschichten, die sich aus Kulturen, Genealogien16 und regelrechten Netzwerken von Widerstand, Rebellion und Revolution speisen, dienen dazu, Engagement entstehen zu lassen und zu fördern, die kollektive Identität zu bestätigen und diejenigen zu bestärken, die dem Ruf folgen. Eben diese Geschichten liefern auch wirkungsvolle Kritiken an der vergangenen und augenblicklichen Lage der Dinge sowie normative und programmatische Handlungspläne. Revolutionen, Rebellionen und Akte des Widerstandes entstehen nicht ohne die Erzählung fesselnder Geschichten, die Menschen befähigen und bestärken, wenn sie versuchen, die materiellen und ideologischen Umstände ihres Lebens zu verändern. Die Menschen beziehen sich in ihrem Bemühen, die Gegenwart zu erklären und die Zukunft vorherzusagen, immer auf die Vergangenheit, sie sagen eine Zukunft voraus, die auf der Gegenwart beruht und gestalten die Vergangenheit wiederum abhängig von den Herausforderungen um, mit denen sie sich augenblicklich konfrontiert sehen.17 Das Ergebnis ist eine Vielzahl von Geschichten, die darum wetteifern, die augenblickliche zu werden. Dies ist ein Prozess, bei dem die Menschen auf eine Kombination aus Mythos, Erinnerung und Mimesis vertrauen, um eine wirkungsvolle Geschichte darüber zu erzählen, wer sie sind, wo sie
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hingehen möchten und wie sie dorthin gelangen können. Es existiert eine unüberschaubare Menge an Geschichten, aus denen Menschen auf der ganzen Welt schöpfen können, die sie umschreiben und zu ihren eigenen machen können. Während dieses Prozesses kürzen und bearbeiten sie die Geschichten natürlich zwangsläufig, sie entfernen Elemente, die nicht sauber und nahtlos passen und erhöhen gleichzeitig auch die Komplexität, wenn es nötig ist. Von 1958 bis 1963 lief im US-amerikanischen Fernsehen eine Sendung mit dem Titel Naked City. Jedesmal am Ende sagte der Erzähler: „Es gibt acht Millionen Geschichten in der Naked City; dies war eine von ihnen.“ Man stelle sich ungefähr das Tausendfache davon vor und die Gewaltigkeit des Unterfangens, sie alle einzufangen, wird deutlich – genau wie die grenzenlosen Möglichkeiten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts mögen uns die Vorbilder, die die Revolutionen in Frankreich, Mexiko, Russland, China, Kuba, Nicaragua oder dem Iran gegeben haben, keine guten Dienste mehr erweisen. Es ist durchaus möglich, dass sie uns nie so gute Dienste erwiesen haben, wie wir dachten, da sie unter Umständen die Aufmerksamkeit von den prosaischeren Prozessen abgelenkt haben, aus denen die gelebte Erfahrung der Menschen bezüglich Widerstand, Rebellion und Revolution besteht. Da die Menschen auch weiterhin versuchen, Widerstand zu leben und ihr Schicksal zu verändern, so wie sie es seit undenklichen Zeiten getan haben, besteht jeder Grund, dass die hier umrissenen Geschichten auch weiterhin von Nutzen sind. Dabei kann es passieren, dass sie neue Formen annehmen, während die Menschen sich darum bemühen, ihr Leben gemäß ihren Visionen und Hoffnungen zu schützen und zu verbessern. Bis diese Träume und Sehnsüchte in Erfüllung gehen, egal, wie wir sie definieren, werden Widerstand, Rebellion und Revolution bestehen bleiben. Und so lebten sie glücklich bis an ihr Ende. Ende. Nein, Moment noch. In alten Erzählungen fragte man häufig: „Und was passiert wohl als nächstes?“ Um es mit den Worten einer gewissen außergewöhnlichen Zweijährigen auszudrücken: „Sag du’s mir!“18
Anmerkungen 1 Große Teile dieses Abschnittes sind an Selbin, 2008: 144 – 6 angelehnt. 2 Ich beziehe mich hier auf Apters hilfreiche Unterscheidung zwischen „agents [who] differ from more ordinary storytellers … as they become makers of texts“ und „storytellers“ (2006: 791). 3 Nicolaisens Ansicht lautet: „[W]ithout stories we could not survive; without
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stories we would be disoriented; without stories we would be lost; without stories we lack assurance as to who we are or who we could be“ (1990: 10). Hiermit soll in gewisser Weise die starke Fokussierung auf „enduring legacies of revolutionary philosophies and practices in Latin America“ in Selbin (1999) korrigiert werden (Rodgers, 2009: 86) und diese Korrektur wird dankbar angenommen. Lenin (1964: 141) allerdings schloss sich Marx’ Ansicht an, dass Revolutionäre nicht in die Vergangenheit zurückblicken sollten, und warnte: „[T]he chief mistake made by revolutionaries is that they look backward at the old revolutions, whereas life gives us too many new things that have to be fitted into the general pattern of events.“ Eine überzeugende und lehrreiche Mahnung daran findet sich bei Hayslip (1989: xv), der feststellen muss, dass nur wenige in den USA die verschiedenen Kriege verstanden, die beim Einmarsch der USA bereits in Vietnam stattfanden: „For you, it was a simple thing: democracy against communism. For us, that was not our fight at all. How could it be? We knew little of democracy and even less about communism. For most of us it was a fight for independence – like the American Revolution. Many of us also fought for religious ideals, the way the Buddhists fought the Catholics. Behind the religious war came the battle between city people and country people – the rich against the poor – a war fought by those who wanted to change Vietnam and those who wanted to leave it as it had been for a thousand years. Beneath all that, too, we had vendettas: between native Vietnamese and immigrants (mostly Chinese and Khmer) who had fought for centuries over the land. Many of these wars go on today. How could you hope to end them by fighting a battle so different from our own?“ Siehe Goldstone: „[T]he myth of revolutions treats them as sudden detonations of popular energy and social change. Dramatic acts on a particular day … When most people think of ,revolutions‘, they think of a rapid series of events, taking a matter of weeks or months, during which old regimes fall, new regimes are constructed, and the population accepts (or is forced to accept) the new order“ (2009: 18). Siehe auch Berger und Quinney (2005a: 4), die allerdings Geschichte und Erzählung anders einordnen; im Gegensatz dazu sieht Davis (2002b: 12 –13), wie die meisten anderen, Geschichten als im Großen und Ganzen geordnet an. Auch wenn wir das Konzept der Infrastruktur normalerweise nicht auf die biologische Welt anwenden, heißt das nicht, dass es dort nicht existiert. Pflanzen, Tiere, Mineralien und die Elemente haben etwas entwickelt, was man als Ökostruktur bezeichnen kann, in etwa analog zur Infrastruktur und genau so grundlegend/elementar für das tägliche Leben. Diese Argumentation ist von Warshall (1998) beeinflusst, ich habe sein Argument jedoch in eine neue Richtung geführt. Diese beiden Punkte sind John Foran geschuldet. Der Untertitel von Holloways (2002) klugem und fesselndem Buch Change the World without Taking Power lautet zwar The Meaning of Revolution Today, doch
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Gerücht und Revolution bereits 90 Jahre zuvor versuchten Zapata und Villa in Mexiko, die Welt zu verändern, ohne die Macht an sich zu reißen. Siehe Kapitel 6, insbesondere Anmerkung 6. Wie dort vermerkt, handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine apokryphe Erzählung. Das Wort „satisfice“, eine Kombination aus „satisfy“ („befriedigen“) und „suffice“ („ausreichen“), wurde 1947 von Herbert Simon geprägt; siehe Simon, 1997. Hier zitiert aus Higonnet, 1998: 324, der wiederum Barthes wiedergibt. Nach Lévi-Strauss: „[E]very civilization tends to overestimate the objective orientation of its thought“ (1966: 3). Siehe Hooks „cultural genealogy of resistance“ (1995: 148). Diese nutzen wir, um aus „present strategies of opposition and resistance that were effective in the past and are empowering in the present“ zu lernen und auf ihnen aufzubauen. Siehe dazu auch Kapitel 4, Anmerkung 4. In jüngerer Zeit hat Apter (2006: 791) folgende ähnliche These aufgestellt: „[A]gents articulate stories and] re-present the here and now. They give a sense of urgency for the future. Theirs is a culmination of the past whose logic is a selfvalidating project that takes the form of a master narrative.“ Zoe Cordes Selbin (etwa 1995).
Danksagung Danksagung
An diesem Buch war eine kleine Armee beteiligt; ich wünschte nur, es würde das Wissen und die Talente all dieser fantastischen Menschen besser widerspiegeln. Für jegliche Fehler bin ich selbst verantwortlich. Unter Umständen habe ich diejenigen, die versuchten, die Fehler auszumerzen oder mich darauf hinzuweisen, dass ich auf dem Holzweg war, munter ignoriert – ich bitte sie und Sie, die Leser, um Verzeihung. Es gibt sicherlich niemanden, der von seiner Familie mehr unterstützt wird. Ich empfinde tiefe Anerkennung für meine Eltern, meine Geschwister, meine Schwägerinnen und Schwäger sowie meine Nichten und Neffen. Mit dem Misstrauen gegenüber baumartigen Modellen ist schon lange ein Dank an Mrs Guerin überfällig, die 1969 in Louisiana das Interesse eines Fünftklässlers an der Kubanischen Revolution schürte, sowie an Mary Francis Ragland King, die an mich glaubte, lange bevor ich es tat. Henry Dietz in Texas sowie Greg Gullickson, Brooks Clapp und Senator George McGovern in Washington D. C. halfen mir, meine wirklichen Interessen zu entdecken; Cecil Eubanks und Cal Jillson halfen dabei, diese an der Louisiana State University noch zu verfeinern. In Minnesota bin ich Kathryn Sikkink, Brian Job, Mary Dietz, Ron Aminzade und einer außergewöhnlichen Studentenschar zu größtem Dank verpflichtet; Kathryn Hochstetler bleibt meine liebste Kritikerin. Tom Walker, John Dunn und Jack Goldstone haben mir großzügig ihre Zeit geopfert, und in Nicaragua teilten unglaubliche Menschen ihre Geschichten mit mir. Ich hatte am Anfang meiner Karriere das große Glück, die Bekanntschaft von Tim Wickham-Crowley zu machen und über ihn auch John Foran und Jeff Goodwin und über diese beiden wiederum Sid Tarrow, Chuck Tilly sowie (erneut) Jack Goldstone zu begegnen; irgendwo stieß auch Karen Kampwirth hinzu – sie alle sind inspirierende Kollegen und ich bedaure, dass Chuck nicht mehr unter uns ist, um dieses Buch zu sehen. Während eines Sommers in Cornell drängte mich Sid dazu, die Französische Revolution näher zu betrachten, und Misagh Parsa tat dasselbe für den Iran. Sommeraufenthalte in Grenada und Chihuahua (Mexiko) führten mich an noch weit mehr Geschichten von Widerstand, Rebellion und Revolution heran.
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Die Southwestern University in Texas war sehr großzügig in ihrer Unterstützung durch den Cullen-Fakultät-Entwicklungsfonds, durch das Professorenprogramm der Brown-Stiftung für herausragende Forschung sowie durch eine universitäre Forschungsstelle. Mein Dank geht an die Präsidenten Roy Shilling und Jake Schrum sowie die Vizekanzler Michael Rosenthal, Dale Knobel und Jim Hunt. Ein Lehrauftrag innerhalb eines Gemeinschaftsprojekts mit dem Institut für Friedens- und Konfliktforschung an der Universität in Umeå war eine außergewöhnliche Erfahrung, und besonderen Dank verdienen Cindy Kite, Torbjörn Bergman, Katerina Eckerberg, Susanne Alldén, Svante Ersson und Malin Wimelius. Mein Dank gebührt auch den Kollegen an der Southwestern University, die eine Vielzahl von Ausschnitten und Bruchstücken dieser Arbeit diskutierten: Cristina Alcalde, Shana Bernstein, Daniel Castro, Suzanne Chamier, Steve Davidson, Teena Gabrielson, David Gaines, Alisa Gaunder, Traci Guliano, Georgeianne Hewett, Laura Hobgood-Oster, Melissa Johnson, Jim Kilfoyle, Lisa Leff, Erik Loomis, Maria Lowe, Thom McClendon, Helene Meyers, Jacqueline Muir-Broaddus, Jimmy Smith und Bob Snyder; Shannon Mariottis Anregungen und ihre stete Ermutigung waren von unschätzbarem Wert. Shannon Winnubst und Jennifer Suchland sind keine Kollegen, sie sind Familie, und ihre Anregungen, ihre Unterstützung und ihre Ermunterung sind die wesentliche Grundlage für Zuneigung und Freundschaft. Ich danke außerdem einigen brillanten Studenten (manche sind inzwischen selbst Professoren): Dr. Margaret Dorsey, Jennifer Mathews, Amy McKee und Dr. Jennifer Suchland; Dr. Meghana Nayak und Dr. Annie Richard; Jenny Carlson und Ashleigh DeSoto; Rakhee Kewada, Mary Kierst, Alison Kuo und Brian Gingrich; Meagan Elliott. Toni Nietfeld und Callie Paige drehten den weltweit großartigsten 5-Minuten-12-Personen-Film über die Pariser Kommune und gaben mir damit enorme Inspiration. Zed Books ist ein besonderer Ort. Mein Dank gilt Ellen Hallsworth, die dieses Buch ins Leben rief, und Ken Barlow, der das Projekt freundlicherweise übernahm, als Ellen es abgab, und das Manuskript einer sorgfältigen Lektüre unterzog. Das geschickte Redigieren durch Robin Gable sowie Lucy Mortons typografische Gestaltung haben das Buch deutlich verbessert, und Professor Harald Wydras sorgfältiges und gründliches Korrekturlesen war alles, was ein Autor sich nur wünschen könnte. Die Erfahrung, an einem langen Projekt zu arbeiten, nur um dabei auf Werke zu stoßen, die die gleichen Themen behandeln und die selbst unternommene Arbeit überflüssig zu machen scheinen, ist entmutigend. Mit etwas Glück bietet ihre genaue Lektüre jedoch Hilfe und Unterstützung für das eigene Projekt. Eine Gemeinschaft von Wissenschaftlern steht nicht nur auf
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den Schultern derer vor uns, sondern wird auch gefestigt durch jene, die sich gleichzeitig plagen in dem Streben nach Wissenssteigerung und dem Heiligen Gral des Verstehens. Noel Parkers provokatives Revolutions and History: An Essay in Interpretation (1999), Thomas Benjamins wunderbares La Revolución: Mexico’s Great Revolution as Memory, Myth, and History (2000) sowie Francesca Pollettas fesselndes It Was Like a Fever: Storytelling in Protest and Politics (2006) gehören zu solch inspirierenden Werken. Dieses Buch ist mit all meiner Liebe, Bewunderung, Wertschätzung und mehr meiner Familie gewidmet. Die zwei am meisten fast perfekten Menschen der Welt, Jesse und Zoe Cordes Selbin, lieben Geschichten und sind alle beide – auf verschiedene Weise – hochbegabte Geschichtenerzähler, die ständig ,erzählen‘ wollten. Dass sie eine solche Schlüsselrolle in dem, was Sie hier sehen, spielten und entscheidende Nebenrollen übernahmen, ist eine besondere Freude für mich. Die liebenswerte und begabte Helen Cordes hat wieder einmal mehr getan als nur ihren gewöhnlichen Anteil an Kindererziehung, Hausarbeit und Heimunterricht zu übernehmen. Sie hat verschiedenste Gänge erledigt, hat mehr als Vollzeit gearbeitet, hat meine gesamte Arbeit gelesen und mich in der richtigen Spur gehalten. Helen erzählt großartige Geschichten, die wir alle lieben, und ich bewundere ihre Liebe und Hingabe.
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Register Register
absolutistische Monarchie 140 Afghanistan 44, 146, 174 Afrika 75 –, Einfluss der Haitianischen Revolution 191 –, kubanische Kämpfer 47 Aguascalientes, Mexiko 187 Ägypten, Märzrevolte 1919 186, 225 aktive Zuhörer 52, 236 Al-Aswad, M. 49 Algerien, Zeit von 1954–62 22, 111, 151, 168, 186 ,Allgemeinheit‘ 115 Almond, M. 109 Amerika, erster Kontinentalkongress 136 Amerikanische Revolution 1776 20, 27, 90, 128, 135 –138 –, Unabhängigkeitserklärung 69, 74, 136 f., 141, 220 Anabaptistische Herrschaft, Münster 28 Anansi die Spinne 36 Anden-Rebellion 1780 183 ,Andere‘, das 116 Andry-Aufstand, USA 1811 183 Anführer/Führung 101 –, Dialog mit Geführten 107 Angola, kubanischer Einfluss 173 ,Ansteckungsgefahr‘, fragwürdiger metaphorischer Gebrauch 86, 90 antikolonialistische Kämpfe 28, 135, 167, 183 –186 Appiah, K. A. 36 Apter, D. 231 arabische Assassinen 211
Arbeiterselbstverwaltung, faschistische Reaktion auf 212 Arendt, H. 90, 134, 138, 153, 174, 179 f., 234 Argentinien, ,zurückeroberte Fabriken‘ 212 Aristokratie der Plantagenbesitzer, Haiti 189 Aristoteles 88, 130 Arne-Thompson-Index 44 Arusha-Erklärung 69 Aschenputtel-Geschichte 67–70 Assmann, A. 77–79 Athen, klassische Epoche der Demokratie 129 f. Äthiopien 173, 184 atomistisches Individuum als Untersuchungsgegenstand 13 Aufklärung 13, 27, 71, 234 –, als Metaerzählung 21 –, ,Revolutionismus‘ 136, 143 Authentizität 43 f., 49, 107 Azteken 118 Babeuf, Verschwörung der Gleichen 157 Baker, K. M. 11, 133 f. Bandung-Konferenz 186 Barthes, R. 54 f., 71 Basken 227 Bastille, Fall der 7, 140, 153 –, Jahrestagsfeiern 150 Batista, F. 169 Bauernaufstände 222 –, Deutschland 205, 222 –, Frankreich 211
Register Bauernbündnis, USA 212 Bayo, A. 47, 69, 171 Befragung, detaillierte 13 Befreiungskämpfe –, antikolonialistische 27 f., 183, 185 –, weltweite Verbreitung 197 –, Prozess 180 f. Beispielwirkung 89 Belgien, Aufstände 1789 –90 143 Bemba, Volk der 43 f. Benario (Prestes), O. 227 Benin 173 Benjamin, T. 196 Benjamin, W. 26, 35 f., 48, 84, 90 f., 112 Berger, R. 11 Bergpredigt 69, 220 Berkeley, „People’s Park Riots“ 223 Berlin, revolutionäre Bewegung 1918 168, 222 Bertaux, D. 53 Bewegung der blockfreien Staaten 187 Bewusstsein 11, 51 –, kulturelles 131 –, revolutionäres 90 Biersack, A. 57 Bishop, M. 45 blutiger Sonntag 161, 224 Boccaccio, G. 36 Bolívar, S. 184, 191 Bolivien 222 –, Einfluss der Kubanischen Revolution 173 –, Inanspruchnahme der revolutionären Zeit 1952 – 54 211 –, Revolution an der Wahlurne 239 –, revolutionäre Zeit 1952–54 22, 144, 168, 186 –, Tod Ché Guevaras 225 –, Volksaufstand 2003 198 Bolschewiken 162 Bonaparte, Napoleon 158, 189 f. „Boston Tea Party“ 136 „Boxeraufstand“, China 28, 185 Brasilien –, marxistische Kolonne Prestes 222
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–, Republik Palmares 28, 183 –, Unabhängigkeitskampf 110 Braudel, F. 116 Braun, O. (Li De) 227 Brecht, B. 225 Br’er Rabbit 36 bricolage/bricoleur 51– 53, 65, 72, 111, 233 Brinton, C. 87, 135, 174, 232 Britisch-Guayana –, demokratische anti-imperialistische Bewegung 186 –, revolutionäre Möglichkeiten 22, 169 Brown, John –, „Verfassung für eine freie Republik“ 223 –, Geschichte von 183 f. Buenfil, N. 196 Bulavin-Rebellion, Kosaken 222 Burbank, G. 219 Burckhardt, J. 8, 43 f., 91 Bürgerrechtsbewegung, USA 197 Burkina Faso, Revolution 1983 173, 224 Burma, Aufstand 1988 224 Byatt, A. S. 11, 54 Cabezas, O. 45 Cabral, A. 49, 225 –, mythisches Vermächtnis 74 –, Strickmütze als Symbol 240 Cabrera Infante, G. 99 Callinicos, A. 159 Camus, A. 174 Cantwell, R. 84 f., 88 Cárdenas, L. 195 f. Carr, E. H. 112 Casa del Obrero Mundial („Haus des Weltarbeiters“), Mexiko-Stadt 217 Castoriadis, C. 215 f. Castro, F. 105, 169 –171 Chaucer, G. 36 Chaunu, P. 153 Chiapas, Mexiko 20, 197 Chile –, Regierungszeit Allendes 1970 –73 186
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Register
–, „República Socialista“, Revolution 1932 205, 228 –, Wahlen 1970 174 –, Wobblies 222 China –, Bewegung des 4. Mai 1919 185 f. –, „Boxeraufstand“ 28, 185 –, Kommunistische Partei 185 –, Revolution 1949 s. u. –, revolutionäre Zeit 181 –, Volksaufstand 1911 90 Chinesische Revolution 1949 20, 27, 108, 135, 138, 152, 160, 166 f., 180, 216 –, anti-kolonialistisch 167 Chissano, J. 47 Christentum 113, 220 –, Reformationsbewegung 128, 131 Cienfuegos, C. 105 Cohen, P. 71, 112 Collier, R. 209 Comandante Ramona, EZLN 7 Corney, F. 173, 175, 182 Crews, H. 58 Cunningham, A. 221 Cvetkovich, A. 78, 98 Danton, G. 157 Darnton, R. 74, 116, 233, 153, 155 f., 158 f. Davis, N. 57 Debray, R. 69 Debs, E. 219 Deleuze, G. 67, 236 Dessalines, J.-J. 189 Deutschland, Bauernaufstand 1525 222 Dhofar-Rebellion, Oman 1962–75 224 Díaz, P. 192, 217 f. –, Widerstand gegen 192 f. Dien Bien Puh, französische Niederlage bei 222 Diskriminierung, kubanisches Verbot von 170 Domino-Theorie 87 Dunbar-Ortiz, R. 220 f. Dunn, J. 134, 154, 158, 163, 167 f., 173, 194
Ecuador, Glorreiche Mairevolution 1944 222 Egalitarismus 28, 187 Einwohner, R. 17 El Salvador –, Einfluss der Kubanischen Revolution 173 –, Tacuba, Arbeiter-Bauern-Sowjet 222 Eliten 72, 101, 115 –, Amerika im 18. Jahrhundert 136 –, Führungs- 101 –, Geschichten der 71, 101 –, Legitimation 79 –, Mythen der 74, 79 –, noblesse oblige 27, 127 –, ,reformierte‘ 144 f. –, Revolutionsgeschichten der 180 Encuentro Latinoamericano de Empresas Recuperados 212 Engels, F. 45, 69, 115, 182, 226 England –, Bürgerkrieg 132 –, „Glorious Revolution“ 1688 27, 128, 132–135, 143, 145, 180 –, großer Aufstand 1381 („Great Rising“) 183 enragés 157 Entschlossenheit 169 Erinnerung(en) 9, 25 f., 43, 66, 99, 242 –, Arten 76 –, autobiographische 81 –, kollektive 77–79, 81– 84, 237 Erzählkonventionen 35 Erzählung(en) 9 f., 16, 28, 53 – 57, 78 –, Definition 25 f., 56 f. –, nördlich-westliche Konventionen 35 –, Meta- 21, 38, 179, 206 –, Rolle der 25 –, Übersetzbarkeit 54 –, Volks- 10, 71, 105, 183, 198 Europa, Aufstände/gescheiterte Revolutionen 1848 143 f., 151 Eurozentrismus, griechischer Ursprung 128 Evans, M. 111
Register Everett-Massaker, USA 1916 224 Exodusgeschichte 28, 69, 106, 108, 131, 182 f., 196 EZLN („Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung“) 7, 46, 49, 110, 197 Fabeln des Aesop 36, 69 Fakten 13 f., 39, 42, 59, 71, 81, 239 –, Nähe zur Fiktion 13 f., 92, 112 –, ,verlässliche Beweise‘ 14 Fanon, F. 179 Farbrevolutionen/Samtrevolutionen, Osteuropa 20, 87, 106, 129, 144 f., 168, 239 Farid, M. 225 Faulkner, W. 76 Fauriol, G. 188, 190 Fédon-Rebellion, Grenada 1795 143, 183, 190 f. „festival of the oppressed“ 213 f. Finley, M. 134, 182 Finnland, Revolution 1917 222 Foran, J. 12, 21, 84, 86, 167, 192, 195 f. Forschung, feministische 84 Foucault, M. 111 Frankreich –, bourses de travail 212 –, Dritte Republik 215 –, Französische Revolution 1789 s. u. –, Generalstände 140 –142 –, Krieg gegen Preußen 214 –, Verfassung von 1791 141 Französische Revolution 1789 20, 22, 27, 74, 89, 101, 108, 111, 127 f., 139 f., 143, 145, 149 f., 152 –159, 162 f., 174, 179, 187 –, Chronologie 139, 142 –, Darstellung ,revisionistischer Schulen‘ 158 –, historisch privilegierte Position 127 –, Namensänderungen 156 –, neue Zeitrechnung/Revolutionskalender 155 f. –, Versprechen 189 Frauen, Widerstand 18 Freiheit und Befreiung, Revolutionsge-
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schichten von 10, 28, 137, 169, 179 – 204, 207, 239 Freire, P. 107 Freiwilligkeit 120 Friesen, G. 221 Fuentes, C. 114 Furet, F. 11, 89, 153, 158 f., 165 Gaines, J. 86, 90 Galeano, E. 15 Gandhi, M. 223 –, Satyagraha-Bewegung 186 Garibaldi, G. 110, 226 Gedächtnis 76– 84, 211, 232 –, Arten 76 –, kollektives 18, 36 f., 72, 77– 83, 237 –, soziales 77 f. Geertz, C. 57, 80, 109 „Gefühlsarchiv“ 78, 82, 98 Gerüchte 44, 110 Geschichte 13, 42 f. –, alternative Konstruktionen von 57 –, Bröckeln ihrer Fundamente 117 –, Fluss der 21 –, Konstruktion von oben 15, 112 –, Konzepte von 113 –, longue durée 116 –, ,offizielle‘ 78 Geschichten –, Bedeutung der Frauen 18 –, einer besseren Zukunft 23 –, elitäre 26, 100, 180, 233 –, -erzähler 12, 25 f., 52, 58, 84, 97, 111 –, Gegengeschichten 101, 236 –, Herkunft 43 –, ,Infrastruktur‘ 57 –, offenes Ende 51 –, ,offizielle‘ 68 –, regional begrenzte 45 –, revolutionäre 10, 51 –, standardisierte Plots 44, 50, 56 –, Struktur 238 –, Universalität 55 –, vergangene Ungerechtigkeiten 10 –, verschiedene Zwecke 12 f., 65
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Register
–, vertraute 41 f., 85 –, Widerstand 102 –, Wiedererzählung von 46, 233–235 Geschichten aus 1001 Nacht 18, 36, 69 Gewalt 103, 198 Ghana 174 –, revolutionäre Situation 1979 224 Ghuangzhou, „Drei-Tages-Sowjet“ 29, 223 Gildea, R. 82 Gilly, A. 191, 195, 197 f. Globalisierungsgegner/WTO-Proteste 115, 197, 223, 239 Goethe, J. W. von 158 Goldstone, J. 11, 21 Gómez, M. 105 Gonzales, M. 217 f. „Green Corn Rebellion“, Oklahoma 1917 205, 219 – 221 Grenada –, Fédon-Rebellion 1795 143, 183, 190 f. –, Revolution 1979 151, 170, 173, 187 Griechenland, Kommunisten 168 Grimm, Brüder 36, 69 Griswold, W. 43 f. ,groupuscules‘ 107 Groves, General Marmaduke 205 Guatemala –, demokratische anti-imperialistische Bewegung 225 –, revolutionäre Möglichkeiten 22, 168, 186 Guattari, F. 236, 38, 67 Guayana, La-Resouvenir-Rebellion 1823 183 Guevara, E. (Ché) 49, 69, 75, 105, 110, 171, 173 f., 225 f. –, Allgegenwärtigkeit auf T-shirts 210 –, mythischer Status 24, 74 –, Barett als Symbol 240 Gutiérrez, G. 180 Haitianische Revolution 1791 28, 143, 183, 188 –191 –, Bedeutung für die afrikanische Diaspora 188
–, Einfluss 190 f. –, Marginalisierung 190 –, Vorreiterstellung 189 f. Halbwachs, M. 82 f. Halliday, F. 132 Halpern, S. 76 f. Hamburg, Räterepublik 1923 222 Hart, J. 217 Havelock, E. 88 Hegel, G. W. F. 29, 113 f., 206 Helden und Märtyrer 99, 109 Herodot 14, 130 Higonnet, P. 22, 81 Hinchman, L. 55 Hinchman, S. 55 Historie 13, 41, 58, 79, 83, 112 –114, 213 –, alternative Geschichtskonstruktionen 57 –, als ,offizielle Geschichte‘ 78 –, Konstruktion von oben 15, 112 –, longue durée 116 –, Trennung von Mythos 71 Ho Chi Minh (Nguyen Tat Thanh) 74, 110, 225 Hobbes, T. 156 Hobsbawm, E. 14, 108, 112, 144, 225 Hollander, J. 17 Holloway, J. 12 Honduras, Staatsstreich 2009 205 Horowitz, I. 179 f. Horsley, R. 179 Huerta, V. 193, 218 Hume, D. 88 Hundertjähriger Krieg 211 Hunt, L. 116 Huntington, S. 134 Huyssen, A. 90 Idealismus 120 Igbo-Frauen, Aufstand 1929, Nigeria 205 Imagination 23, 214, 231 –, revolutionäre 23, 98, 195, 210, 233 Indien –, Baliapal-Bewegung 224 –, Naxalitaufstand 1967 29
Register –, Sepoy-Rebellion 1857 28, 184 –, „Upper Cloth“-Revolte 1859 223 indigene Völker, Fetischisierung 117 Indonesien, Zeit von 1945–49 109, 186 Inka-Gesellschaft 118 –, Mythen 75 Intentionalität 11, 88, 206 Internationale, die 216 Internationaler Frauentag 162 Internet 83, 194 Iran –, ,Revolution‘ 1979 22, 27, 151, 174, 180, 207 –, Volksaufstand 1905 90, 129 –, Zeit des demokratischen Anti-Imperialismus 1951– 53 168, 186 Irland –, „Bloody Sundays“, Dublin und Derry 224 –, irische Rebellion 1798 143 –, Unabhängigkeitskrieg 1919–21 185, 224 ,Islamische Revolution‘ 20 Israel, Masada-Geschichte 75 Italien –, autunno caldo (der „heiße Herbst“) 1969 212 –, biennio rosso (die „roten Jahre“) 1919– 20 168, 212 –, Kämpfe für ein vereintes 110 –, ,Rote Wochen von Ancona‘ 1914 212 Jacquerie 211 Jakobiner 157 Jamaika 98 –, demokratische anti-imperialistische Bewegung 186 –, Volksrepublik von Greenwich Town 1980 29, 222 –, Wahlen 1972 174 James II, König von England 133 James, C. L. R. 191 Jefferson, T. 18 f., 69, 136 f., 227 f. kalter Krieg 168, 212 Kambodscha 174
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Kamil, M. 225 Kampwirth, K. 17 Kaocen-Revolte der Tuareg 1916 –17, Niger 224 Kaplan, S. 153 Kapverden/Guinea-Bissau 49, 74, 186 Kenia, Rebellion 1952 – 60 19, 168, 186 Khasnabish, A. 12 King, Martin Luther 88 klassenbasierte Revolten 27, 150 Klassenbewusstsein 90 Knight, A. 89, 191, 195, 217 Knight, F. 189, 191 Kollektivhandlungen 237 –, Repertoires der 98, 104 Kolumbien –, la violencia 222 –, Rebellion 19 Konstruktivismus 38 Koran 36, 69 Korea, Unabhängigkeitsbewegung März 1919 186, 223 Kosmologie, revolutionäre 47 Kreativität, Momente sozialer 206 Kronstadt-Rebellion 1921 164, 205, 208 Kuba 22 –, internationale Präsenz 171 –, Kämpfer in Afrika 47 –, Revolution 1959 s. u. –, Unabhängigkeitskrieg 1895 – 98 105, 184 f. Kubanische Revolution 1959 20, 27, 90, 101 f., 151, 158, 166 –175, 207, 228 –, Beispielhaftigkeit 172 f. –, Bewegung des 26. Juli 169 –, Einfluss 87, 169 –, imaginative Kraft 166 f. –, kultureller Einfluss 170 –, ,Mythos der Sierra‘ 171 Kultur –, Alltagskultur 13, 15 f., 37, 68, 70, 237 –, griechischer Einfluss 130 –, ,kulturelle Anpassung‘ (,cultural re-editing‘) 49 –, Populärkultur 37
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Register
Kumar, K. 21, 135, 145 La Rochefoucauld, Duc de 7, 149 Lachmann, R. 132 Landarbeiterrebellion, mexikanische Kommunalisten 187, 193 Laos 174 Lateinamerika –, Bedeutung Zapatas 46 –, Unabhängigkeitskriege 143 Lee, C. 77 f. l’Enclos, N. de 34 Lenin, V. I. 69, 161–166, 174, 103, 213 León, Nicaragua, Widerstandsgeschichten 45 Levellers und Diggers 128, 132 Lévi-Strauss, C. 73 Lewis, B. 112 f. Liberia 184 Liebknecht, K. 182 Lincoln, B. 70 Linstroth, J. 227 Lloyd George, D. 8 Locke, John 133 Louis XIV, König von Frankreich 133 Louis XVI, König von Frankreich 7, 149 –, Hinrichtung 154 Los Angeles, „Zoot Suit Riots“ 223 Luxemburg, R. 182 Maceo, A. 105 Madero, F. 192 f., 217 f. Magón, Brüder 217, 225 Mahdi-Rebellion, Sudan 1880er 28, 184 Makhno, N. 208 Malaysia, Zeit von 1948–60 168, 186 Malia, M. 134 f., 163, 166, 216 Manco-Inca-Rebellion 1536–72 183 Manley, M. 98 Mao Zedong 69, 213 f. Marcel, É. 211 Märchen 36, 44, 68 –, mahnende Funktion 103 Marcus, G. 15 Margalit, A. 79
Markoff, J. 206 ,Marschroute‘ 45 Marseillaise, die 189, 210, 216 Martí, F. 222 Martí, J. 105 Marx, K. 45, 69, 150, 181 f., 213 – 215, 226 Masaniello-Revolte, Neapel 1647 28 f., 222 Maya-Gesellschaft –, Hang zur Kriegstreiberei 118 –, Mythen 75 Mayer, A. 89 Mazzuca, S. 209 McAdam, D. 29 McAuley, C. 190 f. McGranahan, C. 112 f. McNeill, W. 11 Meiji-Restauration, Japan 1868 129, 160 Menschen- und Bürgerrechtserklärung, Frankreich 141 Menschewiken 162 –164 Messen und Benennen 39 Metaerzählung 21, 38, 179, 206 Mexikanische Revolution(en) 1910 – 20 144, 160, 187, 191–196 –, Generalstreik 1916 194, 218 –, Verfassung von 1917 187, 194 Mexikas (Azteken) –, Hang zur Kriegstreiberei 118 –, Mythen 75 Mexiko –, anarchistische Republik 1911, Baja California 205, 217 f. –, Mexikanische Revolution s. o. –, Rote Bataillone 1927 29, 218 –, Tlatelolco-Massaker 1968 196 Michelet, J. 153 Mimesis 9 f., 26, 53, 59, 65 – 67, 84 – 92, 99, 120, 233, 241 –, als Katalysator 66 Mimikry 84 – 86 –, ,aneignende‘ 90 Miou-Miou 34 Mobilisierung 21 Moncada-Baracken, Kuba 169
Register Mornet, D. 119, 139 Mosambik –, kubanischer Einfluss 173 –, Bekanntheit Zapatas 210 München –, Räterepublik 1919 168, 222 Münster, Bauernaufstand 205 Mukmin, Kasan, Volksaufstand in OstJava 1904 223 Muskogee-Indianer 220 Mussolini, B. 8 Mythos, Mythen 9 f., 26, 38, 53, 59, 65– 67, 70 –76, 89, 91 f., 233 –, als kulturelles Erbe 75 –, Ausdruck von Idealen 72 –, dialektische Verbindung zur Aufklärung 71 –, Kampf um Kontrolle über 73 –, kollektive 74 –, Schöpfungs-/Ursprungsmythos 67, 70 Namibia –, Befreiungskrieg 186 –, Bekanntheit der Marseillaise 210 –, Bolívar-Statue 184 Nat Turners Rebellion, USA 1831 183 Nationalismus, China 167 Naxalitaufstand, Indien 1967 29, 224 Negri, A. 143, 158 „Nelkenrevolution“, Portugal 1974 144, 222 Nepal, ,verhandelte Revolutionen‘ 239 „New York Conspiracy“ 1741 29, 212 New Yorker „Stonewall Riots“ 1969 223 Nicaragua –, Revolution 1979 22, 27, 45, 101 f., 106, 151, 173, 180, 207 –, Sandinos Rebellion 1926–34 222 Nigeria, Bürgerkrieg 1967–70 224 Nimtz, A. 226 nomothetische Erklärungen, Forderung nach 99, 119 Nordafrika, Unabhängigkeitskämpfe 222 f. Nordjemen, Bürgerkrieg 1962–70 224
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„North-West Rebellions“, Kanada 1885 210 Nostalgie 79 f. Obregón, Á. 194 f., 218 Oklahoma, sozialistische Partei 219 Okri, B. 232 Orientalismus, akademischer 151 Orozco, P. 193 Orwell, G. 79 Österreich 75, 142 Ovid 36 Ozouf, M. 11 Paige, J. 21, 167 Paine, T. 49, 69, 154, 226 Palästinenser –, Bekanntheit Joe Hills 210 –, Palästinensische Befreiungsorganisation PLO 227 Parelli, C. 18 Paris 1968 34 Pariser Kommune 27, 89 f., 115, 151, 156, 163, 208, 212, 213 – 216, 231 –, Flagge 115 Parker, N. 11 f., 17, 55 f., 98, 134, 184 f. Passerini, L. 81 Paz, O. 89 Pérez, L., Jr. 173 Persien (Iran), konstitutionelle Revolution 1905 144, 160 Peru, Einfluss der Kubanischen Revolution 173 Philippinen, Rebellion 1946 – 53/54 19, 186 Phillips, W. 97 Pilbeam, P. 216 Piratenenklaven, demokratische 211 Pius VI., Papst 142 Plan von Ayala, Mexiko 193 Plan von San Luis Potosí 192 Platon 130 Polletta, F. 11, 41, 52, 236 Polnische Revolte 1794 143 Popkin, S. 188
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Register
Portugal –, „Nelkenrevolution“ 1974 144, 222 –, Kolonialkrieg 1961–74 186 –, republikanische Revolution 1910 144, 160, 222 Positionskrieg/Manöverkrieg 169 „Prager Frühling“ 1968 223 Presley, E. 14 Quinney, R. 11 Rabbi Baal Shem Tov 234 f. Rabbi Israel von Rizhin 235 Rabbi Mosche-Leib 235 Raynal, Abbé 182 „Razins Revolte“/Kosaken-Rebellion 1670 –71 222 Rebellion 16, 18 f. –, Arten 18 –, Behebung bestimmter Missstände 19, 22 –, Mikro- 208 Rechte 180 f. „Red River Rebellion“, Kanada 1869–79 210 „Red String Conspiracy“ Georgia, USA 1736 115 Reed, J. 162 Renaissance 8, 11 Republik Palmares, Brasilien 28, 183 Revolution(en) –, ,behavioristische‘, 1960er 38 –, blinder Eifer 103 f. –, Definitionsversuche 16, 21 –, elitäre Geschichten 127 –, europäische „Farb-“ s. o. –, Imaginationen 23 –, Möglichkeit zur 36 –, Opferbereitschaft 23 –, -sromantik 108 f. –, Standarderzählung 101 –, Typen 10, 138 Revolutionsmuseum Chihuahua 219 Rhizommodell 67 Riel, L. 210
Robespierre, M. de 157 Rodney, W. 69 Rom –, Billigung des Christentums 112 –, Einfluss der Antike 130, 181 Roosevelt, F. D. 74 Rosenberg, W. 166 Rote Bataillone, Mexiko-Stadt 1927 29, 218 rote Flagge 115, 214 Rotes Wien 1918 – 38 168, 222 Roy, M. N. 226 Russell, D. E. H. 19 Russland –, Bürgerkrieg 164 –, Ehegesetzgebung 1918 164 –, Februarrevolution 1917 161, 187 –, Oktoberrevolution 1917 20, 22, 27, 89, 101, 108, 135, 138, 151, 159 –166, 173, 180 –, Volksaufstand 1905 90, 129, 144, 161 f., 224 Sacré-Cœur-Basilika, Paris 215 Saint-Just, L. de 110, 157 Sakwa, R. 136 „Salz der Erde“, Fetischisierung 119 Sánchez Lira, M. 109 Sandinisten, 1920er 47 Sandinistische Nationale Befreiungsfront 47 sans-culottes, Frankreich 1793 208 Sansibar, Revolution 1964 173, 224 Scheherazade 18 Scott, J. 17 Selbstbestimmung 28 Sepoy-Rebellion 1857 28, 184 Sewell, W., Jr. 35, 54, 57, 140, 153, 159, 162 Shays’ Rebellion, USA 1786 – 87 115, 205, 227 Shils, E. 111 „Siakal-Vorfall“, Iran 1971 224 Sklavenaufstand Gabriel Prossers, USA 1800 183
Register Sklavenaufstände 106, 108, 183, 191, 196 Sklaverei 156, 210 –, Abschaffung auf Haiti 188 f. Skocpol, T. 21 Smith, R. 11 Sohrabi, N. 90 Somers, M. 35 Somoza, A. 45 Sowjets, Russland 161–165 Sozialrevolution, Geschichte von der 10, 17, 22, 101, 127, 139, 146, 149–178, 180 –, Frankreich 1789 155 –159 –, Russland 1917 159 –166 Sozialwissenschaften 26, 39, 46, 53, 55, 73, 112, 119 f., 238 –, Geschichten 41 –, Hauptprojekte 13 –, Methoden 9, 41, 240 Spartakus 183, 196, 207 Spartakus’ Sklavenrevolte 28, 108, 183, 196, 207 –, inspirierender Einfluss 182 Spartakusbund, Deutschland 182 Sprache –, Einschränkung von Möglichkeiten 113 –, Reifeprozess von Wörtern 48 –, revolutionsbedingte Änderungen 156, 164, 170 St. Denis 34 Staat, der 198 –, Kampf um Machtübernahme 150 Stalin, J. 166 Steffens, L. 8, 15, 44, 161 Stendahl, K. 179 strukturelle Umstände, historische 17, 74 Subcomandante Marcos 24, 49 Südafrika, Befreiungskampf 186, 210 Sukarno, Rede zum Unabhängigkeitstag 1960 108 Sun Yat Sen 129 Swidler, A. 98 Taibo II, P. 231 „Terror“, der, 1793 – 94 154–159
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Thermidorianische Reaktion 157 Tilly, C. 11, 21 f., 34, 37, 41, 44, 49 – 51, 55, 98, 116 Tlatelolco-Massaker, Mexiko 1968 196 To Duc Thang 114 f. Toussaint L’Ouverture, F.-D. 182, 189 Toynbee, A. 86, 137 Tradition(en) 84 f. –, ,erfundene‘ 111 f. –, religiöse 42 –, revolutionäre 54 f., 111 Trevelyan, G. 144 Trikontinentale Konferenz 186 Trotsky, L. 22, 164 Trouillot, M. 188 Túpac Amaru 183 –, mythischer Status 24 Túpac Amaru II 183 Túpac Katari 183 –, mythischer Status 24 Türkei –, historischer Armenienkonflikt 14 –, „Jungtürken“-Bewegung 129 Übersetzungsproblematiken 48 f. UdSSR (Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken), Intervention der Alliierten 115 Unausweichlichkeit 45, 80, 103 Ungarn –, Aufstand 1956 223 –, Räterepublik 1919 168, 222 Ursache-Wirkungs-Beziehungen 50 Uruguay, Unabhängigkeitskampf 110 USA (Vereinigte Staaten von Amerika) –, afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung 197 –, Amerikanische Revolution 1776 s. o. –, Einfluss der Kubanischen Revolution 173 –, Haymarket-Märtyrer 223, 231 –, Mythos der 1830er 74 f. –, Verfassung 137
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Register
Venezuela –, Einfluss der Kubanischen Revolution 173 –, Revolution an der Wahlurne 239 Veränderung –, Beispielwirkung 71 –, Möglichkeit 34, 88, 166 –, Verlangen nach 98 –, Vision einer besseren Welt 169 verlorene und vergessene Revolutionsgeschichten 10, 206, 209, 224, 227, 234 Versailler Konferenz 1919 110 Veseys Rebellion, USA 1822 183 Veyne, P. 76 Vicente, S. San 231 Vietnam 28, 174 –, Mythos heldenhafter Kämpfer 75 –, Nationaler Befreiungskrieg 151 –, „Phu Rieng Do“-Arbeiteraufstand 1930 223 –, revolutionäre Zeit 1945–75 22, 168, 186, 223 –, Unabhängigkeitserklärung 184 Villa, F. („Pancho“) 193 f., 217–219 –, Ermordung 1923 195 Villarreal, R. 109 Volksrepublik von Greenwich Town, Jamaika 1980 29, 222 Vortheorie 37 f. Wahrheit(en) 43, 58, 233 –, in Fiktion 42 – 44 –, Krieg und Provokation 44 –, und Nachprüfbarkeit 79–81 „Waffen der Schwachen“, die 102 Walton, J. 19 Walzer, M. 131
Weinstein, J. 232 Westfälischer Friede 1648 131 Whiskey-Rebellion, USA 1791– 94 205 White, H. 11, 53, 55 Widerstand –, alltäglicher 206 –, defensive Grundhaltung 22 –, indigener 28 –, problematisches Konzept 16 –, Strategie 18 –, unterschiedliche Formen 17 f. „Wiegen der Zivilisation“ 75 Wilson, W. 110 f., 220 Wine, A. 196 Wobblies („Industrial Workers of the World“) 222, 224 Wydra, H. 143, 145 Yang, G. 77 f. Young, M. 166 YouTube 194 Yu Gwansun 223 Zapata, E. 73, 75, 110, 116, 187, 193, 196, 216–219, 227 –, Aufstand in Morelos 193 –, Ermordung 195 –, Kampf um die mythische Figur 73 –, mythischer Status 24 –, weißes Pferd als Symbol 24, 47, 195, 210, 240 Zeitplan 8 Zhou Enlai 153, 240 zivilisierende und demokratisierende Revolution, Geschichte von der 10, 27, 127, 129 –132, 134, 138 f., 143 –146, 180, 233