Macht und Herrschaft in der Servicewelt [1. ed.] 9783868546279, 9783868542813


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German Pages 398 [394] Year 2014

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Macht und Herrschaft in der Servicewelt [1. ed.]
 9783868546279, 9783868542813

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Philipp Staab

Macht und Herrschaft in der Servicewelt

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2014 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-627-9 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde © 2014 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-281-3 Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras Typografie und Herstellung: Jan und Elke Enns Satz aus Stempel Garamond von Dörlemann Satz, Lemförde

Für Erna Staab Für Ulli und Theo Für Alma

Inhalt

I

Einleitung

9

II Einfache Dienstleistungsarbeit 20 Visionen und Konzepte 20 Einfache Dienstleistungsarbeit und Sozialstrukturanalyse Institutionelle Arrangements 45 III Arbeit! Macht! Herrschaft? 54 Wie hängen Macht und Herrschaft zusammen? Arbeit als Ort der Verdichtung von Herrschaft? Empirische Befunde arbeitssoziologischer Herrschaftsforschung 73

28

61 66

IV Logiken der Unterwerfung 152 Soziale Sorge 153 Betreuter Konsum 191 Tertiäre »Männerarbeit« 254 Reine Gewährleistung 291 V Das Segment einfacher Dienstleistungsarbeit 340 Rationalisierung und die Vermachtung der Arbeitssituation 341 Unterschichtung 351 Lebensführung: Optionen und Sackgassen 361 Herrschaft und Proletarität in der Dienstleistungsgesellschaft 370 Danksagung

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Literaturverzeichnis Zum Autor

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»Wer sich in seiner Lebensführung den Bedingungen kapitalistischen Erfolges nicht anpasst, geht unter oder kommt nicht hoch.«1

I

Einleitung

Die alte Bundesrepublik war lange Zeit eine Industriegesellschaft par excellence. Der soziale Kompromiss der Nachkriegszeit gewährleistete für »goldene dreißig Jahre« den Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und abhängig Beschäftigten, der das institutionelle Rückgrat der Arbeitsgesellschaft bildete. Paradigmatisch lässt sich diese Erfolgsgeschichte an der Entwicklung der Industriearbeiterschaft ablesen. Die Arbeits- und Industriesoziologie stellt einen stetig fortschreitenden Prozess institutioneller und sozialer Integration der Industriearbeiter in der Nachkriegszeit fest: Korporatismus und Tarifautonomie gewährleisteten den materiellen Aufstieg, die Humanisierung des Arbeitsprozesses beseitigte die schwersten gesundheitlichen Belastungen, betriebsinterne Arbeitsmärkte boten Chancen sozialen Aufstiegs, die Anhebung des Lebensstandards gewährleistete immer größere Dispositionsspielräume in der Freizeit und entlastete das Leben vom Zwang »von der Hand in den Mund«2 leben zu müssen. Vom Schreckgespenst oder Hoffnungsfunken revolutionärer gesellschaftlicher Entwicklungen wurde die Industriearbeiterschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer tragenden Säule der bundesrepublikanischen Sozialordnung. Viel ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten über den neoliberalen Angriff auf diese alte Ordnung geschrieben worden. Auch in den industriellen Kernsektoren der bundesrepublikanischen Arbeitswelt sind die Liberalisierungs- und Deregulierungspolitiken der vergangenen dreißig Jahre nicht folgenlos geblieben. Allerdings hat sich die institutionelle Ordnung des »Industrialismus«3 als erstaunlich anpassungsfähig und bemerkenswert stabil erwiesen. 1 Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 92. 2 Bahrdt, »Die Angestellten«, S. 16. 3 Baethge, »Der unendlich lange Abschied vom Industrialismus«; ders., »Abschied

vom Industrialismus«.

9

Dennoch kann von einem fundamentalen Wandel moderner Arbeitsgesellschaften gesprochen werden, deren anderer Aspekt im Blick auf die Wirkmächtigkeit politisch-ökonomischer Ideologien allerdings allzu oft außen vor bleibt: Die Bundesrepublik ist nicht mehr ohne Weiteres als integrierte industrielle Sozialordnung beschreibbar. Das Kleinod, als das der altbundesrepublikanische soziale Kompromiss im Rückblick häufig dargestellt wird,4 zeigte spätestens in den 1980er Jahren deutliche Abnutzungserscheinungen und ist mittlerweile Geschichte geworden. Die Berliner Republik ist, trotz der im internationalen Vergleich noch immer beachtlichen Beständigkeit eines hoch produktiven industriellen Sektors, primär eine Dienstleistungsgesellschaft.5 Die wirtschaftliche Tertiarisierung bleibt nicht folgenlos für die institutionelle Ordnung des Arbeitsmarktes, sie verändert Tätigkeitsprofile und Organisationskontexte und beeinflusst Modelle der Lebensführung. Im Zuge dieses Wandels brechen neue Spaltungslinien in der bundesrepublikanischen Sozialstruktur auf, die das Thema der vorliegenden Studie sind. Es wird unter herrschaftstheoretischer Perspektive ein Segment der »Einfacharbeit« in den Blick genommen, das bisher beinahe unsichtbar im Schatten industrieller Tätigkeiten und hoch qualifizierter Dienstleistungsarbeit existierte: das Feld »einfacher« Dienstleistungsarbeit. Die Invisibilität dieses Arbeitsmarktsegments spiegelt sich im alltäglichen Vollzug der betreffenden Tätigkeiten: Ob die Reinigung von Büroflächen, der Wachschutz für einen Industriekomplex, das Durch- und Einräumen in Supermärkten und Textilgeschäften oder der Transport unterschiedlichster Güter – immer handelt es sich um Repetitiv- und Normalisierungsarbeit, um Prozesse, die dann als erfolgreich gelten, wenn sie möglichst unbemerkt bleiben. Auch die wissenschaftlichen Prognosen zur Entwicklung von Dienstleistungsgesellschaften tragen dazu bei, dass die einfachen Dienste weitgehend im Dunkel öffentlicher und politischer Aufmerksamkeit ge4 Es handelt sich hierbei freilich um eine normative Rekonstruktion, die mit der

Realität der Industriegesellschaft nur teilweise korrespondiert. 5 Rainer Geißler versucht, dieses scheinbar paradoxe Phänomen mit dem Hybridbegriff »industrielle Dienstleistungsgesellschaft« zu benennen. Die unterschiedlichen Aspekte der Dominanz von Dienstleistungen in der bundesrepublikanischen Arbeitsgesellschaft werden in Kapitel II ausführlich dargestellt.

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blieben sind. Mit dem Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft wurden vornehmlich positive Erwartungen verknüpft. Nicht umsonst trägt das wohl einflussreichste Buch zur erwarteten Entwicklung der Dienstleistungsgesellschaft den Titel »Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts«. Der Autor dieses Werks, Jean Fourastié, prognostizierte Ende der 1940er Jahre, die Expansion von Dienstleistungsarbeit würde vor allem saubere, gut bezahlte, wissensintensive, interaktive und von Autonomie geprägte Tätigkeiten entstehen lassen. Ein entscheidender Baustein in Fourastiés Theorie war seine Behauptung der Rationalisierungsresistenz von Dienstleistungen: Der Industriearbeiter6 war im Taylorismus zum Knecht der Technik geworden, leicht ersetzbar und von seiner Tätigkeit entfremdet, die in immer kleinere Einzelschritte zerlegt worden war. Technische Rationalisierung war die Grundlage des Arbeitsprozesses und drohte stets menschliche Arbeit zu entwerten und tendenziell überflüssig zu machen. Technik war Herrschaft. Dienstleistungen, so Fourastié, funktionierten dagegen im direkten Gegenüber von Kunden und Dienstleistern. Im Prozess der Leistungserbringung seien permanente Abstimmungen notwendig, der Arbeitsprozess könne technisch nicht entscheidend beschleunigt werden. Die Dienstleistungsgesellschaft projizierte eine Humanisierung der Arbeitswelt, die sich letztlich auch in einer Beruhigung sozialstruktureller Verwerfungen ausdrücken werde. Die zyklischen Krisen der Industriegesellschaft seien in einer »tertiären Zivilisation«7 nur noch dunkle Erinnerungen. Heute wissen wir, dass diese Erwartungen zumindest teilweise enttäuscht wurden. Spätestens seit den 1990er Jahren erhielt das Bild einer allgemeinen Meliorisierung durch die Transformation der Arbeitswelt Risse. Mit der Realisierung dessen, was in den 1950er Jahren noch als optimistische Vision einer postindustriellen Gesellschaft verkündet worden war, traten auch deren Schattenseiten ans Licht: Tertiarisierung erzeugte keine allgemeine Humanisierung und 6 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird zum Zwecke besserer Lesbarkeit in

der Regel die männliche Form verwendet. Die Aussagen beziehen sich selbstverständlich auf beide Geschlechter, sofern der Text eine anderweitige Aussage nicht explizit nahelegt. In einigen Ausnahmefällen wird, wiederum im Dienste des bestmöglichen Textflusses, von dieser Faustregel abgewichen. 7 Fourastié, Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts.

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Aufwertung der Arbeit. Sie führte auch zur Expansion atypischer Beschäftigung und zur Etablierung von Niedriglohnsegmenten, die der korporatistischen Regulierung noch heute schwer zugänglich sind. Die soziologische Sozialstrukturanalyse hat diese Entwicklung früh registriert und darauf schon Anfang der 1990er Jahre mit der Frage nach der Entstehung eines postindustriellen Proletariats8 reagiert. War ein solches Dienstleistungsproletariat9 zu dieser Zeit noch schwer nachzuweisen, so operieren jüngere Arbeiten erfolgreich mit dem Konzept und liefern detaillierte statistische Erkenntnisse zu dieser Gruppe.10 Die Sozialstrukturanalyse scheint hiermit allerdings eine Frage aufzuwerfen, die sie alleine nur begrenzt beantworten kann. Die Konstatierung statistischer Aggregate im Rahmen der Sozialstruktur liefert erste Hinweise auf den spezifischen institutionellen Rahmen der einfachen Dienste und deren quantitative Bedeutung in der Arbeitsgesellschaft der Gegenwart. Betriebliche Bedingungskontexte der möglichen Proletarisierung von Dienstleistungsarbeit und die Folgen für Subjektkonstitutionen streift sie nur am Rande. Diese beiden Fragen jedoch gehören zum Kerngeschäft der Arbeits- und Industriesoziologie. Betriebliche Entstehungskontexte sozialstruktureller Entwicklungen thematisiert sie klassisch über die Frage der Rationalisierung des Arbeitsprozesses. Subjektivierungsdynamiken spielen von jeher eine Rolle im Rahmen der Arbeiterbewusstseinsforschung. Die Arbeits- und Industriesoziologie hat es in der alten Bundesrepublik verstanden, diese Teilaspekte sozialen Wandels auf die Erkenntnisse der Sozialstrukturanalyse zu beziehen. Hiervon zeugt die bereits angesprochene Debatte um die Entwicklung der Industriearbeit. Sie stand gesellschaftsdiagnostisch unter dem Stern des Marx’schen Proletarisierungstheorems. Die Kernfrage lautete, ob sich im Arbeitsprozess Dynamiken ausmachen ließen, die auf eine Abwertung »lebendiger« Arbeit und damit in Richtung einer Proletarisierung der Industriearbeiter deuteten. Es ging um die empirische Kontextualisierung optimistischerer Befunde zur Entwick-

8 Vgl. Esping-Andersen, »Post-industrial Class Structures«. 9 Vgl. Bahl/Staab, »Das Dienstleistungsproletariat«. 10 Oesch, Redrawing the Class Map; die Ergebnisse der Sozialstrukturanalyse

werden im zweiten Kapitel dieser Arbeit ausführlich besprochen.

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lung der Sozialstruktur wie Helmut Schelskys Nivellierungsthese11 und Theodor Geigers Analyse einer Pluralität der Schichtungen.12 In diesem Spannungsfeld entwickelte die Arbeits- und Industriesoziologie ihr empirisches und theoretisches Programm. Ihre Diagnosen bündelten sich im Kern in der Analyse der Aufwertung der Industriearbeit. Diese fand ihren Spiegel in einer »mentalen Entproletarisierung«. Dichotomistische Deutungen, die noch den ersterbenden Funken eines klassenkämpferischen Weltbildes enthielten, wichen einer stärker instrumentellen Bezugnahme auf die eigene Arbeit. Ein gestiegener materieller Dispositionsspielraum ermöglichte eine Differenzierung von Modellen privater Lebensführung. Die vorliegende Studie orientiert sich explizit an klassischen Arbeiten der Arbeits- und Industriesoziologie. Dies gilt vor allem für die thematische Ausrichtung: Es wird die Frage nach einem möglichen Proletarisierungsprozess gestellt, der nicht die Industriearbeit, sondern die einfachen Dienste betrifft. Ganz im Sinne klassischer Arbeiten wird dabei die Verbindung von Sozialstruktur, Arbeitssituation und Lebensführung gesucht. Die Datenerhebung zur vorliegenden Studie fand zwischen Sommer 2010 und Frühjahr 2012 statt. Zunächst wurden einige Experteninterviews geführt, die helfen sollten, das empirische Feld für die Datenerhebung zu strukturieren und Ratschläge für den Feldzugang einzuholen. Anschließend wurden über drei methodische Instrumente Daten für die Arbeitssituationsanalysen13 und die Frage nach

11 Schelsky, »Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs«. 12 Geiger, Klassengesellschaft im Schmelztiegel; Vester, »Was wurde aus dem Pro-

letariat?«. 13 Vgl. Thomas, Analyse der Arbeit; Georg/Meyn/Peter, Arbeitssituationsanalyse; den Überlegungen Konrad Thomas’ folgend wird die Arbeitssituation als kleinste Beobachtungseinheit, als »Zelle des Arbeitslebens« verstanden. Die Situation bildet den Rahmen des konkreten Arbeitsprozesses, in dem alltägliche Praxis und herrschaftsrelevante Konflikte in einem gemeinsamen Kontext analysiert werden können. Deutungsmusteranalysen (vgl. Oevermann, »Zur Analyse der Struktur von sozialen Deutungsmustern«; Matthiesen, »›BOURDIEU ‹ und ›KONOPKA ‹«; Neuendorff/Sabel, »Zur relativen Autonomie der Deutungsmuster«; Lüders, »Deutungsmusteranalyse«) ergänzen die handlungstheoretische Analyse der Situation, indem sie die Übersetzung der konkreten Erfahrung der Arbeitenden in deren spezifische Deutung leisten, die in der Folge wiederum handlungsleitend wirken kann. Im Blickfeld des Forschungs-

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Lebensführungsmodellen14 gesammelt. Untersucht wurden Arbeitssituationen in der Pflegearbeit, im Einzelhandel, in Zustellunternehmen und in Reinigungs- beziehungsweise anderen rein gewährleistenden Tätigkeiten.15 Beobachtungsdaten, erhoben einerseits im Bereich der konkreten Ausführung der Arbeit, andererseits im Bereich von Freizeit und Familienleben, bilden die erste Säule der Untersuchung.16 Die vorliegende Studie verfolgt einen praxistheoretischen Ansatz.17 Beobachtungsdaten ermöglichen einerseits, die Materialität von Praxis in den Arbeitssituationen zu erfassen. Andererseits bieten sie einen Zugang zu Praktiken alltäglicher Lebensführung. Ergänzt wurden die Beobachtungsdaten durch 18 Expertenin-

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vorhabens stand in erster Linie die Kategorie der typischen Arbeitssituation, das heißt die Elemente der Alltagssituation unter Einbeziehung des alltäglichen Erlebens der Beschäftigten. Fragen der Antizipation und Austragung sozialer Konflikte, spezifische Problemlagen des alltäglichen Arbeitsvollzugs und der rahmengebenden Rolle von Kontrollstrategien rückten daher in den Blick. Ausgerichtet war die Analyse dabei am Konzept alltäglicher Lebensführung, wie es seit den 1980er Jahren im Rahmen des Münchner Ansatzes subjektorientierter Soziologie verwendet wird (vgl. Voß, Lebensführung als Arbeit; Jurczyk/ Rerrich, Die Arbeit des Alltags; Projektgruppe »Alltägliche Lebensführung«; Weihrich/Voß, »Tag für Tag«). Die Fallauswahl orientierte sich an der Definition des Dienstleistungssektors gemäß der europäischen Arbeitskräftestichprobe. Hier werden produktionsbezogene, konsumorientierte, soziale und distributive Dienstleistungen unterschieden. In der vorliegenden Studie wird ein praxistheoretischer Ansatz verfolgt, weswegen besonderes Augenmerk auf die Materialität spezifischer Tätigkeiten gelegt wird. Produktionsnahe Dienstleistungen wurden daher nur am Rande (beispielsweise Beobachtungen externer Reinigungsdienste in einem Industriebetrieb) in den Blick genommen, weil davon auszugehen ist, dass es sich dabei entweder um Tätigkeiten handelt, die, ihrem materialen Profil gemäß, eigentlich industrielle Arbeit sind (bestimmte Formen der Leiharbeit beispielsweise), oder um solche, die prinzipiell produktionsnah und produktionsfern erfolgen können (wie Reinigungstätigkeiten). Die Anzahl der Beobachtungen zu benennen fällt nicht ganz leicht. Protokolliert wurden 24 Beobachtungen in Arbeitssituationen und 28 Beobachtungen in privaten Zusammenhängen. Faktisch sind Informationen aus vielen weiteren Feldterminen in die Analyse mit eingeflossen: zahlreiche Gespräche auf Betriebsversammlungen, an Stammtischen oder in privaten Wohnzimmern beispielsweise, die nicht separat protokolliert wurden. Vgl. Reckwitz, »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken«; ders., »Praktiken und Diskurse«.

terviews18 und 50 halbstrukturierte Interviews mit Arbeitnehmern. Ziel der Interviews war einerseits die Erhebung von Kontextwissen sowie andererseits der Zugang zu »subjektiven Erfahrungen«19 und arbeitsbezogenen Deutungsmustern. Gerade kollektive Deutungsmuster wurden auch über den dritten methodischen Baustein der vorliegenden Studie, über Gruppendiskussionen20 mit Arbeitnehmern, erhoben. Diese dienten auch der »Simulation« und Thematisierung von Konflikten, die die Arbeitssituationen, aber auch die allgemeine soziale Situation, in der sich die Arbeitnehmer befinden, prägen. Die Stellungnahmen der Beschäftigten zu solchen Problemkontexten haben daher Eingang in die Arbeitssituationsanalysen gefunden. Obwohl die einzelnen Unternehmen nicht zeitgleich untersucht wurden, kehrte ich doch immer wieder zu einzelnen Schlüsselpersonen vorangegangener Betriebsfallstudien zurück, um mich über den weiteren Verlauf der Verhältnisse in den Unternehmen zu erkundigen. So konnten in vielen Fällen, jenseits zeitlich beschränkter Beobachtungen und der Rekonstruktion der Vergangenheit aus den Interviews, Daten zur Entwicklung spezifischer Dynamiken im Zeitverlauf gesammelt werden. Der Feldzugang erwies sich in den repressiven Arbeitsumwelten der einfachen Dienste als äußerst schwierig. Schon in den klassischen Studien der Arbeits- und Industriesoziologie bildete der Begriff der Herrschaft den Anker für die Fragen nach den betrieblichen Entstehungs- und Reproduktionskontexten von Proletarität sowie deren Auswirkungen auf die mentale Struktur und das Handeln der Subjekte. Auch in der vorliegenden Studie wird der Blick in diesem Sinne auf die systematische Produktion und Verstetigung sozialer Asymmetrien gerichtet. Der Herrschaftsbegriff impliziert Aussagen über Gesellschaft in der Form eines generellen Zusammenhangs. Am prominentesten stehen für diesen Anspruch die beiden Väter der Herrschaftssoziologie, Karl Marx und Max Weber. Sosehr sich Webers Analysen ge18 Vornehmlich mit Funktionären, Gewerkschaftern, Betriebsräten und Wissen-

schaftlern. 19 Merton/Kendall, »Das fokussierte Interview«, S. 171. 20 Vgl. Mangold, Gegenstand und Methode des Gruppendiskussionsverfahrens; es wurden insgesamt drei homogene Gruppendiskussionen mit zwischen vier und acht Teilnehmern durchgeführt.

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sellschaftlicher Rationalisierung21 von Marx’ Beschreibungen des strukturellen Herrschaftsverhältnisses auf Basis des Gegensatzes von Kapital und Arbeit auch unterscheiden mögen, im Anspruch der Generalität, für den der Herrschaftsbegriff in Anschlag gebracht wird, sind sich die beiden Klassiker einig. Die Arbeits- und Industriesoziologie thematisierte Herrschaft klassisch unter Marx’scher Perspektive.22 Ihm folgend war unstrittig, dass die Disziplin den Finger am Puls der gesellschaftlichen Verhältnisse hatte, konnte der Industriebetrieb doch als der privilegierte Ort gesellschaftlicher Herrschaft und sozialen Wandels verstanden werden. Herrschaft im Bereich der Arbeit wurde vornehmlich über das Paradigma technischer Rationalisierung thematisiert. Sie wurde, mit anderen Worten, als Grundlage des Arbeitsprozesses betrachtet. Die zeitweilige Dominanz dieser theoretischen Ausrichtung der Arbeits- und Industriesoziologie hatte unter anderem zur Folge, dass der Industriebetrieb lange der entscheidende Bezugspunkt der empirischen Forschung war.23 Veränderungen der Arbeitswelt im Zuge der Tertiarisierung der Tätigkeitsstrukturen wurden nicht systematisch erfasst.24 Doch erklärt die empirische Fixierung auf Industriearbeit alleine nicht, warum die Arbeitssoziologie bezüglich der einfachen Dienste bisher weitgehend stumm geblieben ist. Zwei Probleme können diesen Sachverhalt erhellen: Zum einen ist der Generalitätsanspruch des Herrschaftsbegriffs der Industriesoziologie in eine grundsätzliche Krise geraten. Mit welchem Recht soll im Zuge fortschreitender sozialer Differenzierung eine »herrschaftstheoretische Privilegierung« der Arbeitsforschung behauptet werden? Nicht nur hat sich die Arbeitswelt differenziert, weswegen von einer grundsätzlichen diagnostischen Vorherrschaft der Industriear-

21 In Webers Fall ist dieser Begriff selbstverständlich nicht auf den betrieblichen

Kontext reduziert. 22 Sei es nun in inhaltlich-konzeptioneller oder lediglich in thematischer Hinsicht

(Brandt, »Marx und die neuere deutsche Industriesoziologie«). 23 Freilich trat mit der Angestelltenforschung schon sehr früh ein weiteres Forschungsfeld in den Blick der Analyse. Auch hier dominierten allerdings, wie später gezeigt werden wird, die konzeptionellen Paradigmen der Industrieforschung. 24 Brose, »Proletarisierung, Polarisierung oder Upgrading der Erwerbsarbeit«, S. 133.

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beit nicht mehr ausgegangen werden kann. Auch ob das Feld der Arbeit an sich als dominanter Ort für gesellschaftliche Herrschaft verstanden werden kann, darf beispielsweise im Zuge der politischen Determinierung der Arbeitswelt durch den Wohlfahrtsstaat und milieuspezifischer Differenzierungsprozesse in der Sozialstruktur bezweifelt werden. Zum anderen ist unklar, wo arbeitssoziologische Herrschaftsforschung anzusetzen hat, wenn von einer klaren technischen Determinierung des Arbeitsprozesses nicht mehr ohne Weiteres ausgegangen werden kann. Technik duldete keine Widerrede, das Fließband war auf Zustimmung und aktive Beförderung durch die Arbeiter nicht angewiesen. In der Dienstleistungsarbeit verhält es sich anders: Ohne Technik muss Disziplin durch »soziale Rationalisierungsstrategien«25 gesichert werden. Aushandlungsprozesse, die den Charakter von Herrschaft verändern, sind die notwendige Folge. Herrschaft im Bereich der Arbeit kann, anders gesagt, nicht mehr als Grundlage des Arbeitsprozesses verstanden werden. Sie ist sein Effekt. Aus beiden Problemen, der »Generalitätskrise« und der »Grundlagenkrise«, sind spezifische Konsequenzen zu ziehen. Erstens muss der Stellenwert, den eine Analyse betrieblicher Rationalisierungs- und Ordnungsprozesse im Rahmen der Frage nach genereller Herrschaft beanspruchen kann, empirisch ausgewiesen werden. Der Blick auf das Feld der Arbeit alleine genügt hierfür nicht. Arbeitsforschung, Sozialstrukturanalyse und Lebensführungsmodelle müssen in eine systematische Beziehung zueinander gesetzt werden. Herrschaft bezeichnet dann eine allgemeine Zusammenhangshypothese, die nicht notwendig auf einen Substanzbegriff26 angewiesen ist, sondern die Verbindung unterschiedlicher gesellschaftlicher Arenen bei der Reproduktion systematischer Asymmetrien in den Blick nimmt. Reproduktionslogiken sozialer Ordnungszusammenhänge sind dabei von entscheidender Bedeutung, weil Herrschaft auf stabile Asymmetrien verweist. Zweitens muss ein analytisches Programm entwickelt werden, das es ermöglicht, Herrschaft als Effekt von Interaktionen zu erfassen. Es muss eine empirische Perspektive

25 Auf diesen Begriff wird im Laufe des dritten Kapitels der vorliegenden Studie

ausführlich eingegangen. 26 Beispielsweise »Kapital« oder »Rationalisierung«.

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ausgewiesen werden, die die strukturellen Resultate der Interaktionen der entscheidenden Akteure des Feldes in den Blick nimmt. Thema der vorliegenden Studie ist Herrschaft im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit. Der Herrschaftsbegriff verspricht einerseits die Integration unterschiedlicher Teilaspekte des untersuchten Phänomens unter gesellschaftstheoretischer Perspektive. Andererseits ermöglicht er die Thematisierung systematischer Asymmetrien in der Arbeitsgesellschaft der Bundesrepublik, die bisher ein Schattendasein führten. Hierfür muss zunächst der Gegenstandsbereich der Forschung veranschaulicht werden. In Kapitel II der vorliegenden Arbeit wird daher das Segment einfacher Dienstleistungsarbeit umrissen. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der institutionellen Eingebundenheit der einfachen Dienste. Das dritte Kapitel behandelt den Herrschaftsbegriff. Der erste Teil des Kapitels wird sich der Frage widmen, warum der Blick auf Herrschaft als generelle Kategorie unerlässlich und wie eine solche Perspektivierung konzeptionell möglich ist. Im zweiten Teil des Kapitels wird der Blick auf die empirischen und gesellschaftsdiagnostischen Ergebnisse arbeitssoziologischer Herrschaftsforschung gerichtet. Die Literatur zu diesem Thema füllt Regale. Ungeachtet möglicher theoretischer Kritik an vielen herrschaftssoziologischen Studien sind ihre Ergebnisse doch wichtig für ein gesellschaftsdiagnostisch tragfähiges Verständnis der Konzeption und des Stellenwerts der Erforschung einfacher Dienstleistungsarbeit. Das vierte Kapitel bildet den Kern der Untersuchung: Es werden insgesamt neun Betriebsfallstudien aus vier verschiedenen Bereichen einfacher Dienstleistungsarbeit präsentiert und verglichen. Die Fälle sind so arrangiert, dass einerseits die Reihenfolge der Branchen auch die Stärke der Betroffenheit von betrieblichen Rationalisierungsstrategien beschreibt. Andererseits sind die Fallstudien in den einzelnen Branchen so arrangiert, dass sie jeweils zwei äußere Pole bezüglich der Form und teilweise der Radikalität von Herrschaftsmechanismen bestimmen.27 Über die Darstellung von Aspekten der Lebensführung wird zudem verdeutlicht, in welcher Form Arbeit weitere 27 Die drei Fallstudien zum Einzelhandel bilden hier eine Ausnahme: Sie können

gewissermaßen »hierarchisch« gelesen werden. Von der ersten bis zur dritten Fallstudie im Einzelhandel nimmt der Durchsetzungsgrad betrieblicher Rationalisierungsstrategien zu.

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Lebenszusammenhänge prägt. Im fünften Kapitel werden die Fallstudien verdichtet und allgemeine Aussagen über die Mechanismen der Durchsetzung von Rationalisierungsstrategien und deren Effekte formuliert. Die theoretische Bündelung dieser Ausführungen bildet die Diagnose unterschiedlicher Variationen einer spezifischen Herrschaftslogik im Bereich der einfachen Dienste, die zu Logiken der Lebensführung von Beschäftigten in Beziehung gesetzt wird. Diese Herrschaftslogik fasst Prozesse der Etablierung und Stabilisierung sozialer Ordnungen und verweist zugleich auf die Frage der Proletarisierung. In einem abschließenden Punkt wird daher Bilanz gezogen und ein Vorschlag zur gesellschaftsdiagnostischen Interpretation der Ergebnisse unterbreitet. Insbesondere wird die Frage beantwortet, welche Stellungnahmen zum Thema der Proletarität in der Dienstleistungsgesellschaft die erfolgten Analysen nahelegen. Die vorliegende Arbeit will und kann natürlich nicht abschließend bilanzieren: Ihr Anliegen ist, ein Segment zu erschließen, das noch immer im Schatten der Arbeitsgesellschaft steht.

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»Man muss der Versuchung widerstehen, die Erfolgsgeschichte der Lohnarbeit als Kontinuität zu lesen.«1

II Einfache Dienstleistungsarbeit Im folgenden Kapitel steht die Frage im Vordergrund, welche Erkenntnisse über das Segment einfacher Dienstleistungsarbeit die Soziologie in der Bundesrepublik bisher zusammengetragen hat. Dazu muss zuallererst verdeutlicht werden, was mit dem Begriff der Dienstleistung innerhalb der soziologischen Debattenlandschaft eigentlich benannt wird. Im Zeichen einer veränderten Arbeitswelt wird der Begriff unterschiedlich gedeutet. Die inhaltliche Markierung des Dienstleistungsbegriffs ist daher ein notwendiges Element der Sachklärung.

Visionen und Konzepte Spätestens Mitte der 1970er Jahre zeigt sich ein steigendes wissenschaftliches und öffentliches Interesse für die Frage nach der Rolle von Dienstleistungsarbeit in modernen Arbeitsgesellschaften2. Zu dieser Zeit beginnt sich ein Wandel abzuzeichnen, weg von einer Strukturdominanz industrieller Produktion, hin zu maßgeblich durch Dienstleistungstätigkeiten bestimmten Arbeitswelten. Heute arbeiten fast drei Viertel, nämlich 73,5 Prozent, der Erwerbstätigen im tertiären Sektor.3

1 Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, S. 140. 2 Der Begriff »Arbeitsgesellschaft« geht auf den Soziologentag 1982 zurück, der

unter dem Titel »Krise der Arbeitsgesellschaft?« stand (Offe, »Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie?«, S. 13). 3 Bosch/Weinkopf, »Arbeitsverhältnisse im Dienstleistungssektor«, S. 439. Auch die quantitative Abnahme der produktionsbezogenen Berufe, in denen heute (Stand 2011) nur noch gut ein Fünftel der Arbeitnehmer beschäftigt sind, verdeutlicht den Bedeutungsgewinn der Dienstleistungen, zumal Prognosen von einer

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Optimistische Prognosen Schon weit früher, nämlich 1949, hatte der französische Ökonom Jean Fourastié diese Strukturveränderungen in modernen Gesellschaften vorausgesagt.4 Fourastié prognostiziert in Anschluss an die Drei-Sektoren-Theorie Colin Clarks’5 den Aufstieg des Dienstleistungssektors zum dominierenden Arbeitsmarktsegment moderner Gesellschaften. Eine durch technischen Fortschritt immer stärker rationalisierte Produktion setze demnach zunehmend Arbeitskräfte frei. Gleichzeitig erwartet Fourastié eine quantitative Expansion von Dienstleistungsarbeit, die mit deren materialem Charakter zusammenhängt. Den Kerngedanken bildet dabei das Uno-Actu-Prinzip, also die Definition des Dienstleistungsprozesses als Gleichzeitigkeit von Produktion und Konsumtion. Ein häufig bemühtes Beispiel hierfür betrifft etwa den Friseurbesuch, bei dem die Konsumtion der Leistung (des Haarschnitts) zeitgleich mit dessen Produktion durch den oder die Dienstleistende (das Schneiden der Haare) stattfindet. Die Dienstleistungsbeziehung stellt damit besondere Forderungen an die Beteiligten des Handlungszusammenhangs, verlangt sie doch eine gewisse Kooperation und Koproduktivität zwischen Leistungserbringer und Konsumenten. Aus diesem Umstand ergibt sich eine geringe Chance zur Produktivitätssteigerung6 in Dienstleistungsarbeit, weil eben der Arbeitsprozess weder in größeren Maße arbeitsteilig zerlegt noch maschinisiert werden kann. Zusätzlich zu diesem interaktiven Aspekt ergibt sich aus der Gleichzeitigkeit von Produktion und Konsumtion außerdem, dass eine Dienstleistung weder gelagert noch transportiert werden kann. Sie muss vor Ort erbracht werden, was Rationalisierungschancen durch Zergliederung der Pro-

Abnahme produktionsbezogener Berufe auf 18 Prozent im Jahre 2025 ausgehen (Baethge, »Qualifikation, Kompetenzentwicklung und Professionalisierung im Dienstleistungssektor«, S. 447). In Bezug auf die Frage nach den »einfachen« Diensten (im Fall der Quelle: »primäre« Dienstleistungen wie gastronomische Tätigkeiten, Reinigen, Transportieren, Lager- und Sicherheitstätigkeiten [ebenda, S. 448]) ist interessant, dass deren Größe für den veranschlagten Zeitraum dagegen als stabil angenommen wird (ebenda, S. 448) beziehungsweise in Teilbereichen Wachstum zu erwarten steht (ebenda, S. 449). 4 Fourastié, Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts. 5 Clarks, The Conditions of Economic Progress. 6 Fourastié, Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts, S. 80.

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duktion nochmals einschränkt. So kann Dienstleistungsarbeit als rationalisierungsresistent7 gekennzeichnet werden. Fourastié stellt seiner Beschreibung dieser Rationalisierungsresistenz außerdem eine kulturelle Dimension zur Seite, indem er nach der Rolle des Konsumenten fragt. Denn aus der in weiten Bereichen komplexen, geistigen Arbeit der Dienstleistungsgesellschaft ergibt sich nach Fourastié ein unstillbarer »Hunger nach Tertiärem«8 aufseiten der Konsumenten, der das Wachstum des Dienstleitungssektors trägt. Die Gesellschaft entwickelt sich sukzessive auf eine Dominanz des tertiären Sektors zu, die von veränderten Konsummustern getragen ist. Schon der Titel von Fourastiés Buch verdeutlicht dabei, dass der Autor diese Entwicklung für durchaus begrüßenswert hielt. Gerade der nicht-progressive Charakter von Dienstleistungsarbeit, also deren Rationalisierungsresistenz, verbürgt für Fourastié die Hoffnung auf eine heilsame wirtschaftliche Stagnation, die den nervösen Wachstums- und Überproduktionskrisen des Kapitalismus ein Ende macht. Andere Prognostiker haben sich der Emphase dieser Vision angeschlossen. Daniel Bell etwa sah in der Vergeistigung dienstleistender Tätigkeiten bereits das Ende einer klassenförmigen Gesellschaftsformation heraufziehen, da Wissen als strukturierendes Prinzip an die Stelle von Eigentum trete.9 Gartner/Riessman dagegen schlossen an die aufgewertete Rolle des Kunden in der Dienstleistungsbeziehung an und sahen eine Art Konsumentendemokratie am Horizont der gesellschaftlichen Entwicklung aufblitzen.10 Gemeinsam ist all diesen Arbeiten eine grundsätzlich positive Vision der sozialen Potenziale der Tertiarisierung, die sich nicht zuletzt aus der kategorialen Gegenüberstellung von Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft ergibt. Abstumpfung und Entfremdung werden auf der Seite der Arbeitenden von Vergeistigung und interaktiver Kooperation abgelöst. Betriebliche Rationalisierung und die systemischen Krisen des Kapitalismus verschwinden zugunsten von interaktiver Zusammenarbeit und langfristiger Stabilität. Die positive Konnotation dieser Entwicklung wird zu einem großen Teil aus

7 8 9 10

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Ebenda, S. 31. Ebenda, S. 274 f. Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft. Gartner/Riessman, Der aktive Konsument.

der Bestimmung des materialen Charakters von Dienstleistungsarbeit gewonnen, die sich, mit Daniel Bell gesprochen, im Kern als »Spiel zwischen Personen«11 zeigt. Im seinerzeit prognostizierten Wandel der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft wurde der rein in der Interaktion ausgeführten Dienstleistungsarbeit ein utopisches Potenzial zugewiesen, das die Befreiung von ökonomischen Krisen und herrschaftsförmiger Abhängigkeit von den Produktionsmittelbesitzern versprach.

Gewährleistung als Aufgabe In der alten Bundesrepublik haben Anfang der 1980er Jahre unter anderem Johannes Berger und Claus Offe die Debatte um das Entstehen der Dienstleistungsgesellschaft aufgenommen.12 Sie unterscheiden zwei Ansätze der Herangehensweise an eine Definition von Dienstleistungsarbeit. Zum einen fungiere diese im Kern als eine »Residualkategorie«13 für all jene Tätigkeiten, die im primären (Landwirtschaft) und sekundären (Industrie) Sektor nicht unterzubringen seien. Dienstleistungsarbeit werde als eine lediglich negativ definierte Restkategorie verstanden. Dagegen setze der zweite Strang am »technisch-stofflichen Charakter«14 von Dienstleistungen an, versuche diese also aus ihrer abstrakten Gemeinsamkeit, etwa der Unmöglichkeit der Übertragung von Leistungen in Raum und Zeit, oder ihrer geringen Potenziale für Produktivitätssteigerungen15 zu erklären.16 Dagegen wollen Berger/Offe den Dienstleistungssektor weder als reine Residualkategorie noch weitgehend eigenständig, sondern in seiner relationalen Beziehung zu Fragen gesellschaftlicher Reproduktion bestimmen. Ihnen folgend dient die kategoriale Unterscheidung zwischen Produktions- und Dienstleistungsarbeit dann

11 Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, S. 131. 12 Berger/Offe, »Das Rationalisierungsdilemma der Angestelltenarbeit»; dies.,

13 14 15 16

»Die Zukunft des Arbeitsmarktes«; Offe, »Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie?«. Offe, »Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie?«, S. 41. In den hier verwendeten Termini »materialen Charakter«. Offe, »Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie?«. Gedacht ist damit natürlich an Fourastié und dessen Epigonen.

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vor allem einem Verständnis von letzterer als Phänomen der Optimierung gesellschaftlicher Reproduktion. Dienstleistungstätigkeiten haben unter dieser Perspektive vor allem die Funktion, in vielerlei Hinsicht zur Verbesserung der Produktivität innerhalb eines wirtschaftlichen Zusammenhangs beizutragen. Der Dienstleistungssektor bezeichnet dann »die Gesamtheit jener Funktionen im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess […], die auf die Reproduktion der Formalstrukturen, Verkehrsformen und kulturellen Rahmenbedingungen gerichtet sind, unter denen die materielle Reproduktion der Gesellschaft stattfindet.«17 In anderen Worten: Kinder müssen betreut, Menschen transportiert und Haare akkurat geschnitten werden, damit der gesellschaftliche Reproduktionsprozess gewährleistet bleibt. Dienstleistungen mögen selbst wenig progressiv sein, doch werden sie unter dieser Perspektive zum Rationalisierungsinstrument für progressive Bereiche gesellschaftlicher Produktion. Planende, prozessstrukturierende Dienstleistungen, etwa von Ingenieuren, dienen der Rationalisierung industrieller Tätigkeiten. Außerfamiliale Kinderbetreuung ermöglicht die Arbeitsmarktpartizipation von Frauen und Männern, die sonst von familiären Pflichten absorbiert wären. Kurz gesagt: Dienstleistungsarbeit ist Gewährleistungsarbeit, insofern sie den reibungslosen Ablauf gesellschaftlicher Reproduktion garantiert und optimiert. Diese Globaldefinition hat einiges für sich, lässt sich doch unter dem Paradigma der Gewährleistung auch der konkrete Arbeitsprozess denken. Eine Pflegekraft etwa gewährleistet den reibungslosen Ablauf des Alltags des Patienten. Ebenso gewährleistet die Arbeit einer Reinigungskraft den reibungslosen Ablauf von Büroarbeit, die ihrerseits möglicherweise Arbeiten im Produktionsbereich koordiniert.

Interaktivität als Profil? Dennoch ist die Definition von Dienstleistungen als Gewährleistungsarbeit weniger präzise bezüglich ihres materialen Profils als ihrer Bestimmungen in den Arbeiten von Fourastié und dessen Epigonen. Daher hat die Arbeits- und Industriesoziologie unter dem

17 Berger/Offe, »Das Rationalisierungsdilemma der Angestelltenarbeit», S. 44.

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Schlüsselbegriff »interaktive Arbeit«18 wieder an diese Konzepte angeschlossen. Die Debatte hat sich dabei des »geschichtsphilosophischen Ballastes« der Klassiker entledigt und nimmt Interaktivität zum Ausgangspunkt für eine empirische Erforschung des Arbeitsprozesses. Konzeptionell befreit das Interaktivitätskonzept Dienstleistungen aus ihrer negativen Abgrenzung im Sinne des »Nicht-Sachgutes«19 und liefert hilfreiche Anregungen für die Frage nach Macht und Herrschaft im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit. Immaterialität und in der Folge Invisibilität und Vergänglichkeit als zentrale Bestimmungskriterien von Dienstleistungen gelten nicht als defizitär. Nicht mehr allein stehen das materielle Produkt am Ende sowie technischer Wandel und Rationalisierung als klassische industriesoziologische Kategorien der Analyse von Herrschaft im Fokus, innerhalb derer Gebiete von Dienstleistung eben lediglich als rationalisierungsresistent zurückbleiben. Vielmehr geraten die vielfältigen Kontrolldilemmata in den Blick, die sich zwischen Organisation, Kunde und Dienstleister ergeben können.20 Dies hat auch Folgen für die Frage nach Macht und Herrschaft im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit. Diese muss jetzt neben der klassischen Frage technischer oder bürokratischer Rationalisierung auch Fragen nach Kontrolle im Gefolge expansiver Interaktivität auf der Agenda haben. In der Debatte um interaktive Arbeit wird vornehmlich die Interaktion zwischen Kunde und Dienstleister im Sinne des Uno-actu-Prinzips als herrschaftsrelevanter Faktor betont21 beziehungsweise auf die triadische Struktur der Kontrollbeziehung zwischen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Kunden abgestellt22. In Bezug auf einfache Dienstleistungsarbeit liegt hier eine

18 Vgl. Böhle, »Typologie und strukturelle Probleme von Interaktionsarbeit«;

19 20 21 22

Voswinkel, Welche Kundenorientierung?; Dunkel/Weihrich, »Interaktive Arbeit«; Gross, Die Verheißungen der Dienstleistungsgesellschaft; Jacobsen/Voswinkel, Dienstleistungsarbeit – Dienstleistungskultur; Böhle/Glaser, Arbeit in der Interaktion. Gross, Die Verheißungen der Dienstleistungsgesellschaft, S. 13. Vgl. Holtgrewe, »Gute und schöne Dienstleistung«. Ebenda. Ebenda.

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unnötige Beschränkung der Interaktivitätsforschung. Macht- und herrschaftsrelevant sind nicht nur Interaktionen zwischen Kunde und Dienstleistern, sondern vor allem zwischen einzelnen Dienstleistern,23 wie in Kapitel IV gezeigt wird. Dennoch: Auch der Fokus auf die Interaktion zwischen Dienstleistern und Kunden eröffnet bereits ein breites Feld empirischer Forschung, das interessante Befunde für die Frage nach Macht und Herrschaft bereithält. Denn der Konsument ist ja nicht Dienstleistungsnehmer allein, sondern wird zum »Mitproduzenten«24. Dabei fällt mit der Betonung von Interaktivität und der damit einhergehenden Re-Personalisierung25 zudem der Blick auf eine mit Dienstleistungen unweigerlich verbundene Durchmischung von Rolle und Person. Die Dienstleister sollen sich als ganze Personen in Beratung, Pflege oder Betreuung einbringen und machen sich dadurch auch persönlich verletzlich, da sie direkt dem Kunden gegenübertreten. Welchen Einfluss diese interaktive Produktionsform auf Herrschaftsstrukturen und Konfliktfelder in der Arbeitswelt hat, ist also eine Frage, die im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit gestellt werden muss. Die veränderte Rolle des Kunden als zentraler Autorität26 des Dienstleistungsgeschehens verlangt darüber hinaus einen neuen Blick auf die klassische Akteurskonstellation Arbeitgeber-Arbeitnehmer. Denn diese, so kann man zumindest vermuten, verschiebt sich perspektivisch in Richtung einer Triade der Macht, bestehend aus Organisation, Kunde und Beschäftigtem.27 Der oder die Dienstleistungsbeschäftigte wird zur vermittelnden Instanz zwischen Produkt und Kunde, Dienstleistungsarbeit folglich zur »Grenzstellenarbeit«28. Der Dienstleister sitzt systematisch »zwischen den Stühlen«, weil er einerseits die Organisation nach den Wünschen des Kunden

Etwa wenn Mobbing zu Kündigung oder Disziplinierung führte. Fuchs, The Service Economy, S. 194 f. Vgl. Voswinkel, Welche Kundenorientierung?, S. 27. Vgl. ebenda, S. 52 f. Holtgrewe, »Gute und schöne Dienstleistung«, S. 53; Voswinkel, Welche Kundenorientierung?, S. 15. 28 Holtgrewe, »Gute und schöne Dienstleistung«, S. 53; Voswinkel, Welche Kundenorientierung?, S. 41. 23 24 25 26 27

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repräsentieren muss, andererseits aber den Kunden entlang der Ziele der Organisation »erziehen« soll.29 Dies gilt selbstverständlich nicht nur für »echte« Interaktionen, also den persönlichen Austausch eines Dienstleisters und eines Kunden. Die Arbeit ist auch dann »unmittelbar bedürfnisbezogen auf ein konkretes Gegenüber gerichtet […], dessen Wille die Richtschnur für das Arbeitshandeln abgibt«30, wenn dieses Gegenüber nicht als konkrete Person anwesend ist. Konnte sich ein prototypischer Industriearbeiter praktisch vollkommen frei von Hypothesen über die Bedürfnisse des Käufers der von ihm hergestellten Waren seiner Tätigkeit widmen, so muss der Dienstleister Kundenwünsche auch dann antizipieren, wenn es, wie im Falle einer Reinigungskraft, möglicherweise nie zu einer persönlichen Begegnung mit Kunden kommt. Die Erweiterung der Akteursallianzen im Bereich von Macht und Herrschaft wirft dabei unweigerlich auch die Frage nach neuen Konfliktfeldern auf. Mit der Triade der Macht entsteht eine Vervielfachung der Erwartungen und Anspruchshaltungen an der Grenzstelle31, die die Wahrscheinlichkeit von Widersprüchen und Vermittlungsbedarf zwischen Betrieb und Kunde erhöht. Diese Spannung ist von den Dienstleistern zu bearbeiten, etwaige Konflikte haben sie zu absorbieren. Denn die mit der interaktiven Logik von Dienstleistungsarbeit aufgeworfene Koproduktivitätsanforderung32 zwischen Beschäftigtem und Kunden lässt gesonderte Problemkonstellationen der Koordination, Zielvereinbarung und Kooperation vermuten33. Darüber hinaus sind etwa sorgende Tätigkeiten häufig von einer Personalisierung34 der Austauschbeziehungen geprägt. Solche

29 Ebenda. 30 Baethge, »Qualifikation, Kompetenzentwicklung und Professionalisierung im Dienstleistungssektor«, S. 451. 31 Holtgrewe »Gute und schöne Dienstleistung«; Voswinkel, Welche Kundenorientierung?, S. 100 f. 32 Dunkel/Weihrich, »Interaktive Arbeit«, S. 68; Rieder/Voß, »Interaktive Kon-

trolle und Interaktionskultur im Call-Center«. 33 Dunkel/Weihrich, »Interaktive Arbeit«, S. 71 f. 34 Voswinkel, Welche Kundenorientierung?, S. 27.

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Emotionsarbeit35 birgt weiteres Konfliktpotenzial: angefangen von der Schwierigkeit »emotionaler Dissonanz«36 über Konflikte, die zu »Charakterwettkämpfen«37 um Identität und Ehre reifen, bis hin zu Fragen emotionaler Erschöpftheit38.

Einfache Dienstleistungsarbeit und Sozialstrukturanalyse Die einfachen Dienste versprechen also ein neues Panorama betrieblicher Konflikte. Auch sozialstrukturelle Daten legen diese Vermutung nahe.39 Denn es lassen sich hier besondere Spaltungslinien innerhalb der Belegschaften vermuten, die mit deren strukturellen Bedingungen zusammenhängen. In den einfachen Diensten zeichnen sich drei klare Entwicklungstendenzen ab, die von besonderer Relevanz für die Analyse von Konflikt, Macht und Herrschaft sein können.

Feminisierung, Ethnisierung, Zertifikationsdiffusion Erstens verrät ein Blick in die Literatur zu unterschiedlichen Bereichen von Dienstleistungsarbeit: Tertiarisierung wird häufig gewissermaßen synonym mit dem Begriff der Feminisierung verwandt. Denn mit der Expansion des Dienstleistungssektors geht parallel die Expansion weiblicher Erwerbsbeteiligung einher.40 Gerade für die personenbezogenen Dienstleistungen sind klassisch als feminin er-

35 Vgl. Hochschild, The Managed Heart; Goffman, The Presentation of Self in

Everyday Life. Hochschild, The Managed Heart. Goffman, Interaktionsrituale, S. 259 ff. Vgl. Hochschild, The Managed Heart. Wie später weiter ausgeführt wird, interessieren im Rahmen dieser Arbeit verschiedene soziale Lagen vornehmlich in Bezug auf deren soziale Positionierung (Ressourcenausstattung und ihre Relation zueinander). Wichtige Variationen dieser Frage (zum Beispiel Generationalität, Bildung etc.) können, entsprechend der Debattenlage in der Soziologie, nur am Rande behandelt werden. 40 Betzelt/Kuhlmann, Geschlechterverhältnisse im Dienstleistungssektor. 36 37 38 39

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achtete Tätigkeiten prägend.41 Zudem gibt es Hinweise darauf, dass auch neue Tätigkeitsfelder zunehmend »gegendert« werden,42 etwa wenn die weitgehend kommunikative Arbeit in Callcentern vornehmlich mit Frauen besetzt wird, weil diesen ein »natürliches« Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse etwaiger Gesprächspartner unterstellt wird. Die Anforderungen an die Arbeitnehmer sind dabei durchaus ambivalent: Einerseits fordert Dienstleistungsarbeit als Emotionsarbeit43 und Gefühlsarbeit44 ein spezifisch »weibliches Arbeitsvermögen«45. Andererseits disqualifizieren vorherrschende Gender-Stereotype unter dem ökonomischen Paradigma der Flexibilisierung46 Frauen für diese Tätigkeiten47, weil im Rahmen einer naturalisierten Sichtweise auf »weibliche« Arbeit eben auch die spezifischen »Defizite« weiblicher Lebensführung in den Blick geraten, beispielsweise in Form der Absorbierung der Arbeitskraft durch Kinderbetreuung, Haushaltsführung oder die Pflege bedürftiger Angehöriger. Zusätzlich führen Analogsetzungen spezifischer Tätigkeiten mit dem Geschlecht der Ausführenden48 zu weiteren spezifischen Benachteiligungslagen49, etwa wenn eine intrinsische Motivation zur Selbstaufopferung in einer Pflegebeziehung auch bei mäßiger Bezahlung vorausgesetzt wird. Zu erwarten stehen im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit also möglicherweise Konfliktlogiken, die mit einer solchen ambivalenten Anforderungsstruktur verbunden sind und damit ganz neue Belastungen in der Arbeit, aber auch für die private Lebensführung bedeuten können.

41 Ebenda. Evident wird diese Aussage, denkt man an mit Hausarbeit assoziierte

42 43 44 45 46 47 48 49

Tätigkeiten, wie die Reinigung, Kinderbetreuung, Altenpflege oder Nahrungszubereitung. Kutzner, »Arbeitsbeziehungen in Call Centern – Irritationen der Geschlechterordnung«. Hochschild, The Managed Heart; Hacker, »Interaktive/dialogische Erwerbsarbeit«. Böhle/Glaser, Arbeit in der Interaktion. Beck-Gernsheim/Ostner, »Frauen verändern – Berufe nicht?«. Sennett, Der flexible Mensch; Boltanski/Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus. Kutzner/Kock, »Arbeitsbeziehungen in Call Centern – dereguliert, flexibel, instabil?«. Lutz, Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Hofbauer/Pastner, »Der diskrete Charme der Diskriminierung«.

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Eine zweite Entwicklungsdynamik betrifft die Ethnisierung der Arbeitsmärkte am unteren Rand der Dienstleistungsgesellschaft.50 Für die urbane Ökonomie werden eine strukturelle Kopplung der Nachfrage nach Niedriglohndienstleistern an die Expansion qualifizierter Dienstleistungen sowie Eigendynamiken migrantischer Netzwerke konstatiert.51 Der gut erforschte Bereich haushaltsbezogener Dienstleistungen gilt als exemplarisches Terrain mobiler Arbeitskräfte mit häufig begrenztem oder irregulärem Aufenthaltsstatus.52 In der Gruppe derjenigen Bürger mit Migrationshintergrund, die als weniger mobil gelten, wird dagegen von weniger irregulären Organisationsformen der Arbeit ausgegangen, die dennoch wegen starker ökonomischer Prekarisierungsdynamiken unter Deregulierungs- und Informalisierungsdruck geraten sind.53 Es zeigen sich auch funktionale Kopplungen spezifischer Aufenthaltsstatus mit kleingewerblicher ethnisierter Tertiarisierung, etwa wenn eine als Familienökonomie funktionierende Kleingewerblichkeit die realistisch einzig mögliche Voraussetzung bietet, finanziell selbsttragend operieren zu können und so der Ausweisung zu entgehen.54 Auch ethnisierte Rekrutierungsprozesse, sei es in Form ethnischer Seilschaften, sei es als bewusste unternehmerische Strategie, werden konstatiert.55 Das vierte Kapitel wird zudem zeigen, dass Ethnizität

50 Vgl. Hillmann, »Ethnisierung oder Internationalisierung?«; Hillmann, »Posi-

tionierung und Bedeutung ethnischer Arbeitsmärkte«. 51 Sassen, »Dienstleistungsökonomien«; Hillmann, »Ethnisierung oder Interna-

tionalisierung?«. 52 Lutz, Migration and Domestic Work; Rerrich, Die ganze Welt zu Hause; An-

derson, Doing the Dirty Work; Momsen, Gender, Migration and Domestic Service; Cyrus, »Managing a Mobile Life«; Alt, Leben in der Schattenwelt; Hess/ Lenz, »Das Comeback der Dienstmädchen«; Heubach, »Migrantinnen in der Haushaltsarbeit«. 53 Frings, »Rechtspositionen und Regelungsdefizite»; Erel, »Soziales Kapital und Migration«. 54 Gemende, MigrantInnen in Dresden. 55 Pijpers, »Circumventing Restrictions on Free Movement of Labour«, S. 242; Konzepte dualer Arbeitsmärkte (Doeringer/Piore, Internal Labor Markets and Manpower Analysis; Wilson/Portes, »Immigrant Enclaves«; Piore, »Internationale Arbeitskräftemigration«) tragen diesen Dynamiken Rechnung, indem sie auf die systematischen Differenzen unterschiedlicher Arbeitsmarktsegmente

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ein mögliches Vehikel sozialer Spaltung in den einfachen Diensten ist und als Instrument betrieblicher Kontrolle genutzt werden kann. Ein dritter struktureller Aspekt, der mit der Feminisierung und Ethnisierung im Segment einfacher Dienstleistungsarbeit korrespondiert, soll hier noch Erwähnung finden: Es zeigt sich dort eine spezifische Diffusion von Zertifikationsanforderungen und qualifikatorischen Durchmischungen.56 Der Grund hierfür ist in unterschiedlichen Faktoren zu suchen: So sammeln sich im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit sicherlich Zertifikationsverlierer, deren formale Qualifikationen aufgrund ihrer inflationären Präsenz57 eine Abwertung erfahren haben. Hinzu kommt häufig die Verweigerung der Anerkennung beziehungsweise die mangelnde Verwertbarkeit etwaiger Zertifikate wegen Migration58 sowie die oft recht unklaren Tätigkeitsprofile innerhalb des Dienstleistungssektors59, bei denen häufig nicht klar ist, welches Zertifikat die Arbeitnehmer eigentlich für eine solche Tätigkeit qualifizieren sollte. Der Nebenerwerbscharakter vieler Arbeitsverhältnisse sowie die systematische Unterschreitung formaler Qualifikationsanforderungen, wie man sie beispielsweise im Bereich der Gebäudereinigung beobachten kann, trägt zudem zu einer zertifikatorischen Durchmischung bei, denn: Wer für sein Können keinen Schein vorweisen kann, landet eben dort, wo ein solcher nicht gefragt ist. Doch auch jene Beschäftigte mit abgeschlossener Berufsausbildung scheinen vor den Armuts- und Unsicherheitsrisiken, die sich in den einfachen Diensten bündeln, nicht mehr gefeit zu sein. So verweisen etwa Gerhard Bosch und Claudia Weinkopf darauf, dass zum einen das Niedriglohnrisiko auf dem bundesrepublikanischen Arbeitsmarkt im Bereich einfacher Dienste, wie etwa dem Gastgewerbe oder den personenbezogenen Diensten, besonders hoch ist. Zugleich merken beide an, dass »80 Prozent der Niedriglohnbeschäftigten in Deutschland eine ab-

56 57 58 59

aufmerksam machen. Auch der Begriff der »ethnischen Unterschichtung« (Hoffmann-Nowotny, Soziologie des Fremdarbeiterproblems) hat in diesem Zusammenhang Verwendung gefunden. Holtgrewe, »Geschlechtergrenzen in der Dienstleistungsarbeit«, S. 149. Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie, S. 216; Vester/Teiwes-Kügler/Lange-Vester, Die neuen Arbeitnehmer. Lutz, Vom Weltmarkt in den Privathaushalt; Alt, Leben in der Schattenwelt. Oswald, Migrationssoziologie, S. 155; Sennett, Der flexible Mensch.

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geschlossene Berufsausbildung oder einen akademischen Abschluss haben«60. Auch die Expansion weiblicher Erwerbsarbeit selbst kann im Zusammenhang mit einem wohlfahrtsstaatlichen »service gap«61 sowie Divergenzen zwischen nationalen Arbeitsmärkten ursächlich am Zuwachs dequalifizierter, migrantischer Dienstleister beteiligt sein62, beispielsweise wenn die Betreuung des Nachwuchses nur unter Zuhilfenahme von Haushaltsdienstleistern möglich bleibt. So sind Feminisierungs-, Ethnisierungs- und Zertifikationsfragen keinesfalls so klar geschieden, wie es die konzeptionelle Differenzierung suggeriert. Nicht nur ist der Dienstleistungssektor selbst durch Migration geprägt, sondern das zunehmend dominante Gesicht der Migration ist weiblich,63 und (feminisierte) Migration geht teilweise systematisch mit Dequalifizierung einher.64 Damit bündeln sich alle drei Tendenzen häufig nicht nur in einer betrieblichen Einheit, sondern in einer einzelnen Arbeitnehmerin65 und verstärken sich als Dynamiken gegenseitig66. Fragen nach der Rolle von Feminisierungs- Ethnisierungs- und Zertifizierungsdynamiken für die Ordnungsmechanismen von Arbeitssituationen werden folglich zu virulenten Themen für die Analyse von Konflikt, Macht und Herrschaft im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit.

»Einfache« Dienstleistungsarbeit ist nicht anspruchslos Es soll an dieser Stelle ein kleiner Exkurs gewagt und darauf hingewiesen werden, dass der Begriff »einfache« Dienste nicht in einem normativen, gar despektierlichen Sinne verstanden werden sollte. Die Wahl des Begriffs ist hier vielmehr zwei spezifischen Umstän-

60 Bosch/Weinkopf, »Arbeitsverhältnisse im Dienstleistungssektor«, S. 442. 61 Metz-Göckel/Morokvasic/Münst, Migration and Mobility in an Enlarged Europe, S. 17. 62 Friese, »Die osteuropäische Akademikerin, die im westeuropäischen Haushalt 63 64 65 66

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dient«. Metz-Göckel/Morokvasic/Münst, Migration and Mobility in an Enlarged Europe, S. 9; Lutz, Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Metz-Göckel/Morokvasic/Münst, Migration and Mobility in an Enlarged Europe, S. 17; Lutz, Vom Weltmarkt in den Privathaushalt, S. 70. do Mar Castro Varela/Clayton, Migration, Gender, Arbeitsmarkt, S. 13. Haritaworn, »Der ethnisierte Arbeitsplatz«.

den geschuldet: Erstens schienen die im Feld existierenden Alternativbegriffe im Verlauf der empirischen Fallstudienforschung immer weniger geeignet, die spezifischen Arbeitsprofile zu erfassen und das Feld begrifflich richtig zu erschließen. Nimmt man etwa den Begriff »interaktive Arbeit«67, so fällt bei einem Blick ins Feld sofort auf, dass dieser zwar spezifische Aspekte der Arbeit gut zu fassen vermag, vielerlei Tätigkeiten mit einer solchen Begriffsbestimmung aber nicht in den Blick zu bekommen sind. Wer wollte etwa die Arbeit einer Reinigungskraft, die des Nachts durch einen Bürokomplex zieht, oder die Arbeit eines Paketzustellers ernsthaft als, im materialen Sinne, primär interaktive Tätigkeiten bezeichnen? Darüber hinaus ist Interaktivität als Merkmal spezifischer Arbeitsprofile zwar sicherlich ein wichtiger Aspekt vieler Dienstleistungstätigkeiten: Beratung, Pflege, ärztliche Beratung, das Betreuungsverhältnis zwischen Anwalt und Mandant sind zweifelsfrei Bereiche, in denen der Begriff der Interaktivität die Spezifika einer jeweiligen Tätigkeit zu erschließen vermag. Zugleich zeigt die einstweilen willkürliche Aufzählung interaktiver Tätigkeiten aber auch, dass eine sozialstrukturelle Rückbindung eines spezifischen Arbeitsprofils darin nicht angelegt ist. Ähnlich verhält es sich mit einem zweiten Begriff, der als Alternative zum Adjektiv »einfach« dienen könnte. Wenn etwa Ingrid Artus vom Bereich »prekärer« Dienstleistungsarbeit spricht,68 hat sie durchaus Teile der schlecht entlohnten Arbeiten vor Augen, die auch in der vorliegenden Studie im Fokus stehen. Der Begriff des Prekären stellt allerdings stark auf Fragen des Beschäftigungsverhältnisses ab. Als zentrales Bestimmungskriterium des Prekaritätsbegriffs wird immer wieder die Befristung und Verkürzung von Arbeitsverhältnissen genannt,69 aus denen sich dann die weiteren Aspekte des Prozesses der Prekarisierung ergeben. Vernachlässigt wird dabei häufig die Rolle der spezifischen Materialität der jeweiligen Arbeit, die, etwa im Sinne der Frage nach der Rationa-

67 Vgl. Dunkel/Weihrich, »Interaktive Arbeit«. 68 Vgl. Artus, Interessenhandel jenseits der Norm; dies., »Prekäre Vergemein-

schaftung«. 69 Zum Prekaritätsbegriff vgl. Dörre/Castel, Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung; Dörre, »Die neue Landnahme«; Dörre/Krämer/Speidel, Prekarität; Vogel, »Prekarität und Prekariat«; ders., »Das Prekariat«; Vogel/Grimm, »Prekarität der Arbeitswelt«.

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lisierungsresistenz von Dienstleistungen, eine tragende Rolle bei herrschaftstheoretischen Analysen spielen muss. Hinzu kommt, dass auch der Begriff prekärer Dienstleistungsarbeit nicht klar sozialstrukturell eingegrenzt werden kann. Denn Prozesse der Prekarisierung – hierin besteht auch die Stärke des Begriffs – sind sowohl in den »mittleren« als auch in den »unteren« Segmenten des Arbeitsmarktes zu beobachten – wenn auch selbstverständlich in recht unterschiedlicher Gestalt und verbunden mit verschiedenen Konsequenzen. Der Begriff »einfacher« Dienstleistungsarbeit ist daher zu Anfang nicht viel mehr als der Versuch einer adäquaten Übersetzung der Bezeichnung »routine service work«, wie sie im Bereich der Sozialstrukturanalyse verwendet wird.70 Die empirische Erfahrung hat das Adjektiv »einfach« im Sinne routinisierter Tätigkeiten dabei weitgehend bestätigt, ohne dass es allerdings jemals den Kern dessen fassen könnte, was die Ganzheit einer jeweiligen Tätigkeit ausmacht. Insofern finden auch die Aspekte der Prekarität und Interaktivität einer jeweiligen Tätigkeit expliziten Eingang in die Analyse. Vorläufig kann daher festgehalten werden, dass mit »einfacher« Dienstleistungsarbeit jene Tätigkeiten bezeichnet sind, die nach Einkommen und Qualifikationsanforderung am unteren Rande der bundesrepublikanischen Arbeitsgesellschaft und in dienstleistenden Arbeitsbereichen angesiedelt sind.

Ein Dienstleistungsproletariat? Ein solches Verständnis einfacher Dienstleistungsarbeit verweist auf den Anspruch, arbeitssoziologische Macht- und Herrschaftsforschung in Verbindung zu spezifischen Arbeiten aus dem Bereich der Sozialstrukturanalyse zu setzen. Die entscheidende Kategorie ist hierbei die des »Dienstleistungsproletariats«71, wie sie seit Längerem in verschiedenen Arbeiten aus dem Bereich der Sozialstrukturanalyse Verwendung findet. Diese Arbeiten sind in dem Bemühen verbunden, innerhalb der Sozialstrukturanalyse den gesellschaftlichen Veränderungen im Gefolge der zunehmenden Tertiarisierung der Arbeitswelt gerecht zu werden. 70 Oesch, Redrawing the Class Map. 71 Esping-Andersen, »Post-industrial Class Structures«; Blossfeld/Mayer, »Be-

rufsstruktureller Wandel und soziale Ungleichheit«; Bahl/Staab, »Das Dienstleistungsproletariat«.

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Den ersten Impuls in dieser Richtung stellt das Erikson-Goldthorpe-Schema dar,72 das später vor allem von Goldthorpe weiterentwickelt wurde. Hier wird das Feld dienstleistender Tätigkeiten in dezidierter Abgrenzung zum Bereich industrieller Arbeit konzipiert. Die »Dienstklassen« des tertiären Sektors bestehen allerdings im Kern aus Beschäftigten in hoch qualifizierten Angestelltentätigkeiten. Einfache Tätigkeiten, wie die Arbeit einer Verkäuferin, eines Wachmanns oder einer Gebäudereinigerin, fasst die Kategorie der Dienstklassen nicht. Eine entscheidende Veränderung dieser Konzeptionalisierung bringt erst die von Gøsta Esping-Andersen Anfang der 1990er Jahre formulierte Heuristik einer postindustriellen Klassenstruktur.73 Esping-Andersen geht davon aus, dass eine zu diesem Zeitpunkt in Entstehung begriffene postfordistische Sozialstruktur maßgeblich von steigender weiblicher Erwerbsbeteiligung geprägt sein werde. Im EGP (Klassenschema nach Erikson, Goldthorpe und Portocarero) sieht er einen blinden Fleck bezüglich spezifischer institutioneller Kontexte, innerhalb derer diese neue, dominant weibliche Arbeitswelt gestaltet werde. Esping-Andersen hat dabei vornehmlich drei Institutionengefüge im Blick, nämlich den Wohlfahrtsstaat, das System industrieller Beziehungen und das Bildungssystem. Schon diese ersten Dimensionen verweisen darauf, dass sich in unterschiedlichen, nationalstaatlich geprägten Institutionenarrangements ganz unterschiedliche Ausprägungen einer postindustriellen Klassenstruktur erwarten lassen. Esping-Andersen richtet in der Folge sein Augenmerk auf die Frage, ob die Entstehung eines postindustriellen Proletariats zu erwarten sei, wie es weder im optimistischen Duktus der Prognostiker zentral noch im EGP konzeptionell fassbar sei. Zwei Kriterien seien für die sozialstrukturelle Verortung einer solchen Gruppe von entscheidender Bedeutung: erstens die Einordnung einer jeweiligen Tätigkeit im System gesellschaftlicher Arbeitsteilung und zweitens deren Zusammenhang mit spezifischen Regimes von Lebenschancen, also im Kern der spezifischen Form sozialer Schließung74. Eine solche soziale Schließung, so vermutet

72 Erikson/Goldthorpe, Constant Flux. 73 Esping-Andersen, »Post-industrial Class Structures«. 74 Ebenda, S. 12.

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Esping-Andersen, erfolge primär über den Faktor zertifizierbarer Bildungstitel. Es stehe daher zu erwarten, dass gerade Deutschland mit seinem besonders zertifikationsaffinen Bildungssystem und Arbeitsmarkt75 solche Schließungsmechanismen ausbilde, während beispielsweise Schwedens komplexes System der Weiterqualifikation eher Mobilität verbürgen könnte.76 Esping-Andersen unterscheidet in der Folge entlang spezifischer Arbeitslogiken zwischen industriell-fordistischen Tätigkeiten und interpersonalen Arbeitslogiken im Bereich der Dienstleistungsarbeit: »A skilled metal worker and a skilled hairdresser would have very little in common be it in terms of autonomy, authority, labor relations or reward system.«77 Vielmehr könne man bei diesem Vergleich von »two distinct worlds of work«78 sprechen. Auf Basis dieser Unterscheidung ergeben sich dann drei verschiedene Formen von Dienstleistungsarbeit. Erstens seien da die »business services«,79 unter denen Esping-Andersen Tätigkeiten wie Unternehmensberatung, Architekturdienstleistungen, Finanzdienstleistungen oder Software-Programmierung summiert. Zweitens sei mit einer Expansion sozialer Dienstleistungen zu rechnen, die sich primär auf die teils wohlfahrtsstaatlich organisierten Bereiche von Gesundheit, Pflege und Ausbildung bezögen. Drittens sei die Rolle privatwirtschaftlicher konsumorientierter Dienstleistungen zu betrachten, die etwa im Gastronomiebereich Substitutionsleistungen für Haushaltsarbeiten darstellten, die unter der Voraussetzung weiblicher Erwerbsbeteiligung nicht mehr erfüllt werden könnten. Esping-Andersen gelangt auf diesem Wege zu folgender vorläufiger Schematisierung:80:

75 76 77 78 79

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Blossfeld/Mayer, »Berufsstruktureller Wandel und soziale Ungleichheit«, S. 676. Esping-Andersen, »Post-industrial Class Structures«, S. 20. Ebenda, S. 14. Ebenda. Ebenda, S. 23.

1. The fordist hierarchy: (a) managers and proprietors (includes executive personnel and the »petit bourgeoisie«); (b) clerical, adminstrative (nonmanagerial) and sales workers engaged in basically routine tasks of control, distribution and administration; (c) skilled/crafts manual production workers, including lowlevel »technical« workers; (d) unskilled and semi-skilled manual production workers, also including transport workers and other manual occupations engaged manufacture and distribution, such as packers, truck drivers, haulers, and the like;

2. The post-industrial hierarchy (a) professionals and scientists;

(b) technicians and semi-professionals (school teachers, nurses, social workers, laboratory workers, technical designers, etc.); (c) skilled service workers (cooks, hairdressers, policemen, etc.); (d) unskilled service workers, or service proletariat (cleaners, waitresses, bartenders, baggage porters, etc.).80

Esping-Andersens Gedanken haben theoretische Durchschlagskraft. Freilich musste sich das Modell in der bisher erfolgten Darstellung auch noch nicht en detail an der Empirie bewähren. Für die Bundesrepublik beheben als Erste Karl-Ulrich Mayer und Hans-Peter Blossfeld diesen Missstand.81 Sie sehen den allgemeinen wirtschaftlichen Tertiarisierungstrend empirisch bestätigt, und zwar für beide Geschlechter, wenn auch in stärkerem Ausmaß bei Frauen.82 Ihr Interesse gilt in der Folge vor allem dem Argument einer möglichen dienstleistungsspezifischen Klassenbildung im Bereich einfacher Dienste, für die sie, im Anschluss an Esping-Andersen, vor allem das Kriterium eines spezifischen Lebenschancenregimes anlegen: Als Kriterium der Klassenbildung sollte deswegen die »Mitgliedschaft im Dienstleistungsproletariat […] nicht nur vorübergehend sein, sondern eine hohe Stabilität über den Berufsverlauf zeigen«83. Zwei Szenarien des berufsstrukturellen Wandels im Gefolge einer Tertiarisierung der Wirtschaftsstruktur seien dabei denkbar: Erstens könnten einfache Dienste als Lückenbüßer für Berufseinsteiger fungieren.

80 81 82 83

Ebenda, S. 24 f. Blossfeld/Mayer, »Berufsstruktureller Wandel und soziale Ungleichheit«. Ebenda, S. 681. Ebenda, S. 674.

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Daran schließe sich dann konsequent die Frage an, inwieweit ein solcher Einstieg in einer langen Verweildauer münde oder inwiefern im Gegensatz dazu lediglich von »stopgap employment«84 gesprochen werden könne. Sei Letzteres für den Bereich einfacher Dienste der Fall, widerspreche es der These einer dienstleistungsproletarischen Klassenbildung. Die zweite denkbare Variante betrifft die einfachen Dienste als Sackgassen im Rahmen einer Theorie dualer Arbeitsmärkte85. Es wird dann davon ausgegangen, dass sich der Arbeitsmarkt in zwei Segmente teilt, zwischen denen keine nennenswerte Mobilität stattfindet. Während Arbeitgeber auf dem primären Arbeitsmarkt bereit sind, in die Weiterbildung und damit die soziale Mobilität ihrer Mitarbeiter zu investieren, mangelt es im sekundären Arbeitsmarkt an solcher Investitionsbereitschaft. Beschäftigte dieses Segments sind dementsprechend entkoppelt von den Chancen sozialen Aufstiegs über (betriebliche) Bildung. Im Rahmen eines solchen Verständnisses stellt sich dann die Frage, inwiefern Arbeitende im Bereich einfacher Dienste auf diesen Bereich beschränkt blieben oder ob sich nicht vielmehr eine horizontale Quermobilität zwischen den Bereichen einfacher Dienstleistungsarbeit und einfachen manuellen Tätigkeiten im Bereich der industriellen Produktion zeige. Für die Bundesrepublik sehen die Autoren letztere Hypothese als bestätigt an, denn »über den Berufsverlauf akkumulieren sich zunehmend unqualifizierte Arbeitskräfte und Absteiger mit beruflicher Ausbildung in den einfachen Diensten«86. Diese Absteiger – hier liegt der Kern der von Blossfeld/Mayer geführten Argumentation – kämen zum Großteil aus »einfachen und qualifizierten manuellen Berufen«, was auf eine »enge Beziehung zwischen den manuellen Berufen und den einfachen Diensten« verweise.87 Wegen dieser Verbindung sehen die Autoren die These einer spezifischen Klassenbildung eines Dienstleistungsproletariats als widerlegt an, denn, so könnte man formulieren: Wer heute bei VW am Band steht, kann sich morgen schon bei McDonalds hinter der Theke wiederfinden. Den 84 Oppenheimer/Kalmijn, »Life-Cycle Jobs, Race and the Youth Labor Market«, S. 37, nach Blossfeld/Mayer, »Berufsstruktureller Wandel und soziale Ungleichheit«, S. 675. 85 Piore, »Internationale Arbeitskräftemigration«. 86 Blossfeld/Mayer, »Berufsstruktureller Wandel und soziale Ungleichheit«, S. 689. 87 Ebenda, S. 692.

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Autoren folgend könnte man vom Dienstleistungsproletariat also lediglich als volatiler Klassenfraktion sprechen, die sich in einem bestimmten Teil des sekundären Arbeitsmarktes mit wechselndem Personal materialisiert. Nicht einmal die Metapher der zwei Gesichter der Arbeiterklasse kann Blossfeld/Mayer folgend als wirklich angebracht gelten, zeigt sich doch ein Mobilitätsmuster, in dem besonders Frauen früh wieder aus den einfachen Diensten ausscheiden, während Männer in mittlerem Alter sukzessive stärker vertreten sind88. Es ist diese Dynamik berufsstrukturellen Wandels, die Blossfeld/Mayer daran zweifeln lässt, dass in den einfachen Diensten stabile Strukturen entstehen, die eine sozialisatorische Prägekraft und damit eine klassenspezifische Vererbungslogik in Gang setzen könnten.89 Doch verweisen die Autoren noch auf einen weiteren Umstand. Bei genauer Betrachtung ist die konstatierte Quermobilität nämlich einseitig gerichtet: Wer nach VW bei McDonalds gelandet ist, um im eben formulierten Beispiel zu bleiben, der kann in der Regel nicht erwarten, irgendwann wieder in einen industriellen Beruf zurückzukehren. Denn die Aufstiegschancen aus den einfachen Diensten seien, abgesehen vom landwirtschaftlichen Sektor, die geringsten.90 Blossfeld/Mayer kommen in der englischen Version ihres Artikels dementsprechend auch zu dem Ergebnis: »Unskilled service jobs in Germany constitute a dumping ground for middle-aged workers coming from other – frequently declining – occupations.«91 Dass sich für Blossfeld/Mayer keine ausreichende Beschränkung der Mobilitätsmuster auf den Bereich einfacher Dienste ergibt, erklärt sich, von heute aus betrachtet, möglicherweise auch aus der Datenbasis der Analyse. Denn die Autoren beziehen ihre Aussagen aus Daten, die in der Regel Mitte der 1980er Jahre erhoben wurden.92 Die im Berufsverlauf betrachteten Kohorten sind die Geburtenjahrgänge 1929– 1931, 1939–1941 und 1949–1951 und damit selbst im jüngsten Falle eher Personengruppen, deren Erwerbsbeteiligung zu großen Teilen in die Frühphase wirtschaftlicher Tertiarisierung in der Bundesrepublik 88 89 90 91 92

Ebenda, S. 683. Ebenda, S. 694. Ebenda, S. 689. Blossfeld/Mayer/Giannelli, »Is There a New Service Proletariat?«, S. 134. Blossfeld/Mayer, »Berufsstruktureller Wandel und soziale Ungleichheit«, S. 678.

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fällt. Was aus den Kindern dieser jüngsten »dumping groundler« geworden ist, ist nicht klar zu ermessen. Sie dürften mittlerweile in bestem berufstätigen Alter sein, während selbst die jüngsten Jahrgänge des Samples von Blossfeld/Mayer zu einem großen Teil bereits im Ruhestand sein dürften. Etwa 25 Jahre nach der Datenerhebung könnte sich die Situation der einfachen Dienste deutlich verändert haben. Es lohnt daher der Blick auf Analysen, die zwar eher Momentaufnahmen darstellen, aber immerhin detaillierte empirische Erkenntnisse über das Dienstleistungsproletariat der Gegenwart bereithalten. Einen umfangreichen Ansatz hat dabei Daniel Oesch mit einer vergleichenden Vier-Länder-Studie zur Entwicklung von Arbeitsmärkten und Klassenstruktur vorgelegt.93 Oeschs Analysen basieren auf Daten aus den Jahren 1999 und 2000. Auch er stellt im Rahmen der Diagnose eines massiven Tertiarisierungsschub in den letzten drei Jahrzehnten die Frage nach dem Service-Proletariat. Auf den genannten Autoren aufbauend entwickelt er ein eigenes Klassenschema, das Esping-Andersens Unterscheidung zwischen einer fordistischen und einer postfordistisch ausgerichteten Arbeitslogik in eine Drei- beziehungsweise Vierteilung verfeinert. In Oeschs Modell stehen sich damit auf der horizontalen Ebene Tätigkeiten, die einer unabhängigen (Selbstständige), einer technischen, einer administrativen und einer interpersonalen Logik folgen, gegenüber.94 Als Strukturmerkmal vertikaler Gliederung bestimmt er die jeweils vorhandenen »marketable skills«:95

93 Oesch, Redrawing the Class Map. 94 Ebenda, S. 64. 95 Wird im Folgenden auf Ergebnisse, die im Rahmen von Oeschs Klassenschema

formuliert werden, rekurriert, so geschieht dies eingedenk der Tatsache, dass die Berufsgruppen, die bei Oesch in der Kategorie des Dienstleistungsproletariats gebündelt werden, nicht deckungsgleich sind mit der Operationalisierung »einfacher« Dienste, die die Basis der später analysierten Fallstudien bilden. Definitionen von Dienstleistungsarbeit sind, wie eingehend dargestellt, notorisch vage. Gerade die qualitative Fallstudienforschung sollte sich daher nicht sklavisch an die Vorgaben des Klassenschemas halten, sondern auch Grenzfälle zwischen interpersonalen und manuellen Tätigkeiten ausloten. Die je spezifischen strukturellen Profile der im Rahmen dieser Arbeit betrachteten Bereiche werden außerdem im fünften Kapitel noch je einzeln beschrieben, sodass nicht die Gefahr einer übermäßigen Generalisierung der Ergebnisse des Klassenschemas auf die Fallstudien besteht.

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Germany 2000: Total distribution across classes in %; in parentheses: women’s share within each class in %96 Large employers 0.5 (14)

Self-employed professionals 2.2 (22)

Technical experts 4.5 (14)

Highergrade managers 7.3 (30)

Socio-cultural professionals 4.8 (51)

Petite bourgeoisie with employees 3.1 (28)

Technicians 4.9 (27)

Associate managers 8.1 (58)

Socio-cultural semiprofessionals 6.7 (75)

Petite bourgeoisie without employees 4.1 (37)

Skilled crafts 13.1 (6)

Skilled office 9.0 (65)

Skilled service 4.3 (47)

Routine operative 12.0 (20)

Routine office 2.8 (68)

Routine service 11.1 (62)

Routine agriculture 1.6 (26)

Source: GSOEP data; N = 11,979

Das Service-Proletariat verortet Oesch in Kategorie 17 (Routine service), also im Bereich der einfachen Dienstleistungen. Für die Bundesrepublik ist diese Gruppe mit 11,1 Prozent der Erwerbsbeteiligten im Vergleich mit den drei anderen Vergleichsländern zwar die größte Gruppe. Doch sind die Unterschiede nicht überwältigend.97 Auch fällt mit Blick auf die konkreten Professionen bei Oesch auf, dass die einfachen Dienste von jenen Berufen mit Ausbildungsniveau (Gruppe 16) nur graduell geschieden ist.98 Es wirkt daher nicht ganz inkonsequent, wenn Oesch in einer auf acht Klassen zugespitzten Version seines Klassenschemas beide Gruppen zusammenfasst. Bezogen auf die Gesamtgrößen der einzelnen Einheiten ergibt sich dann folgendes Bild für die verschiedenen untersuchten Länder:

96 Oesch, Redrawing the Class Map, S. 88. 97 Großbritannien 9,3 Prozent, Schweden 10,8 Prozent, Schweiz 9,3 Prozent. 98 Dies entspricht Eindrücken, die im Rahmen eigener Fallstudienforschung ge-

macht wurden. So ist die Gebäudereinigung etwa ein Ausbildungsberuf. Dennoch hat nur eine Minderheit der angestellten Gebäudereiniger eine Ausbildung in diesem Handwerk vollzogen. Das Gleiche gilt etwa für viele Verkaufstätigkeiten im Einzelhandel.

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Total distribution across 8-class schema (in %)99 Traditional bourgeoisie

Technical specialists

GB DE SW CH

GB DE SW CH

2.3 2.6 3.2 3.9

7.4 9.4 11.9 11.5

Managers

Socio-cultural specialists

GB DE SW CH

GB DE SW CH

19.7 15.4 15.9 17.6

10.3 11.5 13.0 13.1

Petite bourgeoise

Production workers

Office clerks

Service workers

GB DE SW CH

GB DE SW CH

GB DE SW CH

GB DE SW CH

9.2 7.2 11.7 11.3

19.8 26.6 18.3 19.8

15.9 11.8 5.9 9.8

15.4 15.5 20.1 13.0

Trotz dieser möglichen Zuspitzung auf acht Klassen sollen im Folgenden solche Gruppeneigenschaften der einfachen Dienstleistungen im Vordergrund stehen, die sich aus dem 17-Klassen-Schema ergeben. Denn auch wenn die Übergänge zwischen Dienstleistungstätigkeiten ohne formale Qualifikation und solchen, die nominell Ausbildungsniveau verlangen, fließend sind, steht doch zu erwarten, dass eine zugespitzte Operationalisierung einfacher Dienste auch feinere Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen zutage fördert. Betrachten wir nun Oeschs Ergebnisse für das Dienstleistungsproletariat in der Bundesrepublik im Vergleich zu anderen Gruppierungen der Sozialstruktur, so entsteht ein differenziertes Bild: Es ist zunächst in Bezug auf die Frage einer Feminisierung der Tätigkeitsstrukturen zu konstatieren, dass Oesch ein polarisiertes Bild im Bereich niedrig- bzw unqualifizierter Tätigkeiten entlang der Kategorie Gender aufzeigt: So sind 62 Prozent der Beschäftigten im Bereich einfacher Dienste weiblich, während die gleichrangige Industriearbeiterschaft zu 80 Prozent männlich ist.100 Auch in Bezug auf die Dimension Einkommen zeigen sich deuliche Unterschiede. So liegt das Service-Proletariat mit einem Median-

99 Oesch, Redrawing the Class Map, S. 126. 100 Ebenda, S. 211.

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einkommen von 3120 DM (1595 Euro) noch unter dem Durchschnitt (3430 DM /1754 Euro) der Gesamtgruppierung unqualifizierter Tätigkeiten. Auffällig ist auch der Unterschied zu den ungelernten Industriearbeitern, die immerhin ein Medianeinkommen von 3780 DM (1933 Euro) vorweisen können.101 Es liegt nahe, schon in dieser Differenz einen Ausdruck unterschiedlicher institutioneller Eingebundenheit in das System der Tarifpartnerschaft zu vermuten. Auch innerhalb des Dienstleistungssektors zeigt sich eine enorme Lohnspreizung, wenn man in Rechnung stellt, dass die Gruppe der sozio-kulturellen Professionals (Gruppe 14) im Schnitt 91 Prozent mehr oder die Gruppe der technischen Experten (Gruppe 5) 83 Prozent mehr verdient als das Service-Proletariat.102 Im Rahmen der bereits besprochenen Prognosen aus der Anfangsphase der Tertiarisierung lässt sich hier mit empirischer Gewissheit sagen, dass die Welten der Bell’schen Wissenseliten kaum mit der Welt einfacher Dienste analog zu setzen sind. Denkt man an Esping-Andersens Prognose zurück, die das Service-Proletariat zu einem Großteil im Bereich des öffentlichen Dienstes im Kommen sah und in der Folge davon ausging, dass diese Gruppe vor materieller Armut weitgehend geschützt sei, stellt sich mit Daniel Oesch Ernüchterung ein. Zwar verweist Oesch auf die Schwierigkeit, Beschäftigung im Öffentlichen Dienst klar zu definieren. Dennoch dürften die Zahlen für die Bundesrepublik gerade im Hinblick auf innergesellschaftliche Vergleichsgruppen durchaus aussagekräftig sein: So sind lediglich 21,7 Prozent derjenigen, die sich in den einfachen Diensten verdingen, im öffentlichen Dienst tätig, was weniger als die Hälfte des Durchschnitts im Bereich interpersoneller Dienstleistungen (46,2 Prozent) und nicht einmal ein Drittel der sozio-kulturellen Professionals ist.103 Esping-Andersens Hoffnungen scheinen für die Bundesrepublik also enttäuscht zu werden, seine Befürchtungen dagegen zuzutreffen. Die einzige

101 Ebenda, S. 96; Oeschs Ausführungen zur Lohnsituation des Dienstleistungs-

proletariats decken sich dabei mit den Analyse von Bosch/Kalina zum Niedriglohnsektor in Deutschland. Diese Autoren verweisen dabei auf den hohen Niedriglohnanteil im Einzelhandel, dem Hotel- und Gaststättengewerbe (vor allem der Reinigung: 90,8 Prozent!), ebenda, S. 40 f. 102 Oesch, Redrawing the Class Map, S. 100. 103 Ebenda, S. 111.

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Gruppe, die noch deutlich seltener in den Genuss einer staatlichen Anstellung gelangt, sind die ungelernten Industriearbeiter.104 Diesen kann jedoch noch eine vergleichsweise große Fähigkeit zugeschrieben werden, die eigene Lage im Rahmen institutionell verbürgten kollektiven Handelns zu lösen: Germany 1998: Union density by class (N=6327)105

So ist innerhalb der ungelernten beziehungsweise niedrig qualifizierten Industriearbeiterschaft die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft mit 39 Prozent der Arbeitnehmer noch mehr als doppelt so hoch wie im Dienstleistungsproletariat (18 Prozent). Letzterem kann also kaum eine bemerkenswerte Fähigkeit zu kollektivem Handeln nachgesagt werden. Es ist dabei auch beachtlich, dass gerade Frauen schwer für die Gewerkschaften zu gewinnen zu sein scheinen. Sie sind mit lediglich 17 Prozent Gewerkschaftsmitgliedschaften deutlich hinter den Männern (22 Prozent) in diesem Bereich angesiedelt.

104 Ebenda. 105 Oesch, Redrawing the Class Map, S. 168.

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Zusammenfassend zeichnet Oesch daher ein Bild multipler Benachteiligung im Bereich niedrig- und unqualifizierter Arbeit: »In all four countries of our sample, employment as a routine operative or routine service worker brings about consistently worse perspectives in terms of earnings, promotion prospects and pension coverage than employment in managerial or professionals positions.«106 Mag diese Aussage auch nicht überraschen, so ist doch zu bemerken, dass in Oeschs Analysen eine doppelköpfige Arbeiterklasse in Erscheinung tritt, die sich im Kern in die Gruppe einer dominant männlichen Industriearbeiterschaft und eines dominant weiblichen Service-Proletariats trennt.107

Institutionelle Arrangements Es lohnt sich an dieser Stelle ein weiteres Mal zu Esping-Andersens heuristischen Gedanken zur postindustriellen Sozialstruktur zurückzukehren. Dieser benennt, wie beschrieben, die institutionelle Prägung der einfachen Dienste als entscheidende Determinante für die Ausprägung der Lebenschancen der dort beschäftigten Personen. Als prägende Institutionengefüge bezüglich der Frage sozialer Schließung betrachtet Esping-Andersen den Wohlfahrtsstaat, das System industrieller Beziehungen und das Bildungssystem.

Baumol’sche Szenarien Er fragt dabei unter Bezugnahme auf William J. Baumol108 nach der Rolle spezifischer Institutionen für die Entwicklung einfacher Dienstleistungsarbeit. Baumol hat das Theorem der Kostenkrankheit geprägt.109 Ähnlich wie die erwähnten Berger/Offe110 hat er früh

106 Ebenda, S. 212. 107 Ebenda, S. 220. Oeschs Angaben zum Anteil der Nichtwähler im Service-Pro-

letariat beziehen sich lediglich auf empirische Erhebungen in Schweden und der Schweiz. 108 Baumol, »Macroeconomics of Unbalanced Growth«. 109 Ebenda; ders., The Cost Disease. 110 Berger/Offe, »Die Entwicklungsdynamik des Dienstleistungssektors«.

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auf die Verknüpfung industrieller Produktion mit Dienstleistungsarbeit abgestellt. Aus der Gegenüberstellung eines progressiven (industriellen) und nicht-progressiven (Dienstleistungs-) Sektors, schließt Baumol auf ein zwangsläufig eintretendes ökonomisches Ungleichgewicht: Dienstleistungen seien einem nicht-progressiven Teil wirtschaftlicher Aktivitäten zuzuordnen, weil sie kaum Chancen auf Produktivitätssteigerungen böten. Da sie der Chancen industrieller Rationalisierung ermangelten, müsse davon ausgegangen werden, dass Dienstleistungen eine »Kostenkrankheit« entwickelten, die zu ihrer sukzessiven Verteuerung führe.111 Denn ginge man von einer Kopplung der Lohnniveaus bei ungleicher Produktivitätsentwicklung im progressiven und nicht-progressiven Bereich aus, dann stünde zu erwarten, dass Dienstleistungen sukzessive zu teuer und daher wieder vom Markt verschwinden würden.112 Auf diesem Theorem aufbauend fragt Esping-Andersen nun nach möglichen Szenarien der Entwicklung der einfachen Dienste. Baumols These lässt dabei zum Zeitpunkt der Untersuchung EspingAndersens drei Entwicklungsszenarien möglich erscheinen: Ein bereits angedeutetes Szenario ist das Verschwinden einfacher Dienstleistungen vom Markt, weil diese schlicht zu teuer würden. Dies führt zu einer Vision von Massenarbeitslosigkeit und damit einer Insider-Outsider-Spaltung des Arbeitsmarktes. Zwei weitere Möglichkeiten ergeben sich nur im Zusammenhang mit der von EspingAndersen angemahnten Sensibilität für institutionelle Voraussetzungen der Entwicklung des Arbeitsmarktes. So sei als zweites Szenario eine Expansion einfacher Dienstleistungsarbeit durch wohlfahrtsstaatlich subventionierte Lohnmodelle denkbar, die in der Konsequenz die Marktpreise von Dienstleistungen niedrig halten und damit ihr Verschwinden vom Markt verhindern könnten. Ein drittes Szenario betrifft eine andere Politik der Lohnentwicklung, die am Beispiel der Bundesrepublik in der Abkopplung des Lohnsystems einfacher Dienste vom System korporatistisch regulierter industrieller Beziehungen und damit tariflich geregelter Löhne bestünde. Nicht-progressive Arbeit, würde dann in den Termini Baumols, auch nicht progressiv entgolten, was zwar das Problem der

111 Baumol, »Macroeconomics of Unbalanced Growth«. 112 Häußermann/Siebel, Dienstleistungsgesellschaften, S. 45.

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Kostenkrankheit erledige, zugleich allerdings eine materielle Verarmung der Beschäftigten bedinge.113

Arbeitsinstitutionelle Unterdeterminiertheit und politische Rahmengebung Aus heutiger Sicht gilt es, die mögliche Realisierung dieser Szenarien entlang der von Esping-Andersen benannten institutionellen »Arenen«114 des Wohlfahrtsstaates, des Korporatismus und des Bildungssystems zu bestimmen. Diese Arenen sind etwa im System des Industrialismus115 Teil einer institutionellen Ordnung, die Martin Baethge als »Architekturen von rechtlichen Regeln, im Alltag herausgebildete eingespielte Verhaltensnormen und -routinen und organisatorische Formen, welche der Kooperation von Menschen in der Arbeit und ihren Austauschbeziehungen auf dem Markt Sicherheit und Kontinuität verleihen«,116 beschreibt. Baethge folgend kann davon ausgegangen werden, dass sich aufgrund der Beharrungskräfte institutioneller Ordnungen auch die Strukturdominanz von Dienstleistungsarbeit im institutionellen Rahmen des Industrialismus herausgebildet hat.117 Dienstleistungsarbeit hat »keine eigenständigen Muster der Spezialisierung und Arbeitsorganisation, keine eigenständigen Qualifizierungsformen und Interessenvertre113 Die Entstehung eines Service-Proletariats sieht Esping-Andersen daher vor-

114 115 116 117

nehmlich im Bereich sozialer und konsumorientierter Dienstleistungen als wahrscheinlich an. Denn konsumorientierte Dienstleistungen könnten durch eine dezidierte Niedriglohnpolitik stabilisiert werden. Soziale Dienstleistungen hätten immer mehr Aufgaben familiärer Reproduktion zu übernehmen, seien zugleich arbeitsintensiv und (formal) niedrig qualifiziert. Sie würden daher schon aufgrund gestiegener weiblicher Erwerbsbeteiligung immer mehr Nachfrage finden. Es stehe dabei aber zumindest in nationalstaatlichen Kontexten mit starken Wohlfahrtstaaten nicht zu erwarten, dass diese Expansion »einfacher« Dienste auch mit einer materiellen Verarmung einhergehe: »The unskilled service proletariat is unlikely to be low-paid, at least if employed within the welfare state« (Esping-Andersen, S. 27). Ob man sich einem derartigen Optimismus angesichts der Situation im staatlich subventionierten Pflegesystem noch anschließen mag, darüber wird später zu sprechen sein. Vgl. Müller-Jentsch, Arbeit und Bürgerstatus. Baethge, »Der unendlich langsame Abschied vom Industrialismus«; ders., »Abschied vom Industrialismus«. Ebenda, S. 29. Ebenda, S. 32.

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tungsorganisationen, keinen eigenen Begriff von Effizienz und Produktivität ausgebildet«.118 Die beschriebenen Erkenntnisse der Sozialstrukturanalyse belegen jedoch, dass dieser Umstand keinesfalls als eine passgenaue Integration von Dienstleistungen in das System des Industrialismus missverstanden werden darf,119 wie sich an Esping-Andersens drei institutionellen Arenen veranschaulichen lässt. Bezüglich der wohlfahrtsstaatlichen Regulierung ist zu konstatieren, dass das mittlerweile recht etablierte System der Lohnaufstockung durch Inanspruchnahme von Arbeitlosengeld II bei gleichzeitiger, nicht grundsichernder Erwerbsbeteiligung als ein Programm wohlfahrtsstaatlich subventionierter Löhne verstanden werden kann. Gerhard Bosch und Claudia Weinkopf verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass der Anteil der Aufstocker im Dienstleistungssektor weit höher liegt als im Bereich industrieller Arbeit: »Insgesamt reicht 1,2 Mio. Beschäftigten im Dienstleistungssektor das Erwerbseinkommen nicht aus, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, und mehr als die Hälfte von ihnen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt.«120 Es kann davon ausgegangen werden, dass das Risiko einer Anstellung im Niedriglohnsektor vornehmlich bei den einfachen Dienstleistungen zu verorten ist, wie ja auch Daniel Oeschs Ausführungen zum Lohngefüge in diesem Bereich nahelegen. Dies lässt erwarten, dass viele Beschäftigte der einfachen Dienste auch nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben auf Sozialtransfers aus dem Bereich wohlfahrtsstaatlicher Grundsicherung angewiesen sein werden.121

118 Ebenda, S. 29. 119 Baethge selbst hält den Industrialismus für überholt (ebenda, S. 37). 120 Bosch/Weinkopf, »Arbeitsverhältnisse im Dienstleistungssektor«, S. 443. Zudem ist der Anteil an Aufstockern im Dienstleistungsbereich mit 3,2 Prozent bei den sozialversicherungspflichtigen und 15,6 Prozent bei den geringfügig Beschäftigten weit höher als im sekundären Sektor (ein Prozent und 11,7 Pro-

zent), ebenda. 121 Ein Indiz hierfür sind die von Daniel Oesch erhobenen erwarteten Pensionshöhen, bei denen die »einfachen« Dienste im Vergleich zu den anderen Gruppen des Klassenschemas am schlechtesten abschneiden (Oesch, Redrawing the Class Map, S. 213 f.). Aber auch die im Rahmen dieser Studie erhobenen Daten legen diese Annahme nahe. So wurde etwa im Streik der Gebäudereiniger im Jahr 2009/2010 unter anderem ein Recht auf betriebliche Altersvorsorge erstritten. Lässt man sich als tariflich beschäftigte Gebäudereinigerin allerdings

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Die Übernahme bestimmter finanzieller Versorgungsaufgaben durch den Wohlfahrtsstaat gibt bereits einen entscheidenden Hinweis darauf, wie es um die korporatistische Regulierung der einfachen Dienste steht. Die geringe gewerkschaftliche Organisationsdichte sorgt dafür, dass die empirische Reichweite von Branchentarifverträgen begrenzt bleibt. Dies hat in der Bundesrepublik zur politischen Allgemeinverbindlichkeitserklärung bestimmter Tarifverträge geführt. Damit sind politisch branchenspezifische Mindestlöhne festgelegt worden, die zwar Verhandlungen der Tarifparteien entspringen, die diese aber nicht selbstständig durchsetzen können.122 Wenig überraschend ist dabei, dass es die einfachen Dienste sind, an denen sich die Debatte um politische Mindestlöhne maßgeblich entzündet hat, etwa die Gebäudereinigung, das Sicherheitsgewerbe oder die Pflege. Das korporatistische System scheint daher nur noch unter Zuhilfenahme politischer Unterstützung die Durchsetzung der autonom verhandelten Tarifverträge gewährleisten zu können. Dies lässt sich als Symptom einer vergleichsweise niedrigen Integration der einfachen Dienste in das System korporatistischer Regulierung verstehen, also als vergleichsweise arbeitsinstitutionelle Unterdeterminiertheit.123

das karge Urlaubsgeld auf die hart erstrittene betriebliche Altersvorsorge anrechnen, so wird man sich diese betriebliche Altersvorsorge später in der Regel von der staatlichen Grundsicherung abziehen lassen müssen. Denn die Rentenansprüche sind typischerweise so niedrig, dass ohnehin Anspruch auf wohlfahrtsstaatliche Sozialtransfers besteht. Ein Mitarbeiter der zuständigen Sozialkasse riet daher: »Haben ist Haben. Ich rate Ihnen, sich kurz vor Renteneintritt die betriebliche Altersvorsorge auszahlen zu lassen. Dann kaufen sie sich was Schönes, und danach gibt es Grundsicherung …« 122 Zugleich reichen die festgelegten Höhen der branchenspezifischen Mindestlöhne in der Regel nicht, um den Niedriglohnsektor zu verlassen, wie etwa in der Reinigungsbranche, in der trotz Mindestlohn 90,8 Prozent der Beschäftigten von Niedriglöhnen betroffen sind (Bosch/Kalina, »Niedriglöhne in Deutschland«, S. 40 f.). Dies gilt umso mehr, als dass unter den politischen Vorzeichen staatlicher Austeritätspolitik nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich die Mindestlöhne deutlich erhöhen (Schulten, »WSI -Mindestlohnbericht 2012«). Schon im Jahr 2011 hat sich deren Entwicklung deutlich verlangsamt (ebenda, S. 124). 123 Als ein weiteres Symptom dieser verhältnismäßigen Unterdeterminiertheit durch korporatistische Institutionen kann auch der Umstand gelten, dass vor

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Esping-Andersens dritte Arena, das Bildungssystem, bietet den Fluchtpunkt der Hoffnung auf eine positive Entwicklung der einfachen Dienste. Denn der sozialstrukturelle Aufstieg von Berufsgruppen hängt historisch meist mit ständischen Schließungsstrategien in Form von Professionalisierung zusammen: Über die Zertifizierung von Berufsabschlüssen können die Ansprüche auf Entlohnung in die Höhe geschraubt werden, da die Anzahl der verfügbaren Arbeitskräfte reguliert und damit das verfügbare Angebot an Arbeitskraft beschränkt werden kann. Martin Baethge verweist in diesem Zusammenhang auf die in Relation zu ihren Beschäftigungsanteilen unterproportionale Integration von Dienstleistungstätigkeiten in das System der dualen Ausbildung.124 Es ist außerdem bereits vermerkt worden, dass viele Tätigkeiten, die dem Bereich einfacher Dienste zugerechnet werden können, formal Ausbildungsberufe sind und daher ein Mindestmaß an ökonomischer Sicherheit gewährleisten sollten. Dass dies faktisch nicht geschieht, verdeutlicht zum einen die Situation der Löhne, wie sie bereits beschrieben wurde.125 Zum anderen zeigt die Tatsache, dass beinahe 80 Prozent der Niedriglohnbeschäftigten126 »eine abgeschlossene Berufsausbildung oder einen akademischen Abschluss haben«127, dass Zertifikate nicht uneingeschränkt vor materieller Armut schützen. Gerade im

124 125

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allem die »einfachen« Dienste in weiten Teilen betriebsratsfreie Zonen sind (vgl. Artus, Betriebe ohne Betriebsrat). Baehtge, »Abschied vom Industrialismus«, S. 36. Exemplarisch hierfür auch der Einzelhandel: Hier ist die Fachkräfteanteil traditionell hoch (Voss-Dahm, »Der Branche treu trotz Niedriglohn«, S. 250) und lag 2003 noch bei fast 81 Prozent (ebenda). Dennoch zeichnet sich eine »abnehmende Bedeutung von tarifvertraglicher Entlohnung« ab, und tarifliche Regelungen schützen nicht automatisch vor Niedriglöhnen (ebenda, S. 283). Gerade im Einzelhandel hängt der Niedriglohnanteil natürlich mit der weiten Verbreitung von Teilzeitstellen und geringfügiger Beschäftigung zusammen, in deren Rahmen Frauen nicht selten lediglich einen ergänzenden Beitrag zu einem Haushaltseinkommen leisten, das maßgeblich von einem besserverdienenden Partner erwirtschaftet wird. Dennoch zeigt sich hier, dass eine hohe Institutionalisierung mittlerer Ausbildungsstandards nicht automatisch eine Wirkung entfaltet, die Armutsrisiken entgegenwirkt. Ohne gesonderte Betrachtung der in diesem Segment befindlichen Dienstleistungstätigkeiten. Bosch/Weinkopf, »Arbeitsverhältnisse im Dienstleistungssektor«, S. 442.

Dienstleistungsproletariat scheinen die vermarktbaren Fähigkeiten beschränkt,128 trotz des in vielen Branchen vorherrschenden Ausbildungsniveaus.129 Bezüglich der Möglichkeiten auf formale Qualifizierung »on the job« und damit auf Aufstieg durch Weiterbildung sind die erwarteten Chancen im Dienstleistungsproletariat im Vergleich zu den anderen Gruppen des Klassenschemas am geringsten, denn: »Promotion prospects are distributed in a hierarchical way.«130 Auch Martin Baethge sieht die Entwicklung der einfachen Dienste131 nicht vor einem Qualifizierungsschub. Er vermerkt, in den Termini der vorliegenden Arbeit gesprochen, in Bezug auf das Verhältnis der Dienstklassen zum Dienstleistungsproletariat: Es »bleibt auch die Polarisierung in der Qualifikationsstruktur der Dienstleistungsberufe erhalten. Auch wenn die Tendenz zu höher qualifizierten Tätigkeiten unübersehbar ist, verschwinden die gering qualifizierten Tätigkeiten nicht von der Bildfläche, sondern werden – ceteris paribus – besonders unter Einbezug von geringfügig Beschäftigten bei den Hotel- und Gaststättenberufen, im Einzelhandel, bei Lager- und Transportarbeiten sowie bei Bürohilfsund Wachberufen Gewicht behalten.«132 Bezüglich der von Esping-Andersen aufgeworfenen Frage der Entwicklung der einfachen Dienste liegt daher die Diagnose einer Kombination aus staatlicher Lohnsubventionierung und dem Niedriglohnmodell nahe. Anders gesagt: Politische Löhne stabilisieren den Bereich, sodass die Baumol’sche Kostenkrankheit nicht zum Verschwinden der einfachen Dienste führt. Zugleich gewährleistet diese politische Regulierung kein Lohnniveau, das sich am produktiven Sektor des Arbeitsmarktes orientiert, wie die Lohnun-

128 Oesch, Redrawing the Class Map, S. 209. 129 Ein Grund hierfür mag in Deprofessionalisierungsdynamiken liegen, wie sie

im fünften Kapitel der vorliegenden Studie unter anderem für den Einzelhandel dargestellt werden. In einem Lebensmitteldiscounter wird nicht der gleiche Wert auf die Ausbildung zur Einzelhandelsfachkraft gelegt wie im klassischen Warenhaus. Dies hängt nicht zuletzt mit veränderten Tätigkeitsprofilen zusammen, die noch einer detaillierten Analyse unterzogen werden. 130 Ebenda, S. 213. 131 Bei ihm »primäre Dienstleistungen«. 132 Baethge, »Qualifikation, Kompetenzentwicklung und Professionalisierung«, S. 449.

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terschiede zwischen den einfachen Industriearbeitern und dem Dienstleistungsproletariat nahelegen. Erfolgreiche Professionalisierungsstrategien sind derzeit nicht in größerem Maße nachweisbar. Esping-Andersens Hypothese, dass bei staatlicher Lohnsubventionierung nicht mit materieller Verarmung zu rechnen sei, scheint sich zumindest für die Bundesrepublik nicht zu bestätigen. Die einfachen Dienste sind trotz des Fehlens bestimmter institutioneller Regelungsmechanismen, in weiten Teilen fehlender formaler Qualifikationsanforderungen und niedriger Löhne kein gänzlich »unstrukturierter Arbeitsmarkt«133. Eher zeigen sie sich in weiten Teilen als politisch regulierter Niedriglohnbereich.134 Was bedeutet dies nun für die im Rahmen dieser Studie aufgeworfenen Frage nach Macht und Herrschaft? Die politische Regulierung der einfachen Dienste bezieht sich vornehmlich auf Fragen der Lohnfindung. Sie wirkt daher nicht so »tief« wie das differenzierte Institutionengefüge korporatistischer Regulierung, in dem Betriebsräte am konkreten Ort der Arbeit sichtbar und kollektives Handeln in Form von Gewerkschaften und der Breitenwirkung von Tarifverträgen erfahrbar sind. Die politische Regulierung der einfachen Dienste hat eher rahmengebenden Charakter. Sie ist darüber hinaus in einem offenen Transformationsprozess begriffen, wie etwa die anhaltende Debatte um die Etablierung eines allgemeinen Mindestlohns zuungunsten der branchenspezifischen Regelungen belegt.135

133 Vgl. Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie, S. 147. 134 Martin Baethge (»Der unendlich langsame Abschied«) verweist in Bezug auf

die institutionelle Regulierung von Dienstleistungsarbeit (nicht nur der »einfachen« Dienste) darauf, dass dieser Umstand auch auf die über Jahrzehnte etablierte Dominanz des »Industrialismus« zurückzuführen sei, der die eigenständige institutionelle Entwicklung im Bereich der Dienstleistungsarbeit verhindert habe. 135 Die vorliegende Untersuchung erfolgte vor der mittlerweile für Januar 2015 beschlossenen Einführung eines flächendeckenden und verbindlichen Mindestlohns. Zum Zeitpunkt der Untersuchung existierten in vielen Arbeitsbereichen allerdings branchenspezifische Mindestlöhne, die in etwa der derzeit anvisierten Höhe des allgemeinen Mindestlohns von 8,50 € entsprachen. Es steht daher zu erwarten, dass die Einführung des flächendeckenden Mindestlohns die Einkommensverhältnisse vieler Betroffener nicht deutlich verändern wird. Der spezifische Zuschnitt der institutionellen Integration der einfachen Dienste, ihre primäre Regulierung durch das Institutionenregime des

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Macht und Herrschaft müssen daher auch jenseits des beschriebenen institutionellen Arrangements validiert werden, da dieses eher rahmengebenden als strukturierenden Charakter hat. Vorher bedarf es allerdings einer theoretischen Klärung dessen, was in der vorliegenden Arbeit mit den Begriffen Macht und Herrschaft überhaupt bezeichnet sein soll.

Wohlfahrtsstaates und ihre lediglich lose Verbindung zu den korporatistischen Institutionen werden durch die Einführung des allgemeinen Mindestlohns noch unterstützt. Die Lohnfindung wird noch stärker zu einer Frage der Politik.

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»Ohne Herrschaft keine Gesellschaft.«1

III Arbeit! Macht! Herrschaft?

Macht und Herrschaft sind im Rahmen der Gesellschaftstheorie entscheidende Begriffe, mit denen die Integration beziehungsweise Desintegration sozialer Ordnungen beschrieben wird. Herrschaft wird dabei als generelle Kategorie verstanden, die die Logik sozialer Ordnungszusammenhänge in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen gleichermaßen fassen soll. Dieser Grundgedanke der Herrschaftsforschung ist heute aus zwei Gründen infrage zu stellen. Erstens ist aus theoretischer Sicht unklar, wie Herrschaft als handlungstheoretische Kategorie zu fassen ist, in anderen Worten, wie Macht und Herrschaft zusammenhängen. Zweitens ist aus empirischer Perspektive zu klären, wo sich in der Gegenwart paradigmatische Orte der Produktion von Herrschaft befinden. Beide Fragen sind ausgehend von der Unterscheidung zwischen einem handlungstheoretischen Erbe des Herrschaftsbegriffs, das von Max Weber her bestimmt wird, und einem strukturdeterministischen Herrschaftsverständnis, für das Karl Marx steht, zu beantworten.

Ordnung und Zustimmung Max Weber unterscheidet zwischen Macht und Herrschaft. Unter seiner Perspektive wird grundsätzlich »amorphe« Macht dann zu Herrschaft, wenn sie legitimiert und damit tendenziell institutionalisiert wird. Gebündelt findet sich diese Aussage in der bekannten Begriffsdefinition von Macht als »jede[r] Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht«,2 wohingegen Herrschaft die Chance heißen soll, »für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«3. Herrschaft

1 Dahrendorf, Lebenschancen, S. 74. 2 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28. 3 Ebenda.

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ist in diesem Sinne ein »Sonderfall von Macht«4. Macht allerdings ist keine Kategorie, die zur empirischen Erforschung besonders gut geeignet ist, denn sie diffundiert, weil »alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen […] jemanden in die Lage versetzen [können], seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen«5. Anders ausgedrückt: Bestimmte Formen von Macht sind zwar empirisch gut zu beobachten. Um sie gesellschaftsdiagnostisch fruchtbar zu machen, müssen ihre empirischen Dimensionen6 aber sauber und trennscharf bestimmt werden. Weber setzt auf den epistemischen Eigenwert des Akteurs. Herrschaft ist eine handlungstheoretisch konstituierte Kategorie, wie es vor allem der Begriff der Legitimierung nahelegt. In der Wendung des »Gehorsamfindens« als zentrales Qualifikationsmerkmal von Herrschaft ist dies bereits angelegt. Denn der Gehorsam der Beherrschten impliziert deren Zustimmung. Der Typus der legalen Herrschaft qua rationaler Legitimitätsgeltung gilt Weber als der Herrschaftsmodus, der für moderne Gesellschaften maßgeblich kennzeichnend ist. Tendenziell streben alle Herrschaftsverhältnisse einer rationalen, das heißt legalen Ordnung zu. Diese findet ihren Ausdruck in den rational organisierten Herrschaftsverbänden der Moderne, die nach Weber maßgeblich durch eine Bürokratisierung und damit Entpersönlichung von Herrschaft gekennzeichnet sind. Dies gilt für Betriebsverbände, also das Feld der Arbeit, ebenso wie beispielsweise für politische Parteien. Die Rationalisierungsthese führt Weber dann auch zur Bezeichnung von Herrschaft als zentrales »Phänomen alles Sozialen«7. Hier wird der Begriff der Herrschaft somit zu einer generellen Kategorie, die quer steht zu Gesellschaft, diese durchdringt und einen strukturellen Charakter annimmt. Rationale Herrschaft bezeichnet somit ein Basisphänomen moderner Gesellschaften von höchstem gesellschaftstheoretischen Wert. Auf empirische Forschung gewendet bedeutet dies, dass die Erforschung spezifischer Herrschaftsordnungen vor dem Hintergrund möglicher gesellschaftstheoretischer Implikatio4 Ebenda, S. 541; Sukale, Max Weber – Leidenschaft und Disziplin, S. 364. 5 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28 f. 6 Die Art der ausgeübten Macht, der Ort, die Quelle des Zwangs, die Richtung der

Ausübung usw. 7 Ebenda, S. 539.

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nen zu denken ist. Mit Weber ist der Herrschaftsbegriff grundsätzlich ein handlungstheoretisch zu fundierender Brückenbegriff zwischen einzelnen herrschaftlich organisierten Gebilden und der modernen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Dabei gilt, im Sinne des generellen Anspruchs des Herrschaftsbegriffs, dass zu dessen empirischer Erforschung zunächst kein privilegierter Ort auszumachen ist. Arbeit, im weitesten Sinne verstanden als der Bereich menschlicher Tätigkeiten, die deren materielle Reproduktion ermöglichen, gerät vor allem im Rahmen moderner, bürokratischer Verwaltungsstäbe in den Blick, in denen das Rationalisierungstheorem sich im Rahmen »gesatzter Ordnungen«8 durchsetzt. Dies ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass, wie Andrea Maurer zu Recht dargelegt hat, der Begriff der Herrschaft bei Weber maßgeblich auf die Konstitution sozialer Ordnungen hinweist.9 Herrschaft bezeichnet den Modus der Reproduktion von Ordnungszusammenhängen, die Kooperation ermöglichen. In dieser ordnungstheoretischen Konzeption des Weber’schen Herrschaftsbegriffs liegen dessen Stärken wie dessen Schwächen begründet. Im Zeichen des Begriffs der »Legitimitätsgeltung« wird die Aufrechterhaltung von Herrschaft maßgeblich über die Anerkennung von Werten gestützt. Beziehungen, die eher durch Zwang als durch Zustimmung gekennzeichnet sind, fasst der Begriff nicht, auch wenn diese möglicherweise ebenfalls mehr oder weniger stabile soziale Ordnungen konturieren. Derartige Phänomene fallen unter den Begriff der Macht und sind damit mit der Prognose der Vorläufigkeit versehen.

Ungleichheit und Zwang Während Weber verschiedene Idealtypen von Herrschaft anbietet und in deren Legitimierung durch Handeln ihr maßgebliches Charakteristikum sieht, geht Marx vom expliziten Zwangscharakter von 8 Ebenda, S. 124. 9 Maurer, Herrschaft und soziale Ordnung. Der Begriff der Ordnungen bezieht

sich hier auf die grundsätzliche Stabilisierungsfunktion von Herrschaft, die prinzipiell kontingente Institutionalisierungseffekte zeitigt. Ordnung wird daher bewusst im Plural verwendet. Der Begriff bezeichnet nicht im grundlagentheoretischen Sinne die Konstitutionsbedingungen von Sozialität, sondern je spezifische Ausformungen dieser.

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Herrschaft aus. Zwang zeigt sich paradigmatisch in der »kasernenmäßigen Disziplin«10 des Industriebetriebes – wohlgemerkt zu Marx’ Lebzeiten. Auch wenn sich die moderne Arbeitswelt der Wissensgesellschaft nur noch bedingt als explizite Zwangsordnung beschreiben lässt, hat Marx hier einen wichtigen Punkt im Auge: Die Stabilität asymmetrischer sozialer Ordnungszusammenhänge muss nicht auf Zustimmung basieren. Es ist zwar durchaus plausibel, in der Moderne einen Trend zu immer mehr sozialer Integration durch Verhandlung in Herrschaftszusammenhängen zu vermuten. Dies jedoch zum Ausgangspunkt einer empirischen Untersuchung zu machen, verstellte den Blick auf die eben auch vorhandene Möglichkeit der stabilen Integration durch »Macht«. Der Zwangscharakter von Herrschaft ist bei Marx strukturell begründet. Er fußt auf dem grundsätzlichen Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit. Es handelt sich bei Marx’ theoretischer Grundkonstruktion um einen strukturorientierten, ja strukturdeterministischen Herrschaftsbegriff.11 Ausgehend vom Grundkonflikt zwischen Produktionsmittelbesitzern und jenen, die nichts als ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben, legt sich das kapitalistische Herrschaftsverhältnis wie ein Schleier über die Gesellschaft.12 Das Verhältnis von Kapital und Arbeit durchwirkt nicht nur die Sphäre der kapitalistisch organisierten Güterproduktion, sondern greift über auf weitere gesellschaftliche Zusammenhänge, etwa indem es, dem Proletarisierungstheorem folgend, zu einer Verelendung der materiellen Verhältnisse aufseiten der Arbeiter führt. Herrschaft erzeugt Ungleichheit. Gerade an Ungleichheit kann Herrschaft aber auch zerbrechen. Als Theoretiker der Revolution wird Marx zum Philosophen der Freiheit.13

10 Marx, Das Kapital, S. 447. 11 Dies ist zumindest dessen dominante Lesart, auch wenn immer wieder auf

mögliche handlungstheoretische Ansätze im Marx’schen Werk hingewiesen wird (zum Beispiel Elster, Making Sense of Marx; Kleemann/Voß, »Arbeit und Subjekt«, S. 417; vgl. Boudon, Die Logik gesellschaftlichen Handelns; Bahrdt, »Zusammenhänge zwischen Mikro- und Makrosoziologie«; nach Maurer, »Elend und Ende der Arbeits- und Industriesoziologie?«, S. 9). 12 Vgl. Hösler, »Vom Traum zum Bewusstsein«, S. 51. 13 Bude, Wie weiter mit Karl Marx?.

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Seinen Ausgang nimmt das kapitalistische Herrschaftsverhältnis in der Sphäre der Arbeit, und das heißt konkret: im Industriebetrieb. Der goldene Begriff, der, aus Perspektive der Arbeitsforschung, die Brücke von gesellschaftlicher Herrschaft zu Herrschaft im Betrieb schlägt, ist »Subsumtion«: Formelle Subsumtion bezeichnet den gesellschaftlichen Prozess einer immer weitergehenden Unterstellung von Arbeit unter das Kapitalverhältnis. Die Struktur der jeweiligen Arbeitstätigkeiten bleibt dabei zunächst unberührt. Die Expansion der kapitalistischen Wirtschaftsweise und damit ihres Herrschaftsparadigmas, das auf dem Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit fußt, wird zu einem Bewegungsgesetz kapitalistischer Gesellschaften.14 Reelle Subsumtion verweist dagegen auf das Übergreifen dieser Dynamik auf die Tätigkeiten und die Produktionsmittel selbst. Die Arbeitsstruktur wird sukzessive dem Interesse des Kapitals unterworfen, das heißt der Maximierung des abschöpfbaren Mehrwertes. Die Frage nach betrieblicher Herrschaft wird damit zur Frage nach der Rationalisierung von Arbeit. So erklärt sich, warum die industriesoziologische Forschung lange Zeit gewissermaßen automatisch gesellschaftstheoretisch gelesen wurde.15 Der Industriebetrieb wurde als Ort der Verdichtung von Herrschaft betrachtet – als Ausdruck formeller und Kulminationspunkt reeller Subsumtion. Ausgehend von einem postulierten Grundkonflikt wurde eine raumgreifende Logik betrieblicher Rationalisierung diagnostiziert, deren paradigmatischen Ort die Disziplin im Fokus hatte. Freilich fußte dieser Umstand auf einem empirisch gedeckten gesellschaftsdiagnostischen Fundament, thematisierte die Industriesoziologie damals doch unbestreitbar ein »für die Gesamtverfassung der damaligen Gesellschaft, die ja noch alle Merkmale der Arbeitsgesellschaft aufwies, zentrales Phänomen: die Verfassung des Arbeitssystems und die Tendenz seiner Entwicklung«16. Zusammenfassend für den Aspekt der strukturdeterministischen Ausrichtung des Marx’schen Herrschaftsbegriffs lässt sich 14 Unter dem Begriff der »neuen Landnahme« hat dieses Konzept in jüngerer Zeit

wieder stärkere Beachtung gefunden, wobei hierbei stets der Zusammenhang von Kommodifizierung und Dekommodifizierung (Landpreisgabe) mitgedacht ist (Dörre, »Die neue Landnahme«). 15 Vgl. Kern, Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein, S. 22. 16 Ebenda, S. 123.

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also folgende Grunddefinition festhalten: »Herrschaftsverhältnisse existieren […] immer dann, wenn es sich bei Produzenten und Produktionsmittelbesitzern um verschiedene Bevölkerungsgruppen handelt.«17 Im Zeichen eines derart strukturorientierten Herrschaftsbegriffs tritt empirisch beobachtbares Akteurshandeln tendenziell nur als Sekundäreffekt des postulierten Grundkonflikts auf oder ist von diesem gänzlich entkoppelt – in der Pause auf den Chef zu schimpfen, tangiert das strukturelle Herrschaftsverhältnis nicht. Herrschaft wird in diesem Fall als Grundlage, nicht als Effekt sozialer Ordnungsbildung thematisiert.

Abschied von Herrschaft? Sosehr sich Webers und Marx’ Herrschaftstheorien auch unterscheiden, in einem sind sie sich einig: Der Herrschaftsbegriff wird als eine generelle Kategorie ins Feld geführt. Er soll mehr fassen als lediglich bereichsspezifische Phänomene der Über- und Unterordnung, nämlich eine generelle Logik der Strukturierung sozialer Zusammenhänge. Weber betont dabei den ordnungsstiftenden, Marx den ungleichheitsgenerierenden Charakter von Herrschaft. Marx’ und Webers Analysen verströmen auf unterschiedliche Weise den Duft der klassischen Moderne: In den Kindertagen der Industriegesellschaft beobachten sie den Aufstieg hochgradig rationalisierter Verwaltungsapparate und Industrieregimes, die die Moderne, in den Worten Webers, als »stahlhartes Gehäuse«18 erscheinen lassen. Ihre Herrschaftsanalysen basieren auf einem Verständnis ihrer Zeit, das diese von klar strukturierten Institutionen geprägt sah, in denen Herrschaft sich grundsätzlich in gleicher Weise aktualisieren sollte. Die empirische Tragweite und damit der gegenwartsdiagnostische Vorrang solcher klar und gleichförmig strukturierter Institutionen wird heute bezweifelt. In der zeitgenössischen Gesellschaftsdiagnose ist, um nur zwei Beispiele zu nennen, die Rede von einer generellen Beschleunigung19 des sozialen Lebens oder der Verflüssigung von Bezugssystemen in einer »Liquid Modernity«20. Perma-

17 18 19 20

Hösler, »Vom Traum zum Bewusstsein«, S. 47. Weber, Die protestantische Ethik, S. 201. Rosa, Beschleunigung. Baumann, Flüchtige Moderne.

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nente Veränderung, nicht stahlharte Stabilität wird hier zum entscheidenden Kennzeichen der Gegenwart. Auch im Wandel der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft deutet sich, wie im zweiten Kapitel gezeigt, eher eine institutionelle Destrukturierung an, die grundsätzlich viel Raum für die mögliche Entstehung ganz unterschiedlicher Sozialordnungen bietet. Gerade die einfachen Dienste scheinen alles andere als in stahlharte, institutionelle Strukturen integriert. Wo Institutionen allerdings fehlen, so ließe sich konsequenterweise vermuten, ist auch Herrschaft nicht angezeigt. Eher volatile Machtordnungen wären zu erwarten, ohne dass diese auf einen größeren Zusammenhang in Form einer verbindenden Herrschaftslogik verwiesen. Empirische Analysen aus der soziologischen Arbeitsforschung beschreiben in jüngerer Zeit allerdings gerade den vermeintlich paradoxen Umstand, dass ein stetiger Wandel in der Arbeitswelt die Stabilität von Herrschaftsarrangements bedinge: Permanente Umstrukturierungen von Organisations- und damit Machtstrukturen in Unternehmen werden als entscheidender Mechanismus der Ausübung von Herrschaft verstanden, weil die permanente Transformation disziplinierenden Druck auf Arbeitnehmer erzeuge und damit die Asymmetrie der jeweiligen sozialen Ordnung reproduziere.21 Will man einen solchen Wandel empirisch erschließen, dann muss man vom Marx’schen Strukturdeterminismus, der auch in veränderten sozialen Ordnungen nur zu erkennen vermag, was schon immer da war, Abstand nehmen. Es gilt daher, handlungstheoretisch nach Etablierung, Verstetigung und Wandel asymmetrischer Sozialordnungen zu fragen. Die Grundproblematik, mit der sich Herrschaftsforschung heute auseinanderzusetzen hat, besteht im Verhältnis von machtförmig22 handelnden Subjekten zu stabilen Herrschaftsordnungen, also in der Operationalisierung eines handlungstheoretischen Herrschaftsbegriffs.23 Ganz ohne Marx geht es allerdings auch nicht. Der Theoretiker der Revolution verweist uns schließlich auf den Umstand, dass Herrschaft zwar stabil ist, aber durch Macht auch transformiert werden kann. 21 Solche Ansätze werden im zweiten Teil dieses Kapitels en detail dargestellt. 22 Im Sinne Webers: Handeln ohne Legitimitätsgeltung. 23 Weshalb Subjekten grundsätzlich die Fähigkeit zu machtförmigem Handeln

zugerechnet werden kann, wird später erläutert werden.

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Als Folge der Übersetzungsproblematik zwischen machtförmigem Handeln und Herrschaftsstruktur ist die Generalität, die die Stärke des Herrschaftsbegriffs in den Werken seiner Begründer gerade kennzeichnet, in eine Krise geraten. Wird Herrschaft nicht mehr als generelle Grundlage des Sozialen begriffen, muss zugleich der konzeptionelle Ort einer gesellschaftsdiagnostisch orientierten Herrschaftsforschung neu geklärt werden. Denn ein privilegierter Ort der Verdichtung von Herrschaft ist nicht mehr klar auszumachen, wenn zum einen auf ein konzeptionelles Primat des Kapital-Arbeit-Konfliktes verzichtet wird und die Gegenwart sich zum anderen nicht mehr in Form einer stahlharten Apparatemoderne beschreiben lässt. Zwei Fragen müssen daher in Bezug auf Herrschaft zunächst konzeptionell beantwortet werden: Wie hängen Macht und Herrschaft zusammen? Und: Wo lässt sich Herrschaft paradigmatisch beobachten?

Wie hängen Macht und Herrschaft zusammen? Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll auf die Frage, wie Macht und Herrschaft zusammenhängen, mit Luc Boltanski und Heinrich Popitz24 eine denkbar einfache Antwort gegeben werden: Wir können dann glauben, etwas über Herrschaft zu erfahren, wenn wir Verstetigungs- und letztlich Institutionalisierungsprozesse von Macht beobachten können.25

Macht als Aktualisierung von Herrschaft Herrschaft ist eine generelle Konstruktion, die auf eine systematische Logik hinter Asymmetrierungen in ganz unterschiedlichen Bereichen verweist. Sie kann daher nicht direkt beobachtet werden. Ihre »Offenlegung« erfolgt in einem rekonstruktiven Verfahren durch den Analysierenden.26 Dieser erstellt eine Zusammenhangs24 Boltanski, Soziologie und Sozialkritik; Popitz, Phänomene der Macht. 25 Diese Antwort deckt sich durchaus mit Webers Verständnis des Herrschaftsbe-

griffs, ist allerdings allgemeiner gehalten, denn Legitimitätsglauben ist hier noch keine entscheidende Kategorie. Heinrich Popitz entwickelt sein Stufenmodell der Macht auch in direktem Anschluss an Weber. 26 Boltanski, Soziologie und Sozialkritik, S. 15.

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hypothese, die er empirisch auszuweisen hat. Doch wie soll er dies bewerkstelligen? Boltanski folgend führt der Weg zu Herrschaft über die Analyse von Macht. Denn wenn Herrschaft auf dauerhafte, systematische Asymmetrien verweist,27 müssen diese Asymmetrien sich in konkreten Situationen und Bereichen als Machtphänomene zeigen. Eine Asymmetrie stellt sich her, weil, ganz im Sinne Webers, ein Akteur A fähig ist, den eigenen Willen auch gegen das Bestreben eines Akteurs B durchzusetzen. Potenziell systematische Asymmetrien aktualisieren sich folglich notwendig in konkreten Ungleichheiten. Herrschaft aktualisiert sich durch Macht. Hier liegt auch die Brücke zur empirischen Beforschung von Herrschaft. Denn der »Soziologie sind einzig Machtverhältnisse beobachtbar. (…) Macht kann somit leicht zum Gegenstand empirischer Soziologie werden.«28 Macht drückt sich beispielsweise in beobachtbaren Konflikten aus, aber auch in der Fähigkeit der Unterworfenen, Kritik zu üben.29 Weber folgend ist Macht allerdings grundsätzlich amorph. Nicht jedes Machtphänomen kann daher als Hinweis auf Herrschaft dienen, da Herrschaft gerade auf die Verstetigung von Asymmetrien abstellt. Nur solche Phänomene von Macht deuten auf Herrschaft, in denen Asymmetrien stabilisiert, gefestigt, routinisiert werden, sodass sie »soziale Ordnungen«30 konstituieren. Doch wie soll eine solche Verstetigung konzeptionalisiert werden?

Herrschaft als Institutionalisierung von Macht Eine klassische Antwort, der sich implizit in gewisser Weise auch Boltanski bedient, findet sich bei Heinrich Popitz.31 Herrschaft als »institutionalisierte Macht«32 setzt »Wiederholbarkeit, Voraussehbarkeit, Regelmäßigkeit«33 voraus. Der Weg der Institutionalisierung von Macht ist von drei Tendenzen geprägt: ihrer Entpersonali-

27 Dies ist ein gemeinsamer Nenner bei allen hier besprochenen Autoren. 28 Boltanski, Soziologie und Sozialkritik, S. 15. 29 Boltanskis Verständnis von Macht ist daher nahe an jenem Anthony Giddens’,

30 31 32 33

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der Macht als »transforming capacity« (Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 65 ff.) versteht. Boltanski, Soziologie und Sozialkritik, S. 17 Popitz, Phänomene der Macht. Ebenda, S. 232. Ebenda, S. 244.

sierung, ihrer Formalisierung und ihrer Integration in größere Ordnungen.34 Sie erfolgt in einem evolutiven Stufenmodell. Auf der ersten Stufe ist Macht sporadisch. Machtausübung kann nicht ohne Weiteres wiederholt werden, wie etwa im Falle eines Straßenraubes, der auf das Zusammenspiel spezifischer Faktoren35 angewiesen ist, denen der Beraubte in Zukunft auch ausweichen kann. Auf der nächsten Stufe gewinnt diese Form von zwingender Macht normierende Fähigkeiten. Der Machtausübende kann das Verhalten des Machtunterworfenen nicht nur einmal steuern, sondern es entwickelt sich eine Form der Wiederholbarkeit, etwa weil sich die Machtmittel des Machthabers nicht erschöpfen oder weil der Unterworfene der Situation der Unterlegenheit territorial nicht entkommen kann. Auf einer dritten Stufe entwickelt sich normierende Macht weiter zu einer »Positionalisierung von Macht«36. Der Herrscher wird nun tendenziell ersetzbar. Seine Macht ist nicht an seine Person gebunden, sondern an eine Herrschaftsposition, die unabhängig von ihm besteht. Popitz vermerkt hierzu: »Der bedeutende Einschnitt in der Institutionalisierung von Macht ist die Positionalisierung, die Verdichtung normativer Funktionen in überpersonalen Machtstellungen. Diesen Einschnitt soll der Begriff der Herrschaft markieren. Weitere Stufen der Institutionalisierung sind als Ausbau von positionalen Verfestigungen zu verstehen.«37 Die Analyse von Herrschaft wäre dementsprechend mit der Analyse von Institutionen gleichbedeutend.38 Wenden wir uns nun aller-

34 Ebenda, S. 236 ff. 35 Die Dunkelheit der Nacht, die Bewaffnung der Räuber und Unbewaffnetheit

des Beraubten, die Abwesenheit von Ordnungshütern etc. 36 Popitz, Phänomene der Macht, S. 244. 37 Ebenda, S. 255. Der Positionalisierung von Macht folgen in Popitz’ Stufenmodell noch zwei weitere mögliche Entwicklungen. Positionalisierte Macht kann weiter institutionalisiert werden, indem sie sich in Herrschaftsapparaten materialisiert. Hier ist sie geprägt von einer Verstetigung der Versorgungsbeziehung zwischen Herrscher und Untergebenen sowie von einer Verfestigung der Arbeitsteilung innerhalb der Gefolgschaft. Als fünfte Stufe begreift Popitz staatliche Macht. Hier wird der legale Rahmen für die Regelsetzung der einzelnen Herrschaftsapparate formuliert. Diese Rahmensetzung, vornehmlich in Form des kodifizierten Rechts, durchwirkt Gesellschaft als »Veralltäglichung zentralisierter Herrschaft«, die sich in einzelnen Herrschaftsapparaten ausdrückt. 38 Boltanski, Soziologie und Sozialkritik, S. 85.

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dings der Frage nach Herrschaft im Segment einfacher Dienstleistungsarbeit zu, so kann dieser Weg nicht ohne Weiteres beschritten werden. Denn wie in Kapitel II gezeigt wurde, zeichnet sich das Segment einfacher Dienstleistungen gerade durch einen vergleichsweise niedrigen Grad an Strukturierung durch arbeitspolitische Institutionen39 aus. Institutionen, denen ein vergleichsweise großer Einfluss bei der Strukturierung des Segmentes zugesprochen werden kann, sind dagegen politischer Natur.40 Es zeichnet die einfachen Dienste dabei aus, dass politische Institutionen scheinbar nicht über eine Tiefenwirkung verfügen, die mit jener der klassischen arbeitspolitischen Institutionen41 vergleichbar wäre. Anders gesagt: Während ein Betriebsrat oder eine Gewerkschaft direkten Einfluss auf Arbeitssituationen nehmen, Arbeitnehmer zum Beispiel direkt ansprechen können, wirken politische Mindestlöhne lediglich rahmengebend. In dieser Funktion sind sie von essenzieller Bedeutung für die Analyse von Herrschaft in den einfachen Diensten. Die Ordnungslogik spezifischer Arbeitssituationen bedarf jedoch einer gesonderten Betrachtung, in der die sie bestimmenden Akteure in ihrer Erzeugung sozialer Ordnungen ernstgenommen werden. Insofern stellt sich, ausgehend von der Diagnose einer relativ oberflächlichen Strukturierung des Feldes durch politische Institutionen, die Frage nach weiteren Formen der Ordnungsbildung und -reproduktion durch unterschiedliche Akteure.42 Ein solches Interesse kann einstweilen nur als Frage nach dem möglichen Entstehen von Institutionen, also nach der Institutionalisierung spezifischer Ordnungslogiken formuliert werden. Denn spezifische Institutionen, deren wechselseitige Beeinflussung zum Ausgangspunkt einer Analyse von Herrschaft gemacht werden könnten, sind derzeit Mangelware. Wenn die Ordnungsfunktionen konkreter Arbeitssituationen nicht mehr von institutionalisierten Akteuren übernommen werden, muss nach der Genese von Ordnung durch das Han-

39 Betriebsräte, Tarifverträge, Gewerkschaften etc. 40 Politische Mindestlöhne, der Zoll als Kontrollinstanz, Kombinationen aus

Transfer- und Erwerbsarbeitseinkommen etc. 41 Diese waren selbst natürlich immer von staatlicher Politik und über Recht gerahmt. 42 Das Management eines konkreten Betriebes, externe Kontrollinstanzen, die einzelnen Teilnehmer einer Arbeitssituation.

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deln der an spezifischen Situationen Beteiligten gefragt werden. Im Bereich einfacher Dienste sind dies vornehmlich die Arbeitnehmer, das Management und gegebenenfalls die Kunden. Popitz bietet uns hier also eine Justierung der analytischen Perspektive an: Statt wie Weber nach der Legitimität sozialer Ordnungen zu fragen, kann deren Entstehen und ihre Reproduktion als Institutionalisierung von Macht in den Blick genommen werden. Handeln kann auf ordnungsstiftende Effekte und damit auf mögliche Institutionalisierung geprüft werden. Dies setzt freilich ein recht universelles Verständnis von Institutionalisierung voraus. Berger/Luckmann sprechen in ihrer bekannten Definition von Institutionalisierung von habitualisierten Handlungen, die »durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution.«43 Habitualisierung wird dabei im Kern als Routinisierung spezifischer Handlungsabläufe verstanden. Sie geht jeder Institutionalisierung voraus.44 Von Institutionalisierungsvorgängen können wir folglich dann sprechen, wenn wir habitualisiertes Handeln von aufeinander bezogenen Akteuren beobachten, das von diesen Akteuren zusätzlich wechselseitig antizipiert und als typisch zugerechnet wird. Auf Herrschaft verweisen diese Institutionalisierungsvorgänge dann, wenn sie in Gestalt machtförmigen Handelns Asymmetrien produzieren, reproduzieren, stützen beziehungsweise verstetigen.45 Folgt man Popitz’ Stufenmodell, so ist es sehr naheliegend, den gesellschaftlichen Bereich der Erwerbsarbeit als Herrschaftsphänomen zu begreifen: Normierende Macht wird hier von positional abgesicherten Stellen übernommen (Vorgesetzte und Untergebene).

43 Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 58. 44 Ebenda, S. 57. 45 Ganz ähnlich definiert etwa Boltanski Institutionen als »Instrumente zur

Konstruktion von Realität vermittels von Operationen der Qualifizierung von Wesen – Personen, Objekten – und der Definition von Prüfungsformaten« (Boltanski, Soziologie und Sozialkritik, S. 13). Die Definition von Prüfungsformaten ist für ihn von besonderer Bedeutung, weil er auf die Ermöglichung von Kritik durch Institutionen abstellt. Popitz beschreibt in »Phänomene der Macht« Institutionalisierungsprozesse von Macht unter anderem anhand detaillierter Studien von Machtprozessen auf einem Schiff, in einem Gefangenenlager und in einem Internat.

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Die Arbeitswelt ist geprägt von Organisationen, die als Herrschaftsapparate verstanden werden können (Firmen, Betriebe), die Arbeitsteilung strukturieren und eine Versorgungsbeziehung zwischen Führung und Untergebenen auf Dauer stellen. Staatliche Regelsetzung ist hier mal stärker, mal schwächer durchgesetzt, doch in jedem Fall bedingt rahmengebend. Doch dass Erwerbsarbeit herrschaftsrelevant ist, lässt noch keine Schlüsse über die Reichweite etwaiger Herrschaftslogiken zu, die sich im Bereich der Erwerbsarbeit finden. Anders gesagt: In Bezug auf den Gedanken der Generalität muss eine empirische Analyse von Herrschaft den Nachweis erbringen, dass der Herrschaftslogik eines einzelnen beforschten Herrschaftsapparats eine Relevanz zukommt, die jenseits dieses konkreten Bereiches Geltung beanspruchen kann. Eine solche empirische Verortung des Herrschaftsbegriffs erschöpft sich nicht im empirischen Ausweisen einer bereits vorausgesetzten generellen Struktur. Für potenziell falsifizierbare Forschung ist auch die empirische Bestimmung solch genereller Strukturlogiken eine Pflicht. Diese müssen als Effekte von Akteurshandeln und nicht allein als dessen Grundlage verstanden werden. Dies vorausgesetzt verliert freilich auch die vorempirische Hypothese von Arbeit als privilegiertem Ort der Beobachtung von Herrschaft ihre Evidenz, weil keine vorempirische Strukturhypothese den bevorzugten Ort der Forschung bereits vorbestimmt. Die Frage, wo sich Herrschaft paradigmatisch beobachten lässt, muss also auch in Bezug auf das Feld der Erwerbsarbeit und im Spezifischen bezüglich der einfachen Dienste empirisch gestellt werden.

Arbeit als Ort der Verdichtung von Herrschaft? Eine allgemeine Klärung der Frage nach Arbeit als möglichem Ort der Verdichtung von Herrschaft kann bei Ralph Dahrendorf46 gefunden werden. Er hat früh den Gedanken Max Webers reformuliert, dass sich sehr wohl ähnlich gelagerte Herrschaftslogiken in verschiedenen Bereichen gesellschaftlichen Lebens herausbilden

46 Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt.

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können, ohne zwangsläufig einem Bereich eine federführende Rolle zu unterstellen. Er stellt die Frage nach dem Zusammenhang von Arbeit und Politik mit und gegen Marx: mit Marx, weil auch er die Frage nach einem gesellschaftlichen Bereich aufwirft, dessen Herrschaftsmodus als dominant für moderne Gesellschaften gelten kann – gegen Marx, weil er nicht von einer vor-empirisch zu belegenden Hegemonie der Ökonomie über die Politik ausgeht.47

Konflikte um Macht statt objektive Interessen Auf einer frühen Stufe der Entwicklung seiner Theorie sozialen Konfliktes beschäftigt sich Dahrendorf in seinem 1957 erschienenen Werk »Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft« unter anderem mit der Frage, wie in den Industriegesellschaften der Nachkriegszeit das Marx’sche Theorem der zentralen Rolle des industriellen Klassenkonfliktes zu verstehen sei. Gegen Marx formuliert Dahrendorf die These, dass die Bedingung sozialer Konflikte nicht in der einseitigen Verfügung über Produktionsmittel, also im kapitalistischen Herrschaftsverhältnis, zu suchen sei. Vielmehr sei ein adäquates Verständnis moderner sozialer Konflikte nur im Rahmen eines allgemeineren Verständnisses von Herrschaft möglich. Denn: »Wie das Eigentum formal, so ist die Kontrolle der Produktionsmittel empirisch nur ein Sonderfall jener allgemeinen Herrschaftsverhältnisse, die nach unserer Definition dem Klassenkonflikt zu Grunde liegen.«48 Herrschaft wird dabei in direkter Anlehnung an Weber als »Chance für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«49 verstanden. In einem jeden Herrschaftsverband finden sich daher die »Quasigruppen«50 der Herrschenden und die der Beherrschten, ohne dass dabei auf ein ökonomisches Bewegungsgesetz à la Marx zurückgegriffen werden müsste. Als Herrschaftsverband lässt sich im Anschluss an Weber grundsätzlich jede Art von Sozialverband verstehen, in dem 47 Rekurriert wird hier vor allem auf den jungen Dahrendorf, wie die verwendete

Literatur belegt. Angestrebt ist entsprechend keine erschöpfende Analyse der Dahrendorf’schen Herrschaftsforschung. Es geht lediglich darum, die aufgeworfenen Fragen zu klären. 48 Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 139. 49 Ebenda, S. 83. 50 Ebenda, S. 85.

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Über- und Unterordnungsdynamiken zu beobachten sind, sofern diese Ordnungsdynamiken der Logik einer Autorität von Positionsinhabern gehorchen: Das Verhältnis eines Fußballtrainers zu seiner Mannschaft etwa ist ein Phänomen der Herrschaft, während in wiederholter Interaktion etablierte Autoritätsstrukturen, die nicht positional abgesichert sind, also etwa das Verhältnis der beiden Innenverteidiger zueinander, sich nicht unweigerlich als Herrschaftsphänomene beschreiben lassen. Der soziale Wandel eines spezifischen Herrschaftsverbandes lässt sich über die ihm inhärenten Konfliktlogiken konzeptionell erschließen. Wo soziale Ordnungszusammenhänge sich prinzipiell in Herrschende und Beherrschte teilen, dort sind laut Dahrendorf häufig Konflikte empirisch beobachtbar, die sich im Kern um die Verfügung über legitime Macht drehen. Hierin besteht das konzeptionelle Gegenstück der Dahrendorf’schen Theorie zum Marx’schen Begriff objektiver Interessen. Diese müssen nicht a priori unterstellt werden, sondern bilden eine Ex-post-Erklärung sozialen Wandels. Die Logik lautet: Wo sozialer Wandel als Folge von Konflikten rekonstruiert werden kann, dort ist von unterschiedlichen Interessen auszugehen, die, weil es bei Wandel und Konflikt inhaltlich um die Verteilung legitimer Macht geht, in einem Zusammenhang von Herrschaft angesiedelt sind. Programmatisch formuliert: Ohne auf grundlegende objektive Interessen rekurrieren zu müssen, lassen sich Stabilität und Wandel von Herrschaftsverbänden anhand der vorfindbaren Machtkonflikte rekonstruieren. So ist beispielsweise der erfolgreiche Kampf um betriebliche Mitbestimmung als ein sozialer Konflikt um Anteile an betrieblicher Herrschaft zu verstehen, für den die Konfliktparteien unterschiedliche Machtressourcen genutzt haben, die letztlich zu einer Modifikation der ursprünglichen Herrschaftsordnung geführt haben. So bedarf, im Zuge der allgemeinen Bestimmung eines Herrschaftsverbandes als Sozialformation mit positionsbedingten Überund Unterordnungsphänomenen, die Konfliktanalyse keiner grundlegend postulierten Untergrundstruktur mehr. Es geht nicht mehr um den Besitz oder Nicht-Besitz von Produktionsmitteln, sondern lediglich um die Fähigkeit, Machtressourcen in Konflikten zu mobilisieren, die dann möglicherweise zur Transformation einer Herrschaftsordnung führen. Ein solcher Konfliktbegriff ist von besonderer Bedeutung für die vorliegende Arbeit, weil er Prozesse des 68

Wandels von und der Integration in Herrschaftszusammenhänge über machtförmige Interaktionen erschließt.51

Drei Kriterien der Reichweite von Herrschaft Mit dem Verzicht auf einen vorempirischen Interessenbegriff geht, wie bereits erwähnt, auch der privilegierte Ort der Erforschung von Herrschaft in genereller Absicht verloren. Es ist jetzt eine empirisch offene Frage, welcher konkrete Herrschaftsverband einen besonderen Stellenwert für die herrschaftstheoretische Forschung hat. Es muss also geklärt werden, ob beziehungsweise warum bei der Analyse von Gegenwartsgesellschaften davon ausgegangen werden sollte, dass Herrschaftsordnungen im Bereich der Arbeit mehr gegenwartsdiagnostisches Potenzial besitzen sollten als etwa die Herrschaftssoziologie einer beliebigen Fußballmannschaft. Grundsätzlich sei jedenfalls Herrschaft in einem jeden Herrschaftsverband gesondert zu betrachten.52 Allerdings gibt es durchaus gute Argumente, die dem Bereich der Arbeit – oder bei Dahrendorf: dem Industriebetrieb – einen besonderen analytischen Wert zuweisen können.53 Klassisch seien für ein solches Verständnis zwei Grundannahmen: Erstens werde davon ausgegangen, dass Klassen als zentrale Ausdrucksfiguren von Herrschaft »in irgendeinem Sinne ›wirtschaftliche Gruppierungen‹« seien. Zweitens sei die Basisannahme leitend, dass »ihre Strukturen parallel zu denen der sozialen Schichtung« verliefen.54 Die erste Basisannahme ist im beschriebenen, allgemeinen Verständnis von Herrschaft nicht haltbar. Denn nach Dahrendorf konstituiert ein jeder Herrschaftsverband Klassen gewissermaßen ganz »kontextuell«, wie er vornehmlich aus der soziologischen Rollentheorie heraus schlussfolgert. Die Parallelität einer spezifischen Position in einen beliebigen Herrschaftsverband und der sozialen Lage in der Sozialstruktur einer Gesellschaft bezeichnet im Sinne Dahrendorfs ledig51 Zu bedenken ist außerdem, wie in Kapitel II gezeigt wurde, dass Interaktivität

ein spezifisches Merkmal einfacher Dienste ist, so erscheint die Perspektive auf machtförmige Interaktionen zusätzlich bedeutsam. Auch Boltanski folgend zeigt sich Macht eben besonders gut in Konflikten. 52 Vgl. Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 142. 53 Ein solcher Stellenwert muss allerdings empirisch geklärt werden. 54 Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 143.

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lich einen Sonderfall, der nicht zwingend zum Ausweis eines Phänomens als herrschaftsrelevant notwendig ist.55 Einem solchen Sonderfall, so lässt sich freilich schlussfolgern, kann dennoch eine große Bedeutung für die Bestimmung der Herrschaftsrelevanz eines spezifischen Phänomens zugeschrieben werden. Denn geht man von einem generellen Herrschaftsbegriff aus, wie er weiter oben dargestellt wurde, so liegt in Korrespondenzen gleichrangiger Rollenpositionen in unterschiedlichen Herrschaftsverbänden ein Kriterium der Bestimmung eines Phänomens als Ausdruck genereller Herrschaft. Wenn der Manager auch Kapitän der Betriebsmannschaft ist, verweist dies auf eine besondere Stabilität seiner Position. Die Korrespondenz zwischen Sozialstruktur und Herrschaft im Wirtschaftssystem ist freilich einer empirischen Überprüfung zu unterstellen. Lässt sich ein solcher Zusammenhang der sozialen Lage mit der Positionierung in der Arbeitswelt nachweisen, so kann dies als Hinweis auf Herrschaft gelten. Dahrendorf hält fest, dass kein grundsätzlicher, genetischer Zusammenhang zwischen einem spezifischen Herrschaftsverband und gesellschaftlicher Herrschaft herzustellen sei.56 Ein Fußballtrainer herrscht zwar über die Mannschaft, er mag im Arbeitszusammenhang als ungelernter Arbeiter aber durchaus unterhalb des Innenverteidigers mit akademischem Hintergrund stehen. Seine kontextspezifische Herrschaftsposition materialisiert sich, in anderen Worten, also nicht jenseits des konkreten Feldes ihrer Ausübung, ist also nicht relevant für Herrschaft in einem generellen Sinne. Es ist daher eine empirisch zu klärende Frage, ob die Position in einem oder mehreren Herrschaftsverbänden mit der Positionierung in der Sozialstruktur korrespondiert57 – 55 Ebenda, S. 145. 56 Ebenda, S. 146. 57 Die Frage ist also, ob derjenige, der in einem Betrieb oder einer Fußballmann-

schaft »unten« ist, auch in der Gesellschaft »unten« ist. Jenseits konkreter Herrschaftsverbände ist für Dahrendorf ohnehin streitbar, ob eine Analyse von Herrschaft nicht im Bereich der Politik ansetzen müsste. Schließlich begreift auch er gesellschaftliche Herrschaft vornehmlich als politische Herrschaft. Ein Argument, das er wohl unter anderem Karl R. Poppers Auseinandersetzung mit der Marx’schen Theorie entlehnt (Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde), das allerdings auch kohärent in Bezug auf Popitz’ Stufenmodell der Macht ist. Diesem Einwand ist bereits bei der Analyse von Popitz’ Herrschaftskonzeptionen mit dem Verweis einer tendenziellen institutionellen Unterdeter-

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ob der Manager und Kapitän der Betriebsmannschaft auch mehr verdient als die Kollegen. Dahrendorf selbst vermerkt, dass der Industriearbeit als Feld von Herrschaft eine »hervorragende Stellung« für die gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse zukomme. Dafür gebe es vornehmlich drei Gründe: »1. ihren Umfang, 2. ihre Bedeutung im Leben ihrer Träger und 3. der einschneidende Charakter der in ihr zur Erzwingung von Gehorsam verfügbaren Sanktionen«.58 Konzeptionell und auf die hier interessierenden Fragen von Generalität und Verortbarkeit von Herrschaft gemünzt, bedeutet dies, dass Dahrendorf ein Raster vorschlägt, mit dessen Hilfe sich verschiedene Bereiche der Gesellschaft herrschaftssoziologisch nach ihrer Wichtigkeit für einen generellen Begriff von Herrschaft ordnen lassen. Den drei zuvor genannten Kriterien der Bedeutung der Industriearbeit der Nachkriegszeit lässt sich das weiter oben formulierte Kriterium der Parallelität zwischen Position in der Arbeitswelt

miniertheit des Bereichs einfacher Dienstleistungsarbeit begegnet worden. Empirisch vermerkt Dahrendorf, dass von einer entscheidenden Rolle des gesellschaftlichen Bereichs der Arbeit für generelle Herrschaft ausgegangen werden könne, wenn eine Steuerung der Politik durch Teile des industriellen Komplexes beobachtbar sei – etwa wenn, wie von Marx für die englische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts beschrieben, politische Führungspositionen von »Industriekapitänen« oder deren Verwandtschaft besetzt würden (ebenda). Dann herrsche gewissermaßen die Ökonomie über und durch die Politik. Dominiere dagegen, wie etwa im Staatssozialismus, eine politische Kaste den industriellen Komplex, so kann davon nicht ausgegangen werden. 58 Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 146. Diese drei Kriterien sind in Bezug auf die Industriearbeiterschaft freilich in den wohlfahrtsstaatlich regulierten Demokratien der Nachkriegszeit zunehmender Erosion ausgesetzt gewesen. Schon Dahrendorf erkannte in Maßnahmen der Arbeitszeitverkürzung, der Pluralisierung gesellschaftlicher Rollenangebote für die Individuen sowie in einer Humanisierung betrieblicher Herrschaftsverhältnisse (ebenda, S. 243 ff.) eine Tendenz zur institutionellen Abkopplung der Industrie von Politik und Lebenswelt. Mit Blick auf die von Dahrendorf verfolgte Rolle der Industrie muss dem bezüglich der einfachen Dienste freilich der Strukturwandel der Wirtschaft hin zu einer stärkeren Dominanz von Dienstleistungsarbeit (vgl. Baethge/Wilkens, Die große Hoffnung für das 21. Jahrhundert?) sowie eine allgemeine Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile (vgl. Beck/BeckGernsheim, Riskante Freiheiten; Hradil/Schiener, Soziale Ungleichheit in Deutschland) hinzugefügt werden.

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und Positionierung in der Sozialstruktur hinzufügen. Denn werden sozialstrukturelle Positionen als Ausdruck von Herrschaft verstanden, so bündeln sich dort Positionierungseffekte, deren Generierungslogik freilich in unterschiedlichen Herrschaftsfeldern rekonstruiert werden muss. Dies in Rechnung stellend müsste man dann zur Bestimmung der Reichweite einer Herrschaftslogik auf drei Kriterien achten: (1) die gesamtgesellschaftliche Größe und Relevanz eines spezifischen Herrschaftskontextes sowie dessen Korrespondenzen mit der Sozialstruktur, (2) die konkrete qualitative Gestalt betrieblicher Herrschaft sowie (3) das Raumgreifen einer Herrschaftslogik von einem Herrschaftsverband ausgehend auf Modelle alltäglicher Lebensführung59. Im Rahmen der Frage nach Herrschaft im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit macht das erste Kriterium kaum Schwierigkeiten: Quantitative Daten über den Arbeitsmarkt lassen die Größe des gesuchten Arbeitsmarktsegmentes bestimmen. Die Sozialstrukturanalyse hat über den Begriff des Dienstleistungsproletariats eine sozialstrukturelle Kategorie identifiziert, die in ihrer Größe relational zu anderen Gruppen der Sozialstruktur verortet wird. Die Ergebnisse dieser Relationierung wurden in Kapitel II besprochen. Die Kriterien zwei und drei werden in Kapitel V dieser Arbeit dargestellt. Fassen wir noch einmal zusammen: Ich folge Ralf Dahrendorf in der Idee des Konfliktes als konstitutives Element von Sozialität gerade in der Analyse von Arbeit und Herrschaft. Berücksichtigt werden sollte, jenseits der ungleichheitsgenerierenden Effekte von Herrschaft, auch der Weber’sche Gedanke einer Ordnungsfunktion von und Ordnungsbildung durch Herrschaft. Mit Luc Boltanski und Heinrich Popitz soll dieser Etablierungsprozess sozialer Ordnungen als Institutionalisierung asymmetrischer Machtbeziehungen begriffen werden. Dahrendorf postuliert drei empirische Bewährungsräume arbeitssoziologischer Herrschaftsforschung, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit als theoretische Anker für das empirische Programm dienen. Die institutionellen (das heißt vor allem politischen) Bedingungen, die möglichen Institutionalisierungspro-

59 Der Begriff »alltägliche Lebensführung« zielt direkt auf Fragen der Arbeitstei-

lung zwischen Arbeit und »Leben« auf der Ebene der Person. Dieser Forschungsansatz wird später ausführlich besprochen werden.

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zessen auf der Ebene von Arbeitssituationen und Lebensführungsmodellen vorangehen, müssen zusätzlicher Bestandteil der Analyse von Herrschaft im Bereich der einfachen Dienste sein. »Wer oder was herrscht?«60 ist entsprechend dieser Perspektive gleichwohl keine direkte Frage für empirische Forschung. Es geht vielmehr um spezifische Logiken der Produktion und Reproduktion systematischer, das heißt nicht auf einzelne gesellschaftliche Teilbereiche beschränkter Asymmetrien. Im folgenden Teil dieses Kapitels wird nun auf die herrschaftssoziologischen Arbeiten aus dem Bereich der Arbeits- und Industriesoziologie eingegangen. Diese soziologische Teildisziplin hat sich vor allem mittels der Begriffe »Rationalisierung« und »Kontrolle« der Frage betrieblicher Herrschaft gewidmet. Bis in die 1980er Jahre hinein wurden diese als entscheidende Indikatoren für Fragen nach einer möglichen Proletarisierung der Industriearbeiterschaft betrachtet. Insofern sind die folgenden Darstellungen besonders aufschlussreich in Bezug auf die Frage nach der Proletarisierung einfacher Dienstleistungsarbeit, die mit dem der Sozialstrukturanalyse entlehnten Begriff des Dienstleistungsproletariats impliziert ist. Auch Forschungsarbeiten jüngeren Datums sind in diesem Zusammenhang von großer Wichtigkeit, weil sie sich dezidiert den Zusammenhängen zwischen Arbeit und Leben in der Arbeitsgesellschaft der Gegenwart widmen.

Empirische Befunde arbeitssoziologischer Herrschaftsforschung Der Herrschaftsbegriff der Arbeits- und Industriesoziologie wird bis heute im Kern von Marx her gedacht. Dafür sind mehrere Gründe ausschlaggebend. Erstens bot das geschichtsphilosophische Programm des Marx’schen Theoriegebäudes die Möglichkeit einer sehr grundsätzlichen kritischen Auseinandersetzung mit der betrieblichen Wirklichkeit und deren Einordnung in real beobachtbare gesellschaftliche Entwicklungstrends. Gerade das Proletarisierungs-

60 Spezifische Dispositive? Das Kapital? Die Finanzmärkte? Rationalisierung?

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theorem stand in diesem Sinne in der Nachkriegszeit Pate für eine kritische Auseinandersetzung, auch mit dem kritischen Programm selbst. Zweitens bot selbst ein von geschichtsphilosophischen Lasten befreiter Herrschaftsbegriff in der Tradition von Marx die Möglichkeit, den Untersuchungsgegenstand einerseits klar zu definieren und einzugrenzen, ohne andererseits die generellen und damit gesellschaftstheoretischen Implikationen des Herrschaftsbegriffs aufgeben zu müssen. Die Debatte um die Entproletarisierung der Industriearbeiterschaft, wie sie bis in die 1980er Jahre in der Bundesrepublik geführt wurde, steht für die industriesoziologische Bearbeitung der Tatsache, dass gesellschaftlicher Wandel zwar stattfand, allerdings nicht im Rahmen der Marx’schen Geschichtsphilosophie verlief. Wie zu zeigen ist, steht sie ebenso für die erfolgreiche Verbindung von Arbeitssoziologie und Sozialstrukturanalyse, die auch in der vorliegenden Arbeit angestrebt wird. Die Debatte um die Entproletarisierung der Industriearbeiterschaft sowie die klassische Frage nach den Angestellten werden daher den ersten thematischen Fokus dieses Kapitels bilden. Daran anschließend wird die Vitalisierung der arbeitssoziologischen Auseinandersetzung mit betrieblicher Herrschaft betrachtet, wie sie ab der Mitte der 1970er Jahre im Rahmen der englischen Labour Process Debate stattfand. Darauf aufbauend wird der Stand der wissenschaftlichen Debatte um das Transformationsproblem dargestellt und gefragt, wie es diese Herrschaftskonzeptionen, die sich dezidiert von Marx her denken, mit der Verbindung von Struktur- und Handlungsebene sowie der gesellschaftstheoretischen Einbettung und Reichweite des Herrschaftsbegriffs halten. Im darauf folgenden Punkt werden unter den Schlagworten »Internalisierung« und »Subjektivierung« arbeitssoziologische Konzepte diskutiert, die für sich reklamieren, durch expliziten Subjektbezug die Brücke zwischen Struktur und Handeln sowie Arbeit und weiteren Lebenszusammenhängen zu schlagen. Anschließend werden organisationssoziologische Konzepte vorgestellt, die auf der betrieblichen Analyseebene eine empirisch besonders gut beobachtbare Form der Verbindung zwischen machtförmigem Handeln und institutionalisierten Strukturen formulieren. Werfen wir aber zunächst einen Blick auf die herrschaftssoziologischen Debatten der Nachkriegszeit, die, wie gesagt, im Zeichen des Proletarisierungstheorems geführt wurden. 74

Entproletarisierung – Der Arbeiter und der Industriebetrieb Die Debatte um die Proletarisierung beziehungsweise Entproletarisierung der Industriearbeit gilt als eine der großen soziologischen Debatten der Nachkriegszeit und hat der Arbeits- und Industriesoziologie zu einer breiten Rezeption jenseits der Fachöffentlichkeit verholfen.

Arbeitssoziologie und Sozialstrukturanalyse Den Ausgangspunkt der Debatte kann man allerdings außerhalb der eigentlichen Disziplin der Arbeits- und Industriesoziologie verorten, nämlich in Theodor Geigers Werk »Klassengesellschaft im Schmelztiegel«, das 1949 erschien und dem Feld der Sozialstrukturanalyse zuzuordnen ist. Geiger hatte hier vor allem drei für die Debatte um Proletarisierung zentrale Prognosen formuliert: Erstens sei eine »nach-ständische Stabilisierung der selbstständigen Mittelschichten« zu beobachten, zweitens »die Entproletarisierung des Arbeitnehmerlagers« und, dem zu Grunde liegend, drittens »die Institutionalisierung des Klassengegensatzes«.61 In der Industriesoziologie wurde erwartet, dass sich die Grundlagen einer solchen Entproletarisierungsbewegung vor allem als Resultate des technischen Wandels im Bereich der Industrieproduktion zeigen müssten.62 Schließlich wurden sozialstrukturelle Dynamiken, ganz im Sinne von Marx, als Resultate des maßgeblich technisch regulierten Produktionsprozesses verstanden. Das Programm der Arbeits- und Industriesoziologie erforderte folglich die empirische Erforschung technischer Rationalisierung in der Industriearbeit und ihrer Folgen im Bereich betrieblicher Herrschaft sowie – die Marx’sche Bewusstseinstheorie im Hinterkopf – Formen der Deutung weiterer Lebensbereiche, die mit dem Begriff des Gesellschaftsbildes63 bezeichnet wurden. Von der Herrschaftsanalyse, die maßgeblich mit dem Konzept technischer Rationalisierung operierte, wurde erwartet, dass sie die Triebfedern etwaiger Proletarisierungsdynamiken auf der Ebene des Betriebs beschreiben könne. Von der Frage nach dem Bewusst61 Vester, »Was wurde aus dem Proletariat?«, S. 166. 62 Vgl. Kern, »Proletarisierung, Polarisierung oder Aufwertung der Erwerbsarbeit?«, S. 113. 63 Bahrdt u.a., Das Gesellschaftsbild des Arbeiters.

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sein erhoffte man sich Erkenntnisse über den möglichen Zusammenhang von der Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter und ihrer Haltung zur Gesellschaft als Ganzer. Im Hintergrund stand dabei stets ein Theorem von Proletarisierung, das »auf den Zusammenhang industrieller Entwicklung und der Entwicklung der Sozialstruktur [abstellte]. Gemeint sind hier materielle Verelendung der Arbeiter, ihre Entfremdung und – als Umschlag dieser Effekte in ihr Gegenteil – die Klassenformation des Proletariats«64, die die Industriesoziologie empirisch überprüfen wollte. Michael Vester verweist darauf, dass auch Helmut Schelskys Nivellierungsthese65 enormen Einfluss auf die empirische, betriebssoziologisch ausgerichtete Arbeitsforschung in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit hatte. Vor allem die legendäre Studie von Bahrdt u.a.66 zum Gesellschaftsbild des Arbeiters sei vor diesem Hintergrund diskutiert worden.67 Den Prognosen Geigers und Schelskys standen dabei zwei Aspekte entgegen, die als maßgeblich für den Anstoß der betriebssoziologischen Überprüfung der Entproletarisierungsthesen gelten können. Zum einen standen noch bestimmte Arbeiten aus der Weimarer Republik und der Zeit des Kaiserreiches im Raum, die implizit oder explizit mit Analysen und Prognosen über eine gegenteilige Dynamik, also gerade über das Raumgreifen von Proletarisierungslogiken, aufgewartet hatten.68 Zweitens verwiesen erste empirische Studien der Nachkriegszeit auf einen Differenzierungsbedarf der Thesen Geigers und Schelskys. Dies gilt vor allem für die bereits genannte Studie »Das Gesellschaftsbild des Arbeiters« von Bahrdt u.a., die in den 1950er Jahren in einem Stahlwerk durchgeführt wurde. Untersuchungsort und Thema legen die thematische Orientierung an Marx nahe. Empirisch wurde hier die Persistenz zweier Faktoren beobachtet, die nicht recht in den Rahmen der Nivellierungsthese Schelskys oder der Plu-

64 Brose, »Proletarisierung, Polarisierung oder Upgrading der Erwerbsarbeit?«, S. 131. 65 Schelsky, »Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs«. 66 Bahrdt u.a., Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. 67 Vester, »Was wurde aus dem Proletariat?«, S. 171. 68 Exemplarisch kann hier Siegfried Kracauers eher journalistische Zeitdiagnose Die Angestellten von 1930 sowie Werner Sombarts Das Proletariat von 1906 gel-

ten.

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ralisierungs- beziehungsweise Aufwertungsthese Geigers passen mochten: zum einen der Fortbestand strenger hierarchischer Staffelung innerhalb des Industriebetriebs und, damit zusammenhängend, die Dominanz eines dichtotomischen Gesellschaftsbildes bei den Arbeitern. Während der Angestellte typischerweise gewisse Einblicke in die Welt seiner Vorgesetzten habe, deren Handlungen und Motive nachvollziehen könne, sei das hierarchische Gefälle in der Industriearbeit, trotz des Ausbaus der Mitbestimmung, so groß, dass sich der Arbeiter gegenüber den Vorgesetzten jenseits des »Shopfloors« nicht wie ein Teil, sondern wie ein »Objekt der Hierarchie« empfinde.69 Die Forschung zum Gesellschaftsbild des Arbeiters stellt einen ersten Versuch dar, eine konzeptionelle Brücke zwischen betrieblichen Dominationserfahrungen der Arbeiter und ihren weiteren Lebenszusammenhängen, hier: ihren Deutungen von Gesellschaft, herzustellen. Bezeichnet ist mit dem konstatierten dichotomischen Gesellschaftsbild ein Denken, in dem »denen da oben« »wir hier unten« gegenüberstehen und von A nach B kein Weg führt. Dies galt in der Debatte als Verweis auf den Fortbestand proletarischer Denkmuster trotz der faktischen Anhebung des materiellen Lebensstandards der Arbeiter, also trotz objektiver Entproletarisierung. Konsequenterweise wandte sich die Arbeits- und Industriesoziologie in der Folge weiter dem Industriebetrieb zu und arbeitete sich am Marx’schen Paradigma der Proletarisierung beziehungsweise am Geiger’schen der Pluralisierung ab. Betriebliche Herrschaft wurde dabei im Kern als Grundlage betrieblicher Beziehungen konzipiert, die sich über technische Rationalisierungsmaßnahmen ins Werk setzte.

69 Bahrdt u.a., Das Gesellschaftsbild des Arbeiters, S. 243; dort heißt es weiter:

»Dagegen kennt der Industriearbeiter natürlich sehr genau die untere betriebliche Hierarchie, mit der er an seinem Arbeitsplatz zu tun hat. Sie wird aber nicht als kontinuierliche hierarchische Fortsetzung der eigenen Funktionen gesehen, sondern in zwei Teile geteilt: Der erste Teil (Vorarbeiter, Meister) hat eine spezielle, einleuchtende Funktion im Arbeitsablauf […]. In der Regel wird dieser Teil sozial noch zur Arbeiterschaft gerechnet. […] Der zweite Teil […] kommt hingegen nur gelegentlich einmal am Arbeitsplatz vorbei, er entzieht sich mehr oder minder stark der Kontrolle. Die Vorgesetzten, die zu diesem zweiten Teil zu rechnen sind, gehören nicht mehr dazu.«

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Industriearbeit: Von der Polarisierung zur Aufwertung Die Entproletarisierungsdebatte verlief in zwei größeren Wellen, die mit dem Autorenpaar Horst Kern und Michael Schumann untrennbar verbunden sind. In deren Arbeiten scheint das Marx’sche Erbe noch einmal stärker durch als etwa bei Bahrdt u.a., vor allem in der weiteren Orientierung an technischem Wandel, also dem Wandel der Produktivkräfte, als Ursprung der Entwicklung betrieblicher Herrschaftsverhältnisse und Bewusstseinsformen.70 Die technische Rationalisierung der Produktionsarbeit wurde als entscheidender Ansatzpunkt für die Analyse betrieblicher Herrschaft betrachtet, weil sie drei Aspekte bündelte, »nämlich: Arbeitsersparnis, Effektivitätssteigerung und Prozesskontrolle«71. Die erste Stufe der Entproletarisierungsdebatte ist aufs Engste verknüpft mit Kern/Schumanns Buch »Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein« von 1970. Hier formulierten die Autoren die sogenannte Polarisierungsthese. Auch diese Arbeit lässt sich als Auseinandersetzung mit Geigers Pluralisierungsthese verstehen, die sich, im Sinne Kern/Schumanns, auf der Ebene des Betriebs in einer Aufwertung der Arbeit in der Folge technischen Wandels hätte materialisieren müssen. Kern/Schumann formulieren Kritik an der vermeintlichen Naturwüchsigkeit einer solchen Entwicklung und halten dem die empirisch beobachtbare Polarisierung zwischen qualifizierten und den weiterhin persistenten unqualifizierten Tätigkeiten innerhalb der Betriebshierarchie entgegen. Technische Rationalisierung gilt dabei als theoretisches Bindeglied, als empirisch beobachtbare Prozesslogik, aus der sich die polarisierende Entwicklung der Qualifikationsstruktur ergibt. In Form des Kriteriums der Qualifikationsniveaus diagnostizieren die Autoren die Gleichzeitigkeit der Auf- und Abwertung unterschiedlicher Tätigkeiten im Industriebetrieb. Von beiden Entwicklungen seien unterschiedliche Gruppen im Betrieb betroffen, weshalb von einer Polarisierungsdynamik ausgegangen wird. Die Humanisierung des Arbeitslebens müsse demnach Ziel politischen Handelns sein, weil sie sich nicht automatisch aus der Automatisierung der Produktion ergebe, wie

70 Kern, »Proletarisierung, Polarisierung und Aufwertung der Erwerbsarbeit?«, S. 113. 71 Pfeiffer, »Technisierung von Arbeit«, S. 231.

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etwa auch einige Hoffnungen der von Popitz und Bahrdt interviewten Arbeiter aus den 1950er Jahren noch nahelegten. Die Polarisierungsthese, als empirisch gesättigte Diagnose der Effekte des technischen Wandels auf die betriebliche Sozialstruktur, wurde in der Folge zur Grundlage ausgiebiger Forschungsbemühungen sowie politischer Programme.72 Kern/Schumann identifizieren Herrschaft in »Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein« in den Dynamiken technischer Rationalisierung. Die Rezeption der Studie ging allerdings über die Beschreibung betrieblicher Wirklichkeit hinaus und wollte in den Befunden Hinweise auf allgemeine sozialstrukturelle Entwicklungen erkannt haben. Programmatisch kann man es folgendermaßen zusammenfassen: Der empirische Rahmen für die Herrschaftsanalyse Kern/Schumanns war der Industriebetrieb, das Kriterium der Zuweisung von Herrschaftspositionen das der jeweiligen Qualifikation. Der Prozess der Zuweisung von Herrschaftspositionen selbst erfolgte durch die Dynamik der technischen Rationalisierung, die eine Polarisierungsbewegung zur Folge hatte. Mit einer Marx’schen Brille wurde die Polarisierungsthese über den Rahmen des Industriebetriebs hinweg als paradigmatisch für die Gesellschaftsdiagnose verstanden und in gewisser Weise als Proletarisierungsindikator gelesen. Die Tragweite der Polarisierungsthese wurde allerdings schon 14 Jahre später von den Autoren selbst infrage gestellt. Die zweite Welle der Entproletarisierungsdebatte wurde durch die Nachfolgestudie von Kern/Schumann »Das Ende der Arbeitsteilung« angestoßen. Die beiden Autoren waren für diese Studie in die Betriebe zurückgekehrt, die schon für das Buch von 1970 untersucht worden waren. Was damals als Polarisierung erschien, zeigte sich in der Folgestudie gewissermaßen als Übergangsphänomen, das die Situation der 1980er Jahre nicht mehr traf. Die Autoren stellten fest, dass die Polarisierung innerhalb der Betriebe nicht fortge-

72 Kern, »Proletarisierung, Polarisierung oder Aufwertung der Erwerbsarbeit?«.

Gedacht ist an die politische Kampagne zur Humanisierung des Arbeitslebens, eine staatliche Kampagne zur Förderung praktisch ausgerichteter Arbeitsforschung, mit dem Ziel der Einhegung negativer Effekte des Taylorismus im Betriebsalltag.

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schritten war. Im Gegenteil: Es war eine allgemeine Tendenz zur Aufwertung der Arbeitstätigkeiten feststellbar. Nach der Polarisierung war nur die qualifizierte Arbeit übrig geblieben, die technische Rationalisierung hatte viele einfache Tätigkeiten schlicht überflüssig gemacht. Auch an der Aufwertungsthese entzündete sich eine kontroverse Debatte. Constanze Kurz, um nur ein Beispiel zu nennen, verweist Ende der 1990er Jahre auf Exklusionsmechanismen, die im Rahmen der Aufwertungsthese übersehen worden seien: Repetitivarbeit sei nicht verschwunden. Vielmehr habe Kern/Schumanns Fixierung auf Prozesse technischer Rationalisierung organisatorische Dezentralisierungsdynamiken73 übersehen, die das Schicksal der industriellen Einfacharbeit seit den 1980er Jahren bestimmt hätten.74 Diese sei zunehmend aus den Kernbetrieben ausgelagert worden, in Form von Zuliefererfirmen und externen Auftragsnehmern aber weiterhin im Prozess industrieller Arbeitsteilung präsent. Hinzu kommt eine zweite Spaltungslinie: Horst Kern selbst verweist darauf, dass die Aufwertung im Rahmen der neuen Produktionskonzepte möglicherweise nur um den »Preis der Externalisierung negativer Momente«75 erreicht worden sei. Gemeint ist die Ende der 1990er Jahre grassierende Massenarbeitslosigkeit, die eine Art Substitut für die in der Polarisierungsthese noch beschriebenen unqualifizierten Tätigkeitsbereiche gewesen sein mag. Die Arbeiten Kern/Schumanns sind »Wassermarken« eines allgemeinen Wandels der Arbeitsgesellschaft. Im Zuge der Transformation industrieller Arbeit zeigt sich diese nun nicht mehr als Integrationsgarant, dessen repressive Elemente politischer Bearbeitung bedürfen. Fragen sozialer Exklusion76 treten im Herzen der Arbeitsgesellschaft auf den Plan. Anders formuliert: Im Zeichen eines »breiten Sets von Rationalisierungsstrategien«77 geht

73 Solche Rationalisierungsstrategien werden später ausführlich besprochen, wes74 75 76 77

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wegen hier eine Andeutung genügen soll. Kurz, Repetitivarbeit – unbewältigt. Kern, »Proletarisierung, Polarisierung oder Aufwertung der Erwerbsarbeit?«, S. 118. Bude/Willisch, Das Problem der Exklusion; dies., Exklusion. Die Debatte über die »Überflüssigen«. Kurz, Repetitivarbeit – unbewältigt, S. 234.

es nicht mehr primär um Ausschluss »von der Industrie, sondern durch die Industrie«78. Für die empirische Herrschaftsforschung ist allerdings entscheidend, dass Kern/Schumann in »Das Ende der Arbeitsteilung« explizit auf die faktisch gestiegene Autonomie der Arbeitnehmer der »neuen Produktionskonzepte« verweisen. Um die Frage der herrschaftstheoretischen Interpretation der neuen Produktionsformen drehte sich auch ein Großteil der anschließenden Debatte. Diese Auseinandersetzung gruppierte sich im Kern um zwei Pole: Kern/ Schumann wollten die Ergebnisse als eine faktische Reduktion von Herrschaft verstanden wissen, da die Autonomiegewinne der »Produktionsintelligenz« oder der »Systemregulierer«79 nicht zu leugnen seien. Im Gegensatz dazu fragte ein zweiter Strang der Debatte nach der Substitution direkter tayloristischer Kontrollmethoden durch subtilere Rationalisierungsstrategien.80

Spätfolgen der Ausrichtung auf den Industriebetrieb Der große Erfolg der beiden Bücher von Kern/Schumann wird innerhalb der Disziplin in der Rückschau nicht nur positiv gesehen: Hanns-Georg Brose hat darauf hingewiesen, dass sich die Erfolgsgeschichte der wissenschaftlichen Institutionalisierung der Arbeitsund Industriesoziologie und ihre schon häufig konstatierte Krise81

78 Bude, Die Ausgeschlossenen, S. 22. 79 Schumann, »Breite Diffusion der neuen Produktionskonzepte«. 80 Vgl. beispielhaft Manske, Kontrolle, Rationalisierung und Arbeit; Malsch/

Seltz, Die neuen Produktionskonzepte auf dem Prüfstand; Naschold, Arbeit und Politik; Ortmann, Der zwingende Blick. Auch aktuellere Arbeiten zu Fragen betrieblicher Herrschaft stehen noch unter dem Einfluss dieser Kontroverse, wobei das Gros der arbeits- und industriesoziologischen Forschung sich nicht den Interpretationen von Kern/Schumann angeschlossen zu haben scheint. Weiterhin dominiert, etwa unter den Begriffen der Vermarktlichung oder der Subjektivierung, der Versuch, in den veränderten Organisationsformen der Arbeit subtile Zwangsstrategien zu identifizieren. 81 Zuletzt: Deutschmann, »Die Gesellschaftskritik der Industriesoziologie«; Hirsch-Kreinsen, »Renaissance der Industriesoziologie?«; Lohr, »Subjektivierung von Arbeit«; Maurer, »Elend und Ende der Arbeits- und Industriesoziologie?«; Kühl, »Von der Krise«; Jürgens, »Perspektiverweiterung statt Kriseninszenierung«.

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auch als »Spätfolgen dieser erfolgreichen Fehldiagnosen«82 beschreiben lassen. Die Verengung der Debatte auf die Frage nach den Konsequenzen technischen Wandels für die Entwicklung der Qualifikationen83 habe die Disziplin davon abgehalten, neue Felder und Fragestellungen für sich zu entdecken.84 Das Forschungsprogramm zu den Folgen des technischen Wandels, also im Kern: der Rationalisierungsforschung im Rahmen des Taylorismus, verstellte eben auch ein Stück weit den Blick auf alternative Fragen im Bereich von Arbeit, Macht und Herrschaft.85 Die schon bei Popitz u.a. explizit über die Gesellschaftsbilder gestellte Frage nach dem Zusammenhang von Arbeit und Leben wurde so weniger als eine empirische Aufgabe bearbeitet, als dies die prinzipiell empirische Ausrichtung der Disziplin eigentlich vermuten ließe. Einen produktiven Weg, und in gewisser Weise eine herausragende Ausnahme, stellt hier die in der englischen Industriesoziologie angesiedelte Studie zum »affluent worker« dar. Goldthorpe u.a.86 haben es hier verstanden, einen stärker handlungstheoretischen Fokus mit einem grundsätzlich an Marx orientierten Programm zu verbinden. Dies ist nicht zuletzt dem empirischen Zugang auch jenseits des Bereichs der Arbeit geschuldet. Datenbasis der Untersuchung bildeten sowohl arbeitsbezogene Interviewbefragungen als auch Befragungen im privaten Umfeld, die nicht nur die Arbeiter, sondern auch deren Frauen miteinbezogen. Auf diesem Weg gelangten etwa deren Konsumverhalten und die Familienzentrierung der Lebensführung in den Blick. Goldthorpe u.a. stellten dabei die Diagnose der Etablierung einer instrumentellen Einstellung der Arbeiter zu ihrer Arbeit. Diese solle vor allem Stabilität und Prosperität gewährleisten und dem privaten Konsum dienen. Direkte betriebliche Kontrolle lehnte die Mehrheit der »affluent workers« als kontraproduk-

82 Brose, »Proletarisierung, Polarisierung oder Upgrading der Erwerbsarbeit?«, S. 130. 83 Ebenda, S. 131. 84 Ebenda, S. 133. 85 Dies gilt, obwohl im Rahmen der Aufwertungsthese bereits eine stärkere Beto-

nung der Organisationsaspekte von Herrschaft erfolgt war, die, wie wir noch sehen werden, die zeitweise dominierende Entwicklungsrichtung arbeitssoziologischer Herrschaftsforschung werden sollte. 86 Goldthorpe u.a., Der »wohlhabende« Arbeiter in England.

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tiv ab.87 Konzeptionell befindet sich Goldthorpes Studie, wegen der gelungenen Verbindung von Arbeit und Lebensführung, in unmittelbarer Nähe zur Operationalisierung von Herrschaft, wie sie in der vorliegenden Studie erfolgt. Es bedarf zudem einer Reformulierung des Programms Kern/ Schumanns, die klassische Stärken sichert, ohne »erfolgreiche Fehldiagnosen« zu reproduzieren. Die Verbindung arbeitssoziologischer Forschung mit Befunden der Sozialstrukturanalyse, wie sie in der Ausrichtung der Entproletarisierungsdebatte an Geigers »Klassengesellschaft im Schmelztiegel« beschrieben wurde, gehört zu den Stärken der Arbeitssoziologie, die es zu bewahren beziehungsweise wiederzuentdecken gilt, ebenso wie die starke empirische Ausrichtung der Disziplin und die Befragung von Herrschaft über die Diagnose von Rationalisierungsstrategien und den daraus resultierenden Effekten (Polarisierung/Aufwertung). Ein praxeologisch gewendetes Forschungsprogramm kann in der Folge eine Fundierung beziehungsweise Überprüfung von Aussagen der Sozialstrukturanalyse ermöglichen und etwa für neue Beschäftigtenbereiche eine Erweiterung von Aussagen der Sozialstrukturanalyse ermöglichen, die in Richtung der Bestimmung spezifischer Rationalisierungsmodi und Modelle alltäglicher Lebensführung gehen und damit auch Generierungslogiken möglicher Dynamiken sozialer Schließung in den Blick nehmen. Rationalisierung muss sich dabei eher an Organisationsaspekten von Arbeit ausrichten, da Technik im Zeichen interaktiver Arbeit möglicherweise keine entscheidende Rolle mehr spielt. Alle bisher erwähnten Arbeiten bezogen sich auf den Bereich industrieller Produktion. Gerade weil im Rahmen der vorliegenden Arbeit auf die Analyse des Bereichs einfacher Dienstleistungsarbeit abgezielt wird, kann eine weitere Debatte allerdings nicht unberücksichtigt bleiben. Die Rede ist von den Angestellten. Sie waren die erste Gruppe von Dienstleistern, denen sich die Arbeitssoziologie ausführlich gewidmet hat.

87 Vgl. ebenda, S. 92 ff.; konzeptionell befindet sich Goldthorpes Studie wegen der

gelungenen Verbindung von Arbeit und Lebensführung in unmittelbarer Nähe zur Operationalisierung von Herrschaft, wie sie in der vorliegenden Studie erfolgt.

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Die Angestellten zwischen Privileg und Abwertung Die Angestelltenforschung zielt auf einen Bereich der Arbeitswelt, der von heute betrachtet eher mit dem Aufstieg der Mittelschichten in den Gesellschaften der westlichen Moderne assoziiert wird.88 Dem voran ging jedoch eine wechselhafte Geschichte, in der die Gruppe der Angestellten zahlreiche Transformationen vollzog.

Vertraute der Macht oder proletarisierte Bürokraten? In Bezug auf den historischen Aufstieg der Angestellten muss zunächst erwähnt werden, dass dieser in der Bundesrepublik nicht von Anfang an als solcher antizipiert wurde. Vor dem Zweiten Weltkrieg galten die Angestellten als eine Gruppe, bezüglich derer sich die Sozialforschung nie sicher sein konnte, ob es sich um ein sozialstatistisches beziehungsweise diskursives Artefakt oder um eine reale Gruppe, im Sinne geteilter Einstellungen, Orientierungen und Lebenssituationen, handelte.89 Berger/Offe90 sehen in der Schwierigkeit, die Angestelltenschaft über einen einheitlichen Kriterienkatalog zu definieren, im »Bild einer ›wesenlosen‹ ›Nicht-Klasse‹«91 gar ihr hervorstechendes Merkmal.92 Außerdem warf das Feld der An88 Paradigmatisch hierfür steht etwa das Buch »White Collar« von C. Wright Mills, das dieses Phänomen für die USA der Nachkriegszeit thematisiert und

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das bereits im Titel auf die Verbindung der Angestelltenarbeit mit dem Aufstieg der Mittelschichten hinweist. Letztere Ansicht setzte ja eine gewisse Homogenität bezüglich Arbeitsinhalte, soziale Lage und Lebensführung voraus. Schon frühe Arbeiten machen deutlich, dass die Angestelltendebatte allerdings recht heterogene Arbeitswelten im Blick hatte: Mills Bürokraten (Mills, White Collar), Burnhams Manager (Burnham, Die Revolution der Manager), in Deutschland Kracauers Verkäuferinnen oder Schreibhilfen (Kracauer, Die Angestellten), wesentlich später zum Beispiel die »technische Intelligenz« (Beckenbach/Braczyk/Herkommer, Klassenlage und Bewusstseinsformen der technisch-wissenschaftlichen Lohnarbeiter), ganz zu schweigen von der Welt der öffentlichen Verwaltungen (vgl. Renner, Wandlungen der modernen Gesellschaft). Berger/Offe, »Das Rationalisierungsdilemma«. Ebenda, S. 271. Hans Paul Bahrdt diagnostiziert auch in der Nachkriegszeit Schwierigkeiten der Bestimmung des »gesellschaftlichen und politischen Standortes der Angestellten«, die privat in einer »konturlosen pseudobürgerlichen Welt« lebten (Bahrdt, »Die Angestellten«, S. 24).

gestelltenarbeit die Frage auf, wie sich seine Protagonisten wohl in Bezug auf die Klassenpolarisierung der 1920er Jahre verhalten würden.93 Ähnlich wie im Falle der Debatte um den Industriearbeiter ist auch die Angestelltenforschung von einem über die konkrete Analyse der Arbeit hinausgehenden gesellschaftsdiagnostischen Anspruch gekennzeichnet. Vergleichbar mit dem Proletariat in der Traditionslinie der Industriesoziologie gilt hier der Angestellte als Prototyp des modernen Arbeitnehmers, was sich zum Teil aus dessen prominenter Stellung in Webers Bürokratisierungsthese erklärt. Die Angestelltenforschung hat dabei zahlreiche empirische Studien produziert, die sich explizit der Frage betrieblicher Herrschaft und der gesellschaftsdiagnostischen Bedeutung der Angestellten widmen. Jürgen Kocka ist hier ein wichtiger Protagonist. Er macht etwa auf die sozialgeschichtliche Entwicklung der Angestellten in der Bundesrepublik aufmerksam94 und beschreibt in seiner Studie zu Siemens, wie die Angestellten der Unternehmensverwaltung über ihr exklusives Fachwissen eine besondere Nähe zur Macht entwickelten.95 Der Zugang zu vertraulichen Informationen, der geringe Formalisierungsgrad der administrativen Tätigkeiten, ihre Loyalität zur Unternehmensführung sowie der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften im Bereich der Produktion, die die administrativen Aufgaben im Shopfloor hätten übernehmen können, machten sie unentbehrlich.96 Die Angestellten saßen also eher an den Stellschrauben der Rationalisierung, als dass sie selbst von dieser betroffen waren. Doch auch anderweitige Diagnosen wurden gestellt: Schon 1912 konstatierte Emil Lederer einen deutlichen Privilegienabbau im Angestelltensegment, der dieses in immer größere Nähe zur Gruppe der Arbeiter rückte.97 Auch Siegfried Kracauer98 stellte die privile-

93 Paradigmatisch für diese Frage: Fromm, Arbeiter und Angestellte am Vorabend 94 95 96 97 98

des Dritten Reichs. Kocka, Angestellte zwischen Faschismus und Demokratie; ders., Die Angestellten in der deutschen Geschichte 1850–1980. Kocka, Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft. Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie, S. 221. Lederer, »Die Angestellten im Wilhelminischen Reich«, zit. n. Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie, S. 222. Kracauer, Die Angestellten.

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gierte Position der Angestellten in Frage. Kracauers Analyse der Angestellten liest sich in weiten Teilen wie die Beschreibung einer faktischen Proletarisierung der Verwaltungen. Die Rede ist etwa von einer Kombination direkter persönlicher Kontrolle99 und bürokratischer Rationalisierung von Verwaltungsaufgaben. Auch die Unmöglichkeit, der Führungsebene ansichtig zu werden, die Bahrdt u.a. als elementare Erfahrung der Industriearbeiter der 1950er Jahre beschrieben, findet sich bereits bei Kracauers Angestellten. Denn »so fern sind die Erhabenen entrückt, daß sie von dem Leben in der Tiefe nicht mehr berührt werden«100. Man darf davon ausgehen, dass auch die in der Tiefe der Verwaltung Lebenden der Erhabenen nicht mehr ohne Weiteres ansichtig werden. Dagegen sind die faktischen Hierarchien »in einem militärisch durchorganisierten Betrieb« umso präsenter. Denn »auch die Abteilungsleiter [sind] kleine Herren«101. Die jungen Frauen, die einen erklecklichen Teil von Kracauers Angestellten ausmachen, entgehen dem Schicksal der Proletarisierung nur durch vertikale Heiratsstrategien. Allgemein sind es Maßnahmen bürokratischer Rationalisierung und organisatorischer Hierarchisierung, die zu dieser Zeit die Entwicklung der Angestellten bestimmen. Bei Kracauer taucht aber auch bereits die Mechanisierung beziehungsweise Technisierung der Verwaltungsarbeit auf. Auch dieser Umstand rückt die Angestellten in die Nähe der Arbeiter, selbst wenn sich der Taylorismus im Büro nicht im gleichen Maße durchgesetzt hat wie in der Industrie. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg zeigten sich also Proletarisierungsphänomene im Bereich der Angestelltenarbeit.102 Auch in der Nachkriegszeit wurden deutliche Parallelen zwischen der Entwicklung von Industriearbeit und Angestelltentätigkeit gezogen. Im Grunde waren im Rahmen der Bürokratisierung der Büroarbeit ähnliche Kriterien am Werk wie im Falle der Technisierung der Industriearbeit: Aufgaben wurden arbeitsteilig zergliedert, maschinell ergänzt beziehungsweise substituiert und die Arbeit in der Folge zerteilt. »Technische Rationalisierung von Angestelltenarbeit basierte auf dem Prinzip der (fast spiegelbildlichen) Ver99 100 101 102

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Ebenda, S. 36. Ebenda, S. 37. Ebenda, S. 38. Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie, S. 223.

dinglichung beziehungsweise Mediatisierung von bisher manuell ausgeführten Arbeitsschritten. Technisiert wurden primär Arbeitsschritte aus dem Spektrum der Hilfs- und Zuarbeiten.«103 So verweist auch Hans Paul Bahrdt auf unterschiedliche Betroffenheiten bei den Angestellten.104 Es seien »die zahlreichen männlichen Angestellten in unteren Positionen«105, die am stärksten unter Rationalisierungsdruck gerieten, weil sie weder zu den privilegierten Positionen in den Betriebshierarchien gehörten noch, wie viele der weiblichen Angestellten, die Arbeit lediglich als Übergangsphänomen bis zur Eheschließung betrachteten. Der empirisch auffällige Rationalisierungsvorsprung der industriellen Fertigungsbereiche wurde als »transitorisches Phänomen« betrachtet, das dem Amalgam aus bürokratischer Routine und persistenten ständischen Traditionen geschuldet sei.106 Die Technisierung der Angestelltentätigkeiten wurde analytisch stärker gewichtet.107 Dennoch konstatiert Hans Paul Bahrdt108 auch in der Nachkriegszeit einige entscheidende Unterschiede zwischen Angestellten und Arbeitern. Dem dichotomischen Gesellschaftsbild des Arbeiters stünden bei den Angestellten der Industriebürokratie Reste eines »hierarchischen Denkens gegenüber«.109 Diese Mentalität stehe allerdings einerseits in Konflikt mit empirischen gesellschaftlichen Entwicklungen, da sich die Gesellschaft nicht in Form einer hierarchischen Ordnung verstehen lasse. Andererseits stehe dieses Denken unter Druck, weil durch die Technisierung der Büroarbeit die Arbeitsteilung im Betrieb immer weniger hierarchisch, sondern zunehmend horizontal und gefügeartig organisiert sei.110 So sei das Prinzip der Hierarchie sowohl im Betrieb als auch im Gesellschaftsbild der 103 Baethge/Oberbeck, »Systematische Rationalisierung von Dienstleistungsarbeit«, S. 152. 104 Bahrdt, »Die Angestellten«. 105 Ebenda, S. 19. 106 Vgl. Bahrdt, Industriebürokratie; Pirker, Bürotechnik; Jaeggi/Wiedemann,

107 108 109 110

Der Angestellte in der Industriegesellschaft; Kadritzke, Angestellte – die geduldigen Arbeiter, zit. n. Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie, S. 28. Beispielsweise bei Pirker, Bürotechnik. Bahrdt, Industriebürokratie. Ebenda, S. 143. Ebenda.

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Angestellten in eine Krise geraten.111 Die »Industriealisierung der Büroarbeit« habe zu einer »Relativierung des hierarchischen Prinzips«112 geführt, ohne dass freilich von einer Proletarisierung der Angestellten gesprochen werden könne, weil sich diese in ihrer »merkmalslosen Bürgerlichkeit«113 deutlich von den weiterhin in Dichotomien denkenden Arbeitern unterschieden. Andere Autoren verweisen dagegen in Bezug auf kaufmännische und technische Angestellte sowohl auf die geringe Durchsetzung technischer Rationalisierung als auch auf einen sukzessiven Rückgang der Distinktionsbemühungen der Angestellten gegenüber den Arbeitern.114 Dennoch wurden in den späten 1960er Jahren die von Bahrdt beobachteten Rationalisierungs- beziehungsweise Objektivierungstendenzen durch den Fokus auf technische Rationalisierungsstrategien im Bereich der Angestellten ergänzt. Diese Formen technischer Rationalisierung bringen das klassisch im Angestelltenbereich vorherrschende Paradigma bürokratischer Kontroll- und Kooperationsformen in Bedrängnis.115

Differenzierungs- und Konvergenzbewegungen In der Summe ist diese Phase der Angestelltenforschung durch eine interne Differenzierungs- und allgemeine Konvergenzbewegung der Arbeiter- und Angestelltenforschung gekennzeichnet. Die ständischen Muster der Selbstwahrnehmung, die sich im Bereich der Angestellten aus deren ehemaliger Staatsnähe und ihrer privilegierten Position innerhalb betrieblicher Hierarchien – gewissermaßen ihrer Nähe zur Macht – herleiten, verblassen zusehends. Dies gilt auch bezüglich der Konzeptionen betrieblicher Herrschaft, die in beiden Bereichen im Kern über Rationalisierungsfragen adressiert

111 112 113 114 115

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Ebenda, S. 2 f. Ebenda, S. 3. Ebenda, S. 127 ff. Braun/Fuhrmann, Angestelltenmentalität. Jaeggi und Wiedemann (Jaeggi/Wiedemann, Der Angestellte in der Industriegesellschaft, zit. n. Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie) nehmen in der Folge eine notwendige Differenzierung der Angestelltenkategorie vor: Im Angestelltenbereich sind demnach sehr unterschiedliche, je nach Arbeitssituation und Rationalisierungsintensität divergierende, Bewusstseinsformen zu finden.

werden: Auch die Angestellten geraten unter technischen Rationalisierungsdruck, der sich allerdings im Zeitverlauf nicht in tayloristischer Form durchsetzt. Wie Michael Hartmann bezüglich des Einsatzes technischer Informations- und Kommunikationsverfahren in der Büroarbeit Anfang der 1990er Jahre bemerkt, kann »von einer Taylorisierung der Büroarbeit im Sinne einer weitgehenden Dequalifizierung und Zerlegung der Arbeit wie einer Reduzierung der menschlichen Arbeit auf ein Anhängsel der Maschinerie […] auf keinen Fall die Rede sein«.116 Zwei Erklärungsansätze für diesen Umstand werden Ende der 1980er Jahre in der Bundesrepublik diskutiert.117 Berger/Offe118 verweisen auf ein »Rationalisierungsdilemma« von Angestelltenarbeit. Da Dienstleistungsarbeit als Gewährleistungsarbeit eher auf »Effektivität« als auf »Effizienz«119 beruhe, die Bemessung von Effektivität sich allerdings an der Volatilität von Kunden und Märkten bestimme,120 müsse sie systematisch Reserven vorhalten.121 Effizienzund Sicherheitspolitik122 stehen daher in einem systematischen Spannungsverhältnis, weil Effizienz auf möglichst wirkungsvollen Ressourceneinsatz zielt, während Sicherheits- beziehungsweise Effektivitätspolitik eben immer Reserven zurückhalten muss. Sie setzt daher Rationalisierungsmaßnahmen systematische Grenzen. Baethge/Oberbeck123 beschreiben dagegen unter dem Schlagwort der »systemischen Rationalisierung« eine Entwicklung, in der

Hartmann, »Abschied vom Taylorismus«, S. 131. Vgl. ebenda, S. 133. Berger/Offe, »Das Rationalisierungsdilemma«. Ebenda, S. 273. Berger/Offe halten hierzu fest, Dienstleistungsarbeit impliziere »die strategische Orientierung an Risiken, Störungen, Unregelmäßigkeiten, Unsicherheiten, Unwägbarkeiten der natürlichen, technischen und gesellschaftlichen Umwelt, die absorbiert und verarbeitet, eben an der störenden Auswirkung auf den Produktionsprozess gehindert werden müssen, [das heißt] die Dominanz von Effektivitätskriterien« (ebenda). 121 Ebenda, S. 276. Berger/Offe denken dabei vor allem an Zeit- und Qualifikationsreserven sowie an die Möglichkeit antizipierender Überproduktion (ebenda, S. 276). 122 Ebenda, S. 278. 123 Baethge/Oberbeck, »Systematische Rationalisierung von Dienstleistungsarbeit«. 116 117 118 119 120

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EDV-Systeme nicht nur zur Optimierung betriebsinterner Abläufe

eingesetzt werden. Vielmehr erlaubt die systemische Rationalisierung »die integrierte Gestaltung ganzer Funktionskomplexe von der Beratung, dem Verkauf bis hin zur Ablage und Datenverwaltung«124. Denn systemische Rationalisierung bedeutet, »dass technische und organisatorische Maßnahmen nicht mehr länger punktuell, auf einzelne betriebliche Aufgaben hin betrieben werden, sondern dass von den Unternehmen verstärkt auf die integrierte, technisch-soziale Gestaltung von Arbeits-, Betriebs- und Marktstrukturen gezielt wird.«125 Es zeigen sich in der Folge unterschiedliche Rationalisierungsschwerpunkte, wie auch Baethge/Oberbeck126 anhand der Nutzung von EDV-Techniken in der Büroarbeit belegen.127 Von einer Taylorisierung der Arbeit sind in der Folge höchstens diejenigen betrieblichen Fraktionen betroffen, die mit der internen Datenverwaltung, mit »Abwicklungs-, Dokumentations- und Prüfaufgaben«128 betraut sind. Die eher markt- und kundenbezogenen Aufgabenbereiche werden in dieser Entwicklung dagegen eher aufgewertet. Es zeigt sich also auch in der Entwicklung der Arbeitsteilung eine Bewegung, die an Kern/Schumanns Polarisierungsthese erinnert. Die beobachtete Konvergenzbewegung zwischen Arbeitern und Angestellten darf allerdings nicht als konzeptionelle Vermischung beider Gruppen missverstanden werden. Entscheidend ist vielmehr die Anerkennung der historischen Entwicklung beider Gruppen, also eine zeitliche Perspektive: Arbeiter und Angestellte treffen im Betrieb zunehmend auf ähnlich gelagerte Versuche der Kontrolle ihrer Arbeit. Diese Kontrollstrategien zeitigen unterschiedliche Effekte. Während Teile der Angestellten im Zuge technischer Bürokratisierung eine Abwertung ihrer Arbeit erfahren, entwickelt sich ein anderer Teil dieser Gruppe zur von Renner129, Dahrendorf130 und

124 Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie, S. 228. 125 Baethge/Oberbeck, »Systematische Rationalisierung von Dienstleistungsarbeit«, S. 150. 126 Baethge/Oberbeck, Zukunft der Angestellten. 127 Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie, S. 228. 128 Ebenda, S. 229. 129 Renner, Wandlungen der modernen Gesellschaft. 130 Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland.

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später Erikson/Goldthorpe131 so genannten »Dienstklasse«132, erlebt somit eher Autonomiegewinne als eine Entwertung der Arbeit. Ähnlich verhält es sich vermeintlich mit den Arbeitern, die nach einer Polarisierungsphase eine allgemeine Aufwertung erleben, die aber möglicherweise nur über die Inkaufnahme höherer Arbeitslosenzahlen zu haben war. Sosehr sich die Arbeiter- und Angestelltenforschung über die Jahrzehnte in Konvergenz- und Differenzierungsdynamiken zunehmend auffächert, sosehr sollten die Debatten als Hinweis auf die fruchtbare Verknüpfung herrschaftssoziologischer Fragestellungen mit spezifischen Großgruppen der Arbeitswelt und Sozialstruktur dienen. Das Argument der vorliegenden Arbeit ist, dass es sich in eben dieser Tradition lohnt, heute den Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit zu erforschen. Dies gilt insbesondere, da die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten im Zuge der besprochenen Debatten heute auch aus Sicht der Sozialstrukturanalyse in weiten Teilen verschwommen wirkt.133 Gerade die einfachen Dienste stehen für einen Hybrid aus klassischen Arbeiter- und Angestelltenmilieus.134

Das Transformationsproblem Die Arbeiter- und Angestelltenforschung wurde im Rahmen eines Marx’schen Theorieverständnisses als wichtige Grundlage allgemeiner Gegenwartsdiagnose gelesen. In den 1980er Jahren setzte sich allerdings ein Wandel der Perspektive auf betriebliche Herrschaft durch, der von Technik auf Organisation umstellte135 und zugleich in Teilen »eher historisch«136 orientiert war. Nicht mehr allein technische Rationalisierung stand im Vordergrund. Mit der arbeitssoziologischen Reformulierung des Transformationsproblems in historischer Perspektive wurde der Begriff der Kontrolle zum entscheidenden An-

131 Erikson/Goldthorpe, Constant Flux. 132 Siehe auch Kapitel II . 133 Müller/Noll, »Arbeit und Sozialstruktur«, S. 11, zit. n. Oesch, Redrawing the Class Map, S. 2. 134 Bahl/Staab, »Das Dienstleistungsproletariat«, S. 75. 135 Vgl. Pfeiffer, »Technisierung von Arbeit«, S. 231 ff. 136 Lappe, »Technologie, Qualifikation, Kontrolle«, S. 310.

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satzpunkt der Analyse betrieblicher Herrschaft. Der gemeinsame inhaltliche Nenner der Labour Process Debate ist die Diagnose »einer umfassenden Dequalifizierung (Deskilling) und Degradierung der Arbeit, die nach Braverman […] unter anderem dem kapitalistischen Arbeitsprozess immanent ist«.137

Von der politischen Ökonomie zur betrieblichen Kontrolle Die Reformulierung des Transformationsproblems wird explizit von Marx her gedacht. In seiner ursprünglichen Form ist das Transformationsproblem Teil politisch-ökonomischer Arbeitswerttheorie. In diesem Sinne bezieht sich das Transformationsproblem auf die Bestimmung des Verhältnisses von Werten und Produktionspreisen.138 Das Interesse gilt dem Zusammenhang von Arbeitszeit und Preisbildung. Der zeitliche Arbeitsaufwand soll den Wert und somit den Preis der Ware bestimmen. Die Schwierigkeiten sowie Probleme bei der Suche nach einem gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen der Wert- und der Preisebene werden unter dem Begriff »Transformationsproblem« subsumiert. Marx stellt auf den variablen Charakter der Ware Arbeitskraft ab. Im Gegensatz zu Materialpreisen hat der einzelne Unternehmer vermeintlich eine direktere Kontrolle über deren Preis, kann aus ihr also Profit schlagen. Marx beschäftigt sich in diesem Zusammenhang bekanntlich konsequent mit dem Kauf und Verkauf der Arbeitskraft: Der Unternehmer erwirbt demnach Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt und ist dann vor die Problematik gestellt, diese im Produktionsprozess in verausgabte Arbeitskraft zu überführen.139 Marx bettet diesen Tauschakt, der sich maßgeblich im Arbeitsvertrag materialisiert, in seine Ausbeutungstheorie ein. Der Arbeiter geht das Tauschverhältnis nicht aus freien Stücken ein, sondern steht unter dem Zwang der materiellen Reproduktion, ist also dem Druck des Arbeitsmarktes ausgeliefert, auf dem er sich bewegen muss, um seine materielle Reproduktion zu sichern. Seine Position ist gegenüber dem Arbeitgeber im 137 Ebenda, S. 312. Diese einseitige Richtung der Entwicklung des Arbeitsprozes-

ses, so wird schnell moniert, ist freilich ein inadäquat lineares Entwicklungsmodell (ebenda). Im Folgenden werden daher vor allem diejenigen Arbeiten im Fokus stehen, die sich kritisch mit Braverman auseinandergesetzt haben. 138 Vgl. Quaas, Das Transformationsproblem. 139 Vgl. Napoleoni, »Kauf und Verkauf der Arbeitskraft«, S. 98 ff.

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Sinne des marktförmigen Tausches nur scheinbar eine gleichwertige. Denn »zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt«140. In den Debatten um betriebliche Herrschaft in der Arbeits- und Industriesoziologie wird nun der Fokus auf die genauen historischen Formen des Transformationsprozesses erworbener potenzieller Arbeitskraft in veräußerte Arbeitsleistung gelegt. Harry Braverman141, der Vater der industriesoziologischen Reformulierung des Transformationsproblems, knüpft dabei gerade nicht an »die Marx’sche Klassenanalyse, sondern vielmehr an die Analyse des Arbeitsprozesses an«.142 Es steht also weniger ein Beitrag der Arbeitssoziologie zur Sozialstrukturanalyse als vielmehr die reine Beschreibung betrieblicher Wirklichkeit im Vordergrund. Das Marx’sche Transformationsproblem wird auf dieser Ebene durch betriebliche Kontrolle bearbeitet. Die Notwendigkeit der Kontrolle ergibt sich aus zwei formal unterscheidbaren Faktoren: Erstens ist, unter dem Gesichtspunkt der Unvollständigkeit des Arbeitsvertrages143, die zeitliche Diskrepanz zwischen dem Abschluss der vertraglichen Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und der tatsächlich erbrachten Arbeitsleistung ausschlaggebend. Denn »kein Arbeitsvertrag kann so genau spezifiziert werden, dass sämtliche Arbeitsleistungen im Vorhinein bis ins letzte Detail festgelegt werden.«144 Die tatsächliche Leistung, über die der Vertrag geschlossen wird, ist in diesem nicht erschöpfend beschreibbar, und so klafft eine Lücke der Ungewissheit zwischen dem Einkauf und dem Akt der Veräußerung der Arbeitskraft. Diese Lücke bemüht sich der Unternehmer mittels Kontrollstrategien zu schließen.145 Marx, Das Kapital, S. 249. Braverman, Labor and Monopoly Capital. Menz, Die Legitimität des Marktregimes, S. 78 f. Vgl. Baldamus, Efficiency and Effort; Simon, Administrative Behavior, zit. n. Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie, S. 97. 144 Ebenda, S. 97. 145 Die Dienstleistungsforschung hat allerdings im Rahmen des Interaktivitätsparadigmas darauf hingewiesen, dass auch nicht in den Arbeitsvertrag eingelassene Akteure, wie typischerweise Kunden, für Arbeitnehmer kontrollrelevant sein können (vgl. Leidner, »Rethinking Questions of Control«, Dunkel/ Weihrich, »Interaktive Arbeit«). Darauf wird in der empirischen Analyse zu achten sein. 140 141 142 143

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Aus der grundsätzlichen Unvollständigkeit des Arbeitsvertrages ergibt sich zweitens die, mit dem Bezug zu Marx hergestellte, strukturelle Grundierung des Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Dieses ist durch den grundlegenden Konflikt zwischen Kapital und Arbeit gerahmt, weswegen nicht davon auszugehen ist, dass der Arbeiter prinzipiell bereit ist, mehr Arbeitskraft zu veräußern, als er erzwungenermaßen muss. Dieser Umstand verweist auf eine anthropologische Grundannahme. Deutschmann bemerkt dazu, dass die Herrschaftsforschung in der Tradition der Labour Process Debate eine klare Abgrenzung zur neoklassischen Ökonomie vollziehe. Letztere »eskamotiert« das Transformationsproblem, »indem sie die Bereitschaft des Arbeiters zur Erfüllung des Arbeitsvertrages als selbstverständlich voraussetzt«.146 Nicht nur unter Bedingungen der Akzeptanz Marx’scher Prämissen des Kapital-Arbeit-Konfliktes liegt darin freilich eine recht weitreichende theoretische Vorannahme begründet. Auch unter Konzeptionen rationalen Handelns sei diese Prämisse höchst fragwürdig, wie Deutschmann unter Bezugnahme auf Brandes/Weise147 schreibt. Die Frage ist, ob sich in der dominanten Konzeption des arbeitssoziologischen Transformationsproblems im Rahmen der Labour Process Debate nicht eine ähnliche anthropologische Grundannahme zeigt. Richard Edwards, neben Braverman einer der prominentesten Protagonisten der Labour Process Debate, umschreibt diese wie folgt: Die Arbeiter haben »überhaupt kein Interesse an einer Anstrengung, die über das Mindestmaß hinausgeht, das zur Vermeidung von Langeweile erforderlich ist. Andererseits gilt für den Kapitalisten [das Interesse] (…), mehr Arbeit aus der gekauften Arbeitskraft heraus[zu]pressen (…). Genau diese Diskrepanz (…) macht ihm die Kontrolle des Arbeitsprozesses (…) unerlässlich.«148 Knapp zusammengefasst lässt sich sagen: Arbeitssoziologische Herrschaftsforschung im Anschluss an das Transformationsproblem leistet eine definitorische Zuspitzung des Herrschaftsbegriffs, die für empirische Forschung relativ gut zugänglich ist. Herrschaft wird im Kern mit Kontrollstrategien gleichgesetzt, die im Arbeits-

146 Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie, S. 97. 147 Brandes/Weise, »Arbeitsbeziehungen zwischen Markt und Hierarchie«. 148 Edwards, Herrschaft im modernen Produktionsprozess, S. 21.

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prozess durch die Leitungsebenen implementiert werden. Wie sich diejenigen verhalten, die solchen Kontrollstrategien unterworfen sind, ist allerdings keine direkt herrschaftsrelevante Frage. Herrschaft auf der Ebene des Betriebes wird weiterhin als Grundlage betrieblicher Beziehungen konzipiert. So krankt die Forschung im Rahmen der Labour Process Debate am Risiko strukturdeterministischer Kurzschlüsse. Denn im Anschluss an Marx ist Herrschaft im Kern durch Zwang gekennzeichnet. Sie bedarf weder der Zustimmung, noch wird sie durch das alltägliche Handeln der Unterworfenen entscheidend transformiert oder gar systematisch gefährdet. Es mag sein, dass im Zusammentreffen mit resilienten Individuen das Herrschaftsziel der Maximierung der Verausgabung von Arbeitskraft nur suboptimal erreicht wird. Am Charakter der Herrschaft ändert dies wenig. Wird Herrschaft im Kern mit Kontrollstrategien gleichgesetzt, ist sie, konzeptionell gesprochen, zwar der Effekt von Akteurshandeln, dieses Akteurshandeln aber bezieht sich rein auf Handeln und Entscheiden von Managern. Der Weber’sche Gedanke einer Ordnungsstiftung durch Herrschaft, die sich aus der Kombination wechselseitigen Handelns Herrschender und Herrschaftsunterworfener ergibt, spielt hier keine Rolle. Herrschaft ist Zwang, mehr oder minder straff durchgesetzt durch Kontrolle.

Die Labour Process Debate und der Taylorismus Dennoch hat die Labour Process Debate interessante empirische Befunde zutage gefördert. Das den Kontrollstrategien zugrundeliegende Ziel des Arbeitgebers ist es aus Sicht der Protagonisten der Labour Process Debate, den Arbeiter »als Subjekt der Arbeitskraft […] [zur] Mitwirkung [bei deren Veräußerung] zu veranlassen«.149 Braverman, dessen Buch »Labour and Monopoly Capital« den Ausgangspunkt der Labor Process Debate markiert, formuliert eine klare historische Linie der Entwicklung von Managementstrategien, also von Taktiken der Kontrolle von Arbeit. Der Taylorismus stellt für ihn die ultimative Form der Regulierung des Arbeitsprozesses dar. Dieser ist gekennzeichnet durch eine zunehmende Zerteilung und Dequalifizierung der Arbeit. Braverman begreift diesen Prozess in Marx’schen Termini als historische Entwicklung von der formel-

149 Berger/Offe, »Die Zukunft des Arbeitsmarktes«, S. 352.

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len zur reellen Subsumtion.150 Er wartet dabei mit einer Argumentation auf, die als Hypothese aus der im vorhergehenden Abschnitt besprochenen Entproletarisierungsdebatte nur allzu vertraut ist: Kontrolle im modernen Industriebetrieb werde vornehmlich über die Abwertung und Dequalifizierung der lebendigen Arbeit, also über Rationalisierungsmaßnahmen vollzogen. Arbeitsteilung im Zeichen des Taylorismus wird von ihm als fortschreitende Entfremdung des Arbeiters von seiner Tätigkeit verstanden. Die Arbeit im modernen Produktionsprozess zeichne sich durch eine historisch fortschreitende Trennung ausführender und planender Tätigkeiten, eine zunehmende Entfernung des Arbeiters vom Produktionswissen und damit die sukzessive Ablösung von der Selbstkontrolle der eigenen Arbeit durch Fremdkontrolle aus.

Direkte Kontrolle und verantwortliche Autonomie Eine frühe Kritik an Bravermans Thesen hat Andrew L. Friedman in seinem Buch »Industry and Labour: Class Struggle at Work and Monopoly Capitalism« formuliert. Er verwehrt sich unter anderem explizit gegen Bravermans Ansicht der klaren tayloristischen Richtung der Regulierung des Arbeitsprozesses durch technische Rationalisierung. Friedman verweist dagegen auf ein Kontinuum betrieblicher Kontrollstrategien151, das er zwischen den Polen »direkter Kontrolle« und »verantwortlicher Autonomie« aufgespannt sieht.152 Der Taylorismus gilt Friedman nicht als die einzige oder angemessenste Antwort des Managements auf das betriebliche Transformationsproblem. Welche Kontrollstrategien überhaupt eine Chance haben, im Sinne des Managements zu wirken, ist vielmehr abhängig von der konkreten Form der Arbeit. Auf welche Weise die Ware Arbeitskraft genutzt werden kann, hängt ab von den Aufgaben, zu deren Erfüllung sie eingesetzt wird. Geistige, im weitesten Sinne kreative Arbeit kann beispielsweise kaum in das Korsett direkter Kontrolle gepresst werden. Ein solcher Versuch, die Widersetzlichkeit und Eigensinnigkeit geistiger Arbeit in eine klare Form zu zwingen, widerspreche dem kreativen Kern vieler derartiger Tätig-

150 Marrs, »Herrschaft und Kontrolle in der Arbeit«, S. 333. 151 Vgl. ebenda, S. 334. 152 Friedman, Industry and Labour.

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keiten. Die Termini direkter Kontrolle und verantwortlicher Autonomie öffnen das Feld der Analyse betrieblicher Herrschaft für Fragen nach Formen »sozialer Rationalisierung«153. Technik ist nicht mehr der einzige Pfad der (Un-)Tugend, wenn es um die Regulierung des Arbeitsprozesses geht. Im Zuge eher auf interaktive Kontrolle beziehungsweise Autonomiezugeständnisse setzender Rationalisierungsstrategien kann Herrschaft nicht mehr rein als Grundlage der betrieblichen Situation gelten. Rückkopplungsprozesse zwischen Regulierungsstrategien und Handlungspraxen der Herrschaftsunterworfenen werden empirisch sichtbar. »Die klassische Lösung des Transformationsproblems – nicht nur die der klassischen Organisationstheorie, sondern bereits die Marx’sche – beruht auf der Fiktion einer Aufspaltung des Arbeitsprozesses in reine Kreativität und »Geistigkeit« einerseits, reine Regelgebundenheit und »Körperlichkeit« andererseits«, wie Christoph Deutschmann schreibt.154 Die Friedman’schen Termini funktionieren analog: direkte Kontrolle für die Körper, verantwortliche Autonomie für den Geist. Die geistige Arbeit kann nicht vom Unternehmer monopolisiert werden. Er muss sich vielmehr anderer Steuerungsmethoden bedienen, um den gestiegenen Anforderungen solcher Tätigkeiten und damit einem besser qualifizierten Personal herrschaftlich »gerecht werden zu können«. Für Tätigkeiten in der Prozessentwicklung, im Bereich der Ingenieursarbeit, der Facharbeit, aber auch im Verwaltungsbereich, wie sie Friedman im

153 Der Begriff »soziale Rationalisierung« soll im Folgenden, zunächst relativ un-

spezifisch, sämtliche Rationalisierungsmaßnahmen bezeichnen, die Effekte haben können, die sich nicht automatisch aus dem Charakter der Rationalisierungsmaßnahme selbst erklären. Wenn nicht mehr Technik im klassischen Verständnis des Taylorismus den primären Fokus spezifischer Rationalisierungsmaßnahmen ausmacht, ist mit diversen Effekten zu rechnen, die sich aus wachsenden Autonomiespielräumen der Beschäftigten ergeben können. Gemeint sind also unter anderem arbeitsvertragliche Maßnahmen (Befristungen, Arbeitszeitmodifikationen etc.), ideologische Strategien, die auf die Subjektivierung von Unternehmenskulturen setzen (aber nicht unbedingt auch in diesem Sinne wirken müssen), und organisatorische Operationen, die etwa bei der Gestaltung des materialen Aspekts der Arbeit ansetzen (Verhaltensskripts für Interaktionen, veränderte Tätigkeitsprofile etc.), ohne sich dabei primär technischer Mittel zu bedienen. 154 Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie, S. 110.

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Sinn hat, kann direkte Kontrolle geradezu nachteilig sein. So setzen Instrumente der verantwortlichen Autonomie gerade auf die »positive« Seite der Arbeitskraft, ihre Anpassungsfähigkeit«, die »durch sozialtechnologische Integration beziehungsweise ideologische Vereinnahmung der Beschäftigten für die Ziele des Unternehmens nutzbar« gemacht werden soll.155 Innerhalb der Labour Process Debate wird dies, wie der Begriff der »ideologischen Vereinnahmung« nahelegt, eher im Sinne subtiler Manipulationsstrategien begriffen. Friedmans Arbeiten stellen einen Konvergenzpunkt verschiedener bereits über die Entproletarisierungs- und Angestelltendebatte beschriebener Diskussionslinien dar. Die neuen Produktionskonzepte, die Kern/Schumann beschreiben, kommen zweifelsohne nicht ohne ein hohes Maß an verantwortlicher Autonomie aus. Auch im Angestelltenbereich zeigt sich diese Entwicklung: Nicht mehr Versuche bürokratischer Taylorisierung dominieren, sondern es finden sich Kontrollkonzepte, die mehr Autonomie am Arbeitsplatz ermöglichen und zum Ziel haben, die Potenziale der Arbeitnehmer optimal zu nutzen. Man kann also formulieren, dass die industriesoziologische Debatte um die Industriearbeiter und die Angestellten, wie sie in der Bundesrepublik geführt wurde, eine zunehmende Konvergenzbewegung erlebt hat, die sich im Sinne Friedmans auf den Pol der verantwortlichen Autonomie zubewegt hat. In der Sache bezeichnet dieser terminologische Wandel eine neue Form der Inwertsetzung von Arbeitskraft. Menschliche Arbeit wird nun nicht mehr als ein Appendix zur Maschine verstanden, das Management erkauft auch nicht mehr die »bezahlte Indifferenz«156 der Beschäftigten. Als gekaufte Zeit ist Arbeitskraft nun nur noch unzureichend beschrieben. Das Arbeitsvermögen157 der Beschäftigten wird als eine Produktivkraft eigener Art entdeckt. Dies gilt für Dienstleistungsarbeit im Besonderen: Kira Marrs hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Modus der verantwortlichen Autonomie in der Debatte um neue Formen von Dienstleistungsarbeit weitgehend als der »one best way« der Regulierung des Arbeitsprozesses kolportiert

155 Marrs, »Herrschaft und Kontrolle in der Arbeit«, S. 334. 156 Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 96. 157 Zum Begriff »Arbeitsvermögen« vgl. Pfeiffer, Arbeitsvermögen.

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wird.158 Er ist der noch jungen Debatte um Dienstleistungsarbeit das, was der jungen Industriesoziologie der Taylorismus war. Die Arbeitssoziologie stellt, abstrakt formuliert, auch im Zeichen der Expansion sozialer Rationalisierungsstrategien weiterhin die Frage, wie sich Herrschaft als Grundlage des Arbeitsprozesses empirisch durchsetzt.

Arbeiterhandeln – Arbeitermacht Im Rahmen der bisher beschriebenen Arbeiten ist die Rolle des Handelns also recht einseitig gewichtet. Herrschaft wird mit Kontrollstrategien identifiziert und damit als Grundlage des Arbeitsprozesses im Handeln des Managements verortet.159 Gerade wenn im Zeichen der Expansion sozialer Rationalisierungsstrategien wie der verantwortlichen Autonomie von einem Wachstum der Freiheitsspielräume der Beschäftigten ausgegangen wird, ist allerdings vollkommen unklar, wie diese Kontrollform wirken soll, ohne dass das selbstinduzierte Handeln der abhängig Beschäftigten dabei eine Schlüsselrolle einnimmt. Abstrakter formuliert, stellt sich hier ein weiteres Mal die Frage nach der Macht der Beherrschten bei der Umsetzung von Herrschaftsmechanismen. Mit dem Ende des Technikdeterminismus in der arbeitssoziologischen Herrschaftsforschung treten zunehmend Strategien sozialer Rationalisierung in den Blick, die mehr (Re-)Aktionsspielräume für die Herrschaftsunterworfenen bieten. Das Verhältnis des Handelns des Managements einerseits und der Beschäftigten andererseits muss analytisch neu justiert werden. Ein Autor, der sich im Rahmen der Labour Process Debate früh darum bemüht hat, dieses Ungleichgewicht zwischen dem Management- und dem Beschäftigtenhandeln zu beheben, ist Richard Edwards. Sein Buch »Herrschaft im modernen Produktionsprozess«, im Original von 1979, stellt eine wichtige empirische und theoretische Erweiterung der Diskussion im Anschluss an Braverman dar. Der Wandel betrieblicher Kontrollstrukturen kann für Edwards nicht unabhängig von der zentralen Rolle beschrieben werden, die

158 Marrs, Arbeit unter Marktdruck. 159 Vgl. Giddens, »Power, the Dialectic of Control and Class Structuration«, S. 40 ff.

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der Widerstand der Arbeiter in diesem Prozess spielt. »Dienst nach Vorschrift«, Trödelei oder Akte der Sabotage des Produktionsprozesses160 sind für ihn Kennzeichen aktiver arbeiterlicher Resilienz, auf die das Management reagieren muss. Kontrollstrategien und Widerstandsformen entwickeln sich also in wechselseitiger Abhängigkeit. So wird in der Analyse der grundlegende Konflikt zwischen Arbeiter und Management »veralltäglicht«. Er zeigt sich »effektiv in einer Stunde oder [der] während eines Tages geleisteten Menge an Arbeit«.161 Damit gerät auch die handlungstheoretische Konstitution einer spezifischen Herrschaftsordnung als Reaktionskette von Zwang und Widerstand in den Blick. Auf Basis dieses Verständnisses der betrieblichen Beziehungen beschreibt Edwards eine historische Entwicklung betrieblicher Kontrollstrategien: Bis Ende des 19. Jahrhunderts waren »Personalgesellschaften« typisch für die Organisation der Arbeit.162 Betriebe von überschaubarer Größe waren nach patriarchalem Modell aufgebaut. Persönliche Beziehung zu und direkte Überwachung durch den Unternehmer sowie dessen mögliche Vorbildfunktion gewährleisteten die Gefolgschaft der Arbeiter. So schreibt Edwards: »Das entscheidende Merkmal war […], dass die Personalgesellschaft so klein war, dass alle […] irgendeine Form von persönlicher Beziehung zum Kapitalisten besaßen.«163 Diese Organisationsform fand ihr Ende mit dem Aufkommen tayloristisch strukturierter Großindustrie. Hierarchische Staffelung und damit eine zunehmende Entfernung des eigentlichen Unternehmers vom Produktionsprozess sowie dessen Vertretung durch Mittelsmänner (Manager, Vorgesetzte) und die zunehmende Technisierung der Kontrolle – paradigmatisch etwa durch den steten Rhythmus des Fließbandes – ersetzten die persönlichen Beziehungen zum Unternehmer. Edwards bringt diese neuen Formen der Kontrolle in zwei Haupttypen auf den Begriff: »»technische Kontrolle«, die in die stoffliche Struktur der gesamtbetrieblichen Produktion integriert ist, und »bürokratische Kontrolle«, die in die soziale und organisatorische Struktur des

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Vgl. ebenda, S. 24. Ebenda, S. 25. Ebenda, S. 34. Ebenda, S. 36.

Arbeitsprozesses integriert ist«.164 Uns treten auch hier wieder die voneinander idealtypisch geschiedenen Bereiche der Arbeiter und der Angestellten entgegen: Für Erstere ist Herrschaft durch Technik vermittelt, für Letztere durch Bürokratie. Nach Edwards existierten im Stadium des Taylorismus allerdings durchaus auch weiter einfache Kontrollformen, wie klare Befehlsketten, direkte Anweisungen, klare Arbeitsvorgaben und direkte persönliche Kontrolle durch Vorgesetzte. Diese stießen im Zuge des Wandels des Arbeitsprozesses aber zunehmend an Grenzen und zeitigten auch negative Folgen, wie Edwards schreibt: »Diese Waffen der hierarchischen Kontrolle waren zwar überaus abschreckend, aber da es sich um rein negative Sanktionen handelte […], machte diese Form der nackten und deutlich sichtbaren Machtanwendung den Arbeitern ihre niederdrückende Situation erst richtig bewusst und erzeugte spontanen Widerstand.«165 Die Antwort lag in Kontrollstrategien, wie sie bereits Braverman über die Dynamik des Taylorismus beschrieben hatte. Auch Edwards hält damit an der grundsätzlichen, von Braverman beschriebenen Entwicklungstendenz fest. Er versteht diese in idealtypischer Manier als Kontrastfolien für die jeweilige Beschreibung konkreter Arbeitsbeziehungen und hält fest, dass auch vor der Hintergrundfolie des Taylorismus verschiedenste Kontrollstrategien und -methoden fortbestehen und koexistieren können.166 Arbeitsfelder, in denen solch ältere Kontrollformen dominieren, bezeichnet Edwards als »Peripherie«. Er hält fest: »Die Peripherie zahlt überdies generell niedrige Löhne, bietet einen ziemlich dürftigen Arbeitsschutz und weist eine hohe Fluktuation der Arbeitskräfte auf.«167

Handeln unterhalb des Kontrollradars? Edwards wird in der wissenschaftlichen Debatte, ebenso wie Andrew Friedman, der zweiten Welle der Labour Process Debate zugerechnet. Er steht für eine stärker handlungs- und subjekttheoretisch orientierte Abkehr vom, noch bei Braverman dominierenden, struk-

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Marrs, »Herrschaft und Kontrolle in der Arbeit«, S. 334. Edwards, Herrschaft im modernen Produktionsprozess, S. 61. Ebenda, S. 31. Ebenda, S. 45.

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tur- und subsumtionstheoretischen Ansatz.168 Einen entscheidenden Schritt weiter geht in diesem Sinne noch Michael Burawoy in seinem Buch »Manufacturing Consent«. Burawoy schließt an Edwards Betonung des alltäglichen Widerstandes der Arbeiter an. Er zeigt zugleich, dass Autonomie im Bereich alltäglichen Handelns auch unter tayloristischen Produktionsbedingungen existiert. Burawoys »Manufacturing Consent« erschien im Original im selben Jahr wie Edwards »Herrschaft im modernen Produktionsprozess«. Das Buch besticht durch hohe empirische Detailschärfe, was nicht zuletzt in dem Umstand begründet liegen dürfte, dass Burawoy zur Datenerhebung selbst fast ein Jahr in einem Chicagoer Motorenwerk im Bereich der Produktion arbeitete. Das Buch stellt eine Radikalisierung der auch bei Edwards formulierten Hinwendung zu einer handlungstheoretischen Perspektive dar. Konsequent ist dementsprechend Burawoys Kritik an Edwards, dieser konzeptionalisiere den Widerstand der Arbeiter gewissermaßen als naturwüchsig. Während bei Braverman die managerialen Kontrollstrategien ohne Zutun der Beherrschten ihre Wirkung entfalteten, gelte bei Edwards Selbiges für deren Widerstand. Beides sei jedoch erklärungsbedürftig.169 In der strukturtheoretischen Schlagrichtung Marx’scher Herrschaftstheorie unterliege beiden »ein objektivistischer Interessenbegriff, der zur Analyse konkreter ›factory regimes‹ untauglich sei«170. Dagegen müsse das Augenmerk auf die aktive Teilnahme der Arbeiter an der Bewältigung des Transformationsproblems gelegt werden. Der Fokus wird also, so könnte man zumindest retrospektiv paraphrasieren, auf den Weber’schen Gedanken der Zustimmung beziehungsweise Einwilligung in Herrschaftsverhältnisse gerichtet. Dieser wird von Burawoy in der Folge handlungstheoretisch verstanden: Statt als menschliche Automaten oder subtile Partisanen agieren die Arbeiter einerseits ganz im Sinne der vom Management gewünschten Leistungsveräußerung und unterlaufen andererseits auf der praktischen Ebene zugleich die betrieblichen Kontrollstrategien. Burawoy wählt zur Beschreibung dieser Dynamik die Metapher des »game« als einen Prozess des »making out«. Gemeint ist 168 Vgl. Lappe, »Kontrolle und Kontrollbewusstsein«; Hofbauer, »Management«, zit. n. Marrs, »Herrschaft und Kontrolle in der Arbeit«, S. 334. 169 Menz, Die Legitimität des Marktregimes, S. 82. 170 Ebenda.

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damit, dass das Engagement der Arbeiter in der konkreten Arbeitssituation einer informellen Logik internen Wettbewerbs folgt, in die das Management nicht direkt, sondern lediglich rahmengebend involviert ist: Die Arbeiter spielen ein Spiel, in dem es darum geht, im Rahmen informeller Begrenzungen der Arbeitsleistung einen maximalen Ertrag der eigenen Arbeitszeit zu erzielen. Gewinner ist, wer am meisten geleistet hat. Kurz gesagt: Das Spiel produziert und reproduziert die Leistungsbereitschaft, bearbeitet also das Transformationsproblem. Damit ist der Fokus, gewissermaßen in phänomenologischem Sinne, auf die konkrete Arbeitssituation gerichtet. Burawoy beschreibt dabei das »Game« als einen Institutionalisierungsprozess spezifischer Praktiken.171 Burawoy ist an einer Theoretisierung und kritischen Einbettung seines Materials interessiert. In der Folge deutet er das Handeln der Arbeiter in Bezug auf die zugrunde liegende Ausgangskonstellation des Kapital-Arbeit-Konfliktes, indem er Antonio Gramsci aufruft: An die Stelle der »despotischen Kontrolle« des frühen Industriekapitalismus172 trete in den modernen Factory Regimes zunehmend eine Form »hegemonialer Kontrolle«.173 Statt auf Repression setze das Management zunehmend auf Überzeugung oder Überredung der Arbeiter, statt Zwang wirke Ideologie. Burawoy öffnet also die Perspektive für einen Blick auf das konkrete Handeln der Akteure im Feld, indem er deren Anteil an der Reproduktion einer Herrschaftsordnung betont. Sowohl Stabilisierungs- als auch Transformationseffekte des Handelns in Bezug auf betriebliche Ordnungsmechanismen geraten so in den Blick. Zwar verwendet Burawoy, in Anlehnung an Gramsci, den Begriff »hegemonialer Kontrolle«, um den Zusammenhang unternehmerischer Herrschaft

171 Vgl. Marrs, »Herrschaft und Kontrolle in der Arbeit«, S. 335. Auch wenn in

dieser Aussage theoretisch einige Logik steckt, so ist sie doch von einer relativ eindimensionalen Akteurskonzeption gekennzeichnet. Dass Akteure auch in Situationen der Involviertheit zu reflexivem Handeln (Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 55 ff.) und normativer Kritik (Boltanski, Soziologie und Sozialkritik) fähig sind, wird in jüngeren Theoriedebatten immer wieder betont. 172 Direkte Kontrolle bei Friedman, persönliche und technische Kontrolle bei Edwards, Kapitalistenkontrolle bei Braverman. 173 Burawoy, Manufacturing Consent.

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und mikropolitischer Praxis zu verdeutlichen. Hierbei handelt es sich jedoch um eine Interpretation »zweiter Ordnung«, die am konkreten Material formuliert ist und entsprechend anderer Beobachtungen auch anders formuliert werden könnte. Die empirische Rückbindung seiner Aussagen trägt allerdings dazu bei, dass man bei Burawoy wirklich etwas über den konkreten Arbeiter, im Sinne von dessen alltäglicher Praxis und Handlungsorientierungen, lernt. Sein Werk liest sich dabei wie eine praktische Fortsetzung der bekannten Studie »Learning to Labour« von Paul Willis. Zwar ist nicht, wie bei Willis, der Widerstand gegen Strukturen174 zentral, sondern eher Praktiken, die im Sinne unintendierter Nebenfolgen konform mit den Kontrollinteressen des Managements gehen. Aber dem Handeln der Akteure wird ein eigenständiger Wert beigemessen, der sich nicht in theoretischen Präkonzeptionalisierungen erschöpft. Die Reproduktion eines Ordnungszusammenhangs wird aus subtilen, alltäglichen Praktiken rekonstruierbar. Dieser empirisch sensible Rekonstruktionsprozess kann freilich durch Interpretationsversuche wieder eingeholt werden, die nach der Analyse der Praxisformen erfolgen. So verweist Wolfgang Menz zu Recht auf eine im Rahmen des aktuellen Theoriediskurses näherliegende Interpretation, wenn er schreibt, Burawoy formuliere hier bereits einen Gedanken, »der seit Mitte der 1990er Jahre auch in der deutschen Industriesoziologie an Popularität gewinnt und schließlich für die Diskussion um die Subjektivierung von Arbeit zentral wird […], dass nämlich die Erweiterung von Autonomiespielräumen nicht automatisch die Substanz von hierarchischen Kontrollbeziehungen berühren muss, sondern dass vielmehr Herrschaft und Kontrolle sich gerade auch durch Autonomie verwirklichen können.«175 Man mag zu einer solchen Interpretation stehen, wie man möchte. Neigt man ihr nicht sofort zu, sondern lässt die Empirie länger »für sich sprechen«, so gibt Burawoy doch zumindest den Hinweis, die Sinnstrukturen von Arbeitssituationen und die Konstitutionsleistungen der Akteure bezüglich betrieblicher Ordnungsmodalitäten nicht außer Acht zu lassen.

174 In »Learning to Labour« ist der Widerstand gegen die Normen des öffent-

lichen Schulsystems gemeint. 175 Menz, Die Legitimität des Marktregimes, S. 84.

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Braverman, Edwards und Burawoy ist gemeinsam, dass ihre Analysen aus heutiger Sicht historischen Charakter haben, beziehen sie sich doch alle auf den Taylorismus als Makro-Konzept betrieblicher Herrschaft. Schon in der Debatte um die Entproletarisierung, wie sie in der Bundesrepublik geführt wurde, war deutlich geworden, dass im Zeichen der »neuen Produktionskonzepte« Herrschaft im Bereich abhängiger Arbeit ohne tayloristische Kontrollformen funktionieren konnte. Auch die mit Andrew Friedman aufgerufene »verantwortliche Autonomie« als Kontrollstrategie verweist auf neue Formen sozialer Rationalisierung. Sie wird im Rahmen des Wandels von einer maßgeblich industriell organisierten zu einer stark durch Dienstleistungsökonomien geprägten Arbeitswelt immer wichtiger für die Analysen von Arbeit.

Was bleibt von der Labour Process Debate? Betrachtet man die mit Ralf Dahrendorf aufgerufenen Kriterien einer herrschaftsanalytischen Arbeitsforschung, dann gelangt man bezüglich der Labour Process Debate zu einem zwiespältigen Urteil: Sicher konnte sie – ähnlich wie die deutsche Industriesoziologie – ihre gegenwartsdiagnostische Stärke noch aus der quantitativen Bedeutung der Industriearbeit schöpfen. Auch Korrespondenzen betrieblicher Hierarchien mit der Sozialstruktur mögen herstellbar gewesen sein. Die Verbindung zwischen Herrschaft im Bereich der Arbeit und spezifischen Konstitutionen weiterer Lebenszusammenhänge steht allerdings, anders als etwa bei der Studie zum »affluent worker«, nicht im Fokus. Herrschaft im Bereich der Arbeit erschöpft sich der Tendenz nach in betrieblichen Kontrollstrategien. Über die genaue Qualität betrieblicher Herrschaft erfährt man daher hauptsächlich etwas im Sinne der Analyse managerialer Kontrollstrategien. Das Handeln der Beschäftigten ist diesen konzeptionell untergeordnet.176 Dies mag in einem stark technisch regulierten Arbeitsprozess noch plausibel erscheinen. Soziale Rationalisierungsstrategien wie verantwortliche Autonomie, aber auch die interaktive Gestalt vieler Dienstleistungstätigkeiten legen allerdings eine andere Schwerpunktsetzung nahe. Gestiegene Autonomiespielräume im Aushandeln des konkreten Arbeitsprozesses verweisen die soziolo-

176 Burawoy kann hier als Ausnahme von der Regel gelten.

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gische Analyse auf die Eigenständigkeit des Handelns der Unterworfenen für die Konstitution und Reproduktion spezifischer Ordnungszusammenhänge. Im Gegensatz zur klassischen Perspektive der Politischen Ökonomie auf die Sphäre des Arbeitsmarktes als Ort, an dem die Ware Arbeitskraft vom Unternehmer erworben wird, bleibt von der Labour Process Debate vor allem eine Neujustierung der Perspektive: So richtet sich der Fokus in der Arbeits- und Industriesoziologie nun auf den konkreten Arbeitsprozess, den Shopfloor, in dem die Veräußerung tatsächlicher Leistung stattfindet. Damit wird, wie jüngere Arbeiten zu Fragen von Arbeit und Herrschaft nahelegen, zugleich der Markt als zentraler Ort der Analyse von Herrschaft zugunsten der Organisation als entscheidendem Bezugspunkt ausgeklammert. Dies mag mit der historischen Situation zu tun haben, in der Braverman das Transformationsproblem als arbeitssoziologischen Nukleus von Herrschaftsforschung formulierte, ließen sich die Gesellschaften des Westens doch in den 1970er Jahren noch mehrheitlich zu Recht als Industriegesellschaften charakterisieren und waren dementsprechend durch für den Taylorismus charakteristische Großorganisationen gekennzeichnet. Diese Organisationsform gilt den Autoren der Labour Process Debate als der entscheidende Container für Herrschaft in der Arbeitsgesellschaft. In jüngerer Zeit wird im Rahmen der Debatte um neue marktzentrierte Kontrollmodi darauf hingewiesen, dass die betriebliche Organisation auch Schutzfunktionen für die Arbeiter ausübte, indem sie diese vom Markt abschirmte.

Vom Markt zur Organisation und zurück Die bundesrepublikanische Debatte um Arbeit und Herrschaft war, ebenso wie später die Labour Process Debate, lange Zeit durch eine Orientierung an den Folgen technischen Wandels gekennzeichnet. Im Anschluss an die Labour Process Debate wurden Fragen betrieblicher Kontrolle zunehmend im Sinne Bravermans Reformulierung des Transformationsproblems gestellt.

Drei Anschlüsse an die Labour Process Debate Kira Marrs führt in einem Überblicksartikel, auf den ich mich im Folgenden maßgeblich beziehe, diese Traditionen zusammen, indem sie einen Dreischritt der Entwicklung der Debatte um betriebliche 106

Herrschaft im Anschluss an das Transformationsproblem formuliert.177 Die erste Phase sieht sie durch eine Orientierung am Taylorismus als entscheidendem Paradigma gekennzeichnet. Diese Debatte zeichnet sich in der Bundesrepublik allerdings durch eine gewisse Unschärfe aus.178 Taylorismus wird mal als »Sammelbegriff für betriebliche Rationalisierungsmaßnahmen«179, mal als »Synonym für extreme Arbeitsteilung«180 gefasst. Die Industriesoziologie war also, sofern man dies so pauschalisierend formulieren kann, durch einen eher weiten Taylorismusbegriff geprägt, der, wie die vorangegangenen Abschnitte verdeutlicht haben, auch zur Kennzeichnung von Rationalisierungsprozessen in der Büroarbeit genutzt wurde. In diesem Angestelltenbereich wurde eine solche Taylorisierungshypothese allerdings zunehmend widerlegt,181 was auch die Popularität der Friedman’schen Begriffsbildung der »verantwortlichen Autonomie« in Bezug auf Dienstleistungsarbeit teilweise erklärt. Auch die zweite Phase der Debatte um Kontrolle und Herrschaft in der Arbeits- und Industriesoziologie trägt dieser Entwicklung Rechnung. Sie ist mit den bereits besprochenen neuen Produktionskonzepten, wie sie im Anschluss an Kern/Schumann an Popularität gewannen, aufs Engste verknüpft, entwickelte sich aber auch maßgeblich im Rahmen der Debatte um das System der »Lean Production«. Auch diese Diskussion ist durch eine gewisse Unschärfe gekennzeichnet, kann aber doch in zentralen Begriffen und Konzepten summiert werden.182 War der Taylorismus noch durch eine Zentralisierung der produktiven Abläufe, klare Hierarchien, die Trennung von Handund Kopfarbeit sowie technische Kontrolle gekennzeichnet, so treten im Rahmen der neuen Produktions- beziehungsweise neuen Manage-

177 Marrs, »Herrschaft und Kontrolle in der Arbeit«. 178 Ebenda, S. 337. 179 Kieser, »Management und Taylorismus«, zit. n. Marrs, »Herrschaft und Kontrolle in der Arbeit«, S. 337. 180 Manske, »Ende oder Wandel des Taylorismus?«, zit. n. Marrs, »Herrschaft und Kontrolle in der Arbeit«, S. 337. 181 Hartmann, Rationalisierung der Verwaltungsarbeit; ders., Rationalisierung im

Widerspruch; ders., »Abschied vom Taylorismus«; Baethge/Oberbeck, Zukunft der Angestellten; Berger/Offe, »Die Zukunft des Arbeitsmarktes«, zit. n. Marrs, »Herrschaft und Kontrolle in der Arbeit«. 182 Marrs, »Herrschaft und Kontrolle in der Arbeit«, S. 340 f.

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mentkonzepte zunehmend die Dezentralisierung betrieblicher Organisationsabläufe, ein sukzessiver Hierarchieabbau, gestiegene Partizipationschancen der Arbeitenden sowie Autonomiegewinne der Beschäftigten bezüglich der Organisation ihrer Arbeit in den Vordergrund.183 Auf der praktischen Ebene bedeutet dies etwa eine Ausweitung von Formen der Gruppenarbeit in einzelnen betrieblichen Teilbereichen und eine stärkere Betonung von Unternehmenskultur184 sowie vermeintlich stärkere Einflussmöglichkeiten der Arbeitnehmer auf die Gestaltung der Arbeit.185 Diese Ausführungen zur zweiten Welle genügen an dieser Stelle, auch wenn damit der tatsächlichen Differenzierung der Debatte um die neuen Produktions- beziehungsweise Managementkonzepte kaum Rechnung getragen wird. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit steht der Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit im Fokus, weswegen vor allem Arbeiten, die sich nicht nur auf den Bereich der industriellen Produktion und ihrer Verwaltung beziehen, in den Fokus rücken sollen. Die Debatte um die neuen Managementkonzepte, dies gilt es zu betonen, ist in diesem Zusammenhang deswegen wichtig, weil sie den Blick auf Autonomiegewinne der Subjekte lenkt, die mit erweiterten Handlungsspielräumen einhergehen, wie sie eben auch im interaktiven Zuschnitt einfacher Dienstleistungsarbeit vermutet werden können. Dies bedeutet auch, dass die Rolle der Arbeit für die Konstitution des Subjekts, wie sie im Rahmen der Labour Process Debate in den Hintergrund getreten war, wieder als neue Frage auf die Agenda tritt. Die Bedeutung der Subjektivität dürfte sich im Zuge neuer Steuerungskonzepte von Arbeit gewandelt haben. Denn der Fokus des Managements hat sich von der Leistungsverausgabung zum Erhalt der Leistungsbereitschaft gewandelt. Er zielt weniger auf die direkte Organisation der Arbeit und stärker auf die Or-

183 Ebenda. 184 Vgl. Wolf, »Rationalisierung und Partizipation«; Deutschmann, »Reflexive

Verwissenschaftlichung«; Breisig, Gruppenarbeit und ihre Regelung durch Betriebsvereinbarungen; alle zit. n. Marrs, »Herrschaft und Kontrolle in der Arbeit«, S. 340. 185 Bahnmüller, »Kontrolle ist gut«; Dörre/Neubert/Wolf, »›New Deal‹ im Betrieb?«; Moldaschl/Schutz-Wild, »Einführung. Arbeitsorientierte Rationalisierung«; alle zit. n. Marrs, »Herrschaft und Kontrolle in der Arbeit«, S. 340.

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ganisationskapazitäten der Person selbst.186 Autonomie wird gezielt ermöglicht, sei es durch spezifische Arbeitszeitregelungen187 oder in Form konkreter Gestaltungsspielräume im Arbeitsprozess im Zuge von Steuerungskonzepten verantwortlicher Autonomie. In Bezug auf die empirische Frage nach neuen Regulierungsweisen gilt es allerdings, zunächst den dritten Schritt der bundesrepublikanischen Debatte im Anschluss an die Labour Process Debate zu benennen. Seit den frühen 2000er Jahren ist von einer Ausweitung sogenannter marktzentrierter Kontrollstrategien und damit einhergehend von Formen indirekter Steuerung die Rede.188 Die Hinwendung zum Konzept des Marktes als entscheidendem Rationalisierungsfaktor baut dabei auf der Diagnose von Rationalisierungsstrategien auf, die nach einer Logik der Dezentralisierung funktionieren.189 Faust u.a.190 haben hier zwischen operativer und strategischer Dezentralisierung unterschieden. Operative Dezentralisierung dient der Optimierung betriebsinterner Abläufe: Zuständigkeiten und Entscheidungskompetenzen werden in der Hierarchie »nach unten« verlagert, teilautonome Gruppenarbeit ausgebaut oder Fertigungsinseln gebildet, um nur einige praktische Maßnahmen zu nennen.191 Strategische Dezentralisierung überschreitet dagegen die Betriebsgrenzen etwa in Form der Ausgliederung einzelner betrieblicher Einheiten oder der Auftragsvergabe ehemals organisationsinterner Aufgaben an Dritte.192

186 Malsch, »Neue Produktionskonzepte«, S. 67, nach Marrs, »Herrschaft und Kontrolle in der Arbeit«, S. 342. 187 Kratzer, »Von der Stechuhr zur Vertrauensarbeitszeit?«. 188 Vgl. Sauer, »Indirekte Steuerung«; Marrs, »Herrschaft und Kontrolle in der Arbeit«, S. 343 ff.; Dörre/Röttger, Das neue Marktregime; Peters/Sauer, »Indi-

189

190 191 192

rekte Steuerung. Eine neue Herrschaftsform«; Kratzer, »Vermarktlichung und Individualisierung«; Marrs, Arbeit unter Marktdruck; Menz, Die Legitimität des Marktregimes; Sauer, »Indirekte Steuerung«. Im Sinne der Dreiteilung der Debatte um Herrschaft und Kontrolle, wie sie Kira Marrs formuliert hat, sind die Dezentralisierungsbefunde an der Grenze der zweiten zur dritten Welle anzusiedeln. Faust u.a., Dezentralisierung von Unternehmen. Behrens/Kädtler, »Betriebliche Restrukturierung«, S. 78. Ebenda. Zu diesem Debattenstrang gehören auch die in Bezug auf die Angestellten bereits erwähnte Arbeit von Baethge/Oberbeck, (Zukunft der Angestellten) zur »systemischen Rationalisierung«, Arbeiten zum »neuen Rationa-

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Der Begriff der Vermarktlichung schließt direkt an diese Dezentralisierungsbefunde an, da etwa im Rahmen strategischer Rationalisierung marktähnliche Konkurrenzsituationen zwischen betriebsinternen und betriebsexternen Einheiten erzeugt werden können, in anderen Worten: da Marktdruck in den Betrieben durch organisatorische Entscheidungen produziert wird. Die analytische Ausrichtung auf den Markt als Regulationsinstanz von Arbeit beansprucht Relevanz auf ganz unterschiedlichen Ebenen. So wird die neue Dominanz des Marktes etwa im Rahmen regulationstheoretischer Ansätze als »neues Produktionsmodell« per se verstanden, das durch »Feldzwang« sämtliche Bereiche des Arbeitsmarktes sowie durch ambivalente Formen der Autonomisierung die Arbeitssubjekte selbst zunehmend kolonialisiere.193 Von dieser raumgreifenden Konzeption lässt sich eine abgespecktere Version der Vermarktlichungsthese unterscheiden. Hier steht der Begriff zunächst für Formen der indirekten Steuerung, also für Kontrollstrategien in betrieblichen Organisationen.194 Auf dieses zweite Verständnis des Begriffs soll hier zunächst das Augenmerk gerichtet werden, da es momentan um die konkrete Gestalt betrieblicher Herrschaft geht. Welche Phänomene sind also mit Vermarktlichung und indirekter Steuerung bezeichnet?

Vermarktlichung – eine Keule für alle? Zunächst ist festzuhalten, dass der markzentrierte Kontrollmodus vor dem Hintergrund der sukzessiven Auflösung des fordistischen Produktionsregimes verhandelt wird. Im Rahmen der Labour Process Debate waren es die konkreten »factory regimes«, die die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich zogen. Hier wurde der Trans-

lisierungstyp« von Altmann, Sauer und anderen (Altmann/Sauer, Systemische Rationalisierung; Sauer u.a., »Restrukturierung industrieller Produktion«) sowie später die unter anderem bei Minssen geführte Debatte um die Entgrenzung von Arbeit (Minssen, Begrenzte Entgrenzung; Behrens/Kädtler, »Betriebliche Restrukturierung«, S. 79). 193 Vgl. Dörre/Röttger, Das neue Marktregime; Dörre, »Das Pendel schwingt zurück«; Bechtle/Sauer, »Postfordismus als Inkubationszeit«. 194 Vgl. Marrs, Arbeit unter Machtdruck; Sauer, »Indirekte Steuerung«; Glißmann/Peters, Mehr Druck durch mehr Freiheit.

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formationprozess an der Schnittstelle zwischen Arbeitsmarkt195 und Unternehmenswertschöpfung, die auf der konkreten Veräußerung der eingekauften Arbeitskraft basiert, vollzogen. Diese Rolle der Organisation, so lauten die empirischen Beobachtungen von Teilen der Arbeitsforschung in jüngerer Zeit, hat sich entscheidend gewandelt. Zu den neuen Produktions- und Managementkonzepten, wie sie in den 1990er Jahren die Debattenlandschaft dominierten, kommt nun ein zusätzliches Moment der Ausübung von Herrschaft hinzu. Interne Prozesse in Betrieben werden nicht mehr nach Konzepten rationalisierter, aber arbeitsteilig kooperiender Zusammenhänge aufgebaut, sondern nach dem Bild von Konkurrenzinseln. Der Markt als Instanz ungezügelten Wettbewerbs wird über vielerlei unterschiedliche Managementinstrumente in die Organisationen hineingeholt. Modelle der Arbeitszeitflexibilisierung196 in Form von Gleitzeit- oder Vertrauensarbeitszeitregelungen werden von den Unternehmen vor allem im Bereich hoch qualifizierter Arbeit als Autonomieanreize zunehmend angeboten. Hieraus ergeben sich Entgrenzungsprozesse von Arbeit, die jetzt nicht mehr abgeschottet hinter Fabrik- oder Bürowänden stattfindet, und privaten Lebensbereichen, die in ihrer konkreten Gestaltung mehr und mehr mit der Sphäre der Arbeit verschmelzen. Die Grenzen werden durchlässig, die geleistete Arbeit dadurch nicht weniger. So entpuppen sich, der Debatte folgend, Autonomiegewinne, die doch eigentlich den Abschied vom rigiden Takt der Stechuhr bedeuten sollten, zunehmend als Wegbereiter gestiegener Selbstdisziplinierung. Statt echte Autonomie versprechen derartige Regelungen »mehr Druck durch mehr Freiheit«197. Ähnliches gilt für den schon im Rahmen der neuen Managementkonzepte thematisierten Anstieg des Einsatzes von Zielvereinbarungen als Steuerungsinstrument. Anstatt der Regulierung der konkreten Verfahren des Arbeitsprozesses, werden tendenziell eher die Ziele der Arbeit »von oben« bestimmt. Die konkrete Ausgestaltung des Prozesses der Zielerreichung ist den Arbeitenden selbst überlassen. Doch auch diese Autonomie wird als ambivalent bis negativ be-

195 Also der vertraglich erworbenen Arbeitskraft. 196 Vgl. Kratzer, »Von der Stechuhr zur Vertrauensarbeitszeit?«. 197 Glißmann/Peters, Mehr Druck durch mehr Freiheit.

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schrieben, geht damit doch eine Verlagerung von Verantwortung einher. Was ehemals der Unternehmer voll unter Kontrolle hatte, wofür er also auch verantwortlich war, ist nun den einzelnen Arbeitnehmern übertragen. Damit tragen sie – hierin liegt die begriffliche Kopplung an die Debatte – tendenziell das Marktrisiko, das eigentlich dem Unternehmer zukommt. Abhängig Beschäftigte teilen zusehends mehr Eigenschaften mit Selbstständigen.198 Die jeweiligen Kontrollinstrumente sind dabei nicht auf den Bereich hoch qualifizierter Arbeit beschränkt. Kira Marrs verweist beispielsweise darauf, dass Zielvereinbarungen beziehungsweise Fallpauschalen im Rahmen solch divergenter Bereiche wie der Rationalisierung von IT-Arbeit, aber auch pflegerischer Tätigkeiten im Krankenhausalltag eine Rolle spielen.199 Eine Verschärfung von Vermarktlichungsdynamiken bringen in anderen Kontexten noch Instrumente erfolgsorientierten Entgeldes mit sich. All diese Instrumente sorgen unter dem Deckmantel vermeintlicher Autonomiegewinne für eine Verschärfung von Konkurrenzsituationen und damit für eine Steigerung des Leistungsdrucks. Die Arbeitnehmer sind den Marktkräften, vor denen sie die Organisation einst schützte, zunehmend ungefiltert ausgeliefert. Diese Situation ist freilich nicht unbedingt objektiv-strukturell zu verstehen. Mag der Arbeitsmarkt eine objektive Kategorie der Analyse moderner Arbeitsgesellschaften sein, deren Existenz man kaum leugnen kann, so ist der Typ Markt, der im Rahmen der Debatte um Vermarktlichung als betriebliche Herrschaftsstrategie beschrieben wird, häufig ein durch die Unternehmen selbst diskursiv erzeugter beziehungsweise über Maßnahmen operativer oder strategischer Dezentralisierung erschaffener Markt. Dies gilt etwa dann, wenn durch Auslagerungs- und Restrukturierungsmaßnahmen in Unternehmen Konkurrenzsituationen zwischen einzelnen Unternehmensteilen geschaffen werden, die vorher so nicht existierten. Der reale Arbeitsmarkt bleibt im Risiko des Überflüssigwerdens durch Arbeitslosigkeit dennoch eine durchaus präsente Drohung. Ebenso formulieren die Finanzmärkte, an denen sich häufig die Unternehmensstrategien orientieren, unhintergehbare Imperative erfolgrei-

198 Peters, »Die neue Autonomie«. 199 Marrs, Arbeit unter Marktdruck.

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chen unternehmerischen Handelns. Hier liegt, wiederum der Debatte folgend, ein besonders perfides Moment dieses neuen Typus von Herrschaft. Denn Herrschaft wird zunehmend »unsichtbar«200 und anonym, weil sich selbst der Arbeitgeber auf die anonymen Kräfte des Marktes als Legitimationsinstanz berufen kann. Das »Marktregime«201 schafft damit seine eigene, kaum hinterfragbare Legitimationsgrundlage, die im Gewand unhintergehbarer Imperative marktförmigen Handelns daherkommt. Der einzelne Arbeitnehmer sieht sich nun in ähnlicher Weise dem Markt gegenübergestellt wie klassischerweise Unternehmer beziehungsweise Selbstständige. Damit verliert eine altgediente Unterscheidung, die in der Debatte um betrieblicher Herrschaft in der Tradition der Labour Process Debate, aber auch in der bundesrepublikanischen Diskussion entscheidend war, an Bedeutung: Innerhalb der Labour Process Debate wurden Markt und Organisation konzeptionell als zwei unterschiedliche Welten behandelt, von denen vor allem letztere herrschaftsrelevant war, weil innerhalb der Organisation die jeweiligen Kontrollstrategien diagnostiziert wurden. Damit war die Organisation aber zugleich eine Art Schutzraum vor den ungezügelten Kräften des Marktes. Schließlich trugen die Arbeiter nur mittelbar das Marktrisiko des Unternehmers. Nicht nur die Arbeitsverträge, die tarifliche Sicherung spezifischer Anrechte und ein sukzessiver Ausbau rechtlicher Beteiligungsansprüche im betrieblichen Alltag schützten sie vor den direkten Konsequenzen des Drucks des Arbeitsmarktes. Wie im Rahmen der Debatte um den marktzentrierten Kontrollmodus deutlich wird, müsste auch die konkrete Herrschaft im Arbeitsprozess als Teil dieser verflossenen Schutzfunktion verstanden werden. Erinnern wir uns daran, dass betriebliche Herrschaft lange Zeit vornehmlich als technische Kontrolle verstanden wurde, dann wird deutlich, dass diese, dem Transformationsproblem folgend, als funktional und notwendig gefasst wurde. Noch im durchrationalisierten Industriebetrieb zeigte sich also eine Form patriachaler Sorge, da die Arbeiter durch Herrschaft vor den ungezügelten Marktkräften geschützt waren – freilich um

200 Bonß/Lau, »Zum Strukturwandel von Macht und Herrschaft in der Moderne«, S. 10. 201 Menz, Legitimität des Marktregimes.

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den Preis der Einschränkung ihrer Handlungsautonomie, die auf ungezügelten Märkten möglicherweise stärker ausgeprägt wäre. Im Fall des marktzentrierten Kontrollmodus kehrt in veränderter Form wieder, was vermeintlich schon immer da war. Mit Marx bildet die Marktsituation, in der der Arbeiter als Anbieter seiner eigenen Arbeitskraft auftritt und damit den Marktgesetzten schutzlos ausgeliefert ist, die Basis einer Herrschaft von Produktionsmittelbesitzern über Arbeiter. In der Phase des Fordismus, die im Rahmen der besprochenen Konzepte nur als eine »unnatürlich« regulierte Übergangsphase gelten kann, war zwischen diese duale Beziehung die Instanz der Organisation getreten. Deren Köpfe haben nun erkannt, so könnte man paraphrasieren, dass sie zugunsten klassischer Marktkräfte zurücktreten beziehungsweise sich diese zu Nutzen machen können. Wenig verwunderlich ist es folglich, dass die Herrschaft des Marktes als branchenübergreifendes Phänomen beschrieben wird, stellt es doch nichts weniger als die Rückkehr der Marx’schen Ursprungskonstellation dar. Herrschaft als Makrostruktur bildet die Grundlage der Arbeitssituationen und setzt sich nun nicht mehr primär mittels technischer Rationalisierung durch, sondern reduziert den Einfluss der Organisation zugunsten ungezügelter Marktkräfte. Es handelt sich dabei um eine wahrlich generelle Form der Herrschaft, die für den Bereich industrieller Arbeit ebenso gilt wie für höher qualifizierte202 und »Low-End«-Dienstleistungsarbeit203. Diese starke Orientierung an Marx hat weitreichende Folgen. Nicht nur besteht die Gefahr, in den nun zentral als marktvermittelt beschriebenen Kontrollmodi bloß zu sehen, was die theoretische Brille nahelegt. Im Rahmen der Omnipräsenz des marktzentrierten Kontrollmodus tritt die konkrete qualitative Gestalt eines jeweiligen Tätigkeitszusammenhangs in den Hintergrund. Auch eine sozialstrukturelle Rückkopplung spezifischer Herrschaftseffekte scheint nicht mehr möglich beziehungsweise nötig. Allbetroffenheit ersetzt Differenzierung selbst auf der betrieblichen Ebene, und dies obwohl sozial ausgerichtete Rationalisierungsstrategien, wie sie den marktzentrierten Kontrollmodus prägen, weit größere Spielräume für Differenz bieten als über Technik vermittelte Herrschaftsformen.

202 Vgl. Boes, »Arbeit in der IT-Industrie«. 203 Vgl. Voss-Dahm, »Zwischen Kunden und Kennziffern«.

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Mit dem Rückgriff auf die Marx’sche Grundkonzeption, die nun von aller fordistischer Verhüllung entkleidet auftritt, kommt so auch die Frage strukturorientierter Erklärungsmodelle mit besonderer Prägnanz zurück auf die Tagesordnung. Dieses Problem ist in weiten Teilen der Literatur zwar erkannt, nicht aber in der notwendigen Konsequenz bearbeitet. Zwar wird die Einbindung der Subjektperspektive in die Analyse marktzentrierter Herrschaftsformen gefordert,204 es bleibt jedoch meist bei deren Einbindung. Nun wäre die Mehrheit der existierenden Arbeiten aus der Forschung über neue marktzentrierte Kontrollformen falsch rezipiert, wenn man ihnen unterstellte, die Empirie nach dem Prinzip »Was nicht passt, wird passend gemacht« zu behandeln. Mein Argument ist hier lediglich, dass man sich mit einer bestimmten Perspektive ein gesteigertes Risiko einkauft, empirische Daten vorschnell in bereits existierende theoretische Modelle zu integrieren. Zumindest kriegt man die Qualität bestimmter Phänomene auf diese Weise nicht in Gänze in den Griff. Ein Beispiel: Kira Marrs verschreibt sich in ihrem Buch »Arbeit unter Marktdruck« der empirischen Überprüfung der These, der marktzentrierte Kontrollmodus sei ein branchen- und tätigkeitsübergreifendes Phänomen. Sie findet dabei in einem der zwei von ihr untersuchten Unternehmen, einem Krankenhaus, das Kontrollinstrument der Fallpauschalen, das als eine konkrete Durchsetzungsform des marktzentrierten Herrschaftsmodus verstanden wird. Das Krankenhaus steht unter Privatisierungsdruck und damit vor der Herausforderung, sich auf einem neuen, politisch geschaffenen Markt zu beweisen. Die Fallpauschalen stellen eine Wendung dieser Marktorientierung nach innen dar: Das Pflegepersonal soll sich nun nicht mehr so sehr am Gesundungsverlauf des einzelnen Patienten orientieren, sondern diesen entsprechend eines festgefügten Katalogs in einer bestimmten Zeit abfertigen, um die Liegezeiten zu reduzieren. Dies führt zu erhöhtem Druck auf die Pflegekräfte, da sie ja auch keine kranken Patienten entlassen können. »So weit, so vermarktlicht«, möchte man meinen. Doch stößt Marrs auf das interessante Phänomen, dass von dem Herrschaftsinstrument Fallpauschalen »unterhalb der Stationsleitung […] bei den Pflegekräften relativ wenig angekommen« ist:

204 Vgl. Marrs, »Herrschaft und Kontrolle in der Arbeit«, S. 347 ff.

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»Sie sehen es – zumindest bislang – nicht als ihre Aufgabe an, einen eigenständigen Beitrag zur Gewinnerzielung zu leisten. Eine befragte Pflegekraft einer Intensivstation äußert ganz unverblümt ihre Haltung gegenüber erlösoptimierenden Handlungs- und Verfahrensweisen: Das sei nicht ihr Job, sondern der Job von anderen, sie interessiere sich für ihre Patienten. ›Muss auch sagen, das interessiert mich nicht. Mich interessiert mehr meine Arbeit, mein Patient. Freilich ist das auch noch mit wichtig, aber das ist nicht unsere Aufgabe, sich darum zu kümmern. Das sind andere, die sind damit beauftragt. Und die werden ihren Job doch gut machen, hoffe ich. Was dann vielleicht auch gut ist für meinen Arbeitsplatz.‹«205 Dieses Zitat steht am Ende eines Unterkapitels. Es wird gewissermaßen als »Einbindung« der Subjektperspektive verstanden. Doch was ist über betriebliche Herrschaft gesagt, wenn sich Akteure so »unverblümt« von dieser distanzieren? Wenn sie wissen, dass Kontrollinstrumente eben nur Versuche darstellen, die Arbeit zu kontrollieren, deswegen aber nicht automatisch funktional wirken müssen. Zweifellos sind solche Instrumente herrschaftsrelevant. Wenn Herrschaft aber eine handlungstheoretisch fundierte Kategorie sein soll, dann muss auch die Pflegerin ernstgenommen werden. Es muss gefragt werden, was eine solche Herrschaftsordnung kennzeichnet, die offenbar funktioniert, ohne dass ihre Instrumente wirklich wirken. Man muss fragen, welche Rolle den Kontrollinstrumenten noch zugestanden werden kann, wenn sie so offen als solche erkannt und für die tägliche institutionelle Praxis als irrelevant abgelehnt werden. Edwards mit seinem Fokus auf die Rolle des Arbeiterwiderstandes für die Entwicklung historischer Herrschaftsformationen oder Burawoy mit seiner handlungstheoretischen Wendung der Analyse des Shopfloors geben uns hier den Hinweis, dass es einer theoretischen Folie bedarf, die auch ein solches Handeln, wie es in dem Zitat zum Ausdruck kommt, in Hinsicht auf die Etablierung sozialer Ordnungen fasst. Freilich können derartige Phänomene durch aufwendige Theoriearbeit eingefangen werden. Die immer noch prominenteste Figur hierzu ist die des »falschen Bewusstseins«. Unter dieser Perspektive weiß die betreffende Pflegerin möglicherweise gar nicht, 205 Marrs, Arbeit unter Marktdruck, S. 79.

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dass sie herrschaftskonform handelt. Doch selbst dann wäre es nicht die marktzentrierte Kontrollstrategie, die die Pflegerin fälschlicherweise als realen Sachzwang antizipierte. Es wären vielmehr »weiche« Faktoren, wie ein Ethos der Sorge, die zwar der Optimierung des Arbeitsoutputs dienen können, dennoch aber nicht in den Bereich einer Kommunikation von Marktkräften gehören.

Konzeptionelle Konsequenzen der Vermarktlichungsdebatte Im Sinne der Analyse und des Wandels spezifischer Kontrollinstrumente ist in der Debatte um den marktzentrierten Kontrollmodus vielerlei empirisches Material zusammengetragen worden. Konzeptionell muss allerdings festgehalten werden, dass die Omnipräsenz dieser unter dem Marktparadigma summierten Ansätze nicht nur vorteilhaft in Bezug auf die empirische Reichweite des Herrschaftsbegriffs ist. Denn wie soll ein Herrschaftsmodus sozialstrukturell spezifiziert werden, der so allgemein gehalten ist, dass er sich quer durch die Arbeitswelt in den verschiedensten Bereichen zeigt? Wie sollen Rückschlüsse auf die Korrespondenzen zwischen betrieblicher Herrschaft und spezifischen Modellen der Lebensführung angestellt werden, wenn eine tendenzielle Allbetroffenheit von marktzentrierten Kontrollstrategien postuliert wird? Die Debatte um den marktzentrierten Kontrollmodus liefert hier selbst die Antworten: Versteht man die empirisch vorfindbaren Kontrollstrategien als eben das, was sie offensichtlich sind – nämlich Versuche, Arbeit zu kontrollieren, die nicht unbedingt erfolgreich sein müssen –, dann müssen diese in Beziehung gesetzt werden zu ihrer Interpretation im Handeln der Betroffenen: In den Blick geraten sollte dann die reale Ordnungsbildung in spezifischen Arbeitssituationen, die sich zwischen Kontrollstrategien und den Handlungsorientierungen der Arbeitnehmer entwickeln. Nicht die Kontrollstrategien selbst wären dann das herrschaftssoziologisch zentrale Desiderat der Forschung. Vielmehr träten die spezifischen Übersetzungs- und Verschiebungsprozesse in den Vordergrund, die die Basis der Herausbildung sozialer Ordnungszusammenhänge bilden. Herrschaft könnte dann als Effekt der Auseinandersetzung unterschiedlicher Handlungseinheiten und nicht allein als Grundlage variabler Kontrollstrategien thematisiert werden. Dennoch gilt: Marktzentrierte Kontrollstrategien sind von entscheidender Bedeutung für die konkrete Qualität betrieblicher 117

Herrschaft. Sie können als Formen sozialer Rationalisierung verstanden werden, wenden sie sich doch direkt an die Selbstorganisationskapazitäten des Individuums und werfen daher die Frage der Folgen betrieblicher Herrschaft für weitere Lebensbereiche entlang der Achse der jeweiligen Subjektivität auf, die als Arbeitnehmerrolle nun nicht mehr im Kontext der Organisation kaserniert ist. Die Arbeits- und Industriesoziologie hat auf diesen Umstand im Rahmen der Debatte um die Subjektivierung der Arbeit reagiert.

Das Marktsubjekt Die Debatte um den neuen marktzentrierten Kontrollmodus stellt auf eine im Vergleich zum Fordismus gesteigerte Form der Orientierung der Unternehmen am Markt ab, die in der Folge in Gestalt von Kontrollstrategien in Unternehmen an die Beschäftigten weitergegeben wird. Es wird eine Entgrenzung von Markt und Organisation konstatiert, die als Dezentralisierung Letzterer in Erscheinung tritt. Instrumente betrieblicher Kontrolle setzen dabei scheinbar wesentlich unvermittelter auf die Kräfte des Marktes, als dies in früheren Stadien des Kapitalismus der Fall war. Viele der Phänomene, die unter dem Label der Entgrenzung und Vermarktlichung geführt werden, sind dennoch »nicht so neu«206. Eher können sie konzeptionell als eine empirische Rückkehr zur Marx’schen Ausgangskonstellation verstanden werden, selbstverständlich unter Berücksichtigung des Unterschieds, dass die Vermittlung des Marktes jetzt indirekt über die interne Politik der Unternehmen erfolgt, also gewissermaßen kommunikativ erzeugt oder zumindest transportiert wird.207 Die Frage, die dieses Konzept zunächst offen lässt, ist die der Vermittlung von Kontrollstrategien und Subjekthandeln sowie von betrieblichen Ordnungszusammenhängen und möglichen Konsequenzen für weitere Lebensbereiche. Folgt man der Debatte um die Subjektivierung von Arbeit208, dann leitet die erste der beiden Fragen zur zweiten hin. Denn über die Frage nach

206 Moldaschl/Sauer, »Internalisierung des Marktes«, S. 205. 207 Vgl. ebenda, S. 212. 208 Vgl. Moldaschl/Voß, Subjektivierung von Arbeit.

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den Wirkungen von Kontrollstrategien auf die Subjekte wird auch thematisiert, wie sich in der Folge Herrschaft in Lebensführung übersetzt.209

Internalisierung: Der Markt in dir Eine explizite Brücke zwischen dem marktzentrierten Kontrollmodus und den Subjekten schlagen etwa Moldaschl/Sauer über den Begriff der »Internalisierung«.210 Der Modus betrieblicher Herrschaft wird dabei maßgeblich als »Herrschaft durch Autonomie«211 bestimmt, ist also von erweiterten Autonomiespielräumen für die Beschäftigten gekennzeichnet. Diese führt, zumindest wenn man Marx’sche Prämissen teilt, zu paradoxen Situationen. Denn es stellt sich die Frage, wie es gelingen soll, »die immanenten Differenzen zwischen Verwertungsinteressen und Arbeitskraftinteressen quasi synergetisch aufzuheben, die Unternehmensziele zum Maßstab des 209 Der Wirkungszusammenhang zwischen Arbeit und Lebensführung ist dabei

komplex. Denn es kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass der Arbeitgeber einen direkten Zugriff auf die Subjektivität der Arbeitnehmer hat. Auf eine unmittelbare Einflussnahme auf das private Leben ihrer Angestellten, wie sie etwa Henry Ford mittels seines berühmten Sociological Departments ausübte und wie sie Upton Sinclair in seinem Buch über Ford (The Flivver King) beschrieb, wird heute in der Regel verzichtet. Außerdem bearbeitet die Subjektivierungsdebatte in gewisser Hinsicht die Frage nach dem Legitimitätsglauben der Herrschaftsunterworfenen. In der Debatte finden sich verschiedene Versuche, theoretisch zu operationalisieren, wie Legitimation stattfindet (beispielhaft: Menz, Die Legitimität des Marktregimes). Häufig wird dieser Punkt als die Frage verhandelt, wie die Herrschaft »in« die Subjekte kommt. Internalisierungsthesen, die wohl von Marx inspiriert sind (Moldaschl/Sauer, »Internalisierung des Marktes«), Inkorporierungs- beziehungsweise Habitualisierungsansätze in der Tradition Bourdieus (vgl. Schultheis/ Schulz, Gesellschaft mit begrenzter Haftung; Schultheis/Vogel/Gemperle, Ein halbes Leben), Vorschläge des Anschlusses an Analysen von »Technologien des Selbst« in der Tradition Michel Foucaults (vgl. Moldaschl, »Foucaults Brille«; Bröckling, »Das demokratisierte Panopticum«; Gerst, Von der direkten Kontrolle zur indirekten Steuerung; Menz, Die Legitimität des Marktregimes; ders., »Techniken, welche nutzbringende Individuen produzieren«) sowie die breit angelegte Subjektivierungsdebatte bezeichnen die dominanten Konzeptionalisierungen des Brückenschlags zwischen Arbeit und Subjekt. 210 Moldaschl/Sauer, »Internalisierung des Marktes«. 211 Ebenda; Moldaschl, »Herrschaft durch Autonomie«; vgl. Voß/Pongratz, »Fremdorganisierte Selbstorganisation«.

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Arbeitshandelns und die Ausübung von Herrschaft damit überflüssig zu machen«212. Anders gesagt: Das Transformationsproblem scheint hier auf den ersten Blick von seinem Ende her aufgelöst. Denn die Arbeitnehmer arbeiten offensichtlich, ohne direkt kontrolliert zu werden. Dem Falsifikationsprinzip folgend, müsste man nun über die Modifizierung der unterstellten Prämissen nachdenken. Will man den Ansatz objektiver Interessen von Kapital- und Arbeitsseite allerdings nicht aufgeben, kann eine theoretische Hilfskonstruktion eingeführt werden. Offenbar, so legt der Begriff der Internalisierung nahe, glauben die Arbeitnehmer fälschlicherweise, dass sie die Marktinteressen der Unternehmerseite teilten. Sie haben also deren Ziele internalisiert.213 Die Autoren der Internalisierungsthese verweisen explizit darauf, dass diese als Idealtyp zu verstehen sei, dessen Realisierung notwendig unvollständig bleibe.214 Denken wir aber an die von Kira Marrs zitierte Pflegekraft zurück, wird auch die Konstruktion als Idealtyp problematisch, bedarf mindestens einer klaren Präzisierung. Nehmen wir an, diese Pflegekraft sei, wie die Autorin nahelegt, exemplarisch für einen bestimmte Typus von Arbeitnehmern unter den Bedingungen vermarktlichter Arbeitsorganisation. Müssten dann nicht, der Internalisierungsthese folgend, Logiken des Marktes aktiv in ihrem Narrativ transportiert sein?215 Die Pflegekraft verwehrt sich ja gerade des Vermarktlichungsnarrativs, das ihr vonseiten der Organisation entgegengebracht wird. Dieses, so ihre Aussage, hat keine Auswirkungen auf die effektive Gestaltung ihrer Arbeit, also auch

212 Moldaschl/Sauer, »Internalisierung des Marktes«, S. 14. 213 Die Autoren verweisen dabei auf die konzeptionelle und inhaltliche Nähe

der Internalisierungsthese zu Klaus Türks Begriff der »ideellen Subsumtion« (Türk, Qualifikation und Compliance) sowie auf eine psychologisierte Lesart des Theorems von Rosa Luxemburg (Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals) der »inneren Landnahme« (Moldaschl, »Internalisierung des Marktes«). 214 Ebenda, S. 214 f. 215 Moldaschl spricht etwa von Internalisierung als Prozess, in dem »der (noch) nicht nach ökonomisch-rationalen Kalkülen funktionierende ›traditionelle Sektor‹ der Subjektivität modernisiert« (ders., »Internalisierung des Marktes«, S. 233) werde. Es wäre schwer nachvollziehbar, wie diese »Modernisierung« von Subjektivität vonstattengehen sollte, ohne sich in den Narrativen der Betroffenen wiederzufinden.

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keine Handlungsrelevanz. Anders gesagt: Glauben wir der Pflegerin, dann erschöpft sich der Ordnungsmechanismus der Arbeitssituation nicht annähernd in der subjektiven Übernahme etwaiger Kontrollstrategien. Wäre Internalisierung hier also als eine objektive Kategorie zu verstehen, die sich gar nicht in der Subjektivität oder dem Handeln der Betroffenen wiederfinden müsste? Dies wäre eine seltsame theoretische Sekundärkonstruktion, aber doch eher keine Betonung der eigenständigen Subjektivität der Betroffenen. Das genaue Verständnis von Subjektivität müsste zunächst theoretisch und empirisch geklärt werden. Der Begriff der Internalisierung bezeichnet jedoch zunächst nicht viel mehr als eine theoretische Basisbewegung für die Verbindung von Arbeit und Subjekt. Zwar scheint hier der Subjektbegriff sowie die Verbindung von Subjektivität und Handeln bisweilen unklar, doch ist die Debatte um das Verhältnis von Arbeit und Subjekt im Rahmen marktzentrierter Steuerungskonzepte damit ja erst am Anfang. Auch die Autoren selbst verweisen auf die detailreicher geführte Diskussion um die Subjektivierung von Arbeit, in deren Rahmen sie die Internalisierungsthese verorten. Moldaschl/Sauer verstehen dabei, so scheint es, die Frage der Subjektivierung als Phänomen der ideologischen Übernahme neuer Kontrollstrategien durch die Arbeitnehmer. Waren die Kontrollinstrumente des Taylorismus immer um die Begrenzung und Kontrolle der Subjektivität der Arbeitenden bemüht, so wird diese durch die neuen Kontrollkonzepte gezielt und erfolgreich mobilisiert. Der Prozess ist dabei als wechselseitig zu verstehen: »Die Externalisierung ›nach innen‹, vom Unternehmen auf die Arbeitskraft, muss demnach als Effekt und zugleich als Triebkraft einer Internalisierung des ›Außen‹, des Marktes, begriffen werden.«216 Anders gesagt: Der Markt wirkt, vermittelt über betriebliche Strategien, auf die Subjektivität der Beschäftigten ein. Eine wirkliche Wechselwirkung ist in diesem Sinne schwer zu erkennen. Es überwiegt ein strukturtheoretischer Blick. Zwar wirkt die Subjektivität der Arbeitenden auf die Organisation zurück, sie ist jedoch zuvor durch eine Internalisierung von Marktimperativen gekennzeichnet.

216 Ebenda, S. 217.

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Subjektivierung als Brücke zwischen Arbeit, Gesellschaft und Lebensführung In dieser Konstruktion, es wurde bereits mehrfach erwähnt, scheint das strukturtheoretische Erbe der Marx’schen Theorietradition auf. Die Debatte um das Subjekt im Arbeitsprozess ist freilich weit älter als der marktzentrierte Kontrollmodus und geht, wie in den ersten Absätzen dieses Kapitels beschrieben wurde, herrschaftstheoretisch gesprochen auf Marx oder Weber, also auf Fragen nach dem Bewusstsein beziehungsweise der Lebensführung, zurück.217 Die Renaissance des Subjektinteresses hat ihre Grundlage aber vor allem in den veränderten Bedingungen der Arbeit, knapp formuliert: in den Autonomiegewinnen im Zuge einer qualifikatorischen Aufwertung der Industriearbeit sowie dem Wandel einer primär von Industriearbeit dominierten zu einer stärker durch Dienstleistungsökonomien unterschiedlicher Art geprägten Arbeitswelt. Als ein zentraler Ausgangspunkt der neueren Subjektivierungsdebatte kann Martin Baethges These der normativen Subjektivierung von Arbeit gelten, die er direkt auf einen im Rahmen des Upgrading der Erwerbsarbeit vollzogenen Wandels von Berufsstruktur und Tätigkeiten bezieht.218 Frank Kleemann und Günter Voß schreiben hierzu, Baethge diagnostiziere ein neues »subjektzentriertes Arbeitsverständnis«219 insbesondere jüngerer, gut qualifizierter Arbeitnehmer, die – konträr zum dominanten Modell der instrumentellen Bezugnahme auf Arbeit – zunehmend »subjektive inhaltliche Ansprüche an Erwerbsarbeit herantragen«220. Die normativen Ansprüche der Arbeitnehmer wurzeln als solche in Autonomisierungswünschen, die sich zwar im Bereich der Arbeit auch als Effekt veränderter Kontrollstrategien zeigen, die jedoch nicht unbedingt ihren Ursprung an dieser Stelle haben. Für Baethges Diagnose gilt noch, dass die Freiheitswünsche, die die Arbeitnehmer an ihre Arbeit norma-

217 Vgl. auch Kleemann/Voß, »Arbeit und Subjekt«, S. 417 f. Die verschiedenen

Arbeiten zur aktuellen Subjektivierungsthese sind maßgeblich beeinflusst durch die Tradition der Arbeiterbewusstseinsforschung (der ersten Stunde), der Frauenarbeitsforschung, der Biografieforschung sowie die Schule der Münchner »subjektorientierten Soziologie« seit den 1980er Jahren. 218 Baethge, »Arbeit, Vergesellschaftung und Identität«. 219 Ebenda, S. 17. 220 Kleemann/Voß, »Arbeit und Subjekt«, S. 30 f.

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tiv-subjektiv herantragen, auf der Basis von Thesen eines allgemeinen gesellschaftlichen Wertewandels fußt, auf den die Unternehmen reagieren müssen.221 Im Rahmen der dieser These folgenden Subjektivierungsdebatte gerät allerdings stärker das komplexe Wechselverhältnis der drei Bereiche in den Blick, und damit auch die Frage der Nutzung und letztlich Erzeugung bestimmter Subjektivierungsdynamiken durch die Unternehmen selbst. Dies wird an anderer Stelle als »doppelter Subjektivierungsprozess«222 beschrieben. Diese Perspektive ermöglicht es, die normativen Ansprüche der Akteure als solche wahrzunehmen und nicht unter den Gesichtspunkten »eigentlicher« Interessen lediglich als Effekte von Unternehmensstrategien abzutun. Das Subjekt gerät gewissermaßen als strukturierendes Element von Arbeit in den Blick. In ihrem Überblicksbeitrag haben Kleemann/ Matuschek/Voß223 Subjektivierung von Arbeit daher als »Intensivierung von individuellen, das heißt Subjektivität involvierenden Wechselverhältnissen zwischen Person und Betrieb beziehungsweise betrieblich organisierten Arbeitsprozessen« beschrieben.224 In Bezug auf die Arbeit bleibt dabei gleichzeitig der Fokus auf der »Produktion von Subjektivität« durch Kontrollstrategien wie auch auf den benannten Strukturierungsleistungen und normativen Anforderungen der Akteure. Ein Spagat, der je nach theoretischer Perspektive mal zur einen und mal zur anderen Seite neigt. Zentrales Thema, so resümieren Günter Voß und Frank Kleemann, bleibt jedoch die »Instrumentalisierung von Subjektivität als Produktivkraft«225 – und damit die Grätsche in Richtung der Reaktionen der Subjekte auf betriebliche Veränderungen. Hierzu gehört auch eine Perspektiverweiterung, die spezifische Organisationskulturen als Vehikel des Zugriffs der Arbeitgeber auf die Subjektivität der abhängig Beschäftigten begreift.226 In der mittlerweile sehr breiten Debatte

221 222 223 224 225 226

Moldaschl, »Organisierung und Organisation von Arbeit«, S. 282. Kleemann/Matuschek/Voß, »Subjektivierung von Arbeit«, S. 8. Ebenda. Ebenda, S. 57 f.; Kleemann/Voß, »Arbeit und Subjekt«, S. 434. Ebenda, S. 432. Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie, S. 135 ff. Wie Christoph Deutschmann treffend bemerkt, haben solche Versuche allerdings nur begrenzte Chancen auf Erfolg, da im Rahmen einer funktional hochdifferenzier-

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um die Subjektivierung von Arbeit gibt es aber durchaus auch einige Beiträge, die sich eher in die andere Richtung »strecken«.227 Wenn man nun die Subjektseite genauer unter die Lupe nimmt, dann zeichnen sich einige spezifische Charakteristika der konstatierten neuen Form von Subjektivität ab. Diese bündeln sich zu einem großen Teil im von Günter Voß und Hans Pongratz formulierten Idealtyp des »Arbeitskraftunternehmers«228. Voß/Pongratz konstatieren die sukzessive Ablösung des »verberuflichten Arbeitnehmers«, wie er für den Fordismus typisch gewesen sei, zugunsten des »verbetrieblichten Arbeitskraftunternehmers«. Dessen Verbetrieblichung ist dabei ebenfalls als subjektivierte Form zu verstehen, die von einem konkreten Betrieb tendenziell unabhängig ist. Gemeint ist, in Anschluss an Weber, »kontinuierliches Zweckhandeln bestimmter Art«229. Kern der These ist, dass sich im Arbeitskraftunternehmer eine neue Form der »Ware Arbeitskraft« zeige, die mit den im Rahmen »indirekter Steuerung« beschriebenen betrieblichen Kontrollstrategien korrespondiert. Ihr Ausgangspunkt wird einerseits, ganz im Sinne Baethges, in außerbetrieblichen Faktoren vermutet, wie einem grundsätzlichen Wertewandel, der neuartige Leistungsorientierungen bedingt habe.230 Andererseits nutzen die Unternehmen die neuen Anspruchshorizonte der Beschäftigten im Sinne von Modellen »fremdorganisierter Selbstorga-

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ten Gesellschaft immer noch vielerlei andere Faktoren normativen Einfluss auf die Akteure nehmen, was die Wirkmacht von Organisationskulturen systematisch beschränke. Vgl. etwa Wagner, »Anerkennung und Individualisierung«; dies., »Die Kunst der Grenzziehung«; Jürgens, Arbeits- und Lebenskraft. Außerdem tritt bei jenen Ansätzen, die Subjektivierung vornehmlich als »ökonomische Verwertungsstrategie« (Koppetsch, Das Ethos der Kreativen, S. 58) der Unternehmen thematisieren, ein Grundwiderspruch zutage, der darin besteht, dass »Subjektivierung auf das Vertrauen und die Zustimmung von Beschäftigten angewiesen« (ebenda) bleibt. »Vertrauen kann aber weder befohlen noch angeordnet« oder bezahlt werden (ebenda), weshalb seine normativen Grundlagen nicht von Unternehmen gesteuert werden können. Vgl. Voß/Pongratz, »Der Arbeitskraftunternehmer«; Pongratz/Voß, »Vom Arbeitnehmer zum Arbeitskraftunternehmer«; dies., Arbeitskraftunternehmer; dies., Typisch Arbeitskraftunternehmer?. Vgl. dies., »Vom Arbeitnehmer zum Arbeitskraftunternehmer«, S. 233. Dies., Arbeitskraftunternehmer, S. 148 ff.

nisation«.231 Die Unternehmen setzen nicht mehr auf genaue Detailkontrolle,232 sondern versuchen die Arbeitenden umfassender in Beschlag zu nehmen.233 So soll einerseits deren Kreativität und Innovationskraft, wie sie für postindustrielle Tätigkeitsprofile häufig zentral ist, zur Veräußerung gebracht werden. Andererseits soll sich der Zugriff auf die Arbeitskraft ausweiten, indem ehemals festgefügte Grenzen234 eingerissen werden. Die Hauptmerkmale dieses Konzeptes werden dabei immer wieder im Dreischritt aus SelbstKontrolle, Selbst-Ökonomisierung und Selbst-Rationalisierung beschrieben.235 Selbst-Kontrolle bezeichnet die unter dem Stichwort der indirekten Steuerung bereits behandelte Verlagerung von Verantwortung im Bereich der Arbeit vom Unternehmer auf die Arbeitenden. An die Stelle der Erfüllung fremdgesetzter Anforderungen mit geringen Gestaltungspielräumen für die Ausführenden tritt nun verstärkt die Überwachung der eigenen Leistungserbringung durch die Arbeitenden selbst im Rahmen formal mit der Unternehmensführung vereinbarter Ziele. Bereits in stärkerem Maße auf Verinnerlichung dieser Kontrollstrategien angewiesen ist die sogenannte Selbst-Ökonomisierung. Hier geht es um den Wandel der Grundkonstitution des Akteurs beziehungsweise Trägers der Ware Arbeitskraft, der sich zunehmend in Richtung eines Marktsubjektes entwickelt. Der Arbeitskraftunternehmer ruht sich gewissermaßen nicht mehr auf dem Polster der Organisation aus, sondern wird zu einem aktiven, auch jenseits organisatorischer Logik, strategisch handelnden Akteur. »In Übertragung von subsumtionstheoretischen Idiomen kann dies als Doppelprozess einer erweiterten Produktions- und Marktökonomie von Arbeitskraft verstanden werden«,236 schreiben Pongratz/Voß in direkter Bezugnahme auf Marx. Während der Begriff der Selbst-Kontrolle also noch auf or-

231 Dies., »Fremdorganisierte Selbstorganisation«; dies., »Vom Arbeitnehmer 232 233 234 235 236

zum Arbeitskraftunternehmer«. Etwa über die Stechuhr. Etwa über Zielvereinbarungen und flexible Arbeitszeitpolitik. Arbeitszeiten, Betriebsgrenzen, ortsgebundene Arbeitsplätze, prozessorientiertes Handeln. Vgl. etwa Pongratz/Voß, »Vom Arbeitnehmer zum Arbeitskraftunternehmer«. Ebenda, S. 233.

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ganisatorisch gebundenes Arbeitshandeln bezogen wird, vermittelt der Begriff der Selbst-Ökonomisierung stärker zwischen Markt und Organisation. Ein wenig weiter wird diese Schraube noch im Zeichen der Selbst-Rationalisierung gedreht. »Denn aus einer eher ›naturwüchsigen‹, Erwerbstätigkeit und Rekreation konsequent trennenden Lebensweise wird eine aktiv zweckgerichtete, alle Lebensbereiche umfassende sowie alle individuellen Ressourcen gezielt nutzende systematische Durchgestaltung des gesamten Lebenszusammenhangs, der in neuer Qualität auf den Erwerb ausgerichtet wird.«237 Hier wird die Brücke, die der Begriff des Arbeitskraftunternehmers zwischen Arbeit und Leben beziehungsweise Arbeit und Gesellschaft schlägt, deutlich: Mit ihm ist ein in jedem Lebenszusammenhang strategisch, marktförmig kalkulierendes Individuum angesprochen. Er beschreibt somit eine Art Kolonialisierung aller Lebensbereiche durch die Imperative von Arbeit und Markt.

Konzeptionelle Konsequenzen der Subjektivierungsdebatte An dieser Stelle sind nun Kontextualisierungen der Subjektivierungsthese notwendig. Gerade mit Blick auf die Frage nach einfacher Dienstleistungsarbeit, wie sie in der vorliegenden Arbeit gestellt wird, scheinen Chancen beziehungsweise Risiken von Subjektivierung ungleich verteilt. Die Subjektivierungsdebatte hat sich vornehmlich aus der Erkenntnis entwickelt, dass sich, spätestens seit den frühen 1980er Jahren, weite Teile der Erwerbsarbeit in der bundesrepublikanischen Arbeitswelt in einem Aufwertungsprozess befinden, der unter anderem durch die Erweiterung von Autonomiechancen und gestiegene Eigenverantwortung der Beschäftigten gekennzeichnet ist. Das schon von Kern/Schumann konstatierte Upgrading setzt sich dabei im Rahmen des Ausbaus tertiärer Tätigkeiten scheinbar ungehindert fort.238 Dass der Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit diese allzu schnell geäußerte Vermutung auf

237 Ebenda, S. 233. 238 Martin Baetghe geht für die höherwertigen, vornehmlich akademischen

Dienstleistungsberufe (in Baethges Termini »sekundäre Dienstleistungen«) von einer weiteren Expansion um 3,6 Prozentpunkte bis 2025 aus (Baethge, »Qualifikation, Konzeptentwicklung und Professionalisierung«, S. 448).

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eine harte Probe stellt, ist im Rahmen der Darstellung der Erkenntnisse der Sozialstrukturanalyse bereits hinreichend beschrieben worden. Außerdem gilt es festzuhalten, dass das Ausmaß subjektivierter Arbeitsformen, wie sie auch schon Baethge benannte, in unterschiedlichen Arbeitsmarktsegmenten wohl verschieden ausgeprägt ist. Die Autonomie im Arbeitsprozess, die in der jüngeren Arbeitsforschung als Grundlage etwaiger Subjektivierungstendenzen gilt, wird ja innerhalb der Debatte maßgeblich aus der unternehmerischen Notwendigkeit hergeleitet, einer kreativen, kopflastigen Arbeit mehr Freiraum bieten zu müssen, um sie überhaupt zur Entfaltung zu bringen. Solche kopflastigen Tätigkeiten sind wohl eher im Bereich hoch qualifizierter Arbeitnehmer angesiedelt.239 Im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit wären sie entsprechend weniger stark zu vermuten, auch wenn der möglicherweise interaktive Zuschnitt einfacher Dienste ganz spezifische Fähigkeiten zu autonomem Handeln voraussetzt. Ungeachtet dieser Ad-hoc-Hypothese, sollte ein Kernanspruch des Subjektivierungskonzeptes nicht fallen gelassen werden, nämlich die Frage nach dem komplexen Wechselverhältnis zwischen Arbeit und Leben. Stellt man die begrenzten wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Bereich einfacher Dienste in Rechnung, sollte diese Frage allerdings zunächst stärker praxistheoretisch prononciert werden. Über die materiale Basis etwaiger Subjektivierungsprozesse ist schlicht noch zu wenig bekannt. Bevor also die Frage nach Subjektivierung gestellt werden kann, müssen zunächst tiefenscharfe Tätigkeits- und Arbeitssituationsanalysen erfolgen.240 In einem zweiten Schritt kann wiederum nach den Zusammenhängen von Arbeit und Lebensführung gefragt werden. Eine handlungstheoretische Grundierung bietet die Möglichkeit, anschließend empirisch gesättigte Hypothesen über Fragen der Subjektivierung im Segment einfacher Dienstleistungen zu formulieren. Für die vorliegende Arbeit gilt jedoch, dass schon praxeologisch erschlossene Arbeitsprofile in ihrem 239 Auch Moldaschl als Autor der Internalisierungsthese weist darauf hin, dass in

jenen Arbeitsbereichen, für die er die Internalisierungsbefunde konstatiert, eher hohe Qualifikationsniveaus und auf Autonomie setzende Kontrollstrategien vorherrschen (Moldaschl, »Internalisierung des Marktes«, S. 241). 240 Fragen der Subjektivierung mögen sich anschließen, werden allerdings im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur am Rande eine Rolle spielen.

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Zusammenhang mit Praktiken alltäglicher Lebensführung, dem dritten Kriterium Dahrendorfs, gerecht werden sollten. Dem muss allerdings eine handlungspraktisch aufgeklärte Analyse der Ordnungsmechanismen im Bereich der Arbeit vorangehen.

Strukturationstheoretische Perspektiven in der Organisationsforschung Als besonders sensibel für die Analyse von Handlungspraktiken im betrieblichen Umfeld hat sich die Organisationssoziologie erwiesen. Es könnte dem Versuch, bestimmte Ansätze der Organisationssoziologie für die Analyse von Herrschaft fruchtbar zu machen, eine breite Diskussion der Missverständnisse zwischen Industriesoziologie und Organisationsforschung vorangestellt werden. Im Kern geht es dabei um den Vorwurf an die Organisationssoziologie, sie sei rein funktionalistisch orientiert und könne ihre mikropolitischen Handlungsbeschreibungen nicht jenseits des jeweiligen ganz konkreten Untersuchungsraumes (Betrieb) verallgemeinern, beziehungsweise ihr fehlten die gesellschaftstheoretischen Ambitionen, was eine unkritische Haltung zum Thema der Herrschaft bedinge.241 Die Alternative einer sich grundsätzlich kritisch inszenierenden Industriesoziologie bezahlt aus der Perspektive handlungssensibler Sozialtheorien den Preis für ihre Kritikfähigkeit freilich damit, alles über den Marx’schen Kamm zu scheren.242 Im Sinne der Frage nach Herrschaft müsste man zwar die Organisationssoziologie für ihre Ermangelung eines gesellschaftstheoretisch anschlussfähigen Herrschaftsbegriffs kritisieren, während man der Industriesoziologie letztlich einen zu eindimensional herrschaftstheoretischen Blick auf ihre Empirie vorzuwerfen hätte. Doch diese alte Kontroverse verhindert nicht nur produktive Verbindungen, sie kann auch als konzeptionell überwunden gelten,243 wie anhand ausgewählter Arbeiten in diesem Abschnitt gezeigt werden soll.

241 Türk, »Organisation als Institution«, S. 124. 242 Funder, »Betriebliche Organisation«, S. 514 f. 243 Ebenda.

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Mikropolitik Klar ist: Wenn Fragen, wie sie in der Subjektivierungsdebatte aufgerufen werden, stärker handlungstheoretisch ausgerichtet werden sollen, dann bieten mikropolitisch orientierte Konzepte der Organisationssoziologie244 gute Anschlussmöglichkeiten. Denn mit dem Konzept der Mikropolitik verfügt die Organsationsforschung über einen starken handlungsanalytischen Begriff. Schon in der 1930er und 1940er Jahren entstanden im Gefolge des Human-RelationAnsatzes eine Vielzahl von Studien, die weniger die formale Organisation der Arbeit als vielmehr informelle Kooperationszusammenhänge, Konflikte um soziale Ordnungen und die Etablierung handlungsverbindlicher Normen im betrieblichen Alltag in den Blick nahmen.245 Betriebliche Herrschaftsmechanismen werden hier zum ersten Mal eher als Effekte, denn als Grundlage der Arbeitssituation beschrieben. Auch in der Nachkriegszeit spielte diese Ausrichtung an der konkreten Organisation beziehungsweise dem Betrieb als »soziales Gebilde«246, in dem Kooperation zu bestimmten Zwecken erfolgt, eine entscheidende Rolle. In der bereits im Rahmen der Entproletarisierungsdebatte angesprochenen Marx-Renaissance innerhalb der bundesrepublikanischen Industriesoziologie der 1970er Jahre geriet dieser Fokus zeitweise in den Hintergrund.247 Das die Rationalisierungsforschung dominierende Paradigma der Durchsetzung kapitalistischer Verwertungsinteressen über die innerbetriebliche, im Kern technische Regulierung von Arbeit im Taylorismus machte die handlungstheoretisch orientierten Ansätze der Organisationssoziologie scheinbar überflüssig, da das Geschehen im Betrieb als Sekundäreffekt der kapitalistischen Produktionsweise gefasst wurde. Dennoch wurde der grundsätzliche Ansatz der handlungstheoretischen Orientierung am Betrieb als sozialer Einheit mit eigenen Regeln, wie Maria Funder in einem Überblicksartikel zeigt248, in verschiedener Form reformuliert. Ihr folgend sind hier für die BundesVgl. Crozier/Friedberg, Macht und Organisation. Vgl. Funder, »Betriebliche Organisation«, S. 518. Mayntz, Die soziale Organisation des Industriebetriebs. Funder, »Betriebliche Organisation«, S. 523; auch: Ortmann, Formen der Produktion; Kühl, »Arbeits- und Industriesoziologie«. 248 Funder, »Betriebliche Organisation«. 244 245 246 247

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republik drei entscheidende Konzepte zu nennen:249 das »Konzept der betrieblichen Handlungskonstellation«250, der »betrieblichen Sozialverfassung«251 sowie das der »Sozialordnung«252. Interessant sind im vorliegenden Zusammenhang weniger die Unterschiede der einzelnen Ansätze als vielmehr deren Gemeinsamkeiten. Diese liegen zuallererst in einer analytischen Grundausrichtung: Phänomene in Betrieben, wie etwa Entscheidungen oder die Prozesse der Implementierung neuer Technologien oder Steuerungskonzepte, sind aus dieser Perspektive kontrolltheoretisch nur unzureichend zu erfassen. Macht ist in Organisationen tendenziell weit gestreut. Aus managerial erzeugten Marktzwängen, um nur ein mögliches kontrolltheoretisches Beispiel zu nennen, folgen daher nicht automatisch effektive Entscheidungen. Der Fokus liegt in der Folge auf Vermittlungsprozessen und Übersetzungen betrieblicher Kontrollstrategien in konkretes Handeln der Arbeitenden und dessen Folgen. Die Ergebnisse solcher Vermittlungsprozesse sind, mit Anthony Giddens253 gesprochen, auf der Ebene der Modalitäten angesiedelt. Giddens hält fest, dass Strategien der Verhaltensregulierung254 stets in und durch Handeln interpretiert werden müssen. Der Begriff der Modalitäten fasst dabei die konkrete Ausformung eines Regelwerks, dessen konkrete »Füllung«255. Knapp formuliert lässt sich sagen: Mikropolitisch aufgeklärte Ansätze sind sensibel für die Herausbildung und den Wandel sozialer Ordnungen durch Handeln.256 Damit ist auf einen Herrschaftsbe-

249 Ebenda, S. 525 ff. 250 Weltz/Lullies, »Die Einführung der Textverarbeitung«; dies., »Das Konzept 251 252 253 254 255 256

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der innerbetrieblichen Handlungskonstellation«. Hildebrandt/Seltz, Wandel betrieblicher Sozialverfassung. Kotthoff/Reindl, »Sozialordnung und Interessensvertretung«; Kotthoff, Betriebsräte und Bürgerstatus; ders., ›Call me Barney‹. Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Beispielsweise betriebliche Kontrollstrategien. Auf den Begriff der Modalitäten wird später detailliert eingegangen. Dies gilt beispielsweise für den Begriff der »Sozialverfassung«, der auf die Etablierung von Regeln und Normen in Betrieben, verstanden als handlungstheoretisch rekonstruierbarer Prozess verschiedener Akteure, abstellt. Auch im Falle der »Sozialordnungen« wird auf die Etablierung sozialer Ordnungen als Ergebnis kommunikativer, interaktiver Prozesse zwischen wechselseitig abhängigen Akteuren fokussiert. Damit ist ein wichtiger Punkt angesprochen.

griff verwiesen, den Hermann Kotthoff wie folgt fasst: »Herrschaft wird verstanden als die Praxis der Beziehungsarbeit von konkreten Personen, die sich kennen und wechselseitig um Anerkennung ringen.«257 Radikaler könnte man den Anspruch einer handlungstheoretischen, ja interaktionistischen Fassung betrieblicher Herrschaft kaum bestimmen. Die drei genannten Konzepte wurden eher im Bereich von Kleinund Mittelbetrieben zur Anwendung gebracht, was unter der Perspektive auf Interaktionen konsequent erscheint und gleichzeitig vielversprechend wirkt im Zusammenhang mit den benannten typischen Betriebsstrukturen im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit. Bezogen auf Phänomene betrieblicher Dezentralisierung, wie sie auch im Rahmen der Vermarktlichungsdebatte beschrieben werden, liegt hierin ein Hinweis auf die Aktualisierbarkeit dieser Forschungsperspektiven. Denn anders als der maßgeblich technisch regulierte, tayloristische Großbetrieb entsprechen überschaubare, dezentrale Unternehmenseinheiten möglicherweise stärker dem Bild von Klein- oder Mittelbetrieben.

Organisation und Gesellschaft Gerade auch mit Blick auf Machtprozesse im Betrieb wurden zunehmend wieder mikropolitische Aushandlungsprozesse sozialer Ordnungen in den Blick genommen.258 Damit werden diese Ordnungen tendenziell eher als Effekt, denn als Grundlage des Arbeitsprozesses gedacht. Darin liegt eine hohe Aktualität organisationssoziologischer Forschung begründet, weil im Rahmen sozialer Rationalisierungsstrategien nicht mehr von einer klaren technischen Determination des Arbeitsprozesses ausgegangen werden kann. Dennoch bleibt ein Problem der genannten Ansätze deren gesellschaftstheoretische Anschlussmöglichkeiten, also die Verbindung zwischen der betrieblichen Handlungsebene und der Gesellschaft.259 Kotthoff etwa verweist im Kontext der betrieblichen »SozialordDer Begriff verweist auf die Kategorie der Legitimation sozialer Ordnungen und ist für deren Rekonstruktion besonders nützlich. 257 Kotthoff, Betriebsräte und Bürgerstatus, S. 24, nach Funder, »Betriebliche Organisation«, S. 527. 258 Vgl. Türk, Neuere Entwicklungen in der Organisationsforschung. 259 Vgl. Moldaschl, »Organisierung und Organisation«.

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nungen« darauf, dass diese höchstens Hinweise in Richtung der Unterscheidung grober Typen von Organisationen geben könnten. Eine Verbindung mikropolitischen Handelns mit allgemeiner Gesellschaftsdiagnose scheint einstweilen nur um den Preis der Bezugnahme auf einen großen theoretischen Rahmen möglich zu sein, wie es etwa schon Michael Burawoy in seiner Studie »Manufacturing Consent« getan hat. Die Organisationssoziologie wählt unterschiedliche Wege, um ihren gesellschaftsdiagnostischen Anschluss zu gewährleisten. Sie bemüht sich beispielsweise über den Begriff der »Governance« um eine Perspektivjustierung in Richtung der Zusammenhänge zwischen Organisationen und ihrer Umwelt. Betriebe werden nicht mehr als von ihrer Umwelt abgeschottete Einheiten betrachtet, vielmehr treten die spezifischen wechselseitigen Beeinflussungsverhältnisse in den Vordergrund. Struktur- beziehungsweise Systembedingungen wie die spezifischen Formen gesellschaftlicher Arbeitsteilung, spezifische Arbeitsbedingungen, die Einkommensstruktur, kontrolltheoretische Leitbilder oder spezifische Geschlechterarrangements treten dabei zunehmend in den Vordergrund.260 Unter dem Begriff der Governance liegt der Schwerpunkt dann nicht nur auf den Koordinationsmechanismen innerbetrieblicher Beziehungen, sondern auch auf dem Verhältnis zwischen Organisation und Markt, Organisation und politischen Institutionen oder unterschiedlicher Organisationen untereinander261. Ein weiterer Versuch des Brückenschlags zwischen Organisation und Gesellschaft erfolgt mittels (neo-)institutionalistischer Ansätze.262 Diese liefern interessante Befunde, indem sie etwa auf die Divergenzen zwischen »Front- und Backstage« beziehungsweise »Talk und Action« in Organisationen verweisen, also auch auf die Übersetzungsschwierigkeiten, möglicherweise sogar Entkopplungstendenzen zwischen Leitbildern263 und realen Handlungszusammenhängen.264 Auch Ortmann und andere verweisen auf Insti260 Funder, »Betriebliche Organisation«, S. 528. 261 Vgl. etwa Braczyk, »Organisation in industriesoziologischer Perspektive«,

zit. n. Funder, »Betriebliche Organisation«. 262 Vgl. Müller-Jentsch, Arbeit und Bürgerstatus. 263 Zum Beispiel betrieblicher Kontrolle. 264 Funder, »Betriebliche Organisation«, S. 535.

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tutionen als konzeptionelles Bindeglied zwischen Subjekt, Organisation und Gesellschaft.265 Sie stellen jedoch klar, dass ein solcher Institutionenbegriff nicht außerhalb des Handelns konkreter Akteure besteht, ja gerade in und durch dieses rekursiv auf Institutionen Bezug nimmt und diese somit (re-)produziert. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit spielen Fragen der Institutionalisierung von Macht im betrieblichen Alltag eine entscheidende Rolle. Das organisationssoziologische Programm wird darüber hinaus gesellschaftstheoretisch anschlussfähig durch die Kombination mit Fragen der Sozialstruktur und der Lebensführung im Sinne der mit Dahrendorf aufgerufenen Kriterien des Herrschaftsbegriffs.

Strukturierung Wenden wir uns nun noch einmal grundlegend den methodologischkonzeptionellen Aspekten der Organisationssoziologie zu: Im Zusammenhang mit der Kontextualisierung strukturationstheoretischer Perspektiven für die Arbeits- und Organisationsforschung sind solche Ansätze von besonderer Bedeutung, die sich ab den späten 1980er Jahren in der Bundesrepublik in Anschluss an Anthony Giddens’ Theorie der Strukturierung entwickelt haben. Hier geht es um Aspekte der Herrschaft im Sinne der Ordnungsbildung durch Akteure in Organisationen und darüber hinaus. Insofern geht Giddens in handlungstheoretischer Sicht über Weber hinaus: Für Weber ist Legitimität die Grundlage stabiler sozialer Ordnungen, die sich daher empirisch durch die Frage nach dem Legitimitätsglauben der Beherrschten ergründen lassen. Macht spielt dabei gerade keine entscheidende Rolle mehr. Giddens geht dagegen von kommunikativ kompetenten Akteuren aus, die in machtförmigen Aushandlungsprozessen ordnungsstiftend tätig sind. Auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird Herrschaft in diesem Sinne als Effekt von Macht verstanden. Im Falle der organisationssoziologischen Ansätze, die auf Giddens aufbauen, ist Herrschaft für die Strukturebene reserviert und zeigt sich auf der Handlungsebene in Form von Macht. Der Fokus liegt also auf dem Verhältnis von Strukturen und Akteuren, wobei Macht immer schon als eine den Akteuren grundsätzlich zur Verfügung stehende Fähigkeit verstanden wird – in Giddens’ Worten als

265 Ortmann/Sydow/Windeler, »Organisation als reflexive Strukturation«, S. 328.

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grundlegende »transforming capacity«266, die menschliches Handeln allgemein kennzeichnet. In diesem Sinne sind die Anregungen der Organisationsoziologie hilfreich, insofern sie dazu aufrufen, Umwelt, Organisation und Mikrohandeln zu verbinden und zu fragen, welche Art sozialer Ordnung sich dabei ergibt. Dies setzt allerdings, im Sinne des in dieser Arbeit angestrebten Programms, ein spezifisches Verständnis von Strukturen voraus. Auch diese müssen – im Sinne Giddens’ – handlungstheoretisch rekonstruierbar sein. Sie sind dann zugleich Rahmen gebender Teil als auch Ergebnis innerbetrieblicher Handlungsordnungen, können also auch auf der Handlungsebene erläutert werden. Dies beschreibt der Begriff der Strukturation. Mit Giddens wird hierbei ein Akteursmodell zugrunde gelegt, innerhalb dessen von einer grundsätzlichen Reflexivität der Akteure eines spezifischen Kontextes ausgegangen wird.267 Diese beziehen sich dabei in ihrem konkreten Handeln immer wieder auf durch sie selbst reproduzierte Strukturen. Reflexivität ist also in Organisationen »eingelassen« im Sinne einer Institutionalisierung der Reflexion auf das Erreichen spezifischer Organisationsziele, aber natürlich der Möglichkeit nach auch im Sinne einer kontraproduktiven Teilnahme am Geschehen in einer Organisation. Dieser Umstand ist hier deswegen bedeutsam, weil, wie oben dargestellt, die Industriesoziologie mit Begriffen wie »Vermarktlichung« auf eine Entgrenzung von Arbeitsprozess und Organisation aufmerksam macht, die sich auch in einer Veränderung der Zielsteuerung in Organisationen ausdrückt. Kurz gesagt, ist die Zielsteuerung zunehmend den Individuen überlassen, was folglich deren Handlungsspielräume erweitert. Als Konsequenz bietet es sich also an, bei einem Blick auf Strukturierungsprozesse die Perspektive zuerst auf die einzelnen Akteure auf betrieblicher Ebene zu richten und in deren Handeln die Frage nach etwaigen institutionalisierten Strukturen zu stellen. Schließlich kommen ihnen im Wechselspiel zwischen Handeln und Struktur offenbar größere Chancen zu transformativem Handeln zu. Wie hält es Giddens nun mit dem Herrschaftsbegriff, und wie lässt sich auf Basis der Theorie der Strukturierung die Verbindung

266 Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 65 ff. 267 Ders, S. 91 ff.

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von Arbeit und Gesellschaft verstehen? Im Folgenden beziehe ich mich vornehmlich auf die Ausführungen von Ortmann/Sydow/ Windeler.268, die Giddens’ Konzeption des Sozialen269 für die Arbeitsforschung fruchtbar gemacht haben. Bei Ortmann/Sydow/ Windeler findet sich auch folgendes Schaubild, das er direkt von Giddens übernimmt: Die Dimensionen der Dualität der Struktur:

Zu sehen sind zuallererst drei Ebenen des Sozialen: Struktur- und Interaktionsebene sowie dazwischen geschaltet die Ebene der Modalitäten, auf die oben bereits kurz hingewiesen wurde. Handlungs- und Strukturebene sind dabei rekursiv aufeinander bezogen. Der Begriff der Modalitäten bezeichnet die konkrete Ausformung einer situationsspezifischen Handlungsordnung. Auf allen drei Ebenen unterscheidet Giddens drei entscheidende Dimensionen des Sozialen, die miteinander korrespondieren. Auf der Strukturebene sind dies: Signifikation, Herrschaft/Domination und Legitimation. Wenn nach Giddens Strukturen als »rules and ressources« bestimmt werden, so ist Ortmann/Sydow/Windeler folgend davon auszugehen, dass sich die Begriffe Signifikation und Legitimation eher auf den Komplex der Regeln beziehen, während Ressourcen die entscheidende Rolle im Bereich der Herrschaft/Domination spielen270. Mit Signifikation 268 Ebenda. 269 Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, aus: Ortmann/Sydow/Türk, Theorien der Organisation, S. 320. 270 Ebenda.

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sind die »Regeln der Sinnkonstitution«271 benannt. Wenn Individuen in spezifischen Kontexten kommunizieren, dann nehmen sie jeweils Bezug auf derartige Signifikationsstrukturen, um etwa zu adäquaten Interpretationen der Regeln und Ziele der jeweiligen Situation zu gelangen. Interpretative Schemata bezeichnen die konkrete Ausformung dieser Maßnahmen der Sinnzuweisung. Die Dimension der Legitimation bezieht sich dagegen eher auf die jeweiligen Normen innerhalb der Organisation, wie sie etwa in kodifizierten Unternehmenskulturen institutionalisiert werden sollen. Sie bestimmt also die offiziellen Werte und Ziele innerhalb einer Organisation. Die realexistierenden Normen, wie sie sich beispielsweise in einer konkreten Arbeitssituation zeigen und reproduzieren, sind freilich auf der Ebene der Modalitäten angesiedelt. Sie sind das Ergebnis der Interpretation von Unternehmenszielen durch die Akteure. Diese Interpretation erfolgt im und durch das Handeln der Akteure mittels Sanktionierung, also der Ausrichtung beziehungsweise Disziplinierung von Handeln durch die Akteure selbst. Während man im Sinne genereller Konzeptionen des Herrschaftsbegriffs diesen unbedingt auch auf der Ebene von Signifikation und Legitimation ansiedeln würde, bezieht Giddens ihn maßgeblich auf die Verfügung über Ressourcen autoritativer und allokativer Art, die auf der Handlungsebene in Form von Macht in eine Modalitätsordnung gebracht werden. Bezieht man dieses Verständnis von Herrschaft auf die empirischen Erkenntnisse der Arbeitsforschung, so kann davon ausgegangen werden, dass im Zuge sozialer Rationalisierungsstrategien die Arbeitnehmer einen größeren Spielraum in Bezug auf autoritative Ressourcen gewinnen – sprich auf herrschaftsrelevante Machtmittel in Giddens’ Sinne. Die Verfügung über Ressourcen wird also im konkreten Arbeitsprozess tendenziell »horizontalisiert«. Herrschaft, so stünde zu vermuten, würde in der Folge stärker in Form verhandelter Machtordnungen in Erscheinung treten.

Autorität und Allokation Dabei ist wiederum Giddens’ Akteurskonzeption von großer Bedeutung. Denn er verweist im Rahmen seiner These der »dialectic of

271 Ebenda.

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control«272 auf die immer vorhandenen Handlungsspielräume der Akteure innerhalb von Machtinteraktionen, die sich in einer potenziell transformatorischen Einflussnahme auf etwaige Kontrollstrategien zeigt. Autoritative Ressourcen beziehen sich dabei auf Machtausübung über Menschen, während allokative Ressourcen die Kontrolle über Dinge, Natur etc. bezeichnen, also über das, was im Industriekapitalismus mit dem Begriff der Ressourcen in einem alltäglichen Sinne273 verbunden wurde und wird. Autoritative Ressourcen stehen dagegen in der Nähe des Begriffs der Politik, wie er in der Organisationsforschung verwendet wird, während allokative Ressourcen sich maßgeblich auf den Begriff des Ökonomischen beziehen. Die Unterscheidung zwischen allokativen und autoritativen Ressourcen bedarf der Erläuterung, denn sie beinhaltet wichtige Hinweise auf den Herrschaftsbegriff, sowohl in Weber’scher, wie auch in Marx’scher Tradition. Der Begriff der allokativen Ressourcen nimmt in Marx’scher Tradition die ungleiche Verteilung im Bereich der Ökonomie, also auch im Bereich der Arbeit zum Ausgangspunkt. Autoritative Ressourcen beziehen sich dagegen auf die Machtausübung durch Positionsträger, also tendenziell auf eine Form der Macht, hinter der mit Weber legitime Herrschaft vermutet werden könnte. Auch wenn, wie gesagt, autoritative Ressourcen auf Macht über Menschen und damit eher auf »Politik« Bezug nehmen, während allokative Ressourcen den Bereich des Ökonomischen bezeichnen, liegt die Stärke des Giddens’schen Begriffsbestecks in der Chance, in einem spezifischen Organisationskontext beide Elemente von Herrschaft in eine Beziehung zu setzen. Zu vermuten stünde freilich, dass in den einfachen Diensten, wegen ihres interaktiven Profils, autoritativen Ressourcen ein größeres Gewicht beizumessen wäre als allokativen Ressourcen, die im Bereich industrieller Produktion möglicherweise noch eine größere Rolle spielten.

Konsequenzen: Handlungsstrategien, Ordnungsmechanismen, Herrschaftslogiken Fassen wir das Gesagte zusammen: Im Rahmen der Theorie der Strukturierung ist mikropolitisches Handeln im betrieblichen Kon-

272 Giddens, »Power, the Dialectic of Control and Class Structuration«. 273 Öl, Kohle, Produktionsmittel.

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text gut in den Blick zu bekommen. Für die vorliegende Studie ist dabei das konkrete Arbeitshandeln der Akteure und die Frage entscheidend, welche Art sozialer Ordnungen im Prozess der Strukturierung zwischen Kontrollstrategien274 und Machthandeln entstehen. Von entscheidender Bedeutung ist einerseits, welche spezifischen Regeln sich dabei ausbilden und ob beziehungsweise wie diese alltäglich reproduziert werden. Ortmann/Sydow/Windeler verweisen darauf, dass es von besonderem Interesse ist zu fragen, ob »über die Regeln275 hinaus weitere strukturelle Eigenschaften oder Strukturmerkmale sozialer Systeme […] durch jene regelmäßige Praxis hervorgebracht, reproduziert und verändert werden […]: zum Beispiel Arbeitsteilung, Hierarchie, der raum-zeitliche Zusammenhang der Interaktion, Zentralisierung, kurz, all das, was in der Organisationstheorie üblicherweise Struktur heißt.«276 Solche Strukturmerkmale sozialer Systeme müssten in Bezug auf die Frage nach Herrschaft als einer Logik der Reproduktion von Ordnung beschrieben werden. Zu diagnostizieren sind zunächst die konkreten Folgen etwaiger Rationalisierungstrategien auf die tatsächlichen Ordnungsmechanismen der Arbeitssituationen, die stets auch vom Handeln der Unterworfenen geprägt sind. Anschließend kann im eben benannten Sinne nach resultierenden Struktureffekten auf der Systemebene gefragt werden. Über das konzeptionelle Interesse an der strukturationstheoretisch begriffenen Reproduktion sozialer Ordnungen dürfen allerdings nicht die benannten Hinweise aus dem Bereich der Arbeitsund Industriesoziologie vergessen werden, wie sie etwa im Rahmen der Debatte um den marktzentrierten Kontrollmodus beschrieben wurden. Diese kontextualisieren die Möglichkeiten eines organisationssoziologischen Forschungsprogramms deutlich: Erstens verweist die Debatte um die Vermarktlichung der Arbeit, im Rahmen diverser Strategien sozialer Rationalisierung, auf eine gestiegene Fluidität sozialer Ordnungen. Zweitens verweisen zunehmend autonomere Arbeitsprofile aber auch auf gestiegene Handlungsspielräume der Akteure. Drittens legt auch die geringe institutionelle Regulierung der einfachen Dienste nahe, das konkrete Handeln der

274 Bei Giddens Herrschaft/Domination. 275 Und Ressourcen, s.u. 276 Ortmann/Sydow/Windeler, »Organisation als reflexive Strukturation«, S. 329.

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Akteure konzeptionell besonders ernst zu nehmen, sind diese doch logischerweise immer häufiger mit der Herausforderung konfrontiert, ordnungserzeugend tätig zu werden. Der Blick sollte also stärker auf die Prozesshaftigkeit der Ordnungsbildungen gelegt werden und auf ihre möglichen strukturellen Effekte. Die Fluidität und Vorläufigkeit sozialer Ordnungen verlagert ja gerade mehr Macht auf die Akteure und deren Handeln. Die Produktion und Reproduktion von Ordnung ist folglich immer stärker als serieller Prozess des »Machens« spezifischer Situationen zu verstehen. Es steht zu fragen, ob diese Prozesse der Strukturierung spezifischen Mechanismen folgen, die im Akteurshandeln zu rekonstruieren sind, und ob diese bestimmte, womöglich unintendierte, Effekte zeitigen, die für den betrachteten Bereich charakteristisch sind.277 Eine solche Logik könnte dann, dem Weber’schen Paradigma folgend, als Ordnungs- beziehungsweise Herrschaftslogik verstanden werden. Für die Analyse der Fallstudien, die in Kapitel IV zum Thema werden, wurde für die vorliegende Studie ein heuristisches Modell entwickelt:278

277 Effekte dieser Art wären klassischerweise etwa unter dem Label der Polarisie-

rung oder der Aufwertung bestimmt worden. 278 Danke an Paul Schunack für die Digitalisierung dieser Grafik.

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Zu sehen sind drei Ebenen der empirischen Analyse: Systemebene, Strukturebene und Handlungsebene. Alle Ebenen stehen im Sinne Giddens’ in einem rekursiven Reproduktionsverhältnis. Schwarz unterlegte Pfeilspitzen bezeichnen die im Rahmen der vorliegenden Studie primär verfolgte Richtung der Analyse. Die Systemebene bezeichnet im vorliegenden Kontext die makrostrukturellen Bedingungen des Feldes, wie sie im Kern in Kapitel II darstellt wurden: Das Dienstleistungsproletariat zeichnet sich durch spezifische Benachteiligungslagen in den Dimensionen Einkommen, tarifliche Regulierung und Alterssicherung aus. Es finden sich hohe Fluktuationsraten zwischen Betrieben, aber auch zwischen Arbeitssituationen. Lohnmodelle, Determinanten der Alterssicherung und in der Konsequenz Lebensverläufe rücken das Dienstleistungsproletariat in die Nähe zu staatlichem Handeln. Die Systemebene wird konzeptionell als Arrangement institutioneller Faktoren verstanden: Gewerkschaften, staatliche Lohnpolitik, korporatistische Integration, Belegschaftsstrukturen und Organisationsmodelle haben in den einfachen Diensten einen spezifischen Zuschnitt. Die Populationsform der einfachen Dienste, die mit den drei Begriffen Feminisierung, Ethnisierung und Zertifikationsdiffusion beschrieben wurde, kann als Effekt der Institutionenordnung der Systemebene verstanden werden: In offenen Gesellschaften sind es gerade die durch die Institutionen des Arbeitsmarktes vergleichsweise wenig regulierten Segmente, in denen zwangsläufig »Randgruppen« des Arbeitsmarktes – wie Zertifikationsverlierer, niedrig qualifizierte Frauen oder Personen mit Migrationshintergrund – kumulieren. Auf der Strukturebene sind dagegen die Ordnungsmechanismen zu verorten, die die Reproduktion des Ordnungsrahmens (Systemebene) erklären. Strukturen werden, Giddens folgend, im Kern als »rules and ressources« begriffen, in die transformatorisches Akteurshandeln systematisch eingelassen ist.279 Auf der Strukturebene treffen sich die zwei entscheidenden Momente der Analyse betrieblicher Ordnungsmechanismen: Es geht hier um die Rekonstruktion des Prozesses der Strukturierung zwischen managerialen Kontroll- und Rationalisierungsstrategien und konkreten Handlungsorientierungen der Akteure in spezifischen Situationen. Beide

279 Ortmann/Sydow/Windeler, »Organisation als reflexive Strukturation«, S. 65 ff.

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Elemente der Analyse sind rekursiv aufeinander bezogen und formen die Realität der typischen Arbeitssituation. Diese gehorcht einem spezifischen Ordnungsmechanismus, der das kondensierte Ergebnis der einzelnen Fallstudien bezeichnet. Die entscheidende Frage im Rahmen der vorliegenden Studie ist dann, inwieweit sich diese Ordnungsmechanismen einer zunächst spezifischen Arbeitssituation als bereichsübergreifend verstehen lassen. In einem zweiten Schritt werden daher die verschiedenen Ordnungsmechanismen in einem komparativen Analyseprozess auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezüglich des jeweiligen Bereichs einfacher Dienste und anschließend des Segmentes einfacher Dienstleistungsarbeit allgemein hin untersucht. Hier verbirgt sich die Frage nach einer spezifischen Herrschaftslogik, die auf eine mögliche Generalisierbarkeit der gefundenen Ordnungsmechanismen jenseits lediglich branchenspezifisch typischer Arbeitssituationen zielt. Eine solche Herrschaftslogik wird als Effekt der Ordnungsmechanismen auf der Strukturebene verstanden.280 Während die Systemebene also auf Herrschaft verweist und die Strukturebene sich den Reproduktionsmechanismen der Institutionenordnung der Arbeitssituation widmet, geht es auf der Handlungsebene um den stets prekären Arbeitskonsens. Hier werden die Handlungsorientierungen der Akteure erhoben. Der Begriff des Konfliktes ist dabei von entscheidender Bedeutung: Denn interessiert man sich für spezifische Handlungsorientierungen, so sind diese am ehesten über die Beobachtung der Artikulation von Einspruch und Unterbrechung zu erfassen. Selbstverständlich drücken sich Handlungsorientierungen ebenso im 280 Es muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Bezeichnungen

»System- und Strukturebene« insofern missverständlich sind, als sie eine saubere Trennung zwischen beiden nahelegen. Tatsächlich wirken aber die Systemfaktoren einerseits in die typische Arbeitssituation und damit in den Strukturierungsprozess zwischen Kontrollstrategien und Handlungsorientierungen hinein. Die Strukturebene bezeichnet wiederum weniger eine sauber geschiedene Einheit als vielmehr die Frage nach dem Prozess der Reproduktion der Systemebene selbst. Es sollte dabei darauf hingewiesen werden, dass gerade die Transformationen von Ordnungsmechanismen durch das Wechselspiel von Kontrollstrategien und Handlungsorientierungen die Logik der Stabilisierung und Reproduktion der Systemebene beinhalten kann. Kontrollstrategien und Handlungsorientierung werden empirisch aus Beobachtungsund Interviewdaten rekonstruiert.

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konfliktfreien, routinisierten Umgang mit den Widrigkeiten des Arbeitsprozesses aus. Aber im Konfliktfall werden die zugrundeliegenden Orientierungen manifest. Warum etwa eine spezifische Form routinisierter Praxis von bestimmten Akteuren gepflegt wird, wird erst verständlich, wenn diese im Konfliktfall dazu aufgerufen sind, diese auch zu verteidigen. Konflikt ist dabei nicht auf den Streit zwischen angebbaren Personen reduziert. Vielmehr müssen Konflikte in Bezug auf Materialität281 sowie grundlegende Dilemmata282 analysiert werden. Sie interessieren nicht nur in Bezug auf die Rekonstruktion von Handlungssequenzen, sondern auch hinsichtlich der Frage ihrer Bewertung durch die involvierten Akteure. Der Begriff der Orientierung legt dies bereits nahe: Es geht um wiederholbare Handlungsmuster, die als Strategien in Situationen zur Anwendung kommen. Dem zugrunde liegt ein Akteursmodell, das ganz im Sinne Giddens’ dem Handeln der Akteure283 eine »transforming capacity« zurechnet. Analytisch ist das Handeln für die Analyse unhintergehbar. Es wird im Rahmen der vorliegenden Studie vornehmlich über die Wirksamkeit in Konflikten untersucht, die sich in Handlungsorientierungen niederschlagen, die im Wechselspiel mit spezifischen Kontroll- beziehungsweise Rationalisierungsstrategien zur Ausbildung bestimmter Ordnungsmechanismen führen. Bevor wir nun zu den Fallstudien kommen, soll noch eine inhaltliche Synthese der beschriebenen arbeitssoziologischen Herrschaftsforschung erfolgen. So wird einerseits klar, in welcher Beziehung die arbeitssoziologischen Studien zur generellen herrschaftssoziologischen Theoriebildung stehen. Andererseits wird deutlich werden, in welchem Verhältnis die vorliegende Studie zu den beschriebenen Arbeiten und ihrer herrschaftssoziologischen Interpretation steht.

Zwischenfazit: Substituiert Macht Herrschaft? Im Grunde hat die herrschaftstheoretische Arbeitsforschung auf die zunehmende Differenzierung ihres Gegenstandsbereichs mit einer Verengung ihrer theoretischen und diagnostischen Perspektive rea281 Beispielsweise Akte der Sabotage. 282 Beispielsweise die Konditionen der Verbindung von Arbeit und Familie. 283 Damit sind im vorliegenden Zusammenhang selbstredend nicht nur mensch-

liche Individuen gemeint.

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giert. Innerhalb der klassischen Arbeits- und Industriesoziologie der Nachkriegszeit standen die Folgen technischen Wandels für die Ordnung betrieblicher Hierarchien im Vordergrund.284 Technische Rationalisierung war der Schlüssel zur Analyse von Herrschaft im Betrieb, die ihrerseits als strukturbestimmend für die Verfasstheit von Arbeit betrachtet wurde. Die gesellschaftsanalytische Stärke dieser Perspektive lag vor allem in einer immer mitgeführten sozialstrukturellen Formierungshypothese: Herrschaft im Industriebetrieb oder in den bürokratischen Apparaten der Angestellten sollte Auskunft geben über den sozialstrukturellen Auf- und Abstieg dieser Gruppen. Es zeichnet die klassische Industriesoziologie aus, dass sie in der Lage war, ihre theoretischen Hypothesen empirisch zu prüfen und zu revidieren: Die empirischen Studien der Nachkriegszeit bargen Ernüchterung für das forschungsleitende Theorem der Proletarisierung. Steigende Autonomie im Arbeitsprozess und ihr sozioökonomischer Aufstieg schlugen sich auch in einer »mentalen Entproletarisierung« der Industriearbeiter nieder.285 Mit der nicht zuletzt durch Tertiarisierung getriebenen Differenzierung der Arbeitswelt ging in der arbeitssoziologischen Herrschaftsforschung allerdings das Gespür für die sozialstrukturellen Formierungseffekte betrieblicher Herrschaft zusehends verloren. Im Rahmen der Labour Process Debate standen zwar noch spezifische soziale Lagen im Fokus der Analyse. Herrschaft wurde allerdings weiterhin als Grundlage des Arbeitsprozesses verstanden, von der aus sich die Reproduktion sozialer Asymmetrien im Prinzip ableiten ließ. Das derzeit dominierende Paradigma der Vermarktlichung betrieblicher Herrschaftsbeziehungen steht in dieser Tradition. Zwar handelt es sich um ein gesellschaftstheoretisch ambitioniertes Konzept, das mit der Analyse betrieblicher Herrschaft den Anspruch verbindet, Gesellschaftsdiagnose zu betreiben. Dem strukturorientierten Blick entgehen allerdings die tatsächlichen Ordnungsvariationen der Praxis in unterschiedlichen Arbeitskontexten und damit auch deren for284 Hierarchien wurden maßgeblich anhand der Entwicklung der Qualifikations-

profile bestimmt. 285 Auch die Labour Process Debate hat diesen Prozess ähnlich beschrieben. Die Operationalisierung betrieblicher Herrschaft über den Kontrollbegriff verstellte allerdings den Blick auf die spezifische Rolle der Materialität von Arbeit.

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mierende Effekte in Bezug auf die Sozialstruktur. Der Optimismus der klassischen Industriesoziologie, wie auch der ersten Welle der Labour Process Debate, mit der Industriearbeit den paradigmatischen Ort arbeitssoziologischer Herrschaftsforschung im Blick zu haben, ist im Zeichen der Differenzierung der Arbeitswelt zwar nicht zu halten. Die Vermarktlichungstheoreme scheinen hieraus allerdings den Schluss zu ziehen, dass eine empirisch differenzierte Analyse der Reproduktion sozialer Ungleichheit in unterschiedlichen Arbeitsmarktsegmenten nicht mehr zum Kerngeschäft arbeitssoziologischer Herrschaftsforschung zähle. Die quer durch die Arbeitswelt verallgemeinerbare Betroffenheit von marktförmigen Kontrollstrategien ersetzt die tiefenscharfe Praxisanalyse. Über die Subjektivierungsdebatte ist zwar die Verbindung von betrieblicher Herrschaft und Lebensführung wieder zu einem wichtigen Thema geworden, das für die Labour Process Debate keine tragende Rolle spielte. Aus dem Blick geraten sind allerdings auch hier die Formierungseffekte betrieblicher Herrschaft für die Sozialstruktur und damit die differenzierte Betrachtung der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Mit der Differenzierung des Gegenstandsbereichs steht die Grundannahme strukturorientierter Herrschaftsforschung auf tönernen Füßen: Betriebliche Herrschaft rein in Kontrollstrategien des Managements zu operationalisieren wirkt wenig überzeugend, wenn davon auszugehen ist, dass soziale Rationalisierungsstrategien wie die verantwortliche Autonomie zunehmend paradigmatischen Charakter in weiten Teilen der Arbeitswelt erlangt haben. Mit der Autonomie der Beschäftigten im Arbeitsprozess steigt auch ihr Einfluss auf die soziale Ordnung der Arbeitssituation. Herrschaft kann dann nicht mehr als Grundlage des Arbeitsprozesses beschrieben werden. Sie muss als Effekt des Handelns aller in der Arbeitssituation präsenten Akteure verstanden werden. Es ist eine Veränderung in der Sache, die die Verschiebung der theoretischen Perspektive erzwingt: Wenn die Leute immer unterschiedlichere Dinge tun und die einzige Konstante ist, dass sie dabei immer weniger direkt reguliert werden, dann muss die Zahl unterschiedlicher sozialer Ordnungseffekte notwendig steigen. Mit der Generalisierung von Befunden zu betrieblicher Herrschaft ist in der Folge behutsam umzugehen. Die Differenzierung materialer Arbeitsprofile sowie die unterschiedliche institutionelle Regulierung verschiedener Ar144

beitsmarktsegmente legen aber durchaus Formierungseffekte spezifischer betrieblicher Herrschaftsformen nahe. Zielt man auf einen empirisch gesättigten, aber dennoch generellen Herrschaftsbegriff, müssen etwaige Formierungsthesen zudem innerhalb der Sozialstruktur nachvollzogen und mit einer Analyse etwaiger lebensführungsspezifischer Methodisierungsmomente kombiniert werden. Mit einer Perspektive auf Herrschaft als Effekt geraten so zugleich die differenzierten Effekte von Herrschaft in den Blick.

Zurück zur »reinen« Macht? Einen interessanten Versuch, die empirischen Ergebnisse jüngerer arbeitssoziologischer Herrschaftsforschung gesellschaftsdiagnostisch zu bündeln, haben unlängst Wolfgang Bonß und Christoph Lau unternommen.286 Sie bemühen sich um eine Integration der Erkenntnisse der Entgrenzung- und Subjektivierungsforschung in die Theorie reflexiver Modernisierung.287 Sie wählen dabei eine Weberianische Grundausrichtung, indem sie dessen Unterscheidung von Macht und Herrschaft zur Beschreibung wählen. Das Verhältnis von Macht und Herrschaft, so die Autoren, habe sich in den »Herrschaftskonstellationen«288 der Gegenwart maßgeblich verändert. Sei für Weber die Moderne durch die sukzessive Ablösung reiner Macht durch Formen rationaler Herrschaft gekennzeichnet, so habe sich in der reflexiven Moderne dieses Verhältnis gewandelt. Es geht heute nicht mehr um die Bindung einer allgemeinen Logik (rationaler) Herrschaft an verschiedene Herrschaftsverbände (Betriebe, politische Verwaltungen etc.), sondern um Konstellationen aus Subjekten und Institutionen, die nur noch ihrer Möglichkeit nach an spezifische Herrschaftsverbände (zum Beispiel Organisationen) gebunden sind. Dies entspricht der beispielsweise im Konzept des Arbeitskraftunternehmers formulierten These, dass sich Herrschaft vom einzelnen Betrieb gelöst habe und zunehmend als subjektive Orientierung in den einzelnen Marktsubjekten in Erscheinung trete. Die These von Bonß und Lau ist, dass sich in der reflexiven Moderne eine »Dialektik von Macht und Herrschaft«289 abzeichne, die darin 286 287 288 289

Bonß/Lau, »Zum Strukturwandel von Macht und Herrschaft«. Vgl. Beck, Risikogesellschaft; Beck/Giddens/Lash, Reflexive Modernisierung. Bonß/Lau, »Zum Strukturwandel von Macht und Herrschaft«, S. 10. Ebenda, S. 7.

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bestehe, dass ehemals fest institutionalisierte Herrschaft sich zunehmend zu reiner Macht wandle und auf diesem Wege zugleich universell und unsichtbar werde.290 Es zeige sich ein Prozess, »in dessen Verlauf Herrschaft subjektiviert wird und sich gleichzeitig von den legitimierten Herrschaftsapparaten löst und in reine Machtausübung verwandelt. Während die Mechanismen der Macht weiter rationalisiert werden, wird Herrschaft gleichermaßen subjektiviert wie totalisiert; sie löst sich von den im Zuge der ersten Moderne eingeschliffenen Grenzen, und zwar insbesondere von den Grenzen des Betriebs und des Nationalstaats, und dies hat zur Folge: Herrschaft wird zugleich universell und unsichtbar.«291 Es entstünden neue und vielgestaltige Formen von Herrschaft, die durch einen »Rückbau hierarchischer Kontrolle [und] durch den bewussten Einsatz von Ambivalenz und Ambiguität gekennzeichnet«292 seien. So entstünden immer mehr »soziale Räume der Unbestimmtheit«293, was kennzeichnend für Herrschaft in der reflexiven Moderne sei.294 Die Autoren verweisen darauf, dass damit zuallererst »Probleme der Handlungskoordination«295 entstünden, weil Standards unsicher und Situationen ambivalent würden. Dies führt auf den ersten Blick zu einer Ausweitung der Handlungsspielräume der Akteure. Ganz in Einklang mit erwähnten Konzepten von »Herrschaft durch Autonomie« verweisen die Autoren aber darauf, dass gerade Ambivalenz Handlungsfreiheit auch infrage stellen könne.296 Nimmt die Analyse ihren Ausgangspunkt noch von Webers Unterscheidung von Macht und Herrschaft, so wird alsbald deutlich, dass diese nicht

290 Die Idee einer Verabschiedung des Herrschaftsbegriffs zugunsten der Frage

291 292 293 294 295 296

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nach Macht stammt freilich nicht von Bonß/Lau. Auf der Ebene genereller Gesellschaftstheorie haben unterschiedliche Autoren ähnliche Positionen formuliert (beispielsweise Michel Foucault). Bonß/Lau dienen als Kronzeugen einer notwendigen Neujustierung dieses Verhältnisses, weil ihre Ausführungen gewissermaßen paraphrasierende Zusammenfassungen der Ergebnisse aktueller arbeitssoziologischer Herrschaftsforschung in gesellschaftsdiagnostischer Absicht sind. Bonß/Lau, »Zum Strukturwandel von Macht und Herrschaft«, S. 10. Ebenda, S. 14. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 15.

hinreicht, da sich Macht und Herrschaft ja zunehmend wechselseitig aufeinander bezögen und gegenseitig stabilisierten. Es zeigten sich also stärker »Hybridformen« aus beiden.297 Es muss allerdings konstatiert werden, dass ein zentraler Gedanke Webers, nämlich die ordnungsstiftende Funktion von Herrschaft, Bonß/Lau folgend, ebenso unscharf wird. Im Zeichen zunehmender »Verflüssigung«298 von Grenzen und Ordnungsschemata werde gerade die Vorläufigkeit und Fragilität sozialer Ordnungen zu einem Kennzeichen reflexiver Modernisierung. Außerdem sei im Zuge der Verlagerung von Herrschaft in das Individuum im soziologischen Sinne der privilegierte Ort des Ausdrucks und der Durchsetzung von Herrschaft nur noch schwer zu erkennen. Sie bündle sich zwar im Individuum, doch ihr Ausgangspunkt sei unklar. Dementsprechend stehe die Unterscheidung von Herrschaft und Macht infrage299, weil, so kann man hinzufügen, Herrschaft nun als Effekt und nicht mehr als Grundlage der Analyse verstanden werden muss und damit nicht von einer »Vorweglegitimität«, im Sinne Webers, ausgegangen werden kann. Im Rahmen der Analyse von Herrschaft im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit erweisen sich die theoretischen Bündelungen von Bonß und Lau als äußerst fruchtbar. Man muss jedoch mit vielen der Prämissen nicht zugleich die Schlussfolgerungen teilen. Denn: Welche Konsequenzen sind aus dem Umstand zu ziehen, dass die Grenzen von Macht und Herrschaft unscharf werden? Bonß/ Lau scheinen hier unentschieden. Einerseits könne man wohl hauptsächlich noch Phänomene der Macht beziehungsweise der »Quasi-Herrschaft«300 benennen. Auf der anderen Seite spreche »vieles dafür, den Herrschaftsbegiff nicht gänzlich fallen zu lassen«301. So ermögliche nur dieser die Beschreibung und Kritik permanenter Asymmetrien und die Analyse ihrer Stabilisierung beziehungsweise Legitimation, der gerade im Rahmen der Entgrenzung immer größere Bedeutung zukomme302. 297 298 299 300 301 302

Ebenda, S 28. Vgl. Baumann, Flüchtige Moderne; ders., Leben in der flüchtigen Moderne. Bonß/Lau, »Zum Strukturwandel von Macht und Herrschaft«, S. 28. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 29.

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Meiner Ansicht nach sollte im Anschluss an Bonß/Lau ein zentraler Gedanke Webers reformuliert werden: Die Kritik an der Tauglichkeit der Unterscheidung von Macht und Herrschaft und das gleichzeitige Beharren auf der Wichtigkeit der Frage nach der Stabilität sozialer Ordnungen lassen sich nur durch die durchaus plausible Idee einer schrittweisen Verstetigung sozialer Formen verstehen.303 Herrschaft ist dann gegenwartsdiagnostisch als Kategorie nur unter der Bedingung entscheidend, dass davon ausgegangen wird, dass sich die aktuellen Substitutions- und Ergänzungsmechanismen von Macht und Herrschaft Stück für Stück stabilisieren und sich letztlich irgendwann zu legitimierten Ordnungen fügen, also Macht wieder zu Herrschaft gerinnt. Die notwendige Konsequenz der Analysen von Bonß und Lau scheint also zu sein, »Quasi-Herrschaft« in der reflexiven Moderne als eine Art Übergangsstadium zu begreifen. In diesem Übergangsstadium substituiert Macht, zumindest in Hinsicht auf beobachtbares Handeln, Herrschaft. Denn Letztere ist zwar »universell«, aber eben auch »unsichtbar«.304

Von der kontextspezifischen Macht zu Phänomenen von Herrschaft Mein Vorschlag ist dagegen, den Weber’schen Gedanken der Ordnungsbildungsfunktion von Herrschaft auch auf die vermeintlich so instabilen Ordnungen der Macht anzuwenden. Auf der Basis meiner Kritik an der Subjektivierungsdebatte sollen daher nicht die subjektiven Folgen und Bedingungen von Ordnungsstrategien in der Arbeitswelt im Fokus stehen. Die Ordnungsleistungen der Akteure müssen dagegen praxis- und handlungstheoretisch in den Blick genommen werden. Welche sozialen Ordnungen produzieren und reproduzieren die Akteure in einem spezifischen Feld durch ihr alltägliches (machtförmiges) Handeln? Welche Gebilde entstehen gerade unter der Prämisse, dass Situationen, herrschaftstheoretisch gespro303 Diese hat Weber etwa in seiner These des sukzessiven Wandels von Macht zu

Herrschaft formuliert. 304 Ein Umstand, der schon zu Beginn dieses Kapitels angesprochen wurde:

Herrschaft bezeichnet eine transversale Zusammenhangshypothese und ist daher zwangsläufig als Ganze unsichtbar. Sie muss sich allerdings notgedrungen in einzelnen sozialen Phänomenen materialisieren, um nicht lediglich eine vollkommen von der Empirie abgehobene Konstruktion zu sein.

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chen, zunehmend von Uneindeutigkeit gekennzeichnet sind und damit den Handlungskapazitäten der Akteure ein neuer Stellenwert zukommt? Damit wird freilich auf die Prämisse mündiger, reflexiver Akteure gesetzt, wie sie in Bezug auf Giddens bereits besprochen wurde. Denn nur im Rahmen der Zurechnung einer »transforming capacity« im Akteurshandeln kann davon ausgegangen werden, dass mehr Autonomie nicht nur die Handlungsfreiheit einschränkt, sondern auch zu einem »Wuchern« sozialer Ordnungen führt, insofern Handeln weniger stark technisch oder administrativ determiniert ist. Die Logiken der Produktion und Reproduktion beziehungsweise die »Verhärtungen« dieser Ordnungen können uns dann einen Hinweis darauf geben, wie es um Herrschaft in der Gegenwart bestellt ist. Die Prämisse lautet dann, in einer herrschaftstheoretisch wohlwollenden Lesart serieller Sozialtheorien305, dass Herrschaft dort ist, wo sich asymmetrische soziale Ordnungen über seriell reproduzierte Handlungszusammenhänge einstellen. Um Herrschaft zu verstehen, müssen diese Ordnungen rekonstruiert werden. Sie mögen heute empirisch vorläufiger sein, doch grundsätzlich vorläufig ist jede soziale Ordnung. Daher sollte deren neue Gestalt kein Ausschlusskriterium der Frage nach der Institutionalisierung von Herrschaftszusammenhängen bilden. Vielmehr muss der Prozesscharakter der Stabilisierung von Macht in den Blick genommen werden. Dies bedeutet freilich, Herrschaft nicht mehr als Basis, sondern als Konsequenz der Interaktionen unterschiedlicher Handlungseinheiten zu denken. Bei der Konstatierung einer Beschleunigung des Wandels und in der Folge einer zunehmenden Vermischung von Macht und Herrschaft306 droht unterbelichtet zu bleiben, dass das konkrete Handeln der Akteure in bestimmten Situationen zwar von spezifischen Kontrollstrategien konturiert ist, dass im Rahmen sozialer Rationalisierungsstrategien aber davon ausgegangen werden muss, dass das Handeln der Beschäftigten großen Einfluss auf die Ordnungsmechanismen der Arbeitssituation nimmt und damit letztlich auch die Logik der Herrschaft, verstanden als Effekt solcher Ordnungsmechanismen, tangiert.307 Wie diese im Sinne einer sozialen Ordnung 305 Vgl. Bude, »Konstruktionen des sozialen Konflikts«. 306 Bonß/Lau, »Zum Strukturwandel von Macht und Herrschaft«. 307 Dabei ist vor der empirischen Untersuchung nicht ausgemacht, ob sich Ord-

nungsmechanismen und deren Effekte tatsächlich in gleichförmiger Weise zei-

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beschaffen sind, hat folglich zwar etwas mit dem spezifischen Kontrollmodus zu tun. Zu erwarten sind allerdings ganz unterschiedliche Ausprägungen, die es erst einmal empirisch zu erfassen gilt. Zum anderen muss unter praxistheoretischer Perspektive das konkrete Handeln in der Arbeit, auch unter seinen materialen Aspekten, in den Blick genommen werden. Für ein solches Analyseprogramm bieten organisationssoziologische Ansätze zu betrieblicher Mikropolitik wertvolle Anregungen. Es gilt dabei, wie eingehend beschrieben, neue Tätigkeitsprofile tiefenscharf auch in ihrer materialen Logik zu erschließen. Diesen Anspruch beherzigend könnten auch die Begriffe von Macht und Herrschaft in ihren distinkten Bedeutungen mit neuem Leben gefüllt werden. Anstelle der Analyse einer universellen, aber unsichtbaren Expansion von Herrschaft bei gleichzeitiger Substitution jener durch Phänomene reiner Macht308 soll im Folgenden eine differenzierte Beschreibung sozialer Ordnungen treten, die die Frage nach deren Verstetigung nicht bereits aus dem analytischen Konzept selbst beantwortet. Es ist ja zumindest denkbar, dass die Herrschaftskonstellation einer spezifischen Belegschaft eine gewisse Form der Verstetigung und Stabilität aufweist, selbst wenn diese im Rahmen von autonomieorientierten Kontrollstrategien organisiert ist. Die Frage hiernach kann zumindest nicht vor ihrer empirischen Erforschung beantwortet werden. Betriebliche Herrschafts- beziehungsweise Ordnungsmechanismen, die konzeptionell zwischen managerialen Kontrollstrategien und alltäglichem Arbeitshandeln angesiedelt sind, können hier den Weg weisen. Gerade die Expansion »sozialer Räume der Unbestimmtheit«309 und damit die Frage nach der Etablierung »unwahrscheinlicher Ordnungen«310 ist dabei ein Kerngedanke, der nach der Analyse von Effekten machtförmigen Handelns verlangt. Eine solchermaßen ausgerich-

gen, sodass es gerechtfertigt wäre, diese als Phänomene von Herrschaft für das untersuchte Segment zu verstehen. Dies vorausgesetzt kann der Diagnose solcher, den einzelnen Arbeitssituationen übergeordneter Effekte dann in weiteren Generalisierungsschritten die Frage des Zusammenhangs dieser Effekte mit Logiken der Lebensführung und sozialen Lagen innerhalb der Sozialstruktur folgen. 308 Vgl. Bonß/Lau, »Zum Strukturwandel von Macht und Herrschaft«. 309 Ebenda, S. 14. 310 Bogusz, Zur Aktualität von Luc Boltanski.

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tete Perspektive kann sowohl den notwendig ordnungsstiftenden als auch den ungleichheitserzeugenden Aspekt von Herrschaft in den Blick nehmen. Damit ist jedoch noch nicht die Frage nach ihrer gesellschaftsanalytischen Einbettung beantwortet. Hierzu muss der Blick auf spezifische Konstellationen von Arbeit und Lebensführung gerichtet werden, wie sie etwa im Rahmen der Subjektivierungsdebatte auf eine spezifische Art formuliert werden. Diese bedürfen jedoch einer phänomenologisch sensiblen empirischen Analyse und einer praxistheoretischen Einbettung. Das Objekt der Forschung ist dabei zunächst das Individuum in seiner Verbindung zu einer spezifischen Arbeitssituation, im Zusammenhang damit werden Fragen nach der Lebensführung gestellt. Der spezifische Modus institutioneller Integration macht die einfachen Dienste zu einem prototypischen Feld von Unbestimmtheit. Ihre Analyse verspricht daher nicht nur einen fruchtbaren Boden für die beschriebene theoretische Perspektive, sondern auch für ein unbestelltes Feld, das es empirisch zu erschließen gilt.

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»Alsdann nun wiederholte sich, was immer und überall die Folge eines solchen »Rationalisierungs«-Prozesses ist: wer nicht hinaufstieg, musste hinabsteigen.«1

IV Logiken der Unterwerfung Um es noch einmal zusammenzufassen: Die einfachen Dienste besitzen einen spezifischen Zuschnitt; etwa 11 Prozent der Arbeitnehmerschaft in der Bundesrepublik verdingt sich in Arbeitsbereichen, die den einfachen Diensten zugerechnet werden können2, dabei handelt es sich um ein Arbeitsmarktsegment, das mehrheitlich von weiblicher Erwerbsbeteiligung geprägt ist.3 Institutionen kollektiver Interessenvertretung, seien es Gewerkschaften oder Betriebsräte, sind hier Mangelware. Diese und weitere Aspekte haben dazu beigetragen, dass ich in Kapitel II von einer Kombination politischer Regulierung und zugleich institutioneller Unterdeterminiertheit einfacher Dienstleistungsarbeit gesprochen habe. Im Sinne der herrschaftstheoretischen Erforschung dieses Arbeitsmarktsegments hat dessen institutionelle Unterdeterminiertheit spezifische Folgen. Herrschaft materialisiert sich, entsprechend der in Kapitel III erfolgten Begriffsbestimmung, vor allem in Institutionen, denn Institutionen sind die Gewährleister sozialer Ordnungen. Bei den einfachen Diensten kann eine vergleichbar niedrige Determination von Arbeitssituationen und Lebensführungsmodellen durch Institutionen diagnostiziert werden, da die vorherrschende politische Regulierung sich maßgeblich auf die Frage der Lohnfindung bezieht und damit eher rahmengebend als formbestimmend wirkt. Folgt man diesem Argument, dann muss man Prozesse in den Blick nehmen, die situative Ordnungen schaffen, und nach deren Verstetigung und ihren Folgen für systematische soziale Asymmetrien fragen. In den folgenden Fallstudien werden daher einerseits die Ordnungsmechanismen spezifischer Arbeitssituationen und deren Effekte, anderer-

1 Weber, Die protestantische Ethik, S. 89. 2 Oesch, Redrawing the Class Map, S. 88. 3 62 Prozent der Beschäftigten in diesem Bereich sind weiblich (ebenda, S. 211).

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seits deren Zusammenhänge mit Aspekten der Lebensführung in den Blick genommen.4 Denn generelle Herrschaft findet ihren Ausdruck, dem Verständnis der vorliegenden Arbeit folgend, in der Stabilisierung und Reproduktion systematischer Asymmetrien auf unterschiedlichen analytischen Ebenen5. Das Sample, das diesen Analysen zugrunde liegt, wurde bereits ausführlich beschrieben. Es ist an dieser Stelle lediglich noch ein Hinweis auf die Reihenfolge der Darstellung der Fallstudien angezeigt. Ich beginne mit dem Bereich sozialer Dienstleistungen in Form der Altenpflegearbeit und damit mit demjenigen Teil des Samples, den man ad hoc wohl als Prototyp interaktiver Arbeit bezeichnen würde. Es folgen die konsumorientierten Dienste am Beispiel des Einzelhandels, der ebenfalls als ein exemplarischer Bereich für interaktive Tätigkeiten gilt.6 In den daran anschließenden distributiven Tätigkeiten ist dagegen der Kundenkontakt sehr beschränkt, weswegen diesen wohl nicht ohne Weiteres ein interaktives Profil in einem materialen Sinne zugesprochen würde. Noch stärker gilt dies für den letzten Teil des Samples, den Bereich reiner Gewährleistung, der Branchen wie die Gebäudereinigung oder das Facility Management umfasst. Auf den ersten Blick legt diese Aufteilung des Samples eher systematische Heterogenität als einen gemeinsamen materialen Nenner beziehungsweise eine systematische Verbindung der versammelten Tätigkeitsbereiche nahe. Die folgenden Fallstudien werden Argumente liefern, die diese Vermutung widerlegen.

Soziale Sorge Zunächst soll der Bereich sozialer Dienstleistungen im Fokus stehen. Damit sind vornehmlich pflegerische und betreuerische Tätigkeiten gemeint, die in der Regel direkt auf einen Kunden oder Patienten bezogen sind. Soziale Dienstleistungen sind der Prototyp 4 Alle im Folgenden benannten Unternehmen und Personen sind anonymisiert

worden. 5 Im vorliegenden Untersuchungsdesign: Sozialstruktur, Arbeitssituation und Le-

bensführung. 6 Vgl. Voswinkel, Welche Kundenorientierung?.

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interaktiver Arbeit. Ihnen kommt hinsichtlich der Frage der Proletarität im Bereich einfacher Dienste eine Schlüsselrolle zu. Erinnern wir uns an Esping-Andersens Prognose: Danach sei der Bereich sozialer Dienstleistungen prädestiniert für Proletarisierungstendenzen, denn die sozialen Dienste seien in typischer Weise gleichermaßen durch arbeitsintensive und gering qualifizierte Tätigkeiten geprägt. Zugleich sei in keinem anderen Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit deren Staatsabhängigkeit so klar zu beobachten: Ob soziale Dienste mit hohen Armutsrisiken gekoppelt seien oder nicht, so Esping-Andersen, entscheide sich letztlich am Ausmaß wohlfahrtsstaatlicher Regulierung. Während im Bereich komsumorientierter Dienste eine marktvermittelte Niedriglohnpolitik der Unternehmen zu erwarten stehe, sei bei den sozialen Diensten eine starke sozialpolitische Regulierung wahrscheinlich, die diese im materiellen Sinne vor Verelendungstendenzen schützen könne. Als exemplarisch für soziale Dienstleistungen kann die Altenpflege gelten. Es ist zu vermuten, dass sich positive Effekte staatlicher Regulierungen sozialer Dienstleistungen gerade in der Altenpflege zeigen müssten, wird diese doch grundsätzlich durch die gesetzliche Pflegeversicherung finanziert und ist damit stärker politisch reguliert als andere Teile der einfachen Dienste, auf die lediglich über branchenspezifische Mindestlöhne politisch Einfluss genommen wird.7 Der Wohlfahrtsstaat beeinflusst also schon mit der Grundfinanzierung der Pflegedienste die finanziellen Rahmenbedingungen der Arbeitsverhältnisse. Zugleich wird die Altenpflege im Zeichen einer alternden Gesellschaft und des viel besprochenen Pflegenotstandes als entscheidende Zukunftsbranche beschrieben. Wohlfahrtsstaatliche Politik ist hier also direkt aufgerufen, Qualität und Nachhaltigkeit der Arbeit zu steuern. Damit sind Fragen der Professionalisierung aufgeworfen. Denn wenn wegen Alterung und technischem Fortschritt die Ansprüche an die Zukunftsbranche Pflege steigen sollten, wäre zu erwarten, dass sich dies auch in einem Anstieg der Qualifikationsniveaus der Beschäftigtem niederschlüge. Dem steht allerdings ein materiales und ein materielles Problem entgegen: Der materiale Zuschnitt in-

7 Die Auswirkungen bei der geplanten Einführung des flächendeckenden Mindestlohns am 1. Januar 2015 werden zu beobachten sein.

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teraktiver Pflegearbeit erschwert einerseits eine allumfassende Professionalisierung. Denn die Pflege eines alten Menschen geht mit hohen seelsorgerischen Herausforderungen und Interventionen in intime Lebensbereiche einher, weswegen oft davon ausgegangen wird, dass Pflegearbeit zu einem großen Teil als »Liebesdienst« zu verstehen sei, für den es kaum Professionalisierungsstandards geben könne. Außerdem soll die Pflege möglichst dem Prinzip der Kontinuitätssicherung des Patienten folgen. Sie findet daher unter ganz unterschiedlichen organisatorischen Rahmenbedingungen statt: Sie erfolgt nicht nur in stationären Einrichtungen wie Pflegeheimen, sondern auch in Privathaushalten, meist in der Kombination der Arbeit von ambulanten Pflegediensten, Angehörigen, ehrenamtlichen Helfern oder sogenannten Haushaltshilfen, die oft aus dem Ausland stammen und im Haushalt der pflegebedürftigen Person leben. Die verschiedenen Personen müssen in die Pflegebeziehung einbezogen werden, was wiederum die genaue Spezifik der Professionalität pflegerischer Tätigkeiten infrage stellt, weil diese zu großen Teilen von Laien ausgeführt werden. Die Grenzen zwischen privaten Sorgetätigkeiten, die zum Beispiel von Angehörigen verrichtet werden, und hoch qualifizierten Tätigkeiten, für die es geschulten Personals bedarf, können in der Praxis verschwimmen. Zugleich steigen die medizinischen Anforderungen an die Altenpflege systematisch, weil »die Zahl der Schwer- und Schwerstpflegebedürftigen zunimmt«8. Der medizinische Fortschritt verlängert das durchschnittliche Lebensalter und damit die Häufigkeit, mit der medizinisch geschultes Personal bei der Betreuung alter Menschen notwendig ist. Es besteht also erheblicher Professionalisierungsbedarf.9 Jedoch steht die strukturelle Diversität konkreter Pflegearrangements einer starken organisatorischen Formalisierung immer ein Stück weit im Wege, weil spezifische, individuelle Arrangements gefunden werden müssen, um die Betreuung der Patienten arbeitsteilig zwischen Profis und Laien zu organisieren.10 8 Auth, »Frauenarbeit in einer alternden Gesellschaft«, S. 301. 9 Auf Basis der angebotenen Ausbildungsplätze scheint dies bereits Folgen zu

zeitigen: So hat sich die Zahl der Ausbildungsplätze in den stationären und ambulanten Pflegediensten zwischen 1999 und 2007 beinahe verdoppelt (Goesmann/Nölle, Die Wertschätzung für die Pflegeberufe, S. 4). 10 Diana Auth bemerkt hierzu: »Drei Viertel der Pflegebedürftigen, die Leistun-

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Letztlich tangiert dieser Umstand auch materielle Fragen der Finanzierung. Einerseits muss der Wohlfahrtsstaat auf die gestiegenen medizinischen Anforderungen der professionellen Pflege reagieren. Ein gesetzlicher Hebel, der hierfür geschaffen wurde, ist beispielsweise die Fachkräftequote von 50 Prozent, die alle professionellen Pflegeeinrichtungen zu erfüllen haben. Andererseits steigen mit den medizinischen Herausforderungen auch die Kosten, was wiederum eine Substitution oder zumindest Ergänzung professioneller Pflegearbeit durch die Arbeit von Laien budgetpolitisch notwendig erscheinen lässt. Auch hier ist der Wohlfahrtsstaat in Form der Pflegeversicherung aktiv, bietet diese doch grundsätzlich die Möglichkeit einer Teilfinanzierung privater häuslicher Pflegearbeit durch Angehörige oder ehrenamtlich tätige Personen (Pflegegeld).11 So zeigen sich in der Altenpflege sehr unterschiedliche Arrangements der Arbeitsteilung, in die je nach konkretem Zuschnitt unterschiedliche Personen, mit verschiedenen persönlichen und professionellen Hintergründen, einbezogen werden müssen. Die Typik solcher Arbeitsverhältnisse in Bezug auf entlohnte Pflegearbeit entscheidet sich maßgeblich anhand des organisatorischen Arrangements, in dem die Arbeit erfolgt. Hier gilt es drei typische Fälle zu unterscheiden. Erstens erfolgt professionelle Altenpflege in stationären Kontexten, also etwa in Pflegeheimen. Zweitens erfolgt sie in Form ambulanter Dienste, die in regelmäßigen zeitlichen Abständen in unterschiedlichen Privathaushalten operieren. Drittens wird bezahlte Pflegearbeit häufig von Hilfskräften in Privathaushalten, sogenannten »Live-ins«, verrichtet. Während die ersten beiden Bereiche von einem hohen Maß sozialpolitischer Regulierung gekennzeichnet sind, finden sich im Fall der Live-ins häufig informelle Arrangements, in Form der Anstellung einer Pflegekraft als Haushaltshilfe – sozialversicherungspflichtig beschäftigt oder in Schwarz-

gen aus der Pflegeversicherung erhalten, werden informell von nahen Verwandten gepflegt. Die Mehrzahl der Pflegebedürftigen hat mehrere Pflegepersonen […]« (Auth, »Frauenarbeit in einer alternden Gesellschaft«, S. 296). 11 Die Teilfinanzierung der Pflege durch Angehörige ist freilich geringer als die Höhe von Sachleistungen, die durch ambulante Dienste erbracht wird. So ergänzen beziehungsweise substituieren letztlich Angehörige als günstige Arbeitskräfte die Arbeit professioneller Pflegedienste. Auch deckt die Pflegeversicherung oft die anfallenden Kosten für die Betreuung nicht in Gänze.

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arbeit. Will man die Lage in der Altenpflege angemessen beurteilen, so bedarf es daher eines Blickes auf beide Bereiche: auf die staatlich regulierte Arbeit in der professionellen Pflege und auf informelle Arrangements in Privathaushalten. Im Folgenden werden daher zwei Fälle dargestellt: der eines stationären Pflegeheims eines großen Wohlfahrtsverbandes und die Arbeitssituationen mehrerer osteuropäischer Haushaltshilfen in unterschiedlichen Privathaushalten.

Das Pflegeheim Für die stationäre Altenpflege bildet die Einführung der Pflegeversicherung im Jahre 1995 eine entscheidende Wegmarke. Sie fällt zusammen mit einer allgemeinen Entwicklung am Pflegemarkt, die von einem Wandel stationärer Einrichtungen von Wohnheimen zu reinen Pflegeheimen gekennzeichnet ist. Da mittlerweile die Mehrheit der betreuungsbedürftigen Personen in ihrem Haushalt versorgt wird, bleiben für die stationären Einrichtungen vor allem diejenigen schweren Fälle übrig, für die eine Betreuung in der eigenen Wohnung keine Möglichkeit mehr darstellt. Den Pflegebedürftigen sind in der Regel über den medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK ) Pflegestufen zugewiesen, die regelmäßig überprüft werden. Die Bestimmung, Verwaltung und Überprüfung der jeweiligen Pflegebedürftigkeit eines Heimbewohners bedürfen umfangreicher Dokumentationsarbeit. So wird von vielen Pflegefachkräften zuerst die Expansion solcher Dokumentationstätigkeiten als entscheidende Veränderung des Berufsfeldes in den letzten 20 Jahren genannt. Die Einführung der Pflegeversicherung hat also wegweisenden Einfluss auf die materiale Gestalt der Arbeit in der stationären Altenpflege genommen. Die Dokumentation erfordert bestimmte administrative Fähigkeiten, die über die konkrete Arbeit am Bewohner hinausgehen. Allerdings wird auch die Arbeit am Patienten komplexer, da in Pflegeheimen tendenziell medizinisch immer anspruchsvollere Tätigkeiten anfallen, da die weniger komplexen Fälle in ihren Haushalten verbleiben.12 12 Ein Indikator hierfür ist etwa das rasante Wachstum ambulanter Dienste: Zwischen 2001 und 2009 stieg die Zahl der Beschäftigten in diesem Bereich von 189567 Personen (Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2001, S. 13) auf circa 269000 (Statistisches Bundesamt 2011, S. 2).

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So wird verständlich, weswegen die Pflegedienstleitung der untersuchten Einrichtung die gesetzliche Fachkräftequote von 50 Prozent als unzureichend beschreibt. Unter einem Fachkräfteanteil von 60 Prozent sei die Arbeit kaum ordentlich zu erledigen. Doch schon die verordneten 50 Prozent sind für viele Einrichtungen nur schwer zu erreichen, da ein Mangel an ausgebildeten Fachkräften besteht. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass zunehmend komplexe medizinische Inhalte Bestandteil der professionellen Qualifizierung des Pflegepersonals werden, dass diese Professionalisierung allerdings statistisch bisher keinen finanziellen Widerhall in den Gehaltsstrukturen der Pflegekräfte findet. So erhalten selbst 48 Prozent der in Vollzeit beschäftigen Altenpfleger in der Bundesrepublik nur einen Bruttomonatslohn von unter 1500 Euro.13

Optionen und begrenzte Mittel Im untersuchten Pflegeheim gelten für die Pflegekräfte tarifliche Regelungen, die an den BAT-KR 14 angelehnt sind. Es werden hier ausschließlich pflegebedürftige Personen aufgenommen. In der Regel sind diese hochbetagt. In Ausnahmefällen sind aber auch junge Unfallopfer oder aus anderen Gründen beeinträchtigte Personen in der Einrichtung untergebracht. Das Heim besteht aus unterschiedlichen Stationen, darunter mehrere Demenzstationen, eine Station für Kurzzeitpflege, eine Station mit Palliativschwerpunkt und eine geschützte Station für Bewohner »mit Weglauftendenz«. Jede Station hat an die 30 Bewohner, die während der Früh- und Spätschicht von je drei Pflegekräften betreut werden. In der Regel hat nur eine dieser drei Pflegekräfte die dreijährige Fachausbildung absolviert und leitet daher das Team. Die meisten Bewohner leben in Doppelzimmern, derzeit werden aber Umbauarbeiten vollzogen, die die Zahl der Einzelzimmer erhöhen sollen. Das Personal besteht zu etwa 90 Prozent aus Frauen, was für die Altenpflege nicht unüblich ist.15 Im untersuchten Pflegeheim, das in einer mittleren Großstadt in Südwestdeutschland liegt, stammen 13 Goesmann/Nölle, Die Wertschätzung für die Pflegeberufe, S. 5, Stand dieser Daten ist das Jahr 2007. 14 Bundesangestellten-Tarifvertrag, Krankenpflege. 15 Im bundesweiten Durchschnitt sind über 80 Prozent der Altenpflegekräfte Frauen (Goesmann/Nölle, Die Wertschätzung für die Pflegeberufe, S. 1).

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beinahe alle Pflegekräfte entweder aus den neuen Bundesländern oder aus Osteuropa. Viele von ihnen formulieren dezidierte Aufstiegsaspirationen und haben oft auch schon einen internen Aufstieg in der Pflegeeinrichtung vollzogen. Das radikalste Beispiel hierfür bietet die Pflegedienstleiterin Frau Lakic, die mit Ende 30 die operative Leitung der Pflegearbeit übernommen hat. Sie kam Anfang der 1990er Jahre als Krankenschwester aus Kroatien nach Deutschland. Ihre Ausbildung wurde rechtlich nicht anerkannt, und so begann sie als ungelernte Hilfskraft in der Pflegeeinrichtung. Diese erkannte ihr Potenzial, finanzierte die Anerkennung der Krankenschwesterausbildung und etliche Weiterbildungen, die ihr den Aufstieg innerhalb der Einrichtung ermöglichten. In der Regel wird die Altenpflege von den Arbeitnehmern als Wunschberuf bezeichnet. In vielen Fällen wurden andere interaktive Tätigkeiten angestrebt, wie etwa die Ausbildung zur Krankenschwester. Die Altenpflege wird dann als eine Alternative beschrieben, mit der man sich wegen der Nähe zum eigentlichen Berufswunsch gut arrangieren kann. In der untersuchten Einrichtung werden an ausgebildete Pflegekräfte in der Regel Arbeitsverträge mit 80 Prozent Arbeitszeit vergeben.16 Wer um seinen Marktwert weiß, kann allerdings erfolgreich einen Lohn über Tarifniveau verhandeln. Trotz 80-Prozent-Verträgen sind 100-Prozent-Arbeitszeiten üblich. Sobald eine Fachkraft die Leitung einer Station übernimmt, wird sie auf 100 Prozent offizielle Arbeitszeit heraufgestuft. Effektiv wird auch dann deutlich mehr als die veranschlagte Arbeitszeit geleistet. Ein Aufstieg in ein solches Arbeitsverhältnis kann allerdings, fachliche Qualifizierung vorausgesetzt, relativ schnell erfolgen. Viele der Stationsleitungen sind zwischen Anfang und Mitte 20. Auch in anderer Hinsicht ist die Einrichtung um Mitarbeiterbindung bemüht. Als etwa vor einigen Jahren mehrere Pflegerinnen in kurzen Abständen nacheinander Eltern wurden, wurde ein Be16 Der Mangel an Vollzeitstellen im Bereich sozialer Dienstleistungen ist chro-

nisch. Die Zahl solcher Stellen ist sogar rückläufig bei gleichzeitigem Personalzuwachs (Dathe/Paul/Stuth, »Soziale Dienstleistungen«). Für die untersuchte Einrichtung lässt sich dieser Umstand als eine Strategie der Kostenreduzierung verstehen. Denn in der Regel wird weit mehr gearbeitet, als die offizielle Arbeitszeit vorsieht.

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triebskindergarten mit Krippenplätzen eröffnet, um den frischgebackenen Müttern die baldige Rückkehr schmackhaft zu machen. Diese ist ohnehin finanziell attraktiv, denn das Elterngeld, das sich nach dem Verdienst berechnet, reicht in vielen Fällen nicht aus, um den Lebensstandard zu halten. So berichtet eine Pflegerin davon, während der Elternzeit auf zusätzliches Wohngeld angewiesen gewesen zu sein, und das, obwohl auch ihr Mann als Handwerker in Vollzeit erwerbstätig war. Sie ergänzt bezüglich ihrer aktuellen Situation: »OK : Krippe – 380 Euro ist auch viel. Eigentlich habe ich fast das Gleiche, wie als ich zu Hause war.« Insofern zeigt sich hier in der Altenpflege eine paradoxe Situation: Einerseits wird in Fachkräfte investiert, ihnen wird vonseiten des Managements stark entgegengekommen. Andererseits schlägt sich dies nicht entscheidend im Verdienst nieder. Dies liegt vornehmlich an der stets prekären Finanzlage der Einrichtungen, die mit dem Geld, das ihnen zur Verfügung steht, hohe Standards erfüllen müssen.

Sorge und Bürokratie Diese Spannungssituation schlägt sich auch in der alltäglichen Arbeit nieder, die stets unter Zeitdruck erfolgt. Die Personaldecke ist dünn, und so werden von den Arbeitnehmern unbezahlte Überstunden erwartet, die diese in der Regel auch übernehmen.17 Flexibilität bezüglich des Wechsels von Schichten und das Einspringen für verhinderte Kollegen sind ebenso notwendig. Wenn mehrere Pflegekräfte krank sind, bricht schnell das »Chaos« aus. Solche Situationen bringen die Pflegekräfte auch in moralisch missliche Situationen. Denn »wenn wenig Personal da ist […] und ich weiß, ich kann die Bewohner nicht gut versorgen, dann gehe ich mit einem ganz schlechten Gewissen nach Haus, und das tut weh, […] das tut richtig weh!« Im Grunde besteht die Arbeit einer Pflegekraft aus zwei großen Tätigkeitsgebieten. Zum einen bilden interaktive Aufgaben im konkreten Gegenüber mit den Pflegebedürftigen, wie das Waschen von Bewohnern, Essen eingeben, Hilfe bei Toilettengängen, Körperpflege, Lagerung und Wundpflege, den Kern der Arbeit. Hier sind 17 Ein Umstand, der sich auch statistisch zeigt. 61 Prozent der in der Altenpflege

Beschäftigten geben einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB ) zufolge an, dass Personalmangel zeitliche Engpässe produziere (Dathe/Paul/Stuth, »Soziale Dienstleistungen«, S. 4).

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soziale Kompetenzen gefragt. Die betreute Person muss in die Aufgabenerfüllung integriert werden, sie wird zum Koproduzenten18 in der Dienstleistungsbeziehung.19 Tätigkeiten, die der Vorbereitung der interaktiven Aufgaben dienen, wie etwa die Zubereitung von Mahlzeiten, gehören nicht zum Aufgabenbereich der Pflegekräfte. Zum anderen verbringen diese aber etwa ein Viertel ihrer Arbeitszeit mit administrativen Tätigkeiten. Hierzu zählt vor allem die Dokumentation. Diese basiert, der Beschreibung einer Pflegekraft folgend auf drei Säulen: (1) dem Vermerken und Organisieren der Pflegeleistungen und dem Kontrollieren der Vitalwerte der Bewohner, (2) der Koordination der Medikamentierung sowie (3) der Wunddokumentation20. Die Dokumentation wird häufig als Entfremdung von der eigentlichen Tätigkeit einer Pflegekraft empfunden. Sie erfolgt teilweise handschriftlich, teilweise am Computer und hat nichts mit den interaktiven Aspekten der Pflege gemein. Die administrativen Fähigkeiten, die für die Dokumentation notwendig sind, verdeutlichen aber auch, dass die Pflege eine anspruchsvolle, qualifizierte Tätigkeit ist. Schließlich gehören auch koordinierende Aufgaben, wie die Absprache von Maßnahmen und Terminen mit Ärzten oder die Verwaltung von Medikamenten- und »Giftschränken«, zu den Aufgaben examinierter Pflegekräfte. Die beiden Hauptaufgabengebiete Interaktion und Administration sind auch räumlich weitgehend getrennt. Die Interaktion vollzieht sich in den für Bewohner und teilweise auch Besucher zugänglichen Bereichen der Pflegeeinrichtung. Die administrativen Tätigkeiten finden dagegen in den separaten Räumen der Pflegekräfte statt. Die Arbeit erfolgt in einem Drei-Schicht-System. Der Frühdienst beginnt um sechs Uhr mit der sogenannten Übergabe. Die Pflegekraft der Nachtschicht berichtet dabei der Stationsleitung der Frühschicht von akuten Situationen bei Bewohnern oder Abweichungen

18 Dunkel/Weihrich, »Interaktive Arbeit«, S. 68. 19 Jochimsen (»Kooperation im Umgang mit Verletzlichkeit«) unterscheidet ana-

lytisch zwei Aspekte dieser Form der Interaktivität: ein instrumenteller Aspekt beziehe sich auf den reinen Vollzug der Tätigkeiten (Waschen, Betten etc.), während ein zweiter Aspekt in der kommunikativen Vermittlung der vollzogenen Handlungen (Erklären, Lächeln etc.) bestehe (nach Nowak, »Fürsorgliche Praxis als prekäre Lohnarbeit«, S. 382). 20 Hierfür gibt es ein eigenes Softwareprogramm namens Wundmanagement.

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von der Routine, die für den Tagesablauf relevant sind. Gegen 6:30 Uhr treffen die Pflegehelfer ein. In Früh- und Spätschicht sind jeweils eine examinierte Pflegekraft, die als Stationsleitung fungiert, sowie zwei Pflegehilfskräfte anwesend. Nach der Übergabe werden von der Stationsleitung die Medikamente für den Tag gerichtet, Prüflisten und Katheter überprüft. Dann beginnt für alle drei Pflegekräfte die Grundpflege: Wecken, zur Toilette führen, Waschen oder einmal in der Woche Duschen beziehungsweise Baden. Jede Pflegekraft hat etwa zehn Bewohner in der Grundpflege zu betreuen. Diese wird gegen acht Uhr unterbrochen, um das Frühstück zu reichen. Danach wird die Grundpflege fortgesetzt. Nach dem Frühstück muss die examinierte Fachkraft Ärztevisiten koordinieren, Medikamente bestellen und ähnliche administrative Aufgaben verrichten. Eigentlich ist die Zeit der Stationsleitung zwischen zehn und zwölf Uhr für Dokumentationsaufgaben reserviert. Tatsächlich werden diese meist nach Dienstschluss ausgeführt, da sonst die Grundpflege nicht vollzogen werden kann. Gegen zwölf Uhr wird das Mittagessen gereicht. Es folgen die Dokumentation des eigenen Arbeitstages und medizinische Kontrollgänge, bei denen etwa Katheter, Insulin oder Wechseldruckmatratzen überprüft werden. Im Anschluss erfolgt die Übergabe an den Spätdienst, der ebenfalls aus einem dreiköpfigen Team besteht: einer examinierten Pflegekraft, die die Leitung übernimmt, einer Hilfskraft und einer Präsenzkraft, die mit nicht-pflegerischen Aufgaben betraut ist. Auch hier beginnt der Dienst der Stationsleitung eine Stunde früher als die der beiden anderen Arbeitnehmer. Er beginnt um 13 Uhr, der der anderen fängt um 14 Uhr an. Im Spätdienst wird ebenfalls Grundpflege verrichtet. Hinzu kommen bestimmte vorbereitende Tätigkeiten, wie die Verteilung von Wäsche, sowie die Reichung von Kaffee und Kuchen und schließlich des Abendessens, das um 18 Uhr serviert wird. Anschließend werden die Bewohner für die Nachtruhe bereitgemacht. Die Stationsleitung ist ab 15 Uhr planmäßig für administrative Tätigkeiten eingeteilt.21 Gegen 17 Uhr trifft der Nachtdienst ein, der auch bei der Verteilung des Abendessens mitarbeitet. Anschließend 21 Zur üblichen Dokumentation kommen hier speziellere Tätigkeiten hinzu. So

werden etwa die individuellen Risikoeinschätzungen, die die Grundlage für die Beantragung einer Pflegestufe sind, Biografieerfassungen und Anamnese zu dieser Zeit erledigt.

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erfolgt wieder die Übergabe. Der Nachtdienst wird meist von einer einzelnen Person besetzt, die im Grunde einen Bereitschaftsdienst vollzieht. Manche Nächte sind ereignisarm, andere ereignisreich. Prinzipiell lassen sich aber viele Stationsleitungen bereitwillig zweimal monatlich in den Nachtdienst einteilen, da liegen gebliebene Dokumentationsarbeit hier erledigt werden kann. Allgemein sind die Belastungen der Pflegekräfte hoch. Schweres Heben soll zwar vermieden werden, wozu allerhand technisches Gerät bereitgestellt und praktische Fähigkeiten vermittelt werden. Im allgemeinen Zeitdruck hebt man am Ende aber eben doch aus dem Rücken und nicht aus den Knien oder spart sich den Weg zum Hebestuhl. Gerade ältere Pflegekräfte klagen über Rückenprobleme, Bandscheibenvorfälle etc.22 Fragt man die Pflegerinnen direkt nach den Belastungen ihres Berufs, so werden allerdings nicht zuerst die körperlichen Aspekte angesprochen. Die Arbeit wird hauptsächlich als psychische Belastung beschrieben. Dies wird vor allem mit dem Umstand begründet, dass die Beziehung zu den Bewohnern unter Zeit- und Kostendruck leide. Körperliche Beschwerden seien daher auch oft die Folgeerscheinung psychischen Drucks, der entsteht, weil die Pflegekräfte das Gefühl entwickeln, ihre Arbeit nicht ordentlich zu Ende bringen zu können. Als Zieldefinition eines positiven Arbeitsergebnisses wird in der Regel die ordentliche Versorgung der Bewohner genannt. Individuelle Deutungen dieses Arbeitsergebnisses changieren zwischen einer Definition, die die katalogmäßige Erfüllung klar geregelter Aufgaben als Arbeitsergebnis beschreibt, und einer solchen, die das persönliche Wohlbefinden der Bewohner zum Ziel hat. Letztere Deutung dominiert ganz klar. Sie findet ihren Ausdruck in der Betonung der »menschlichen Seite« der Pflege, die kommunikative Fähigkei-

22 Dieser Umstand scheint auch für weitere Teilbereiche sozialer Dienste zuzu-

treffen. So »gibt fast die Hälfte der Beschäftigten an, mehrmals pro Woche unter Rückenschmerzen zu leiden« (Dathe/Paul/Stuth, »Soziale Dienstleistungen«, S. 4). Inwiefern sich die körperliche Belastung in einer kurzen Verweildauer im Beruf niederschlägt, ist wissenschaftlich kontrovers (Goesmann/Nölle, Die Wertschätzung für die Pflegeberufe, S. 5, S. 8 f.). Eine Studie des Instituts für Wirtschaft, Arbeit und Kultur (IWAK ) Frankfurt kommt allerdings zu dem Schluss, dass »die Berufsbindung« in der Altenpflege »als hoch bezeichnet werden« kann (ebenda, S. 9).

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ten erfordere, aber auch Selbstdisziplin im Dienste des Bewohners. Eine Pflegerin beschreibt es exemplarisch: »Umsorgen, dieses Fürsorgliche, für die da sein … ich bin ein sehr gefühlsbetonter Mensch, und mit Dementen, das ist einfach alles Gefühl.« Es wird daher nicht als Problem empfunden, die eigenen Gefühle zugunsten von Bewohnern zurückzustellen, sondern als professionelle Kompetenz. Einzelne Arbeitnehmerinnen lassen sich gar betrieblich herunterstufen, um näher an den Patienten arbeiten zu können. Ein solches professionelles »Ethos fürsorglicher Praxis«23 erfordert klare Grenzziehungen: Zum einen muss man sich gegenüber den Bewohnern abgrenzen und zum Beispiel klarstellen: »Sie haben mir das jetzt schon zum zehnten Mal erzählt«. Zum anderen legen die Pflegekräfte hohen Wert auf die Anerkennung ihrer Professionalität und Qualifikation, die sie gesellschaftlich nicht ausreichend gewürdigt sehen. Dies zeigt sich auch im Arbeitsalltag, in dem eine klare Grenze zwischen pflegerischen Tätigkeiten und anderen Arbeiten, die im gleichen Umfeld stattfinden, betont wird. »[Putzen] ist nicht meine Aufgabe« ist eine paradigmatische Aussage, die klarstellt, wer zum Team der Profis gehört und wer nicht.

Hierarchie, Vertrauen, Mobilität Die Scheidelinie, anhand derer der Unterschied zwischen denen, die zu einem Stationsteam gehören, und jenen, die zwar in die Arbeitsteilung dieser Station involviert sind, aber dennoch nicht als Mitglieder des Teams gelten, bestimmt wird, ergibt sich anhand der Materialität der Arbeit. Zum Team gehört, wer pflegerische Aufgaben verrichtet. Dabei sind innerhalb eines solchen Teams, aber auch innerhalb der Einrichtung als ganzer, die Weisungsbefugnisse klar und transparent hierarchisch gestaffelt: Die Geschäftsführerin steht an der Spitze. Für das operative Geschäft ist die bereits erwähnte Pflegedienstleitung zuständig. Unter ihr stehen die Wohnbereichsleitungen (WBL ), die mehrere Stationen koordinieren, aber auch direkt in der Pflege mitarbeiten. Sie sind in der Regel examinierte Pflegekräfte oder Krankenschwestern, die Zusatzqualifikationen für die Wohnbereichsleitung

23 Kumbruck, Diakonische Pflege im Wandel; Senghaas-Knobloch, »Care-Arbeit

und das Ethos fürsorglicher Praxis«, nach Nowak, »Fürsorgliche Praxis als prekäre Lohnarbeit«.

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erworben haben. Darunter stehen die Stationsleitungen, die auch allesamt examinierte Pflegerinnen sind. Sie leiten in der Regel ein Team von zwei weiteren Pflegekräften an, die meist sogenannte Hilfskräfte sind, also entweder eine einjährige Pflegeausbildung oder keine Fachausbildung in diesem Bereich haben. Die Strukturen sind zu jeder Zeit klar, sei es in Bezug auf organisatorische Fragen, sei es in Bezug auf die flexible Gestaltung des Alltags in den Stationen. Denn auch hier, auf der operativen Ebene, sind die Tätigkeitsprofile hierarchisch, entlang der formalen Qualifikationen der Beschäftigten zugewiesen. Am unteren Ende einer Station stehen die Präsenzkräfte. Sie waren in den letzten Jahren in der Regel EinEuro-Jobber24, wurden allerdings vor Kurzem in geringfügige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt. Sie sind mit einfachen überwachenden und gewährleistenden Tätigkeiten betraut, müssen aufpassen, dass niemand »abhanden« kommt, kochen Kaffee und Tee, spülen Geschirr, schmieren Brote und reichen in den Aufenthaltsräumen das Essen. Sie gelten nicht als vollwertige Teammitglieder, was auch daran liegt, dass sie bisher nur sechs Wochen am Stück in der Einrichtung arbeiteten. Direkt über den Präsenzkräften stehen die Pflegehilfskräfte. Sie sind im vorliegenden Falle ungelernte Arbeitnehmer, die in der Grundpflege eingesetzt werden. Sie müssen auch dokumentieren, allerdings nur bezüglich der Grundpflege, die sie verrichten, und damit nicht in gleichem Ausmaß wie die examinierten Kräfte. Diese bilden die nächsthöhere Hierarchieebene. Meist ist die während einer Schicht anwesende examinierte Pflegekraft zugleich Stationsleitung. Es bedarf einer formalen Zusatzqualifikation, um im vorliegenden Fall als Stationsleitung arbeiten zu können. In der beschriebenen Einrichtung wird diese Weiterbildung jedoch in der Regel jeder examinierten Kraft offeriert. Denn meist ist pro Schicht ohnehin nur eine examinierte Pflegekraft anwesend, die dann konsequenterweise die Führung übernehmen muss.25 24 Ein-Euro-Jobs tragen offiziell den Titel »Arbeitsgelegenheit mit Mehrauf-

wandsentschädigung« und bezeichnen Maßnahmen der Arbeitsagenturen, die über die Vermittlung »zusätzlicher« Arbeit letztlich auf die Eingliederung der Betroffenen in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zielen. 25 Wie beschrieben agieren die examinierten Kräfte auch in der Grundpflege. Zusätzlich kommen ihnen umfangreiche Dokumentationsarbeiten zu und die

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Da die Einrichtung mehrere Stationen hat, bedarf es der Wohnbereichsleitungen, um die einzelnen Stationen eines Standorts zu koordinieren. Auch die Stellen der Wohnbereichsleitungen werden häufig in Personaleinheit mit der Stationsleitung bekleidet.26 Die Wohnbereichsleitungen haben eine interne Kontrollfunktion: Sie überprüfen die Hygiene innerhalb der Stationen, sehen während der Schichten nach dem Rechten, überprüfen die Dokumentation und die Führung der Medizin- und »Giftschränke«. Im Arbeitsalltag findet diese Form der Kontrolle freilich auch zwischen den Belegschaften der unterschiedlichen Schichten statt. Denn bei der Übergabe einer Schicht fallen automatisch etwaige Fehler oder Versäumnisse von Kollegen auf. Führen solche Situationen zu Konflikten unter Kollegen, so ist es wiederum an der Wohnbereichsleitung, diese Konflikte zu bearbeiten. Sie hat daher auch die zentrale Aufgabe der Teamentwicklung. Was die operative Leitung der Stationsarbeit angeht, steht nur noch die Pflegedienstleitung über den Wohnbereichsleitungen. Sie ist gar nicht mehr in der aktiven Pflegearbeit tätig, sondern verwaltet und koordiniert die Personalentwicklung. In der Regel greift sie nicht in den Alltag der Stationen ein. Sie ist allerdings dafür verantwortlich, die Personalentwicklung für die Zukunft im Blick zu behalten, und somit die zentrale Instanz, die in Absprache mit der Heimleitung über das Gewähren von Qualifizierungsmaßnahmen und über Beförderungen entscheidet. Allgemein lässt sich sagen, dass diese klaren, transparenten Hierarchien eine Form berechenbarer betrieblicher Organisation darstellen, die von den Pflegekräften als positiv und produktiv beschrieben wird. Konfliktbewältigung und Partizipationsmöglichkeiten an der Gestaltung des betrieblichen Alltags sind institutionalisiert: So

Autorität über die Medikamentengabe und -verwaltung. Auch verschiedene medizinische Tätigkeiten, etwa das Messen von Blutzuckerwerten oder das Überprüfen von Kathetern darf nur von den examinierten Pflegekräften übernommen werden. 26 Die Aufgaben der examinierten Kräfte werden allesamt auch von der Wohnbereichsleitung ausgeführt. Hinzu kommt das Erstellen von Dienstplänen, die Koordination der Personalplanung, das Führen jährlicher Mitarbeitergespräche, das Leiten von Fallbesprechungen, das Überprüfen der Dokumentationen und die Schulung von Hilfskräften.

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finden monatliche Teamgespräche statt, in denen Verbesserungsvorschläge gemacht und Probleme auf allen Ebenen angesprochen werden können. Auch bei den jährlichen Mitarbeitergesprächen ergibt sich die Möglichkeit, Einfluss auf den Arbeitsprozess zu nehmen, aber auch die eigene Zukunft mit der Heimleitung abzustimmen. Doch die internen Vorgesetzten sind nicht die einzigen Instanzen der Kontrolle, bei denen man sich bewähren muss, um im Unternehmen weiterzukommen. Sie verfügen mit der Übersicht über die Dokumentationsarbeit der Pflegekräfte zwar über das zentrale Kontrollinstrument. Allerdings greifen auch externe Instanzen sanktionsrelevant auf dieses zu. Zu nennen sind im vorliegenden Fall drei solcher Instanzen: der medizinische Dienst der Krankenkassen, der die Pflegestufen vergibt und regelmäßig die Abläufe im Pflegeheim kontrolliert; die Heimaufsicht, die mindestens einmal jährlich zur Kontrolle von Dokumentationen und Abläufen erscheint; ein unabhängiges Prüfinstitut, das das Pflegeheim zur Überprüfung und letztlich Zertifizierung der Einrichtung engagiert. Im vorliegenden Fall sind noch keine gravierenden Versäumnisse dokumentiert worden.27 Eine weitere Instanz der Kontrolle bilden außerdem die Bewohner beziehungsweise deren Angehörige. Der Beschwerdeweg ist hochgradig formalisiert: Die Person, bei der eine Beschwerde aufgegeben wird, dokumentiert diese und leitet sie an die nächsthöhere Ebene sowie an die Pflegedienstleitung weiter. Diese koordiniert die Bearbeitung des aufgeworfenen Problems und unterrichtet die Person, die die Beschwerde aufgegeben hat, über deren Bearbeitung. Allgemein wird mit Beschwerden professionell umgegangen: Das Einschalten der Pflegedienstleitung verdeutlicht dem Kunden, dass seine Intervention ernst genommen wird. Es ergeben sich auch durchaus Folgen für die beanstandeten Handlungsabläufe. Aber zu Sanktionierungen der Pflegekräfte kommt es nur »sehr selten«.

27 Allerdings haben auch »kleinere« Fehler durchaus Folgen: So berichtet eine

Wohnbereichsleitung, vor Jahren einmal bei einer unangekündigten Kontrolle durch einen Fehler aufgefallen zu sein. Es fehlte ein bestimmtes Medikament für einen Patienten, weil sich die Lieferung durch die Apotheke verzögert hatte. Da die Medikamentenbestellung in den Verantwortungsbereich der Wohnbereichsleitung fällt, wurde ihr die Verantwortung zugewiesen. Es folgte ein Eintrag in die Personalakte. Weitere Konsequenzen blieben allerdings aus.

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Denn »dass Fehler passieren, ist klar. Man muss dann nicht gleich den Hammer herausholen und draufhauen, […] wenn es nicht lebensgefährlich ist«, wie die Pflegedienstleitung zu Protokoll gibt. Insofern ist das Verhältnis der ausführenden Ebene (Pflege) zu den rein administrativen Führungsbereichen (Pflegedienstleitung, Heimleitung) von Vertrauen, Pflichtverbundenheit und Verantwortungsgefühl geprägt. Zwischen allen Ebenen funktioniert die Kooperation hierarchisch und zugleich solidarisch. Die Leitungsebene ist stets auf die Kooperation der ihr Untergebenen angewiesen. Diese müssen etwa freiwillig und unentgeltlich Überstunden machen und flexibel auf wechselnde Arbeitszeiten reagieren. Die kooperative Mitarbeiterführung zeigt sich auch im Verhältnis innerhalb gleicher Hierarchieebenen. Treten hier Konflikte zwischen einzelnen Personen auf, so drehen sich diese in aller Regel um die Arbeit selbst und können schnell und lösungsorientiert bearbeitet werden.28 Wo sich horizontal keine einvernehmliche Lösung finden lässt, werden die nächsthöheren Hierarchieebenen und die erprobten Konfliktbearbeitungsmuster (Teamgespräche) bemüht. Da sich die Konflikte um den Arbeitsvollzug selbst drehen, lassen sie sich tendenziell über eine Anpassung der Arbeitsweise lösen. Personengebundene Konflikte werden schon deswegen selten aktuell, weil die verursachende Person in der Regel nicht anwesend ist, wenn das Problem erkannt wird, da dieses in der vorhergehenden Schicht verursacht wurde. Bis es zur Thematisierung kommt, haben sich die Gemüter meist ausreichend abgekühlt, um eine produktive Lösung anstreben zu können. In den seltenen Fällen persönlicher Abneigungen wird das Konfliktpotenzial durch die Wohnbereichsleitungen gering gehalten, indem potenzielle Konfliktpersonen nicht in den gleichen Dienst eingeteilt werden. In einzelnen Fällen wird die kontrollierende Einflussnahme der Leitungsebene auf die Arbeitsabläufe auch kritisch gesehen. Aber grundsätzlich wird dieses Konfliktpotenzial gering gehalten, indem die Durchlässigkeit von Hierarchien propagiert wird.29 Wie schon 28 Eine Übergabe wird zum Beispiel beanstandet, weil die vorhergehende Schicht,

nicht ordentlich gearbeitet hat. Solche Konflikte regelt man untereinander, ohne dass sich daraus erkennbare Verstetigungen von Konflikten ergeben. 29 Dies gilt nicht nur für die Organisation des Stationsalltags, auf den die Pflegekräfte über Teamgespräche Einfluss nehmen können. Vor allem die Personal-

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das Beispiel der Pflegedienstleitung Frau Lakic verdeutlicht hat, setzt das Pflegeheim auf interne Qualifizierung. Dies liegt vor allem in dem Mangel an qualifiziertem Pflegepersonal begründet. Die Fachkräftequote zu erfüllen ist eine permanente Herausforderung für das Management der Einrichtung. Da examinierte Pflegefachkräfte extern nur schwer anzuwerben sind, setzt das Heim einerseits auf die interne Ausbildung: Hilfskräften, die sich in der Praxis bewähren, wird eine Ausbildung zur Fachkraft nahegelegt.30 Andererseits richtet sich die Personalentwicklung auf den Verbleib der bereits vorhandenen Fachkräfte im Unternehmen. Ihnen werden Karriereoptionen aufgezeigt.31 Mit der Anzahl der Zusatzqualifizierungen steigt auch die Selektivität ihrer Zuweisung. Das Heim qualifiziert Mitarbeiter nicht planlos, sondern mit der Perspektive, nach einer Weiterbildung in der neuen Position in der Einrichtung tätig zu werden. Der Umstand, dass die Leitungsfunktionen begrenzt sind und daher nicht jeder Pflegekraft die gleichen Karriereoptionen geboten werden können, wird zum Teil durch die kleinteilige hierarchische Staffelung der Arbeitsorganisation bearbeitet: Man steigt in kleinen Schritten auf, die immer nur ein wenig mehr an Zuständigkeiten und Weisungsbefugnissen bedeuten. Dennoch stellen die Qualifizierungsmaßnahmen eine erhebliche finanzielle Investition dar und müssen

entwicklungspolitik des Pflegeheims verdeutlicht, dass Weisungsbefugnisse nicht in Stein gemeißelt sind, weil leistungswillige Pflegekräfte grundsätzlich innerhalb der Hierarchie relativ schnell aufsteigen können. 30 Auf die spezifischen Bedürfnisse dieser Gruppe wird dabei dezidiert eingegangen. Denn es handelt sich häufig um Quereinsteiger jenseits der 30. Diese Personen sind auf den Verdienst als Hilfskraft angewiesen, und so bezahlt das Pflegeheim auch während der Ausbildung das Gehalt der Hilfskräfte weiter. 31 Ein typischer Weg führt dabei aufbauend auf der Fachkraftausbildung zur zweijährigen Ausbildung zur Stationsleitung, diese Weiterbildung erfolgt in einer Fortbildungseinrichtung. Die Pflegerin wird vom Heim dafür circa eine Woche im Monat freigestellt. Es folgen etwaige Zusatzqualifikationen, wie die Fortbildung zur Fachkraft für Gerontopsychiatrie oder die Weiterqualifikation zur Wohnbereichs- oder Pflegedienstleitung. Alle diese Fortbildungen werden vom Pflegeheim selbst finanziert. Hierin liegt durchaus ein gewisses Risiko, denn die Pflegekräfte sind nicht zu einem Verbleib in der Einrichtung verpflichtet. Es besteht durchaus die Gefahr, Fachkräfte für die Konkurrenz auszubilden.

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somit sorgfältig bedacht sein. Die Pflegedienstleitung hat daher stets ein Auge auf die Arbeit in den Stationen, um diejenigen Pflegekräfte bestimmen zu können, für die eine Investition in die Weiterbildung gerechtfertigt erscheint.32 Die grundsätzlich expansive Qualifizierungspolitik wirft das Problem der Finanzierung auf. Das Heim erhofft sich eine langfristige Personalbindung von der Investition in qualifizierte Arbeit. Die Geldmittel, die genutzt werden, um diese Maßnahmen für die Pflegekräfte auch finanziell attraktiv zu machen, belasten allerdings den Haushalt der Pflegeeinrichtung. Wegen des hohen Etats für Fortbildungen »steht dann in einem anderen Bereich weniger Geld zur Verfügung«, gibt die Pflegedienstleitung zu Protokoll. Es handelt sich letzten Endes um Verteilungsfragen innerhalb der Pflegeeinrichtung, die ja auch noch andere Bereiche, wie die Reinigung oder die Betriebsküche, betreibt. Für diese hauswirtschaftlichen Bereiche können keine Qualifizierungsdynamiken konstatiert werden. Der Kostendruck, unter dem die nicht-medizinischen beziehungsweise nicht-pflegerischen Tätigkeitsbereiche innerhalb des Bereichs sozialer Dienstleistungen stehen, wird später in diesem Kapitel ausführlich besprochen werden. Karen Jaehrling bemerkt für den Krankenhaussektor, dass auch dort der Expansion verhältnismäßig hoch entlohnter Pflegefachkräfte die Zunahme von Niedriglohnarbeit in der Reinigung gegenübersteht.33 Dort schlägt sich der Kostendruck in massiven Rationalisierungsdynamiken nieder, was die Frage nach einer Polarisierungslogik zwischen medizinischen und hauswirtschaftlichen Tätigkeiten nahelegt. Auch das zeitweise rasante Wachstum unqualifizierter Pflegearbeit verweist darauf, dass

32 Nicht jede Pflegekraft erscheint daher ideal. Eine Pflegerin berichtet etwa, um

die Weiterbildung zur Stationsleitung regelrecht gebettelt zu haben. Als Mutter zweier Kinder, die aus eben diesem Grund auf die Einhaltung ihrer Arbeitszeiten beharrte, hat sie sich wohl nicht als ideales Investitionsobjekt präsentiert. Dennoch hat ihr das Heim letzten Endes die Ausbildung zur Stationsleitung und auch einen Kurs in Wundheilkunde finanziert. Dies kann wiederum als Hinweis darauf verstanden werden, wie eng der Markt für qualifizierte Pflegekräfte ist. Im vorliegenden Fall scheint zumindest bis zur Position der Stationsleitung jede Person, die dieses Ziel anstrebt, auch eine Chance zur Weiterbildung zu bekommen. 33 Jaehrling, »Wo das Sparen am leichtesten fällt«, S. 175.

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in den pflegerischen Tätigkeiten Professionalisierungs- und Deprofessionalisierungstendenzen Hand in Hand gehen.34 So stieg zwischen 1996 und 1999 etwa die Zahl unqualifizierter Pflegekräfte »um das 6-Fache«.35 Das beschriebene Bild der geförderten Qualifizierung des Pflegepersonals im vorliegenden Fall wirft daher die grundsätzliche Frage auf, wer die negativen Folgen fehlender finanzieller Mittel innerhalb der Einrichtung zu tragen hat – ob, mit anderen Worten, der Aufstieg der einen den Abstieg der anderen bedingt.

Technik und Interaktivität als Qualifizierungsmotoren Die Qualifizierungsdynamiken innerhalb der stationären Pflegeeinrichtung verweisen also systematisch auf die Frage, auf wessen Kosten diese geschehen. Später in diesem Kapitel wird erläutert werden, warum die nicht-medizinischen beziehungsweise nicht-pflegerischen Tätigkeiten innerhalb bestimmter Organisationen den Preis für etwaige Professionalisierungs- oder Kostensenkungsstrategien zu tragen haben. Einstweilen ist allerdings eine knappe Zusammenfassung des Ordnungsmechanismus der Arbeitssituation im untersuchten Unternehmen angezeigt. Zu dieser Arbeitssituation gehören die Reinigungskräfte, Küchenbedienstete und Mitarbeiter des Facility Managements eben nur bedingt: Zwar garantieren auch sie den reibungslosen Ablauf der Arbeit in den Stationen, von den in der Pflege Beschäftigten werden sie jedoch nicht als Teil der eigenen Arbeitssituation begriffen. Der Ordnungsmechanismus der Arbeitssituation innerhalb der untersuchten stationären Pflegeeinrichtung zeichnet sich vonseiten des Managements durch die Kombination technisch-administrativer Kontrollstrategien mit kooperativer Mitarbeiterführung aus. Formen der Standardisierung der Pflegearbeit sind vor allem durch die Einführung der Pflegeversicherung etabliert worden, da die Handlungsabläufe formalisiert wurden. Die Dokumentation hat die Komplexität der Aufgaben, die eine Pflegekraft zu bewältigen hat, allerdings erhöht und nicht verringert. Der Effekt dieser Maßnah34 Kuhlmey/Winter, »Qualifikationsentwicklung in der deutschen Pflege«. Eine

solche Hypothese entspricht der klassischen Polarisierungsthese Kern/Schumanns. 35 Ebenda, S. 480.

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men ist daher eher die weitere Professionalisierung als die Dequalifizierung der Pflegearbeit. Auf der Ebene der Handlungsorientierungen der Pflegekräfte treffen diese Strategien und Dynamiken auf ein spezifisches Pflichtbewusstsein, das sich aus der grundsätzlich positiven Deutung der interaktiven Materialität der Arbeit speist. Hierarchien regeln die Arbeitsteilung. Dies wird von den Pflegekräften positiv wahrgenommen, weil es zum einen einer Effektivierung der Arbeit dient und weil zum anderen die Hierarchien sowohl im Arbeitsalltag als auch in Hinsicht auf individuelle Laufbahnen als durchlässig gelten können. Dieses Arrangement funktioniert auf der Basis des Zusammentreffens von Fachkräftemangel und Professionalisierungszwang, das dafür sorgt, dass für jede Pflegekraft, die etwas werden will, im Unternehmen Möglichkeiten der Entwicklung geboten werden. Von solchen Entwicklungsmöglichkeiten können Arbeitnehmer, die als Haushalts- oder Pflegehilfen in Privathaushalten angestellt sind nur träumen. Hier greifen die Formalisierungsdynamiken nicht, die in der stationären Pflege die Professionalisierung der Arbeit unterstützen.

Der Privathaushalt Es gibt keine verlässlichen Daten über die Anzahl von Personen, die in der Bundesrepublik als Haushalts- und Pflegehilfen in Privathaushalten beschäftigt sind. Maßgeblich für dieses Unwissen ist der hohe Anteil an irregulärer Beschäftigung in diesem Bereich, die in keinen Statistiken vorkommt.36 In der sozialwissenschaftlichen Forschung herrscht allerdings Einhelligkeit bezüglich der Tatsache, dass der haushaltsinternen Betreuungsarbeit eine stetig wachsende Bedeutung zukommt. Das öffentliche Betreuungsdefizit37 wird dafür

36 Einige Schätzungen gehen von etwa 100000 illegal Beschäftigen in privaten Haushalten aus (Klein, »Pflege vor neuen Herausforderungen?«, S. 128). Nor-

bert Cyrus spricht dagegen auf Basis eines vorsichtigen Schätzverfahrens von 48000 bis zu 100000 Beschäftigten, die in Privathaushalten mit Sorgearbeit betraut sind und über keine legalen Aufenthaltstitel verfügen (Cyrus, »Managing a Mobile Life«, S. 59), wobei Letzteres für viele Beschäftigte aus EU -Mitgliedsstaaten lediglich ein Übergangsphänomen sei. 37 Sei es in Bezug auf die Kinderbetreuung oder den Pflegenotstand.

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verantwortlich gemacht, dass Dienstleistungen häufig direkt in den Haushalt verlagert werden. In der Bundesrepublik handelt es sich bei den Beschäftigten besonders oft um Arbeitnehmer aus Osteuropa, im Besonderen aus Polen. Sofern diese Beschäftigten über offizielle Agenturen vermittelt werden, leben sie in der Regel drei Monate lang im Haushalt der Kunden. Daran schließen sich drei bis vier Wochen Erholungszeit in der Heimat an, bis man zu einem neuen Auftrag ausrückt.38 Der quartalmäßige Personalwechsel minimiert das Risiko für die Vermittlungsagenturen, die Arbeitnehmer an irreguläre Beschäftigung zu verlieren. Die Agenturen sind im Arbeitsalltag nicht präsent. Ein Kunde mag daher durchaus den Reiz verspüren, seiner Haushaltshilfe eine Beschäftigung anzubieten, bei der nicht etwa ein Drittel der Kosten an eine Agentur gehen. Sind die Angestellten jedoch nicht länger als drei Monate im Haushalt, so reduziert sich diese Gefahr, da sich kein ausgefeiltes Vertrauensverhältnis zwischen Kunden und Arbeitnehmern etablieren kann. Dennoch floriert auch die irreguläre Beschäftigung in Privathaushalten.39 Im vorliegenden Fall bilden aber nur solche Arbeitsarrangements den Ausgangspunkt der Analyse, die über offizielle Agenturen vermittelt sind.40 Die untersuchten Beschäftigten waren als Haushaltshilfen angestellt, auch wenn sie vornehmlich mit pflegerischen Tätigkeiten betraut waren. Dies hat für die Auftragnehmer den Vorteil, dass damit nicht der Mindestlohn der Pflegebranche gezahlt werden muss. Im Folgenden werden mehrere erhobene Fälle aus unterschiedlichen Haushaltskontexten zu einer typischen Arbeitssituation verdichtet.

38 Die Dauer von drei Monaten geht auf die Sperrregelungen der Arbeitnehmerfreizügigkeitsbestimmungen für osteuropäische EU -Mitgliedsstaaten zurück, die bis zum 01. Mai 2011 in Deutschland galt. Seither können etwa polnische

Arbeitnehmer theoretisch auch länger in der Bundesrepublik bleiben. De facto geschieht dies bei agenturvermittelten Stellen allerdings selten. Denn nach drei Monaten, in denen eine Haushaltshilfe 24 Stunden auf Abruf bereitzustehen hat, ist eine Pause durchaus angebracht. 39 Vgl. Alt, Leben in der Schattenwelt. 40 Es ließ sich schlicht kein Feldzugang zu irregulärer Beschäftigung in diesem Bereich herstellen.

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Der unsichtbare Arbeitgeber Von Unternehmensstrukturen kann im Falle der »Live-ins« nur sehr eingeschränkt die Rede sein. Zwischen Pfleger beziehungsweise Haushaltshilfe und Patient beziehungsweise Kunde ist eine Agentur geschaltet. Sie ist der offizielle Arbeitgeber, auch wenn die Kontrollfunktionen im Alltag selbstredend von den Kunden oder deren Angehörigen ausgeübt werden. Die Agentur vermittelt die Pflegekräfte an die einzelnen Klienten. Sie hat mehrere Dependancen in Polen und eine Leitstelle in Deutschland, die den Hauptteil der Koordinationsaufgaben übernimmt. Die Firmenkonstruktion beruht auf Anonymität. Die Arbeitnehmer wissen nicht, wie gut die Agentur sich die Vermittlung bezahlen lässt: dass sie in vielen Fällen allmonatlich etwa ein Drittel des gezahlten Pflegegeldes als Vermittlungsgebühr kassiert.41 Bewerbung und Anstellung finden auf unterschiedlichen Wegen statt. Magda, eine 43-jährige Polin, berichtet beispielsweise, dass in ihrer Heimatstadt eine große Vermittlungsagentur existiere, die jeder kenne. Dort sei sie vorstellig geworden, weil sie mit Mitte vierzig keine Anstellung mehr in ihrem ursprünglichen Arbeitsbereich gefunden habe.42 Adam dagegen hat seine Agentur im Internet gefunden. Seinen Chef – oder überhaupt einen Vertreter seiner Agentur – hat er noch nie gesehen. Auch die Bewerbung lief per Internet, die Anstellung und die jeweilige Koordination seiner Pflegeeinsätze in Deutschland geschieht telefonisch. Sämtliche Absprachen finden per Telefon statt. Die Firma agiert damit konträr zu der personennahen Arbeit, die sie vermittelt. Sie funktioniert anonym, kontaktlos, ohne direkte Interaktion. Sie hat zwar eine gewisse Schutzfunktion für den Arbeitnehmer, denn immerhin findet das Arbeitsverhältnis in einem legalen Rahmen statt. Auch kann sich die Haushaltskraft melden, falls es große Probleme mit den Kunden gibt. In solchen Fällen sucht die Agentur dann das Gespräch mit den Kunden oder vermittelt eine neue Haushaltshilfe beziehungsweise Pflegekraft, falls ein vertrauensvolles Verhältnis nicht mehr herzustellen ist. Allerdings scheint diese Schutzfunktion vornehmlich auf die Kunden zugeschnitten. 41 Es ist nicht klar, ob ein so großer Anteil die Regel ist. In einzelnen Fällen war al-

lerdings auch von noch höheren Beträgen die Rede. 42 Magda war lange Zeit als Buchhalterin und als Sachbearbeiterin in einer öffentlichen Verwaltungsbehörde in Polen tätig.

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Auch eine illegal beschäftigte Haushaltshilfe kann theoretisch die Reißleine ziehen und den Haushalt verlassen.43 Für die Angestellten einer Agentur bietet diese immerhin die Chance, nach dem etwaigen Abbruch eines Arbeitsverhältnisses sogleich in ein neues überführt zu werden, und ermöglicht damit in einem gewissen Maße finanzielle Planungssicherheit.

Verhandelte Nähe Was für die finanzielle Situation gilt, gilt allerdings nicht für die spezifischen Tätigkeiten, die sich durchaus zwischen unterschiedlichen Kunden stark verändern können. Zwar sind die Agenturen bemüht, die spezifischen Arbeitsbelastungen vor Dienstantritt zu klären. Doch jeder Fall ist unterschiedlich, und oft verändert sich die Situation einer hilfsbedürftigen Person und mit ihr die Anforderungen an die Betreuung. Pflegerische Tätigkeiten sind selten klar von den Tätigkeiten einer Haushaltshilfe zu unterscheiden. Dies führt dazu, dass häufig vollkommen unausgebildetes Personal mit relativ anspruchsvollen Tätigkeiten konfrontiert ist. Nehmen wir etwa Magda, die jahrzehntelang mit administrativer Büroarbeit betraut war und nun als Haushaltshilfe auch pflegerische Aufgaben, wie das Waschen und Lagern der Patientin, auszuführen hat. Oder aber Adam, der als studierter Ingenieur noch nie in der Pflege gearbeitet hatte, bevor er vor zwölf Jahren seinen ersten Einsatz hatte. Magdas oder Adams Arbeitstag beginnt damit, den »Patienten« morgens aus dem Bett zu holen. Anschließend assistieren sie bei der Morgentoilette, machen Frühstück und helfen beim Einnehmen der Nahrung. Auch die weiteren Mahlzeiten des Tages bereiten sie zu und geben sie ihren Patienten ein, sofern diese dazu selbst nicht in der Lage sind. Falls möglich gehen sie mit ihnen spazieren oder leisten anderweitig Gesellschaft. Sie organisieren und koordinieren nicht nur die Pflege, sondern den gesamten Alltag. Ihr Tag beginnt zwischen halb acht und neun Uhr und endet etwa um 22 Uhr. Dann gehen die meisten Patienten schlafen. In diesen Momenten und ebenso in den Nachmittagsstunden, wenn diese ebenfalls ruhen, be-

43 Auf diesen Umstand verweisen auch Kunden, die bereits an derartigen Arbeits-

verhältnissen beteiligt waren. Für sie bietet die Agentur vor allem die Sicherheit, im Falle von Problemen stets eine neue Arbeitnehmerin vermittelt zu kriegen.

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ginnt die Zeit, die die Pflegekräfte für sich haben. Dann gehen sie in den Garten oder spazieren. Sozialkontakte haben sie vor Ort keine, die über die Angehörigen der Patienten hinausgehen. Sie wählen in ihrer kargen Freizeit Beschäftigungen, die die Isolation ihrer Arbeitssituation fortsetzen. Einzig Magda bemüht sich gelegentlich, die Umgebung der Kleinstadt, in der sie derzeit tätig ist, zu erkunden, geht hin und wieder in ein Café, um ein Stück öffentliche Luft zu schnuppern. Raum und Sprache isolieren allerdings, und diese Isolation führt zu Einsamkeit. Das Leben reduziert sich auf die Arbeit, in die man sich umso stärker stürzen kann, je weniger Ablenkung die Umwelt bietet. Die Live-in-Konstellation stellt das Arbeitsverhältnis vor besondere Herausforderungen. Die Arbeit funktioniert nach dem Prinzip der Intensivierung. Früher, als er noch als Ingenieur tätig war, ist Adam abends nach Hause gefahren. Selbst in seiner Zeit als Bauarbeiter in Deutschland waren Arbeit und Privatraum noch getrennt. Nun ist er 24 Stunden vor Ort, steht immer auf Abruf bereit.44 Es sind allerdings nicht nur die zeitlichen Aspekte, durch die die Arbeit besonders umfassend auf das Leben der Arbeitnehmer zugreift. Gerade die besonders intensive Form der Interaktivität, die auch in intime Bereiche vordringt, stellt spezielle Anforderungen an die Dienstleister. Die Arbeit erfolgt sehr nah am Patienten, der ja oft nur von einer Person betreut wird. Sie erfordert zwischenmenschliches Vertrauen und damit auch eine gewisse Dauerhaftigkeit. Es gibt keinen festgelegten Handlungskatalog. Vielmehr müssen Routinen und Arbeitsmodi erst ausgehandelt werden. Auch die Prozessoptimierung, also das Erlernen der pflegerischen Kompetenzen, erfolgt im ersten Betreuungsverhältnis meist »on the job«. So war es auch bei Adam, als er seine jetzige Stellung annahm. Gekonnt manövriert er seinen aktuellen Patienten mittlerweile nach der Mittagsruhe aus dem Bett. Er legt ihm einen Arm um die Schulter, einen um die Hüfte, eine kurze Drehung, dann sitzt der alte Mann aufrecht an der Bettkante. Mit einem nächsten Schwung ist der Rollstuhl herbeigezogen und der Patient »übergesetzt«. Alles

44 Auch Magda beschreibt das zeitliche Arrangement als sehr belastend. Sie würde

ein klarer strukturiertes Arbeitsverhältnis bevorzugen, meint aber, in ihrem Alter auf dem polnischen Arbeitsmarkt keine Chance mehr zu haben.

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eine Sache von wenigen Sekunden, weil die Routinen sich mittlerweile eingespielt haben. Koordination von Kraft, Sensibilität und Geschick gehen bei dieser Arbeit am Menschen eine untrennbare Verbindung ein. Routinen tragen den Ablauf der Arbeit. Dennoch muss das pflegerische Handeln permanent achtsam auf das Gegenüber eingestellt werden. Adam und der alte Mann verstehen sich mittlerweile ohne Worte. Das ist auch notwendig. Denn Adams Deutschkenntnisse sind begrenzt. Doch ist es nicht nur eine Frage der Sprachkompetenz. Ohnehin gilt es den Pflegern als notwendige Fähigkeit, auch ohne verbale Kommunikation die Bedürfnisse ihrer Patienten zu erkennen. Was sie alleine machen können und wollen, lassen Magda und Adam sie machen. Wenn der Löffel aber mal nicht recht zum Mund will oder ein wenig Kuchen sich verselbstständigt, haben sie schon beherzt eingegriffen, ohne dass es eines Wortes bedarf. Empathie und die Fähigkeit, sorgende Nähe zu vermitteln, sind der Schlüssel zum professionellen Ethos der Live-ins. Diese Eigenschaften teilen sie mit den Pflegekräften der beschriebenen stationären Einrichtung. Adam formuliert es folgendermaßen: »Die braucht viel, viel, viel, die alte Menschen brauchen viel Kontakt. Das is nur ab Herz bisschen. Die bisschen Wärme brauchen. Alle Menschen, ganz egal. Frauen, Männer, gute Menschen, schlechte Menschen, äh, is ganz egal. Aber das is=kostet nur bisschen die Psychologie auch, ne? Und ein bisschen Herz. Das is nicht mehr. Das is keine Philosophie. Das is schöne Job […]. Zu mir machen viel Spaß. Viel Spaß.« Bis ein solches Ethos sich in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Patienten in erfolgreich etablierten Routinen und emotionalem Verständnis niederschlägt, bedarf es einer gewissen Zeit. Denn ein offizieller Handlungskatalog, wie er im stationären oder ambulanten Bereich die Arbeit regelt, existiert hier nicht. Mindestens zwei, drei Monate dauert es, bis man sich aufeinander eingespielt hat. Zwei, drei Monate des gegenseitigen Herantastens, Auslotens und Abstimmens. Hat man sich gerade ausreichend aufeinander eingerichtet, kommt auch schon die Wachablösung. Immerhin kehrt in einer gut funktionierenden Pflegebeziehung der Arbeitnehmer nach einem Monat Pause wieder zurück in den gleichen Haushalt. In einer solchen, gut eingespielten Beziehung, in der auch die Chemie zwischen Helfer und Betreutem stimmt, muss sich die Pflegekraft voll auf den Patienten einlassen. Doch auch dieser muss bestimmte 177

Kompromisse eingehen. So ist etwa das Essen oft ein Grund für Konflikte, weil polnische Hausmannskost möglicherweise nicht den landläufigen Geschmack trifft.

Der Kunde als Dienstherr Eine erfolgreiche Pflegebeziehung funktioniert dementsprechend eher symbiotisch, einem Ideal der Verschmelzung folgend, statt gemäß einer professionellen Logik der Formalisierung und darüber erreichten Distanzierung, wie sie etwa den Alltag in einer stationären Einrichtung prägen. Dabei bleibt den Haushaltshilfen vielleicht auch keine andere Wahl. Zu dicht ist diese Arbeit mit ihrem Gegenüber verflochten. Die Professionalität besteht eben in der Fähigkeit der Ergänzung der pflegerischen Tätigkeiten durch persönliche Nähe. Die Trennungen zwischen Rolle und Person, Arbeit und Beziehung verschwimmen. Wenn etwa Piotr, eine andere untersuchte Pflegekraft von seinem aktuellen Patienten spricht, nennt er ihn »Papa«. Der Versuch einer symbiotischen Beziehung ist freilich nicht immer erfolgreich. Die Chemie muss stimmen zwischen den Beteiligten eines Betreuungsverhältnisses. Magda, Adam und Piotr wissen durchaus von gescheiterten Pflegebeziehungen zu berichten. Entweder die Tätigkeiten und der Zugriff der Kunden auf die Arbeitszeit überforderten die Haushaltshilfen. Oder aber die Verfügungsgewalt des Kunden über die Arbeitnehmer drückte sich in einem radikalen Verlangen nach Hörigkeit oder ungebührlichem Verhalten in Interaktionen aus.45 Die Qualität der geleisteten Pflege- und Betreuungsarbeit wird eben maßgeblich durch den Klienten bestimmt. Er wird zum Maßstab. Ihm ist die Pflegekraft gewissermaßen ausgeliefert. Erst seine Zufriedenheit und nicht die eigene verweist auf eine gute Leistung. So ist die Arbeitssituation vornehmlich durch die persönliche Machtausübung (oder deren Unterlassung) vonseiten des Kunden 45 Die Liste möglicher Verfehlungen ist lang. Von rassistischen Beschimpfungen

über den Zwang zu erniedrigenden Tätigkeiten oder die systematische Kommunikation von Missachtung findet sich alles, was zwischenmenschliche Beziehungen belastend machen kann. Adams Ehefrau etwa, die auch als Live-in tätig ist, hat kurz vor dem Interview eine Stellung aufgegeben, weil die Kundin von ihr verlangte, auf dem Boden zu kriechen »wie Schlange« und ihr die Schuhe zu küssen.

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oder des Dienstleisters geprägt. Denn die weitgehende Anonymität der organisatorischen Seite, also der Vermittlungsagentur, führt dazu, dass diese praktisch kaum Einfluss auf den Arbeitsalltag nimmt. Denn die Agenturen vermitteln nur aus der Ferne. Lediglich Kollegen derselben Agentur begegnen sich gelegentlich, wenn eine Pflegekraft in Urlaub geht und von ihrer Vertretung abgelöst wird. Bei der Übergabe tauscht man sich kurz aus, und die Stammkraft weist die Ablösung ein. Doch selbst diese Momente des Austausches finden eigeninitiiert statt, weil die Pflegekräfte und die Angehörigen dieses Vorgehen als vernünftig erachten. Mit Blick auf die Arbeitssituation kommen Lob und Tadel somit in erster Linie vom Kunden, nicht vom Chef oder den Kollegen. Institutionelles Feedback ist auf ein Mindestmaß zusammengeschrumpft. Handlungskataloge und Aufgabenprofile existieren nicht. Die Unsichtbarkeit der Organisation führt in eine Situation der Unbestimmtheit. Private Pflege ist geprägt durch Informalität. Wie fragil diese Art der Ordnungsbildung ist, wird schnell ersichtlich. Sie ist auf die interaktive Abstimmung zwischen Kunde und Pflegekraft angewiesen. Der Kunde sitzt dabei am längeren Hebel. Am Ende ist es sein Alltag, der arrangiert wird, und damit ist er es, der bestimmt. So wird die explizite Ausübung von Macht zur systematischen Kehrseite einer Konstellation, die auf Kooperation und letztlich Verschmelzung setzt. Der Wunsch nach Konsens wird hier ersetzt durch die Ausübung von Kontrolle vor dem Hintergrund einer besonders drastischen Asymmetrierung der Beziehung. Denn während Organisationszusammenhänge für andere Arbeitnehmer offizielle Wege zur Konfliktlösung bereithalten, bleiben die Live-ins sich selbst überlassen. Sie haben nur die Wahl, sich zu arrangieren oder das Handtuch zu werfen und bei der Vermittlungsagentur um eine Versetzung zu ersuchen. Bis dahin ersetzt Misstrauen Hingabe und Opferbereitschaft. Die Arbeit nimmt neofeudale Züge an, insofern die Verfügungsgewalt des Kunden über den Dienstleister an klassische Dienstbotenkonstruktionen erinnert.46 Wohlwollen ist eine Frage des Zufalls. Der Arbeitsalltag kann zu einem stetigen Kampf um die Koordinaten von Gehorsam und Resilienz werden, wie etwa die Erzählung einer Kundin belegt: »Eine

46 Vgl. Lutz, Vom Weltmarkt in den Privathaushalt.

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hat mal zu mir gesagt: ›Wenn Sie mir hier immer zugucken‹, dann könnte sie nicht arbeiten. Das würde sie total nervös machen. Und dann hab ich einmal gesagt: ›Also ich will Ihnen mal was sagen, wenn Sie sagen, ich gucke Ihnen zu, und Sie werden nervös, das ist ein Zeichen für Ihre Unsicherheit. […] Das sind natürlich Schutzbehauptungen, wissen Sie.‹ Und weiter: ›Man spricht ja nicht umsonst von polnischer Wirtschaft. Das haben meine Eltern schon gewusst. Das können Sie nicht erwarten von polnischen Leuten, Ordnung …‹« Die Kundin schickt sich hier an, nicht nur die Definitionsmacht über gute beziehungsweise richtige Arbeit und deren Kontrolle gänzlich für sich zu beanspruchen. Sie verbindet auch Hypothesen über den individuellen Charakter der Dienstleisterin mit ethnischen Kollektivstereotypen und legitimiert so eine radikale Form persönlicher Unterwerfung. Wie prekär eine solche Kontrollbeziehung ist, lässt sich erahnen: Ein gewisses Maß an körperlicher Fitness ist notwendige Voraussetzung für das Ausüben von Kontrolle. Geht diese Fitness verloren, können sich die Tore der persönlichen Rache für die Bediensteten öffnen – denn jetzt verfügen sie, im wahrsten Sinne des Wortes, über das Leben der Kunden. Eine spezielle Form der Dialektik von Herr und Knecht hält hier Einzug in den Privathaushalt. Als radikale Alternative steht etwa das bereits angedeutete Modell der Verschmelzung als Idealbild zur Verfügung. Kundenzufriedenheit als Mitarbeiterzufriedenheit wird hier zu einem symbiotischen Extrempunkt geführt. Nach der Gestalt eines typischen Arbeitstages gefragt, antwortet Piotr spontan in Kategorien des »Wir«: »Naja, bei uns Arbeitstag von halb acht, neun Uhr aufstehen, […] wir sitzen im Garten […], wir sitzen zu Hause. Um zwölf, halb eins oder eins machen Mittag. […] gehen wir wieder spazieren. […] wir gucken fernsehen. […] Um 19 Uhr machen wir Abendbrot, […] um 22 Uhr wieder Toilette, Nachttoilette und gehen schlafen.« Die Verschmelzung, die symbiotische Anstrengung wirkt hier wie eine Flucht nach vorne. Piotr versagt sich bis zu einem gewissen Grad einen autonomen Willen in der Arbeitsbeziehung, indem er seinen Patienten zum einzigen Maßstab guter Arbeit macht. Ein gewisses Wohlwollen des Patienten vorausgesetzt dient die radikale Unterwerfung im Modell der Verschmelzung der Verhinderung von Konflikten. Dies geschieht allerdings aus einer Position gefühlter Überlegenheit heraus, die auch etwaige repressive Formen der 180

Machtausübung durch den Kunden erträglich macht. Adam formuliert es folgendermaßen: »Ich bin hier Betreuer. Der Patient ist mein Chef.« Zugleich vergegenwärtigt er sich aber ständig: »Du musst nie vergessen. Der Mensch ist krank. […] Das ist wie große Kinder.«

Herr und Knecht zu Hause In der Summe lässt sich der Ordnungsmechanismus der Arbeitssituation unter herrschaftssoziologischer Perspektive daher als volatiles Arrangement personengebundener Macht beschreiben. Versteht man Rationalisierung zunächst als einen Weg, Arbeit zu intensivieren, so ist diese durch die fehlenden organisatorischen Rahmenbedingungen initiiert. Wegen der allzeitigen Verfügbarkeit der Liveins kann auf ihre Arbeitskraft in einem Ausmaß zugegriffen werden, das den meisten modernen Arbeitsverhältnissen vollkommen fremd ist. Dieser Zugriff erfolgt allerdings mittels personengebundener Macht, die sich in persönlichen Kontrollmaßnahmen oder dem Verzicht auf solche ausdrückt. Denn auch eine vermeintlich erfolgreiche Konstruktion, wie im Falle Piotrs, ist von der Gunst des Kunden, der aktiv an der Gestaltung der Beziehung mitarbeiten muss, abhängig. Die Aushandlung des je spezifischen Arrangements von Herr und Knecht erfolgt dabei vor dem Hintergrund einer radikalen Asymmetrierung zwischen Kunde und Dienstleister, die auf jedwede organisatorische Einhegung verzichten muss. Der eigentliche Arbeitgeber spielt in dieser Beziehung nur eine sehr dezente, höchstens rahmengebende Rolle. Insofern ist die Live-in-Konstruktion eine besonders radikale Form personenbezogener Dienstleistungsarbeit.

Der Preis der Aufwertung Versteht man die Altenpflege als symptomatisches Feld für den Bereich sozialer Dienstleistungen, so stellt sich die Frage, wie die beobachteten Dynamiken zwischen stationärer und haushaltsnaher Arbeit in Verbindung zu setzen sind. Stationäre Einrichtungen, ambulante Dienste und Live-ins stehen in einem Konflikt um Anteile am selben Markt. Das rasante Wachstum ambulanter Dienste verweist auf veränderte Kundenwünsche: Immer länger verbleiben betreuungsbedürftige Personen heute in einem Privathaushalt. In stationäre Pflegeeinrichtungen begeben sie 181

sich erst, wenn diese alternativlos geworden sind. Die stationäre Pflege wird zur Ultima Ratio der Pflegelandschaft, der Bedarf an gut ausgebildetem Personal steigt. Währenddessen ist im ambulanten und zumal im Live-in-Bereich mehr Raum für Grauzonen.47 Klar ist: Von Qualifizierungsmaßnahmen, wie sie im stationären Bereich zu beobachten sind, kann bei den Live-ins keine Rede sein. Zugleich mag, wer heute eine Haushaltsangestellte beschäftigt, noch vor 15 Jahren in einer stationären Betreuungseinrichtung untergebracht gewesen sein. Man kann also davon ausgehen, dass die Expansion haushaltsbezogener Pflegedienstleistungen und die Medizinisierung der stationären Pflege zwei Seiten einer Medaille sind. Immer mehr betreuungsbedürftige Personen verbleiben heute in einem Privathaushalt, wo sie etwa von Live-ins betreut werden. Einerseits expandieren daher jene Dienstleistungen, die direkt im Haushalt erbracht werden. Andererseits werden in stationären Einrichtungen nur noch pflegeintensive Fälle betreut, was die Anforderungen an das Personal erhöht und sich in beobachtbaren Qualifizierungsdynamiken niederschlägt. Dabei ist bisher nicht klar, ob sich in letzter Konsequenz eine Aufwertung der stationären Pflege konstatieren lässt: In Bezug auf die Komplexität der Anforderungen sowie bezüglich der Investition in Bildungstitel lässt sich sicherlich von einer Aufwertung sprechen. Statistisch hat sich dies allerdings noch nicht in sonderlich hohen Lohnniveaus niedergeschlagen. In Bezug auf das Verhältnis der stationären Pflegearbeit zum haushaltsinternen Bereich erscheint es daher sinnvoll, einstweilen von einer Unterschichtungsdynamik zu sprechen, statt von einer Polarisierungsbewegung auszugehen.48 Denn sicher ist, dass die Externalisierung von Pflegear-

47 Auch wenn immer wieder von massiven Betrugsfällen im Bereich ambulanter

Dienste berichtet wird, so kann doch davon ausgegangen werden, dass diese weit stärker politisch reguliert sind als die Live-in-Konstruktionen, nicht zuletzt, weil Erstere auf die Finanzierung durch die Pflegeversicherung angewiesen sind. 48 Man kann sagen: Es gibt Chancen auf eine Polarisierungsbewegung, die sich dann einstellen würde, wenn sich im stationären Bereich die steigenden Qualifikationen auch in steigenden Löhnen niederschlügen, sich also eine Bewegung zeigte, in der sich die beiden Pole auseinanderbewegten. Stattdessen scheint das Segment einstweilen von einer Stagnation am oberen Ende und einer Abwertung der Arbeit am unteren Rand geprägt.

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beit aus organisatorisch gefestigten Bereichen in die Privathaushalte mit deutlichen Nachteilen für die Live-ins im Vergleich zum stationären Bereich zusammenhängt. Ob die Live-ins allerdings die einzigen Leidtragenden der Qualifizierung stationärer Pflegearbeit sind, daran darf aus guten Gründen gezweifelt werden. Schließlich stellt auch innerhalb der stationären Einrichtungen die Übernahme von Fortbildungsmaßnahmen letzten Endes die Verteilungsfrage. Gerade unterhalb der Pflegearbeit gibt es eine Vielzahl niedrigrangiger Dienste, die von den Qualifizierungsdynamiken nur indirekt berührt werden: Küchenpersonal, Hausmeisterei, Reinigungskräfte müssen den Kostendruck schultern, der bei budgetierten Kostensätzen durch die qualifikatorische Aufwertung der professionellen Pflegearbeit noch verschärft wird. Es lässt sich daher eine Logik doppelter Unterschichtung konstatieren. Einerseits werden minderschwere Pflegefälle zunehmend in Privathaushalten betreut, wo kaum eine organisatorische Regulierung des Arbeitsprozesses stattfindet. Andererseits schultern organisationsinterne Gruppen innerhalb der stationären Einrichtungen die finanziellen Lasten, die wegen der Qualifizierung der Pflegearbeit anfallen, die selbst ein Effekt der Verlagerung einfacher Betreuungsarbeit in die Privathaushalte ist. Aus diesem Grund ist es wenig verwunderlich, dass in der stationären Pflegearbeit kaum Rationalisierungsstrategien zu beobachten sind, die negative Folgen für die Angestellten in der Pflege hätten. Zwar dient die Dokumentation der Arbeit ihrer Kontrolle durch Management und Kostenträger und kann daher im Dunstkreis betrieblicher Rationalisierungsstrategien verortet werden. Sie hat allerdings durchaus positive Folgen für die Angestellten. Denn die Komplexität der Dokumentation erhöht die Ansprüche an das Qualifikationsniveau des Personals. Im Bereich der Live-ins ist es dagegen vornehmlich die universale Verfügungsgewalt des Kunden über die Arbeitszeit der Dienstleister, die den Zugriff auf deren Arbeitskraft effektiviert. Welche Maßnahmen etwa im Bereich der Reinigung, des Kantinenbetriebs oder des Facility Managements ergriffen werden, ist einstweilen eine offene Frage, der im Verlaufe dieses Kapitels noch nachgegangen wird.

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Das Leben der Sorgenden Bevor wir uns jedoch den rationalisierungsintensiven Bereichen des Samples zuwenden, stellt sich noch die Frage nach Aspekten alltäglicher Lebensführung, die mit solch spezifischen Arbeitsverhältnissen wie jenen in der Altenpflege einhergehen. Betrachtet man wiederum die zwei Bereiche stationärer Pflegearbeit und haushaltsinterner Dienstverhältnisse, so zeigen sich deutliche Unterschiede. In der stationären Pflegearbeit und im Bereich der Live-ins werden zwar in weiten Teilen sehr ähnliche Tätigkeiten vollzogen, aber eben in unterschiedlicher Intensität und in verschiedenen organisatorischen Kontexten. Die Parallelen bezüglich der Materialität der Tätigkeiten schlagen sich in ähnlichen Deutungen der eigenen Arbeit nieder. In den meisten untersuchten Fällen zeigt sich ein Ethos der Sorge, also eine Einstellung gegenüber der eigenen Arbeit, die deren Wert vor allem in der verantwortlichen Anteilnahme für die Ermöglichung des Alltags eines Anderen verortet und Selbstaufopferung zugunsten des Patienten als ein professionelles Ethos versteht. Welche Folgen hat nun ein solches Arbeitsethos für den Alltag jenseits der Arbeit und die Arbeitsteilung zwischen Arbeit und Freizeit? Um dieser Frage nachzugehen, werden wir uns nun drei unterschiedlichen Fällen zuwenden. Frau Kokoschka, eine 53-jährige Wohnbereichsleiterin hat in der untersuchten stationären Pflegeeinrichtung einen beachtlichen Aufstieg vollzogen. Diese Entwicklung ist für sie mit deutlichen Kosten verbunden, die ihren Alltag bis heute prägen. Im Gegensatz dazu ist es eher eine Abstiegsgeschichte, die Adam und Piotr als Pfleger in deutsche Privathaushalte geführt hat.

Fokussieren Frau Kokoschka ist geborene Tschechin. Nach dem Abitur hat sie in der Tschechoslowakei eine Ausbildung zur Krankenschwester und anschließend eine Aufbauausbildung zur Hebamme gemacht. Acht Jahre lang hat sie in einem tschechischen Klinikum als OP -Schwester gearbeitet. Sie ist schon ihr »ganzes Leben im Gesundheitswesen« tätig, wozu sie auch die Altenpflege zählt. Dort arbeitet sie, seit sie Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland kam. Wegen deutscher Ahnen wurde ihr die Immigration leicht gemacht, und so zog sie zusammen mit ihrem Ehemann und der jungen Tochter nach Mann184

heim, wo bereits Freunde lebten. Auch an ihre Stelle als Altenpflegerin ist sie über private Kontakte gelangt. Sie ist mittlerweile seit 21 Jahren im untersuchten stationären Pflegeheim tätig, hat dort 1990 als Pflegehilfskraft begonnen, da ihre Ausbildung noch nicht anerkannt war. Das Pflegeheim hat ihr dann während des halbjährigen Anerkennungspraktikum als Krankenschwester das Hilfskraftgehalt weiter bezahlt. Sie hatte dem Heim im Gegenzug zugesagt, im Anschluss an die Anerkennung der Ausbildung als examinierte Kraft in die stationäre Pflegeeinrichtung zurückzukehren. Eigentlich wäre Frau Kokoschka gerne in dem Krankenhaus geblieben, in dem sie in einer Station für problematische Schwangerschaften tätig war. Doch auch die Altenpflege fällt für sie eben in den Bereich dessen, wozu sie sich als Krankenschwester berufen fühlt. Sie empfindet es in gewisser Weise als konsequent, ihre berufliche Laufbahn in der Altenpflege zu beenden. Von der Hebamme zur Altenpflegerin – dieser Weg scheint ihr mit dem Zyklus des menschlichen Lebens zu korrespondieren. Die Attraktivität der Tätigkeit als Altenpflegerin mag auch mit den Entwicklungsmöglichkeiten zusammenhängen, die das Pflegeheim ihr geboten hat. So macht sie nach der Anerkennung ihrer Krankenschwesterausbildung zunächst die Fortbildung zur Stationsleiterin, einige Jahre später schließt sie die Weiterbildung zur Pflegedienstleiterin an.49 Als solche ist sie in der Folge etwa zwei Jahre beschäftigt. Die Tätigkeit als Pflegedienstleitung ist sehr zeitintensiv. Zugleich missfällt es Frau Kokoschka, nur noch mit administrativen Aufgaben betraut zu sein. Auch das Privatleben leidet unter der Arbeitsintensität: »… das war auch ein Job von früh bis nachts […], irgendwann überlegen Sie, ob das das Leben ist. In der Zeit hat mein Mann Auf Wiedersehen gesagt. Hat gesagt: Du brauchst mich nicht, du bist verheiratet mit deiner Arbeit. Ja. Und dann habe ich mir gedacht: Das Wahre ist das wahrscheinlich nicht. Wie lange kann man das aushalten?« Von einer Arbeitsteilung zwischen Privatleben und Beruf kann zu dieser Zeit in Frau Kokoschkas Leben eigentlich keine Rede sein. Die Ehe zerbricht, denn: »[Wir haben] uns kaum getroffen.« Frau Kokoschka richtet ihr ganzes Leben auf die Arbeit aus. Die Tochter

49 All diese Fortbildungen werden vom Arbeitgeber finanziert.

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ist zu dieser Zeit bereits aus dem Haus, und nachdem die Ehe zerbrochen ist, kann diese Rationalisierung des Lebens zugunsten der Arbeit ohne Behinderung umgesetzt werden. Allerdings setzt spätestens an dieser Stelle ein Strudel der Erschöpfung ein, der die Pflegerin bald in ein tiefes Loch zieht: »Wenn Sie so unter Strom stehen, kriegen sie Kopfweh, dann tut der ganze Nacken weh, dann der ganze Körper. Ich war schon vor ein paar Jahren an dem Punkt, wo ich gesagt habe: Entweder ändere ich was, oder ich lande in der Klapse. Denn irgendwann ist der Druck so hoch […], ich war bis acht hier, dann zu Hause weiter am Computer. Dann habe ich festgestellt, dass ich nicht in der Lage bin, ein normales Buch zu lesen. Kein Fachbuch. […] Da habe ich gesagt: Stop! Und habe zum ersten Mal angefangen, mehr zu Fuß zu laufen und auf dem Weg zur Straßenbahn bewusst laufen und gucken und hören und zu Hause lernen, wieder was anderes zu machen …« Beruflich lässt sie sich als Konsequenz formal zurückstufen zur Wohnbereichsleiterin, was zur Folge hat, dass sie nun wieder sowohl administrative als auch pflegerische Aufgaben zu verrichten hat. Sie begründet dies einerseits mit ihrer Erschöpfung. Andererseits verweist sie auch darauf, dass ihr die Arbeit am Patienten in ihrer Zeit als Pflegedienstleitung gefehlt habe. Doch ihr bleibt die enorme Arbeitsbelastung auch in der Position als Wohnbereichsleitung erhalten. Während der regulären Arbeitszeit bleibt praktisch keine Zeit zur Erledigung der umfangreichen administrativen Arbeiten. So besteht Frau Kokoschkas Arbeitsalltag derzeit im Grunde in einer Mischung aus Pflege und Kundenbetreuung,50 die während der regulären Arbeitszeiten erfolgt, und administrativen Aufgaben, die sie in ihrer Freizeit beziehungsweise im Rahmen unbezahlter Überstunden verrichtet. Sie kommt jeden Tag zwei Stunden vor ihrem eigentlichen Dienstbeginn zur Arbeit, da sie bei der Übergabe anwesend sein will, um den allgemeinen Ablauf zwischen den Schichten überblicken zu können. Ihr Leben ist in der Konsequenz ganz auf die Arbeit ausgerichtet. Man sieht Frau Kokoschka die Belastungen an, die mit einer solchen Fokussierung der Lebensführung auf die Erwerbstätigkeit ein-

50 Sie ist verantwortlich für das Management anfallender Fragen und Beschwer-

den vonseiten der Angehörigen.

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hergehen. Wenn sie sich bückt, ächzt sie unter Rückenschmerzen, sie hat tiefe Augenringe und wirkt ganz allgemein erschöpft. Zugleich ist dieses Arrangement mittlerweile in einem Umfang institutionalisiert, der es nachhaltig lebbar macht: Frau Kokoschka hat sich nach ihrem Beinahe-Zusammenbruch vor drei Jahren ein striktes Freizeitprogramm verordnet, das als Ausgleich zur Arbeit in der Altenpflege dienen soll. Zweimal in der Woche »macht sie Kultur«, geht ins Theater oder ins Kino. Im Sommerurlaub besucht sie regelmäßig ihre Tochter, die als Assistenz der Geschäftsleitung einer Großbank häufig den Arbeitsort wechselt. Die selbstverordneten Grenzziehungen zwischen Privatleben und Beruf ermöglichen Frau Kokoschka erst die nachhaltige Fokussierung auf ihren Beruf. Der Raubbau an der eigenen Lebenskraft ist dabei durch zwei Aspekte gekennzeichnet. Erstens steht die Pflegerin vor der Herausforderung, mit ihrem Verdienst eine Rente zu erwirtschaften, die zum Leben reicht. Denn sie hat erst mit Mitte 30 den bundesrepublikanischen Arbeitsmarkt betreten: »Momentan steht mein Rentenniveau bei 700 Euro. Wenn ich bis 65 aushalte, wird das Niveau bei 936 Euro sein […], ich muss so lange arbeiten, wie es geht.« Die Fokussierung auf die Arbeit hat dabei den dienlichen Nebeneffekt, dass Frau Kokoschkas Privatleben wenig kostenintensiv ausfällt. Sie lebt in einer kleinen Zweizimmerwohnung am Rande des Stadtzentrums, hat kein Auto und keine teuren Hobbys. Sie träumt von einem Ruhestand, der es ihr zeitlich ermöglicht, all jenen privaten Interessen nachzugehen, die sie derzeit der Arbeit willen zurückstellt. »In 20 Jahren sehe ich mich in Südfrankreich […], brauche ich entweder ganz kleine Wohnung, wo viele Bücher sind und ein Ohrensessel. Ein Fernseher und eine Stereoanlage, wo ich schön Musik hören kann, und wenn ich noch Blick aufs Meer habe, brauche ich sonst nichts mehr.« Doch erklärt die Notwendigkeit der ökonomischen Methodisierung der Lebensführung noch nicht Frau Kokoschkas umfassende Fokussierung auf die Arbeit und ihr ausgesprochenes Pflichtbewusstsein. Sie verweist dezidiert auf den Umstand, dass es durchaus möglich sei, »Dienst nach Vorschrift« zu verrichten, sich also nicht so stark in der Arbeit aufzureiben. Zwar sei dies in einer Führungsposition nicht ganz einfach. Aber sie stellt klar, dass ihr Engagement der persönlichen Wertschätzung ihrer Arbeit entspringt. Ihr Arbeitsethos ist also zweitens vom Gedanken der Fürsorge getragen, der 187

stets auf die harte Probe einer auch ökonomisch tragfähigen Pflegearbeit gestellt wird. Soll die Arbeit den eigenen fürsorgerischen Standards entsprechen, aber auch gemäß der Vorgaben der Kontrollorgane erledigt werden, so bleibt nur die Möglichkeit, mehr Arbeitskraft zu investieren, als vertraglich festgelegt ist. Eine solche Fokussierung auf die Arbeit macht diese zur tragenden Säule der Lebensführung. Nicht nur Erschöpfungsphänomene und eine methodische Ausrichtung der Lebensführung auf die nachhaltige Wahrung der eigenen Arbeitskraft sind die Folge. Frau Kokoschka begreift die Situation in der Pflege auch als symptomatisch für die Lage der bundesrepublikanischen Gesellschaft: Hier wie dort wird es zum tragenden Problem, selbst- und fremdinduzierten normativen Ansprüchen systematisch nicht genügen zu können. Denn »der Mensch spielt immer kleinere Rolle. Immer nur Geld, Geld, Geld.« Primär ist ihre Lebensführung also geprägt von einem Konflikt zwischen dem eigenen Arbeitsethos und den ökonomischen Zwängen und Finanzierungsrealitäten in der Altenpflege. Gerade die besonders positive Deutung der Materialität der sorgerischen Tätigkeit bedingt dabei den Raubbau an der eigenen Lebenskraft. Sekundär ergibt sich hieraus ein Konflikt zwischen Arbeitsethos und Selbstsorge. Denn wenn zur Erfüllung der eigenen Standards nur die Selbstausbeutung bleibt, leidet das Leben als Ganzes. Frau Kokoschka scheint nach den bitteren Erfahrungen der Vergangenheit allerdings einen einigermaßen tragfähigen Modus der Grenzziehung gefunden zu haben.

Sequenzialisieren Im Falle Frau Kokoschkas ist der enorme Einfluss, den ihre berufliche Tätigkeit auf den Gesamtzuschnitt ihrer Lebensführung ausübt, unübersehbar. Doch kann hier wenigstens das Spannungsverhältnis zwischen Arbeit und Freizeit benannt und im Alltag arrangiert werden. Im Falle der Live-ins gibt es diese Möglichkeit nicht. Denn während der drei Monate, in denen die Pflegekräfte in einem Haushalt am Stück tätig sind, existiert streng genommen keine Arbeitsteilung zwischen Arbeit und Leben. Selbst der eine freie Tag in der Woche, der den Live-ins vertraglich zugesichert ist, kann selten vollständig ausgeschöpft werden. Zu oft sind Angehörige, die einspringen sollten, verhindert oder können nur einen Teil des Tages übernehmen. 188

Die Pflegekräfte setzen daher notwendig auf die Strategie, sich dem alltäglichen Rhythmus des Patienten konsequent unterzuordnen. Diese Unterordnung wird als eine Form der empathischen Verschmelzung gedeutet, die von einem sorgerischen Arbeitsethos getragen ist. Diesem folgend gehört es zum professionellen Rollenverständnis, die eigene Autonomie zugunsten der Bedürfnisse des jeweiligen Patienten zurückzustellen. Eine solche Einstellung setzt ein hartes Regiment gegen sich selbst voraus. Adam etwa verbietet sich während der drei Monate, die er am Stück in einem Haushalt verbringt, jedwede Privatheit: »Du musst immer interessieren deine Patienten, Patientin. Nur interessieren das. Nicht deine Privatsache. Was du gekommst hier [für, ist, zu] arbeiten. Keine Urlaub machen. […] [Wenn] deine Schicht schon Ende ist, dann du hast=du bist frei.« Die spezifische Form, in der sich für die Live-ins die Arbeitsteilung zwischen Arbeit und Leben vollzieht, deutet sich in dieser Aussage bereits an. Die Arbeitsteilung organisiert sich in langen Sequenzen: Drei Monate gehören rein der Arbeit, ein Monat gehört dem Privaten. Natürlich ist es nicht so, dass während einer dreimonatigen Arbeitsphase gar keine Privatheit möglich ist. Viele der Live-ins telefonieren mehrmals wöchentlich mit der Familie in der Heimat. Doch sind diese Gespräche stets vorläufig in dem Sinne, dass eine spontane Bedürfnisartikulation des Patienten jedes Gespräch sofort beendet. Die Verfügungsgewalt des Kunden über die Arbeitszeit der Live-ins ist in der Arbeitssequenz beinahe unbegrenzt. Anders verhält es sich in der Freizeitsequenz. Mit Linienbussen reisen Magda, Adam oder Piotr nach drei Monaten Arbeit nach Hause zu ihren Familien in Polen. Hier muss der gesamte eingespielte Tagesablauf umgestellt werden. Der Alltag muss neu gefunden, Nähe in der Partnerschaft aktualisiert werden. Sequenzialisieren ist dabei eine Praxis, die spezifische Fähigkeiten erfordert. Es gilt den eigenen Platz zu Hause in der einmonatigen Freizeitsequenz immer wieder neu auszuhandeln. Die Familie hat sich ihren Alltag ohne den abwesenden Familienteil organisiert. Dessen notwendige Rolle im Alltag existiert nicht mehr. Solche Problemlagen treten gemäß des je spezifischen Haushaltsarrangements in unterschiedlichen Formen auf und werden in der Praxis sehr unterschiedlich bearbeitet. Nehmen wir etwa Piotr: Er ist ausgebildeter Sozialpädagoge, hat in diesem Beruf in seiner Heimatstadt nach dem Fall des eisernen Vorhangs allerdings keine Anstellung mehr gefunden. Zunächst ist 189

er mehrere Jahre lang in eine andere Stadt gependelt, wo er weiter sozialpädagogisch tätig war. Als er diese Stelle verlor, hat sich sein Aktionsradius noch erweitert. Er hat mehrere Jahre als Saisonarbeiter in der deutschen Agrarindustrie gearbeitet. Seit mittlerweile zwei Jahren ist er nun als Live-in-Kraft in der häuslichen Betreuung in Deutschland tätig. Den Schritt in dieses Arbeitsverhältnis hat er erst gewagt, als seine Tochter zum Studium das Elternhaus verlassen hatte. Auch seine Frau pendelt unter der Woche innerhalb Polens vom gemeinsamen Haus aus in eine andere Stadt, wo sie seit Jahren in einem Schlachthaus arbeitet. Hier verbringt sie die Arbeitswoche. Sie ist nur am Wochenende zu Hause. Dies führt dazu, dass die Anpassungsleistungen begrenzt bleiben, die Piotr vollziehen muss, wenn er zu Hause ist. Denn auch seine Frau hat keinen sehr eingespielten Alltag am gemeinsamen Wohnort. So nutzt Piotr diese Zeit in der Regel, um sich als Heimwerker um die Instandhaltung und den Ausbau des gemeinsamen Hauses zu kümmern. Die Arbeit am Eigenheim verweist dabei einerseits auf seine funktionale Rolle für den familiären Alltag trotz der langen Phasen der Abwesenheit. Zugleich ist die Arbeit am Haus eine symbolträchtige Form des Bekenntnisses zum gemeinsamen Leben. Adam hat es lange Zeit sehr ähnlich gehalten. Sein Fall verdeutlicht allerdings, wie brüchig eine solche Konstruktion sein kann. Adam ist studierter Ingenieur für Agrarmaschinen. Doch nach 1991 findet er in diesem Bereich keine Anstellung mehr. Seine drei Kinder sind zu dieser Zeit zwischen 15 und 20 Jahren alt und damit weitgehend unabhängig von den Eltern. So macht sich Adam auf nach Deutschland und später nach Großbritannien, wo er zunächst etwa acht Jahre auf verschiedenen Baustellen arbeitet. Seit nunmehr zwölf Jahren ist er in der häuslichen Betreuungsarbeit in Deutschland tätig. Doch hat seine Ehe der Belastung eines Alltags in Sequenzen nicht standgehalten. Nach 30 Jahren geht die Beziehung Anfang der 2000er Jahre in die Brüche. Noch heute fällt es Adam sichtlich schwer, über diesen Umstand zu sprechen. Das Zerbrechen seiner privaten Welt ist weiterhin eine große Angst. Die Kinder aus erster Ehe sind erwachsen und haben im Anschluss an das jeweilige Studium gute Stellen gefunden. Nur der Jüngste lebt noch in der Nähe seines Herkunftsortes. Adams neue Frau arbeitet selbst als Live-in, und so sehen sich beide oft fünf bis sechs Monate nicht, wenn sich ihre Dreimonatsschichten ungünstig überlagern. Adam befürchtet, 190

das Scheitern seiner ersten Ehe könne sich wiederholen: »… habe schon verloren meine Ex-Frau […], der Job ist nicht alles. Ich muss auch aufpassen auf meine Familie […]. Die verloren geht ganz schnell, rucki zucki.« Um dies zu verhindern, hat er vor Kurzem seine Frau gebeten, ihre Arbeit als Live-in aufzugeben. Die beiden haben noch einen Kredit zu tilgen, der eigentlich beide Einkommen nötig macht. Doch Adam will seine Beziehung nicht riskieren, und so müssen für die Kredittilgung andere Wege gefunden werden. Die verschiedenen Praktiken des Sequenzialisierens dienen damit einerseits der Einstellung der Live-ins auf eine Arbeitssituation, die von einem besonders umfassenden persönlichen Zugriff des Kunden_ auf die Arbeitskraft der Haushaltshilfen gekennzeichnet ist. Andererseits schlagen sie die Brücke zwischen besonders intensiven Phasen der Arbeit und solchen Sequenzen, die von einer vollkommenen Freiheit von Erwerbsarbeit gekennzeichnet sind. Ein solch mobiles Arbeitsleben geht dabei mit erheblichen Risiken für die privaten Lebensbereiche der Betroffenen einher. Anders als in der stationären Pflege kann allerdings von einer Situation, in der solche Belastungen durch organisatorisch verbürgte Aufstiegschancen honoriert werden, für die Live-ins keine Rede sein.

Betreuter Konsum Wenden wir uns nun einem weiteren Bereich vermeintlich interaktiver Dienstleistungsarbeit zu, der Verkaufsarbeit im Einzelhandel. In seinem, bereits erwähnten soziologischen Klassiker »White Collar« beschrieb C. Wright Mills Mitte des 20. Jahrhunderts unter anderem den historischen Wandel des Einzelhandels vom Typ des Krämerladens zu spezialisierten Manufakturen bis zur Durchsetzung des großen Warenhauses, das er gewissermaßen als rationalisierte Synthese aus beiden Vorgängermodellen verstand.51 Mills sah die moderne Verkaufsarbeit und insbesondere das Ethos des »Salesmanships« als Schlüssel zu wirtschaftlichem Erfolg unter den Bedingungen verschärfter Konkurrenz und zunehmend gesättigter Konsumenten-

51 Mills, White Collar, S. 163.

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märkte.52 Den »großen Verkaufsraum«53 des Warenhauses betrachtete er als symptomatische Arena gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse, Dienstleistungsarbeit allgemein als einen »Persönlichkeitsmarkt«54, auf dem letztendlich die Fähigkeit zur Selbstvermarktung prämiert werde. Ob das große Warenhaus in der Bundesrepublik zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch als der maßgebende Ort zeitgenössischen »Salesmanships« verstanden werden kann, darf bezweifelt werden. Der Einzelhandel hat in den vergangenen Jahrzehnten massive Wandlungsprozesse durchlaufen, die Organisationsmodelle haben sich pluralisiert. Zu den goldenen Zeiten des Warenhauses in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit war die Tarifbindung im Einzelhandel allgemein hoch,55 der Beruf der Einzelhandelskauffrau lange Zeit eine der beliebtesten Ausbildungsberufe für junge Frauen.56 Im Rahmen eines »Verdrängungskampfes« mittels aggressiver Preissenkungspolitik, der Expansion der Verkaufsflächen und der Ausdehnung der Ladensöffnungszeiten ist der Einzelhandel allerdings spätestens seit den 1990er Jahren unter Druck geraten.57 Erhebliche Lohneinbußen sind eine Konsequenz dieser Entwicklung für die Beschäftigten. Selbst die zeitweise Stützung der Tariflöhne durch politische Allgemeinverbindlichkeitserklärungen schützt sie heute nicht vor Niedriglöhnen.58 Verschärft wird diese Situation durch Arbeitszeitmodelle, die eher selten volle Stellen vorsehen.59 Betrachtet man beispielsweise den Lebensmittelfacheinzelhandel, so wird allerdings deutlich, dass auch Vollzeitstellen nicht vor materieller Benachteiligung schützen: 74,6 Prozent der Vollzeitverkäufer in diesem Bereich erhalten Niedriglöhne.60 Ebenda, S. 162. Ebenda, S. 161 ff. – eigene Übersetzung. Original: »great salesroom«. Ebenda, S. 182 ff. – eigene Übersetzung. Original: »personality market«. Vgl. Voss-Dahm, »Der Branche treu trotz Niedriglohn«, S. 250. Vgl. Rerrich, »Die Alltagsaufgabe der Sorge für andere«. Glaubitz, »Hoffnungsträger oder Sorgenkind«, S. 183. 2004 arbeiteten 42 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel für Niedriglöhne (Voss-Dahm, »Der Branche treu trotz Niedriglohn«, S. 250). 59 Im »filialisierten Lebensmitteleinzelhandel« sind gar zwei Drittel der Beschäftigungsformen keine Vollzeitstellen (ebenda, S. 258; vgl. auch: Hinz, »Minijobs im Einzelhandel). 60 Voss-Dahm, »Der Branche treu trotz Niedriglohn«, S. 253. 52 53 54 55 56 57 58

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Der Einzelhandel umfasst heute ein breites Spektrum an betrieblichen Organisationsformen und Arbeitsprofilen. Voss-Dahm vermerkt: »Die Wettbewerbssituation im deutschen Einzelhandel ist durch drei wesentliche Merkmale gekennzeichnet: Niedrigpreisstrategien, Flächenexpansion und die Steigerung von Marktanteilen, indem Wettbewerber vom Markt gedrängt werden.«61 Es gibt allerdings unterschiedliche Organisationsmodelle, mittels derer diese Primärstrategien verfolgt werden. Im Folgenden wird daher der Fokus auf drei Unternehmen gelegt, die sich im Kern in drei Dimensionen unterscheiden: ihrem Produkt, ihrer Organisationsform und ihrer Kundschaft. Die untersuchten Unternehmen handeln mit Produkten, die mit unterschiedlichen kulturellen Deutungen aufgeladen sind. So ist der erste Fall, das Unternehmen »Xtrem Sports«, ein Lifestyleshop mit mittel- bis hochpreisiger Ware, das sich dementsprechend an eine spezifische, erlesene Kundschaft richtet. Xtrem Sports hat außerdem einen radikalen Wandel seines Organisationsmodells durchlaufen. Von einem kleinen Ladengeschäft hat sich das Unternehmen in den vergangenen 15 Jahren zu einer Gruppe von mehreren großen Geschäften an verschiedenen Standorten und einem Versandhandel gemausert und dabei auch Konkurrenten aus dem Markt gedrängt. Das zweite Unternehmen, »Understatement & Stil«, ist dagegen ein Weltkonzern, der global agiert. Es hat daher keine auffindbare Geschichte erfolgreichen Einzelunternehmertums zu bieten. Auch U&S richtet sich an eine spezifische Kundschaft, ist diesbezüglich aber wesentlich breiter aufgestellt als Xtrem Sports. Im Grunde soll der Textilhandel von U&S jeden ansprechen, der bereit ist, sich zu überschaubaren Preisen stilvoll zu kleiden. Die angebotenen Produkte sind entsprechend »unspezifischer« als jene von Xtrem Sports. Dieser Entwicklungslogik vom Spezifischen zum Allgemeinen folgend rückt als drittes Unternehmen der Lebensmittelmarkt »Discount« in den Blick: Er wendet sich an keine spezifische Kundschaft, sondern ist bemüht, ein möglichst breites Sortiment an Waren anzubieten, das im Grunde jede Person als möglichen Kunden avisiert. Wie U&S ist Discount ein international operierender Konzern, der in Deutschland ein breites Netz von Filialen unterhält.

61 Ebenda, S. 249.

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Bezüglich der jeweiligen Modi betrieblicher Herrschaft in den untersuchten Fällen lässt sich schon jetzt festhalten, dass die von der Angestelltenforschung seit den 1980er Jahren beobachtete Expansion neuer Informations- und Kommunikationstechnologien empirisch in allen drei Fällen Spuren hinterlassen hat. Allgemein gilt für den Einzelhandel, dass sich eine technisch induzierte Verzahnung von Produktion und Handel durch Konzepte des Lean Retailing durchgesetzt hat,62 also eine EDV-gestützte Verbindung beider Bereiche.63 Für die filialinternen Verhältnisse sind diese Maßnahmen rahmengebend, weil sich etwa Tätigkeitsprofile im Zuge dieser Technisierung von Bestellung und Distribution verändert haben, betriebsinterne Prozesse beschleunigt wurden. Lean Retailing bündelt Entscheidungszuständigkeiten bezüglich Fragen der Distribution häufig an zentraler Stelle jenseits der Filialebene.64 Damit sind Fragen der Dequalifizierung aufgeworfen, da »lokale« Kompetenzen im Rahmen dieser Zentralisierungprozesse an Wert verlieren.65 Genau gegenläufig operierende Modelle funktionieren allerdings auch dezentral.66 Die Nachfrage bestimmt hier die selektive Angebotspolitik in den einzelnen Standorten, was diesen wiederum verhältnismäßig höhere Kompetenzen zuweist.67 Als weitere technische Entwicklungen, die sich in allen untersuchten Fällen durchgesetzt haben, sind Scanning-Kassensysteme zu nennen, die ebenfalls zu einer Beschleunigung, Vereinfachung und damit Rationalisierung von Handlungsabläufen beigetragen haben.

62 Voss-Dahm, »Der Branche treu trotz Niedriglohn«, S. 268 f. 63 Voss-Dahm vermerkt zum Stichwort Lean Retailing: »Lean Retailing folgt der

64 65 66 67

grundlegenden Logik, die Produktionsprozesse vom Ende der Waren- oder Lieferkette, also vom ›point of sale‹ her zu zu steuern, und basiert auf dem Prinzip der just in time Produktion. Lean Retailing, das im Kern auf die Realisierung von Skaleneffekten ausgerichtet ist, setzt daher eine enge Verzahnung von Handel und Industrie voraus« (ebenda, S. 268). Ebenda. S. 272; vgl. auch Faber, »Neue Organisationsformen«, S. 53. Ebenda. Dies gilt etwa für den untersuchten Lebensmitteldiscounter. So etwa im Falle von Xtrem Sports, dem nächsten Fall, der im Folgenden besprochen wird. Ebenda. Dies gilt etwa in abgeschwächter Form für das Unternehmen U&S.

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Der Persönlichkeitsmarkt Kommen wir zunächst zum Fall von Xtrem Sports: Das Unternehmen existiert seit circa 15 Jahren. Es handelt sich um eine Unternehmensgruppe mit drei Ladengeschäften und einem Versandhandel. Den Anfang nahm das Unternehmen in einem kleinen »Shop-inShop«, das heißt das erste Ladengeschäft befand sich in einem kleinen Abschnitt eines größeren Ladens. Ab 2000 expandierte das Unternehmen erfolgreich. 2000 wurde der zweite Laden eröffnet. Neben den Skateshop trat ein Snowboardgeschäft. Das Warensortiment wurde in Richtung des Mainstreams erweitert. Dieses Konzept war äußerst erfolgreich, und so folgte im Jahr 2002 der Umzug des Shopin-Shops in ein größeres Ladengeschäft in der Nähe der zweiten Filiale. Parallel dazu wurde der Versandhandel etabliert, der zunächst in recht kleinem Ausmaß existierte, jedoch schnell expandierte. Eigene Räume über dem neuen Skateshop wurden angemietet, weitere Mitarbeiter eingestellt. In jüngerer Zeit hat der Unternehmensgründer vor den Toren der Stadt ein Warenlager mit Büroräumen bauen lassen. Dort befinden sich nun die Unternehmenszentrale und das Büro des Chefs. Auch ein »Ladies und Kids Store« wurde in der Innenstadt eröffnet. So soll das Unternehmen mit seinen Kunden »mitwachsen«. Das gesamte Unternehmen, insbesondere der Versandhandel, hat sich rasant vergrößert. Der Mitarbeiterstamm ist von circa zehn Personen in den ersten Jahren auf etwa 60 angestiegen.

Lebensstil im Angebot Im Unternehmen existieren nominell drei Hierarchieebenen. An der Spitze thront der Unternehmensgründer und Patriarch. Eine mittlere Leitungsebene besteht aus drei Filialleitern beziehungsweise Salesmanagern, die jeweils für einen der beiden Läden beziehungsweise das Versandgeschäft verantwortlich sind. Den Ladies und Kids Store leitet die Ehefrau des Unternehmensgründers, auf der untersten Ebene steht das Verkaufspersonal mit rund 55 Mitarbeitern. Rekrutierte dieses sich in den ersten Jahren noch ausschließlich aus der lokalen Skateszene und war entsprechend exklusiv männlich, so ist die Belegschaft heute zur Hälfte weiblich. Es existieren für dieselben Aufgaben verschiedene Hierarchie- und Entlohnungsstufen in Form von Festanstellung, Aushilfe-, Auszubildenden- und Praktikantenstatus. 195

Den Ort der Arbeit bilden die Ladengeschäfte. Hier ist die Arbeit im Verkauf weitgehend geteilt zwischen männlichen Angestellten, die für den Sportbereich zuständig sind, und weiblichen Mitarbeiterinnen, die sich vornehmlich der Kleidung widmen. Diese Arbeitsteilung hat sich mehr oder minder organisch etabliert. Der Ladies und Kids Store hat sich dem Konzept nach gänzlich vom Sportbezug entfernt. Hier sind alle Angestellten Frauen. Der Laden führt Kinder- und Damen-Freizeitmode. Auf preislich recht hohem Niveau kann in den Nachwuchs investiert werden. Die Damenmode ist ebenfalls mittel- bis hochpreisig und entspricht einem traditionellen Bild von Weiblichkeit: viel Pink und andere schrille Farben, Handtaschen mit Strassverzierungen, Modeschmuck, hochhackige Schuhe etc. Der Skateshop ist der Ursprung der gesamten Unternehmensgruppe und gilt den Angestellten als das Aushängeschild der Authentizität von Xtrem Sports. Er ist auf Repräsentation ausgerichtet und bietet den Angestellten Raum zur Identifikation: Das Geschäft hat einen Verkaufsraum von circa 150 qm. Innerhalb des Ladens finden sich unterschiedliche Rampen und Geländer, wie man sie in Skateparks findet. Sie sind teils Zierde, teils auch in die Funktion des Ladens eingebaut. So finden gelegentlich Show-Wettkämpfe zwischen den Fahrern des ladeneigenen Skateteams im Verkaufsraum statt.68 An jeder Stelle im Ladengeschäft wird Kunden und Mitarbeitern vor Augen geführt, dass das Unternehmen und die Szene, also die Kundschaft, eins seien. Das Personal identifiziert sich stark mit dem Geschäftskonzept. Das wird schon auf den ersten Blick ersichtlich: Innerhalb des Ladens findet sich kein Angestellter, der nicht von Kopf bis Fuß in Artikeln von Xtrem Sports eingekleidet wäre, ohne dass dies explizit verlangt würde.69

68 Auch jenseits der Rampen vermittelt jede Ecke des Geschäfts das propagierte

Lebensgefühl: kaputt gefahrene Skateboards mit den Autogrammen berühmter Sportler, Poster überall, eine Werkbank zum Zusammenbauen der Bretter, ein Fingerboard-Skatepark für die jüngsten Kunden – die »Einstiegsdroge für unsere Jüngsten«, wie ein Mitarbeiter sagt. Man muss hier streng genommen gar nichts kaufen, um Spaß zu haben. 69 Umso interessanter ist es, dass so mancher Mitarbeiter privat einen etwas biedereren Stil pflegt. Dies kann verschiedene Gründe haben. Der interviewte Filialleiter etwa steckt in einer für diesen exklusiven Bereich doch sehr gut nach-

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Normalisierung, Interaktivität, Disziplinierung Im Kern lassen sich die Tätigkeiten bei Xtrem Sports ihrer Logik nach in drei Bereiche einteilen: (1) Warenpräsentation, das heißt alle Tätigkeiten rund um die Ausgestaltung des Verkaufsraums, (2) Kundeninteraktion mit Blick auf Beratung und Verkauf und (3) administrative Tätigkeiten der Planung und Koordination.70 Die meisten Beschäftigten innerhalb des Teams einer Filiale bewegen sich auf den Ebenen der Warenpräsentation und der Kundeninteraktion. Die breiteste Tätigkeitsspanne besitzen die Filialleiter. Sie werden in allen drei Bereichen tätig. Auch sie haben einen Blick darauf, dass die Waren ansprechend auf der Verkaufsfläche präsentiert sind, und beraten Kunden. Ihr Schwerpunkt liegt jedoch auf administrativen Tätigkeiten jenseits der Vorderbühne des klassischen Verkaufsgeschäfts. Diese obliegen ihnen allein.71 Es handelt sich um qualifizierte Arbeit auf mittlerem Ausbildungsniveau. Gegen 9.30 Uhr beginnt die Arbeit in der Filiale selbst. Jeder Arbeitstag startet mit der Gestaltung des Verkaufsraums und endet gleichermaßen mit Blick auf dessen Gestaltung für den kommenden Tag, die dann wiederum geprüft wird. So existiert ein arbeitszeitbevollziehbaren Zwickmühle: Er ist mittlerweile 30 Jahre alt, hat zwei Kinder und bemerkt, dass er nicht ewig den 16-jährigen Skater spielen will. So hat er sich die Attitüde eines Jugend-Sozialarbeiters zugelegt: Erwachsenenmode wird mit ausgewählten Bestandteilen der jugendlichen Zielgruppe (zum Beispiel einer Kappe und Skateschuhen) kombiniert. So gehört er zwar noch zur Szene, macht aber doch deutlich, dass er eher eine fördernde als eine explizit teilnehmende Rolle ausführt. Ein anderes Beispiel ist eine junge männliche Aushilfskraft Mitte 20. Er war schon während der Schulzeit als Aushilfe tätig, absolvierte anschließend, nach einem gescheiterten Versuch einer musischen Ausbildung, eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann. Mittlerweile studiert er BWL an einer Fachhochschule und ist wieder auf den Status der Aushilfe zurückgefallen. Auch er pflegt privat einen weniger exklusiven Stil und verleiht explizit seinem Wunsch Ausdruck, den Laden in absehbarer Zeit zu verlassen. 70 Während Warenpräsentation und Kundeninteraktion vornehmlich auf der Vorderbühne stattfinden, liegt der administrative Bereich im Hintergrund des Verkaufsraums. Je nach Position verschieben sich dabei die Tätigkeitsfelder. 71 Sie tragen die Verantwortung für den gelungenen Ablauf im Team sowie die Koordination von Tätigkeiten im und rund um den Filialraum. Sie planen und verwalten den Einkauf von Waren, sind Ansprechpartner für Großhändler, haben den Lagerbestand im Blick und prüfen die Verkaufszahlen ihrer Filiale.

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zogenes System der Kontrolle, in dem jeder jeweils die Arbeit seines Vorgängers beurteilt. Nach einer Kontrollrunde des Filialleiters werden die zu erledigenden Aufgaben teilweise an das Team delegiert. Die Haupttätigkeiten der Beschäftigten der ausführenden Ebene besteht in der beständigen (Re-)Normalisierung des Ladenbildes, die sich flexibel zwischen Beratung und Verkauf schiebt. Die Verkaufsflächen werden aufgeräumt, die Ware in die Regale sortiert. Dabei heißt es in erster Linie, beweglich und eigeninitiativ zu agieren.72 Es ist ein ewiger Zirkel der Wiederherstellung von Normalität, ein fortlaufendes Bekämpfen des Chaos, das sich im Trubel des Kundenverkehrs ergibt und doch gerade dem Zwecke dient, dem Kunden erneut ein ansprechendes Ladenbild zu bieten, sich frei zu bewegen und die gestellte Ordnung auseinanderzunehmen. Die Arbeit ist auf der ausführenden Ebene in weiten Teilen Normalisierungsarbeit. Zur Ordnung und Pflege des Verkaufsraums gehört dabei neben der ordentlichen Sortierung und Platzierung der Waren auch das Putzen von Verkaufsflächen, vor allem des Bodens. Hier zeigt sich eine klare Geschlechtertrennung. Denn das Putzen wird nicht mehr, wie noch vor einigen Jahren, von den Angestellten selbst übernommen. Es wurde kurzzeitig an externe Reinigungskräfte ausgelagert, dann jedoch wieder in den Betrieb zurückgeholt: Zwei junge Frauen aus einer anderen Ladenfiliale reinigen alle Läden für ein schwarz bezahltes Festgehalt. Dieses Arrangement stellt ein Zugeständnis der Leitungsebene an die Mitarbeiter in den Filialen dar, kam es doch über die Frage, wer eigentlich zu putzen habe, immer wieder zu Konflikten. Nur im Ladies und Kids Store wird von den ausschließlich weiblichen Angestellten erwartet, dass diese selbst putzen. Diese geschlechtliche Organisation der Arbeit scheint unhinterfragt. Eine junge männliche Aushilfe entgegnet auf die Frage, welche Tätigkeit er nie ausüben würde, ohne langes Überlegen: »Im Betrieb jetzt? Toilette putzen!«

72 Man muss auch einen Blick für die ansprechende Gestaltung des Verkaufsraums

haben. Herumliegende Kleidungsstücke müssen ordentlich gefaltet und an ihre Plätze gebracht werden. Hosen werden nach Größen sortiert, Lücken aus dem Lagerbestand ersetzt.

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Die Kundenberatung ist das Herzstück der Tätigkeit auf der ausführenden Ebene. Dafür sind zweierlei Kompetenzen zentral. So braucht es zum einen eine genaue Kenntnis der Waren.73 Zum anderen wird »von außen« durch verschiedene Kundentypen die Anforderung der flexiblen Verhaltensänderung an die Verkäufer herangetragen. Dabei existieren vor allem drei spezifische Typen von Kunden, die unterschiedliche Anforderungen an die Verkäufer stellen. Da ist zum einen der szenebewusste Stammkunde, der exklusive Behandlung erwartet und auch mal nur zu persönlichen Unterhaltungen in den Laden kommt. Ihm muss auf Augenhöhe begegnet werden, mit einer coolen, standesbewussten Selbstdarstellung. Diese Selbstdarstellung kann einem Verkäufer beim zweiten Kundentyp, der »Mutter«, das Genick brechen: Sie will nach den offiziellen Regeln der Kunst zuvorkommend behandelt werden. Spezifische Produkte müssen für sie alltagstauglich und mit einer stärkeren Dienstleistermentalität erklärt werden. Zwei Möglichkeiten stellen sich dabei dem Verkäufer: Er kann entweder den professionellen Dienstleister geben, oder er übernimmt bestimmte Verhaltensmuster des dritten Kundentyps, der den Typ »Mutter« meist begleitet, der Typ »Sohn«. So kann sich der Verkäufer häufig als eine etwas ältere Version und damit ein Rollenvorbild für den Sohn darstellen und so Sympathien bei der Mutter wecken, ohne besonders professionell aufzutreten. Es ist in diesem Fall sogar die fehlende beziehungsweise noch zu erlernende Professionalität, die die Kundin gewogen macht. Der Sohn stellt den Verkäufer noch vor eine weitere Herausforderung: Er ist der Stammkunde der Zukunft, und so muss ihm bereits ein Vorgeschmack darauf gegeben werden, welche exklusive, ja, kumpelhafte Behandlung ihn erwarten könnte. Es kann zu einem Tanz auf Messers Schneide werden, die Mutter professionell zu bedienen und gleichzeitig den Sohn einen Blick in die exklusive Welt der Stammkundschaft erhaschen zu lassen. Eine exemplarische Si-

73 Es gilt, das Sortiment zu kennen, um eine Beratung zu verschiedenen Artikeln

leisten zu können. Besonders auffällig ist dies im Skateshop: Hier ist Sachkenntnis gefragt, und mit ihr ergibt sich eine nach wie vor unangefochtene gegenderte Aufgabenteilung. Die Beratung in Sachen Sportartikel etc. gehört vornehmlich den männlichen Mitarbeitern. Die weibliche Belegschaft kommt entweder an der Kasse mit dem Kunden in Kontakt oder konzentriert sich auf die Beratung in Kleidungsfragen in einem abgetrennten Bereich.

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tuation, die die Ambivalenz der Anforderungen und das darauf antwortende Verhalten idealtypisch bündelt: Francisco, eine 25-jährige afro-deutsche Langzeitaushilfe, steht hinter der Kasse. Seine Haare quellen wild unter einer Kappe hervor, seine Nase ist gepierct, ein Unterarm großflächig tätowiert. Er trägt ein schwarzes T-Shirt mit einem Bild von George W. Bush darauf und der Unterschrift »Not my President!«. Ein etwa gleichaltriger Stammkunde steht neben ihm. Beide lehnen lässig mit einem Arm auf der Theke. Sie gestikulieren wild und unterhalten sich laut über das vergangene Wochenende.74 In diesem Moment tritt eine Mutter mit ihrem circa 13 Jahre alten Sohn an die Kasse, um ein paar Schuhe, ein leuchtend grünes T-Shirt und eine dazu passende Kappe zu bezahlen. Francisco stellt sich, noch bevor sie die Kasse erreicht, aufrecht hin und schenkt ihr ein freundliches Lächeln. Der Stammkunde verharrt in seiner Position. Mutter und Sohn treten näher, sie ein wenig entnervt, er ein wenig schüchtern. Franciscos Lächeln folgt ein ehrlich klingendes, mit warmer Stimme gesprochenes »Hallo! Haben Sie etwas gefunden, das Ihnen gefällt?« Mutter: »Ja, hier …« Sie schiebt die Artikel über den Tresen. Die freundliche und zuvorkommende Anrede hat das Eis zwischen Francisco und der Mutter sichtlich gebrochen. Die Unterhaltung zwischen Francisco und dem Stammkunden ist vorübergehend ausgesetzt. Der Sohn steht, seitlich versetzt, leicht hinter seiner Mutter und versucht, seine Schüchternheit mit Lockerheit zu überspielen. Der Stammkunde und Francisco sind eine exklusive Gemeinschaft, die für ihn Reiz ausstrahlt und zu der er doch selbst noch nicht gehört. Francisco zieht die Artikel über den Tresen und scannt sie einen nach dem anderen. Es entsteht ein kurzer Moment der Stille. Stammkunde zu Francisco: »Hast du schon das neue 411 [Skatevideo] gesehen?« Francisco jetzt mit leiser, zurückhaltender Stimmt: »Ja, hab ich schon. Der Eric-Koston-Part ist super!«, und weiter zum Sohn, jetzt etwas energischer: »Ahh, die Cappie ist cool! Die hab ich auch!«

74 Risikoreiche Stunts mit dem Sportgerät und anschließender Alkoholmiss-

brauch sind das Thema.

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Der Sohn lächelt. Francisco zu Sohn: »Kennst du auch schon das neue 411? Schau mal, das läuft da hinten auf dem Fernseher, falls es dich interessiert …« Sohn: »Cool …« Mutter: »Ja, kannst ja mal schauen, aber nicht so ewig …«, und weiter zu Francisco: »Wir tingeln schon den halben Tag durch die Stadt. Es ist so voll! Ich hab langsam keine Nerven mehr …« Francisco zur Mutter: »Ja, in den Ferien ist das manchmal nicht mehr feierlich!« Mutter: »Das können Sie laut sagen!« Francisco, während er die Ware in eine bunte Xtrem-Sports-Tüte steckt: »Haben Sie sonst noch einen Wunsch, oder war’s das?« Mutter: »Das war’s …« Francisco: »Das macht dann 138,50 … na ja, machen wir 130!« Mutter: »Oh, danke schön!« Francisco, als wäre es nichts: »Gerne, kein Problem!« Die Mutter bezahlt. Francisco gibt das Wechselgeld zurück. Francisco zum Sohn: »Willst du noch ein paar Sticker haben?« Sohn: »Au ja!« Francisco nimmt 5–10 Aufkleber aus einem Karton unter der Kasse, steckt sie in die Tüte und reicht diese über den Tresen an den Sohn. Mutter und Sohn bedanken sich noch einmal und verlassen das Geschäft. Francisco verabschiedet sie mit einem kollegialen »Bis bald!«, das wohl vornehmlich dem Sohn gilt, die Mutter aber nicht ausschließt. Die beiden verlassen das Geschäft. Francisco stützt wieder den Ellenbogen auf den Tresen. Francisco zu Stammkunden: »Ja, Alter, das neue 411 is der Hammer! …«75 Das den Produkten inhärente Lebensstilversprechen hat zur Folge, dass die Mitarbeiter auf eine sanfte Form der Disziplinierung der Kundschaft setzen können: Vielen jungen Kunden gelten die Verkäufer von Xtrem Sports als Vorbilder in Sachen Lebensstil, deren habituelle Ausdrucksformen als nachahmungswürdig begriffen werden. Die Angestellten haben so die Möglichkeit, eine von den

75 Man ist an Mills Ausführungen über den »Personality Market« erinnert: »With

anonymous insincerity the successful person thus makes an instrument of his own appearance and personality« (ebenda, S. 182).

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Kunden angestrebte Exklusivität in der Interaktion mit Inklusionsangeboten zu verbinden, wie etwa der persönlichen Ansprache mit Vornamen nach einigen Einkäufen. Das dazu erforderlich SurfaceActing stellt eine spezifische Kompetenz dar. Der Kunde strukturiert die Arbeit vor allem in zeitlicher Hinsicht: Er rhythmisiert den Tag. Sein Auftreten bestimmt die gefragte Tätigkeit, aber auch die Pausenzeiten der Mitarbeiter. Kaum ist er da, stehen Beratung und Verkauf im Vordergrund, verschwindet er, kommt die Normalisierungsarbeit zum Zug. Zwar lässt sich je nach Tageszeit und Wochentag die Frequenz des Kundenstroms abschätzen und schafft somit eine gewisse Erwartbarkeit, doch das Auftreten des Kunden ist dennoch weitgehend unberechenbar.

Von der Familie zum Team Wie bereits beschrieben, gliedert sich die Belegschaft in Festangestellte, Auszubildende, Aushilfen und Praktikanten. Hierin wird eine allgemeine Professionalisierungs- und Formalisierungstendenz des Unternehmens sichtbar. Typische Aufstiegswege innerhalb der Firmenstruktur sind dabei Wege vom Praktikanten zur Aushilfe und von der Aushilfe zum Auszubildenden. Die Tätigkeitsprofile bleiben dabei weitgehend gleich. Bisher ist noch niemand nach der Ausbildung in Festanstellung im Betrieb verblieben. Die Gruppe der Festangestellten wiederum teilt sich nochmals in zwei Lager. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die mit einer gewissen Leitungsposition im Unternehmen betraut sind – vornehmlich die Filialleiter. Die Kultur des Unternehmens hat dabei auch einen Nachteil. So ist für die Filialleiter selbst die repräsentative Rolle im Verkauf mit einer Art Verfallsdatum versehen. Das jugendliche Image des Ladens setzt dem Alter seiner Repräsentanten natürliche Grenzen. Folgerichtig hat sich etwa der Leiter des Snowboardladens zunehmend vom Verkaufsgeschäft entfernt. Anders als im Skateladen nimmt er nur noch Führungs- und Verwaltungsaufgaben wahr. Er hat auch den Sitz seines Büros in das Zentrallager der Unternehmensgruppe vor den Toren der Stadt verlagert. Dieser Wechsel wurde ihm mit einem anglophilen Titel76, nicht jedoch mit einer Gehaltssteigerung vergolten, wie ein anderer Filialleiter süffisant an-

76 »Salesmanager«.

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merkt. Der Aufstieg im Unternehmen stellt sich also eher als ein Umstieg dar. Dass dieser nicht ausnahmslos angestrebt wird, zeigt sich etwa an der Zukunftsorientierung des benannten Filialleiters. Er plant die eigene Selbstständigkeit mit einer Tierhandlung. Die zweite Gruppe innerhalb der Festangestellten ist jene, die eigentlich die Tätigkeiten von Aushilfen ausführen, allerdings in Festanstellung. Unter Prestigegesichtspunkten bildet sie das unterste Glied in der Kette. So erzählt ein junger Mann hinter vorgehaltener Hand über eine Kollegin, die aus dem Geschäft, das vorher in den Räumen des Skateshops war, übernommen wurde: »Die Mörsal, die hat ja auch echt so ein Glück gehabt mit dem Jan [Chef des Unternehmens], dass der sie wegen der Stammkundschaft übernommen hat!« »Warum?« »Na, die kann ja nichts anderes. Die hat Hauptschulabschluss und hat seit der Schule nichts anderes mehr gemacht. Die kann ja gar nichts anderes!« Der junge Mann selbst hat bisher neben Schule und Studium als Aushilfe im Laden gearbeitet. Er hat sein Studium beendet und sucht momentan eine Anstellung. Für die Zeit der Stellensuche hat er bei Xtrem Sports einen 30-Stunden-Vertrag – eigentlich dieselbe Position wie Mörsal. Was die Ausbildung der betrieblichen Ordnung angeht, spielen Fragen des betrieblichen Status und der Entlohnung der Arbeit bei Xtrem Sports auf allen Ebenen eine besondere Rolle. Auf der Stufe der leitenden Angestellten gibt es keine Informationen dazu, wer wie viel verdient. Es wird jedoch nicht jede interne »Beförderung« auch gleich finanziell vergolten. Auf der unteren Ebene der Unternehmenshierarchie ist die Lohnsituation noch undurchsichtiger. So werden etwa Erweiterungen der Tätigkeitsfelder in der informellen internen Hierarchie zwar bereits als eine Art Beförderung, also als Statusgewinn empfunden. Nach einer gewissen Zeit dürfen Aushilfen etwa hinter die Kasse, was durchaus als Anerkennung für Leistung interpretiert wird, ohne allerdings automatisch finanziell vergolten zu werden. Darüber hinaus existieren auf der Ebene der Aushilfen unterschiedliche Lohnstrukturen, die jenseits erweiterter Tätigkeitsfelder und anderer strukturell nachvollziehbarer Staffelungen liegen. So verdient beispielsweise eine Aushilfe neun Euro, während eine andere bei gleicher Tätigkeit und Dauer der Betriebszugehörigkeit einen Stundenlohn von sieben Euro erhält. Diese Unterschiede speisen sich aus informellen Ad-hoc-Regelungen, individuellen Absprachen und der 203

Logik eines »Zur-rechten-Zeit-am-rechten-Ort-Seins«. Dennoch vermitteln sie subjektiv empfundenen sozialen Status. Intersubjektiv nachvollziehbar sind aber vor allem die erweiterten Zuständigkeiten, die sich nicht automatisch in Lohn übersetzen. Allgemein spricht aus dieser Dynamik eine Orientierung der Angestellten auf die Steigerung der jeweiligen Tätigkeiten in Zahl und Komplexität und damit ein Wunsch nach Statusgewinn. Es herrschen Stundenlöhne: Man steigt mit sechs Euro fünfzig in die Lohnhierarchie ein und kann sich theoretisch sukzessive verbessern. Allerdings gibt es auch hier kein formales System der Lohnsteigerung, etwa gebunden an Leistung oder die Dauer der Zugehörigkeit zum Betrieb. Vielmehr bleibt es jedem Arbeitnehmer selbst überlassen, wie er zu Gehaltssteigerungen kommt. Die Lohnpolitik wird hier zu einem informellen Kontrollinstrument. Denn da sich einige Mitarbeiter anderen gegenüber im Vorteil wähnen, wird innerhalb der Belegschaft Lohn als Gesprächsthema gemieden. Niemand weiß, wie viel der andere verdient, »außer man quatscht zu viel!« Niemand traut sich zu fragen, aus Angst, der eigene Vorteil könne so gefährdet sein. Der Schlüssel zur Verbesserung der eigenen Lage sind persönliche Kontakte zum Chef, Eigeninitiative und der Zufall.77 Die willkürliche Lohnpolitik basiert auf einer spezifischen Unternehmenskultur. Diese lässt sich am besten als paternalistisches Familienmodell beschreiben. An der Spitze der Unternehmensgruppe thront unangefochten der Unternehmensgründer Jan. Er hat nach dem Hauptschulabschluss eine Ausbildung in einem Reisebüro absolviert und anschließend die Keimzelle des Unternehmens, den 77 So beschreibt eine junge Mutter, die seit vielen Jahren für Xtrem Sports arbeitet,

die Umstände ihrer letzten Gehaltserhöhung folgendermaßen: »Und das war damals auch ganz komisch: Da war ich noch bei sieben fünfzig, und da war Jans Schwester Daniela da und hat gearbeitet in den Ferien, so ein bisschen mitgearbeitet. Und dann haben die sich übers Gehalt unterhalten, wie viel Stundenlohn sie denn bekommt. Da stand ich halt blöd daneben. Und dann hatte der Jan zu Michi gesagt: ›Mach mal bei der Dani acht fünfzig.‹ Die ist nie da so! Dann hat der Jan das so gesehen. Und: ›Michi, wie viel bekommt eigentlich die Elisabeth?‹ Und da war ich vielleicht noch bei sieben fünfzig, und dann hat er das gesagt: ›Sieben fünfzig‹, und dann: ›So, ab jetzt für Dani und Elisabeth acht fünfzig.‹ Er konnte nicht, weil seine eigene Schwester … und dann waren wir beide bei acht fünfzig, und das war das meiste, was je eine Aushilfe verdient hat.«

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Shop-in-Shop, gegründet. Nach innen wurde stets ein solidarisches Modell gepflegt, das auch auf die Bedürfnisse der Angestellten ausgerichtet war und sich in dem propagierten Bild der Familie bündelte. Die Arbeit soll diesem Bild gemäß mehr sein als eine Geldquelle. Die Metapher der Familie schafft eine Ideologie der Vergemeinschaftung, über die der Firmenvater »seine Schäfchen« ans Unternehmen bindet. Eine kollegiale, »kumpelhafte« Atmosphäre, die Betonung des Teamcharakters sowie eine Verbindung von Hobby und Beruf schaffen Identifikation und eine relativ lange Verweildauer der Aushilfen. Es entsteht eine familiäre Gemeinschaft, über der Jan als Firmenvater an der Spitze thront und über seine Schützlinge wacht. Die Filialleiter sehen sich dabei in der Rolle des »großen Bruders«. Sie alle haben die Familienphilosophie sichtbar angenommen.78 Das Familiensystem hat in jüngerer Zeit allerdings Risse bekommen. Die Firma ist zu groß geworden für die Idee der Familie. Von der überschaubaren Teamkonstellation der Anfangsstunden – mit einer Handvoll Mitarbeitern im gleichen Ladengeschäft – hat sich Xtrem Sports längst entfernt. Das Herrschaftsarrangement hat sich in der Folge verändert. Es wird versucht, dem Wachstum mit Formalisierungs- und Überwachungsstrategien der Arbeit zu begegnen. Was früher im Ermessen der jeweiligen Mitarbeiter lag, wurde in jüngster Zeit in ein formales Konzept gezwängt. Ein Versuch, der mäßigen Erfolg zeitigte, jedoch großen Unmut innerhalb der Belegschaft verursachte. Der Chef führte innerhalb jeder Betriebseinheit eine Liste von Handlungsvollzügen ein, die jeden Tag zu erledigen sind und vom morgendlichen Auf- bis zum allabendlichen Abschließen der Ladentür reichen. Es wurde ein Punktesystem eingeführt, das Sanktionen einschloss. So sollten drei Verwarnungen mit einem Mitarbeitergespräch geahndet werden, drei Mitarbeitergespräche wurden als offizieller Kündigungsgrund eingeführt. Allerdings blieb es bei dem 78 Im Zeichen eines Produktes, das auf die Kommunikation von Lebensgefühl

setzt, sollen die Grenzen zwischen professioneller Rolle und Selbstverwirklichungsansprüchen bei den Angestellten verschwimmen. Erfolgreich ist diese Strategie, die im Kern auf Subjektivierung setzt, vornehmlich bei jüngeren Angestellten. Langjährige Mitarbeiter betrachten ihre Tätigkeit dagegen weit rollenförmiger und instrumenteller.

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Versuch, das Punktesystem wurde nie angewandt. Zum einen setzten es die Filialleiter nicht um, worin ein Moment aktiver Resilienz liegt. Denn die Filialleiter wollten sich etablierte Autonomie- und damit Machtspielräume nicht durch einen detaillierten Handlungskatalog nehmen lassen. Zum anderen pochte auch der Chef nie wirklich auf die Umsetzung. Der Formalisierungsversuch verlief im Sande, führte eher noch zu einer Stärkung der Filialebene, weil sich die Filialleiter der Anweisung ja effektiv widersetzten. Anders im Falle der Überwachung. Jan installierte in jedem Laden Kameras, auf die er jederzeit über das Internet zugreifen kann. Als er eines Tages im Ladies und Kids Store eine Angestellte beobachtet, die aus seiner Sicht faulenzt, ruft er sie wutentbrannt an und kürzt ihr das Gehalt. In jüngerer Zeit soll es auch zu relativ willkürlichen Kündigungen gekommen sein. So sei ein Mitarbeiter entlassen worden, der wegen uneindeutiger Angaben eines Kollegen zu spät zu einem Termin erschienen sei. Daraufhin sei der Chef ausgerastet, habe den Mitarbeiter angeschrien und ihm im Affekt gekündigt. Das Pendel schwingt so vom wohlwollenden Familienmodell – statt in Richtung neutraler Formalisierung – zunehmend zu einer Willkürherrschaft. Die patriarchale Willkür des Familienvaters Jan wirft dabei neue Probleme auf: Die informelle Entscheidungslogik »aus dem Bauch heraus« steht aus Sicht der Mitarbeiter zunehmend im Widerspruch zu einer rational kalkulierenden Unternehmensführung. Informalität und Willkür sorgen in der Belegschaft für eine Dichotomie zwischen Privileg und Benachteiligung. Während die einen das väterliche Wohlwollen und Anerkennung erlangen, spüren die anderen den strafenden Vater. So gibt es nach Angaben der Beschäftigten Mitarbeiter, deren Arbeit kaum gewürdigt wird und die deswegen ausschließlich den tadelnden Chef kennenlernen. Diese seien entsprechend schlecht motiviert und geraten über das harmonisierende Familienbild verächtlich ins Schmunzeln. Damit wird die willkürliche Entscheidungsmacht letztlich zur Keimzelle von Konflikten unter den Beschäftigten. Es wird übereinander gelästert, um die Gunst des Chefs gebuhlt und die Arbeit der anderen zum eigenen Vorteil kleingeredet. Die fehlende Transparenz der Lohnpolitik sorgt zusätzlich für Missgunst und Misstrauen untereinander. Die Aufrechterhaltung der Familienlogik verlagert sich in der Folge zum Teil von der vertikalen auf eine horizontale Ebene. Sie 206

wird zur Aufgabe der Filialleiter, die in jeder Filiale einen Kreis der Vertrautheit aufzubauen versuchen. Dennoch ist auch diese Strategie nicht unproblematisch. Denn die Familienlogik sorgt für Unklarheit bezüglich der Hierarchiestrukturen. Die Filialfamilie funktioniert nach dem Prinzip »Jeder [kann] jedem was sagen«. Damit ist eine weitere Horizontalisierung der Konfliktlinien vorgezeichnet. Denn wenn jeder jedem »etwas sagen« kann, weiß niemand mehr, was er sich sagen lassen muss. Es deutet sich an, dass die informellen Hierarchieebenen sich am ehesten an der individuellen Laufbahn im Unternehmen orientieren. Betriebszugehörigkeit, informelle Seniorität, wird so zu einem entscheidenden Kriterium für Weisungsbefugnisse. Ein Kriterium, das jedoch nicht uneingeschränkt als solches anerkannt wird. Denn offiziell gilt eher der vertragliche Status innerhalb des Unternehmens als bestimmend: vor allem anhand der Achse Festanstellung vs. Aushilfestatus. Kommt nun beispielsweise ein neuer Auszubildender in den Laden, so erwirbt dieser ohne irgendeine Leistung Anrechte, für die eine Aushilfe jahrelang Vertrauen einwerben muss – beispielsweise um kassieren zu dürfen. Die Aushilfe hat so mit einer gefühlten Devalorisierung ihres Status zu kämpfen, der von einem 16-jährigen Neuankömmling infrage gestellt wird. Inoffiziell ist die Aushilfe jedoch auch weisungsbefugt gegenüber dem Auszubildenden, da sie länger im Betrieb ist. Der Auszubildende hingegen mag davon ausgehen, dass seine Festanstellung ihm ein exklusiveres Mitspracherecht einräumt als die lockere Anstellung der Aushilfe. Mit diesem Hierarchiedilemma werden die Angestellten im Zuge einer Vermischung von Familien- und Teamlogik alleine gelassen. So entstehen typische Konflikte. Ein Filialleiter beschreibt beispielhaft eine Auseinandersetzung zwischen zwei Mitarbeitern – einer Aushilfe, die bereits seit neun Jahren im Unternehmen beschäftigt ist, und einem Auszubildenden, der noch kein Jahr an Bord ist. Als es zum Streit über die Übernahme bestimmter Tätigkeiten kam, für die beide den jeweils anderen zuständig sahen, war der Filialleiter gezwungen einzuschreiten: »Ja, ganz klar. Ich hab im Endeffekt das Problem angesprochen, dass im Endeffekt bei uns jeder jedem was sagen kann. Jeder jedem irgendwelche Aufgaben geben kann. Und eine Aushilfe ist in dem Sinne, oder eine Auszubildende, tschuldigung, ist ja keine Aushilfe, eine Auszubildende in der Ausbildung ist und sich von einem lang207

jährigen Mitarbeiter, auch wenn es nur eine Aushilfe war, jetzt ja mittlerweile Angestellter, auf jeden Fall was sagen lassen kann, was sagen lassen muss. (.) Weil es natürlich bei uns dann auch, ich sag jetzt mal, so ein Altersding ist, ein bisschen so eine Respektsache, was ja auch mit dazugehört, was ich eben dann auch vermittelt habe. Und was jeder auch mitbringen sollte. Man braucht Respekt voreinander. Der eine hat es verstanden, und natürlich muss man in dem Sinn, wenn man den einen zurechtweist, natürlich nicht den anderen auch [nach] oben schieben, sondern dem anderen, so seh ich das, vielleicht auch ein kleines Schuldgeständnis einräumen. Damit er sich nicht zu sehr bestätigt fühlt, weil das nämlich dann irgendwann wieder Probleme nach sich ziehen könnte. Weil er es dann in irgendeiner Art und Weise auch wieder versucht auszunützen. Deshalb räume ich ihm dann auch ein kleines Schuldgeständnis ein, wo er dann auch einsieht, so dramatisch ist das nicht. Damit das dann auch geklärt auseinandergeht.« Trotz der aus dem Zitat sprechenden Sozialkompetenz des Filialleiters wird deutlich, dass die organisatorischen Grundlagen des Konfliktes unangetastet bleiben: Alter, Respekt und betrieblicher Status bleiben Fragen der situativen Interpretation. Die Intervention ist eine auf Harmonie ausgelegte, psychologisierte Befriedungsstrategie mit kurzer Halbwertszeit. Hier zeigt sich die faktische Autonomie der einzelnen Filialen, in denen der Filialleiter in der Lage ist, horizontale Konflikte zumindest temporär einzuhegen. Es finden sich horizontale Konflikte um betrieblichen Status, die allerdings ohne vertikale Effekte bleiben.79 Der Wandel vom Familien- zum Willkürmodell stellt die Angestellten vor die Frage, wie sich betrieblicher Status in effektive Privilegien übersetzen lässt. Die Folge sind Statuskämpfe, die sich wechselnder Allianzen bedienen können und im Rahmen der jeweiligen Filialen ausgetragen werden.

79 Von einer Horizontalisierung vertikaler Konflikte kann hier insofern die Rede

sein, als dass Fragen des betrieblichen Status bei Xtrem Sports ehemals klarer geregelt waren. Die Gliederung nach Hierarchieebene und Betriebszugehörigkeit funktioniert im Zuge der Pluralisierung der Anstellungsformen und der Reformulierung des Teammodells (»Jeder kann jedem was sagen«) nicht mehr.

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Willkür, Autonomie, Statussuche Der Ordnungsmechanismus der Arbeitssituation bei Xtrem Sports nimmt also seinen Ausgang von einem Modell familiärer Gemeinschaft. Autonomiespielräume aufseiten der Angestellten waren dabei stets gerahmt durch ein Modell patriarchaler Sorge und Kontrolle. Dieses Modell ist im Zuge des Wachstums des Unternehmens an seine Grenzen gestoßen. Der Vater musste durch große Brüder ersetzt werden, die auf ein Führungsmodell der supervisorischen Betreuung eines sonst relativ autonomen Teams setzen. Der Versuch, einen sanktionsbewehrten Handlungskatalog zu etablieren, scheiterte am Widerstand der Filialleitung. Der Effekt auf der Handlungsebene ist einerseits die permanent drohende Willkür des Vaters, der sein digitales Auge immer auf den Arbeitsprozess richten kann und dessen Reaktionen nicht zu antizipieren sind. Zugleich geht mit diesem Modell eine gestiegene Autonomie der ausführenden Ebene einher. Hier haben vertragliche Pluralisierungsdynamiken stattgefunden, die zu einer ungeregelten Situation des betrieblichen Status geführt haben. Horizontale Konflikte um die Hierarchisierung, also Vertikalisierung der Arbeitssituation, sind die Folge. Solche Konflikte können den Status des Einzelnen nie systematisch auf Dauer stellen, da errungene Stellungen nicht durch offizielle Positionen abgesichert werden. Das effektive Hierarchiegefälle, das sich im Geschäft an der klaren Grenze der Tätigkeitsprofile am Scheidepunkt der Administration definiert, bleibt dabei unangetastet. Vertikalität, die Status in Privilegien übersetzt, wird somit nicht auf der horizontalen Ebene etabliert. Effektive Vorteile, wie etwa Lohnerhöhungen, sind dem Zufall oder informellen persönlichen Kontakten zum Vater geschuldet. Ordnung setzt sich hier weitgehend über willkürliche, personengebundene Macht durch. Zu einem manifesten innerbetrieblichen Problem wird dieser Umstand nicht. Denn ein Aufstieg innerhalb des Unternehmens wird aufseiten der ausführenden Ebene nicht gewünscht, die Situation daher als temporär empfunden. Es zeigt sich hier ein Ordnungselement, das auf einem spezifischen Organisations- beziehungsweise Rekrutierungsmodell sowie auf der Spezifik des angebotenen Produktes und der Materialität der Arbeit basiert. Das Rekrutierungsmodell orientiert sich am Abschöpfen und der Inwertsetzung milieuspezifischer Kompetenzen. Es ist das Produkt selbst, das diese Regel diktiert. Der Ordnungsmechanismus der Arbeitssituation bei Xtrem 209

Sports zeigt sich in der Summe als eine volatile Form der Strukturierung durch personengebundene Macht. Die Filialleiterebene nimmt dies billigend in Kauf, weiß sie doch, dass das Geschäftsmodell auf dem spezifischen kulturellen Kapital eines autonomiebedachten Personals basiert. Zugleich sorgt der digitalisierte Vater für eine Drohkulisse, die gewisse Disziplinierungseffekte zeitigt, ohne jedoch allzu sehr in die Reproduktion der betrieblichen Ordnung einzugreifen. Die Basis für dieses Modell bildet ein Personalstamm, der zwar identitär an das Produkt und damit das Unternehmen gebunden ist, der sich aber zugleich von seiner Arbeit nichts für die Zukunft verspricht. Die Arbeitsteilung folgt einer Logik innerbetrieblicher Segmentierung, deren Grenze zwischen der Gruppe der drei Filialleiter und der Masse der circa 55 Angestellten verläuft.

Der neue Verkaufsraum Der nun folgende Fall unterscheidet sich von Xtrem Sports in mehreren Dimensionen: Erstens zeigt sich hier keine Geschichte erfahrbarer Unternehmensexpansion, mit der die Mitarbeiter gewissermaßen mitwachsen konnten. Ein formalisierteres Organisationsmodell ist daher weit etablierter. Zweitens kommt dem Faktor der Kundeninteraktion im Arbeitsprozess weit weniger Bedeutung zu als im Falle von Xtrem Sports. Drittens ist das Personal von U&S weit heterogener als jenes von Xtrem Sports. Vor allem die Gruppe derer, die auf der ausführenden Ebene tätig sind und sich zugleich einen längeren Verbleib im Unternehmen erhoffen, ist hier größer. Viertens spielen das Produkt und die Unternehmenskultur in Hinsicht auf Subjektivierungsforderungen für die Angestellten eine andere Rolle.

Am Ende der globalen Wertschöpfungskette U&S ist ein globales Unternehmen mit weltweit mehr als 70000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von knapp zehn Milliarden Euro im Jahr 2008. In Deutschland unterhält U&S, nach eigenen Angaben, ein Netz mit mehr als 300 Filialen in knapp 200 Städten. Eine nationale Firmenzentrale koordiniert den deutschen Markt mit den globalen Produktionsketten. Das Bundesgebiet ist dabei in mehrere »Areas« unterteilt, die jeweils der administrativen Leitung eines »Area-Teams« unterstehen. Diese sind für die Warendistribution zuständig. Die einzelnen Filialen wenden sich mit ihren Bestellun210

gen an das jeweils zuständige Area-Team. Das Führungsteam einer Filiale besteht aus dem »Store Manager«, also Filialleiter, und seinen »Department Managern«, die für die einzelnen Abteilungen, also zum Beispiel Damenwäsche, Herrenbekleidung usw., zuständig sind. Weitere Positionen wie »Visual Merchandiser«80, »Shop Controler« oder »Lagerverantwortlicher« existieren, wurden aber in der untersuchten Filiale mit Verkaufspersonal besetzt. Diese Positionen spielen im Kern die gleiche Rolle im Unternehmen wie die Titel und Vertragsstrukturen bei Xtrem Sports: Sie weisen ein gewisses Maß an Status zu, werden aber nicht automatisch gesondert vergolten. U&S hat schon mehrfach für mediale Schlagzeilen gesorgt: Einerseits ist das Unternehmen um ein positives Image bemüht, was sich in verhältnismäßig hohen Gehältern, einer vordergründig kooperativen Mitarbeiterführung und im Streben nach einer in jeder Hinsicht nachhaltigen Wertschöpfungskette manifestiert. Dies hat dem Unternehmen verschiedene Auszeichnungen eingebracht. Andererseits hat U&S auch durch eine betriebsratsfeindliche Unternehmenspolitik von sich Reden gemacht. In der untersuchten Filiale war Interessenvertretung dieser Art aber schlicht kein auffindbares Thema. In den Ladengeschäften gibt es ganz klassisch Frontstage (Verkaufsfläche) und Backstage (Lager). Die Filialen öffnen in Deutschland um zehn Uhr, was für das Verkaufspersonal bedeutet, dass der Arbeitstag frühestens um neun Uhr beginnt. Im Lager sieht es anders aus: Hier beginnt die erste Schicht um sechs Uhr morgens und die späteste Schicht beginnt um 12 Uhr. Das Lager trägt dabei kein wirkliches Stigma, ist jedoch der Ort, an dem U&S auch Platz für Mitarbeiter hat, die nicht nur jung, locker und dynamisch sind. In den Worten einer Angestellten: »ältere Frauen, die vom Äußeren nicht ins Verkaufsbild gepasst hätten«. Die meisten Filialen von U&S zeigen sich nach außen transparent. Es dominieren große Schaufenster, in denen großzügig mit dem vorhandenen Platz umgegangen wird. Das Konzept des Verkaufsraumes will ein Hybrid sein aus Boutique und Textilkaufhaus: Die Ständer und Regale stehen meist weniger eng als in anderen günstigen Textilgeschäften, die Kleidung pflegt zu einem großen Teil das Understatement der europäischen Mittelschichten. Zugleich wird doch

80 Dekorateur.

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auch sparsam mit dem Raum umgegangen, und Bedienung erfolgt nur auf ausdrücklichen Wunsch. Trotz der häufig anzutreffenden Glasfassaden dringt in die Verkaufsräume meist kein natürliches Licht. Die Räume sind stark künstlich ausgeleuchtet, die Luft ist trocken und kommt aus Belüftungsanlagen. Im Hintergrund läuft in der Regel Musik von speziellen von der Unternehmensführung vorgegebenen U&S-CD s. Der Raum ist systematisch durchgeplant. U&S bemüht sich um ein innovatives Image. Das findet seinen Ausdruck auf der Angebotsseite unter anderem in immer wiederkehrender Zusammenarbeit mit besonders renommierten Designern. Für die Belegschaft bedeutet es, in konstanten Intervallen immer wieder das gesamte Ladengeschäft umzugestalten. Betritt ein Kunde eine Filiale, und kommt er eine Woche später nochmals, so soll er sich fühlen, als besuche er U&S zum ersten Mal. Standen die Jeans vor einer Woche links hinten, sind sie jetzt eben rechts vorne. Das Ziel scheint zu sein, dass der Kunde nicht gezielt durch den Raum gehen und ergebnisorientiert die Waren zusammensuchen kann. Er soll schlendern, stöbern, selektieren. Kurz: Er soll mehr finden, als er sucht. Das Personal der untersuchten Filiale ist zu 90 Prozent weiblich. Auffällig ist dabei, dass die zwei Männer der Filiale die Filialleitung und eine Filialassistenz stellen. Die Personalstruktur ist gekennzeichnet von Diversität, die entlang unterschiedlicher Achsen beschrieben werden kann: Zunächst finden sich die unterschiedlichsten Vertragsverhältnisse. Von einer breiten Masse an Stundenlöhnern81 mit unterschiedlichsten Zeitkontingenten, über Jahresarbeitskräfte82 und Festangestellte auf drei verschiedenen Autoritätsebenen83 in Voll- oder Teilzeit ist alles zu finden.84

81 Ca. 2/3 der Belegschaft. 82 »Jazlas« – sie haben ein bestimmtes Kontingent an Stunden pro Jahr, das flexibel

verteilt werden kann. 83 Ein Filialleiter, zwei Filialsassistenten, zwei bis drei »zweite Reihe« pro Filiale. 84 Die große Masse der Stundenlöhner ermöglicht dabei eine flexible Arbeitszeitpolitik im Unternehmen. Für die Stundenlöhner bedeutet dies vor allem unberechenbare Arbeitszeiten. Die spezielle Vertragslandschaft gebiert so manche Absurdität: Es kommt etwa vor, dass Stundenlöhner in reguläre Stellen gedrängt werden, weil sich über das Zahlen eines Festgehaltes der Stundenlohn verringert. Der eigentliche Aufstieg in der Unternehmenshierarchie wird so

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Eine zweite Achse der Diversität betrifft die Qualifikationsprofile: U&S setzt sich deutlich von einem in Deutschland vorherrschenden Zertifizierungsdrang ab. Der breite Rücken der Belegschaft besteht zu etwas weniger als der Hälfte aus Studierenden oder Schülern. Im restlichen Teil der Stundenlöhner finden sich ungelernte Schulabbrecher, ehemalige Hausfrauen mittleren Alters und auch ausgebildete Einzelhandelskauffrauen, die zum Beispiel wegen Mutterschaft nur begrenzt arbeiten können oder wollen. Die administrative Ebene hingegen ist – zumindest in der untersuchten Filiale – komplett angelernt. Der Filialleiter85 hat als Stundenlöhner angefangen und sich hochgearbeitet.86 U&S setzt auf interne Qualifizierung. Die Dimension der Ethnizität läuft interessanter Weise quer zu den vorher genannten Achsen. Die Belegschaft ist ethnisch äußerst heterogen, und es liegt nahe, dass U&S als globales und liberales Unternehmen hierauf explizit Wert legt. Es ist jedoch nicht so, dass die Migranten innerhalb der Belegschaft gleichzusetzen seien mit den Akteuren aus den Randbereichen der Sozialstruktur oder den Stundenlöhnern ohne Ausbildung. Vielmehr findet sich gerade auch in der Gruppe der studentischen Stundenlöhner eine Mehrheit von Migranten mit hoher Bildungsaspiration. Eine letzte Achse der Diversität stellt die Kategorie Alter dar. Man kann sich bei U&S als attraktive Mittdreißigerin schon richtig alt vorkommen. Die große Mehrzahl der einfachen Angestellten ist zwischen Anfang und Mitte/Ende 20. Aber es gibt eben auch immer zwei bis drei ältere Arbeitnehmer, die von ihren jüngeren Kollegen meist als besonders arbeitsam charakterisiert werden. Die Angestellten selbst antworten auf die Diversität der Belegschaft mittels einer mentalen Zweiteilung: Die Bezeichnungen unterscheiden sich – gemeint sind aber zum einen stets jene Mitarbei-

schnell zu einem gefühlten Abstieg. Es muss den Angestellten häufig erst einmal plausibel gemacht werden, warum die Festanstellung für sie vielleicht doch besser ist als das Stundenlöhnertum. 85 Einer von zwei Männern im Betrieb. 86 Diese Aufstiegsperspektive ist den Angestellten durchaus präsent und wird von ihnen als reale Chance beschrieben. Wer zeigt, dass ihm an dem Job liegt, auf den kommt U&S irgendwann zu und versucht, ihn zu binden, so meinen die Angestellten. Die beiden Filialassistenten und die Hälfte der »zweiten Reihe« haben gar keine Ausbildung.

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ter, die die Arbeit nicht wirklich brauchen,87 und jene, die auf den Job existenziell angewiesen sind. Bei dieser zweiten Gruppe handelt es sich meist um Frauen mit oder ohne Hauptschulabschluss, manchmal mit abgeschlossener Berufsausbildung, die in der Regel bereits Kinder haben. Sie werden im Folgenden als Stamm-, die erste Gruppe dagegen als Karenzkräfte bezeichnet.

Routine und Abwechslung Im Verkaufsraum finden sich vornehmlich vier Tätigkeitsbereiche: (1) Durchräumen, (2) Wegräumen, (3) Anprobe und (4) Kasse. Hinzu kommen seltener direkter Kundenkontakt und verschiedene Ausnahmetätigkeiten. Interaktivität ist nicht der Schlüssel zum Tätigkeitsprofil bei U&S. Die Arbeit ist gekennzeichnet durch Routinen: »… der Job besteht eigentlich nur darin, dass du an der einen Ecke der Abteilung anfängst und du diese Dinger durchräumst: alles aufn Bügel, schön mechanisch. Und wenn du am zweiten Regal bist, sind diese blöden Kunden, über die man sich ja ständig aufregt, haben schon wieder alles zerissen. Aber egal: Wenn dann so eine Kleinigkeit kommt: ›Kannste nicht mal schnell die Puppen anziehen?‹, dann denkst du dir ›Yeah!‹ Weil: Abwechslung!« Von der Routine abweichende Tätigkeiten erscheinen hier als große Ausnahme, die geradezu herbeigesehnt wird. Der Kunde – theoretisch die eigentliche Quelle systematischer Kontingenz – ist damit allerdings nicht gemeint. Er ist eher der Störenfried, eine Quelle systematischer Irritation des Arbeitsalltags. Als nominell zentraler Bezugspunkt der Arbeit ist er es, der die eigentliche Arbeit zu behindern droht. Hier rühren die Beschreibungen an der Kern der Unterschiede zwischen den Karenz- und den Stammkräften. Erstere neigen dazu, Abwechslung und Kontingenz der Routine vorzuziehen. Mit der zweiten Gruppe verhält es sich genau umgekehrt: Die Stammkräfte orientieren sich in ihrer konkreten Praxis auf wenig komplexe Routinen, bemessen den Wert ihrer Arbeit vornehmlich an der körperlichen Anstrengung, die diese kostet. Genauigkeit und die Qualität der vollzogenen Routinen sind der Maßstab guter Arbeit. Man setzt sich persönliche Standards, die von der Taktung der Kollegen

87 Im Kern: Studierende.

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unabhängig und durch technische Maßnahmen nicht zu regulieren sind. Wirklich gearbeitet hat, den Deutungen der Stammkräfte zufolge, nur, wem abends die Glieder schmerzen. Routinisierung und Schnelligkeit sind dafür die Schlüsselkategorien: »Ich brauche Bewegung. Ich brauche Stress! Ich brauch irgendwie Power! Und unten im Lager ist es so: Da bewegen sich nur meine Arme, aber im Verkauf ist das so, dass sich die Arme und die Füße gleichzeitig bewegen …«

Interaktivität unter Rationalisierungsdruck Im Gegensatz zu Xtrem Sports zeigt sich die Unternehmenskultur von U&S nicht als Willkürkonstruktion im Rahmen eines patriarchalen Führungsmodells. Sie ist systematisch durchgeplant und von einer Spannung zwischen liberaler Unternehmenskultur und Kontrollbemühungen des Managements geprägt. Das Unternehmen bemüht sich um die Strukturierung der Verhaltensmuster der Angestellten bis hinein in die Interaktionen. So gibt es spezielle Schulungen, in denen standardisierte Verhaltensmuster erklärt werden. Körperhaltungen und Kommunikationsskripts werden dabei vorgegeben und einstudiert. Das Verhalten wird reguliert bis in die Mimik.88 Die Umsetzung wird erwartet, und Zuwiderhandlungen können Konsequenzen haben. Dies scheint aber eher selten vorzukommen, was sicherlich auch eine Frage der spezifischen Führungsstrategie der jeweiligen Filialleitung ist. Grundsätzlich müssen sich die Verkäufer aber nicht alles gefallen lassen. Im Konfliktfall mit Kunden wird man etwa angehalten, sich auf der Frontstage zu entschuldigen. Backstage kann man dann allerdings Unterstützung für das eigene Verhalten vonseiten der Vorgesetzten erfahren. Die auf Standardisierung von Interaktionen setzenden Kontrollstrategien basieren dabei, wie beschrieben, auf einer liberalen

88 Zu den Lehrinhalten zählt etwa das »U&S-Gesicht«, das jede Angestellte ad

hoc reproduzieren kann: eine gekünstelte Form zu lächeln, die vornehmlich versucht, die Brücke zu schlagen zwischen Freundlichkeit und professioneller Distanz. Es ist eine Einladung zum Spiel und eine Aussage über die Regelförmigkeit desselben, das den Kunden entsprechend der Organisationsziele disziplinieren soll.

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Unternehmenskultur.89 Die »lockere Art« erfordert erheblichen organisatorischen Aufwand. Ob in Sachen Musik, Verkaufsflächengestaltung, Arbeitsvollzüge, Handlungsmuster, Kundeninteraktion, Körperhaltung etc. – hier wird nichts dem Zufall überlassen. Wie radikal dieses Strukturierungsstreben in der Unternehmenskultur verankert ist, verdeutlicht eine Praxis, die es so wohl nicht mehr gibt, die jedoch bis vor einigen Jahren bei Filialeröffnungen zum Einsatz kam, wie eine ehemalige Aushilfe berichtet: »Das war im Grunde genommen Schulung, wo dann erstmal natürlich gesagt wurde: ›Ihr wurdet nicht genommen, weil ihr so und so ausseht oder das und das könnt. Nein! Wir spüren das: Ihr habt das U&S-Gen!‹ […] Das U&S-Gen! Okay: Das kam mir immer ziemlich komisch vor! Aber das war ja in Ordnung … […] Wir haben dann so Powerpoint-Zeug ausgedruckt bekommen, eben mit den sieben Säulen drauf und mit – ich weiß es nicht – verschiedenen Richtlinien. Das U&S-Haus gab es auch noch. Das war so ein Modell, wo irgendwas dargestellt wurde.«90 Die zentrale Herausforderung für die Unternehmenskultur ist das im Idealfall spannungsfreie Ineinanderfügen eines spannungsreichen Verhältnisses zwischen Kontrolle und einer liberalen Haltung gegenüber den Mitarbeitern. Dieses Spannungsverhältnis findet sich auch innerhalb der alltäglichen Arbeitspraxis: Hier sind es allerdings gerade die eingespielten Routinen des Arbeitsvollzuges, die das ungezwungene Image des Unternehmens tragen. Insofern wird Individualität nicht in gleicher Form wie bei Xtrem Sports gefordert. Die von U&S angebotene Produktpalette erfordert schließlich kaum milieuspezifische Qualifikationen. Sie soll im Grunde jedermann ansprechen. Ebenso stark wie im Falle von Xtrem Sports wird dagegen der Faktor der Gruppeneinpassung in die Teams betont. Diese wird von den Angestellten positiv bewertet und durch wiederkehrende

89 U&S ist als Arbeitgeber offen für Anreize von unten, verteilt viel Macht auf die

Teams der ausführenden Ebene, bemüht sich um eine explizit multi-ethnische Belegschaftsstruktur, ist offen für unterschiedliche sexuelle Orientierungen, bietet flexible Arbeitszeitregelungen usw. 90 Die 7 Säulen des U&S-Hauses sind die metaphorisch-visuelle Konzeptionalisierung des von Mitarbeitern erwarteten Verhaltens. Im Begriff des U&S-Gens drückt sich bereits der Wille zur Team-Bildung aus: »Ihr gehört einfach zusammen!« ist die implizite Aussage.

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Anreize von oben versüßt.91 Diese Gruppenkohäsion hat allerdings durchaus auch ihre repressiven Momente – Anpassung wird gefordert: Ärger steht etwa ins Haus, wenn sich Arbeitnehmer in Kleidung zeigen, die ersichtlich nicht von U&S stammt. Die Kombination aus inklusiven Strategien und repressiven Maßnahmen zielt auf eine Bindung ans Unternehmen und die Steigerung der Effizienz des Arbeitsvollzuges.92

Eine Hand wäscht die andere Die Mitarbeiter haben ein reflexives Verhältnis zu den Strukturierungsstrategien des Managements. Sie wissen, dass die Unternehmenskultur eine marktwirtschaftliche Strategie ist. Sie wissen, dass der Duz-Zwang im Unternehmen nicht mit Hierarchiefreiheit gleichzusetzen ist. Ihnen ist auch bewusst, dass sie ihre Flexibilitätsprivilegien nicht überstrapazieren dürfen. Ja, sie wissen sogar, dass die Unternehmenskultur durch die Formalisierung von Interaktionen und Kleidung, die Kommunikation von Zusammengehörigkeit und die Ermöglichung von Partizipation auf die Subjektivität der Angestellten Einfluss nehmen will. Dennoch spielen sie mit und lassen sich von diesen Strategien nicht verrückt machen, solange diese einen effektiven Machtgewinn der ausführenden Ebene bedeuten. Dieser Tauschhandel funktioniert: Die ausführende Ebene kann erhebliche informelle Machtpotenziale nutzen. Man stellt sich mit dem Filialleiter gut. Der Einfluss geht so weit, dass die ausführende Ebene die Kündigung unbeliebter Mitarbeiter initiieren kann. Dies geschieht über einen Prozess, in dem die Ordnungseffekte horizon91 So wird etwa »nach Filialschluss […] ständig Sekt gesoffen«, wie eine Ange-

stellte berichtet – beispielsweise wenn, wie mehrmals im Jahr, ein neuer Umsatzrekord erzielt wird. Das Team feiert dabei die gemeinsame Leistung. Es werden auch Wettkämpfe zwischen den Filialen ausgerufen, in denen dasjenige Geschäft, das in einem bestimmten Zeitrahmen den größten Umsatz erzielt, als Preis eine gemeinsame Auslandsreise gewinnen kann. Solcherlei Maßnahmen finden bei Teilen der Belegschaft durchaus Anklang, fördern das reibungslose Ineinandergreifen des arbeitsteiligen Prozesses und bearbeiten damit zugleich das Transformationsproblem. 92 Den Mitarbeitern wird ein großes Mitspracherecht eingeräumt. Sie werden nach ihrer Meinung gefragt – ob es um die Einstellung neuer Kollegen, deren Bewertung oder die Warenpräsentation geht. Dies soll wiederum die Gruppenkohäsion befördern.

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taler Konflikte die Basis für vertikale Machtausübung legen. Eine Mitarbeiterin beschreibt diesen Prozess folgendermaßen: »Denen ist halt Teamarbeit super wichtig. Und wenn man von vorneherein, die Mädels die schon da sind, die Mädels und Jungs, mit jemandem nicht so gut zurechtkommt von Anfang an […], dann wurden die auch relativ schnell ausgegrenzt […]. Dann, ja, war es entweder so, dass man nicht besonders oder dass die Kollegen nicht besonders beachtet wurden oder dass man sich halt auch schon bei den Führungskräften darüber beschwert hat. […] Dann, wie gesagt, hat man sich untereinander unterhalten, und da wurden dann halt unterschiedliche Meinungen eingeholt. Meistens gabs natürlich auch irgendwann so einen Meinungskonsens. […] Die Führungskräfte sind auch zu uns gekommen: Also wir wurden auch ganz gezielt, gerade die Älteren, also wie ich oder Fatima, wir wurden auch gezielt gefragt, was wir von der Arbeitsweise der neuen Kollegen halten. […] Und Fatima zum Beispiel, um jetzt mal konkret zu werden, hat sehr schnell dann verurteilt. […] Es mischt sich sehr mit dem Persönlichen.« Die Angestellten setzen darauf, dass die Führung sich an eingespielte Regeln hält, die ihnen Partizipationschancen und Sanktionsrechte einräumen. Interessant ist dabei, dass der Konkurrenzaspekt unter den Angestellten nicht so gewaltig ist, wie man dem Zitat folgend vermuten könnte. Er ist objektiv besehen eher gering. Die Möglichkeiten, sich effektive Privilegien zu sichern, sind äußerst begrenzt. Die Angestellten partizipieren bewusst an der von der Unternehmensführung offerierten Kopplung von Autonomie und Verpflichtung, weil diese ihnen Machtspielräume zugesteht. Selbst in Momenten vermeintlich expliziter vertikaler Machtausübung herrscht ein Paradigma der Wechselseitigkeit, bei dem Macht geteilt wird.93

Im Haifischbecken Vertikale Machtausübung sucht bei U&S stets die konsensuelle Verbindung zwischen den Hierarchieebenen. Ein Beispiel findet sich 93 So werden etwa jeden Abend nach Geschäftsschluss die Taschen der Angestell-

ten bei Verlassen der Filiale vom Filialleiter geprüft. Dies geschieht höchst oberflächlich. Hat der Filialleiter alle Taschen geprüft, ändert sich die Rollenverteilung und ein zufällig ausgewählter Mitarbeiter überprüft die Tasche des Filialleiters – ein intelligenter Modus, systematisches Misstrauen in institutionalisiertes Vertrauen zu fügen.

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auch im Begriff der »Meetings« und »Mitarbeitergespräche«. Der genaue Unterschied ist nicht ganz klar. »Mitarbeitergespräche« betreffen wohl einen kleineren Teil der Belegschaft: Eine Angestellte wird hier zu einem Gespräch mit Fililalleiter und Filialassistenten geladen. Meetings oder »Mini-Meetings« betreffen einen größeren Personenkreis, etwa ein Abteilungsteam oder eine Filialbelegschaft. Hier werden Neuerungen präsentiert – etwa neue Kollektionen, Veränderungen des Arbeitsablaufs oder Verhaltensanforderungen. Es werden aber auch Konflikte zwischen Mitarbeitern ausgetragen. Wir befinden uns hier an der Schnittstelle vertikaler und horizontaler Machtausübung, wie aus folgenden Beispielen ersichtlich wird: »Dass die Filialassistentin dann bei uns war und da noch drei, vier Kolleginnen standen und wir uns halt in einer kleinen Runde unterhalten haben, obwohl man es vielleicht nicht soll im Verkaufsraum. Und bei dieser betreffenden Kollegin wurde es dann so massiv die Kritik über sie, dass man dann halt so ein Mini-Meeting einberufen hat. Allerdings hat man das einberufen, als sie nicht da war. Das war dann nicht so schön. Weil: Man hat sich in großer Runde getroffen und nochmal abgelästert, und sie war gar nicht dabei.« In diesem Fall zeigt sich, wie ein vertikales, eigentlich auf Vermittlung setzendes Kontrollinstrument sich zu einer Legitimierungsinstanz für horizontale Konflikte entwickelt. Die lästernden Kollegen erhalten hier gewissermaßen die Bestätigung ihres Verhaltens vonseiten der Führung. Die vertikale Kommunikation findet allerdings nicht vornehmlich über offizielle Kanäle statt. Vielmehr dominieren informelle Kommunikationsnetzwerke. Dabei gibt es diejenigen, die eine Stimme haben, und jene, die stumm bleiben müssen oder wollen. So muss dem expliziten Machtanspruch der ausführenden Ebene erst eine Verteilung von Sprechrechten vorangehen, die die Frage regelt, wer in der informellen Kommunikation eigentlich mitreden darf und wer vom Gespräch ausgeschlossen bleibt. Dieses Sprechrecht wird in informellen Konflikten innerhalb der ausführenden Ebene geregelt. Diese Konflikte vollziehen sich weniger in der Form von Konkurrenz um knappe Ressourcen94 als vielmehr in Form einer Etablierten-und-Außenseiter-Dynamik95. Es geht nicht darum, sich

94 Bei Xtrem Sports: Lohn, Status, Autorität. 95 Vgl. Elias/Scotson, Etablierte und Außenseiter.

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einen Vorteil gegenüber den anderen zu sichern, sondern darum mitzumischen – also um Etablierung. Die horizontalen Konflikte verlaufen dabei, ähnlich wie im Falle von Xtrem Sports, nach dem übergeordneten Motiv der Strukturierung. »Schimpfklatsch«96 wird zur entscheidenden Kategorie des Austragens von Konflikten, die sich im Kern um die Achsen persönlicher Integrität und authentischer Charakterlichkeit drehen, nicht um Leistung. Gruppeneinpassung siegt über Meritokratie. Das Team stellt sich also nicht in den Dienst des Transformationsproblems. Vielmehr operiert die Teamkultur selbstreferenziell. In diesen Strukturierungskonflikten sind Handlungsrollen unterschiedlich verteilt: Die Karenzkräfte teilen sich in eine Gruppe, die an den Konflikten teilnimmt, und eine, die sich um Distanz bemüht und in der Folge wenig Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitssituation ausübt.97 Erstere pflegt Konflikte zunächst zu leugnen. Dennoch wird ihr Engagement manchmal sehr plastisch. So etwa wenn sich zwei Angestellte gegenseitig in Distanzierungsbemühungen von den Kollegen und der Kundschaft überbieten: Sie kopieren deren Gestik und Mimik, was im Endeffekt auf eine Parodie einer nicht gut Deutsch sprechenden, multi-ethnischen Unterschicht hinausläuft.98 Sie tun dies auch im Verkaufsraum. Nur setzt sich eben sozialstrukturell die unliebsame Kundschaft ähnlich zusammen wie die festangestellten Teile der Belegschaft. Die Nachahmung von Kollegen und Kundschaft wird so zu einer beleidigenden Geste, die in der Arbeitssituation wirkt. Hier wird Struktur geschaffen über das Anwenden von Klassengewalt. Dabei geht es nicht um die stra96 Ebenda. 97 Mills fasst ähnliche Dynamiken in einer Typologie, innerhalb derer sich, bezo-

gen auf U&S, vornehmlich die Typen der »Drifter« und »Social Pretender« auf der einen Seite und der Typ »Old-Timer« (Mills, White Collar, S. 176 f.) auf der anderen Seite gegenüberstehen: »The drifter may be found almost anywhere in the bigstore except at her assigned post; she is circulating gossip, concerned less with custumers and commodities than with her colleagues« (ebenda). Auch der Social Pretender sorgt für Unruhe, weil er durch stetige Abgrenzungsbemühungen von der Kollegenschaft diese diskreditiert. Der Old-Timer dagegen ist hauptsächlich an einer konfliktfreien Routinisierung seiner Arbeit interessiert. 98 Mills beschreibt bezüglich der Salesgirls diese psycho-soziale Abgrenzungsstrategie. Er zitiert ein Salesgirl mit der Aussage: »The main thing we talk about […] is the customer. After the customers go we mimic them« (ebenda, S. 174).

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tegische Verletzung der Kollegen. Es geht darum, die Verhältnisse zu ordnen. Die beschriebenen Karenzkräfte partizipieren explizit an den Schimpfklatschnetzwerken. Sie sind allerdings in der Regel bemüht, sich keiner Kollektivkategorien bei der Diffamierung zu bedienen. Grundlage des Lästerns sind hier immer vermeintlich individuelle Charakterstrukturen: »Nee, nicht so auf ihren ethnischen Hintergrund, sondern auf ihre persönliche Situation gemünzt. Weil man da ja schon, sage ich jetzt mal, sagt: Das ist so eine alte Jungfer. Die wurde übrigens mal zwangsverheiratet, hat sich aber aus dieser Ehe gelöst. Sie hat dann aber ihren Eltern gegenüber so ein schlechtes Gewissen gehabt, dass sie sich verpflichtet hat, für immer für die zu sorgen. Ihre Mutter immer zu unterstützen und so ihr schlechtes Gewissen reinzuwaschen. Also, das ist meine Theorie dazu.« Dass bei derartigen Typisierungen – »zwangsverheiratet« usw. – natürlich ethnisch-kulturelle Stereotype im Hintergrund stehen, dürfte außer Frage stehen. Sie bleiben aber eher implizit und auf Individuen gemünzt statt auf Gruppen. Die einzige Kollektivkategorie, die von den Karenzkräften hin und wieder explizit bemüht wird, ist die des Geschlechts: »Ja zum Beispiel die Fatma, die als Türkin mit 40 noch bei ihrer Mutter wohnt und keine Kinder mehr kriegen wird und kann – so vonwegen: Die alternde Jungfer, die hier aber arbeitet wie ein Esel … Aber da weiß man schon: Die rödelt hier auch richtig, weil sie auch nichts anderes hat.« Übrigbleiben, Nichts-anderesHaben99 – es ist erstaunlich, wie etabliert diese Negativkategorien sind. Die Karenzkräfte nehmen dabei die Schimpfklatschsysteme nicht wirklich ernst. Die Beteiligung daran ist für sie nicht existentieller Natur. Die Lage bei den Stammkräften ist anders. Für sie ist das Schimpfklatschsystem kein Spiel, sondern Ernst. Das zeigt sich bereits in der Vehemenz, mit der es betrieben wird. Die Karenzkräfte neigen beispielsweise dazu, von Geschichten über Schimpfklatsch zu berichten, während die Bleiber Schimpfklatschgeschichten erzählen: Die Karenzkraft spricht über ein Ereignis aus der Beobachterposition. Nur aus dem Subtext wird deutlich, dass sie selbst sich der Kategorien bedient, über die sie nur zu berichten vorgibt. Die Stammkraft hingegen beschreibt Ereignisse, die ihr oder Kollegen

99 Das soll in diesem Fall heißen: keinen Mann, keine eigene Familie.

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selbst widerfahren sind und die erhebliche Auswirkungen auf sie haben. Ein Beispiel: »Da hat sie mich einmal gefragt an dem Tag: ›Alev, denkst du, ich stinke?‹ […] – also wir hatten schon so schwarze Schafe gehabt in der Filiale […], und sie hatte mal gesagt: ›Ja, Günchay‹ – […] sie würde stinken und dann gefragt, ob sie überhaupt kein Deo benutzt oder so. Und da hat die Günchay mich gefragt, ob sie stinkt. […] Ich so: ›Ja, Günchay, warum sagst du ihr nicht irgendwie – das muss ihr doch egal sein, was du da machst, ob du stinkst oder was weiß ich benutzen tust! Das geht sie überhaupt nichts an!‹ […] Und da hat sie fast angefangen zu weinen. ›Warum sagt die so was?‹ Ja, um die Günchay zu verletzen! […] [Auch über] Asra – also das ist eine iranische Frau. […] Da hat sie so übel geschimpft irgendwie: Asra war das dann zu viel. Die ist ihr dann in die Küche hinterhergelaufen und hat dann – was hat sie gesagt? ›Du Schlampe!‹ Ja, irgendwie so was. ((lacht)) […] Ich glaube, das ging auch um Stinken. […] Die Asra, die wurde da richtig wütend, hat dann da, was weiß ich, was die ihr alles gesagt hat jetzt, ihr hinterhergerufen hat. Und nach einer halben Stunde, wo sie sich dann alle beide beruhigt haben, denke ich mal. Wobei: Die Asra hat sich nicht beruhigt, erzählte sie mal. Aber die Inga hätte sich schon beruhigt und hätte so gemacht: Hand um ihre Schulter geworfen halt, hätte gesagt: ›Ach Asra, wie geht es dir?‹ Als wäre nicht gewesen! […] Ich denke mal, dass sie ausländerfeindlich ist!« Hier sehen wir eine Art von Konflikt, von der uns keine der Karenzkräfte berichten konnte. Kollektivkategorien werden nicht mehr gescheut. Ganz im Gegenteil: Sie werden zu den zentralen Achsen der Machtkämpfe. »Ausländer« ist dann sowohl ein Stigma als auch eine Kollektivkategorie des Stolzes.100 Eine solch grobe Dichotomie bildet eine zentrale Möglichkeit der Strukturierung der Arbeitssituation im Sinne der Deutung von Machtdynamiken. Sie scheint aber insofern nicht von entscheidender Handlungsrelevanz, als sich tatsächliche Allianzen jenseits dieser einfachen Dichotomie strukturieren. Die Dimension der Ethnizität bildet eben nur eine von mehreren Möglichkeiten, Kollektivität in der Arbeitssituation

100 Dies bündelt sich in Aussagen, die mit der Formel »Ausländer arbeiten bes-

ser« beschrieben werden können und in dieser oder ähnlicher Form von vielen Angestellten geäußert werden.

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zu konstruieren. Es dominieren daher situationsabhängige Deutungen von Konflikten, die sich in unterschiedlicher Kombination an alle benannten Diversitätsachsen anlehnen: Die dabei kolportierten, halb-individuellen Individualkategorien werden im Folgenden in Anlehnung an das Gespräch mit einer Angestellten als »Images« bezeichnet. Sie sind die Vehikel des Brückenschlags zwischen den Karenz- und den Stammkräften. Sie reduzieren die Komplexität der sich überschneidenden Diversitätsachsen, ermöglichen Kooperation und wechselnde Allianzen. Beispiele aus der untersuchten Filiale sind beispielsweise: »Die resolute Anita«, »die verrückte Adem«, »Mega-Zicke Karin«, »Nutra, die mit paar’n 40 total steilgeht«, »Gundi, die Herz und Schnauze an der richtigen Stelle hat«, »Britta, die Soziale, die Tee trinkt und auch mal Yoga macht« und so weiter. Die Unterordnung unter die etablierten Klatsch-Netzwerke, die Images und damit Inklusion regeln, ist die Bedingung erfolgreicher Etablierung. Images als Bedingung der Teilnahme am betriebsinternen Gespräch regeln Ein- und Ausschluss. Bashak, eine langjährige Angestellte aus dem Lager der Stammkräfte, bringt die Schlüsselfunktion des Schimpfklatsches für dieses Gespräch auf den Punkt: »Also da die Arbeitskollegen: Haste gesehen, das und das? Haste gehört, das und das? […] Auch wenn ich keine Ahnung hab. Ich denke: Für viele ist das, auch wenn sie keine Ahnung haben, damit sie miteinander reden können.« Um es noch einmal zusammenzufassen: Auch bei U&S dienen horizontale Konflikte der Strukturfindung. In diesem Sinne nehmen sie die Rolle fehlender vertikaler Regelungsmechanismen ein. Sie zielen auf Teilhabe. Das Gespräch ist dabei der Ort, an dem auf horizontaler Ebene Sprechrecht errungen werden kann, das dann Partizipationschancen im vertikalen Gespräch mit der Filialleitung eröffnet. Im Gespräch wird sich flexibel der vorhandenen Kollektivkategorien bedient, die zu individuellen Images geformt werden. Dabei stellt sich der paradoxe Effekt ein, dass sich vor allem die Gruppe der Karenzkräfte als stimmgewaltig erweist: Sie kann mit den Images besser jonglieren, vermeidet Fettnäpfchen und wechselt smart zwischen Gruppeneinpassung und individueller Distinguierung. Entsprechend gefragt ist sie im vertikalen Gespräch. Das hat zur Folge, dass gerade diejenigen Angestellten, die mit einem längeren Verbleib im Unternehmen rechnen, von den Partizipationschancen, die die Teamkultur bietet, weitgehend ausgeschlossen bleiben. 223

Über die Ordnung der Arbeitssituation bestimmen diejenigen, denen diese eigentlich nicht wirklich wichtig ist. So bleibt die Frage, welche vertikalen Effekte das innerbetriebliche Gespräch in seiner horizontalen und in der Folge vertikalen Dimension hat. Die Antwort kann schematisch gegeben werden: Wer sich im horizontalen Gespräch eine Stimme sichert, kann im vertikalen Austausch mit der Filial- oder Abteilungsleitung über die Qualität der Arbeitssituation mitbestimmen. Verhandlungsmasse sind die auszuführenden Tätigkeiten, die Arbeitszeiten sowie die personelle Besetzung einer Schicht. Das vertikale Gespräch zeitigt Folgen für den Rahmen der Arbeitssituation. Dies gilt allerdings nicht für den spezifischen Umstand der Sanktionierung von Mitarbeitern auf Initiative von Kollegen. Hat das vertikale Gespräch also vertikale Konsequenzen, so geht es dabei um den faktischen Ausschluss von Personen, die aus dem Gespräch selbst bereits ausgeschlossen sind.101

101 Die Übersetzung eines Machtgewinns auf der horizontalen Ebene in einen

Gewinn an Privilegien im vertikalen Sinne ist allerdings kaum möglich. Am Beispiel der Lohnpolitik lässt sich dies erläutern. U&S betreibt kein systematisches Lohndumping. Es geht recht systematisch und transparent zu. Zumindest theoretisch glauben alle Angestellten, wissen zu können, wie viel die Kollegen verdienen. Allgemein beginnt man mit circa sieben Euro Stundenlohn. Übersteht man die Probezeit, kommt es dann ziemlich schnell zu Gehaltssteigerungen bis auf neun Euro. Jede der von uns interviewten Angestellten, die über Lohn berichtete, bezeichnete diesen Umstand als durchschaubare Unternehmensstrategie – was der positiven Bewertung allerdings keinen Abbruch tut. Nach der ersten schnellen Lohnsteigerung wächst der Stundenlohn mit reduziertem Tempo weiter bis auf den Höchstsatz von zwölf Euro dreiundneunzig. Dies wird für alle auf Stundenlohnbasis Angestellten zum Problem, denn mit längerer Betriebszugehörigkeit werden sie immer teurer. Es kommt auch zu einer Status-Verwirrung. Denn ein Stundenlöhner mit einem Lohn von fast 13 Euro kann mit weniger Arbeit das Gehalt eines Festangestellten übertreffen. Diesem Umstand muss die Filialleitung aus Gerechtigkeitserwägungen einen Riegel vorschieben. Die Regelung einer vertikalen Frage über eine systematische Formalisierung zeitigt so den paradoxen Effekt, eine Basis für Konflikte zu schaffen, in denen wiederum die Karenzkräfte gegenüber den Stammkräften bevorteilt werden. So manche Angestellte muss geradezu in die Festanstellung gedrängt werden, bedeutet diese für sie doch mehr Arbeit zu weniger Lohn.

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Der Kunde: unerwünschte Kontingenz Es entwickelt sich also auf der Basis kooperativer Führung und einer Betonung der informellen Partizipationsmöglichkeiten der ausführenden Ebene eine weitgehend selbstreferenziell funktionierende betriebliche Ordnung. Der Kunde spielt als handelnder Akteur im Konstitutionsprozess dieser Ordnung keine Rolle. Wie im Falle von Xtrem Sports ist er der Referenzpunkt für den Versuch der Formalisierung von Interaktionen, ihm kommt aber im Gegensatz dazu keine entscheidende Bedeutung für die Materialität der Arbeit zu, die vornehmlich einer körperintensiven Logik der Normalisierung folgt. Ihm wird nun ein kurzer Exkurs gewidmet, bevor wir uns abschließend noch mal dem Ordnungsmechanismus der Arbeitssituation zuwenden. Eigentlich ist der Kunde ein Objekt der Routine – problematisch wird er nur im Falle von Konflikten. Dabei dominieren aus Sicht der Angestellten zwei Gruppen: gelangweilte oder gestresste Frauen aus der Mittelschicht und Mitglieder einer migrantisch geprägten Unterklasse. Erstere gelten allen Angestellten als echte Stressfaktoren. Dabei wird wiederum auf zwei typische Gender-Stereotype zurückgegriffen: Die Frauen aus der Mittelschicht machen Stress, entweder weil sie noch mal schnell nach Geschäftsschluss shoppen wollen oder weil sie zu viel Zeit haben.102 Die meisten Konflikte bleiben dabei latent: Kleine Sprüche vonseiten der Kundschaft, die dann gezwungenermaßen unkommentiert im Raum stehen bleiben und die die Dienstleister einfach schlucken müssen. Die migrantischen Studierenden kommen dabei schnell in Konflikte, die aus einem Spannungsverhältnis zwischen Mittelschichtsaspiration (vermittelt über die eigene Bildung) und Fremdtypisierung (als migrantische Verkäufer) entstehen: »… die denken, du bist so eine Verkäuferin und ne, bist halt jetzt einfach der Fußabtreter. Also ich hab es auch selbst oft erlebt, wenn die dann gehört haben, dass du studierst, dass die dann echt umgeswitcht haben und netter zu dir wurden. […] Ja, die denken, wie gesagt, du blöde Verkäuferin, ja, du hast nichts aus deinem Leben gemacht. Du bist jetzt einfach da, um halt zu bedienen und aufzuräumen, wenn

102 Dabei handelt es sich freilich um Mutmaßungen der Verkäuferinnen, die

der Distanzierung von einer als anstrengend empfundenen Klientel dienen.

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die halt Unordnung machen. Und das ist halt dein Sinn im Leben. Was echt traurig ist.«103 Die bildungsaffinen Migranten müssen diese Spannungen aushalten, und das liberal-multikulturelle Unternehmenskonzept stößt hier schnell an seine Grenzen: Gießen, Augsburg oder Osnabrück sind nicht New York. Wenn am Wochenende die dörflichen und suburbanen Mittelschichten in die Einkaufsmeile streben, beginnt der »Krieg der Welten«, und die betriebliche Ordnung, die durch eine Individualisierung von Kollektivkategorien gekennzeichnet ist, wird empfindlich irritiert. Ein Beispiel im Narrativ einer Angestellten: »Die Mala – ich weiß gar nicht so genau, was da los war. Ich glaube, wir haben uns an der Kasse privat unterhalten, und da hat sich eine Kundin nicht gut bedient gefühlt an der Kasse und hat da ihren Unmut ganz lautstark und auch übertrieben kundgetan. Und Mala lässt sich halt auch nichts sagen und ist ein bisschen aufmüpfig gewesen oder hat halt ihre Meinung gesagt, und da sagt halt die Kundin zu ihr, sie soll dahin gehen, wo sie hergekommen ist! Und hat da auf ihre Hautfarbe angespielt.« Die junge eritreisch-stämmige Anglistik-Studentin Mala, bricht im Anschluss im Lager in Tränen aus. Die Kolleginnen trösten sie. U&S ist nicht die Welt. Der Fall zeigt, wie schnell die Angestellten im Zeichen multipler Diversität an die Grenzen des Zumutbaren geraten. Härter ist es noch für die nicht-studentischen Arbeitnehmer. Sie besitzen nicht immer die Eloquenz, Attacken zu erwidern, oder schlagen beim Kontern über die Stränge. Sie spüren kein Spannungsfeld der Statusverwirrung. Sie spüren Klassengewalt. Konflikte mit Kunden entwickeln sich hier zu echten Charakterkämpfen. Sie gehen an die Substanz. Widerstand kostet Kraft, wie die Schilderung eines typischen Konfliktes verdeutlicht: »Ich sollte mich entschuldigen, weil ich halt gesagt habe, sie wäre zu blöd, es aufzuheben. Ist sie auch! ((lacht)) Dann bin ich kurz hochgegangen. Ich habe gekocht! Und wenn ich richtig wütend bin, dann zittere ich am ganzen Körper! … 103 Schon Mills beschrieb den paradoxen Umstand, dass die »Salesgirls«, als un-

terstes Glied der betrieblichen Hierarchie von einer eigentümlichen Gleichzeitigkeit von Identifikation mit dem Kunden und neidvoller Abgrenzung geprägt waren: »Caught at the point of intersection between big store and urban mass, the salesgirl is typically engrossed in seeing the customer as her psychological enemy rather than the store as her economic enemy« (ebenda, S. 174).

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und dann hat sie mich gerufen, hat gesagt: ›Ja Alev, geh, durftest du nicht sagen! Entschuldige dich!‹ ›Warum soll ich mich denn entschuldigen?‹ Es gab gar nichts zu entschuldigen! Hat sie gesagt: ›Ja, bei Kunden müssen wir das aber machen. Egal was – wir müssen uns entschuldigen!‹ Ey! Ich bin unschuldig! Aber muss mich entschuldigen! Ey, das ging gar nicht!!! Da war ich so wütend!!! Ich war bestimmt knallrot! Ich weiß es nicht: Ich habe echt geglüht! […] Da habe ich gesagt: ›Es tut mir leid.‹ ((gesagt ohne Emotion – es wird klar, dass sie es nicht meint)) ((Lachen)) Einfach so, ne! Weil: Es war mir wirklich egal, weil: Ich hab ja nichts gemacht! […] Mir kamen wirklich die Tränen. Ich war so wütend, ich hätte ihr wirklich eine reingehauen! So weit war ich!« Der Exkurs zur Rolle der Kunden wird an dieser Stelle beendet, denn die Kundschaft verursacht zwar spezifische Belastungen, die das Arbeitsprofil der Angestellten von U&S prägen, sie ist aber für den Ordnungsmechanismus der Arbeitssituation nur von geringer Bedeutung. Dieser wird im Folgenden zusammengefasst.

Routinisierung, Gruppenautonomie, Machtkonflikte Der Ordnungsmechanismus der Arbeitssituation bei U&S ist durch Routinisierungs- beziehungsweise Formalisierungsversuche grundiert, wie sie auch als Modelle der Rationalisierung interaktiver Dienstleistungsarbeit beschrieben werden.104 Diese Strukturierungsmaßnahmen betreffen den Komplex der Interaktionen in Vokabular, Gestik und Mimik, aber auch das Ladenbild und die Musik. Auf große Akzeptanz treffen diese Maßnahmen, weil sie einerseits einer zumindest von den Stammkräften gewünschten Routinisierung der Arbeit dienen und andererseits mit einer liberalen Unternehmenskultur in Verbindung gesetzt werden: U&S setzt auf multiethnische Teams, ermöglicht den Mitarbeitern ein gewisses Maß an zeitlicher Flexibilität und eröffnet über die Betonung der Stärke der Teams der ausführenden Ebene Partizipationschancen. Macht wird auf diese Weise gestreut. So wird jenseits der Routinisierung vor allem die Rolle der Teams zum entscheidenden Faktor bei der Verteilung von Macht und der Ordnung der Arbeitssituation. Formalisierungsversuche bilden den anerkannten Rahmen be-

104 Vgl. Leidner, »Rethinking Questions of Control«.

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trieblicher Ordnung. In den Teams allerdings finden die konkreten Machtprozesse statt. Es ist wiederum persönliche Machtausübung, meist horizontaler Natur, die Ordnung schafft. Machtprozesse lassen sich, ihrem Effekt nach, vor allem als Regelung legitimer Stimmrechte in Bezug auf die informelle Partizipation an letztendlich vertikal erfolgenden Entscheidungen verstehen. Partizipationschancen werden also in horizontalen Konflikten, die Inklusion und Exklusion regeln, erstritten. Die Vehikel dieser Konflikte sind askriptive Merkmale, die in Klatschnetzwerken als individuelle Images kommuniziert werden. Die Gruppe der Karenzkräfte erweist sich bezüglich der Techniken, die für Erfolg im Konfliktfall notwendig sind, als beschlagener als die Gruppe der Stammkräfte. Dies hat den paradoxen Effekt, dass informelle Partizipationsmöglichkeiten vornehmlich von jenen genutzt werden, die der eigentlichen Arbeit eher mit Geringschätzung begegnen. Die Basis dieser Dynamik bildet, von oben betrachtet, die Führungsstrategie der Machtstreuung. Aber auch Formalisierungen, etwa in Lohnfragen, stärken die Position der Karenzkräfte gegenüber den Stammkräften. Das ausbleibende Engagement der Stammkräfte erklärt sich darüber hinaus aus deren Deutung der Materialität ihrer Tätigkeit, die vornehmlich durch körperliche Anstrengung bestimmt wird. Im Zeichen dieser Deutung erscheinen ihnen innerbetriebliche Aufstiegschancen, die ja vor allem in Richtung administrativer Tätigkeiten zielen, als Entfernung vom anerkennungsrelevanten Aspekt ihrer Arbeit. Die Vehemenz, mit der im Arbeitsalltag informelle Konflikte ausgetragen werden, trägt noch zu dieser spezifischen Deutung der eigenen Arbeit bei. Denn die Routinisierung der Arbeit, die über die Betonung des Aspektes der Körperlichkeit erfolgt, macht es den Stammkräften möglich, jene Stabilität in ihrer Arbeit zu finden, die durch die Kollegen, aber auch durch die Kunden permanenter Irritation ausgesetzt ist. Auch die Karenzkräfte nutzen betriebliche Qualifikationsmaßnahmen in der Regel nicht, obwohl diese ihnen angetragen werden. Für sie ist U&S nur eine Durchgangsstation. Der Ordnungsmechanismus der Arbeitssituation ist daher geprägt durch die ungleiche Verteilung von Gestaltungsmacht durch horizontale Konflikte auf der ausführenden Ebene entlang sozialstrukturell vorgeformter Kompetenzen und arbeitsspezifischer Deutungen, die sich in der selektiven Wirkmächtigkeit persönlicher 228

Macht niederschlagen. Der Effekt ist eine Segmentierung der Belegschaft, da die Wege von der ausführenden zur administrativen Ebene zwar vorhanden, aber effektiv verstellt sind. Auf der horizontalen Ebene basiert dies auf einer Divergenz der mobilisierbaren Machtressourcen als Folge einer sozialstrukturellen Überschichtung der Belegschaft.105 Die Grenze, die zwischen den Stamm- und den Karenzkräften verläuft, perpetuiert die Stagnationseffekte betrieblicher Hierarchie trotz deren faktischer Durchlässigkeit.

Das Discountprinzip Bezüglich der Frage nach der Materialität der Arbeit ist deutlich geworden, dass sich Xtrem Sports und U&S vor allem durch eine graduelle Zunahme von solchen Kontrollversuchen unterscheiden, die auf die Interaktivität des Arbeitsprozesses zielen. Diese sind auch entscheidend durch das angebotene Produkt determiniert. Denn dessen Spezifik macht eine Rationalisierung der Kundeninteraktion im Falle von Xtrem Sports unwahrscheinlich. Obwohl die Organisationsmodelle signifikante Unterschiede aufweisen, ist ihnen die Betonung der Teameinpassung und deren Beförderung über bestimmte Partizipationskanäle beziehungsweise Vergemeinschaftungspraktiken gemein. Im nun zu betrachtenden Fall aus dem Bereich konsumorientierter Dienste gilt dies nicht mehr. Interaktivität spielt hier praktisch keine Rolle, das Produkt verlangt keinerlei Distinguierungspotenzial von den Verkäufern, und ein Organisationsmodell, das sensibel für horizontale Ordnungsbildungen ist, sucht man hier im Zeichen harter Hierarchien vergebens.

Dumping als Geschäftsmodell Beim Unternehmen »Discount« handelt es sich um einen Branchenriesen aus dem Lebensmitteleinzelhandel. Discount unterhält beinahe 4000 Filialen im Bundesgebiet, auf die sich mehr als 60000 Mitarbeiter verteilen. Das Unternehmen verfolgt eine aggressive

105 Im Kontext von Arbeitsverträgen und Betriebszugehörigkeit, also gängiger

Wege der Zuweisung betrieblichen Status, ist die Form der Überschichtung freilich besser mit dem Begriff der Unterschichtung beschrieben.

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Expansionsstrategie, die vor allem durch die Übernahme von Konkurrenten gekennzeichnet ist. Eine Konsequenz dieser Expansionspolitik ist, dass sich unterschiedlichste Vertragsformen in vielen Filialen finden, die von der Übernahme von Mitarbeitern aus anderen Unternehmen, die in Discount aufgegangen sind, herrühren. Dies gilt auch für die untersuchte Filiale, die bis vor einigen Jahren noch zu einem eher höherklassigen Lebensmittelmarkt gehörte. Die Vertragssituation der übernommenen Mitarbeiter ist von erheblichen Privilegien gegenüber neu geschaffenen Stellen gekennzeichnet. Das Unternehmen hat einen überregionalen Betriebsrat, der allerdings als extrem arbeitgeberfreundlich gilt. Lokale Tarifverträge werden zwar mittlerweile akzeptiert, und festangestellte Mitarbeiter erhalten Tariflöhne, das Unternehmen stellt aber ausschließlich Verkäufer an und unterläuft so das differenzierte tätigkeitsbezogene Entgeldsystem des Einzelhandels. Stundenlöhne für Festangestellte bewegen sich daher in der untersuchten Filiale zwischen sieben Euro vierundachtzig und neun Euro fünfzig. Weit schlechter gestellt sind die zahlreichen geringfügig Beschäftigten. Sie verdienen sechs Euro fünfzig pro Stunde. Der Lohndruck ist immens: Überstunden werden nicht ausbezahlt, Arbeitsverträge werden geschlossen, die explizit und illegalerweise Tarifregeln ausschließen. In Bezug auf Beschäftige ohne Festanstellung zeigen sich die Arbeitsverträge vielgestaltig: Leiharbeiter kommen zum Einsatz, Werkverträge werden geschlossen, und Verträge werden grundsätzlich befristet. Während der großen Zahl der geringfügig Beschäftigten auf diese Weise keine Perspektive im Unternehmen aufgezeigt wird, spüren Festangestellte deutlichen Druck. Spezifisch ist dabei die Situation jener Mitarbeiter, die noch mit Verträgen von übernommenen Konkurrenzunternehmen ausgestattet sind. Sie stehen außerhalb des üblichen Lohngefüges: So wird von Gewerkschaftern berichtet, dass Mitarbeiter mit alten Verträgen auf der ausführenden Ebene häufig mehr Lohn verdienten als ihre Vorgesetzten auf der Filialleiterebene. Das Unternehmen ist daher an der Umformung der alten Verträge in den aktuellen Standard interessiert. Dieses Interesse schlägt sich in einer aggressiven Haltung gegenüber den vertraglich privilegierten Mitarbeitern nieder, die in der untersuchten Filiale vornehmlich von der Bezirksleiterebene ausgeht. Erst wird geschmeichelt, dann gedroht und auch geschrien. Etwa die Hälfte der Mitarbeiter mit alten Verträgen soll auf 230

diese Weise bereits zur Aufgabe ihrer Privilegien gebracht worden sein.106 Anders als bei U&S haben die Angestellten von Discount im Arbeitsalltag wenig Kontakt untereinander. Das Ladengeschäft wird, trotz seiner beachtlichen Größe, in der Regel lediglich von zwei Mitarbeitern besetzt, die permanent beschäftigt sind und daher während der Arbeit wenig in Kontakt kommen. Außerdem prägen harte Hierarchien die Arbeitsorganisation. Gearbeitet wird nicht in Teams, sondern unter klar strukturierten Weisungsbefugnissen: An der Spitze einer Filiale steht die Filialleitung, dann folgt deren Stellvertretung. Die restlichen Mitarbeiter teilen sich in Zweit- und Dritt- und Viertkräfte, womit dann im Regelfall auch alle Festangestellten abgedeckt sind.107 Neben diese vier bis fünf Personen treten in der Regel etwa zehn Mitarbeiter in geringfügiger Beschäftigung oder anderen wenig regulierten Vertragsverhältnissen. Unter ihnen ist die Fluktuation enorm. Aus Sicht der Festangestellten gehören sie nicht wirklich zum Kern der Belegschaft. Gewerkschafter schätzen den Anteil der Frauen an der Belegschaft auf mindestens 75 Prozent. Der Trend ginge dabei auch hin zu Modellen staatlicher Subvention über das Aufstocken der Löhne.

Das Ende der Spezialisierung In Bezug auf die konkreten Tätigkeitsprofile geht der Trend bei Discount in Richtung der Universalisierung von Aufgaben und Zuständigkeiten. Unter den Festangestellten muss jeder alles können und machen. Bedenkt man, dass außerhalb der Stoßzeiten nur zwei Mitarbeiter im Markt anwesend sind, wird ersichtlich, dass hierin eine notwendige Bedingung des Arbeitsprozesses besteht. Eine Beschäftigte drückt es so aus: »Aufgaben müssen gemacht werden, wer sie macht, ist aber irrelevant.« Die Tätigkeiten erfordern meist wenige fachspezifische Kompetenzen: Es geht um das Auffüllen der Be106 Die untersuchte Filiale zeichnet sich dabei durch die spezifische Situation aus,

dass alle festangestellten Mitarbeiter mit privilegierten Verträgen ausgestattet sind, was mögliche Konflikte mit Kollegen mit »normalen« Verträgen ausschließt. Aus anderen Filialen wird von solch horizontalem Druck aber durchaus berichtet. 107 Die Ausnahme bilden die personalintensiveren Filialen, die mit mehr Personal operieren.

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stände im Laden, das Einsortieren von Ware im Lager, das Sauberhalten des Marktes und das Kassieren der Kunden. Interaktion mit Kunden ist im Arbeitsprogramm nicht vorgesehen. Die Mitarbeiter werden zwar zu Freundlichkeit angehalten, Einkaufsberatung zählt aber nicht zu ihren offiziellen Aufgaben.108 Der Kunde, der bei U&S noch als Störfaktor auftritt, ist im Arbeitsalltag von Discount beinahe bedeutungslos. Der Arbeitsalltag folgt bestimmten Rhythmen: Der Markt wird um halb sieben von der ranghöchsten eingeteilten Kraft aufgeschlossen. Bis gegen acht Uhr die zweite Kollegin eintrifft, wird das Ladenbild kontrolliert und frische Ware einsortiert, falls diese bereits angeliefert ist. Um acht Uhr wird der Markt für die Kunden geöffnet, und das Treiben im Laden verfällt in einen Fluss aus stetigem Heben, Räumen, Schieben, Einsortieren und Kassieren.109 Der Arbeitsalltag ist geprägt durch einen flexiblen, schnelltaktigen Wechsel zwischen verschiedenen einfachen Tätigkeiten. Die körperlichen Anforderungen sind dabei immens. An den Kassen werden regelmäßig und mit hoher Taktung Produkte von bis zu zwölf Kilogramm Gewicht über das Band gezogen. Die schwersten Kartons Frischware, die es etwa im Lager oder beim Auffüllen zu heben gilt, wiegen nach Angaben der Mitarbeiter 80 Kilogramm. Hubwagen, die die Arbeit erleichtern könnten, können im untersuchten Markt nicht eingesetzt werden, weil dessen Gänge zu schmal sind. Über die körperlichen Belastungen der Arbeit wird zwar geklagt, aus den Erzählungen spricht aber auch ein gewisser Stolz auf die eigene physische Leistungsfähigkeit. Die Kassentätigkeit gilt den Mitarbeitern daher auch als »Erholung«, »weil ich einfach mal nichts tun muss. […] Weil, ich müsste mir keinen Kopf um die Filiale machen. Ich

108 Die meisten Festangestellten bedauern diesen Umstand, hängen sie doch im-

mer noch einem Bild vom Einzelhandel an, in dem der Kundenkontakt die Kernaufgabe einer Verkaufskraft ist. 109 Dabei stellt sich eine bereichsspezifische Arbeitsteilung ein, in der diejenige Kraft, die mit der Kasse betraut ist, sich auch um das Ladenbild rund um die Kasse kümmert, während die zweite Angestellte den Rest des Ladens betreut. Je nach Kundeaufkommen wird dann flexibel reagiert: Die zweite Kraft besetzt eine zweite Kasse, wechselt nach dem Kassieren wieder in den Laden usw. Der ranghöchste anwesende Mitarbeiter ist außerdem mit der Bestellung neuer Ware betraut und muss daher das Sortiment im Auge haben und kontrollieren.

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müsste mir keinen Kopf für die Bestellung machen. Ich müsste mir um nichts den Kopf machen.« Dieses Zitat einer Filialleiterin drückt zugleich den Anspruch der Mitarbeiter an ihre Arbeit aus: Veräußert wird körperliche Leistung. Den Kopf und damit Gedanken und Gefühle darf die Firma nicht in Beschlag nehmen. Ideelle Bindungen an das Unternehmen wird weder gefordert noch geboten: »Wenn ich anfange von der Firma zu träumen, wird es Zeit, dass ich mir einen neuen Job suche«, gibt eine Verkäuferin zu Protokoll. Diese Aussage ist im Zeichen der bereits angedeuteten repressiven Unternehmenskultur von Discount wenig verwunderlich.

Rationalisierung, Repression, flexible Hierarchien Es mischen sich bei Discount verschiedene Kontrollstrategien vonseiten der Unternehmensleitung, die die jeweilige Arbeitssituation in den Filialen prägen. Diese sind in Bezug auf den Vollzug der täglichen Arbeit relativ autonom. Kontrollstrategien zeigen sich daher auf zwei unterschiedlichen Ebenen: Entweder haben sie ihren Ausgangspunkt in Strukturen oberhalb der Filialebene, oder aber sie entspringen direkt den Autonomiespielräumen, die der Filialebene vonseiten der Unternehmensleitung zugestanden werden. Der Antizipation der Mitarbeiter nach kommen erstere Kontrollmaßnahmen gewissermaßen von außen, während letztere den inneren sozialen Dynamiken einer Filiale entspringen. Effektiv von der Ebene jenseits der Filialen initiierte Kontrollmaßnahmen werden daher tendenziell auch als Repression empfunden. Dabei handelt es sich etwa um Testkäufe, die regelmäßig inkognito stattfinden und bei denen den Kassenkräften Fallen gestellt werden. Sie sind in dieser Situation dem Wohlwollen des jeweiligen Kontrolleurs ausgesetzt, denn Fallen können besser und schlechter durchschaubar sein. Auch die unregelmäßig erfolgende Kontrolle der Taschen durch externe Discount-Mitarbeiter sowie durch externe Kontrolleure erfolgende Überprüfungen der Filialen gemäß vorgegebener Standards von Ordnung, Sauberkeit und der Präsentation des Sortiments fallen in diesen Bereich. Allgemein ist Discount geprägt von einer strengen Abmahnungspolitik, die rigoros durchgesetzt wird. Signifikante Kassendifferenzen, Kundenbeschwerden, Versagen bei Testkäufen oder anderen Kontrollmaßnahmen führen automatisch zur Abmahnung der Verantwortlichen. Die vierte Abmahnung führt automatisch zur Kündigung. 233

Kontrollmaßnahmen werden auch gezielt gegen Mitarbeiter eingesetzt, die sich weigern, einer neuen vertraglichen Eingruppierung zuzustimmen, wie sie von Discount für alle aus anderen organisatorischen Kontexten übernommenen Mitarbeiter angestrebt wird. Die Ebene der Filialleitung und deren Stellvertretung stehen dabei unter besonderem Druck. Denn von ihnen wird erwartet, dass sie ihre Untergebenen zu solchen Wechseln bewegen. Ein Versagen in solchen Fällen lässt die Filialleiter bei der Unternehmensführung in Ungnade fallen. Der Wunsch nach Verantwortungsübernahme hält sich daher in Grenzen, und Mitarbeiter wählen auch gezielt den Weg in die Herabstufung, um dem bestehenden Druck weniger ausgeliefert zu sein. Des Weiteren wird über die verschiedenen Kontrollmaßnahmen der Samen der Zwietracht innerhalb der Belegschaften gesät. Denn wer sich schadlos halten will, versucht Beanstandungen in den Verantwortungsbereich von Kollegen abzuschieben, um nicht selbst belangt zu werden. Weniger explizit, aber nicht weniger wirksam ist die materiale Regulierung der Tätigkeiten. Wie beschrieben gibt es kaum mitarbeiterspezifische Aufgabenprofile. Dies führt dazu, dass sich keine Spezialkompetenzen entwickeln, die Mitarbeiter als spezifische Qualifikationen geltend machen könnten. Es stellt sich dabei die paradoxe Situation ein, dass eine Ausweitung der Zuständigkeiten zu einer Abwertung der Arbeit insgesamt führt. Spezialisierungsmöglichkeiten existieren kaum, jeder ist ersetzbar, und das obwohl alle Mitarbeiter sämtliche anfallende Tätigkeiten bewältigen können und müssen. Die Basis hierfür ist ein Arbeitsprozess, in dem der anspruchsvolle Faktor der Interaktivität durch einfache, körperbetonte Tätigkeiten ersetzt wird. Ein Nebeneffekt dieser Aufgabenzuweisung ist die Entstrukturierung der Tariflandschaft, da in der Folge alle Mitarbeiter außer der Fillialleitung als einfache Verkäufer eingruppiert werden, obwohl sie möglicherweise als Kassierer andere Eingruppierungsansprüche hätten.110 Selbst die Filialleitung kann keine spezifischen Kompetenzen für sich geltend machen, außer dass sie im Falle von Verfehlungen als Erstes die Sanktionen zu erleiden hat. Sie kann beispielsweise nicht über Einstellungen oder Kündigungen mitentscheiden, es sei denn,

110 Ein Faktor, der uns in der Gebäudereinigung wiederbegegnen wird.

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sie wird von der Bezirksleiterebene ausdrücklich in eine solche Entscheidung einbezogen. Die Tatsache, dass meist nur zwei Mitarbeiter im Markt anwesend sind, erfordert, dass selbst administrative Tätigkeiten, wie die Bestellung neuer Ware, von den meisten Festangestellten ausgeführt werden können. So gehen mit den klaren Hierarchien innerhalb der Filialen keine klar definierten Handlungsspielräume einher, sondern lediglich Verantwortlichkeitszuweisungen. Dabei bestimmt Anwesenheit Zuständigkeit. Der ranghöchste anwesende Mitarbeiter ist verantwortlich für das Öffnen und Schließen des Ladens, das Ladenbild, die Bestellungen sowie die Personaleinteilung. Es wird berichtet, es käme durchaus vor, dass Filialleiter morgens um acht Uhr den Laden auf- und um 22 Uhr zuschlössen, um dann noch bis Mitternacht liegen gebliebene Arbeiten zu erledigen. Finanziell vergolten werden Leitungsposition in Pauschalen, die nur für Tage gezahlt werden, in denen diese Funktion ausgeübt werden.

Die Filialleitung – Schlüsselposition der Macht In Bezug auf die Arbeitssituation in den Filialen hat dies mehrere Effekte. Erstens kommt es zu keiner Verstetigung positionsbedingter Weisungsverhältnisse. Machtverhältnisse wechseln vielmehr regelmäßig. Dies erfolgt allerdings im Gegensatz zu U&S ohne jedes Element der Verhandlung. Der Wechsel ist organisatorisch geregelt. Dadurch wird allerdings auch ein Klima interner Konflikte befördert, denn wer heute einen unliebsamen Führungsstil an den Tag legt, der kann morgen dafür die Rechnung kriegen. Damit verschwimmen die Grenzen zwischen horizontalen Konflikten und vertikaler Machtausübung, wie folgendes Beispiel verdeutlicht: »Bei mir war’s so. Ich hab einmal abends mal die Brötchen zeitiger rausgenommen. Und […] es kamen abends Kundenbeschwerden. Oder am nächsten Tag Kundenbeschwerden, weil die Brötchen [nicht gut waren] […]. Und das stimmt ja gar nich. Da wusst’ ich dass ’n Kollege mich angeschissen hat. […] Mit dem ich Spätschicht hatte. […] Ich wusste auch, wer das war. Und ich hab’s dann auf meine Art zu[rück]gegeben. Auf die Englische Art. […] ich hab gesagt, das und das soll er jetzt machen, ne, in ’ner bestimmten Zeit …« Die Möglichkeit, es dem Kollegen heimzuzahlen, ergibt sich, als der Betroffene wenige Tage später der ranghöchste anwesende Mitarbeiter ist und der Kollege daher seiner Weisungsbefugnis untersteht. Die Unternehmenspolitik führt also dazu, dass die Mitarbeiter »… gegen235

seitig sich peitschen, peitschen, peitschen. Der Umsatz muss stimmen. Aber das Miteinander darf nich stimmen.«111 Auch bei Discount wird Kontrolle über personengebundene Macht mit oft informellem Charakter ausgeübt. Es zeigt sich nämlich, dass jenseits der »von außen« vorgegebenen rigiden Kontrollen und Disziplinierungsstrategien die konkrete Arbeitssituation höchst volatil ausgestaltet werden kann. Den Schlüssel für deren konkrete Gestalt stellt die jeweilige offizielle Filialleitung dar, also jene Kraft, die die höchstrangige Position bekleidet. Sie kann sich im Kern für Kooperation oder Repression entscheiden. Die Schlüsselrolle der Marktleitungen zeigt sich beispielsweise in Bezug auf die Regelung von Überstunden: Jeder Markt hat ein am Umsatz ausgerichtetes Stundenkontingent zur Verfügung. Dieses ist mehr als knapp bemessen. Erhebliche Überstunden sind die Regel.112 Sollen diese entgolten werden, muss der Filialleiter einen schriftlichen Antrag an die nächsthöhere Ebene stellen. Dies gilt nicht als gangbarer Weg, da in einem solchen Fall mit heftigen Repressionen zu rechnen ist. Über-

111 Die rigide Hierarchisierung der Belegschaften kann auch dazu führen, dass Fi-

lialleitungen sich zwielichtiger Methoden bedienen, um die effektive Kontrolle über den Arbeitsprozess zu erhalten. So berichtet eine Mitarbeiterin aus einer anderen Filiale von ihrem Chef, der zwei dominante Verkäuferinnen über eine Intrige zu disziplinieren versuchte: »… ich bin ’n sehr dominanter Typ. Ich lass mir nich gerne was sagen, wenn ich weiß, es is nich in Ordnung. Sondern wenn ich weiß, ich bin auf der richtigen Seite, dann geh ich auch meinen Standpunkt weiter. Uuund ich hab ’ne Kollegin, die is genauso dominant wie ich. Und ääähm, unser Chef hat’s probiert, uns gegenseitig auszuspielen. Indem er ihr was erzählt hat, was ich eigentlich gemacht haben soll, was ich gar nich gemacht haaabe. Und mir was erzählt hat, was sie gemacht haben soll, was aber auch nich gelaufen is. Und unser Chef hat aber nicht damit gerechnet, dass wir uns dann im Pausenraum treffen, uns gegenseitig so anschnauzen und auch äh schon mal die Hand ausrutscht. Und uns dann aber auch hinterher wieder, ›Sag mal, das war doch gar nich so.‹ Dass man sich dann untereinander ausspricht und sagt, ›Ach guck mal an, der Chef hat Tatsache versucht, uns auseinanderzukriegen, ne?‹ Der wollte so viel Unruhe in die Filiale reinbringen. Weil ihm das nich passte, dass zwei so starke Frauen […] unter seiner Führung standen.« Das Unterfangen des Filialleiters blieb letztlich erfolglos. Die Kolleginnen erwirkten sogar über den Betriebsrat eine Abmahnung ihres Vorgesetzten, der sich von da an zurückhielt. 112 Die Rede ist von 1000 Überstunden im Jahr und Arbeitstagen von zwölf Stunden für die Marktleiter.

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stunden werden daher meist intern »geregelt«. Ob dies über Druck oder über »weichere« Überzeugungskünste erfolgt, ist eine Frage des persönlichen Führungsstils. Unter den Mitarbeitern der untersuchten Filiale besteht Einigkeit darüber, dass vonseiten der Unternehmensleitung ein repressives Klima gewünscht wird: »… so’n Team wie das jetzt hier […] is, ((Räuspern)) wollen die eigentlich gar nich haben. Dass man sich auch privat mal trifft und sagt, ›Wir gehen mal was zusammen trinken.‹ So was wollen die nich. Die wollen eigentlich nur noch Mitarbeiter haben, die funktionieren und die wie ’ne Maschine arbeiten. Aber sich hinstellen und sagen, ›Mensch, du siehst heut schlecht aus, dir geht’s doch nich so gut. Geh mal nach Hause wir schaffen das hier schon.‹ So was wollen die nich.« Das repressive Klima drückt sich etwa in der Ignoranz der zeitlichen Belegungswünsche der Mitarbeiter aus.113 Es wird auch von Fällen berichtet, in denen repressive Macht durch Filialleiter über offizielle Kontrollstrategien ausgeübt wird.114 Noch extremer kann es kommen, wenn Beschäftigte gänzlich in Ungnade gefallen sind. Dann soll es beispielsweise vorkommen, dass Kassendifferenzen manipuliert werden, um Abmahnungen zu ermöglichen. Dieses Vorgehen beschreiben die Arbeitenden als systematische »psychologische Kriegsführung«. So erzählt eine Angestellte von ihrem eigenen Fall: Sie wurde aufgefordert, für ein Jahr in eine Filiale zu wechseln, die weit von ihrem Wohnort entfernt liegt. Nach einigem Druck hat sie sich dazu überreden lassen, auch weil sie von der zeitlichen Befristung des Wechsels ausging. Als dieser nach einem Jahr aber auf Dauer gestellt werden soll, beruft sie sich auf die Vereinbarung, die sie sich zuvor auch schriftlich hatte geben lassen. Ein solches Pochen auf verbriefte Rechte wird nicht gerne gesehen, und so erhält die Angestellte

113 Ein weiterer wichtiger Unterschied zu U&S. 114 So werden Mitarbeiter zum Beispiel mit quantitativen Anforderungen kon-

frontiert, die innerhalb eines normalen Arbeitstages nicht zu leisten sind. Am Ende einer Schicht wird der betreffende Angestellte dann von der Filialleitung aufgefordert, eine schriftliche Erklärung zu unterzeichnen, in der festgehalten wird, dass sie den ihr übertragenen Aufgaben nicht nachkommen konnte. Diese Erklärung wird als Druckmittel einbehalten. Auch von dem Verbot privater Gespräche mit dem Partner, der bei einem anderen Supermarkt angestellt ist, wird berichtet.

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in kurzer Folge zwei Testkäufe, bei denen sie durchfällt. Um sie einwandfrei zu überführen, wird bei einer anderen Kollegin ein Testkauf mit dem gleichen Versuchsaufbau durchgeführt. Diese Kollegin wird vor diesem Kontrollversuch allerdings durch ihre Filialleiterin gewarnt, damit sie bestehen kann. So wird der Druck auf das eigentliche Ziel der Kontrolle erhöht. Denn die Kollegin hat den gleichen Test, in dem diese versagte, ja bestanden. Später erzählt die Kollegin aus der künstlichen Kontrollgruppe dies der Geschassten. Letztere hört ihre Vorgesetzte noch zu dem Kontrolleur sagen: »Haben Sie sie jetzt endlich?« Die Folgen einer solch repressiven Arbeitssituation sind hohe Fluktuationsraten, sowie, nach Aussage einer Filialleiterin, massive Krankschreibungen, die als stiller Widerstand gedeutet werden. Ein kooperativer Führungsstil drückt sich dagegen vor allem durch die Abwesenheit solcher repressiver Momente aus. In diesem Arrangement ist die Filialleitung auf die Kooperation ihrer Untergebenen angewiesen. Sie kann versuchen, deren Wünsche, zum Beispiel was die Aufgabenverteilung und zeitliche Einteilung angeht, zu berücksichtigen. Darüber hinaus verlangt diese Strategie allerdings, dass die Filialleitung bereit ist, im Konfliktfall ihren Kopf hinzuhalten. Sie muss den Druck von außen zunächst gänzlich absorbieren und dann professionell freundlich an die Angestellten weitergeben, damit diese die Privilegien eines kooperativen Führungsstils mit Engagement zurückzahlen. Im beobachteten Fall funktioniert dies vornehmlich, indem in der Filiale ein Team und damit ein Zusammengehörigkeitsgefühl proklamiert wird, das in der effektiven Arbeitssituation schon wegen der geringen personellen Besetzung kaum eine reale Grundlage hat. Nichtsdestotrotz scheint dieses System zu funktionieren. In diesem Fall geht die Ordnung der Arbeitssituation in Richtung dessen, was bei U&S die Regel darstellt: Über informelle Kommunikation werden Partizipationsmöglichkeiten suggeriert, die ein gewisses Maß an Bindung bedingen. Diese Bindung hat bei Discount, anders als bei U&S, einen klaren Adressaten: Man gehört in einer Filiale zusammen, weil man sich der Unternehmensführung erwehren muss.115 115 In den Grauzonen zwischen diesen beiden Modellen zeigt sich viel Variation.

Die Filialleitungen verfügen meist über keine Ausbildung, die sie zur Führung von Personal qualifizieren würde. Individuelle Sozialkompetenzen sind gefragt, was wiederum Machtspielräume für Mitarbeiter unterhalb der Ebene der Filialleitung eröffnet. So berichtet eine Angestellte aus einer früheren Ar-

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Repressive Kontrollpolitik, kontingente Machtausübung Der Ordnungsmechanismus der Arbeitssituation bei Discount steht in der Summe im Zeichen repressiver Kontrollstrategien und des spezifischen Führungsstils des jeweiligen Marktleiters. Von den bisher besprochenen Fallbeispielen zeigt sich hier eine Dynamik der Vermarktlichung innerorganisatorischer Kontrollversuche am deutlichsten. Die Unternehmensleitung vermittelt die Nachricht: Bei Discount zählt der Profit, alles andere ist sekundär. Dass dies so vollzogen werden kann, hängt entscheidend von der konkreten, über organisatorische Prinzipien rationalisierten Gestalt der Arbeit ab, aus der beinahe jedes Element von Interaktivität getilgt ist. Durch eine Universalisierung der Zuständigkeiten auf dem Niveau einfacher, körperbetonter Tätigkeiten erfolgt eine faktische Abwertung der Arbeit gegenüber dem klassischen Verständnis der Arbeit im Verkauf. Die Tätigkeiten sind also auf qualitativer Ebene standardisiert, während sie auf quantitativer Ebene vervielfältigt sind. Der reibungslose Ablauf soll dabei durch ein Modell klarer, aber wechselnder Hierarchien gewährleistet werden, die nicht mit den Tätigkeiten, sondern lediglich mit Verantwortlichkeit korrespondieren und deswegen von chronischem Anerkennungsmangel gekennzeichnet sind. Sowohl die klaren Hierarchien, als auch die Materialität und personaltechnische Organisation (Unterbesetzung) der Arbeit führen dazu, dass die analytische Trennlinie zwischen horizontaler und vertikaler Machtausübung, wie sie im Falle der Darstellung von Xtrem Sports und U&S in Anschlag gebracht wurde, bei Discount nicht trägt. Die Trennlinie verläuft hier im doppelten Sinne zwischen drinnen und draußen. Erstens stellen die zahlreichen geringfügig Beschäftigten eine Gruppe dar, die außerhalb der konkreten Arbeitssituation zu stehen scheint, obwohl sie tief in diese involviert

beitsbeziehung mit einem jungen repressiv orientierten Filialleiter, der persönliche Macht vor allem über das Anschreien und Herumkommandieren seiner Untergebenen zu erlangen suchte. In einem ruhigen Moment habe die circa 15 Jahre ältere Mitarbeiterin diesen zur Seite genommen und mit ihm Klartext geredet. Die Schilderung klingt nach einer mütterlichen Disziplinierungsaktion, in der dem Vorgesetzten vor Augen geführt wurde, dass man mit anderen Mitmenschen einfach nicht auf diese Weise umzugehen habe. Die Standpauke zeigte Wirkung: Der Filialleiter setzte in der Folge stärker auf Kooperation.

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ist. Sie spielen keine Rolle in den internen Erzählungen der Festangestellten, wechseln häufig und gelten als wenig engagiert.116 Zweitens wird die repressive Unternehmensführung zu einer Art Außen, das ebenfalls potenziell immer in die konkrete Arbeitssituation eingreift, ohne ihr allerdings aus Sicht der Beschäftigten wirklich anzugehören. Den Schlüssel zum Ordnungsmechanismus der Arbeitssituation bilden daher die Filialleiter. In ihrer Hand liegt es, ob diese von Repression gekennzeichnet ist oder von Kooperation, die sich durch die Abgrenzung von der Unternehmensleitung konstituiert. In der Summe führt also die Kombination aus qualitativer Standardisierung und quantitativer Universalisierung – sei es in Bezug auf die Tätigkeiten, die Vertragsverhältnisse oder die Machtbefugnisse – entweder zu Ordnungsmechanismen der Kooperation vor dem Hintergrund der Bedrohung durch externe Repression, oder es zeigt sich eine Kette des Drucks, in der jeder über personengebundene Machtausübung Verantwortlichkeit nach unten weiterreicht. Zugleich zeigt sich die innerbetriebliche Arbeitsteilung in Gestalt einer klaren Segmentierung zwischen den Festangestellten, die in die beschriebenen Ordnungsmechanismen involviert sind und den Belegschaftsteilen unterhalb des Niveaus der Festanstellung, die, sei es nun zu ihrem Vor- oder Nachteil, als Lückenbüßer dieses Ordnungsmechanismus fungieren. Sie sind nur Verhandlungsmasse. An internen Konflikten beteiligen sie sich nicht, weil sie weder als Teil der Belegschaft gelten noch über nennenswerte Bindungen an das Unternehmen verfügen. Das ganze findet freilich in einem Rahmen statt, der jede Anlehnung an ein Normalarbeitsverhältnis vermissen lässt. Es zeigen sich hier Unterschichtungsphänomene von Unterschichtungsphänomenen, insofern man Discount als ein Unterschichtungsphänomen in Bezug auf den traditionellen Lebensmitteleinzelhandel deutet und dies mit den internen Unterschichtungsdynamiken innerhalb der Filialen in Verbindung setzt.

116 Hier ähnelt Discount der Situation, die im analysierten Pflegeheim beschrie-

ben wurde.

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Machtordnungen und ihre Effekte Die Reihenfolge der Darstellung der drei Arbeitssituationen ist nicht zufällig gewählt. Sie unterscheiden sich graduell in einer spezifischen Hinsicht, nämlich dem jeweiligen Ausmaß, in dem die konkrete Materialität der Arbeit einer spezifischen organisationsinduzierten Rationalisierungsdynamik unterliegt. Solche Formen der Rationalisierung setzen typischerweise bei zwei Punkten an: Erstens kommt es zu einer sukzessiven qualitativen Standardisierung der Tätigkeiten.117 Zweitens werden diese in quantitativer Hinsicht universalisiert. Im Einzelhandel bezieht sich die qualitative Dimension dieser Dynamik vor allem auf die Regulierung der interaktiven Anteile der Arbeit. Schon Mitte des vergangenen Jahrhunderts bemerkte C. Wright Mills bezüglich unterschiedlicher Arbeitsprofile im Verkaufsraum: »Some salesmen must know the technical details of complex commodities and their maintenance; others need know nothing about the simple commodities they sell.«118 Die beschriebenen Arbeitssituationen zeigen, dass Mills Analyse noch heute zutrifft, ohne dass damit bereits etwas über das dominante Modell gesagt wäre. Zeigt sich bei Xtrem Sports noch ein materialer Zuschnitt der Arbeit, der wegen der Spezifik des Produktes auf ein relativ hohes Maß an Interaktivität und damit auf notwendiges Wissen über die Produktpalette setzt, so beziehen sich bei U&S und noch stärker bei Discount manageriale Strategien gerade auf die Formalisierung und letztlich Reduktion dieses Faktors. In der Folge ist schon seit Mitte der 1990er Jahre ein »Dequalifizierungs- und Deprofessionalisierungsprozess« auf »breiter Front« beobachtbar.119 Die Rationalisierungsstrategien haben weitere Konsequenzen in Bezug auf die konkrete Arbeitssituation: In allen drei Fällen sind diese von einem hohen Maß an Autonomie für die Teams der aus-

117 Glaubitz (»Hoffnungsträger oder Sorgenkind«) folgend wird sogar davon gesprochen, dass im Einzelhandel in den 1990er Jahren im Vergleich zu anderen

Dienstleistungsbranchen am »kompromisslosesten eine Strategie der Standardisierung« erfolgt sei (Baethge/Wilkens, Die große Hoffnung für das 21. Jahrhundert?, S. 15). 118 Mills, White Collar, S. 164. 119 Glaubitz, »Hoffnungsträger oder Sorgenkind«, S. 204.

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führenden Ebene geprägt. Dies erscheint notwendig, wenn man bedenkt, dass die Zuständigkeiten entspezifiziert und universalisiert werden, bis zu dem Punkt, an dem im Falle von Discount eigentlich jeder Mitarbeiter für alles zuständig ist. Die Zuordnung von Tätigkeiten muss dem konkreten Arbeitsaufkommen angepasst werden, was unter der Bedingung chronischen Personalmangels ständige Abstimmungen notwendig macht. Eine detaillierte Regelung über vertikale Anweisungen wäre hier kontraproduktiv, da sie den Wechsel zwischen verschiedenen Tätigkeiten verlangsamen würde. Der Effekt ist in allen drei Fällen eine Agglomeration personengebundener Macht in den Arbeitssituationen, die sich in harten Konflikten zwischen den Beteiligten ausdrückt und mal mehr, mal weniger von hierarchischen Positionen gedeckt ist. Je nach Durchsetzungsstärke der Rationalisierungsstrategien wandelt sich der Charakter dieser Konflikte von einer eher horizontalen zu einer Form, die stärker auch die vertikale, also hierarchische, positionsbewehrte Dimension der Macht miteinbezieht. Sind bei U&S vor allem die Angestellten der gleichen Ebene in Konflikten miteinander verstrickt, so ist bei Discount die Rolle der Filialleitungen insofern gestärkt, als diese in höherem Maße auf Repression setzen (können). Denn die Reduktion von Interaktivität und damit die Abwertung der ausführenden Ebene reduziert deren Dispositionsspielraum in Bezug auf die Akkumulation von Macht: Wenn jeder ersetzbar ist, weil niemand mehr über spezifische Kompetenzen verfügt, dann kann auch kein Recht auf Mitsprache mehr geltend gemacht werden. Dies trifft umso radikaler diejenigen Belegschaftsteile, die auch vertraglich zum Rand gehören.120 Auch die vertikale Form der Machtausübung bleibt allerdings unberechenbar und personengebunden, weil sie immer an die spezifische Führungsstrategie der jeweiligen Leitungsperson gekoppelt ist und weil zugleich im Zuge der Universalisierung von Zuständigkeiten diese nicht in größerem Maße positional abgesichert bleiben. Darüber hinaus wird auch positionsbewehrte Macht aufgrund ihres häufig repressiven Charakters als äußerst volatil beschrieben.

120 U&S stellt hier eine Sonderform dar, weil aufgrund der spezifischen Organi-

sationsdynamiken und Rekrutierungsmodi gerade den Aushilfen viel Macht in der Arbeitssituation zukommt.

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Dominanz bleibt daher in allen Fällen personengebunden. Sie bleibt Macht. Ein weiterer Effekt der benannten Rationalisierungstrategien ist, dass sich mit ihrer Durchsetzung die körperlichen Ansprüche radikalisieren. Im Falle von Xtrem Sports oder U&S sind es noch vornehmlich Faktoren der Interaktivität in Form von Kundeninteraktionen oder Konflikten unter Mitarbeitern, die belastend auf die Arbeitnehmer wirken. Im Falle von U&S zeigt sich bereits, dass einzelne Mitarbeiter den Weg über eine starke Routinisierung ihrer Tätigkeiten wählen, die dann meist auf körperbetonte Aufgaben wie das Räumen und Entpacken der Ware reduziert ist. Bei Discount gibt es zu solchen Tätigkeitsprofilen gar keine Alternative mehr. Kundeninteraktion findet kaum noch statt, weil die Arbeit auf einzelne körperbetonte Tätigkeiten beschränkt ist. Die genannten Rationalisierungsdynamiken korrespondieren mit vertraglichen Organisationsformen, die auf eine immer stärkere Unterschichtung der Stammbelegschaften durch Randbelegschaften setzen. Xtrem Sports stellt wiederum den am wenigsten ausgeprägten Pol in dieser Hinsicht dar. Hier ist streng genommen jeder Randbelegschaft, und die ausführende Ebene bedroht die nächsthöhere Ebene praktisch nicht, unter anderem weil kein Verbleib im Unternehmen gewünscht wird. Bei U&S ist die Lage schon anders: Hier gibt es die große Gruppe derer, die dem Prinzip nach im Unternehmen verbleiben. Die Unterschichtung durch die Karenzkräfte ist in sozialstruktureller Hinsicht eher eine Überschichtung, was in der Arbeitssituation zu dem paradoxen Effekt führt, dass diejenigen, die auf die Arbeit nicht angewiesen sind, dennoch den Ton angeben. Im Falle von Discount liegt die Sache anders: Es ist das Heer der geringfügig Beschäftigten – circa zwei Drittel der in die Arbeitssituation Involvierten –, das in Bezug auf die Verteilung der Macht außen vor bleibt. Auch dieser Unterschied ist dem Durchsetzungsgrad der Rationalisierungsstrategien geschuldet. Denn der materiale Zuschnitt der Arbeit diktiert die Machtpotenziale auf der ausführenden Ebene. Seien es die interaktiven Elemente der Arbeit oder aber auch die Beschaffenheit des konkreten Produktes: Von U&S nach Discount nimmt die Differenziertheit dieser Aspekte ab. Was als machttaugliche Ressource übrig bleibt, ist bei Discount schlicht Anwesenheit, also die Zugehörigkeit zu dem einen Drittel der Belegschaft, das mit einer Festanstellung versehen ist. Die spezifischen Kompe243

tenzen studentischer Belegschaftsanteile, die im Rahmen der auf modische Innovationen setzenden Unternehmenskultur noch gefragt sind, spielen hier keine Rolle mehr. Halten wir also fest: Der spezifische Rationalisierungsmodus im Bereich konsumorientierter Dienste führt zu einer Virulenz personengebundener Macht, die die konkreten Arbeitssituationen prägt. Sie ist gerade durch einen Mangel an Verstetigung und ein hohes Maß an Unberechenbarkeit in Bezug auf die Machtverhältnisse sowohl im Sinne ihrer Gerichtetheit als auch im Sinne der in die Konflikte involvierten Personen gekennzeichnet. Instanzen legitimer Herrschaft, an die sich die Angestellten wenden könnten, treten entweder höchst unberechenbar (Xtrem Sports), kaum (U&S) oder aber ausschließlich strafend (Discount) in Erscheinung. Hier liegt ein großer Unterschied zu der Arbeitssituation im beschriebenen Pflegeheim. Dort ist die Beziehung zwischen Leitungs- und ausführender Ebene von einer wechselseitigen Ermöglichungslogik geprägt, im Rahmen derer auch in Personal investiert wird. Hierarchien sind klar und anders als im Falle von Discount von Kontinuität und Berechenbarkeit geprägt. Beschwerdewege für die ausführende Ebene sind formalisiert. Ein zweiter Effekt der beschriebenen Dynamik im Bereich des Einzelhandels ist die Prägung der Arbeitssituationen durch spezifische Modi der Unterschichtung der Belegschaften – hier wiederum ist die Situation derjenigen im beschriebenen Pflegeheim nicht unähnlich. Der abgewertete Charakter der Arbeit bei U&S oder Discount zeigt sich in verschiedenen Ausformungen von Rand- und Stammbelegschaften. Diese Gruppen stehen dabei nicht in einem polarisierten Verhältnis zueinander, in dem Sinne, dass die Arbeit der Stammbelegschaften eine Aufwertung erfahren würde, während die Arbeit am Rande abgewertet würde. Unterschichtung beschreibt vielmehr eine Dynamik, die am Rande der Arbeitssituation neue Gruppen entstehen lässt, während die Situation im Zentrum stagniert oder gar durch die Unterschichtung bedroht ist.121 Folgen hat dies aber hauptsächlich in der Dimension personengebundener

121 Hierfür steht etwa der Sachverhalt, dass im Falle von Discount Beschäftigte zu

neuen vertraglichen Eingruppierungen bewegt werden sollen, die eine faktische Abwertung sind.

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Macht122, wobei der Unterschied zwischen U&S und Discount verdeutlicht, dass der jeweilige Zuschnitt von Privileg und Nachteil kein organisatorisches Naturgesetz darstellt, sondern vielmehr entsprechend der jeweiligen Materialität und der je spezifischen Unternehmenskultur variiert.123 Von Unterschichtungsphänomenen kann letztlich auch in Bezug auf den gesamten Bereich konsumorientierter Dienste gesprochen werden. Denn betrachtet man die drei genannten Fälle, so zeigt sich, dass materielle Privilegierungen mit der Durchsetzungsintensität des Rationalisierungsmodus abnehmen: Xtrem Sports zahlt die höchsten Löhne, Discount die niedrigsten. Damit zeigt sich bereichsspezifisch wiederum das schon in der Arbeitssituation bei U&S formulierte Paradoxon: Die manifesten Vorteile liegen im Bereich jener Arbeit, die zu erklecklichen Teilen von Personen ausgeführt wird, die kein langfristiges Interesse an ihr haben, was wiederum als im materialen Zuschnitt der Arbeit angelegt begriffen werden kann. Im Gegenzug unterschichten jene Bereiche, in denen die Rationalisierungsstrategien zu größerer Entfaltung gelangen, die privilegierten Orte in diesem Bereich. Darüber hinaus zeigt sich, dass vor allem das Discountsystem immer neue Unterschichtungsphänomene produziert.124

Familienzentrierte Lebensführung Im Folgenden soll sich der Frage gewidmet werden, welche Zusammenhänge von Arbeit und Lebensführung sich in den konsum-

122 Nicht in Bezug auf den Zuschnitt der Tätigkeiten. 123 Wo die Materialität noch benennbare Kompetenzen (vor allem Interaktivität)

auf der ausführenden Ebene ermöglicht und die Unternehmenskultur von einem liberalen Credo gekennzeichnet ist (U&S), kumuliert Macht sogar im Bereich der Randbelegschaften, während der Stamm eher benachteiligt ist. 124 Voss-Dahm vermerkt in Bezug auf den Einzelhandel: »Eine Besonderheit des deutschen Einzelhandels liegt im hohen Anteil von Fachkräften: Fast 81 Prozent der im Einzelhandel Beschäftigten verfügten im Jahr 2003 über eine abgeschlossene Berufsausbildung« (Voss-Dahm, »Der Branche treu trotz Niedriglohn«, S. 262). Die beschriebenen Fallstudien legen freilich nahe, die Rationalisierungsdynamiken und Ordnungsmechanismen als Angriff auf das etablierte Professionsideal des Einzelhandels zu interpretieren.

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orientierten Diensten zeigen.125 Es hat sich gezeigt, dass sich die Belegschaft bei U&S in zwei Gruppen mit eigenen Handlungsorientierungen einteilen lässt, Karenzkräfte und Stammkräfte. Gerade die Karenzkräfte dynamisieren die Arbeitssituation und sind maßgeblich an deren Durchwirkung mit personengebundener Macht beteiligt. Dennoch ist ihr Engagement in der Regel vorübergehend. Ein dauerhaftes Arrangement mit ihrer Tätigkeit müssen dagegen die Stammkräfte finden. Im Folgenden stehen daher zwei junge Frauen im Fokus, die dieser Gruppe angehören: Alev Yildirim und Bashak Yildiz. Beide teilen bestimmte Prämissen ihrer allgemeinen Lebenssituation. Sie sind Kinder türkischer Einwanderer, Alev ist in der Bundesrepublik geboren, Bashak kam mit drei Jahren nach Deutschland. Beide sind junge Mütter. Die 29-jährige Alev hat einen 5-jährigen Sohn, die 34-jährige Bashak zwei Söhne im Alter von drei und fünf Jahren. Beide Frauen sind verheiratet. Alevs Ehemann ist in der Türkei aufgewachsen und hat erst durch die Hochzeit das permanente Aufenthaltsrecht für die Bundesrepublik erhalten. Wie seine Frau hat er keine berufliche Ausbildung. Er ist nach seiner Einreise beinahe zwei Jahre arbeitslos gewesen und konnte daher lange Zeit den Hauptteil der Betreuungsarbeit für den gemeinsamen Sohn übernehmen. Seit einiger Zeit ist er allerdings als Hilfsarbeiter in einem Lager, meist in Nachtarbeit, beschäftigt. Dies hat das Arrangement in Bezug auf die Verbindung von Arbeit und Familie kompliziert. Doch die Tatsache, dass Alev und ihr Ehemann zu ganz unterschiedlichen Tageszeiten arbeiten, ermöglicht eine erfolgreiche Koordination von Erwerbsarbeit und Betreuung.

125 Zur Beantwortung dieser Frage wird sich auf zwei Angestellte des Unterneh-

mens U&S fokussiert. Hierfür gibt es praktische Gründe. Zum einen wird sich im Verlauf dieses Kapitels noch zeigen, dass die Arbeit bei Discount aufgrund des ausgeprägten Charakters der Rationalisierung des Arbeitsprozesses starke strukturelle Ähnlichkeiten mit Arbeit im Bereich reiner Gewährleistung hat und dementsprechend spezifische Aspekte von Lebensführung, die für Discount gelten, in diesen Teilen besprochen werden. Zum anderen scheint die Arbeit bei Xtrem Sports in einem Ausmaß spezifisch, das sie nicht gerade als repräsentativ für den Einzelhandel erscheinen lässt. U&S ist dagegen prädestiniert, einen bestimmten Teil der konsumorientierten Dienste zu illustrieren, der die ganze Heterogenität dieses Teilfeldes bündelt und zugleich nicht den extremen Pol der Rationalisierung beschreibt.

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Bashaks Ehemann Ömer ist wie sie im Rheinland aufgewachsen. Er hat eine abgeschlossene Ausbildung als Koch, war anschließend als Wehrdienstleistender bei der Bundeswehr. Er arbeitet als Leiter einer Betriebskantine und hat sich für diese Position über unterschiedliche Fortbildungen, unter anderem ein Fernstudium, qualifiziert. Wegen dieser gut bezahlten Stelle ist das Paar vor acht Jahren aus dem Rheinland nach Gießen gezogen. Bashak selbst hat vor dem Umzug eine Ausbildung als Einzelhandelskauffrau in einem großen Kaufhaus absolviert. An ihrem neuen Wohnort war sie zunächst ein halbes Jahr arbeitslos, bis sie über einen zufälligen Kontakt zu U&S kam. Hier hat sie drei Jahre als »Stundenlöhnerin« (15 Stunden die Woche) gearbeitet, bis der erste Sohn geboren wurde. Es folgten vier Jahre Auszeit zur Kinderbetreuung, in denen auch der zweite Sohn geboren wurde. Anschließend ist Bashak wieder bei U&S eingestiegen.

Hierarchisieren Bashak formuliert ganz klar, dass ihre Motivation, zu arbeiten, vornehmlich dem Umstand entspringt, dass sie sich in der fremden Stadt gelangweilt habe. Ömer hat den Arbeitswunsch seiner Frau unterstützt. Das Paar war sich einig, dass dabei eine Teilzeitbeschäftigung die beste Möglichkeit sei, zum einen wegen der Betreuungsintensität der beiden Söhne, zum anderen weil sich laut Ömer eine Vollzeitbeschäftigung aufgrund steuerlicher Nachteile kaum lohne. Das Paar folgt einem familienzentrierten Lebenszuschnitt. Bashak müsste, wie beide betonen, nicht arbeiten. Das Paar hat ein gemeinsames Konto, zu dem beide uneingeschränkten Zugang haben. Doch die Rolle der Arbeit im Leben von Bashak ist eben nicht auf ihre finanzielle Komponente reduziert. Sie bietet Abwechslung, gefühlte Autonomie, und das Paar ist sich einig, dass eine arbeitende Mutter den Kindern das richtige Beispiel gibt. Diese spezielle Bedeutung der Arbeit zeigt sich auch in dem Umstand, dass Bashak ein alternatives Stellenangebot seinerzeit ausgeschlagen hat, obwohl es sich dabei um einen hochwertigen Damenausstatter gehandelt habe, der ihrem Ausbildungsniveau besser entsprochen hätte als die Arbeit bei U&S. Dieser habe von ihr allerdings erwartet, dass sie einen bestimmten Umsatz erreiche. U&S stellt solche Forderungen nicht. Diese »lockere« Art, die sich auch in einem multikulturellen »Miteinander« ausdrückt, gefällt Bashak, auch wenn die Arbeit, wie sie selbst betont, unter ihrem Ausbildungsniveau liegt. 247

Dieser Umstand fällt für Bashak nicht ins Gewicht, weil sie und Ömer ein ganz und gar familienzentriertes Lebensmodell verfolgen. Bashaks Arbeit hat Zuverdienstcharakter. Ihre Lebensführung ist im Kern auf die Kinder ausgerichtet. U&S bildet dabei auch ein Autonomisierungsvehikel für Bashak, weil sie dort Kontakte findet, die sie in ihrem familienzentrierten Lebensmodell sonst vermissen würde. Die Familienzentrierung verbindet Arbeit und Freizeit: Ein Vorteil der Tätigkeit bei U&S ist beispielsweise, dass die Kinder, aber auch der Ehemann, kostengünstig eingekleidet werden können, denn als Mitarbeiterin erhält Bashak 50 Prozent Preisnachlass auf alle angebotenen Waren. Jenseits der Arbeit drückt sich die entscheidende Rolle der Kinder in ganz unterschiedlichen Praktiken aus, die hier nur skizziert werden können. So ist die gemeinsame Dreizimmerwohnung etwa voll und ganz auf eine durchdachte Erziehung der Kinder zugeschnitten. Das Kinderzimmer ist zum Toben da. Das Spielzeug ist eher hochwertig, dafür nicht im Überfluss vorhanden. Es gibt nur einen Fernseher, der im Wohnzimmer steht. Die Kinder haben keine Videospielekonsole. Was allerdings gebraucht wird, um im Kindergarten »mithalten« zu können, wird angeschafft: Die Söhne präsentieren sich zum Interview stolz in ihren Spidermanschlafanzügen, kennen allerdings Spiderman nicht, weil die Eltern den Film nicht für kindgerecht halten. Auch anderweitig achten Bashak und Ömer darauf, welche Informationen als passend gelten: Beide rauchen beispielsweise heimlich zu Hause. Sind die Kinder in der Wohnung, müssen diese immer von einem Ehepartner abgelenkt werden, während der andere auf dem Balkon verschwindet. Die Eltern wollen nicht das moralische Sanktionsrechts verlieren, das ihr vermeintliches gutes Beispiel in Sachen Rauchen ermöglicht. Diese Informationsselektion geht allerdings nicht mit Abschottungstendenzen einher. Ganz im Gegenteil achten Ömer und Bashak darauf, dass die Söhne mit unterschiedlichen Milieus in Berührung kommen, ganz wie sie selbst es aus ihrer eigenen Kindheit gewohnt sind. Bashak verweist darauf, dass ihr Vater, ein ehemaliger Fließbandarbeiter, immer darauf geachtet habe, in vornehmlich deutschen Nachbarschaften zu wohnen. Folgerichtig werden nun die Söhne in einen katholischen Kindergarten geschickt. Die interne Selektion, die Bashak dort beobachtet, lässt sie ein eigenes sozialintegratives Programm in Bezug auf den Freundeskreis der Jungs verfolgen: Es wird darauf geachtet, dass diese mit den anderen Kindern in Kontakt 248

kommen, aber auch ein deutsches Kind aus deprivilegierten Verhältnissen wird von der Familie Yildiz offensiv integriert, indem die Söhne dazu angehalten werden, es zum Kindergeburtstag einzuladen. Bashak sieht es kritisch, dass dieses Kind von den deutschen Eltern gemieden wird. Dies widerspricht ihrem Erziehungsmodell und auch ihren Vorstellungen von einer autonomen Lebensführung, wie im folgenden Zitat deutlich wird: »Ich wünsche mir, dass meine Kinder erst mal ganz sozial sind. Nicht diese: italienisch oder kurdisch, nicht Leute, die auf so etwas Wert legen, dass sie vom Menschen her ganz okay sind, ganz korrekt sind: höflich, lieb und gute Ausbildung gemacht haben. Natürlich: Als Mutter würde ich mir wünschen, dass sie super studiert haben, mit 1 und so. Aber (…) Ich will mich damit zufrieden geben, was sie machen. […] Wenn ich sehe: Sie geben sich Mühe, aber sie schaffen das nicht, das ist okay. […] Wir sind zum Beispiel sechs Geschwister. Meine Schwester ist sehr klug. Also wenn ich mich mit ihr vergleiche. […] Manche haben das, und manche haben das nicht […]. Deshalb will ich auch arbeiten, weißte? […] Ich finde, ich war immer sehr selbstständig: Ich habe Auto, ich habe Ausbildung gemacht, ich konnte immer anziehen und machen, was ich will. Ich brauchte nicht zu Hause Geld abgeben.« Diese Zentrierung von Bashaks Lebensführung auf die Kernfamilie basiert auf einem Modell der Hierarchisierung, in dem ihre Arbeit lediglich einen Zuverdienst zum familiären Budget darstellt. Bashak ist in der Folge weitgehend unabhängig von den horizontalen Machtdynamiken, die die Arbeitssituation bei U&S prägen, beziehungsweise reagiert mit Rückzug aus diesen Konflikten: »Ich möchte dann lieber nach Hause kommen! […] Ich habe ja auch ganz andere Interessen. Mit 20, 25 hast du auch andere Interessen, ne? Wenn ich hier gekocht habe, meine Kinder, mein Mann kommt von der Arbeit […] – dann bin ich froh, wenn ich meine Arbeit richtig gemacht habe, die Kasse korrekt abgebe, dann weiß ich, es ist alles okay, und ich kann in die Bahn und nach Hause. Das Zeug interessiert mich gar nicht. Weil: Die, die keine Familie haben und keine Freunde und so, die hängen ja nur zusammen.« Im Angesicht dieser Rückzugsstrategie ist es umso interessanter, dass innerhalb der Belegschaft von U&S das Gerücht umgeht, Bashak werde von Ömer »an der kurzen Leine gehalten«. Man sagt, die beiden seien sehr gläubig und zögen sich ein Stück weit zurück. Ömer und Bashak schütteln über derartige Vorurteile, sofern diese sie erreichen, den Kopf. Bashak en249

gagiert sich nur in Konflikten, die sie normativ im Besonderen berühren. So beschreibt sie etwa eine Situation, in der sie sich mit einer Spätaussiedlerin darüber streitet, wer denn wohl »deutscher« sei: die Aussiedlerin mit ihrem brüchigen Deutsch und ihren fünf Jahren Deutschlanderfahrung oder Bashak mit ihrem unüberhörbaren rheinischen Akzent und einer Kindheit in Köln. Es geht dabei darum, Zugehörigkeit einzufordern, die Bashak selbst durch eine liberale Grundhaltung verkörpert. Bei U&S hingegen kursieren Essentialismen: etwa, dass Bashak, die kein Kopftuch trägt, sehr gläubig sei. Zwar betet Bashak regelmäßig. Sie erklärt ihren Glauben – ohne danach gefragt worden zu sein – aber recht weltlich, als eine Art moralischen Kompass, den es in allen Religionen gebe. Sie setzt dabei explizit alle Weltreligionen gleich, präsentiert sich also liberal. Eine andere Geschichte bei U&S entspringt der Erzählung von Bashak selbst: Auf der Weihnachtsfeier hat sie den Kollegen erzählt, Ömer habe zu ihr gesagt, er sei wohl der einzige türkische Ehemann, der seine Frau zu einer solchen Veranstaltung ließe. Für Bashak ist das wohl eine Geschichte wie aus jeder beliebigen anderen Beziehung: Mann und Frau zeigen sich Zuneigung durch Eifersucht. Die Kollegen bei U&S wittern allerdings sofort den muslimischen Macho. Es zeigt sich im Zusammenhang zwischen Arbeit und Privatleben hier eine ambivalente Verbindung. Denn es ist gerade Bashaks Handlungsorientierung, sich aus den internen Machtkämpfen herauszuhalten, die sie als Thema für diese Konflikte prädestiniert. Sie spricht wenig über sich, weil ihr die Arbeit in dieser Hinsicht nicht wichtig ist. In der Folge wird sie zum Objekt der Spekulation. Es stellt sich dabei die Frage, ob dies auch materielle Folgen hat: Ömer und Bashak planen einen baldigen Umzug zurück ins Rheinland. Sie fühlen sich dort wohler, und Ömer hat einen Weg gefunden, den Wunsch der Rückkehr mit einem weiteren beruflichen Aufstieg zu verbinden. Bashak hat sich bemüht, in eine andere U&S-Filiale in der Nähe des zukünftigen Wohnortes versetzt zu werden. Ihr Chef hat ihr zwar ein gutes Zwischenzeugnis ausgestellt, darüber hinaus aber keine Maßnahmen ergriffen, ihre Versetzung zu befördern. Bashak ist allerdings selbstständig aktiv geworden und hat Kontakt zu einer Filialleiterin aufgenommen, die ihr eine Anstellung in Aussicht gestellt hat. Sie wolle vorher allerdings noch per Telefon ein Feedback über Bashak einholen. Nachdem der Anruf von einer Kollegin entgegengenommen worden ist, die als besonders aktiv in den 250

internen Machtkämpfen in der Filiale gilt, hat sich die Übernahme zerschlagen. Bashak hegt die Vermutung, die Kollegin habe ihren Wechsel fahrlässig behindert. Dies könnte nicht zuletzt an dem Image Bashaks liegen, das in der Filiale grassiert. Es verweist auf die Problematik flacher Hierarchien, in denen eine x-beliebige Kollegin als relevante Informationsquelle gilt. Bashaks Beispiel steht für ein mögliches Arrangement von Arbeit und Leben, in dem Ersterer keine tragende Rolle zufällt. Es ist daher auch eine Antwort auf die Residualität der Tätigkeit. Diese ist für Bashak unproblematisch, weil ihre Lebensführung im Kern familienzentriert ist. Der geringe Anspruch der Arbeit bei U&S – wohlgemerkt in der Darstellung Bashaks selbst – ist dabei geradezu positiv konnotiert. Denn je weniger Stress es dort gibt, desto mehr Kraft bleibt für die Familie. Das Arrangement funktioniert, weil Ömer der Hauptverdiener ist.

Aufwerten Für Alev verhält es sich anders, was nicht zuletzt daran liegt, dass ihr kein Partner zur Seite steht, mit dessen Gehalt sich der gemeinsame Lebensunterhalt beinahe gänzlich bestreiten ließe. Alev ist in Gießen geboren. Ihr Vater kam Anfang der 1970er Jahre als Dachdecker nach Deutschland. Alevs Bildungshintergrund lässt sich im Interview nicht ganz klären. Sie gibt an, 13 Jahre lang die Schule besucht zu haben. Anschließend habe sie aber keine Ausbildung gefunden – hieraus ist zu schließen, dass sie jedenfalls kein Abitur gemacht hat, möglicherweise ohne Abschluss abgegangen ist. In jedem Fall findet sie nach der Schulzeit keine Ausbildungsstelle. Es folgt eine Phase der Arbeitslosigkeit, dann die Anstellung bei U&S. Dort arbeitet sie drei Jahre lang, bis sie mit Mitte zwanzig einen Cousin dritten Grades in der Türkei heiratet und wenig später der gemeinsame Sohn zur Welt kommt. Der Kindsvater, der noch kein Deutsch spricht, ist zu dieser Zeit arbeitslos und übernimmt nach dem Ende von Alevs Mutterschutz die Betreuung des Sohnes. Alev selbst nimmt nach zwei Jahren ihre Arbeit bei U&S wieder auf. Ihr Ehemann findet im zweiten Jahr nach der Geburt des Sohnes eine Anstellung in Nachtarbeit in einem Versandlager, wo er vornehmlich mit dem Packen von Paketen beschäftigt ist. Eigentlich soll der gemeinsame Sohn mit zwei Jahren in eine Betreuungseinrichtung gegeben werden. Doch Alev verpasst die Anmeldung, und so ist in den folgenden sieben 251

Monaten ein angespanntes Arrangement angezeigt, in dem die Kinderbetreuung tagsüber von Alevs Eltern übernommen wird. Mittlerweile ist der Sohn fünf Jahre alt und ganztägig in Betreuung in einer städtischen Kita. Die Kinderbetreuung funktioniert jetzt arbeitsteiliger zwischen den Ehepartnern. Alev arbeitet in der Regel vier Tage in der Woche jeweils von sieben bis sechzehn Uhr oder von acht bis siebzehn Uhr. Der Ehemann bringt den Sohn vormittags in die Kita. Alev holt ihn dort nach der Arbeit ab. Anschließend widmet sie sich der Hausarbeit und bereitet das Abendessen zu. Dieses wird in der Regel von der Kernfamilie gemeinsam eingenommen. Anschließend begibt sich der Ehemann zu seiner Schicht, die um 18 Uhr beginnt und in der Regel bis halb zwölf Uhr nachts dauert. Wenn er heimkehrt schläft Alev bereits. Ähnlich wie Bashak verfolgt auch Alev einen familienzentrierten Lebenszuschnitt, allerdings unter verschärften materiellen Bedingungen. Sie beschreibt sich als »eine Frau mit Kind und mit Familie«. Doch ist ihr Familienmodell nicht auf die Kernfamilie beschränkt. Vielmehr werden ihre Eltern – die Mutter ist Hausfrau, der Vater berufsunfähig – aktiv in das Management des Alltags zwischen Arbeit und Kinderbetreuung integriert. Alev muss sich stärker strecken als Bashak, um den Brückenschlag zwischen Erwerbs- und Familienarbeit erfolgreich zu meistern. Im Grunde ist ihr Lebenszuschnitt »moderner« als Bashaks: Sie und ihr Partner haben das gleiche Ausbildungsniveau, sind beide voll berufstätig und engagieren sich (notgedrungen) gleichermaßen in der Betreuung des gemeinsamen Sohnes. Doch scheint der Preis für diese Modernität eine traditionale Orientierung in anderen Lebensbereichen zu sein. Nicht nur die Wahl des Ehegatten im erweiterten verwandtschaftlichen Umfeld oder die Integration der Großelterngeneration in die Kinderbetreuung zeugen von diesem Umstand. Auch was die Förderung des Sohnes angeht, legt Alev nicht die gleiche planmäßige Zielgerichtetheit an den Tag wie Bashak. So hat Alev es etwa verpasst, ihrem Sohn rechtzeitig Deutsch beizubringen. Mit seinen fünf Jahren spricht er nun zwar fließend türkisch, doch in der Kita tun sich immer wieder Probleme auf, weil er sich mit den Betreuern kaum verständigen kann. Alev bedauert diesen Umstand explizit. Doch zeigt sich im privaten Wohnumfeld, dass sie im Zeichen ihrer Beanspruchung durch die Koordination von Arbeit und Kindesbetreuung nicht immer fähig ist, dem Sohn die Förderung zu bieten, die sie sich eigent252

lich für ihn wünscht. So läuft bei Alev zu Hause beispielsweise permanent der Fernseher. Meist ist ein Musiksender eingestellt, und wenn Alev nach der Arbeit mit Hausarbeit beschäftigt ist, wird das Kind dort geparkt. Als bei einem Hausbesuch das Wohnzimmer besetzt ist, verscheucht sie den Kleinen von seinem Stammplatz und platziert ihn vor dem Computer des Vaters, wo er mit »Ballerspielen« beschäftigt wird. Alev selbst ist besorgt ob der Entwicklung des Sohnes, vor allem in Bezug auf seine Sprachkenntnisse. Doch sind sie und ihr Mann durch die Arbeit in so hohem Ausmaß absorbiert, dass die Erziehungszeit darunter leidet. Zugleich kann die kleine Familie auf die beiden Einkommen aus Erwerbsarbeit kaum verzichten. Hinzu kommt, dass Alev aus ihrer Arbeit durchaus ein positives Selbstwertgefühl bezieht und diese mit besonderem Engagement ausübt. Die Arbeit selbst bietet dabei, wie eingehend beschrieben, wenig materiale Anhaltspunkte für einen berufsbezogenen Leistungsstolz, zumal Alev die Kundeninteraktion als Kern ihrer Arbeit ablehnt. Die Deutung ihrer Tätigkeit speist sich vielmehr aus einem arbeiterlichen Ethos, das sie auf ihren Vater rückbezieht. Dies führt zu einer Deutung der Arbeit, in der diese vornehmlich in den Kategorien anstrengender körperlicher Leistungsverausgabung bewertet wird: »Das ist schon anstrengend. Aber das ist ja auch klar: Man muss ja schnell sein, fleißig sein und sich immer wieder bewegen.« Alev fühlt sich in Bezug auf ihre Arbeit nur wohl, wenn sie danach körperlich erschöpft ist. Dies führt dazu, dass sie sich weit mehr verausgabt, als dies unter den Kollegen üblich ist, was ihr durchaus deren Respekt einträgt. Alev gilt innerhalb der Belegschaft als robuste, auf liebenswerte Weise traditionale Kollegin, deren Hauptmarkenzeichen sind, dass sie erstens das Herz auf der Zunge trägt und zweitens »buckelt« wie keine andere – sprich: sehr viel Arbeit wegschafft. Die handlungsrelevante Deutung der Arbeit über den Körper ist dabei ein Mechanismus, einer residualen Tätigkeit ein normatives Maß zu geben. Ein Seiteneffekt besteht freilich darin, dass Alev sich bei der Arbeit stark verausgabt. Dies liegt auch daran, dass sie in den horizontalen Konflikten, die die Arbeitssituation bei U&S prägen, die typische Rolle der Stammkraft einnimmt: Sie versteht keinen Spaß im Umgang mit den kursierenden Images. Jede Stichelei wird von ihr als persönliche Respektlosigkeit interpretiert. Dies hat emotionale Folgen, die sich beispielsweise in Alevs Schilderungen der zwi253

schenmenschlichen Dynamiken bei U&S zeigen: Ein privates Treffen mit Kolleginnen, das regelmäßig stattfindet, wird einmal, trotz Alevs Wunsch, nicht verlegt. Sie kann deswegen nicht kommen und zeigt sich tief verletzt. Denn im Zeichen des angespannten Arrangements zwischen Arbeit und Familienzentrierung ist die Kollegenschaft ihre primäre soziale Bezugsgruppe außerhalb der Familie. Arbeit und Privatleben sind in ihrem Fall weit enger verzahnt als bei Bashak, auch weil Alev aus den körperlichen Aspekten ihrer Tätigkeit Selbstwertgefühl schöpft. Dies führt zu einem Modell der Lebensführung, das weit stärkere Zugeständnisse an die Arbeit machen muss, unter anderem weil körperliche Belastung den Alltag jenseits der Arbeit determiniert. Bashak steht für ein Modell, das mit dem konkreten Zuschnitt der Arbeit gerade deswegen gut zurechtkommt, weil es nicht auf sie angewiesen ist. Alev dagegen verdeutlicht, vor welche Herausforderungen ein Leben gestellt ist, das sich im Bereich einfacher Verkaufsarbeit darum bemüht, den eigenen Unterhalt aus Erwerbsarbeit zu bestreiten und zugleich eine Familie zu führen. Sie hat ihren Alltag unter verschärften Bedingungen zu meistern und muss im besten Fall die Kosten dieses Modells auf den erweiterten Familienkreis ausdehnen, im schlechteren Fall in Sachen Erziehung hinter ihren eigenen Standards zurückbleiben.

Tertiäre »Männerarbeit« In der Pflege und im Einzelhandel sind die Tätigkeiten teilweise noch von einem hohen Maß an Interaktivität geprägt. Die Arbeit in Post- und Paketdiensten erfolgt direkt am Produkt, das jedoch, ähnlich wie im Falle von Discount, nicht von den Arbeitnehmern bearbeitet, sondern lediglich positioniert wird. Briefe werden – wie die Ware im Discountmarkt – von A nach B transportiert, ohne dass die Arbeitenden etwas mit der Herstellung oder Verwendung des Produktes zu tun hätten. Die Distribution ist ein Paradebeispiel für die politische Induziertheit und die mangelnde korporatistische Regulierung der einfachen Dienste. Seit der Privatisierung der Deutschen Bundespost Mitte der 1990er Jahre haben sich die distributiven Dienste zu einem Experimentierfeld postkorporatistischer Regulierung in der bun254

desrepublikanischen Arbeitsgesellschaft entwickelt. Die Branche der sogenannten alternativen Postzusteller galt in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts als einer der potenziellen Wachstumsmärkte in der Bundesrepublik. Die Hoffnungen gründeten auf dem seit 1995 erfolgenden schrittweisen Abbau des Postmonopols der Deutschen Post, der mit dem Fall des Briefmonopols Anfang 2008 abgeschlossen war. Seit Anfang der 2000er Jahre wurden zahlreiche alternative Postzusteller gegründet. Diese gingen häufig aus ausgegliederten Zustellbereichen regionaler und überregionaler Verlagsgesellschaften hervor. Auch die Investitionen in den Markt erfolgten maßgeblich vonseiten großer Verlagsgesellschaften.126 Nach dem Fall des Briefmonopols kam es zu harten Lohnauseinandersetzungen in der Postbranche. Im November 2007 schlossen ver.di und der von der Deutschen Post AG dominierte Arbeitgeberverband Postdienste e.V. einen Tarifvertrag ab, aus dem im Anschluss die politische Allgemeinverbindlichkeitserklärung und ein Mindestlohn von acht bis neun Euro achtzig hervorgingen. Der Mindestlohn wurde wenige Monate lang in den Konkurrenzfirmen der DPAG gezahlt. Dann wurde einer Klage dieser Unternehmen stattgegeben und der Mindestlohn wieder gekippt, weil die klagenden Betriebe nicht im Arbeitgeberverband vertreten und nicht an den dem Mindestlohn vorangegangenen Verhandlungen beteiligt gewesen waren. Die Löhne wurden in der Folge127 wieder auf das Niveau vor dem Mindestlohn gesenkt. Effektiv bedeutete dies im untersuchten Unternehmen Superpost einen Stundenlohn von knapp unter sechs Euro im Jahre 2006. Die Posse fand eine Fortsetzung, als die neuen Postdienstleister einen eigenen Verband und eine eigene Gewerkschaft gründeten, um Tarifverhandlungen gewissermaßen im eigenen Interesse simulieren zu können.128 Allgemein lassen sich für die Situation am Postmarkt seit den 2000er Jahren zwei Phasen mit unterschiedlichen Unternehmens-

126 Das prominenteste Beispiel hierfür bietet die Axel-Springer-Verlagsgesellschaft, die insgesamt 620 Millionen Euro in die mittlerweile insolvente PIN

Group investierte – den ersten bundesweit operierenden alternativen Postdienst. 127 Zumindest im untersuchten Unternehmen. 128 Konsequenterweise wurde die Gewerkschaft der neuen Brief- und Zustelldienste gerichtlich nicht als Gewerkschaft anerkannt.

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strategien ausmachen. Auf eine Phase der Konkurrenz unter den neuen Postdienstleistern folgte eine Phase der Kooperation. Als immer mehr regionale Tochterunternehmen der PIN Group seit Ende 2007 Insolvenz anmeldeten und damit der erste bundesweite alternative Postdienst zerbrach, war die erste Phase beendet. In der Folge agierten die neuen Postdienstleister zunehmend geschlossen und im Kern gegen die Deutsche Post AG . Praktischer Ausdruck dieser Kooperationsbemühungen ist die im Januar 2010 gegründete »Mail Alliance« – ein Unternehmen, das vornehmlich der Vernetzung einzelner Postdienstleister dient. Ziel dieser Organisation ist es, durch die Kooperation der relevanten Marktteilnehmer einen geschlossenen bundesweiten Postmarkt neben der Deutschen Post AG zu etablieren. Woran die PIN Group noch scheiterte, soll nun in Zusammenarbeit geschafft werden. Mitglieder in der Mail Alliance sind insgesamt 120 Unternehmen. Das Unternehmen Superpost, das im Folgenden dargestellt wird, gehört der Mail Alliance an. Es handelt sich um ein regional operierendes Unternehmen in einem urbanen Ballungsraum. Ein zweites Unternehmen, das im Anschluss betrachtet wird, ist Newsfeed, eine Zustellfirma für Tages- und Wochenzeitungen sowie Postwurfsendungen, die allerdings in einigen Orten auch Briefpost zustellt. Ähnlich wie im Falle der konsumorientierten Dienste ist im Verhältnis der beiden Unternehmen eine Abnahme der Spezifik des Produktes zu konstatieren: Der private Charakter offizieller Post, der durch das Postgeheimnis geschützt ist, erfordert bestimmte organisatorische Mindeststandards, die mit bestimmten Kompentenzen auf der ausführenden Ebene korrespondieren. Die Zeitungsdistribution kommt dagegen weitgehend ohne solche Mindeststandards aus. Der Zuschnitt des zu liefernden Produktes stößt die Tür für Rationalisierungsmaßnahmen weit auf, wie im Folgenden gezeigt werden wird.

Jenseits der Deutschen Post AG Das Unternehmen Superpost wurde im Jahr 2000 gegründet. Als ein früher Marktteilnehmer veranschaulicht es die Entwicklung der Branche allgemein. Auf eine planlose, wilde Anfangszeit folgte in organisatorischer Hinsicht eine Phase zunehmender Konsolidierung und Formalisierung. 256

Konsolidierung auf niedrigem Niveau Die Aufbauphase von Superpost war von einem enormen Engagement der Zusteller getragen. Es gab noch keinen Betriebsrat und keine effektive Arbeitszeitkontrolle. In der Folge waren Arbeitszeiten von 10–12 Stunden bei einer 6-Tage-Woche keine Seltenheit. Die Motivation der Zusteller war zu dieser Zeit von dem von der Unternehmensleitung vorgegebenen Ziel getragen, an jedem Tag die gesamte anfallende Post zuzustellen. Die Organisation war dilettantisch: Bauwagen dienten in einigen Fällen als Postdepots, Tapeziertische als Sortierregale für die Post. Dennoch klingt noch heute in den Erzählungen der Zusteller die positive Konnotation des besonderen Schwungs dieser wilden Anfangszeit an, in der alle noch bereit waren, sich für den gemeinsamen Erfolg über die Maßen hinaus ins Zeug zu legen. Nach dieser circa zweijährigen Anfangsphase setzte eine zweite Periode der organisatorischen Konsolidierung ein. Das Postaufkommen wuchs immer weiter, und so wurden Touren neu zugeschnitten. Zunächst wurden die Zustellgebiete – jeweils eine Postleitzahl – in der Mitte geteilt. Schließlich kamen Maßnahmen des Qualitätsmanagements hinzu, in deren Folge einzelne Zusteller die Routen optimierten und so der autonomen Zuständigkeit der jeweiligen Stammkraft entzogen. Es wurden richtige Depots angelegt und Sortiersysteme etabliert. Die Arbeit wurde sukzessive räumlich entzerrt und damit qualitativ verdichtet: Die Zustellgebiete wurden kleiner, es wurden Normzahlen für Mindeststopps eingeführt, während das Postaufkommen stetig stieg. In der Anfangsphase waren die Arbeitszeiten noch dem Postaufkommen angepasst gewesen, was auch bedeuten konnte, dass bei niedrigem Aufkommen die Arbeit in kurzer Zeit erledigt werden konnte. Die Normierung der Stopps führte nun dazu, dass die Arbeitszeiten systematisch explodierten, da die Normen zu groß bemessen waren. Auch diese Phase dauerte etwa zwei Jahre. In dieser Zeit erfolgte auch die Etablierung eines Betriebsrates, was letztlich zu einer Reduktion der Sollstopps führte. Die Personalausstattung der einzelnen Depots blieb allerdings limitiert. Bei Superpost ist es mittlerweile etabliert, nur im Rahmen der vertraglich geregelten Arbeitszeiten zu arbeiten. Die Konsequenz ist, dass nicht mehr alle anfallende Post unverzüglich ausgeliefert wird. Dies hat negative Konsequenzen für die Motivation der Zusteller. Ein Brief ist im lokalen Zustellgebiet von Superpost, das heißt in einer einzelnen Stadt, derzeit manchmal bis zu einer Woche unterwegs. 257

Aktuell sind mehrere Depots über die Stadt verteilt. Ein Depot hat jeweils 5–10 Teams à 5–9 Personen mit jeweils einem Springer, der gelegentlich auch Teamleiter genannt wird, aber keine offizielle Weisungsbefugnis hat. Aufgabe des Springers ist es, ausfallendes Personal zu ersetzen. Er ist vor die besondere Herausforderung gestellt, wechselnde Touren bewältigen zu müssen. Bei Superpost arbeiten hauptsächlich Männer in den 20er-Jahren. Die Belegschaft ist darüber hinaus ethnisch höchst heterogen: Ein Betriebsrat verweist auf »zwanzig oder dreißig Nationalitäten« im Unternehmen. Die typische Situation bezüglich der Arbeitsverträge führt dabei dazu, dass sich die Belegschaft maßgeblich in die Gruppen der Neuankömmlinge und der Etablierten teilt. Letztere haben meist unbefristete Verträge und sind schon lange an Bord. Die Neuankömmlinge dagegen werden typischerweise zweimal auf ein Jahr befristet, bevor sie, nach eingehender Prüfung ihrer Leistungsfähigkeit, möglicherweise übernommen werden.129 Superpost hat grundsätzlich Probleme, alle offenen Stellen zu besetzen, weswegen auch ein Abkommen mit der lokalen Arbeitsagentur besteht, die regelmäßig Bewerber vermittelt. In jüngerer Zeit stellt Superpost auch verstärkt Kräfte in Halbtagsstellen ein. Die Folge ist, laut Betriebsrat, eine hohe Zahl an Aufstockern, aber auch vielerlei Zweitbeschäftigung aufseiten der Arbeitnehmer, wie etwa das Einräumen von Waren in Supermärkten. Doch auch in Vollzeit sind bei Superpost keine großen Sprünge möglich: Das Grundgehalt beträgt brutto 1330 Euro. Hinzu kommen monatlich 100 Euro Anwesenheitsprämie, falls man keine Krankheitstage vorzuweisen hat. Es ergibt sich damit ein BruttoStundenlohn von circa acht Euro fünfzig beziehungsweise ein Netto-Stundenlohn von sechs Euro.130

129 Viele werden nach zwei Jahren wieder gekündigt, was die Fluktuationsraten von 2 Prozent im Monat und damit einem Viertel der Belegschaft im Jahr teil-

weise erklärt. Viele scheiden allerdings auch früher und auf eigenen Wunsch aus, da sie der enormen körperlichen Belastung der Arbeit nicht gewachsen sind. 130 Die Stelle des Depotleiters wird mit circa 2500 Euro brutto vergolten, darunter setzt entsprechend der Betriebshierarchie von der Stellvertretung des Depotleiters (2100 Euro) und dessen Assistenz (1700 Euro) eine Staffelung ein.

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In Ermangelung von Alternativen Die Tätigkeitsprofile der Zusteller sind klar entlang der zwei Arbeitsorte Depot und Straße geteilt. Aus dem Sortierzentrum werden in den frühen Morgenstunden die Briefe an die einzelnen Depots geliefert. Dort beginnt der Arbeitstag der Zusteller um sieben Uhr mit dem Sortieren der Post für die Tagestouren. Bis spätestens neun Uhr muss dieser Arbeitsschritt erledigt sein, und die Zusteller verlassen nach einer kurzen Frühstückspause mit dem gepackten Fahrrad das Depot. In der Zustellung sind sie dann bis circa 15 Uhr damit beschäftigt, die verschiedenen Briefe an die jeweiligen Adressaten zu bringen. Verschiedene Postsendungen erfordern dabei unterschiedliche Verfahren.131 Nachdem die Post verteilt ist, kehren die Zusteller in die Depots zurück, wo sie noch 30 bis 60 Minuten mit der Abrechnung und Dokumentation des Tages beschäftigt sind. Danach endet der Arbeitstag. Der Personalmangel bei Superpost ist chronisch. Nach der Etablierung des Betriebsrates kann dieser Engpass auch nicht mehr durch die Entgrenzung der Arbeitszeiten der Zusteller getilgt werden. Zwar gibt es allerhand Versuche, die Arbeitnehmer über Anreizsysteme zu mehr Leistung zu ermuntern. Auch die Depotleitung geht meist für einige Stunden am Tag zustellen, was wiederum die Hierarchien des Arbeitsprozesses unterläuft. In der Summe hat es sich allerdings etabliert, dass die Arbeit nicht geschafft wird, dass also nicht alle Tagespost auch wirklich ausgeliefert wird.132 Auch die Arbeitszufriedenheit der Zusteller leidet darunter, dass der Arbeitstag kein Ergebnis mehr zeitigt, dass man nicht mehr täglich »reinen Tischen« machen kann. So haben sich im Kern drei spezifische Deutungen der Arbeit bei Superpost etabliert, die auf der Basis des materialen Zuschnitts der Arbeit stehen: Diese ist erstens körperlich hart, was von den Zustellern mit Stolz betont wird. Zweitens wird sie als verhältnismäßig autonom erfahren, denn, wie immer wieder gesagt wird, »… es steht keiner hinter mir. […] Und guckt mir auf die Finger.« Drittens wird immer wieder der solidarische Charakter unter den Zustellern betont, die sich nicht selten gemeinsam gegen Vorgesetzte positionieren und sich auch in Bezug auf die Ar-

131 In einzelnen Fällen müssen etwa Unterschriften eingeholt werden. 132 Besonders frustrierend ist dies, weil in der Folge Postlieferungen dem großen Konkurrenten DPAG übergeben werden müssen.

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beit beispringen. Diese spezifischen Deutungen der Arbeit stehen allerdings auf der Basis einer allgemeinen Einstellung gegenüber der eigenen Tätigkeit, die diese als weitgehend residual begreift. Ein Mitarbeiter drückt es folgendermaßen aus: »Es is ’n Job, […] den ’n Affe machen kann.«133 In Ermangelung besserer Alternativen wird die Arbeit zu einer lediglich annehmbaren Option im Vergleich zu anderen Möglichkeiten. Interessant wird dies, wenn etwa über andere Arbeiten gesprochen wird, die von außen betrachtet als durchaus vergleichbar gelten könnten. So preisen mehrere Zusteller in einer Diskussion den für seine repressive Unternehmenspolitik berüchtigten Lebensmitteldiscounter Lidl als attraktiven Arbeitgeber: »Lidl. Also ich weiß auch nicht. Das sieht echt super aus da. Ich muss ja auf meiner Route an zwei von den Läden vorbei. Und da stehen immer mindestens drei draußen und rauchen … die Zeit möchte ich haben!« – »Ja und die verdienen auch richtig gut. Ich habe eine Freundin, die da arbeitet. Das ist echt okay …« – »Ja, ja, ja … und vor allem müssen sie jetzt nicht raus. Immer schön warm – ein Traum …« So bleibt als einziges Element des Stolzes auf die eigene Tätigkeit eben deren physische Beanspruchung. Nicht jeder hält die Arbeit bei Wind und Wetter durch, nicht jeder schafft es körperlich. Dabei ist es der spezifische materiale Zuschnitt der Arbeit, der zur körperlichen Anstrengung antreibt: Nicht nur sind die Zusteller den Elementen ausgesetzt, müssen Fahrrad fahren und Treppen steigen. Auch die Tatsache, dass noch immer die Illusion besteht, den Tag mit einem Ergebnis, nämlich dem Austragen der gesamten Post, abzuschließen, treibt sie an: »… die Motivation, die Tour zu schaffen, dieser Ehrgeiz […] die sind die Laufhäuser hoch gerannt, runter gerannt. Speed, Speed […]. Weil, man will’s ja schaffen. Weil, desto mehr ich heute schaffe, desto weniger hab ich morgen.« Morgen weniger zu haben entpuppt sich allerdings aufgrund der Arbeitsverdichtung im Zuge des Personalmangels systematisch als Illusion.

133 Der Arbeitnehmer beschreibt seine Arbeit nur als positiv in Bezug auf mög-

liche Alternativen und verdeutlicht damit zugleich die realistischen Bezugsgrößen der Zusteller: »… eigentlich […] bin ich ein unqualifizierter […], ja, unqualifizierter Mitarbeiter. Und deswegen muss ich sagen, […] ist dieser Job echt fast noch das Beste, was es gibt irgendwie. […] Ich hab auch schon andere Jobs gemacht irgendwie. Auch nicht qualifiziert. Also, quasi so Helfer-Geschichten irgendwie. Und muss ich sagen, also, sind auf jeden Fall schlechter als dieser Job.«

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Der Ärger über diesen Umstand kanalisiert sich in einer zweiten Säule positiver Deutung der Arbeit: der Kombination aus Autonomie und Teamsolidarität. Denn zum einen ist der Zusteller immerhin »draußen mein eigener Herr«. Zum anderen wird gelebte Solidarität erfahren, wenn die Kollegen einander beispringen: Ist die Tour an einem Tag viel zu groß, übernimmt ein Kollege einen Straßenzug; schreit der Depotleiter einen geschätzten Kollegen an, verweist ein anderer auf die außergewöhnliche Beanspruchung innerhalb des Arbeitstages. Das Team hat dabei im Arbeitsalltag ein gewisses Maß an Autonomie von den Weisungen der Vorgesetzten.

»… mit einem halben Bein im Knast« Diese Autonomie basiert auf spezifischen Rationalisierungsstrategien. Auch bei Superpost ist der Arbeitsprozess geprägt von einer Standardisierung der Tätigkeiten, die sich vor allem in der Entwicklung der Touren ausdrückt. Diese sind im Laufe der Zeit durch Formalisierung sukzessive weniger komplex geworden, sodass mittlerweile selbst Springer nicht entscheidend länger für deren Bewältigung brauchen als der jeweilige Stammzusteller. Auch die Organisation der Depots hat sich in diesem Sinne gewandelt. War zu Beginn noch jeder Zusteller auf sein eigenes Sortiersystem auf dem jeweiligen Tapeziertisch angewiesen, so sind mittlerweile alle Fächer standardisiert, sodass sich jeder Zusteller grundsätzlich auch auf einer anderen Route zurechtfinden kann. Natürlich hat dies die Arbeit zunächst erleichtert. Es hat aber auch den Effekt, dass nicht mehr jeder Zusteller ein unhinterfragbarer Experte seines eigenen Reviers ist, sondern alle Touren nun von allen Zustellern bearbeitbar sind. Die Arbeit ist in diesem Sinne stärker universalisiert, weil tatsächlich auch häufiger Routen gewechselt werden. Zudem macht sich eine qualitative Verdichtung der Arbeit bemerkbar, die sich maßgeblich in Form des gestiegenen Postaufkommens auf engeren Routen zeigt. Diese macht die vorangegangenen Erleichterungen zunichte und erhöht die Belastung für die Arbeitnehmer. De facto hat über die Standardisierung der Routen eine Verdichtung der Arbeit stattgefunden.134

134 Auch neue Briefprodukte, wie etwa Postzustellaufträge (amtliche Briefe, die

vom Empfänger bestätigt und vom Zusteller dokumentiert werden müssen), Waren- und Werbesendungen sind ins Sortiment von Superpost aufgenom-

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Diese grundlegenden Rationalisierungsstrategien werden von rigiden Kontrollmaßnahmen gestützt. Ähnlich wie bei Discount sind die Kontrolleure dabei grundsätzlich depot- und damit teamexterne Kräfte. Bei Superpost ist dafür das sogenannte Qualitätsmanagement zuständig, dessen erste Aufgabe darin besteht, die Zusteller während deren Touren stichprobenartig zu kontrollieren.135 Die interne Evaluierung durch das Qualitätsmanagement ist eine vielschichtige Angelegenheit. Es gilt, analytisch zwei Ebenen zu unterscheiden. Zum einen ist die Evaluierung ein vertikales Herrschaftsinstrument, das primär Unsicherheit und als Konsequenz Disziplin produzieren soll: Die Möglichkeit kontrolliert zu werden schwebt wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Zusteller. Dies ist umso dramatischer, als dass es sich faktisch um eine Art Geiselhaft handelt. Denn alle interviewten Zusteller stimmen darin überein, dass sich, würden sie an einem beliebigen Tag begleitet, immer genug Kündigungs- oder zumindest Abmahnungsgründe finden würden. Dies liegt schlicht in der Struktur der Arbeit begründet: So ist es Zustellern beispielsweise offiziell untersagt mit dem Fahrrad auf dem Bürgersteig zu fahren, was eine vollkommen realitätsferne Anforderung ist. Ein anderes Beispiel für die Geiselhaft der Zusteller ergibt sich aus dem Umstand, dass sie, anders als die Mitarbeiter der DPAG , keine Schlüssel zu den Häusern der Kundschaft haben. Die Rücklaufquote an Post wäre daher enorm, wüssten sich die Zusteller nicht anders zu helfen: Ein informelles, praktisches Wissen in den Belegschaften besteht in der Fähigkeit, sich aus dem Hartplastik von Getränkeflaschen kreditkartengroße Karten zu basteln, mit denen die meisten Türen geöffnet werden können. Es ist eine etablierte Technik, in Häuser, bei denen niemand öffnet, mit diesen Karten einzubrechen. Meist wird in Wohnhäusern gar nicht erst geklingelt. Würde ein Zusteller diese »Spezialschlüssel« nicht verwenden, so versichern alle Arbeitnehmer,

men worden und stellen verstärkte Anforderungen an die Arbeitnehmer, da ihre Zustellung spezifischen Kriterien gehorchen muss. 135 Es ist interessant, dass Superpost auf diese Art der personengebundenen Kontrolle setzt, ist doch etwa von der Deutschen Post AG bekannt, dass Kontrolle mittels Technik (GPS -Verfolgung) einen möglicherweise effektiveren Weg darstellt. Die Frage stellt sich, ob dieser Weg bei Superpost schlicht aus Kostengründen nicht beschritten wird.

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könnte Superpost dichtmachen. Zugleich kann die Unternehmensleitung aber offiziell keine Hausfriedensbrüche akzeptieren. Zwar war eben dies in der Anfangszeit des Unternehmens eine auch offiziell geduldete Praxis. Aber seit der Etablierung des Betriebsrates ist es per offizieller Weisung verboten. Das bedeutet, dass praktisch jeder Zusteller beim ganz normalen Ablauf seiner Arbeit permanent das Gesetz bricht und zugleich, im Falle einer Kontrolle, mit der sofortigen Kündigung rechnen muss. Der Zusteller steht, wie ein Betriebsrat es ausdrückt, jeden Morgen »mit einem halben Bein im Knast«.

Selbstreinigende Teams Zweitens vermittelt das Phänomen Evaluierung zwischen den Polen der vertikalen Kontrolle und der horizontalen Ausübung von Macht. Denn den Anstoß für eine tatsächliche Evaluierung geben meist die Springer, die zwar informell Leitungs- oder zumindest Koordinationsbefugnisse haben, die aber eigentlich keine Vorgesetzten, sondern gleichwertige Teammitglieder sind. Fälle von Anschwärzen unter den Zustellern sind ein fester Bestandteil der betrieblichen Ordnung. Hier wird die Evaluierung im Kern zu einem Instrument, das in den Teams zur Eigenpurifikation eingesetzt wird. Es gibt zwei Arten der Evaluierung: Das Qualitätsmanagement selbst führt Stichproben durch, die gezielt auf Hinweis von Springern, Zustellern oder Depotleitern veranlasst werden. Eine zweite Form der Evaluierung findet über die Springer selbst statt: Ist jemand krank oder im Urlaub, übernimmt ein Springer die Route. Schafft er diese wesentlich schneller als der Stammzusteller, dann hat dieser ein Problem. Ein Besuch des Qualitätsmanagements ist die mögliche Folge, weshalb viele Zusteller sich auch bei schweren Erkältungen nicht krank melden. Gibt ein Teammitglied den Anstoß zu einer Überprüfung der Arbeit eines Kollegen, so geht dies in der Regel nicht primär auf persönliche Abneigungen zurück, sondern ergibt sich aus dem materialen Zuschnitt der Arbeit: Die Zusteller definieren die Qualität ihrer Arbeit, wie beschrieben, im Kern über den Körperbezug der Leistungserbringung. Messbar wird dieser über die Menge der ausgetragenen Post. Fällt nun ein Zusteller als schwaches Glied in der Kette auf, so erzeugt dies Unmut bei seinen Kollegen, selbst wenn die Versäumnisse des Zustellers sich nicht in Mehrarbeit für die 263

Kollegen niederschlagen. Dies drückt sich auch in dem ambivalenten Verhältnis aus, das der typische Zusteller zu denjenigen Kollegen hat, die bei der Überprüfung der Touren eingesetzt werden, jenen also, die im Zweifelsfall dafür verantwortlich sind, wenn ein Zusteller entlassen wird, weil er mit deren Geschwindigkeit nicht mithalten kann. Es kursieren regelrechte Legenden von der heldenhaften Leistungsfähigkeit mancher zur Überprüfung eingesetzter Zusteller. Diesen wird mit unverhohlener Bewunderung begegnet, wie sich in folgender Beschreibung eines Zustellers, des im Unternehmen legendären »Super-Müllers«, zeigt: »Nee, im Ernst, der war mal bei uns und hat eine Vertretung gemacht. Der hat mit niemandem ein Wort gesprochen. Hat nur seine Tour sortiert. Der hat sich, glaube ich, nicht mal Aufzeichnungen gemacht. Der hat die Tour einfach mit seinen Augen eingescannt, und dann hatte der die drin. Der ist eine Stunde vor den anderen raus und hat die Tour in Rekordzeit geschafft!« Zugleich ist die Perzeption dieses legendären Kollegen aber von Abneigung geprägt, da sich der einzelne Zusteller nie sicher sein kann, ob er selbst einer Überprüfung durch »Super-Müller« standhalten könnte: »Ja, der bringt Leistung. Aber ich spüre dann den Druck! Ich will den auch gar nicht spüren. Aber ich denke dann trotzdem: Warum bin ich nicht so gut, warum schaffe ich das nicht? Das ist irgendwie eine verrückte Situation!« Aus einer solchen Perzeption spricht die Angst, im Leistungswettkampf irgendwann nicht mehr mithalten zu können. Diese wird vor allem von »älteren« Mitarbeitern, also solchen jenseits der 30 offen thematisiert. Das Leistungsethos der Zusteller, das die Grundlage für die sowohl »von oben« als auch »von unten« initiierte Disziplinierungsstrategie bildet, beruht allerdings auch auf spezifischen organisatorischen Elementen. Zum einen ist hier noch einmal auf die Rolle der Rekrutierungspolitik des Unternehmens hinzuweisen: Der stete Zustrom junger Neuankömmlinge, die sich erst noch beweisen müssen – sei es wegen der Befristung ihrer Stelle, sei es, weil das Team selbst Leistungsverausgabung fordert –, übt Druck auf die etablierten Kräfte aus. Die Neuankömmlinge wirken daher disziplinierend auf die Belegschaft als Ganze. Sie machen den Etablierten wortwörtlich Beine. Diese wiederum versuchen, in den Teams disziplinierend auf die Neuen einzuwirken. Die Neuankömmlinge stehen dann effektiv vor der Herausforderung, etablierte Leistungsnormen weder 264

stark zu über- noch entscheidend zu unterschreiten.136 Die Nachricht, die in den Teams an die Neuen gesendet wird, ist aber auch für die Etablierten ambivalent. Denn auch sie halten die Neuen zu starker Leistungsveräußerung an, weil sie den Wert ihrer Arbeit vor allem in der Verausgabung körperlicher Kräfte sehen. Entscheidend ist, dass das Team dabei die effektive Instanz der Disziplinierung ist, nicht das Management oder die direkten Vorgesetzten. Diese kollektive Autonomie der ausführenden Ebene ist freilich ein Resultat der Ergebnisorientierung der Managementseite. Denn diese ist im Kern nur an der Steigerung des Outputs interessiert. Die Zahlen müssen stimmen, wobei eine Steigerung der Arbeitsleistung immer auch zu einer Steigerung der Anforderungen führt. Die Mitarbeiter selbst sind für die Unternehmensführung nur Zahlen, die Zahlen bringen müssen: »Nicht genug Personal und nicht genug Hilfe. […] Es hat die Firma nicht interessiert. Ja? […] Zahl muss Zahl schaffen. Schafft die Zahl die Zahl nicht mehr, kommt ’ne andere Zahl. Die schafft die Zahl.« Wie die Vorgaben erfüllt werden, ist im Grunde irrelevant. Effektiv bedingt dies eine Art Sickereffekt von Macht im Unternehmen: Die Verwaltungsebene gibt direkte Kontrolle an die einzelnen Betriebseinheiten (Depots) und ihr Leitungspersonal ab. Dessen Autorität wird zugleich nur bedingt anerkannt und von bestimmten Faktoren gemindert: So steigert etwa die Tatsache, dass Depotleiter selbst häufig in der Zustellung aktiv werden, vielleicht deren kollegiale Wertschätzung, nicht jedoch ihre Anerkennung als Weisungspersonen. Auch die Springer, die als Teamleiter fungieren, verfügen offiziell nicht über eine solche Weisungsbefugnis, weshalb auch ihre Autorität nicht systematisch anerkannt wird. Sie verfügen auch über keine offiziellen Sanktionsmöglichkeiten direkter Art. Lediglich das Einschalten des Qualitätsmanagements steht ihnen zur Verfügung. Nicht zuletzt ist die positive Antizipation der eigenen Autonomie bei den Zustellern ein Grund, sich nicht alles gefallen zu lassen. Das Resultat ist ein effektives Ordnungsvakuum auf der Ebene der Arbeitssituation, über dem freilich immer die »unsichtbare Hand« der

136 Hier kehrt eine Dynamik der Arbeitswelt wieder, wie sie auch jenseits wissen-

schaftlicher Literatur prominent anhand des Fließbandes bei Ford beschrieben wurden, etwa bei Sinclair (The Flivver King) oder Eugenides (Middlesex).

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internen Polizei, des Qualitätsmanagements, schwebt. Diese wirkt allerdings eher als Potenzialität, denn in Form faktischer, direkter Sanktionen »von oben«. Real springen die Angestellten137 selbst in die Bresche des Herrschaftsvakuums. Dies geschieht in der Disziplinierungsfunktion, die das Team übernimmt. Dabei zeigen sich auf der ausführenden Ebene residuale Rückstände einer auf Vergemeinschaftung setzenden Unternehmenskultur, die selbst schon lange nicht mehr anerkannt wird. Noch immer sind, wie gesagt, die Teams in vielen Fällen Orte erlebter Solidarität. Belohnungen des Managements, die einzelne Zusteller herausheben sollen, etwa sogenannte Performance-Jacken für besondere Leistungen, werden von den Zustellern abschätzig betrachtet. Wer sich dem schönen Schein einer solchen Auszeichnung hingibt, kann auf deren Solidarität nicht mehr zählen.

Die Sickerdynamik der Macht und ihre Effekte Die Kombination aus Rationalisierungs- und Kontrollstrategien sowie das Organisationsmodell führen zu vier ordnungsrelevanten Effekten: Erstens wird aus Materialität Macht. Die Sickerdynamik der Macht in der Arbeitssituation produziert systematisch ergebnisbezogene Unsicherheit. Denn die Unternehmensleitung kann ja nie wissen, ob in den Teams die gewünschte Kontrolle zur Leistungsverausgabung auch wirklich erfolgt. Daher reagiert sie einerseits mit der Drohung durch das immer mögliche Qualitätsmanagement und mit paradoxen Formalisierungsmaßnahmen, die ihrerseits effektiv eine ambivalente Form der Autonomie der ausführenden Ebene stärken. Dies zeigt sich etwa in der Politik bezüglich der »Spezialschlüssel«, die offiziell verboten wurden, aber weiterhin systematisch zum Einsatz kommen. Einerseits materialisiert sich hierin eine spezifische Schutzlosigkeit der Zusteller, da sie ihr etabliertes Verhalten in die potenzielle Geiselhaft des Qualitätsmanagements führt. Andererseits liegt in dem Widerstand, der durch das Ignorieren der Anordnungen der Unternehmensleitung erfolgt, ein Moment der Erfahrung von Selbstwirksamkeit, das einen Anspruch auf Autonomie begründet, der sich in der Disziplinierungsmacht der ausführenden Ebene ausdrückt.

137 Seien es Springer oder einfache Zusteller.

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Zweitens basiert diese Macht auf einem konstitutiven Misstrauen innerhalb der ausführenden Ebene. Diese ist einerseits gestärkt, weil ihr selbst die Kontrolle über die Leistungsverausgabung zukommt. Die Zusteller müssen sich daher insoweit vertrauen, als sie davon ausgehen müssen, dass jedes Teammitglied auch wirklich die notwendige Leistung bringt.138 Da der Hauptteil der Leistungsverausgabung eines Zustellers zugleich jenseits der Überwachung durch Kollegen erfolgt – denn er ist ja alleine unterwegs auf den Straßen seines Zustellgebietes –, bleibt die Kontrolle durch das Team stets prekär und systematisch unvollständig. Der Effekt ist ein konstitutives Misstrauen innerhalb der Kollegenschaft. Die einzige Möglichkeit, Vertrauen auf Dauer zu stellen, ist, Leistung zu bringen. Die Solidarität des Teams endet dort, wo ein systematischer Abfall der Leistungsveräußerung von Kollegen bemerkt wird. Dies führt drittens zu Konfliktmustern personengebundener Macht auf horizontaler, aber auch auf vertikaler Ebene. Gibt ein Zusteller den Kollegen Grund zu der Annahme, ein sogenannter »Flatliner«139 zu sein, wird er zunächst von den Kollegen ins Gebet genommen. Kann er keinen guten Grund für die mangelnde Leistung nennen, so wird er in der Folge angehalten, sein Verhalten zu ändern. Erfolgt eine solche Verhaltensänderung nicht, wird über den zuständigen Springer oder das Qualitätsmanagement eine Überprüfung seiner Leistung beantragt und damit der Weg zur Kündigung geebnet. Damit ist auch die letztlich vertikal erfolgende Kontrolle durch das Qualitätsmanagement, wie gesagt, häufig horizontal, also durch Kollegen gleichen Rangs, induziert. Der alltägliche Zuschnitt dieses Umstandes zeigt sich in latenten, aber auch manifesten Konflikten innerhalb der Arbeitssituation, die harte Folgen zeitigen können. Ein Beispiel im Narrativ eines Zustellers: »Na ja, ich hab Abbruch gehabt, und der [Kollege] meinte, ›das war ja wohl ’n Witz mit dem Abbruch.‹ Hat er vor Kollegen gesagt. Also= […] Ja. Also,

138 Denn die Autonomie der ausführenden Ebene besteht ja nur so lange, wie die

Zahlen stimmen, da andernfalls mit der Kontrolle durch das Qualitätsmanagement und damit im Effekt mit Sanktionen zu rechnen ist. 139 Der Begriff geht auf den Unternehmensgründer zurück, der damit zum Ausdruck bringen wollte, dass manche Zusteller nicht die notwendige Leistungsbereitschaft hätten, sondern dass ihre Leistung eben in einer flachen Linie immer gleich bleibe.

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quasi der Vorwurf […] ›Äh, wat machst du da eigentlich draußen?‹ […] Und ich glaube ja, dass er auch [dem Depotleiter] so was mal gesteckt hat irgendwann. Weil äh, die hingen schon zusammen immer ein bisschen ab […]. Und das war natürlich auch wieder nach meiner Zeit, äh, in der Krankheit. […] Ich glaube eher, er is, äh, wirklich so ’n Typ, er glaubt wirklich, er ackert wie ’n Tier, und alle anderen, äh, haben nix zu tun. […] find ich auch wirklich, äh, finster an ihm, er hat wirklich auch dafür gesorgt, dass einige Leute, äh, nich mehr bei uns sind.« Ein vierter Effekt besteht daher in dem Umstand, dass der Wandel der Unternehmenskultur von einer vergemeinschaftenden Logik in der Anfangszeit zu der Trickle-down-Logik der Gegenwart wiederum vergemeinschaftende Aspekte zeitigt. Diese neue Form der Assoziation erfolgt auf der Ebene der Teams, die Autonomie erwerben, indem sie Kontrollfunktionen übernehmen. Anders gesagt: Die Entgemeinschaftung der Unternehmenskultur führt zu einer neuen Form repressiver Vergemeinschaftung durch personengebundene Macht, die Inklusion und Exklusion in die Arbeitssituation und letztendlich in das Unternehmen regelt. Solidarität ist daher eine ambivalente Angelegenheit, wie ein Zusteller es zusammenfasst: »Also, es gibt auf jeden Fall ’ne Atmosphäre, würd ich sagen, unter den Zustellern […] so von wegen, ›Ach, du hast ja nix, und, äh, ick hab viel mehr.‹ Und das sind immer so ’ne Sticheleien irgendwie, die so als Scherz verpackt sind […].›Ach, der is schon wieder vor mir drin‹, oder so, weißte? Hast gedacht, ›Er is doch nach mir rausgefahren. Wie kann denn der vor mir wieder drin sein irgendwie?‹ Dass du dann selber, äh, so denkst, ›Ach, der hat da bestimmt ’ne Tour, die, äh, äh, die er ganz locker schafft, und meine is, äh, viel schwerer.‹ Und dieses Denken is ’ne Berufskrankheit. Das denken alle. Alle denken, sie hätten die schlimmste Tour, und, äh, sie sind die Einzigen, die hier richtig ackern müssen. […] Also, ((zieht Luft ein)) also, mh, Solidarität gut, is bestimmt vorhanden irgendwie. Aber sie zeigt sich einfach nich so ganz deutlich.«

Kollektive Autonomie und repressive Vergemeinschaftung Der Ordnungsmechanismus der Arbeitssituation bei Superpost steht also ebenfalls im Zeichen spezifischer Rationalisierungsstrategien, die die Tätigkeiten der Zusteller tendenziell qualitativer Standardisierung und quantitativer Universalisierung unterwerfen. An268

ders als etwa im Bereich konsumorientierter Dienste eröffnet die Materialität der Tätigkeiten allerdings die Möglichkeit zu einer motivational wirkmächtigen Deutung der Arbeit: Sie erfolgt in weiten Teilen autonom und ist von dem Ziel getragen, am Feierabend reinen Tisch gemacht zu haben, auch wenn dieses Ziel systematisch verfehlt wird. Das Handeln der Zusteller ist im Kern auf den Erhalt und die Reproduktion ihrer Autonomie gerichtet, die durch die »Sickerdynamik« betrieblicher Macht gestützt wird. Folge dieser primär durch die Materialität der Arbeit induzierten Situation ist allerdings auch ein konstitutives Misstrauen innerhalb der ausführenden Ebene, das sich in Formen repressiver Vergemeinschaftung niederschlägt. Kontrolle auf horizontaler Ebene regelt Einschluss und Ausschluss. Ähnlich wie im Falle von U&S ist das Team dabei die entscheidende Instanz der Disziplinierung, die über personengebundene Macht erfolgt. In der Summe bedeutet dies, dass sich eine Art Kuhhandel zwischen Kontrollstrategien und Organisationsstrukturen einerseits und dem vom Autonomieversprechen der eigenen Arbeit getragenen Handeln der Zusteller andererseits ergibt: Die Zusteller gewinnen Autonomie durch die Übernahme von Kontrollfunktionen – sie bearbeiten gewissermaßen das Transformationsproblem. Solange die Zahlen stimmen, lässt man sie weitgehend in Ruhe. Dieser Umstand wird nur scheinbar konterkariert durch die Tatsache, dass sich die Teams als solidarische Einheiten erfahren, die sich geschlossen gegen die Unternehmensleitung positionieren können. Denn es ist ja gerade die Autonomie von deren Kontrolle, die sie durch die Übernahme selbiger sichern. Diese Dynamik führt zum einen zu einem recht hohen Verschleiß an Personal, weil nicht viele zur permanenten physischen Verausgabung fähig sind und die Leistungsverausgabung den Körper auf Dauer ruiniert. Zum anderen liegt gerade in dieser Dynamik ihre eigene Reproduktion begründet: Denn gerade weil ein hoher Personalverschleiß herrscht, wird ständig frisches Blut in Form neuer Zusteller in die Adern der Arbeitssituation gepumpt. Die Neuen wiederum erhöhen den Druck auf die Etablierten, weil sie nicht nur durch die »materialen Verlockungen« der Arbeit, sondern auch über ihre Vertragssituation (Befristung) eine besondere Leistungsmotivation erfahren. Auch hier zeigt sich also wieder eine systematische Form der Unterschichtung, in diesem Fall eine Unterschichtung der Arrivierten durch die neuen Mitarbeiter. Wie im Falle von Discount oder U&S ist diese 269

Dynamik Teil eines Ordnungsmechanismus der Arbeitssituation, in dem personengebundene Macht die primäre Erfahrung der Beschäftigten bildet.

Verteilen in der dritten Reihe Wenn sich in der Zustellbranche Superpost in der zweiten Reihe hinter der Deutschen Post AG befindet, so bilden die Zeitungszusteller von Newsfeed im besten Falle das dritte Glied.

Betrieb ohne Betrieblichkeit Die Arbeit der Zeitungszusteller gilt häufig als Schüler- oder Rentnerjob. Was für bestimmte Regionen und bestimmte Typen von Zustellprodukten (beispielsweise Werbeprospekte) teilweise stimmen mag, gilt für einen großen Teil der Zustellarbeit allerdings nicht. Ein Schüler könnte den Job im untersuchten Fall gar nicht machen, schon allein aus zeitlichen Erwägungen. Denn eine Schicht beginnt zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens und endet nicht vor sechs Uhr früh. Der eine oder andere Rentner verdingt sich tatsächlich als Zeitungszusteller. Die Routen dieser Gruppe sind allerdings im untersuchten Bereich überschaubar. Dennoch zeigt sich, dass das Image der Zeitungszustellung als Schüler- und Rentnerjob anderweitige Konsequenzen hat.140 Die Arbeit der Zusteller war im untersuchten Unternehmen zu einem bestimmten Zeitpunkt in eine größere Verlagsgesellschaft eingegliedert, oder die Zusteller waren direkt bei einer Zeitung angestellt. Das hatte zur Folge, dass sie in den Genuss der Vorteile arbeitsrechtlich und tarifpartnerschaftlich regulierter Arbeitsverhältnisse kamen. Es galten Mantel- oder später verstärkt Haustarifverträge, die auf Basis einer Arbeitnehmerorganisation ausgehandelt wurden, in der den Zustellern Kollegen aus anderen Bereichen des Zeitungsoder Verlagswesens zur Seite standen. Dieses Gefüge hat sich in den letzten 20 Jahren stark verändert. Laut ver.di sind nur noch eine kleine Zahl von Arbeitsverhältnissen

140 Schon hier sei erwähnt, dass sich etwa kaum Angebote für Arbeit in diesem Bereich finden, die über eine Beschäftigung auf 400-Euro-Basis hinausgehen.

Auf dieser Basis allerdings finden sich immer Jobs.

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in diesem Bereich in signifikanter Weise reguliert. Unter anderem in Zusammenhang mit der Liberalisierung des Postmarktes wurden die Belegschaften in den Zustellabteilungen der Verlage abgebaut oder gleich in einer eigenen Firma organisiert. Anfang der 2000er Jahre expandierten zeitgleich private Postdienstleister wie Superpost bundesweit. Die Zeitungszustellung hingegen ging meist über auf kleinere regionale Zustellgesellschaften. Im Falle von Newsfeed hat sich diese Situation auf verschlungenen Wegen etabliert. Noch Mitte der 1990er Jahre war das regionale Zustellgebiet, in dem sich die Arbeitnehmer noch immer bewegen, zwischen zwei Zustellgesellschaften aufgeteilt, die jeweils zu einer der beiden großen lokalen Tageszeitungen der Gegend gehörten. Diese beiden Unternehmen entschieden sich irgendwann zu kooperieren. Wo bisher jede Zeitung von einem eigenen Zusteller ausgetragen wurde, kam nun nur noch einer zum Zug. So ergab sich auf dem lokalen Markt eine Monopolstellung in Sachen Zustellung, die erheblichen Einfluss auf die Arbeitsbedingungen ausübte, die in der Folge über die Steigerung der Angebotspalette und des quantitativen Zustellaufkommens pluralisiert und verdichtet wurden. Ein wenig später setzte noch ein zweiter Prozess ein: Die Zustellung bei den beiden kooperierenden Zeitungen findet nur noch statt, weil es bestimmte Betriebsvereinbarungen gibt, die den Abbau der Belegschaft verlangsamen. Die Zustellung wird bereits seit Jahren sukzessive an eine Drittfirma ausgelagert. Nur dort erfolgen noch Neueinstellungen. Alle Aufträge (Routen etc.), die frei werden, gehen direkt auf die neue Zustellgesellschaft über. Dies hat allerdings keinen kompletten Austausch der Belegschaften zur Folge: Aufträge und Arbeitgeber mögen wechseln, doch der Ort der Arbeit bleibt für die Arbeitnehmer gleich, es herrscht Arbeitskontinuität trotz des Wechsels des Arbeitgebers. Der typische Zusteller ist derzeit entweder voll bei der neu gegründeten Firma angestellt, oder er arbeitet zusätzlich noch für eine der alten Firmen. Die Arbeitsbedingungen haben sich in der Folge sukzessive verschlechtert. Für die neue Zustellgesellschaft gelten keinerlei tarifliche Regelungen mehr. Geht ein Zusteller in Urlaub, gibt es auch keinen Lohn mehr, weil dieser anteilig jeden Monat auf das Gehalt angerechnet wird. Die meisten Arbeitsplätze in der Zustellbranche sind 400-Euro-Stellen. Gerd – ein interviewter Zusteller – hat gleich drei davon, was natürlich nicht gleich bedeutet, dass er drei mal 400 Euro verdient. Aber er ist eben sowohl bei der neu gegründeten Firma, als 271

auch bei deren beiden Vorgängern angestellt. Relativ selten gibt es »feste« Arbeitsverhältnisse, wie etwa im Falle eines anderen Zustellers, der als Springer eingesetzt wird. Er arbeitet an sechs Tagen der Woche – sechs Nachtschichten à fünf bis sechs Stunden und dazu zwei circa drei- bis vierstündige Tagesschichten und erhält dafür im Schnitt 900 Euro Monatslohn netto. Für die große Mehrzahl der Arbeitsverhältnisse gilt allerdings eine Entlohnung nach Stückpreis. Rechnet man diese auf Stundenlöhne um, so kommt man in der Regel auf Beträge zwischen vier und acht Euro. Mit der Entlohnung nach Stückpreis geht natürlich ein strukturelles Risiko für die Beschäftigten einher. Denn verringert sich die Zahl der Zustellungen auf den Routen, verringert sich auch der Lohn, selbst dann, wenn kaum eine Arbeitszeitreduzierung stattfindet, weil sich zwar die Anzahl der Sendungen, aber nicht die Touren als Ganze verändern.141

Dynamische, Absteiger, Patchworker Anders als im Falle von Superpost, wird bei Newsfeed weder in Teams noch mit eigener Räumlichkeit gearbeitet. Die Arbeit ist hier qualitativ stärker standardisiert, weil die Zusteller ihre Touren nicht mehr selbst zu packen haben. Sie nehmen die Zeitungen vor dem Zentrallager oder an einer Tankstelle auf, an der sie ein Fahrer abliefert. Anschließend geht es, je nach Tour, mit dem Fahrrad oder einem größeren schiebbaren Wagen in die Zustellung. Springer, die mit dem Privileg einer Festanstellung gesegnet sind, haben die Pakete vorher im Lager gepackt. Die anderen Zusteller rufen gegen drei Uhr nachts bei einer Gratisnummer an, auf der ihnen mitgeteilt wird, wann sie wie viele Zeitungen aufzunehmen haben – das ist ihr einziger regulärer Kontakt zum Arbeitgeber beziehungsweise zu Kollegen im Arbeitsalltag. Im Arbeitsprozess sind sie effektiv weitgehend isoliert.142

141 Der Lohn ist also sowohl räumlich als auch zeitlich determiniert. Räumlich,

weil unterschiedliche Touren unterschiedlich lange Austragezeiten bedeuten, zeitlich, weil mit schneller Arbeit der effektive Stundenlohn gesteigert werden kann. Zwar gibt es für weite Strecken, ebenso wie für Nachtarbeit, Zulagen. Deren Systematik wird allerdings von den Zustellern nicht durchschaut, erscheint diesen vielmehr als eine willkürliche Angelegenheit. 142 Hier erinnert die Situation der Zusteller an die der Dienstleister in Privathaushalten, die ebenfalls kaum Kontakt zu ihrem eigentlich Arbeitgeber haben.

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Verschiedene Typen von Arbeitnehmern finden sich im Feld der Zeitungszustellung. Ähnlich wie bei Superpost sind Männer in der klaren Überzahl. Eine weitere Parallele ist die entscheidende Bedeutung der Kategorie des Alters: Dynamische junge Männer unterschichten die Alteingesessenen. Erstere ermangeln der Privilegien, die ältere Angestellte möglicherweise noch aus einer alten Firma hinüberretten konnten. Ein Zusteller namens Maik steht exemplarisch für eine Gruppe dynamischer junger Männer, die auf Umwegen in die Zustellung geraten sind – beziehungsweise die aus einer »legitimen« Laufbahn heraus im vermeintlichen Zwischenstopp der Zustellung gelandet sind. Maik betreibt die Arbeit seit drei Jahren. Er glaubt seine Position relativ gesichert und hat vermutlich auch recht mit dieser Annahme. Doch in den letzten Jahren, so berichtet er, ist eine weitere Gruppe noch jüngerer Neuankömmlinge in Erscheinung getreten. In Maiks Stadt streben immer mehr junge Schwarzafrikaner in die Zustellung. Sie sind, ähnlich wie Maik, dazu bereit, die harte Arbeit bei Wind und Wetter zu erledigen und an mehrere Nachtschichten in der Woche auch mal ein paar zusätzliche Tagesschichten zu hängen.143 Ein Zusteller namens Gerd steht für eine dritte Gruppe, jene der von langer Dauer Etablierten. Er gehört mit Ende 50 zu den Älteren, wirkt wie eine gealterte Version von Maik. Gerd und Maik sind in der Zustellung gestrandet. Gerd war lange Zeit Fernfahrer, dann arbeitslos. Doch auch wenn er »seinen Traumberuf eigentlich schon hinter [sich] hat«, sieht er in der Zustellung ein familiäres Kontinuitätsmodell. Er ist Zusteller in dritter Generation, hat das Geschäft das erste Mal mit 14 aufgenommen. Sohn und Tochter stellen ebenfalls Zeitungen zu. Der Sohn tut dies in der Regel, bevor er morgens seine Arbeit als KFZ -Mechaniker antritt. Er steht für eine vierte Gruppe innerhalb der Zeitungszustellung. Er ist eine Art Patchworker, für den die Arbeit als Zusteller lediglich eine additive Funktion in Bezug auf seinen eigentlichen Beruf erfüllt.

143 Anders als Maik, der es schätzt, bei der Arbeit seine Ruhe zu haben, überneh-

men die Afrikaner häufig auch interaktivere Tätigkeiten. Ihre Tagesschichten bestehen etwa oft aus dem Verkauf spezieller Zeitschriften in Cafés oder auf der Straße. Sie fungieren dabei als wandernde Kioske.

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Körperliche Arbeit Den Zustellern werden vonseiten der Vorgesetzten kaum Vorgaben bezüglich des genauen Ablaufs des Arbeitsprozesses gemacht. Die Zeitungen müssen raus. Wer schneller fertig ist, steigert aufgrund der Bezahlung nach Stückzahlen de facto seinen Stundenlohn, ohne dass sich freilich etwas am Netto-Gesamtlohn ändern würde. Gerade bei den jüngeren Mitarbeitern zeigt sich dies tatsächlich in einer erheblichen Geschwindigkeit, in der die Arbeit ausgeführt wird. Doch nicht nur die effektive Steigerung des Stundenlohns kann als Grund für diesen auffälligen Leistungsbezug gedeutet werden, denn der Gesamtlohn verändert sich dabei ja nicht. Vielmehr zeigt sich – wie bei Superpost – ein spezifisches Arbeitsethos, das auf den zwei Säulen des Erhalts persönlicher Autonomie und der durch körperliche Verausgabung definierten Leistungsveräußerung basiert. Der Körper ist die zentrale Kategorie, die den Wert der Arbeit bemisst. Maik etwa blickt verächtlich auf die Pförtnertätigkeiten herab, die ihm auf seiner nächtlichen Route immer wieder begegnen: »… das wäre nichts für mich. Ich brauche Bewegung. Außerdem sitzt du dir da nur den Arsch platt. Da hast du nachher einen Arsch wie ein Busfahrer. Und wer will schon einen Arsch wie ein Busfahrer?!« Natürlich unterscheidet sich Maik von der großen Gruppe der »Patchworker«, die gar nicht in die Verlegenheit kommen, ihrer Arbeit in der Zustellung einen besonderen Wert beimessen zu müssen, da diese möglicherweise lediglich eine Nebentätigkeit darstellt. Diese Gruppe tritt der Arbeit in der Zustellung im Kern mit ergebnisorientierten Deutungen entgegen. Die Arbeit ist gut, wenn sie gemacht ist: »… da bleibt nix liegen, ne? Äh, man geht zur Arbeit, man macht seine Arbeit, sozusagen der Schreibtisch is geräumt.« Die Arbeit hat ein Ergebnis. Das macht den Kopf klar. So lange man dem Ganzen keine identitären Aspekte abzuringen versucht, ist auch die Tatsache, dass sich das Ganze jeden Tag von Neuem im Kreis dreht, kein Problem. Bei der Gruppe der Älteren kommt das körperbezogene Deutungsmuster der Jungen in einer anderen Ausformung zum Tragen: Bei ihnen geht es im Kern um Leistungserhalt. Man muss aufpassen, dass man sich nicht verlebt, weil der Körper eben die Grenze bestimmt, entlang derer – wiederum eine frappierende Parallele zu Superpost – der Ausschluss aus der Arbeit geregelt ist. 274

Die positiven Deutungen der Arbeit über körperliche Leistungsveräußerung und Autonomie basieren allerdings wieder auf einer grundsätzlich residualen Wahrnehmung der eigenen Tätigkeit. Fragt man Maik nach seiner Arbeit, wird diese als »lumpiger Job« bezeichnet: »… das ist nicht der optimale Job. Würdest du so was gerne machen?! Also ich würde lieber [was Anspruchsvolleres] machen.« Bleibt im Kern nur der Körper als zentrale Bemessungskategorie der Qualität der Arbeit, dann muss man sich jeden Tag aufs Neue beweisen. Denn die Arbeit zeitigt ja kein bleibendes Ergebnis, und körperliche Erschöpfung muss als erfahrbares Resultat der eigenen Leistung täglich neu hergestellt werden. Aus Sicht des Arbeitgebers mag hierin ein willkommener Umstand liegen, reproduziert sich die Arbeitskraft der Zusteller doch von selbst auf relativ hohem Niveau: Maik treibt sich bei jeder Zustellung selbst zu Schnelligkeit und Gründlichkeit an, weil ihm sonst eben kein anderer normativer Bezugspunkt zur Verfügung steht. Er ist als Einzelner im Arbeitsprozess das, was am Fließband des Industriebetriebs aus Sicht der Arbeiter stets eine große Gefahr darstellte: Er treibt den Schnitt mit jedem Arbeitstag nach oben. Die jungen Neuankömmlinge werden dabei von den etablierteren Zustellern einerseits als Bedrohung betrachtet, eben weil auch sie potenziell den Takt erhöhen und die Arbeit der Etablierten damit in ein schlechtes Licht rücken. Zugleich wird ihnen kein wirklicher Vorwurf gemacht, denn wer bereit ist zu schuften, verdient im Rahmen des körperbezogenen Arbeitsethos Respekt. Die Folge ist allerdings, dass sich die Zusteller selten biografisch auf längere Sicht an die Zustellung binden wollen. Es dominieren Visionen eines Ausstiegs, der in naher Zukunft erfolgen soll. Die teilweise lange Verweildauer in der Tätigkeit legt freilich nahe, dass diese Visionen sich nicht unbedingt materialisieren müssen.

Vergleichgültigung und Aggression Die Arbeit bei Newsfeed unterliegt streng genommen keiner Rationalisierungsdynamik mehr. Diese ist mit der Etablierung der Arbeitsverhältnisse im Rahmen der neuen Zustellgesellschaft insoweit abgeschlossen, dass eine Steigerung im Sinne qualitativer Standardisierung schwer möglich erscheint. Die Arbeit ist so weit standardisiert, dass die Tätigkeiten nicht einmal mehr der Überwachung bedürfen, sondern lediglich über das Modell des Stücklohns gerahmt 275

werden können. Zwar kann es passieren, dass ein Zusteller Zeitungen nicht austrägt. Die Beschwerde des Kunden übernimmt allerdings die Kontrollfunktion im Falle einer solchen Verfehlung. Die Arbeit ist zugleich quantitativ pluralisiert in Form der Multiplizierung der Produkte. Denn bei der neuen Zustellgesellschaft tragen die Zusteller alle am Markt vorhandenen Zeitungsprodukte aus. In einzelnen Fällen werden noch Werbesendungen und gelegentlich auch Briefpost übernommen. Es bleibt zu fragen, ob im Falle von Newsfeed eine spezifische Rationalisierungsdynamik an ihr »natürliches« Ende gelangt ist: Alle komplexeren Tätigkeiten, wie etwa das Packen der Routen, sind aus dem Zuständigkeitsbereich der Zusteller getilgt. Zugleich würde eine stärkere Pluralisierung der Produktpalette144 – beispielsweise wenn auch hier PZA -Produkte übernommen würden – neue Anforderungen an die Arbeitsorganisation stellen: Eine komplexere Produktpalette, so zeigt sich etwa bei Superpost, erzeugt größere Kontrollnotwendigkeiten und organisatorischen Aufwand. Der Versuch weiterer Pluralisierung würde also Folgekosten nach sich ziehen, weil sich etwa bei komplexeren Produkten die Frage nach einer eigenen Räumlichkeit – zum Beispiel zur Protokollierung wie bei Superpost – stellen würde. Die Hierarchien sind bei Newsfeed so klar wie einfach: Unten stehen die Zusteller. Über ihnen gibt es lediglich eine weisungsbefugte Leitungsposition, den sogenannte Inspektor, der allerdings kaum in Erscheinung tritt. Einige wenige Springer besetzen Positionen zwischen diesen beiden Polen, sind allerdings gegenüber den Zustellern nicht weisungsbefugt. Anweisungen erhalten die Zusteller über die erwähnte Gratisnummer. Betriebliche Kontrolle existiert daneben nicht. Kontrollmomente sind, wie gesagt, im Effekt weitgehend auf den Kunden ausgelagert – ein Mechanismus, der bereits aus der häuslichen Pflege und teilweise aus dem Einzelhandel bekannt ist. Zeigt der Kunde Verfehlungen an, hat der Zusteller mit Konsequenzen zu rechnen. Allerdings ist doch auffällig, dass diese relativ gering ausfallen. Die Arbeit ist gewissermaßen so wenig wert, dass man sich sogar willentliche Fehler leisten kann, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. So berichtet ein Zusteller, eine Tour

144 Eine Pluralisierung der Produktpalette könnte sich in Universalisierungsten-

denzen als Rationalisierungsstrategie niederschlagen.

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übernommen zu haben, die er dann willentlich nicht gefahren sei.145 Dies habe er seinem Chef angezeigt. Konsequenzen habe es nicht gegeben. Es ist kaum davon auszugehen, dass sich der betreffende Zusteller ein solches Verhalten dauerhaft leisten kann. Dennoch: Das mangelnde Interesse der Weisungsebene an dieser Verweigerung ist verblüffend. Anders als bei Superpost müssen bei Newsfeed die Mitarbeiter keine »Zahlen bringen«. Es obliegt vielmehr ihnen alleine, ob sie sich dazu entscheiden, die Arbeit zu verrichten oder nicht. Post, die nicht ausgetragen wird, wird eben nicht bezahlt. Damit ist das unternehmerische Risiko nach ganz unten durchgereicht. Der Arbeitnehmer ist in der Arbeitssituation vollkommen isoliert. Aus dieser vertikalen Unterdeterminiertheit ergeben sich im Kern drei Handlungsorientierungen. Erstens ist die Gruppe derer, für die die Arbeit in der Zustellung nur eine additive Ingredienz im Cocktail ihrer Arbeitsbiografie darstellt, von weitgehender Unabhängigkeit und Desinteresse gekennzeichnet. Die Arbeit wird gemacht, weil man das Geld braucht. Jenseits dessen zeitigt sie keine Folgen. Eine zweite Handlungsorientierung wurde anhand von Maiks Beispiel bereits angesprochen: Wer von der Arbeit lebt, der mag den Drang verspüren, dieser eine gewisse Bedeutung beizumessen. Da es nun keine betrieblich formulierten Anhaltspunkte für eine Qualitätsbemessung der eigenen Tätigkeit gibt, erfolgt diese im Kern über den Körper. Gut ist die Arbeit dann, wenn sie schnell ausgeführt wird und physisch anstrengend ist. Im Effekt wird dann vom Arbeitnehmer autonom der Takt der Arbeit immer weiter hochgetrieben. Er handelt also höchst affirmativ, ohne sich dadurch allerdings für ein positives Feedback zu qualifizieren. Denn die Verantwortung für die Ausführung seiner Tätigkeit obliegt ihm ganz alleine. Eine dritte Handlungsorientierung zeigt sich am Beispiel von Gerd. Auch er sucht nach einer Bestätigung für die Qualität seiner Arbeit, ist allerdings schon zu alt, um sich zu immer mehr Leistung anzutreiben. Er muss mit seinen Kräften haushalten. Gerd zeigt nun ganz eigene Handlungsmuster, die sich als Antwort auf den Mangel an expliziter Ordnung »von oben« verstehen lassen. Zunächst einmal sucht er den direkten Kontakt zum Inspektor. An diesen tritt er

145 Er wollte, nach eigenen Angaben, seinem Chef damit eins auswischen.

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beispielsweise mit Verhandlungswünschen bezüglich seines Lohnes heran oder um Hilfe zu erbitten wegen Störungen im Betriebsablauf durch den freilaufenden Hund eines Kunden. In beiden Fällen bleibt der Inspektor schlicht stumm, was bei Gerd zu Frustration führt: »Das gibt dir so ’n bisschen ’ne Aggression, so bisschen Potenzial. Das, äh, komm ich dann nich klar mit ihm, ne? […] Und das sind für mich Sachen, äh, äh, äh, wo’s immer so leichte Reibereien gibt.« Diese leichten Reibereien können mit der Zeit erhebliche Folgen zeitigen. Gerd interpretiert die Haltung seines Chefs zunehmend als offene Missachtung, die hinzunehmen er nicht bereit ist. Als er wegen des gekürzten Wegegeldes an den Chef herantritt, lässt dieser wieder eine konstruktive Reaktion vermissen: »Ja, er hat das so hingenommen. Ich hab ja grade gesagt, als Antwort hab ich dann von ihm bekommen, ›Es gibt Leute, die arbeiten für fünf Euro.‹ Und da hab ich dann zu ihm gesagt, ›Aber ich nicht.‹ […] Ich kann mich eigentlich wehren. [I: Ja. Und wie=wie wehrt man sich?] Ja, mit Worten, mit Taten. Indem ich ihn mal […] nich jetzt durch Schläge […]. Indem ich ihn mal auflaufen lasse. Bei=bei=bei irgendwelchen brenzligen Situationen lass ich ihn mal auflaufen. […] Ja, zum Beispiel, wenn die Zeitung sehr spät kommen, dann sag ich einfach, ich habe was vor, und dann lass ich die Tour einfach liegen. Das is natürlich jetzt die brutale Kelle, ne?« Gerd testet seine Grenzen immer weiter aus und macht die irritierende Erfahrung, dass deren Bemessungsspielraum außerordentlich weit ist. Selbst offene Provokationen wie das Liegenlassen der Ware wird nicht geahndet. Er schafft die Zeitungen in diesem Fall nicht einmal beiseite und sichert sich die Bezahlung für die Route. Nein: Er übernimmt den Auftrag und lässt die Ware dann an der Tankstelle liegen, was einer offenen Provokation gleichkommt.

Isolation, Einzelkämpfertum, Willkür Die strukturelle Isolation in der Arbeitssituation wirkt hier ordnungstechnisch fort. Das »Einzelkämpfertum« in der materialen Dimension der Arbeit wird noch radikalisiert durch den Umstand, dass die Gegenseite kein Interesse an einem Kampf zeigt. Als einziger Gegner bleibt dann die Zeit (Maik), oder es läuft auf reine Frustabfuhr hinaus (Gerd). Nicht nur sind die Zusteller in ihrer Arbeit isoliert. Selbst wenn sie den Chef ansprechen, ja selbst, wenn sie nach Bestrafung rufen, bleibt dieser weitgehend stumm. Autonomie 278

ist daher im Falle von Newsfeed mit Gleichgültigkeit gleichzusetzen. Sie bezieht sich nicht auf die Macht zur Gestaltung der eigenen Arbeit, sondern lediglich auf das zweifelhafte Privileg, sich von der Arbeit weder Zuwendung noch Zwang erwarten zu können. Diese Ausführungen deuten darauf hin, dass Macht in der Arbeitssituation bei Newsfeed eigentlich gar nicht in Erscheinung tritt. Dies ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Zwar gibt es keine irgendwie auf Kollektivität bezogenen Appellationsinstanzen im Unternehmen – weder das Team noch den Kunden oder den Vorgesetzten. Der Zusteller ist auf sich selbst gestellt, aber in der vertikalen Beziehung im Betrieb dennoch auf das Wohlwollen beziehungsweise die Indifferenz des Inspektors angewiesen. Dieser mag sich für die Klagen des einen nicht interessieren, während er für den anderen ein offenes Ohr hat: »Wenn dieser Zusteller zu ihm hinkommt, und der kann grad gut mit jemandem und sagt, ›Mensch, kannst du mir die [Tour] nich geben? Diesen Bezirk. Dafür hör ich mit meinem alten auf.‹ […] Das is ziemlich in der Willkür des Inspektors. Ja? Da redet ihm auch keiner rein dann.« Die eigene Situation ist dann dem persönlichen Gutdünken des Inspektors überlassen. Will man sich den Zugang zu den mageren Privilegien, die in der Zustellung existieren, nicht verstellen, so gilt es, einer Logik der Reziprozität zu folgen: »Eine Hand wäscht die andere« könnte der Leitspruch der vertikalen Machtbeziehung in der Zustellung sein. Das Interessante an dieser Machtbeziehung ist ihre Unberechenbarkeit: Zwar glaubt der Zusteller, sich Privilegien sichern zu können, indem er eine gute Beziehung zu seinem Inspektor unterhält. Ein belastbares Verpflichtungsverhältnis stellt sich jedoch nicht ein, wie die mehrfache Ignoranz des Chefs gegenüber den Klagen des Mitarbeiters zeigt. Die Machtbeziehung folgt einer Logik persönlicher Willkür, weil sie dem Zusteller keine Berechenbarkeit liefert. Auch in Bezug auf horizontale Beziehungen legitimiert die isolierte Situation der Zusteller ein erstaunliches Maß an Skrupellosigkeit, wenn es darum geht, sich Vorteile notfalls auf Kosten von Kollegen zu verschaffen. So ist es beispielsweise nicht unüblich, dass Mitarbeiter sich untereinander die Ware streitig machen, falls der Fahrer nicht vollständig geliefert hat. Fehlen für die Tour eines Zustellers einzelne Exemplare, weil im Lager nachlässig gepackt wurde, so bedient sich dieser an der Lieferung, die für einen anderen Kollegen bestimmt ist. Die Logik lautet: Wer zuerst kommst, mahlt zu279

erst. Wer als Letztes beim Aufnahmepunkt der Waren eintrifft, hat Pech gehabt und muss mit Verdienstausfällen zurechtkommen oder eine neue Lieferung beantragen, die seinen Arbeitstag exorbitant verlängert. Auch gute Routen wecken Begehrlichkeiten. So berichtet Gerd ohne ersichtliche Reue, wie er einem Kollegen, dessen Tour er übernehmen wollte, beim Inspektor angeschwärzt hat. Ein Mangel an körperlicher Leistungsfähigkeit dient dabei als Legitimationsgrundlage: »… is eigentlich traurig, is das. Aber, ich hab den Moment nur an mich selber gedacht. […] Der Mann is ständig krank gewesen. Mal gefahren, mal nich gefahren. ((hustet)) Dann gab es irgendwann=gab’s da mal ein Gespräch, ob das wohl noch, äh, kundenfreundlich is und so was? […] Ich hab das Gespräch gesucht. […] Weil ich wollte diese Tour haben. […] Bringt mir ja wesentlich mehr Geld. […] Es is schon Anschwärzen. […] Ich hab auch wirklich gesagt: ›Mensch, nun macht doch mal irgendwas […]‹, und dann […] hat sich das irgendwann mal so ergeben, dann hab ich die Tour gefahren.«

Arbeit ohne Verpflichtung Zusammenfassend formuliert: Auch bei Newsfeed wurden Tätigkeiten standardisiert und die Produktpalette zugleich in einem überschaubaren Maße pluralisiert. Daraus ergibt sich eine Situation weitgehend entwerteter Arbeit. Es zeigt sich ein Organisationsmodell, das einerseits auf eine Reduktion von Betrieblichkeit setzt, indem es etwa auf eigene Räumlichkeiten oder direkte Kontakte verzichtet, und andererseits über das System des Stücklohns die Verantwortung für die Leistungsverausgabung nach ganz unten durchreicht. Kontrolle ist in der Folge den Zustellern weitgehend alleine überlassen. Nicht einmal um die Überprüfung des Arbeitsprozesses kümmert sich die Leitungsebene in nennenswertem Maße. Weder einer vertikalen Machtbeziehung (Discount) noch einem horizontal funtionierenden Team (Superpost) kommt also die Kontrollfunktion zu, sondern dem im Betriebskontext isolierten Einzelnen: keine Arbeit, kein Lohn! Jenseits institutioneller Regulierung und organisatorischer Eingebundenheit ist die Arbeit auch den Zustellern selbst kaum mehr wert als das Geld, das sie abwirft. Die Folge ist eine extreme Willkürlichkeit effektiver Machtbeziehungen, seien sie nun vertikaler oder horizontaler Art. Denn niemand fühlt sich für den anderen ver280

antwortlich und es herrschen keine offiziellen Regeln der Verfahrensregulierung in Konfliktfällen. Folglich existiert eine große Bereitschaft, sich Vorteile auch auf Kosten von Kollegen zu sichern. Skrupellos wird um die mageren Privilegien gekämpft, die die Zustellung zu bieten hat. Frustration ob der eigenen Isolation drückt sich aber auch in Akten der Widerständigkeit aus, in unterschiedlichsten Praktiken der Devianz, die allerdings kaum Widerhall auf Seiten der Leitungsebene finden. In der Zustellung herrscht ein raues Klima, in dem sich jeder selbst der Nächste ist und in dem sich die Zusteller daher wenig differenzierter Rechtfertigungen bedienen, weil sie kaum eine Idee ihrer Arbeit kennen, die über deren Beitrag für das eigene Durchkommen hinausgeht. Wenn es nur um Geld und den Körper als Kapital und Anrechtsstifter geht, wenn zugleich betriebliche Kontrollmaßnahmen nicht ordnungsstiftend wirken, Kollegen virtuell sind und Arbeit isoliert, dann weht auch in sozialer Hinsicht ein rauer Wind. Volatile personengebundene Macht konturiert eine Arbeitssituation, die in jeder Hinsicht von Rohheit geprägt ist. Wie bei Superpost legitimiert körperliche Schwäche sozialen Ausschluss. Zugleich ist der Körper die Basiskategorie, entlang derer die Arbeitssituation systematisch durch Nachwuchskräfte unterschichtet wird.

Unintendierte Komplizenschaft Ähnlich wie in den konsumorientierten Diensten unterliegt also die Arbeit in der Distribution spezifischen Rationalisierungsstrategien, die mit qualitativer Standardisierung in Kombination mit quantitativer Pluralisierung146 operieren, wobei sich aus beiden Faktoren auch Arbeitsverdichtungen ergeben. Die Distribution startet allerdings mit ungleich schlechteren Voraussetzungen: Eine vermeintlich unberechenbare und daher schwer standardisierbare Dimension wie Interaktivität hat die Arbeit schlicht nicht zu bieten. Dennoch ist auch hier der Aspekt, in dem die Arbeit die größten Potenziale zur Erfahrung persönlicher Autonomie bietet, der Knackpunkt in Sa146 Hier wird der Begriff »Pluralisierung« in Anschlag gebracht, weil neue Tätig-

keiten in den Arbeitsprozess integriert werden und nicht, wie im Falle der »Universalisierung«, vorhandene Tätigkeiten auf mehrere Beschäftigte verlagert werden. Prinzipiell handelt es sich freilich um analoge Prozesse.

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chen Rationalisierung: Im Falle der Distribution betrifft dies nicht die interaktiven Teile der Arbeit, sondern die effektive Autonomie, die sich im Prozess der Zustellung, die alleine und weitgehend unabhängig von Kontrollmöglichkeiten durchgeführt wird, ausdrückt.147 Während bei Superpost im Zuge eines Trickle-down-Effektes von Macht das Team der ausführenden Ebene selbst weitgehende, aber informelle Disziplinierungsfunktionen übernimmt, ist dies bei Newsfeed dem Einzelnen überlassen. Jeder ist hier nur für sich selbst verantwortlich. Das System des Stücklohns vermittelt diese Nachricht ganz und gar unmissverständlich. Wer nicht schnell arbeitet, verdient eben kein Geld. Dass eine solch radikale Reduktion vertikaler Ordnungsaspekte überhaupt möglich ist, liegt auch im Ausmaß der Standardisierung der Tätigkeiten bei Newsfeed begründet. Die Tätigkeiten der Zusteller sind so weit standardisiert, dass sie ohne eigene Räumlichkeit und auch weitgehend ohne effektive Weisungen auskommen. Bei Superpost ist dagegen eine ausreichend differenzierte Produktpalette und zugleich die Notwendigkeit gegenseitiger Unterstützung unter den Kollegen vorhanden, sodass das Team als betriebliche Einheit die entscheidenden Machtressourcen bündelt. Anders gesagt: Der Faktor quantitativer Pluralisierung ist in der Rationalisierungsgleichung von Superpost weit bestimmender als im Falle von Newsfeed. Diesen Umstand in Rechnung gestellt, scheint daher der Aspekt quantitativer Pluralisierung eher eine Art Zwischenstadium im Rationalisierungsprozess zu sein. Inwiefern quantitative Pluralisierung zum Zuge kommt, scheint sich an den spezifischen materialen Differenzen einer jeweiligen Tätigkeit zu bestimmen. Doch ist im Augenblick ja noch nicht das Feld einfacher Dienste als Ganzes das Ziel der Analyse. Bleiben wir also einstweilen beim Bereich der Distribution, so zeigt sich, ähnlich wie im Einzelhandel, eine Virulenz personengebundener Machtausübung als Effekt der beschriebenen Rationalisierungsstrategien und der Arbeitsori147 Eine Überwachung durch GPS -Verfolgung, wie sie etwa von der DPAG be-

kannt ist, hat sich bisher weder bei Superpost noch bei Newsfeed etabliert. Gerade im letzteren Falle würde dies auch überraschen, läge hierin doch eine Investition, die im Widerspruch zur Basisoperation der Kostensenkung stünde. Außerdem hat sich in beiden Fällen ein Weg etabliert, über den die Veräußerung von Leistung recht erfolgreich operationalisiert wird.

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entierungen der Zusteller: Diese bestimmen den Wert ihrer Arbeit im Kern über körperliche Leistungsverausgabung und die Autonomieerfahrung in der Zustellung. Letztere können sie bei Superpost nur aufrechterhalten, wenn sie bestimmte Normzahlen erfüllen. Die Dimension des Körpers dient der Wertbemessung der eigenen Tätigkeit und wird in der Folge zur entscheidenden Kategorie machtförmiger Konflikte im Team, die letztlich Inklusion und Exklusion aus der Arbeitssituation regeln. Im Falle von Newsfeed ist diese Dynamik insofern radikalisiert, als dass nicht mehr Teameinpassung, sondern reine Selbstdurchsetzung der soziale Treibstoff der Konflikte ist. Effektive Sanktionen werden in beiden Fällen über eine Interaktion der ausführenden Ebene mit der Leitungsebene durchgesetzt – im Kern über das Melden und Anschwärzen von Kollegen. Auch die Figur der Unterschichtung findet sich im Bereich der Distribution, allerdings wiederum in anderer Gestalt als bei den konsumorientierten Diensten. Zeigten sich dort noch Unterschichtungsphänomene, die im Kern entlang der Dimension der Vertraglichkeit erfolgten, so ist in der Distribution der entscheidende Faktor der Körper. Es ist das Alter, mit dem zwangsläufig die körperliche Leistung abnimmt, die in beiden vorgestellten Fällen die Exklusion aus der Arbeit regelt. Der Effekt ist jedoch der Gleiche wie im Falle des betreuten Konsums: Unterschichtungsphänomene machen Druck und in der Distribution auch Beine: Die Jungen sind in beiden Fällen ein Drohpotenzial, das die eigene Überflüssigkeit projiziert, indem es den Leistungsschnitt hochtreibt. Dabei wäre es, wie gesagt, ein Fehlschluss, hierin nur eine manageriale Strategie zu sehen. Es sind die Zusteller selbst, die im Rahmen ihres körperbezogenen Arbeitsethos die Legitimationsgrundlage für Ausschluss in der bedingungslosen Bereitschaft zur Leistungsveräußerung sehen. So scheint auch hier die Materialität der Tätigkeit den Schlüssel zur Analyse der Herrschaftslogik zu bieten. Der materiale Zuschnitt des Arbeitsprozesses durch Dynamiken der Rationalisierung verdeutlicht außerdem, dass sich auch die DPAG , Superpost und Newsfeed in einem Unterschichtungsverhältnis befinden. Alle drei Unternehmen operieren auf dem gleichen Markt, wobei die Spezifik der Produktpalette von der DPAG über Superpost zu Newsfeed abnimmt. Superpost versucht dabei, die DPAG am unteren Rande ihrer Produktpalette systematisch zu un283

terbieten.148 Newsfeed operiert mit der gleichen Taktik, indem am unteren Rand der Produktpalette von Superpost Aufträge eingeworben werden.149 Auch materielle Privilegien nehmen mit der Durchsetzungsintensität der Rationalisierungsstrategien im genannten Dreischritt ab. Löhne sinken, atypische Vertragsformationen150 nehmen zu. Der Wert der Arbeit, sei es nun in ihrer materiellen Vergütung, sei es in Bezug auf ihre Deutung durch die Arbeitnehmer, nimmt entlang der Durchsetzung der Rationalisierungsstrategien ab. So steigt die Zahl derer, die die Arbeit zwar ausführen, ihr aber tendenziell keine tiefergehende Bedeutung mehr abzuringen versuchen. Es ist außerdem zu fragen, inwiefern sich im Modell Newsfeed auch ein Prototyp für die Entwicklung höherwertiger Postdienstleistungen wie jenen von Superpost findet: Andere Post- und Paketservices arbeiten stärker mit Modellen von Stücklohn und Arbeitsprofilen, die an selbstständige Tätigkeiten erinnern, als dies im Falle Superpost zu beobachten war. Die Unterschichtung wäre dann eine Dynamik, die im Bereich der Distribution möglicherweise noch raumgreifender wäre als in den doch recht stark segmentierten Unterbereichen des Einzelhandels.

Vergemeinschaftung und Vereinzelung Fragt man nun nach Konsequenzen der betrieblichen Situation für Aspekte der Lebensführung im Bereich der Zustellung, so ist man auf einige Besonderheiten verwiesen. Innerhalb des vorliegenden Samples nimmt die Distribution schon deswegen eine Sonderstellung ein, weil die Arbeitnehmerschaft hier vornehmlich männlich ist. Umso interessanter ist es, dass die hohe Bedeutung, die dem Körper hier in der Bewertung der eigenen Tätigkeiten beigemessen wird, sich auch im weiblich dominierten Einzelhandel151 findet. Das legt die Hypothese nahe, die Ursache hierfür in Gemeinsamkeiten beider Tätigkeitsbereiche, wie ihrem materialen Zuschnitt, zu su148 Dies ist beispielsweise der Fall, wenn beide um die Ausschreibung der Exklu-

sivrechte auf die Zustellung von lokaler Behördenpost konkurrieren. 149 Etwa für Werbeprospekte oder Briefe. 150 Befristungen, geringfügige Beschäftigung, Multijobbing etc. 151 Beschrieben etwa im Fall von U&S und Discount.

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chen, statt im Körperbezug ein exklusiv männliches Deutungsmuster zu vermuten. In den Modellen privater Lebensführung zeigen sich allerdings deutliche Unterschiede zwischen einem vornehmlich weiblichen Arbeitsbereich wie dem Einzelhandel und einem dominant männlichen Feld wie der Distribution: Die Zusteller der untersuchten Unternehmen sind beispielsweise häufig kinderlos und ohne feste Partnerschaft. Danach gefragt verweisen sie darauf, dass dies eine Konsequenz des zu niedrigen Einkommens sei. Kinder glauben sie sich schlicht finanziell nicht leisten zu können. Tatsächlich liegt die Annahme nahe, dass ein geringer Verdienst nicht das dominierende Motiv oder zumindest nicht die einzige Motivation für den spezifischen Beziehungsstatus ist. Eher gilt es auf ein Konglomerat verschiedener Faktoren hinzuweisen: Die langen Arbeitszeiten, die harte körperliche Beanspruchung, die lange Ruhezeiten nach sich zieht, und nicht zuletzt das häufig noch recht junge Alter der Zusteller sind solche Aspekte, denen jeweils ein gewisser Einfluss auf den typischen Zuschnitt individueller Familiensituationen zukommt. Es ist die Gestalt der Arbeitssituation als Ganzer, die einen unübersehbaren Schatten auf die Bedingungen der Lebensführung wirft. Die Distribution ist, wie beschrieben, von Rationalisierungsstrategien gekennzeichnet, die in unterschiedlicher Intensität zur Durchsetzung gelangt sind. Die je spezifische Ausformung des Rationalisierungsmodus kann geradezu antipodische Phänomene auf der Ebene der Arbeitssituation bedingen: Im Falle von Superpost wird betriebliche Kontrolle durch horizontale Macht in Teams substituiert und damit gewissermaßen vergemeinschaftet. Vergemeinschaftung spielt dagegen bei Newsfeed gerade keine Rolle, da die Arbeitnehmer ihre Tätigkeiten weitgehend isoliert vollziehen. Diese Isolation fördert Dissoziationsphänomene. Interessanterweise finden gerade die Faktoren Vergemeinschaftung und Isolation ihren Spiegel im Bereich alltäglicher Lebensführung. Dies wird im Folgenden anhand zweier Beispiele ausgeführt. Erstens wird über die typische Freizeitgestaltung und Familiensituation der Zusteller von Superpost zu reden sein. Sodann wird das Beispiel Maiks, Zusteller bei Newsfeed, verdeutlichen, inwieweit selbst eine in hohem Maße destrukturierte Arbeitssituation deutliche Folgen für die Lebensführung zeitigen kann.

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Assoziieren Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf eine Gruppe von circa zehn Zustellern der Firma Superpost, mit denen ich mich über den Zeitraum mehrerer Monate immer wieder in unterschiedlichen Zusammenhängen getroffen habe. Anders als im Rest des Feldes waren die Treffen verhältnismäßig leicht zu arrangieren, weil sie auch ohne meine Beteiligung stattgefunden hätten. Die Zusteller, die zu circa zwei Dritteln im gleichen Depot arbeiten, treffen sich regelmäßig mindestens an zwei Abenden in der Woche in großer Runde. Der Ort dieses Treffens ist eine verrauchte Kneipe mit schummrigem Licht in einem der Randbezirke der Stadt, nicht weit vom Ort der Arbeit. Die Zusteller kommen zum größten Teil mit dem Fahrrad.152 Die Treffen werden von allen Beteiligten regelmäßig wahrgenommen. Ein Fehlen fällt auf und führt zu besorgten Nachfragen. Welche Bedeutung diese Zusammenkünfte für die Zusteller haben, wird klar, wenn man sich deren Zeitbudget verdeutlicht. Ihr Arbeitstag beginnt an sechs Tagen in der Woche um halb sieben Uhr morgens und endet selten vor sechzehn Uhr. Vor siebzehn Uhr sind die wenigsten Zusteller zu Hause. Die Zeit, die dann bleibt, wird in der Regel für die körperliche Regeneration genutzt. Gerade Mitarbeiter jenseits der dreißig verweisen darauf, keinerlei Hobbys zu haben, weil die Arbeit ihnen jedwede Kraft für weitere Aktivitäten raubt. Zu Hause werden dann vor allem die Füße hochgelegt. Haushaltsarbeit ist in dieser Rechnung noch nicht erledigt, und dennoch verpassen die Zusteller kaum eine Gelegenheit, an den regelmäßigen Treffen teilzunehmen. Sie kommen dann direkt von der Arbeit in die Stammkneipe, in der sie immer dieselbe große Tafel besetzen. Ein kleines Pils kostet hier 90 Cent. So ist auch mit geringen Ausgaben die Versorgung mit Alkohol gesichert. Die Gespräche drehen sich meist um die Arbeit oder um Fußball. Die Gruppe besteht aus Anhängern des lokalen Vereins. Die Zusteller treffen sich gegen siebzehn Uhr. Eine Stunde und einige Biere später geht dann meist eine Delegation von zwei bis drei Zustellern zu einem nahe gelegenen Imbiss und holt das Abendessen – Döner

152 Das Arbeitswerkzeug ist auch das Fortbewegungsmittel der Wahl in der Frei-

zeit. Nur einer aus der Gruppe besitzt überhaupt ein Auto.

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oder Pizza. Das kann in der Kneipe konsumiert werden, weil diese selbst keine Speisen anbietet. Gegen 23 Uhr oder früher löst sich die Gruppe auf, da die meisten am folgenden Tag arbeiten müssen. Man geht in einvernehmlichem Klagen über den zu erwartenden Kater, der zugleich als Auszeichnung der eigenen Nehmerqualitäten gilt, auseinander. Anwesend sind am nächsten Tag in der Regel alle. Auch außeralltägliche Rituale teilt die Gruppe. Urlaub im Ausland gönnen sich die wenigsten. Dafür hat sich die Tradition etabliert, mindestens einmal im Monat gemeinsam für einen Tag in ein osteuropäisches Nachbarland zu fahren. Man trifft sich in den frühen Morgenstunden am Hauptbahnhof und fährt gemeinsam in Regionalzügen etwas mehr als zwei Stunden zur Grenze, die dann zu Fuß überquert wird. Als Fahrkarte wird ein regionales Sonderangebot der Bahn genutzt: Ein Gruppenticket für fünf Personen, das 30 Euro kostet und den ganzen Tag gilt. Die Zusteller achten peinlich genau darauf, in Gruppen von fünf oder zehn Personen zu reisen, um diesen Preisvorteil voll auszuschöpfen. Im Nachbarland wird dann meist ein Gasthaus besucht, in dem ordentlich gegessen und getrunken wird. Anschließend wird ein Markt aufgesucht, auf dem sich die Gruppe mit 2-Liter-Plastikflaschen regionalen Biers und Zigaretten eindeckt. Da die Anzahl an Zigaretten, die frei importiert werden können, sich nach den Aufenthaltstagen bemisst, wird manchmal eine günstige Übernachtung gewählt, um anschließend mehr Zigaretten einführen zu können. Abends geht es zurück in die Heimatstadt. Die ganze Reise ist ein Exempel für den methodisierten Charakter der Lebensführung, die sich unter anderem durch die Fähigkeit auszeichnet, sich bestimmte Annehmlichkeiten auch unter den Bedingungen knapper Ressourcen beschaffen zu können. Mit Stolz berichten die Zusteller im Detail über die Ersparnisse, die ihnen die genaue Planung der Reise ermöglicht. Als die Bahn für eine gewisse Zeit das genannte Regionalticket nicht mehr anbietet, finden dementsprechend auch keine Fahrten mehr statt. Außerdem klagen die Zusteller, dass sich die Gastronomiepreise in der Grenzregion denen in ihrer Heimatstadt über die Jahre angeglichen hätten, weswegen das Einkehren nicht mehr entscheidend billiger wäre. Einige Zusteller haben in der Folge dafür plädiert, lieber auf dem Markt zu essen. Einstweilen haben sie dies jedoch noch nicht umgesetzt. Stattdessen 287

verweisen sie darauf, dass das Essen zwar ähnlich teuer, aber weit reichhaltiger sei und in größerer Menge serviert werde.153 Dennoch sind die Reisen seltener geworden, was nicht zuletzt daran liegt, dass einer der Zusteller das Geschäft mit den Zigaretten für sich entdeckt hat. Er hat sich ein Auto zugelegt und fährt nun jedes Wochenende ins Nachbarland. Er meldet dabei eine Mitfahrgelegenheit für den Hin- und Rückweg an und finanziert auf diesem Weg bereits die Benzinkosten. Wenn er mehr als zwei Mitfahrer an Bord hat, so berichtet er, mache er sogar Gewinn. Er kauft dann so viele Zigaretten ein, wie die Anzahl der Rückfahrer erlaubt, und macht sich auf den Rückweg. Die erworbenen Zigaretten werden anschließend mit einem kleinen Aufschlag innerhalb des Depots verkauft. Der Depotleiter, so gibt der Zusteller lachend zu Protokoll, sei sein bester Kunde. Insgesamt verläuft die Freizeit der Zusteller in den sozialen Kreisen, die auch die Arbeitssituation prägen. Aus der Gruppe ergeben sich auch immer wieder Liebesbeziehungen. Die Möglichkeit hierzu ist freilich begrenzt, sind unter den zehn Zustellern der beobachteten Gruppe doch nur zwei Frauen. Diese sind jedoch auch in der Gruppe liiert oder waren es zu einem früheren Zeitpunkt. Die Hälfte der Gruppenmitglieder ist dagegen ohne feste Partnerschaft, was sich auf die Bindungen innerhalb der Gruppe vorteilhaft auswirkt. Der Bekanntenkreis orientiert sich an der Arbeit. Die Freizeitgestaltung ist geprägt von Aktivitäten, die entweder der körperlichen Regeneration oder aber der Gewährleistung von Konsum unter Bedingungen knapper Ressourcen dienen.

153 Reichhaltiges Essen mit viel Fett und Kohlenhydraten ist ohnehin die not-

wendige Kost der Wahl der Zusteller. Bei einem Treffen lädt eine Zustellerin die ganze Truppe zu sich zu einer Suppe ein, von der mir die Kollegen bereits mehrfach in freudiger Erwartung berichtet haben. Die Suppe besteht aus einer unverdünnten Kombination von Sahne und Schmelzkäse mit Fleisch und kleiner Gemüseeinlage, zu der in Unmengen Weißbrot serviert wird. Die anwesenden Zusteller haben trotz dieser Kost, die keine Ausnahme in ihrem Alltag bildet, allesamt sportliche Figuren, was wiederum als Hinweis auf die harte körperliche Arbeit verstanden werden kann.

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Intensivieren Auch die Arbeitssituation bei Newsfeed stellt die Lebensführung der Arbeitnehmer vor ganz spezifische Herausforderungen. Dies hängt mit dem spezifischen Charakter der Arbeitnehmerschaft zusammen. Bei Newsfeed sammeln sich, noch stärker als in den einfachen Diensten allgemein, Arbeitsbiografien jenseits der Norm. Jeder Arbeitnehmer bei Newsfeed kann Geschichten persönlichen Scheiterns erzählen, die ihn erst in diesen speziellen Arbeitsbereich gebracht haben. Viele Mitarbeiter haben Ausbildungen abgebrochen und sich anschließend im Rahmen von Gelegenheitsarbeit verdingt. Andere haben in ihrem Ausbildungsberuf nie gearbeitet oder haben längere Phasen der Arbeitslosigkeit hinter sich, die eine Rückkehr in den erlernten Beruf erschweren. Bei Newsfeed sind sie in Ermangelung besserer Alternativen. Dies gilt auch für den 26-jährigen Maik. Der Sohn eines Maurers und einer Hausfrau beginnt nach dem Hauptschulabschluss eine Lehre als Koch. Er überwirft sich im zweiten Lehrjahr mit seinem Chef und bricht die Ausbildung ab. Anschließend zieht er in eine andere Stadt. Er habe einfach einen Neuanfang gebraucht, gibt er zu Protokoll. Maik zieht in eine Einzimmerwohnung in einem Plattenbau nahe des Stadtzentrums. Von dort aus sieht er sich nach Arbeit um. Er beginnt als Küchenhilfe in einem Restaurant. Das Arbeitsverhältnis hält allerdings nicht lange. Maik wird in den ersten beiden Monaten nicht bezahlt. Der Chef verweist auf die schwierige wirtschaftliche Lage des Unternehmens, doch Maik will und kann nicht umsonst arbeiten. Er kündigt, das Restaurant meldet wenig später Insolvenz an. Maik ist im Anschluss einige Monate arbeitslos. Zu Newsfeed gelangt er über eine Annonce in einer Postwurfsendung. Austräger werden gesucht, keine Vorbildung notwendig. Maik beginnt hier in geringfügiger Beschäftigung, schon bald steigt er in eine Festanstellung auf. Der Chef braucht eine Person, auf die er als Springer immer zurückgreifen kann. So wird Maik einer der wenigen Zusteller mit dem Privileg einer richtigen Stelle. Dafür muss er allerdings auch stets auf Abruf bereitstehen und erhebliche Leistungen bringen: Maik arbeitet an sechs Tagen in der Woche in sechsstündigen Nachtschichten. Zusätzlich verrichtet er drei bis vier circa dreistündige Tagesschichten in der Woche. Diese extensiven Arbeitszeiten gehen mit starker körperlicher Belastung einher, ist Maik doch in der Zustellung permanent auf den Beinen und im Lager pau289

senlos am Packen. Er verdient nach eigenen Angaben im Schnitt 900 Euro netto im Monat. Dass Maik dieses Pensum an Arbeit bewältigen kann, liegt auch an seiner persönlichen Situation: Er ist in der neuen Stadt gestrandet, hat keine privaten Kontakte und keine Partnerschaft. Zwischen Arbeit und Lebenssituation zeigt sich ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis. Maik kann nur von seiner Arbeit leben, wenn er weder geldintensive Hobbys noch zeitintensive Sozialkontakte pflegt. Die Belastungen seiner Tätigkeit verunmöglichen zugleich ein umfangreiches Privatleben. Denn Maik schläft tagsüber. Im Winter, erzählt er, sieht er manchmal nur dreimal in der Woche Tageslicht, nämlich wenn er kleine Tagesschichten arbeitet. Hat er keine solche Tagesschicht, steht er erst am späten Nachmittag auf. Er verbringt dann die Zeit bis zu seinem Dienstantritt, der meist gegen 23 Uhr erfolgt, im Internet oder macht die Erledigungen, die zur Haushaltsführung unbedingt notwendig sind. Im Internet liest Maik unter anderem kostenfrei jene Zeitungen, die er nachts den Abonnenten zustellt. Er ist gut informiert über das Profil der einzelnen Medien und das aktuelle Tagesgeschehen. Er hat diesbezüglich auch gerne einen Scherz auf den Lippen. Als er auf einer Nachttour die Briefkästen des chinesischen Konsulats bestückt, macht er sich leise kichernd über die dortige Kundschaft lustig: »Die FAZ , und: immer die Bildzeitung! Die wollen wissen, was Deutschland bewegt ((lacht)). Was die Leute für Zeitungen lesen: Da denkst du dir: Oh Gott, oh Gott, was ist nur los mit euch?!« Ähnlich wie im Falle der Zusteller von Superpost gruppiert sich auch Maiks Lebensführung um die Frage der eigenen Reproduktion unter Bedingungen knapper Ressourcen. Nur fehlt Maik die Einbindung in eine Gruppe, wie sie bei Superpost schon durch die Arbeitssituation gewährleistet ist. Er gönnt sich nichts. Vielmehr gibt Maik an, von seinen 900 Euro monatlich circa 300 Euro zur Seite zu legen. Dies ist nur möglich unter der Bedingung, dass er praktisch keine Ausgaben jenseits von Wohnen und Verpflegung tätigt. Die Spezifik seiner Tätigkeit ermöglicht eine solche Lebensführung. Denn wer tagsüber schläft, kann kaum Geld ausgeben. Maik arbeitet in der jetzigen Form seit drei Jahren bei Newsfeed. Sechsmal in der Woche durchstreift er nachts die Straßen, einen badewannengroßen Wagen voller Zeitungen vor sich herschiebend. Doch soll es dabei nicht für immer bleiben. Maik spart 300 Euro monatlich, weil er einen Plan ver290

folgt: Er will weg aus Deutschland, das er als ungerechtes, sozial kaltes Land beschreibt. Sein Traum ist es, ein Restaurant in Thailand zu eröffnen. Für seine Zukunft kann er sich nur diese spektakuläre Form des Ausstiegs vorstellen. Bis dahin lebt er seinen Alltag in Isolation.

Reine Gewährleistung Nach den Bereichen sozialer Sorge, konsumorientierter und distributiver Dienste soll nun ein vierter Bereich einfacher Dienstleistungen im Fokus stehen. Der Begriff reiner Gewährleistung, der für diesen Bereich in Anschlag gebracht wird, bezieht sich auf eine Basisdiagnose für eine Vielfalt von Tätigkeiten, wie beispielsweise die Gebäudereinigung, bestimmte Teile des Sicherheitsgewerbes, Tätigkeiten in Großküchen und Kantinen oder auch interne Bringdienste im Rahmen des sogenannten Facility Managements. Diese Arbeitsbereiche teilen die Eigenschaft, dass sich die Gewährleistungslogik einfacher Dienstleistungsarbeit in ihnen exemplarisch beobachten lässt: Büros müssen gereinigt werden, damit die Dienstklasse ihre hoch spezialisierten Aufgaben verrichten kann. In der Betriebskantine muss das Essen zubereitet und verteilt werden, damit die Konsumenten anschließend produktiv ans eigentliche Werk gehen können. Im Krankenhaus müssen permanent Betten geschoben oder medizinische Geräte verlagert werden, damit das medizinische Personal seiner Arbeit optimal nachgehen kann. Nun trifft das Charakteristikum der Gewährleistung auch auf die Bereiche der Pflege, des Einzelhandels oder der Distribution zu. Doch scheint etwa im Bereich der Gebäudereinigung dieses Merkmal zugleich radikalisiert und in besonders klarer Form zu existieren: Anders als in der Pflege gibt es hier keine hilfsbedürftigen Patienten, die die Möglichkeit eines Arbeitsethos der Sorge eröffnen. Auch lässt sich nicht der lebensstilbezogene Schick einer Tätigkeit bemühen, die im Kern mit der Bewerbung schöner Dinge operiert, wie etwa in Teilen des Einzelhandels. Und selbst die arbeitstagbezogene Ergebnisorientierung, wie sie im Fall des Distributiven eine Rolle spielt, besteht hier nur in reduzierter Form. Im Gegenteil zur Arbeit der Zusteller stellt sich in der Tätigkeit einer Reinigungskraft selten das Gefühl eines erfolgreichen Tagesergebnisses ein. Denn ein solches hält ohnehin 291

nicht länger als ein paar Stunden und wird selten als solches bemerkt, weil Sauberkeit eben schlicht vorausgesetzt wird. Zudem ist die Chance der Erfahrung von Eingebundenheit in arbeitsteilige Zusammenhänge im Bereich reiner Gewährleistung nochmals niedriger als in der Mehrzahl der bereits beschriebenen Fälle.154 Die Reinigung, das Verbringen von Instrumenten in einem Krankenhaus oder die nächtliche Bewachung teurer Güter zur Wahrung des Versicherungsschutzes – all diesen Tätigkeiten ist gemein, dass es zu den Gütekriterien ihres Erfolges zählt, dass sie unsichtbar bleiben, die »eigentliche« Arbeit nicht behindern sollen. In diesem Umstand steckt freilich kein Alleinstellungsmerkmal: Auch die Angehörigen einer gepflegten Person möchten diese zwar »frisch gemacht« vorfinden, nicht unbedingt aber den Prozess der Herstellung des erstrebten Zustandes selbst erleben. Im Falle von U&S geht es ebenfalls im Kern um die immer wieder erfolgende Normalisierung des Ladenbildes, die am besten unbemerkt bleiben soll. Im Bereich reiner Gewährleistung sind diese Merkmale allerdings noch radikalisiert, was letztlich daran liegt, dass der Kunde hier kaum mehr im Arbeitsprozess in Erscheinung tritt. So stellt sich auch die Frage, ob sich im Bereich reiner Gewährleistung unter ordnungslogischer Perspektive eine Radikalisierung der bereits in den Bereichen der sozialen Sorge, des betreuten Konsums und der Distribution konstatierten Rationalisierungsstrategien und ihrer Effekte zeigt. Im Folgenden werden zwei Fälle untersucht, die unter den genannten Gesichtspunkten als typisch verstanden werden können. Im Falle des Unternehmens Flecken-los handelt es sich um eine größere Firma für Gebäudeservices. Flecken-los hat sich von einer reinen Reinigungsfirma zu einem multiprofessionellen Unternehmen gewandelt, in dem die Kundschaft sämtliche Dienstleistungen rund um die alltägliche Gebäudeinstandhaltung einkaufen kann: Hausmeistertätigkeiten zählen ebenso zum Repertoire wie Transportdienste und Gartenarbeiten. Knapp zwei Drittel der Belegschaft sind allerdings weiterhin in der Gebäudereinigung beschäftigt, und die einzelnen Tätigkeitsbereiche operieren weitgehend autonom

154 Dies gilt selbstredend nicht für die Pflege im Privathaushalt oder die Arbeit

bei Newsfeed.

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voneinander. So wird Flecken-los im Folgenden als monoprofessionelles Unternehmen behandelt, indem der Fokus auf die Abteilung Gebäudereinigung gerichtet wird. Das zweite Unternehmen unterscheidet sich auf den ersten Blick nur unwesentlich von Flecken-los. Auch HFM (Hospital Facility Management) ist ein Unternehmen, in dem eine Vielzahl einfacher Dienste aus einer Hand erworben werden können. Zum bereits im Falle von Flecken-los erwähnten Repertoire gesellt sich das Angebot von Kantinenbetrieb, Lagerungsaufgaben und weiteren Tätigkeiten. Auch hier ist die Gebäudereinigung der größte Teilbereich.155 Ein wichtiger Unterschied zu Flecken-los besteht allerdings in der Entstehungsgeschichte der beiden Unternehmen. Denn HFM ist das Produkt der Kostensenkungsstrategie eines großen Krankenhauses. Die Firma entstand im Jahr 2005 als Ergebnis der Ausgliederung sämtlicher Dienstleistungen unterhalb des medizinischen Personals aus dem betreffenden Krankenhaus. Die Arbeitnehmer von HFM sind allesamt in diesem Krankenhaus tätig. Sie stehen daher zum einen in einer Arbeitssituation, die zunächst sämtliche Tätigkeiten, die im Unternehmen organisiert sind, potenziell umfasst. Außerdem ist ihre arbeitsteilige Verbindung zum medizinischen Personal des Krankenhauses offensichtlich. Dies kann den Zuschnitt der Arbeitssituation verändern, weil die gewährleistenden Tätigkeiten bei HFM in einem gemeinsamen Kontext qualifizierter und verschiedener einfacher Dienstleistungstätigkeiten stattfinden. Es gilt daher auszuloten, inwiefern dieser Umstand Auswirkungen auf den Ordnungsmechanismus der Arbeitssituation bei HFM zeitigt.

Bloß nicht auffallen Widmen wir uns aber zunächst dem Unternehmen Flecken-los und damit der Gebäudereinigung. Die Branche ist in den letzten 15 Jahren rasant gewachsen. Laut statistischem Bundesamt waren 2008 47 Prozent mehr Arbeitnehmer im Bereich der Reinigung beschäftigt als 1993.156 Die Gebäudereinigung gehört offiziell zum Hand155 Etwa ein Drittel der Belegschaft ist dort beschäftigt. 156 Statistisches Bundesamt 2009. Es wird allerdings bezweifelt, ob der Stellenzu-

wachs tatsächlich das Wachstum der Branche widerspiegelt oder ob nicht eher organisatorische Veränderungen, wie die Umwandlung von Vollzeitstellen in

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werk. Tatsächlich ist sie »mit 873723 Erwerbstätigen in 34469 Betrieben das beschäftigungsstärkste Handwerk in Deutschland«157. Gut die Hälfte der Beschäftigten (457420, Stand Dezember 2009) arbeitet dabei in geringfügiger Beschäftigung.158 Die Reinigungsunternehmen sind in Innungen organisiert, denen allerdings nicht einmal alle Branchengrößen angehören, von den zahlreichen Kleinunternehmen ganz zu schweigen. Der Bundesinnungsverband des Gebäudereiniger-Handwerks (BIV) führt Tarifverhandlungen mit der IG BAU . Was die Integration der Gebäudereinigung in das Tarifsystem angeht, so gilt derzeit159 ein branchenspezifischer Mindestlohn im Rahmen des Arbeitnehmerentsendegesetzes. Dies ist wenig verwunderlich, stellt man die Schwäche der Gewerkschaften in der Reinigungsbranche in Rechnung: Von den bundesweit circa 860000 Gebäudereinigern im Jahr 2010 waren lediglich 57905 oder 6,7 Prozent gewerkschaftlich organisiert.160 Die Mehrheit der Angestellten sind Frauen: laut statistischem Bundesamt 88 Prozent im Jahre 2008. Der Männeranteil sei aber zwischen 1993 und 2008 von acht auf zwölf Prozent gestiegen.161 Der Mindestlohn lag zum Zeitpunkt der Untersuchung bei acht Euro fünfundfünfzig West, sieben Euro Ost.162 In tariffreien Phasen haben die Arbeitgeber den Mindestlohn in der Regel sofort ausgesetzt. Die Mitarbeiter sind in einer derart personalkostenintensiven Branche einfach der teuerste Posten, was im

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mehrere geringfügige Stellen, Entwicklungsdynamiken sind, die lediglich den trügerischen Eindruck eines allzu rasanten Wachstums der Branche erzeugen (Mayer-Ahuja, »Die Vorgeschichte der Ich-AG «). Riedel, »Minijobs in der Gebäudereinigung«, S. 64 Ebenda, S. 64. Diese liegt in der Gebäudereinigung im Trend: »Die Zahl der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ist im Zeitraum von 1999 bis 2009 um 55,4 Prozent gewachsen, wohingegen die Anzahl der Gesamtbeschäftigten im nahezu vergleichbaren Zeitraum lediglich um 15 Prozent gestiegen ist. Gut ein Drittel der geringfügig Beschäftigten übt den Minijob zusätzlich zu einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung aus.« (ebenda) Stand März 2014. Mit Unterbrechungen bereits seit dem 09. März 2007. Stand Februar 2010. Nicht gezählt sind hier Gebäudereiniger, die bei ver.di organisiert sind, weil sie etwa in Unternehmen arbeiten, die nicht mehrheitlich in der Reinigung aktiv sind. Statistisches Bundesamt 2009. Stand 2011.

Übrigen für die einfachen Dienste im Allgemeinen gilt. Dennoch hat der gesetzliche Mindestlohn eine weit höhere Verbindlichkeit erzeugt163 als die vorher geltenden Tarifverträge, die vielfach von den Arbeitgebern nicht anerkannt wurden.164 Die Firmen agieren in der Gebäudereinigung in der Regel als Auftragnehmer Dritter.165 Dies war nicht immer so: In der Gebäudereinigung gab es früh eine massive Privatisierungswelle, die schon in den 1970er Jahren einsetzte, vornehmlich, weil die öffentliche Hand bei positiver Wirtschaftslage nicht mehr in der Lage war, Arbeitskräfte für die verhältnismäßig gering bezahlte Reinigungsarbeit zu rekrutieren.166 Private Dienstleister verstanden es besser, auch auf das Arbeitskräftereservoir von Frauen mit reinen Zuverdienerinteressen zuzugreifen.167 So kam es, »dass zwischen 1973 und 1990 mindestens ein Drittel aller im öffentlichen Dienst beschäftigten Reinigungskräfte ihren Arbeitsplatz durch Privatisierung verloren«168. In der heute weitgehend privatwirtschaftlichen Reinigungsbranche werden Aufträge vornehmlich über Ausschreibungen eingeworben, was die Konkurrenz und in der Folge den Lohndruck erhöht. Die Betriebsgrößen variieren stark, unterliegen Expertengesprächen zufolge aber einem Trend: Es habe in den 1990er Jahren vor allem in den neuen Bundesländern viele Kleinbetriebe gegeben. Mittlerweile dominiert allerdings eine Hand voll Branchenriesen den Markt. Bestimmte strukturelle Faktoren des Feldes einfacher Dienste zeigen sich in der Reinigung wie in einem Brennglas: Ein Bericht der Hans-Böckler-Stiftung von 2004 kommt bezüglich der Strukturen des Personals im Bereich der Gebäudereinigung zu folgendem Ergebnis: »92 Prozent der Reinigungskräfte sind Frauen, 54 Prozent sind 47 Jahre und älter. Der Ausländeranteil beträgt circa 34 Prozent. 13 Prozent der Reiniger sind nach eigenen Angaben gewerkschaft-

163 Riedel, »Minijobs in der Gebäudereinigung«, S. 64. 164 Mayer-Ahuja, »Die Vorgeschichte der Ich-AG «, S. 606. 165 Etwa von Industriebetrieben, öffentlichen Verwaltungen oder Bürobetrei-

bern. 166 Mayer Ahuja, Wieder dienen lernen?; dies., »Die Vorgeschichte der Ich-AG «. 167 Ebenda. 168 Ebenda, S. 605.

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lich organisiert.«169 Man sollte noch hinzufügen, dass, zumindest im Sample der vorliegenden Studie, die meisten Reinigungskräfte über keine Ausbildung als Reinigungskraft verfügen. Das Interesse an Auszubildenden scheint vornehmlich auf deren Nutzung als günstige, zuverlässige Arbeitskräfte zurückzugehen. Der Lohndruck diktiert die Verhältnisse in der Reinigung. So kann es nicht verwundern, dass das typische Personal sich aus Gestrandeten zusammensetzt. Drei große Gruppen sind in den Belegschaften der Gebäudereinigung zu beobachten: die Deindustriealisierten, die Dequalifizierten und die jungen Alternativlosen. Bei den Deindustriealisierten handelt es sich meist um Arbeitnehmer jenseits der 40, die ehemals in industriellen Bereichen tätig waren und auf Umwegen in der Reinigung gelandet sind. Die Gruppe der Dequalifizierten bezeichnet vor allem einen großen Teil der Migranten. Auch hier sind die Arbeitnehmer eher jenseits der 40 und haben schon eine andere Ausbildungs- oder Berufslaufbahn hinter sich, die nicht selten im Ausland erfolgt ist. Die jüngeren Arbeitnehmer sind dagegen meist solche, denen ein niedrigrangiger schulischer Abschluss keine Alternativen zu einem Jedermannsarbeitsmarkt wie der Gebäudereinigung lässt.

Arbeit als Kostenfaktor Wegen häufig wechselnder Auftragslage haben die Unternehmen ein grundsätzliches Interesse an Mitarbeiterflexibilität. Es ist daher üblich, Mitarbeiter zunächst zwei Mal ein Jahr zu befristen und sie dann zu entlassen, um sie nicht fest anstellen zu müssen.170 Ebenso üblich ist es, bei einem Auftragswechsel, die Mitarbeiter des vorherigen Auftragsnehmers zu übernehmen. So trifft man unter den Gebäudereinigern häufig auf Personal, das seit langen Jahren im gleichen Objekt den gleichen Tätigkeiten nachgeht, aber schon mehrere Arbeitgeber hatte. Gewinnt ein neuer Bewerber die Ausschreibung eines Projektes, so hat er den vorherigen Auftragsnehmer in der Regel finanziell unterboten. In der Folge stellt sich bei den Beschäftig-

169 Schlese/Schramm, Beschäftigungsbedingungen in der Gebäudereinigung, S. 3. 170 Gewerkschafter bezeichnen dies als einen allgemeinen Trend, der sich auch im

Falle von Flecken-los zeigt.

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ten häufig eine Kontinuität des Arbeitsplatzes ein, bei gleichzeitig stetig steigendem Druck, billiger zu arbeiten. Wie beschrieben, werden in der Gebäudereinigung relativ wenige volle Stellen angeboten. Dies hat mehrere Gründe. Im Kern ist es erstens für Unternehmen leichter, Arbeitnehmer nur auf 20 Stunden-Basis oder geringfügig anzustellen, weil so die Personalflexibilität erhöht wird. Zweitens spielen arbeitsrechtliche Erwägungen eine Rolle: Oft liegen zwischen zwei Schichten schlicht nicht die gesetzlich vorgeschriebenen Ruhezeiten, die die Arbeitnehmer einhalten müssen. Da diese Ruhezeiten nur für die Tätigkeiten innerhalb eines Unternehmens gelten, gibt es in der Gebäudereinigung ein hohes Maß an Doppeltätigkeiten. Arbeitnehmer arbeiten auf mehreren halben oder geringfügigen Stellen für unterschiedliche Arbeitgeber. Die Fluktuation ist hoch, nicht nur weil Aufträge häufig wechseln, sondern auch weil kleine Verfehlungen streng geahndet werden.171 Die Arbeitgeber sind entsprechend immer auf der Suche nach neuem Personal. Dies liegt sicher nicht zuletzt daran, dass die Arbeitnehmer meist kaum eine biografische Bindung zu einem spezifischen Arbeitgeber entwickeln. Auch für sie gehört der Wechsel zwischen unterschiedlichen Reinigungsfirmen zum Alltag. Bietet ein Arbeitgeber bessere Arbeitszeiten, näher zum Wohnort gelegene Objekte oder leichtere Räumlichkeiten, dann wird mit einem Wechsel oft nicht lange gezögert. Persönliche Netzwerke dienen dabei häufig der Personalrekrutierung. Personalengpässe sind in der Gebäudereinigung chronisch. Nicht nur bei Flecken-los kommen daher auch immer wieder Zeitarbeitnehmer zum Einsatz. Im Fall von Arbeitnehmern, die in mehreren Objekten arbeiten, werden häufig – sei es für den gleichen, sei es für unterschiedliche Arbeitgeber – Zwei- bis Vierstundenschichten am Tag gearbeitet. Sechstagewochen sind keine Seltenheit, Nachtarbeit ist die Regel.172

171 Das entspricht fünf Prozent der Belegschaft, die im Laufe von zehn Monaten gekündigt wurden. Im Jahr 2009 gab es bei Flecken-los 287 Kündigungen, davon 89 personenbedingt (alle aus gesundheitlichen Gründen), 75 betriebsbedingt, zwölf verhaltensbedingt, 111 davon in der Probezeit. 172 Typische Konstellationen bezüglich des Zeitbudgets jenseits dieser allgemei-

nen Zweiteilung des Arbeitstages sind dabei kaum zu bestimmen, da sich zu

297

Entsprechend dieser relativ fragmentierten Zeitkontingente fällt es schwer, den typischen Verdienst innerhalb der Gebäudereinigung zu ermitteln. Es existiert grundsätzlich eine recht differenzierte Lohntabelle. Bezahlt werden jedoch effektiv entweder Lohngruppe 1173 oder Lohngruppe 6174. Natürlich finden sich Radikalmodelle: Ein junger Gebäudereiniger, der bei Flecken-los auf 400- Euro-Basis angestellt ist und daneben offiziell Vollzeit in einer anderen Reinigungsfirma arbeitet, berichtet beispielsweise, dass er einmal in einem Monat 250 Stunden gearbeitet hätte. Der Nettolohn habe dafür 1600 Euro betragen.175 Eine Mehrzahl derjenigen, die sich in der Gebäudereinigung verdingen, erwirtschaften im Falle einer 40-Stunden-Woche in etwa 1000 Euro netto im Monat, wobei nicht gesagt ist, dass eine 40-Stunden-Woche auf einem Vollzeitarbeitsvertrag basiert. Ungefähr die Hälfte der Arbeitnehmer in der Gebäudereinigung erhält nach Zahlen von Gewerkschaftern zusätzliche Leistungen aus den Sozialkassen. Zwar gibt es seit einiger Zeit den politischen Mindestlohn im Reinigungsgewerbe. Die empirischen Erfahrungen im Feld legen allerdings nahe, dass dies nicht immer zu einer effektiven Verbesserung der Löhne beiträgt, weil infolge höherer Stundenlöhne Stunden gekürzt oder Anforderungen176 erweitert werden.177 Ein junger Gewerkschafter drückt dieses ernüchternde Ergebnis einer großen Mobilisierungskampagne der Gewerkschaft

173 174 175 176 177

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viele verschiedene, je eigene Konstruktionen von Arbeitszeit finden. Folgen zeitigen die besonderen zeitlichen Beanspruchungen auch im Privaten: So schlafen viele Gebäudereiniger im Schichtsystem oder, wie etwa ein Azubi berichtet, grundsätzlich nie mehr als vier Stunden pro Nacht. Niedrigste Eingruppierung. Glasreinigung. Nettostundenlohn: sechs Euro vierzig. Im Grunde Flächen. Nicole Mayer-Ahuja spricht vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns noch von drei verbreiteten Unternehmensstrategien zur Lohnsenkung: »(a) illegal, durch Nichtanerkennen von Tarifverträgen beziehungsweise Tarifbruch, (b) legal durch Arbeitsverdichtung sowie (c) halblegal durch veränderte Lohnabrechnungsverfahren bei Teilzeitarbeit« (Mayer-Ahuja, »Die Vorgeschichte der Ich-AG «, S. 606). Alle drei Faktoren spielen heute noch eine Rolle, wobei der Mindestlohn in der Regel nur von kleineren Firmen unterschritten wird. Besonders der direkten Regulierung des Arbeitsprozesses (Arbeitsverdichtung) kommt daher ein höherer Stellenwert zu.

so aus: »Da bezahlen die Angestellten jetzt ihre eigene Lohnerhöhung und bleiben netto gleich!« Es gilt außerdem als gängige Praxis, vor allem bei kleineren Firmen, offiziell nur Minijobs zu vergeben, aber de facto mit Teilzeit- oder Vollzeitkräften zu operieren, deren Restlohn schwarz bezahlt wird. Bei Flecken-los war diese Praxis allerdings nicht zu finden.

Prototypische Normalisierungsarbeit Ähnlich wie etwa bei Superpost wird bei Flecken-los in Teams gearbeitet, innerhalb derer allerdings die meiste Zeit keine Interaktion stattfindet. Die Angestellten sammeln sich zu Schichtbeginn in einem Raum, in dem der Belegungsplan ihnen die tägliche Aufgabe zuweist. Als einzige anwesende weisungsbefugte Person ist ein Vorarbeiter beziehungsweise Objektleiter häufig, aber nicht immer vor Ort. Er kontrolliert und verwaltet, im Falle der Anwesenheit legt er allerdings auch selbst mit Hand an. Die Anforderungen der eigentlichen Tätigkeit sind hart: Die Reinigung geht auf den Körper und verschleißt ihn. Der räumliche Kontext der Arbeit ist dabei von entscheidender Bedeutung – wiederum eine Parallele zum Bereich der Distribution –, denn meist werden Normleistungen nach Quadratmetern festgelegt, was dazu führt, dass die Arbeitnehmer, entsprechend der jeweiligen Beschaffenheit unterschiedlicher Räume, auch bei gleicher Größe recht ungleiche Arbeitsbelastungen erwarten können. Meist ist eine Reinigungskraft mit einem kleinen Schiebewagen unterwegs, auf dem alle notwendigen Putzutensilien mitgeführt werden. Auch hierin zeigt sich wiederum der Faktor der Universalisierung der Tätigkeiten, denn schon die Ausrüstung prädestiniert die Reinigungskraft im Grunde für sämtliche anfallenden Tätigkeiten. Es gibt grundsätzlich drei Basisformen der Reinigung: Sicht-, Unterhalts- und Grundreinigung.178 Jenseits dieser drei Arten be-

178 Sie werden im Idealfall in festgelegten Zeitabständen periodisch durchgeführt.

Zur Sichtreinigung gehört im Minimalfall nur das Leeren von Papierkörben. Es geht hier im Grunde darum, sichtbaren Schmutz zu entfernen, nicht mehr. Unterhaltsreinigung geht einen Schritt weiter: Ein genauer Katalog gibt hier die zu erledigenden Tätigkeiten vor, entsprechend der jeweiligen Konstitution des Objektes. Dieser Katalog muss dann bei jeder Begehung abgearbeitet wer-

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gegnet man im Feld häufig dem Begriff der Bedarfsreinigung. Diese entspricht im Grunde der Sichtreinigung. Der Unterschied zur Unterhaltsreinigung ist, dass nicht mit einem Katalog an Tätigkeiten agiert wird, den es abzuarbeiten gilt. Die Bedarfsreinigung orientiert sich am jeweils akuten Zustand des Objektes. Für die Unternehmen ist die Bedarfsreinigung eine Option, den Auftraggebern billige Angebote machen zu können. Das Argument lautet dann: Es wird keine Tätigkeit vollzogen, die nicht unbedingt notwendig ist. Dennoch ist immer bedarfsgerechte Sauberkeit gewährleistet. Diese Verbesserung der Angebotsstruktur wird von den Arbeitenden freilich nicht derart positiv beurteilt: »Voriges Jahr haben wir täglich eine Etage reinigen müssen. Jetzt müssen wir ein Haus mit fünf Etagen machen und das in derselben Zeit, weil wir jetzt Sichtreinigung haben. Früher hatte ich noch jemanden, der den Müll gezogen hat. Heute muss ich das auch noch selbst machen. Wir sind doch keine Maschinen, und Akkord bekommen wir auch nicht bezahlt! Uns wurde versichert, dass mit der Lohnerhöhung179 keine Arbeitsverdichtung kommt. Was ist das denn jetzt? Wie weit soll das noch gehen?«180 So der Wortlaut eines anonymen Briefes, der auf der Betriebsversammlung von Flecken-los verlesen wird und die Folgen des Rationalisierungsdrucks direkt formuliert. Es zeigt sich hier sowohl eine grundsätzliche Rationalisierungsstrategie als auch eine direkte Folge der Etablierung des gesetzlichen Mindestlohnes. Wie bereits erwähnt, ist in dessen Folge eine Verdichtung der Arbeit zu beobachten. Die höheren Lohnkosten werden über die Kombination einer Erweiterung der zu bearbeitenden Flächen und des Vormarsches des Systems der Bedarfsreinigung »refinanziert«. Qualitative Standardisierung der Tätigkeiten findet dabei insofern

den, was allerdings im Rahmen von Zeitdruck nicht immer geschieht. Sowohl Sicht- als auch Unterhaltsreinigung werden typischerweise mehrfach wöchentlich ausgeführt. Die Grundreinigung dagegen geschieht typischerweise ein- bis zweimal im Jahr. Hier geht es um die intensive Reinigung der Objekte. Zusätzlich zur Unterhaltsreinigung werden zum Beispiel Fenster geputzt, Böden abgezogen, Schränke und Heizkörper gereinigt, Polster desinfiziert oder Gardinen gewaschen. 179 Mindestlohnanhebung. 180 Es handelt sich hier um einen Auszug aus einer Mitarbeiterbeschwerde, die vom Betriebsrat auf einer Betriebsversammlung verlesen wird.

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statt, als das System der Bedarfsreinigung einen weniger komplexen Tätigkeitskatalog mit sich führt als etwa die Unterhaltsreinigung. Universalisiert ist die Arbeit insofern, als die einzelne Reinigungskraft im System der Bedarfsreinigung sämtliche relevanten Arbeitsschritte zu vollziehen hat,181 was kombiniert mit der stetigen Erhöhung der zu reinigenden Flächen Arbeitsverdichtung bedingt.

Pfusch und Stolz Diese Faktoren führen die Arbeitnehmer nicht selten an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit. Wenn in einer Dreistundenschicht etwa 2000 qm bearbeitet und 600 Mülleimer geleert werden müssen, dann sind Schlampereien nicht zu vermeiden.182 Gabriele, eine 50-jährige Veteranin der Reinigung, drückt es so aus: »Aber es braucht keiner wissen, dass ich nicht gesaugt habe. Ich hab gesaugt da, ne?« Der 26-jährige Christian wird noch wesentlich deutlicher: »Ohne Pfusch würdest du gar nicht durchkommen. […] Die Preise sinken so was von krass, die Stunden auch. Und wenn du Geld verdienen willst, musst du pfuschen. Anders geht’s nicht.« Werden Verfehlungen von Kunden oder Vorgesetzten bemerkt, sind die Reinigungskräfte persönlich verantwortlich. Sie entwickeln daher eine spezifische Kompetenz in dieser Hinsicht: Die Herausforderung besteht darin, so zu pfuschen, dass es nicht auffällt. Die Isolation in Sachen Verantwortlichkeit korrespondiert mit der Isolation im Vollzug der Arbeit, die meist still und alleine ausgeführt wird. Die Organisation der eigenen Arbeit ist im Rahmen der Zielvereinbarungen den Arbeitnehmern selbst überlassen. Sie entwickeln in der Folge auch differenzierte Techniken in Bezug auf die Effektivierung ihrer Arbeit. Der gekonnte Tritt auf den Teppichboden verrät dem geschulten Auge etwa, ob das Saugen heute ausfallen kann oder nicht. Doch der systematische Zwang zum Pfusch vernichtet noch die kleinste Möglichkeit eines ergebnisbezogenen Stolzes auf die eigene

181 In der Sprache des Zitats: Es gibt keinen mehr, der den Müll zieht. 182 Dies bedeutet, dass auf einer Fläche von 2000 qm alle 20 Sekunden ein Müll-

eimer zu leeren ist, von den zusätzlich anfallenden Tätigkeiten ganz zu schweigen.

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Arbeit. Ist Sauberkeit schon an sich ein schnell vergängliches Gut, so wird diese im Zuge der Rationalisierungsstrategien nicht einmal mehr zu einer kurzweilig erreichbaren Größe. Auch der Kunde tritt nicht als Instanz möglicher Anerkennung in Erscheinung. Er hinterlässt Toiletten und Büros in Zuständen, die im Zweifelsfall höchstens als persönliche Beleidigung, nie jedoch als Wertschätzung verbucht werden können. Die Toilette ist dabei der paradigmatische Ort: Die Reinigungskräfte kommen mit allerhand Verschmutzung und ungebührlichem Benehmen in Berührung, das zwar vermutlich ohne Bezug auf ihre Arbeit verursacht, das von ihnen aber als systematische Geringschätzung erfahren wird. Auch jenseits sanitärer Einrichtungen sind es vor allem die körperintimen Aspekte der Reinigung, die den Angestellten immer wieder Kopfschütteln abringen. Schüler, die in Klassenräume urinieren, oder Frauen, die benutzte Hygieneartikel in öffentlichen Räumen hinterlassen – immer ist es das Reinigungspersonal, das sich als letztes Glied der Normalisierung des Abnormen erfährt. Besonders skurril wirken in diesem Zusammenhang Versuche von gewerkschaftlicher Seite, die Arbeit mit einem gewissen Berufsstolz zu versehen. So verkündet ein Gewerkschafter auf einer Demonstration anlässlich der Tarifverhandlungen via Mikrofon einer Gruppe von Gebäudereinigern: »Ihr verdient mehr Geld. Gebäudereinigung ist ein Handwerk. Denn ihr macht die Scheiße weg, die andere bauen.« Der hier als Moment des Stolzes aufgerufene Faktor wird vom Reinigungspersonal aber gerade als Missachtungsmoment erfahren. Er markiert nur die radikalste Form einer allgemeinen Geringschätzung, die alltäglich erlebt wird. Ganz ähnlich wie in der Distribution, aber auch im Falle von Discount oder U&S schlagen sich die materialen Erfahrungen der eigenen Tätigkeit in einer weitgehend residualen Deutung dieser nieder. Die eigene Tätigkeit wird als leicht ersetzbar erfahren, auch weil man in der Reinigung immer »sofort wieder Arbeit« findet. Das Beste, was sich über die eigene Arbeit sagen lässt, ist, dass im Idealfall der Lohn pünktlich kommt und dass sie einigermaßen eigenständig ausgeführt wird. Ein Stück Autonomie wird in der Isoliertheit der Reinigung also durchaus erlebt. Auch das typische Verhalten von Vorgesetzten im Unternehmen trägt seinen Teil zur residualen Deutung der Arbeit bei, wie etwa folgendes Zitat aus einem weiteren Brief einer Angestellten von 302

Flecken-los verdeutlicht: »Es gibt einige wenige Vorarbeiter, die anders handeln. Bei ihnen möchte ich mich bedanken, dass wir für sie noch was wert sind. Bei den anderen kann ich nur sagen: Traurig, dass ihnen die Mitarbeiter so wenig wert sind. Denn die am Ende der Kette, die arbeiten, bringen das Geld und halten den Ruf der Firma aufrecht.« Aus dieser Äußerung spricht der Wunsch nach Anerkennung, die systematisch auch vonseiten direkter Vorgesetzter versagt wird.

Der Körper als Determinante des Ausschlusses Was bleibt, wenn die Arbeit selbst wenig materiale Gründe zur Erfahrung von Selbstwirksamkeit liefert und auch von der Führungsebene kaum Anerkennung erfahren wird, haben schon die bisher beschriebenen Fälle vor Augen geführt. Auch in der Reinigung dominieren Deutungen der Arbeit, die deren Wert an der Verausgabung körperlicher Leistungen bemessen. »Ausdauer« ist die einzige unabdingbare Kernkompetenz einer Reinigungskraft, so der junge durch Bodybuilding gestählte Azubi Jonas. Für die Mehrheit der Angestellten, Frauen jenseits der 40, ist dies freilich kein uneingeschränkter Grund zum Stolz mehr. Eher liefert die körperliche Anforderung der Arbeit Grund zur Sorge. Es sind immer die gleichen Kombinationen aus Rücken und Knien, an denen beinahe alle Angestellten leiden. Sorge ist durchaus angebracht, denn wer körperlich nicht mehr mithalten kann, ist seine Arbeit schnell los. Eine längere Krankmeldung führt häufig automatisch zur Kündigung, selbst bei Mitarbeitern mit langjähriger Betriebszugehörigkeit. Ein gebrochener Zeh etwa ist kein Grund, zu Hause zu bleiben. Gearbeitet wird bis zum Umfallen wie die Bosnierin Svetlana erklärt: »Ich erkläre, was los ist einfach. […] Einer spricht nicht Deutsch und sagt, ›Okay, […] ich mach ja weiter. Ich mach ja weiter.‹ Bis Umkippen. Der Schwarze, Afrikaner? Ne? Du, der hat ja 19 Stunden vielleicht am Tag gearbeitet. Weil Chef ihn für jede Scheiße, ah, Entschuldigung, halbe Stunde da, eine Stunde da. […] dann nimmt man, äh, halbe Packung Schlaftabletten, weil er nie zu Schlaf kam. Dann pennt er vier Tage, und am Ende bringen sie ihn dann ins Krankenhaus. […] Der hat sich nicht gemeldet, dass er nicht zur Arbeit kommt. Is gekündigt. […] Ich kenn das. Ich hab […] Morphium genommen, wo ich ja Schmerzen hatte. Wusste nie, dass es Lungenembolie ist. Aber bloß nicht zum Arzt. […] Ja. Und wo ich umgekippt 303

bin und im Sterben lag, denkst du, schnelle Hand hat sich am Kopf gekratzt? Nicht mal am Arsch.«183

Rationalisierung, Verantwortungsverschiebung, Ungleichheit Es sollte bereits deutlich geworden sein, dass Rationalisierungsstrategien auch im Bereich der Reinigung eine entscheidende Rolle in Bezug auf die Entwicklung des Arbeitsprozesses spielen. Rationalisierungsstrategien laufen dabei vornehmlich über drei Instrumente: Erstens wird über Arbeitszeitregelungen versucht, Flexibilität herzustellen. Man vergibt lieber mehrere geringfügige Stellen, die man auf unterschiedliche Objekte verteilen kann, als dass man auf volle Stellen setzt. Das Ziel ist eine qualitative Standardisierung der Arbeitszeit, die in kleine Einheiten zerlegt wird, derer sich der Arbeitgeber nach Belieben bedienen kann.184 Zweitens gibt es über den bereits erwähnten Trend zur Bedarfsreinigung eine interne Verschiebung von Arbeitsaufgaben. Bedarfsreinigung bedeutet im Kern: mehr Fläche, weniger Zeit. Dementsprechend ergibt sich ein Mehr an einfachen Tätigkeiten, die in Kombination erbracht werden müssen. Diese Universalisierung bedingt drittens die Verdichtung des Arbeitsprozesses. Diese Strukturierung führt zu einer Verantwortungsverschiebung, weil formalisierte Handlungskataloge, auf die sich die Reinigungskräfte berufen könnten, von nicht kodifizierten Zielvereinbarungen abgelöst werden, deren Auslegung gerade unter den Bedingungen zunehmender Arbeitsverdichtung relativ offen ist. Anders gesagt: Niemand weiß so ganz genau, wie viel er tun muss. Aber jeder weiß, wie viel er gerade noch schafft. Klafft zwischen diesen beiden Polen eine zu große Lücke, muss dies vom Personal selbst verantwortet werden. Diese vermeintliche Autonomie ist allerdings mehr Isolation als positive Freiheit. Denn die Freiheit in der Arbeit besteht im Kern in der Wahl des Pfusches, von dem geglaubt werden kann, dass er einen am ehesten durchkommen lässt. Es zeigt sich hier kein gestalterisches Potenzial, sondern lediglich der Zwang

183 »Schnelle Hand« bezeichnet Svetlanas Vorgesetzten, für den sie jahrelang ein

Objekt betreute, obwohl sie als normale Reinigungskraft angestellt war. 184 Konsequenz ist aber auch, dass dieser weniger Abgaben zu zahlen hat und sich

Sonderleistungen, wie etwa Wegegeld zwischen zwei Objekten, leichter umgehen lassen. Die Arbeitskraft wird billiger und flexibler.

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zur Absorbtion der Verantwortung administrativ getroffener Entscheidungen.185 Doch das Rationalisierungsmodell hat seine natürlichen Grenzen: Irgendwann ist es zu viel Fläche. Irgendwann ist es zu viel Pfusch. Der Balanceakt zwischen gerade noch zulässiger Arbeitszumutung und gerade noch zulässiger Sauberkeitsgewährleistung ist dabei ein Feld stetiger Verhandlung zwischen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und auch Kunden. Der Arbeitnehmer hat hier, so könnte man es sehen, die Vermittlerrolle zwischen Kunde und Arbeitgeber. Er ist jedoch nicht, wie etwa im Handel, der Kommunikationsermöglicher, sondern das Bauernopfer in der Mitte: Sein Kopf rollt, wenn der Kunde über ihn mit dem Arbeitgeber in Kontakt tritt.

Die Schnittstelle der Macht Der Arbeitgeber versucht, auch über psychologische Faktoren auf das Reinigungspersonal einzuwirken. Vermarktlichungsnarrative werden vor allem von der Managementebene als Rechtfertigung für materielle Benachteiligungen angeführt. So etwa der Geschäftsführer von Flecken-los: »Die Flecken-los Gmbh war auch 2009, trotz des wachsenden Drucks, erfolgreich. Wir haben neue Kunden gewonnen, alte gehalten. […] Um neue Kunden zu gewinnen und alte zu halten, werden von der Geschäftsleitung weiterhin enorme Anstrengungen unternommen, um die Arbeitsplätze zu sichern. Das hat auch den Grund, dass die Zahl der Reinigungsunternehmen – große wie kleine – auf rund 25000 gestiegen ist – der Druck ist stetig, sehr sehr gestiegen! Gerade die Vielzahl dieser Unternehmen macht unseren Job nicht leichter. Der Preis wird dadurch weiter getrieben, und wir merken das sicherlich alle.«186 In der konkreten Arbeitssituation sind diese Narrative allerdings nicht präsent. Das Reinigungsper-

185 Isoliert erscheinen die Arbeitnehmer dabei in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur

erfolgt der Ablauf der Arbeit weitgehend alleine und ist die Verantwortung systematisch auf die unterste Ebene verlagert. Auch die Kommunikation in den Belegschaften ist rar, einzelne Arbeitnehmer wechseln häufig zwischen verschiedenen Standorten und Teams. Auch die systematische Nachtarbeit isoliert das Reinigungspersonal von einem »normalen« Arbeitsablauf, und die Arbeit selbst bietet kaum Bewährungsräume für die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. 186 Auch dieses Zitat ist ein Auszug aus einer Rede bei einer Betriebsversammlung.

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sonal weigert sich auf Nachfrage oft explizit, den Faktor des Marktdrucks anzuerkennen. Denn sie wissen auch um die enormen Unternehmensgewinne. Der Druck wird daher als psychologisches Disziplinierungsinstrument erkannt und damit de facto wirkungslos, da ihm die Akzeptanz durch die Angestellten fehlt. Folgenschwer wiegt der Druck, Zahlen bringen zu müssen, nur für die Objektleiter beziehungsweise Vorarbeiter, die, der Situation bei Superpost oder Discount ganz ähnlich, verantwortlich gegenüber der Managementebene sind. Dieser Druck übersetzt sich in die Arbeitssituation über die konkrete Einflussnahme auf den Arbeitsprozess mittels Rationalisierungsstrategien187 und über die Ausübung personengebundener Macht, die diese Strategien durchzusetzen bemüht ist. Wiederum ist es den Vorarbeitern im Kern selbst überlassen, ob sie auf Kooperation oder auf Repression setzen, um die vereinbarte Leistung zu erreichen. Für die Objektleiter kann dies ambivalent sein, wie sich beispielhaft an der Praxis der Regelung von ausfallenden Zeitkontingenten zeigt: Fällt ein Arbeitnehmer aus, so hat der Vorarbeiter die Wahl: Er kann dessen Arbeitsstunden entweder auf die Kollegen verteilen, die dann mehr im Portemonnaie haben. Oder er spart die Stunden ein, was ihn dann einen Bonus von bis zu 150 Euro im Monat sichert. Diese Regelung lässt folglich die Bereicherung auf Kosten der Kollegen als naheliegenderen Weg erscheinen. Wenig verwunderlich ist es daher, dass die konkrete Arbeitssituation häufig von harten persönlichen Konflikten geprägt ist. »Wenn dir die Arbeit nicht passt, dann kannst du zurück in deine Heimat gehen«, ist der Satz eines Vorarbeiters, der in dieser oder anderer Form in unterschiedlichen Arbeitssituationen artikuliert wurde. Es wird auch davon berichtet, dass Vorarbeiter systematisch Druck auf erkrankte Arbeitnehmer ausüben, sich für die Zeit der Krankheit Urlaub zu nehmen. Eine förderliche Bedingung in Bezug auf repressive Formen der Machtausübung liegt auch in der hierarchischen Organisation der Belegschaften. Zwar sind diese im Grunde dichotom zwischen dem allzuständigen Vorarbeiter/Objektleiter und den Arbeitnehmern der ausführenden Ebene geteilt. Doch sind Objektleiter oft zugleich

187 Es sind die Vorarbeiter, die die Arbeitskontingente festlegen und überwachen.

Sie sind auch meist an der Ausarbeitung des Angebots für ein Objekt beteiligt.

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Vorarbeiter und in Personalunion für unterschiedliche Objekte zuständig. Dies führt dazu, dass häufig keine Weisungsperson direkt vor Ort ist. Es ist daher gängige Praxis, Weisungsbefugnisse an einen bestimmten Mitarbeiter innerhalb eines Teams zu delegieren. Meist ist der einzige Vorteil, den diese Person dann beanspruchen kann, der einer 40- oder doch zumindest 20-Stunden-Stelle. Nominell ist sie jedoch auf der gleichen Hierarchieebene wie ihre Kollegen. Aus diesem Umstand ergibt sich, dass ihre Autorität häufig nicht anerkannt wird und sie in der Folge zur Durchsetzung auf repressive Aktionen setzt. Es wird geschrien, gedroht, beschimpft, intrigiert und angeschwärzt.

Sabotage, Widerstand, Konflikt Das oftmals repressive Klima zeitigt bestimmte Folgen in der alltäglichen Praxis der Arbeitnehmer. Das Ausmaß an Widersetzlichkeit, das unter der fügsamen Oberfläche brodelt, ist hoch. In der Regel findet die Willkür der Vorarbeiter/Objektleiter oder ihrer informellen Vertreter ihren Widerhall erstens in willkürlich sabotativen, widerständigen Aktionen der Arbeitnehmer: Diebstahl von Arbeitsmaterial oder anderen Gegenständen, schlampiges Arbeiten, den Klolappen für die Kaffeetasse des Chefs benutzen – derlei Praktiken sind virulent, und wenn beim Interview von ihnen die Rede ist, spricht nicht selten heimlicher Stolz aus den Beschäftigten. Eine zweite Möglichkeit besteht im Brechen mit dem Status quo, also im direkteren Widerstand in Form von »Voice« oder »Exit«. Die immensen Fluktuationsraten legen nahe, dass das »freiwillige« Ausscheiden aus der Arbeitssituation eine häufig gewählte Strategie ist. Interessant ist jedoch auch, wie sich offener Widerstand (Voice) artikuliert. Dieser Weg wird in der Regel entweder impulsiv gewählt oder dann, wenn man nichts mehr zu verlieren hat. Es zeigen sich hier individuelle Akte der Auflehnung, oft mit dem Motiv der Rache im Hintergrund. Kollektivität wird höchstens instrumentell gesucht. Der Widerstand wird selten auf Dauer durchgehalten. Ist dies der Fall, so scheinen individuelle Eigenschaften die Basis für die Langatmigkeit zu sein. Denn die Kosten des Widerstandes sind im Alltag so massiv,188 dass persönliche Vorteilnahme kein hinreichen-

188 Mobbing, Arbeitsverdichtungen, Repression.

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des Motiv für das Durchhalten von Widerstand ist. Es zeigen sich dann etwa einzelne Arbeitnehmer, die sich nach Kündigungen immer wieder in das Unternehmen einklagen, weil sie den Weg des Widerstandes als eine persönliche Mission begreifen. Drittens findet sich freilich auch ein bedingtes Fügen in die eigene Situation, vor allem im Falle der Vielzahl der Geringfügigbeschäftigen. Man erträgt dann sein Schicksal, versucht, nicht aufzufallen und den Vorarbeitern keinen Grund zum Anecken zu bieten. Rein horizontale Konflikte sind eher nicht die Regel bei Fleckenlos. Dafür erfolgt die Arbeit zu isoliert. Auch ein gemeinsames Ergebnis, wie etwa im Falle von Superpost das Verbringen des Tagesaufkommens an Post, existiert nicht. Daher arbeitet im Kern jeder für sich und ist darauf bedacht, vor den Kollegen den eigenen Pfusch zu verbergen, statt um Hilfe zu bitten. In bestimmten Formen des Klatsches innerhalb der Teams zeigen sich weitere dissoziierende Momente: Der Schimpfklatsch operiert dabei im Kern mit Essentialismen und im Besonderen mit dem Faktor der Ethnizität. Es stellen sich beispielsweise bei Diskussionen mit Realgruppen Situationen ein, in denen ein autochthon-deutscher Gebäudereiniger Migration als Geißel der Gesellschaft beschreibt, während drei Viertel seiner Kollegen, allesamt in der Situation anwesend, Wurzeln im Ausland haben. Kommunikation im Bereich der Gebäudereinigung ist ein dissoziierendes Phänomen.

Macht und Dissoziation Setzen wir die genannten Aspekte der Ordnung der Arbeitssituation bei Flecken-los noch einmal in Verbindung: Auch hier zeigen sich Rationalisierungsstrategien, die auf spezifische Weise den Arbeitsprozess durch Standardisierung und Universalisierung prägen. Die Tätigkeit verliert in der Konsequenz beinahe alle Möglichkeiten der Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Selbst ohnehin höchst vergängliche Tagesziele der Sauberkeit können im Zuge des Konzeptes der Bedarfsreinigung kaum noch erreicht werden, weil Pfusch einen integralen Bestandteil dieses Systems bildet. Körperliche Verausgabung als zentrale Bezugsgröße für Arbeitsstolz zu mobilisieren, ist für die Mehrzahl der Frauen jenseits der 40 kein gangbarer Weg mehr. Denn der Körper regelt auch den Ausschluss aus der Arbeit und muss daher so gut wie möglich bewahrt werden. Jenseits des direkten Einflusses auf den Arbeitsprozess mittels Rationalisie308

rungsstrategien zeigen sich bei Flecken-los Versuche, Vermarktlichungsnarrative motivierend in Stellung zu bringen. Diese greifen allerdings, genau wie im Falle von Superpost, nicht auf der ausführenden Ebene, sondern lediglich im Sinne des Drucks durch Zielvereinbarungen auf der Ebene der Objektleiter beziehungsweise Vorarbeiter. Herrschaft im Sinne des marktzentrierten Kontrollmodus, so könnte man formulieren, ist der ausführenden Ebene fern, personengebundene Macht dagegen nah und vertraut. Diese manifestiert sich in zahlreichen repressiven Praktiken von Seiten der Objektleiter/Vorarbeiter beziehungsweise deren »linker Hände«189. Ein Effekt der Rationalisierung des Arbeitsprozesses ist die faktische Isolation der Gebäudereiniger in mehrfacher Hinsicht: Die Arbeit wird alleine ausgeführt, die Verantwortung im Schadensfall trägt die ausführende Kraft, und Kollegenhilfe ist eine Seltenheit. Anders als etwa bei Superpost übernimmt das Team also keine größeren Disziplinierungsfunktionen. Denn die Reinigungskräfte versuchen, ihrer Arbeit eher wenig Sinn abzuringen, und legen daher meist wenig Wert auf Kooperation. Disziplinierend wirken hauptsächlich die Vorarbeiter beziehungsweise deren linke Hände auf die Beschäftigten ein. Dies geschieht mittels personengebundener Macht, die von den Beschäftigten nur bedingt anerkannt wird, da die Ziele der Disziplinierungen ohnehin als unerreichbar gelten und Pfusch stillschweigend als Teil des Systems akzeptiert wird. Jenseits der Momente der Repression stellen sich so im Grunde Dynamiken der wechselseitigen Vergleichgültigung innerhalb der Kollegenschaft, aber auch zwischen der ausführenden Ebene und den Vorarbeitern ein. Vergleichgültigung ist dabei Ausdruck der situativen Ohnmacht gegenüber repressiven Praktiken, deren Legitimität nicht anerkannt wird. Auf der Seite der Reinigungskräfte zeigen sich unterschiedliche Handlungsorientierungen, die als Reaktionen auf die erfahrene Ohnmacht verstanden werden können: Praktiken der Sabotage und der stillen Widersetzlichkeit, des offenen Widerstandes oder des Ziehens der Exit-Option sowie das Ducken und Fügen, mit 189 Der Begriff »linke Hand« wird hier nicht zufällig gewählt. »Rechte« Hand

würde zu sehr zu Kompetenz- und Legitimitätsvermutungen verführen. Die linken Hände zeichnen sich aber gerade dadurch aus, dass sie sich weder durch Kompetenzen für ihre Stellungen qualifizieren noch als rechtmäßige Positionsinhaber von den ihnen Untergebenen anerkannt werden.

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dem Ziel, sich schadlos zu halten, oder die aktive Beförderung der Macht der Vorgesetzten zum Beispiel durch das Anschwärzen von Kollegen. Der Ordnungsmechanismus dieser Arbeitssituation, in der sich Rationalisierungsstrategien zunächst in Repression, Isolation und Vergleichgültigung niederschlagen, verändert auch die Logik der Unterschichtung: Im Falle der Reinigung sind Unterschichtungeffekte zuallererst vertraglich induziert. Die Expansion von Teilzeitarbeit und Minijobs zählt zu Strategien der Standardisierung, die im Falle der Reinigung zum Ziel haben, möglichst viele möglichst kleinteilige Zeiteinheiten zu erzeugen, über die dann flexibel verfügt werden kann. Daran schließen Maßnahmen der Universalisierung von Aufgaben an, die vornehmlich darauf zielen, die erzeugten Zeiteinheiten möglichst effizient zu nutzen. So stellt sich zwar der Effekt der Unterschichtung ein. Denn einerseits werden immer weniger Verträge mit langen Arbeitszeiten vergeben, womit Druck auf die verbliebenen Stellen dieses Zuschnitts erzeugt wird. Andererseits suggeriert die Universalisierung der Tätigkeitsprofile eine Entdifferenzierung der notwendigen Kompetenzen der Arbeitnehmer, weil schließlich im Rahmen des Systems der Bedarfsreinigung grundsätzlich auch ein Minijobber alle erforderlichen Aufgaben bewältigen kann. Der Unterschichtungseffekt zeitigt jedoch nicht die gleichen disziplinierenden Folgen wie etwa im Falle von Superpost. Bei Flecken-los zeigt sich kein handlungsleitendes Ethos guter Arbeit, das Selbstdisziplinierung bedingen könnte. So ist die persönliche Bindung an eine Stelle in der Gebäudereinigung eher gering: Die Arbeitnehmer wissen, dass sie zu gleichen Konditionen in der Reinigung immer wieder unterkommen. Ähnlich wie bei Superpost existiert hingegen das Exklusionsrisiko, das sich maßgeblich über die Dimension des Körpers bestimmt. Denn die physischen Belastungen der Reinigungsarbeit sind enorm und werden durch die benannten Rationalisierungsstrategien weiter verschärft. Pfusch wird in der Reinigung toleriert, Krankheit dagegen kaum.

Die Multioptionsfirma Am Beispiel von Flecken-los lässt sich der Ordnungsmechanismus einer Arbeitssituation veranschaulichen, in deren Rahmen die Arbeitnehmer hochgradig isoliert einer von ihnen weitgehend als resi310

dual empfundenen Tätigkeit nachgehen. Autonomie bezieht sich nur noch auf die Verantwortungsübernahme für Arbeitsabläufe, von denen man weiß, dass sie entsprechend der vorgegebenen Norm nicht zu bewältigen sind. Der rein gewährleistende Charakter des Arbeitsvollzugs manifestiert sich hier unter anderem in residualen Deutungen der eigenen Tätigkeit aufseiten der Beschäftigten. Diese Diagnose kann analytisch nicht zuletzt auf den Umstand zurückgeführt werden, dass in der Arbeit keine Anerkennungserfahrungen gemacht werden, weil die eigene Integration in einen arbeitsteiligen Zusammenhang nicht erfahrbar ist.190 Schließlich rücken die Reinigungstrupps von Flecken-los meist nachts aus, um die »eigentliche« Arbeit in Büros und Behörden nicht zu stören. In diesem Zusammenhang ist die Firma HFM interessant. Hier finden die einfachen Dienste nicht nur zeitgleich mit hoch qualifizierter Arbeit, sondern auch jenseits der einzelnen Professionen im selben räumlichen Kontext statt. Sowohl das medizinische Personal, das in der Mutterfirma beschäftigt ist, als auch verschiedene einfache Dienste, die unter dem Dach der HFM organisiert sind, befinden sich hier effektiv im gleichen Arbeitsprozess. Für die Analyse der Arbeitssituation stellen sich in diesem Sinne ganz neue Herausforderungen. Im Falle von Flecken-los konnte die Arbeitssituation aufgrund ihrer monoprofessionellen Organisation in kleinen dezentralen Einheiten noch wie unter einem Brennglas analysiert werden. Dieser Weg steht im Falle von HFM nicht mehr zur Verfügung, jedenfalls nicht, wenn man an dem Zusammenspiel verschiedener Tätigkeiten interessiert ist. Die Arbeit von Reinigungskräften, internen Bringdiensten, des Bettenmanagements, der Instrumentensterilisation und des Kantinenbetriebs, aber auch der medizinischen Betreuung findet im gemeinsamen funktionalen Rahmen eines Krankenhauses statt. Zu beantworten ist daher die Frage nach den Auswirkungen dieser hautnah erfahrbaren Form der Arbeitsteilung auf die Herrschaftslogik der Arbeitssituation. Im Falle von HFM steht diese im Zeichen multipler Unterschichtungskonstellationen: Dies gilt schon

190 Seit Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, gilt der Gedanke eines Zusam-

menhangs sozialer Integration und der Einbindung in Zusammenhänge erlebbarer Arbeitsteilung als ein Grundgedanke der Gesellschaftstheorie.

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deswegen, weil HFM selbst das Resultat gezielter Unterschichtungspolitik ist. Denn bis 2004 waren die Tätigkeiten, die heute unter dem Dach der HFM untergebracht sind, noch im Krankenhaus selbst beheimatet. Im Zuge einer radikalen Kostensenkungsstrategie wurden allerdings sämtliche Tätigkeiten jenseits der medizinischen Ebene in die neu gegründete Tochterfirma HFM ausgelagert. Neueinstellungen erfolgen seither unter erheblich verschlechterten Bedingungen, da der Haustarifvertrag des Krankenhauses für HFM nicht gilt. Ausgliederungsstrategien mit dem Ziel der Kostensenkung liegen im Krankenhausbereich schon seit längerer Zeit im Trend.191 Wie bereits erwähnt, findet sich bei den Großunternehmen im Bereich reiner Gewährleistung eine allgemeine Tendenz zur Multiprofessionalität. Der übliche Begriff, unter dem diese Tendenz, verschiedene, vor allem hauswirtschaftliche Tätigkeitsbereiche des Gebäudemanagements unter einem Dach zu versammeln, geführt wird, ist der des Facility Management. HFM ist nun ein Unternehmen, in dem diese Entwicklung und ihre Folgen für die Herrschaftslogik der Arbeitssituation direkt nachvollzogen werden können.

Ein Kind des Kostendrucks Seit der Gründung von HFM hält das Mutterunternehmen 51 Prozent der Anteile an der Firma. Die restlichen 49 Prozent haben drei große Firmen inne, die jeweils eigenständig auf dem Gebiet der Reinigung, des Transports und des Gesundheitsmanagements aktiv

191 Jaehrling, »Wo das Sparen am leichtesten fällt«, S. 182. Zwar war dieser Ar-

beitsbereich lange eine »tarifpolitische Insel« gerade für einfache Tätigkeiten (ebenda, S. 179), Finanzierungsengpässe innerhalb des Gesundheitswesens haben allerdings die »informelle Tarifkoordination geschwächt und die Löhne unter Druck gesetzt« (ebenda, S. 180). Es sind dabei vor allem die einfachen Tätigkeiten, die den Kostendruck zu schultern haben. Innerhalb des hier untersuchten Krankenhauses wurden lange Zeit andere Modelle der Auslagerung erprobt. Vor der Gründung von HFM wurden beispielsweise schon Kantinen-, Reinigungs- und Sterilisationsdienste an externe Firmen vergeben. Die Gründung von Tochterfirmen wie HFM ist vor allem auf den Umstand zurückzuführen, dass die Mutterkonzerne auf diese Weise 19 Prozent Mehrwertsteuer sparen, die sie andernfalls an externe Auftragnehmer abführen müssten.

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sind.192 Im Unternehmen arbeiten derzeit knapp 2000 Personen, die auf mehrere Klinikstandorte verteilt sind. Im Folgenden wird nur die Situation am Hauptstandort betrachtet. Aufgrund der speziellen Gründungsgeschichte von HFM gibt es drei klar unterscheidbare Gruppen innerhalb der Belegschaft. Zunächst ist da die Gruppe der sogenannten Gestellten zu nennen, die im Rahmen der Ausgliederung ihrer Tätigkeitsbereiche vom Mutterunternehmen an die HFM »ausgeliehen« wurden. Die Gestellten sind solche Arbeitnehmer, die aufgrund langjähriger Betriebszugehörigkeit rechtlich dazu befähigt waren, die Auflösung ihrer alten Verträge und die Eingliederung in HFM zu neuen Konditionen zu verweigern. Das heißt, dass die Gestellten zwar unter dem organisatorischen Diktat von HFM stehen, dass sie aber dennoch mit erheblichen vertraglichen Vorteilen ausgestattet sind. Eine zweite Gruppe bezeichnet solche Arbeitnehmer, für die noch die Regeln ihrer jeweils tätigkeitsspezifischen tariflichen Eingruppierung gelten. Auch diese Gruppe ist aufgrund längerer Betriebszugehörigkeit in diese »privilegierte« Lage geraten. Für sämtliche seit 2004 erfolgten Neueinstellungen gelten diese Regeln nicht mehr. Die betroffenen Mitarbeiter konstituieren eine dritte Gruppierung. Ihre Arbeitsverhältnisse sind einzelvertraglich geregelt. Sie werden unter der offiziellen Bezeichnung »Servicekräfte« eingestellt. Ihre Tätigkeitsprofile sind daher vertraglich nicht klar strukturiert. Sie werden gerne als Springer zwischen verschiedenen Tätigkeiten eingeteilt. Die HFM leitet aus diesem Umstand auch den Anspruch ab, keinen tätigkeitsbezogenen Rahmentarifvertrag zu akzeptieren. In einzelnen Tätigkeitsbereichen, etwa im Falle der Pförtner, zahlt HFM sogar Löhne unterhalb des branchenspezifischen Mindestlohns für die Sicherheitsbranche mit dem Argument, die als Servicekräfte angestellten Pförtner seien keiner Tätigkeitsgruppe klar zuzuordnen. Das Unternehmen macht keinen Hehl daraus, dass auf lange Sicht die Arbeit-

192 HFM hat auf diesem Weg Know-how in Sachen eigenständigen, profitorientierten Gebäudemanagements in das Unternehmen geholt. HFM ist damit zu-

gleich ein Aushängeschild für das Konzept des Public-private-Partnership geworden, da sich der Mutterkonzern in staatlicher Trägerschaft befindet, während die Minderheitseigner von HFM allesamt Profitinteressen verfolgen. Bisher ist das Mutterunternehmen der einzige Kunde von HFM . Es gibt aber durchaus Pläne, auch Aufträge Dritter einzuwerben.

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nehmerschaft in Form der dritten Gruppe homogenisiert werden soll. Schon in der Dreiteilung ist eine Unterschichtungslogik entlang der vertraglich geregelten Privilegienstruktur angelegt. So ist empirisch klar ersichtlich, dass die Gruppe der Gestellten kein Interesse an einer eigenen Haustarifvertragsregelung bei HFM hat, da sie sich noch immer eine Reintegration in den Mutterkonzern erhofft. Auch diejenigen Mitarbeiter, die mit alten tariflichen Privilegien ausgestattet, aber keine Gestellten sind, teilen nicht unbedingt dieselben »objektiven« Interessen wie die große Gruppe der neuen Servicekräfte. Der Outsourcingprozess, der zur Entstehung von HFM geführt hat, ist selbst als ein Unterschichtungsvorgang zu verstehen. Denn ein großer Teil der Belegschaft ist aus einer ehemals integrierten Position in eine Außenseiterstellung mit manifesten Nachteilen gedrängt worden. Ein solcher Trend ist im Gesundheitswesen an vielen Stellen zu beobachten. Die Grenze scheint dabei entlang der Materialität der Tätigkeiten zu verlaufen. Denn ausgegliedert werden in der Regel alle niedrigrangigen Tätigkeiten jenseits des medizinischen Personals.193 Die Grundmotivation des Unterschichtungsprozesses ist leicht ersichtlich. Das Primat der Kostensenkung diktiert dem Prozess seine Regeln. Dies findet seinen Ausdruck in einer rigorosen Befristungspolitik, wie sie auch in den meisten anderen Bereichen des Samples beobachtet wurde: Bei HFM wird zwei Mal auf ein Jahr befristet, danach häufig ohne ersichtlichen wirtschaftlichen Grund gekündigt, um sich keine personellen Lasten aufzubürden, die die Flexibilität des Personalmanagements gefährden könnten. Häufig werden auch nur Verträge mit einer Laufzeit von wenigen Monaten vergeben, obwohl nicht zu ersehen ist, dass HFM die Arbeit ausgehen könnte. Doch kommt in solchen Fällen die Frage der Entfristung nicht einmal auf die Tagesordnung. Im Zeitraum der Untersuchung gab es monatlich ungefähr 100 solcher Neuverträge.

193 Die Erklärung hierfür ist im Zeichen der für die Pflege beschriebenen Dyna-

miken augenscheinlich: Ein bedingtes Ausmaß an Rationalisierungsresistenz im Bereich medizinisch-pflegerischer Tätigkeiten sorgt dafür, dass diese nur bedingt standardisiert werden können. Die Logik der HFM beruht allerdings ganz auf der Standardisierung der versammelten Tätigkeiten, damit diese von den allzuständigen Servicekräften ausgeführt werden können.

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Die Hinterbühne des Krankenhauses Im Folgenden soll nun ein Blick auf die Tätigkeitsprofile bei HFM geworfen werden. Hierzu werden drei exemplarische Bereiche aus dem 18-teiligen Tätigkeitsportfolio194 zur Beschreibung gewählt: die Gebäudereinigung, in der circa ein Drittel der Beschäftigten von HFM aktiv sind, der interne Materialtransportdienst und die Zentralsterilisation. Die Wahl dieser exemplarischen Bereiche ergibt sich zum einen daraus, dass sie zahlenmäßig den größten Teil der Belegschaft ausmachen. Zum anderen folgt sie der empirischen Erschließung des Betriebs, während der die benannten Bereiche im Vordergrund standen. Auch die Arbeitsteiligkeit der Prozesse innerhalb der HFM lässt sich gut an diesen drei Bereichen veranschaulichen. Die Beschreibung der Tätigkeiten kann hier relativ kurz abgehandelt werden. Denn was den Arbeitsalltag bei HFM prägt, wurde vielfach bereits in den vorhergehenden Arbeitssituationsanalysen besprochen. Dies gilt zumindest für den Bereich der Reinigung und die distributiven Tätigkeiten im Unternehmen. Einige Besonderheiten der Arbeit bei HFM sind bemerkenswert: So ist in der Gebäudereinigung etwa der übliche Takt der Arbeit ein anderer als bei Flecken-los, sie wird nicht, wie sonst üblich, zu Zeiten ausgeführt, zu denen die Räumlichkeiten ungenutzt sind, sondern parallel zur »eigentlichen« Arbeit. Der Krankenhausbetrieb steht nie ganz still, und so findet beinahe alle Arbeit in einem gemeinsamen zeitlichen Kontext statt. Ist ein OP -Saal genutzt worden, so rückt das Reinigungspersonal an, um ihn gleich wieder herzurichten. Auch die Komplexität der Reinigungsarbeit steigt im Umfeld des Krankenhauses. 194 HFM bietet unter anderem Dienstleistungen in den Bereichen Medizin-

technik, Sicherheitstechnik, Technik für Außenanlagen, Waren- und Logistikdienste, interne Postdienste, Archivdienste, Abfallwirtschaft, Verpflegung, Pflanzenpflege, gärtnerische Dienste, Bettenaufbereitung, Sicherheits- und Pförtnerdienste, Reinigung, Sterilisation, Telefondienste und Medientechnik an. Schon in dieser Aufzählung zeigt sich, dass sich zwar hauptsächlich, aber nicht nur einfache Dienste unter dem Dach der HFM sammeln. Die strukturelle Heterogenität der Belegschaft wird dadurch erhöht. Außerdem wird ersichtlich, dass nicht alle Tätigkeitsfelder auch eigenständige Einheiten sind. So wird die Pflege von Zimmerpflanzen nicht immer von Personal getätigt, das nur hierfür zuständig ist, sondern kann in den Bereich von Gebäudereinigern fallen, die wiederum als »Servicekräfte« angestellt sind. Hierin zeigt sich wiederum die Tendenz der quantitativen Universalisierung von Aufgaben.

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Bedarfsreinigung ist hier kein flächendeckend etablierbares System, denn die Räumlichkeiten erfordern spezifische Kompetenzen. Operationssäle müssen sachkundig desinfiziert werden, Fehler können schwere Folgen haben. Umso aussagekräftiger ist es, dass ungeachtet des relativ hohen Differenzierungsgrades der Tätigkeiten versucht wird, über den Einsatz von Servicekräften in anspruchsvollen Reinigungstätigkeiten die tariflich geregelten Lohngruppendifferenzierung zu unterlaufen.195 Jenseits dessen bestehen grundsätzliche Charakteristika der Reinigung natürlich auch im Rahmen der Arbeit bei HFM : Auch hier arbeiten fast ausschließlich Frauen. Auch hier zeitigt die Arbeit kein bleibendes Ergebnis, und Produzentenstolz ist keine Einstellung, die sich beim befragten Personal auffinden ließe. Auch das Invisibilitätsproblem der Reinigung hat sich durch ihre zeitliche Verflechtung mit dem normalen Krankenhausbetrieb nicht erledigt. Weiterhin gilt: Die Arbeit der Reinigungskräfte wird nur bemerkt, wenn diese Fehler machen. Die internen Transportdienste der HFM sind in ihrer materialen Dimension anderen Tätigkeiten im Bereich des Distributiven sehr ähnlich: Auch hier arbeiten praktisch ausschließlich Männer. Auch hier ist die Arbeit körperlich anstrengend und der Körper das Gütebemessungskriterium der Wahl. Andere potenzielle Aspekte des Distributiven, wie sie in den Fällen von Superpost und Newsfeed eine tragende Rolle spielen, finden sich bei HFM allerdings nicht. So befindet sich dort die anfallende Arbeit in einem stetigen Fluss. Es wird nicht zu Beginn einer Schicht ein spezifisches Tageskontingent bestimmt, dessen Verschaffung dann als erfolgreiches Tagesergebnis verbucht werden könnte. Vielmehr kommt Arbeit in unregelmäßigen Wellen und ebbt grundsätzlich nie ganz ab. Dies hat nicht nur Folgen für die Möglichkeit, eine ergebnisbezogene Deutung der eigenen Tätigkeit zu entwickeln. Auch der neben dem Körper zweite zentrale Aspekt der arbeitsspezifischen Deutungen im Bereich des Distributiven ist im Falle von HFM von stärkeren systematischen Einschränkungen betroffen: Autonomie wird nicht, wie in der Zustellung, im Prozess des eigenständigen Verteilens auf der Straße erfahren. Vielmehr besteht permanente Weisungsabhängig-

195 Servicekräfte, die flexibel auch im OP eingesetzt werden können, verdienen

dort nur Mindestlohn.

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keit, da das zu bearbeitende Warenaufkommen zeitlich stark variiert und kurzfristig koordiniert werden muss. Die personelle Unterbesetzung befeuert diese Dynamik noch. Dafür ist bei HFM wiederum mehr Kommunikation gefragt: Während die Fahrer unterwegs sind, empfangen sie mittels Funk stetig neue Anweisungen und müssen untereinander Absprachen treffen. Dieser Umstand ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass auch sie der gleichen Invisibilitätsdynamik ausgesetzt sind wie das Reinigungspersonal. Auch sie sind zwar funktional in den Krankenhausbetrieb integriert. Aber ihre Arbeit wird weitgehend im Stillen verrichtet. Die Fahrer sausen permanent mit kleinen Wagen mit mehreren Anhängern durch die breiten Gänge der Katakomben des Krankenhauses, bringen Waren vom Lager zu einem der Fahrstühle oder von dort zur Zentralsterilisation. Die meiste Zeit ihres Arbeitstages verbringen sie unter der Erde. Bemerkt wird ihre Arbeit, wenn Ware im Weg herumsteht oder ihren Zielort nicht erreicht. Ebenfalls in den weitverzweigten Katakomben des Krankenhauses angesiedelt ist der dritte hier betrachtete Bereich: Die Zentralsterilisation befindet sich in einem eigenen Teil des Kellers. Die Tätigkeiten hier ähneln so sehr jenen industrieller Arbeit, dass der Begriff des Dienstleistungstaylorismus196 angebracht erscheint. Die Zentralsterilisation besteht aus einem großem Raum, in dem verschiedene Werkbänke verteilt sind und an dessen einem Ende sich die eigentliche Sterilisationsmaschine befindet, eine Art vollautomatische Waschstraße. Das zu desinfizierende Material wird von den Arbeitenden falls notwendig zunächst an den Werkbänken in einzelne Teile zerlegt. Anschließend wird es zur Desinfektion und Säuberung in die Maschine verbracht. Danach werden die Objekte wieder zusammengesetzt und zum Abtransport bereitgestellt. Die Tätigkeiten beschränken sich auf relativ einfache Handgriffe beim Verräumen, Zerlegen und Zusammenbauen der einzelnen medizinischen Gerätschaften. Gerade das Zerlegen und Zusammenbauen kann aber durchaus anspruchsvoll sein, da auch fehlende Einzelteile nach einem vorgegebenen Katalog ersetzt werden müssen. Die Arbeitsteilung erfolgt einerseits ein Stück weit im tayloristischen Sinne ent-

196 Voss-Dahm, Dienstleistungstaylorismus; Voss-Dahm/Lehndorrf, »Lust und

Frust in moderner Verkaufsarbeit«.

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lang einzelner zergliederter Arbeitsschritte mit unterschiedlichen personellen Zuständigkeiten. Auf der anderen Seite ist das Zerlegen und Zusammenbauen selbst nach den medizinischen Abteilungen zugeordnet, zu denen die jeweiligen Gerätschaften gehören. Jede Sterilisationskraft packt nach dem Waschgang Pakete für die jeweilige Station entlang deren Bestellung. Die drei genannten Tätigkeitsbereiche – Reinigung, Transport und Sterilisation – hängen funktional eng zusammen: Wird beispielsweise ein Operationssaal gereinigt, so verbringt die Reinigungskraft die verschmutzten Geräte zu einer Sammelstelle. Dort werden sie von den Beschäftigten der Abteilung Materialtransport eingesammelt und zur Zentralsterilisation transportiert. Sind sie dort gereinigt, desinfiziert und neu verpackt worden, werden sie von den Transportangestellten abgeholt und wiederum auf die Stationen verbracht, die die Ausrüstung benötigen. Es zeigt sich schon in dieser Gewährleistungskette, welche Schlüsselrolle die Servicekräfte mit ihren unspezifizierten Tätitgkeitsprofilen einnehmen. Schon der Transport der Geräte zu einer Sammelstelle zählt nicht zur Tätigkeit einer Reinigungskraft im engeren Sinne. Die Angestellten des Materialtransports wiederum sind nicht selten längere Zeit mit dem Verlagern der Geräte in der Zentralsterilisation oder gar mit dem Bestücken der Waschstraße selbst beschäftigt. Auch die Grenzen zwischen ihrer Tätigkeit und den Aufgaben der Zentralsterilisation verschwimmen systematisch, da sämtliche Abteilungen personell unterbesetzt sind und daher angehalten werden, sich gegenseitig unter die Arme zu greifen. Wiederum sind die entscheidenden Dynamiken in allen Bereichen eine Kombination aus Maßnahmen qualitativer Standardisierung197 und quantitativer Universalisierung der Aufgaben.

»Träger« Widmen wir uns jedoch zunächst den Ordnungsmomenten der drei Abteilungen im Einzelnen. In der Reinigung finden wir wiederum das Muster, das sich schon im Falle von Flecken-los zeigte. Dabei hat sich allerdings die Rolle von Objektleiter und den jeweiligen Vorar-

197 Dies geschieht beispielsweise im Falle der Zentralsterilisation auch durch die

Technisierung der Arbeit mittels der Waschstraße.

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beitern geändert. Dies liegt im Kern an der Größe des Objekts, in dem pro Schicht mehr als 100 Reinigungskräfte koordiniert werden müssen. Deren formale Einteilung in Belegungsplänen erfolgt im sogenannten »Backoffice«, dessen Leitung der Objektleiter innehat. Die Vorarbeiter sind wiederum die Transmissionsriemen für dessen Anweisungen und damit der Ausgangspunkt effektiver vertikaler Machtausübung. Sie bestimmen über das einzige zentrale Privileg innerhalb der Reinigung, nämlich die Zuweisung einer regelmäßigen Route. Dies gilt deswegen als Privileg, weil sich dann feste Gewöhnungszustände und in der Folge Routinen, die die Arbeit erleichtern, einstellen. Die Zuweisung dieses Privilegs ist direkt vom Wohlwollen der Vorarbeiter abhängig. Mit ihnen muss man sich gut stellen. Privilegien sind nie auf Dauer gestellt. Der Körper sowie die allgemeine Fügsamkeit sind wiederum die zentralen Kriterien des Vorteilgewinns beziehungsweise -verlustes. So berichtet eine Reinigungskraft, in 13 Jahren Betriebszugehörigkeit nur sechs Wochen krank gewesen zu sein. Als sie dann einmal für einen Monat am Stück ausfällt, hat sie ihr Stammrevier an eine andere Reinigungskraft verloren. Dies schürt selbstverständlich auch die Konkurrenz unter den Angestellten. Systematisch zeigt sich dies auch an einer Evaluierungspolitik, die der von Superpost bis aufs Haar gleicht: Erkrankt eine Reinigungskraft mit Stammroute, wird in der Regel eine junge Servicekraft auf ihrer Tour eingesetzt. Bringt diese nun bessere Leistungen als die alte Stammkraft, so hat diese mit negativen Konsequenzen zu rechnen.198 Zur Bearbeitung dieses Konkurrenzverhältnisses stehen allerdings die Türen der Vorarbeiter immer offen. Denn der zentrale Weg der Anrechtsgewinnung besteht in der Weitergabe von Informationen über Kollegen und deren Arbeit an die Vorarbeiter. Dafür hat sich im Unternehmen ein eigener Begriff etabliert, der des »Tragens« beziehungsweise des »Trägers«. Gemeint ist damit die Weitergabe negativer Informationen über Kollegen von der ausführenden Ebene an die Vorarbeiter oder Objektleiter. Das Muster horizontaler Konflikte mit vertikalen Effekten zeigt sich dabei in Reinform. Die Zwietracht wird auch gezielt geschürt, etwa wenn Vorarbeiter

198 Sei es, dass sie ihre Stammroute verliert, sei es, dass sie mit stärkerer Kontrolle

zu rechnen hat.

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Kollegen Informationen darüber zukommen lassen, wer sie auf welche Weise angeschwärzt hat. Die Belegschaft teilt sich in der Folge jenseits der bereits genannten Dimensionen nochmals in die Gruppe jener, die sich mit den Vorarbeitern gut stellen und in der Folge Privilegien genießen dürfen, und jener, die dies nicht tun und so Vorteile verlieren.199

Der Arbeitnehmer als Konkursmasse des Arbeitsprozesses Außerdem tritt stärker als bei Flecken-los die systematische Destrukturierung der spezifischen Aufgabenprofile in den Blick. Dies liegt an den komplexen Anforderungen, die eine medizinisch korrekte Form der Reinigung an die Arbeitnehmer stellt. Destrukturiert werden deren Aufgabenprofile in dem Sinne, dass zunehmend Servicekräfte Tätigkeiten ausüben, die nach dem Tätigkeitskatalog der Reinigung eigentlich von Spezialkräften ausgeführt werden müssten. Die Destrukturierung der Tätigkeiten in diesem Bereich stellt für die Servicekräfte freilich eine quantitative Universalisierung ihrer Aufgabenbereiche dar. Eine solche Universalisierung zeichnet, wie bereits erwähnt, auch den Bereich des internen Materialtransports aus. Denn die Arbeitnehmer sind hier angehalten, im Zweifelsfall auch in der Zentralsterilisation mit Hand anzulegen.200 199 Letzteres gilt im Besonderen für gewerkschaftlich orientierte Arbeitnehmer,

die sich mit aggressiver Abmahnungspolitik arrangieren müssen. Während die einen während der Arbeit Rauchpausen einschieben dürfen, ist dies für die anderen ein Grund zur Maßregelung. Sie können sich keine Hoffnung auf Überstunden machen, und ihre Urlaubspläne werden als Letztes berücksichtigt. 200 Das Arbeitsaufkommen hat in diesem Bereich allerdings dazu geführt, dass der Materialtransport intern in zwei Teile untergliedert wurde: jenem, der im Kern mit Sterilgut hantiert, und einem zweiten, der auch anderes Material, Getränke, Essen usw. transportiert. Die Universalisierung der Tätigkeiten hat sich hier als organisatorisch nachteilig erwiesen, weswegen beide Bereiche formal getrennt wurden. In beiden Bereichen für sich betrachtet setzte dann allerdings die Dynamik quantitativer Universalisierung sogleich wieder ein: Die einen müssen nun auch in der Sterilisation mit Hand anlegen, die anderen werden immer öfter auch im Bereich des Catering eingesetzt. Standardisierung bleibt dabei der zweite zentrale Fokus: Die Tätigkeiten in allen Bereichen müssen so einfach sein, dass keine spezifischen Kompetenzen entwickelt werden müssen, um die Arbeit durchzuführen. Im Bereich des Transports zeigt sich diese Bestrebung auch in den Belegungsplänen. Anders als in der Reinigung gibt es hier gar keine festen Reviere oder Touren. Vielmehr setzt der Vor-

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Die Position des Springers, die in der Reinigung die am wenigsten geachtete ist, ist im Transport universalisiert. Die Machtförmigkeit der Etablierung dieses Systems zeigt sich wiederum auf vertikaler wie auf horizontaler Ebene: Zum einen erfordert die Organisation der Arbeit in der Form flexibler Allzuständigkeit ein erhöhtes Maß an Absprachen unter den Kollegen, die wiederum in konfliktuellen Verhältnissen zueinander stehen. Zum anderen ist der Vorarbeiter, dessen Idee die Universalisierung des Springersystems ist, eigentlich gar kein Vorarbeiter. Er ist einer der Fahrer, der sich berufen gefühlt hat, den Arbeitsprozess zu verbessern. Für ihn bedeutete dies mehr Arbeit, ohne finanzielle Vergeltung. Doch hat er dabei auch seine Machtmöglichkeiten in Bezug auf die Kollegen erweitert. Unter ihnen erntet sein Engagement nur Kopfschütteln. Den Kollegen ist nicht zu vermitteln, warum man sich jenseits der Mehrung materieller Vorteile berufen fühlen sollte, sich in der Regulierung des Arbeitsprozesses zu engagieren.201 Die im Falle der internen Transportdienste virulenten Dynamiken qualitativer Standardisierung und quantitativer Universalisierung zeigen sich auch im Bereich der Zentralsterilisation. Auch hier sollen sämtliche Arbeitnehmer grundsätzlich ersetzbar sein, was einerseits durch Reduktion der qualitativen Komplexität der Tätigkeiten, andererseits durch eine grundsätzliche Allzuständigkeit der Arbeitnehmer erreicht werden soll. Auch hier wechseln die Arbeitsplätze systematisch, sodass keine festen Gewöhnungszustände eintreten können. Die geringe Größe des Bereichs – hier sind nur circa 15 Personen beschäftigt – führt dazu, dass dies jeden Morgen aufs Neue auf Basis der Anweisungen der Vorarbeiterin geschieht. Dabei

arbeiter explizit darauf, dass jeder Arbeitnehmer auf jeder Route einsetzbar sein muss. Feste Gewöhnungszustände und damit Anspruchsdenken sollen sich nicht einstellen. 201 Der benannte Vorarbeiter verfügt aber über eine arbeitsspezifische Deutung, mit der er weitgehend alleine dasteht. Mit der Aussage »Wir sind ein Teil in der Kette, wenn es um Menschenleben geht« verweist er auf die Antizipation funktionaler Differenzierung im Rahmen des Krankenhauses, die von seinen Kollegen so nicht benannt wird. Die Vermutung liegt nahe, dass die Einstellung des Quasi-Vorarbeiters auf dessen spezifische biografische Situation zurückgeht. Er ist dem Unternehmen vor wenigen Jahren beigetreten, nachdem ihm im Krankenhaus nach einem schweren Unfall das Leben gerettet wurde.

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gibt es durchaus unterschiedliche Neigungen der Arbeitnehmer zu bestimmten Tätigkeiten. Diese können in bedingtem Maße geltend gemacht werden. Ihre Erfüllung hängt wiederum vom persönlichen Wohlwollen der Vorarbeiterin ab. Es finden sich in der Folge die gleichen Tendenzen bezüglich »Trägertums« und unverdienter Privilegierung wie in der Reinigung oder dem internen Transport. Macht strukturiert die Arbeitssituation. Quantitative Universalisierung hat im Bereich der Zentralsterilisation allerdings auch Folgen jenseits der Zahl unterschiedlicher zu bewältigender Aufgaben. Die Arbeitsmasse hat erheblich zugenommen. Der Arbeitsprozess wurde verdichtet. Die Zentralsterilisation ist selbst ein Kind der Gründung von HFM . Vorher waren die Sterilisationsprozesse in kleineren, dezentralen Einheiten und wenig arbeitsteilig organisiert. Mit der Etablierung der Zentralsterilisation und der Maschinisierung des Waschvorgangs hat sich die Produktivität wohl so weit steigern lassen, dass mittlerweile auch das Sterilgut anderer Klinikstandorte zentral am Hauptstandort bearbeitet wird. Das übliche Arbeitsvolumen scheint dabei noch nicht fest etabliert. Denn zum Zeitpunkt der Untersuchung rückten immer weitere Abteilungen in den Zuständigkeitsbereich der Zentralsterilisation. Die Arbeitsverdichtung nahm weiter zu. Die Bestimmung ihrer Belastbarkeit scheint noch in der Erprobungsphase zu sein. Schon jetzt ist jedoch augenscheinlich, dass die Tätigkeiten im Vergleich zu früher stärker standardisiert und zergliedert wurden.

Repressive Personalpolitik All die bisher genannten Dynamiken finden freilich in einem größeren gemeinsamen Rahmen statt. Bestimmte organisatorische Altlasten wurden bereits zur Genüge besprochen: Das Unterschichtungsverhältnis zwischen Gestellten, Arbeitnehmern mit alten Verträgen und der wachsenden Gruppe der neuen Servicekräfte stellt eine immer virulente Konfliktlinie dar. Wird diese, sei es gezielt oder durch Zufall, mit Weisungsbefugnissen kombiniert, so werden latente Konflikte schnell manifest. »Ihr seid doch sowieso nur meine Ware«, ist ein häufig kolportiertes Zitat eines Gestellten mit der Position eines Vorarbeiters gegenüber untergebenen Kollegen. Für den Rest der Belegschaft, ungeachtet ihrer Vertragssituation, ist dieses Zitat ein Paradebeispiel für den Dünkel der Gestellten. In der konkreten Arbeitssituation werden diese Statusunterschiede gerne symbolisch 322

überbrückt, indem beispielsweise Reinigungskräfte die blauen Uniformen der OP -Teams anlegen. Jenseits dieser strukturell bedingten Statusunterschiede und der beschriebenen Rationalisierungsstrategien zeigen sich allerdings zwei weitere Managementmotive, die als systematisch gelten können. Erstens wird die Machtförmigkeit der Ordnungsdynamik bei HFM durch die Einstellungspolitk der Objektleiter und Vorarbeiter gezielt befördert. Diese werden praktisch ausnahmslos extern rekrutiert. Es ist im Unternehmen außerdem allgemein bekannt, dass bei HFM auch solche Vorarbeiter gute Chancen auf Anstellung haben, die in anderen Konkurrenzunternehmen wegen persönlicher Verfehlungen entlassen wurden. So weiß das etwa zur Hälfte türkischstämmige Reinigungspersonal schon Wochen vor deren Dienstantritt, dass eine neue Vorarbeiterin bei einem Konkurrenzunternehmen entlassen worden war, weil sie einer türkischstämmigen Putzkraft das Kopftuch heruntergerissen hatte und darauf herumgetrampelt war. In einem anderen Fall wird die 21-jährige Tochter eines Vorabreiters selbst Vorarbeiterin in einem Reinigungstrupp, ohne über irgendwelche Erfahrungen im diesem Bereich zu verfügen. Dies kann als personalpolitisch zumindest fahrlässig gelten, ist doch nicht davon auszugehen, dass eine fachfremde 21-Jährige über andere Ressourcen als hierarchisch abgesicherte Macht verfügt, um die im Schnitt mehr als doppelt so alten Reinigungskräfte auf Linie zu bringen. Ihre Machtstellung versucht die Vorarbeiterin in der Folge mit absurden Maßnahmen wie einem Kommunikationsverbot für Reinigungskräfte mit medizinischem Personal zu unterstreichen. Dieser Beförderung der Machtförmigkeit der Arbeitssituation liegt ein zweites übergeordnetes Motiv der Strukturierung zugrunde. HFM ist das Produkt einer Kostensenkungsstrategie, und dieser Imperativ setzt sich ungefiltert in der Organisation des Arbeitsprozesses fort: Befristungen, Ausdünnung der Personaldecke, unbezahlte informelle Arbeitszeitverlängerungen, niedrige Löhne und die Vorenthaltung tariflicher Eingruppierung sind nur die Spitze des Eisbergs. Auch an den Schutzimpfungen des Reinigungspersonals wird gespart: Die Servicekräfte, die immer öfter zur Reinigung der Operationssäle oder zur Verschaffung benutzter Instrumente eingesetzt werden, kommen mit kontaminierter Ausrüstung in Berührung, müssen Blut aufwischen, bis vor Kurzem ohne dass Schutzhandschuhe gestellt wurden. Es wird davon berichtet, dass 323

sich mehrere Mitarbeiter an benutzten Spritzen gestochen haben, die in Wischmopps geraten waren. Zur allgemeinen körperlichen Herausforderung der Arbeit gesellt sich hier ein unmittelbares Gesundheitsrisiko. Die Impfkosten betrügen einmalig 200 Euro pro Mitarbeiter – eine Investition, die die Firma nicht zu leisten bereit ist.

Multiple Spaltungen Das Gesagte zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich im Falle von HFM Rationalisierungsmaßnahmen, die im Bereich reiner Gewährleistung virulent sind, wie in einem Brennglas bündeln. HFM ist das Kind einer radikalen Kostensenkungspolitik. Der größte Kostenfaktor ist in den personalintensiven Tätigkeiten, die bei der HFM organisiert sind, wiederum das Personal selbst. Am Anfang des Ordnungsmechanismus der Arbeitssituation steht also der Kostendruck. Dafür wurde durch die Unternehmensgründung eine Unterschichtungslinie in die Arbeitsteilung des Krankenhauses eingezogen, die zwischen dem medizinischen Personal und den nicht-medizinischen Dienstleistungen, die von der HFM angeboten werden, verläuft. Diese Unterschichtungslinie hat weitere Unterschichtungsverhältnisse innerhalb von HFM zur Folge: Beschäftigtengruppen mit alten Privilegien202 stehen der Masse der neuen Servicekräfte gegenüber. Des Weiteren scheint es, als befände sich HFM in Bezug auf die Regulierung des Arbeitsprozesses noch auf der Suche nach dem »besten« Weg. In den betrachteten Teilbereichen wird einerseits auf qualitative Standardisierung gesetzt, wobei die Materialität der Tätigkeiten dieser Dynamik mal engere, mal weitere Grenzen setzt. Die anspruchsvolle Reinigungstätigkeit in Operationssälen erfordert beispielsweise ausgebildetes Personal, während in der Zentralsterilisation oder in den internen Transportdiensten die Tätigkeiten so weit standardisiert sind, dass sie potenziell nur eine kurze Anlernzeit erfordern. Freilich wird auch in der Reinigung die materiale Grenze der Standardisierung systematisch durch den Einsatz von

202 Gestellte, Tarifgebundene. Anstelle von Privilegien könnte man hier freilich

auch von basalen Arbeitnehmerrechten sprechen, wie dem Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz.

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Servicekräften verletzt – sei es zu Lasten der Qualität der geleisteten Arbeit, sei es zu Lasten der Gesundheit der Arbeitnehmer. Die Servicekräfte stehen des Weiteren paradigmatisch für das zweite Standbein der Rationalisierung des Shopfloors: Sie sind der Inbegriff einer organisatorisch induzierten Universalisierung der Aufgaben im Arbeitsalltag der Angestellten von HFM . Sie sind potenziell überall einsetzbar und springen nicht selten in ihrem Arbeitsalltag zwischen verschiedenen Bereichen, etwa dem Transport und der Zentralsterilisation, hin und her. In den einzelnen Bereichen findet die Universalisierung der Aufgaben zusätzlich ihren Niederschlag in der Verwehrung fester Touren und Arbeitsabläufe: Wie schon bei Discount, aber auch im Falle von Flecken-los oder den distributiven Diensten eingehend beschrieben, setzt man bei HFM darauf, dass jeder alles können sollte. Die Mitarbeiter werden dadurch austauschbar, Privilegien systematisch verwehrt. Die Universalisierung der Zuständigkeiten schlägt sich somit, wie schon im Falle von Flecken-los zu beobachten war, auch in qualitativer Hinsicht im Sinne der Verdichtung des Arbeitsaufkommens nieder.203 Inwieweit unter diesen Vorzeichen die Chance des Privilegiengewinns in Form fester Touren und Routinen besteht, scheint im Kern eine Frage persönlicher Entscheidungen der Vorarbeiter zu sein. Die effektive Machtausübung bündelt sich bei ihnen. Doch selbst dort, wo Privilegien systematisch verweigert werden, setzen sich solche über Prozesse personengebundener Macht durch. Entweder der Vorabeiter hat ein offenes Ohr für Träger, die dann für ihr Handeln auf Belohnung hoffen dürfen. Oder aber er setzt auf »Kooperation« und überlässt die Verteilung von Privilegien den Angestellten und deren persönlicher Durchsetzungsstärke. Wo Privilegien über personengebundene Macht errungen werden können, stellen sich in der Folge wieder neue Unterschichtungslinien ein – sei es zwischen den Trägern und dem Rest der Belegschaft, sei es innerhalb der Belegschaft mittels personengebundener Konflikte. In der Summe zeigt sich, dass die Nähe zu erlebbaren Prozessen funktionaler Arbeitsteilung nicht die residualen Deutungen der An-

203 Ein Umstand, den auch Karen Jaehrling für die von ihr untersuchten Kran-

kenhausservicegesellschaften konstatiert (Jaehrling, »Wo das Sparen am leichtesten fällt«, S. 201).

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gestellten zu tilgen vermag. Dies liegt daran, dass die Arbeit bei HFM stark standardisiert ist und Autonomie systematisch eingeschränkt wird. Einerseits bleibt Arbeitsteilung jenseits des direkten Umfelds virtuell – man trifft keine Kollegen oder Kunden, die verdeutlichen würden, zu welchem Zweck die eigene Tätigkeit eigentlich dient. Andererseits sorgen die Dynamiken der Macht dafür, dass Autonomieerfahrungen, wie sie die Bereiche der Reinigung oder des Transports potenziell durchaus bieten, kaum gemacht werden. Die Arbeitnehmer sind daher wieder auf ihre entleerten Tätigkeiten zurückgeworfen und erfahren sich als Konkursmasse des Arbeitsprozesses, die nach Belieben hin- und hergeschoben wird.204 Drei gruppenspezifische Handlungsorientierungen prägen daher den Ordnungsmechanismus der Arbeitssituation bei HFM . Eine Gruppe ist um die Sicherung von Privilegien bemüht, die sie aus der Vergangenheit hinüberretten konnte, und will sich in der Folge mit der Mehrheit der neuen Servicekräfte nicht gemein machen. Eine zweite Gruppe versucht durch das Tragen von Informationen, kärgliche Privilegien zu sichern. Eine dritte Gruppe setzt im Zuge der Vermachtung der Arbeitssituation auf Indifferenz und Zurückhaltung. Nicht aufzufallen ist ihre Überlebensstrategie. Die zuletzt genannte Gruppierung scheint zahlenmäßig zu dominieren, während erstere ein Auslaufmodell darstellt. Der Effekt sind Prozesse multipler Unterschichtung und Dissoziierung innerhalb der Belegschaft. Multiprofessionalität und die Integration in erfahrbare Arbeitsteilung verbürgt keine Differenzierungsgewinne, die sich für die Beschäftigten in einer materiellen oder subjektiven Aufwertung der Arbeit niederschlagen würden.

Der Prototyp einfacher Dienstleistungsarbeit Der Bereich reiner Gewährleistung bündelt unter herrschaftstheoretischer Perspektive die entscheidenden Dynamiken, die das Segment einfacher Dienstleistungsarbeit insgesamt prägen: Rationalisierungsstrategien und als deren Effekte eine Virulenz personenbezogener Macht und multiple Unterschichtungsphänomene.

204 Zwischen unterschiedlichen Unternehmen, aber eben auch zwischen einzel-

nen Tätigkeitsbereichen.

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Im System der Bedarfsreinigung, wie es weite Teile des Reinigungsgewerbes prägt, findet sich eine idealtypisch verdichtete Strategie der Rationalisierung des Shopfloors. Arbeit wird zum einen einfacher, also standardisierter. Zum anderen werden aber die Zuständigkeiten der Arbeitnehmer in quantitativer Hinsicht universalisiert. Sie müssen immer mehr unterschiedliche Tätigkeiten übernehmen, zwischen denen sie im Verlaufe ihres Arbeitstages zu wechseln haben. Damit geht außerdem eine dritte Komponente der Rationalisierung einher: Es zeigt sich eine qualitative Form der Pluralisierung über die zunehmende Verdichtung der Arbeit. Die Folge dieser Trias der Rationalisierung ist zum einen die radikale Vermachtung der Arbeitssituation. Denn die Rationalisierungsdynamiken werden effektiv über die personengebundene Macht der Vorarbeiter und ihrer linken Hände umgesetzt. Zum anderen zeitigt dieses System, das auf massivem Kostendruck basiert, die Verschiebung der Verantwortung für den Arbeitsprozess auf die ausführende Ebene. Die Arbeitnehmer sind isoliert. Sie haben keine andere Wahl, als Arbeit abzuliefern, die ihren eigenen, aber auch den offiziellen Standards der Reinigung nicht genügt. Zur Definition der Qualität der eigenen Arbeit bleibt wiederum nur die über körperliche Verausgabung ermittelte Leistungserbringung. Der Körper bildet entsprechend das entscheidende Unterschichtungskriterium, das Einschluss und Ausschluss regelt. Dabei kann die Gebäudereinigung auch noch über die Arbeitssituation hinaus als Unterschichtungsphänomen betrachtet werden. Denn die Gebäudereinigungsfirmen orientieren sich in der Regel an Ausschreibungen Dritter. Die Konkurrenz unter den Firmen ermöglicht sinkende Kosten für die Auftraggeber, die in der Folge größere Kapazitäten für die Stammbelegschaften einbehalten. Auch HFM steht paradigmatisch für diesen Umstand. Als ein Kind der Unterschichtungspolitik ist die einzige Daseinsberechtigung der Firma und das Motiv ihrer Gründung die Kostensenkung des Mutterkonzerns. Die Linie, entlang der diese Unterschichtungsdynamik vollzogen wird, nämlich die zwischen dem medizinischen Personal und jenen rein gewährleistenden Tätigkeiten, die sich unter dem Dach der HFM sammeln, ist nicht zufällig. Bereits die Analyse des Bereichs der sozialen Sorge hat gezeigt, dass mit der Materialität radikal interaktiver Tätigkeiten bestimmte Rationalisierungsgrenzen einhergehen. Im Krankenhaus wird dies zudem durch das hohe 327

Qualifikationsniveau ergänzt, das den medizinischen Berufen zu eigen ist. Für die »neuen« Randbelegschaften hat dies nicht nur materielle Nachteile, es schwächt auch ihre Chancen auf berufliche Mobilität. Boten Krankenhäuser etwa vor der Etablierung von Servicegesellschaften häufig interne Arbeitsmärkte mit Chancen der Verbesserung auch für Beschäftigte aus Arbeitsbereichen wie der Reinigung205, so sind diese Leitern nun gekappt. Im Falle von HFM korrespondiert die »externe«, durch organisatorische Umstrukturierung induzierte Unterschichtungsdynamik direkt mit den internen, dem Arbeitsprozess entspringenden Linien der Subklassierung. Denn die »Altlasten« des Ausgliederungsprozesses prägen noch heute die Privilegienstruktur im Arbeitsprozess. Gruppen mit alten Privilegien stehen den neuen Servicekräften gegenüber. Diese Form der hierarchischen Diversifizierung hat in der Arbeitssituation die bekannten machtförmigen Effekte: Mal sind es die Träger, die sich Privilegien auf Kosten von Kollegen sichern, mal sind es die Vorarbeiter, die die Mittel zur persönlichen Durchsetzung willkürlich wählen können. HFM steht dabei auch paradigmatisch für die Prozesshaftigkeit der Rationalisierung einfacher Dienste. Denn die einstweilen privilegierten Gruppen sind Auslaufmodelle. Die paradigmatische Figur der Rationalisierung einfacher Dienste ist die Servicekraft. In ihr reichen sich die drei maßgeblichen Kriterien der Rationalisierung die Hand: Auf der Basis der Standardisierung der Tätigkeiten ist sie zunehmend allzuständig für sämtliche Tätigkeiten, die im Segment einfacher Dienstleistungsarbeit anfallen, und kann daher überall und zu jeder Zeit eingesetzt werden, was ein umfassendes Abschöpfen der Arbeitskraft ermöglicht. Die Servicekraft ist die Konkursmasse des Arbeitsprozesses. Sie ist auch im Rahmen der allgemeinen Entwicklung des Bereichs reiner Gewährleistung symptomatisch. Denn die zunehmende multiprofessionelle Organisation der Unternehmen unter dem Schlagwort des Facility Managements verlangt geradezu nach der Allzuständigkeit der Servicekraft. In jedem Fall scheinen die materialen Rationalisierungsstrategien in den einfachen Diensten eine Faustregel auf den Kopf zu stellen, die die korporatistisch regulierte Arbeitswelt prägt. Eine größere Anzahl von Kompeten-

205 Jaehrling, »Wo das Sparen am leichtesten fällt«, S. 204.

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zen verbürgt hier keine steigenden Anrechte oder Privilegien. Das Gegenteil ist der Fall. Die Dienstleister ähneln hierin der Figur des Tagelöhners, der alles können muss, aber nichts davon hat.

Ambition, Genügsamkeit, Risiko Welche Konsequenzen und Bedingungen solcher Arbeitssituationen sind nun auf der Ebene alltäglicher Lebensführung zu beobachten? Zunächst zeigt sich ein Phänomen, das aus dem Rest des Samples vertraut ist: Die Arbeitsteilung auf der Ebene der Person ist auch hier mit der hohen Beanspruchung des Körpers konfrontiert. Jenseits der 30 finden sich im Bereich reiner Gewährleistung kaum Arbeitnehmer ohne physische Probleme, die der Arbeitstätigkeit entspringen. Zugleich ist der Druck, die eigene Leistung aufrechtzuerhalten, hoch. In diesem Spannungsfeld wird die Freizeit hauptsächlich zu einer Arena der körperlichen Regeneration. Man darf sich dabei nicht davon täuschen lassen, dass etwa in der Reinigungsbranche eher selten volle Stellen vergeben werden und zugleich die Zahl der Minijobs in den letzten Jahren gestiegen ist. Zum einen kann auch im Rahmen reduzierter Arbeitszeiten von erheblicher körperlicher Belastung ausgegangen werden. Zum anderen ist es absolut üblich, Reinigungskräfte offiziell als geringfügig Beschäftige einzustellen, sie aber 30 oder 40 Stunden in der Woche arbeiten zu lassen und Beträge jenseits des offiziellen Gehaltes bar zu entlohnen. Darüber hinaus finden sich vielerlei Kombinationen von Erwerbstätigkeit: Minijobs werden mit Halbtagsstellen kombiniert, Halbtagsstellen mit ungemeldeter Beschäftigung bei gleichen oder anderen Arbeitgebern, in betrieblichen Zusammenhängen und in Privathaushalten usw. Für die Reinigungskräfte gilt, dass die jeweiligen Arrangements wechseln, deren grundsätzliche Vorläufigkeit allerdings in die Lebensplanung miteinbezogen wird. Entweder man geht davon aus, bestimmten Tätigkeiten nur vorübergehend nachzugehen, oder man arrangiert sich zwischen verschiedenen Beschäftigungsformen und dem Transferbezug. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Arrangements zunächst der Zwang, das Leben unter Bedingungen eng beschränkter materieller Ressourcen und körperlichen Verschleißes gestalten zu müssen. Zudem gilt, dass der Arbeit in der Regel eine enorme Bedeutung beigemessen wird, dass diese Bedeutungszuschreibung aber auf entleerte Tätigkeiten trifft und dass, zum Teil als 329

Effekt dieses Umstandes, hart gearbeitet wird, weil man gewissermaßen versucht, die Entleerung der Arbeit durch die blanke Veräußerung von Arbeitskraft zu tilgen. Junge Arbeitnehmer sind außerdem oft bemüht, »einen Fuß in die Tür« zu kriegen, und versuchen, sich über Leistung zu bewähren. Dieses Phänomen ist schon im Rahmen der Arbeitssituationsanalyse von Superpost ausführlich beschrieben worden. Es wird im Falle von HFM weiter radikalisiert, da sich hier in der gleichen Arbeitssituation mehrere Unterschichtungsebenen finden: Befristete wollen zu Festangestellten werden, Servicekräfte zu Arbeitnehmern mit klarem Kompetenzprofil, Gestellte zu Mitarbeitern des Mutterkonzerns usw. Arbeitnehmer mit langjähriger Erfahrung tragen häufig nicht mehr derlei Hoffnungen an ihre Arbeit heran. Mit dem Alter rückt der Erhalt der Arbeitskraft in den Mittelpunkt: Man bemüht sich um die Routinisierung des Alltags, sowohl im Bereich der Erwerbsarbeit als auch im Privaten. Illusionen der Etablierung werden fallen gelassen. Man lernt sich mit der Kontingenz der Verhältnisse und der knappen Ressourcenausstattung zu arrangieren. Die Handlungsorientierungen der Lebensführung unterscheiden sich hier stark: Während die Etablierungshoffnungen der Jungen dazu führen, dass diese sich starken Belastungen aussetzen, sind die Arrivierten vor allem um eine Grenzziehung zwischen Arbeit und Freizeit bemüht, die die Reproduktion des jeweils bestehenden Arrangements sichert. Da unter chronischer Ressourcenknappheit gelebt wird, sind hier vor allem Handlungslogiken der Bescheidung und Genügsamkeit gefragt. Exemplarisch für den ersten Fall werden im folgenden Aspekte der Lebensführung einer jungen Arbeitnehmerin dargestellt: Die 26-jährige Alina ist in einer Beschäftigungsgesellschaft eines Krankenhauses als Pflegehilfe angestellt. Für die Logik der Bescheidung steht dagegen Claudia, eine 57-jährige Veteranin der HFM . Ein dritter Fall soll eine spezifische Gefahr im Bereich reiner Gewährleistung veranschaulichen: Die spezifischen Kompetenzen des Managements des Alltags sind zwischen unterschiedlichen Personen natürlich verschieden ausgeprägt. Es ist jedoch keineswegs nur eine Frage rein individueller Fähigkeiten, ob man unter den Bedingungen der Einfacharbeit im Bereich reiner Gewährleistung besteht oder nicht. Vielmehr tragen sowohl die Jungen als auch die älteren Mitarbeiter ein spezifisches Risiko, denn die vorherrschenden Arrangements von Arbeit und Leben sind fragil. Wer 330

stolpert, ist schnell draußen. Dafür steht das Beispiel der Reinigungskraft Svetlana.

Sich strecken Beginnen wir jedoch mit einer jungen Arbeitnehmerin. Alina hat ihren Lebensplan früh modifizieren müssen. Nach dem Hauptschulabschluss arbeitet sie drei Jahre lang als ungelernte Pflegehilfe in einer stationären Altenpflegeeinrichtung. Danach beginnt sie eine Ausbildung zur Krankenpflegerin – ihr Traumberuf. Doch im ersten Lehrjahr wird sie ungewollt schwanger. An die dreijährige Ausbildung ist nicht mehr zu denken. Vor der Geburt des Sohnes kann sie gerade noch die einjährige Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegehelferin beenden. Anschließend ist Alina vier Jahre arbeitslos. Sie ist in dieser Zeit vor allem durch die Betreuung ihres Sohnes absorbiert. Die Belastung durch die Mutterschaft ist groß, denn Alina und der Kindsvater trennen sich kurz nach der Geburt. Für die Betreuung des Sohnes bleibt in erster Linie sie zuständig. Als das Kind mit vier Jahren ein für Alina akzeptables Kindergartenalter erreicht, beginnt sie über den Einstieg in Erwerbsarbeit nachzudenken. Der Sohn bedarf aus ihrer Sicht noch zu sehr der Betreuung, als dass an die Wiederaufnahme der Ausbildung gedacht werden könnte. So sucht Alina nach Arrangements, die ihr trotz der enormen Belastung den Wiedereinstieg in die Erwerbsarbeit erlauben. In der Kleinstadt, in der sie lebt, existiert eine medizinische Fachklinik, in der sie sich als Pflegehelferin bewirbt. Sie wird bei deren Beschäftigungsgesellschaft, einem Tochterunternehmen, das HFM ähnelt, eingestellt. Anders als bei HFM erfolgen hier allerdings prinzipiell Neueinstellungen auch bei pflegerischen Arbeiten unterhalb der dreijährigen Ausbildung zunächst in der Beschäftigungsgesellschaft. Alina wird als Springerin eingesetzt, das heißt, sie wechselt permanent zwischen unterschiedlichen Stationen innerhalb des Klinikums. Sie muss dabei nicht nur in Bezug auf das wechselnde Arbeitsumfeld flexibel sein, sondern auch bezüglich der Arbeitszeiten. Diese ändern sich nicht nur im Wochenrhythmus. Für Alina gilt im Besonderen, dass sie immer dann einspringen muss, wenn Kollegen des Mutterunternehmens kurzfristig ausfallen. Für Alinas Alltag stellt diese Situation eine enorme Herausforderung dar. Dies beginnt schon bei der Tatsache, dass die Frühschicht um sechs Uhr morgens beginnt, der Kindergarten, den der Sohn besucht, allerdings erst um 331

acht Uhr öffnet. Ein weiteres grundsätzliches Problem liegt in der Unberechenbarkeit kurzfristiger Einsätze. Alina lehnt nie die Anfrage einer Kollegin ab, die sie bittet, für sie einzuspringen. Denn sie hofft auf eine Festanstellung im Mutterunternehmen. Jede Anfrage erscheint ihr daher als Bewährungstest. Gerade das gute Verhältnis zu den Kollegen, das sie durch die Übernahme von Schichten gewährleistet, führt dazu, dass Alinas Beanspruchung außerordentlich hoch ist. Zur Gewährleistung der Betreuung des Sohnes hat sie daher ein komplexes Netz geflochten. Der Kindsvater, dessen Eltern, der Kindergarten und eine ebenfalls alleinerziehende Freundin dienen als systematische Ausweichoptionen, die in die kurzfristige Planung des Alltags involviert werden. Hat Alina Frühdienst, wird der Sohn am vorhergehenden Abend zu den Großeltern gebracht, die ihn dann morgens im Kindergarten abliefern. Sind die Großeltern nicht verfügbar, wird der Kindsvater oder die benannte Freundin mobilisiert. Muss Alina kurzfristig einspringen, wird sie am Handy aktiv und sucht Optionen für die Kinderbetreuung, bis diese gewährleistet ist. Diese Situation hat sowohl psychische als auch materielle Konsequenzen. Zum einen steht Alina stetig unter Rechtfertigungsdruck. Die Großeltern väterlicherseits geben ihr das Gefühl, permanent überbeansprucht zu werden. Jede Anfrage bedarf langen Bittens und ausführlicher Rechtfertigung. Auch Alina selbst sieht die Betreuungssituation kritisch, beschreibt, wie das Kind weint, wenn sie zur Arbeit muss, und welche Gewissensbisse es ihr bereitet, es »abzuschieben«. Auch der Kindsvater ist wenig begeistert, in die Ermöglichung von Alinas Erwerbsbeteiligung eingespannt zu werden. Im Übrigen übernehmen die Großeltern väterlicherseits die Betreuungsaufgaben nur unter der Bedingung, dass ihr Sohn dafür keinen Unterhalt für das Kind entrichtet. Sie lassen sich die Betreuung des Enkels also im Grunde bezahlen. Für Alina hat dies zur Konsequenz, dass sie trotz der Arbeit im Klinikum den wohlfahrtsstaatlichen Transferbezug nicht verlassen hat. Sie gehört zur Gruppe der sogenannten Aufstocker, lebt also von einer Kombination aus Einkommen aus Erwerbsarbeit und staatlichen Zuwendungen, denn 700 Euro Nettoverdienst reichen nicht aus, um den Alltag zu bewältigen. Um das Verhältnis zur Familie des Kindsvaters ein wenig zu entspannen, hat sich Alina mit einer anderen jungen Frau zusammenge332

tan. Simone ist eine gute Freundin und als alleinerziehende Berufstätige in der gleichen Situation wie Alina. Mit ihr gemeinsam hat Alina vor Kurzem eine Wohngemeinschaft gegründet. In begrenztem Ausmaß können so Betreuungsaufgaben geteilt werden. Aber auch materiell bringt die Beziehung Vorteile mit sich. So können sich die beiden jungen Frauen ein kleines Auto teilen, ohne das es für Alina unmöglich wäre, die Betreuung des Sohnes zwischen Kindergarten, Arbeit, Großeltern und Kindsvater zu koordinieren. Warum sich Alina so sehr streckt? Ihre Antwort darauf ist klar: »Ich will den Job.« Gemeint ist damit, dass sie mittelfristig die Anstellung im Mutterunternehmen anstrebt. Die Folge wären geregelte Arbeitszeiten, mit denen sich planen ließe. Doch gerade deswegen stellt sich die Frage, welches Interesse der Arbeitgeber an einer solchen Verbesserung von Alinas Lage haben sollte. Für Alina selbst stellt sich diese Frage freilich nicht. Sie hat ein Ziel und verfolgt dieses mit den einzigen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen: harte Arbeit und nahezu bedingungslose Anpassung an deren Anforderungen.

Sich bescheiden Von solchen Ambitionen haben sich viele ältere Angestellte längst verabschiedet. So auch Claudia, eine 57-jährige Mitarbeiterin der HFM . Claudia ist seit beinahe 20 Jahren im Kantinenbetrieb beschäftigt. In diesen 20 Jahren hat sie zwar die gleichen Tätigkeiten an gleicher Stelle verrichtet, war dabei allerdings bei vier verschiedenen Firmen angestellt. Erst seit der Gründung von HFM wird der Kantinenbetrieb auch von dieser übernommen. Vor der Aufnahme dieser Tätigkeit ging Claudia mehrere Jahre keiner offiziellen Erwerbsarbeit nach. Sie hat vier mittlerweile erwachsene Kinder, von deren Betreuung sie als alleinerziehende Mutter einige Jahre absorbiert war. Die erste Tochter wird Anfang der 1970er Jahre geboren. Sie ist heute arbeitslos und hat selbst vier Kinder. Zwei weitere Töchter sind heute als Altenpflegerin und als Mitarbeiterin des Ordnungsamtes beschäftigt. Der einzige Sohn hat gerade seine Stelle bei Burger King gekündigt – ein Umstand, der Claudia entsetzt hat, denn der Sohn habe dort mit etwa 1300 Euro »gutes Geld verdient«206. Er

206 Ob es sich um einen Brutto- oder um einen Nettobetrag handelt, bleibt unklar.

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kam mit seinem Chef nicht zurecht, was Claudia wiederum nur Kopfschütteln abringt. Schließlich wird Arbeit nicht zum Vergnügen gemacht. Derzeit räumt der Sohn in einem Supermarkt Regale ein, bezieht zusätzliche Transferleistungen. Claudia hat nach der Geburt der ersten Tochter – also in den 1970er Jahren – noch acht Jahre lang als Reinigungskraft in einem Baukonzern gearbeitet. Von dieser Zeit weiß Claudia viel Positives zu berichten. Die integrierte Situation im Unternehmen, in dem verschiedenste Handwerke in einem erlebbaren Arbeitszusammenhang standen, war, ihrer Erzählung folgend, geprägt von guten Beziehungen zu Kollegen und nicht zuletzt einem verhältnismäßig anständigen Verdienst. Erst als die anderen Kinder kamen, hat sie ihre Arbeit zeitweise aufgegeben. Bei der HFM ist sie schließlich über eine Zeitungsannonce gelandet. Die Arbeit wurde dann irgendwann alternativlos: »Da war ’ne Zeitung, ’ne Annonce […], ganz klein, für kleine leichte […] Arbeiten. Einfach hingeschrieben, Vorstellungsgespräch gehabt. Ich wusste gar nicht, was ich da machen muss. […] Und so bin ich dann eben drin geblieben, und immer weiter, und immer weiter. Ich hab ja am Anfang auch gedacht, das machste erst ’n Jahr, oder zwei Jahre, bis du was Besseres findest. Aber, das gibt Leute, die finden auch nichts Besseres. Ich bin da nich superintelligent. Und ich bin auch [nicht] gut in der Schule gewesen, dass ich, sagen wir mal, was Besseres machen könnte. […] Also bin ich da geblieben. […] Und sehen Sie, wie die Jahre verrinnen.« Doch spricht aus dieser Aussage nicht nur die vermeintliche Alternativlosigkeit von Claudias Arbeit. Tatsächlich wäre sie wohl in ähnlichen Tätigkeiten an anderer Stelle auch untergekommen. Schließlich hat sie sich über mittlerweile 20 Jahre unter den rauen körperlichen Anforderungen bei HFM bewährt. Tatsächlich ist es wohl eine Haltung pragmatischer Genügsamkeit, die Claudia an ihrer Stelle gehalten hat. Sie sieht ihre Chancen eben realistisch und ist bemüht, aus den Umständen stets das Beste zu machen. Das zentrale Mittel, dessen sie sich dabei bedient, ist die Bescheidung der eigenen Bedürfnisse. Kolleginnen streben nach »Markensachen«, aber Claudia kennt solche Bedürfnisse nicht. Ihre kleine Zweizimmerwohnung ist ordentlich, aber karg eingerichtet. Wenig Schmuck ziert die Wände, keine Vitrine birgt ausstellungswertes Porzellan oder andere Einrichtungsgegenstände. Claudia hat nur einen winzigen Fernseher, der auf den ersten Blick im Wohnzimmer gar nicht zu sehen ist. 334

Doch nicht nur aus der Kargheit der Wohnung spricht Claudias Selbstbescheidung. Auch in den Praktiken des Alltags äußert sich diese. Zum einen ist für Claudia die eigene Arbeit wenig mehr als ein Lieferant von Geld und eine Instanz, in der Zeit verbraucht werden kann. So steht sie etwa regelmäßig um drei Uhr nachts auf, obwohl ihr Dienst erst um sechs Uhr beginnt. Ihr Alltag ist methodisiert mit dem Ziel, disponible Zeit zu beschränken. Von drei bis vier Uhr macht sie sich dann zu Hause fertig, um vier Uhr fährt der Bus. Um halb sechs ist sie in der Arbeit angekommen. So bleibt ihr noch eine halbe Stunde, sich in aller Ruhe auf den Dienst vorzubereiten, noch eine Tasse Kaffee zu trinken und mit Kollegen zu plaudern. Ihr Dienst endet um 15 Uhr, sodass sie nicht vor halb fünf zu Hause ist, wo noch etwaige Haushaltsarbeiten verrichtet werden müssen. Diese versucht Claudia in Grenzen zu halten, indem sie beispielsweise ihren Lebensgefährten, der nicht im gleichen Haushalt wohnt, die Betreuung ihres Hundes und das Einkaufen überlässt. Sie hat gute Gründe, die Arbeit zu Hause zu minimieren, denn »Ich bin so kaputt, wenn ich zu Hause komme, ich kann nich mal ’n Film sehen abends.« Später als 21 Uhr geht Claudia deswegen selten ins Bett. Schließlich bleiben ihr selbst dann nur sechs Stunden Schlaf. So verwendet sie die wenige disponible Zeit, die ihr bleibt, zum größten Teil auf Ruhe und Regeneration und damit letzten Endes auf den Erhalt ihrer Arbeitskraft. Dennoch entspricht dieses Arrangement des Alltags auch ihrer persönlichen Wahl. Denn Claudia hat nach eigenen Angaben eigentlich keine Hobbies. Selbst für die mittlerweile acht Enkel hat sie »so viel Interesse […] auch nicht«. So wird ihr der wenige Urlaub, den sie hat, auch schnell zur Qual: »Das passiert mir auch, dass ich sag, [nach fünf Tagen] ›Mann is das langweilig‹«, sodass sie froh ist, »dass ich morgen wieder gehen kann. Passiert mir oft.« Aber auch Claudias Umgang mit der wenigen disponiblen Zeit, die ihr tatsächlich bleibt, verdeutlicht, wie sehr Bescheidung und Genügsamkeit die Maxime ihres Alltags sind. So zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass Claudia zumindest ein Hobby hat, dem sie regelmäßig nachgeht. Sie liest gerne. Dabei hat das Lesen keinerlei repräsentative Funktion. In der Wohnung ist auf den ersten Blick kein einziges Buch zu sehen. Doch auf Nachfragen öffnet Claudia die Schublade einer schlichten Kommode, die im Wohnzimmer steht. Zum Vorschein kommen an die dreißig Romane, die alle den 335

gleichen Zuschnitt haben: Auf dem Cover ist stets ein plakatives Mittelaltermotiv zu sehen, in dem meist ein Burgfräulein wahlweise mit Ritter zur Seite im Vordergrund steht, während sich im Hintergrund Burgen, Berge und Wälder abzeichnen. Die Geschichten drehen sich stets um Kampf, Liebe und Gerechtigkeit. Es handelt sich meist um Variationen des Robin-Hood-Motivs: Edler Krieger verschüttet einiges Blut im Dienste der Verteilungsgerechtigkeit und für die Liebe einer weggesperrten Jungfrau. Dieser Zuschnitt passt dabei sehr gut zu Claudias Weltbild, in dem die Gier reicher Bonzen aus Politik oder Wirtschaft aus ihrer Sicht nach der Rache der Unterdrückten verlangt, die erstaunlicherweise ausbleibt. Schon bei unserem allerersten Treffen, das zwischen Tür und Angel in Claudias Arbeit stattfindet, legt sie mir ihre Sicht der Dinge nahe: Es brauche doch mal eine Art Untergrundarmee, die Rache nehme für die hemmungslose Ausbeutung vieler durch wenige. Sie kommt immer wieder auf dieses Thema zu sprechen. Es ist »die Macht nach dem Geld«, die das Grundübel der Gesellschaft darstellt – hierin liegt auch ein Verweis auf die moralische Überlegenheit der eigenen am Motiv der Genügsamkeit ausgerichteten Lebensführung. Der Rest sind Tagträume: »Aber so ’ne Untergrundorganisation find ich sehr, sehr schön. ’n paar abschlachten, ’n paar wegmachen, ’n paar große Politiker, die sich so bereichern, die so viel Geld haben. Das können wir uns gar nich vorstellen, was die an Geld haben, ja? Einfach weg.« Die Rache der Armen ist in diesen Fantasmen nur konsequent, ihr Ausbleiben irritiert: »… zum Beispiel früher […], was weiß ich, 16. Jahrhundert, da is der Robin Hood gekommen, […] die Reichen das Geld weggenommen, und hat den Armen das hingeschmissen und hat bisschen für Gerechtigkeit gesorgt. Das gibt’s ja heute ja nich mehr.« Claudias Lieblingsliteratur repliziert diese Visionen der Rache der kleinen Leute durch den gerechten Helden. Die dreißig Romane in der Kommode sind nur Claudias Ausstattung für den Winter, der gerade so richtig begonnen hat. Sie erzählt, dass sie ihre gelesenen Bücher im Keller lagere, weil sie ihr in der Wohnung zu viel Platz wegnehmen. Bei ihrer Lektüre ist sie wählerisch. Die Mittelaltergeschichten sehen aus, als kämen sie alle aus einer Reihe. Claudia klärt mich allerdings auf, dass sie die Bücher nicht in einem Bündel gekauft habe. Sie hat kein Internet oder andere »kurze Wege«, sich ihr bevorzugtes Lesefutter zu besorgen. Stattdessen verbindet sie dieses Hobby mit ihrer zweiten lieb gewonnen Freizeitbeschäftigung, der 336

sie regelmäßig am Wochenende nachgeht: Claudia ist eine passionierte Flohmarktgängerin. »Aus Kostengründen«, wie sie sagt, kauft sie dort praktisch alles: Kinderbücher, Spielzeug und Kleidung für die Enkel, Gardinen, Tischdecken, Bücher für sich selbst. Beinahe das ganze Wochenende verbringt sie regelmäßig mit dem Stöbern auf verschiedenen Flohmärkten und verbindet so den Zwang zur Lebensführung unter Bedingungen knapper materieller Ressourcen mit der Methodisierung des Alltags durch genügsamen Konsum und dem Problem der Bearbeitung leerer Zeit. Claudia ist robust. Sie wird ihrer Arbeit noch eine Weile nachgehen können. Die Methodisierung ihrer Lebensführung durch radikale Bescheidung ermöglicht dieses Arrangement erst. Wer weniger robust ist, hat mit der Aufrechterhaltung einer solchen Ordnung größere Probleme, wie das Beispiel der Reinigungskraft Svetlana verdeutlichen wird.

Fallen Svetlana ist mit 44 Jahren wesentlich jünger als Claudia. Dennoch sehen sich die beiden Frauen ziemlich ähnlich. Beide sind kräftig gebaut, haben ein wenig Übergewicht, und beide sehen eher älter aus, als sie tatsächlich sind. Doch Svetlana achtet eindeutig stärker auf ihre äußere Erscheinung. Jedes Mal wenn ich sie treffe, ist sie aufwendig frisiert und bedacht gekleidet. Sie ist eine herzliche Person, die mich schon nach dem ersten Treffen nur noch »Schatzi« nennt. Als wir uns kennenlernen, hat Svetlana erst vor einigen Wochen ihre Stelle verloren. Sie ist wegen einer längeren Krankschreibung nach 17 Jahren im gleichen Unternehmen gekündigt worden. Svetlana ist 1993 als Bürgerkriegsflüchtling nach Deutschland gekommen. In ihrer Heimat Bosnien war sie Beamtin in der öffentlichen Verwaltung – ein angesehener Beruf, wie sie sagt. Mit 27 Jahren muss sie noch mal von vorne anfangen. »… ich kann nich sagen, okay, meine Scheiße, ich bin traurig, weil ich hier putzen muss. Weil, als ich zum Arbeitsamt gegangen bin damals, hat sie mich gefragt, was ich machen will. Ich hab gesagt, ich will hier [ihren] Sessel haben.« Da Svetlanas Ausbildung in Deutschland nicht anerkannt wurde, war ihr dieser Weg allerdings versperrt. So nahm sie, was sie bekommen konnte. Als Reinigungskraft hat sich Svetlana schnell beweisen können. Sie gerät in einen jener Betriebe, in denen ein Objektleiter mehrere 337

Standorte zu betreuen hat und daher die effektive Weisungskompetenz auf eine linke Hand verteilt. Svetlana wird schnell eine solche linke Hand und leitet mehrere Jahre lang de facto ein kleines Team von Gebäudereinigern, das wie eine »kleine Familie« ist. In dieser Zeit hat sie sich mehrfach scherzhaft mit ihrer Vorgesetzten angelegt, die die Lorbeeren für Svetlanas Arbeit kassierte. Einmal sei die Chefin etwa mit einem neuen Kostüm in der Arbeit aufgetaucht, woraufhin Svetlana sie sarkastisch mit den Worten »Meine Prämie steht Ihnen aber gut!« beglückwünscht habe. Svetlana kann solche Geschichten anscheinend unendlich aneinanderreihen. Es sind stets Erzählungen subtilen Widerstandes, den sie ausübt, um sich ihr Selbstwertgefühl zu erhalten, obwohl sich, aus ihrer Sicht, die eigene Arbeit nicht gebührend auszahlt. Anders als Claudia weiß Svetlana durchaus über die knappen Mittel, mit denen sie ihren Alltag zu bestreiten hat, zu klagen. Von Stadion-, über Kinobesuche bis zu Urlaubsreisen fallen ihr allerlei Dinge ein, die sie tun würde, wenn sie nur könnte. Doch Svetlanas langjähriges Engagement zahlt sich eben nicht in dieser Weise aus. Stattdessen ist es mit dem Galgenhumor in Bezug auf ihre Vorgesetzten mit einem Schlag vorbei, als Svetlana ernsthaft erkrankt. Aus unklaren Ursachen erleidet sie eine Lungenembolie. Sie wird erst zum Arzt gebracht, nachdem sie während der Arbeit kollabiert ist. Sie wird längere Zeit krankgeschrieben, und es treten Folgebeschwerden in der Hand auf. Noch während der ersten Woche der Auszeit wird sie schriftlich zum Rapport geladen. Ein solches Krankengespräch ist zwar illegal, in Svetlanas Firma aber gängige Praxis. In einem solchen Gespräch wird der prognostizierbare Krankheitsverlauf dokumentiert, und es werden dessen Folgen »diskutiert«. In Svetlanas Falle hat ihr Chef bereits bei ihrer Krankenkasse Nachforschungen angestellt. Svetlana folgt der Vorladung und erscheint pünktlich bei ihrem Chef. Dieser gibt sich allerdings verblüfft. Er wimmelt sie ab und verweist auf seine Sekretärin. Sie werde das Protokoll mit ihr anfertigen. Die Sekretärin legt Svetlana dann ein weißes Blatt Papier vor und bittet sie, dieses zu unterschreiben. Im Anschluss würde sie dann für den Chef das Protokoll erstellen. Svetlana schüttelt den Kopf, sie sei in ihrem Herkunftsland eine staatliche Beamtin im gehobenen Dienst gewesen, sie wisse, wie administrative Prozesse funktionieren und werde ihr »Todesurteil« nicht unterzeichnen. Sie fordert, dass die Sekretärin erst das Proto338

koll anfertigt, dann werde sie es sich durchlesen und unterschreiben. Die Sekretärin kapituliert letztlich und legt Svetlana Tage später das fertige Protokoll vor. Nachdem sie unterschrieben hat, lässt die Sekretärin es allerdings unmittelbar in Svetlanas Akte verschwinden. Diese erhebt erneuten Einspruch und beharrt darauf, sie wolle eine Kopie des Schreibens. In der zweiten Woche ihrer Krankschreibung wird ihr gekündigt. Doch Svetlana ist kämpferisch und will sich nicht so einfach abspeisen lassen. »Denken Sie nicht Ausländerin, Putzfrau, dumm!«, wirft sie ihrem Chef noch entgegen, als dieser sich weigert, ihr eine Kopie ihres Arbeitsvertrages auszuhändigen. Sie wendet sich an die Gewerkschaft und klagt gegen ihre Kündigung. Während die Klage prozessiert wird, ist Svetlana voller Energie. Der Prozess am Arbeitsgericht soll das Unrecht aufwiegen, das ihr geschehen ist, nicht nur durch die Kündigung, sondern durch all die Jahre, in denen sie sich ihren Körper durch die Arbeit ruiniert hat. Tatsächlich entscheidet das Arbeitsgericht zu ihren Gunsten. Die Kündigung war unrechtmäßig, nicht zuletzt wegen des illegalen Krankengesprächs. Svetlana steht eine Entschädigung zu. Doch diese muss in ihren Ohren nach einem schlechten Witz klingen: Für 17 Jahre Betriebszugehörigkeit erhält sie 3500 Euro netto zugesprochen. Ein Vertrauter berichtet, Svetlana sei im Anschluss an die Verhandlung in Tränen ausgebrochen. Als ich sie eine Woche später anrufe, um mich nach den neuesten Entwicklungen zu erkundigen, ist Svetlanas Telefon abgestellt. Sie hat ihre Koffer gepackt und ist nach 18 Jahren nach Bosnien zurückgekehrt. Die Fallhöhen, mit denen ein Leben konfrontiert ist, das sich an Arbeit im Bereich reiner Gewährleistung ausrichtet, sind enorm. Alles kann schon morgen vorbei sein. Dies gilt umso mehr, wenn man versucht, nicht nur bescheiden zu leben und nach Vorschrift zu handeln. Gerade wer Verantwortung übernimmt, kann schnell tief fallen.

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»Nun fühlen sie, wie dem Arbeiter zumute ist.«1

V Das Segment einfacher Dienstleistungsarbeit Es ist nun Zeit, zu Ralf Dahrendorf zurückzukehren: Dahrendorf ruft für die empirische Bestimmung der Reichweite von Herrschaftsdiagnosen im Bereich der Arbeit drei Kriterien auf. Ein Herrschaftsbeziehungsweise Ordnungsbegriff muss erstens Rechenschaft über die Größe und sozialstrukturelle Bedeutung der beobachteten Gruppe ablegen. Dies ist in Kapitel II geschehen. Die Analyse legt dabei nahe, einfache Dienstleistungsarbeit als ein eigenes Segment des bundesrepublikanischen Arbeitsmarktes zu verstehen, das in spezifischer Weise institutionell gerahmt ist und sich durch multidimensionale Benachteiligung gegenüber anderen Gruppen der Arbeitsgesellschaft auszeichnet. Es muss zweitens ein spezifischer betrieblicher Herrschaftsmodus diagnostiziert werden, und drittens müssen Aussagen über die Zusammenhänge von sozialstruktureller Lage, ordnungslogischer Gestaltung der Arbeitssituation und Aspekten alltäglicher Lebensführung hergestellt werden. Die Analyse der Arbeitssituationen hat spezifische Formen der Rationalisierung einfacher Dienstleistungsarbeit in unterschiedlichen Ausformungen diagnostiziert und deren Folgen für die Ordnungsmechanismen der Arbeitssituation beschrieben. Aspekte alltäglicher Lebensführung wurden dazu in Beziehung gesetzt. Es gilt nun mit Blick auf das Feld einfacher Dienste, das Gesagte zusammenfassend zu rekapitulieren.

1 Kracauer, Angestellte, S. 48.

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Rationalisierung und die Vermachtung der Arbeitssituation Im Verständnis der vorliegenden Arbeit zielt Rationalisierung in erster Linie auf die materiale Dimension einer Tätigkeit oder in anderen Worten: auf den Shopfloor. Dennoch sollte klar geworden sein, dass ihr organisationsspezifische Determinanten vorangehen, sie also deren Effekt ist. Im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit zeigt sich kein systematischer Rationalisierungsmodus, wie es der Taylorismus in den Fabrikregimes des 20. Jahrhunderts zeitweise war. Vielmehr sind die Arbeitssituationen von einer gewissen Bandbreite an Rationalisierungsstrategien gekennzeichnet, die allerdings allesamt vor dem Problem stehen, Technik einstweilen nicht zum Ausgangspunkt der Regulierung des Arbeitsprozesses zu machen. Organisatorische Dezentralisierungsmaßnahmen sind im vorliegenden Untersuchungsbereich in radikaler Weise durchgesetzt. Wenig verwunderlich ist daher, dass nun wieder verstärkt auf Strategien der Regulierung des Shopfloors gesetzt wird. In Ermangelung technischer Prozessregulierung müssen solche Strategien sozialer Rationalisierung über Formen direkter Kontrolle umgesetzt werden. Rationalisierungsstrategien sind als Taktiken der Träger von Herrschaftspositionen in Unternehmen zu verstehen und daher durch deren Wirken in den Organisationen angestoßen. Soziale Rationalisierungsstrategien müssen für ihre Durchsetzung von Verantwortungsträgern in den Organisationen permanent aktualisiert werden, weil technische Faktoren, die Kontrolle automatisieren könnten, eher spärlich zum Einsatz kommen. Sie bündeln nicht mehr Arbeitsersparnis, Effektivitätssteigerung und Kontrolle im Arbeitsprozess.2 Vielmehr erzeugen soziale Rationalisierungsstrategien systematische Anschlussprobleme, vor allem für die Kontrolle des Arbeitsprozesses. Sie haben Effekte im Medium der Macht, weil der Handlungsspielraum der von Rationalisierung Betroffenen systematisch steigt. Herrschaft wird damit nicht nur me-

2 Was für die technische Rationalisierung im tayloristischen Industriebetrieb noch galt (Pfeiffer, »Technisierung von Arbeit«, S. 231).

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thodologisch, sondern empirisch zu einem Effekt von Handeln – auch der Herrschaftsunterworfenen. Die Strategien der Rationalisierung der konkreten Arbeitsabläufe basieren auf spezifischen vertraglichen Strukturen und organisatorischen Zusammenhängen: Die Unternehmen machen allesamt von unterschiedlichen Strategien vertragsinduzierter Abwertung der Arbeit Gebrauch. Systematisch eingesetzte Befristungen münden nicht selten automatisch in einer Kündigung zum Zeitpunkt des Fälligwerdens der Entfristung. Der flächendeckende Einsatz von Teilzeitbeschäftigung, Minijobs oder Leiharbeitnehmern soll Flexibilität gewährleisten, bedingt aber auch eine Reduktion der biografischen Bindung der Beschäftigten an ihre Tätigkeit. Hinzu kommen Strategien der organisatorischen Dezentralisierung: Aufträge werden verstärkt ausgelagert und an Dritte vergeben. Dabei mag das Ausmaß der Strategien der Regulierung von Arbeitsverträgen und der Dezentralisierung von Organisationsstrukturen überraschen. Ihm kann jedoch keine unmissverständliche Spezifik zugeschrieben werden. Die Arbeitsforschung macht darauf aufmerksam, dass vertragliche Deregulierungsstrategien3 und unternehmensbezogene Dezentrierungen beinahe überall in der Arbeitswelt zu beobachten sind. Soll den einfachen Diensten ein spezifischer herrschaftsrelevanter Zuschnitt zugewiesen werden, so das Argument der vorliegenden Studie, kann dies über die Diagnose der Strategien der Regulierung des materialen Zuschnitts des Arbeitsprozesses, des Shopfloors, geschehen. Dieser wird über spezifische Rationalisierungsstrategien einer Dynamik unterworfen, die der Steigerung der Produktivität dienen soll. Anders als in industriellen Tätigkeiten kommen im Segment einfacher Dienste kaum technische Hilfsmittel zum Einsatz. Soziale Formen der Rationalisierung wenden sich dagegen sehr direkt an die Erhöhung der ganz persönlichen Leistungsveräußerung der einzelnen Beschäftigten. In den einfachen Diensten lässt sich ein Dreigestirn materialer Rationalisierungsstrategien im Arbeitsprozess rekonstruieren. Sehr knapp formuliert, geht es um Kombinationen aus Standardisierung, Universalisierung und Verdichtung von Arbeit.

3 Im Vergleich zum fordistischen Normalarbeitsverhältnis.

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Der dreibeinige Krake Standardisierung betrifft den qualitativen Zuschnitt einer Tätigkeit. Es zeigt sich dabei in den einfachen Diensten eine zunehmende Reduktion der Komplexität einzelner Tätigkeiten.4 So wird beispielsweise die Verkaufsarbeit im Einzelhandel der Tendenz nach weniger an der komplexen Beratung von Kunden ausgerichtet. Dagegen gewinnen die rein auf Normalisierung und Gewährleistung zielenden Tätigkeiten an Bedeutung. Es geht dann um das Um- und Einräumen, das Kassieren und das Reinigen der Verkaufsflächen. Autonomie im Arbeitsprozess wird zunehmend stärker strukturiert, indem die interaktiven Aspekte reguliert (U&S) oder aus dem Arbeitsprozess getilgt werden (Discount).5 Auch wo Aspekte der Interaktion von jeher eine geringe Rolle spielen, wie in der Distribution oder der reinen Gewährleistungsarbeit, wendet sich Standardisierung vornehmlich an die Autonomie erfordernden Aspekte der Tätigkeiten. Wenn Routen angeglichen und Reinigungssysteme auf niedrigem Niveau vereinheitlicht werden, bedürfen sie keiner spezifischen Kompetenzen mehr und können tendenziell von allen Arbeitnehmern bearbeitet werden. Je mehr lediglich einfache Tätigkeiten den Arbeitsprozess dominieren, desto leichter kann Arbeitskraft ersetzt oder verschoben werden. Standardisierung führt daher tendenziell zu einer Abwertung der Arbeit. Die qualitative Standardisierung der Tätigkeiten bereitet zugleich den Boden für den zweiten Arm des Rationalisierungskraken. Denn je einfacher die einzelnen zu erfüllenden Tätigkeiten werden, desto weniger spezifische Kompetenzen sind zu ihrer Erfüllung angezeigt. Im Zeichen des in beinahe allen betrachteten Fällen erheblichen Kostendrucks zielt Rationalisierung zuallererst auf die Reduktion der Personalkosten. Dies gilt für die einfachen Dienste im Besonderen, weil hier in der Regel die Personalkosten den bei Weitem größten Kostenpunkt ausmachen und technische Automatisierung im vorliegenden Sample nicht in signifikantem Ausmaß zur Steigerung der Produktivität eingesetzt wird. So ist es nur konsequent, Arbeitskraft nicht für einzelne Tätigkeiten zu reservieren, sondern dieser 4 Eine Ausnahme bildet hier das untersuchte Pflegeheim, in dem die Standardisie-

rung primär im Zuge der Einführung der Pflegeversicherung erfolgte, was die Arbeit eher komplexer machte, als sie abzuwerten. 5 Eine Rationalisierungsstrategie, die so in der Pflegearbeit undenkbar ist.

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möglichst viele verschiedene Tätigkeiten zuzuweisen, um sie konstant abschöpfen zu können. Das System der Bedarfsreinigung ist hier ein Kardinalexempel für die Kombination von Standardisierung und Universalisierung: Die zu erfüllenden Tätigkeiten beschränken sich auf das Wesentlichste, sind also in ihrer Komplexität reduziert und katalogisiert, das heißt standardisiert. Komplexe Tätigkeiten fallen aus dem Portfolio heraus. Dafür müssen sämtliche Basishandgriffe sitzen. Die Autonomie der Arbeitenden besteht in der situationsadäquaten Kombination vieler einfacher Handgriffe und der Verantwortlichkeit für die systematische Unterschreitung der vertraglich festgelegten Leistungen. Das gleiche Muster gilt für Unternehmen wie Discount, in denen sich eine Allzuständigkeit sämtlicher fester Mitarbeiter etabliert hat, aber auch für die Servicekraft der HFM , die als Konkursmasse des Arbeitsprozesses tendenziell überall eingesetzt werden kann.6 Natürlich stoßen die Tendenzen der Universalisierung von Zuständigkeiten an materiale und organisatorische Grenzen. Hat ein Unternehmen etwa den Auftrag zur Reinigung eines bestimmten Gebäudes, so macht es keinen Sinn, den Angestellten mehr als Reinigungstätigkeiten aufzubürden. Ist, wie im Falle der Zentralsterilisation der HFM , ein Arbeitsbereich einigermaßen ausgelastet, so muss Arbeitskraft nicht noch an anderer Stelle eingesetzt werden. In diesen Fällen, aber durchaus auch in jenen Bereichen, in denen auf eine Universalisierung der Zuständigkeiten gesetzt wird, kommt die dritte Rationalisierungsstrategie ins Spiel: Arbeit wird verdichtet, das heißt, die Schlagzahl spezifischer standardisierter Tätigkeiten wird erhöht. In der Regel wird so einerseits eine Arbeitsweise etabliert, innerhalb derer in einer spezifischen Zeiteinheit mehr gleiche, einfache Tätigkeiten anfallen als zuvor. Andererseits führt Verdichtung auch zu Arbeitszeiten, die systematisch das vertraglich festgelegte Maß überschreiten, weil die erhöhte Anzahl einzelner Tätig-

6 Eine ganz andere Form der Universalisierung von Tätigkeiten findet sich wie-

derum im System privathaushaltlicher Pflege, in der zwar auch eine Vielzahl an Tätigkeiten ausgeführt werden muss, in der aber gerade kaum Standardisierung möglich erscheint und eine Rationalisierung des Arbeitsalltags den Beschäftigten selbst überlassen ist. Auch im Pflegeheim sind, zumindest für die pflegerischen Tätigkeiten selbst, eher Differenzierungs- und Komplexitätsgewinne zu konstatieren, die in Richtung der Aufwertung der Tätigkeiten weisen.

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keiten nicht in der vorgeschriebenen Arbeitszeit bewältigt werden kann. Die Grenzen der Belastbarkeit werden dabei systematisch ausgeforscht und in vielen Fällen konsequent überschritten, wie wiederum das Beispiel der Bedarfsreinigung verdeutlicht: Der Auftraggeber verspricht dem Auftragnehmer hier mehr, als er halten kann. Die Kosten dafür tragen die Reinigungskräfte. Das System der Bedarfsreinigung steht auch paradigmatisch dafür, dass sich die drei Elemente der Rationalisierung einfacher Dienstleistungsarbeit keineswegs ausschließen, sondern entsprechend des materialen Zuschnitts einer Tätigkeit mal stärker, mal schwächer ergänzen. Die Bedarfsreinigung bildet ein Exempel für eine erfolgreiche Kombination aller drei Rationalisierungsstrategien. Innerhalb der Pflege, aber auch im Zeichen spezifischer Warenprofile wie bei Xtrem Sports, setzen notwendigerweise interaktive Tätigkeitsprofile der Standardisierung dagegen enge Grenzen. Zugleich zeigt das Unternehmen Newsfeed, dass bestimmte organisatorische Mechanismen, wie die Etablierung eines Stücklohns, sämtliche materialen Rationalisierungsstrategien überflüssig machen können, weil in einer solchen Situation die Maximierung des finanziellen Ertrags der Arbeit direkt von der selbstverordneten Maximierung der veräußerten Arbeitskraft der Beschäftigten abhängt. Anders gesagt: Unter diesen Bedingungen übernehmen die Beschäftigten die Aufgaben der Arbeitsverdichtung selbst, da sie auf diese Weise ihren Stundenlohn steigern. Die Basis hierfür bildet freilich eine Tätigkeit, die von ihrem materialen Zuschnitt bereits so entleert ist, dass keine betriebliche Kontrolle mehr als notwendig erachtet wird. Einstweilen deutet sich im Newsfeed-Modell allerdings noch keine stilbildende Figur an. Eher zeigen sich unterschiedliche Kombinationen von Standardisierung, Universalisierung und Verdichtung, die kontextuell spezifiziert werden. Auch dafür gibt es vornehmlich materiale Gründe: Am Beispiel des Einzelhandels zeigt sich selbst im stark rationalisierten Arbeitszusammenhang bei Discount noch ein gewisses Maß systematischer Hemmung aller drei Zugriffe auf den Arbeitsprozess. Denn der Kunde fragt, obwohl er nicht fragen soll, und muss bedient werden, obwohl dies eigentlich nicht vorgesehen ist. Er kommt außerdem gerne unregelmäßig, und so muss ein gewisses Arbeitskräftereservoir bereitgehalten werden, soll der Betrieb nicht zusammenbrechen, falls zufällig ein Reisebus 345

vor der Tür hält.7 Auch das Postaufkommen im Falle von Superpost bildet eine solche Grenze. Denn die Volatilität der täglichen Menge an Briefen und Päckchen verlangt eigentlich das Vorhalten gewisser Arbeitskraftreservoirs. Superpost zeigt allerdings wiederum, dass nicht selten solche materialen Grenzen schlicht ignoriert werden: Die Post wird ohnehin nicht fristgerecht ausgeliefert. Ob ein Brief nun im konkreten Stadtgebiet vier oder sechs Tage unterwegs ist, macht die Suppe aus Sicht des Arbeitgebers wohl auch nicht mehr fett. Dies geht systematisch auf Kosten der Arbeitnehmer, die über personengebundene Repressionen zu immer mehr Leistung angetrieben werden, während bereits allen klar ist, dass die Anforderungen ohnehin nicht erfüllt werden können. Im Falle von HFM zeigt sich, dass nicht nur in Bezug auf die Verdichtung der Arbeit materiale Grenzen ignoriert werden. Auch das Ignorieren von Standardisierungsgrenzen spielt hier eine entscheidende Rolle, etwa wenn Servicekräfte zur Reinigung von Operationssälen eingesetzt werden. Dass dies auf Kosten der Gesundheit der Arbeitnehmer geht, zeigt sich hier in extremer Zuspitzung, wenn sich die Servicekraft ohne Handschuhe und Schutzimpfung an einer benutzten Spritze sticht, die in den Mopp geraten ist.

Vermachtung – »Teile und herrsche« Analytisch gebündelt ist der Effekt dieser sozialen Rationalisierungsstrategien die Vermachtung der Arbeitssituationen8: Kontrolle muss stetig aktualisiert werden, ohne dass technische Hilfsmittel solche Prozesse automatisieren könnten. Die Aktualisierung geschieht daher über personengebundene Macht, die, wie sich gezeigt hat, stets auch Gegenmacht provoziert, die sich in wiederkehrenden Konflikten ausdrückt. Die konkrete Form der Vermachtung der Arbeitssituation ist von spezifischen Organisationsdeterminanten abhängig. Quer zu den einzelnen Tätigkeitsbereichen sind in allen Fällen klare, harte Hierarchiegefälle zu beobachten, aufgrund derer die ausführende Ebene von der Ebene der Vorarbeiter, Objektleiter oder Filialleitungen ge7 Es sollte allerdings deutlich geworden sein, dass ein solches Arbeitskräftereser-

voir sehr begrenzt ist, arbeiten doch meist nur zwei Beschäftigte gleichzeitig in einem Markt. 8 Dies ist der gemeinsame Nenner der beschriebenen Ordnungsmechanismen.

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trennt wird. Diese Dichotomisierung der Arbeitssituation ist die organisatorische Basis ihrer Vermachtung. Denn in der Folge hängt der konkrete Zuschnitt der Macht entscheidend von den Führungsstrategien der Vorarbeiterebene ab, die selbst große Spielräume bezüglich ihrer Personalführungsstrategien besitzen. Die zweite Basis der Vermachtung der Arbeitssituation liegt wiederum in ihrem materialen Zuschnitt begründet: Weder technische Regulierung noch eigenmotivationale Aspekte einer sinnerfüllten Tätigkeit bewegen in den stärker rationalisierten Bereichen einfacher Dienstleistungsarbeit9 die Beschäftigten zur Veräußerung ihrer Arbeitskraft. Personengebundene Kontrolle tritt an ihre Stelle. Die zwei sich daraus ergebenden Ordnungsmodelle bestimmen sich deshalb vornehmlich an der machtförmigen und daher weitgehend unberechenbaren Entscheidung spezifischer Vorarbeiter. Diese haben die Wahl, eher auf Repression oder auf Kooperation zu setzen und damit graduell unterschiedliche Ordnungsmechanismen ins Werk zu setzen.

Das Günstlingsmodell Im ersten Fall ist eine stark vertikale Ausformung der Machtdynamiken zu beobachten.10 Direkte Anweisungen prägen den Arbeitsalltag. Die beschriebenen Rationalisierungsdynamiken müssen nicht selten von den Vorarbeitern selbst angestoßen werden. Sie müssen dafür sorgen, dass eine Arbeit nicht im Chaos endet, die schon von ihren materialen Aspekten her wenig Chancen des Stolzes bietet und im Zuge des Kostendrucks noch die letzten Möglichkeiten, für die Arbeitenden als positiv perzipierte Ergebnisse zu produzieren, negiert. Wer nicht spurt, muss auf Linie gebracht werden. Dies gilt umso stärker, als viele der hier betrachteten Tätigkeiten weitgehend isoliert vollzogen werden, die Arbeit also nur schwer zu kontrollieren ist. In den beobachteten Fällen führt dies dazu, dass sich alterna-

9 Vor allem im Bereich der Distribution, im Discountsystem und im Bereich rei-

ner Gewährleistung. 10 Dies gilt im vorliegenden Sample vornehmlich für Discount, Newsfeed, Flecken-los und die HFM , aber in Teilen auch für Superpost. Es ist wichtig, hier anzumerken, dass die Zuordnung dieses Ordnungsmodells zu den benannten Fällen nicht zwangsläufig ist: Es ist durchaus denkbar, dass sich ein spezifischer Vorarbeiter bei Flecken-los gegen Repression und für Kooperation entscheidet. Zwischen diesen beiden Optionen muss er sich jedenfalls positionieren.

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tive Systeme der Informationsgewinnung etablieren. Aus der ausführenden Ebene heraus gewinnen die Vorarbeiter Informationen, die sie mit den kargen zur Verfügung stehenden Privilegien »vergüten«.11 Die ausführende Ebene selbst wird durch dieses Günstlingssystem gespalten in »Träger«12 und jene, die auch von den raren Möglichkeiten der Partizipation an vertikaler Machtausübung ausgeschlossen bleiben. Für Erstere ist, im Lichte der wenigen zur Verteilung vorhandenen materiellen Privilegien, vornehmlich Macht die Währung für ihre »Mühen«. Bei Letzteren häufen sich Phänomene der Devianz: Materialdiebstahl, willentlicher13 Pfusch oder »Krankfeiern«. Die vorherrschenden Rationalisierungsdynamiken bedingen freilich, dass in diesen Fällen die Konsequenzen für Fehlverhalten direkt auf die Akteure zurückfallen, sofern dieses geahndet wird. Die vorherrschenden Günstlingssysteme befördern dabei noch die Vermachtung der Arbeitssituation. Denn oft sind die Weisungsbefugnisse eben nicht positional abgesichert oder wechseln mit unterschiedlichen Schichten. Die effektive Macht wird von den linken Händen der Vorarbeiter oder von wechselnden Stellvertretern ausgeübt. Dass sich Letztere, in Ermangelung einer positional abgesicherten Autorität, mittels personenbezogener, repressiver Machtpraktiken durchsetzen, wirkt wenig verwunderlich, zumal die Entlohnung des »Tragens« in der Währung Macht auch verlangt, dass der Lohn durch ihre Ausübung realisiert wird. Nur wer Macht ausübt, weiß, dass er sie hat. Auch die Rekrutierungssysteme, wie sie beispielhaft im Falle von HFM beschrieben wurden, unterstützen diesen Trend. Wo nicht die linken Hände leiten, wird gezielt auf als repressiv bekannte Vorarbeiter gesetzt, oder es werden junge fachfremde Personen mit Leistungsaufgaben betraut, denen sie nicht gewachsen sind. Insgesamt lässt sich das Günstlingssystem als eine Form der Vermachtung der Arbeitssituation beschreiben, weil einerseits Herrschaftsaufgaben von Personen ausgeübt werden, die keine Herrschaftspositionen begleiten. Andererseits mindert dieser Umstand 11 Routen, feste Verträge, mehr Stunden. 12 Diese bringen machtrelevante Informationen aus der ausführenden Ebene zu

den Vorarbeitern. 13 Im Gegensatz zu systematisch notwendigem Pfusch.

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auch die Anerkennung der eigentlich positionsbewährten Weisungsrechte der Vorarbeiter. Diese delegieren Macht, ohne sie an Positionen zu koppeln, und agieren darüber hinaus in einer Weise repressiv, die von den Unterworfenen nur als personengebundene Form der Machtausübung verstanden werden kann, weil sich repressive Praktiken14 nicht auf kodifizierte Satzungen oder die Alltagsdeutung dessen, was durch Positionen gerechtfertigte Machtausübung ist, zurückführen lassen.

Das repressive Gemeinschaftsmodell15 Das zweite Modell der Vermachtung der Arbeitssituation setzt sich im Grunde von den gleichen Organisationsdeterminanten ausgehend ins Werk. Auch hier ist eine Dichotomisierung jener Hierarchien zu beobachten, die den Arbeitsalltag unmittelbar betreffen. Doch zeigen sich in diesem Fall kooperativer angelegte Ordnungsmechanismen in Form von Gemeinschaftsmodellen.16 Den Teams der ausführenden Ebene werden verhältnismäßig weitgehende Autonomiespielräume bezüglich der konkreten Gestaltung des Arbeitsprozesses zugestanden. Dies liegt in unterschiedlichen Faktoren begründet, die sich in der Regel vornehmlich aus dem materialen Zuschnitt der Tätigkeiten ergeben: Im Falle von Xtrem Sports sind es die milieuspezifischen Kompetenzen, die ins Werk gesetzt werden müssen, damit der Arbeitsprozess erfolgreich verläuft. Diese widersetzen sich der Regulierung, weil sie einerseits auf der subkulturellen Spezifik der Arbeitnehmer basieren und andererseits der Kundenkontakt in diesem spezifischen Fall wohl nur sehr eingeschränkt reguliert werden kann. Im Falle von U&S sind diese milieuspezifischen Individualisierungsfaktoren zwar weniger

14 Etwa Schreien, körperliche Übergriffe, Intrigieren, radikales Überwachen,

Drohen, Kommentare zu Privatleben oder Religion etc. 15 Ingrid Artus fasst ähnliche Phänomene mit den Begriffen »repressive Integra-

tion« und »prekäre Vergemeinschaftung« (Artus, »Prekäre Vergemeinschaftung«). 16 Gedacht ist an Xtrem Sports, U&S, aber auch Superpost. Auch im untersuchten Pflegeheim wird auf Gemeinschaft gesetzt, allerdings ohne die repressiven Momente, die die anderen Kontexte auszeichnen. Im Privathaushalt ist dagegen die Frage, ob der Kunde repressive oder kooperative Strategien wählt grundsätzlich kontingent.

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spezifisch. Aber auch hier fordert die Beratung der Kundschaft noch einige Zugeständnisse an die Autonomie der Arbeitnehmer. Außerdem ist die Arbeitssituation von einer liberalen Unternehmenskultur gerahmt, die dazu führt, dass offene Repression verpönt ist. Im Falle von Superpost sind es schlicht die dünne Personaldecke und die weitgehend isoliert vollzogene Zustellung, die einerseits Kooperation erfordern und andererseits Zugeständnisse an die Autonomie der Dienstleister nahelegen. Der Effekt dieser Faktoren ist die Verschiebung der Machtausübung von einer vertikalen Ausrichtung auf eine eher horizontale Ebene. Das Tragen von sanktionsrelevanten Informationen erfolgt nicht mehr durch die einzelnen Arbeitnehmer. Vielmehr sind der Informationsweitergabe horizontale Prozesse in den Teams vorgelagert.17 Teameinpassung wird zum zentralen Bewährungskriterium der einzelnen Mitarbeiter und damit zur Determinante der Exklusion aus der Privilegienstruktur der Arbeitssituation. Die Teams werden in Personalentscheidungen integriert (U&S) oder übernehmen die Maßnahmen der Sicherung der Leistungsveräußerung selbst (Superpost). Doch nicht nur die Übernahme von Kontrollfunktionen ist Preis und Lohn ihrer Autonomie. Auch horizontale Konflikte nehmen zu. Diese dienen zuallererst der Strukturfindung in einer unterdeterminierten Arbeitssituation. In einem zweiten Schritt werden sie allerdings sanktionsrelevant, weil diejenigen, die sich Machtressourcen sichern können, auch mit Privilegien entlohnt werden und Entscheidungen über den etwaigen Ausschluss anderer Mitarbeiter aus der Arbeit mitbestimmen können.18 Im Falle von Tätigkeiten, in denen physische Verausgabung zur Wertbemessung der Qualität der Arbeit von den Beschäftigten genutzt wird,19 verschärfen solche repressiven Teamprozesse Exklusionsrisiken entlang der Fundamentalkategorie des Körpers. Günstlings- und Gemeinschaftsmodelle unterscheiden sich eher graduell und sind in hohem Maße von persönlichen Entscheidungen

17 Dies gilt für Xtrem Sports, U&S und Superpost gleichermaßen. 18 Beispielsweise über deren konkrete Tätigkeit, die Erhöhung von Stunden, Ein-

stellungen und Kündigungen oder Kontrollmaßnahmen mit dem Ziel der Leistungsveräußerung. 19 Dies trifft auf alle analysierten Fälle mit Ausnahme der Pflege zumindest teilweise zu.

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der Vorarbeiter abhängig,20 die festlegen, wieviel Mitsprache sie zu gewähren bereit sind. Beide Modelle sind unterschiedliche Ausformungen des Prinzips »Teile und herrsche«. Die repressive Machtförmigkeit dieser Prozesse wird durch organisatorische Determinanten, wie die tragende Rolle des Delegierens von Weisungsbefugnissen an die linken Hände, gestützt. Aber auch die Tatsache, dass konkrete Rationalisierungsmaßnahmen nicht selten von Vorarbeitern oder deren inoffiziellen Stellvertretern induziert werden (HFM ), trägt zur Vermachtung der Arbeitssituation bei. Es zeigt sich auch eine lose Kopplung dieser Ordnungsmodelle an den Durchsetzungsgrad der benannten Rationalisierungsdynamiken: Die stärker von horizontalen Machtprozessen (Gemeinschaftsmodell) getragenen Ordnungsmechanismen sind jene, in deren Fall Rationalisierungdynamiken tendenziell früher an materiale Grenzen stoßen. Die Autonomie der Interaktionen bei Xtrem Sports oder U&S, aber auch die Kombination von Eigenverantwortlichkeit und Kooperationsnotwendigkeit bei Superpost erfordern Zugeständnisse an die Arbeitnehmer. Solcher Autonomiekredit ist in den stärker rationalisierten Arbeitszusammenhängen von Discount, Newsfeed, Flecken-los oder HFM nicht mehr notwendig. Er wird durch eher vertikale, aber dennoch personengebundene Macht in Günstlingsmodellen ersetzt.

Unterschichtung In ihrem Buch »Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein« (1973) hatten Horst Kern und Michael Schumann Mitte der 1970er Jahre eine Polarisierung qualifizierter und unqualifizierter Tätigkeiten im Gefolge technischer Rationalisierungsprozesse in der Industriearbeit diagnostiziert. Der Begriff der Polarisierung sollte eine Bewegung beschreiben, innerhalb derer qualifizierte Industriearbeit eine weitere 20 In den vorliegenden Fällen ist dieser Faktor tatsächlich wesentlich bestimmen-

der als auf Vergemeinschaftung setzende Unternehmensideologien. Solche Narrative finden sich zwar in beinahe allen untersuchten Unternehmen. Sie werden von den Angestellten jedoch als solche durchschaut. Die Beschäftigten beurteilen Vergemeinschaftungschancen nach deren Realisierung und den Chancen, die sie bieten, nicht entsprechend ihrer reinen Proklamation.

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Aufwertung erfahre, während unqualifizierte Tätigkeit abgewertet werde. Beide Segmente, so die Diagnose, bewegten sich im Prozess der Polarisierung sukzessive auseinander. Als Kriterium für diesen Befund wurde die Qualifikationsstruktur gewählt: Die qualifizierten Varianten industrieller Tätigkeiten gehen nach Kern/Schumann mit hohen Dispositionschancen und geringerer körperlicher Belastung einher, während für die abgewerteten unqualifizierten Tätigkeiten das Gegenteil gilt. Als Mechanismus dieser Polarisierungsdynamik fassten Kern/Schumann den Prozess technischer Rationalisierung, dem sowohl die diagnostizierten Auf- als auch die Abwertungsdynamiken entsprangen. So wurde eine systematische Verbindung zwischen unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen hergestellt, die darüber hinaus im integrierten Rahmen des Industriebetriebs beobachtet wurde.

Die Unterschichtung der Arbeitssituation In Anlehnung an diese Operation Kern/Schumanns ist im Rahmen dieses Kapitels die Logik der Arbeitsteilung im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit als eine Dynamik der Unterschichtung beschrieben worden. Unterschichtung bezeichnet eine Bewegung, bei der am unteren Rande der Arbeitssituation neue Gruppen entstehen, die Gewohnheiten und Anrechte, die im Prozess der Arbeitsteilung etabliert sind, unterlaufen. Anders als im Falle der Polarisierungsdiagnose kann in den einfachen Diensten allerdings nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass mit der Abwertung spezifischer Tätigkeiten auch systematisch eine Aufwertung anderer Arbeitsbereiche einhergeht. Eher zeigt sich, dass dem Unterlaufen bisher geltender Standards höchstens eine Persistenz der – wegen Unterschichtung – nun »privilegierten« Positionen korrespondiert. Der Fall der HFM hat freilich symptomatisch belegt, dass Unterschichtung möglicherweise nur als ein erster Schritt im Prozess einer umfangreichen Abwertung der Arbeit zu verstehen ist. Denn wären, um in der Sprache des Falls zu bleiben, nur noch allzuständige Servicekräfte bei der HFM beschäftigt, so wäre der betriebsinterne Unterschichtungsprozess möglicherweise an ein Ende gelangt.21 21 Einstweilen liegt allerdings die Hypothese näher, dass Unterschichtung und

nicht reine Abwertung der Arbeit die treffende Diagnose ist. Denn die Kernbelegschaften der beschriebenen Arbeitssituationen sind zwar für den Arbeitsprozess nicht unentbehrlich. Für die Etablierung von Weisungsbefugnissen scheint

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Auch im Rahmen der vorliegenden Studie wird die Logik der Unterschichtung als Effekt von Ordnungsmechanismen verstanden, die selbst die Effekte von Rationalisierungsstrategien sind. Die Qualifikationsstruktur dagegen taugt nicht mehr ohne Weiteres als Kriterium der Positionsbestimmung verschiedener Einheiten. Denn zum einen sind in den einfachen Diensten Qualifizierungsdynamiken beobachtbar, die nicht mit einer materiellen oder materialen Aufwertung der Arbeit einhergehen.22 Zum anderen finden sich innerhalb der Arbeitssituationen häufig Beschäftigte mit diversen, oft fachfremden Qualifkationsprofilen, was eine klare Unterscheidung ihrer Position in der Arbeitssituation erschwert. Daher wurden in der vorliegenden Arbeit formelle und informelle Machtdynamiken in der Blick genommen, die letztlich die Ordnungsmechanismen spezifischer Arbeitssituationen und als Konsequenz die Positionen der einzelnen Arbeitnehmer in diesen Arbeitssituationen prägen. Als Kriterium zur Bestimmung der Entwicklung der jeweiligen Lagen im Prozess der Unterschichtung dienten daher diese situationsimmanent rekonstruierten23 Positionierungen der Arbeitnehmer in den Arbeitssituationen. Eine analytische Unterscheidung ist zum Verständnis der beschriebenen Unterschichtungsprozesse hilfreich: Unterschichtungsdynamiken sind nicht nur durch material ausgerichtete Rationalisierungs-

aber ein gewisses Maß an Regelmäßigkeit unerlässlich zu sein. Außerdem müssen im Falle kundenorientierter Dienstleistungen immer gewisse Mengen an Arbeitskraft als Puffer vorrätig sein. Auch dies ist mit Kernbelegschaften besser zu bewerkstelligen als mit lediglich locker an die Unternehmen gekoppelten Beschäftigten. 22 Benannt wurde etwa im Fall der stationären Pflegearbeit eine qualifikatorische Aufwertung ohne quantitativ beobachtbare Lohnsteigerungen oder, im Falle der Reinigung, ein Bereich, der zwar offiziell zum Handwerk gehört, in dem zugleich aber eine Ausbildung alles andere als die Bedingung der Beschäftigung ist und zugleich Rationalisierung immer entleertere Tätigkeiten produziert. 23 »Situationsimmanent rekonstruiert« bezeichnet hier ein forschungspraktisches Vorgehen. Die beschriebenen Positionierungen in den Arbeitssituationen entsprechen nicht prinzipiell den formalen Hierarchien der Arbeitssituation. In der Analyse dieser Positionierungen wurden daher sowohl formale als auch informelle Hierarchien, deren Deutungen und Konsequenzen beschrieben, die allesamt die Arbeitssituation prägen und zu einem großen Teil erst in dieser produziert werden.

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strategien induziert. Vielmehr hat sich gezeigt, dass auch zunächst von Rationalisierung unabhängige organisatorische Entscheidungen Unterschichtungsprozesse in Gang setzen können.24 Diese Unterscheidung zwischen organisations- und rationalisierungsinduzierten Unterschichtungsprozessen ist allerdings weitgehend analytisch, das heißt in diesem Fall: artifiziell. Zum einen sind organisatorische Dezentralisierungsstratgien25 die systematische Basis etwaiger Rationalisierungsdynamiken materialer Art, die dann Unterschichtungsphänomene produzieren oder vertiefen. Zum anderen ist schwer vorstellbar, dass Unterschichtungsphänomene die gleichen deprivilegierenden Effekte wie im Falle der einfachen Diensten zeitigen, wenn sie in höher qualifizierten Arbeitsbereichen eingesetzt werden, wenn also organisatorische Dezentralisierung ohne die beschriebenen materialen Rationalisierungsstrategien erfolgt.26 Es ist die Kombination organisatorischer Dezentralisierungsdynamiken und spezifischer materialer Rationalisierungsstrategien, die den für die einfachen Dienste typischen Zuschnitt der Unterschichtung ins Werk setzt. Da Dezentralisierungsdynamiken auch in vielen anderen Bereichen des deutschen Arbeitsmarktes zu beobachten sind, kann davon ausgegangen werden, dass für die hier rekonstruierten Unterschichtungsdynamiken Rationalisierungsstrategien, die sich auf die materialen Aspekte der Tätigkeiten beziehen, der entscheidende Faktor sind.27

24 Etwa die Ausgliederung bestimmter Abteilungen aus organisatorischen Kon-

texten, der dann erst material ausgerichtete Rationalisierungsstrategien folgen, die im alten Organisationszusammenhang vielleicht von Betriebsräten verhindert worden wären. 25 Am paradigmatischsten wurde dies im Falle von HFM beschrieben, aber im Grunde zeigt sich hier ein notwendiges Phänomen einfacher Dienste, weil Kundenorientierung eine dezentrale Angebotsstruktur schlicht unerlässlich macht. 26 Auch dies verdeutlicht die HFM : Ein kleiner Bereich dieses Unternehmens, von dem bisher nicht die Rede war, sind EDV-Dienstleistungen durch Systemadministratoren. Diese Tätigkeitsbereiche gehören nicht zu den einfachen Diensten und sind nicht von den gleichen Rationalisierungsstrategien betroffen. Sie stehen außerhalb einer umfassenden Unterschichtungsdiagnose. 27 Ähnliche Rationalisierungsstrategien mögen auch in klassischen tayloristischen Systemen die Schlagrichtung der Regulierung des Arbeitsprozesses prägen. Hier erfolgt die Arbeit allerdings klassisch unter einem gemeinsamen Dach. Dezentralisierungsdynamiken spielen, mit anderen Worten, keine Rolle. Es liegt nahe, auch in organisationsspezifischer Hinsicht eine Besonderheit bei den ein-

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Die Basis solcher Unterschichtungsdynamiken bildet die stetige Inwertsetzung einstweilen ungenutzter Arbeitskraftreservoirs. Wie Nicole Mayer-Ahuja28 für das Reinigungsgewerbe gezeigt hat, kann die Fähigkeit, solche Inwertsetzungen in Gang zu bringen, sogar eine Bedingung für erfolgreiche organisatorische Dezentralisierungsdynamiken sein.29 Auch heute zeigt sich diese Dynamik bei den einfachen Diensten: Superpost hat eine Vereinbarung mit der lokalen Arbeitsagentur, wonach diese regelmäßig bestimmte Arbeitnehmerkontingente vermittelt; im Pflegeheim rekrutierten sich bis vor Kurzem die Präsenzkräfte aus sogenannten Ein-Euro-Jobbern; im Falle von U&S sind es die Studierenden, die als gesonderte Schicht von Arbeitnehmerinnen30 in der Arbeitssituation aktiv sind; bei Discount sind es wiederum zahlreiche 400-Euro-Kräfte mit den verschiedensten Hintergründen, die »von unten« der Arbeitssituation zugeführt werden. Im Zeichen gestiegener weiblicher Erwerbsbeteiligung ist es dagegen fraglich, ob die Strategie der Gewinnung von Arbeitskräften im Bereich der Hausfrauen noch sonderlich tragfähig oder gar strukturbestimmend ist. Dem empirischen Sample der vorliegenden Studie folgend sind es eher andere Grenzgruppen des Arbeitsmarktes, die unterschichtend wirksam werden: in den stärker rationalisierten Bereichen Arbeitslose, Geringverdiener, Kombilöhner und allgemein Geringqualifizierte, im Einzelhandel vor allem Studierende, aber natürlich auch weiterhin Familienfrauen in Teilzeit oder geringfügiger Beschäftigung. So ist, zumindest für die stärker rationalisierten Teile des Samples, die Rolle wohlfahrtsstaatlicher Arbeitsmarktpolitik als Bedingung der beschriebenen Unterschichtungsprozesse zu betonen.31

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fachen Diensten zu konstatieren. Dezentralisierung wird hier nicht zur Erzeugung innerbetrieblicher Konkurrenz zwischen gleichwertigen Unternehmenseinheiten eingesetzt, sondern primär eben in der Logik der Unterschichtung mit dem Ziel der Kostenreduktion. Mayer-Ahuja, Wieder dienen lernen?; dies., »Die Vorgeschichte der ›Ich-AG ‹«. Mayer-Ahuja verweist, wie bereits beschrieben, darauf, dass die Auslagerung der Reinigung aus dem Öffentlichen Dienst unter anderem auf die Fähigkeit privater Arbeitgeber zurückzuführen war, Hausfrauen für niedrig entlohnte Arbeit mit geringen Stundenkontingenten zu gewinnen (ebenda). Tatsächlich handelt es sich im vorliegenden Fall ausnahmslos um Frauen. Wohlfahrtsstaatliche Politik tritt als Gewährleister der beschriebenen Dynamiken auf: Sie stellt den rechtlichen Rahmen für die spezifische Arbeitskraftpolitik

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Die Arbeitssituationsanalysen haben gezeigt, dass diese Beschäftigtengruppen disziplinierend im Sinne der Motivation zur Leistungsveräußerung auf diejenigen etablierten Kräfte wirken, die den gleichen Arbeitssituationen angehören. Sie stehen für die Bedrohung durch Abwertung und üben so Druck auf andere Angestellte aus, deren einziges Privileg meist in längeren Arbeitszeiten32 oder informellen »Anrechten«33 besteht. Gerade die jüngeren und daher körperlich belastbareren Teile der Belegschaften projizieren im Zeichen erheblicher physischer Beanspruchung permanent die potenzielle Überflüssigkeit der älteren Kollegen.

Soziale Schließung Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Folgen die konstatierten Unterschichtungsdynamiken für Fragen der Schließung und Reproduktion der sozialen Lage der Beschäftigten haben. Die einfachen Dienste offerieren zwar gewisse interne Aufstiegsmöglichkeiten. Doch sind diese erstens auf die Vorarbeiterebene begrenzt und zweitens aus Sicht der Beschäftigten selten erstrebenswert: In fast allen untersuchten Bereichen34 hegen die meisten Arbeitnehmer nicht den Wunsch, in die Vorarbeiterebene vorzudringen. »Zu wenig Geld, zu viel Belastung«, lautet ihr Argument gegen ein solches Ziel. Stetig präsent sind ihnen dagegen die Bedrohungen »von unten«. Sozialer Abstieg wird daher sowohl zu einer kognitiv präsenteren als auch zu einer real wahrscheinlicheren Option als sozialer Aufstieg, weil die sichtbaren Aufstiegskanäle einerseits sehr begrenzt sind und andererseits nicht als erstrebenswert gelten, während Abwertung dagegen ein stets gegenwärtiges Risiko darstellt. Schließungs- und damit Reproduktionsrisiken der sozialen Lage scheinen in den einfachen Diensten also durch die Logik der Arbeitsteilung erhöht zu werden.

der Unternehmen (Arbeitsverträge etc.), sorgt über Aktivierungspolitik für die Inwertsetzung von Arbeitskraftreservoirs, die dem Arbeitsmarkt vorher nicht zugänglich waren, und schafft über die Subventionierung von Arbeitskraft (Lohnaufstockung) die notwendigen Bedingungen der Reproduktion von Arbeitskraft in den beschriebenen Arbeitsverhältnissen. 32 Also höherem Lohn. 33 Routen, informell zuerkannte Weisungsbefugnisse. 34 Die Ausnahme ist die stationäre Pflegearbeit.

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Die einzige Ausnahme bildet im vorliegenden Sample die stationäre Pflegearbeit. Hier deutet sich eine klassische Polarisierungslogik im Sinne Kern/Schumanns an. Zwar sind im Segment qualifizierter Pflegearbeit statistisch noch kaum entscheidende Lohnzuwächse nachweisbar. Dennoch steigen die Qualifikationsniveaus, weil die Unternehmen, zumindest im vorliegenden Fall, in die Qualifizierung der Mitarbeiter investieren. Für die Pflegekräfte werden systematisch Brücken gebaut, die es auch unqualifiziertem Personal, das sich in der Praxis bewährt hat, ermöglichen sollen, in höhere Qualifikationsebenen aufzusteigen. Die Leidtragenden dieser einseitigen Aufwertungstendenz sind jene Tätigkeiten rein gewährleistender Art, die nicht direkt in die Pflege integriert sind.35 Hier wird der Rotstift angesetzt, wie der Fall HFM gezeigt hat. Die benannten Rationalisierungsstrategien sind in diesen Bereichen am radikalsten durchsetzbar, während sie innerhalb der pflegerischen Tätigkeiten schnell an systematische Grenzen stoßen. Die Reduktion von Interaktivität als erstem Ziel materialer Rationalisierung ist in der Pflege kaum umsetzbar. Hier zeigt sich schlicht ein anderer »Rationalisierungspfad«: Technik spielt hier eine gewisse Rolle, weil die Komplexität digital ausgeführter und letztlich der Kontrolle dienender Dokumentationsarbeiten mit der Komplexität medizinischer Möglichkeiten steigt. Qualifizierte Pflegekräfte müssen daher immer unterschiedlichere anspruchsvolle Tätigkeiten vollziehen. Dies schlägt sich in den beobachtbaren Aufwertungstendenzen nieder. Ungeachtet der benannten Folgekosten der Qualifizierungsdynamiken in der Pflege unterscheidet sich dieser Bereich also grundlegend vom Rest des hier beschriebenen Samples. Er steht außerhalb der material ausgerichteten Rationalisierungsstrategien, die für die einfachen Dienste beschrieben wurden. Die Tätigkeiten sind daher auch nicht in ähnlicher Weise routinisiert wie in den stärker rationalisierten Teilen einfacher Dienstleistungsarbeit.36

35 Reinigung, Facility Management, Küche, Catering etc. 36 Dieser Befund lässt sich in folgender Richtung deuten: Wenn die stationäre

Pflege überhaupt zum Segment einfacher Dienste gehört, dann ist sie ein Randbeziehungsweise Übergangsphänomen, das verdeutlicht, dass für Qualifizierungsdynamiken im Bereich einfacher Dienste die materialen Aspekte der Tätigkeiten entscheidend sind. Nur wo Rationalisierungsgrenzen vorhanden sind, oder geschaffen werden, existiert eine realistische Chance, die Abwertungsdynamiken zu stoppen.

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Unterschichtungen zweiter Ordnung Kern/Schumann konnten in »Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein« noch sehr verschiedene Arbeitsbereiche in Verbindung zueinander setzen, weil diese zum einen im integrierten Rahmen des Industriebetriebs angesiedelt waren und zum anderen über Prozesse technischer Rationalisierung direkt in Verbindung standen. Im Falle der einfachen Dienste stellt sich die Lage komplizierter dar: Zum einen können unter dem Dach der Arbeitssituation nur noch recht ähnliche Tätigkeiten in einem integrierten Rahmen beobachtet werden,37 was Aussagen über das Verhältnis verschiedener Teilbereiche zueinander erschwert. Zum anderen hat sich gezeigt, dass die diagnostizierten Strategien sozialer Rationalisierung zum Beispiel innerhalb der Pflege nicht wirken und daher nur bestimmte Arbeitsbereiche in Relation zueinander setzen können. Dies vorweg geschickt können dennoch einige systematische Verbindungslinien verschiedener Teilbereiche einfacher Dienstleistungsarbeit benannt werden. So ist es offensichtlich, dass sich innerhalb des Einzelhandels ein Gefälle zwischen unterschiedlichen Teilbereichen zeigt, das sich maßgeblich aus dem jeweils vorherrschenden Ausmaß der Rationalisierung bestimmt. Je stärker die Kundeninteraktion als erstes Ziel der Rationalisierung im Einzelhandel aus dem Arbeitsprozess getilgt wird, desto privilegienärmer und repressiver sind die Arbeitssituationen strukturiert. Dabei ist die Frage, ob zum Beispiel der Rationalisierungsmodus von Discount stilbildend für Unternehmen des Typs U&S sein wird, grundsätzlich offen. Eine Verbindung in Form einer Unterschichtungsbeziehung kann in diesem Sinne lediglich hypostasiert werden.38 Ähnlich verhält es sich in Bezug auf die Arbeit der Zusteller. Auch hier zeigt sich eine Vervielfachung von Nachteilen in der

37 Kern/Schumanns konnten dagegen noch industrielle Einfacharbeit und kom-

plexe Maschinenwartungstätigkeiten im gleichen betrieblichen Zusammenhang beobachten. 38 Relativ evident wäre es zum Beispiel, von einer Unterschichtungsbeziehung zwischen dem höherklassigen Lebensmitteleinzelhandel und dem Discountbereich zu sprechen, da hier möglicherweise auf die gleichen Kundensegmente fokussiert wird und daher Discountunternehmen in Form der Konkurrenz auf einem gemeinsamen Markt direkten Einfluss auf die Situation in den höherklassigen Segmenten ausüben könnten.

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Folge des Durchsetzungsgrades der benannten Rationalisierungsstrategien. Grundsätzlich ist durchaus denkbar, dass Superpost und Newsfeed um niedrigwertige Aufträge direkt konkurrieren könnten39 und damit in einem Wettbewerb stünden, in dem der stärker rationalisierte Bereich größere Chancen zur Durchsetzung hätte. Die Bereiche stünden in dieser hypostasierten Situation wiederum in einem Unterschichtungsverhältnis, das sich entsprechend des Kriteriums der Durchsetzung der benannten Rationalisierungsstrategien bestimmte.40 Anders ist die Lage ausgehend von der Pflegearbeit. In den Arbeitssituationsanalysen wurde auf eine Bewegung doppelter Unterschichtung hingewiesen, in deren Rahmen erstens Pflegearbeit selbst aus institutionellen Zusammenhängen gelöst und in Privathaushalte externalisiert wird. Zweitens wurde bezüglich der Situation stationärer Einrichtungen der Verdacht geäußert, dass im Zeichen von Kostendruck der Zwang zur Investition in die Qualifizierung der Pflegearbeit zu Lasten nicht-medizinischer Tätigkeiten ginge. Dieser Verdacht hat sich im Falle von HFM erhärtet. Für das Unterschichtungsverhältnis zwischen stationären Einrichtungen und Privathaushalten gilt, dass für beide ein gemeinsamer Markt existiert, auf dem stationäre und ambulante Dienste sowie Live-ins um den gleichen potenziellen Kundenstamm konkurrieren. Im Zeichen grundsätzlich ähnlicher Tätigkeitsprofile und der Bezugnahme auf das tendenziell gleiche Nachfragesegment ist ein theoretisches Kriterium gegeben, das eine systematische Unterschichtungsbeziehung auch als direkte empirische Diagnose nahelegt.41 Denn wenn Live-ins, ambulante und stationäre Dienste

39 Dies ist de facto nicht der Fall ist, da sich beide Unternehmen in unterschied-

lichen Städten befinden. 40 Man bedenke, dass auch Kern/Schumanns Diagnosen sich auf ein beschränktes Sample bezogen und dennoch als symptomatisch für den Bereich der Industriearbeit gelesen wurden. Insofern sind Diagnosen zweiter Ordnung nicht unüblich. Sie müssen lediglich als solche benannt werden. 41 Zumindest in Bezug auf das Verhältnis stationärer zu ambulanten Diensten ist dies eine Diagnose, die auch die Leiter von Pflegeheimen in ähnlichen Worten formulieren. Unterschichtung wird in diesem Fällen als Unterschreitung festgelegter Standards beschrieben, die nur erfolgen kann, weil die Arbeit in Privathaushalten Kontrollmaßnahmen schlechter zugänglich ist.

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um die gleiche Kundschaft konkurrieren, dann ist davon auszugehen, dass Strategien zur Effektivierung des Arbeitsprozesses eine entscheidende Rolle spielen für die Frage, wer sich letztlich im Kampf um den Kunden durchsetzt. Im zweiten Fall, also dem Verhältnis zwischen pflegerischen beziehungsweise medizinischen Tätigkeiten in stationären Einrichtungen und den dort erbrachten nicht-medizinischen einfachen Tätigkeiten, hat der Fall HFM gezeigt, dass eine systematische Unterschichtungslinie genau an dieser tätigkeitsbezogenen Grenze existiert. Es handelt sich dabei im Kern um Verteilungsfragen: Öffentlich finanzierte soziale Dienstleistungen stehen unter systematischem Kostendruck. Die Einrichtungen stehen zugleich in Konkurrenz zueinander. Gepunktet werden kann in diesem Wettlauf vor allem durch hohe Fachkräftequoten und gut ausgebildetes medizinisches Personal. Wenn gleichzeitig allerdings die finanziellen Mittel der Einrichtungen nicht entscheidend steigen, muss an anderer Stelle, das heißt meist im Bereich rein gewährleistender Tätigkeiten, gespart werden. Unterschichtung ist dann, entsprechend der bereits benannten Unterscheidung, einerseits organisatorisch induziert, beispielsweise indem Tochterunternehmen gegründet und Aufträge extern vergeben werden. Andererseits ist sie auf der Ebene der Arbeitssituation wiederum der Effekt von Rationalisierungsstrategien, die primär die rein gewährleistenden Tätigkeiten betreffen. Was für das Verhältnis der Pflegearbeit zu Reinigungs-, Küchenund Transportdiensten gilt, kann theoretisch freilich gleichermaßen auf die Beziehung der einfachen Dienste zu den weit privilegierteren Beschäftigtengruppen der Dienstklassen zutreffen. In der Sozialstrukturanalyse wird von einer Polarisierung zwischen diesen beiden Großgruppen gesprochen.42 Der Begriff der Polarisierung bezeichnet in dieser Beschreibung allerdings eher eine statische Situation unterschiedlicher Privilegienstrukturen als eine Prozesslogik. Die erfolgten Analysen legen eine theoretische Verbindungslinie zwischen diesen beiden Großgruppen nahe, die über die beobachteten Arbeitssituationen hinausgeht, aber dennoch Aussagen über das Verhältnis von Dienstklassen und Dienstleistungsproletariat ermöglicht. So kann die Perspektive in Richtung einer poli-

42 Oesch, Redrawing the Class Map.

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tischen Ökonomie in der Tradition von Berger/Offe43 justiert werden. Ihnen folgend übernimmt Dienstleistungsarbeit »die Gesamtheit jener Funktionen im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess […], die auf die Reproduktion der Formalstrukturen, Verkehrsformen und kulturellen Rahmenbedingungen gerichtet sind, unter denen die materielle Reproduktion der Gesellschaft stattfindet«.44 Über die Definition von Dienstleistungstätigkeiten als Gewährleistungsarbeit wird eine systematische Brücke zwischen den einfachen Diensten und den Dienstklassen, aber auch zu industriellen Arbeitsbereichen geschlagen. Alle drei Bereiche sind in der Form gewährleistender Funktionalität aufeinander bezogen. Geht man von einem solchen Zusammenhang aus, dann lässt sich der historische Aufstieg der Dienstklassen45 mit der Entwicklung der einfachen Dienste in Verbindung setzen, denn im Grunde sind alle Bereiche in einen arbeitsteiligen Prozess integriert. Während die Situation der Dienstklassen – symptomatisch etwa die medizinischen Tätigkeitsbereiche bei HFM – von Persistenz oder Aufwertung gekennzeichnet wäre, stünden die einfachen Dienste zu diesen in einer Unterschichtungsbeziehung, wie sie empirisch schon anhand der Arbeit im stationären Pflegebereich und bei HFM beschrieben wurde. Ihre Arbeit wäre zum einen als eine notwendige Bedingung der Gewährleistung höherwertiger Tätigkeiten zu verstehen, zum anderen unterläge sie zugleich dem Rationalisierungsdruck einer feldinternen Unterschichtungslogik, wie sie im Rahmen der vorliegenden Arbeit fallanalytisch aufgeschlüsselt wurde.

Lebensführung: Optionen und Sackgassen Allerdings stand innerhalb der vorliegenden Studie weniger die Beziehung zwischen Dienstklassen und Dienstleistungsproletariat im Fokus des Interesses. Vielmehr sollten die internen Macht- und 43 Berger/Offe, »Die Entwicklungsdynamik des Dienstleistungssektors«. 44 Ebenda, S. 44. 45 Wie er beispielsweise von der Arbeitsforschung in Bezug auf die Geschichte der Angestellten und der qualifizierten Industriearbeit in Kapitel III beschrieben

wurde.

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Herrschaftslogiken in den einfachen Diensten ausgeleuchtet werden. Zur Analyse von Herrschaft in diesem Segment gehört auch die Frage nach dem Zusammenhang von Arbeit und Lebensführung. In den dargestellten Fallstudien wurden neun unterschiedliche Praktiken der Lebensführung beziehungsweise Risiken, die mit spezifischen Praktiken einhergehen, beschrieben. Diese Praktiken sind als solche entsprechend des empirischen Samples der vorliegenden Studie selektiv ausgewählt. Logiken der arbeitsteiligen Organisation von Arbeit und privater Lebensführung erschöpfen sich im Falle der einfachen Dienste vermutlich nicht in den genannten Praktiken. Dennoch stehen diese für weit mehr als die einzelnen Fälle, die zu ihrer Exemplifizierung herangezogen wurden, und sind in der Regel nicht auf jene Teilbereiche einfacher Dienstleistungsarbeit beschränkt, in deren Rahmen sie dargestellt wurden.46 Anstelle einer Zuordnung der einzelnen Praktiken der Lebensführung zu spezifischen Teilbereichen einfacher Dienstleistungsarbeit bietet es sich an, diese nach zwei Kriterien zu sortieren, die der Analyse des Feldes entspringen. Denn in allen Fällen zeigensich Zusammenhänge von Arbeit und Leben entsprechend unterschiedlicher Kombinationen des Ausmaßes familiärer Einbindung einerseits sowie der Ausprägung der Rationalisierung des jeweiligen Arbeitszusammenhangs andererseits. Es ist unschwer zu erkennen, dass sich die zweite Dimension direkt auf den Bereich der Arbeit bezieht, während familiäre Einbindung eine Dimension privater Lebenswelten beschreibt. Zwischen diesen beiden Bereichen vermitteln, der Analyse des Feldes folgend, vor allem zwei Dimensionen: Erstens beeinflusst der Körper private Lebensbereiche, ausgehend vom Ausmaß seiner Belastung in der Arbeit.47 Zweitens bestimmt sich entlang der Frage nach der Deutung der Arbeit als perspektivenreich beziehungsweise -arm, ob private Lebensbereiche stärker oder schwächer auf diese ausgerichtet werden. Setzt man die Dimen-

46 Praktiken des Bescheidens oder das Risiko des Fallens gelten genauso für eine

Mehrheit der Beschäftigten von Discount, obwohl sie anhand des Bereichs reiner Gewährleistung veranschaulicht wurden. 47 Diese Dimension korreliert mit dem Ausmaß an Rationalisierung. Als Faustregel kann gelten, dass, wo Standardisierung, Universalisierung und Verdichtung besonders stark ausgeprägt sind, auch die körperlichen Belastungen potenziert sind.

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sionen der familiären Verpflichtungen und der Ausprägung von Rationalisierungsdynamiken nun systematisch in Verbindung, so zeigen sich vier typische Kombinationen. Die beschriebenen Praktiken der Lebensführung folgen in den einfachen Diensten entweder einer Logik flexiblen Grenzstellenmanagements, investiver Intensivierung, der Methodisierung von Knappheit oder exploitativer Hingabe. Die folgende Vier-Felder-Tafel zeigt, wo die jeweiligen Logiken zwischen familiärer Situation und Rationalisierungsausmaß typischerweise angesiedelt sind: Rationalisierung +

Rationalisierung –

Familiäre Verpflichtungen +

Flexibles Grenzstellenmanagement

Investive Intensivierung

Familiäre Verpflichtungen –

Methodisierung von Knappheit

Exploitative Hingabe

Vier Logiken der Lebensführung Die Logik des flexiblen Grenzmanagements umfasst Praktiken wie das Aufwerten oder das Hierarchisieren, die als Aspekte von Lebensführung im Bereich konsumorientierter Dienste in diesem Kapitel besprochen wurden. Familiäre Verpflichtungen sind in diesen Fällen in der Regel vorhanden, was es den betreffenden Personen erleichtert, normative Schwerpunkte ihrer Lebensführung eher in privaten Lebensbereichen zu setzen. Ein relativ hoher Grad an Rationalisierung trägt zudem dazu bei, dass sich positive Deutungen der Arbeit den Beschäftigten nicht unbedingt aufdrängen. Häufig wird ihr weitgehend indifferent gegenübergetreten: Nebenerwerbstätigkeiten werden in diesen Fällen auch als solche gedeutet. Der Schwerpunkt der Lebensführung liegt im Bereich der Familie. Hier werden die entscheidenden Weichen für die Arbeitsteilung zwischen Arbeit und Leben gestellt. Die Basis hierfür bildet eine Tätigkeit, die von vergleichsweise geringen körperlichen Belastungen gekennzeichnet ist. Die Konstruktion der Arbeit als reines Supplement einer hauptsächlich auf Familie ausgerichteten Lebensführung würde schließlich erschwert, wäre die Freizeit durch die körperlichen Belastungen der Arbeit entscheidend determiniert. Doch flexibles Grenzstellenmanagement bezeichnet nicht nur Fälle, in denen der Familie klar der Vorzug gegeben wird. Es ist viel363

mehr ein Kennzeichen dieser Logik, dass ein Wechsel in der Schwerpunktsetzung möglich ist, dass also auch eine Ausprägung dieser Logik existiert, in der sich die Gewichtung verändert. Natürlich ist es nicht unproblematisch, hohe normative Ansprüche an eine stark rationalisierte Tätigkeit heranzutragen. Die Praxis des Aufwertens hat aber auch gezeigt, dass dies durchaus möglich ist: Es wird dann versucht, der Arbeit wesentlich mehr positive normative Elemente abzuringen. Dies geschieht, indem der Aspekt körperlicher Anstrengung betont wird. Die alltägliche Arbeit wird in diesen Fällen auch tatsächlich auf die stark körperbetonten Bereiche der Tätigkeit ausgerichtet, in denen die Beschäftigten sich dann aufreiben, um der Deutung ihrer Arbeit zu spürbarer Wirklichkeit zu verhelfen. Es scheint, als wäre die Spezifik der jeweiligen familiären Situation der ausschlaggebende Faktor bezüglich der Gewichtung von Arbeit und Leben. Dies scheint im Besonderen für die weiblichen Beschäftigten zu gelten, die bekanntlich die große Mehrheit der Arbeitnehmer bilden. In statusungleichen Partnerschaften steht den Dienstleisterinnen die Möglichkeit zur Verfügung, vom Status des Ehepartners zu zehren und selbst zwar nebenher erwerbstätig zu sein, den Schwerpunkt der Lebensführung jedoch auf die Familie zu legen. Befinden sich beide Partner dagegen auf gleichem Statusniveau, steht diese Option zwar weiterhin zur Verfügung, die Wahrscheinlichkeit erhöht sich jedoch, dass der Arbeit ein höherer Wert beigemessen wird, da diese nun anstelle der Position des Partners stärker zur Selbstverortung der Person herangezogen wird. In der Logik investiver Intensivierung ist eine kognitive Aufwertung der Arbeit in den Deutungen der Beschäftigten noch weit größer, was nicht zuletzt daran liegt, dass Tätigkeiten in diesem Fall weniger stark materialen Rationalisierungsstrategien ausgesetzt sind. Die junge Pflegehilfskraft, anhand derer die Praxis des Streckens exemplifiziert wurde, verdeutlicht dies: Die Tätigkeit ist hier von einer sorgenden Form von Interaktivität geprägt, die als durchweg positiv beschrieben wird. Entsprechend sind die betreffenden Personen gewillt, viel Zeit und Kraft in die Arbeit zu investieren. Dies ist natürlich unter Bedingungen geringer familiärer Verpflichtungen einfacher zu handhaben und mag unter diesen Umständen auch durchaus eine verbreitete Praxis sein. Es zeigt sich allerdings auch, dass familiäre Verpflichtungen in diesen Fällen als motivierende Faktoren Einfluss auf die Lebensführung nehmen können: Die Zeit 364

und Kraft, die in der Arbeit veräußert werden, werden dann als leuchtendes Beispiel für den Nachwuchs gepriesen. Man handelt investiv nicht nur in Bezug auf eine berufliche Position, die man möglicherweise anstrebt, sondern auch in Bezug auf die Vorbildfunktion, die eine solche Investitionslogik für andere ausübt. In den einfachen Diensten bewegen sich Personen, deren Lebensführung dieser Logik folgt, oft auf dünnem Eis. Selbst viele der weniger rationalisierten Tätigkeiten sind körperlich anstrengend, und die Gefahr, sich im Versuch, eine Familie zu managen und zugleich für die Arbeit immer verfügbar zu sein, systematisch zu »verbrennen«, ist hoch. Insofern bringt diese Logik der Arbeitsteilung zwischen privaten Lebensbereichen und Arbeit den Körper als Exklusionsdeterminante systematisch ins Spiel. Hinzu kommt, dass die Logik investiver Intensivierung nur vor dem Hintergrund eines biografisch erstrebenswerten Ziels funktioniert: Man hofft auf eine Vollzeitstelle, eine Festanstellung oder einen anderweitigen Aufstieg beziehungsweise Einstieg im Unternehmen. Stellt man allerdings die beschriebenen Unterschichtungslogiken in den einfachen Diensten in Rechnung, so wird es fraglich, ob die Hoffnungen, mit denen diese Logik der Lebensführung verbunden ist, tatsächlich realistische Chancen auf Erfüllung haben. Unterschichtungsphänomene bauen keine Brücken, sie schaffen Gräben. Übergänge werden unwahrscheinlicher, Chancen auf Aufstieg geringer. Investitionen können sich vor diesem Hintergrund schnell als Fehlkalkulationen erweisen. Ziele, die solchen Fehlkalkulationen zugrunde liegen, spielen im Falle der Logik der Methodisierung von Knappheit keine Rolle mehr. Sie umfasst Praktiken wie das Assoziieren und das Bescheiden und geht mit erhöhten Risiken des Fallens einher. Personen, deren Lebensführung einer solchen Logik folgt, arbeiten in der Regel in stark rationalisierten Arbeitszusammenhängen, weswegen die eigene Tätigkeit von ihnen meist als niedrigwertig und perspektivarm beschrieben wird. Zugleich haben die betreffenden Personen häufig nur geringe familiäre Verpflichtungen, was wiederum viel Raum für die Arbeit schafft. Es zeigen sich daher Versuche, diese normativ aufzuladen, was meist über ein Muster geschieht, nach dem körperliche Verausgabung den Wert der Arbeit bemisst. Damit steigt wiederum das Exklusionrisiko, das für diese Gruppe ohnehin schon vergleichsweise am höchsten ist. Denn die Arbeitsumwelten sind in diesen Fällen meist besonders repressiv ausgerichtet, und Phasen 365

physischer Schwäche werden selten toleriert. Die Arbeit nimmt hier also besonders weitgreifenden Einfluss auf die privaten Lebensbereiche der Beschäftigten. Denn diese treiben sich zu körperlicher Verausgabung in der Arbeit an, und in der Folge wird die Freizeit oft vornehmlich der physischen Regeneration gewidmet. Es handelt sich in diesen Fällen meist um »ältere« Arbeitnehmer. Alter bestimmt sich im hier gemeinten Sinne allerdings rein anhand der Kategorie körperlicher Leistungsfähigkeit.48 Praktiken, die entsprechend der Logik der Methodisierung von Knappheit funktionieren, müssen also nicht nur mit raren materiellen Ressourcen haushalten. Auch der eigene Körper, als entscheidende Determinante der Erwerbsintegration, verlangt nach einer Methodisierung von Verausgabung und Regeneration. Dies kommt häufig einem Drahtseilakt gleich. Denn einerseits gewinnen die Beschäftigten Stolz aus der körperlichen Härte der eigenen Tätigkeit und werden außerdem durch repressive Praktiken zu Leistungsveräußerung angetrieben. Andererseits ist es gerade diese Härte, die Exklusion aus Erwerbsbeteiligung permanent projiziert. Anders gesagt: Die Beschäftigten leben hier »von der Hand in den Mund«, nicht nur im Sinne materieller Knappheit, die Konsummöglichkeiten deutlich einschränkt. Auch im materialen Sinne ist es lediglich »der eigenen Hände Arbeit«, die das eigene Handeln mit Sinn versieht. Daher stehen die Beschäftigten vor der ambivalenten Herausforderung, den Wunsch nach physischer Leistungsveräußerung und Arbeitskrafterhalt in Übereinstimmung zu bringen, ohne dass eine der beiden Handlungsziele das andere ausschaltet. Das Opfer dieses Dilemmas ist die Freizeit. Dieser Umstand stützt die Logik der Methodisierung von Knappheit noch in anderer Hinsicht: Weil die Freizeit in weiten Teilen der körperlichen Regeneration gewidmet wird, fällt dort die Knappheit an materiellen Ressourcen, unter der das Leben bestritten werden muss, weniger schwer ins Gewicht. Arbeit verbraucht nicht nur Zeit, sondern auch Lebenskraft. Freizeitphasen, die jenseits der reinen Regeneration gefüllt werden müssen, sind daher verhältnismäßig knapp. Außerdem steht selbst dieser Rest an disponibler Zeit im Zeichen der Knappheit: Die betreffenden Personen entwickeln sich nicht selten zu Virtuosen eines mit begrenzten Res-

48 Man kann dann mit Mitte dreißig schon alt sein.

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sourcen kalkulierenden Konsums. Dieser ist häufig verhältnismäßig zeitaufwendig und verschlingt diejenigen Teile der Lebenszeit, die nicht der Arbeit oder der Erholung von ihr vorbehalten sind. In der Logik exploitativer Hingabe investieren die Beschäftigten aus anderen Gründen erhebliche Kräfte in die Arbeit. Sie umfasst Praktiken der Lebensführung wie das Fokussieren oder das Sequenzialisieren und damit Fälle, die sich in materialer Hinsicht ähneln, während sie sich in organisatorischer Hinsicht radikal unterscheiden.49 Die Arbeit nimmt in diesen Fällen erheblichen Einfluss auf private Lebensbereiche, weil ihr von den Beschäftigten ein hoher ideeller Stellenwert beigemessen wird. Es ist wiederum vor allem eine sorgende Form der Interaktivität, die im materialen Zuschnitt der Arbeit diese Deutung als Möglichkeit anlegt. Rationalisierung ist hier meist verhältnismäßig gering ausgeprägt. Vor allem der interaktive Aspekt der Tätigkeiten ist aus diesen nicht zu tilgen. Zugleich haben die Beschäftigten meist eher geringe familiäre Verpflichtungen oder gewichten diese zumindest eher schwach. Diese Kombination aus einer Arbeit, die als sinnerfüllt erfahren wird, und einer privaten Lebenssituation, die nicht automatisch viel Zeit verschlingt, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Beschäftigten besonders viel Kraft und Zeit in die Arbeit investieren. Das Fallbeispiel Frau Kokoschkas hat auch gezeigt, wie familiäre Zusammenhänge durch die Fokussierung der Lebensführung auf Arbeit zerbrechen können. Die Praxis des Sequenzialisierens ist im Vergleich zu jener des Fokussierens von einer etwas stärkeren Gewichtung privater Lebensbereiche gekennzeichnet, die allerdings nur zu bestimmten Zeiten – das heißt im Kern im Urlaub – eine größere Rolle in der arbeitsteiligen Aufgliederung des Alltags spielen. Der Arbeit wird sich in beiden Fällen mit selbstausbeuterischer Hingabe gewidmet, was hauptsächlich auf die positive Deutung der helfenden Interaktivität der vollzogenen Tätigkeiten zurückzuführen ist.

Durchgangsbahnhöfe und Endstationen Die Logiken der Lebensführung im Segment einfacher Dienstleistungsarbeit erschöpfen sich möglicherweise nicht in den benannten Modellen und sind im Einzelfall selbstverständlich weit komplexer

49 Pflege in einer stationären Einrichtung und als Live-in im Privathaushalt.

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als in der hier dargestellten, abstrahierenden Form. Mit Blick auf das gesamte Sample zeigt sich allerdings, dass die vier genannten Logiken der Lebensführung feldtypische Verlaufsmuster beschreiben. Die entscheidenden Dimensionen der familiären Einbindung, der Rationalisierungsausprägung, der körperlichen Belastbarkeit und der Deutung der eigenen Tätigkeit mögen dabei ebenfalls nicht erschöpfend die Zusammenhänge zwischen Arbeit und Leben beschreiben. Doch auch sie sind über das betrachtete Sample hinweg eindeutig die dominanten Dimensionen dieses Brückenschlags. Anhand der beschriebenen vier Modelle lassen sich auch typische Verlaufsrisiken und -wahrscheinlichkeiten benennen: Die Logiken des flexiblen Grenzstellenmanagements und der investiven Intensivierung scheinen noch unterschiedliche Anschlussoptionen in sich zu bergen, während die Logiken der Methodisierung von Knappheit und der exploitativen Hingabe eher Sackgassen darstellen. Die Logik des flexiblen Grenzstellenmanagements steht und fällt mit der Rolle familiärer Einbindung. Diese ist allerdings nicht unbedingt konstant: Beziehungen zerbrechen, Kinder werden erwachsen, die Absorbtion der Personen durch die Familie kann in diesem Zusammenhang sinken. Geschieht dies, so steht zu erwarten, dass sich die betreffenden Personen entweder anderweitigen familiären Aufgaben zuwenden50 und das Modell daher stabil bleibt. Oder sie wenden sich, wie sich dies in der Logik des Aufwertens bereits andeutet, stärker der Arbeit zu. In diesem Szenario bewegen sie sich konsequent in Richtung des Modells der Methodisierung von Knappheit. Dies gilt allerdings nur unter den Umständen statushomogener Partnerschaften oder einem Status als Alleinstehende. Denn in statusheterogenen Partnerschaften – jedenfalls solchen, in denen die Beschäftigten der einfachen Dienste die untere Position einnehmen – ist der Faktor materieller Knappheit eher nicht gegeben. Auch die Logik investiver Intensivierung birgt das Risiko eines »Abrutschens« in Modelle der Methodisierung von Knappheit. Gelingt der Einstieg in ein angestrebtes Arrangement, das die Basis der investiven Logik bildet, nicht, so wird die Situation des Wartens auf Dauer gestellt. Viele Beschäftigte beschreiben solche Enttäu-

50 Die Optionen sind mannigfaltig: Enkel, Eltern, die der Pflege bedürfen, etc.

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schungserfahrungen und zeigen sich in der Konsequenz ernüchtert. Die Tätigkeit mag in diesen Fällen weiterhin positive Erfahrungen bieten. Gerät sie jedoch zusätzlich unter Rationalisierungsdruck, so bewegen sich die betroffenen Personen in Richtung von Situationen, die Methodisierungen von Knappheit wahrscheinlich beziehungsweise notwendig machen. Gelingt der Einstieg in das angestrebte Arrangement allerdings, so bewegen sich die Bedingungen der Modelle der Lebensführung in Richtung exploitativer Hingabe, die in der Logik der Intensivierung bereits systematisch angelegt ist. Die Dynamik der Unterschichtung legt allerdings, wie bereits bemerkt, systematische Zweifel an den Gelingenswahrscheinlichkeiten solcher Einstiege nahe. Das Modell der Methodisierung von Knappheit ist dagegen eine Sackgasse. Die betroffenenen Personen verlassen diese nur in Richtung eines zunächst unbestimmten Außens. Die körperlichen Belastungen der Tätigkeiten machen sich in diesen Modellen in der Regel bereits bemerkbar. Der Ausstieg aus der Arbeit wird zu einer permanent präsenten Drohkulisse. Doch gibt es auch vor allem jüngere Beschäftigte in diesen Sackgassenjobs, die diese nur als Übergangslösungen verstehen: In der Praktik des Intensivierens wurde eine Konsequenz einer solchen Einstellung beschrieben. Die Betreffenden begreifen ihre aktuelle Tätigkeit unter diesen Bedingungen als notwendiges Übel auf dem Weg zu erstrebenswerteren Visionen, wie etwa der beruflichen Selbstständigkeit. Freilich stehen auch sie unter dem Zwang, mit Knappheit zu kalkulieren, und ihre aktuellen Tätigkeiten bieten nur begrenzte Chancen des Sparens. Ihnen bleibt allerdings meist der eigene Körper als Ressource, an der noch ungehinderter Raubbau betrieben werden kann. Ob ein angestrebter Ausstieg gelingt oder nicht, steht aus Sicht des Soziologen meist in den Sternen. Spektakuläre Pläne, wie das eigene Restaurant in Thailand, finanziert durch Sparanstrengungen bei einem Nettomonatslohn von 900 Euro, legen allerdings nicht unbedingt optimistische Prognosen nahe. Wird der Traum fallen gelassen und sich mit der Sackgassensituation arrangiert, so sind Modelle der Methodisierung von Knappheit die wahrscheinliche Konsequenz. Auch für Personen in Modellen exploitativer Hingabe ist ein Ausstieg aus diesen Logiken eher unwahrscheinlich. Dies liegt jedoch nicht primär in Resignation bezüglich der eigenen Situation begründet, sondern eher in der positiven Perzeption der eigenen Tä369

tigkeit. Hinzu kommt, dass die beobachteten Fälle des Fokussierens allesamt in organisatorischen Kontexten stattfinden, die realistische Aufstiegskanäle bieten und in Personal investieren. Auch die Lohnund Vertragssituation ist nicht annähernd mit der Dramatik in anderen Teilen des Samples zu vergleichen. Sequenzialisieren scheint dagegen eine recht flexible Praxis zu sein, die in allerhand belastenden Tätigkeiten vorkommen kann. In der Radikalität, in der sich dieses Modell im Falle der Live-ins zeigt, liegt dagegen eine Spezifik, die diese jenseits des materialen Zuschnitts der Tätigkeiten deutlich von Bereichen wie der stationären Pflege distinguiert.

Herrschaft und Proletarität in der Dienstleistungsgesellschaft Der Begriff des Dienstleistungsproletariats, der den Ausgangspunkt dieser Untersuchung bildet, muss im Lichte der vorliegenden Untersuchung abschließend in gegenwartsdiagnostischer Hinsicht reflektiert werden. Haben wir es, jenseits der Bündelung statistischer Merkmale, wie sie die Analysen der Sozialstrukturanalyse liefern, in den einfachen Diensten tatsächlich mit einer Beschäftigtengruppe zu tun, die das Lable des Proletarischen verdient?

Proletarität im Wandel Eines ist vollkommen sicher: Versteht man den Begriff des Proletariats exklusiv als Bezeichnung für eine spezifische Klassenlage mit historischer Mission und gemeinsamem (revolutionärem) Bewusstsein, so wird es schwerfallen, dem Begriff des Dienstleistungsproletariats allzu viel Plausibilität abzuringen. Doch liegt in einem solchen Verständnis ja keinesfalls die einzige Version der historischen Konstitution von Proletarität. Robert Castel51 hat in seiner »Chronik der Lohnarbeit« beispielsweise gezeigt, wie sich aus der volatilen Einheit von Vagabunden-, Tagelöhnertum und Pauperismus in einem langwierigen Prozess die vermeintlich weit einheitlichere Gruppe der industriellen Arbeiterschaft der ersten Hälfte des

51 Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage.

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20. Jahrhunderts herausschälte, mit der heute häufig der Begriff des Proletariats assoziiert wird. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-

derts beginnen sich allerdings Metamorphosen dieser Gruppen abzuzeichnen.52 Axel Honneth beschreibt dies in Anlehnung an Castel als »eine vollständige Neukomposition dessen […], was »Proletarität« heißt: Dieser Begriff ist nicht mehr Auszeichnung aller in der Industrieproduktion irgendwie produktiv Arbeitenden, sondern bezeichnet die Lage derjenigen, die bei geringer Qualifikation am unteren Ende der Produktions- und Dienstleistungsketten tätig sind.«53 Es hat also eine Art Symbiose stattgefunden zwischen einem Teil von Angestelltenarbeit und verschiedenen Merkmalen, die eher dem klassisch proletarischen Bereich der Industriearbeit zugeschrieben wurden.54 Führen wir uns vor Augen, wie Robert Castel die Situation dessen, was er die »proletarische Lage«55 nennt, zusammenfasst: »eine nahe am Minimaleinkommmen liegende Bezahlung, die gerade noch die Reproduktion des Arbeitnehmers und seiner Familie sicherstellt, darüber hinaus jedoch keine Ausgaben für Konsum erlaubt; ein Mangel an gesetzlichen Garantien in dem vom Dienstvertrag […] geregelten Arbeitsverhältnis; der ›labile‹ Charakter der Beziehung des Arbeitnehmers zum Unternehmen: er wechselt häufig den Ort, verdingt sich an den Meistbietenden […] und macht an manchen Tagen in der Woche oder während der Arbeitszeit ›blau‹, wenn er denn leben kann, ohne sich unter das von der Industriearbeit geforderte Joch der Disziplin zu beugen.«56 Ersetzen wir gedanklich »Industriearbeit« durch »einfache Dienstleistungsarbeit« – klingt diese Charakterisierung der proletarischen Lage dann nicht 52 Im Grunde gilt dies auch schon für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg: Im

53

54 55 56

Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde exemplarisch die Debatte um die Proletarisierung der Angestellten angesprochen. Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, S. 453. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird über ein solches Verständnis freilich hinausgegangen: Proletarität im Bereich einfacher Dienste wurde als Phänomen genereller Herrschaft ausgewiesen, weil sich in Form spezifischer Lebensweisen systematische Zusammenhänge von sozialer Lage, betrieblicher Herrschaft und Logiken der Lebensführung zeigen. Vgl. auch Bahl/Staab, »Das Dienstleistungsproletariat«, S. 75. Er assoziiert diese maßgeblich mit dem Frühstadium des Industriekapitalismus. Der Pauperismus ist also gemeint. Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, S. 285.

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nach dem Klientel, das in der vorliegenden Studie beschrieben wurde? Weitere Merkmale drängen sich auf. Zwar finden sich in der vorliegenden Untersuchung keine Hinweise auf ein strukturiertes geteiltes Bewusstsein, wie es der Industriearbeiterschaft über lange Zeit unterstellt wurde. Auch die katastrophalen Wohnverhältnisse57, die »halboffene Familienstruktur«58, die materielle Verwahrlosung59 oder der »moralische Verfall«60, die mit dem Pauperismus assoziiert werden, finden sich so nicht. Schon 1962 hatte allerdings Walter Dirks darauf verwiesen, dass mit dem Verschwinden des Pauperismus »keineswegs alle wesentlichen Kennzeichen der Proletarität überwunden sind«.61 So gilt es auch in Bezug auf die einfachen Dienste, weitere Merkmale zu benennen, die zur Beschreibung älterer proletarischer Lagen herangezogen wurden. Als Erstes ist hier die ausführlich beschriebene Körperlichkeit der Arbeit zu nennen, die das Dienstleistungsproletariat, ähnlich wie klassische proletarische Lagen, in der realen Tätigkeit aber auch in deren maßgebenden Deutungen prägt.62 Castel verweist auf die immense soziale Verwundbarkeit und die Unsicherheit des Beschäftigungsverhältnisses63, in der er einen entscheidenden Zug der Kontinuität der proletarischen Lagen der Gesellschaft sieht. Auch Mooser spricht vom hohen »Risiko der Arbeitslosigkeit«64. Sind die letztgenannten Aspekte noch in unterschiedlichen Ausprägungen kennzeichnend für allgemeine Prozesse in der Arbeitsgesellschaft der Gegenwart, so kann dies für einen im Rahmen der vorliegenden Studie entscheidenden Punkt nicht gelten. Es wäre zu fragen, ob sich in der Abhängigkeit von personengebun-

Sombart, Das Proletariat; Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, S. 196. Mooser, »Abschied von der ›Proletarität‹«, S. 175. Sombart, Das Proletariat. Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, S. 195. Dirks, »Blick in die Zukunft«, S. 91. Vgl. Mooser, Arbeiterleben in Deutschland, S. 72; Bahrdt u.a., Das Gesellschaftsbild des Arbeiters, S. 238 f. Mooser sieht hierin schon für die entproletarisierte Industriearbeiterschaft der Nachkriegszeit ein maßgebliches Kontinuitätskriterium. 63 Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, S. 195. 64 Mooser, »Abschied von der ›Proletarität‹«, S. 175. 57 58 59 60 61 62

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dener Macht nicht eine – freilich deutlich veränderte – Wiederkehr bestimmter, eigentlich mit dem System der Fronarbeit65 beziehungsweise mit peripheren Manufakturbetrieben der frühen Industriegesellschaften66 assoziierter Aspekte zeigt. Wurde im Taylorismus mittels Technik über die Arbeiterschaft geherrscht, so gelten für das Dienstleistungsproletariat wieder Regeln personengebundener Macht. Castel versteht das System der Fronarbeit als historischen Vorgänger der proletarischen Lagen moderner Gesellschaften. Dieser Umstand verdeutlicht wiederum, dass ein Verständnis der Verhältnisse im Segment einfacher Dienstleistungsarbeit als proletarisch nur unter den Bedingungen einer Reformulierung des Begriffes erfolgen kann, die sowohl auf Kontinuitätslinien fokussiert als auch vor Umdeutungen nicht zurückschreckt. Es zeigt sich jedenfalls in den einfachen Diensten ein deutlicher Zusammenhang von materieller und materialer Armut, der, aus der Arbeit kommend, die private Lebensführung prägt und in einer solchen abstrakten Form auch für ältere proletarische Lagen kennzeichnend war.67 Insofern lässt sich das Gesagte in einer spezifischen Richtung interpretieren: Der Begriff der Proletarität bezeichnet ursprünglich unstete soziale Phänomene68, die sich im Gefolge sozialer Asymmetrien in spezifischen Lebensweisen materialisieren, ohne dass für die Betroffenen zunächst ein einheitsstiftendes Band, wie die gemeinsame Stellung im Prozess industrieller Arbeitsteilung oder später die gemeinsame Interessenorganisation, offensichtlich ist. Dies ändert sich im Gefolge der Zentrierung einfacher abhängiger Arbeit im Industriebetrieb und führt zum Begriff des Proletariats als Einheit der abhängig beschäftigten Industriearbeiter, mit politischen Vertre-

65 Vgl. Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, S. 132 ff. 66 Edwards, »Herrschaft im modernen Produktionsprozess«, S. 33 ff.; Edwards

zeigt freilich, dass diese Kontrollformen in der industriellen Peripherie noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortbestanden (ebenda, S. 44 ff.). 67 Vgl. Mooser, Arbeiterleben in Deutschland, S. 68. Mooser verweist explizit auf diesen Zusammenhang, wenn er von den Unterschieden qualifizierter und unqualifizierter Industriearbeit spricht: »Auch die arbeitsfreie Zeit wird von denjenigen intensiver und sinnerfüllter genutzt, die, wie die qualifizierten Arbeiter, noch mehr Chancen der subjektiven Identifikation mit ihrer Arbeit haben« (ebenda). 68 Vagabunden, Tagelöhner, Pauper etc.

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tungsorganen und geteilten Weltdeutungen69. Ihr Aufstieg in den Industriegesellschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entkleidet diese Form der Arbeiterschaft allerdings weitgehend von den Merkmalen des Proletarischen. Diese tauchen dann in veränderter Form im Segment einfacher Dienstleistungsarbeit wieder auf. Es scheint, als habe Proletarität dabei wiederum eher den Charakter eines unsteten Phänomens angenommen: Nicht nur gibt es derzeit wenig Hinweise auf ein einheitsstiftendes Bewusstsein der eigenen Lage, noch sind die einfachen Dienste durch ein Netz von Institutionen der eigenen Interessenvertretung verbunden. Die Beschäftigtengruppen sind außerdem äußerst divers in Hinsicht auf Geschlecht, ethnische Hintergründe und Qualifikationen. Nicht zuletzt zeigt sich in den einfachen Diensten ja nicht nur die Logik der Unterschichtung und Abwertung der Arbeit. In der stationären Pflegearbeit deutet sich eher eine Aufwertungsbewegung an, die freilich zu einer Abwertung stärker rationalisierter Dienstleistungen führt. Das Segment bewegt sich also durchaus in zwei unterschiedliche Richtungen, was sich wiederum in unterschiedlichen Verbindungen von Arbeit und Lebensführung niederschlägt, wie sie weiter oben beschrieben wurden. Proletarität erscheint hier also wieder in eher unsteter Gestalt, die sich in verschiedenen Ausformungen einer »Lebensweise«70 ausdrückt. Die Analyse von Logiken der Lebensführung hat gezeigt, dass gerade in den stärker rationalisierten Teilen der einfachen Dienste eine Logik vorherrscht, in der sich die Beschäftigten mit ihrer Lage abfinden und resignieren. Letzten Endes leben sie »von einem Tag zum anderen, von der Hand in den Mund«, wie es Hans Paul Bahrdt71 als Merkmal proletarischer Lagen einmal formuliert hat. Die vorliegende Arbeit tut auf dem Weg der Kennzeichnung einer solchen spezifischen neuproletarischen Lebensweise freilich nur einen ersten Schritt. Unter dem hier von Robert Castel entliehenen Begriff der proletarischen Lage passen sehr verschiedene For-

69 Man denke an das »Gesellschaftsbild des Arbeiters« (Bahrdt u.a., Das Gesell-

schaftsbild des Arbeiters). 70 Mooser, »Abschied von der ›Proletarität‹«, S. 175. 71 Bahrdt, »Die Angestellten«, S. 16.

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men der Lebensführung, die eher durch einen losen Katalog von Merkmalen und eine gemeinsame soziale Lage gekennzeichnet sind und auch noch die unterschiedlichen Vektordynamiken72 im Segment in Rechnung stellen. Nach meiner Ansicht legen es die erfolgten Ausführungen nahe, die beschriebenen Gruppen zunächst als eine Art »Dienstleistungssalariat« zu verstehen, das bestimmte Formen proletarischer Lebensführung teilt, die nicht zuletzt entsprechend der materiellen und materialen Beschaffenheit der je spezifischen Arbeitssituationen sowie entlang der Frage der Logiken der Unterwerfung variieren.73

Vorläufige Ordnungen und strukturelle Unterwerfung Die Migration der Proletarität in die Dienstleistungsgesellschaft lässt sich als ein Effekt arbeitsspezifischer Ordnungslogiken verstehen: Systematische Asymmetrien werden alltäglich in den Arbeitssituationen der einfachen Dienste produziert und verfestigt und schlagen sich auch in der sozialstrukturellen Lage nieder. Die Reproduktion der Asymmetrien der Arbeitssituationen vollzieht sich über Mechanismen personengebundener Macht, die sich zu Herrschaftsformen verfestigen, ohne zwangsläufig weniger volatil zu werden oder in besonderem Ausmaß mit normativen Formen der Integration einherzugehen. Insofern lässt sich Herrschaft in diesem Fall als eine Kategorie diachroner Stabilisierung verstehen, weil volatile Machtdynamiken, stabilisierende Effekte zeitigen. Repressive Mechanismen der Macht verstetigen sich in den Arbeitssituationen zum einen, weil diese Situationen fortbestehen, selbst wenn die in sie involvierten Personen wechseln mögen. Zum anderen sind Institutionalisierungsprozesse dieser Ordnungsmechanismen zu konstatieren, weil die Machtunterworfenen diese als »Spielregeln« der Arbeitssituation perzipieren und als Handelnde in deren Reproduktion involviert sind. Dies setzt die Herrschaftslogik der Unterschichtung in Gang, die das Resultat einer Abwer-

72 Aufwertung, Abwertung. 73 Die professionelle Pflegearbeit ist dieser Dynamik freilich bereits entglitten. Sie

passt nicht in die Kategorie des Salariats, findet sich doch ein deutliches berufsständisches Selbstbewusstsein, das die eigene Arbeit als persönlich erfüllende und respektable Tätigkeit deutet.

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tung der Arbeit ist und Mobilitätschancen der Beschäftigten negativ determiniert. Die Reduktion der Mobilitätschancen erhöht die Wahrscheinlichkeit des Verbleibs in den einfachen Diensten und damit die Reproduktion der assoziierten Modelle der Lebensführung. Diese erweisen sich vor allem in den stark rationalisierten Teilen des Segments als Sackgassen für die Betroffenen. Die Beschäftigten geraten zudem im Prozess der Abwertung der Arbeit unter den Druck materialer und materieller Knappheit. Arbeit und Leben hängen in der Folge im Dienstleistungsproletariat untrennbar zusammen. Besonders der Faktor des körperlichen Verschleißes verdeutlicht dabei die radikalen Exklusionsrisiken, denen die Beschäftigten ausgesetzt sind, die aufgrund geringer materieller Ressourcenausstattung und lediglich lockerer Integration in das arbeitspolitische Institutionengefüge des Industrialismus ohnehin am unteren Rande der Sozialstruktur positioniert sind. Materielle Knappheit, körperliche Belastung und arbeitsbezogene Repressionserfahrungen schlagen sich dann in spezifischen Formen methodisierter Lebensführung nieder, die Arbeit und Leben miteinander koordinieren und damit auch zu einer Verfestigung der benannten Situation beitragen. Um diese Prozesse adäquat beschreiben zu können, ist es für die Soziologie notwendig, Herrschaft primär als Effekt und nicht nur als Grundlage von Akteurshandeln zu beschreiben. Nur auf diese Weise gerät das rekursive Verhältnis von Macht und Herrschaft in den Blick. Mit dem Wandel der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft wird im Bereich einfacher Arbeit von Modellen technischer Regulierung auf solche sozialer Rationalisierung umgestellt. Maßnahmen sozialer Rationalisierung erhöhen dabei sowohl die Unbestimmtheit74 sozialer Situationen als auch die Handlungsspielräume der Beschäftigten, weswegen Herrschaft hier nicht mehr als Grundstruktur verstanden werden kann, auf deren Grundlage das Handeln stattfindet, sondern als stetig durch Handelnde modifizierter Prozess der Ordnungsbildung. Wie die vorliegende Studie deutlich gemacht hat, ermöglicht eine solche Perspektive die Thematisierung des Doppelgesichts der Herrschaft im Dienstleistungsproletariat.

74 Bonß/Lau, »Strukturwandel von Macht und Herrschaft«, S. 14.

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Die Expansion von Unbestimmtheit führt dazu, dass die Akteure75 im Dienste von Strukturbildung tätig werden. Das Resultat solchen Handelns sind volatile Zwangsordnungen, die ihrerseits Effekte struktureller Deprivilegierung76 zeitigen. Die Beschäftigten der einfachen Dienste sind Ko-Autoren der Bedingungen ihrer eigenen Knechtschaft, die als konkreter Zwang und strukturelle Unterwerfung auf sie zurückwirken.

75 Auf der Ebene der Arbeitssituation: Management und Beschäftigte. 76 Unterschichtung.

Danksagung

Ich habe während meiner Arbeit an diesem Buch viel Unterstützung genießen dürfen. Das Hamburger Institut für Sozialforschung hat mir eine Arbeitssituation geboten, die keine Wünsche offen ließ. Ich habe Menschen kennenlernen dürfen, zu denen ich unter anderen Umständen niemals Kontakt gefunden hätte. Freunde und Familie haben meine Launen ertragen, wenn es mal nicht vorwärts ging. Mein Dank gilt zuerst dem Hamburger Institut für Sozialforschung, insbesondere seinem Vorstand, für die Unterstützung und das Vertrauen in das Gelingen des Forschungsprojektes, dessen Ergebnis dieses Buch ist. Es legt auch Zeugnis davon ab, welch großes Privileg ich in Hamburg genossen habe. Ich war nur zu Gast in den Arbeits- und Lebenszusammenhängen, denen sich mein Buch widmet. Mein Respekt gebührt den Menschen, die sich den Herausforderungen eines Lebens am Rande der Dienstleistungsgesellschaft täglich stellen. Mein Dank gilt all jenen, die mir Zugang zu ihren Arbeitssituationen gewährt haben, die bereit waren, mit mir zu sprechen, die die Türen zu ihren Wohnzimmern geöffnet und mich zu ihren Stammtischen eingeladen haben. Zu Dank verpflichtet bin ich ebenfalls all jenen »Türöffnern«, ohne die ein Feldzugang nicht möglich gewesen wäre, die im Zuge der erfolgten Anonymisierung hier leider nicht namentlich auftauchen können. Heinz Bude möchte ich für viele Jahre der Förderung und für die intensive Betreuung meiner Dissertation danken. Sein intellektuelles Vorbild ist mir Verpflichtung. Seine Tür stand mir immer offen, und er hat zumindest so getan, als hätte er auch immer etwas von mir gelernt. Friederike Bahl danke ich für viele Jahre enger Zusammenarbeit. Sie ist eine wunderbare Kollegin. Ich bin froh, dass unsere Arbeit zum Dienstleistungsproletariat nicht das Ende unserer beruflichen Kooperation ist. Berthold Vogel schulde ich Dank, nicht nur für seine Arbeit als Gutachter meiner Dissertation, sondern auch, weil er mir, viel früher, gezeigt hat, was empirisches Arbeiten bedeutet. 379

Niels Beckenbach möchte ich dafür danken, dass er vor vielen Jahren mein Interesse für die Soziologie geweckt hat und seither für mich ein wichtiger Gesprächspartner geblieben ist. Martin Bauer schulde ich zahlreiche intellektuelle Anregungen. Aaron Sahr möchte ich dafür danken, dass er immer ansprechbar war, wenn es um die kleinen, aber auch die großen Sorgen mit meiner Dissertation ging. Ich verdanke ihm wertvolle Kommentare zum Urmanuskript und große moralische Unterstützung. Mein Dank gilt jenen, die sich die Mühe von Lektorat und Korrekturlesen gemacht haben: Julian Wenz, Richard Faber, Sandra Vogel, meiner Schwester Silke, meiner Mutter. Ohne euch wäre es nicht gegangen. Nicht zuletzt möchte ich meiner Frau Ulrike danken, deren emotionale Rückendeckung mir Stütze und Antrieb war.

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Philipp Staab, Dr. rer. pol., Soziologe, Studium der Soziologie in Kassel und Paris; seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung.

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