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German Pages 657 [660] Year 2014
Großkommentare der Praxis
Löwe-Rosenberg
Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz Großkommentar 26., neu bearbeitete Auflage herausgegeben von
Volker Erb, Robert Esser, Ulrich Franke, Kirsten Graalmann-Scheerer, Hans Hilger, Alexander Ignor
Zwölfter Band Nachtrag Bearbeiter: Jörg-Peter Becker, Camilla Bertheau, Volker Erb, Karsten Gaede, Klaus Ferdinand Gärditz, Kerstin Gärtner, Dirk Gittermann, Sabine Gleß, Karl Heinz Gössel, Kirsten Graalmann-Scheerer, Alexander Ignor, Christian Jäger, Matthias Jahn, Daniel M. Krause, Matthias Krauß, Detlef Lind, Klaus Lüderssen, Andreas Mosbacher, Carl-Friedrich Stuckenberg, Marc Wenske, Raik Werner, Mark Zöller
De Gruyter
Stand der Bearbeitung: 31. August 2013
ISBN 978-3-11-028494-2 e-ISBN 978-3-11-028511-6
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Datenkonvertierung/Satz: Werksatz Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Die Bearbeiter der 26. Auflage Jörg-Peter Becker, Vors. Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe und Obernburg Camilla Bertheau, Rechtsanwältin in Berlin Dr. Werner Beulke, em. Professor an der Universität Passau Dr. Reinhard Böttcher, Präsident des Oberlandesgerichts Bamberg a.D., Honorarprofessor an der Ludwig Maximilians-Universität München Ottmar Breidling, Vors. Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf i.R. Gabriele Cirener, Richterin am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Dr. Volker Erb, Professor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Dr. Robert Esser, Professor an der Universität Passau Dr. Ulrich Franke, Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe und Hemdingen Dr. Karsten Gaede, Professor an der Bucerius Law School, Hamburg Dr. Klaus Ferdinand Gärditz, Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Kerstin Gärtner, Richterin am Kammergericht Berlin Dr. Dirk Gittermann, Richter am Oberlandesgericht Celle Dr. Sabine Gleß, Professorin an der Universität Basel Dr. Dr. h.c. Karl Heinz Gössel, em. Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht a.D., München Dr. Kirsten Graalmann-Scheerer, Generalstaatsanwältin in Bremen, Honorarprofessorin an der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Bremen Dr. Pierre Hauck, Professor an der Universität Trier Dr. Hans Hilger, Ministerialdirektor im Bundesministerium der Justiz a.D., Bad Honnef Dr. Dr. Alexander Ignor, Rechtsanwalt in Berlin, Apl. Professor an der HumboldtUniversität zu Berlin Dr. Christian Jäger, Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Dr. Matthias Jahn, Professor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Richter am Oberlandesgericht Nürnberg Dr. Björn Jesse, Staatsanwalt, Staatsanwaltschaft Berlin Pascal Johann, Rechtsanwalt in Wiesbaden Dr. Daniel M. Krause, Rechtsanwalt in Berlin Dr. Matthias Krauß, Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe Dr. Dr. h.c. Hans-Heiner Kühne, em. Professor an der Universität Trier Detlef Lind, Richter am Kammergericht Berlin Dr. Klaus Lüderssen, em. Professor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main Dr. Holger Matt, Rechtsanwalt in Frankfurt am Main, Honorarprofessor an der GoetheUniversität Frankfurt am Main Dr. Eva Menges, Richterin am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Dr. Andreas Mosbacher, Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe, Honorarprofessor an der Universität Leipzig Dr. Günther M. Sander, Richter am Bundesgerichtshof, Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Wolfgang Siolek, Vors. Richter am Oberlandesgericht Celle
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Die Bearbeiter der 26. Auflage
Dr. Carl-Friedrich Stuckenberg, Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Dr. Michael Tsambikakis, Rechtsanwalt in Köln Marc Wenske, Richter am Landgericht Hamburg Dr. Raik Werner, Richter am Landgericht München I Thomas Wickern, Leitender Oberstaatsanwalt beim Generalstaatsanwalt in Düsseldorf Dr. Mark A. Zöller, Professor an der Universität Trier
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Vorbemerkungen Der erste Band dieser 26. Auflage ist im Dezember 2006 (Stand der Bearbeitung: Juli 2006) erschienen. In der Folgezeit traten zahlreiche Gesetze zur Änderung der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes in Kraft. Ein erheblicher Teil dieser Änderungen konnte in die Kommentierung der jeweils betroffenen Vorschrift im Hauptwerk einbezogen werden. Der Nachtrag beschränkt sich daher im Wesentlichen auf die Kommentierung der Änderungen, die nicht im Hauptwerk kommentiert sind. Diese Änderungen finden sich in folgenden Gesetzen: 2. Justizmodernisierungsgesetz v. 22.12.2006 (BGBl. I S. 3416); Gesetz zum Schengener Informationssystem der zweiten Generation v. 6.6.2009 (BGBl. I S. 1226); Gesetz zur Änderung der StPO v. 26.6.2009 (BGBl. I S. 1597); Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts v. 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274); 2. Opferrechtsreformgesetz v. 29.7.2009 (BGBl. I S. 2280); Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren v. 29.7.2009 (BGBl. I S. 2353); Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdeten Gewalttaten v. 30.7.2009 (BGBl. I S. 2437); Gesetz zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie in der Justiz und zur Änderung weiterer Vorschriften v. 22.12.2010 (BGBl. I S. 2248); Gesetz zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht v. 22.12.2010 (BGBl. I S. 2261); Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen v. 22.12.2010 (BGBl. I S. 2300); Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat v. 23.6.2011 (BGBl. I S. 1266); Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren v. 24.11.2011 (BGBl. I S. 2302); Gesetz über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung und zur Änderung weiterer gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften v. 6.12.2011 (BGBl. I S. 2554); Gesetz über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union v. 21.7.2012 (BGBl. I S. 1566); Gesetz zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess und zur Änderung anderer Vorschriften v. 5.12.2012 (BGBl. I S. 2418); Gesetz zur Stärkung der Täterverantwortung v. 15.11.2012 (BGBl. I S. 2298); Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung v. 5.12.2012 (BGBl. I S. 2425); Gesetz für einen Gerichtsstand bei besonderer Auslandsverwendung der Bundeswehr v. 21.1.2013 (BGBl. I S. 89); Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren v. 25.4. 2013 (BGBl. I S. 935); Gesetz zur Modernisierung des Außenwirtschaftsrechts v. 6.6.2013 (BGBl. I S. 1482); Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs v. 26.6.2013 (BGBl. I S. 1805); Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren v. 2.7.2013 (BGBl. I S. 1938); Drittes Gesetz zur Änderung des Tierschutzgesetzes v. 4.7.2013 (BGBl. I S. 2182); Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten v. 10.10.2013 (BGBl. I S. 3786). Spätere Änderungsgesetze konnten wegen der fortgeschrittenen Herstellung dieses Bandes nicht mehr eingearbeitet werden. Mit dem Abschluss dieser Auflage scheiden voraussichtlich einige Autoren aus Altersgründen aus der Kommentararbeit zum LR. Neue Autoren werden in der 27. Auflage die
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Vorbemerkungen
Arbeit übernehmen und haben zum Teil schon an diesem Nachtrag mitgewirkt. Wegen der Einzelheiten des Autorenwechsels wird auf das Verzeichnis aller Autoren des LR in diesem Band verwiesen. Herausgeber und Verlag danken den ausscheidenden Autoren für ihre engagierte Mitarbeit. Berlin, September 2013
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Die Herausgeber
Hinweise für die Benutzung des Löwe-Rosenberg 1. Inhalt der Kommentierung Der Löwe-Rosenberg kommentiert die StPO, das EGStPO, das GVG und das EGGVG mit Ausnahme der nur den Zivilprozess betreffenden Teile, sowie – mit dem Schwerpunkt auf den strafverfahrensrechtlich besonders bedeutsamen Regelungen – die EMRK und den IPBPR. Wenig bekannte oder schwer auffindbare strafverfahrensrechtliche Nebengesetze, deren Wortlaut für die Kommentierung erforderlich ist, werden bei den einschlägigen Erläuterungen im Kleindruck wiedergegeben. 2. Erscheinungsweise und Stand der Bearbeitung Die 26. Auflage des Löwe-Rosenberg erscheint erstmals in Bänden, deren Erscheinungs-Reihenfolge von der des Gesetzes abweichen kann. Die Bände werden aber in der vom Gesetz vorgegebenen Reihenfolge durchnumeriert. Der Stand der Bearbeitung ist dem Vorwort jedes Bandes zu entnehmen. Die Autoren sind bemüht, besonders wichtige Änderungen und Entwicklungen auch noch nach diesem Stichtag bis zur Drucklegung des Bandes zu berücksichtigen. 3. Bearbeiter Jeder Bearbeiter (in der Fußzeile angegeben) trägt für seinen Teil die alleinige inhaltliche Verantwortung. Die Stellungnahmen zu Rechtsfragen, die an mehreren Stellen des Kommentars behandelt werden, können daher voneinander abweichen. Auf solche Abweichungen wird nach Möglichkeit hingewiesen. 4. Aufbau der Kommentierung Neben der umfassenden Einleitung zum Gesamtwerk sind den Untereinheiten der kommentierten Gesetze (Bücher, Abschnitte, Titel), soweit erforderlich, Vorbemerkungen vorangestellt, die das für die jeweilige Untereinheit Gemeinsame erläutern. Der den Vorbemerkungen und den Kommentierungen der einzelnen Vorschriften erforderlichenfalls vorangestellte Abschnitt Geltungsbereich enthält Hinweise auf zeitliche und örtliche Besonderheiten. Der Abschnitt Entstehungsgeschichte gibt, abgesehen von ganz unwesentlichen Änderungen, die Entwicklung der geltenden Fassung der Vorschrift vom Erlass des jeweiligen Gesetzes an wieder. Fehlt er, so kann davon ausgegangen werden, dass die Vorschrift unverändert ist. Der Hinweis auf geplante Änderungen verzeichnet Änderungsvorschläge, die sich beim Abschlusszeitpunkt der Lieferung im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren befinden. Die Erläuterungen sind nach systematischen Gesichtspunkten gegliedert, die durch Überschriften oder Stichworte hervorgehoben sind. In der Regel ist den Erläuterungen eine systematische Übersicht vorangestellt. Soweit angebracht wird sie bei besonders umfang-
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Hinweise für die Benutzung des Löwe-Rosenberg
reichen Erläuterungen durch eine alphabetische Übersicht ergänzt. Bei den Erläuterungen selbst werden für jede Vorschrift (zur Erleichterung des Zitierens) durchlaufende Randnummern verwendet. 5. Schrifttum Der Kommentar enthält am Anfang jedes Bandes ein allgemeines Literaturverzeichnis, das nur die häufiger verwendete oder allgemeine Literatur enthält. Den Vorbemerkungen und den Kommentierungen der einzelnen Vorschriften sind Schrifttumsverzeichnisse vorangestellt, die einen Überblick über das wesentliche Schrifttum zu dem jeweils behandelten Thema geben. 6. Zitierweise Literatur, die in diesen Schrifttumsverzeichnissen enthalten ist, wird im laufenden Text im allgemeinen nur mit dem Namen des Verfassers (ggfs. mit einer unterscheidenden Kurzbezeichnung) oder der sonstigen im Schrifttumsverzeichnis angegebenen Kurzbezeichnung zitiert, doch wird bei Veröffentlichungen in Zeitschriften vielfach auch die genaue Fundstelle nachgewiesen. Sonst sind selbständige Werke mit (gelegentlich verkürztem) Titel und Jahreszahl, unselbständige Veröffentlichungen (auch Beiträge in Festschriften u.ä.) mit der Fundstelle angegeben. Auflagen sind durch hochgestellte Zahlen gekennzeichnet; fehlt eine solche Angabe, so wird aus der Auflage zitiert, die im allgemeinen Schrifttumsverzeichnis angegeben ist. Hat ein Werk Randnummern, so wird nach diesen, sonst nach Seitenzahl oder Gliederungspunkten zitiert. Befindet sich beim Zitat anderer Kommentare die in Bezug genommene Stelle im gleichen Paragraphen, so wird nur die Randnummer oder (bei deren Fehlen) der Gliederungspunkt angegeben; wird auf die Erläuterungen bei einem anderen Paragraphen Bezug genommen, so wird dieser genannt. Entsprechend wird auch im Löwe-Rosenberg selbst verwiesen. Bei diesem wird, wenn nichts anderes angegeben ist, auf die gegenwärtige 26. Auflage verwiesen. Ist der Band mit den Erläuterungen, auf die verwiesen werden soll, noch nicht erschienen, so ist, soweit dies sachdienlich erschien, in Klammern ergänzend die genaue Fundstelle in der 25. Auflage angegeben. Zeitschriften werden regelmäßig mit dem Jahrgang zitiert. Ausnahmen (Bandangabe) bilden namentlich ZStW, GA (bis 1933) und VRS; hier ist regelmäßig die Jahreszahl zusätzlich angegeben. Bei der Angabe der Fundstelle eines amtlichen Verkündungsblattes wird die Jahreszahl nur angegeben, wenn sie von der Jahreszahl der Rechtsvorschrift abweicht. Entscheidungen werden im allgemeinen nur mit einer Fundstelle angegeben. Dabei hat die amtliche Sammlung eines obersten Bundesgerichtes den Vorrang, sonst die Fundstelle, die die Entscheidung mit Anmerkung oder am ausführlichsten wiedergibt. 7. Abkürzungen Die verwendeten Abkürzungen, namentlich von Gesetzen, Verwaltungsvorschriften, Entscheidungssammlungen, Zeitschriften usw. sind im Abkürzungsverzeichnis nachgewiesen.
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Inhaltsübersicht Bearbeiterverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise für die Benutzung des Löwe-Rosenberg Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . .
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ALLGEMEINES Vorbemerkungen ERLÄUTERUNGEN ZU DEN EINZELNEN VORSCHRIFTEN Strafprozeßordnung ERSTES BUCH Allgemeine Vorschriften
Zweiter Abschnitt Vierter Abschnitt Fünfter Abschnitt Sechster Abschnitt
Gerichtsstand Gerichtliche Entscheidungen und Kommunikation zwischen den Beteiligten Fristen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Zeugen
Siebenter Abschnitt Neunter Abschnitt
Sachverständige und Augenschein Verhaftung und vorläufige Festnahme
Zehnter Abschnitt Elfter Abschnitt
Vernehmung des Beschuldigten Verteidigung
§§ 11a, 12 35a, 37 44, 47 48, 53, 57, 58, 58a, 58b, 60, 68, 68a, 68b, 69 81c 112a, 114a, 114b 114c, 114d, 114e, 115, 115a, 116b, 117, 118a, 119, 119a, 126, 126a, 127, 127b 136 138, 138d, 140, 141, 142, 145a, 147, 148
XI
Inhaltsübersicht
ZWEITES BUCH Verfahren im ersten Rechtszug Erster Abschnitt Zweiter Abschnitt
Öffentliche Klage Vorbereitung der öffentlichen Klage
Vierter Abschnitt Fünfter Abschnitt Sechster Abschnitt
Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens Vorbereitung der Hauptverhandlung Hauptverhandlung
Achter Abschnitt
Verfahren gegen Abwesende
153a, 154f 158, 160a, 160b, 161, 161a, 162, 163, 163a, 163c, 163d, 163e, 163f, 168b 200, 201, 202a 212, 214, 222 233, 246a, 247a, 255a, 268 291, 292, 293
FÜNFTES BUCH Beteiligung des Verletzten am Verfahren Zweiter Abschnitt Vierter Abschnitt
Nebenklage Sonstige Befugnisse des Verletzten
395, 397, 397a 406d, 406e, 406f, 406g, 406h
SECHSTES BUCH Besondere Arten des Verfahrens Erster Abschnitt Dritter Abschnitt
Verfahren bei Strafbefehlen Verfahren bei Einziehungen und Vermögensbeschlagnahmen
407 443
SIEBENTES BUCH Strafvollstreckung und Kosten des Verfahrens Erster Abschnitt
XII
Strafvollstreckung
453, 454, 462, 462a, 463, 463a,463b
Inhaltsübersicht
ACHTES BUCH Erteilung von Auskünften und Akteneinsicht, sonstige Verwendung von Daten für verfahrensübergreifende Zwecke, Dateiregelungen, länderübergreifendes staatsanwaltschaftliches Verfahrensregister Erster Abschnitt
Erteilung von Auskünften und Akteneinsicht, sonstige Verwendung von Daten für verfahrensübergreifende Zwecke
478, 481
Gerichtsverfassungsgesetz Dritter Titel Vierter Titel Fünfter Titel Achter Titel Zehnter Titel Vierzehnter Titel Fünfzehnter Titel
Amtsgerichte Schöffengerichte Landgerichte Oberlandesgerichte Staatsanwaltschaft Öffentlichkeit und Sitzungspolizei Gerichtssprache
Siebzehnter Titel
Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren
22, 24, 26 51 74, 74c, 74f, 76 120a 143 171b, 173 185, 187, 189, 191a 198, 199, 200, 201
Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz Dritter Abschnitt Sechster Abschnitt
Anfechtung von Justizverwaltungsakten Übergangsvorschriften
26, 28, 29, 30a 41
XIII
Abkürzungsverzeichnis AA a.A. aaO Abg. AbgG
abl. ABl. ABlEG
ABlEU
ABMG Abs. Abschn. abw. AChRMV AcP AdoptG AdVermiG
a.E. ÄndG ÄndVO a.F. AfkKR AfP AG AGIS
AGGewVerbrG
AGGVG AGS AGStPO AHK
Auswärtiges Amt anderer Ansicht am angegebenen Orte Abgeordneter Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages (Abgeordnetengesetz – AbgG) vom 18.2.1977 i.d.F. der Bek. vom 21.2.1996 (BGBl. I S. 326) ablehnend Amtsblatt Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften; Ausgabe C: Mitteilungen und Bekanntmachungen; Ausgabe L: Rechtsvorschriften (zit.: ABlEG Nr. L … /(Seite) vom …) Amtsblatt der Europäischen Union (ab 2003); Ausgabe C: Mitteilungen und Bekanntmachungen; Ausgabe L: Rechtsvorschriften (zit.: ABlEU Nr. L …/(Seite) vom …) Autobahnmautgesetz für schwere Nutzfahrzeuge vom 5.4.2002 (BGBl. I S. 1234) Absatz Abschnitt abweichend Afrikanische Charta der Rechte der Menschen und Völker vom 26.6.1981, deutsche Übersetzung EuGRZ 1990, 348 Archiv für die civilistische Praxis Adoptionsgesetz vom 2.7.1976 (BGBl. I S. 1749) Adoptionsvermittlungsgesetz vom 27.11.1989 (BGBl. I S. 2014) i.d.F. der Bek. vom 22.12.2001 (BGBl. 2002 I S. 354) zuletzt geändert durch Art. 8 Gesetz vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2403) am Ende Änderungsgesetz Änderungsverordnung alte Fassung Archiv für katholisches Kirchenrecht Archiv für Presserecht, Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht Amtsgericht; in Verbindung mit einem Gesetz: Ausführungsgesetz Beschluss des Rates der Europäischen Union vom 22.7.2002 über ein Rahmenprogramm für die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen – AGIS (ABlEG Nr. C 203/5 vom 1.8.2002) Ausführungsgesetz zum Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24.11.1933 (RGBl. I S. 1000) Gesetz zur Ausführung des Gerichtsverfassungsgesetzes (Landesrecht) Zeitschrift für das gesamte Gebührenrecht und Anwaltsmanagement Ausführungsgesetz zur Strafprozessordnung (Landesrecht) Alliierte Hohe Kommission
XV
Abkürzungsverzeichnis AIDP AJIL AktG AktO allg. M. Alsb.E Alt. a.M. AMRK amtl. amtl. Begr. Anh. AnhRügG
Anl. Anm. AnwBl. AöR AO AOStrÄndG apf APR APuZ ArbGG ArchKrim. ArchPF ArchVR arg. Art. ASIL AsylVfG
ATDG
AtomG
AufenthG
XVI
Association Internationale de Droit Pénal American Journal of International Law Gesetz über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien (Aktiengesetz) vom 6.9.1965 (BGBl. I S. 1089) Anweisung für die Verwaltung des Schriftguts bei den Geschäftsstellen der Gerichte und der Staatsanwaltschaften (Aktenordnung) allgemeine Meinung Die strafprozessualen Entscheidungen der Oberlandesgerichte, herausgegeben von Alsberg und Friedrich (1927), 3 Bände Alternative anderer Meinung Amerikanische Menschenrechtskonvention vom 22.11.1969 (Pact of San José), deutsche Übersetzung EuGRZ 1980, 435 amtlich amtliche Begründung Anhang Gesetz über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügengesetz) vom 9.12.2004 (BGBl. I S. 3220) Anlage Anmerkung Anwaltsblatt Archiv des öffentlichen Rechts Abgabenordnung vom 16.3.1976 (BGBl. I S. 613) i.d.F. der Bek. vom 1.10.2002 (BGBl. I S. 3866) Gesetz zur Änderung strafrechtlicher Vorschriften der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze vom 10.8.1967 (BGBl. I S. 877) Ausbildung Prüfung Fachpraxis – Zeitschrift für die staatliche und kommunale Verwaltung Allgemeines Persönlichkeitsrecht Aus Politik und Zeitgeschichte (Zeitschrift) Arbeitsgerichtsgesetz vom 3.9.1953 i.d.F. der Bek. vom 2.7.1979 (BGBl. I S. 853) Archiv für Kriminologie Archiv für das Post- und Fernmeldewesen Archiv des Völkerrechts argumentum Artikel The American Society of International Law Gesetz über das Asylverfahren i.d.F. der Bek. vom 2.9.2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch Art. 4 des Gesetzes vom 22.11.2011 (BGBl. I S. 2258) Gesetz zur Errichtung einer standardisierten zentralen Antiterrordatei von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten von Bund und Ländern (Antiterrordateigesetz) v. 22.12.2006 Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz) vom 31.10.1976 (BGBl. I S. 3053) i.d.F. der Bek. vom 15.7.1985 (BGBl. I S. 1565) Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz), neugefasst durch Bek. vom 25.2.2008 (BGBl. I S. 162); zuletzt geändert durch Art. 6 des Gesetzes vom 1.6.2012 (BGBl. I S. 1224)
Abkürzungsverzeichnis aufg. Aufl. AUILR AUR AuR ausf. AuslG
AusnVO
AV AVG AVR AWG Az AZR-Gesetz
BAG BÄO
BAK BAnz. BaWü. Bay. BayAGGVG
BayBS BayObLG BayObLGSt BayPAG
BayRS BayStVollzG BayVerf. BayVerfGH BayVerfGHE BayVerwBl. BayVGH
aufgehoben Auflage American University International Law Review Agrar- und Umweltrecht (Zeitschrift) Arbeit und Recht (Zeitschrift) ausführlich Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet (Ausländergesetz) vom 9.7.1990 (BGBl. I S. 1354), außer Kraft getreten am 31.12.2004 Ausnahme-(Not-)Verordnung (1) VO zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen vom 1.12.1930 (RGBl. I S. 517) (2) VO zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen vom 6.10.1931 (RGBl. I S. 537, 563) (3) VO zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutz des inneren Friedens vom 8.12.1931 (RGBl. I S. 743) (4) VO über Maßnahmen auf dem Gebiet der Rechtspflege und Verwaltung vom 14.6.1932 (RGBl. I S. 285) Allgemeine Verfügung Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz (Österreich) Archiv des Völkerrechts Außenwirtschaftsgesetz vom 28.4.1961 (BGBl. I S. 481) Aktenzeichen Gesetz über das Ausländerzentralregister vom 2.9.1994 (BGBl. I S. 2265) i.d.F. der Bek. vom 23.12.2003 (BGBl. I S. 2848) Bundesarbeitsgericht Bundesärzteordnung, neugefasst durch Bek. vom 16.4.1987 (BGBl. I S. 1218); zuletzt geändert durch Art. 29 des Gesetzes vom 6.12.2011 (BGBl. I S. 2515) Blutalkoholkonzentration Bundesanzeiger Baden-Württemberg Bayern, bayerisch Bayerisches Gesetz zur Ausführung des Gerichtsverfassungsgesetzes und von Verfahrensgesetzen des Bundes vom 23.6.1981 (BayGVBl. S. 188) Bereinigte Sammlung des Bayerischen Landesrechts (1802 bis 1956) Bayerisches Oberstes Landesgericht Sammlung von Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Staatlichen Polizei (Polizeiaufgabengesetz) i.d.F. d. Bek. v. 14.9.1990 (GVBl. S. 397), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.12.2011 (GVBl. S. 689) Bayerische Rechtssammlung (ab 1.1.1983) Bayerisches Strafvollzugsgesetz Verfassung des Freistaates Bayern vom 2.12.1946 (BayBS. I 3) Bayerischer Verfassungsgerichtshof s. BayVGHE Bayerische Verwaltungsblätter Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
XVII
Abkürzungsverzeichnis BayVGHE
BayZ BB BBG Bbg. BbgVerfG BC Bd. BDG BDH BDSG BeamtStG
Begr. BegrenzungsVO
BEG-SchlußG Bek. Bek. 1924 Bek. 1950 Bek. 1965 Bek. 1975 Bek. 1987 ber. BerathG BerlVerfGH BerRehaG
Beschl. Bespr. BeurkG BewHi. BezG Bf. BFH BfJG
BGB
XVIII
Sammlung von Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs mit Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes, des Bayerischen Dienststrafhofs und des Bayerischen Gerichtshofs für Kompetenzkonflikte Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern (1905–34) Betriebs-Berater (Zeitschrift) Bundesbeamtengesetz vom 14.7.1953 (BGBl. I S. 551) i.d.F. der Bek. vom 31.3.1999 (BGBl. I S. 675) Brandenburg Brandenburgisches Verfassungsgericht Business Compliance (Zeitschrift) Band Bundesdisziplinargesetz vom 9.7.2001 (BGBl. I S. 1510) Bundesdisziplinarhof (jetzt Bundesverwaltungsgericht) Bundesdatenschutzgesetz i.d.F. der Bek. vom 14.1.2003 (BGBl. I S. 66) Gesetz zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und Beamten in den Ländern (Beamtenstatusgesetz) vom 17.6.2008 (BGBl. I S. 1010) Begründung Verordnung über die Begrenzung der Geschäfte des Rechtspflegers bei der Vollstreckung in Straf- und Bußgeldsachen vom 26.6.1970 (BGBl. I S. 992) i.d.F. der Bek. v. 16.2.1982 (BGBl. I S. 188) Zweites Gesetz zur Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes vom 14.9.1965 (BGBl. I S. 1315) Bekanntmachung Strafprozeßordnung i.d.F. der Bek. vom 22.3.1924 (RGBl. I S. 299, 322) Strafprozeßordnung i.d.F. der Bek. vom 12.9.1950 (BGBl. I S. 629) Strafprozeßordnung i.d.F. der Bek. vom 17.9.1965 (BGBl. I S. 1373) Strafprozeßordnung i.d.F. der Bek. vom 7.1.1975 (BGBl. I S. 129) Strafprozeßordnung i.d.F. der Bek. vom 7.4.1987 (BGBl. I S. 1074) berichtigt Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz) vom 18.6.1980 (BGBl. I S. 689) Berliner Verfassungsgerichtshof Gesetz über den Ausgleich beruflicher Benachteiligungen für Opfer politischer Verfolgung im Beitrittsgebiet (Berufliches Rehabilitierungsgesetz) vom 23.6.1994 (BGBl. I S. 1314) Beschluss Besprechung Beurkundungsgesetz vom 28.8.1969 (BGBl. I S. 1513) Bewährungshilfe (Zeitschrift) Bezirksgericht Beschwerdeführer Bundesfinanzhof Gesetz über die Errichtung des Bundesamtes für Justiz = Art. 1 des Gesetzes zur Errichtung und zur Regelung der Aufgaben des Bundesamtes für Justiz vom 17.12.2006 (BGBl. I S. 3171) Bürgerliches Gesetzbuch vom 18.8.1896 (RGBl. S. 195) i.d.F. der Bek. vom 2.1.2002 (BGBl. I S. 42, ber. S. 2909 und BGBl. 2003 I S. 738).
Abkürzungsverzeichnis BGBl. I, II, III BGer BGH BGH-DAT BGH (ER) BGHE Strafs. BGHGrS BGHR BGHRZ BGHSt BGHZ BGSG BGSNeuRegG
BinSchG
BinSchGerG BJM BJOG BKA BKAG
Bln. Bln.GVBl.Sb. Blutalkohol BMI BMinG
BMJ BNDG Bonn.Komm. BORA BPolBG BR BRAGO BRAK BRAK-Mitt. BranntWMonG
Bundesgesetzblatt Teil I, II und III Schweizerisches Bundesgericht Bundesgerichtshof Datenbank der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf CDROM, herausgegeben von Werner Theune Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in Strafsachen auf CDROM, herausgegeben von Mitgliedern des Gerichts Bundesgerichtshof, Großer Senat (hier in Strafsachen) BGH-Rechtsprechung in Strafsachen (Loseblattsammlung) BGH-Rechtsprechung in Zivilsachen (Loseblattsammlung) Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Gesetz über den Bundesgrenzschutz (Bundesgrenzschutzgesetz) vom 19.10.1994 (BGBl. I S. 2978) Gesetz zur Neuregelung der Vorschriften über den Bundesgrenzschutz (Bundesgrenzschutzneuregelungsgesetz) vom 19.10.1994 (BGBl. I S. 2978) Gesetz betr. die privatrechtlichen Verhältnisse der Binnenschiffahrt (Binnenschiffahrtsgesetz) vom 15.6.1895 i.d.F. der Bek. vom 15.6.1898 (RGBl. S. 868) Gesetz über das gerichtliche Verfahren in Binnenschiffahrtssachen vom 27.9.1952 (BGBl. I S. 641) Basler Juristische Mitteilungen An International Journal of Obstetrics and Gynaecology Bundeskriminalamt Gesetz über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten (Bundeskriminalamtgesetz) vom 7.7.1997 (BGBl. I S. 1650) Berlin Sammlung des bereinigten Berliner Landesrechts, Sonderband I (1806 bis 1945) und II (1945 bis 1967) Blutalkohol, Wissenschaftliche Zeitschrift für die medizinische und juristische Praxis Bundesminister(-ium) des Innern Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Bundesregierung (Bundesministergesetz) vom 17.6.1953 (BGBl. I S. 407) i.d.F. der Bek. vom 27.7.1971 (BGBl. I S. 1166) Bundesminister(-ium) der Justiz Gesetz über den Bundesnachrichtendienst vom 20.12.1990 (BGBl. I S. 2979) i.d.F. der Bek. vom 9.1.2002 (BGBl. I S. 361 ff.) Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Loseblattausgabe) Berufsordnung für Rechtsanwälte i.d.F. der Bek. vom 1.11.2001 Bundespolizeibeamtengesetz i.d.F. der Bek. vom 3.6.1976 (BGBl. I S. 1357) s. BRat Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte vom 26.7.1957 (BGBl. I S. 907); ersetzt durch das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) Bundesrechtsanwaltskammer Mitteilungen der Bundesrechtsanwaltskammer Branntweinmonopolgesetz vom 8.4.1922 (RGBl. I S. 405; BGBl. III 612-7)
XIX
Abkürzungsverzeichnis BRAO
bzw.
Bundesrechtsanwaltsordnung vom 1.8.1959 (BGBl. I S. 565); zuletzt geändert durch Art. 8 des Gesetzes vom 6.12.2011 (BGBl. I S. 2515) Bundesrat Drucksachen des Bundesrats Bundesregierung Bremen Protokolle des Bundesrates Sammlung des bereinigten Landesrechts Bundessozialgericht Beispiel Bundestag Drucksachen des Bundestags Gesetz zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige (Betreuungsgesetz) vom 12.9.1990 (BGBl. I S. 2002) Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz) vom 28.7.1981 (BGBl. I S. 681) i.d.F. der Bek. vom 1.3.1994 (BGBl. I S. 358) s. BTVerh. Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags Verhandlungen des Deutschen Bundestags Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12.3.1951 i.d.F. der Bek. vom 11.8.1993 (BGBl. I S. 1473) Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz (Bundesverfassungsschutzgesetz) vom 20.12.1990 (BGBl. I S. 2954) Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bundesverfassungsgesetz (österreichische Verfassung) Baden-Württemberg Bundeswahlgesetz neugefasst durch Bek. v. 23.7.1993 BGBl. I S. 1288, 1594 bezüglich Gesetz über das Zentralregister und das Erziehungsregister (Bundeszentralregistergesetz), neugefasst durch Bek. vom 21.9.1984 (BGBl. I S. 1229, 1985 I S. 195); zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 15.12.2011 (BGBl. I S. 2714) Zweites Gesetz zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes (2. BZRÄndG) vom 17.7.1984 (BGBl. I S. 990) beziehungsweise
CAT CCBE CCC CCJE CCPR CCZ CD
siehe UN-CAT Council of the Bars and Law Societies of the European Union Constitutio Criminalis Carolina Consultative Council of European Judges siehe HRC Corporate Compliance Zeitschrift Collection of Decisions Bd. 1 bis 46 (1960 bis 1974), Entscheidungen
BRat BRDrucks. BReg. Brem. BRProt. BS BSG Bsp. BT BTDrucks. BtG BtMG
BTProt. BTRAussch. BTVerh. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerfGK BVerfSchG
BVerwG BVerwGE BV-G BW BWahlG bzgl. BZRG
2. BZRÄndG
XX
Abkürzungsverzeichnis
CDDH CDE CDPC CEAS CELJ CEPEJ CEPOL CERD CERT CETS ChE
ChemG CJ CJEL CMLRev COSI CPP CPS CPT
CR CRC Crim.L.R. CSW CWÜAG
DA DAG DAJV-Newsletter DAR DAV DB DDevR DDR ders. DERechtsmittelG
DG Die Justiz Die Polizei dies.
der Europäischen Kommission für Menschenrechte über die Zulässigkeit von Beschwerden Steering Committee for Human Rights (Europarat) Cahiers de droit européen (Zeitschrift) European Committee on Crime Problems Common European Asylum System China-EU Law Journal European Commission on the Efficiency of Justice European Police College Internationales Übereinkommen zur Beseitigung von jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7.3.1966 Computer Emergency Response Team Council of Europe Treaty Series Chiemsee-Entwurf (Verfassungsausschuß der Ministerpräsidentenkonferenz der Westlichen Besatzungszonen. Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23.8.1948) (1948) Chemikaliengesetz i.d.F. der Bek. vom 20.6.2002 (BGBl. I S. 2090) Corpus Juris Columbia Journal of European Law Common Market Law Review Ständiger Ausschuss für die operative Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit (EU); vgl. ABl. EU 2010 Nr. L 52, 50 Code Procédure Penal Crown Prosecution Service Committee for the Prevention of Torture – Europäischer Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (Europarat) Computer und Recht (Zeitschrift) Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989 (BGBl. 1992 II S. 122) Criminal Law Review Cross-Border Surveillance Working Group Ausführungsgesetz zum Chemiewaffenübereinkommen vom 2.8.1994 (BGBl. I S. 1954) Dienstanweisung Deutsches Auslieferungsgesetz vom 23.12.1929 (BGBl. I S. 239), aufgehoben durch IRG vom 23.12.1982 (BGBl. I S. 2071) Zeitschrift der Deutsch-Amerikanischen Juristen-Vereinigung e.V. Deutsches Autorecht (Zeitschrift) DeutscherAnwaltVerein Der Betrieb (Zeitschrift) Deutsche Devisen-Rundschau (1951–59) Deutsche Demokratische Republik derselbe Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen, im Auftrag der JMK vorgelegt von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Strafverfahrensreform (1975) Disziplinargesetz (der Länder) Die Justiz, Amtsblatt des Justizministeriums Baden-Württemberg Die Polizei (seit 1955: Die Polizei – Polizeipraxis) dieselbe
XXI
Abkürzungsverzeichnis Diss. DiszO DJ DJT DJZ DNA-AnalyseG DNA-IFG DNP DNutzG DÖD DÖV DOGE DPA DR
DRechtsw. DRiG
DRiZ DRpfl. DRsp. Drucks. DRZ DSB DSteuerR DStR DStrZ DStZ dt. DtBR DtZ DuD DuR DVBl. DVO DVollzO DVOVereinf.VO
DVOZust.VO
XXII
Dissertation Disziplinarordnung (der Länder) Deutsche Justiz, Rechtspflege und Rechtspolitik (1933–45) Deutscher Juristentag (s. auch VerhDJT) Deutsche Juristenzeitung (1896–1936) Gesetz zur Novellierung der forensischen DNA-Analyse v. 12.8.2005 (BGBl. I S. 2360) DNA-Identitätsfeststellungsgesetz vom 7.9.1998 (BGBl. I S. 2646; 1999 I S. 1242) Die Neue Polizei Gesetz zur effektiveren Nutzung von Dateien im Bereich der Staatsanwaltschaften vom 10.9.2004 (BGBl. I S. 2318) Der Öffentliche Dienst (Zeitschrift) Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Entscheidungen des Deutschen Obergerichts für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet Deutsches Patentamt Deutsches Recht (1931 bis 1945); Decisions and Reports (ab 1975): Entscheidungen über die Zulässigkeit von Beschwerden; Berichte der Europäischen Kommission für Menschenrechte; Resolutionen des Ministerkomitees des Europarates Deutsche Rechtswissenschaft (1936–43) Deutsches Richtergesetz, neugefasst durch Bek. vom 19.4.1972 (BGBl. I S. 713); zuletzt geändert durch Art. 17 des Gesetzes vom 6.12.2011 (BGBl. I S. 2515) Deutsche Richterzeitung Deutsche Rechtspflege (1936–1939) Deutsche Rechtsprechung, herausgegeben von Feuerhake (Loseblattsammlung) Drucksache Deutsche Rechts-Zeitschrift (1946 bis 1950) Datenschutz-Berater (Informationsdienst) Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift) Deutsches Strafrecht (1934 bis 1944) Deutsche Strafrechts-Zeitung (1914 bis 1922) Deutsche Steuer-Zeitung deutsch Das Deutsche Bundesrecht, Gesetzessammlung mit Erläuterungen (Loseblattausgabe) Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift Datenschutz und Datensicherheit (Zeitschrift) Demokratie und Recht (Zeitschrift) Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) Durchführungsverordnung Dienst- und Vollzugsordnung Verordnung zur Durchführung der Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung und der Rechtspflege vom 8.9.1939 (RGBl. I S. 1703) Verordnung zur Durchführung der Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sonderstrafgerichte sowie sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften vom 13.3.1940 (RGBl. I S. 489)
Abkürzungsverzeichnis DVP DVR DZWIR E E. & P . ebda. EA EAG EAGV
EAJLG EAW EB EBA EBAO ECBA ECG ECJ ECLAN ECOSOC ECPT
ECRI ECRIS EDS/EDU EDV EEA EFG EG
EGBGB EGFaxÜbk
EGFinSchÜbk
EGFinSchG
Deutsche Verwaltungspraxis – Fachzeitschrift für die öffentliche Verwaltung Datenverarbeitung im Recht (Zeitschrift) Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht Entwurf International Journal of Evidence & Proof Ebenda Vertrag über Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft i.d.F. nach dem 1.5.1999 Europäische Atomgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft vom 25.3.1957, Ges. vom 27.7.1957 (BGBl. II S. 753), Bek. vom 27.12. 1957 (BGBl. 1958 II S. 1) European-Asian Journal of Law and Governance European Arrest Warrant, siehe EuHb Ergänzungsband Europäische Beweisanordnung Einforderungs- und Beitreibungsanordnung i.d.F. der Bek. vom 1.4. 2001 European Criminal Bar Association European Cooperation Group on Undercover Activities (ECG) siehe EuGH (European Court of Justice) European Criminal Law Academic Network Wirtschafts- und Sozialrat (UN) Europäisches Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe vom 26.11.1987 (ETS 126; BGBl. 1989 II S. 946) European Commission against Racism and Intolerance / Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz European Criminal Records Information System Europäische Drogeneinheit (Vorläufer von Europol)/European Drug Unit Elektronische Datenverarbeitung Europäische Ermittlungsanordnung / European Investigation Order (EIO) Entscheidungen der Finanzgerichte (Zeitschrift) Vertrag zur Gründung einer Europäischen Gemeinschaft i.d.F. nach dem 1.5.1999 (vor dem 1.5.1999: EGV); Europäische Gemeinschaft Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch vom 18.8.1896 (RGBl. S. 604) i.d.F. der Bek. vom 21.9.1994 (BGBl. I S. 2494) Abkommen vom 26.5.1989 zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vereinfachung und Modernisierung der Verfahren zur Übermittlung von Auslieferungsersuchen (BGBl. 1995 II S. 969) Übereinkommen vom 26.7.1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (PIF-Konvention; ABlEG Nr. C 316/49 v. 27.11.1995) Gesetz zu dem Übereinkommen vom 26. Juli 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (EGFinanzschutzgesetz) vom 10.9.1998 (BGBl. II S. 2322)
XXIII
Abkürzungsverzeichnis EGG
EGGVG EGH EGInsO EGKS EGKSV EGMR EGMR (GK) EGMR (K) EGMR Serie A/B; Reports
EGMRVerfO
EG-ne bis in idem-Übk
EGOWiG EGStGB 1870 EGStGB 1974 EGStPO EGV EGVollstrÜbk
EGZPO EhrenGHE EHRLR EhrRiVG
Einf. EinigungsV
EinigungsVG
Einl. EIO EIS
XXIV
Gesetz über rechtliche Rahmenbedingungen für den elektronischen Geschäftsverkehr (Elektronischer Geschäftsverkehr-Gesetz) vom 14.12.2001 (BGBl. I S. 3721) Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz vom 27.1.1877 (RGBl. S. 77) Ehrengerichtshof in Anwaltssachen Einführungsgesetz zur Insolvenzordnung vom 5.10.1994 (BGBl. I S. 2911) Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag über die Gründung der EGKS vom 18.4.1951 (BGBl. II S. 447) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (Große Kammer) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (Kammer) Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Sammlung in deutscher Übersetzung, Band, Seite; ab 1996: Reports of Judgments and Decisions) Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Rules of Court) i.d.F. der Bek. vom 1.9.2012 (www.echr.coe. int) Übereinkommen vom 25.5.1987 zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über das Verbot der doppelten Strafverfolgung – EG-ne bis in idem-Übk (BGBl. 1998 II S. 2227) Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten vom 24.5.1968 (BGBl. I S. 503) Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 31.5.1870 (RGBl. S. 195) Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2.3.1974 (BGBl. I S. 469) Einführungsgesetz zur Strafprozeßordnung vom 1.2.1877 Vertrag zur Gründung einer Europäischen Gemeinschaft i.d.F. vor dem 1.5.1999 (nach dem 1.5.1999: EG) Übereinkommen vom 13.11.1991 zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft über die Vollstreckung ausländischer strafrechtlicher Verurteilungen Einführungsgesetz zur Zivilprozeßordnung vom 30.1.1877 (RGBl. S. 244) Ehrengerichtliche Entscheidungen (der Ehrengerichtshöfe der Rechtsanwaltschaft des Bundesgebietes und des Landes Berlin) European Human Rights Law Review Gesetz zur Vereinfachung und Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften zur Wahl und Berufung ehrenamtlicher Richter vom 21.12.2004 (BGBl. I S. 3599) Einführung Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31.8.1990 (BGBl. II S. 889) Gesetz zu dem Vertrag vom 31.8.1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertragsgesetz – und der Vereinbarung vom 18.9.1990 vom 23.9.1990 (BGBl. II S. 885) Einleitung siehe EEA Europol-Informationssystem
Abkürzungsverzeichnis EJB
EJF EJG
EJKoV
EJN EJTAnV
EJTN EKMR EKMRVerfO EL ELJ ELRev EMCDDA EmmingerVO EMRK
ENeuOG
Beschluss des Rates (2002/187/JI) vom 28.2.2002 über die Errichtung von Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität (ABl EG Nr. L 63/1 v. 6.3.2002), geändert durch Beschluss 2003/659/JI des Rates v. 18.6.2003 (ABlEU Nr. L 245 v. 23.9.2003, S. 44) und den Beschluss 2009/426/JI des Rates vom 16.12.2008 zur Stärkung von Eurojust (ABlEU Nr. L 138 v. 4.6. 2009, S. 14. Entscheidungen aus dem Jugend- und Familienrecht (1951–1969) Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses (2002/187/JI) des Rates vom 28. Februar 2002 über die Errichtung von Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität (Eurojust-Gesetz – EJG) vom 12.5.2004 (BGBl. I S. 902), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 7.6.2012 (BGBl. I S. 1270) Verordnung über die Koordinierung der Zusammenarbeit mit Eurojust (Eurojust-Koordinierungs-Verordnung –) v. 26.9.2012 (BGBl. I S. 2093) Europäisches Justitielles Netz / European Judicial Network Verordnung über die Benennung und Einrichtung der nationalen Eurojust-Anlaufstelle für Terrorismusfragen (Eurojust-AnlaufstellenVerordnung –) v. 17.12.2004 (BGBl. I S. 3520), zuletzt geändert durch die VO v. 26.9.2012 (BGBl. I S. 2093) European Judicial Training Network Europäische Kommission für Menschenrechte Verfahrensordnung der Europäischen Kommission für Menschenrechte i.d.F. der Bek. vom 29.5.1991 (BGBl. II S. 838) Ergänzungslieferung European Law Journal European Law Review European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4.1.1924 (RGBl. I S. 23) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950 (BGBl. II S. 685, 953) i.d.F. der Bek. vom 22.10.2010 (BGBl. II S. 1198) 1. ZP-EMRK vom 20.3.1952 (BGBl. 1956 II S. 1880) 2. P-EMRK vom 6.5.1963 (BGBl. 1968 II S. 1112) 3. P-EMRK vom 6.5.1963 (BGBl. 1968 II S. 1116) 4. ZP-EMRK vom 16.9.1963 (BGBl. 1968 II S. 423) 5. P-EMRK vom 20.1.1966 (BGBl. 1968 II S. 1120) 6. ZP-EMRK vom 28.4.1983 (BGBl. 1988 II S. 662) 7. ZP-EMRK vom 22.11.1984 8. P-EMRK vom 19.3.1985 (BGBl. 1989 II S. 547) 9. P-EMRK vom 6.11.1990 (BGBl. 1994 II S. 490) 10. P-EMRK vom 25.3.1992 (BGBl. 1994 II S. 490) 11. P-EMRK vom 11.5.1994 (BGBl. 1995 II S. 578) 12. ZP-EMRK vom 4.11.2000 13. ZP-EMRK vom 3.5.2002 (BGBl. 2004 II S. 982) 14. P-EMRK vom 13.5.2004 (BGBl. 2006 II S. 138) 14bis P-EMRK vom 27.5.2009 15. P-EMRK vom 24.6.2013 16. P-EMRK vom 2.10.2013 Gesetz zur Neuordnung des Eisenbahnwesens (Eisenbahnneuordnungsgesetz – ENeuOG) vom 27.12.1993 (BGBl. I S. 2378)
XXV
Abkürzungsverzeichnis EntlG Entsch. entspr. Entw. Entw. 1908 Entw. 1909
Entw. 1919/1920
Entw. 1930
Entw. 1939 EP EPA EPO EPZ ERA ERA-Forum erg. Erg. ErgBd. Erl. ESA EStG ETS EU EuAbgG EuAlÜbk
EUAlÜbk
EuArch EUBestG
EUC EUCARIS
XXVI
Gesetz zur Entlastung der Gerichte vom 11.3.1921 (RGBl. S. 229) Entscheidung entsprechend Entwurf Entwurf einer Strafprozeßordnung und Novelle zum Gerichtsverfassungsgesetz nebst Begründung (1908), E 1908, MatStrR-Ref. Bd. 11 Entwürfe 1. eines Gesetzes, betreffend Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes, 2. der Strafprozeßordnung (1909), E 1909 RT-Verhandl. Bd. 254 Drucks. Nr. 1310 = MatStrRRef Bd. 12; Bericht der 7. Kommission des Reichstags 1909 bis 1911 zur Vorbereitung der Entwürfe 1. eines Gesetzes betreffend die Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes, 2. einer Strafprozeßordnung, 3. eines zu beiden Gesetzen gehörenden Einführungsgesetzes = MatStrRRef. Bd. 13 Entwürfe 1. eines Gesetzes zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes (1919), 2. eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen (1920), E 1919/1920, MatStrRRef. Bd. 14 Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz 1930, EGStGB-Entw. 1930, RT-Drucks. Nr. 2070 = MatStrRRef. Bd. 7 Entwurf einer Strafverfahrensordnung und einer Friedens- und Schiedsmannsordnung (1939), StPO-Entw. 1939, Nachdruck 1954 Europäisches Parlament Europäisches Patentamt siehe ESA Europäische Politische Zusammenarbeit Europäische Rechtsakademie (Trier) ERA-Forum (Zeitschrift) ergänzend Ergänzung; Ergebnis Ergänzungsband Erlass; Erläuterung(en) Europäische Schutzanordnung / European Protection Order (EPO) Einkommensteuergesetz European Treaty Series; Übereinkommen des Europarates (fortlaufend nummeriert; www.coe.int; ab 1949) Vertrag über die Europäische Union Europaabgeordnetengesetz vom 6.4.1979 (BGBl. I S. 413) Europäisches Auslieferungsübereinkommen vom 13.12.1957 (ETS 024; BGBl. 1964 II S. 1369); 2. ZP EuAlÜbk v. 17.3.1978 (ETS 098; BGBl. 1990 II S. 118; 1991 II S. 874) Übereinkommen vom 27.9.1996 aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABlEG Nr. C 313/11 vom 23.10.1996; BGBl. 1998 II S. 2253) Europa-Archiv Gesetz zu dem Protokoll vom 27. September 1996 zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (EU-Bestechungsgesetz – EUBestG) vom 10.9.1998 (BGBl. II S. 2340) Charta der Grundrechte der Europäischen Union Vertrag über ein Europäisches Fahrzeug- und Führerscheininformationssystem
Abkürzungsverzeichnis EuCLR eucrim EuDrogenÜbk
EuG EuGeldwÜbk
EuGH EuGH Slg. EuGHG
EuGRAG
EuGRZ EuHb EuHbG
EuJCCCJ EuKonv EUMC EuOEÜbk EuR EuRAG EuRhÜbk
EURhÜbk
EurJCrimeCrLJ EURODAC Eurojust Europol
European Criminal Law Review (Zeitschrift) Journal for the Protection of the Financial Interests of the European Communities Übereinkommen vom 31.1.1995 über den unerlaubten Verkehr mit Drogen auf hoher See zur Durchführung des Art. 17 des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 20.12.1988 gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen (ETS 156; BGBl. 2000 II S. 1313) Europäisches Gericht erster Instanz (Luxemburg) Übereinkommen vom 8.11.1990 über Geldwäsche sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten (ETS 141; BGBl. 1998 II S. 519) Gerichtshof der Europäischen Union Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) – Amtliche Sammlung Gesetz vom 6.8.1998 betreffend die Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens auf dem Gebiet der polizeilichen Zusammenarbeit und der justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen nach Art. 35 des EU-Vertrages – EuGHG (BGBl. 1998 I S. 2035; 1999 II S. 728) Gesetz zur Durchführung der Richtlinie des Rates der EG vom 22.3.1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte vom 16.8.1980 (BGBl. I S. 1453) Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europäischer Haftbefehl / European Arrest Warrant (EAW) Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Europäisches Haftbefehlsgesetz – EuHbG) vom 21.7.2004 (BGBl. I S. 1748) und vom 20.7.2006 (BGBl. I S. 1721) European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice (Zeitschrift) Europäischer Konvent siehe ECRI Europäisches Übereinkommen vom 24.11.1983 über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (ETS 116; BGBl. 2000 II S. 1209) Europarecht (Zeitschrift) Gesetz über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland vom 9.3.2000 (BGBl. I S. 182) Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20.4.1959 (ETS 30; BGBl. 1964 II S. 1369; 1976 II S. 1799); ZP EuRhÜbk vom 17.3.1978 (ETS 99; BGBl. 1990 II S. 124; 1991 II S. 909); 2. ZP EuRHÜbk v. 8.11.2001 (ETS 182) Rechtshilfeübereinkommen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 29.5.2000, ABlEG Nr. C 197/1 vom 12.7.2000; ZP EURHÜbk v. 16.10.2001 (ABlEG Nr. C 326/1 vom 21.11.2001) European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice Daktyloskopische Datenbank im Rahmen von Asylantragsverfahren Europäische Justitielle Clearing- und Dokumentationsstelle (Den Haag) Europäisches Polizeiamt (Den Haag)
XXVII
Abkürzungsverzeichnis EuropolÜbk
EuropolG EuroPris EuStA EuTerrÜbk EUV EUVEntw
EUVereinfAlÜbk
EuVKonv
EuZ EuZA EuZW evt. EWG EWGV EWiR EWR-Abk. EYHR EZAR EzSt
f., ff. FamFG
FAG FamPLG FamRZ FAO FG FGG FGO
XXVIII
Übereinkommen vom 26.7.1995 auf Grund von Artikel K.3 des EUV über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamtes, ABlEG Nr. C 316/1 v. 27.11.1995. Europolgesetz vom 16.12.1997 (BGBl. II S. 2150) European Organisation of Prison and Correctional Services Europäische Staatsanwaltschaft (geplant) Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27.1.1977 (ETS 90; BGBl. 1978 II S. 321, 907) Vertrag über die Europäische Union Entwurf einer Europäischen Verfassung i.d.F des am 18.6.2004 zwischen den Staats- und Regierungschefs erzielten Konsenses (Dokument der Regierungskonferenz CIG 86/04 v. 25.6.2004) Übereinkommen vom 10.3.1995 aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABlEG Nr. C 78/1 vom 30.3.1995; BGBl. 1998 II S. 2229) Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa – vom Europäischen Konvent im Konsensverfahren angenommen am 13.6. und 10.7.2003 – dem Präsidenten des Europäischen Rates in Rom überreicht am 18.7.2003 Zeitschrift für Europarecht (Schweiz) Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht eventuell Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25.3.1957 (BGBl. II S. 766) Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht Gesetz zu dem Abkommen vom 2.5.1992 über den Europäischen Wirtschaftsraum European Yearbook on Human Rights Entscheidungssammlung zum Zuwanderungs-, Asyl- und Freizügigkeitsrecht Entscheidungssammlung zum Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht, 1983 bis 1990 (Loseblattausgabe) folgende Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG), Artikel 1 des Gesetzes vom 17.12.2008 (BGBl. I S. 2586, 2009 I S. 1102); zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom 21.7.2012 (BGBl. I S. 1577) Gesetz über Fernmeldeanlagen vom 6.4.1892 i.d.F. der Bek. vom 3.7.1989 (BGBl. I S. 1455); ersetzt durch das TKG Gesetz über Aufklärung, Verhütung, Familienplanung und Beratung vom 27.7.1992 (BGBl. I S. 1398) Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Fachanwaltsordnung i.d.F. der Bek. vom 22.3.1999, zuletzt geändert durch BRAK-Beschluss vom 6.12.2010 Finanzgericht/Festgabe Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit vom 17.5.1898 i.d.F. der Bek. vom 20.5.1898 (RGBl. S. 771) Finanzgerichtsordnung, neugefasst durch Bek. vom 28.3.2001
Abkürzungsverzeichnis
FGPrax FinB FinVerwG FLF FlRG
FIU Fn. FN A FN B FO FoR FP-IPBPR 2. FP-IPBPR
FPR FRA FRONTEX FS FS (Name) FuR G 10
GA
GASP GBA GBl. GBl./DDR I, II GedS gem. GemDatG
GemProt. GenG
(BGBl. I S. 442, 2262, 2002 I S. 679); zuletzt geändert durch Art. 8 des Gesetzes vom 21.7.2012 (BGBl. I S. 1577) Praxis der freiwilligen Gerichtsbarkeit Finanzbehörde Gesetz über die Finanzverwaltung vom 6.9.1950 (BGBl. I S. 448) i.d.F. der Bek. vom 30.8.1971 (BGBl. I S. 1426) Finanzierung Leasing Factoring (Zeitschrift) Gesetz über das Flaggenrecht der Seeschiffe und die Flaggenführung der Binnenschiffe (Flaggenrechtsgesetz) vom 8.2.1951 i.d.F. der Bek. vom 29.10.1994 (BGBl. I S. 3140) Financial Intelligence Unit Fußnote Fundstellennachweis des Deutschen Bundesrechts, Bundesrecht ohne völkerrechtliche Vereinbarungen und Verträge mit der DDR Fundstellennachweis des Deutschen Bundesrechts, Völkerrechtliche Vereinbarungen und Verträge mit der DDR Fernmeldeordnung i.d.F. der Bek. vom 5.5.1971 (BGBl. I S. 541) Forum Recht (Zeitschrift) (1.) Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 (BGBl. 1992 II S. 1247) 2. Fakultativprotokoll zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe vom 15.12. 1989 (BGBl. 1992 II S. 390) Familie Partnerschaft Recht Agentur der Europäischen Union für Grundrechte / Agency for Fundamental Rights Europäische Grenzschutzagentur Forum Strafvollzug – Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe (früher ZfStrV) Festschrift, auch Festgabe usw. (angefügt Name des Geehrten) Familie und Recht Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses vom 26.6.2001 (BGBl. I S. 1254), zuletzt geändert durch Art. 5 des Gesetzes vom 7.12.2011 (BGBl. I S. 2576), (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz) Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, zitiert nach Jahr und Seite (bis 1933: Archiv für Strafrecht und Strafpolitik, zitiert nach Band und Seite) Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Generalbundesanwalt Gesetzblatt Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Teil I und II (1949 bis 1990) Gedächtnisschrift (angefügt Name des Geehrten) gemäß Gesetz zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder vom 22.12. 2006 (Gemeinsame-Dateien-Gesetz) (BGBl. I S. 3409) Gemeinsames Protokoll Gesetz betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften vom 1.5.1889, neugefasst durch Bek. vom 16.10.2006 (BGBl. I
XXIX
Abkürzungsverzeichnis
GenStA GerS Ges. GeschlkrG GeschO GETZ GewO
GewSchG
GewVerbrG GG ggf. GKG GKI GKÖD GLJ GmbH GmbHG
GMBl. GmS-OGB GnO GNotKG GoJIL GoltdA grds. GRECO GreifRecht GRETA GREVIO GrSSt Gruchot GRUR GRURInt GS
XXX
S. 2230); zuletzt geändert durch Art. 10 des Gesetzes vom 25.5.2009 (BGBl. I S. 1102) Generalstaatsanwaltschaft Der Gerichtssaal (1849–1942) Gesetz Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 23.7.1953 (BGBl. I S. 700) Geschäftsordnung Gemeinsames Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum Gewerbeordnung vom 21.6.1869, neugefasst durch Bek. vom 22.2. 1999 (BGBl. I S. 202); zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom 15.12.2011 (BGBl. I S. 2714) Gesetz vom 11.12.2001 zur Verbesserung des zivilgerichtlichen Schutzes bei Gewalttaten und Nachstellungen sowie zur Erleichterung der Überlassung der Ehewohnung bei Trennung (Gewaltschutzgesetz – GewSchG; BGBl. I S. 3513) Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24.11.1933 (RGBl. I S. 995) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.5.1949 (BGBl. S. 1) gegebenenfalls Gerichtskostengesetz vom 5.5.2004 (BGBl. I S. 718); zuletzt geändert durch Art. 4 des Gesetzes vom 19.10.2012 (BGBl. I S. 2182) Gemeinsame Kontrollinstanz (jeweils eingerichtet bei Europol und Eurojust) Gesamtkommentar Öffentliches Dienstrecht German Law Journal (Internet-Zeitschrift; www.germanlawjournal. de) Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung vom 20.4.1892 (RGBl. S. 477); zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 22.12.2011 (BGBl. I S. 3044) Gemeinsames Ministerialblatt Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes Gnadenordnung Gesetz über Kosten der freiwilligen Gerichtsbarkeit für Gerichte und Notare (Gerichts- und Notarkostengesetz) v. 23.7.2013 Göttingen Journal of International Law (Online-Zeitschrift) s. GA grundsätzlich Group of States against Corruption Greifswalder Halbjahresschrift für Rechtswissenschaft Group of Experts on Action against Trafficking in Human Beings Expertengruppe zur Überwachung des Übereinkommens zum Schutz von Frauen vor Gewalt und häuslicher Gewalt (CETS 210) Großer Senat in Strafsachen Beiträge zur Erläuterung des deutschen Rechts, begründet von Gruchot Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Zeitschrift) Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht International (Zeitschrift) Gesetzessammlung
Abkürzungsverzeichnis GSNW GSSchlH GStA GÜG
GÜV GV GVBl. GVBl. II GVG GVGA GVGÄG 1971 GVGÄG 1974 GVG/DDR
GVO GVVO
GWB GwG GWR GYIL Haager Abk. HalbleiterschutzG
Hamb. HambJVBl. Hans. HansGZ HansJVBl. HansOLGSt HansRGZ HansRZ
HbStrVf/Verfasser
Sammlung des bereinigten Landesrechts Nordrhein-Westfalen (1945– 56) Sammlung des schleswig-holsteinischen Landesrechts, 2 Bde. (1963) Generalstaatsanwalt Gesetz zur Überwachung des Verkehrs mit Grundstoffen, die für die unerlaubte Herstellung von Betäubungsmitteln mißbraucht werden können (Grundstoffüberwachungsgesetz – GÜG) vom 7.10.1994 (BGBl. I S. 2835) Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote vom 24.5.1961 (BGBl. I S. 607) Gemeinsame Verfügung (mehrerer Ministerien) Gesetz- und Verordnungsblatt Sammlung des bereinigten Hessischen Landesrechts Gerichtsverfassungsgesetz vom 27.1.1877 i.d.F. der Bek. vom 9.5. 1975 (BGBl. I S. 1077) Geschäftsanweisung für Gerichtsvollzieher Gesetz zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 8.9.1971 (BGBl. I S. 1513) Gesetz zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 25.3.1974 (BGBl. I S. 761) Gesetz über die Verfassung der Gerichte der Deutschen Demokratischen Republik – Gerichtsverfassungsgesetz – vom 27.9.1974 (GBl. I S. 457), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5.7.1990 (GBl. I S. 595) Gerichtsvollzieherordnung Verordnung zur einheitlichen Regelung der Gerichtsverfassung vom 20.3.1935 (RGBl. I S. 403) in der im BGBl. III Gliederungsnummer 300-5 veröffentlichten bereinigten Fassung Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 27.7.1957 i.d.F. der Bek. vom 26.8.1998 (BGBl. I S. 2546) Gesetz über das Aufspüren von Gewinnen aus schweren Straftaten (Geldwäschegesetz – GwG) vom 25.10.1993 (BGBl. I S. 1770) Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht (Zeitschrift) German Yearbook of International Law (Zeitschrift) Haager Abkommen über den Zivilprozeß vom 17.7.1905 (RGBl. 1909 S. 409) Gesetz über den Schutz der Topographien von mikroelektronischen Halbleitererzeugnissen (Halbleiterschutzgesetz) vom 22.10.1987 (BGBl. I S. 2294) Hamburg Hamburgisches Justizverwaltungsblatt Hanseatisch Hanseatische Gerichtszeitung (1880 bis 1927) Hanseatisches Justizverwaltungsblatt (bis 1946/47) Entscheidungen des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Strafsachen (1879 bis 1932/33) Hanseatische Rechts- und Gerichtszeitschrift (1928–43), vorher: Hanseatische Rechtszeitschrift für Handel, Schiff-Fahrt und Versicherung, Kolonial- und Auslandsbeziehungen sowie für Hansestädtisches Recht (1918 bis 1927) Handbuch zum Strafverfahren, hrsg. von Heghmanns/Scheffler
XXXI
Abkürzungsverzeichnis HdR Hess. HESt
HGB h.M. HmbStVollzG HRC HRLR HRN HRR HRRS HRSt HRLJ Hs. HSOG HStVollzG HUDOC HuV-I HV IAGMR ICC ICJ ICLQ ICLR ICPA i.d.F. i.d.R. i.e.S. IFCCLGE IGH i.H.v. IKV ILO InfAuslR INPOL InsO IPBPR IPBPRG IPWSKR IRG
XXXII
Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, herausgegeben von StierSomlo und Elster (1926 bis 1937) Hessen Höchstrichterliche Entscheidungen, Sammlung von Entscheidungen der Oberlandesgerichte und der Obersten Gerichte in Strafsachen (1948–49) Handelsgesetzbuch vom 10.5.1897 (RGBl. S. 219) herrschende Meinung Hamburgisches Strafvollzugsgesetz Human Rights Committee – UN-Menschenrechtsausschuss Human Rights Law Review Hamburger Rechtsnotizen (Zeitschrift) Höchstrichterliche Rechtsprechung (1928 bis 1942) Online-Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht (www.hrr-strafrecht.de) Entscheidungen zum Strafrecht, Strafverfahrensrecht und zu den Nebengebieten (Höchstrichterliche Rechtsprechung) (ab 1996) Human Rights Law Journal Halbsatz Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung Hessisches Strafvollzugsgesetz Human Rights Documentation des Europarates Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften Hauptverhandlung Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte siehe IStGH siehe IGH The International and Cooperative Law Quarterly International Criminal Law Review International Corrections and Prisons Association in der Fassung in der Regel im engeren Sinne International Forum on Crime and Criminal Law in the Global Era (Peking) Internationaler Gerichtshof ICJ (Den Haag) in Höhe von Internationale Kriminalistische Vereinigung International Labour Organization (Internationale Arbeitsorganisation) Informationsbrief Ausländerrecht Informationssystem der Polizei Insolvenzordnung vom 5.10.1994 (BGBl. I S. 2866); zuletzt geändert durch Art. 19 des Gesetzes vom 20.12.2011 (BGBl. I S. 2854) Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 (BGBl. 1973 II S. 1534) Zustimmungsgesetz zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 15.11.1973 (BGBl. II S. 1533) Internationaler Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte vom 19.12.1966 (BGBl. 1973 II S. 1570) Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen i.d.F. der
Abkürzungsverzeichnis
i.S. i.S.d. IStR i.S.v. IStGH IStGHG IStGHStG
ITRB Iurratio i.V.m. IWG i.w.S. JA JahrbÖR JahrbPostw. JAVollzO JBeitrO JBl. JBlRhPf. JBlSaar JGG JICJ JIR JK JKassO JKomG
JKostG JMBl. JMBlNRW, JMBlNW JMK JoJZG JOR JöR JP JR JRP JSt JugG JugK JugSchG
Bek. vom 27.6.1994 (BGBl. I S. 1537); zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 21.7.2012 (BGBl. I S. 1566) im Sinne im Sinne des/der Internationales Steuerrecht – Zeitschrift für europäische und internationale Wirtschaftsberatung im Sinne von Internationaler Strafgerichtshof ICC (Den Haag) Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof vom 21.6.2002 (BGBl. I S. 2144) Gesetz vom 4.12.2000 zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 – IStGH-Statutgesetz (BGBl. II S. 1393) IT-Rechts-Berater Zeitschrift für Stud. Iur und junge Juristen in Verbindung mit International Working Group on Police Undercover Activities im weiteren Sinne Juristische Arbeitsblätter für Ausbildung und Examen Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Jahrbuch des Postwesens (1937 bis 1941/42) Jugendarrestvollzugsordnung vom 12.8.1966 i.d.F. der Bek. vom 30.11.1976 (BGBl. I S. 3270) Justizbeitreibungsordnung vom 11.3.1937 (RGBl. I S. 298) Justizblatt / Juristische Blätter (Österreich) Justizblatt Rheinland-Pfalz Justizblatt des Saarlandes Jugendgerichtsgesetz vom 4.8.1953 i.d.F. der Bek. vom 11.12.1974 (BGBl. I S. 3427) Journal of International Criminal Justice Jahrbuch für internationales Recht Jura-Kartei Justizkassenordnung Gesetz über die Verwendung elektronischer Kommunikationsformen in der Justiz (Justizkommunikationsgesetz – JKomG) vom 22.3.2005 (BGBl. I S. 832) Justizkostengesetz (Landesrecht) Justizministerialblatt Justizministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Justizministerkonferenz (Konferenz der Landesjustizministerinnen und -minister) Journal der Juristischen Zeitgeschichte Jahrbuch für Ostrecht Jahrbuch des öffentlichen Rechts Juristische Person Juristische Rundschau Journal für Rechtspolitik Journal für Strafrecht Jugendgericht Jugendkammer Jugendschöffengericht
XXXIII
Abkürzungsverzeichnis JugStrafgG
Jura JurBüro JurJahrb. JuS Justiz JV JVA JVBl. JVEG
JVerwA JverwB JVKostG JVKostO
JVollz. JVollzGB JW JZ 1. JuMoG 2. JuMoG
Kap. KAS KFZ KG KGJ
KJ KO KoDD KOM KonsG KostÄndG KostRMoG 2. KostRMoG
XXXIV
Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (Jugoslawien-Strafgerichtshof-Gesetz) vom 10.4.1995 (BGBl. I S. 485) Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Das juristische Büro (Zeitschrift) Juristen-Jahrbuch Juristische Schulung (Zeitschrift) Die Justiz, Amtsblatt des Justizministeriums Baden-Württemberg Justizverwaltung Justizvollzugsanstalt Justizverwaltungsblatt Gesetz über die Vergütung von Sachverständigen, Dolmetscherinnen, Dolmetschern, Übersetzerinnen und Übersetzern sowie die Entschädigung von ehrenamtlichen Richterinnen, ehrenamtlichen Richtern, Zeuginnen, Zeugen und Dritten (Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz) vom 5.5.2004 (BGBl. I S. 718) Justizverwaltungsakt Justizverwaltungsbehörde Gesetz über Kosten in Angelegenheiten der Justizverwaltung v. 23.7. 2013 (BGBl. I S. 2586) Verordnung über Kosten im Bereich der Justizverwaltung vom 14.2. 1940 (RGBl. I S. 357) – ersetzt durch das JVKostG mit Wirkung zum 1.8.2013 Jugendstrafvollzugsordnung: s. auch JAVollzO Gesetzbuch über den Justizvollzug in Baden-Württemberg Juristische Wochenschrift Juristen-Zeitung Erstes Gesetz zur Modernisierung der Justiz (1. Justizmodernisierungsgesetz) vom 24.8.2004 (BGBl. I S. 2198) Zweites Gesetz zur Modernisierung der Justiz (2. Justizmodernisierungsgesetz) vom 22.10.2006 (BGBl. I S. 3416) Kapitel Konrad-Adenauer-Stiftung Kraftfahrzeug Kammergericht/Kommanditgesellschaft Jahrbuch der Entscheidungen des Kammergerichts in Sachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit, in Kosten-, Stempel- und Strafsachen (1881–1922) Kritische Justiz (Zeitschrift) Konkursordnung vom 10.2.1877 i.d.F. der Bek. vom 20.5.1898 (RGBl. S. 612) Koordinierungsdauerdienst (Eurojust) Dokument(e) der Europäischen Kommission Gesetz über die Konsularbeamten, ihre Aufgaben und Befugnisse (Konsulargesetz) vom 1.9.1974 (BGBl. I S. 2317) Gesetz zur Änderung und Ergänzung kostenrechtlicher Vorschriften vom 26.7.1957 (BGBl. I S. 861) Gesetz zur Modernisierung des Kostenrechts vom 5.5.2004 – Kostenrechtsmodernisierungsgesetz (BGBl. I S. 718) Zweites Gesetz zur Modernisierung des Kostenrechts vom 23.7.2013 – 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz (BGBl. I S. 2586)
Abkürzungsverzeichnis KostMaßnG KostO
KostRÄndG 1994
KostRspr. KostVfg. K&R KrG Kriminalist Kriminalistik KrimJ KrimPäd. Krit. KritV / CritQ / RCrit
KronzG
KronzVerlG
2. KronzVerlG
KSI KSZE KUG KUP KuR KUR k+v KVGKG KWKG
LegPer. Lfg. LG
Gesetz über Maßnahmen auf dem Gebiet des Kostenrechts vom 7.8.1952 (BGBl. I S. 401) Gesetz über die Kosten in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit i.d.F. der Bek. vom 26.7.1957 (BGBl. I S. 861) – ersetzt durch das GNotKG mit Wirkung zum 1.8.2013 Gesetz zur Änderung von Kostengesetzen und anderen Gesetzen (Kostenrechtsänderungsgesetz 1994 – KostRÄndG 1994) vom 24.6. 1994 (BGBl. I S. 1325) Kostenrechtsprechung (Loseblattsammlung) Kostenverfügung, Durchführungsbestimmungen zu den Kostengesetzen Kommunikation und Recht (Zeitschrift) Kreisgericht Der Kriminalist (Zeitschrift) Kriminalistik, Zeitschrift für die gesamte kriminalistische Wissenschaft und Praxis Kriminologisches Journal Kriminalpädagogische Praxis (Zeitschrift) Kritisch Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft / Critical Quarterly for Legislation and Law / Revue critique trimestrielle de jurisprudence et de législation Gesetz zur Einführung einer Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten (Art. 4 des StGBÄndG 1989) vom 9.6.1989 (BGBl. I S. 1059) Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und des Versammlungsgesetzes und zur Einführung einer Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten (Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetz) vom 16.2.1993 (BGBl. I S. 238) Zweites Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und des Versammlungsgesetzes und zur Einführung einer Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten (2. Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetz) vom 19.1.1996 (BGBl. I S. 58) Krisen-, Sanierungs- und Insolvenzberatung (Zeitschrift) Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Gesetz über das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Fotografie vom 9.1.1907 (RGBl. S. 7 ) Kriminologie und Praxis (Schriftenreihe der Kriminologischen Zentralstelle) Kirche und Recht (Zeitschrift) Kunst und Recht (Zeitschrift) Kraftfahrt und Verkehrsrecht, Zeitschrift der Akademie für Verkehrswissenschaft Kostenverzeichnis (Anlage 1 zum GKG) Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen i.d.F. der Bek. vom 22.11.1990 (BGBl. I S. 2506) Legislaturperiode Lieferung Landgericht
XXXV
Abkürzungsverzeichnis LJV LKA LKV LM LMBG
LMG (1936)
LPartG LPG LRE Ls. LuftFzgG LuftVG LuftVO LV LVerf. LVG LZ MABl. MarkenG
Mat. MatStrRRef. MBl. MDR MedR MiStra. MittKV MMR MOG MONEYVAL Mot. MR MRG MSchrKrim. MSchrKrimPsych.
XXXVI
Landesjustizverwaltung Landeskriminalamt Landes- und Kommunalverwaltung (Zeitschrift) Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs (Loseblattsammlung), hrsg. von Lindenmaier/Möhring u.a. Gesetz über den Verkehr mit Lebensmitteln, Tabakerzeugnissen, kosmetischen Mitteln und sonstigen Bedarfsgegenständen (Lebensmittelund Bedarfsgegenständegesetz) i.d.F. der Bek. vom 9.9.1997 (BGBl. I S. 2297) Gesetz über den Verkehr mit Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen (Lebensmittelgesetz) vom 5.7.1927 i.d.F. der Bek. vom 17.1.1936 (RGBl. I S. 17) Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft (Lebenspartnerschaftsgesetz) vom 16.2.2001 (BGBl. I S. 266) Landespressegesetz Sammlung lebensmittelrechtlicher Entscheidungen Leitsatz Gesetz über Rechte an Luftfahrzeugen vom 26.2.1959 (BGBl. I 57) Luftverkehrsgesetz i.d.F. der Bek. vom 27.3.1999 (BGBl. I S. 550) Luftverkehrs-Ordnung i.d.F. der Bek. vom 27.3.1999 (BGBl. I S. 580) Literaturverzeichnis, Schrifttumsverzeichnis Landesverfassung Landesverwaltungsgericht Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht (1907 bis 1933) Ministerialamtsblatt Gesetz über den Schutz von Marken und sonstigen Kennzeichen (Markengesetz – MarkenG) vom 25.10.1994 (BGBl. I S. 3082, 1995 I S. 156, 1996 I S. 682); zuletzt geändert durch Art. 15 des Gesetzes vom 24.11.2011 (BGBl. I S. 2302) s. Hahn Materialien zur Strafrechtsreform, herausgegeben vom BMJ, Bd. 1–15 (1954–1960) (s. auch Entw.) Ministerialblatt Monatsschrift für Deutsches Recht Medizinrecht (Zeitschrift) Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen vom 15.3.1985 i.d.F. der Bek. vom 29.4.1998, bundeseinheitlich Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (1889 bis 1914; 1926 bis 1933) MultiMedia und Recht (Zeitschrift) Gesetz zur Durchführung der Gemeinsamen Marktorganisation vom 31.8.1972 (BGBl. I S. 1617) Committee of Experts on the Evaluation of Anti-Money Laundering Measures and the Financing of Terrorism Begründung zur Strafprozeßordnung bei Hahn (s. dort) Medien und Recht (Österreich) Militärregierungsgesetz Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform (1904/05 bis 1936)
Abkürzungsverzeichnis MStGO Muster-Entw.
MV m.w.B. m.w.N. NachtrSichVG NATO-Truppenstatut
Nds. NdsAGGVG NdsRpfl. n.F. N.F. Nieders. GVBl. Sb. I, II NJ NJECL NJOZ NJVollzG NJW NKrimpol. NL noeP NordÖR NotVO NPA NRO NRW NRWO NStE NStZ NStZ-RR NuR NVwZ NWB NWVBl. NZA NZA-RR NZI NZM NZS NZV NZWehrr
Militärstrafgerichtsordnung i.d.F. der Bek. vom 29.9.1936 (RGBl. I S. 755) Muster-Entwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes, verabschiedet von der JMK am 10./11.6.1976, geändert durch Beschluss der JMK vom 25.11.1977 Mecklenburg-Vorpommern mit weiteren Beispielen mit weiteren Nachweisen Gesetz zur Einführung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23.7.2004 (BGBl. I S. 1838) Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrags vom 19.6.1951 über die Rechtsstellung ihrer Truppen (BGBl. 1961 II S. 1183, 1190), Bek. vom 16.6.1963 (BGBl. II S. 745) Niedersachsen Niedersächsisches Ausführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz vom 5.4.1963 (GVBl. S. 225) Niedersächsische Rechtspflege neue Fassung Neue Folge Niedersächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt, Sonderband I und II, Sammlung des bereinigten niedersächsischen Rechts Neue Justiz (bis 1990 DDR) New Journal of European Criminal Law Neue Juristische Online-Zeitschrift (nur über beck-online abrufbar) Niedersächsisches Justizvollzugsgesetz Neue Juristische Wochenschrift Neue Kriminalpolitik (Zeitschrift) Newsletter Menschenrechte Nicht offen ermittelnder Polizeibeamter Zeitschrift für Öffentliches Recht in Norddeutschland s. Ausn. VO Neues Polizei-Archiv Nichtregierungsorganisation Nordrhein-Westfalen (österreichisches) Bundesgesetz über die Wahl des Nationalrates (Nationalrats-Wahlordnung 1992) Neue Entscheidungssammlung für Strafrecht Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ – Rechtsprechungs-Report (Zeitschrift, ab 1996) Natur und Recht (Zeitschrift) Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NWB Steuer- und Wirtschaftsrecht (Zeitschrift) Nordrheinwestfälische Verwaltungsblätter Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht NZA-Rechtsprechungs-Report Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Insolvenzrecht Neue Zeitschrift für Miet- und Wohnungsrecht Neue Zeitschrift für Sozialrecht Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht Neue Zeitschrift für Wehrrecht
XXXVII
Abkürzungsverzeichnis NZWiSt
Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht
OASG
Gesetz zur Sicherung der zivilrechtlichen Ansprüche der Opfer von Straftaten (Opferanspruchsicherungsgesetz) vom 8.5.1998 (BGBl. I S. 905) Oberstes Landesgericht Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten vom 11.5. 1976 (BGBl. I S. 1181) i.d.F. der Bek. vom 7.1.1985 (BGBl. I S. 1) Osteuropa-Recht Oberstes Gericht der DDR Oberster Gerichtshof (Österreich) Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone in Strafsachen (1949/50) Österreichische Juristen-Zeitung Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung (Office Européen de Lutte Anti-Fraude) Oberlandesgericht OLG-Report Neue Länder OLG-Report Entscheidungen der Oberlandesgerichte zum Straf- und Strafverfahrensrecht (Loseblattausgabe, bis 1983) Entscheidungen der Oberlandesgerichte zum Straf- und Strafverfahrensrecht, Neue Folge (Loseblattausgabe, ab 1983) Gesetz zur Änderung des Rechts der Vertretung durch Rechtsanwälte vor den Oberlandesgerichten vom 23.7.2002 (BGBl. I S. 2850) siehe UNCAT Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren (Opferrechtsreformgesetz – OpferRRG) vom 24.6.2004 (BGBl. I S. 1354) Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz) vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2280) Erstes Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren (Opferschutzgesetz) vom 18.12.1986 (BGBl. I S. 2496) Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG) vom 15.7.1992 (BGBl. I S. 1302) Anordnung über Organisation und Dienstbetrieb der Staatsanwaltschaften Österreichische Richterzeitung Österreichische Raiffeisen-Zeitung Oberstaatsanwalt Österreichisches Anwaltsblatt Österreichisches Strafvollzugsgesetz Österreichische Steuerzeitung Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Österreichischer Verfassungsgerichtshof Oberverwaltungsgericht Gesetz zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten (der Deutschen
ObLG OECD OEG OER OG OGH OGHSt ÖJZ OLAF OLG OLG-NL OLGR OLGSt OLGSt N. F OLGVertrÄndG OPCAT OpferRRG
2. OpferRRG
OpferschutzG OrgKG
OrgStA ÖRiZ ÖRZ OStA ÖstAnwBl. öStVG ÖStZ OSZE ÖVerfG OVG OWG/DDR
XXXVIII
Abkürzungsverzeichnis
OWiG
OWiGÄndG
ParlStG PartG PaßG PatAnwO PatG
PAuswG PD-I PD-IM PD-JS PD-RfA PD-SEF PD-WP PflVG PJZS PKH PKHÄndG
PlenProt. PNR POGNW PolGBW Polizei PostG PostO PostStruktG
Pr. prALR PräsLG PräsOLG
Demokratischen Republik) vom 12.1.1968 (GBl. I S. 101), zuletzt geändert durch Gesetz vom 29.6.1990 (GBl. I S. 526) Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, neugefasst durch Bek. vom 19.2. 1987 (BGBl. I S. 602); zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2353) Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten, des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 7.7.1986 (BGBl. I S. 977) Gesetz über die Rechtsverhältnisse der parlamentarischen Staatssekretäre vom 24.7.1974 (BGBl. I S. 1538) Gesetz über die politischen Parteien (Parteiengesetz) neugefasst durch Bek. v. 31.1.1994, BGBl. I S. 149 Paßgesetz vom 19.4.1986 (BGBl. I S. 537) Patentanwaltsordnung vom 7.9.1966 (BGBl. I S. 557); zuletzt geändert durch Art. 12 des Gesetzes vom 6.12.2011 (BGBl. I S. 2515) Patentgesetz, neugefasst durch Bek. vom 16.12.1980 (BGBl. 1981 I S. 1); zuletzt geändert durch Art. 13 des Gesetzes vom 24.11.2011 (BGBl. I S. 2302) Gesetz über Personalausweise vom 19.12.1950 (BGBl. I S. 807) i.d.F. der Bek. vom 21.4.1986 (BGBl. I S. 548) Practice Direction – Institution of Proceedings (EGMR) Practice Direction – Interim Measures (EGMR) Practice Direction – Just Satisfaction Claims (EGMR) Practice Direction – Request for Anonymity (EGMR) Practice Direction – Secured Electronic Filing Practice Direction – Written Pleadings (EGMR) Gesetz über die Pflichtversicherung für Kraftfahrzeughalter i.d.F. der Bek. vom 5.4.1965 (BGBl. I S. 213) Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Prozesskostenhilfe Gesetz zur Änderung von Vorschriften über die Prozeßkostenhilfe (Prozeßkostenhilfeänderungsgesetz – PKHÄndG) vom 10.10.1994 (BGBl. I S. 2954) Plenarprotokoll, Stenographische Berichte der Sitzungen des Deutschen Bundestages Passenger Name Record Polizeiorganisationsgesetz (des Landes NRW) i.d.F. der Bek. vom 22.10.1994 (GVNW S. 852) Polizeigesetz (des Landes BW) i.d.F. der Bek. vom 13.1.1992 (GBl. S. 1) s. Die Polizei Gesetz über das Postwesen i.d.F. der Bek. vom 3.7.1989 (BGBl. I S. 1449) Postordnung vom 16.5.1963 (BGBl. I S. 341) Gesetz zur Neustrukturierung des Post- und Fernmeldewesens und der Deutschen Bundespost (Poststrukturgesetz – PoststruktG) vom 8.6.1989 (BGBl. I S. 1026) Preußen Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten Präsident des Landgerichts Präsident des Oberlandesgerichts
XXXIX
Abkürzungsverzeichnis PräsVerfG
PrGS PrG Prot. ProzeßkostenhG Pro-Eurojust PrPG
PrZeugnVerwG PStR PTNeuOG
PUAG
PV PVG PVR RA RabelsZ RAG/DDR RAHG RANotz.PrG
RAO RAussch. RB RBEuHb
RBerG
RdA RdErl. RDG RDH RDIDC RdJ RdK RdM RDStH
XL
Gesetz über die Änderung der Bezeichnungen der Richter und ehrenamtlichen Richter und der Präsidialverfassungen der Gerichte vom 26.5.1972 (BGBl. I S. 841) Preußische Gesetzessammlung (1810–1945) Pressegesetz (Landesrecht) Protokoll Gesetz über die Prozeßkostenhilfe vom 13.6.1980 (BGBl. I S. 677) Vorgänger- und Gründungseinheit von Eurojust Gesetz zur Stärkung des Schutzes des geistigen Eigentums und zur Bekämpfung der Produktpiraterie (PrPG) vom 7.3.1990 (BGBl. I S. 422) Gesetz über das Zeugnisverweigerungsrecht der Mitarbeiter von Presse und Rundfunk vom 25.7.1975 (BGBl. I S. 1973) Praxis Steuerstrafrecht Gesetz zur Neuordnung des Postwesens und der Telekommunikation (Postneuordnungsgesetz – PTNeuOG) vom 14.9.1994 (BGBl. I S. 2325) Gesetz zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages (Untersuchungsausschussgesetz – PUAG) vom 19.6.2001 (BGBl. I S. 1142) Personenvereinigung Polizeiverwaltungsgesetz Praxis Verkehrsrecht Rechtsanwalt Rabels-Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Rechtsanwaltsgesetz der Deutschen Demokratischen Republik vom 13.9.1990 (GBl. I S. 1504) s. RHG Gesetz zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen, Notarbestellungen und Berufungen ehrenamtlicher Richter vom 24.6.1992 (BGBl. I S. 1386) Reichsabgabenordnung vom 13.12.1919, aufgehoben durch AO vom 16.3.1976 Rechtsausschuss Rahmenbeschluss (Art. 34 EU) Rahmenbeschluss des Rates (2002/584/JI) vom 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABlEU Nr. L 190/1 v. 18.7.2002) Gesetz zur Verhütung von Mißbrauch auf dem Gebiet der Rechtsberatung vom 13.12.1935 (RGBl. I S. 1478); aufgehoben durch Art. 20 des Gesetzes vom 12.12.2007 (BGBl. I S. 2840) Recht der Arbeit Runderlass Gesetz über außergerichtliche Rechtsdienstleistungen (Rechtsdienstleistungsgesetz – RDG) vom 12.12.2007 (BGBl. I. S. 2840) Revue des Droits de l’Homme Revue de droit international et de droit comparé Recht der Jugend und des Bildungswesens (Zeitschrift) Das Recht des Kraftfahrers (1926–43, 1949–55) Recht der Medizin Entscheidungen des Reichsdienststrafhofs (1939–41)
Abkürzungsverzeichnis RDStO RDV Recht recht RefE Reg. RegBl. RegE RegE TKÜ
RehabG Res. RevMC Rev.trim.dr.h. RG RGBl. I, II RGRspr. RGSt RGZ RheinSchA RHG RHGDVO
RhPf. RiA RichtlRA RiG/DDR RiJGG RiStBV
RiVASt RIW RKG(E) RL RMBl. RMilGE Rn. ROW RpflAnpG
Reichsdienststrafordnung vom 26.1.1937 (RGBl. I S. 71) Recht der Datenverarbeitung Das Recht, begründet von Soergel (1897 bis 1944) Information des Bundesministers der Justiz Referentenentwurf Regierung Regierungsblatt Regierungsentwurf Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/EG vom 18.4.2007 Rehabilitierungsgesetz (der Deutschen Demokratischen Republik) von 6.9.1990 (GBl. I S. 1459), aufgehoben durch StrRehaG Resolution Revue du Marché commun et de l’Union européenne Revue trimestrielle des droits de l’homme Reichsgericht Reichsgesetzblatt, von 1922 bis 1945 Teil I und II Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen (1879 bis 1888) Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Revidierte Rheinschiffahrtsakte (Mannheimer Akte) i.d.F. der Bek. vom 11.3.1969 (BGBl. II S. 597) Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen vom 2.5.1953 (BGBl. I S. 161) Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen vom 23.12.1953 (BGBl. I S. 1569) Rheinland-Pfalz Recht im Amt Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts – Richtlinien gem. § 177 Abs. 2 Satz 2 BRAO vom 21.6.1973 Richtergesetz der Deutschen Demokratischen Republik vom 5.7.1990 (GBl. I S. 637) Richtlinien zum Jugendgerichtsgesetz Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren vom 1.12.1970 (BAnz. Nr. 17/1971), i.d.F. der Bek. vom 1.2.1997 mit spät. Änderungen, bundeseinheitlich Richtlinien für den Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten Recht der Internationalen Wirtschaft (Zeitschrift) Reichskriegsgericht (Entscheidungen des RKG) Richtlinie Reichsministerialblatt, Zentralblatt für das Deutsche Reich (1923– 45) Entscheidungen des Reichsmilitärgerichts Randnummer Recht in Ost und West (Zeitschrift) Gesetz zur Anpassung der Rechtspflege im Beitrittsgebiet (Rechtspflege-Anpassungsgesetz – RpflAnpG) vom 26.6.1992 (BGBl. I S. 1147)
XLI
Abkürzungsverzeichnis RpflAnpÄndG Rpfleger RpflEntlG RpflG RpflVereinfG Rspr. RT RTDE RTDrucks. RTVerh. RuP RVerf. RVG RVO RZ R&P r+s S. Sa. SaAnh. SaBremR SächsArch. SächsOLG SAM SchAZtg SchiedsmZ SchiedsstG SchlH SchlHA SchrR SchrRAGStrafR SchRG SchrRBRAK SchwarzArbG
SchwGBG
SchwJZ SchwZStr SDÜ
XLII
Gesetz zur Änderung des Rechtspflege-Anpassungsgesetzes – RpflAnpG vom 7.12.1995 (BGBl. I S. 1590) Der Deutsche Rechtspfleger Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.1993 (BGBl. I S. 50) Rechtspflegergesetz vom 5.11.1969 (BGBl. I S. 2065) Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz vom 17.12.1990 (BGBl. I S. 2847) Rechtsprechung Reichstag Revue trimestrielle de droit européen Drucksachen des Reichstags Verhandlungen des Reichstags Recht und Politik (Zeitschrift) s. WeimVerf. Gesetz über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte – Rechtsanwaltsvergütungsgesetz vom 5.5.2004 (BGBl. I S. 718) Reichsversicherungsordnung vom 19.7.1911 i.d.F. der Bek. vom 15.12.1924 (RGBl. I S. 779) siehe: ÖRiZ Recht und Psychiatrie (Zeitschrift) Recht und Schaden (Zeitschrift) Satz, Seite Sachsen Sachsen-Anhalt Sammlung des bremischen Rechts (1964) Sächsisches Archiv für Rechtspflege, seit 1924 (bis 1941/42) Archiv für Rechtspflege in Sachsen, Thüringen und Anhalt Annalen des Sächsischen Oberlandesgerichts zu Dresden (1880 bis 1920) Steueranwaltsmagazin Schiedsamtszeitung Schiedsmannszeitung (1926 bis 1945), seit 1950 Der Schiedsmann Gesetz (der Deutschen Demokratischen Republik) über die Schiedsstellen in den Gemeinden vom 13.9.1990 (GBl. I S. 1527) Schleswig-Holstein Schleswig-Holsteinische Anzeigen Schriftenreihe Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht im Deutschen Anwaltverein Gesetz über Rechte an eingetragenen Schiffen und Schiffsbauwerken vom 15.11.1940 (RGBl. I S. 1499) Schriftenreihe der Bundesrechtsanwaltskammer Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung vom 23.7.2004 (Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz – SchwarzArbG), BGBl. I S. 1842 Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Geldwäsche und Steuerhinterziehung vom 28.4.2011 (Schwarzgeldbekämpfungsgesetz), BGBl. I S. 676 Schweizerische Juristenzeitung Schweizer Zeitschrift für Strafrecht Übereinkommen vom 19.6.1990 zwischen dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, der Französischen Republik, dem
Abkürzungsverzeichnis
1. SED-UnberG
2. SED-UnberG
SeeAufgG
SeemG SeuffBl. SFHÄndG SFHG
SGb SGB
SGG
Großherzogtum Luxemburg und dem Königreich der Niederlande zur Durchführung des am 14.6.1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (Schengener Durchführungsübereinkommen; ABlEG Nr. L 239/19 vom 22.9.2000) Erstes Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht (Erstes SED-Unrechtsbereinigungsgesetz – 1. SED-UnberG) vom 29.10.1992 (BGBl. I S. 1814) Zweites Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht (Zweites SED-Unrechtsbereinigungsgesetz – 2. SED–UnBerG) vom 23.6.1994 (BGBl. I S. 1311) Gesetz über die Aufgaben des Bundes auf dem Gebiet der Seeschifffahrt (Seeaufgabengesetz – SeeAufgG) vom 24.5.1965 i.d.F. der Bek. vom 27.9.1994 (BGBl. I S. 2802) Seemannsgesetz vom 26.7.1957 (BGBl. II S. 713) Seufferts Blätter für Rechtsanwendung (1836–1913) Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz (SFHÄndG) vom 21.8.1995 (BGBl. I S. 1050) Gesetz zum Schutz des vorgeburtlichen/werdenden Lebens, zur Förderung einer kinderfreundlicheren Gesellschaft, für Hilfe im Schwangerschaftskonflikt und zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs (Schwangeren- und Familienhilfegesetz) vom 27.7.1992 (BGBl. I S. 1398) Die Sozialgerichtsbarkeit (Zeitschrift) Sozialgesetzbuch SGB I – Sozialgesetzbuch, Allgemeiner Teil (1. Buch), vom 27.12. 2003 (BGBl. I S. 3022) SGB II – Sozialgesetzbuch, Grundsicherung für Arbeitsuchende (2. Buch), vom 24.12.2003 (BGBl. I S. 2954), SGB III – Sozialgesetzbuch, Arbeitsförderung (3. Buch), vom 27.12. 2003 (BGBl. I S. 3022), SGB IV – Sozialgesetzbuch, Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (4. Buch) vom 24.7.2003 (BGBl. I S. 1526), SGB V – Sozialgesetzbuch, Gesetzliche Krankenversicherung (5. Buch) vom 27.12.2003 (BGBl. I S. 3022), SGB VI – Sozialgesetzbuch, Gesetzliche Rentenversicherung (6. Buch) vom 29.4.2004 (BGBl. I S. 678), SGB VII – Sozialgesetzbuch, Gesetzliche Unfallversicherung (7. Buch) vom 27.12.2003 (BGBl. I S. 3019), SGB VIII – Sozialgesetzbuch, Kinder- und Jugendhilfe (8. Buch) vom 27.12.2003 (BGBl. I S. 3022), SGB IX – Sozialgesetzbuch, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (9. Buch) vom 23.4.2004 (BGBl. I S. 606), SGB X – Sozialgesetzbuch, Verwaltungsverfahren (10. Buch) vom 5.4.2004 (BGBl. I S. 718), SGB XI – Sozialgesetzbuch, Soziale Pflegeversicherung (11. Buch) vom 27.12.2003 (BGBl. I S. 3022), SGB XII – Sozialgesetzbuch, Sozialhilfe (12. Buch) vom 27.12.2003 (BGBl. I S. 3022) Sozialgerichtsgesetz, neugefasst durch Bek. vom 23.9.1975 (BGBl. I S. 2535); zuletzt geändert durch Art. 5 des Gesetzes vom 21.7.2012 (BGBl. I S. 1577)
XLIII
Abkürzungsverzeichnis SGV.NW SichVG SIRENE SIS SJIR SJZ SkAufG
s.o. SortSchG SozVw SprengG
SprengstG
SpuRt SRÜ StA StAG/DDR
StaatsGH StaatsschStrafsG StÄG StAZ StBerG
StenB StGB
StGB/DDR
StGBÄndG 1976
StGBÄndG 1989
XLIV
Sammlung des bereinigten Gesetz- und Verordnungsblatts für das Land Nordrhein-Westfalen (Loseblattsammlung) Gesetz zur Rechtsvereinheitlichung der Sicherungsverwahrung (SichVG) vom 16.6.1995 (BGBl. I S. 818) Supplementary Information Request at the National Entry (nationale Kontaktstelle des SIS) Schengener Informationssystem Schweizerisches Jahrbuch für internationales Recht Schweizerische Juristen-Zeitung / Süddeutsche Juristenzeitung (1946–50), dann Juristenzeitung Gesetz über die Rechtsstellung ausländischer Streitkräfte bei vorübergehenden Aufenthalten in der Bundesrepublik Deutschland (Streitkräfteaufenthaltsgesetz – SkAufG) vom 20.7.1995 (BGBl. II S. 554) siehe oben Gesetz über den Schutz von Pflanzensorten (Sortenschutzgesetz) vom 20.5.1968 i.d.F. der Bek. vom 4.1.1977 (BGBl. I S. 105) Die Sozialverwaltung (Zeitschrift) Gesetz über explosionsgefährliche Stoffe (Sprengstoffgesetz – SprengG) vom 13.9.1976 (BGBl. I S. 2737) i.d.F. der Bek. vom 17.4. 1986 (BGBl. I S. 577) Gesetz über explosionsgefährliche Stoffe (Sprengstoffgesetz) vom 25.8.1969 (BGBl. I S. 1358, ber. BGBl. 1970 I S. 224), aufgehoben durch SprengG vom 13.9.1976 Sport und Recht (Zeitschrift) Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 (BGBl. 1994 II S. 1799) Staatsanwalt, Staatsanwaltschaft Gesetz über die Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik vom 7.4.1977 (GBl. I S. 93), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5.7.1990 (GBl. I S. 635) Staatsgerichtshof Gesetz zur allgemeinen Einführung eines zweiten Rechtszuges in Staatsschutz-Strafsachen vom 8.9.1969 (BGBl. I S. 1582) s. StRÄndG Das Standesamt (Zeitschrift) Steuerberatungsgesetz, neugefasst durch Bek. vom 4.11.1975 (BGBl. I S. 2735); zuletzt geändert durch Art. 19 des Gesetzes vom 6.12.2011 (BGBl. I S. 2515) Stenographischer Bericht Strafgesetzbuch vom 15.5.1871 neugefasst durch Bek. vom 13.11. 1998 (BGBl. I S. 3322); zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 25.6.2012 (BGBl. I S. 1374) Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 12.1. 1968 in der Neufassung vom 14.12.1988 (GBl. I S. 93), zuletzt geändert durch Gesetz vom 29.6.1990 (GBl. I S. 526) Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung, des Gerichtsverfassungsgesetzes, der Bundesrechtsanwaltsordnung und des Strafvollzugsgesetzes vom 18.8.1976 (BGBl. I S. 218l) Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und des Versammlungsgesetzes und zur Einführung einer Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten vom 9.6.1989 (BGBl. I S. 1059)
Abkürzungsverzeichnis StPÄG 1964 StPÄG 1972 StPÄG 1978 StPÄG 1986 StPÄG 1988 StPO StPO/DDR StraFo StrafrAbh. StraftVVG StRÄndG
Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 19.12.1964 (BGBl. I S. 1067) Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung vom 7.8.1972 (BGBl. I S. 1361) Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung vom 14.4.1978 (BGBl. I S. 497) Paßgesetz und Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung vom 19.4.1986 (BGBl. I S. 537) Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung vom 17.5.1988 (BGBl. I S. 606) Strafprozeßordnung vom 1.2.1877 i.d.F. der Bek. vom 7.4.1987 (BGBl. I S. 1074) Strafprozeßordnung der Deutschen Demokratischen Republik vom 12.1.1968 in der Neufassung vom 19.12.1974 (GBl. 1975 I S. 61) Strafverteidiger Forum (Zeitschrift) Strafrechtliche Abhandlungen, herausgegeben von Bennecke, dann von Beling, v. Lilienthal und Schoetensack Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten v. 30.7.2009 (BGBl. I S. 2437) Strafrechtsänderungsgesetz 1. ~ vom 30.8.1951 (BGBl. I S. 739) 2. ~ vom 6.3.1953 (BGBl. I S. 42) 3. ~ vom 4.8.1953 (BGBl. I S. 735) 4. ~ vom 11.6.1957 (BGBl. I S. 597) 5. ~ vom 24.6.1960 (BGBl. I S. 477) 6. ~ vom 30.6.1960 (BGBl. I S. 478) 7. ~ vom 1.6.1964 (BGBl. I S. 337) 8. ~ vom 25.6.1968 (BGBl. I S. 741) 9. ~ vom 4.8.1969 (BGBl. I S. 1065) 10. ~ vom 7.4.1970 (BGBl. I S. 313) 11. ~ vom 16.12.1971 (BGBl. I S. 1977) 12. ~ vom 16.12.1971 (BGBl. I S. 1779) 13. ~ vom 13.6.1975 (BGBl. I S. 1349) 14. ~ vom 22.4.1976 (BGBl. I S. 1056) 15. ~ vom 18.5.1976 (BGBl. I S. 1213) 16. ~ vom 16.7.1979 (BGBl. I S. 1078) 17. ~ vom 21.12.1979 (BGBl. I S. 2324) 18. ~ vom 28.3.1980 (BGBl. I S. 379) – Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität 19. ~ vom 7.8.1981 (BGBl. I S. 808) 20. ~ vom 8.12.1981 (BGBl. I S. 1329) 21. ~ vom 13.6.1985 (BGBl. I S. 963) 22. ~ vom 18.7.1985 (BGBl. I S. 1510) 23. ~ vom 13.4.1986 (BGBl. I S. 1986) 24. ~ vom 13.1.1987 (BGBl. I S. 141) 25. ~ vom 20.8.1990 – § 201 StG – (BGBl. I S. 1764) 26. ~ vom 24.7.1992 – Menschenhandel – (BGBl. I S. 1255) 27. ~ vom 23.7.1993 – Kinderpornographie – (BGBl. I S. 1346) 28. ~ vom 13.1.1994 – Abgeordnetenbestechung – (BGBl. I S. 84) 29. ~ vom 31.5.1994 – §§ 175, 182 StGB – (BGBl. I S. 1168) 30. ~ vom 23.6.1994 – Verjährung von Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen – BGBl. I S. 1310)
XLV
Abkürzungsverzeichnis
StraßenVSichG
StREG StrEG StrFG
StRG
StRR StrRehaG
st.Rspr. StudZR
XLVI
31. ~ vom 27.6.1994 – 2. Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität – (BGBl. I S. 1440) 32. ~ vom 1.6.1995 – §§ 44, 69b StGB – (BGBl. I S. 747) 33. ~ vom 1.7.1997 – §§ 177, 178 StGB (BGBl. I S. 1607) 34. ~ vom 22.8.2002 – § 129b StGB (BGBl. I S. 3390) 35. ~ vom 22.12.2003 – Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln (BGBl. I S. 2838) 36. ~ vom 30.7.2004 – § 201a StGB (BGBl. I S. 2012) 37. ~ vom 18.2.2005 – §§ 180b, 181 StGB (BGBl. I S. 239) 40. ~ vom 22.3.2007 – Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen (Anti-Stalking-Gesetz) (BGBl. I S. 354) 41. ~ vom 7.8.2007 – Bekämpfung der Computerkriminalität (BGBl. I S. 1786) 42. ~ vom 29.6.2009 – Anhebung der Höchstgrenze des Tagessatzes bei Geldstrafen (BGBl. I S. 1658) 43. ~ vom 29.7.2009 – Strafzumessung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe (BGBl. I S. 2288) 44. ~ vom 1.11.2011 – Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (BGBl. I S. 2130) 45. ~ vom 6.12.2011 – Umsetzung der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum strafrechtlichen Schutz der Umwelt (BGBl. I S. 2557) 46. ~ vom 10.6.2013 – Beschränkung der Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe (BGBl. I S. 1497) 47. ~ vom 24.9.2013 – Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien (BGBl. I S. 3671) 1. Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs (Straßenverkehrssicherungsgesetz) vom 19.12.1952 (BGBl. I S. 832) 2. Zweites ~ vom 26.11.1964 (BGBl. I S. 921) Gesetz über ergänzende Maßnahmen zum 5. StrRG (Strafrechtsreformergänzungsgesetz) vom 28.8.1975 (BGBl. I S. 2289) Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen vom 8.3.1971 (BGBl. I S. 157) Straffreiheitsgesetz – 1949 vom 31.12.1949 (BGBl. I S. 37) – 1954 vom 17.7.1954 (BGBl. I S. 203) – 1968 vom 9.7.1968 (BGBl. I S. 773) – 1970 vom 20.5.1970 (BGBl. I S. 509) Gesetz zur Reform des Strafrechts 1. ~ vom 25.6.1969 (BGBl. I S. 645) 2. ~ vom 4.7.1969 (BGBl. I S. 717) 3. ~ vom 20.5.1970 (BGBl. I S. 505) 4. ~ vom 23.11.1973 (BGBl. I S. 1725) 5. ~ vom 18.6.1974 (BGBl. I S. 1297) 6. ~ vom 26.1.1998 (BGBl. I S. 164) StrafRechtsReport – Arbeitszeitschrift für das gesamte Strafrecht Gesetz über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet (Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz – StrRehaG) vom 29.10.1992 (BGBl. I S. 1814) i.d.F. der Bek. vom 17.12.1999 (BGBl. I S. 2664) ständige Rechtsprechung Studentische Zeitschrift für Rechtswissenschaft Heidelberg
Abkürzungsverzeichnis StUG
StuR StuW StV StVÄG 1979 StVÄG 1987 StVÄG 1999 StVG StVO StVollstrO StVollzG
StVollzGK StVollzK 1. StVRErgG 1. StVRG StVZO s.u. SubvG SVR SZ SZIER
TerrorismusG TerrorBekG TerrorBekErgG TFTP ThUG
Thür. TiefseebergbauG TierschG TKG TKÜG
Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Stasi-Unterlagen-Gesetz – StUG) vom 20.12.1991 (BGBl. I S. 2272) Staat und Recht (Zeitschrift DDR, 1950 bis 1990) Steuern und Wirtschaft (Zeitschrift) Strafverteidiger (Zeitschrift) Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 vom 5.10.1978 (BGBl. I S. 1645) Strafverfahrensänderungsgesetz 1987 vom 27.1.1987 (BGBl. I S. 475) Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 vom 2.8.2000 (BGBl. I S. 1253) Straßenverkehrsgesetz vom 3.5.1909 i.d.F. der Bek. vom 19.12.1952 (BGBl. I S. 837) Straßenverkehrsordnung vom 16.11.1970 (BGBl. I S. 1565, ber. 1971, S. 38) Strafvollstreckungsordnung vom 1.4.2001 (BAnz. Nr. 87) bundeseinheitlich Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung – Strafvollzugsgesetz – vom 16.3.1976 (BGBl. I S. 581) Strafvollzugsgesetz-Kommissionsentwurf, herausgegeben vom Bundesministerium der Justiz Blätter für Strafvollzugskunde (Beilage zur Zeitschrift „Der Vollzugsdienst“) Gesetz zur Ergänzung des 1. StVRG vom 20.12.1974 (BGBl. I S. 3686) Erstes Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts vom 9.12.1974 (BGBl. I S. 3393) Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung vom 13.11.1937 i.d.F. der Bek. vom 28.9.1988 (BGBl. I S. 1793) siehe unten Subventionsgesetz vom 29.7.1976 (BGBl. I S. 2034) Straßenverkehrsrecht (Zeitschrift) Süddeutsche Zeitung Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus vom 19.12.1986 (BGBl. I S. 2566) Gesetz vom 9.1.2002 zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus (Terrorismusbekämpfungsgesetz) (BGBl. I S. 361) Gesetz zur Ergänzung des Terrorismusbekämpfungsgesetzes (Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz) vom 5.1.2007 (BGBl. I S. 2) Terrorist Finance Tracking Program Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz) vom 22.12.2010 (BGBl. I S. 2300, 2305) Thüringen Gesetz zur vorläufigen Regelung des Tiefseebergbaus vom 16.8.1980 (BGBl. I S. 1457) Tierschutzgesetz vom 24.7.1972 (BGBl. I S. 1277) Telekommunikationsgesetz (TKG) vom 25.7.1996 (BGBl. I S. 1120) Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG vom 21.12.2007 (BGBl. I S. 3198)
XLVII
Abkürzungsverzeichnis TKO TMG TREVI TVöD TV/L Tz. UCLAF UdG ÜAG
ÜberlG ÜberstÜbk
Übk ÜF UHaftÄndG UN UNCAT
UN-CAT UN-FoltKonv. UNHCR UNO-Pakt UnterbrSichG
UrhG UVollzO UZwG UZwGBw
VA VBlBW
XLVIII
Telekommunikationsordnung vom 16.7.1987 (BGBl. I S. 1761) Telemediengesetz vom 26.2.2007 (BGBl. I S. 179) Terrorisme, Radicalisme, Extremisme et Violence Internationale (1975) – Koordinierungsgruppe Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder Teilziffer Unité de Coordination de la Lutte Anti-Fraude Urkundsbeamter der Geschäftsstelle Gesetz vom 26.9.1991 zur Ausführung des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen vom 21.3.1983 – Überstellungsausführungsgesetz (BGBl. 1991 I S. 1954) Gesetz zur Überleitung von Bundesrecht nach Berlin (West) (Sechstes Überleitungsgesetz) vom 25.9.1990 (BGBl. I S. 2106) Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21.3.1983 (ETS 112; BGBl. 1991 II S. 1006; 1992 II S. 98); ZP ÜberstÜbk vom 18.12.1997 (ETS 167) Übereinkommen Übergangsfassung Gesetz zur Abänderung der Untersuchungshaft vom 27.12.1926 (RGBl. I S. 529) Vereinte Nationen Übereinkommen (der Vereinten Nationen) gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10.12.1984 (BGBl. 1990 II S. 246) OPCAT – Fakultativprotokoll vom 18.12.2002 zum Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe; Gesetz vom 26.8.2008 (BGBl. 2008 II S. 854) United Nations Committee against Torture – UN-Antifolterausschuss Siehe UNCAT United Nations High Commissioner for Refugees – Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen s. IPBPR Gesetz zur Reform des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 16.7. 2007 (BGBl. I S. 1327) Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz) vom 9.9.1965 (BGBl. I S. 1273) Untersuchungshaftvollzugsordnung vom 12.2.1953 i.d.F. der Bek. vom 15.12.1976, bundeseinheitlich Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes vom 10.3.1961 (BGBl. I S. 165) Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges und die Ausübung besonderer Befugnisse durch Soldaten der Bundeswehr und verbündeter Streitkräfte sowie zivile Wachpersonen vom 12.8.1965 (BGBl. I S. 796) Vorzeitige Anwendung (internationaler Übereinkommen) Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg (Zeitschrift)
Abkürzungsverzeichnis VDA VDB VerbrbekG
VerbringungsverbG VereinfVO
VereinhG
VereinsG VerfGH VerfO Verh. 1. VerjährungsG 2. VerjährungsG VerkMitt. VerpflichtG VerschG VersR VerständigungsG VerwArch VG VGH vgl. Vhdlgen VIS VIZ VO VOBl. VOR VR VRR VRS
Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Allgemeiner Teil, Bd. 1 bis 6 (1908) Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, Bd. 1 bis 9 (1906) Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und anderer Gesetz (Verbrechensbekämpfungsgesetz) vom 28.10. 1994 (BGBl. I S. 3186) Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote vom 24.5.1961 (BGBl. I S. 607) Vereinfachungsverordnung 1. ~, VO über Maßnahmen auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung und Rechtspflege vom 1.9.1939 (RGBl. I S. 1658) 2. ~, VO zur weiteren Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 13.8.1942 (RGBl. I S. 508) 3. ~, Dritte VO zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 29.5.1943 (RGBl. I S. 342) 4. ~, Vierte VO zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 13.12.1944 (RGBl. I S. 339) Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12.9.1950 (BGBl. I S. 455) Gesetz zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts (Vereinsgesetz) vom 5.8.1964 (BGBl. I S. 593) Verfassungsgerichtshof Verfahrensordnung (siehe EGMRVerfO) Verhandlungen des Deutschen Bundestages (BT), des Deutschen Juristentages (DJT) usw. Gesetz über das Ruhen der Verjährung bei SED-Unrechtstaten vom 26.3.1993 (BGBl. I S. 392) Gesetz zur Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen vom 27.9.1993 (BGBl. I S. 1657) Verkehrsrechtliche Mitteilungen Gesetz über die förmliche Verpflichtung nichtbeamteter Personen (Verpflichtungsgesetz) vom 2.3.1974 (BGBl. I S. 469) Verschollenheitsgesetz vom 15.1.1951 (BGBl. I S. 59) Versicherungsrecht, Juristische Rundschau für die Individualversicherung Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2353) Verwaltungsarchiv Verwaltungsgericht Verfassungsgerichtshof; Verwaltungsgerichtshof vergleiche s. Verh. Visa-Informations-System Vermögens- und Immobilienrecht (Zeitschrift) Verordnung; s. auch AusnVO Verordnungsblatt Zeitschrift für Verkehrs- und Ordnungswidrigkeitenrecht Verwaltungsrundschau VerkehrsRechtsReport Verkehrsrechts-Sammlung
XLIX
Abkürzungsverzeichnis VRÜ VStGB VStGBG VVDStRL VVStVollzG VwGO
VwRehaG
VwVfG VwZG WDO WehrbeauftrG WeinG Wiener Übereinkommen
WiJ 1. WiKG 2. WiKG WiStG
WisteV wistra WLR WoÜbG
WRV WStG WM WuV WuW WÜD WÜK WVK
L
Verfassung und Recht in Übersee Völkerstrafgesetzbuch Gesetz vom 26.6.2002 zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches (BGBl. I S. 2254) Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsvorschriften zum Strafvollzugsgesetz (bundeseinheitlich) vom 1.7.1976 Verwaltungsgerichtsordnung, neugefasst durch Bek. vom 19.3.1991 (BGBl. I S. 686); zuletzt geändert durch Art. 6 des Gesetzes vom 21.7.2012 (BGBl. I S. 1577) Gesetz über die Aufhebung rechtsstaatswidriger Verwaltungsentscheidungen im Beitrittsgebiet und die daran anknüpfenden Folgeansprüche (Verwaltungsrechtliches Rehabilitierungsgesetz – VwRehaG) vom 23.6.1994 (BGBl. I S. 1311) Verwaltungsverfahrensgesetz vom 25.5.1976 (BGBl. I S. 1253) Verwaltungszustellungsgesetz vom 3.7.1952 (BGBl. I S. 379) Wehrdisziplinarordnung vom 15.3.1957 i.d.F. der Bek. vom 9.6.1961 (BGBl. I S. 697) Gesetz über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages i.d.F. der Bek. vom 16.6.1982 (BGBl. I S. 673) Gesetz über Wein, Likörwein, Schaumwein, weinhaltige Getränke und Branntwein aus Wein (Weingesetz) vom 14.1.1971 (BGBl. I S. 893) 1. Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen vom 18.4.1961 (Zustimmungsgesetz vom 6.8.1964, BGBl. II S. 957) 2. Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen vom 24.4.1963 (Zustimmungsgesetz vom 26.8.1969, BGBl. II S. 1585) Journal der Wirtschaftsstrafrechtlichen Vereinigung e.V. Erstes Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vom 29.7.1976 (BGBl. I S. 2034) Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vom 15.5.1986 (BGBl. I S. 721) Gesetz zur weiteren Vereinfachung des Wirtschaftsstrafrechts (Wirtschaftsstrafgesetz 1954) vom 9.7.1954 i.d.F. der Bek. vom 3.6.1975 (BGBl. I S. 1313) Wirtschaftsstrafrechtliche Vereinigung e.V. Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht Weekly Law Reports (Zeitschrift) Gesetz zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 (akustische Wohnraumüberwachung) vom 24.6. 2005 (BGBl. I S. 1841) Weimarer Verfassung, Verfassung des Deutschen Reichs vom 11.8. 1919 (RGBl. S. 1383) Wehrstrafgesetz vom 30.3.1957 i.d.F. der Bek. vom 24.5.1974 (BGBl. I S. 1213) Wertpapiermitteilungen (Zeitschrift) Wirtschaft und Verwaltung (Zeitschrift) Entscheidungssammlung der Zeitschrift Wirtschaft und Wettbewerb s. 1. Wiener Übereinkommen s. 2. Wiener Übereinkommen Wiener Vertragsrechtskonvention vom 23.5.1969 (BGBl. 1985 II S. 926)
Abkürzungsverzeichnis WWSUV
WWSUVG
WZG
Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18.5.1990 (BGBl. II S. 537) Gesetz zu dem Vertrag vom 18.5.1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion … vom 25.6.1990 (BGBl. II S. 518) Warenzeichengesetz vom 5.5.1936 i.d.F. der Bek. vom 2.1.1968 (BGBl. I S. 29)
YEL YB
Yearbook of European Law Yearbook of the European Convention of the Human Rights, the European Commission and the European Court of Human Rights / Annuaire de la Convention Européenne des Droits de l’Homme; Commission et Cour Européenne des Droits de l’Homme, hrsg. vom Europarat
ZahlVGJG
Gesetz über den Zahlungsverkehr mit Gerichten und Justizbehörden vom 22.12.2006 = Art. 2 des 2. Justizmodernisierungsgesetzes (BGBl. 2006 I S. 3416) Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht (1934–44) Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für die Anwaltspraxis Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt Zeitschrift für Beamtenrecht Zeitschrift für Corporate Governance Zeitschrift für Datenschutz Zeitschrift für Europarecht (Österreich) Zentrum für europäische Rechtspolitik (Universität Bremen) Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge Zeitschrift für deutsches und internationales Bau- und Vergaberecht Gesetz über das Zollkriminalamt und die Zollfahndungsämter (Zollfahndungsdienstgesetz) vom 16.8.2002 (BGBl. I S. 3202) Zentralblatt für Jugendrecht Zeitschrift für Lebensrecht Zeitschrift für Europarecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung Zeitschrift für Schadensrecht Zeitschrift für die sozialrechtliche Praxis Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe (jetzt: FS – Forum Strafvollzug) Zeitschrift für Zölle und Verbrauchssteuern Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik (Online-Zeitschrift) Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe Zeitschrift für das Juristische Studium (Online-Zeitschrift)
ZAkDR ZaöRV ZAP ZAR ZBJV ZBlJugR ZBR ZCG ZD ZER ZERP ZESAR ZEuS ZEV ZfBR ZfDG ZfJ ZfL ZfRV ZfS ZFSH SGB ZfStrVo ZfZ ZInsO ZIP ZIS ZJJ ZJS
LI
Abkürzungsverzeichnis ZKA ZKJ ZLR ZOV ZÖR ZollG. ZP ZPO ZRFC ZRP ZSchG
ZSE ZSEG
ZSHG ZSR ZST ZStW ZTR ZUM ZUM-RD ZusatzAbk. Zusatzvereinb.
zust. ZustErgG
ZustG ZustRG
ZustVO
Zuwanderungsgesetz
LII
Zollkriminalinstitut Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe Zeitschrift für Lebensmittelrecht Zeitschrift für offene Vermögensfragen Zeitschrift für öffentliches Recht Zollgesetz vom 14.6.1961 i.d.F. der Bek. vom 18.5.1970 (BGBl. I S. 529) Zusatzprotokoll Zivilprozeßordnung vom 30.1.1877 i.d.F. der Bek. vom 12.9.1950 (BGBl. I S. 533) Zeitschrift für Risk, Fraud & Compliance Zeitschrift für Rechtspolitik Gesetz vom 30.4.1998 zum Schutz von Zeugen bei Vernehmungen im Strafverfahren und zur Verbesserung des Opferschutzes (Zeugenschutzgesetz – ZSchG) (BGBl. I S. 820) Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen vom 26.7.1957 i.d.F. der Bek. vom 1.10.1969 (BGBl. I S. 1756); abgelöst durch das JVEG vom 5.5.2004 Gesetz zur Harmonisierung des Schutzes gefährdeter Zeugen (Zeugenschutz-Harmonisierungsgesetz) vom 11.12.2001 (BGBl. I S. 3510) Zeitschrift für Schweizerisches Recht Zeitschrift für Schweizer Recht Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Zeitschrift für Tarif-, Arbeits- und Sozialrecht des öffentlichen Dienstes Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht – Rechtssprechungsdienst Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut vom 3.8.1959 (BGBl. 1961 II S. 1183, 1218) Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Durchführung und Auslegung des am 31.8.1990 in Berlin unterzeichneten Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 18.9.1990 (BGBl. II S. 1239) zustimmend Gesetz zur Ergänzung von Zuständigkeiten auf den Gebieten des Bürgerlichen Rechts, des Handelsrechts und des Strafrechts (Zuständigkeitsergänzungsgesetz) vom 7.8.1952 (BGBl. I S. 407) Gesetz über die Zuständigkeit der Gerichte bei Änderung der Gerichtseinteilung vom 6.12.1933 (RGBl. I S. 1037) Gesetz zur Reform des Verfahrens bei Zustellung im gerichtlichen Verfahren (Zustellungsreformgesetz – ZustRG) vom 25.6.2001 (BGBl. I S. 1206) Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften vom 21.2.1940 (RGBl. I S. 405) Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern vom 30.7.2004 (BGBl. I S. 1950)
Abkürzungsverzeichnis ZVG
ZWehrR ZWH ZwHeiratBekG
ZZP
Gesetz über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung (Zwangsversteigerungsgesetz) vom 24.3.1897 i.d.F. der Bek. vom 20.5.1898 (RGBl. S. 369, 713) Zeitschrift für Wehrrecht (1936/37–44) Zeitschrift für Wirtschaftsstrafrecht und Haftung im Unternehmen Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften vom 23.6.2011 (BGBl. I S. 1266) Zeitschrift für Zivilprozeß
LIII
Literaturverzeichnis Achenbach/Ransiek
Aubert
Achenbach/Ransiek, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. (2011) Alternativ-Entwurf Reform des Ermittlungsverfahrens (AE-EV); Entwurf eines Arbeitskreises deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer (2001) Alternativentwurf Europäische Strafverfolgung; hrsg. von Schünemann (2004) Alternativ-Entwurf Strafjustiz und Medien (AE-StuM: Entwurf eines Arbeitskreises deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer (2004) Ahlbrecht/Böhm/Esser/Hugger/Kirsch/Rosenthal, Internationales Strafrecht in der Praxis (2008) Alternativkommentar zur Strafprozeßordnung, Bd. I (§§ 1 bis 93; 1988), Bd. II 1 (§§ 94 bis 212b; 1992), Bd. II 2 (§§ 213 bis 275; 1993), Bd. III (§§ 276 bis 477; 1996) Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. I (Art. 1 bis 37; 1989), Bd. II (Art. 38 bis 148; 1989) Alternativkommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. I (§§ 1 bis 21; 1990), Bd. III (§§ 80 bis 145d; 1986) Feest/Lesting, Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, AKStVollzG), 6. Aufl. (2012) Krekeler/Löffelmann/Sommer, AnwaltKommentar zur Strafprozessordnung 2. Aufl. (2010) Leipold/Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar StGB (2011) König (Hrsg.), AnwaltKommentar Untersuchungshaft (2011) Albrecht, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. (2000) Albrecht, Kriminologie, 3. Aufl. (2005) Alsberg, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 6. Aufl. (2013) Ambos, Internationales Strafrecht, 3. Aufl. (2011) Arloth, Strafprozeßrecht (1995) Arloth, Strafvollzugsgesetz, 3. Aufl. (2011) Reform des Strafprozesses, kritische Besprechung der von der Kommission für die Reform des Strafprozesses gemachten Vorschläge, hrsg. von Aschrott (1906) Artkämper, Die „gestörte“ Hauptverhandlung, 4. Aufl. (2013) Artkämper/Sotelsek, Praxiswissen Strafverfahren bei Tötungsdelikten (2011) Aubert, Fernmelderecht I , 3. Aufl. (1976)
Barton Barton (Verfahrensg.) Barton (Strafverteidigung)
Barton, Mindeststandards der Strafverteidigung (1994) Barton, Verfahrensgerechtigkeit und Zeugenbeweis (2002) Barton, Einführung in die Strafverteidigung (2007)
AE-EV
AE-EuStV AE-StuM
Ahlbrecht/Böhm/Esser/Hugger/ Kirsch/Rosenthal AK
AK-GG AK-StGB AK-StVollzG AnwK-StPO AnwK-StGB AnwK-UHaft Albrecht Albrecht (Krim.) Alsberg Ambos Arloth Arloth (StVollzG) Aschrott
Artkämper Artkämper/Sotelsek
LV
Literaturverzeichnis Baumann Baumann/Weber/Mitsch Baumbach/Lauterbach/ Albers/ Hartmann Beck/Berr Beck/Bemmann Beling Bender/Nack/Treuer Benfer/Bialon Bente Berz/Burmann Beulke Beulke/Ruhmannseder Birkenstock Birkmeyer Bock Bockemühl Bohnert (Ordnungsw.) Bohnert (OWiG) Bohnert Bonn.Komm. Booß Bouska/Laeverenz Böhm/Feuerhelm Böhm (Strafvollzug) Böse Brandstetter Brenner Breyer/Mehle/Osnabrügge/ Schaefer von Briel Bringewat Brodag Brunner
LVI
Baumann, Grundbegriffe und Verfahrensprinzipien des Strafprozeßrechts, 3. Aufl. (1979) Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Lehrbuch, 11. Aufl. (2003) Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, Kurzkommentar, 71. Aufl. (2013) Beck/Berr, OWi-Sachen im Straßenverkehrsrecht, 5. Aufl. (2006) Beck/Bemmann, Fälle und Lösungen zur StPO (2004) Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht (1928) Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 3. Aufl. (2007) Benfer/Bialon, Rechtseingriffe von Polizei und Staatsanwaltschaft, 4. Aufl. (2010) Bente, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht (2004) Berz/Burmann, Handbuch des Straßenverkehrsrechts, Loseblattausgabe, 2 Bände (2004) Beulke, Strafprozessrecht, 12. Aufl. (2012) Beulke/Ruhmannseder, Die Strafbarkeit des Verteidigers 2. Aufl. (2010) Birkenstock, Verfahrensrügen im Strafprozess – Rechtsprechungssammlung, 2 Bände (2004) Birkmeyer, Deutsches Strafprozeßrecht (1898) Bock, Criminal Compliance (2011) Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, hrsg. von Bockemühl, 5. Aufl. (2011) Bohnert, Ordnungswidrigkeitenrecht, 4. Aufl. (2010) Bohnert, Kommentar zum Ordnungswidrigkeitenrecht, 3. Aufl. (2010) Bohnert, Beschränkungen der strafprozessualen Revision durch Zwischenverfahren (1983) Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Loseblattausgabe (ab 1950) Booß, Straßenverkehrsordnung, Kommentar, 3. Aufl. (1980) Bouska/Laeverenz, Fahrerlaubnisrecht, 3. Aufl. (2004) Böhm/Feuerhelm, Einführung in das Jugendstrafrecht, 4. Aufl. (2004) Böhm, Strafvollzug (2003) Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, Enzyklopädie Europarecht, Band 9 (2013) Brandstetter, Straffreiheitsgesetz, Kommentar (1956) Brenner, Ordnungswidrigkeitenrecht (1996) Breyer/Mehle/Osnabrügge/Schaefer, Strafprozessrecht (2005) von Briel, Steuerstrafrecht, 2. Aufl. (2001) Bringewat, Strafvollstreckung, Kommentar zu den §§ 449 bis 463d StPO (1993) Brodag, Strafverfahrensrecht, Kurzlehrbuch zum Ermittlungsverfahren, 12. Aufl. (2008) Brunner, Abschlussverfügung der Staatsanwaltschaft, 12. Aufl. (2012)
Literaturverzeichnis Brunner/Dölling Bruns/Schröder/Tappert Brüssow/Gatzweiler/ Krekeler/Mehle Buddendiek/Rutkowski
Burchardi/Klempahn/Wetterich Burhoff (Ermittlungsv.) Burhoff (Hauptv.) Burhoff/Stephan Burhoff/Kotz Burmann/Heß/Jahnke/Janker
Calliess/Müller-Dietz Ciolek-Krepold Corstens/Pradel Cramer Cramer/Bürgle Cramer/Cramer Cryer/Friman/Robinson/Wilmshurst Cullen/Jund
Dahs (Hdb.) Dahs (Rechtl. Gehör) Dahs Dalcke/Fuhrmann/Schäfer Dallinger/Lackner Dallmayer/Eickmann Dannecker/Knierim Deckers Delmas-Marty
Brunner/Dölling, Jugendgerichtsgesetz, Kommentar, 12. Aufl. (2011) Bruns/Schröder/Tappert, Kommentar zum strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (1993) Brüssow/Gatzweiler/Krekeler/Mehle, Strafverteidigung in der Praxis, 4. Aufl. (2007) Buddendiek/Rutkowski, Lexikon des Nebenstrafrechts, zugleich Registerband zum Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 35. Aufl. (2012) Burchardi/Klempahn/Wetterich, Der Staatsanwalt und sein Arbeitsgebiet, 5. Aufl. (1982) Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 6. Aufl. (2012) Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 7. Aufl. (2012) Burhoff/Stephan, Strafvereitelung durch Strafverteidiger (2008) Burhoff/Kotz, Handbuch für strafrechtliche Rechtsmittel und Rechtsbehelfe (2012) Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl. (2012) Calliess/Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, Kommentar, 11. Aufl. (2008) Ciolek-Krepold, Durchsuchung und Beschlagnahme in Wirtschaftsstrafsachen (2000) Corstens/Pradel, European Criminal Law (2002) Cramer, Straßenverkehrsrecht StVO – StGB, Kommentar, 2. Aufl. (1977) Cramer/Bürgle, Die strafprozessualen Beweisverwertungsverbote, 2. Aufl. (2004) Cramer/Cramer, Anwalts-Handbuch Strafrecht (2002) Cryer/Friman/Robinson/Wilmshurst, An Introduction to International Criminal Law and Procedure (2010) Cullen/Jund, Strafrechtliche Zusammenarbeit in der Europäischen Union nach Tampere (2002) Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 7. Aufl. (2005) Dahs, Rechtliches Gehör im Strafverfahren (1963) Dahs/Dahs, Die Revision im Strafprozess, 8. Aufl. (2012) Dalcke/Fuhrmann/Schäfer, Strafrecht und Strafverfahren, Kommentar, 37. Aufl. (1961) Dallinger/Lackner, Jugendgerichtsgesetz und ergänzende Vorschriften, Kommentar, 2. Aufl. (1965) Dallmayer/Eickmann, Rechtspflegergesetz, Kommentar, 31. Aufl. (1996) Dannecker/Knierim, Insolvenzstrafrecht, 2. Aufl. (2011) Deckers, Der strafprozessuale Beweisantrag, 3. Aufl. (2013) Delmas-Marty, Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union (1998)
LVII
Literaturverzeichnis Delmas-Marty/Vervaele Detter Diemer/Schatz/Sonnen Dölling/Duttge/Rössner Doswald-Beck/Kolb
Eb. Schmidt
Eb. Schmidt (Geschichte) Eb. Schmidt (Kolleg) Eberth/Müller/Schütrumpf Eidam Eisenberg Eisenberg (Beweismittel) Eisenberg (Beweisrecht) Eisenberg (Krim.) Endriß (BtM-Verfahren) Endriß/Malek Engländer Erbs/Kohlhaas Eser Eser/Hassemer/Burkhardt Esser Esser EuStR Fahl Fehn/Wamers Feisenberger Ferner
LVIII
Delmas-Marty/Verwaele, The Implementation of the Corpus Juris in the Member States, 4 Bände (2001) Detter, Revision im Strafverfahren (2011) Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, Kommentar, 6. Aufl. (2011) Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht – Handkommentar 2. Aufl. (2011) (zit.: HK-GS/Verfasser) Doswald-Beck/Kolb, Judicial Process and Human Rights – United Nations, European, American and African Systems – Texts and summaries of international case law, 2004 Eberhard Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil I: Die rechtstheoretischen und die rechtspolitischen Grundlagen des Strafverfahrensrechts, 2. Aufl. (1964); Teil II: Erläuterungen zur Strafprozeßordnung und zum Einführungsgesetz (1957); Teil III: Erläuterungen zum Gerichtsverfassungsgesetz und zum Einführungsgesetz (1960), Nachtrag I: Nachträge und Ergänzungen zu Teil II (1967), Nachtrag II: Nachtragsband II (1970) Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. (1965) Schmidt, Deutsches Strafprozeßrecht, ein Kolleg (1967) Eberth/Müller/Schütrumpf, Verteidigung in Betäubungsmittelsachen, 5. Aufl. (2009) Eidam, Unternehmen und Strafe, 3. Aufl. (2008) Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz, Kommentar, 16. Aufl. (2013) Eisenberg, Persönliche Beweismittel in der StPO, 2. Aufl. (1996) Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Spezialkommentar, 8. Aufl. (2013) Eisenberg, Kriminologie, 6. Aufl. (2005) Endriß, Verteidigung in Betäubungsmittelverfahren (1998) Endriß/Malek, Betäubungsmittelstrafrecht, 3. Aufl. (2008) Engländer, Examensrepetitorium Strafprozessrecht, 5. Aufl. (2011) Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Kurzkommentar, Loseblattausgabe, 189. Aufl. (2012) Eser, Einführung in das Strafprozeßrecht (1983) Eser/Hassemer/Burkhardt, Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende (2000) Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht (2002) Esser, Europäisches u. Internationales Strafrecht (2013) Fahl, Rechtsmißbrauch im Strafprozeß (2004) Fehn/Wamers, ZfdG – Zollfahndungsdienstgesetz – Handkommentar (2003) Feisenberger, Strafprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz (1926) Ferner, Strafzumessung (2005)
Literaturverzeichnis Feuerich/Weyland Fezer Fischer Flore/Tsambikakis Franke/Wienroeder Franzen/Gast/Joecks Freyschmidt Fromm Frowein/Peukert FS 45. DJT FS Achenbach FS Adamovich
FS AG Strafrecht DAV FS Amelung FS Androulakis FS Augsburg FS Baudenbacher FS Baumann FS Baumgärtel FS BayVerfGH FS Bemmann FS Bernhardt FG Beulke FS Binding FS BGH
FS II BGH
FS Blau FS Bockelmann FS Böhm
Feuerich/Weyland, Bundesrechtsanwaltsordnung, Kommentar, 8. Aufl. (2012) Fezer, Strafprozeßrecht, 2. Aufl. (1995) Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 60. Aufl. (2013) Flore/Tsambikakis (Hrsg.), Steuerstrafrecht (2012) Franke/Wienroeder, BtMG, 3. Aufl. (2008) Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht mit Zoll- und Verbrauchsteuerstrafrecht, 7. Aufl. (2009) Freyschmidt, Verteidigung in Straßenverkehrssachen, 9. Aufl. (2009) Fromm, Verteidigung in Straßenverkehrs- und Ordnungswidrigkeitenverfahren (2011) Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. (2009) Festschrift für den 45. Deutschen Juristentag (1964) Festschrift für Hans Achenbach zum 70. Geburtstag (2011) Staatsrecht und Staatswissenschaften in Zeiten des Wandels – Festschrift für Ludwig Adamovich zum 60. Geburtstag (1992) Strafverteidigung im Rechtsstaat – 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltvereins (2009) Grundlagen des Straf- und Strafverfahrensrechts – Festschrift für Knut Amelung zum 70. Geburtstag (2009) Festschrift für Nikolaos Androulakis zum 70. Geburtstag (2003) Recht in Europa – Festgabe zum 30-jährigen Bestehen der Juristischen Fakultät Augsburg (2002) Economic law and justice in times of globalisation – Festschrift für Carl Baudenbacher (2007) Festschrift für Jürgen Baumann zum 70. Geburtstag (1992) Festschrift für Gottfried Baumgärtel zum 70. Geburtstag (1990) Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs (1997) Festschrift für Günther Bemmann zum 70. Geburtstag (1997) Recht zwischen Umbruch und Bewahrung – Festschrift für Rudolf Bernhardt (1995) Strafverteidigung – Grundlagen und Stolpersteine: Symposion für Werner Beulke (2012) Festschrift für Karl Binding zum 4. Juni 1911 Festschrift aus Anlass des 50-jährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof (2000) 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, hrsg. von Roxin/Widmaier, Bd. IV: Strafrecht (2000) Festschrift für Günter Blau zum 70. Geburtstag (1985) Festschrift für Paul Bockelmann zum 70. Geburtstag (1979) Festschrift für Alexander Böhm zum 70. Geburtstag (1999)
LIX
Literaturverzeichnis FS Böttcher FS Boujong FS BRAK FS Brauneck FS Bruns FS Burgstaller FS Carstens FS Dahs FS Damaska FS Delbrück FS Dencker FS Doehring
FS Dreher FS Dünnebier FS Eide FS Eisenberg FS Engisch FS Ermacora
FS Eser FS Europa-Institut FS Everling FS Faller FS Fezer FS Fiedler FS Flume FS Friauf FS Friebertshäuser FS Gallas FS Geerds FS Geiger
FS Geiß FS Geppert
LX
Recht gestalten – dem Recht dienen, Festschrift für Reinhard Böttcher zum 70. Geburtstag (2007) Verantwortung und Gestaltung, Festschrift für Karlheinz Boujong zum 65. Geburtstag (1996) Festschrift zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer (2006) Ehrengabe für Anne-Eva Brauneck (1999) Festschrift für Hans-Jürgen Bruns zum 70. Geburtstag (1978) Festschrift für Manfred Burgstaller zum 65. Geburtstag (2004) Einigkeit und Recht und Freiheit, Festschrift für Karl Carstens zum 70. Geburtstag (1984) Festschrift für Hans Dahs zum 70. Geburtstag (2005) Festschrift for Mirjan Damaska (2008) Liber Amicorum Jost Delbrück (2005) Festschrift für Friedrich Dencker zum 70. Geburtstag (2012) Staat und Völkerrechtsordnung – Festschrift für Karl Doehring; Beiträge zum ausländischen Recht und Völkerrecht Bd. 98 (1989) Festschrift für Eduard Dreher zum 70. Geburtstag (1977) Festschrift für Hanns Dünnebier zum 75. Geburtstag (1982) Human rights and criminal justice for the downtrodden; Essays in honour of Asbjørn Eide (2003) Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag (2009) Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag (1969) Fortschritt im Bewußtsein der Grund- und Menschenrechte, Festschrift für Felix Ermacora zum 65. Geburtstag (1988) Menschengerechtes Strafrecht, Festschrift für Albin Eser zum 70. Geburtstag (2005) Europäische Integration und Globalisierung, Festschrift zum 60-jährigen Bestehen des Europa-Instituts (2011) Festschrift für Ulrich Everling (1993) Festschrift für Hans Joachim Faller (1984) Festschrift für Gerhard Fezer zum 70. Geburtstag (2008) Verfassung – Völkerrecht – Kulturgüterschutz, Festschrift für Wilfried Fiedler zum 70. Geburtstag (2011) Festgabe für Werner Flume zum 90. Geburtstag (1998) Festschrift für Karl Heinrich Friauf (1996) Festgabe für den Strafverteidiger Dr. Heino Friebertshäuser (1997) Festschrift für Wilhelm Gallas zum 70. Geburtstag (1973) Kriminalistik und Strafrecht, Festschrift für Friedrich Geerds zum 70. Geburtstag (1995) Verantwortlichkeit und Freiheit. Die Verfassung als wertbestimmende Ordnung; Festschrift für Willi Geiger zum 80. Geburtstag (1989) Festschrift für Karlmann Geiß zum 65. Geburtstag (2000) Festschrift für Klaus Geppert zum 70. Geburtstag (2011)
Literaturverzeichnis FS Gollwitzer
FS Gössel FS Graßhoff FS Grünwald FS Grützner FS Hacker FS Haffke FS Hamm FS Hanack FS Hassemer FS Heinitz FS Heinz FS Heldrich FS Helmrich FS Henkel FS Herzberg FS Heusinger FS Hilger FS Hirsch FS B. Hirsch FS H. J. Hirsch FS Hubmann
FS Huber FS Ismayr FS Jahrreiß FS II Jahrreiß FS Jakobs
Verfassungsrecht – Menschenrechte – Strafrecht, Kolloquium für Dr. Walter Gollwitzer zum 80. Geburtstag (2004) Festschrift für Karl Heinz Gössel zum 70. Geburtstag (2002) Der verfasste Rechtsstaat, Festgabe für Karin Graßhoff (1998) Festschrift für Gerald Grünwald zum 70. Geburtstag (1999) Aktuelle Probleme des Internationalen Strafrechts, Festschrift für Heinrich Grützner zum 65. Geburtstag (1970) Wandel durch Beständigkeit, Festschrift für Jens Hacker (1998) Das Dilemma des rechtsstaatlichen Strafrechts: Symposium für Bernhard Haffke zum 65. Geburtstag (2009) Festschrift für Rainer Hamm zum 65. Geburtstag (2008) Festschrift für Ernst-Walter Hanack zum 70. Geburtstag (1999) Festschrift für Winfried Hassemer zum 70. Geburtstag (2010) Festschrift für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag (1972) Festschrift für Wolfgang Heinz zum 70. Geburtstag (2012) Festschrift für Andreas Heldrich zum 70. Geburtstag (2005) Für Staat und Recht, Festschrift für Herbert Helmrich zum 60. Geburtstag (1994) Grundfragen der gesamten Strafrechtswissenschaft, Festschrift für Heinrich Henkel zum 70. Geburtstag (1974) Strafrecht zwischen System und Telos, Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg zum 70. Geburtstag (2008) Ehrengabe für Bruno Heusinger (1968) Datenübermittlungen und Vorermittlungen, Festgabe für Hans Hilger (2003) Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch (1968) Mit Recht für Menschenwürde und Verfassungsstaat, Festgabe für Burkhard Hirsch (2007) Festschrift Hans Joachim Hirsch zum 70. Geburtstag (1999) Beiträge zum Schutz der Persönlichkeit und ihrer schöpferischen Leistung, Festschrift für Heinrich Hubmann zum 70. Geburtstag (1985) Recht als Prozess und Gefüge, Festschrift für Hans Huber zum 80. Geburtstag (1981) Analyse demokratischer Regierungssysteme, Festschrift für Wolfgang Ismayr zum 65. Geburtstag (2010) Festschrift für Hermann Jahrreiß zum 70. Geburtstag (1964) Festschrift für Hermann Jahrreiß zum 80. Geburtstag (1974) Festschrift für Günther Jakobs zum 70. Geburtstag (2007)
LXI
Literaturverzeichnis FS Jescheck FS Jung FS JurGes. Berlin FS Kaiser
FS Arthur Kaufmann FS Kern FS Kielwein
FS Klecatsky FS Klein FS Kleinknecht FS Klug FS Koch FS Kohlmann FS Kralik FS Krause FS Krauss
FS Kriele FS Krey FS Kunert FS Kühne FS Küper FS Lackner FS Lampe
FS Lange FS Leferenz FS Lenckner FS Lerche FS Loebenstein FS Loewenstein
LXII
Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag (1985) Festschrift für Heike Jung zum 65. Geburtstag (2007) Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin (1984) Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, Festschrift für Günther Kaiser zum 70. Geburtstag (1998) Strafgerechtigkeit, Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag (1993) Tübinger Festschrift für Eduard Kern (1968) Dogmatik und Praxis des Strafverfahrens, Beiträge anläßlich des Colloquiums zum 65. Geburtstag von Gerhard Kielwein (1989) Auf dem Weg zur Menschenwürde und Gerechtigkeit, Festschrift für Hans Klecatsky zum 60. Geburtstag (1980) Festschrift für Franz Klein zum 60. Geburtstag (1914) Strafverfahren im Rechtsstaat, Festschrift für Theodor Kleinknecht zum 75. Geburtstag (1985) Festschrift für Ulrich Klug zum 70. Geburtstag (1983) Strafverteidigung und Strafprozeß, Festgabe für Ludwig Koch (1989) Festschrift für Günter Kohlmann zum 70. Geburtstag (2003) Festschrift für Winfried Kralik zum 65. Geburtstag (1986) Festschrift für Friedrich-Wihelm Krause zum 70. Geburtstag (1990) Prozessuales Denken als Innovationsanreiz für das materielle Strafrecht, Kolloquium zum 70. Geburtstag von Detlef Krauss (2006) Staatsphilosophie und Rechtspolitik, Festschrift für Martin Kriele zum 65. Geburtstag (1997) Festschrift für Volker Krey zum 70. Geburtstag (2010) Freiheit, Gesetz und Toleranz, Symposium zum 75. Geburtstag von Karl Heinz Kunert (2006) Festschrift für Hans-Heiner Kühne zum 70. Geburtstag (2013) Festschrift für Wilfried Küper zum 70. Geburtstag (2007) Festschrift für Karl Lackner zum 70. Geburtstag (1987) Jus humanum: Grundlagen des Rechts und Strafrechts, Festschrift für Ernst-Joachim Lampe zum 70. Geburtstag (2003) Festschrift für Richard Lange zum 70. Geburtstag (1976) Kriminologie – Psychiatrie – Strafrecht, Festschrift für Heinz Leferenz zum 70. Geburtstag (1983) Festschrift für Theodor Lenckner zum 70. Geburtstag (1998) Wege und Verfahren des Verfassungslebens, Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag (1993) Der Rechtsstaat in der Krise – Festschrift für Edwin Loebenstein zum 80. Geburtstag (1991) Festschrift für Karl Loewenstein zum 80. Geburtstag (1971)
Literaturverzeichnis FS von Lübtow FS Lüderssen FS Machacek und Matscher
FS Maelicke FS Maihofer FS Maiwald FS Mangakis FS Manoledakis FS Maurach FS Mayer FS Mehle FS Meyer-Goßner FS Mezger FS Middendorf FS Miebach FS Miklau FS Miyazawa FS Möhring FS Mosler
FS E. Müller FS E. Müller II FS Müller-Dietz FS Nehm FS Nishihara FS Odersky FS Oehler FS Otto FS Paarhammer FS Partsch
FS Paulus
De iustitia et iure – Festschrift für Ulrich von Lübtow zum 80. Geburtstag (1980) Festschrift für Klaus Lüderssen zum 70. Geburtstag (2002) Rechtsschutz gestern – heute – morgen, Festgabe zum 80. Geburtstag für Rudolf Machacek und Franz Matscher (2008) Wertschöpfung durch Wertschätzung, Festschrift für Bernd Maelicke zum 70. Geburtstag (2011) Festschrift für Werner Maihofer zum 70. Geburtstag (1988) Fragmentarisches Strafrecht, Für Manfred Maiwald aus Anlass seiner Emeritierung (2003) Festschrift für Georgios Mangakis (1999) Festschrift für Ioannis Manoledakis (2005) Festschrift für Reinhard Maurach zum 70. Geburtstag (1972) Beiträge zur gesamten Strafrechtswissenschaft, Festschrift für Hellmuth Mayer zum 70. Geburtstag (1966) Festschrift für Volkmar Mehle zum 65. Geburtstag (2009) Festschrift für Lutz Meyer-Goßner zum 65. Geburtstag (2001) Festschrift für Edmund Mezger zum 70. Geburtstag (1954) Festschrift für Wolf Middendorf zum 70. Geburtstag (1986) NStZ-Sonderheft – Zum Eintritt in den Ruhestand für Klaus Miebach (2009) Strafprozessrecht im Wandel, Festschrift für Roland Miklau zum 65. Geburtstag (2006) Festschrift für Koichi Miyazawa (1995) Festschrift für Philipp Möhring zum 65. Geburtstag (1965) Völkerrecht als Rechtsordnung, Internationale Gerichtsbarkeit, Menschenrechte; Festschrift für Hermann Mosler zum 70. Geburtstag (1983) Opuscula Honoraria, Egon Müller zum 65. Geburtstag (2003) Festschrift für Egon Müller zum 70. Geburtstag (2008) Grundlagen staatlichen Strafens, Festschrift für Heinz Müller-Dietz zum 70. Geburtstag (2001) Strafrecht und Justizgewährung, Festschrift für Kay Nehm zum 65. Geburtstag (2006) Festschrift für Harua Nishihara zum 70. Geburtstag (1998) Festschrift für Walter Odersky zum 65. Geburtstag (1996) Festschrift für Dietrich Oehler zum 70. Geburtstag (1985) Festschrift für Harro Otto zum 70. Geburtstag (2007) In mandatis meditari, Festschrift für Hans Paarhammer zum 65. Geburtstag (2012) Des Menschen Recht zwischen Freiheit und Verantwortung, Festschrift für Karl Josef Partsch zum 75. Geburtstag (1989) Festgabe des Instituts für Strafrecht und Kriminologie der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg für Rainer Paulus zum 70. Geburtstag (2009)
LXIII
Literaturverzeichnis FS Peters FS Peters II FS Pfeiffer
FS Pfenniger FS Platzgummer FS Pöttering FS Puppe FS Rebmann FS Reichsgericht
FS Reichsjustizamt
FS Remmers FS Ress FS Richter FS Rieß FS Rill
FS Rissing-van Saan FS Rittler FS Rolinski FS Rosenfeld FS Rowedder FS Roxin FS Roxin II FS Imme Roxin Rudolphi-Symp.
FS Rudolphi FS Rüping FS Rüter FS Salger
LXIV
Einheit und Vielfalt des Strafrechts, Festschrift für Karl Peters zum 70. Geburtstag (1974) Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren, Festgabe für Karl Peters zum 80. Geburtstag (1984) Strafrecht, Unternehmensrecht, Anwaltsrecht, Festschrift für Gerd Pfeiffer zum Abschied aus dem Amt als Präsident des Bundesgerichtshofes (1988) Strafprozeß und Rechtsstaat, Festschrift zum 70. Geburtstag von H. F. Pfenniger (1976) Festschrift für Winfried Platzgummer zum 65. Geburtstag (1995) Processus Criminalis Europeus, Festschrift für Hans-Gert Pöttering (2008) Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion, Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag (2011) Festschrift für Kurt Rebmann zum 65. Geburtstag (1989) Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts, Bd. 5, Strafrecht und Strafprozeß (1929) Vom Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz, Festschrift zum 100jährigen Gründungstag des Reichsjustizamtes am 1.1.1877 (1977) Vertrauen in den Rechtsstaat, Beiträge zur deutschen Einheit im Recht, Festschrift für Walter Remmers (1995) Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte, Festschrift für Georg Ress zum 70. Geburtstag (2005) Verstehen und Widerstehen, Festschrift für Christian Richter II zum 65. Geburtstag (2006) Festschrift für Peter Rieß zum 70. Geburtstag (2002) Grundfragen und aktuelle Probleme des öffentlichen Rechts – Festschrift für Heinz Peter Rill zum 60. Geburtstag (1995) Festschrift für Ruth Rissing-van Saan zum 65. Geburtstag (2011) Festschrift für Theodor Rittler zu seinem 80. Geburtstag (1957) Festschrift für Klaus Rolinski zum 70. Geburtstag (2002) Festschrift für Ernst Heinrich Rosenfeld zu seinem 80. Geburtstag (1949) Festschrift für Heinz Rowedder zum 75. Geburtstag (1994) Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag (2001) Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag (2011) Festschrift für Imme Roxin zum 75. Geburtstag (2012) Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, Symposium zu Ehren von Hans-Joachim Rudolphi zum 60. Geburtstag (1995) Festschrift für Hans-Joachim Rudolphi zum 70. Geburtstag (2004) Recht und Macht: zur Theorie und Praxis von Strafe, Festschrift für Hinrich Rüping zum 65. Geburtstag (2008) Festschrift für C. F. Rüter zum 65. Geburtstag (2003) Straf- und Strafverfahrensrecht, Recht und Verkehr, Recht
Literaturverzeichnis
FS Samson FS Sarstedt FS Sauer FS G. Schäfer FS Schäfer FS Schindler FS Schmidt FS Schlochauer FS Schlüchter
FS H. Schmidt FS Schmidt-Leichner FS Schmitt-Glaeser FS Schneider
FS Schöch FS Schreiber FS Schroeder FS Schüler-Springorum FS Schultz FS Schwind
FS Seebode FS Seidl-Hohenveldern
FS Sendler FS Spendel FS Spinellis FS StA Schleswig-Holstein
und Medizin, Festschrift für Hannskarl Salger zum Abschied aus dem Amt als Vizepräsident des Bundesgerichtshofes (1995) Festschrift für Erich Samson zum 70. Geburtstag (2010) Festschrift für Werner Sarstedt zum 70. Geburtstag (1981) Festschrift für Wilhelm Sauer zu seinem 70. Geburtstag (1949) NJW-Sonderheft für Gerhard Schäfer zum 65. Geburtstag (2002) Festschrift für Karl Schäfer zum 80. Geburtstag (1980) Im Dienst an der Gemeinschaft, Festschrift für Dietrich Schindler zum 65. Geburtstag (1989) Festschrift für Eberhard Schmidt zum 70. Geburtstag (1961) Staatsrecht – Völkerrecht – Europarecht, Festschrift für Hans Jürgen Schlochauer (1981) Freiheit und Verantwortung in schwieriger Zeit, Kritische Studien aus vorwiegend straf(prozess-)rechtlicher Sicht zum 60. Geburtstag von Ellen Schlüchter (1998) Kostenerstattung und Streitwert, Festschrift für Herbert Schmidt (1981) Festschrift für Erich Schmidt-Leichner zum 65. Geburtstag (1975) Recht im Pluralismus, Festschrift für Walter Schmitt-Glaeser zum 70. Geburtstag (2003) Kriminologie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Festschrift für Hans Joachim Schneider zum 70. Geburtstag (1998) Festschrift für Heinz Schöch zum 70. Geburtstag (2010) Strafrecht, Biorecht, Rechtsphilosophie, Festschrift für Hans-Ludwig Schreiber zum 70. Geburtstag (2003) Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70. Geburtstag (2006) Festschrift für Horst Schüler-Springorum zum 65. Geburtstag (1993) Lebendiges Strafrecht. Festgabe zum 65. Geburtstag von Hans Schultz (1977) Kriminalpolitik und ihre wissenschaftlichen Grundlagen, Festschrift für Hans-Dieter Schwind zum 70. Geburtstag (2006) Festschrift für Manfred Seebode zum 70. Geburtstag (2008) Völkerrecht, Recht der Internationalen Organisationen, Weltwirtschaftsrecht; Festschrift für Ignaz Seidl-Hohenveldern zum 70. Geburtstag (1988) Bürger-Richter-Staat, Festschrift für Horst Sendler zum Abschied aus seinem Amt (1991) Festschrift für Günter Spendel zum 70. Geburtstag (1992) Festschrift für Dionysios Spinellis zum 70. Geburtstag (1999–2003) Strafverfolgung und Strafverzicht, Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Staatsanwaltschaft SchleswigHolstein (1992)
LXV
Literaturverzeichnis FS Steinberger FS Steinhilper FS Stober FS Stock FS Stöckel FS Strauda
FS Stree/Wessels FS Szwarc FS Tepperwien FS Tiedemann FS Tondorf FS Trechsel FS Triffterer FS Tröndle FS Trusen FS Verdross FS Verdross II FS Verosta FS Volk FS von Simson
FS Wassermann FS v. Weber FS Weber FS Weißauer FS Welp
FS Welzel FS Widmaier
LXVI
Tradition und Weltoffenheit des Rechts, Festschrift für Helmut Steinberger (2002) Kriminologie und Medizinrecht, Festschrift für Gernot Steinhilper zum 70. Geburtstag (2013) Festschrift für Rolf Stober, Wirtschaft – Verwaltung – Recht (2008) Studien zur Strafrechtswissenschaft, Festgabe für Ulrich Stock zum 70. Geburtstag (1966) Strafrechtspraxis und Reform, Festschrift für Heinz Stöckel zum 70. Geburtstag (2010) Festschrift zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer anlässlich seiner 196. Tagung vom 13.–15.10.2006 in Münster (2006) Beiträge zur Rechtswissenschaft, Festschrift für Walter Stree und Johannes Wessels zum 70. Geburtstag (1993) Vergleichende Strafrechtswissenschaft, Frankfurter Festschrift für Andrzej J. Szwarc zum 70. Geburtstag (2009) NJW-Festheft zum 65. Geburtstag von Ingeborg Tepperwien (2010) Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag (2008) Festschrift für Günter Tondorf zum 70. Geburstag (2004) Strafrecht, Strafprozessrecht und Menschenrechte, Festschrift für Stefan Trechsel zum 65. Geburtstag (2002) Festschrift für Otto Triffterer zum 65. Geburtstag (1996) Festschrift für Herbert Tröndle zum 70. Geburtstag (1989) Festschrift für Winfried Trusen zum 70. Geburtstag (1994) Völkerrecht und zeitliches Weltbild, Festschrift für Alfred Verdross zum 70. Geburtstag (1960) Ius humanitas, Festschrift für Alfred Verdross zum 90. Geburtstag (1980) Völkerrecht und Rechtsphilosophie, Internationale Festschrift für Stephan Verosta zum 70. Geburtstag (1980) In dubio pro libertate, Festschrift für Klaus Volk zum 65. Geburtstag (2009) Grundrechtsschutz im nationalen und internationalen Recht – Festschrift für Werner von Simson zum 75. Geburtstag (1983) Festschrift für Rudolf Wassermann zum 60. Geburtstag (1985) Festschrift für Hellmuth von Weber zum 70. Geburtstag (1963) Festschrift für Ulrich Weber zum 70. Geburtstag (2004) Ärztliches Handeln – Verrechtlichung eines Berufsstandes; Festschrift für Walther Weißauer zum 65. Geburtstag (1986) Strafverteidigung in Forschung und Praxis, Kriminalwissenschaftliches Kolloquium aus Anlaß des 70. Geburtstages von Jügen Welp (2006) Festschrift für Hans Welzel zum 70. Geburtstag (1974) Strafverteidigung, Revision und die gesamten Strafrechtswissenschaften – Festschrift für Gunter Widmaier zum 70. Geburtstag (2008)
Literaturverzeichnis FS Winkler FS Wolff FS Wolter FS Würtenberger FS Würtenberger II FS Würzburger Juristenfakultät FS Zeidler FS Zoll Full/Möhl/Rüth Gaede
Gaier/Wolf/Göcken GedS Bleckmann GedS Blomeyer GedS Blumenwitz GedS Bruns GedS Eckert GedS Geck GedS A. Kaufmann GedS H. Kaufmann GedS Keller GedS Küchenhoff GedS Lisken
GedS Meurer GedS Meyer GedS Noll GedS H. Peters GedS Ryssdal
GedS Schlüchter GedS Schröder GedS Trzaskalik GedS Vogler GedS Zipf Geerds
Beiträge zum Verfassungs- und Wirtschaftsrecht, Festschrift für Günther Winkler (1989) Festschrift für Ernst Amadeus Wolff zum 70. Geburtstag (1998) Festschrift für Jürgen Wolter zum 70. Geburtstag (2013) Kultur, Kriminalität, Strafrecht, Festschrift für Thomas Würtenberger zum 70. Geburtstag (1977) Verfassungsstaatlichkeit im Wandel, Festschrift für Thomas Würtenberger zum 70. Geburtstag (2013) Raum und Recht, Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät (2002) Festschrift für Wolfgang Zeidler (1987) Rechtsstaat und Strafrecht, Festschrift für Andrzej Zoll zum 70. Geburtstag (2012) s. Rüth/Berr/Berz Gaede, Fairness als Teilhabe – das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK (2007) Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht (2010) Rechtssstaatliche Ordnung Europas – Gedächtnisschrift für Albert Bleckmann (2007) Recht der Wirtschaft und Arbeit in Europa. Gedächtnisschrift für Wolfgang Blomeyer (2004) Iustitia et Pax, Gedächtnisschrift für Dieter Blumenwitz (2008) Gedächtnisschrift für Rudolf Bruns (1980) Gedächtnisschrift für Jörn Eckert (2008) Verfassungsrecht und Völkerrecht, Gedächtnisschrift für Wilhelm Karl Geck (1989) Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann (1986) Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann (1986) Gedächtnisschrift für Rolf Keller (2003) Recht und Rechtsbesinnung, Gedächtnisschrift für Günter Küchenhoff (1987) Lauschen im Rechtsstaat – Zu den Konsequenzen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum großen Lauschangriff, Gedächtnisschrift für Hans Lisken (2004) Gedächtnisschrift für Dieter Meurer (2002) Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer (1990) Gedächtnisschrift für Peter Noll (1984) Gedächtnisschrift für Hans Peters (1967) Protection des droits de l’homme: la perspective européenne/Protecting Human Rights: The European Perspective, Gedächtnisschrift für Rolv Ryssdal (2000) Gedächtnisschrift für Ellen Schlüchter (2002) Gedächtnisschrift für Horst Schröder (1978) Gedächtnisschrift für Christoph Trzaskalik (2005) Gedächtnisschrift für Theo Vogler (2004) Gedächtnisschrift für Heinz Zipf (1999) Handbuch der Kriminalistik, begr. von H. Groß, neubearbeitet von Geerds, 10. Aufl. (Bd. I 1977, Bd. II 1978)
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Literaturverzeichnis Geiger/Khan/Kotzur Gerland Gerold/Schmidt Glaser
Göbel Göhler
Götz/Tolzmann Gössel Gössel/Dölling Goldschmidt Grabenwarter/Pabel Grabitz/Hilf/Nettesheim Graf Graf (BGH Jahr) Graf/Jäger/Wittig Graf zu Dohna Greeve/Leipold Grote/Marauhn Grunau/Tiesler Grützner/Pötz/Kreß Guradze Gürtner
Habschick Hackner/Schierholt Hahn Haller/Conzen Hamm/Hassemer/Pauly Hamm Hanack-Symp.
Hansens
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Literaturverzeichnis Hartmann Hartung/Schons/Enders Haupt/Weber/Bürner/Frankfurth/ Luxemburger/Marth HdbVerfR Hecker Heghmanns Heghmanns, Verteidigung Heghmanns/Scheffler Hellebrand Hellmann Henkel Henssler/Prütting Hentschel Hentschel/König/Dauer Herrmann Heselhaus/Nowak Herzog/Mülhausen von Hippel HK HK-GS HK-OWiG Höflich/Schriever Hofmann von Holtzendorff HRRS-FG Fezer Ignor/Rixen IK-EMRK Ipsen Isele Jacobs/White/Ovey Jahn/Krehl/Löffelmann/Güntge Jahn/Nack (I)
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Literaturverzeichnis Jahn/Nack (II)
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Jakobs Janiszewski Jansen Janssen Jarass Jarass/Pieroth Jescheck/Weigend Jessnitzer/Ulrich Joachimski/Haumer Joecks John Jung Junker Junker/Armatage Kaiser Kaiser/Schöch Kamann Kammeier Karpenstein/Mayer Katholnigg Kämmerer/Eidenmüller Kindhäuser Kindhäuser (StPO) Kinzig Kirsch Kissel/Mayer Klemke/Elbs KK KK-OWiG
LXX
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Literaturverzeichnis Klein/Orlopp Klemke/Elbs Klesczewski KMR
Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis Koch/Scholtz König Koeniger Körner/Patzak/Volkmer Kohlmann Kohlrausch Krack Kramer Krause/Nehring Krekeler Krey von Kries Kühne Kunz Kunz/Zellner/Gelhausen/Weiner
Lackner/Kühl Laubenthal Laubenthal/Baier/Nestler Laubenthal/Nestler Leitner/Michalke Lemke/Mosbacher Lesch von Lilienthal Lisken/Denninger LK Löffler
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MAH (WSSt) Malek Malek (Internet) Malek (BtMG) von Mangoldt/Klein/Starck Marberth-Kubicki Marschner/Volckart/Lesting Marx/Roderfeld Marxen/Tiemann Matt/Renzikowski Maunz/Dürig Maurach/Zipf Maurach/Gössel/Zipf Maurach/Schroeder/Maiwald Mayer/Kroiß Meier (Kriminologie) Meier (Sanktionen) Meier/Rössner/Trüg/Wulf Mellinghoff Mende Merten/Papier Mertens/Stuff Meyer D. Meyer D. (GKG) Meyer/Höver/Bach
Meyer-Goßner (Prozess) Meyer-Goßner
LXXII
Literaturverzeichnis Meyer-Goßner/Appl
Meyer-Ladewig Minoggio Mitsch Momsen/Grützner Möller/Wilhelm Möthrath/Rüther/Bahr Müller Müller (Beiträge) Müller/Sax Müller-Gugenberger/Bieneck von Münch/Kunig Münchhalffen/Gatzweiler Murmann MüKo-ZPO MüKo-BGB MüKo-StGB
Niese Nipperdey/Scheuner NK-StGB Nobis Nowak
Nowak
Oetjen/Endriß OK-GG OK-StGB OK-StPO Ostendorf Ostendorf (Jugendstrafrecht) Ostendorf (U-Haft) Ostendorf (JStVollzR) Ostendorf (Jugendgerichtsgesetz)
Meyer-Goßner/Appl, Die Urteile in Strafsachen sowie Beschlüsse und Protokoll der Hauptverhandlung, 28. Aufl. (2008) Meyer-Ladewig, Handkommentar zur EMRK, 3. Aufl. (2011) Minoggio, Firmenverteidigung, 2. Aufl. (2010) Mitsch, Recht der Ordnungswidrigkeiten, Lehrbuch, 2. Aufl. (2005) Momsen/Grützner, Wirtschaftsstrafrecht (2013) Möller/Wilhelm, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, Gesamtdeutsche Darstellung, 5. Aufl. (2003) Möthrath/Rüther/Bahr, Verteidigung ausländischer Beschuldigter (2012) Müller, Der Sachverständige im gerichtlichen Verfahren, Handbuch des Sachverständigenbeweises, 3. Aufl. (1988) Müller, Beiträge zum Strafprozessrecht 1969–2001 (2003) s. KMR Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl. (2011) von Münch/Kunig, Grundgesetz, Kommentar, 2 Bände, 6. Aufl. (2012) Münchhalffen/Gatzweiler, Das Recht der Untersuchungshaft, 3. Aufl. (2009) Murmann, Prüfungswissen Strafprozessrecht (2008) Münchener Kommentar zur Zivilprozeßordnung, hrsg. von Lüke/Walchshofer, 3. Aufl. (2007) Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, hrsg. von Rixecker/Säcker, 5. Aufl. (ab 2006) Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, hrsg. von Joecks/Miebach (ab 2003), 2. Aufl. (ab 2011) Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen (1950) Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, 4 Bände (ab 1954) Nomos-Kommentar zum Strafgesetzbuch, hrsg. von Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, 4. Aufl. (2013) Nobis, Strafverteidigung vor dem Amtsgericht (2011) Nowak, UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte und Fakultativ-Protokoll – CCPR Kommentar, 2. Aufl. (2005) Nowak, CCPR – Commentary – Commentary on the U.N. Covenant on Civil and Political Rights, 2nd Edition (2005) Oetjen/Endriß, Leitfaden Untersuchungshaft (1999) Beck-Online-Kommentar zum GG Beck-Online-Kommentar zum StGB Beck-Online-Kommentar zur StPO Ostendorf, Strafprozessrecht (2012) Ostendorf, Jugendstrafrecht, 7. Aufl. (2013) Ostendorf, Untersuchungshaft und Abschiebehaft (2012) Ostendorf, Jugendstrafvollzugsrecht, 2. Aufl. (2012) Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, 9. Aufl. (2012)
LXXIII
Literaturverzeichnis Palandt Park Park (Kapitalmarkt) Partsch
Peter (Opferanwalt) Peter Peters/Altwicker (EMRK) Peters Peters (Fehlerquellen) Pfeiffer Pfordte/Degenhard Piller/Hermann Plötz (Fürsorgepflicht) Pohlmann/Jabel/Wolf Poller/Teubel Popp Potrykus Protokolle Püschel/Bartmeier/Mertens Putzke/Scheinfeld Quedenfeld/Füllsack Quellen
Radtke/Hohmann Randt Ranft Rebmann/Roth/Hermann Rebmann/Uhlig/Pieper
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Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, Kurzkommentar, 72. Aufl. (2013) Park, Handbuch Durchsuchung und Beschlagnahme 2. Aufl. (2009) Park, Kapitalmarktstrafrecht, Handkommentar, 3. Aufl. (2013) Partsch, Die Rechte und Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1966 (Sonderdruck aus Bettermann/ Neumann/Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte der Welt Bd. I 1) Peter, Das 1x1 des Opferanwalts, 2. Aufl. (2013) Peter, Das 1x1 der Hauptverhandlung, 2. Aufl. (2011) Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. (2012) Peters, Strafprozeß, Lehrbuch, 4. Aufl. (1985) Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Band I (1970), Band II (1972), Band III (1974) Pfeiffer, Strafprozeßordnung, Kommentar, 5. Aufl. (2005) Pforte/Degenhard, Der Anwalt im Strafrecht (2005) Piller/Hermann, Justizverwaltungsvorschriften, Loseblattsammlung Plötz, Die gerichtliche Fürsorgepflicht im Strafverfahren (1980) Pohlmann/Jabel/Wolf, Strafvollstreckungsordnung, Kommentar, 7. Aufl. (2001) Poller/Teubel, Gesamtes Kostenhilferecht, 2. Aufl. (2013) Popp, Grundzüge der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen (2001) Potrykus, Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz, 4. Aufl. (1955) Protokolle der Kommission für die Reform des Strafprozesses (1905) Püschel/Bartmeier/Mertens, Untersuchungshaft in der anwaltlichen Praxis (2011) Putzke/Scheinfeld, Strafprozessrecht, 4. Aufl. (2012) Quedenfeld/Füllsack, Verteidigung in Steuerstrafsachen, 4. Aufl. (2011) Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts, hrsg. von Schubert/Regge/Rieß/Schmid, I. Abt. – Weimarer Republik, II. Abt. NS-Zeit – Strafgesetzbuch, III. Abt. NSZeit – Strafverfahrensrecht (ab 1988) Radtke/Hohmann, Strafprozessordnung, Kommentar (2011) Randt, Der Steuerfahndungsfall (2004) Ranft, Strafprozeßrecht, 3. Aufl. (2005) Rebmann/Roth/Hermann, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, Kommentar, Loseblattausgabe Rebmann/Uhlig/Pieper, Bundeszentralregistergesetz, Kommentar (1985)
Literaturverzeichnis Reisert Ricker/Weberling Riedel/Sußbauer Rieß Rode/Legnaro Röttle/Wagner Rolletschke Rolletschke/Kemper Rosenberg/Schwab/Gottwald Rosenfeld Rostek Rotberg
Roxin/Schünemann Roxin (StrafR) Roxin-Symp.
Roxin (I.) Rönnau Rösch (Jugendrichter) Rösch Rüping Rüth/Berr/Berz Sachs Sack Satzger Satzger/Schluckebier/Widmaier Satzger (Intern. Strafrecht) Sauer Schäfer Schäfer/Sander/van Gemmeren Schaffstein/Beulke Schellenberg Schenke Schilken
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Schorn/Stanicki Schroeder/Verrel Schröder Schröder (KapitalStR) Schroth Schulz/Berke-Müller/Händel Schünemann-Symp.
Schwind Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal Schwinge Seier Seifert/Hömig Simma/Fastenrath Sieber/Brüner/Satzger/ v. Heintschel-Heinegg
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ERLÄUTERUNGEN ZU DEN EINZELNEN VORSCHRIFTEN Strafprozeßordnung ERSTES BUCH Allgemeine Vorschriften ZWEITER ABSCHNITT Gerichtsstand § 11a Wird eine Straftat außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes von Soldatinnen oder Soldaten der Bundeswehr in besonderer Auslandsverwendung (§ 62 Absatz 1 des Soldatengesetzes) begangen, so ist der Gerichtsstand bei dem für die Stadt Kempten zuständigen Gericht begründet.
Schrifttum Ladiges Der strafprozessuale Gerichtsstand bei besonderen Auslandsverwendungen – Alles neu macht § 11a StPO? NZWehrr 2013 66; Zimmermann Der neue Gerichtsstand bei besonderer Auslandsverwendung der Bundeswehr, NJW 2013 905.
Änderung. Die Vorschrift wurde durch Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes für einen Gerichtsstand bei besonderer Auslandsverwendung der Bundeswehr vom 21.1.2013, BGBl. I, S. 89, mit Wirkung zum 1.4.2013 in die StPO eingefügt.
Übersicht Rn. 1. Zweck der Neuregelung . . . . . . . . 2. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zur Funktion und Leistungsfähigkeit der §§ 7 ff. . . . . . . . . . . . . . b) Ausschließlichkeit als konsequentere Lösung . . . . . . . . . . . . . . . c) Funktionelle Zuständigkeit . . . . .
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. .
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Rn. 3. Regelungsgehalt a) Erfasste Sachverhalte . . . . . . . . . . b) Zuständige Gerichte und Staatsanwaltschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Keine ausschließliche Zuständigkeit . .
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1. Zweck der Neuregelung. Nach der Begründung des RegE habe das Fehlen eines 1 besonderen Gerichtsstands für die vorliegend geregelte Konstellation erstens „zu unübersichtlichen Zuständigkeitsverteilungen“ geführt, nach denen es insbesondere dort, wo „an einem aufklärungsbedürftigen Sachverhalt mehrere Soldatinnen und Soldaten der
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§ 11a StPO Nachtr.
Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
Bundeswehr verschiedener Stammeinheiten beteiligt“ sind, „zu mehreren örtlich zuständigen Ermittlungsbehörden und zu verfahrensverzögernden Zuständigkeitsproblemen kommen“ könne. Zweitens erfordere die Beurteilung entsprechender Sachverhalte „besondere Kenntnisse, so zu den rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen der besonderen Auslandverwendung“, „Kenntnisse konkreter militärischer Abläufe und Strukturen sowie technischer Ausstattungen und organisatorischer Abläufe“, es könnten „dienstrechtliche Besonderheiten im Rahmen einer möglichen Rechtfertigung eine Rolle spielen“ und es seien „in der Regel auch Fähigkeiten und Kenntnisse hinsichtlich Ermittlungen mit Auslandsbezug erforderlich.“1 Insofern soll die vorliegende Regelung nicht nur für eine klare Zuständigkeit sorgen, sondern bei den zuständigen Gerichten und der zuständigen Staatsanwaltschaft eine Spezialisierung mit der Bündelung besonderen Fachwissens ermöglichen. Die für die Stadt Kempten zuständigen Gerichte wurden deshalb gewählt, weil dort aufgrund eines Ministerialerlasses für den Bereich des Freistaats Bayern zur Verfolgung von Straftaten, die Soldaten in Ausübung ihres Dienstes bei Auslandseinsätzen begangen haben, bereits eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft eingerichtet wurde und „mithin bei den für Kempten zuständigen Justizbehörden bereits entsprechende Erfahrungen vorhanden“ seien.2
2
2. Kritik. Ob eine bundesweite Bündelung der örtlichen Zuständigkeit im vorliegenden Zusammenhang tatsächlich erforderlich und angemessen ist (insbesondere mit Blick auf Bagatelldelikte, die – wie z.B. ein Kameradendiebstahl in der Unterkunft – keinen wehr- und schon gar keinen auslandseinsatzspezifischen Charakter aufweisen, von § 11a aber gleichwohl unterschiedslos miterfasst werden), erscheint durchaus zweifelhaft.3 Im Übrigen wurde das Anliegen einer effektiven Zuständigkeitskonzentration im Rahmen der vorliegenden Regelung nur höchst unvollkommen umgesetzt.
3
a) Zur Funktion und Leistungsfähigkeit der §§ 7 ff. Für eine legislatorisch konsequente Umsetzung des Ziels einer bundesweiten Konzentration der einschlägigen Verfahren genügt es nicht, die bestehenden Regelungen über die örtliche Zuständigkeit durch Hinzufügung eines weiteren Gerichtsstands in den Katalog der §§ 7 ff. zu erweitern. Mit Ausnahme von § 7 Abs. 1 Satz 2 sind die §§ 7 ff. – einschließlich des neuen § 11a – objektiv gesehen nämlich überhaupt nicht auf die Herstellung einer Zuständigkeitskonzentration angelegt. Sie sind vielmehr nur dafür konzipiert, dass für alle denkbaren Sachverhalte, in denen deutsches Strafrecht anwendbar ist, wenigstens ein Gerichtsstand zur Verfügung steht – mit der Folge vielfach konkurrierender Zuständigkeiten, zu deren Auflösung es unter der beteiligten Staatsanwaltschaften der Herstellung eines Einvernehmens und oder einer Anwendung von § 147 GVG oder § 143 Abs. 3 GVG bedarf, während auf gerichtlicher Ebene ggf. § 12 zum Tragen kommt. Durch die Einfügung von § 11a (der dabei im Gegensatz zu seinen benachbarten Vorschriften keine denkbare Gerichtsstands-Lücke schließt, sondern durchweg nur einen zusätzlichen Gerichtsstand schafft) ist insofern eine Gesetzeslage entstanden, die das Ziel einer Bündelung aller einschlägigen Verfahren in einem Zuständigkeitsbezirk zwar dadurch befördert, dass bei den für die Stadt Kempten zuständigen Gerichten und bei der dortigen Staatsanwaltschaft immer eine Zuständigkeit vorhanden ist. Effektiv erreicht werden kann jenes Ziel aber nur, wenn alle anderweitig zuständigen Staatsanwaltschaften tatsächlich freiwillig mitwirken
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BTDrucks. 17 9694 S. 6; zur Vorgeschichte Ladiges NZWehrr 2013 66, 70 f. BTDrucks. 17 9694 S. 7.
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Krit. Ladiges NZWehrr 2013 66, 75 f.; insgesamt positive Bewertung der Vorschrift hingegen bei Zimmermann NJW 2013 905, 907.
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Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand
Nachtr. § 11a StPO
und evtl. selbst eingeleitete Verfahren sofort an die Staatsanwaltschaft Kempten abgeben. Von Gesetzes wegen sind die Staatsanwaltschaften anderer Bundesländer nämlich durch nichts (es sei denn durch eine im jeweiligen Einzelfall ergangene Entscheidung des Generalbundesanwalts nach § 143 Abs. 3, 2. Alt. GVG) daran gehindert, im Falle ihrer anderweitig begründeten örtlichen Zuständigkeit ein eigenes Ermittlungsverfahren bis zur Anklageerhebung durchzuführen, und das betreffende Gericht könnte mit der Eröffnung des Hauptverfahrens nach § 12 Abs. 1 die vom Gesetzgeber eigentlich gewollte Sonderzuständigkeit der für die Stadt Kempten zuständigen Gerichte bewusst leerlaufen lassen. b) Ausschließlichkeit als konsequentere Lösung. Vor diesem Hintergrund erschiene im 4 Hinblick auf die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele die Schaffung einer ausschließlichen örtlichen Zuständigkeit als konsequentere Lösung. Mit einer solchen würde der der Gesetzgeber zwar echtes Neuland betreten4 und im Hinblick auf den insoweit notwendigen Entzug der Strafverfolgungszuständigkeit der übrigen Bundesländer z.T. vielleicht auf Bedenken hinsichtlich der Gesetzgebungskompetenz des Bundes stoßen.5 Letztere sollten aber im Hinblick darauf überwindbar sein, dass es hier um die Verfolgung reiner Auslandssachverhalte durch Angehörige der Streitkräfte des Bundes geht, zu denen aus Länderperspektive durch den Wohn- oder letzten inländischen Stationierungsort des Beschuldigten nur ein äußerst schwacher Bezug besteht. c) Funktionelle Zuständigkeit. Bei der gesetzlichen Verankerung einer Sonderzustän- 5 digkeit, die eine fachliche Spezialisierung der zuständigen Richter und Staatsanwälte gewährleisten soll, hätte es im Übrigen nahe gelegen, die Einrichtung der dafür erforderlichen besonderen Spruchkörper nicht weiterhin der bayerischen Justizverwaltung zu überlassen, sondern als besondere funktionelle Zuständigkeit im GVG (entsprechend der Situation bei den §§ 74a, 74c GVG) zwingend vorzuschreiben. 3. Regelungsgehalt a) Erfasste Sachverhalte. Der neue Gerichtsstand erfasst alle Straftaten, die (aus- 6 schließlich) von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr „in besonderer Auslandsverwendung“, d.h. bei einem Einsatz, der gemäß § 62 Abs. 1 Soldatengesetz „auf Grund eines Übereinkommens, eines Vertrages oder einer Vereinbarung mit einer über- oder zwischenstaatlichen Einrichtung oder mit einem auswärtigen Staat auf Beschluss der Bundesregierung im Ausland oder außerhalb des deutschen Hoheitsgebietes auf Schiffen oder in Luftfahrzeugen“ stattfindet.6 4
5
Nach der Begründung des RegE BTDrucks. 17 9694 S. 7 ging der Gesetzgeber davon aus, dass ein ausschließlicher Gerichtsstand „dem System des deutschen Strafverfahrensrechts fremd wäre.“ Vgl. die im RegE BTDrucks. 17 9694 S. 6 unter der Überschrift „Gesetzgebungskompetenz“ zu findende Beteuerung, wonach durch die vorliegende Regelung „den anderen Ländern keine Zuständigkeit für eine Verfolgung der von § 12a StPO-E erfassten Delikte genommen“ werde; nach der von Jeßberger abgegebenen Stellungnahme zum Gesetzentwurf, www.intcrim.uni-hamburg.de/wp-
6
content/uploads/2012/09/StellungnahmeJessberger.pdf, abgerufen am 4.2.2013, wäre eine „Zuständigkeitskonzentration durch Schaffung eines neuen, ausschließlichen Gerichtsstandes in einem Bundesland … wohl mit Art. 30, 92 GG nicht zu vereinbaren“. Zur Verfassungsmäßigkeit der vorliegenden Regelung Ladiges NZWehrr 2013 66, 74 f.; Zimmermann NJW 2013 905, 907. Vgl. auch RegE BTDrucks. 17 9694 S. 7; ausführlich zu den einzelnen Voraussetzungen Ladiges NZWehrr 2013 66, 72 ff.; Zimmermann NJW 2013 905, 907.
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§ 12 StPO Nachtr.
Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
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b) Zuständige Gerichte und Staatsanwaltschaften. Die Einrichtung des Gerichtsstands bei dem „für die Stadt Kempten zuständigen Gericht“ führt je nach sachlicher Zuständigkeit dazu, dass in erster Instanz das Amtsgericht Kempten, das Landgericht Kempten oder (im Rahmen von § 120 GVG) das Oberlandesgericht München zur Entscheidung berufen ist. Seitens der Staatsanwaltschaft ist für amts- und landgerichtliche Verfahren nach § 143 Abs. 1 die Staatsanwaltschaft Kempten zuständig, in erstinstanzlichen Verfahren vor dem Oberlandesgericht hingegen gemäß § 142a Abs. 1 Satz 1 der Generalbundesanwalt.
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c) Keine ausschließliche Zuständigkeit. Der Gerichtsstand nach § 11a hat nach seiner gesetzlichen Konzeption, die auch dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers entspricht,7 keinen ausschließlichen Charakter (bzw. nicht einmal einen gesetzlich begründeten Vorrang; zur Kritik s.o. Rn. 2 ff.). Neben ihm bestehen somit weiterhin sämtliche Gerichtsstände, die in concreto nach den übrigen Bestimmungen des Abschnitts gegeben sind, bei Soldaten im Alter von 18 bis unter 21 Jahren gemäß § 108 Abs. 1 i.V.m. § 42 JGG darüber hinaus die zusätzlichen Gerichtsstände, die das Gesetz in Jugendsachen vorsieht.8
§ 12 (1) Unter mehreren nach den Vorschriften der §§ 7 bis 11a und 13a zuständigen Gerichten … (2) …
Änderung. Die Verweisung wurde durch Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes für einen Gerichtsstand bei besonderer Auslandsverwendung der Bundeswehr vom 21.1.2013, BGBl. I, S. 89, mit Wirkung zum 1.4.2013 in die StPO um den neuen § 11a und um § 13a ergänzt. Zweck der Neuregelung. Weil der von § 12 statuierte Prioritätsgrundsatz umfassend gelten soll, bedurfte es einer Einbeziehung des neuen Gerichtsstands nach § 11a. Zugleich wurde mit der ausdrücklichen Einbeziehung von § 13a ein bei dessen Einführung durch das 3. StrÄndG erfolgtes Versäumnis nachgeholt.1 Weil es sich dabei seinerzeit um ein Redaktionsversehen gehandelt hatte, war § 12 nach seinem Sinn und Zweck schon bisher auch auf das nach § 13a durch den BGH bestimmte Gericht anwendbar.2
7 8
4
Vgl. die Begr. des RegE BTDrucks. 17 9694 S. 7. So auch die Begr. des RegE BTDrucks. 17 9694 S. 7.
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RegE BTDrucks. 17 9694 S. 7 f. Dazu HW 3 m.w.N.
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VIERTER ABSCHNITT Gerichtliche Entscheidungen und Kommunikation zwischen den Beteiligten § 35a 1Bei der Bekanntmachung einer Entscheidung, die durch ein befristetes Rechtsmittel angefochten werden kann, ist der Betroffene über die Möglichkeiten der Anfechtung und die dafür vorgeschriebenen Fristen und Formen zu belehren. 2Ist gegen ein Urteil Berufung zulässig, so ist der Angeklagte auch über die Rechtsfolgen des § 40 Abs. 3 und der §§ 329, 330 zu belehren. 3Ist einem Urteil eine Verständigung (§ 257c) vorausgegangen, ist der Betroffene auch darüber zu belehren, dass er in jedem Fall frei in seiner Entscheidung ist, ein Rechtsmittel einzulegen.
Änderung. Durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.20091 sind Regelungen zum zulässigen Inhalt, zum Zustandekommen und zu den Folgen einer Verständigung getroffen worden. Diese Regelungen und insbesondere die Forderung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs nach einer qualifizierten Belehrung bei Rechtsmittelverzicht nach einer Verständigung2 haben eine Ergänzung in § 35a erforderlich gemacht. Durch Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren wurde Satz 3 eingefügt. Im Übrigen ist die Vorschrift unverändert geblieben. Übersicht Rn. 1. Zweck der Erweiterung . . . . . . . 2. Voraussetzungen für eine qualifizierte Belehrung nach Satz 3 a) Verständigung . . . . . . . . . . b) Urteil . . . . . . . . . . . . . . 3. Belehrungsadressat . . . . . . . . .
. . .
1
. . . . . . . . .
2 3 5
Rn. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Form der Belehrung . . . . . . . . . . . . Inhalt der Belehrung nach Satz 3 . . . . . Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . Dokumentation der qualifizierten Belehrung Belehrungsmängel . . . . . . . . . . . . Revision . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Alphabetische Übersicht Belehrung Dokumentation 9 Form 6 Inhalt 7, 9 qualifizierte 1, 3, 9 ff. Belehrungsadressat 5
Rechtsmittelverzicht 1, 4 Revision 11 Strafbefehlsverfahren 3 f. Urteil 3 Verständigung 2 Zweck 1
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BGBl. I S. 2353.
BGHSt 50 40 = NJW 2005 1440, 1446.
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§ 35a StPO Nachtr. 1
Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
1. Zweck der Erweiterung. Mit der Einfügung des Satzes 3 trägt der Gesetzgeber der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs3 Rechnung und geht sogar noch über die von dem Großen Senat für Strafsachen aufgestellten Rechtsgrundsätze hinaus. Nach der Entscheidung des BGH ist der Rechtsmittelberechtigte, der nach Satz 1 über ein Rechtsmittel zu belehren ist, nach jedem Urteil, dem eine Urteilsabsprache zugrunde liegt, stets auch darüber zu belehren, dass er ungeachtet der Absprache in seiner Entscheidung frei ist, Rechtsmittel einzulegen (qualifizierte Belehrung). Der nach einer Urteilsabsprache erklärte Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels ist nach Auffassung des BGH unwirksam, wenn der ihn erklärende Rechtsmittelberechtigte nicht qualifiziert belehrt worden ist.4 Über die Vorgaben des BGH ist der Gesetzgeber mit § 302 Satz 2 hinausgegangen, soweit nunmehr danach ein Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels stets ausgeschlossen ist, sofern dem Urteil eine Verständigung vorausgegangen ist.5 Auch bei nach Satz 3 ordnungsgemäß erfolgter qualifizierter Belehrung kann ein Rechtsmittelberechtigter nur den Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels abwarten, nicht aber wegen des nach § 302 Satz 2 ausgeschlossenen Verzichts einen solchen wirksam erklären. Der Gesetzgeber ist damit einer im Gesetzgebungsverfahren von der Rechtsanwaltschaft erhobenen Forderung nachgekommen6 und hat damit das Verbot einer Rechtsmittelverzichtserklärung nach einer Verständigung zusätzlich gesetzlich abgesichert. 2. Voraussetzungen für eine qualifizierte Belehrung nach Satz 3
2
a) Verständigung. Der Gesetzgeber hat bewusst den Begriff der Verständigung anstelle der im Übrigen verwandten Begriffe der Absprache oder Vereinbarung gewählt, um nicht den Eindruck zu fördern, dass Grundlage des Urteils eine quasi vertraglich bindende Vereinbarung wäre.7 Von einer Definition des Begriffs der Verständigung ist abgesehen worden, weil dieser im allgemeinen Sprachgebrauch hinreichend präzise erfasst sein soll. Wesentliches Merkmal einer Verständigung ist dabei das Einvernehmen der Verfahrensbeteiligten. Wann ein „geeigneter Fall“ für eine Verständigung vorliegt, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab.8 Was Gegenstand einer Verständigung sein darf, regelt § 257c Abs. 2 abschließend. Danach dürfen nur die Rechtsfolgen, die Inhalt des Urteils und der dazugehörigen Beschlüsse sein können, sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrunde liegenden Erkenntnisverfahren sowie das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten zum Gegenstand einer Verständigung gemacht werden. Ein – glaubhaftes – Geständnis soll Bestandteil jeder Verständigung sein (§ 257c Abs. 2 Satz 2). Der Schuldspruch sowie die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung dürfen nicht Gegenstand einer Verständigung sein (§ 257c Abs. 2 Satz 3). Wenn auch der Begriff der Verständigung nicht gesetzlich definiert worden ist, so hat der Gesetzgeber über die Regelung, was Inhalt einer Verständigung sein darf, noch eine hinreichend präzise Bestimmung vorgenommen. Er hat damit aber auch den Tatgerichten
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BGHSt 50 40, 59 ff. = NJW 2005 1440 ff. = JR 2005 430 mit Anm. Rieß. BGHSt 50 40, 61 f. = NJW 2005 1440 f. = JR 2005 430 mit Anm. Rieß. Meyer-Goßner § 302, 26b. Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Regelung der Verständigung im
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Strafverfahren (BTDrucks. 16 11736) und zum Beschluss des Bundesrats vom 6.3.2009 (BRDrucks. 65/09 (B)) S. 4; vgl. Rieß FS Meyer-Goßner 645, 650 ff. Gesetzentwurf der Bundesregierung (Stand 9.1.2009) S. 8. Gesetzentwurf der Bundesregierung (Stand 9.1.2009) S. 15.
Kirsten Graalmann-Scheerer
Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen und Kommunikation
Nachtr. § 35a StPO
und Verfahrensbeteiligten einen Spielraum für eine an den konkreten Umständen des Einzelfalls orientierte Verständigung belassen.9 b) Urteil. Eine qualifizierte Belehrung nach Satz 3 voraus, dass einem Urteil eine Ver- 3 ständigung (§ 257c) vorausgegangen ist. Urteil im Sinne von Satz 3 ist nur das Urteil nach §§ 260, 268, nicht hingegen der Strafbefehl (§§ 407 ff.), der erst dann einem rechtskräftigen Urteil gleichsteht, soweit gegen ihn nicht fristgerecht Einspruch eingelegt worden ist (§ 410 Abs. 3). Bei der Bekanntmachung eines Strafbefehls (§ 35 Abs. 2 Satz 1, § 35a Satz 1), dem eine Verständigung vorausgegangen ist, bedarf es daher keiner qualifizierten Belehrung nach Satz 3. § 302 Abs. 1 Satz 2, wonach ein Rechtsmittelverzicht ausgeschlossen ist, wenn dem Urteil eine Verständigung vorausgegangen ist, gilt nämlich im Strafbefehlsverfahren nicht entsprechend (§ 410 Abs. 1 Satz 2). Die Erledigungen im Strafbefehlsverfahren haben sich in den letzten Jahren bundes- 4 weit im Durchschnitt bei etwa 10 bis 12 % aller Erledigungen eingependelt und entsprechen damit ungefähr dem Anteil aller Anklagen zum Amtsgericht und liegen knapp 60mal höher als die Erledigungen durch Anklage zum Landgericht,10 die nur etwa 0,20 % aller Erledigungen ausmachen. Vor allem seit dem durch das RpflEntlG erweiterten Sanktionsrahmen für das Strafbefehlsverfahren in § 407 Abs. 2 durch Einfügung von Satz 2 auf zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr, sofern der Angeschuldigte einen Verteidiger hat, werden im Bereich der mittleren (Wirtschafts-)Kriminalität Erörterungen mit dem Ziel einer Verständigung zwischen Staatsanwaltschaft, Beschuldigtem, dessen Verteidiger und sonstigen Verfahrensbeteiligten (z.B. Finanzbehörde im Steuerstrafverfahren nach §§ 403, 407 Abs. 1 AO) geführt. In § 160b ist nunmehr gesetzlich geregelt, was zuvor bereits ständige Praxis der Staatsanwaltschaft in bestimmten Kriminalitätsbereichen war. Die Staatsanwaltschaft kann danach den Stand des Verfahrens mit den Verfahrensbeteiligten erörtern, soweit dies geeignet erscheint, das Verfahren zu fördern, wobei der wesentliche Inhalt dieser Erörterungen aktenkundig zu machen ist. Auch wenn das Gericht als Träger des gerichtlichen Verfahrens nicht Verfahrensbeteiligter ist,11 wird es in der Praxis in aller Regel, soweit es um Erörterungen mit dem Ziel einer Verständigung im Strafbefehlsverfahren geht, einbezogen, um nicht Gefahr zu laufen, dass das Gericht von seinen Entscheidungsmöglichkeiten nach § 408 Abs. 3 Satz 2 Gebrauch macht. Um eine Verständigung im Sinne von § 257c zwischen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten handelt es sich aber nicht, denn in diesem Verfahrensstadium liegt die Verfahrensherrschaft bei der Staatsanwaltschaft und noch nicht bei Gericht. Während ein Rechtsmittelverzicht ausgeschlossen ist (§ 302 Abs. 1 Satz 2), wenn einem Urteil eine Verständigung nach § 257c vorausgegangen ist, findet § 302 Abs. 1 Satz 2 im Strafbefehlsverfahren keine Anwendung (§ 410 Abs. 1 Satz 2). Das führt zu dem Ergebnis, dass die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren mit den Verfahrensbeteiligten den Stand des Verfahrens erörtern kann, soweit dies geeignet erscheint, das Verfahren zu fördern. Diese Erörterungen können sich auf Beschränkungen des Verfahrensstoffes (§§ 154 Abs. 1, 154a Abs. 1), aber auch auf die Erledigung des Verfahrens durch einen Antrag der Staatsanwaltschaft auf Erlass eines Strafbefehls beziehen.12 Sie können aber auch einen Verzicht auf die Einlegung eines Einspruchs gegen
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Zum Begriff der Verständigung vgl. Erl. im Nachtrag zu § 257c; Meyer-Goßner § 257c, 18 ff. Tabelle bei LR/Gössel Vor § 407, 14; Gössel FS Stöckel 245, 255.
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BVerfGE 21 139, 145 = NJW 1967 1123; BVerfGE 30 149, 153, 160 = NJW 1971 1029. Meyer-Goßner § 160b, 6.
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§ 35a StPO Nachtr.
Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
einen vom Gericht erst noch zu erlassenden Strafbefehl umfassen, denn § 302 Abs. 1 Satz 2 gilt nach der eindeutigen Regelung des § 410 Abs. 1 Satz 2 im Strafbefehlsverfahren gerade nicht. Es obliegt dann dem Gericht zu prüfen, ob es von seinem Entscheidungsmöglichkeiten nach § 408, insbesondere nach § 408 Abs. 3 Satz 2 Gebrauch machen will. Erlässt das Amtsgericht den entsprechend den Erörterungen nach § 160b von der Staatsanwaltschaft beantragten Strafbefehl und ergibt sich aus der nach § 160b Satz 2 obligatorischen Dokumentation aus den Akten, dass der Beschuldigte im Falle des Erlasses des dem Erörterungsergebnis entsprechenden Strafbefehls auf die Einlegung des Einspruchs verzichtet, reicht die Rechtsbehelfsbelehrung nach § 410 aus. Einer qualifizierten Belehrung in entsprechender Anwendung von Satz 3 bedarf es schon deshalb nicht, weil ein im Rahmen der Erörterungen nach § 160b gegenüber der Staatsanwaltschaft vorsorglich erklärter und nach § 160b Satz 2 in den Akten dokumentierter Verzicht auf die Einlegung des Einspruchs vor Erlass der Entscheidung ohnehin stets unzulässig und damit unwirksam ist.13 Eine andere Frage ist es, wenn der Beschuldigte trotz ordnungsgemäß erteilter Belehrung nach § 410 Abs. 1 rechtsirrtümlich meint, an seine im Rahmen der Erörterungen nach § 160b abgegebenen Erklärungen gebunden zu sein und deswegen innerhalb der Einlegungsfrist keinen Einspruch gegen den Strafbefehl einlegt. Insoweit könnte eine Ergänzung von § 410 Abs. 1 Satz 2 um die Vorschrift des § 302 Abs. 1 Satz 2 erwägenswert sein.
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3. Belehrungsadressat ist der Betroffene. Betroffener im Sinne von Satz 3 sind der Beschuldigte, der Angeschuldigte und Angeklagte (§ 296 Abs. 1), der Nebenkläger (§ 401 Abs. 1 Satz 1), der Einziehungsbeteiligte (§ 431 Abs. 5 Satz 2; § 433 Abs. 1; § 439 Abs. 1; § 440 Abs. 3, § 441 Abs. 2), die juristische Person oder Personenvereinigung bei Festsetzung von Geldbußen (§ 444). Im Privatklageverfahren ist der Privatkläger (§ 390 Abs. 1 Satz 1) Betroffener. Zur Betroffeneneigenschaft bei dem gesetzlichen Vertreter (§ 298), den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern von Jugendlichen (§ 67 Abs. 2 JGG) vgl. Erl. zu § 35 HW.
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4. Form der Belehrung. Satz 3 schreibt zwar keine besondere Form für die Belehrung vor. Da es sich jedoch bei der qualifizierten Belehrung um eine wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung (§ 273 Abs. 1 Satz 2) handelt, nimmt sie an der Beweiskraft des Protokolls nach § 274 teil.14 Die mündlich erteilte Belehrung nach Satz 3 ist daher stets in der Sitzungsniederschrift zu protokollieren (Nr. 142 Abs. 1 Satz 4 RiStBV). Mithin hat die Belehrung nach Satz 3 in der Sitzungsniederschrift zu Protokoll des Urkundsbeamten zu erfolgen.
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5. Inhalt der Belehrung nach Satz 3. Der Betroffene ist darüber zu belehren, dass er in jedem Fall frei in seiner Entscheidung ist, ein Rechtsmittel einzulegen. Der Gesetzgeber hat damit eine wesentliche Aussage der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs15 aufgegriffen,16 wonach der Rechtsmittelberechtigte, der nach Satz 1 über ein Rechtsmittel zu belehren ist, nach jedem Urteil, dem eine Urteilsabsprache zugrunde liegt, auch darüber hinaus belehrt werden muss, dass er ungeachtet der Absprache in seiner Entscheidung frei ist, Rechtsmittel einzulegen, selbst wenn die Absprache einen Rechtsmittelverzicht nicht zum Gegenstand hat.17 Dem Gesetzgeber kam 13 14 15
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LR/Hanack 25 § 302, 10; BGHSt 43 195; BGH StV 2000 542. BGH NStZ 2005 389. BGHSt 50 40, 61.
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BTDrucks. 16 12310 S. 11. Kritisch Meyer-Goßner 17; Altenhain/ Haimerl JZ 2010 327, 333; Bittmann wistra 2009 414, 417.
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Nachtr. § 37 StPO
es darauf an, mit der neu geschaffenen Belehrungspflicht nach Satz 3 die Rechtsgrundsätze des GrSSt zum Inhalt der qualifizierten Belehrung gesetzlich abzusichern.18 Zum konkreten Wortlaut einer den Vorgaben genügenden qualifizierten Belehrung vgl. BGH NStZ 2007 419. 6. Zuständigkeit. Die Belehrung obliegt dem Gericht, das die bekannt zu machende 8 Entscheidung erlassen hat. Da die Belehrung nicht mehr zur Urteilsbegründung gehört,19 muss sie nicht zwingend durch den Vorsitzenden im Rahmen der Verhandlungsleitung nach § 238 Abs. 1 erfolgen. Allerdings dürfte es ratsam sein, dass der Vorsitzende die Belehrung vornimmt, um Belehrungsmängeln vorzubeugen. 7. Dokumentation der Belehrung. Bei der qualifizierten Belehrung nach Satz 3 han- 9 delt es sich um eine wesentliche Förmlichkeit im Sinne von § 273 Abs. 1 Satz 1, die in der Sitzungsniederschrift zu protokollieren ist. Dabei ist nur der Umstand der Belehrung, also dass das Gericht den Angeklagten (und seinen Verteidiger) qualifiziert belehrt hat, nicht aber der genaue Inhalt der qualifizierten Belehrung zu protokollieren.20 8. Belehrungsmängel. Zur unterbliebenen, unvollständigen, falschen und widersprüch- 10 lichen Belehrung vgl. HW Rn. 36 ff. Ist eine qualifizierte Belehrung versäumt worden, so ergeben sich daraus keine unmittelbaren Folgen. Sofern der Angeklagte innerhalb der Rechtsmitteleinlegungsfrist kein Rechtsmittel einlegt, wird das Urteil rechtskräftig.21 Unter Umständen kann bei unterbliebener qualifizierter Belehrung eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Rechtsmitteleinlegungsfrist in Betracht kommen, wenn ein frist- und formgerechter Wiedereinsetzungsantrag gestellt wird (§ 45 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2) und der Angeklagte glaubhaft macht (§ 45 Abs. 2 Satz 1), dass er der irrigen Auffassung war, er dürfe bei unterbliebener qualifizierter Belehrung gegen das Urteil kein Rechtsmittel einlegen. Eine solche Glaubhaftmachung der eine Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen dürfte jedoch in der Praxis kaum gelingen. Die gesetzliche unwiderlegbare Vermutung nach § 44 Satz 2 greift bei unterbliebener Belehrung nach § 35a Satz 3 nicht ein (§ 44, 2). 9. Revision. Ein Verstoß gegen Satz 3 vermag die Revision nicht zu begründen, denn 11 das Urteil beruht nicht auf diesem Mangel (§ 337 Abs. 1).22
§ 37 (1) … (2) … (3) 1Ist einem Prozessbeteiligten gemäß § 187 Absatz 1 und 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes eine Übersetzung des Urteils zur Verfügung zu stellen, so ist das Urteil zusammen mit der Übersetzung zuzustellen. 2Die Zustellung an die übrigen Prozessbeteiligten erfolgt in diesen Fällen gleichzeitig mit der Zustellung nach Satz 1.
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BTDrucks. 16 12310 S. 11. BGHSt 25 335; Meyer-Goßner 8; BGH NStZ 1984 279.
20 21 22
Siehe HW § 35a, 31; BGH StraFo 2009 335. OLG Frankfurt NStZ-RR 2011 50. Kirsch StraFo 2010 100.
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§ 37 StPO Nachtr.
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Änderung. Durch Artikel 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren vom 2.7.2013 (BGBl. I S. 1938) wurde Absatz 3 eingefügt. Die Änderung des § 37 dient der Umsetzung von Artikel 3 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.10.2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen im Strafverfahren (ABlEU Nr. L 280 vom 26.10.2010 S. 5).
Übersicht Rn. 1. Zweck der Regelung . . . . . . . . . 2. Anwendungsbereich des Absatzes 3 . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . b) Urteile . . . . . . . . . . . . . . . c) Voraussetzungen für eine schriftliche Übersetzung . . . . . . . . . . . . d) Umfang der Übersetzung . . . . .
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. . . .
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Rn.
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3. Zustellung des Urteils a) Zustellungsadressat . . . . . . . . . . b) Anordnung der Zustellung . . . . . . c) Zeitpunkt der Zustellungsanordnung . d) Ausführung der Zustellungsanordnung 4. Zustellungsmängel . . . . . . . . . . . .
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1. Zweck der Regelung. Die Einfügung von Absatz 3 verfolgt das Ziel, die Richtlinie 2010/64/EU über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren1 in nationales Recht umzusetzen. Die zur Umsetzung der Richtlinie notwendigen Anpassungen hinsichtlich Übersetzungs- und Dolmetschleistungen während des Strafverfahrens konzentrieren sich auf eine Neufassung von § 187 GVG. Diese Neuregelung zur Urteilsübersetzung wird in dem neu angefügten Absatz 3 an die bestehende Systematik zur Urteilszustellung sowie den Lauf von Rechtsmittelfristen angepasst. 2. Anwendungsbereich des Absatzes 3
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a) Allgemeines. Nach dem Willen des Gesetzgebers und nach seinem Wortlaut bezieht sich Absatz 3 nur auf solche Fälle, in denen eine Übersetzung des Urteils nach § 187 Abs. 1 und 2 GVG zur Wahrung der Verteidigungsrechte unerlässlich ist. Konstellationen, in denen nach den Grundsätzen der bisherigen Praxis – insbesondere aufgrund der Mitwirkung eines Verteidigers – dem Recht auf ein faires Verfahren bereits durch Simultandolmetschung der mündlich eröffneten Urteilsgründe Genüge getan werden kann, sollen nicht erfasst werden.2 Derjenige Vorsitzende, der zur Anordnung der Urteilszustellung berufen ist (§ 36 Abs. 1 Satz 1), hat im Rahmen des ihm obliegenden pflichtgemäßen Ermessens zu prüfen, ob einem Prozessbeteiligten nach § 187 Abs. 2 GVG eine Übersetzung des Urteils zur Verfügung zu stellen ist. Dabei sieht § 187 Abs. 2 Satz 2 bis 5 GVG abgestufte Regelungen vor, wonach die generelle Pflicht des § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG zur vollständigen Übersetzung eingeschränkt wird.3 In einer ersten Stufe hat der Vorsitzende daher zu prüfen, ob eine lediglich auszugsweise Übersetzung ausreicht, wenn schon dadurch die Verteidigungsrechte des Prozessbeteiligten ausreichend gewahrt werden (§ 187 Abs. 2 Satz 2 GVG). Insoweit hat der Gesetzgeber von dem Ausnahmetatbestand des Artikel 3 Absatz 4 der Richtlinie 2010/64/EU Gebrauch gemacht, der ein Absehen von der Übersetzung von solchen Passagen gestattet, die für die Verteidigung nicht bedeutsam sind.4 Der Gesetzgeber hat hierbei vor allem Fälle einer
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ABLEU Nr. L 280 vom 26.10.2010 S. 1. BTDrucks. 17 12578 S. 12, 15.
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BTDrucks. 17 12578 S. 12. BTDrucks. 17 12578 S. 12.
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Teilanfechtung in den Blick genommen.5 Ein Absehen von der schriftlichen Übersetzung der Urteilsgründe ist weiter unter den Voraussetzungen des § 187 Abs. 2 Satz 4 und 5 GVG zulässig. Danach kann an die Stelle der schriftlichen Übersetzung eine mündliche Übersetzung der Unterlagen oder eine mündliche Zusammenfassung des Inhalts der Unterlagen treten, sofern hierdurch die strafprozessualen Rechte des Beschuldigten gewahrt werden (§ 187 Abs. 2 Satz 4 GVG), was in der Regel dann anzunehmen ist, wenn der Beschuldigte einen Verteidiger hat (§ 187 Abs. 2 Satz 5 GVG). Dabei kommt es nicht darauf an, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt (§ 140) oder der Beschuldigte einen oder mehrere Verteidiger gewählt hat (§ 137).6 b) Urteile. Absatz 3 bezieht sich nach seinem Wortlaut sowie nach dem Willen des 3 Gesetzgebers7 nur auf Fälle, in denen einem Prozessbeteiligten gemäß § 187 Abs. 1 und 2 GVG eine Übersetzung des Urteils zur Verfügung gestellt werden muss („… so ist das Urteil zusammen mit der Übersetzung zuzustellen.“). Auf Fälle sonstiger freiheitsentziehender Anordnungen, bei denen es sich nicht um Urteile handelt (z.B. vollstreckungsfähige gerichtliche Entscheidungen, die an die Stelle von Urteilen treten, Gesamtstrafenbeschlüsse nach § 460, Entscheidungen, die die Vollstreckbarkeit von Urteilen herstellen oder wiederherstellen, wie etwa Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung oder einer Aussetzung einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung), findet Absatz 3 nach seinem Wortlauf und dem Willen des Gesetzgebers danach keine Anwendung und bleibt damit hinter den Vorgaben von Artikel 3 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2010/64/EU zurück. Unklar bleibt sowohl nach dem Wortlaut von Absatz 3 als auch nach dem Willen des 4 Gesetzgebers, ob die Regelung auch im Strafbefehlsverfahren Anwendung findet. Der Wortlaut des Absatzes 3 sowie der Normzusammenhang mit § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG sprechen gegen eine Anwendbarkeit im Strafbefehlsverfahren, denn im Gegensatz zu § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG, der auch ausdrücklich auf Strafbefehle abstellt, ist in Absatz 3 lediglich von der Übersetzung des Urteils die Rede. Nach § 410 Abs. 3 steht nur der Strafbefehl, gegen den nicht rechtzeitig Einspruch erhoben wird, einem rechtskräftigen Urteils gleich. Unter Zugrundelegung der Auslegungsmethoden wird daher eine Anwendbarkeit des Absatzes 3 im Strafbefehlsverfahren zumindest fraglich sein. Dies erscheint im Lichte des Strafbefehlsverfahrens als einem summarischen Verfahren mit Blick auf den Grundsatz des fairen Verfahrens nicht unbedenklich. c) Voraussetzungen für eine schriftliche Übersetzung. Die Voraussetzungen für eine 5 schriftliche Übersetzung des nicht rechtskräftigen Urteils sind in § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG geregelt, der eine beispielhafte Aufzählung enthält (vgl. insoweit Erl. zu § 187 GVG). Durch die Formulierung „nicht rechtskräftige Urteile“ in § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG wird klargestellt, dass keine Pflicht zur Übersetzung des Urteils besteht, wenn das Urteil rechtskräftig ist. Der Gesetzgeber stützt sich insoweit auf den Anwendungsbereich des Artikels 1 Abs. 2 der Richtlinie 2010/64/EU, wonach das Recht für Beschuldigte und Verdächtige auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen im Strafverfahren „bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob sie die Straftat begangen haben, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren“ besteht.
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BTDrucks. 17 12578 S. 12. BTDrucks. 17 12578 S. 13.
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BTDrucks. 17 12578 S. 7, 15.
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d) Umfang der Übersetzung. Nach Artikel 1 der Richtlinie 2010/64/EU haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht verstehen, innerhalb einer angemessenen Frist eine schriftliche Übersetzung aller Unterlagen erhalten, die wesentlich sind, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen und um ein faires Verfahren sicherzustellen. Das zu übersetzende Urteil umfasst die Urteilsformel (§ 268) sowie die schriftlichen Urteilsgründe (§ 275). Nach Artikel 3 Abs. 2 der Richtlinie zählen zu den wesentlichen Unterlagen jegliche Anordnungen einer freiheitsentziehenden Maßnahme sowie jegliches Urteil. Darüber hinaus sind die zuständigen Behörden nach Artikel 3 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie aber auch verpflichtet („… entscheiden …“), im konkreten Fall darüber zu entscheiden, ob weitere Dokumente wesentlich sind. Verdächtige oder Beschuldigte oder ihr Rechtsbeistand haben dann nach Artikel 3 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie das Recht („… können …“), einen entsprechenden begründeten Antrag zu stellen. Von der Übersetzungspflicht sind nach Artikel 3 Abs. 4 der Richtlinie solche Passagen ausgenommen, die nicht dafür maßgeblich sind, dass die verdächtigen oder beschuldigten Personen wissen, was ihnen zur Last gelegt wird. 3. Zustellung des Urteils
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a) Zustellungsadressaten sind solche Prozessbeteiligte,8 denen nach § 187 Abs. 1 und 2 GVG eine Übersetzung zur Verfügung zu stellen ist. Das ist der Angeklagte, bzw. der Angeschuldigte im Sicherungsverfahren (§ 187 Abs. 2 GVG), nicht aber der Nebenkläger, für den nach § 187 Abs. 4 GVG nur die Regelung des § 187 Abs. 1 GVG entsprechend gilt, nicht jedoch § 187 Abs. 2 GVG.
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b) Anordnung der Zustellung. Die Anordnung der Zustellung obliegt nach § 36 Abs. 1 Satz 1 dem Vorsitzenden. In seiner Zustellungsanordnung muss er den Zustellungsadressaten, das zuzustellende Schriftstück sowie die Zustellungsart genau und eindeutig angeben.9 Sofern das Urteil mit schriftlicher Übersetzung zugestellt werden soll, muss sich dies aus der Zustellungsanordnung ergeben, damit geprüft werden kann, ob die aufgrund der Zustellungsanordnung bewirkte Zustellung wirksam war. Es reicht nicht aus, lediglich zu verfügen, dass das Urteil zuzustellen ist und die Entscheidung, ob das Urteil zusammen mit der Übersetzung zugestellt werden soll, der Geschäftsstelle zu überlassen. Die Prüfung der Voraussetzungen des Absatzes 3 i.V.m. § 187 Abs. 1 und 2 GVG obliegt nämlich dem Vorsitzenden und nicht dem Geschäftsstellenmitarbeiter. Zur Wahrung der prozessualen Rechte von der deutschen Sprache nicht mächtigen 9 Angeklagten sowie zur Vermeidung von Wiedereinsetzungsproblemen sollte die gerichtliche Praxis entsprechend der Vorgabe in § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG in der Regel die Übersetzung von nicht rechtskräftigen Urteilen anordnen. Will der Vorsitzende von dieser Regel abweichen, so sollte er die Gründe hierfür aktenkundig machen. Die Anordnung einer nur auszugsweisen schriftlichen Übersetzung des Urteils (§ 187 Abs. 2 Satz 2 GVG) wird grundsätzlich nicht ausreichen, um die prozessualen Rechte des Angeklagten zu wahren. Im Zeitpunkt der Anordnung der Zustellung des Urteils hat der nicht verteidigte Angeklagte in aller Regel ein von ihm eingelegtes Rechtsmittel nicht beschränkt. Die Zustellung einer nur auszugsweisen Übersetzung des schriftlichen Urteils würde ihn
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Zum Begriff des Prozessbeteiligten bzw. Verfahrensbeteiligten vgl. LR/Kühne HW Einl. J, 1 ff.; Meyer-Goßner Einl. 70 ff.
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daher in der Wahrnehmung seiner prozessualen Rechte beschränken. Für die Entscheidung, ob er eine Beschränkung des Rechtsmittels in Betracht zieht, reicht die Zustellung einer auszugsweisen schriftlichen Übersetzung des Urteils nicht aus. c) Zeitpunkt der Zustellungsanordnung. Absatz 3 Satz 1 schreibt vor, dass das Urteil 10 zusammen mit der Übersetzung zuzustellen ist. Der Vorsitzende kann die Anordnung der Zustellung des schriftlichen Urteils und der Übersetzung bereits unmittelbar nach der Urteilsverkündung treffen. Die Zustellungsanordnung wird dann von der Geschäftsstelle ausgeführt, sobald das schriftliche Urteil zu den Akten gebracht (§ 275) und die ebenfalls angeordnete Übersetzung des vollständigen oder auszugsweisen Urteils (vgl. Rn. 2) vorliegt. Soweit Absatz 3 Satz 2 bestimmt, dass die Zustellung an die übrigen Prozessbeteilig- 11 ten im Falle der Übersetzung des Urteils gleichzeitig mit der Zustellung nach Absatz 3 Satz 1 erfolgt, hat der Gesetzgeber zwischen der Anordnung der Zustellung und deren Ausführung nicht hinreichend bestimmt unterschieden. Aus den Materialien ergibt sich jedoch zweifelsfrei, dass der Gesetzgeber auf den Zeitpunkt der Anordnung und nicht der Ausführung der Zustellung abstellen wollte.10 Etwas Anderes macht auch keinen Sinn, denn selbst bei zeitgleicher Ausführung einer Zustellungsanordnung wird in der Praxis in aller Regel die Zustellung an mehrere Verfahrensbeteiligte nicht gleichzeitig bewirkt. Absatz 3 Satz 2 schreibt damit eine gleichzeitige Anordnung der Zustellung an alle Prozessbeteiligten vor. Der Gesetzgeber will so eine Schlechterstellung der übrigen Prozessbeteiligten durch eine faktisch kürzere Begründungsfrist vermeiden und einen möglichst zeitgleichen Beginn der Begründungsfrist für alle Verfahrensbeteiligten sicherstellen.11 Die Regelung soll vermeiden, dass der (nicht hinreichend) der deutschen Sprache mächtige Angeklagte durch den späteren Beginn seiner Rechtsmitteleinlegungsfrist bei Abwesenheitsurteilen bzw. der Rechtsmittelbegründungsfrist bei Anwesenheitsurteilen Vorteile gegenüber den anderen Verfahrensbeteiligten erhält, die etwa in der Kenntnis von deren Rechtsmittelbegründungen bestehen könnten.12 Die Regelung des Absatzes 3 Satz 2 vermag nicht zu überzeugen. Im Berufungsverfah- 12 ren ist ein unverteidigter, der deutschen Sprache nicht (hinreichend) mächtiger Angeklagter nach § 317 nicht verpflichtet, die von ihm eingelegte Berufung zu begründen. In der Berufungshauptverhandlung steht diesem Angeklagten ein Dolmetscher zur Verfügung und er hat dort ausreichend Gelegenheit, seine Berufung zu begründen, da ihm zu diesem Zeitpunkt auch die schriftliche Übersetzung des erstinstanzlichen Urteils vorliegt. Für das Revisionsverfahren ist einem der deutschen Sprache nicht (hinreichend) mächtigen Angeklagten grundsätzlich zur Wahrung seiner prozessualen Rechte im Rahmen eines fairen Verfahrens nach Art. 6 EMRK ein Verteidiger zu bestellen.13 d) Die Ausführung der Zustellungsanordnung des Vorsitzenden (§ 36 Abs. 1 Satz 2) 13 – nicht der Zustellung – obliegt der Geschäftsstelle. Sie besteht darin, dass die Geschäftsstelle der Post, einem Justizbediensteten oder einem Gerichtsvollzieher einen Zustellungsauftrag erteilt oder eine andere Behörde um die Zustellung ersucht (§ 176 Abs. 1 ZPO), also dafür sorgt, „dass die Zustellung bewirkt wird“ (§ 36 Abs. 1 Satz 2). Die Ausführung der Zustellungsanordnung ist nur dann rechtswirksam, wenn sie sich im Rahmen der Anordnung des Vorsitzenden hält. Der Vorsitzende hat in seiner Zustellungsanord10 11 12
BTDrucks. 17 12578 S. 16. BTDrucks. 17 12578 S. 16. BTDrucks. 17 12578 S. 16.
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Meyer-Goßner § 140, 29, 30a; LR/Lüderssen/Jahn § 140, 117; SK/Wohlers § 140, 45; Graalmann-Scheerer StV 2011 696, 699.
Kirsten Graalmann-Scheerer
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§ 37 StPO Nachtr.
Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
nung genau anzugeben, was wem zugestellt werden soll. Lediglich die Zustellungsart darf die Geschäftsstelle bestimmen, wenn der Vorsitzende sie nicht im Einzelnen festgelegt hat.
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4. Zustellungsmängel. Hat der Vorsitzende die Urteilszustellung ohne eine Übersetzung des Urteils angeordnet, obwohl die Voraussetzungen des § 187 Abs. 2 GVG vorliegen, so erweist sich eine so bewirkte Zustellung grundsätzlich als unwirksam.14 Hat die Geschäftsstelle in einem solchen Fall gleichwohl – ohne richterliche Anordnung – eine Übersetzung des Urteils veranlasst und die Zustellung zusammen mit dem in deutscher Sprache abgefassten Urteil ohne Anordnung des Vorsitzenden bewirkt, liegt zwar ein Verstoß gegen die richterliche Anordnung vor. Dieser führt aber ausnahmsweise nicht zur Unwirksamkeit der Urteilszustellung.15 Vielmehr ist der Zustellungsmangel geheilt, wenn das Urteil nebst Übersetzung dem Angeklagten tatsächlich zugegangen ist. Die Einhaltung von Zustellungsvorschriften ist nämlich kein Selbstzweck. Sofern das Urteil dem Angeklagten sowohl in deutscher Sprache als auch in einer für ihn verständlichen Sprache tatsächlich zugegangen ist, besteht kein Grund, die damit verbundenen Folgen – nämlich den Beginn der Rechtsmitteleinlegungsfrist bei Abwesenheitsurteilen und der Rechtsmittelbegründungsfrist bei Anwesenheitsurteilen – nicht auch eintreten zu lassen. Hat der Vorsitzende die Voraussetzungen des § 187 Abs. 2 GVG verkannt und zu Unrecht von der Anordnung einer schriftlichen Übersetzung abgesehen, so erweist sich eine aufgrund dieser Anordnung bewirkte Zustellung des Urteils als unwirksam, sofern der Zustellungsmangel nicht ausnahmsweise geheilt worden ist. Im Übrigen siehe HW § 36, 36 und § 37, 95 ff.
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BTDrucks. 17 12578 S. 15.
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Vgl. aber HW § 36, 36 und § 37, 98.
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FÜNFTER ABSCHNITT Fristen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand § 44 1War jemand ohne Verschulden verhindert, eine Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. 2Die Versäumung einer Rechtsmittelfrist ist als unverschuldet anzusehen, wenn die Belehrung nach § 35a Satz 1 und 2, § 319 Abs. 2 Satz 3 oder nach § 346 Abs. 2 Satz 3 unterblieben ist.
Änderung. Durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.20091 sind Regelungen zum zulässigen Inhalt, zum Zustandekommen und zu den Folgen einer Verständigung getroffen worden. Die Regelungen und insbesondere die Forderung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs nach einer qualifizierten Belehrung bei Rechtsmittelverzicht nach einer Verständigung2 haben eine Ergänzung in § 35a erforderlich gemacht, die durch Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren erfolgt ist. Als Folgeregelung bedurfte es einer Änderung in § 44 Satz 2, die durch Art. 1 Nr. 3 desselben Gesetzes vorgenommen worden ist. 1. Zweck der Änderung. Die Beschränkung in Satz 2, wonach die Versäumung einer 1 Rechtsmittelfrist unter anderem dann als unverschuldet anzusehen ist, wenn die Belehrung nach § 35a Satz 1 und 2 unterblieben ist, stellt klar, dass Satz 2 keine Anwendung bei unterbliebener qualifizierter Belehrung nach § 35a Satz 3 findet. Damit hat der Gesetzgeber die Vorgaben des Großen Senats für Strafsachen3 umgesetzt. 2. Keine gesetzliche Vermutung bei unterbliebener qualifizierter Belehrung nach 2 § 35a Satz 3. Satz 2 bestimmt für die fehlende Rechtsmittelbelehrung die unwiderlegbare Vermutung, der Betroffene habe die Versäumung der Rechtsmittelfrist nicht verschuldet. Die gesetzliche Vermutung erstreckt sich danach nur auf das Schuldelement in Satz 1. Auf den Begriff der Verhinderung ist die Vermutung dagegen ohne Einfluss.4 Wiedereinsetzung ist danach nur dann gerechtfertigt, wenn die Nichtkenntnis für die Verhinderung ursächlich war.5 Sofern diese Ursächlichkeit besteht, kann die Wiedereinsetzung nicht daran scheitern, dass die versäumte Handlung nicht innerhalb der Frist des § 45 Abs. 1 Satz 1 nachgeholt worden ist.6 Diese Grundsätze lassen sich nicht auf eine unterbliebene Belehrung über die Freiheit zur Einlegung von Rechtsmitteln nach § 35a Satz 3 übertragen.7 Der Rechtsmittelver1 2 3
BGBl. I S. 2353. BGHSt 50 40 = NJW 2005 1440, 1446. BGHSt 50 40 = NJW 2005 1440, 1446 = JR 2005 430 mit krit. Anm. Rieß JR 2005 438; Rieß FS Meyer-Goßner 645, 658, 660 ff.; HW 69.
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HW 64. BGH NStZ 2001 45. BVerfG NJW 1991 2227. Gesetzentwurf der Bundesregierung BTDrucks. 16 11736 S. 9.
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zicht nach einer Verständigung – selbst dann, wenn diese unzulässigerweise die Frage des Rechtsmittelverzichts einbezogen haben sollte – wird häufig darauf beruhen, dass das Ergebnis der gefundenen Verständigung als dauerhaft akzeptiert und eine Überprüfung im Rechtsmittelverfahren gar nicht angestrebt wird. Die gesetzliche Vermutung des Satzes 2 findet daher nur bei unterbliebener Rechtsmittelbelehrung nach § 35a Satz 1 und 2 Anwendung. Ansonsten bestünde die Gefahr, Rechtsmittelmöglichkeiten ohne gebotene Fristgrenzen auch nach bloßem späteren Motivwechsel hinsichtlich der Rechtsmitteldurchführung noch zu eröffnen.8
§ 47 (1) … (2) … (3) 1Durchbricht die Wiedereinsetzung die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung, werden Haft- und Unterbringungsbefehle sowie sonstige Anordnungen, die zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft bestanden haben, wieder wirksam. 2Bei einem Haft- oder Unterbringungsbefehl ordnet das die Wiedereinsetzung gewährende Gericht dessen Aufhebung an, wenn sich ohne weiteres ergibt, dass dessen Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. 3Andernfalls hat das nach § 126 Abs. 2 zuständige Gericht unverzüglich eine Haftprüfung durchzuführen.
Änderung. Durch Art. 14 Nr. 1 des Zweiten Gesetzes zur Modernisierung der Justiz (2. Justizmodernisierungsgesetz) vom 22.12.20061 wurde Absatz 3 dem § 47 angefügt. Die Vorschrift enthält verfahrensrechtliche Regelungen für die Wirksamkeit von Haftund Unterbringungsbefehlen sowie sonstige Anordnungen, die zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft bestanden haben, für den Fall, dass eine gewährte Wiedereinsetzung die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung durchbricht.
Übersicht Rn. 1. Zweck der Regelung . . . . . . . . . . . 2. Anwendungsbereich a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . b) Haftbefehl (§§ 112 ff.) . . . . . . . . c) Unterbringungsbefehl (§ 126a) . . . . d) Sicherungshaftbefehl (§ 453c) . . . . . e) Sonstige Anordnungen . . . . . . . . aa) Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a) . . . . . . . . bb) Vorläufiges Berufsverbot (§ 132a) cc) Sicherstellung und Beschlagnahme von Gegenständen als Beweismittel (§ 94) . . . . . . . . . . . . . . .
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dd) Sicherstellung und Beschlagnahme von Gegenständen zum Zwecke des Verfalls oder der Einziehung (§ 111b ff.) . . . . . . . . . . . . ee) Entsprechende Anwendung von § 47 . . . . . . . . . . . . . ff) Bestellung eines Verteidigers (§ 141) . . . . . . . . . . . . . . 3. Voraussetzungen a) Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung . . . . . . . . . . . . .
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BGH NJW 2005 1440, 1446; HW 69; Gesetzentwurf der Bundesregierung (Stand 27.1.2009) BTDrucks. 16 11736 S. 9.
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Rn.
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BGBl. I S. 3416, 3423.
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Rn. b) Durchbrechung der Rechtskraft infolge Gewährung von Wiedereinsetzung . . 4. Verfahren a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . b) Aufhebung des Haftbefehls- oder Unterbringungsbefehls . . . . . . . . . . .
Rn. aa) Wegfall der Voraussetzungen . . . bb) Zuständigkeit . . . . . . . . . . . c) Keine Aufhebung des Haft- oder Unterbringungsbefehls . . . . . . . . . . . aa) Haftprüfung . . . . . . . . . . . bb) Zuständigkeit . . . . . . . . . . .
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Alphabetische Übersicht Berufung 25 Beschlagnahme 10, 12 Beschluss 19 Einziehung 12 Entscheidung des BVerfG nach § 95 Abs. 2 BVerfGG 17 Haftbefehl 3 f., 14, 16, 23 ff. Haftprüfung 27 ff. Nichtrevident 14 Sicherstellung 10, 12 Sicherungshaftbefehl 6
Strafbefehl 19 Unterbringungsbefehl 5, 14, 16, 23 ff. Urteil 19 Verfall 12 Verteidigerbestellung 18 Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis 8 Vorläufiges Berufsverbot 9 Wiederaufnahme 16 Zuständigkeit 25, 30 Zweck 1
1. Zweck der Regelung. Mit der Entscheidung der 2. Kammer des Zweiten Senats 1 vom 18.8.20052 hat das Bundesverfassungsgericht in einem Fall der Durchbrechung der Rechtskraft infolge Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionseinlegungsfrist eine bis dahin jahrzehntelang geübte, von der obergerichtlichen Rechtsprechung3 und der Lehre sowie dem Gesetzgeber4 nicht beanstandete Rechtspraxis als rechtlich unzulässig beanstandet und entschieden, dass mit der Zielsetzung des Art. 104 Abs. 1 GG ein wie auch immer geartetes „Wiederaufleben“ eines bereits gegenstandslos gewordenen Haftbefehls infolge Durchbrechung der Rechtskraft nach Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu vereinbaren ist. Ein einmal durch eingetretene Rechtskraft gegenstandslos gewordener Haft- oder Unterbringungsbefehl bleibt vielmehr gegenstandslos.5 Die Entscheidung des BVerfG ist im Schrifttum vor allem von Strafrechtspraktikern teilweise heftig kritisiert worden.6 Angesichts der praktischen Bedeutung der Entscheidung7 hat der Gesetzgeber zeitnah reagiert und mit der Einfügung von Absatz 3 die vom BVerfG beanstandete fehlende gesetzliche Regelung geschaffen. Im Gesetzgebungsverfahren ist die an einem Regelungsvorschlag Mosbachers8 orientierte Regelung von den im BTRAussch. öffentlich angehör-
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BVerfG NJW 2005 3131 = NStZ 2005 697. BGHSt 18 34; OLG Karlsruhe NStZ 1997 301. Vgl. die Begründung zum Anhörungsrügengesetz BTDrucks. 15 3706 S. 18. BVerfG NJW 2005 3131, 3132. Helgerth FS Nehm 299, 306 ff.; Huber JuS 2007 236, 239; Mosbacher NJW 2005 3110 ff.
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Vgl. dazu im Einzelnen die umfassenden Maßnahmen der strafgerichtlichen Praxis seit der Entscheidung des BVerfG vom 18.8.2005 bis zum Inkrafttreten des 2. JuMoG BRDrucks. 550/06 S. 91 f.; BTDrucks. 16 3640 S. 91 f.; LR/Graalmann-Scheerer § 46, 11 ff. und 23 zum Rechtszustand nach der Entscheidung des BVerfG. Mosbacher NJW 2005 3110, 3112.
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ten Sachverständigen teilweise heftig kritisiert worden,9 teilweise aber auch im Grundsatz als unbedenklich angesehen worden.10 2. Anwendungsbereich
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a) Allgemeines. Nach § 44 Satz 1 ist demjenigen, der ohne Verschulden verhindert war, eine Frist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Welche prozessuale Wirkung die Gewährung der Wiedereinsetzung für das fortzuführende Strafverfahren hat, ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. In der Rechtsprechung sowie im Schrifttum besteht jedoch Einigkeit, dass die gewährte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand das Verfahren grundsätzlich in den Verfahrensabschnitt vor der Versäumung der Frist in der Weise zurückversetzt und die Rechtslage herstellt, die vor der Versäumung bestanden hätte, wenn die Handlung rechtzeitig vorgenommen worden wäre.11 Für Haft- und Unterbringungsbefehle sowie sonstige Anordnungen, die zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft bestanden haben, regelt Absatz 3 Satz 1 nunmehr ausdrücklich, dass sie im Falle der Durchbrechung der Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung infolge gewährter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wieder wirksam werden. Die Regelung des Absatzes 3 Satz 1 erfasst nicht nur freiheitsentziehende Anordnungen, sondern auch sonstige Anordnungen, ohne diese im Einzelnen zu benennen.
3
b) Haftbefehl (§§ 112 ff.). Nach der h.M. wird ein Haftbefehl mit Eintritt der Rechtskraft automatisch gegenstandslos mit der Folge, dass sich Untersuchungshaft (ohne förmliche Einleitung der Vollstreckung) in Strafhaft umwandelt.12 Nach Absatz 3 Satz 1 wird der Haftbefehl (i.V.m. der letzten Haftentscheidung) wieder wirksam. Das bedeutet, dass mit der die Wiedereinsetzung gewährenden Entscheidung, die nicht anfechtbar ist (§ 46 Abs. 2), eine sofortige Unterbrechung der Strafhaft eintritt und eine sofortige Vollstreckung von Untersuchungshaft erfolgt, sofern der Haftbefehl nicht außer Vollzug gesetzt worden war. Ein mit der letzten Haftentscheidung nach § 268b außer Vollzug gesetzter Haftbefehl 4 (§ 116) wird nach Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit Durchbrechung der Rechtskraft mit genau dem Inhalt und den Maßgaben wieder wirksam, die zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft bestanden haben. Das bedeutet, dass die Maßnahmen, die der Aussetzung des Haftvollzugs gedient haben (§ 116) und die nach § 123 Abs. 1 Nr. 2 aufgehoben oder wie die Sicherheitsleistung von selbst frei geworden sind,13 weil die erkannte Freiheitsstrafe vollzogen wird, automatisch wieder aufleben. Im Falle einer nach Rechtskraft des Urteils nach § 123 Abs. 1 Nr. 2 aufgehobenen Anordnung einer Sicherheitsleistung nach § 116 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 kommt eine Aussetzung des Haftbefehls erst dann wieder in Betracht, wenn die Sicherheitsleistung wieder erbracht worden ist.14
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c) Unterbringungsbefehl (§ 126a). Für die einstweilige Unterbringung gelten die vorstehenden Ausführungen zur Untersuchungshaft entsprechend mit der Maßgabe, dass der
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Vgl. schriftliche Stellungnahme von Saliger vom 23.11.2006 S. 1, 3 f. Vgl. schriftliche Stellungnahme von Rogall S. 1 f., 3 f. („Die vorgeschlagene Einfügung des neuen § 47 Abs. 3 StPO begegnet im Grundsatz keinen Bedenken“).
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LR/Graalmann-Scheerer HW § 46, 11. LR/Hilger Vor § 112, 60 f. LR/Hilger § 123, 2. BTDrucks. 16 3038 S. 46.
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Vollzug der einstweiligen Unterbringung nur nach § 126a Abs. 2 Satz 1, § 116 Abs. 3 und 4 ausgesetzt werden kann. Das bedeutet, dass im Falle einer Aussetzung des Vollzugs der einstweiligen Unterbringung nach § 126a Abs. 2 Satz 1, § 116 Abs. 3 die erteilten Anweisungen (z.B. medikamentöse oder psychotherapeutische Behandlung, Entziehungsbehandlung, Suchtmittelkontrollen) mit der Rechtskraft durchbrechenden Gewährung der Wiedereinsetzung sofort wieder aufleben. d) Sicherungshaftbefehl (§ 453c). Der Sicherungshaftbefehl hat zwar begrifflich 6 nichts mit dem Untersuchungshaftbefehl zu tun, da er erst nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens ergeht. Hinsichtlich seiner Voraussetzungen und seiner Durchführung verweist § 453c Abs. 2 Satz 2 aber auf die Vorschriften über den Untersuchungshaftbefehl. Der ergriffene Verurteilte wird demgemäß vor der Rechtskraft des Widerrufsbeschlusses wie ein Untersuchungsgefangener behandelt.15 Erst ab Rechtskraft des Widerrufsbeschlusses verbüßt der Verurteilte Strafhaft. Wird einem Verurteilten gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den Widerruf der Straf(rest)aussetzung (§ 453 Abs. 2 Satz 3) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt mit der Folge, dass die Rechtskraft des Widerrufsbeschlusses durchbrochen wird, so wird der Sicherungshaftbefehl nach Absatz 3 Satz 1 wieder wirksam. Sofern die Voraussetzungen für den Erlass des Sicherungshaftbefehls nicht mehr vorliegen (z.B. weil keine hinreichenden Gründe für den Widerruf inzwischen mehr vorliegen), ist das die Wiedereinsetzung gewährende Gericht zur Aufhebung des Sicherungshaftbefehls berufen (Absatz 3 Satz 2). e) Sonstige Anordnungen. Die Entscheidung des BVerfG16 wirkt sich auch auf 7 weitere, nicht freiheitsentziehende strafprozessuale Zwangsmaßnahmen und Anordnungen aus. Der Gesetzgeber hat sie („sonstige Anordnungen“) zur Klarstellung und insbesondere zur Vermeidung von Umkehrschlüssen in Absatz 3 Satz 1 aufgenommen. Die sonstigen Anordnungen hat der Gesetzgeber bewusst nicht in Form eines abgeschlossenen Katalogs normiert, da die denkbaren Fallgestaltungen zu vielschichtig sind.17 Auch auf eine nähere Umschreibung der sonstigen Anordnungen ist bewusst verzichtet worden.18 Der Gesetzgeber ist vielmehr davon ausgegangen, dass letztlich der Umfang der „sonstigen Anordnungen“ durch eine erforderlichenfalls von der Rechtsprechung vorzunehmende teleologische Auslegung hinreichend sicher bestimmt werden wird.19 aa) Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a). Ist die Fahrerlaubnis vorläufig 8 gemäß § 111a entzogen und der Führerschein nach § 94 Abs. 3 beschlagnahmt worden und durch rechtskräftiges Urteil oder rechtskräftigen Strafbefehl die Fahrerlaubnis endgültig entzogen und die Einziehung des Führerscheins nach § 69 Abs. 3 Satz 2 StGB angeordnet worden, so werden bei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Rechtsmitteleinlegungsfrist oder bei der in der Praxis häufig gewährten Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Einspruchsfrist nach § 410 Abs. 1 durch die Durchbrechung der zunächst eingetretenen Rechtskraft die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a und auch die Beschlagnahme des Führerscheins nach § 94 Abs. 3 wieder wirksam. Der Führerschein darf – zunächst – nicht nach § 69 Abs. 3 Satz 2
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LR/Graalmann-Scheerer § 453c, 9, 14; KK/Appl § 453c, 6; Meyer-Goßner § 453c, 13. NJW 2005 3131 ff.
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BTDrucks. 16 3038 S. 46. BTDrucks. 16 3038 S. 46. BTDrucks. 16 3038 S. 46.
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StGB eingezogen werden. Eine bereits erfolgte Eintragung im Verkehrszentralregister muss gelöscht werden. Absatz 3 Satz 1 trägt dem Umstand Rechnung, dass – jedenfalls in der Regel – keine neuen Umstände vorliegen werden, die den Angeklagten nunmehr als nicht mehr ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erscheinen lassen mit der Folge, dass die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a sowie die Beschlagnahme des Führerscheins nach § 94 Abs. 3 wieder wirksam werden.
9
bb) Vorläufiges Berufsverbot (§ 132a). Von eher geringer praktischer Bedeutung dürften die Auswirkungen der Entscheidung des BVerfG bei der Anordnung des Berufsverbots (§ 70 StGB) und insoweit eines vorläufigen Berufsverbots nach § 132a sein.
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cc) Die Sicherstellung und Beschlagnahme von Gegenständen als Beweismittel (§ 94 Abs. 1) dient dazu, Beweisgegenstände für das Verfahren zu sichern. Mit Eintritt der Rechtskraft besteht grundsätzlich kein weiterer Anlass für deren weitere Sicherung bzw. Beschlagnahme mit der Folge, dass die Staatsanwaltschaft eine Entscheidung über die Herausgabe zu treffen hat (vgl. Nr. 75 Abs. 2 RiStBV). Nach Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann es jedoch im Falle der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Tatgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zu einer neuen Beweisaufnahme kommen, in der der ursprünglich sichergestellte bzw. beschlagnahmte Beweisgegenstand zur Sachaufklärung als Beweismittel benötigt wird. Die Erstreckung der Neuregelung in Absatz 3 auch auf diese Fallgestaltung als sonstige Anordnung bewirkt mithin, dass Beweisgegenstände, die noch nicht an den Berechtigten herausgegeben worden sind, weiter in staatlicher Verwahrung bleiben oder dieser wieder zugeführt werden können, da frühere Anordnungen auf Beschlagnahme nach § 98 wieder wirksam werden.20 War ein Beweisgegenstand, der als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung 11 ist, den Ermittlungsbehörden ohne Anordnung nach § 98 freiwillig herausgegeben und damit formlos sichergestellt, zwischenzeitlich aber herausgegeben worden, so fehlt es an einer sonstigen Anordnung, die wieder wirksam wird. Das öffentlich-rechtliche Verwahrungsverhältnis wird in einem solchen Fall erforderlichenfalls faktisch wieder herzustellen sein. Dies kann durch erneute freiwillige Herausgabe des Beweisgegenstands geschehen. Wird der Beweisgegenstand nunmehr aber nicht mehr freiwillig herausgegeben, so bedarf es der Anordnung der Beschlagnahme. Die Staatsanwaltschaft wird bei Gericht dann (erstmals) eine Beschlagnahmeanordnung zu erwirken haben.21
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dd) Die Durchbrechung der Rechtskraft infolge Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann bei der Sicherstellung und Beschlagnahme von Gegenständen zum Zwecke des Verfalls oder der Einziehung (§§ 111b ff.) zu Problemen führen. Ist im Urteil auf Verfall (§ 73 StGB) erkannt worden, so geht mit der Rechtskraft der Verfallsanordnung das Eigentum an dem für verfallen erklärten Gegenstand oder dem Recht auf den Staat über (§ 73e Abs. 1 StGB). Vor der Rechtskraft wirkt die Anordnung als Veräußerungsverbot im Sinne von § 136 BGB, wobei das Verbot auch andere Verfügungen als Veräußerung umfassen (§ 73e Abs. 2 StGB; § 111c Abs. 5). Mit Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Durchbrechung der Rechtskraft entfällt der Eigentumsübergang auf den Staat. Würde das Veräußerungsverbot nicht zugleich wieder aufleben, könnte der Betroffene wieder über den verfallen erklärten Gegenstand oder das für verfallen erklärte Recht verfügen. Ordnet dann nach Aufhebung des angefochtenen 20
Meyer-Goßner 3; Radtke/Hohmann 4.
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BTDrucks. 16 3038 S. 47.
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Urteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung das Tatgericht erneut den Verfall an und wird dieses Urteil infolge Verwerfung des Rechtsmittels (z.B. der Revision) rechtskräftig, so würde die Verfallsanordnung dann ins Leere gehen, wenn der Angeklagte über den jetzt rechtskräftig für verfallen erklärten Gegenstand oder das für verfallen erklärte Recht zwischenzeitlich verfügt hätte.22 Absatz 3 Satz 1 beugt dieser Problematik mit der Erstreckung auf alle sonstigen Anordnungen vor. ee) Entsprechende Anwendung von § 47. Die Problematik der Durchbrechung der Rechtskraft und das erneute Wirksamwerden von Haft- und Unterbringungsbefehlen sowie sonstiger Anordnungen besteht in Fällen der Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 356a im Revisionsverfahren,23 auch wenn die Erfolgsquote von Anhörungsrügen im Revisionsverfahren gegen Null geht.24 § 47 gilt nach § 356a Satz 4 entsprechend. In Fällen der Revisionserstreckung auf den nichtrevidierenden Mitangeklagten (§ 357) gilt Absatz 3 entsprechend (§ 357 Satz 2) mit der Folge, dass hinsichtlich des Nichtrevidenten ein Haft- oder Unterbringungsbefehl sowie sonstige Anordnungen, die zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft für ihn bestanden haben, wieder wirksam werden.25 In Fällen des § 33a wird Absatz 3 Satz 1 keine praktische Bedeutung entfalten. Bei Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens und Erneuerung der Hauptverhandlung (§ 370 Abs. 2) wird zwar die Rechtskraft durchbrochen. Ein Haft- oder Unterbringungsbefehl sowie sonstige Anordnungen werden jedoch nicht wieder wirksam, weil § 370 Abs. 2 keinen entsprechenden Verweis auf Absatz 3 Satz 1 enthält. Der Gesetzgeber hat bewusst von einer Verweisungsvorschrift Abstand genommen und seine Entscheidung im Wesentlichen damit begründet, dass die Anordnung einer Wiederaufnahme des Verfahren in aller Regel aufgrund von Ereignissen mit erheblicher beweisrechtlicher Relevanz erfolgt, die zumeist eine umfassende Neubewertung der Haftfrage erfordern.26 Allerdings können Haft- oder Unterbringungsbefehle sowie sonstige Anordnungen erneut erlassen werden, sofern deren Voraussetzungen vorliegen.27 Bei den ebenfalls Rechtskraft durchbrechende Wirkung entfaltenden Entscheidungen des BVerfG nach § 95 Abs. 2 BVerfGG hat der Gesetzgeber im Hinblick auf das Ergebnis des Beteiligungsverfahrens zum 2. JuMoG vorerst einen gesetzgeberischen Handlungsbedarf verneint, beabsichtigt insoweit aber, ggf. zu gegebener Zeit eine Neubewertung vorzunehmen.28
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ff) Die Bestellung eines Verteidigers (§ 141), die grundsätzlich für das gesamte Ver- 18 fahren bis zum Eintritt der Rechtskraft gilt,29 wird als sonstige Anordnung im Sinne von Absatz 3 Satz 1 wieder wirksam,30 sofern die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung durchbricht. Damit ist hinreichend sichergestellt, dass ein Angeklagter im Verfahren nicht ohne einen Verteidiger ist.
22 23 24 25
BTDrucks. 16 3038 S. 47. BTDrucks. 16 3038 S. 44. Eschelbach/Geipel/Weiler StV 2010 35; Lohse StraFo 2010 433; vgl. Erl. zu § 356a. BTDrucks.16 3038 S. 43 ff., 49; Meyer-Goßner § 357, 17; vgl. Erl. zu § 357.
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BTDrucks. 16 3038 S. 44. Meyer-Goßner § 370, 15; LR/Gössel 25 § 370, 36 f. BTDrucks. 16 3038 S. 45. LR/Lüderssen/Jahn § 141, 28 m.w.N. Meyer-Goßner 3; BTDrucks. 16 3038 S. 46.
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3. Voraussetzungen
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a) Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung. Absatz 3 Satz 1 setzt die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung voraus. Dabei handelt es sich vornehmlich um Urteile, bei denen die Frist zur Einlegung der Berufung oder Revision versäumt worden ist. Des Weiteren kommen Strafbefehle in Betracht, bei denen die Frist zur Einlegung des Einspruchs versäumt worden ist. Auch ein Beschluss, mit dem die durch Urteil zunächst gewährte Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung widerrufen und bei dem die Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde versäumt worden ist31 sowie ein Beschluss, mit dem die Verurteilung zu der vorbehaltenen Strafe (§ 59a StGB) angeordnet wird (§ 59b Abs. 1 StGB) und bei dem die Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde versäumt worden ist, stellen eine gerichtliche Entscheidung im Sinne von Absatz 3 Satz 1 dar. Das gilt gleichermaßen für die gerichtliche Entscheidung nach § 30 Abs. 1 JGG.
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b) Durchbrechung der Rechtskraft infolge Gewährung von Wiedereinsetzung. Da die einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stattgebende gerichtliche Entscheidung keiner Anfechtung unterliegt (§ 46 Abs. 2), wird mit der Gewährung der Wiedereinsetzung die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung durchbrochen. 4. Verfahren
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a) Allgemeines. Die nach Absatz 3 Satz 2 und 3 vorgeschriebenen Entscheidungen erstrecken sich nicht auf nicht freiheitsentziehende Anordnungen. Der Gesetzgeber hat sie bewusst ausgenommen, weil sie nicht den Anforderungen des Art. 104 GG unterfallen und auch regelmäßig weitaus weniger intensiv in die Rechte des Betroffenen eingreifen32 und es daher als angemessen erachtet wird, denjenigen, dem Wiedereinsetzung gewährt wird, in vollem Umfang mit demjenigen gleichzustellen, der sein Rechtsmittel fristgerecht eingelegt hat. Bei Letzterem gelten die gerichtlichen Entscheidungen fort, bis sie aufgehoben werden oder sich in sonstiger Weise erledigt haben. Sofern der davon Betroffene in diesen Fällen die Voraussetzungen für die Fortgeltung einer Anordnung nicht mehr für gegeben erachtet, ist es ihm zuzumuten, einen Antrag auf Aufhebung zu stellen oder ein statthaftes Rechtsmittel bzw. einen Rechtsbehelf einzulegen.33 Dies gilt auch für die Fälle einer (zunächst vorläufigen) Entziehung der Fahrerlaubnis 22 nach § 111a, bei der das Gericht im Urteil zusammen mit der endgültigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 Abs. 3 StGB eine Sperrfrist für die Wiedererteilung nach § 69a Abs. 1 Satz 1 StGB angeordnet hat, die jedoch im Zeitpunkt der Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bereits abgelaufen ist. Zwar wird in einem solchen Fall in der Regel kein Anlass für ein Fortwirken der früheren vorläufigen Entziehung mehr bestehen. Soweit diese trotzdem wieder wirksam wird, bezieht sie sich jedoch nur auf die alte, im Urteil entzogene Fahrerlaubnis. Ein Betroffener, der nach Ablauf der Sperrfrist bereits eine neue Fahrerlaubnis erlangt hat, ist nicht gehindert, damit am öffentlichen Straßenverkehr teilzunehmen. Hat der Betroffene hingegen noch keine neue Fahrerlaubnis erlangt, so kann er jederzeit bei Gericht die Aufhebung der wieder wirksam gewordenen vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis beantragen.
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b) Aufhebung des Haft- oder Unterbringungsbefehls (Absatz 3 Satz 2). Liegen die Voraussetzungen für den Haft- oder Unterbringungsbefehl nicht mehr vor, so ordnet das die Wiedereinsetzung gewährende Gericht dessen Aufhebung an. 31 32
BTDrucks. 16 3038 S. 46. BTDrucks. 16 3038 S. 48.
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Fünfter Abschnitt. Fristen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Nachtr. § 47 StPO
aa) Wegfall der Voraussetzungen. Das Wiedereinsetzungsgericht ist verpflichtet,34 24 den Haft- oder Unterbringungsbefehl aufzuheben, wenn offensichtlich ist („sich ohne weiteres ergibt“), dass die Voraussetzungen für dessen Fortbestand nicht mehr vorliegen. Im Gegensatz zu § 126 Abs. 3, wonach das Revisionsgericht einen Haftbefehl aufheben kann, wenn es das angefochtene Urteil aufhebt und sich bei dieser Entscheidung ohne weiteres ergibt, dass die Voraussetzungen des § 120 Abs. 1 nicht vorliegen, besteht für das Wiedereinsetzungsgericht eine Aufhebungspflicht. Dabei ist das Wiedereinsetzungsgericht jedoch nicht verpflichtet, von Amts wegen eine vertiefte Prüfung des Sachverhalts, die über seinen eigentlichen Prüfungsrahmen im Wiedereinsetzungsverfahren hinausgeht, vorzunehmen. Eine Aufhebungspflicht besteht nur dann, wenn sich der Wegfall der Haft- oder Unterbringungsvoraussetzungen „ohne weiteres“ aus den Akten ergibt. Im Zeitpunkt der Gewährung von Wiedereinsetzung wird das Wiedereinsetzungsgericht in aller Regel die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels nicht annähernd abschließend beurteilen können. Das Berufungsgericht kann das Ergebnis der Beweisaufnahme in der Berufungshauptverhandlung nicht sicher abschätzen. Dem Revisionsgericht liegt bei Gewährung von Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Revisionseinlegungsfrist noch keine Revisionsbegründungsschrift vor, weil die Frist insoweit erst mit der Bekanntmachung des die Wiedereinsetzung gewährenden Beschlusses in Lauf gesetzt wird. bb) Zuständigkeit. Zur Entscheidung nach Absatz 3 Satz 2 ist das Wiedereinset- 25 zungsgericht berufen. Bei Berufung gegen ein Urteil des Amtsgerichts ist Wiedereinsetzungsgericht das Landgericht, denn Letzteres wäre bei rechtzeitiger Handlung zur Entscheidung in der Sache selbst berufen (§ 46 Abs. 1). Bei einer Revision gegen ein Berufungsurteil des Landgerichts sowie bei Sprungrevision ist der Strafsenat beim Oberlandesgericht das Wiedereinsetzungsgericht. Im Falle einer Revision gegen ein erstinstanzliches Urteil des Landgerichts oder Oberlandesgerichts ist der Strafsenat beim Bundesgerichtshof das Wiedereinsetzungsgericht. Während sich bei Versäumung der Berufungseinlegungsfrist die Zuständigkeit für Haft- oder Unterbringungsentscheidungen nach § 126 Abs. 2 Satz 1 richtet und damit nach Vorlage der Akten nach § 321 das Wiedereinsetzungsgericht und das zur Haftentscheidung berufene Gericht identisch sind, sind die Zuständigkeiten im Revisionsverfahren im Hinblick auf § 126 Abs. 2 Satz 2 stets asynchron. Bei solchen Konstellationen obliegt dem Wiedereinsetzungsgericht eine Pflicht zur Aufhebung des Haft- oder Unterbringungsbefehls, wenn es offensichtlich ist („sich ohne weiteres ergibt“), dass dessen Voraussetzungen nicht mehr vorliegen, z.B. bei vollständiger Vollstreckung infolge Anrechnung nach § 51 StGB oder bei offensichtlichem Verfahrenshindernis.35 c) Sofern keine Aufhebung des Haft- oder Unterbringungsbefehls durch das Wieder- 26 einsetzungsgericht nach Absatz 3 Satz 2 erfolgt, ist das nach § 126 Abs. 2 zuständige (Tat)Gericht verpflichtet, unverzüglich eine Haftprüfung durchzuführen. aa) Haftprüfung. Der Gesetzgeber hat sich im Falle der Durchbrechung der Rechts- 27 kraft einer gerichtlichen Entscheidung durch die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der besonderen Bedeutung des rechtlichen Gehörs bewusst für eine Pflicht des (Tat)Gerichts zur Haftprüfung von Amts wegen entschieden und andere Regelungsansätze (z.B. Haftprüfungsantrag des Angeklagten nach § 117 Abs. 1; Pflicht zur Belehrung des Angeklagten durch das Wiedereinsetzungsgericht nach § 115 Abs. 4;
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BTDrucks. 16 3038 S. 48.
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BTDrucks. 16 3038 S. 48.
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Haftprüfung von Amts wegen, wenn seit der letzten Entscheidung über die Haftfortdauer drei Monate oder länger vergangen sind) verworfen.36 Die in § 117 Abs. 1 enthaltene legal definierte Haftprüfung hat – wie auch sonst – 28 nach den §§ 117 bis 118b zu erfolgen, die die nähere Ausgestaltung regeln. Der Angeklagte hat nach § 118 Abs. 4 dann keinen Anspruch auf eine mündliche Verhandlung, wenn ein Urteil ergangen ist, das auf eine Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung erkannt hat. Allerdings kann das nach § 126 Abs. 2 zuständige Gericht eine mündliche Verhandlung nach seinem Ermessen anberaumen. Bei der Ermessensentscheidung kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an, etwa wie lange Zeit seit der letzten gerichtlichen Prüfung der Haftfortdauer bereits verstrichen ist und ob und ggf. welche haftrechtlich bedeutsamen Veränderungen sich seitdem ergeben haben. Hält das Gericht danach eine mündliche Verhandlung für erforderlich, so muss es die Frist des § 118 Abs. 5 beachten. Erachtet das Gericht demgegenüber eine mündliche Verhandlung für entbehrlich, hat es dem Angeklagten vor einer Entscheidung schriftlich in einer für diesen verständlichen Sprache unter Setzung einer dem Einzelfall angemessenen Frist37 Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die Haftprüfung nach Absatz 3 Satz 3 unterliegt dem Unverzüglichkeitsgebot, d.h. 29 das Gericht muss sie ohne schuldhaftes Verzögern von Amts wegen durchführen.38
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bb) Die Zuständigkeit für die Haftprüfung nach Absatz 3 Satz 3 ergibt sich aus § 126 Abs. 2.39
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BTDrucks. 16 3038 S. 48. BTDrucks. 16 3038 S. 48.
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BTDrucks. 16 3038 S. 48. Vgl. LR/Hilger § 126, 13 ff.
Kirsten Graalmann-Scheerer
SECHSTER ABSCHNITT Zeugen Vor § 48 Schrifttum Anders Straftheoretische Anmerkungen zur Verletztenorientierung im Strafverfahren, ZStW 2012 374; Bittmann Das 2. Opferrechtsreformgesetz, JuS 2010 219; Bung Zweites Opferrechtsreformgesetz: Vom Opferschutz zur Opferermächtigung, StV 2009 430; Celebi Kritische Würdigung des Opferrechtsreformgesetzes, ZRP 2009 110; Eisenberg Referentenentwurf des BMJ „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG)“ 2010, HRRS 2011 64; v. Galen Stärkung der Verletztenrechte – Gefahr für den rechtsstaatlichen Strafprozess oder grundrechtlich gebotene Emanzipation? BRAK-Mitt. 2002 110; Gelber/Walter Probleme des Opferschutzes gegenüber dem inhaftierten Täter, NStZ 2013 75; Klengel/Müller Der anwaltliche Zeugenbeistand im Strafverfahren, NJW 2011 23; Matt/Dierlamm/Schmidt Das (neue) Recht vom Zeugenbeistand und seine verfassungswidrigen Einschränkungen, StV 2009 715; Rieß Entwicklungstendenzen in der deutschen Strafprozessgesetzgebung seit 1950, ZIS 2009 466; Schroth 2. Opferrechtsreformgesetz – Das Strafverfahren auf dem Weg zum Parteienprozess? NJW 2009 2916.
Änderungen. Die meisten Änderungen des sechsten Abschnitts der Strafprozessord- 1 nung, die im Rahmen dieses Nachtrags zu erörtern sind, gehen auf das zweite Opferrechtsreformgesetz vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2280) zurück. Die Änderung in § 53 erfolgte durch das Gesetz zur Änderung der StPO vom 26.6.2009 (BGBl. I S. 1597). Weitere Änderungen des § 58a sowie des § 69 brachte das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG)1 vom 26.6.2013 (BGBl. I S. 1805). Schließlich wurde durch das Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren (VidVerfG) vom 25.4.2013 (BGBl. I S. 935) § 58b neu eingeführt. 2. OpferRRG und StORMG. Ausgehend von der die staatlichen Organe treffenden 2 Verpflichtung, sich schützend vor die Opfer von Straftaten zu stellen und deren Belange zu achten, verfolgt der Gesetzgeber mit dem 2. OpferRRG das Ziel, „die im Strafverfahren bestehenden Rechte der Opfer und Zeugen von Straftaten sachgerecht zu erweitern sowie ihren bereits bestehenden Rechten zu einer konsequenteren Durchsetzung zu verhelfen.“2 Neben den Änderungen im Zeugenabschnitt führte das 2. OpferRRG namentlich auch zu Änderungen im Bereich der Nebenklage. Ähnliche Ziele verfolgt der Gesetzgeber mit dem StORMG. Beide Gesetze setzen, wie schon in ihren Titeln zum Ausdruck kommt, die gesetzgeberischen Bemühungen der vergangenen Jahrzehnte um einen ver-
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BTDrucks. 17 6261 und BTDrucks. 17 12735.
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BTDrucks. 16 12098 S. 1.
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Vor § 48 StPO Nachtr.
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Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
stärkten Opfer- und Zeugenschutz fort, deren wesentliche bisherige Bausteine das Opferschutzgesetz vom 18.12.1986 (BGBl. I, 2496) und das 1. OpferRRG vom 24.6.2004 (BGBl. I, 1354) waren.3 Kritik. Unzweifelhaft ist es eine gesamtgesellschaftliche und damit auch eine staatliche und gesetzgeberische Aufgabe, Opfer von Straftaten zu schützen und ihre Belange zu achten. Nicht zuletzt im Interesse der Opfer muss jedoch immer von Neuem kritisch hinterfragt werden, auf welche Weise diese Ziele am Besten umgesetzt werden können. Die Opferrechtsgesetzgebung der vergangenen Jahrzehnte ist wesentlich geprägt von der Annahme, dass den Belangen der Opfer von Straftaten durch den Ausbau der prozessualen Stellung der Betroffenen im Strafverfahren gegen den Beschuldigten besser Rechnung getragen werden kann. Im Weiteren wird der Art und Weise eines solchen Ausbaus der prozessualen Stellung des Opfers das ebenfalls berechtigte Interesse des Beschuldigten auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren entgegengesetzt. Aus der diesbezüglichen gesetzgeberischen (verfassungs-)rechtlichen Gewichtung und Abwägung der jeweiligen Interessen resultieren die Gesetzesreformen. Die Entwicklung der Gesetzgebung ist nicht nur deshalb besorgniserregend, weil sie mit Einschnitten zu Lasten der Beschuldigten verbunden ist, sondern insbesondere auch, weil der angestrebte Schutz und die Unterstützung der durch eine Straftat Betroffenen vielfach nur suggeriert, durch eine Stärkung der Position der Betroffenen im Strafverfahren aber tatsächlich nicht in angemessener Weise erreicht wird. Es gerät aus dem Blick, dass ein rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtetes Strafverfahren von seiner Grundanlage her nur bedingt dem Verletzten dienen kann. Das beginnt bereits damit, dass es aufgrund der Unschuldsvermutung „das Opfer“ im Strafverfahren so wenig geben kann wie „den Täter“. Vielmehr gibt es den Beschuldigten und Zeugen, allenfalls Verletzte. Dem oder der von einer Straftat Betroffenen gebührt jedoch Unterstützung unabhängig vom Ausgang eines evtl. Strafverfahrens. Dass es zu einer (möglicherweise angemessenen) Bestrafung nicht kommt, kann vielfältige Ursachen haben, so bspw. dass nicht der tatsächliche Täter angeklagt wurde oder der Nachweis der Täterschaft nicht gelingt. Je mehr den Betroffenen vermittelt wird, das Strafverfahren sei der geeignete Ort, ihre Interessen durchzusetzen, desto größer muss die Enttäuschung sein, wenn dies – aus rechtsstaatlichen Gründen – nicht gelingt. Ein Missverständnis ist es auch, die Opferinteressen dem Beschuldigteninteresse als konträr gegenüber zu stellen. Das legitime Interesse aller Verfahrensbeteiligten ist eine bestmögliche Aufklärung des Geschehenen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen. Dies kann im Einzelfall auch dem Genugtuungsinteresse der Betroffenen Rechnung tragen, das jedoch als eigenständiges Ziel des Strafverfahrens nicht anzuerkennen ist (und das im Übrigen wohl bei den Betroffenen selbst tatsächlich weit weniger besteht, als weithin angenommen4). Einen Straf(verfolgungs)anspruch des Betroffenen wird man angesichts des staatlichen Straf- und Gewaltmonopols nicht anerkennen können.5 Die vermeintliche Stärkung der Opferinteressen im Strafverfahren birgt zudem die Gefahr, dass sich die staatlichen Ermittlungsbehörden nicht offiziell aber faktisch aus dem Verfahren zurückziehen und die Aufklärung dem Betroffenen (und ggf. seinem Beistand) überlassen. Vor allem aber verschleiert die gesetzgeberische Aktivität auf dem
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Vgl. zur Gesetzgebungsgeschichte im Einzelnen Rieß ZIS 2009 476 f., insb. Fn. 97. Vgl. dazu Anders ZStW 2012 374, 393 ff. m.w.N.; Gelber/Walter NStZ 2011 75 m.w.N.
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Bung StV 2009 430, 436 f.; vgl. auch Gelber/ Walter NStZ 2011 75 m.w.N.
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Sechster Abschnitt. Zeugen
Gebiet des Opferschutzes im Strafprozess, dass es an einer ausreichenden Hilfe und Unterstützung der Betroffenen außerhalb des Strafverfahrens oftmals fehlt, bzw. dass es mit zahlreichen Mühen und Hürden verbunden ist, die theoretisch bestehenden Hilfsmöglichkeiten zu erhalten. Zutreffend hält Bung fest, dass „mit einer Reform des staatlichen Entschädigungsrechts, des zivilgerichtlichen Schadensersatzsystems, einer Verbesserung der psychologischen Hilfsangebote sowie bestimmten informellen Arrangements zu einer Verständigung“ dem Verletzten mehr geholfen wäre.6
§ 48 (1) 1Zeugen sind verpflichtet, zu dem zu ihrer Vernehmung bestimmten Termin vor dem Richter zu erscheinen. 2Sie haben die Pflicht auszusagen, wenn keine im Gesetz zugelassene Ausnahme vorliegt. (2) Die Ladung der Zeugen geschieht unter Hinweis auf verfahrensrechtliche Bestimmungen, die dem Interesse des Zeugen dienen, auf vorhandene Möglichkeiten der Zeugenbetreuung und auf die gesetzlichen Folgen des Ausbleibens.
Schrifttum Bittmann Das 2. Opferrechtsreformgesetz, JuS 2010 219.
Änderung. Durch Art. 1 Nr. 1 des 2. OpferRRG (2009) wurden in Absatz 1 die 1 grundlegenden Pflichten des Zeugen, vor Gericht zu erscheinen und auszusagen, gesetzlich normiert. Aus dem bisherigen § 48 wurde dessen Absatz 2. Einzelfragen. Die Pflichten des Zeugen, vor Gericht zu erscheinen und auszusagen, 2 wurden von der Strafprozessordnung nach bisherigem Verständnis vorausgesetzt, was sich insbesondere aus den auch bislang schon ausdrücklichen normierten Folgen einer entsprechenden Pflichtverletzung ergab (§§ 51 und 70 StPO).1 Insoweit führt die Gesetzesänderung zu keiner Änderung der materiellen Rechtslage. Da jedoch diese Pflichten Grundrechte des Zeugen berühren, hielt der Gesetzgeber im Hinblick auf den Gesetzesvorbehalt eine gesetzliche Regelung gegenüber einer übergesetzlichen Pflicht für vorzugswürdig.2 § 48 Abs. 1 regelt die Pflichten des Zeugen jedoch nicht abschließend. Einzelne 3 Pflichten sind gesondert gesetzlich geregelt wie bspw. eine mögliche Gegenüberstellung im Vorverfahren in § 58 Abs. 2. Doch sind auch weitere Zeugenpflichten ohne entsprechende gesetzliche Regelung anerkannt.3 So kann das Gericht aus Gründen seiner Aufklärungspflicht auch in der Hauptverhandlung die Gegenüberstellung des Zeugen mit dem (in der Regel ohnehin anwesenden) Beschuldigten oder weiteren Zeugen anordnen.4
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Bung StV 2009 430, 437.
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Vgl. zur bisherigen Rechtslage LR/Ignor/ Bertheau Vor § 48, 16 m.w.N. BTDrucks. 16 12098 S. 11 mit Hinweis auf eine entsprechende Beschlussfassung des
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62. Deutschen Juristentages, 1998, Bd. II/1, L 64. Vgl. auch Bittmann JuS 2010 219 f. Näher dazu unter LR/Ignor/Bertheau § 58, 9 ff.
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§ 48 StPO Nachtr.
Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
Zeugen, die ihre Wahrnehmungen in amtlicher Eigenschaft gemacht haben, sollen nach h.M. eine Pflicht zur Vorbereitung auf die Vernehmung haben.5 Auch diese Pflichten, deren Umfang und Grenzen im Übrigen anders als die nunmehr in § 48 Abs. 1 geregelten Pflichten im Einzelnen umstritten sind, können grundrechtsrelevant sein, so dass unter dem Aspekt des Gesetzesvorbehalts eine gesetzliche Regelung zu schaffen wäre.6 Auch weiterhin enthält das Gesetz keine Bestimmung des Begriffs Zeuge und lässt 4 damit die Frage, wen die normierten Pflichten treffen, ungeregelt. Insofern bleiben bisherige Auslegungskriterien relevant. Zu unterscheiden ist zwischen den Umständen, die eine Person zu einer geeigneten Auskunftsperson machen (persönliche Wahrnehmungen über [in der Regel] in der Vergangenheit liegende Vorgänge),7 und sonstigen Umständen. Die Frage, ob eine Person eine geeignete Auskunftsperson ist, lässt sich vorab nicht immer zuverlässig klären. Insoweit ist derjenige Zeuge i.S.d. § 48 Abs. 1, der zur Vernehmung geladen wird, unabhängig davon, ob er etwas zur Aufklärung beitragen kann oder nicht. Bei sonstigen Umständen kann das anders sein. Nicht jeder, der eine geeignete Auskunftsperson ist, muss vor Gericht erscheinen und aussagen. Bei der Zeugenpflichten soll es sich nach überwiegender Auffassung um eine staatsbürgerliche Pflicht handeln.8 Das würde dafür sprechen, dass nur deutsche Staatsangehörige vor deutschen Strafgerichten der Zeugnispflicht unterliegen. Nach allgemeiner Meinung sind jedoch auch Staatenlose und Ausländer verpflichtet, vor Gericht zu erscheinen und auszusagen, wenn sie sich im Inland aufhalten. Deshalb ist es überzeugender, insoweit von einer staatsrechtlich begründeten Pflicht zu sprechen.9 Eine Ausnahme besteht für Exterritoriale, die vor Gericht oder in ihren Dienst- oder Wohnräumen aussagen können, aber nicht müssen; vgl. §§ 18 bis 20 GVG, Nrn. 193, 197, 198 RiStBV. Unverständlich ist, warum der Gesetzgeber § 161a Abs. 1 Satz 1, der die Pflicht zum 5 Erscheinen bei der Staatsanwaltschaft und zur dortigen Aussage normiert, unverändert gelassen hat, obwohl über § 161a Abs. 1 Satz 2 § 48 Abs. 1 Anwendung findet. Eine derartige doppelte Regelung, die nicht der Systematik des Gesetzes entspricht, trägt zur Überfrachtung des Gesetzes und damit eher zur Verwirrung als zur Klarstellung10 bei. Da § 163 Abs. 3 keinen Verweis auf § 48 Abs. 1 enthält, besteht weiterhin weder eine 6 Pflicht des Zeugen, auf Ladung der Polizei zur Vernehmung zu erscheinen, noch eine solche, bei der Polizei auszusagen.11 Darüber sollten Zeugen mit der Ladung belehrt werden, weil eine Kenntnis dieser Umstände nicht vorausgesetzt werden kann.12 Derzeit sind in der Praxis demgegenüber eher missverständliche Formulierungen anzutreffen, die dem (nicht fachkundigen) Zeugen geradezu eine Pflicht suggerieren, zur Vernehmung bei der
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7 8
9
Zum Streitstand LR/Ignor/Bertheau § 69, 9 m.w.N. Kritisch im Hinblick auf die nicht umfassende Regelung der Zeugenpflichten auch die Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren, 4/09 – www.drb.de. Vgl. dazu näher LR/Ignor/Bertheau Vor § 48, 3 ff. m.w.N. Vgl. nur BTDrucks. 16 12098 S. 11 unter Bezugnahme auf BVerfGE 49 280, 284 = NJW 1979 32. Eb. Schmidt Vor § 48, 16a.
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So aber BTDrucks. 16 12098 S. 11 f. Eine entsprechende (erneute) BundesratsInitiative – BR-Drucks. 178/09 (Beschluss) unter 6., S. 5 ff. – ist vom Gesetzgeber nicht übernommen worden. Der Bundesrat verfolgt sein Anliegen jedoch weiter, siehe BR-Drucks. 120/10, dazu abl. Erb Kritische Bemerkungen zur geplanten Einführung einer strafprozessualen Erscheinens- und Aussagepflicht des Zeugen vor der Polizei, StV 2010 655 und Stellungnahme 19/2010 des DAV. Stellungnahme des Strafrechtsausschusses des DAV Nr. 16/2009, S. 4.
Alexander Ignor/Camilla Bertheau
Nachtr. § 53 StPO
Sechster Abschnitt. Zeugen
Polizei zu erscheinen und auszusagen.13 Eine Pflicht des Zeugen zur Aussage bei der Polizei besteht auch nicht, wenn der mit dem grundsätzlich vernehmungsbereiten Zeugen erschienene Rechtsbeistand von dem vernehmenden Polizeibeamten nach § 163 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 68b Abs. 1 Satz 3 und 4 ausgeschlossen wird (s. auch § 68b, 22). Rechtsbeistand. In § 68b Abs. 1 Satz 1 und 2 wird nunmehr auch im Strafverfahrens- 7 recht ausdrücklich das Recht des Zeugen auf Beiziehung eines Rechtsbeistandes sowie dessen Anwesenheit bei der Vernehmung des Zeugen festgestellt. Jedenfalls auf diese grundsätzliche Regelung, die ersichtlich im Interesse des Zeugen besteht, sollte in der Ladung hingewiesen werden. Unabhängig davon sollte in entsprechenden Fällen auf die Möglichkeit der Beiordnung eines Zeugenbeistandes gem. § 68b Abs. 2 hingewiesen werden.14
§ 53 (1) 1Zur Verweigerung des Zeugnisses sind ferner berechtigt … 4. Mitglieder des Deutschen Bundestages, der Bundesversammlung, des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland oder eines Landtages über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Mitglieder dieser Organe oder denen sie in dieser Eigenschaft Tatsachen anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen selbst; … (2) …
Änderung. Durch Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Änderung der StPO vom 26.6.2009 1 (BGBl. 1597) wurde Absatz 1 Satz 1 Nr. 4 der Vorschrift neu gefasst. Hinter „Mitglieder des Deutschen Bundestages,“ wurde „der Bundesversammlung, des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland oder“ eingefügt, im Folgenden „oder einer zweiten Kammer“ gestrichen. Einzelfragen. Mitglieder einer zweiten Kammer waren zuletzt bis zum 1.1.2000 die 2 Mitglieder des Bayerischen Senats. Seither hatte der Passus „oder einer zweiten Kammer“ ohnehin keinen Regelungsgegenstand mehr, so dass die Streichung überfällig war. Die Ergänzung der Vorschrift um die Mitglieder der Bundesversammlung sowie des 3 Europäischen Parlaments, soweit sie aus Deutschland kommen, stellt diese den Bundestagsabgeordneten gleich. Ebenso wie das Zeugnisverweigerungsrecht der Bundestagsabgeordneten, das über Art. 47 Satz 1 GG verfassungsrechtlich geregelt ist, stand auch den Mitgliedern der Bundesversammlung und den deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments aufgrund außerstrafprozessualer Regelungen bereits ein Zeugnisverweigerungsrecht zu. Nach § 7 BPräsWahlG findet Art. 47 auf die Mitglieder der Bundesversammlung entsprechende Anwendung. Nach § 6 i.V.m. § 1 EuAbgG steht den Abgeord-
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Z.B.: „Als Zeuge haben Sie ein Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 52 (3) StPO und ein Auskunftsverweigerungsrecht gem. § 55 (2) StPO. Leisten Sie als Betroffene/r einer Vorladung nach § 15 Brandenburgischem Poli-
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zeigesetz keine Folge, kann die Vorladung zwangsweise durchgesetzt werden. […]“ S. bereits LR/Ignor/Bertheau § 48, 8 a.E.; zurückhaltend Meyer-Goßner § 48, 3a.
Alexander Ignor/Camilla Bertheau
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§ 57 StPO Nachtr.
Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
neten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland ein § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 gleichlautendes Zeugnisverweigerungsrecht zu. Art. 47 GG Die Abgeordneten sind berechtigt, über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete oder denen sie in dieser Eigenschaft Tatsachen anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen selbst das Zeugnis zu verweigern. Soweit dieses Zeugnisverweigerungsrecht reicht, ist die Beschlagnahme von Schriftstücken unzulässig. § 7 BPräsWahlG Artikel 46, 47, 48 Abs. 2 des Grundgesetzes finden auf die Mitglieder der Bundesversammlung entsprechende Anwendung. Für Immunitätsangelegenheiten ist der Bundestag zuständig; die vom Bundestag oder seinem zuständigen Ausschuss erlassenen Regelungen in Immunitätsangelegenheiten gelten entsprechend. Die Mitglieder sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden. § 1 EuAbgG Anwendungsbereich Dieses Gesetz gilt für Bewerber um ein Mandat für das Europäische Parlament in der Bundesrepublik Deutschland und für Mitglieder des Europäischen Parlaments, die in der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden sind, soweit nicht die Vorschriften des Abgeordnetenstatuts des Europäischen Parlaments Anwendung finden. § 6 EuAbgG Zeugnisverweigerungsrecht Die Mitglieder des Europäischen Parlaments sind berechtigt, über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Mitglieder oder denen sie in dieser Eigenschaft Tatsachen anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen selbst das Zeugnis zu verweigern. Soweit dieses Zeugnisverweigerungsrecht reicht, ist die Beschlagnahme von Schriftstücken unzulässig.
Gleichwohl hat die Neufassung des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 nicht nur klarstellende Bedeutung. Vielmehr gehören durch die Aufnahme der Mitglieder der Bundesversammlung und der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments in die Vorschrift nunmehr deren Mitarbeiter zum Kreis der nach § 53a zeugnisverweigerungsberechtigten Personen. Genau dies war mit der Gesetzesänderung beabsichtigt.1 In der Tat liefe das Zeugnisverweigerungsrecht der betroffenen Parlamentarier nicht selten leer, wenn ihre Mitarbeiter zur Aussage verpflichtet wären. Kein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 oder entsprechenden 5 Regelungen in anderen Gesetzen steht dagegen kommunalen Mandatsträgern zu.2 Daran hat auch die Neufassung nichts geändert.
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§ 57 1Vor der Vernehmung werden die Zeugen zur Wahrheit ermahnt und über die strafrechtlichen Folgen einer unrichtigen oder unvollständigen Aussage belehrt. 2Auf die Möglichkeit der Vereidigung werden sie hingewiesen. 3Im Fall der Vereidigung sind sie
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BTDrucks. 16 10572 S. 3.
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BGHSt 51 44, 53.
Alexander Ignor/Camilla Bertheau
Nachtr. § 58 StPO
Sechster Abschnitt. Zeugen
über die Bedeutung des Eides und darüber zu belehren, dass der Eid mit oder ohne religiöse Beteuerung geleistet werden kann.
Änderung. Mit der Neufassung des § 57 durch Art. 1 Nr. 2 des 2. OpferRRG (2009) 1 wurde der bisherige Satz 1 auf die Sätze 1 und 2 aufgeteilt. Satz 3 wurde inhaltlich unverändert sprachlich neu gefasst. Einzelfragen. § 57 regelt Belehrungs- und Hinweispflichten, die bei der richterlichen 2 Vernehmung eines Zeugen zu beachten sind. Dabei sind die Pflichten nach Satz 1 auch bei einer staatsanwaltschaftlichen oder polizeilichen Vernehmung zu beachten, während der Hinweis auf die Möglichkeit der Vereidigung nur bei einer richterlichen Vernehmung Anwendung finden kann. Die Aufteilung auf zwei Sätze ermöglicht deshalb in § 163 Abs. 3 den präziseren Verweis auf die entsprechende Anwendung im Rahmen polizeilicher Vernehmungen.1 Im Übrigen hat die Neufassung zu keinen inhaltlichen Änderungen geführt.2
§ 58 (1) Die Zeugen sind einzeln und in Abwesenheit der später zu hörenden Zeugen zu vernehmen. (2) Eine Gegenüberstellung mit anderen Zeugen oder mit dem Beschuldigten im Vorverfahren ist zulässig, wenn es für das weitere Verfahren geboten erscheint.
Schrifttum Bung Zweites Opferrechtsreformgesetz: Vom Opferschutz zur Opferermächtigung, StV 2009 430.
Änderung. Mit Art. 1 Nr. 3 des 2. OpferRRG (2009) wurde der bisherige Absatz 1 1 Satz 2 „§ 406g Abs. 1 Satz 1 bleibt unberührt“ gestrichen. Im Gegenzug wurde in § 406g Abs. 1 als Satz 2 eingefügt: „Sie [scil.: die zum Anschluss mit der Nebenklage Befugten] sind zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung berechtigt, auch wenn sie als Zeugen vernommen werden sollen.“ Einzelfragen. Die Änderung erfolgte aus Gründen der Gesetzessystematik. Ebenso, 2 wie die parallele Vorschrift in § 397 Abs. 1 Satz 1 betreffend die Nebenklage, ist nun im systematischen Zusammenhang der Rechte des zur Nebenklage Befugten der Vorrang dessen Anwesenheitsrechts vor der Verfahrensvorschrift des § 58 Abs. 1 geregelt.1 Die Bedenken, ob dieser Vorrang des Anwesenheitsrechts überhaupt im Interesse des 3 Nebenklagebefugten liegt, bleiben bestehen. Es ist allgemein anerkannt, dass der Beweiswert einer Zeugenaussage regelmäßig gemindert ist, wenn der Zeuge vor der Aussage im Einzelnen weiß, was andere Zeugen zu dem Beweisthema bekundet haben.2 Die Minde-
1 2
BTDrucks. 16 12098 S. 12. Vgl. LR/Ignor/Bertheau § 57 m.w.N.
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BTDrucks. 16 12098 S. 12. Vgl. nur BGH StraFo 2010 253 f.; KG StV 2010 298 f. mit Anm. Koch.
Alexander Ignor/Camilla Bertheau
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§ 58a StPO Nachtr.
Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
rung des Beweiswerts der eigenen Aussage kann den Interessen des Nebenklägers oder Nebenklagebefugten gerade zuwiderlaufen.3 Diese Problematik berührt grundsätzliche Fragen der Entwicklung der Opferrechtsreformgesetzgebung der vergangenen Jahre, die noch nicht abgeschlossen ist (vgl. dazu Vor § 48, 2 ff.).
§ 58a (1) 1Die Vernehmung eines Zeugen kann auf Bild-Ton-Träger aufgezeichnet werden. soll nach Würdigung der dafür jeweils maßgeblichen Umstände aufgezeichnet werden und als richterliche Vernehmung erfolgen, wenn 1. damit die schutzwürdigen Interessen von Personen unter 18 Jahren sowie von Personen, die als Kinder oder Jugendliche durch eine der in § 255a Absatz 2 genannten Straftaten verletzt worden sind, besser gewahrt werden können oder 2. zu besorgen ist, dass der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht vernommen werden kann und die Aufzeichnung zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist. (2) … (3) … 2Sie
Schrifttum Anders Straftheoretische Anmerkungen zur Verletztenorientierung im Strafverfahren, ZStW 2012 374; Bittmann Referentenentwurf für ein Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG), ZRP 2011 72; Bung Zweites Opferrechtsreformgesetz: Vom Opferschutz zur Opferermächtigung, StV 2009 430; Eisenberg Referentenentwurf des BMJ „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG)“ 2010, HRRS 2011 64; Nack/ Park/Brauneisen Gesetzesvorschlag der Bundesrechtsanwaltskammer zur Verbesserung der Wahrheitsfindung im Strafverfahren durch den verstärkten Einsatz von Bild- und Tontechnik, NStZ 2011 310; Rieß Entwicklungstendenzen in der deutschen Strafprozessgesetzgebung seit 1950, ZIS 2009 466; Schroth 2. Opferrechtsreformgesetz – Das Strafverfahren auf dem Weg zum Parteienprozess? NJW 2009 2916.
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Änderung. Durch Art. 1 Nr. 4 des 2. OpferRRG (2009) wurde Absatz 1 Satz 2 Nr. 1 ergänzt um den Passus „dies […] zur Wahrung ihrer schutzwürdigen Interessen geboten ist“. Außerdem wurde die Altersgrenze von sechzehn auf achtzehn Jahre angehoben. Im Übrigen wurde das Wort „wenn“ aus Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 aus redaktionellen Gründen in den Satzteil vor den Nummern verschoben. Die Absätze 2 und 3 blieben unverändert. Mit Art. 1 Nr. 1 des StORMG (2013) wurde Absatz 1 Satz 2 dahingehend ergänzt, dass
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S. dazu LR/Ignor/Bertheau 5 m.w.N.; vgl. auch von Schlieffen, Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opfer-
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rechtsreformgesetz) vom 11.5.2009, II. und III. 6. Unter www.strafverteidigervereinigungen.org/ Material/Stellungnahmen/ 2.Opferrechtsreformgesetz.
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Nachtr. § 58a StPO
Sechster Abschnitt. Zeugen
die Vernehmung „nach Würdigung der dafür maßgeblichen Umstände“ und als „richterliche“ erfolgen soll, wenn die Voraussetzungen der Nr. 1 oder 2 der Vorschrift vorliegen. In die Nr. 1 wurden die Personen mit aufgenommen, die als Kinder oder Jugendliche durch eine der in § 255a Abs. 2 genannten Straftaten verletzt worden sind. Zur Vernehmung von Kindern und Jugendlichen vgl. des Weiteren RiStBV Nr. 19 ff. 1. Anhebung der Schutzaltersgrenze. Mit dem 2. OpferRRG wurde die Altersgrenze 2 in mehreren prozessualen Vorschriften von sechzehn auf achtzehn Jahre angehoben (neben § 58a auch in den §§ 60 Nr. 1, 241a Abs. 1, 247, 255 Abs. 2 sowie in § 172 Nr. 4 GVG). Dies soll dem besseren Schutz kindlicher und jugendlicher Opfer und Zeugen im Strafverfahren dienen. a) Erfahrungsberichte aus der Praxis. Der Gesetzgeber verweist zur Begründung der 3 Anhebung der Altersgrenze auf Erfahrungsberichte aus der Praxis, denen zu Folge die Altersgrenze von sechzehn Jahren nicht ausreichend erscheine.1 Im Einzelnen nachvollziehbar ist dies nicht, zumal entsprechende Berichte nicht näher benannt werden. b) Internationale Abkommen. Des weiteren wird zur Begründung auf zahlreiche 4 internationale Abkommen verwiesen, denen die Bundesrepublik Deutschland beigetreten sei und denen mit der Anhebung der Altersgrenze besser Rechnung getragen werden könne.2 Diese enthielten neben Regelungen zum materiellen Strafrecht auch verfahrensrechtliche Schutzbestimmungen und legten insoweit eine Schutzaltersgrenze von 18 Jahren fest. So wird bspw. in Art. 2 a) der nach Erlass des 2. OpferRRG erlassenen EURichtlinie3 eine Person unter 18 Jahren als „Kind“ definiert. In Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie ist vorgesehen, dass jeder Mitgliedsstaat sicherzustellen hat, dass die Vernehmungen kindlicher Opfer bestimmter Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung auf audiovisuelle Träger aufgenommen und als Beweismaterial im weiteren Verfahren verwendet werden können. Die Regelung in § 58a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 geht über diese Regelungen hinaus. c) Gleichbehandlung jugendlicher Beschuldigter und jugendlicher Opfer und Zeugen. 5 Schließlich sollte mit der Anhebung der Altersgrenze ein Ungleichgewicht in der altersgemäßen Behandlung jugendlicher Beschuldigter einerseits, die bis zur Volljährigkeit nach Jugendstrafrecht beurteilt werden, und jugendlicher Opfer und Zeugen andererseits
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BTDrucks. 16 12098 S. 40 f. BTDrucks. 16 12098 S. 41 mit Hinweis u.a. auf UN-Kinderrechtskonvention vom 20.11.1990, UN-Resolution für eine Richtlinie für den Schutz kindlicher Opfer und Zeugen im Strafverfahren – Resolution 2005/20, Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 18.12.2000 – Abl. C 364 vom 18.12.2000, S. 13, Rahmenbeschluss 2002/629/JI des Rates vom 19.7.2002 zur Bekämpfung des Menschenhandels, Rahmenbeschluss 2004/68/JI des Rates
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vom 22.12.2003 zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie, Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 16.5.2005. Vgl. Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und Rates vom 13.12.2011 zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates, Art. 2a).
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§ 58a StPO Nachtr.
Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
beseitigt werden.4 Indes ist angesichts der grundsätzlich unterschiedlichen Verfahrensrollen von Beschuldigtem einerseits und Verletztem/Zeugen andererseits und der daraus folgenden unterschiedlichen Schutzbedürfnisse die Notwendigkeit eines Gleichklangs der Altersvorschriften nicht ersichtlich.
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2. Zur Wahrung schutzwürdiger Interessen. Die Ergänzung um den Passus „zur Wahrung ihrer schutzwürdigen Interessen geboten“ ist zur Klarstellung erfolgt.5 Schon bei der bisherigen Regelung bestand weitgehend Einigkeit, dass bei der Großzahl eher geringfügiger Alltagsdelikte eine Video-Aufzeichnung weder sachgerecht noch erforderlich ist.6 Nach § 163 Abs. 3 gilt § 58a auch im Rahmen polizeilicher Vernehmungen. Hier sollte inhaltlich klargestellt werden, „dass die Vorschrift nicht für Alltagssituationen der polizeilichen Vernehmung gelten soll, in denen Jugendliche als Zeugen vernommen werden, sondern nur in Fällen, in denen dies aufgrund des Schutzbedürfnisses dieser Zeugen geboten ist.“7 Damit ist freilich noch nicht geklärt, wann schutzwürdige Interessen des Zeugen die Video-Aufzeichnung gebieten. Mit der Vorschrift verfolgt der Gesetzgeber das Anliegen, durch eine im weiteren Verfahren verwertbare Aufzeichnung der (richterlichen) Vernehmung dem Zeugen häufig belastende Mehrfachvernehmungen zu ersparen.8 Die Video-Aufzeichnung wird daher insbesondere in den Fällen in Betracht kommen, in denen mutmaßlich eine Vorführung in der Hauptverhandlung unter den erleichterten Bedingungen des § 255a Abs. 2 Satz 1 möglich sein wird. In diesen Fällen ist darauf zu achten, dass der Beschuldigte und sein Verteidiger Gelegenheit haben, an der aufgezeichneten richterlichen Vernehmung mitzuwirken. Darüber hinaus kann eine Video-Aufzeichnung veranlasst sein, wenn eine entscheidungserhebliche Aussage umfangreich ist, wenn sie ein komplexes Tatgeschehen betrifft oder wenn sich die Vernehmung besonders schwierig gestaltet.9 Mit der zum 1.9.2013 in Kraft getretenen Gesetzesänderung durch das StORMG 7 (2013) soll zum einen der Anwendungsbereich des § 58a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 auf Personen ausgedehnt werden, die als Kinder oder Jugendliche durch eine der in § 255a Abs. 2 genannten Straftaten – insbesondere Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, gegen das Leben – verletzt worden sind, auch wenn sie zur Zeit der Vernehmung nicht mehr unter 18 Jahre alt sind. Zum anderen soll es zum Regelfall werden, dass die nach § 58a aufgezeichnete Vernehmung durch den Richter erfolgt, „um in mehr Fällen die Möglichkeit für eine vernehmungsersetzende Vorführung in der Hauptverhandlung zu eröffnen.“10 Die neue Fassung des § 58a Abs. 1 Satz 2 ist unklar. So ist nicht zu erkennen, wel8 chen eigenständigen Bedeutungsgehalt dem Passus „nach Würdigung der dafür jeweils maßgeblichen Umstände“ zukommen soll. Insbesondere aber entfällt im Rahmen der Nr. 1 bei Personen unter 18 Jahren das bisher enthaltene zusätzliche Kriterium, durch die Straftat verletzt zu sein. Dass der Gesetzgeber dies beabsichtigt hat, ist der Gesetzesbegründung jedenfalls nicht zu entnehmen. Die Änderung des § 58a Abs. 1 Satz 2 ist im Gesetzgebungsverfahren kontrovers dis9 kutiert worden. Die Vorschrift ist im Zusammenhang mit § 255a Abs. 2 Satz 1 zu sehen.
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BTDrucks. 16 12098 S. 41. BTDrucks. 16 12098 S. 12. LR/Ignor/Bertheau § 58a, 17 f. m.w.N. BTDrucks. 16 12098 S. 12. BTDrucks. 16 12098 S. 12.
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BTDrucks. 16 12098 S. 12 m.H. auf MeyerGoßner51 § 58a, 4. BTDrucks. 17 6261 S. 11; kritisch Eisenberg HRRS 2011 65 f.
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Nachtr. § 58b StPO
Sechster Abschnitt. Zeugen
Sie dient dementsprechend dazu, die Vernehmung aus der Hauptverhandlung herauszulösen, und dies auch dann, wenn nicht alle Verfahrensbeteiligten, insbesondere der Beschuldigte und sein Verteidiger, damit einverstanden sind. Es handelt sich damit um eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes. Die tatrichterliche Grundlage zur Beurteilung von Glaubhaftigkeit der Aussage11 und Glaubwürdigkeit des Zeugen wird damit eingeschränkt. Dabei steht das gesetzgeberische Anliegen, Mehrfachvernehmungen nach Möglichkeit zu vermeiden, der Bedeutung entgegen, die der Konstanzanalyse12 für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage beigemessen wird.13 Die aufgezeichnete richterliche Vernehmung eröffnet aber nach § 255a Abs. 2 Satz 1 nur dann die Möglichkeit der vernehmungsersetzenden Vorführung in der Hauptverhandlung, wenn der Angeklagte und sein Verteidiger Gelegenheit zur Mitwirkung hatten. Eine Beteiligung des Beschuldigten an der Vernehmung des Zeugen in einem frühen Verfahrensstadium kann aber gerade zu einer zusätzlichen Belastung des Betroffenen führen und damit dem Ziel des Gesetzes entgegen laufen.14 Auf der anderen Seite muss dafür Sorge getragen werden, dass der Beschuldigte seine Gelegenheit zur Mitwirkung effektiv wahrnehmen kann. Dies dürfte zumindest voraussetzen, dass dem bis dahin unverteidigten Beschuldigten im Hinblick auf die richterliche Vernehmung nach § 58a ein Verteidiger beigeordnet wird.15 Die Vorschrift ist ein weiterer Baustein der allzu leicht nur vermeintlich verletztenorientierten Reformen der Strafprozessordnung seit Erlass des Opferschutzgesetzes im Jahre 1986 (vgl. grundsätzlich Vor § 48, 2 ff.).
§ 58b Die Vernehmung eines Zeugen außerhalb der Hauptverhandlung kann in der Weise erfolgen, dass dieser sich an einem anderen Ort als die vernehmende Person aufhält und die Vernehmung zeitgleich in Bild und Ton an den Ort, an dem sich der Zeuge aufhält, und in das Vernehmungszimmer übertragen wird.
Einführung. Mit Artikel 6 Nr. 1 des Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von 1 Videokonferenztechnik in den gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren (VidVerfG) vom 25.4.2013 (BGBl. I S. 935) wurde § 58b in die StPO eingeführt.
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Koll/Von Schlieffen Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz vom 1.3.2011 unter III. 1. – www.strafverteidigertag.de/Material/ Stellungnahmen/StORMG. Vgl. dazu LR/Sander § 261, 81d m.w.N. Koll/Von Schlieffen Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz vom 1.3.2011 unter III. 1. – www.strafverteidigertag.de/Material/ Stellungnahmen/StORMG. Farries Stellungnahme zur geplanten Stär-
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kung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs S. 3 f. unter: Dokumente Stellungnahmen der Sachverständigen in www.bundestag.de/bundestag/ ausschuesse17/a06/anhoerungen/archiv/ 14_StORMG/index.html. von Galen Stellungnahme zur Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 26. Oktober 2011, S. 2 ff. unter: Dokumente Stellungnahmen der Sachverständigen in www.bundestag.de/ bundestag/ausschuesse17/a06/anhoerungen/ archiv/14_StORMG/index.html.
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§ 58b StPO Nachtr.
Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
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Ziel des VidVerfG. Das VidVerfG regelt die Möglichkeiten des verstärkten Einsatzes von Videokonferenztechnik quer durch die Verfahrensordnungen. Der Bundesregierung erhebt dabei den Anspruch, die Verfahrensordnungen umfassend auf die qualitativ hochwertigen technischen Möglichkeiten der Gegenwart auszurichten und zugleich normativ die Weichen für die Zukunft zu stellen. Es gehe um ein „Serviceangebot im Sinne einer kundenorientierten Justiz“. Um den Justizbehörden Gelegenheit zu geben, die notwendige Infrastruktur aufzubauen, tritt das Gesetz erst sechs Monate nach Verkündung in Kraft.1 Das Gesetz soll insbesondere helfen, zeitliche und finanzielle Ressourcen zu sparen, und ermöglichen, dass die mit dem jeweiligen Verfahren vertrauten Personen angemessen beteiligt werden können, etwa der ermittelnde Staatsanwalt oder Polizeibeamte anstelle eines nur eine Vernehmung ersuchten Beamten vor Ort. Das Gesetz beschränkt sich dabei auf die Regelung des Einsatzes von Videokonferenztechnik für den Fall, dass Gericht, bzw. sonstige Vernehmungsperson und ein zu hörender Verfahrensbeteiligter sich nicht am selben Ort befinden. Der RegE hatte darüber hinaus vorgesehen, dass die Gerichte zugleich darüber entscheiden sollten, ob eine Aufzeichnung der Bild- und Tonübertragung angezeigt ist, wenn anderenfalls der Verlust eines Beweismittels zu befürchten ist.2 Die entsprechenden Passagen sind aufgrund der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses gestrichen worden, der keinen Anlass sah, die bisherige umfangreiche Protokollierung der Verhandlung und der Beweisaufnahme zu erweitern.3 Die Übertragungen werden deshalb grundsätzlich nicht aufgezeichnet. Besonderheiten im Strafverfahren. Zunächst ist festzuhalten, dass die grundsätzliche 3 gesetzgeberische Entscheidung, dass die Übertragungen nicht aufgezeichnet werden, auch im Rahmen von § 58b gelten dürfte, obwohl diese Vorschrift – anders als die nach dem VidVerfG in andere Verfahrensordnungen eingefügten Vorschriften, wie etwa § 128a Abs. 3 Satz 1 ZPO – dies nicht explizit regelt. Zwar ist es durchaus zweifelhaft, ob die derzeitig Form der Dokumentation von (Zeugen-)Vernehmungen tatsächlich ausreicht.4 Richtig ist aber, dass eine Ausweitung der Dokumentation über den neuen § 58b systematisch schief wäre. Hält man eine solche Aufzeichnung aus verfahrensrechtlichen Gründen, um dem Verlust des Beweismittels vorzubeugen oder um die Aussage selbst eindeutiger zu dokumentieren, für erforderlich, darf sie nicht gewissermaßen zufällig davon abhängen, ob der Zeuge sich an einem anderen Ort aufhält oder nicht. Die Zulässigkeit und Erforderlichkeit der Bild-Ton-Aufzeichnung einer Vernehmung richtet sich ausschließlich nach den dafür vorgesehenen Vorschriften §§ 58a, 247a. Vernehmungen nach § 58b sind wie sonstige Vernehmungen zu protokollieren. Zu beachten ist, dass § 58b nur für Zeugenvernehmungen außerhalb der Hauptver4 handlung Anwendung findet. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung soll unberührt bleiben.5 Insofern stellt sich die Frage, ob die Vorschrift systematisch nicht besser bei § 161a anzusiedeln gewesen wäre. Ein Sonderfall stellt die kommissarische Vernehmung nach § 223 dar. Es handelt sich dabei um eine Vernehmung außerhalb der Hauptverhandlung, so dass § 58b Anwendung finden wird mit der Folge, dass die Vernehmung zu protokollieren ist und keine Aufzeichnung erfolgt. Dem Unmittelbarkeitsgrundsatz schiene durch eine zeitgleiche Vernehmung und Übertragung in die Hauptverhandlung zwar eher Rechnung getragen, doch handelte es sich dann wohl nicht
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BTDrucks. 17 1224 S. 12. Vgl. etwa Art. 2 Nr. 1 VidVerfG in der Synapse mit der Fassung des Rechtsausschusses BTDrucks. 17 12418 S. 4 f. BTDrucks. 17 12418 S. 17.
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Vgl. etwa BRAK-Stellungnahme 1/2010 Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Wahrheitsfindung im Strafverfahren durch verstärkten Einsatz von Bild-Ton-Technik. BTDrucks. 17 1224 S. 11.
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Nachtr. § 68 StPO
Sechster Abschnitt. Zeugen
mehr um eine Vernehmung außerhalb der Hauptverhandlung, mit der Folge, dass sich die Zulässigkeit einer solchen Vernehmung nicht mehr nach § 58b sondern nach § 247a richten würde. Wie bisher auch,6 dürfte die Bild-Ton-Übertragung in die Hauptverhandlung über § 247a hinaus nicht zulässig sein.
§ 60 Von der Vereidigung ist abzusehen 1. bei Personen, die zur Zeit der Vernehmung das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder die wegen mangelnder Verstandesreife oder wegen einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung vom Wesen und der Bedeutung des Eides keine genügende Vorstellung haben; 2. …
Änderung. Mit Art. 1 Nr. 5 des 2. OpferRRG (2009) wurde die Altersgrenze in Nr. 1 1 der Vorschrift vom vollendeten sechzehnten auf das vollendete achtzehnte Lebensjahr angehoben. Einzelfragen. Die Änderung steht im Zusammenhang mit weiteren Änderungen der 2 Strafprozessordnung, wie etwa in § 58a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, in denen die Altersgrenze ebenfalls auf achtzehn Jahre angehoben wurde. Mit diesen Änderungen soll dem Schutz kindlicher Opfer und Zeugen und zahlreichen internationalen Abkommen verstärkt Rechnung getragen werden. Auch in Erfahrungsberichten aus der Praxis sei darauf hingewiesen worden, dass die (bisherige) Schutzaltersgrenze von sechzehn Jahren nicht ausreichend erscheine.1 Fraglich ist allerdings, ob die Altersgrenze in § 60 Nr. 1 tatsächlich zu den Schutz- 3 altersgrenzen entsprechend den Regelungen bspw. in § 58a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 oder § 241a Abs. 1 zählt. Die Altersgrenze in § 60 Nr. 1 beruht auf der Überlegung, dass eine Vereidigung nicht aussagekräftig ist, wenn der Zeuge keine genügende Vorstellung von der Bedeutung des Eides hat. Ob dies der Fall ist, ist von der Schutzwürdigkeit des Zeugen aus anderen Gründen unabhängig. Nichtsdestotrotz ist von der Vereidigung von Zeugen, die zur Zeit ihrer Vernehmung das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nunmehr nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes abzusehen. Dies liegt auch auf der sonstigen Linie des Gesetzgebers, die Vereidigung eines Zeugen zum Ausnahmefall zu machen.
§ 68 (1) 1Die Vernehmung beginnt damit, dass der Zeuge über Vornamen, Nachnamen, Geburtsnamen, Alter, Beruf und Wohnort befragt wird. 2Ein Zeuge, der Wahrnehmungen in amtlicher Eigenschaft gemacht hat, kann statt des Wohnortes den Dienstort angeben.
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LR/Jäger § 223, 8 m.w.N.
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BTDrucks. 16 12098 S. 12 mit Hinweis auf S. 40 f.
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§ 68 StPO Nachtr.
Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
(2) 1Einem Zeugen soll zudem gestattet werden, statt des Wohnortes seinen Geschäfts- oder Dienstort oder eine andere ladungsfähige Anschrift anzugeben, wenn ein begründeter Anlass zu der Besorgnis besteht, dass durch die Angabe des Wohnortes Rechtsgüter des Zeugen oder einer anderen Person gefährdet werden oder dass auf Zeugen oder eine andere Person in unlauterer Weise eingewirkt werden wird. 2In der Hauptverhandlung soll der Vorsitzende dem Zeugen bei Vorliegen der Voraussetzungen des Satzes 1 gestatten, seinen Wohnort nicht anzugeben. (3) 1Besteht ein begründeter Anlass zu der Besorgnis, dass durch die Offenbarung der Identität oder des Wohn- oder Aufenthaltsortes des Zeugen Leben, Leib oder Freiheit des Zeugen oder einer anderen Person gefährdet wird, so kann ihm gestattet werden, Angaben zur Person nicht oder nur über eine frühere Identität zu machen. 2Er hat jedoch in der Hauptverhandlung auf Befragen anzugeben, in welcher Eigenschaft ihm die Tatsachen, die er bekundet, bekannt geworden sind. (4) 1Liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass die Voraussetzungen der Absätze 2 oder 3 vorliegen, ist der Zeuge auf die dort vorgesehenen Befugnisse hinzuweisen. 2Im Fall des Absatzes 2 soll der Zeuge bei der Benennung einer ladungsfähigen Anschrift unterstützt werden. 3Die Unterlagen, die die Feststellung des Wohnortes oder der Identität des Zeugen gewährleisten, werden bei der Staatsanwaltschaft verwahrt. 4Zu den Akten sind sie erst zu nehmen, wenn die Besorgnis der Gefährdung entfällt. (5) 1Die Absätze 2 bis 4 gelten auch nach Abschluss der Zeugenvernehmung. 2Soweit dem Zeugen gestattet wurde, Daten nicht anzugeben, ist bei Auskünften aus und Einsichtnahmen in Akten sicherzustellen, dass diese Daten anderen Personen nicht bekannt werden, es sei denn, dass eine Gefährdung im Sinne der Absätze 2 und 3 ausgeschlossen erscheint.
Schrifttum Bittmann Perspektiven zum Opferschutz – Reform der Reform, ZRP 2009 212.
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Änderung. § 68 wurde durch Art. 1 Nr. 6 des 2. OpferRRG (2009) neu gefasst. Absatz 1 wurde redaktionell überarbeitet und sprachlich modernisiert. Absatz 2 Satz 1 wurde neu gefasst und ergänzt um den Passus „oder dass auf Zeugen oder eine andere Person in unlauterer Weise eingewirkt werden wird“. Der bisherige Absatz 4 wurde neu gefasst als Absatz 2 Satz 1 in § 68a übernommen (vgl. die Kommentierung dort). Absatz 4 Sätze 1 und 2 wurden neu aufgenommen. Die Sätze 3 und 4 aus dem bisherigen Absatz 3 wurden als Sätze 3 und 4 in den Absatz 4 übernommen. Absatz 5 wurde neu eingefügt.
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1. Feststellung der Personalien (Absatz 1 Satz 1). Die geänderten Begriffe („Nachname, Geburtsname“ statt „Zuname“; „Beruf“ statt „Stand und Gewerbe“) soll der Entwicklung der Sprache Rechnung tragen und zudem der Harmonisierung insbesondere mit § 111 OWiG dienen. Dort sei in vergleichbarem Zusammenhang die Pflicht zur Nennung des Geburtsnamens normiert.1 Dies ist nicht nachvollziehbar. Zum einen begründet § 111 OWiG keine Auskunftspflicht, sondern setzt eine solche voraus.2 Zum anderen spricht § 111 OWiG vom „Familien- oder Geburtsnamen“; eine begriffliche Harmonisie-
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BTDrucks. 16 12098 S. 13.
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Göhler/Gürtler § 111, 10 m.w.N.
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Sechster Abschnitt. Zeugen
rung erfolgt also ohne erkennbaren Grund nur partiell.3 Zu einer Änderung der Rechtslage führen die neuen Begrifflichkeiten nicht. Wie auch bisher schon4 hat der Zeuge zumindest seinen Vornamen, seinen Familiennamen (bei Ehegatten incl. des Begleitnamens) und den Geburtsnamen anzugeben. Bei Nachfragen sind ggf. auch sämtliche Vornamen sowie Künstler- oder Decknamen anzugeben.5 Absatz 1 Satz 2 ist unverändert geblieben.6 2. Keine Angabe des Wohnorts (Absatz 2) a) Voraussetzungen (Absatz 2 Satz 1). Absatz 2 regelt die Fälle, in denen dem Zeugen 3 gestattet werden kann, statt der Angabe des Wohnorts eine andere ladungsfähige Adresse anzugeben. Wie schon bisher soll dies gestattet werden, wenn durch die Angabe des Wohnorts Rechtsgüter des Zeugen oder einer anderen Person gefährdet werden. Insoweit relevante Rechtsgüter sind nicht allein die in Absatz 3 genannten Rechtsgüter Leben, Leib und Freiheit, sondern auch andere zivil- oder strafrechtlich geschützte Rechtsgüter wie Eigentum, Besitz und Hausfrieden.7 Neu aufgenommen wurden jedoch die Fälle, in denen begründeter Anlass zu der Besorgnis besteht, dass auf Zeugen oder eine andere Person in unlauterer Weise eingewirkt wird. Damit sind Fälle angesprochen, in denen Zeugen bspw. im Internet als Denunzianten angeprangert werden oder die Gefahr des Stalkings besteht. Beeinflussungsversuche und ggf. die Ausübung von Druck können sehr belastend sein und auch die Aussage beeinflussen.8 b) Angabe in der Hauptverhandlung (Absatz 2 Satz 2). Schon bisher konnte der Vor- 4 sitzende dem Zeugen bei Vorliegen der Voraussetzungen des Satzes 1 in der Hauptverhandlung gestatten, seinen Wohnort nicht anzugeben. Erklärtes Ziel des Gesetzgebers war es, durch die Reform des § 68 der Möglichkeit, „in den Fällen, in denen durch die Angabe des Wohnortes des Zeugen die Besorgnis der eigenen Gefährdung oder der Gefährdung anderer Personen besteht, diese Angaben nicht zu machen und statt dessen eine andere ladungsfähige Anschrift anzugeben, in der Praxis zu mehr Wirkung zu verhelfen.“9 Folgerichtig wurde in Satz 2 das Wort „kann“ durch das Wort „soll“ ersetzt. Bestehen keine besonderen Gründe, die die Angabe des Wohnorts erfordern, ist dem Zeugen bei Vorliegen der Voraussetzungen des Satzes 1 zu gestatten, statt des Wohnorts seinen Geschäfts- oder Dienstort oder eine andere ladungsfähige Anschrift anzugeben. 3. Geheimhaltung der Personalien (Absatz 3). Besteht Anlass für die Besorgnis, dass 5 der Zeuge oder eine andere Person an Leben, Leib oder Freiheit gefährdet ist, so kann dem Zeugen nach Absatz 3 Satz 1 gestattet werden, keine Angaben zur Person oder nur solche über eine frühere Identität zu machen. Der Zeuge hat jedoch in der Hauptverhandlung auf Befragen anzugeben, in welcher Eigenschaft (insb. V-Mann, verdeckter Ermittler) ihm die bekundeten Tatsachen bekannt geworden sind. Diese Regelungen sind unverändert geblieben.10 3
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Vgl. auch Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren, 4/09 – www.drb.de. LR/Ignor/Bertheau § 68, 3. Meyer-Goßner 5; Graf/Monka 2; AnwKStPO/Schlieffen 2.
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Vgl. dazu LR/Ignor/Bertheau § 68, 7. BTDrucks. 16 12098 S. 13. BTDrucks. 16 12098 S. 13. BTDrucks. 16 12098 S. 12. Vgl. insoweit LR/Ignor/Bertheau § 68, 15 ff.
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Die Entscheidungen nach den Absätzen 2 und 3, die für alle Vernehmungen, also auch die staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen, gelten, treffen grundsätzlich die jeweiligen Vernehmungspersonen. Eine Ausnahme besteht für Entscheidungen nach Absatz 3 Satz 1, die im Falle einer polizeilichen Vernehmung gem. § 163 Abs. 3 Satz 2 dem Staatsanwalt vorbehalten ist.11 Eine gerichtliche Überprüfung der staatsanwaltschaftlichen oder polizeilichen Entscheidungen ist nicht möglich (Umkehrschluss aus § 161a Abs. 3, bzw. § 163 Abs. 3 Satz 3).12
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4. Verfahrensvorschriften (Absätze 4 und 5). Die Absätze 4 und 5 regeln nunmehr, wie zu verfahren ist, wenn die Voraussetzungen der Absätze 2 und 3 vorliegen. Nach Absatz 4 Satz 1 und 2 ist der Zeuge auf die Befugnisse nach Absatz 2 und 3 hinzuweisen und ggf. bei der Benennung einer ladungsfähigen Adresse zu unterstützen, wenn Anhaltspunkte vorliegen, dass die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind. Dies gilt für alle Vernehmungen insb. über § 163 Abs. 3 auch für polizeiliche Vernehmungen.13 Absatz 4 Satz 3 und 4 enthalten die Regelungen des Absatz 3 Satz 3 und 4 a.F., wobei 8 ergänzt ist, dass die Unterlagen über die Feststellung des Wohnorts gem. Absatz 2 wie die Unterlagen zur Feststellung der Identität gem. Absatz 3 bei der Staatsanwaltschaft zu verwahren sind, bis die Besorgnis der Gefährdung entfallen ist. Erst dann sind diese Unterlagen zu den Akten zu nehmen, womit sie vom Akteneinsichtsrecht nach § 147 erfasst werden.14 Sofern die betreffenden Daten im Hinblick auf das Verfahren neu sind, ist die Verfahrensweise eindeutig. Schwieriger ist es jedoch, wenn die persönlichen Daten, die geheim gehalten werden dürfen, aus anderen Gründen in den Akten enthalten sind. Dies kann auch der Fall sein, wenn die die Möglichkeit der Geheimhaltung auslösende Gefährdung erst nach Abschluss der Vernehmung bekannt wird (Absatz 5 Satz 1, s. Rn. 9). Der Regierungsentwurf sah zunächst vor, dass in diesem Falle die betreffenden Daten in der gesamten Akte unkenntlich zu machen seien.15 Dies hätte die Gefahr mit sich gebracht, dass Aktenbestandteile, ggf. sogar Beweismittel wie bspw. Augenscheinsobjekte endgültig hätten verloren gehen können. Auf die berechtigte Kritik des Bundesrates hin16 wurde dies nicht Gesetz. Nach Absatz 5 Satz 2 soll nun sichergestellt werden, dass bei Aktenauskunft oder Akteneinsicht diese Daten anderen Personen nicht bekannt werden. Dies bedeutet faktisch eine Beschränkung der Akteneinsicht. Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens mag es im Einzelfall noch möglich sein, die Beschränkung der Akteneinsicht gem. § 147 Abs. 2 mit einer Gefährdung des Untersuchungszwecks zu begründen, wenn der Schutz des Zeugen seiner unbefangenen Aussage und damit der Ermittlung der Wahrheit dienen soll. Spätestens nach Abschluss der Ermittlungen aber kollidiert eine Beschränkung der Akteneinsicht mit dem Recht auf vollständige Akteneinsicht nach § 147.17 Als Ausnahme von dem Grundsatz der Aktenvollständigkeit waren dort bislang lediglich nach § 96 gesperrte Aktenteile anerkannt.18
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Diese Regelung wurde erst im Gesetzgebungsverfahren aufgrund einer Anregung des Bundesrates in das Gesetz aufgenommen – BTDrucks. 16 13671 S. 21. Graf/Monka 6a. BTDrucks. 16 12098 S. 14. LR/Ignor/Bertheau § 68, 14; Meyer-Goßner 19. § 68 Abs. 4 Satz 4 des Regierungsentwurfs, BTDrucks. 16 12098 S. 4.
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BTDrucks. 16 12812 S. 9. S. auch die Kritik des Deutschen Richterbundes, Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren, 4/09 – www.drb.de. AnwK-StPO/Krekeler/Werner § 147, 9; Meyer-Goßner § 147, 14; Graf/Wessing § 147, 14; KK/Laufhütte § 147, 9.
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Sechster Abschnitt. Zeugen
Absatz 5 Satz 1 stellt klar, dass die Absätze 2 bis 4 auch nach Abschluss der Zeugen- 9 vernehmung gelten. Die entsprechenden Schutzmaßnahmen sind also auch dann zu ergreifen, wenn sich erst nach der Vernehmung die Gefährdung des Zeugen oder einer anderen Person herausstellt.19 Revision. Hinsichtlich der Revisionsmöglichkeiten bei Verletzung des § 68 gelten die 10 bisherigen Grundsätze.20 Zu beachten ist insbesondere, dass eine Verletzung von § 68 zugleich dazu führen kann, dass die Verteidigung unzulässig beschränkt (§ 338 Nr. 8), die Aufklärungspflicht des Gerichts (§ 244 Abs. 2) oder das Fragerecht (§ 241 Abs. 2) verletzt wird. Ein nicht behebbares Aufklärungsdefizit ist durch eine besonders vorsichtige Beweiswürdigung und ggf. die Anwendung des Zweifelssatzes auszugleichen.21
§ 68a (1) Fragen nach Tatsachen, die dem Zeugen oder einer Person, die im Sinne des § 52 Abs. 1 sein Angehöriger ist, zur Unehre gereichen können oder deren persönlichen Lebensbereich betreffen, sollen nur gestellt werden, wenn es unerlässlich ist. (2) 1Fragen nach Umständen, die die Glaubwürdigkeit des Zeugen in der vorliegenden Sache betreffen, insbesondere nach seinen Beziehungen zu dem Beschuldigten oder der verletzten Person, sind zu stellen, soweit dies erforderlich ist. 2Der Zeuge soll nach Vorstrafen nur gefragt werden, wenn ihre Feststellung notwendig ist, um über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Nr. 2 zu entscheiden oder um seine Glaubwürdigkeit zu beurteilen.
Änderung. Durch Art. 1 Nr. 7 des 2. OpferRRG (2009) wurde der Regelungsgegen- 1 stand des bisherigen § 68 Abs. 4 sprachlich neu gefasst als Absatz 2 Satz 1 in die Vorschrift des § 68a eingefügt. Der bisherige Absatz 2 wurde dadurch Absatz 2 Satz 2. Einzelfragen. Aus systematischen Gründen wurde die Vorschrift über die Generalfra- 2 gen aus § 68, der die Personalfragen und ihre Beschränkungen regelt, herausgelöst und – in sprachlich modernisierter Form – den Regelungen des § 68a zu Fragen nach entehrenden Tatsachen und Vorstrafen angegliedert. Eine inhaltliche Änderung ist damit nicht beabsichtigt.1 Insoweit wird auf die Kommentierung zu § 68 Abs. 4 a.F. verwiesen.2 Generalfragen sind keine Kompensation für erlassene Angaben nach § 68 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und 3,3 wie sich schon daraus ergibt, dass die Regelung über die Generalfragen von Beginn an und damit weit vor den Schutzmaßnahmen Bestandteil der StPO war. Auch schon nach § 68 Abs. 4 a.F. war deshalb anerkannt, dass durch Fragen nach § 68a Abs. 2 Satz 1 Schutzmaßnahmen nach § 68 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und 3 nicht unterlaufen werden dürfen.4 Insoweit hat die Verschiebung nach § 68a Abs. 2 Satz 1 nichts ge-
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AnwK-StPO/Schlieffen 12; Meyer-Goßner 20. Vgl. LR/Ignor/Bertheau § 68, 23. BGHSt 50 318, 331. BTDrucks. 16 12098 S. 15. LR/Ignor/Bertheau § 68, 18 f. So aber Stellungnahme des Deutschen Rich-
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terbundes zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren, 4/09 – www.drb.de mit der Empfehlung es bei bisherigen Regelungsstandort zu belassen. LR/Ignor/Bertheau § 68, 18; KK/Senge § 68, 10.
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ändert.5 Ein Aufklärungsdefizit, das entsteht, wenn erforderliche Fragen aus Schutzgründen nicht gestellt werden können, ist durch eine besonders vorsichtige Beweiswürdigung und ggf. die Anwendung des Zweifelssatzes auszugleichen.6
§ 68b (1) 1Zeugen können sich eines anwaltlichen Beistands bedienen. 2Einem zur Vernehmung des Zeugen erschienenen anwaltlichen Beistand ist die Anwesenheit gestattet. 3Er kann von der Vernehmung ausgeschlossen werden, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass seine Anwesenheit die geordnete Beweiserhebung nicht nur unwesentlich beeinträchtigen würde. 4Dies wird in der Regel der Fall sein, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass 1. der Beistand an der zu untersuchenden Tat oder an einer mit ihr im Zusammenhang stehenden Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei beteiligt ist, 2. das Aussageverhalten des Zeugen dadurch beeinflusst wird, dass der Beistand nicht nur den Interessen des Zeugen verpflichtet erscheint, oder 3. der Beistand die bei der Vernehmung erlangten Erkenntnisse für Verdunkelungshandlungen im Sinne des § 112 Absatz 2 Nummer 3 nutzt oder in einer den Untersuchungszweck gefährdenden Weise weitergibt. (2) 1Einem Zeugen, der bei seiner Vernehmung keinen anwaltlichen Beistand hat und dessen schutzwürdigen Interessen nicht auf andere Weise Rechnung getragen werden kann, ist für deren Dauer ein solcher beizuordnen, wenn besondere Umstände vorliegen, aus denen sich ergibt, dass der Zeuge seine Befugnisse bei seiner Vernehmung nicht selbst wahrnehmen kann. 2§ 142 Absatz 1 gilt entsprechend. (3) 1Entscheidungen nach Absatz 1 Satz 3 und Absatz 2 Satz 1 sind unanfechtbar. 2Ihre Gründe sind aktenkundig zu machen, soweit dies den Untersuchungszweck nicht gefährdet.
Schrifttum Bittmann Das 2. Opferrechtsreformgesetz, JuS 2010 219; Burhoff Neuregelung in der StPO durch das 2. OpferRRG ZAP 2010 483; Dahs „Informationelle Vorbereitung“ von Zeugenaussagen durch den anwaltlichen Rechtsbeistand, NStZ 2011 200; Klengel/Müller Der anwaltliche Zeugenbeistand im Strafverfahren, NJW 2011 23; Matt/Dierlamm/Schmidt Das (neue) Recht vom Zeugenbeistand und seine verfassungswidrigen Einschränkungen, StV 2009 715.
Übersicht Rn. 1. Änderung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Recht auf Zeugenbeistand (Absatz 1 Satz 1) 3. Rechte des Zeugenbeistands a) Anwesenheitsrecht (Absatz 1 Satz 2) . b) Sonstige Rechte des Zeugenbeistandes 4. Ausschluss des Zeugenbeistands (Absatz 1 Satz 3 und Satz 4)
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a) Systematik . . . . . . . . . . . . . . b) Ausschluss nach Absatz 1 Satz 3 . . 5. Regelbeispiele (Absatz 1 Satz 4) a) Beteiligungsverdacht (Absatz 1 Satz 4 Nr. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nicht nur den Interessen des Zeugen verpflichtet (Absatz 1 Satz 4 Nr. 2) .
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Meyer-Goßner 6a; AnwK-StPO/Schlieffen 4.
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Sechster Abschnitt. Zeugen Rn. c) Verdunkelungshandlungen/Weitergabe von Erkenntnissen in einer den Untersuchungszweck gefährdenden Weise (Absatz 1 Satz 4 Nr. 3) . . . . . . . . 6. Beiordnung zur Vernehmung (Absatz 2) . 7. Verfahren und Anfechtung (Absatz 3 Satz 1)
Rn. a) Gesetzliche Regelung . . . . . . . b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zuständigkeit . . . . . . . . . bb) Folgen des Ausschlusses . . . . c) Aktenkundigkeit der Entscheidungsgründe (Absatz 3 Satz 2) . . . . . 8. Verhältnis von § 68 zu § 406f . . . .
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Alphabetische Übersicht Akteneinsichtsrecht 5 Anfangsverdacht 8 f.; 12 Anwesenheitsberechtigung 4 f. Ausschlusses eines Zeugenbeistandes 6 ff. Beistand seiner Wahl 17 Beweiserhebung, geordnete 6 Ermessensentscheidung 11 Fortsetzung ohne Beistand 22 Grundrechtsrelevanz 6 Interessenkollision 13
Legitimation, besondere rechtsstaatliche 10 f. Personenkreis des § 138 Abs. 1 3 Richtervorbehalt 21 Strafvereitelung 14 Subsidiarität der Beiordnung 16 Verdachtsschwelle 18 f. Verletztenbeistand 24 Verschwiegenheitspflicht 14 Vollzug der Entscheidung 19
1. Änderung. § 68b wurde durch Art. 1 Nr. 8 des 2. OpferRRG (2009) neu gefasst. 1 Eingefügt wurde der jetzige Absatz 1. Der bisherige § 68b, dessen bisheriger Satz 2 – Katalog von Straftaten, die die Beiordnung eines Zeugenbeistandes nahelegen – gestrichen wurde, ist nun Absatz 2. Die entsprechende Anwendung von § 141 Abs. 4 auf die Beiordnung entfällt. Der bisherige Satz 4 wurde Absatz 3 ergänzt um einen Satz 2, demzufolge die Gründe für eine Entscheidung nach Absatz 1 Satz 3 oder Absatz 2 Satz 1 aktenkundig zu machen sind, wenn dies den Untersuchungszweck nicht gefährdet. Der neu eingefügte Absatz 1 übernimmt das allgemein geltende Recht auf Beiziehung 2 eines anwaltlichen Zeugenbeistands ausdrücklich in das Strafverfahrensrecht, regelt aber insb. die Voraussetzungen, unter denen ein Rechtsbeistand vom Verfahren ausgeschlossen werden kann. Nach der Begründung des Gesetzesentwurfs sollte damit entsprechend den Vorgaben des BVerfG1 die „Thematik insgesamt“ – Zeugenbeistand sowie die Voraussetzungen seines Ausschlusses – geregelt und im übrigen ein „Gleichklang“ zwischen dem Zeugenbeistand und dem Beistand des Verletzten, bzw. Nebenklagebefugten gem. den §§ 406f und 406g hergestellt werden2 (vgl. zu Letzterem aber Rn. 24). Die Regelungen des Absatzes 1 sind sowohl für sich, als auch im Zusammenspiel mit den verfahrensrechtlichen Vorschriften des Absatzes 3 in einem derartigen Ausmaß (verfassungs)rechtlich problematisch, dass die Vorschrift des § 68b in seiner derzeitigen Form als missglückt anzusehen ist.3 2. Recht auf Zeugenbeistand (Absatz 1 Satz 1). Absatz 1 Satz 1 fügt den allgemein 3 geltenden und vom BVerfG in seiner Entscheidung vom 4.10.19744 ausdrücklich auch für den Zeugenbeistand im Strafverfahren festgestellten Grundsatz des § 3 Abs. 3 BRAO, demzufolge jedermann sich in allen Rechtsangelegenheiten durch einen Rechtsanwalt
1 2
BVerfGE 38 105 ff. BTDrucks. 16 12098 S. 15.
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Klengel/Müller NJW 2011 28. BVerfGE 38 105.
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beraten lassen kann, explizit für den Zeugen in das Strafverfahrensrecht ein.5 Absatz 1 Satz 1 beschreibt die allgemeine Befugnis, sich eines anwaltlichen Beistands zu bedienen,6 ist also nicht allein auf die Vernehmungssituation bezogen.7 Einen eigenen Regelungsgehalt erhält die Vorschrift durch den ebenfalls durch das 2. OpferRRG (2009) eingefügten § 138 Abs. 3. Danach kann ein Zeuge auch diejenigen als Rechtsbeistand beiziehen, die nach § 138 Abs. 1 und 2 auch als Verteidiger gewählt werden können, obwohl sie nicht Rechtsanwälte sind (bspw. Hochschullehrer), so dass der Personenkreis gegenüber dem vom § 3 Abs. 3 BRAO erfassten Kreis der Rechtsanwälte erweitert ist.8 3. Rechte des Zeugenbeistands
4
a) Anwesenheitsrecht (Absatz 1 Satz 2). Dass der Rechtsbeistand des Zeugen bei der Vernehmung des Zeugen (auch der polizeilichen, s. den Verweis in § 163 Abs. 3 Satz 1) anwesend sein darf, ergibt sich grundsätzlich bereits aus Absatz 1 Satz 1, der die Vernehmungssituation mit umfasst. Absatz 1 Satz 2 hat deshalb die Funktion, klar zu stellen, dass „es grundsätzlich dem Zeugen obliegt, die Anwesenheit seines Rechtsanwalts zu bewirken“. Die Strafverfolgungsbehörden seien jedoch gehalten, Vernehmungen so zu terminieren, dass ein Zeuge von einer von ihm gewünschten anwaltlichen Begleitung Gebrauch machen könne.9
5
b) Sonstige Rechte des Zeugenbeistandes. § 68b Abs. 1 regelt nicht, ob und ggf. welche weiteren und eigenständigen Rechte der Zeugenbeistand darüber hinaus hat.10 Insoweit bleibt die Rechtslage grundsätzlich unverändert.11 Insbesondere soll dem Zeugenbeistand auch weiterhin kein eigenes Recht auf Akteneinsicht zustehen. Sofern der Zeuge nicht Verletzter ist – vgl. § 406e – steht diesem nur ein Akteneinsichtsrecht nach § 475 zu.12 Gerade bei Zeugen, denen ein Beistand beigeordnet wird – in der Regel kommt in diesen Fällen ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 in Betracht –, kann der Zeugenbeistand seiner Beistandsfunktion häufig nur gerecht werden, wenn er die Akten kennt. Ein Akteneinsichtsrecht muss dann bestehen, wenn anderenfalls das Recht, sich eines Zeugenbeistands zu bedienen, leer liefe.13 Erhält der Zeugenbeistand keine Akteneinsicht, so muss er sorgfältig prüfen, ob er von anderen Verfahrensbeteiligten die Akten oder Aktenbestandteile zulässigerweise erhalten kann.14 Umstritten ist weiterhin, ob der Zeugenbeistand außerhalb der Vernehmung anwesenheitsberechtigt ist.15 Eine Kenntnis über den Stand des Verfahrens ist für eine effektive Beratung gleichermaßen Voraussetzung wie eine Kenntnis der Akten.16
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Vgl. dazu LR/Ignor/Bertheau Vor § 48, 20 ff. m.w.N. BTDrucks. 16 12098 S. 15. So aber Burhoff ZAP 2010 483. A.A. HK/Gercke 3; Radtke/Hohmann/Otte 3; Klengel/Müller NJW 2011 25. BTDrucks. 16 12098 S. 15. AnwK-StPO/v.Schlieffen 2; HK/Gercke 5. Vgl. dazu LR/Ignor/Bertheau Vor § 48, 22. BGH StraFo 2010 253 f.; KG StV 2010 298 mit abl. Anm. Koch.
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14 15
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Lohberger Zur Rechtsstellung des Zeugenbeistands, FS Strauda, S. 149, 157; Klengel/ Müller NJW 2011 24 f. Informativ Dahs NStZ 2011 200. Dagegen Graf/Monka 7; Meyer-Goßner 5; dafür Klengel/Müller NJW 2011 23 f.; differenzierend HK/Gercke § 58, 2 m.w.N. Vgl. im Einzelnen LR/Ignor/Bertheau § 58, 3 m.w.N.
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Sechster Abschnitt. Zeugen
4. Ausschluss des Zeugenbeistands (Absatz 1 Satz 3 und Satz 4) a) Systematik. Absatz 1 Satz 3 ist die zentrale Regelung des § 68b n.F. Das BVerfG 6 hat in ständiger Rechtsprechung seit seiner Entscheidung aus dem Jahr 1974 darauf hingewiesen, dass der Ausschluss eines Zeugenbeistandes aufgrund der Grundrechtsrelevanz (sowohl hinsichtlich des Zeugen als auch hinsichtlich des Anwalts) nur auf der Grundlage entsprechender gesetzlicher Regelungen möglich sei.17 Da der Gesetzgeber offenbar ein – nicht näher begründetes – Bedürfnis für die Möglichkeit des Ausschlusses eines Zeugenbeistandes sah, hat er sich veranlasst gesehen, nunmehr entsprechende Ausschlussregelungen zu schaffen. Dabei hat der Gesetzgeber in Absatz 1 Satz 3 eine Ausschlussgeneralklausel geschaffen, die in Satz 4 durch drei Regelbeispiele ergänzt, bzw. konkretisiert wird. Mit dieser Systematik bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass er auch weitere nicht explizit benannte Ausschlussgründe für möglich hält.18 Dies wird den verfassungsrechtlichen und vom BVerfG explizit formulierten Anforderungen an Klarheit, Bestimmtheit und Vollständigkeit der Ausschlussgründe nicht gerecht.19 b) Ausschluss nach Absatz 1 Satz 3. Nach Absatz 1 Satz 3 kann ein Zeugenbeistand 7 von der Vernehmung ausgeschlossen werden, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass seine Anwesenheit die geordnete Beweiserhebung nicht nur unwesentlich beeinträchtigen würde. Diese Regelung ist aus sich heraus ohne Hinzuziehung der Gesetzesbegründung sowie einer vergleichenden Betrachtung der Regelbeispiele des Satzes 4 nicht verständlich. Allein deshalb ist sie als zu unbestimmt verfassungsrechtlich nicht haltbar. Dies zeigt (ungewollt) die Gesetzesbegründung, wenn dort „lediglich klarstellend“ ausgeführt wird, dass die Beratung zur Wahrnehmung von Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechten sowie die Beanstandung unzulässiger Fragen keine Beeinträchtigung der geordneten Beweiserhebung i.S. der Vorschrift darstellen. Das soll „in aller Regel“ selbst dann gelten, wenn der Beistand „das Maß des Zulässigen“ überschreitet.20 Die Grenzen sind freilich fließend, z.B. wenn Streit darüber besteht, ob bestimmte Fragen zulässig sind oder nicht.21 Nach der Gesetzesbegründung geht das Erfordernis „bestimmte Tatsachen“ über Spe- 8 kulationen und vage Verdachtsmomente hinaus. „Anders als beim Ausschluss des Verteidigers nach § 138a Absatz 1 StPO wird jedoch kein dringender Verdacht oder eine überwiegende Wahrscheinlichkeit vorausgesetzt.“ Diese niedrigere Verdachtsschwelle wird zum einen damit begründet, dass der Ausschluss des Zeugenbeistandes nur für eine Vernehmung und nicht für das gesamte Verfahren gelte. Zum anderen wird auf die grundlegende Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1974 verwiesen, der zu Folge die Hinzuziehung eines anwaltlichen Zeugenbeistandes stets einer besonderen rechtsstaatlichen Legitimation bedürfe.22 Der vom Gesetzgeber herangezogene Vergleich mit der Verdachtsschwelle des § 138a 9 Abs. 1 hinkt schon deshalb, weil die Zielrichtungen des jeweiligen Verdachts nicht mit17 18 19
BVerfGE 38 105, 120; BVerfG NStZ 2000 434 f. S. auch Gesetzesbegründung BTDrucks. 16 12098 S. 16. Matt/Dierlamm/Schmidt StV 2009 715, 716 f.; Klengel/Müller NJW 2011 26; HK/Gercke 1 und 9; a.A. Graf/Monka 4: „Damit [scil. den Regelbeispielen] bringt – wie vom BVerfG gefordert – bereits der
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Gesetzgeber zum Ausdruck, welche Fallkonstellationen typischerweise einen Ausschuss des Zeugenanwalts rechtfertigen sollen.“ BTDrucks. 16 12098 S. 16. Krit. auch Matt/Dierlamm/Schmidt StV 2009 715, 716. BTDrucks. 16 12098 S. 16 mit Hinweis auf BVerfGE 38 105, 118.
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einander vergleichbar sind. Während sich der Verdacht des § 138a Abs. 1 auf eine Straftat oder Tatbeteiligung des (potentiell auszuschließenden) Verteidigers richtet und damit auf außerhalb des Verfahrens liegende strafrechtlich relevante Umstände (dem entspricht im Rahmen des § 68b allenfalls das Regelbeispiel des Absatz 1 Satz 4 Nr. 1), betrifft der Verdacht des Absatz 1 Satz 3 die Beeinträchtigung der geordneten Beweiserhebung des Verfahrens, in dem der Zeugenbeistand auftritt. Mit einem strafrechtlich relevanten Verhalten hat dies nicht notwendigerweise etwas zu tun. Insofern ist die Verwendung strafrechtlich definierter Begriffe wie Anfangs-, dringender Verdacht oder Verdachtsschwelle von vorne herein missverständlich und verdeckt, dass mit der Ausschlussregelung des Absatz 1 Satz 3 eine von § 138a grundverschiedene Regelung getroffen wurde. Im Übrigen kann der Ausschluss, auch wenn er nur für die Vernehmung gilt, faktisch sehr viel weitreichendere Auswirkungen haben, wenn die Tätigkeit als Zeugenbeistand nur ein Aspekt der Vertretung des Zeugen ist. Der Zeuge muss dann entscheiden, ob er entweder allein wegen des Ausschlusses von der Vernehmung seinen Anwalt insgesamt wechselt oder aber für die Vernehmung einen weiteren Beistand hinzuzieht. Dies kann ein Eingriff in das Recht des Zeugen auf freie Anwaltswahl bedeuten und darüber hinaus je nach Umfang und Bedeutung der Angelegenheit mit hohen Kosten verbunden sein. Der Hinweis auf das Bedürfnis einer besonderen rechtsstaatlichen Legitimation geht 10 ebenfalls fehl. Das BVerfG hatte in seiner Entscheidung vom 8.10.1974 noch entschieden, dass ein Anspruch des Zeugen auf Hinzuziehung eines Rechtsbeistandes nicht in jedem Fall bestehe, sondern einer besonderen rechtsstaatlichen Legitimation bedürfe. Daraus wird der Schluss gezogen, dass die Zuziehung eines anwaltlichen Zeugenbeistandes nicht grenzenlos möglich sei.23 Diese im Hinblick auf § 3 Abs. 3 BRAO problematische und gegenüber der Entscheidung im Übrigen nicht ganz konsequente Einschränkung ist jedoch spätestens durch die Entscheidung des Gesetzgebers zur Normierung § 68b Abs. 1 Satz 1 überholt.24 Das vermeintliche Erfordernis einer besonderen rechtsstaatlichen Legitimation kann nun nicht herangezogen werden, um einen einmal gewählten Zeugenbeistand unter erleichterten Voraussetzungen wieder auszuschließen. Insbesondere dürfte damit nicht der Ausschluss nicht nur eines bestimmten Beistands sondern eines Beistandes überhaupt begründet werden. Dies verstieße gegen § 68b Abs. 1 Satz 1. Zu Recht weisen Matt/Dierlamm/Schmidt25 darauf hin, dass die Vorgaben des Bun11 desverfassungsgerichts für eine gesetzliche Regelung des Ausschlusses eines Zeugenbeistandes nicht beachtet wurden.26 Laut Gesetzesbegründung habe das Gericht, bzw. der Vernehmungsbeamte eine Ermessensentscheidung zu treffen.27 Wäre dies zutreffend, könnte der um Beistand ersuchte Anwalt dem Zeugen keine zuverlässige Auskunft darüber geben, ob er als Zeugenbeistand tätig sein kann oder nicht. Tatsächlich wird den Entscheidungsträgern wohl ein Beurteilungsspielraum eingeräumt. Da es sich nicht um eine der anerkannten Fallgruppen handelt, in denen der Behörde der Beurteilungsspielraum zusteht,28 ist die Entscheidung von Polizei und Staatsanwaltschaft in vollem Umfang gerichtlich überprüfbar (vgl. auch Rn. 23). Davon abgesehen ist aufgrund des Umstandes, dass der Ausschluss des Zeugenbeistandes in die Grundrechte sowohl des Zeugen als auch des Beistandes eingreift, auch ein Beurteilungsspielraum der Vernehmungsperson abzulehnen. Das BVerfG hat in seiner Entscheidung zum Verteidigerausschluss vom
23 24 25 26
Klengel/Müller NJW 2011 25. Eisenberg (Beweisrecht) 1298 Fn. 182. StV 2009 715 ff. So auch Klengel/Müller NJW 2011 26.
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BTDrucks. 16 12098 S. 16. Vgl. dazu Hufen Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff, ZJS 2010 603, 607.
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Sechster Abschnitt. Zeugen
14.2.1973, auf die es im Anschluss in seiner Entscheidung zum Zeugenbeistand vom 8.10.1974 explizit Bezug genommen hat,29 insbesondere mit Blick auf den Grundsatz der freien Advokatur im Interesse der Rechtspflege insgesamt betont, dass „Beschränkungen der Rechte des Anwalts und Eingriffe in seine Stellung als Verteidiger einer gesetzlichen Legitimation [bedürfen], die sich klar erkennen und zweifelsfrei feststellen läßt.“30 Auch der Zeugenbeistand darf nur ausgeschlossen werden, wenn die Voraussetzungen eines Ausschlusses bereits im Gesetz so präzise definiert sind, dass sie sich klar erkennen und zweifelsfrei feststellen lassen. 5. Regelbeispiele (Absatz 1 Satz 4) a) Beteiligungsverdacht (Absatz 1 Satz 4 Nr. 1). Das Regelbeispiel nach Satz 4 Nr. 1 12 eines möglichen Ausschlusses des Zeugenbeistandes bei Verdacht seiner Tatbeteiligung oder sonstigen strafrechtlich relevanten Verstrickung orientiert sich an den Ausschlussgründen des § 138a Abs. 1 Nr. 1 und 3.31 Nach dem Wortlaut des Gesetzes kann jedoch der Ausschluss nach § 68b Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 anders als der Verteidigerausschluss nach § 138a Abs. 1 Nr. 1 und 3 bereits auf einen Anfangsverdacht gestützt werden. Insofern kann auf die zu § 138a Abs. 1 Nr. 1 und 3 ergangene Rechtsprechung nicht ohne weiteres zurückgegriffen werden.32 Es ist allerdings mit Matt/Dierlamm/Schmidt davon auszugehen, dass eine verfasssungskonforme Auslegung auch bei § 68b Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 einen dringenden Verdacht erfordert.33 b) Nicht nur den Interessen des Zeugen verpflichtet (Absatz 1 Satz 4 Nr. 2). Der Aus- 13 schluss des Zeugenbeistandes soll in der Regel in Betracht kommen, wenn der Beistand nicht nur den Interessen des Zeugen verpflichtet erscheint. Nach der Gesetzesbegründung soll diese Regelung insbesondere dafür Sorge tragen, dass die freie Willensentscheidung des Zeugen nicht dadurch gefährdet wird, dass der Beistand auch für andere Personen tätig ist, bzw. von Dritten, etwa dem Arbeitgeber, gestellt und/oder bezahlt wird.34 Es sind dies demnach grundsätzlich Fälle der (vermuteten) Interessenkollision in der Person des Beistands.35 Allerdings setzt eine Interessenkollision voraus, dass sich die jeweiligen Interessen nicht vereinbaren lassen. Demgegenüber verlangt Absatz 1 Satz 4 Nr. 2 lediglich, dass der Beistand auch Interessen Dritter verpflichtet ist, ohne dass diese mit den Interessen des vertretenen Zeugen kollidieren müssen. Zu Recht kritisieren Matt/ Dierlamm/Schmidt den Begriff des Interesses als uferlos weit. Das Interesse lasse sich mangels Kenntnis von Mandatsinterna durch den Vernehmungsbeamten nahezu nie objektiv bestimmen.36 Der Ausschluss des Zeugenbeistandes ist nach dem Wortlaut des Absatz 1 Satz 4 Nr. 2 bereits dann möglich, wenn weder die Schwelle des berufsrechtlichen Verbots der Vertretung widerstreitender Interessen (§ 43a Abs. 2 BRAO) noch gar eine strafrechtliche Grenze (§ 356 StGB – Parteiverrat) erreicht ist. Es kann durchaus im (berechtigten) Interesse des Zeugen liegen, auch den Interessen eines Dritten gerecht zu werden.37 Dies ist nicht zu beanstanden, solange die Vertretung der Interessen des Drit29 30 31 32
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BVerfGE 38 105, 120. BVerfGE 34 293, 302. BTDrucks. 16 12098 S. 16. So aber AnwK-StPO/v. Schlieffen 4; Radtke/ Hohmann/Otte 6; Eisenberg (Beweisrecht) 1298, Fn. 183. StV 2009 715, 717; so auch Klengel/Müller NJW 2011 26; HK/Gercke 10; a.A. aber wohl Graf/Monka 3; Meyer-Goßner 7.
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BTDrucks. 16 12098 S. 17. Graf/Monka 4. StV 2009 715, 717; für eine enge Auslegung auch Klengel/Müller NJW 2011 26; AnwKStPO/v. Schlieffen 4; HK/Gercke 11. Klengel/Müller NJW 2011 27.
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ten durch den Zeugenbeistand seinen eigenen Interessen nicht widerstreitet. So kann bspw. der nach § 52 Abs. 1 StPO Zeugnisverweigerungsberechtigte aussagen oder nicht. Ob seine Entscheidung nur in seinem oder auch im Interesse eines anderen liegt, ist unerheblich. Er darf zu seinen Motiven nicht einmal befragt werden.38 Hiermit ist es nicht zu vereinbaren, wenn im Rahmen eines möglichen Ausschlusses nach § 68b Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 angenommen wird, das Gericht sei befugt, die Umstände der Hinzuziehung des Zeugenbeistandes durch entsprechende Fragen an den Zeugen und seinen Beistand aufzuklären.39 Damit wird in unzulässiger Weise in das Vertrauensverhältnis eingegriffen.40 Aus guten Gründen besteht das Verbot der Mehrfachverteidigung nach § 146 StPO aufgrund objektiver Kriterien. Der Gesetzgeber hat Fallgestaltungen normiert, bei denen die Gefahr einer Interessenkollision derart naheliegt, dass eine Zurückweisung des Verteidigers zur vorbeugenden Verfahrenssicherung angemessen erscheint. Die Anknüpfung an den konkreten Interessenkonflikt und deren Ausgestaltung als Ausschließungsgrund wurde u.a. im Hinblick auf die geschützten Interna der Verteidigung und die Unabhängigkeit des Verteidigers abgelehnt.41 Dies sollte im Falle des Zeugenbeistandes nicht anders sein. Erst recht abzulehnen ist es, einen Zeugenbeistand allein deshalb auszuschließen, weil ein Sozietätskollege den Beschuldigten vertritt, der ein Interesse an einer bestimmten Aussage des Zeugen hat.42
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c) Verdunkelungshandlungen/Weitergabe von Erkenntnissen in einer den Untersuchungszweck gefährdenden Weise (Absatz 1 Satz 4 Nr. 3). Absatz 1 Satz 4 Nr. 3 soll Fälle erfassen, in denen die Gefahr besteht, dass der Beistand die von ihm bei der Vernehmung erlangten Erkenntnisse im Eigen- oder Fremdinteresse in einer den Untersuchungserfolg gefährdenden Weise verwenden wird, etwa zur Vernichtung der Beweismittel oder zur Warnung der gesuchten Person.43 Der Wortlaut der Vorschrift geht weiter. Der Zeugenbeistand kann ausgeschlossen werden, wenn er Erkenntnisse in einer den Untersuchungszweck gefährdenden Weise weitergibt. Danach kommt ein Ausschluss des Zeugenbeistands selbst dann in Betracht, wenn die Weitergabe der Erkenntnisse – ggf. auch durch den Zeugen selbst – zulässig ist.44 Ein Ausschluss des Zeugenbeistands ist in diesen Fällen verfassungsrechtlich nicht haltbar. Verstößt der Zeugenbeistand durch die Weitergabe von Erkenntnissen gegen seine Verschwiegenheitspflicht aus dem Mandatsverhältnis oder liegt der Verdacht der Strafvereitelung vor, greifen die Regelbeispiele der Verstrickung – Nr. 1 – und/oder der Interessenkollision – Nr. 2 – ein.45 Ein berechtigter eigenständiger Regelungsgehalt des Regelbeispiels Nr. 3 ist nicht zu erkennen.
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6. Beiordnung zur Vernehmung (Absatz 2). § 68b Abs. 2 regelt die Beiordnung eines Zeugenbeistandes. Anders als nach § 68b a.F. ist die Zustimmung der Staatsanwaltschaft nicht mehr Voraussetzung einer Beiordnung. Entfallen ist außerdem der Straftatenkata-
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LR/Ignor/Bertheau § 52, 23 m.w.N. So aber BVerfG StraFo 2010 243, 244; AG Berlin-Tiergarten wistra 2011 155; a.A. Klengel/Müller NJW 2011 26. Vgl. zum verfassungsrechtlich gebotenen Schutz von Mandatsinterna auch Leitner: Das Verteidigermandat und seine Inhalte als Beweisthema, StraFo 2012 344. BTDrucks. 10 1313 S. 22. So AG Rudolstadt StraFo 2012 181 mit abl. Anm. Fromm.
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BTDrucks. 16 12098 S. 17. Matt/Dierlamm/Schmitdt StV 2009 715, 717. Matt/Dierlamm/Schmitdt StV 2009 715, 717; von Schlieffen, Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (s. Opferrechtsreformgesetz) vom 11.5.2009, III. 2. b) unter www.strafverteidigervereinigungen.org/Material/Stellungnahmen/ 2. Opferrechtsreformgesetz.
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Nachtr. § 68b StPO
Sechster Abschnitt. Zeugen
log nach § 68b S. 2 a.F. und damit auch die Unterscheidung in fakultative („kann“) und zwingende („ist“) Beiordnung. Dem Zeugen ist nun stets – auch ohne Antrag des Zeugen oder der Staatsanwaltschaft – für die Dauer der Vernehmung ein Zeugenbeistand beizuordnen, wenn – unabhängig von der Schwere des Delikts – besondere Umstände vorliegen, aus denen sich ergibt, dass der Zeuge seine Befugnisse nicht selbst wahrnehmen kann. Solche besonderen Umstände können darin liegen, dass der Zeuge – sei es als Opfer, sei es als (potentiell) Beteiligter an der Tat – in besondere Weise betroffen ist oder dass es sich um einen aus anderen Gründen besonders ängstlichen oder gehemmten Zeugen handelt.46 Die Vernehmung endet mit der Entlassung des Zeugen. Damit endet auch die Beiordnung. Soll der Zeuge danach erneut gehört werden, muss auch erneut entschieden werden, ob die Voraussetzungen für eine Beiordnung weiterhin vorliegen.47 Wie schon nach § 68b a.F. erfolgt die Beiordnung allerdings nur subsidiär. Das Ge- 16 richt ordnet trotz Vorliegen der genannten Voraussetzungen keinen Zeugenbeistand bei, wenn der Zeuge bereits einen Beistand hat oder seinen schutzwürdigen Interessen auf andere Weise Rechnung getragen werden kann.48 Dabei soll grundsätzlich davon auszugehen sein, dass eine Beiordnung nur in Ausnahmefällen („besondere Umstände“) notwendig ist. Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass ein Zeuge bei sachgerechter Belehrung durch die vernehmende Person in der Lage ist, seine Befugnisse eigenverantwortlich wahrzunehmen.49 Nach § 68b Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 142 Abs. 1 muss dem Zeugen vor der Beiordnung 17 Gelegenheit gegeben werden, einen Beistand seiner Wahl zu bezeichnen. Auch in diesem Zusammenhang ist § 138 Abs. 3 zu beachten. Ebenso wie ein Verteidiger aus dem Personenkreis des § 138 Abs. 1 zum Pflichtverteidiger bestellt werden kann,50 kann eine Person aus diesem Kreis als Zeugenbeistand beigeordnet werden, wenn sie der Beiordnung zustimmt. Die Entscheidung über die Beiordnung trifft, da der Verweis auf § 141 Abs. 4 entfal- 18 len ist, das für die Vernehmung zuständige Gericht. Bei staatsanwaltschaftlichen (§ 161a Abs. 1 Satz 2), aber auch bei polizeilichen Vernehmungen (§ 163 Abs. 3 Satz 2) entscheidet die Staatsanwaltschaft über die Beiordnung. 7. Verfahren und Anfechtung (Absatz 3 Satz 1) a) Gesetzliche Regelung. Absatz 3 Satz 1 bestimmt (wie § 68b Satz 4 a.F.), dass die 19 nach § 68b getroffenen Entscheidungen unanfechtbar sind. Sonstige Regelungen zum Verfahren enthält § 68b nicht. Mangels einer anderweitigen Regelung werden die Entscheidungen nach § 68b Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 Satz 1 von dem vernehmenden Gericht selbst getroffen. Wird der Zeuge durch die Staatsanwaltschaft oder die Polizei vernommen, trifft der vernehmende Beamte die Entscheidungen nach § 68b Abs. 1 Satz 3, die Staatsanwaltschaft jedoch die Entscheidung nach Abs. 2 Satz 1 (s. § 161a Abs. 1 Satz 2 für die Staatsanwaltschaft und § 163 Abs. 3 Satz 1, bzw. 2 für die Polizei). Während die gerichtlichen Entscheidungen unanfechtbar sind, kann gegen die Entscheidungen von Staatsanwaltschaft und Polizei gerichtliche Entscheidung des nach § 162 zuständigen Gerichts – je nach Verfahrensstand also des Ermittlungsrichters oder des mit der Hauptsache befassten Gerichts – beantragt werden (§§ 161a Abs. 3 Satz 2 und 4, 163 Abs. 3
46 47
AnwK-StPO/v. Schlieffen 9. LG Bad Kreuznach 16.10.2013 1042 Js 2656/13 KLs.
48 49 50
LR/Ignor/Bertheau § 68b, 7 ff. m.w.N. BTDrucks. 16 12098 S. 17. Meyer-Goßner § 142, 4.
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§ 68b StPO Nachtr.
Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
Satz 3), das die Entscheidung von Staatsanwaltschaft oder Polizei in vollem Umfang überprüfen muss (vgl. Rn. 11 und 23). Durch den Antrag auf gerichtliche Entscheidung wird der Vollzug der Entscheidung nicht gehemmt (§§ 163 Abs. 3 Satz 3, 161a Abs. 3 Satz 3 i.V.m. § 307 Abs. 1), solange die Vollzugsbeamten dies nicht explizit anordnen (§ 307 Abs. 2). Der Zeugenbeistand ist also bis zu einer gegenteiligen Entscheidung des Gerichts von der Vernehmung ausgeschlossen (zu den Konsequenzen vgl. Rn. 22).
20
b) Kritik. Auch gegen diese Verfahrensreglung bestehen grundsätzliche Bedenken, die sich zum einen auf die Verfahrensgestaltung selbst beziehen (Rn. 21) und die zum anderen die fehlende Regelung der Folgen insb. eines Ausschlusses des Zeugenbeistandes nach Absatz 1 Satz 3 in den Blick nehmen (Rn. 22).
21
aa) Zuständigkeit. Die Regelung, der zu Folge (gerichtliche) Entscheidungen nach § 68b unanfechtbar sind, wurde aus § 68b Satz 4 a.F. übernommen. Dieser bezog sich allerdings ausschließlich auf den damaligen Regelungsgehalt des § 68b, also die Frage der Beiordnung eines Zeugenbeistandes (§ 68b Abs. 2 Satz 1 n.F.). Diese Regelung wurde unter Hinweis auf die Vermeidung von Verzögerungen51 auch auf die Entscheidung über den Ausschluss eines Zeugenbeistandes übertragen. Ob die Regelung einer verfassungsgerichtlichen Prüfung standhalten wird, bleibt abzuwarten. Der Ausschluss eines vom Zeugen gewählten Beistandes hat eine weitaus größere Tragweite als die Beiordnung eines Zeugenbeistandes durch das Gericht, bzw. deren Ablehnung. Bedenklich ist, dass die Ausschlussentscheidung auch von Polizei und Staatsanwaltschaft getroffen werden kann, also nicht grundsätzlich unter einem Richtervorbehalt steht.52 Das BVerfG hatte bereits in seiner grundlegenden Entscheidung vom 8.10.1974 darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber aufgerufen sei, „entsprechende Regelungen unter Berücksichtigung der vom BVerfG zur Entziehung der Verteidigungsbefugnis ausgesprochenen Grundsätze zu treffen.“53 Diese Vorgabe hat der Gesetzgeber nicht beachtet. Zu den genannten Grundsätzen gehören auch die Verfahrensfragen. Das Verfahren zur Ausschließung eines Verteidigers ist in den §§ 138c, 138d geregelt. Die Entscheidung trifft – in der Regel – das Oberlandesgericht in einem eigenen Verfahren. Nicht ohne Grund ist die Entscheidung über den Verteidigerausschluss einem anderen als dem in der Sache zuständigen Gericht übertragen. Die Entscheidung ist des Weiteren mit der sofortigen Beschwerde angreifbar. Damit wird auch verfahrensrechtlich gesichert, dass der mit der Entziehung der Verteidigerbefugnis notwendigerweise einhergehende Eingriff in die Grundrechte des Anwalts einer strengen Kontrolle unterliegt. Wie bereits dargelegt, ist auch der Ausschluss eines Zeugenbeistands ein verfassungsrechtlich relevanter schwerwiegender Eingriff in die Rechte gleichermaßen des Zeugen wie des Beistands, in der Regel des Rechtsanwalts. Dass über diesen Ausschluss ausschließlich und abschließend das Gericht entscheidet, dass seine Arbeit durch die Tätigkeit des Beistandes möglicherweise gerade beeinträchtigt sieht, ist nicht hinnehmbar. Es besteht die Gefahr, dass eine Entscheidung im eigenen Interesse ergeht.
22
bb) Folgen des Ausschlusses. Unklar bleiben die Folgen einer (ggf. noch nicht rechtskräftigen) Ausschlussentscheidung. Festzuhalten ist zunächst, dass die Entscheidung, einen bestimmten Beistand von der Vernehmung auszuschließen, das Recht des Zeugen,
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BTDrucks. 16 12098 S. 18. Matt/Dierlamm/Schmidt StV 2009 715, 718; Klengel/Müller NJW 2011 27.
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BVerfGE 38 105, 120.
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Sechster Abschnitt. Zeugen
sich eines Beistands zu bedienen unberührt lässt. Insoweit kann aus dem Verweis auf § 307 in § 161a Abs. 3 Satz 3 nicht geschlossen werden, dass die Vernehmung nach erfolgtem Ausschluss ohne weiteres fortgesetzt werden kann.54 Dieser Verweis besagt lediglich, dass der ausgeschlossene Beistand, wenn nichts Gegenteiliges angeordnet ist, bis zur gerichtlichen Entscheidung nicht tätig sein darf. Dem Zeugen, der sich unversehens ohne Beistand sieht, wird zumindest die Möglichkeit einzuräumen sein, sich in angemessener Zeit einen neuen Beistand zu suchen.55 Die Vernehmung ist, jedenfalls, wenn sich der Zeuge nicht ausdrücklich und nach entsprechender Belehrung mit einer Fortsetzung ohne Beistand einverstanden erklärt, zu unterbrechen. Ist die Entscheidung über den Ausschluss noch nicht rechtskräftig, kann jedenfalls in umfangreichen Fällen, in denen der Beistand den Zeugen möglicherweise auch anderweitig vertritt und über entsprechende Sachkenntnisse verfügt, auch zur Vermeidung von Kosten, die durch die Tätigkeit eines anderen Zeugenbeistands entstehen würden, eine Unterbrechung der Vernehmung bis zur gerichtlichen Entscheidung angezeigt sein. Schließlich wird bei entsprechender Sachlage nach dem Ausschluss des Zeugenbeistands eine Beiordnung nach Abs. 2 in Erwägung zu ziehen sein. Wird die Vernehmung gleichwohl gegen den Willen des Zeugen ohne Beistand fortgesetzt, ziehen Klengel/Müller ein Verwertungsverbot in Erwägung,56 das aber wohl allenfalls in einem Verfahren gegen den Zeugen selbst in Betracht käme. Verweigert der Zeuge bei Fortsetzung Vernehmung ohne Zeugenbeistand das Zeugnis, riskiert er ordnungsrechtliche Sanktionen nach § 70, die mit der Beschwerde angegriffen werden können.57 Erfolgt der Ausschluss bei einer polizeilichen Vernehmung, kann diese gegen den Willen des Zeugen nicht fortgesetzt werden, weil eine Pflicht zur Aussage nicht besteht (vgl. § 48, 6). Darauf wird der Zeuge nach dem Ausschluss seines Beistandes (noch einmal) explizit hinzuweisen sein. c) Aktenkundigkeit der Entscheidungsgründe (Absatz 3 Satz 2). Die Gründe für eine 23 Entscheidung nach Absatz 1 Satz 3 oder Absatz 2 Satz 1 sind aktenkundig zu machen. Dies soll jedoch nicht gelten, soweit dies den Untersuchungszweck gefährdet, was insbesondere in Fällen des Absatz 1 Satz 4 Nr. 1 und 3 in Frage kommen soll.58 Diese Ausnahmevorschrift kann aus verfassungsrechtlichen Gründen allenfalls bei der (abschließenden) gerichtlichen Entscheidung Anwendung finden. Würden die Gründe für eine Entscheidung von Staatsanwaltschaft und Polizei nicht aktenkundig gemacht, könnte eine gerichtliche Überprüfung nicht in gebotenem Maße stattfinden. Der Rechtsschutz liefe leer.59 8. Verhältnis von § 68b zu § 406f. Unklar ist das Verhältnis von § 406f zu § 68b. 24 § 406f regelt das Recht auf Beistand für den nicht nebenklageberechtigten Verletzten. Insbesondere ist dem Gesetz und auch der Gesetzesbegründung60 nicht zu entnehmen, ob auch ein Ausschluss des Verletztenbeistands gem. § 406f nach § 68b Abs. 1 Satz 3 in Betracht kommt. Anzunehmen ist, dass der Gesetzgeber eine Regelung schon deshalb nicht für erforderlich gehalten hat, weil er kein rechtspolitisches Bedürfnis für die Möglichkeit des Ausschlusses eines Verletztenbeistandes gesehen hat.61 Die Ansichten in der 54 55 56 57 58
So aber Matt/Dierlamm/Schmidt StV 2009 715, 718. Matt/Dierlamm/Schmidt StV 2009 715, 718; Klengel/Müller NJW 2011 27. NJW 2011 27. Matt/Dierlamm/Schmidt StV 2009 715, 718. BTDrucks. 16 12098 S. 18.
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Matt/Dierlamm/Schmidt StV 2009 715, 718; kritisch insoweit auch Radtke/Hohmann/ Otte 17. BTDrucks. 16 12098 S. 36. Zu Recht kritisch diesbezüglich von Schlieffen, Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen zum Entwurf eines Gesetzes zur
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§ 69 StPO Nachtr.
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Literatur sind unterschiedlich.62 Für eine entsprechende Anwendung spricht, dass der Verletzte im Strafverfahren seiner Funktion nach Zeuge ist wie jeder andere Zeuge auch. Es ist auch nicht ersichtlich, warum bspw. eine Verstrickung oder eine Interessenkollision bei einem Verletztenbeistand nicht ebenso möglich sein sollte wie bei einem sonstigen Zeugenbeistand. Gegen eine Anwendung spricht, dass bei einer entsprechenden Anwendung des § 68b im Rahmen des § 406f auch eine Beiordnung in entsprechender Anwendung des § 68b Abs. 2 in Betracht kommen müsste. Eine Beiordnung eines Beistandes für den nicht nebenklageberechtigten Zeugen hat der Gesetzgeber aber gerade nicht gewollt, wie sich aus der expliziten Regelung der Beiordnung eines Beistandes für den nebenklageberechtigten Verletzten in § 406g Abs. 4 ergibt. Auch spricht gegen eine entsprechende Anwendung des § 68b Abs. 1 Satz 3 im Rahmen des § 406f, dass der Verletztenbeistand dem Verletzten während des (gesamten) Strafverfahrens zur Seite steht.63 Da ein Ausschluss somit (jedenfalls faktisch) über einen bloßen Ausschluss von der Vernehmung hinausgehen würde (anderenfalls müsste der Verletzte allein für die Vernehmung einen zusätzlichen Anwalt mandatieren), ist der Ausschluss des Verletztenbeistandes eher mit dem Ausschluss eines Verteidigers nach §§ 138a ff. vergleichbar.
§ 69 (1) … (2) 1… 2Zeugen, die durch die Straftat verletzt sind, ist insbesondere Gelegenheit zu geben, sich zu den Auswirkungen, die die Tat auf sie hatte, zu äußern. (3) …
Schrifttum Anders Straftheoretische Anmerkungen zur Verletztenorientierung im Strafverfahren, ZStW 2012 374; Eisenberg Referentenentwurf des BMJ „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG)“ 2010, HRRS 2011 64; Hanloser Das Recht des Opfers auf Gehör im Strafverfahren (2010).
1
Änderung. Durch Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG)1 vom 26.6.2013 (BGBl. I S. 1805) wurde § 69 Abs. 2 Satz 2 angefügt. 2 Laut Begründung des Regierungsentwurfs soll es sich um eine Klarstellung handeln.2 Dies ist insoweit zutreffend, als – worauf Eisenberg zu Recht hinweist – „wegen der Relevanz für die Rechtsfolgenbemessung (…) die Ermittlung ohnehin auf verschuldete Auswirkungen der Tat zu erstrecken“ ist.3 Nur als Klarstellung kann die Ergänzung des Absatzes 2 jedoch nicht verstanden werden, vielmehr handelt es sich, ohne dass dies in
62
Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (s. Opferrechtsreformgesetz) vom 11.5.2009, III. 7. unter www. strafverteidigervereinigungen.org/Material/ Stellungnahmen/2.Opferrechtsreformgesetz. Für eine entsprechende Anwendung MeyerGoßner § 406f, 3 a.E.; dagegen wohl Graf/
52
63 1 2 3
Weiner § 406f, 2; AnwK-StPO/Kauder § 406f, 5. Meyer-Goßner § 406f, 1. S. zum Gesetzgebungsstand Vor § 48, 1. BTDrucks. 17 6261 S. 11. Eisenberg HRRS 2011 66.
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der Regierungsbegründung benannt würde, um eine Annährung an das Victim Impact Statement (VIS) nach anglo-amerikanischem Recht, das derzeit auch in einigen anderen europäischen Ländern umgesetzt wird.4 Das VIS nach US-amerikanischem Verständnis beschränkt sich jedoch nicht auf verfahrensfördernde Zwecke, sondern geht weit darüber hinaus. Je nach Ausgestaltung soll das VIS etwa auch dem Interesse des Verletzten an der Bestrafung des Angeklagten, der persönlichen Aufarbeitung des Geschehens sowie dem Interesse an der Vermeidung einer Sekundärviktimisierung dienen.5 Diese Interessen des/der Verletzten zu stärken, wird auch als gesetzgeberisches Anlie- 3 gen im Rahmen der Opferrechtsreformgesetzgebung benannt. Zu den grundsätzlichen Bedenken hinsichtlich der Möglichkeit, diese Anliegen in das System der StPO zu integrieren, wird auf die Vorbemerkung zu § 48 verwiesen (Vor § 48, 2 ff.). Am Beispiel des Absatzes 2 Satz 2 zeigt sich darüber hinaus in besonderer Weise, wie problematisch es sein kann, einzelne Elemente unterschiedlicher, jeweils für sich gewachsener Verfahrensordnungen miteinander zu verbinden. Nach den US-amerikanischen Verfahrensordnungen findet das VIS erst nach der Schuldfeststellung statt,6 einem Verfahrensschritt, den die StPO in dieser Form nicht kennt. Die von Eisenberg zu Recht beschriebene Gefahr, dass die Anregung oder Aufforderung zu einer Aussage i.S.d. Absatz 2 Satz 2 „eine suggestive Wirkung hinsichtlich der Unterstellung des Erwiesenseins der angeblichen Tat ausgelöst“ wird, resultiert aus dem Umstand, dass nach dem Verfahrensrecht der StPO die Aussage des/der Verletzten anders als nach den US-amerikanischen Verfahrensordnungen vor der Schuldfeststellung erfolgt. Absatz 2 Satz 2 verstößt deshalb gegen die Unschuldsvermutung.7
4 5
Vgl. den Überblick bei Anders ZStW 2012 385 f. Anders ZStW 2012 386.
6 7
Anders ZStW 2012 386. Eisenberg HRRS 2011 66.
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SIEBENTER ABSCHNITT Sachverständige und Augenschein § 81c (1) … (2) … (3) 1Untersuchungen oder Entnahmen von Blutproben können aus den gleichen Gründen wie das Zeugnis verweigert werden. 2 Haben Minderjährige wegen mangelnder Verstandesreife oder haben Minderjährige oder Betreute wegen einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung von der Bedeutung ihres Weigerungsrechts keine genügende Vorstellung, so entscheidet der gesetzliche Vertreter; § 52 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 gilt entsprechend. 3Ist der gesetzliche Vertreter von der Entscheidung ausgeschlossen (§ 52 Abs. 2 Satz 2) oder aus sonstigen Gründen an einer rechtzeitigen Entscheidung gehindert und erscheint die sofortige Untersuchung oder Entnahme von Blutproben zur Beweissicherung erforderlich, so sind diese Maßnahmen nur auf besondere Anordnung des Gerichts und, wenn dieses nicht rechtzeitig erreichbar ist, der Staatsanwaltschaft zulässig. 4Der die Maßnahmen anordnende Beschluß ist unanfechtbar. 5Die nach Satz 3 erhobenen Beweise dürfen im weiteren Verfahren nur mit Einwilligung des hierzu befugten gesetzlichen Vertreters verwertet werden. (4) … (5) 1Die Anordnung steht dem Gericht, bei Gefährdung des Untersuchungserfolges durch Verzögerung auch der Staatsanwaltschaft und ihren Ermittlungspersonen (§ 152 des Gerichtsverfassungsgesetzes) zu; Absatz 3 Satz 3 bleibt unberührt. 2§ 81a Abs. 3 gilt entsprechend. (6) …
1
Änderung. Das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz) vom 29.7.20091 hat eine staatsanwaltschaftliche Eilkompetenz für die Fälle des § 81c Abs. 3 Satz 3 geschaffen. Die Staatsanwaltschaft ist nunmehr für die besondere Anordnung der Durchführung einer körperlichen Untersuchung oder der Entnahme einer Blutprobe bei einem Minderjährigen oder Betreuten zuständig, wenn dieser von der Bedeutung des Weigerungsrechts keine genügende Vorstellung besitzt, der gesetzliche Vertreter von der Entscheidung ausgeschlossen oder sonst an ihr gehindert und das für die Anordnung zuständige Gericht nicht rechtzeitig erreichbar ist. Zweck der Änderung. Die Schaffung einer Eilkompetenz für die Staatsanwaltschaft 2 hielt der Gesetzgeber für geboten im Hinblick auf Fälle, in denen eine sofortige Untersuchung oder eine Blutentnahme zur Sachverhaltsaufklärung oder zur Vermeidung einer 1
BGBl. I. S. 2280.
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Daniel M. Krause
Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein
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unzumutbaren Belastung für den Betroffenen erforderlich ist, die richterliche Anordnung jedoch nicht eingeholt werden kann.2 Die Eilzuständigkeit soll zur Verbesserung der Situation der Opfer beitragen,3 indem Verletzungen schneller erkannt und versorgt werden können und den Betroffenen in diesen Fällen ermöglicht wird, sich binnen kürzerer Zeit von den Spuren der Tat zu reinigen, ohne dass hierdurch die Gefahr eines Beweismittelverlustes eintritt.4 Anordnungskompetenz der Staatsanwaltschaft als Ausnahmefall/Einzelfragen. Grund- 3 sätzlich bleibt es bei der Anordnungskompetenz des Richters für die Fälle, in denen der gesetzliche Vertreter die Entscheidung über das Untersuchungsverweigerungsrecht nicht rechtzeitig vornehmen kann oder von der Entscheidung ausgeschlossen ist. Die Anordnungskompetenz ist der Ausnahmefall. Sie besteht nur dann, wenn trotz entsprechender Kontaktierungsversuche das Gericht nicht erreichbar ist und überdies ein Zuwarten wegen eines drohenden Beweismittelverlustes oder der Unzumutbarkeit für den Betroffenen nicht möglich ist.5 Die Strafverfolgungsbehörden haben zunächst zu versuchen, eine Anordnung des zuständigen Gerichts zu erlangen. Entsprechend den Anforderungen bei § 81a Abs. 2 (dort Rn. 66) liegen die Voraussetzungen der staatsanwaltschaftlichen Anordnungskompetenz nur dann vor, wenn der drohende Beweismittelverlust bzw. die Unzumutbarkeit für den Betroffenen durch Tatsachen unterlegt ist. Dies ist zu begründen und in den Akten zu dokumentieren, wenn die Dringlichkeit nicht evident ist.
2 3
BRDrucks. 178/09 S. 3; BTDrucks. 16 12812 S. 9. BTDrucks. 16 13671 S. 21.
4 5
BRDrucks. 178/09 S. 3. BTDrucks. 16 13671 S. 21.
Daniel M. Krause
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NEUNTER ABSCHNITT Verhaftung und vorläufige Festnahme § 112a (1) 1Ein Haftgrund besteht auch, wenn der Beschuldigte dringend verdächtig ist, 1. eine Straftat nach den §§ 174, 174a, 176 bis 179 oder nach § 238 Abs. 2 und 3 des Strafgesetzbuches oder 2. wiederholt oder fortgesetzt eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat nach § 89a, nach § 125a, nach den §§ 224 bis 227, nach den §§ 243, 244, 249 bis 255, 260, nach § 263, nach den §§ 306 bis 306c oder § 316a des Strafgesetzbuches oder nach § 29 Abs. 1 Nr. 1, 4, 10 oder Abs. 3, § 29a Abs. 1, § 30 Abs. 1, § 30a Abs. 1 des Betäubungsmittelgesetzes begangen zu haben, und bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, daß er vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen oder die Straftat fortsetzen werde, die Haft zur Abwendung der drohenden Gefahr erforderlich und in den Fällen der Nummer 2 eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten ist. 2In die Beurteilung des dringenden Verdachts einer Tatbegehung im Sinne des Satzes 1 Nummer 2 sind auch solche Taten einzubeziehen, die Gegenstand anderer, auch rechtskräftig abgeschlossener Verfahren sind oder waren. (2) … Schrifttum Gazeas „Stalking“ als Straftatbestand, KJ 2006 247; Kinzig/Zander Der neue Tatbestand der Nachstellung (§ 238 StGB), JA 2007 481; Knauer/Reinbacher Zur Erweiterung der Untersuchungshaftgründe gemäß § 112a Abs. 1 Nr. 1 StPO durch das Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen, StV 2008 377; Krüger Zur Deeskalationshaft in Fällen von Stalking, NJ 2008 150; Mitsch Der neue Stalking-Tatbestand im Strafgesetzbuch, NJW 2007 1237; ders. Strafrechtsdogmatische Probleme des neuen „Stalking“-Tatbestands, Jura 2007 401; Mosbacher Nachstellung – § 238 StGB, NStZ 2007 665; Neubacher An den Grenzen des Strafrechts – Stalking, Graffiti, Weisungsverstöße, ZStW 118 (2006) 855; Neubacher/Seher Das Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen (§ 238 StGB), JZ 2007 1029; Peters Der Tatbestand des § 238 StGB (Nachstellung) in der staatsanwaltlichen Praxis, NStZ 2009 238; Rieß Über Verbrechensprävention im Strafrecht und im Strafverfahren, FS Otto (2007) 955; Seebode Das „Recht des Untersuchungshaftvollzugs“ im Sinne des Art. 74 GG, HRRS 2008 236; Sommerfeld/Voß Stalking als Straftatbestand – zu unbestimmt und überflüssig? SchlHA 2005 326.
Änderung. Durch Art. 1 Nr. 10 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz – ORRG) vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2280) wurde Absatz 1 Satz 2 mit Wirkung zum 1.10.2009 eingefügt. Durch Art. 3 Nr. 5 des Gesetzes zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten vom 30.7.2009 (BGBl. I S. 2437) fand der neue § 89a StGB mit Wirkung zum 4.8.2009 Aufnahme in den Katalog der Anlasstaten nach Absatz 1 Nummer 2.
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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme
Nachtr. § 112a StPO
Übersicht Rn. 1. Bedeutung a) Taten außerhalb des Anlassverfahrens . b) § 89a StGB als Katalogtat . . . . . . . 2. Einzelfragen zum Haftgrund a) Deeskalationshaft . . . . . . . . . . .
Rn. b) Entwicklung der Rechtsprechung aa) Anlasstaten . . . . . . . . . bb) Gefahr der Wiederholung . . cc) Verhältnismäßigkeit . . . . .
1 4
. . . .
. . . .
. . . .
8 9 11 15
7
1. Bedeutung a) Taten außerhalb des Anlassverfahrens. Hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der 1 wiederholten Tatbegehung (§ 112a Abs. 1 Nr. 2) war die Auslegung der Norm durch die Rechtsprechung uneinheitlich, soweit es um die Frage ging, ob auch Taten außerhalb des aktuellen Anlassverfahrens berücksichtigt werden dürfen. Überwiegend wurde schon unter der Geltung der alten Fassung angenommen, dass bei der Prüfung des Merkmals der wiederholten Tatbegehung auch Taten aus anderen Verfahren, in denen der Beschuldigte wegen einer Anlasstat entweder unter dringendem Tatverdacht steht oder bereits rechtskräftig verurteilt worden ist, Berücksichtigung finden dürfen.1 Demgegenüber haben weite Teile des Schrifttums und teilweise auch die Rechtsprechung die Ansicht vertreten, einer solchen Auslegung stünden der Gesetzeswortlaut sowie die Gesetzessystematik und gesetzgeberische Motive entgegen. Deshalb müssten Taten, deren wiederholter Begehung der Beschuldigte dringend verdächtig sei, zum einen Gegenstand desselben Ermittlungsverfahrens sein. Zum anderen hätten rechtskräftig abgeurteilte Anlasstaten außer Betracht zu bleiben, weil der Beschuldigte insoweit der Tat nicht mehr (nur) „dringend verdächtig“, sondern ihrer schuldig sei.2 Das OLG Frankfurt hatte sich als maßgeblicher Vertreter der zuletzt genannten 2 Ansicht u.a. ausdrücklich darauf gestützt, dass es der Gesetzgeber bei verschiedenen Änderungen des § 112a, die in den Jahren 1997 bis 2007 vorgenommen worden sind, in Kenntnis dieser kontroversen Auslegung bei dem ursprünglichem Wortlaut des § 112a Abs. 1 Nr. 2 belassen habe. Mit der nunmehr vorgenommenen Ergänzung der Vorschrift dürfte der Gesetzgeber (auch) auf diese Argumentation reagiert haben. Die Begründung zur Einfügung des Satzes 2 durch das 2. ORRG hebt hervor, dass durch eine klarstellende Ergänzung des Gesetzeswortlauts einer Einengung des Anwendungsbereichs des § 112a Abs. 1 Nr. 2 entgegen gewirkt werden solle, um Ergebnisse zu vermeiden, die „vor allem unter den Gesichtspunkten der Prävention und des Opferschutzes bedenklich“ erschienen.3 Ein derartiges Ergebnis läge nach der Gesetzesbegründung etwa dann vor, wenn gegen einen – unter Umständen bereits mehrfach – einschlägig vorbestraften Beschuldigten kein Haftbefehl wegen Wiederholungsgefahr erlassen werden könne, obwohl dies aus Gründen des durch die Norm bezweckten Schutzes der Allgemeinheit vor weiteren erheblichen Straftaten des Beschuldigten geboten sei. Eine solche Einengung des Anwendungsbereichs habe der Gesetzgeber weder bei der Schaffung der Norm noch bei späteren Änderungen beabsichtigt.4 Schon der bisherige Wortlaut der Vorschrift er1
2
Vgl. die Nachweise bei LR/Hilger § 112a, 30 Fn. 48 und 49 im HW; zuletzt etwa KG StV 2009 83: Frühere Taten eines Heranwachsenden, durch die ein „verfestigtes kriminelles Handlungsmuster“ ersichtlich wird. So insbes. das OLG Frankfurt in std. Rspr., StV 1984 159; StRR 2008 395 und – noch-
3 4
mals ausführlich – StV 2008 364 mit krit. Anm. Laue, jurisPR-StrafR 16/2008; weit. Nachweise zum Schrifttum im HW § 112a, 30 zu Fn. 50. BTDrucks. 16 12098, S. 19. Vgl. zu Einzelheiten BTDrucks. 16 12098, S. 19.
Detlef Lind
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§ 112a StPO Nachtr.
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fasse sowohl bereits erfolgte Verurteilungen als auch Anlasstaten, die Gegenstand anderer laufender Ermittlungsverfahren sind oder waren. Die gleichwohl bestehende Uneinheitlichkeit bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs lasse es im Interesse einer vollständigen Umsetzung des mit der Norm verfolgten Zwecks geboten erscheinen, durch den an § 112a Abs. 1 angefügten Satz 2 eine entsprechende Klarstellung vorzunehmen. Aus der Begründung5 ergibt sich weiterhin, dass nach dem Willen des Gesetzgebers 3 ein Verfahren nicht nur durch Urteil, sondern auch durch Einstellung rechtskräftig abgeschlossen worden sein kann. Der Gesetzgeber hat an Einstellungen nach § 154 gedacht, wobei sich allerdings die Frage nach der praktischen Bedeutung stellt; denn es erscheint fraglich, ob eine Tat, die das Gewicht des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 erreicht, im Sinne des § 154 Abs. 1 Nr. 1 neben anderen „nicht beträchtlich ins Gewicht“ fallen wird. Die Verfahrensbeendigung durch Einstellung soll auch für andere Fälle der Einstellung gelten, wie etwa nach § 205.6 Selbstverständlich muss in jedem Fall festgestellt werden, dass in dem eingestellten Verfahren die Voraussetzung des dringenden Verdachts einer (hinreichend gewichtigen) Anlasstat erfüllt ist bzw. gegeben war.
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b) § 89a StGB als Katalogtat. Die Aufnahme des § 89a StGB in den Katalog des Satzes 1 Nummer 2 beruht auf der gesetzgeberischen Vorstellung, dass es sich bei den Straftaten, deren Vorbereitung durch diesen neuen Tatbestand unter Strafe gestellt wird, ausnahmslos um solche handele, die mit schwersten Folgen für die Opfer verbunden seien, weshalb es zum Schutz der Allgemeinheit vor solchen Taten möglich sein müsse, gegen wiederholt oder fortgesetzt vorbereitend tätig werdende Beschuldigte einen Haftbefehl wegen Wiederholungsgefahr zu erlassen. Die Anordnung der Untersuchungshaft könne auf Grund des ideologisch gesteuerten und gefährdenden Verhaltens der Beschuldigten erforderlich sein, auch wenn keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Flucht- oder Verdunkelungsgefahr vorlägen.7 Mit § 89a StGB hat erstmals eine gegen die Gefährdung des demokratischen Rechts5 staats gerichtete Vorschrift Eingang in den Straftatenkatalog der Nummer 2 gefunden, durch die zudem (teilweise weit) im Vorfeld einer konkreten strafrechtlichen Betätigung liegende Verhaltensweisen unter Strafe gestellt sind. Ob das Delikt zu den Taten zu zählen ist, bei denen nach kriminalistischer Erfahrung mit Wiederholung zu rechnen ist, erscheint offen. Die praktische Bedeutung dieses Straftatbestands, gegen den in beträchtlichem Maße Kritik geäußert wird,8 ist ohnedies noch nicht zu beurteilen; sein Anwendungsbereich bedarf der Ausgestaltung durch die Rechtsprechung. Bisher veröffentlichte Entscheidungen lassen annehmen, dass die Norm eher restriktiv ausgelegt wird.9 Nach überwiegender Ansicht handelt es sich um ein abstraktes Gefährdungsdelikt.10 Hier gilt mit Blick auf die Beurteilung des Haftgrundes nach § 112a in besonderer 6 Weise die von Hilger getroffene Feststellung,11 dass die praktische Beurteilung der Frage, 5 6
BTDrucks. aaO. AnwK-UHaft/König 6; KMR/Wankel 6. Soweit Schlothauer/Weider Rn. 654 ausführen, eingestellte Strafverfahren könnten die Wiederholungsgefahr nicht begründen, trägt die hierzu zitierte Entscheidung OLG Dresden StV 2006 534 diesen Rechtsgrundsatz nicht; das OLG hatte sich vielmehr mit dem (dort ersichtlich fehlenden) Gewicht der Straftat beschäftigt, die einem gemäß § 153a eingestellten Verfahren zugrunde lag.
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BTDrucks. 16 12428, S. 20. Vgl. statt vieler nur Fischer § 89a, 7 ff.; NKStGB/Paeffgen § 89a, 1 ff.; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben § 89a, 1, jeweils m.w.N. BGHSt 54 264 = NJW 2010 2448; KG StraFo 2012 68 = StV 2012 345; OLG Karlsruhe StV 2012 348, 350. NK-StGB/Paeffgen § 89a, 7 m.w.N. LR/Hilger § 112a, 33 im HW.
Detlef Lind
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Nachtr. § 112a StPO
wann eine Anlasstat nach ihrem Erscheinungsbild im konkreten Fall die Rechtsordnung „schwerwiegend“ beeinträchtigt, erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Denn Art und Ausmaß eines angerichteten Schadens fallen als objektivierbare, auch nach der Rechtsprechung des BVerfG12 u.a. maßgebliche Kriterien aus. Es verbleibt als Merkmal der Unrechtsgehalt der Tat im Übrigen, wobei nach der Vorstellung des Gesetzgebers nicht das Maß des Unrechts der Vorbereitung entscheidend sein soll, sondern es vielmehr auf die in Aussicht genommene Tat gegen das Leben oder die Freiheit von Menschen ankommen soll. Da diese aber zur Beeinträchtigung oder Verletzung der in § 89a StGB genannten Schutzgüter geeignet sein muss, wäre die weithin geforderte Beeinträchtigung des Rechtsfriedens oder des Gefühls der Rechtssicherheit in der Bevölkerung13 per se zu bejahen und liefe bei diesem Verständnis das begrenzende Merkmal der „schwerwiegenden“ Beeinträchtigung der Rechtsordnung leer. Auch ließe sich kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der nach dem Wortlaut maßgeblichen (Vorbereitungs-)Tat und der Haft mehr erkennen. Es sind deshalb Zweifel angebracht, ob die Rechtsprechung bei Beachtung der Wortlautgrenze der dargestellten gesetzgeberischen Intention zur Geltung verhelfen kann. 2. Einzelfragen zum Haftgrund a) Die sog. Deeskalationshaft in Fällen beharrlicher Nachstellung nach § 238 Abs. 2 7 und 3 StGB gehört seit der zum 31.3.2007 wirksam gewordenen Ergänzung des Katalogs der Anlasstaten nach § 112a Abs. 1 Nr. 1, die gegen ursprüngliche verfassungsrechtliche Bedenken der Bundesregierung auf Initiative des Bundesrates erfolgte, zum strafprozessualen Instrumentarium.14 Schon früh ist kritisiert worden, dass der mit der Haft beabsichtigte Schutz für das Opfer einer erfolgsqualifizierten Nachstellung zu spät komme und sich das Instrument auch deshalb als praktisch wenig wirksam erweisen könnte.15 Über eine nennenswerte praktische Bedeutung der Ausweitung des Katalogs, die vereinzelt durchaus erwartet oder wenigstens optimistischer betrachtet wurde,16 ist nichts bekannt.17 Von Ausnahmen abgesehen18 war die Vorschrift bislang nicht Gegenstand der veröffentlichten Rechtsprechung. Ob dies darin begründet ist, dass sich die Praxis der Ansicht angeschlossen hat, in verfassungskonformer Auslegung komme bei diesen, als Vergehen ausgestalteten Delikten – ebenso wie bei § 112a Abs. 1 Nr. 2 – die Sicherungshaft nur dann in Betracht, wenn der Beschuldigte dringend verdächtig ist, die Tat wiederholt oder fortgesetzt begangen zu haben,19 kann noch nicht beurteilt werden. Gegen eine solche einengende Auslegung ließe sich allerdings der Wortlaut der Nummer 1 („eine Straftat“) sowie der Umstand anführen, dass lediglich in Nummer 2 „wiederholt oder fortgesetzt“ begangene Taten vorausgesetzt sind.20 12 13 14 15
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BVerfGE 35 185, 191 f. LR/Hilger § 112a, 33 im HW. Vgl. näher zur Entstehungsgeschichte Krüger NJ 2008 150 f. m.w.N. Krüger NJ 2008 151, 153; Kinzig/Zander JA 2007 486; skeptisch auch Knauer/Reinbauer StV 2008 378: „Symbolische Gesetzgebung“, zugleich mit beachtlicher Kritik zur Einstellung in den Katalog der Nr. 1 aus Gründen der Gesetzessystematik. Mitsch NJW 2007 1242; Jura 2007 406; HK/Posthoff 6. Vgl. Peters NStZ 2009 243.
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Vgl. OLG Karlsruhe StRR 2008 243 mit recht knapper Prüfung der Voraussetzungen des § 112a (Fall des Widerrufs einer Haftverschonung wegen eines Auflagenverstoßes durch erneute Kontaktaufnahme mit dem Tatopfer bei schon rechtskräftigem Schuldspruch nach § 238 Abs. 2 StGB). So AnwK-UHaft/König 5; Knauer/Reinbauer StV 2008 381; diese Ansicht nur referierend KMR/Wankel 4. Wenngleich nicht zu verkennen ist, dass auch das BVerfG bei der verfassungskonformen Auslegung den klaren Wortlaut einer Norm
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b) Entwicklung der Rechtsprechung. Im Übrigen hat die Rechtsprechung in jüngster Zeit das Erfordernis, dass an die Haft nach § 112a besonders strenge Anforderungen zu stellen sind, durch eine weitere Präzisierung und Eingrenzung des Anwendungsbereiches bestätigt.
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aa) Anlasstaten im Sinne des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 müssen nach der konkreten Ausgestaltung des Einzelfalles die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigen.21 Dies setzt Anlasstaten mit überdurchschnittlichem Schweregrad und Unrechtsgehalt, also solche voraus, die mindestens in der oberen Hälfte der mittelschweren Straftaten liegen. Die Tatschwere darf bei einer Mehrzahl von Taten nicht nach dem Gesamtschaden beurteilt werden, sondern Art und Ausmaß des Schadens müssen grundsätzlich bei jeder Tat erheblich sein.22 Beim Vorwurf eines gewerbsmäßig begangenen Betruges reichen dafür Schadenshöhen von 100 bis zu 330 Euro nicht aus.23 Eine Straftat nach § 243 StGB darf nur dann als Anlasstat eingestuft werden, wenn sie hinsichtlich des Beutewerts einen überdurchschnittlichen Schweregrad aufweist.24 Bei Taten der gefährlichen Körperverletzung ist die Opferperspektive zu berücksichtigen, weshalb es auch darauf ankommt, aus welchem Grund es zu dem Übergriff gekommen ist und welche Folgen dieser für das Opfer hatte.25 Die strengen Prüfungsmaßstäbe gelten (selbstverständlich) in gleicher Weise für die nach Absatz 1 Satz 2 einzubeziehenden Taten.26 Teilweise wird vertreten, die Haft könne nicht auf frühere Straftaten des Beschuldig10 ten gestützt werden, die nur mit jugendgerichtlichen Zuchtmitteln geahndet wurden, weil diese Sanktion zeige, dass kein überdurchschnittlicher Schweregrad vorgelegen habe. Da in einem solchen Fall auch keine schädlichen Neigungen festgestellt worden seien, könne wegen solcher früherer Taten zudem keine Neigung des Beschuldigten zur Begehung erheblicher Straftaten angenommen werden, die eine Wiederholungsgefahr begründen könnte.27 Diese Auffassung beachtet die Voraussetzungen für die Verhängung von
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als Auslegungsgrenze nicht stets konsequent respektiert, vgl. dazu Sachs JuS 2011 476 m.w.N. LR/Hilger § 112a, 31 ff. im HW. LR/Hilger § 112a, 32 im HW; OLG Braunschweig StV 2012 352; OLG Hamm StV 2011 291 = NStZ-RR 2011 124 (Ls.); OLG Jena NStZ-RR 2009 143 = StV 2009 251 = OLGSt StPO § 112a Nr. 3; OLG Frankfurt StV 2010 31 und Beschluss vom 24.11.2009 – 1 Ws 126/09 = StV 2010 141 (Ls.); MeyerGoßner/Schmitt § 112a, 9; a.A. (ohne Begründung) KMR/Wankel 7. OLG Frankfurt StV 2010 141 (Ls.); vgl. auch OLG Hamm StV 2011 292 unter Bezugnahme auf den Vermögensverlust großen Ausmaßes im Sinne des § 263 Abs. 3 Satz 2 StGB: Schadenshöhen zwischen 1000 und 1905 Euro genügen nicht. Ebenso OLG Naumburg StraFo 2011 393 = NStZ-RR 2013 49 bei Schadenshöhen zwischen 500 und 2.000 Euro. Recht konkrete Eingrenzung auch bei OLG Jena, Beschluss vom 23.1.2008 – 1 Ws 29/08 – [juris]: Schadenshöhen von über 1.000 Euro erforderlich.
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Keine Erheblichkeit auch beim Diebstahl älterer Pkw im Wert von jeweils allenfalls 1.000 Euro, mit denen ein heranwachsender Beschuldigter herumfährt und die er anschließend abstellt: OLG Jena NStZ-RR 2009 143. Vgl. ferner LG Berlin StV 2009 652; LG Bremen StV 2010 141. Siehe aber auch die Bejahung der Haftvoraussetzungen gegen einen Jugendlichen bei Trickdiebstählen mit (teilweise deutlich) geringeren Schäden bei OLG Köln StRR 2008 35 mit Anm. Mertens. OLG Braunschweig StV 2012 352: Keine schwerwiegende Beinträchtigung der Rechtsordnung bei Fahrraddiebstählen mit einem Beutewert von 700 bzw. 1.300 Euro, zumal die Geschädigten die Fahrräder jeweils noch am selben Tag zurück erhielten. OLG Frankfurt StV 2008 364 = StraFo 2008 240. KG NStZ-RR 2010 291 = StV 2010 585. OLG Oldenburg NStZ-RR 2010 159 = StV 2010 139 = StRR 2010 196; StV 2012 352 = StraFo 2012 186; ebenso HK/Posthoff 13.
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Jugendstrafe nicht hinreichend. Bei der Frage, ob Jugendstrafe auszusprechen ist, kommt zum einen dem äußeren Unrechtsgehalt der Tat keine selbstständige Bedeutung zu,28 und zum anderen ist stets sorgfältig zu prüfen, ob die Sanktionierung mit einer Jugendstrafe als „ultima ratio“ auch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch erforderlich ist, insbesondere auch, ob etwaige schädliche Neigungen auch zu diesem Zeitpunkt noch gegeben sind.29 Deshalb können aus der Tatsache allein, dass in einem vorangegangenen Verfahren keine Jugendstrafe verhängt worden ist, keine tragfähigen Schlüsse auf den (vermeintlich fehlenden) Schweregrad der zugrunde liegenden Tat gezogen werden, sondern die Tat ist vielmehr nach den allgemeinen Maßstäben darauf zu überprüfen, ob sie nach ihrer konkreten Ausgestaltung die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigt hat.30 Hinsichtlich der Straferwartung von mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe, der nach h.M. die Jugendstrafe gleichsteht,31 ist überwiegend anerkannt, dass bei der Bildung einer Einheitsjugendstrafe nach § 31 Abs. 2 JGG die Straferwartung auch ohne die Einbeziehung eines Vorerkenntnisses mehr als ein Jahr betragen muss.32 Dies gilt in gleicher Weise für den Fall, dass aus einer Katalogtat und Nichtkatalogtaten eine einheitliche Jugendstrafe zu bilden ist; auch hier muss also die Straferwartung schon für die Katalogtat bei mindestens einem Jahr liegen, weil andernfalls die gesetzgeberische Wertung betreffend das Gewicht der Katalogtat (Anlasstat) nicht beachtet würde.33 Daneben ist zu betonen, dass im Jugendstrafverfahren grundsätzlich nur mit Zurückhaltung von dem Haftgrund Gebrauch zu machen ist.34 bb) Gefahr der Wiederholung. Für die Katalogtaten der Nummer 1 ist das Erforder- 11 nis bekräftig worden, dass die Gefahr der Begehung weiterer erheblicher Straftaten gleicher Art auf die Feststellung bestimmter Tatsachen gegründet werden muss.35 Entgegen einer mitunter vertretenen Ansicht36 indiziert also der dringende Verdacht der Begehung einer Katalogtat nach Nummer 1 den Haftgrund nicht, sondern es bedarf zusätzlich37 der Feststellung von Tatsachen, die die erforderliche starke innere Neigung (oder wenigstens Bereitschaft)38 des Beschuldigten zu einschlägigen Taten erkennen lassen, welche die Besorgnis begründet, er werde ohne seine Inhaftierung die Serie gleichartiger Taten noch vor einer Verurteilung wegen der Anlasstat fortsetzen.39
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BGH NStZ 2012 164 m.w.N. BGH NStZ-RR 2010 387, 388 m.w.N. Zutreffend deshalb etwa KG StV 2009 83; OLG Bremen, Beschluss vom 1.3.2013 – Ws 5/13 – [juris]. LR/Hilger § 112a, 46 im HW; KMR/Wankel 14; Meyer-Goßner/Schmitt § 112a, 10; a.A. (ohne Begründung) OLG Karlsruhe StraFo 2010 206 = StRR 2010 235; Eisenberg § 72, 7–7a JGG. LR/Hilger § 112a, 46 zu Fn. 91 im HW; KMR/Wankel 14; HK/Lemke 10; LG Itzehoe StV 2007 587. OLG Braunschweig StraFo 2008 330 = StV 2009 84. KMR/Wankel 14; Radtke/Hohmann/ Tsambikakis 21.
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OLG Bremen StraFo 2008 72 mit Anm. Behm; zustimmend Radtke/Hohmann/ Tsambikakis 9. Pfeiffer 2. HK4/Lemke 11. OLG Dresden StV 2006 534; Radtke/Hohmann/Tsambikakis 16. Einschränkend KMR/Wankel 11: Anders bei Serientaten. Vgl. hierzu auch OLG Hamm NStZ-RR 2010 292 zum Fall einer serienmäßigen Begehung von Betäubungsmitteltaten ungeachtet zwischenzeitlicher polizeilicher Festnahmen und OLG Stuttgart NStZ-RR 2012 62 = StV 2011 749 zur serienmäßigen Begehung von Diebestaten, die trotz Beschlagnahmen und vorläufiger Festnahme unvermindert fortgesetzt wurden.
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Eine einschlägige Vorstrafe ist für die Gefahrenprognose nicht mehr erforderlich, allerdings haben Vorstrafen für die Prognose nach wie vor eine erhebliche Bedeutung.40 Deshalb ist bei dem Fehlen einer Verurteilung wegen eines gleichgelagerten schwerwiegenden Delikts eine besonders sorgfältige Prüfung erforderlich, ob bestimmte Tatsachen die hohe Wahrscheinlichkeit erneuter erheblicher Taten im Sinne der Norm begründen.41 Die Annahme der Gefahr kann regelmäßig nicht auf den dringenden Verdacht ge13 stützt werden, der Beschuldigte habe in Kenntnis der Anklagevorwürfe eine weitere einschlägige Tat begangen, wenn seit der letzten der angeklagten Taten mehrere Jahre verstrichen sind; denn dann stellt sich die neue Tat nicht als Fortsetzung der alten Taten dar.42 Auch sonst steht ein erheblicher Zeitlablauf seit der Begehung vorangegangener Taten regelmäßig der Annahme des Haftgrundes entgegen.43 Andererseits soll auch eine lange Zeit der Haftverschonung ohne erneute Straftaten die Anordnung der Haft nicht hindern, wenn weitere Sexualstraftaten gegenüber Kindern im Raum stehen.44 Die Wiederholungsgefahr kann bei bandenmäßiger Begehungsweise ausscheiden, wenn 14 infolge der Inhaftierung der weiteren Bandenmitglieder keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass der Beschuldigte sein strafbares Verhalten fortsetzen werde.45
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cc) Verhältnismäßigkeit. Ob bei signifikant erhöhter Gefahr der wiederholten Begehung erheblicher Sexualdelikte an die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft im Vergleich zu anderen Haftgründen geringere Anforderungen zu stellen sind, soweit es um die Beurteilung vermeidbarer Verfahrensverzögerungen geht,46 ist fraglich.47
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Beschuldigten ist bei der Verhaftung eine Abschrift des Haftbefehls auszuhändigen; beherrscht er die deutsche Sprache nicht hinreichend, erhält er zudem eine Übersetzung in einer für ihn verständlichen Sprache. 2Ist die Aushändigung einer Abschrift und einer etwaigen Übersetzung nicht möglich, ist ihm unverzüglich in einer für ihn verständlichen Sprache mitzuteilen, welches die Gründe für die Verhaftung sind und welche Beschuldigungen gegen ihn erhoben werden. 3In diesem Fall ist die Aushändigung der Abschrift des Haftbefehls sowie einer etwaigen Übersetzung unverzüglich nachzuholen.
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LR/Hilger § 112a, 37 im HW. OLG Dresden StV 2006 534; Meyer-Goßner/ Schmitt 15; OLG Frankfurt StV 2010 583, 585: In einem solchen Fall lasse sich die geforderte hohe Wahrscheinlichkeit „schwer begründen“. OLG Oldenburg StV 2010 140, 141. OLG Jena StraFo 2009 21 (mehr als acht Jahre); OLG Karlsruhe StraFo 2010 198 = Justiz 2011 73 = StRR 2010 163 (mehr als zwei Jahre nach Haftentlassung); vgl. aber auch OLG Hamm, Beschluss vom 20.11. 2012 – 1 Ws 604/12 – [juris] = NStZ-RR 2013 86 (Ls.): keine feste zeitliche Grenze,
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die den Haftgrund zwingend entfallen ließe; siehe auch LG Koblenz BeckRS 2011 05937. OLG Köln OLGSt StPO § 112a Nr. 2; m.E. zweifelhaft. Bedenklich ist diese Entscheidung auch, weil sie die Subsidiarität der Haft nach § 112a nicht hinreichend beachtet; ebenso derselbe Strafsenat des OLG Köln in OLGSt StPO § 121 Nr. 35 = StRR 2009 363 (Ls.) sowie in StV 2010 29. OLG Düsseldorf StV 2010 585. In diesem Sinne OLG Jena StV 2011 735, 737 mit abl. Anm. Tsambikakis. Tsambikakis StV 2011 738 ff.
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Schrifttum Bittmann Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts, NStZ 2010 13; ders. Änderungen im Untersuchungshaftrecht, JuS 2010 510; Brand Dolmetschrechte für Beschuldigte: Magerer zweiter Versuch, DRiZ 2010 94; Brocke/Heller Das neue Untersuchungshaftrecht aus der Sicht der Praxis – Zwischenbilanz nach einem Jahr, StraFo 2011 1; Brodowski Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick, ZIS 2010 376, 749; 2011 940; Buckow Das Untersuchungshaftreformgesetz – Was hat es verändert? Kriminalist 2011 19; Burhoff Neuregelungen in der StPO durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts, ZAP 2010 F. 22, 489; Deckers Einige Bemerkungen zum Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7. 2009, das am 1.1.2010 in Kraft tritt, StraFo 2009 441; Dettmers/Dimter Aktuelle Justizvorhaben in Europa, SchlHA 2011 349; C. Gatzweiler Die neuen EU-Richtlinien zur Stärkung der Verfahrensrechte (Mindestmaß) des Beschuldigten oder Angeklagten in Strafsachen, StraFo 2011 293; Harms Der Entwurf für ein Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts, FS 2009 13; Herrmann Zur Reform des Rechts der Untersuchungshaft, StRR 2010 4; Kazele Änderungen im Recht der Untersuchungshaft, NJ 2010 1; König Untersuchungsgefangene bekommen mehr Rechte, AnwBl. 2010 50; Michalke Reform der Untersuchungshaft – Chance vertan? NJW 2010 17; Paeffgen § 119 StPO soll reformiert werden!? Anmerkungen zum U-HaftRÄG-Entwurf BT-Drs. 16/11644 vom 21.1.2009, GA 2009 450; Staudinger Dolmetscherzuziehung und/oder Verteidigerbeiordnung bei ausländischen Beschuldigten, StV 2002 327; Tsambikakis Moderne Einwirkungen auf die Strafprozessordnung – Beispiel: Untersuchungshaft, ZIS 2009 503; Weider Das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts, StV 2010 102.
Änderung. Durch Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274) ist die Vorschrift mit Wirkung zum 1.1.2010 neu gefasst worden.
Übersicht Rn. 1. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . 3. Einzelfragen a) Aushändigung einer Haftbefehlsabschrift bei Verhaftung . . . . . . . . b) Bekanntgabe in einer dem Beschuldigten verständlichen Sprache
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Rn. aa) Grundsatz: Schriftliche Übersetzung . . . . . . . . . . . bb) Ersatzweise mündliche Information . . . . . . . . . . . c) Sonstiges . . . . . . . . . . . . 4. Europarechtliche Entwicklungen und Reformvorhaben . . . . . . . . . .
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1. Bedeutung. Mit dem neugefassten § 114a hat der Gesetzgeber das Ziel verfolgt, 1 die Informationspflichten gegenüber Personen, die aufgrund eines bestehenden Haftbefehls festgenommen werden, in ausdrücklicher Anlehnung an Art. 5 Abs. 2 EMRK umfassender als bisher gesetzlich zu normieren1 und die Vorschrift für den Rechtsanwender verständlicher sowie übersichtlicher zu gestalten.2 Darüber hinaus hat er mit der Neufassung der §§ 114a bis 114c sowie insbesondere den Verweisungen in den §§ 127 Abs. 4 und 127b Abs. 1 Satz 2 auf einen Bericht des Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT3) an die
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BTDrucks. 16 11644, S. 15. BTDrucks. 16 11644, S. 13. European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treat-
ment or Punishment; näher zu den Aufgaben und der Rechtsstellung des Ausschusses Tsambikakis ZIS 2009 506.
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deutsche Regierung vom 28.7.2006 reagiert, mit dem die Ergebnisse eines in der Zeit vom 20.11. bis zum 2.12.2005 durchgeführten Besuches in Deutschland dargelegt worden sind. In diesem Bericht4 war hervorgehoben worden, dass das Risiko der Einschüchterung und Misshandlung in dem Zeitraum unmittelbar nach der Freiheitsentziehung am größten sei, weshalb der Information und Belehrung des Beschuldigten sowie der Einräumung von Benachrichtigungsmöglichkeiten und des Zugangs zu einem Verteidiger schon zu Beginn der Freiheitsentziehung besondere Bedeutung zukomme. Die Vorschrift regelt die Art und Weise sowie den – von § 35 abweichenden – Zeitpunkt der Bekanntgabe des Haftbefehls. Die Bekanntgabe als solche ist entgegen der alten Fassung nicht mehr ausdrücklich erwähnt. Dies ist sachgerecht, weil die Bekanntgabepflicht bereits aus der allgemeinen Regelung in § 35 folgt.
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2. Geltungsbereich. Die in § 114a normierten weiteren Informationspflichten gelten aufgrund der Verweisungen in den §§ 127 Abs. 4, 127b Abs. 1 Satz 2, 163c Abs. 1 Satz 3, 453c Abs. 2 Satz 2 entsprechend für vorläufige Festnahmen durch Polizei oder Staatsanwaltschaft und das Festhalten zum Zweck der Identitätsfeststellung sowie den Sicherungshaftbefehl. Anwendbar ist die Vorschrift ferner auf sonstige Verhaftungen, nämlich solche aufgrund eines Unterbringungsbefehls (§ 126a Abs. 2 Satz 1)5 und aufgrund eines Haftbefehls in den Fällen der §§ 230 Abs. 2, 236, 329 Abs. 4, 412 Satz 1. Die Vorschrift gilt auch für Beschlüsse, die einen Haftbefehl ändern oder ergänzen,6 nicht hingegen für Ordnungshaft nach §§ 177, 178 GVG und für Beugehaft (z.B. nach § 70).7 3. Einzelfragen
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a) Aushändigung einer Haftbefehlsabschrift bei Verhaftung. Neu ist die ausdrückliche Anordnung, dass die staatlichen Behörden dem Beschuldigten schon bei der Verhaftung eine Abschrift des Haftbefehls auszuhändigen haben, während § 114a Abs. 2 a.F. insoweit keine Zeitangabe enthielt. Ist eine solche Aushändigung nicht möglich, ist dem Beschuldigten bei der Festnahme nicht mehr nur mitzuteilen, welcher Tat er verdächtig ist, sondern ihm sind zugleich die Gründe für die Verhaftung zu benennen; hierdurch erhält er eine konkrete Information über den Haftgrund, die ihm auch insoweit sogleich eine sachgerechte Verteidigung ermöglicht. Die Mitteilungen versetzen den Beschuldigten in die Lage, in der ihm gegebenen Zeit bis zur anstehenden Vernehmung eine Entscheidung darüber zu treffen, ob er aussagen oder schweigen soll, oder schon in der Vorführungsverhandlung nach den §§ 115, 115a, 128 gegen seine Inhaftierung konkrete Einwendungen vorzubringen.8 b) Bekanntgabe in einer dem Beschuldigten verständlichen Sprache
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aa) Grundsatz: Schriftliche Übersetzung. Eine substanzielle Änderung ist dahin erfolgt, dass die aus Art. 5 Abs. 2 EMRK folgende staatliche Pflicht, einen der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Festgenommenen alsbald („promptly“; „dans le plus court délai“) über Festnahmegrund und Beschuldigung in einer ihm verständlichen
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Abzurufen unter http://www.cpt.coe.int/ documents/deu/2007-18-inf-deu.pdf. Beachte § 126a Abs. 4, der die Bekanntgabe auch an gesetzliche Vertreter und Bevollmächtigte vorschreibt. LR/Hilger § 114a, 5 im HW; Graf/Krauß 3;
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Meyer-Goßner/Schmitt 4; SK/Paeffgen 5, 6; Radtke/Hohmann/Tsambikakis 7. Kritik wegen der unterlassenen Erstreckung auf Erzwingungs- und Ordnungshaft findet sich bei Michalke NJW 2010 19. Weider StV 2010 102.
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Sprache zu informieren, nunmehr in der StPO geregelt ist. Zuvor waren die zu beachtenden Anforderungen lediglich in Nr. 181 Abs. 2 RiStBV angesprochen. Diese Regelung durch eine bloße Verwaltungsvorschrift wurde dem Umstand, dass die national gewährleisteten Rechte den Maßstäben der EMRK in deren Interpretation durch die Rechtsprechung des EGMR genügen müssen und jene wegen der Pflicht zur konventionskonformen Auslegung der Gesetze9 faktischen Vorrang vor dem einfachen deutschem Recht genießen, schwerlich gerecht. Der neue § 114a Satz 1 geht über die Gewährleistungen der EMRK hinaus. Während nach der Rechtsprechung des EGMR eine schriftliche Begründung nicht erforderlich ist,10 sieht die Vorschrift vor, dass dem Beschuldigten im Falle seiner Verhaftung grundsätzlich eine Übersetzung des Haftbefehls in einer ihm verständlichen Sprache auszuhändigen ist. bb) Ersatzweise mündliche Information. Ist die Aushändigung einer schriftlichen 5 Übersetzung nicht möglich, so sind dem Beschuldigten die Haftgründe und die Beschuldigung unverzüglich in einer ihm verständlichen Sprache mündlich mitzuteilen. Der Gesetzgeber hat angenommen, dass dies die Ausnahme sein und eine schriftliche Übersetzung im Regelfall vorliegen wird.11 Die Beobachtung der Praxis wird erweisen, ob sich diese Erwartung erfüllt. Zweifel ergeben sich im Grundsätzlichen für die nicht ganz seltenen Fälle, in denen der Erlass und die Vollstreckung eines Haftbefehls unter Zeitdruck geschehen (müssen). Aber auch dann, wenn die Sprachkompetenz des Beschuldigten unklar oder nicht bekannt ist, in welcher Sprache er den Inhalt des Haftbefehls (vermutlich am besten) erfassen kann, erscheint die Versuchung für die Praxis – nicht nur für den „störrischsten Amtswalter“12 – groß, auf die Anfertigung zeitaufwendiger Übersetzungen vor der Einleitung der Vollstreckung zu verzichten. Man wird sich wohl darauf einstellen müssen, dass § 114a Satz 1 2. Halbsatz seltener als vom Gesetzgeber angenommen zur Anwendung kommen wird. Aber auch für die Fälle der in Satz 2 geregelten Informationsvariante erscheint ungewiss, ob es der Polizei stets möglich sein wird, bereits bei der Verhaftung einen geeigneten Dolmetscher bereit zu halten. Dies mag unproblematisch sein, wenn die Festnahme des Beschuldigten einem „gezielten Zugriff“13 entspringt, dessen Erfolgsaussichten vorhersehbar groß waren. Demgegenüber kommt es etwa im Massengeschäft einer Großstadt, in der zahlreiche Polizeieinheiten zu gleicher Zeit an verschiedenen Orten tätig sind, zu einer nicht geringen Zahl spontaner bzw. zufälliger Verhaftungen, bei denen schwerlich jeweils der passende Dolmetscher zur Verfügung stehen wird. Unter welchen Voraussetzungen im Sinne von Satz 2 eine Aushändigung nicht mög- 6 lich ist, wird unterschiedlich beurteilt. Unstreitig ist dies etwa bei Gegenwehr des Festzunehmenden, unübersichtlicher Festnahmesituation oder bedrohlicher Einwirkung Dritter auf die festnehmenden Beamten der Fall.14 Die Auffassung, dass das Fehlen einer Abschrift oder Übersetzung als „logistische Unzulänglichkeit“ die bloße Mitteilung der Gründe für die Verhaftung und der Beschuldigungen nicht rechtfertigen könne,15 ist nicht überzeugend begründet und geht unter Zugrundelegung des Schutzzwecks der Verfahrensvorschrift zu weit. Zwar trifft es zu, dass allein eine mündliche Unterrichtung es
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BVerfGE 111 307 ff. (Fall Görgülü). EGMR v. 10.4.2001, Nr. 26129/95 (Tanli/Türkei), Slg. 2001-III Rn. 166; KK/Schädler Art. 5, 20 EMRK. BTDrucks. 16 11644, S. 16: „Es kann allerdings vorkommen …“.
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Den SK/Paeffgen 1 im Blick hat. AnwK-StPO/Lammer 2; AnwK-UHaft/ König 3. Meyer-Goßner/Schmitt 5; Paeffgen GA 2009 451. Radtke/Hohmann/Tsambikakis 3.
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dem oftmals in einer psychischen Ausnahmesituation befindlichen Beschuldigten kaum ermöglichen wird, komplexe Sachverhalte und Entscheidungsgründe vollständig wahrzunehmen und angemessen zu verarbeiten. Deshalb besteht die unbedingte und unverzüglich zu erfüllende Nachholpflicht nach Satz 3. Soweit die abweichende Ansicht auf einen angenommenen Wertungswiderspruch zu § 114b gestützt wird, übersieht sie die gestaffelten Belehrungsformen des § 114b, insbesondere dessen Absatz 1 Satz 3. Bei der Auslegung der neuen Vorschrift ist der Sinn der Informations- und Belehrungspflichten im Blick zu behalten. Diese Pflichten sollen innerhalb möglichst kurzer Frist16 die Ungewissheit für den Beschuldigten beseitigen und die Möglichkeit zu einer effektiven Verteidigung gewährleisten,17 ihn insbesondere in die Lage setzen, den ihm möglichen Rechtsschutz durch eine richterliche Haftkontrolle zu erlangen.18 Dieser Zweck ist nicht gefährdet, wenn die Information nach § 114a Satz 3, wie zu verlangen ist,19 spätestens bei der Vorführung nach § 115 erfolgt.
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c) Sonstiges. Im Schrifttum mitunter erhobene weitergehende Forderungen, etwa nach Aushändigung von Übersetzungen der einschlägigen Vorschriften der StPO,20 haben kein Gehör gefunden. Der Haftrichter hat in der Vorführungsverhandlung nach § 115 zu prüfen, ob bei der Verhaftung den Anforderungen des § 114a Genüge getan wurde und ggf. das Nötige nachzuholen, wobei die entsprechenden Pflichten im Wesentlichen auch schon bisher galten (§ 115 Abs. 3). Nach dem Erlass eines Haftbefehls in einer Verhandlung gemäß § 128 richten sich die aus § 114a folgenden Pflichten unmittelbar an das Haftgericht. Ein Verstoß gegen die Pflichten des § 114a bleibt für den Bestand des Haftbefehls folgenlos.21 Für das Verfahren betreffend die Auslieferung an das Ausland findet sich in § 20 IRG eine unverändert gebliebene besondere Verfahrensvorschrift; dort bleibt es bei dem Rechtszustand, der durch die Rechtsprechung aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) in Verbindung mit der Gewährleistung des Art. 5 Abs. 2 EMRK entwickelt worden ist.22
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4. Europarechtliche Entwicklungen und Reformvorhaben. Auf europäischer Ebene hat die Umsetzung des vom Europäischen Rat beschlossenen Fahrplans zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten im Strafverfahren23 zu der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren vom 20.10.201024 geführt, die bis zum 27.10.2013 in nationales Recht umgesetzt werden muss. Die darin enthaltenen Standards gehen, soweit es die Festnahme aufgrund eines Haftbefehls betrifft, über die Gewährleistungen der EMRK und die gegenwärtige Rechtslage in Deutschland nicht
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So die Formulierung in Art. 5 Abs. 2 EMRK. Kazele NJ 2010 3 m.w.N. KK/Schädler Art. 5, 20 EMRK. SK/Paeffgen 4. Staudinger StV 2002 329 zu Fn. 30 m.w.N. AnwK-StPO/Lammer 2. Vgl. aber Schomburg/Lagodny/Gleß/ Hackner/Schomburg/Hackner § 20, 3 IRG, die aus Art. 5 Abs. 2 EMRK einen Anspruch auf Aushändigung einer schriftlichen Übersetzung ableiten wollen. Die Problematik hat
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keine große praktische Bedeutung, weil die Festnahme aufgrund eines schon bestehenden Auslieferungshaftbefehls die Ausnahme ist. Folgt dessen Erlass wie üblich der Festnahme (§ 19 IRG) und Anhörung des Verfolgten gemäß §§ 22, 28 IRG nach, so ist es überwiegend ständige Praxis, dem Verfolgten alsbald eine Übersetzung des Auslieferungshaftbefehls zu übersenden. ABlEU Nr. C 295 vom 4.12.2009. AblEU Nr. L 280 vom 26.10.2010.
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hinaus.25 Das zur Umsetzung der Richtlinie beschlossene Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren vom 2.7.2013 (BGBl. I S. 1938)26 hat demgemäß keine (weitere) Veränderung des § 114a erbracht, sondern insbesondere zu einer grundlegenden Umgestaltung des § 187 GVG geführt.27
§ 114b (1) 1Der verhaftete Beschuldigte ist unverzüglich und schriftlich in einer für ihn verständlichen Sprache über seine Rechte zu belehren. 2Ist eine schriftliche Belehrung erkennbar nicht ausreichend, hat zudem eine mündliche Belehrung zu erfolgen. 3Entsprechend ist zu verfahren, wenn eine schriftliche Belehrung nicht möglich ist; sie soll jedoch nachgeholt werden, sofern dies in zumutbarer Weise möglich ist. 4Der Beschuldigte soll schriftlich bestätigen, dass er belehrt wurde; falls er sich weigert, ist dies zu dokumentieren. (2) 1In der Belehrung nach Absatz 1 ist der Beschuldigte darauf hinzuweisen, dass er 1. unverzüglich, spätestens am Tag nach der Ergreifung, dem Gericht vorzuführen ist, das ihn zu vernehmen und über seine weitere Inhaftierung zu entscheiden hat, 2. das Recht hat, sich zur Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen, 3. zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen kann, 4. jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger befragen kann, 4a. in den Fällen des § 140 Abs. 1 und 2 die Bestellung eines Verteidigers nach Maßgabe des § 141 Absatz 1 und 3 beanspruchen kann, 5. das Recht hat, die Untersuchung durch einen Arzt oder eine Ärztin seiner Wahl zu verlangen, 6. einen Angehörigen oder eine Person seines Vertrauens benachrichtigen kann, soweit der Zweck der Untersuchung dadurch nicht gefährdet wird, 7. nach Maßgabe des § 147 Absatz 7 beantragen kann, Auskünfte und Abschriften aus den Akten zu erhalten, soweit er keinen Verteidiger hat, und 8. bei Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nach Vorführung vor den zuständigen Richter a) eine Beschwerde gegen den Haftbefehl einlegen oder eine Haftprüfung (§ 117 Absatz 1 und 2) und eine mündliche Verhandlung (§ 118 Absatz 1 und 2) beantragen kann, b) bei Unstatthaftigkeit der Beschwerde eine gerichtliche Entscheidung nach § 119 Absatz 5 beantragen kann und c) gegen behördliche Entscheidungen und Maßnahmen im Untersuchungshaftvollzug eine gerichtliche Entscheidung nach § 119a Absatz 1 beantragen kann. 2Der Beschuldigte ist auf das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers nach § 147 hinzuweisen. 3Ein Beschuldigter, der der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist oder
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Zu Einzelheiten vgl. Brand DRiZ 2010 94; Brodowski ZIS 2010 382, 754; Dettmers/ Dimter SchlHA 2011 349, 350; LR/Esser 563f., 869 ff. Art. 14 IPBPR, Art. 6 EMRK im HW. Vgl. hierzu den Gesetzentwurf der Bundes-
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regierung vom 28.2.2013, BTDrucks. 17 12578, sowie die Beschlussempfehlung und den Bericht des Rechtsausschusses vom 15.5.2013, BTDrucks. 17 13528. S. zu den Einzelheiten die Erl. zu § 187 GVG in diesem Nachtrag.
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der hör- oder sprachbehindert ist, ist in einer ihm verständlichen Sprache darauf hinzuweisen, dass er nach Maßgabe des § 187 Absatz 1 bis 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes für das gesamte Strafverfahren die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers beanspruchen kann. 4Ein ausländischer Staatsangehöriger ist darüber zu belehren, dass er die Unterrichtung der konsularischen Vertretung seines Heimatstaates verlangen und dieser Mitteilungen zukommen lassen kann.
Schrifttum Esser Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Belehrungspflicht aus Artikel 36 WÜK, JR 2008 271; Gless/Peters Verwertungsverbot bei Verletzung der Pflicht zur Belehrung nach Art. 36 WÜK? StV 2011 369; Jahn Untersuchungshaft und frühe Strafverteidigung im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, FS Rissing-van Saan (2011) 275; Kreß Die verfassungsrechtliche Pflicht der deutschen Strafverfolgungsbehörden zur Berücksichtigung des Wiener Konsularabkommens, GA 2007 296; ders. Das Wiener Konsularrechtsübereinkommen und das nationale Strafprozessrecht, GA 2004 691; Paulus/Müller Konsularische Information vor deutschen Gerichten – Never Ending Story oder Happy End? StV 2009 495; Schomburg/Schuster Unterlassene Informationen nach Artikel 36 WÜK – Anmerkungen zur aktuellen Rechtsprechung, NStZ 2008 593; Walter Der deutsche Strafprozess und das Völkerrecht, JR 2007 99; Walther Völkerrechtliche Nachbesserung der Strafprozessordnung – jetzt! HRRS 2004 126; Weigend Festgenommene Ausländer haben ein Recht auf Benachrichtigung ihres Konsulats … und die Verletzung dieses Rechts hat Konsequenzen, StV 2008 39; weiteres Schrifttum bei § 114a.
Änderungen. Die Vorschrift wurde zunächst durch Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274) mit Wirkung zum 1.1.2010 neu gefasst; den bisherigen Regelungsgehalt des § 114b a.F. enthielt dadurch in veränderter Fassung der neue § 114c. Durch Art. 2 Nr. 2 des am 6.7.2013 in Kraft getretenen Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren vom 2.7.2013 (BGBl. I S. 1938) wurden sodann in Absatz 2 die Belehrungsinhalte im Katalog des Satzes 1 erweitert sowie der Satz 2 durch die neuen Sätze 2 und 3 ersetzt. Übersicht Rn. I. Bedeutung 1. Änderungsgesetz vom 29.7.2009 . . . 2. Änderungsgesetz vom 2.7.2013 . . . .
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II. Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . .
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III. Einzelfragen 1. Belehrungspflicht (Abs. 1) a) Grundsatz: Unverzügliche schriftliche Belehrung (Satz 1) . . . . . . b) Ergänzende mündliche Belehrung (Satz 2) . . . . . . . . . . . . . . c) Ersetzende mündliche Belehrung (Satz 3) . . . . . . . . . . . . . . d) Dokumentation (Satz 4) . . . . . . 2. Belehrungsinhalte (Abs. 2) a) Für alle Beschuldigten geltende Belehrungen (Sätze 1 und 2) . . . . b) Belehrungen für einzelne Personengruppen (Sätze 3 und 4)
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Rn. aa) Unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers . . . . . bb) Unterrichtung der konsularischen Vertretung des Heimatstaates . . . . . . . . . . . . 3. Folgen unterbliebener Belehrung . . a) Absatz 2 Sätze 1 und 2 . . . . . b) Absatz 2 Satz 3 . . . . . . . . . c) Absatz 2 Satz 4 . . . . . . . . . aa) Rechtsprechung zu Art. 36 WÜK . . . . . . . . . . . . bb) Bedeutung für die aktuelle Rechtslage . . . . . . . . . 4. Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . 5. Europarechtliche Entwicklungen und Reformvorhaben . . . . . . . . . .
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I. Bedeutung 1. Änderungsgesetz vom 29.7.2009 Bislang waren Belehrungspflichten, die schon für den Zeitpunkt der Festnahme gel- 1 ten, nicht gesetzlich verankert. Der aufgrund des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts neu gefasste § 114b bezweckt eine entsprechende Vorverlagerung und auch die Klarstellung der Belehrungspflichten gegenüber verhafteten Personen. Die Vorschrift soll zudem sicherstellen, dass alle Verhafteten bundesweit einheitlich so früh wie möglich über die ihnen zustehenden Rechte belehrt werden.1 Die bereits bestehenden Belehrungspflichten bei Beginn einer Vernehmung (§§ 136 Abs. 1, 163a Abs. 4) bleiben unberührt. Ausweislich der Gesetzesbegründung2 enthält die umfangreiche neue Norm vom CPT geforderte Belehrungspflichten.3 Der CPT hatte bemängelt, dass die StPO in § 114b a.F. ein Recht auf Benachrichtigung von Angehörigen von einer erfolgten Festnahme formell nur für aufgrund eines Haftbefehls festgenommene Personen, nicht aber für vorläufig Festgenommene vorsah. Ferner war beanstandet worden, dass eine Belehrung von Beschuldigten über ihre Rechte bereits bei der Festnahme nicht gesetzlich vorgeschrieben sei, von der Polizei festgehaltene Personen in vielen Fällen über ihr Recht auf Zugang zu einem Arzt ihrer Wahl überhaupt nicht belehrt würden und weitere Informationen, etwa über das Recht auf Benachrichtigung naher Angehöriger oder Dritter sowie auf Konsultation eines Verteidigers, häufig nicht zu Beginn einer Freiheitsentziehung erfolgten. Die vorzunehmenden Belehrungen sollten gleich zu Beginn der Freiheitsentziehung mündlich durchgeführt und durch die Aushändigung eines die Rechte der festgenommenen Person „klar und deutlich“ aufführenden Schriftstücks ergänzt werden. Dieses Formblatt solle in „geeigneten“ Sprachen vorgehalten werden.4 Die entsprechenden Belehrungen, die in der Praxis schon in der Vergangenheit oft- 2 mals5 vorgenommen wurden, sind nunmehr ausdrücklich verpflichtend ausgestaltet. Die neue Bestimmung erfüllt damit auch grundsätzliche Anforderungen an ein faires Verfahren, die aus Art. 6 EMRK folgen.6 Es ist der Initiative des Rechtsausschusses7 zu danken, dass neben all’ den weiterhin 3 anzutreffenden (männlichen) Beschuldigten, Verteidigern, Dolmetschern, Staats- und sonstigen Angehörigen jetzt nicht nur ein geschlechtsneutrales8 Gericht amtiert, sondern der Beschuldigte auch eine Ärztin wählen darf.9 2. Änderungsgesetz vom 2.7.2013. Zur zweiten Stufe des Fahrplans des Rates zur 4 Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten im Strafverfahren10 gehört die Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.5.2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren.11 Das
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BTDrucks. 16 11644, S. 16. BTDrucks. 16 11644, S. 13. Vgl. zum CPT sowie dem zugrunde liegenden Bericht die Erl. zu § 114a, 1 in diesem Nachtrag. Vgl. BTDrucks. 16 11644, S. 13. Die Annahme der Gesetzesbegründung aaO, dies sei „in den meisten Fällen“ geschehen, erscheint recht optimistisch. Kazele NJ 2010 3. BTDrucks. 16 13097, S. 5.
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Ebenda S. 18. Zum Erklärungsversuch betreffend die Beibehaltung des Begriffes des (männlichen) Beschuldigten vgl. BTDrucks. 16 11644, S. 15 zu Ziffer VI. ABlEU Nr. C 295 vom 4.12.2009. AblEU Nr. L 142 vom 1.6.2012. Die Frist zur Umsetzung dieser Richtlinie in das nationale Recht endet erst am 2.6.2014; von einer hiernach möglichen breiteren Diskussion ist abgesehen worden.
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Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren vom 2.7.2013 (BeVReStG) hat die Umsetzung dieser Richtlinie durch inhaltliche Ergänzungen des mit Wirkung zum 1.1.2010 neu gefassten § 114b zum Ziel. Zum einen wurden durch Art. 2 Nr. 2 des BeVReStG die Belehrungsinhalte in Absatz 2 (durch Einfügung der Nrn. 4a, 7 und 8 in den Katalog des Satzes 1 sowie des neuen Satzes 2) erweitert, zum anderen wurde der bisherige Satz 2 des Absatzes 2 durch die neuen Sätze 2 und 3 ersetzt, wodurch der in der Fassung vom 1.1.2010 geltende Satz 3 nunmehr zu Satz 4 geworden ist. In der Fassung vom 1.1.2010 hatte Absatz 2 Satz 2 den folgenden Wortlaut: „Ein Beschuldigter, der der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist, ist darauf hinzuweisen, dass er im Verfahren die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers verlangen kann“.
II. Geltungsbereich 5
Die Belehrungspflichten gelten aufgrund der Verweisungen in den §§ 127 Abs. 4, 127b Abs. 1 Satz 2, 163c Abs. 1 Satz 3, 453c Abs. 2 Satz 2 entsprechend für vorläufige Festnahmen durch Polizei oder Staatsanwaltschaft und das Festhalten zum Zweck der Identitätsfeststellung12 sowie für den Sicherungshaftbefehl. Anwendbar ist § 114b auch auf sonstige Verhaftungen, nämlich solche aufgrund eines Unterbringungsbefehls (§ 126a Abs. 2 Satz 1) sowie aufgrund eines Haftbefehls in den Fällen der §§ 230 Abs. 2, 236, 329 Abs. 4, 412 Satz 1.
III. Einzelfragen 1. Belehrungspflicht (Absatz 1)
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a) Grundsatz: Unverzügliche schriftliche Belehrung (Satz 1). Mit der Festnahme aufgrund eines Haftbefehls ist der Beschuldigte „verhaftet“ im Sinne der Vorschrift. Er ist damit unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern, über seine in Absatz 2 aufgeführten Verfahrensrechte zu belehren. Das Merkmal der Unverzüglichkeit soll gewährleisten, dass die Polizei vor der Mitteilung noch unaufschiebbare Maßnahmen veranlassen darf13 und insbesondere auch einen Dolmetscher beiziehen kann, sofern dies für eine nötige mündliche Belehrung nach den Sätzen 2 oder 3 erforderlich ist.14 Ein nicht durch zwingende Gründe gerechtfertigtes Zuwarten mit der Belehrung, etwa bis zur Verbringung des Beschuldigten auf die Polizeidienststelle oder gar bis zu dessen Vernehmung unter Vornahme weiterer aufschiebbarer Maßnahmen, ist nicht zulässig.15 Kein Fall schuldhaften Zögerns wird demgegenüber anzunehmen sein bei Gegenwehr des Festzunehmenden, unübersichtlicher Festnahmesituation oder bedrohlicher Einwirkung Dritter auf die festnehmenden Beamten.16
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Zur Abgrenzung des belehrungspflichtigen „Festhaltens“ vom bloßen „Anhalten“ zwecks Befragung nach Namen und Anschrift sowie Einsicht in freiwillig ausgehändigte Ausweispapiere vgl. Meyer-Goßner/ Schmitt § 163b, 7. Ein Praxisbeispiel findet sich bei Brocke/Heller StraFo 2011 2. Fallbeispiel bei Brocke/Heller StraFo 2011 2:
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Sicherung einer noch zu durchsuchenden Wohnung, in der die Festnahme erfolgt ist. BTDrucks. 16 11644, S. 16. Weider StV 2010 102; Brocke/Heller StraFo 2011 2. Hier dürfte es entgegen SK/Paeffgen 4 nicht nur an der Möglichkeit einer schriftlichen Belehrung fehlen.
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Die Belehrung hat grundsätzlich schriftlich in einer dem Beschuldigten verständlichen 7 Sprache zu erfolgen, die nicht zwingend seine Muttersprache sein muss. Die Pflicht zu schriftlicher Belehrung wird der besonderen Lage des Verhafteten gerecht, der sich aufgrund der Festnahme in einer psychischen Ausnahmesituation befinden und deshalb in seiner Aufnahmefähigkeit eingeschränkt sein kann. Mit der Aushändigung eines schriftlichen Belehrungsbogens soll er in die Lage gesetzt werden, seine Rechte durch Nachlesen in einer Phase gewisser Beruhigung – und sei es auch nur während seines Transportes zur Polizeidienststelle oder in der Wartezeit bis zur Vernehmung – tatsächlich zur Kenntnis zu nehmen, inhaltlich zu erfassen, sie bei der Entscheidung über sein weiteres (Verteidigungs-)Verhalten zu berücksichtigen und von ihnen auch tatsächlich Gebrauch zu machen. Die Strafverfolgungsorgane nutzen in der Praxis inzwischen weitgehend17 entsprechende Belehrungsformblätter, deren Darstellungsweise zu Recht den juristischen Laienstatus der meisten Beschuldigten berücksichtigt. Von diesen insgesamt fünf Formblättern hält das Bundesministerium der Justiz auf seiner Internetseite Übersetzungen in zahlreiche Sprachen zum Herunterladen bereit.18 b) Ergänzende mündliche Belehrung (Satz 2). Wenn die schriftliche Belehrung „er- 8 kennbar nicht ausreicht“, besteht eine Pflicht zu einer ergänzenden mündlichen Belehrung. Wann eine solche Erkennbarkeit vorliegt, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Der Gesetzgeber hatte den Fall eines Analphabeten sowie den Fall vor Augen, dass ein Beschuldigter Nachfragen stellt.19 Vergleichbar wird es sein, wenn der Festgenommene zur Lektüre des Merkblattes ersichtlich nicht in der Lage ist20 oder sich beim Studium des Textes zwar unauffällig verhält und Verständnis signalisiert, aber Anzeichen für eine Dyslexie oder Intelligenzminderung erkennbar sind oder eine solche Beeinträchtigung dem Verhaftenden schon bekannt ist. In den Fällen des § 126a wird man der Aufnahmefähigkeit des Verhafteten grundsätzlich besondere Aufmerksamkeit widmen müssen. Im Übrigen trifft den Verhaftenden zwar eine Überprüfungspflicht dahin, ob der Fest- 9 genommene die schriftliche Belehrung ihrem wesentlichen Gehalt nach verstanden hat.21 Weder aus dem Wortlaut der Vorschrift noch aus den Materialien oder dem Zweck der Norm ist aber eine Pflicht des Amtsträgers abzuleiten, den Festgenommen stets – ggf. unter Heranziehung eines Dolmetschers, der dann bei jeder Festnahme eines der deutschen Sprache nicht Mächtigen mitwirken müsste, – zu fragen, ob er nähere Erläuterungen wünsche.22 Soweit mitunter eine Kategorie „allg. Unerfahrenheit in rechtlichen Fra-
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Brocke/Heller StraFo 2011 1. Mit Stand Juli 2013 lagen die Formblätter (die zu diesem Zeitpunkt lediglich die Belehrungen nach dem Rechtszustand des § 114b i.d.F. vom 1.1.2010 enthielten) in 47 Fremdsprachen vor (abrufbar auf der Homepage des BMJ unter der Rubrik Service/Studien, Statistiken, Fachinformationen/Belehrungsformulare). BTDrucks. 16 11644, S. 16; enger Joecks 2: wenn der Betreffende nicht lesen kann; weiter Schlothauer/Weider Rn. 140: fast immer (jedoch ohne eindeutige Begründung: „im Hinblick auf den Umfang des Belehrungstextes“). SK/Paeffgen 3 („vor lauter Aufregung“).
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Soweit Radtke/Hohmann/Tsambikakis 4 hinsichtlich des Prüfungsmaßstabes eine Differenzierung danach vornehmen wollen, ob der Festgenommene verteidigt ist oder nicht, werden die Fälle, in denen der Verteidiger dem Festgenommen bereits bei der Verhaftung zur Seite steht, selten sein. So aber Bittmann NStZ 2010 14; ihm folgend HK-GS/Laue 4. Bittmann aaO verwirft immerhin („Das ginge … zu weit.“) den fast schon grotesken Gedanken, der Verhaftende könnte gehalten sein, sich noch durch prüfungsartige Fragen darüber Gewissheit zu verschaffen, ob der Festgenommene „auch wirklich alles verstanden hat“.
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gen“ genannt wird, in der die Pflicht zu (wohl: ergänzender) mündlicher Belehrung bestehe,23 ist dies nicht begründet worden. Diese Auffassung kann auch im Ergebnis nicht überzeugen. Da der Befund rechtlicher Unerfahrenheit wohl auf den größten Teil der Rechtsunterworfenen zutrifft, hätte der Gesetzgeber, wäre er jenem Gedanken näher getreten, eine obligatorische mündliche Belehrung vorsehen können. Er wäre damit immerhin den Vorstellungen des CPT zum Verhältnis zwischen mündlicher Belehrung und (ergänzender) Aushändigung eines Schriftstückes näher gekommen. Dies hat er indessen nicht getan. Es fragt sich zudem, ob die Vorschrift hinreichend praktikabel bliebe, wäre der Amtsträger gehalten, sich über das Maß (straf-)rechtlicher Erfahrungen des Festzunehmenden Gedanken zu machen. Der vorliegenden gesetzgeberischen Entscheidung wird schließlich auch die Ansicht nicht gerecht, dass in der Regel zusätzlich mündlich belehrt werden sollte.24 Inhaltlich muss die mündliche Belehrung so beschaffen sein, dass sie den Beschuldig10 ten in die Lage setzt, seine Rechte verstehen und von ihnen Gebrauch machen zu können.25 Dass das Vorlesen oder die Wiedergabe des auswendig gelernten schriftlichen Textes dem nicht genüge,26 trifft für den Regelfall nicht zu. Denn auch im Fall der Lektüre nimmt der Betroffene nicht mehr zur Kenntnis; die Belehrung ist zudem nicht mit einer Beratung zu verwechseln. Gegen Unwilligkeit des Betroffenen muss der Festnehmende nicht ankämpfen: Er ist nicht verpflichtet, einen Beschuldigten, der sich der schriftlichen Belehrung widersetzt, indem er etwa das überreichte Formblatt bewusst vernichtet, gleichsam zwangsweise mündlich zu belehren und hierzu ggf. gar einen Dolmetscher heranzuziehen, der den Festgenommenen durch Ansprache (in einer vermutlich tauglichen Sprache) belehren soll. Hierfür spricht die gesetzgeberische Wertung, die der Regelung in Satz 4 zugrunde liegt (vgl. Rn. 12); auch bei einer Weigerung betreffend die Belehrung als solcher genügt es demgemäß, dass der Amtsträger einen Aktenvermerk über das Verhalten des Beschuldigten aufnimmt.
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c) Ersetzende mündliche Belehrung (Satz 3). Ist eine schriftliche Belehrung nicht möglich, etwa beim Fehlen der nötigen fremdsprachigen Texte im Falle einer vorläufigen Festnahme,27 ist zunächst mündlich zu belehren. In diesem Fall soll die schriftliche Belehrung nachgeholt werden, sofern dies in zumutbarer Weise möglich ist. Nicht verständlich ist, weshalb die Nachholung der schriftlichen Belehrung – anders als bei § 114a Satz 3 – nur fakultativ ausgestaltet und ohne zeitliche Eingrenzung geblieben ist; die Materialien schweigen hierzu. Angesichts der erkennbaren Zielsetzung des Gesetzes, die staatlichen Stellen zu beschleunigter Sachbehandlung anzuhalten,28 darf man das Fehlen der Anordnung einer obligatorischen Nachholung und des Merkmals der Unverzüglichkeit als gesetzgeberischen Fehlgriff ansehen. Diesen kann der Rechtsanwender allerdings nicht ohne weiteres durch Ignorieren des Gesetzestextes aus der Welt schaffen.29 Soweit die 23 24
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HK-GS/Laue 4. So aber SK/Paeffgen 3; Schlothauer/Weider Rn. 138 nehmen die Kommentierung Paeffgens zu Unrecht für ihre weitergehende Ansicht in Anspruch, dies müsse stets geschehen. Zur Belehrung nach § 136 Abs. 1 vgl. BGHR StPO § 136 Belehrung 17 = StRR 2010 342. Weider StV 2010 103; Schlothauer/Weider Rn. 138 („Herunterrattern“). Graf/Krauß 3; HK-GS/Laue 4.
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Bittmann NStZ 2010 17 spricht sogar von deutlich zutage tretendem Misstrauen gegenüber den Strafverfolgungsbehörden und dem Anschein, der Gesetzgeber wolle diesen „Beine machen“. Siehe aber Meyer-Goßner/Schmitt 1; Weider StV 2010 102; Radtke/Hohmann/Tsambikakis 2, die die Nachholung als obligatorisch erachten. SK/Paeffgen 4 nimmt gar („selbstverständlich“) eine unverzüglich zu erfüllende Nachholpflicht an.
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Nachholung überdies unter den Vorbehalt der Zumutbarkeit gestellt ist, dürfte diese Einschränkung geringe praktische Bedeutung haben, weil kaum Fallgestaltungen eintreten werden, in denen die (zeitlich nicht einmal eingegrenzte) Aushändigung eines Belehrungsbogens unzumutbar sein wird.30 Zu denken ist wohl an den Fall, dass eigens die Übersetzung in eine „exotische“ Sprache erforderlich wäre, in der Merkblätter nicht vorgehalten werden,31 während eine erteilte mündliche Belehrung offenkundig ihren Zweck erfüllt hat oder bereits der Kontakt zu einem Verteidiger hergestellt ist.32 d) Dokumentation (Satz 4). Ein Novum in der Dogmatik des deutschen Strafverfah- 12 rensrechts stellt die schriftliche Bestätigung des Beschuldigten über die ihm erteilte (schriftliche oder mündliche) Belehrung nach Satz 4 dar. Sie dient Beweiszwecken und unterstreicht die Bedeutung der Belehrung. Bei einer Weigerung des Verhafteten, die in der Praxis durchaus vorkommt,33 ist dies in der Akte zu dokumentieren. Sowohl die Bestätigungserklärung durch den Verhafteten als auch der Vermerk über eine Weigerung sind als Rubriken in den in der Praxis verwendeten Formblättern bereits vorgesehen. Zwischenzeitlich formulierte weitergehende Forderungen, etwa nach einer „Gegenzeichnung“ durch einen „Dritten/Zeugen“,34 sind zu Recht nicht mehr aufrechterhalten worden. 2. Belehrungsinhalte (Absatz 2) a) Für alle Beschuldigten geltende Belehrungen (Sätze 1 und 2) aa) In Absatz 2 Satz 1 finden sich in einem Katalog mit inzwischen neun Unterpunk- 13 ten die für alle Beschuldigten geltenden Belehrungen. In Nummer 1 ist nunmehr eine ausdrückliche Belehrung über die durch Art. 104 14 Abs. 2 und 3 GG gewährleisteten und in den §§ 115, 115a einfachgesetzlich geregelten Rechte des Verhafteten auf unverzügliche Vorführung vor und Vernehmung durch das zuständige Gericht sowie auf dessen Entscheidung über die Fortdauer der Inhaftierung vorgesehen. Die Belehrungen der Nummern 2 bis 4 entsprechen denen, die gemäß § 136 Abs. 1 15 Satz 2 und 3, § 163a Abs. 3 Satz 2 und 4 auch bei der ersten Vernehmung gelten und unberührt bleiben (Selbstbelastungsfreiheit, Beweisantragsrecht, Recht auf Verteidigerkonsultation). Die frühzeitige Erfüllung dieser Belehrungspflichten soll eine angemessene Vorbereitung auf die erste Vernehmung ermöglichen.35 Die Änderung der Reihenfolge der Belehrungen gegenüber § 136 Abs. 1 Satz 2 hat keine materiellen Gründe; darin liegt auch kein redaktionelles Versehen.36 Das Fehlen der in § 136 Abs. 1 Satz 4 vorgesehenen Belehrungen über die Möglichkeiten zu schriftlicher Äußerung und eines Täter-OpferAusgleichs findet seinen Grund darin, dass sich der gerade Festgenommene in einer anderen Situation befindet als der unmittelbar vor seiner Vernehmung stehende Beschuldigte, soweit es um die Form und inhaltliche Aspekte einer etwaigen Sachäußerung geht.37 Sofern in der Begründung des Gesetzentwurfs hervorgehoben worden ist, das Recht auf
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Bittmann NStZ 2010 14. BTDrucks. 16 11644, S. 16. A.A. Radtke/Hohmann/Tsambikakis 2: Kein Fall denkbar. Meyer-Goßner/Schmitt 2. Paeffgen GA 2009 452.
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BTDrucks. 16 11644, S. 17. Siehe aber Michalke NJW 2010 19. Die weitergehenden Belehrungspflichten müssen nicht ergänzend herangezogen werden; so aber ersichtlich Radtke/Hohmann/ Tsambikakis 7.
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Verteidigerkonsultation begründe keine Kostenübernahmepflicht des Staates,38 dürfte dieser für sich genommen richtige Hinweis in der Rechtswirklichkeit wenig Auswirkungen haben;39 denn nach der gebotenen Vorfinanzierung durch die Staatskasse werden die Kosten der Verteidigung bei Mittellosigkeit des Inhaftierten auch im Fall rechtskräftiger Verurteilung in aller Regel beim Staat bleiben. Die Belehrung nach der zuletzt eingefügten Nummer 4a soll der gemäß Art. 4 i.V.m. 16 Art. 3 Abs. 1 lit. b) der Richtlinie 2012/13/EU zu erteilenden (schriftlichen) Unterrichtung des Beschuldigten über „den etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung“ gerecht werden. Diese Belehrung ist zwar in ihrer Zielrichtung sachgerecht,40 muss aber in ihrer vorgesehenen Ausgestaltung durch die Bezugnahme auf Verfahrensregeln kompliziert ausfallen. Die Neuregelung dient nicht nur der Umsetzung der genannten Richtlinie, sondern 17 greift auch entsprechende Forderungen der Literatur auf: Schon bei der Diskussion des Entwurfs des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 war kritisiert worden, dass der in § 114b Abs. 2 vorgesehene Informationsumfang unzureichend sei; der Belehrungskatalog müsse im Zusammenhang mit der Belehrung nach Satz 1 Nummer 4 um Hinweise auf die Existenz anwaltlicher Notdienste und die Kostenfreiheit des Kontaktes mit einem Verteidiger erweitert werden.41 Diese Kritik war dem Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes vom 29.7.2009 bekannt. Er hat sie seinerseits bei der hiesigen Norm, anders als an anderen Stellen des Gesetzes,42 nicht zum Anlass genommen, entsprechende Änderungen vorzunehmen. Dieses Unterlassen war vielfach (lediglich) beklagt worden.43 Andere Stimmen in der Literatur hatten ungeachtet der bewussten gesetzgeberischen Entscheidung und des klaren Wortlauts die Ansicht vertreten, die Belehrung müsse sich auch auf das Vorhandensein von Verteidigernotdiensten sowie darauf erstrecken, dass im Fall der Vollstreckung des Haftbefehls nach der Neuregelung in §§ 141 Abs. 3 Satz 4, 140 Abs. 1 Nr. 4 unverzüglich ein (nach dem Vorschlag des Beschuldigten auszuwählender) Pflichtverteidiger bestellt werde,44 wobei die zuletzt genannte Belehrung an die Stelle der zunächst erhobenen Forderung nach einer Belehrung über die Kostenfreiheit des Kontaktes zum Verteidiger hätte treten sollen. Mitunter wurde an das Unterlassen dieser nicht normierten Belehrungen sogar ohne weiteres ein Beweisverwertungsverbot geknüpft.45 Der in Nr. 4a enthaltene Passus „nach Maßgabe des § 141 Absatz 1 und 3“ ist im 18 Gesetzgebungsverfahren nachträglich eingefügt worden, er geht auf einen Vorschlag des 38 39 40
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BTDrucks. 16 11644, S. 17. SK/Paeffgen 9 („Applizieren weißer Salbe“). Die Belehrung ist nunmehr auch bei der Belehrung nach § 136 Abs. 1 zu erteilen, was die Benachteiligung nicht verhafteter Beschuldigter (vgl. dazu Rn. 26) zumindest insoweit beseitigt. Paeffgen GA 2009 452; Stellungnahme der BRAK Nr. 37/2008 vom 9.7.2008 (http:// www.brak.de/w/files/stellungnahmen/Stn372008.pdf) S. 6; zu entsprechenden Forderungen für die erste Belehrung schon nach bisheriger Rechtslage vgl. LR/Lüderssen/Jahn § 137, 66b im HW. Vgl. insbesondere den neuen Fall notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 4.
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König AnwBl 2010 51; AnwK-StPO/Lammer 3; Michalke NJW 2010 19. Weider StV 2010 103; HK-GS/Laue 6; Deckers StraFo 2009 442; zurückhaltender AnwK-UHaft/König 3: Die Belehrung über die unverzügliche Bestellung eines Verteidigers bei Vollstreckung des Haftbefehls sollte erfolgen. Jahn FS Rissing-van Saan 293 f. plädiert unter Hinweis auf den Topos „Parität des Wissens“ für ein Überdenken der bisherigen Position der Rechtsprechung. Generell gegen die Erweiterung der Belehrungsinhalte Brocke/Heller StraFo 2011 2. Schlothauer/Weider Rn. 257 m.w.N.
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Bundesrates zurück.46 Dieser hatte sich mit Blick darauf, dass im Vorverfahren bis zum Abschluss der Ermittlungen (§ 169a) die Bestellung eines Pflichtverteidigers nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft erfolgt und ein Antrag des Beschuldigten lediglich als Anregung an diese zu behandeln ist, einen entsprechenden Antrag bei Gericht zu stellen, dafür ausgesprochen, die entsprechende Einschränkung zur Vermeidung diesbezüglicher Fehlvorstellungen beim Beschuldigten in der Belehrung und damit im Gesetzestext zum Ausdruck zu bringen; die von der Bundesregierung vorgesehene Klarstellung in der Gesetzesbegründung sei nicht ausreichend. Die Bundesregierung hat sich in ihrer Gegenäußerung dieser Erwägung angeschlossen.47 Die Frage der praktischen Umsetzung der neuen Belehrung ist ersichtlich nicht näher erörtert worden. Die der Praxis zur Verfügung gestellten Belehrungsformulare sind derzeit (s. Fn. 18) noch nicht angepasst worden. Es bleibt abzuwarten, ob das neue Belehrungsformular hinsichtlich der Nrn. 4 und 4a ebenso kurz und leicht verständlich sein wird, wie die Belehrung nach dem „Musterbeispiel der Erklärung der Rechte“, welches der Richtlinie 2012/13/EU als Anhang I angefügt ist.48 Diese Musterbelehrung lautet: „Sie haben das Recht, vertraulich mit einem Rechtsanwalt zu sprechen. Ein Rechtsanwalt ist von der Polizei unabhängig. Wenn Sie Hilfe benötigen, um Kontakt mit einem Rechtsanwalt aufzunehmen, bitten Sie die Polizei um Unterstützung; die Polizei muss Ihnen behilflich sein. In manchen Fällen kann die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts unentgeltlich sein. Bitten Sie die Polizei um weitere Auskünfte.“ Die nicht von der Hand zu weisenden Bedenken des Bundesrates gegen die Gestat- 19 tung der freien Arztwahl49 haben bei der Fassung der Nummer 5 keine Berücksichtigung gefunden. Auch der beachtliche Vorschlag Paeffgens, die Problematik durch Einfügen des Wortes „ergänzend“ zu entschärfen,50 wurde nicht aufgegriffen. Entgegen dessen Auffassung51 wird es angesichts des Wortlauts auch bei Aufbieten einigen Wohlwollens nicht gelingen, diese vernünftige Position in die geltende Fassung der Norm hineinzulesen. Allerdings kann kein Zweifel bestehen, dass der Haftrichter nicht verpflichtet ist, die Zuführung eines zum Untersuchungshaftvollzug aufzunehmenden Beschuldigten zu einem Arzt (einer Ärztin) seiner Wahl außerhalb der Vollzugsanstalt zu veranlassen.52 Auch hinsichtlich der freien Arztwahl ist mit der Rechtsgewährung keine Kostentragungspflicht des Staates verbunden.53 Nummer 6 legt schließlich die Belehrung über das nunmehr in § 114c Abs. 1 geregelte 20 (aktive) Benachrichtigungsrecht des Beschuldigten fest.54 Die nach Nummer 7 vorgesehene Belehrung über das Recht auf Akteneinsicht des 21 Beschuldigten soll der Umsetzung des Art. 4 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie 2012/13/EU die-
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BTDrucks. 17 12578, S. 22. BTDrucks. 17 12578, S. 23. ABlEU Nr. L 142, S. 8 f. BTDrucks. 16 11644, S. 40 = BRDrucks. 829/08 (Beschluss), S 2. Paeffgen GA 2009 454. SK/Paeffgen 10. Buckow Kriminalist 2011 21, der zudem mit Recht darauf hinweist, dass die Zuführung des Festgenommenen zu einem frei gewählten Arzt seitens der festnehmenden Organe selbstverständlich nicht zu einer Überschreitung der Vorführfristen führen darf: „In die-
53 54
sem Fall hat die Polizei den Wunsch des Beschuldigten zu dokumentieren und darzulegen, dass der Transport zu dem gewünschten Arzt oder das Zuwarten auf dessen Erscheinen auf der Dienststelle zu einer Überschreitung der Vorführfrist bzw. des Zeitpunktes der unverzüglichen Vorführung vor einen Richter führen wird“. BTDrucks. 16 11644, S. 17. Zur Kritik an dem Vorbehalt der Gefährdung des Untersuchungszwecks vgl. Paeffgen GA 2009 454 sowie die Erl. zu § 114c, 5 in diesem Nachtrag.
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nen. In der Literatur war schon früher vereinzelt vertreten worden, die Belehrung nach § 114b müsse sich auch auf die in § 147 Abs. 2 und 7 neu gefassten wesentlichen Informationsrechte erstrecken.55 Dagegen ist eingewandt worden, eine solche Belehrung müsse zwangsläufig kompliziert ausfallen und dürfe den gerade verhafteten Beschuldigten, der sich aufgrund seiner Festnahme ohnehin in einer Stresssituation befinde, in der Regel überfordern.56 In der Tat kann eine Belehrung, die Merkmale einschließen muss, die einer juristischen Bewertung bedürfen (§ 147 Abs. 7: „soweit dies zu einer angemessenen Verteidigung erforderlich ist, der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Strafverfahren, nicht gefährdet werden kann und nicht überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen“), kontraproduktiv wirken. Dies gilt im Übrigen für jede Ausweitung des Belehrungskanons, die grundsätzlich die 22 Gefahr einer Überfrachtung birgt. Die Erweiterung des Belehrungskataloges liegt nicht per se im Interesse des Betroffenen. Bei jedem zusätzlichen Belehrungsinhalt sollte auch die Frage gestellt werden, ob er sich systemgerecht in die (hier so genannten) „Belehrungen der ersten Stunde“ einfügt, das heißt, mit diesen das Ziel verfolgt, dem Beschuldigten die notwendigen Kenntnisse über seine elementaren Rechte und den möglichen Rechtsschutz gegen die Freiheitsentziehung zu vermitteln. Bei der nach Nummer 7 vorgesehenen Belehrung fehlt im Übrigen ein solcher Bezug zur Verteidigung gegen die Freiheitsentziehung, der in der knappen und einprägsamen Musterbelehrung (s. Rn. 18) wie folgt zum Ausdruck kommt: „Wenn Sie festgenommen und inhaftiert werden, haben Sie (oder Ihr Rechtsanwalt) das Recht auf Einsicht in wesentliche Dokumente, die Sie benötigen, um gegen die Festnahme oder Inhaftierung vorzugehen“. Soweit es die Belehrungen des Beschuldigten – auch eines lediglich vorläufig festge23 nommenen Beschuldigten – über die späteren Rechtsmittel und Rechtsbehelfe im Rahmen eines möglichen Untersuchungshaftvollzugs nach Nummer 8 angeht, erschließt sich nicht, weshalb die entsprechenden, in § 115 Abs. 4 (sinnvoller Weise nur) für den Fall der Aufrechterhaltung der Haft vorgesehenen Belehrungen nicht ausreichen sollen, zumal dem inhaftierten Beschuldigten stets ein Verteidiger zur Seite steht. Die Gesetzesbegründung hat die Annahme ihrer Verfasser, dass die nunmehr kodifizierten (m.E. auch inhaltlich überladenen) Belehrungen schon zu diesem frühen Zeitpunkt erforderlich seien, um den Gewährleistungen der Richtlinie gerecht zu werden,57 mit keinem Wort erklärt. Die Belehrungsinhalte dürften auch über die Vorstellungen der Richtlinie betreffend „einige grundlegende Informationen“ über die Möglichkeiten, „die Rechtmäßigkeit der Festnahme anzufechten, eine Haftprüfung zu erwirken oder einen Antrag auf vorläufig Haftentlassung zu stellen“, hinausgehen. Das erwähnte Musterbeispiel (s. Rn. 18) sieht hierzu folgende Belehrung vor: „Erkundigen Sie sich bei Ihrem Rechtsanwalt oder dem Richter nach der Möglichkeit, gegen Ihre Festnahme vorzugehen, eine Haftprüfung zu erwirken oder einen Antrag auf vorläufige Haftentlassung zu stellen.“ Ob die nach der Nummer 8 stattdessen vorzunehmende Belehrung – insbesondere einem lediglich vorläufig Festgenommenen gegenüber – diesem Verständnis entspricht und zudem in der nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie vorgesehenen „einfachen und verständlichen Sprache“ darzustellen sein wird, erscheint fraglich. Ein nur vorläufig festgenommener Beschuldigter, der möglicher Weise zu Recht annehmen darf, bald wieder entlassen zu werden, kann vermutlich – zumal, wenn er mit der deutschen Rechtsordnung nicht vertraut ist, – unnötig verängstigt werden, wenn er zu einem so frühen Zeitpunkt über einzelne Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Maßnahmen im Vollzug der Untersuchungshaft informiert wird. 55 56
Deckers StraFo 2009 442. Brocke/Heller StraFo 2011 2.
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BTDrucks. 17 12578, S. 17.
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Mit den Belehrungen nach den Nummern 7 und 8 dürfte sich die Gefahr einer Über- 24 frachtung der Belehrung und Überforderung des Beschuldigten realisieren. Es bleibt zu wünschen, dass der Festgenommene nach dem Überstehen des vorgesehenen Belehrungsmarathons noch die Konzentration aufbringt, seine Interessen in der Sache zu wahren. Die Wahrscheinlichkeit, dass Nachfragen auftreten, die eine ergänzende mündliche Belehrung und Erläuterungen erforderlich machen (s. Rn. 8), dürfte angesichts der Erweiterung der Belehrungsinhalte – nicht zuletzt auch mit Blick auf die zweifelhafte Belehrung nach dem neuen Satz 2 (dazu Rn. 25) – beträchtlich gestiegen sein. Die damit möglicher Weise verbundene Ausweitung des „Belehrungskomplexes“ einer Vernehmung kann sich insgesamt, auch auf Seiten der beteiligten Amtswalter, zulasten der eigentlichen Sacharbeit auswirken. bb) Auch die Belehrung des Beschuldigten über das Akteneinsichtsrecht des Verteidi- 25 gers (Satz 2) hat die Umsetzung des Art. 4 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie 2012/13/EU zum Ziel.58 Hier stellt sich die Frage, ob diese Belehrung für den Beschuldigten irgendeinen konkreten Nutzen haben wird oder nicht vielmehr – wie dies insbesondere im Fall der Belehrung nach Satz 1 Nummer 8 zu befürchten steht (s. Rn. 23, 24) – eher psychischen Schaden anrichten kann. Das Misstrauen insbesondere mit der deutschen Rechtsordnung nicht vertrauter Beschuldigter gegenüber einem „vom Staat bezahlten“ Verteidiger ist weit verbreitet; dessen Einsatzbereitschaft und Leistungsfähigkeit werden nicht selten in Frage gestellt. Wie mag es auf einen solchen Beschuldigten wirken, wenn ihm erklärt wird, dass sein demnächst für ihn tätig werdender Verteidiger das Recht hat, „nach § 147“ (welche Folgen diese unbeschränkte Bezugnahme auf eine recht komplexe Norm für die Ausgestaltung der Belehrung auch immer haben soll) die Akten einzusehen? Vielleicht wird mancher Beschuldigte den Belehrenden mit der Frage konfrontieren, ob er dies seinem künftigen Verteidiger, weil dieser es selbst nicht weiß, dann mitteilen soll. b) Belehrungen für einzelne Personengruppen (Sätze 3 und 4) aa) Das Recht auf unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers für Beschuldigte, 26 die der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig oder hör- oder sprachbehindert sind, über das nunmehr nach Absatz 2 Satz 3 zu belehren ist, ergibt sich für das gesamte Strafverfahren aus Art. 6 Abs. 3e EMRK und ist in der Rechtsprechung anerkannt.59 Die Einfügung des Wortes „unentgeltliche“ geht auf eine Anregung des Bundesrates zurück und dient der Klarstellung der Kostenfreiheit, soll aber auch im Umkehrschluss deutlich machen, dass hinsichtlich der Arzt- und Verteidigerkonsultation eine solche nicht gewährleistet ist.60 Da Verhaftete über das Recht auf unentgeltlichen Beistand eines Dolmetschers oftmals nicht informiert sind, ist die Erfüllung der entsprechenden Belehrungspflicht von praktischer Bedeutung.61 Es war deshalb durchaus überraschend, dass das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 die ausdrückliche Hinweispflicht nicht auch in den Belehrungskanon des § 136 Abs. 1 aufgenommen hatte; denn Beschuldigte ohne hinreichende Sprachkenntnisse oder mit einer Hör- oder Sprachbehinderung bedürfen des Schutzes der Belehrung nicht nur dann, wenn sie verhaftet werden. Nach den Neuregelungen des § 163a Abs. 5 und des § 187 Abs. 1 Satz 2 GVG
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BTDrucks. 17 12578, S. 17. EGMR NJW 1979 1091; BVerfGK 1 331 = NJW 2004 50; BGHSt 46 178 = NJW 2001 309.
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BTDrucks. 16 11644, S. 40; ebenso die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, vgl. BTDrucks. 16 13097, S. 18. Meyer-Goßner/Schmitt 8.
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durch das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren vom 2.7.201362 besteht nunmehr eine entsprechende Belehrungspflicht sowohl für staatsanwaltschaftliche und polizeiliche Vernehmungen eines nicht inhaftierten Beschuldigten, als auch für dessen richterliche Erstvernehmung nach § 136. Inhaltlich hat die Belehrung klarzustellen, dass die Hinzuziehung nur verfahrensbezo27 gen in Betracht kommt, also etwa für Vernehmungen oder Gespräche mit dem Verteidiger63 sowie Übersetzungen wesentlicher Verfahrensunterlagen. Schon zu der seit dem 1.1.2010 geltenden Fassung der Norm (s. dazu Rn. 4) wurde 28 mit Recht darauf hingewiesen, dass die Hinzuziehung des Dolmetschers ungeachtet der damaligen Formulierung „verlangen kann“ von Amts wegen erfolgen müsse, also kein Verlangen des Beschuldigten abgewartet werden dürfe. Ein Schweigen des Beschuldigten dürfe nicht als konkludenter Verzicht auf die Hinzuziehung verstanden werden; von ihr dürfe nur dann abgesehen werden, wenn der Beschuldigte ausdrücklich darauf verzichte.64 Ungeachtet dieses richtigen Hinweises wird ein pflichtbewusster Amtsträger auch bei Vorliegen eines solchen Verzichts allemal nicht ohne Unterstützung durch einen Dolmetscher agieren, wenn Verständigungs- und Verständnisprobleme des Beschuldigten erkennbar werden. Im Übrigen ist zu bedenken, dass es in Zweifelsfällen der Betroffene selbst am besten beurteilen kann, ob seine Sprachkenntnisse ihm erlauben, auch zu komplexen Themen Aussagen zu machen oder Erklärungen anderer Personen zu verstehen, die durch die Verwendung von Fachbegriffen geprägt sein und hierdurch Verunsicherung auslösen können. Die Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass viele Menschen, die den „normalen“ Alltag sprachlich ohne große Schwierigkeiten bewältigen, in Vernehmungssituationen die Unterstützung durch einen Dolmetscher wünschen und dies auch äußern. Der vorgesehene Belehrungsinhalt wird den Interessen der nicht hinreichend sprachkundigen Beschuldigten ohne weiteres gerecht. Die durch das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Straf29 verfahren vom 2.7.2013 vorgenommenen Änderungen im jetzigen Satz 3 (gegenüber dem Satz 2 in der seit dem 1.1.2010 geltenden Fassung) dienen der vollständigen Umsetzung der in Art. 3 Abs. 1 lit. d) der Richtlinie 2012/13/EU vorgesehenen Belehrung und stützen sich dem Wortlaut nach auf die Neufassung des § 187 Abs. 1 Satz 2 GVG. Die Formulierung „beanspruchen“ anstelle „verlangen“ soll klarstellen, dass ein förmlicher Antrag des Beschuldigten angesichts der von Amts wegen zu beachtenden Vorschrift des § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG nicht erforderlich ist.65
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bb) Unterrichtung der konsularischen Vertretung des Heimatstaates. In Absatz 2 Satz 4 ist die Belehrung von Ausländern über die aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 1 und 2 WÜK folgenden Benachrichtigungs- und Übermittlungspflichten66 nunmehr in der StPO – allerdings nicht auch in § 136 Abs. 167 – gesetzlich verankert worden. Danach hat der Festnehmende auf Verlangen des Verhafteten unverzüglich68 die konsularische Vertretung des
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S. hierzu die Erl. zu §163a und § 187 GVG in diesem Nachtrag. BTDrucks. 16 11644, S. 17. AnwK-UHaft/König 5, 6; AnwK-StPO/Lammer 4. BTDrucks. 17 12578, S. 17. Vgl. auch Nr. 135 RiVASt. Dies war mit Blick auf die Rspr. des IStGH schon frühzeitig gefordert worden, vgl.
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Walther HRRS 2004 126; Esser JR 2008 279 („dringend geboten“); zurückhaltender Kreß GA 2007 302: Änderung der RiVASt dürfe sich empfehlen. Vgl. hierzu IStGH Fall Avena u.a. ILM 43 (2004) 581 ff. (Absatz 89): Jedenfalls ein Zeitraum von 40 Stunden nach der Festnahme im Bewusstsein der fremden Staatsangehörigkeit ist nicht mehr unverzüglich.
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Heimatstaates zu unterrichten und von diesem an die Vertretung gerichtete Mitteilungen unverzüglich weiterzuleiten. Weitere Ansprüche, etwa auf „erste Hilfe“ bei einer Kontaktaufnahme mit dem Konsulat oder auf Hinweise zu einer möglichen Hilfestellung des Konsulats bei der Suche nach einem geeigneten Verteidiger, hat der Festgenommene nicht.69 Auch besteht keine Pflicht, mit der Vernehmung zuzuwarten, bis der Kontakt zur konsularischen Vertretung zustande gekommen ist.70 Die Belehrungspflicht gilt auch bei Ausländern, die ihren Lebensmittelpunkt im Inland haben,71 sofern sie nicht zugleich auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen.72 Zu der Belehrung waren auch nach bisheriger Rechtslage aufgrund der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schon die festnehmenden Polizeibeamten verpflichtet.73 Bei der Neuregelung nicht berücksichtigt worden sind die in der Praxis74 bedeutsamen Fragen, ob bei der Benachrichtigung auch der Tatvorwurf mitzuteilen ist und ob der Festgenommene ggf. auch darauf hingewiesen werden muss, dass die Amtsträger des deutschen Staates im Verhältnis zu einigen Entsendestaaten75 eine Benachrichtigungspflicht zu erfüllen haben, was bei manchen Beschuldigten durchaus Anlass zur Sorge gibt. 3. Folgen unterbliebener Belehrung. Welche Folgen Verstöße gegen die Belehrungs- 31 pflichten haben, beantwortet das Gesetz nicht. Auch die Materialien enthalten hierzu keine Ausführungen oder Hinweise. Hinsichtlich der Konsequenzen unterbliebener Belehrungen ist nach den einzelnen Belehrungsinhalten zu differenzieren.76 Demgegenüber folgern manche Stimmen allein aus der Tatsache, dass es zu einer umfassenden Neuregelung verpflichtender Belehrungen und der Statuierung einer Dokumentationsobliegenheit gekommen ist, dass (jegliche) Belehrungsverstöße generell zu einem Beweisverwertungsverbot führen müssten.77 Diese Ansicht ist mit den Grundsätzen, die auf nicht normierte Beweisverwertungsverbote überwiegend angewendet werden,78 schwerlich vereinbar; sie ist auch nicht, zumal unter der notwendigen Auseinandersetzung mit der Beweisverwertungsdogmatik, näher begründet worden. Dass die Annahme kategorischer Beweisverwertungsverbote im Einzelfall zu unangemessenen Ergebnissen führen würde, tritt hinzu. a) Absatz 2 Sätze 1 und 2. Zutreffend ist die Auffassung, dass das Unterlassen der 32 Belehrung nach Absatz 2 Satz 1 Nummern 1 und 5 kein Beweisverwertungsverbot zur Folge hat. Dass ein solcher Verstoß für das Aussageverhalten des Beschuldigten ursäch-
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Graf/Krauß 9; Weigend StV 2008 40; a.A. Buckow Kriminalist 2011 20; Walter JR 2007 101; HK/Posthoff 12. Graf/Krauß 9; Kreß GA 2007 304; Esser JR 2008 274; vgl. auch BVerfGK 9 174, 196 = NJW 2007 499, 503 zu Tz. 71–72: Die Belehrung muss nicht notwendig einer Vernehmung vorausgehen. BVerfGK 9 174, 194 = NJW 2007 499, 503; BGHSt 52 48 = NJW 2008 307. Meyer-Goßner/Schmitt 9 m.w.N. BVerfGK 9 174, 194 = NJW 2007 499, 503; s. auch LR/Gleß § 136, 55 im HW; a.A. noch BGH NStZ 2002 168. Buckow Kriminalist 2011 20. Z.B. Griechenland, Großbritannien, Italien,
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Russische Föderation, Spanien, Weißrussland. Siehe aber auch Bittmann NStZ 2010 14: Über den bisherigen Umfang hinaus sei grundsätzlich kein Beweisverwertungsverbot anzunehmen; Meyer-Goßner/Schmitt 10: Kein Beweisverwertungsverbot, weil der Beschuldigte bei seiner Vernehmung nach § 136 Abs. 1 (erneut) zu belehren sei und erst die hierbei begangenen Verstöße ein Verwertungsverbot nach sich zögen. Weider StV 2010 103; Radtke/Hohmann/ Tsambikakis 13; Tsambikakis ZIS 2009 507; Herrmann StRR 2010 6. Vgl. dazu nur KK/Pfeiffer/Hannich Einl. 120 ff.; Meyer-Goßner Einl. 55 ff.
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lich war, wird kaum festzustellen sein.79 Ob im Einzelfall ein kausaler Zusammenhang zwischen der unterbliebenen Belehrung über das Arztkonsultationsrecht und der Aussagebereitschaft des Festgenommenen in Fällen erheblicher gesundheitlicher Beeinträchtigungen denkbar ist,80 bedürfte genauer Prüfung. Auch in einem solchen Fall wäre zudem bei Anwendung der Abwägungslehre die Frage zu stellen, ob die Festnehmenden die (von ihnen erkannten) Gesundheitsprobleme des Festgenommenen ausgenutzt haben, um eine darauf ggf. beruhende Aussagegeneigtheit unter bewusstem Hinauszögern oder Unterlassen der Belehrung zu erhalten. Hiervon unberührt bleibt selbstverständlich die Frage der Vernehmungsfähigkeit des Beschuldigten. Bei einem Verstoß gegen die Belehrungspflichten nach Absatz 2 Satz 1 Nummern 2 33 bis 4 gelten die gleichen Rechtsfolgen wie bei einer Verletzung der sich aus § 136 Abs. 1 für die erste Vernehmung ergebenden entsprechenden Pflichten.81 Die Verletzung der „Kardinalbelehrungspflichten“82 der Nummern 2 und 4 hat demgemäß ein Beweisverwertungsverbot zur Folge, während der unterlassene Hinweis auf das Beweisantragsrecht nach Nummer 3 entsprechend der Rechtslage bei § 136 Abs. 1 Satz 3 im Regelfall, wenn nicht besonders schwere Verstöße zugleich die Aussagefreiheit beeinträchtigen, zu keinem Beweisverwertungsverbot führt.83 Hat sich der Beschuldigte ohne die nach Nummern 2 oder 4 gebotene Belehrung zur Sache geäußert, ist eine qualifizierte Belehrung vor der anschließenden ersten Vernehmung erforderlich. Die Behandlung von Fällen, in denen ein Beschuldigter über seine Möglichkeiten irrte, 34 sich trotz Mittellosigkeit vor einer ersten Vernehmung mit einem Verteidiger zu beraten (weil ihm ein Pflichtverteidiger bestellt werden kann oder es in der Praxis erfahrungsgemäß Rechtsanwälte gibt, die bereit sind, auch mittellosen Beschuldigten sofort – und sei es nur in Gestalt einer telefonischen Beratung – beizustehen), war nach der alten Rechtslage umstritten. Der BGH hat für Fälle der Erkennbarkeit eines solchen Irrtums zwar angenommen, der Vernehmende hätte den Beschuldigten darauf hinweisen sollen, dass diesem ungeachtet des Fehlens eigener wirtschaftlicher Mittel die Gelegenheit gegeben werden könne, bei einem Rechtsanwalt seines Vertrauens bzw. einem anwaltlichen Notdienst anzurufen. Er hat aber auf der Grundlage der Abwägungslehre darauf erkannt, dass auch dann, wenn man bei Unterlassen eines solchen Hinweises einen Verfahrensverstoß bejahen wollte, die Annahme eines Verwertungsverbotes nicht nahe liege. Hierbei hat er darauf abgestellt, dass kein aktives, zielgerichtet betriebenes Verhalten der Amtswalter vorgelegen habe und insbesondere kein Verstoß gegen eine Belehrungspflicht nach § 136 Abs. 1 Satz 2 im Raum stehe, der im Grundsatz zu einem Verwertungsverbot führe.84 Diese Argumentation trägt nach der ausdrücklichen Bestimmung einer Pflicht zur Belehrung über der Kostenfreiheit anwaltlicher Beratung nach Nummer 4a nicht mehr. Bei einem Verstoß gegen diese Belehrungspflicht gelten nunmehr die gleichen Folgen wie bei den Nummern 2 und 4 (s. Rn. 33). Die bislang oftmals umstrittene Frage, ob ein Beschuldigter vor einem (informato35 rischen) Vorgespräch durch die Polizei ordnungsgemäß belehrt wurde, sollte keine praktische Relevanz mehr haben, da die Belehrung nun jedem inhaltlichen Gespräch vorangehen und dies dokumentiert werden muss.85 79
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AnwK-StPO/Lammer 5: Ein kausaler Zusammenhang werde „in der Regel fehlen“; siehe auch HK/Posthoff 14. AnwK-StPO/Lammer 5. AnwK-StPO/Lammer 5; KMR/Wankel 9. Diesen Begriff verwendet KMR/ Wankel 9.
80
83 84
85
LR/Gleß § 136, 103 im HW; vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt § 136, 21. BGH NStZ-RR 2006 181 = StV 2006 567; NStZ 2006 236 = StV 2006 566 mit. krit. Anm. Beulke/Barisch 569; kritisch auch Meyer-Goßner/Schmitt § 136, 10. Weider StV 2010 103.
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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme
Nachtr. § 114b StPO
Ob die Ansicht zutrifft, dass die unverzügliche Belehrung des Verhafteten bzw. vor- 36 läufig Festgenommenen auch die Problematik der so genannten Spontanäußerungen entschärfen wird,86 bleibt abzuwarten. Wirkliche Spontanäußerungen, die nicht durch ein bewusstes Zuwarten mit der Belehrung generiert sind, werden auch in Zukunft festzustellen und verwertbar sein. Allerdings ist anzunehmen, dass deren Häufigkeit und Umfang geringer ausfallen werden als bisher. Wenn der über den Sachverhalt informierte Amtsträger erkennen kann, dass der unbelehrte Festzunehmende oder gerade Festgenommene inhaltliche Erklärungen abzugeben beginnt, wird ein unverzüglicher Hinweis auf die Selbstbelastungsfreiheit und das Recht auf Verteidigerkonsultation geboten sein und dessen bewusstes Unterlassen zur Unverwertbarkeit belastender Äußerungen führen. Denn insoweit kommt nicht mehr nur, wie nach bisheriger Rechtslage, eine Verletzung der Grundsätze eines fairen Verfahrens in Betracht, sondern es liegt ein Verstoß gegen eine positiv geregelte Belehrungspflicht vor.87 Problembehaftet können sich Fälle darstellen, in denen auf Seiten der Strafverfolgungsbehörden keine Personenidentität besteht und die die Äußerungen entgegen nehmenden Beamten nicht sicher wissen, dass die Belehrung des Beschuldigten (noch) fehlt. Dies kann eintreten in den gar nicht seltenen Fällen, in denen die die Festnahme aussprechenden Beamten den Beschuldigten nicht auf dem Transport zur Dienststelle und bis zur ersten Vernehmung bewachen. Nehmen die den Beschuldigten bewachenden Beamten nun tatbezogene Äußerungen des Beschuldigten zur Kenntnis, dürften die bisher in der Rechtsprechung des BGH lediglich geäußerten Bedenken88 zukünftig durchschlagen, wobei dies nicht nur auf Fälle beschränkt wäre, in denen die Beamten den Beschuldigten „über eine beträchtliche Zeitspanne“ Einzelheiten der Tat berichten ließen, was nach Ansicht des BGH einer gezielten Umgehung der Belehrungspflichten „äußerst nahe“ kommt.89 Denn die gesetzgeberische Grundentscheidung, die der Neuregelung der frühen Belehrungspflichten zugrunde liegt, wird man in solchen Fallgestaltungen bei der Abwägungsentscheidung nun maßgeblich in Rechnung stellen und deshalb von den Beamten erwarten müssen, dass sie bei erkennbaren Sachäußerungen nicht bloß passiv bleiben, sondern sich vergewissern, ob die gebotenen Belehrungen bereits vorgenommen worden sind; ist dies nicht der Fall, müssen sie das Versäumte ihrerseits nachholen. Die bisherige Annahme, dass dem Polizeibeamten bei der Frage, zu welchem Zeitpunkt (vor der ohnehin gebotenen Belehrung nach §§ 136 Abs. 1 Satz 2, 163a Abs. 3 Satz 2, Abs. 4 Satz 2) er ggf. eine Beschuldigtenbelehrung vorzunehmen hat, ein Beurteilungsspielraum zustehe, den er lediglich nicht missbrauchen dürfe (um die Belehrung möglichst weit hinauszuschieben), ist nicht mehr zu rechtfertigen. Um Auseinandersetzungen in der Praxis über die Verwertbarkeit von Beschuldigtenäußerungen im Zusammenhang mit der Festnahme zu vermeiden, werden die Strafverfolgungsbehörden darauf zu achten haben, den genauen Zeitpunkt der Belehrung und auch den Zeitpunkt zu dokumentieren, zu dem erstmals die Notwendigkeit einer Belehrung erkennbar und deren Durchführung möglich war, was insbesondere bei unübersichtlicher Festnahmesituation von Belang sein kann.90 86 87 88 89 90
So AnwK-StPO/Lammer 5. Bittmann JuS 2010 512 f.; siehe auch Brocke/Heller StraFo 2011 2. BGH NJW 2009 3589 mit Anm. MeyerMews = NStZ 2010 464 mit Anm. Ellbogen. BGH NJW 2009 3589. Vgl. Buckow Kriminalist 2011 19 mit einem Praxisbeispiel: Der Beschuldigte wird anlässlich einer vorläufigen Festnahme aufgrund
bestehenden Haftbefehls bei gleichzeitigem Durchsuchungsbeschluss in seiner Wohnung festgenommen. Aus Eigensicherungsgründen aufgrund des Tatvorwurfs wird die Wohnung schlagartig betreten. Die Polizei sieht sich einer Vielzahl von Personen gegenüber. Einzelne Beamte sichern die Räume und die anwesenden Personen. Bis zur Identifizierung des gesuchten Beschuldigten fängt dieser ein
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Der Belehrung nach Nummer 6 kommt für die in autonomer Selbstbestimmung zu treffende Entscheidung des Beschuldigten, ob (und wie) er sich zu den Vorwürfen äußern möchte oder nicht, keine maßgebliche Bedeutung zu. Ihr Unterlassen führt deshalb zu keinem unselbstständigen Beweisverwertungsverbot. Auch hier stellte sich im Übrigen die praktisch kaum zu handhabende Frage der Kausalität, zumal hinsichtlich des Vorbehalts der Gefährdung des Untersuchungszwecks noch eine juristische Bewertung, die der Beschuldigte vorzunehmen hätte, zu berücksichtigen wäre. Entsprechendes gilt im Ergebnis für die Belehrungen über die Akteneinsichtsrechte 38 nach Nummer 7 und dem neuen Satz 2. Es ist nicht anzunehmen, dass ein ansonsten ordnungsgemäß belehrter Beschuldigter, der seine (essentiellen) Rechte der Selbstbelastungsfreiheit und auf (ggf. kostenfreie) Verteidigerkonsultation kennt, wegen des Unterlassens dieser, ohnehin nicht unproblematischen (s. Rn. 21 f. und 25), Hinweise überhaupt oder anders als nach solchen Belehrungen aussagt. Eine Entscheidung über die Folgen einer unterbliebenen Belehrung ist im Übrigen nicht ohne den Blick auf die anderen Belehrungen möglich (vgl. dazu Rn. 40). Das Unterlassen der Belehrung nach Nummer 8 führt zweifellos nicht zu einem (un39 selbstständigen) Beweisverwertungsverbot.
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b) Absatz 2 Satz 3. Dass ein Verstoß gegen die Pflicht zur Belehrung über unentgeltliche Dolmetscherleistungen für eine belastende Aussage des Beschuldigten ursächlich war, sofern die übrigen Belehrungspflichten ordnungsgemäß erfüllt wurden, dürfte kaum erweislich sein. Mit Blick auf die Verwertungsproblematik ist eine eigenständige Bedeutung dieser Belehrung nicht anzunehmen. Ein Beschuldigter, der in hinreichender Weise über seine (essentiellen) Rechte der Selbstbelastungsfreiheit und auf (ggf. kostenfreie) Verteidigerkonsultation informiert worden ist, wird nicht deshalb (überhaupt oder anders) aussagen, weil er über die Möglichkeit der unentgeltlichen Hilfestellung durch einen Dolmetscher nicht informiert ist. Es erscheint ohnehin kaum denkbar, dass eine ordnungsgemäße Belehrung erteilt werden kann, wenn ein Dolmetscher fehlt, auf den der Beschuldigte angewiesen ist. Ist der Dolmetscher nötig, wird ohne ihn eine wirksame Erfüllung der Kardinalbelehrungspflichten nicht möglich sein, ist er aber nicht nötig, liegt kein Verstoß gegen die Belehrungspflicht vor. Eine Entscheidung über die Folgen einer unterbliebenen Belehrung nach Absatz 2 Satz 3 ist deshalb nicht ohne den Blick auf die übrigen Belehrungen möglich. Dies entspricht letztlich der Rechtsprechung des EGMR, wonach ein Verstoß gegen Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 3 EMRK nicht automatisch zu einem Verwertungsverbot führt, sondern zu prüfen ist, ob das Verfahren insgesamt fair gewesen ist.91
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c) Absatz 2 Satz 4. Hinsichtlich der Frage, welche Folgen eine verspätete oder unterbliebene Belehrung eines ausländischen Beschuldigten über das Recht auf konsularischen Beistand hat, kann auf die Grundsätze, die zur Belehrungspflicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK entwickelt worden sind, zurückgegriffen werden. Insoweit war es zuletzt, nachdem die Bestimmung lange Zeit ein Schattendasein gefristet hatte, zu einer intensiven Rechtsprechungstätigkeit gekommen. Ausgangspunkt für diese Entwicklung war eine Kammerentscheidung des BVerfG vom 19.9.2006,92 die auf mehrere Ver-
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Gespräch mit dem ihn bewachenden Polizeibeamten an und macht dabei sich selbst belastende Äußerungen. EGMR NJW 2006 3117, 3122; NJW 2010
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213, 215; Meyer-Goßner/Schmitt Art. 6, 16 EMRK. BVerfGK 9 174 = NJW 2007 499 = NStZ 2007 159 = JZ 2007 887 mit krit., nur im
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Nachtr. § 114b StPO
fassungsbeschwerden gegen Beschlüsse des BGH vom 7.11.200193 und vom 29.1.200394 erging. aa) Rechtsprechung zu Art. 36 WÜK. Der BGH hatte in seinem Beschluss vom 7.11. 42 2001 bei der ersichtlich erstmaligen Befassung mit der Problematik die Frage, ob die Norm (zumindest auch) darauf ausgerichtet ist, strafprozessuale Schutz- und Verteidigungsinteressen eines Beschuldigten zu wahren, verneint und angenommen, sie verfolge ausschließlich andere, selbstständig neben Verteidigungsbelangen stehende Zwecke.95 Der mit der Sache befasste 5. Strafsenat war zwar in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des IStGH96 der Ansicht, dass Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nicht nur eine objektiv-rechtliche Verpflichtung des Staates regele, sondern dem festgenommenen Ausländer ein subjektives Recht auf Inanspruchnahme konsularischer Unterstützung gewähre, nahm aber an, dass dieses subjektive Recht dessen prozessuale Stellung im Strafprozess nicht berühre. Denn dem Ausländer solle kein über die Belehrungsvorschriften der § 136 Abs. 1, § 163a Abs. 4 hinausgehender Schutz gewährt und er nicht vor Äußerungen geschützt werden, die er vor der Kontaktaufnahme mit dem für ihn zuständigen Konsularbeamten bzw. der entsprechenden Belehrung über seine diesbezüglichen Rechte gemacht hat. Vielmehr solle durch die Benachrichtigung der konsularischen Vertretung verhindert werden, dass Angehörige eines Entsendestaates, die außerhalb ihrer Heimat vielfach nur über geringe oder gar keine Sozialkontakte verfügten, dort aufgrund staatlichen Zugriffs spurlos aus der Öffentlichkeit verschwänden. Allein insoweit ergänze das WÜK deutsches Strafverfahrensrecht, insbesondere – bei ansonsten identischer Zielrichtung – Art. 104 Abs. 4 GG und § 114b (a.F.). Für eine „zusätzliche Privilegierung“ von Angehörigen der dem WÜK beigetretener Staaten gegenüber anderen Beschuldigten gebe das Übereinkommen nichts her. Überdies obliege es nicht der festnehmenden Polizei, sondern dem in §§ 115, 115a, 128 genannten Richter, den festgenommenen Ausländer nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK zu belehren. Das BVerfG hob diese Entscheidung auf und verwies die Sache an den BGH zurück.97 43 Es hat die Revisibilität eines Verstoßes gegen den im Range eines Bundesgesetzes stehenden Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK im Sinne eines relativen Revisionsgrundes anerkannt. Der BGH habe die Norm in einer Weise ausgelegt, die der Rechtsprechung des IStGH zum Konsularrechtsübereinkommen – welche die deutschen Fachgerichte angesichts der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG und der Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht von Verfassungs wegen zu berücksichtigen hätten98 – widerspreche,
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Ergebnis zust. Anm. Burchard JZ 2007 891 = JR 2007 117 mit zust. Bespr. Walter JR 2007 99 = StV 2008 1 mit teilweise krit. Bespr. Weigend StV 2008 39. BGH 5 StR 116/01 = NStZ 2002 168 = StV 2003 57 mit abl. Anm. Paulus StV 2003 57 ff.; den zugrunde liegenden Fall stellt aus der Sicht des Revisionsführers und seines Verteidigers näher vor Strate Die Abschaffung des Revisionsrechts durch die Beweisverbotslehre – Demonstriert am Beispiel des Falles Wilson Fernandes, HRRS 2008 76 ff. BGH 5 StR 475/02 = NStZ-RR 2004 5 (Ls.). Walther HRRS 2004 128. Fall LaGrand EuGRZ 2001 287 mit zust.
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98
Anm. Oellers-Frahm EuGRZ 2001 265 = JZ 2002 91 mit Anm. Hillgruber JZ 2002 94 sowie Fall Avena u.a. ILM 43 (2004) 581. BVerfGK 9 174 = NJW 2007 499 = NStZ 2007 159 = JZ 2007 887 mit krit., nur im Ergebnis zust. Anm. Burchard JZ 2007 891 = JR 2007 117 mit zust. Bespr. Walter JR 2007 99 = StV 2008 1 mit teilweise krit. Bespr. Weigend StV 2008 39. Was faktisch auch dann gilt, wenn diese Rspr. nicht in konkreten Rechtsstreitigkeiten gegenüber der Bundesrepublik Deutschland ergangen ist, vgl. BVerfG NJW 2007 502 zu Tz. 60 bis 62 (wo von einer „faktischen Präzedenzwirkung“ gesprochen wird).
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ohne sich mit dieser Rechtsprechung hinreichend auseinandergesetzt zu haben. Diese Missachtung der Berücksichtigungspflicht stelle eine Verletzung des Rechts auf ein rechtsstaatliches, faires Strafverfahren dar, das auch durch völkervertragsrechtliche Vorschriften ausgestaltet werde. Die Pflicht zur Belehrung über die konsularische Unterstützung obliege allen zuständigen Strafverfolgungsorganen und damit schon den festnehmenden Polizeibeamten. Nach der Rechtsprechung des IStGH sei überdies anzunehmen, dass Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK die Verteidigungsmöglichkeiten des ausländischen Beschuldigten konstituiere, weshalb die Vorschrift entgegen der Auffassung des BGH dessen verfahrensrechtliche Stellung berühre. Ob diese Interpretation der Rechtsprechung des IStGH durch die Kammer zutrifft, wird durchaus bezweifelt;99 dies kann und soll hier aber nicht vertieft werden. Zu der Frage, ob die Verletzung der Belehrungspflicht ein Beweisverwertungsverbot zur Folge hat, hat sich das BVerfG nicht geäußert; ein zwingendes Verwertungsverbot hat es jedenfalls verneint.100 Über diese Frage habe der BGH durch eine auf der Grundlage der Rechtsprechung des IStGH vorzunehmende erneute Auslegung von Art. 36 WÜK zu entscheiden. Hierbei könne der BGH auf seine zu den Folgen von Verstößen gegen Belehrungspflichten entwickelte Rechtsprechung zurückgreifen, wobei jene zu § 136 Abs. 1 nicht ohne weiteres auf den Fall einer Verletzung von Art. 36 WÜK übertragbar sein werde.101 Die Rechtsprechung des BGH in der Folgezeit hat sich uneinheitlich entwickelt. Nur 44 zwei Wochen, bevor der nach der Zurückverweisung zur Entscheidung berufene 5. Strafsenat abermals über die Rechtsfrage befand, hat sich der 1. Strafsenat zu der Problematik geäußert. Er hat die Annahme eines Beweisverwertungsverbotes für möglich erachtet, die Frage nach dessen Vorliegen in dem zu entscheidenden Fall (einer verspäteten Belehrung erst durch den Ermittlungsrichter) aber dahinstehen lassen, weil es für ihn infolge der Anwendung der sog. Widerspruchslösung darauf nicht ankam. Der Widerspruch habe spezifisch in Bezug auf die unterlassene Belehrung über das Recht auf konsularischen Beistand zu erfolgen, was der Revisionsführer versäumt habe. Ausdrücklich offen gelassen hat der Senat, ob ein solcher Verwertungswiderspruch auch bei gänzlich unterbliebener Belehrung erforderlich gewesen wäre.102 Demgegenüber hat sich der 5. Strafsenat in seinem Beschluss vom 25.9.2007 darauf 45 festgelegt, dass der vom 1. Strafsenat verlangte themenbezogene Widerspruch jedenfalls dann nicht als Rügevoraussetzung erforderlich sei, wenn die Belehrung zu keinem Zeitpunkt nachgeholt, der Verstoß also nicht geheilt worden ist. Denn andernfalls käme es zu dem aus Sicht des IStGH zu beanstandenden Ausschluss der Revisibilität. Ferner hat der Senat die Ansicht vertreten, dass ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 99
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Für primär konsularrechtlichen Charakter Burchard JZ 2007 892 ff. (mit der Annahme der Revisibilität sei der Rspr. des IStGH Genüge getan); vgl. auch Esser JR 2008 273; Kreß GA 2004 701 („Hilfe bei der Strafverteidigung“). BVerfGK 9 174, 195 = NJW 2007 503 unter Hinweis auf Paulus StV 2003 57, 58 (richtig: S. 59); ebenso Esser JR 2008 275; Kreß GA 2007 304 ff. und GA 2004 707; einschränkend Paulus/Müller StV 2009 499; a.A. Walther HRRS 2004 130 f. BVerfGK 9 174, 194 ff. = NJW 2007 502 ff., wobei die Kammer erstaunlich kon-
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krete Hinweise für den Abwägungsvorgang gibt. BGHSt 52 38, 41 f.; krit. zur Widerspruchslösung im Allgemeinen und gegen deren Anwendung im Fall einer Verletzung des Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK im Besonderen Gaede Schlechtverteidigung – Tabus und Präklusionen zum Schutz vor dem Recht auf wirksame Verteidigung, HRRS 2007 402, 405 f.; ungewöhnlich heftige Kritik an der Entscheidung findet sich bei Strate (s. Fn. 93) HRRS 2008 87, dort zu Fn. 83.
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Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK generell kein Beweisverwertungsverbot nach sich ziehe, das anzunehmen Völker- oder Verfassungsrecht nicht geböten.103 Insoweit stelle sich die Rechtslage in Abwägung der widerstreitenden Interessen namentlich unter Berücksichtigung von Art und Gewicht des Verstoßes und von wesentlichen Belangen der Urteilsfindung im Strafverfahren anders dar als bei der in § 136 Abs. 1 Satz 2 vorgeschriebenen Belehrung über das Schweigerecht und das Verteidigerkonsultationsrecht. Durch diese würden die wesentlichen Rechte des Beschuldigten auf Selbstbelastungsfreiheit und effektive Verteidigung unmittelbar bezogen auf die Vernehmungssituation zentral geschützt. Die einem Beschuldigten nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK zu erteilende Belehrung sei diesen Belehrungspflichten hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und – was für die Annahme eines Verwertungsverbots wesentlich sein könne – ihrer Bedeutung für ein mögliches Beweisergebnis zu Lasten des Beschuldigten nicht ausreichend ähnlich. Allerdings dürfe die Verletzung des Verfahrensrechts nicht folgenlos bleiben. Deshalb müsse der Betroffene jedenfalls dann, wenn eine erhebliche Strafe verhängt worden sei und der Verstoß nicht nur kurzfristig gewirkt habe, eine Wiedergutmachung für die erlittene Beeinträchtigung seiner Rechtsposition aus Art. 36 WÜK durch Kompensation in der Weise erhalten, dass ein bestimmter Teil der verhängten Freiheitsstrafe (im Sinne der sog. „Vollstreckungslösung“) als vollstreckt gelte.104 Der 3. Strafsenat ist dem hinsichtlich der Ablehnung eines Beweisverwertungsverbo- 46 tes mit im Wesentlichen gleich lautender Begründung gefolgt. Er hat aber auch eine Kompensation im Weg der Vollstreckungslösung verworfen und dies damit begründet, dass die Rechtsfolgen, die Verletzungen des Verfahrensrechts im Revisionsverfahren nach sich ziehen, in den Vorschriften über die Revision abschließend geregelt seien und es dem Staat verwehrt sei, auf Verfahrensverstöße, die sich auf das Urteil ausgewirkt haben, mit einem Strafabschlag zu reagieren; andernfalls komme es zu einer nicht hinnehmbaren Relativierung des Verfahrensrechts.105 Gegen die neue Entscheidung des 5. Strafsenats (Rn. 45) ist abermals Verfassungsbe- 47 schwerde erhoben worden, über die das BVerfG am 8.7.2010 entschieden hat.106 Es hat auch die zweite Revisionsentscheidung des BGH wegen Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren aufgehoben und die Sache nach § 95 Abs. 2 BVerfGG an einen anderen Strafsenat des BGH zurück verwiesen.107 Auf der Grundlage einer reduzierten verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte, wonach das Fachgericht nur bei erkennbar fehlerhafter Rezeption gegen die Berücksichtigungspflicht verstoße,108 hat das BVerfG wiederum – auf prozeduraler Ebene – beanstandet, dass der BGH seiner verfassungsrechtlichen
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Dezidiert gegen ein Beweisverwertungsverbot auch Esser JR 2008 275 f. BGHSt 52 48, 54 ff.; zust. Kreß GA 2007 306; HK-GS/Laue 8; AnwK-StPO/Lammer 5; Schomburg/Schuster NStZ 2008 596 f. BGHSt 52 110, 114 ff.; zust. Graf/Krauß 10; gegen die Kompensation auf der Rechtsfolgenebene auch Meyer-Goßner/Schmitt 9; Paulus/Müller StV 2008 500 f.; Kraatz Die neue „Vollstreckungslösung“ und ihre Auswirkungen, JR 2008 189, 194; Esser JR 2008 277. Kritik wegen der unterlassenen Vorlage der Sache an den Großen Senat findet sich bei Schomburg/Schuster NStZ 2008 597 und Paulus/Müller StV 2008 495; dieses
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Unterlassen lediglich bedauernd Esser JR 2008 278; die Voraussetzungen einer Divergenzvorlage nach § 132 GVG waren indessen nicht gegeben. BVerfG NJW 2011 207 = StV 2011 329 mit Bespr. Gless/Peters StV 2011 369. Nur betreffend den Beschwerdeführer aus dem Ausgangsverfahren 5 StR 475/02 des BGH; betreffend das Ausgangsverfahren 5 StR 116/01 sind die Verfassungsbeschwerden erfolglos geblieben, weil der Belehrungsverstoß nicht die Beschwerdeführer, sondern einen Mitangeklagten betroffen hatte. Vgl. dazu Gless/Peters StV 2001 369 f.
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Pflicht zur Berücksichtigung der Rechtsprechung des IStGH nicht in hinreichender Weise nachgekommen sei. Indem der BGH die Belehrung über das Recht auf konsularischen Beistand als für die Ausgestaltung der Verteidigung nicht zentrales pauschales Sonderrecht des Ausländers qualifiziert hat, habe er die vom IStGH „in aller Deutlichkeit geforderte – ergebnisneutrale – Prüfung“ der Frage, ob dem Beschuldigten im konkreten Einzelfall aus der fehlenden Belehrung im weiteren Verlauf des Strafverfahrens ein Nachteil im Sinne einer tatsächlichen Verschlechterung seiner verfahrensrechtlichen Stellung entstanden ist, gerade ausgeschlossen. Für die aufgrund einer Einzelfallprüfung zu entscheidende Frage, ob wegen eines solchen Nachteils ein Beweisverwertungsverbot anzunehmen sei, bleibe kein Raum, wenn und weil der BGH ein solches Verwertungsverbot schon auf der vorgelagerten Normebene ablehne.109 Das BVerfG hat wiederum betont, dass sich seine Beanstandung nicht auf das Ergebnis der angegriffenen Entscheidung beziehe und die innerstaatlichen Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Berücksichtigungspflicht von Verfassungs wegen nicht festgelegt seien. Zwar möge ein Widerspruch zwischen dem Prüfungsansatz des BGH und den Vorgaben des IStGB nicht bereits für sich genommen verfassungswidrig sein, da eine Abweichung von diesen Vorgaben mit Blick auf Grundrechte Dritter oder sonstige Verfassungsbestimmungen erforderlich sein könne. Es sei aber zum einen nicht ersichtlich, dass eine Abweichung zwingend geboten wäre; jedenfalls hätte der BGH sein Abweichen offen legen und die Gründe dafür benennen müssen, woran es gefehlt habe, weil der BGH auf die zentralen Aussagen der AvenaEntscheidung nicht einmal eingegangen sei. Zur Behandlung des Belehrungsverstoßes hat sich das BVerfG recht deutlich positio48 niert: Einem durch den Belehrungsverstoß verursachten Nachteil könne bereits im Rahmen der Beweiserhebung und Beweiswürdigung Rechnung getragen werden.110 Das BVerfG wiederholt in diesem Zusammenhang auch seinen bereits 2006 gegebenen Hinweis auf die verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsprechung des BGH zu nicht speziell geregelten Beweisverwertungsverboten und die grundsätzliche Anwendbarkeit der Abwägungslösung, wobei die Kammer einen Zusatz dahin anbringt, dass bei der Bestimmung des Schutzzweckes zukünftig die Vorgaben des IStGH zu berücksichtigen seien. Auch im Revisionsverfahren ließen sich diese Vorgaben umsetzen. Auffällig ist der wiederholte Hinweis der Kammer auf die Ausführungen des GBA in dessen Antrag auf Verwerfung der Revision, die nach Auffassung des BVerfG in die Richtung deuteten, dass auch bei der gebotenen Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des IStGH kein anderes Ergebnis zu erzielen gewesen wäre, weil die Prüfung im innerstaatlichen Revisionsverfahren im konkreten Fall nur zu der Verneinung eines Beweisverwertungsverbotes oder der Beruhensfrage führen könne. Dass die „Weichen nunmehr klarer in Richtung eines Beweisverwertungsverbotes als angemessene Sanktion für die Verletzung der Belehrungspflicht nach dem WÜK gestellt“ seien,111 kann den Gründen hiernach nicht entnommen werden. Mit der Anwendung der sog. Vollstreckungslösung hat sich die Kammer des BVerfG im Übrigen nicht näher befasst; sie hat diese auch nicht als solche kritisiert,112 sondern ausdrücklich offen gelassen, ob eine Kompensation auf der Rechtsfolgenebene „im Einzelfall in der Lage sein könnte“, den in der Missachtung der Berücksichtigungspflicht liegenden Grundrechtsverstoß auszuräumen.113
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BVerfG NJW 2011 209 f. BVerfG NJW 2011 210 unter Hinweis auf Esser JR 2008 276 f. So Gless/Peters StV 2011 370.
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So aber Gless/Peters StV 2011 370. BVerfG NJW 2011 211 zu B I. 2. b) ee) der Gründe.
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Nach der erneuten Zurückverweisung der Sache an den BGH war dessen mit der 49 Thematik noch nicht befasster 4. Strafsenat zur Entscheidung berufen. Dieser hat in seinem Beschluss vom 7.6.2011114 angenommen, dass das Fehlen eines spezifizierten Widerspruchs der Geltendmachung des Belehrungsverstoßes jedenfalls deshalb nicht entgegenstehe, weil die Belehrung auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt ist. Denn die vom IStGH verlangte Möglichkeit einer umfassenden Überprüfung und Neubewertung des Schuld- und Strafausspruchs dürfe nicht unter Hinweis auf das Fehlen eines nach nationalem Prozessrecht erforderlichen Einwandes ausgeschlossen werden. In der Sache sei ein Beweisverwertungsverbot nicht von vornherein ausgeschlossen, sondern es sei entsprechend der Rechtsprechung des IStGH im Einzelfall zu untersuchen, ob dem Betroffenen aus dem Belehrungsverstoß im weiteren Verfahrensverlauf tatsächlich ein Nachteil entstanden ist, wobei die Grundsätze der Abwägungslehre anzuwenden seien. Den Schutzzweck der Belehrung hat der Senat in Übereinstimmung mit dem BVerfG und im Anschluss an Esser115 dahin bestimmt, dass sie die Verwirklichung des Rechts auf konsularische Unterstützung bei der effektiven Wahrnehmung der eigenen Verteidigungsrechte gewährleisten solle, wobei im Zentrum dieser Unterstützung die Vermittlung anwaltlichen Beistands stehe; geschützt werde nicht speziell die Aussagefreiheit, sondern allgemein das Recht des Beschuldigten auf effektive Verteidigung. Im zu entscheidenden, konkreten Fall führte der Abwägungsvorgang nach Ansicht des 50 BGH zu einem derart eindeutigen Ergebnis, dass die Entscheidung kaum Hinweise gibt, welche Maßstäbe in weniger klaren Fällen gelten werden. Der Senat hat116 folgende Gesichtspunkte genannt, die bei der Abwägung zur Verneinung eines Beweisverwertungsverbotes führten: Der Angeklagte, ein türkischer Staatsangehöriger, hatte keine „ausländerspezifischen Verteidigungsdefizite“; er war in Deutschland geboren und aufgewachsen, hatte keine sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten oder Sozialisationsdefizite, sondern lebte insgesamt integriert in Deutschland. Vor seiner maßgeblichen Beschuldigtenvernehmung bei der Polizei war er ausführlich über sein Recht auf Verteidigerkonsultation belehrt worden. Nachdem er bereits verteidigt war (und damit der Zustand hergestellt war, den sicherzustellen der Hauptzweck des Art. 36 Abs. 1 WÜK sei), wiederholte er seine Angaben aus der ersten polizeilichen Beschuldigtenvernehmung.117 Dem öffentlichen Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung kam angesichts der Schwere des in Rede stehenden Kapitalverbrechens besondere Bedeutung zu. Schließlich hätten die Polizeibeamten die Belehrung nicht unter bewusster Umgehung der Vorschrift unterlassen, zumal nach damaliger verbreiteter Rechtsauffassung118 die Polizei nicht die für die Belehrung „zuständige Behörde“ war. Ein Beruhen des Urteils „in sonstiger Weise auf der unterbliebenen Belehrung“ hat der BGH ausgeschlossen. Mit der Frage, was unter einem Nachteil zu verstehen ist, hat sich der Senat zwar nicht ausdrücklich beschäftigt. Aus den zutreffenden Ausführungen zum Schutzzweck kann aber entnommen werden, dass es in erster Linie um die Beeinträchtigung der Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten geht. Von der Anwendung der Vollstreckungslösung auf den Belehrungsverstoß nach WÜK hat sich der 4. Strafsenat distanziert, ohne diese Frage ab-
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BGH StV 2011 603 = StraFo 2011 319. Esser JR 2008 274 f. Im Anschluss an die erwähnte Stellungnahme des GBA (vgl. Rn. 48). Diesen Aspekt hatte die Revision verschwiegen, was nach Auffassung des BGH die Ver-
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werfung der Revision als unzulässig zur Folge gehabt hätte. Daran sah sich der Senat indessen durch die Bindungswirkung der Entscheidung des BVerfG gehindert. Vgl. noch BGH NStZ 2002 168.
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schließend zu beantworten, weil es im konkreten Fall an einem Nachteil im Sinne der Rechtsprechung des IStGH fehle.119
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bb) Bedeutung für die aktuelle Rechtslage. Die aus der Verfassung abgeleitete Berücksichtigungspflicht ist auch für die (völkerrechtskonforme) Auslegung der neuen Norm von Bedeutung. Bei der Prüfung eines grundsätzlich in Betracht kommenden Beweisverwertungsverbotes wird im Rahmen der Abwägung zwar zu beachten sein, dass nunmehr ein ausdrücklicher Gesetzesbefehl zur Belehrung auch in der StPO enthalten ist. Gleichwohl wird sich ein Verwertungsverbot nur in Ausnahmefällen annehmen lassen.120 Der Belehrungsverstoß kann mit der Revision geltend gemacht werden. Die Frage, ob das Urteil auf dem Verfahrensmangel beruht (§ 337), ist im Einzelfall nach den allgemeinen Grundsätzen zu beurteilen,121 wobei ein Beruhen wohl in der Regel zu verneinen sein wird.122 Dass ein über das Recht auf konsularischen Beistand belehrter Beschuldigter (aus diesem Grunde) regelmäßig von einer (belastenden) Aussage absehen und vielmehr zunächst Kontakt mit seinem Konsulat aufnehmen werde,123 ist eine These, die mit den Beobachtungen aus der Praxis schwerlich in Einklang zu bringen ist,124 nicht nur in den zahlreichen Fällen, in denen der ausländische Beschuldigte mit der Lebenswirklichkeit des Empfangsstaates schon vertraut ist. Ungeachtet dessen ist nicht anzunehmen, dass sich die unterlassene oder verspätete Belehrung über das Recht auf konsularischen Beistand auf die Aussage eines im Übrigen nach § 114b (insbesondere Absatz 2 Satz 1 Nummern 2, 4 und 4a) vollständig und ordnungsgemäß belehrten Beschuldigten auswirken wird.125 Eine mitunter befürwortete Kausalitätsvermutung126 ist aber nicht nur aus diesem Grund abzulehnen, sondern auch deshalb, weil die Organe des Festnahmestaates nach der Rechtsprechung des IGStH nicht gehalten sind, die Belehrung schon vor der
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Allerdings hat der Senat mit Blick auf eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung im Revisionsverfahren eine Kompensation nach der Vollstreckungslösung ausgesprochen. Hierzu instruktiv Weigend StV 2008 43: Denkbar etwa in Fallgestaltungen, in denen – wie im Fall LaGrand – die gebotene Belehrung während des gesamten Verfahrens unterbleibt und der Beschuldigte deshalb gar keinen oder nur einen ungeeigneten Verteidiger hat. Beachtenswerte Vorschläge zur Kompensation des Gesetzesverstoßes schon im Rahmen der Beweiserhebung finden sich bei Esser JR 2008 276, der auch zutreffend eine Beweiswürdigungslösung verwirft (aaO S. 276 f.). Für eine Modifikation der Beweisverwertungslehre in Fällen mit internationalem Bezug und im Ergebnis für die Annahme eines Beweisverwertungsverbotes treten ein Gless/Peters StV 2011 373 ff. Esser JR 2008 278; Kreß GA 2007 307; Weigend StV 2008 43; Meyer-Goßner/ Schmitt 9. Die von Walther HRSS 2004 131 erhobene Forderung nach einem neuen absoluten Revisionsgrund ist demgegenüber
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nicht zu begründen, dagegen zutreffend Esser JR 2008 277 und Weigend StV 2008 42. Kreß GA 2007 307; Weigend StV 2008 43; Graf/Krauß 10. Zum Beruhen vgl. auch Esser JR 2008 278. Paulus/Müller StV 2008 500. Vgl. Walter JR 2007 100: „Allerdings hat jene Belehrung kaum je einen Beschuldigten bewogen, konsularischen Beistand in Anspruch zu nehmen“. A.A. (für die Belehrung nach § 136 Abs. 1 S. 2) Paulus/Müller StV 2008 500, die ersichtlich aber auch anzweifeln, dass ein Beruhen auszuschließen ist, wenn der Beschuldigte nach einer verspäteten Belehrung ausdrücklich die Benachrichtigung des Konsulats abgelehnt hat (demgegenüber nimmt der IStGH an, dass bei einem Verzicht des Betroffenen der Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b. WÜK entfällt, vgl. dazu näher Esser JR 2008 272 bei Fn. 24). Gless/Peters StV 2011 372, allerdings mit der Einschränkung, die Kausalität „müsste wohl“ vermutet werden.
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ersten Vernehmung zu erteilen oder mit der Vernehmung bis zu einer Kontaktaufnahme mit dem Konsulat zuzuwarten.127 Gegen die Vollstreckungslösung (und jede andere „Strafzumessungslösung“)128 spricht die Tatsache, dass der IStGH eine Nachprüfung des Schuld- und Strafausspruchs und damit auch eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Belehrungsausfalls auf den Schuldspruch verlangt, die bei einer Überprüfung und Kompensation allein auf der Rechtsfolgenebene nicht möglich ist.129 4. Sonstiges. Der Haftrichter hat in der Vorführungsverhandlung nach § 115 bzw. 52 § 128 zu prüfen, ob bei der (vorläufigen) Festnahme die aus § 114b folgenden Pflichten erfüllt worden sind und etwaige Versäumnisse auszugleichen. Er ist aber nicht gehalten, die in § 114b vorgeschriebenen Belehrungen „rein vorsorglich“ zu wiederholen.130 Auch ist er ohne konkrete Anhaltspunkte in der Verhandlung nach § 128 nicht verpflichtet, den Beschuldigten zu befragen, ob dieser die ihm bei der vorläufigen Festnahme erteilten Belehrungen inhaltlich zutreffend erfasst hat.131 Hierfür bieten weder der Wortlaut der beteiligten Vorschriften noch die Gesetzesmaterialien einen Anknüpfungspunkt. Es wäre auch zu erwarten, dass eine solche Verfahrensweise einen unnötigen, der eigentlichen Sacharbeit wenig zuträglichen Formalismus auslöste. Die Erfahrung zeigt, dass derartige Nachfragen bei den Betroffenen nicht selten die (unbegründete) Erwartung hervorrufen, man solle sich „die Sache also besser doch noch einmal genauer erklären lassen“. Schließlich führt auch nicht die Anordnung des Vollzugs der Untersuchungshaft dazu, dass der Haftrichter die Belehrungen nach § 114b nochmals vornehmen sollte.132 Im Einzelfall kann es jedoch sachgerecht sein, nach der Anordnung des Vollzugs der Untersuchungshaft das (aktive) Benachrichtigungsrecht in Erinnerung zu rufen, weil ein Festgenommener zunächst mit guten Gründen von einer Benachrichtigung Abstand genommen und sich mit der Inhaftierung sodann etwaige Hoffnungen zerschlagen haben und eine die Psyche belastende Zäsur eingetreten sein können. In diesem Zusammenhang sollte allerdings die praktische Bedeutung der Frage einer mitunter geforderten133 erneuten Belehrung nicht überschätzt werden, weil in der haftrichterlichen Praxis die Frage an den Beschuldigten, ob eine Benachrichtigung gewünscht sei, zum üblichen Ablauf gehört und zu erwarten ist, dass der Beschuldigte sich jedenfalls hierdurch an die ihm zuvor erteilte (in den Händen gehaltene) Belehrung erinnern wird, so dass eine Rechtsverkürzung nicht zu befürchten ist. Im Übrigen tritt die Benachrichtigungspflicht des Gerichts nach § 114c Abs. 2 hinzu. 5. Europarechtliche Entwicklungen und Reformvorhaben. Soweit es um Kommuni- 53 kations- und Konsultationsrechte des Beschuldigten geht, ist der Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf
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Kreß GA 2007 306; Weigend StV 2008 42; Esser JR 2008 274. Dafür aber – beim Fehlen einer Einlassung – Walter JR 2007 102, der einer Strafmilderung „immerhin … gegenüber den Strafverfolgungsbehörden eine gewisse disziplinierende Wirkung“ beimessen will. Dies kann nicht überzeugen, da die strafverfahrensrechtliche Beurteilung der vorliegenden Problematik nichts mit der Disziplinierung von Polizeibeamten zu tun hat. Esser JR 2008 277; Weigend StV 2008 44.
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Siehe aber Weider StV 2010 104; Schlothauer/Weider Rn. 339: der Haftrichter sollte dies tun, weil die Belehrungspflichten nach § 114b weitergehend seien als jene nach § 115 Abs. 3. In diesem Sinne Weider StV 2010 104 („sollte“). So aber Weider StV 2010 104 („empfiehlt sich“). Weider StV 2010 104; Schlothauer/Weider Rn. 330.
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Rechtsbeistand in Strafverfahren und das Recht auf Kontaktaufnahme bei der Festnahme134 zu beachten, der die dritte Maßnahme des sog. Fahrplans zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen und Beschuldigten in Strafverfahren (s. Fn. 10) betrifft.135
§ 114c (1) Einem Verhafteten ist unverzüglich Gelegenheit zu geben, einen Angehörigen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen, sofern der Zweck der Untersuchung dadurch nicht gefährdet wird. (2) 1Wird gegen einen verhafteten Beschuldigten nach der Vorführung vor das Gericht Haft vollzogen, hat das Gericht die unverzügliche Benachrichtigung eines seiner Angehörigen oder einer Person seines Vertrauens anzuordnen. 2Die gleiche Pflicht besteht bei jeder weiteren Entscheidung über die Fortdauer der Haft.
Schrifttum. Siehe bei § 114a.
Änderung. Die Vorschrift ist durch Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274) mit Wirkung zum 1.1.2010 an die Stelle des bisherigen § 114b a.F. getreten und neu gefasst worden. Übersicht Rn. 1. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . 3. Einzelfragen
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a) Benachrichtigungsrecht (Absatz 1) . . b) Benachrichtigungspflicht (Absatz 2) . .
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1. Bedeutung. Ihre eigentliche Bedeutung hat die Neuregelung nach der Vorstellung des Gesetzgebers durch die Vorverlagerung des (aktiven) Benachrichtigungsrechts des Beschuldigten auf den Zeitpunkt der vorläufigen Festnahme (durch die Verweisung in § 127 Abs. 4, s. Rn. 2) entsprechend den Forderungen des CPT1. Materiell entspricht die neue Vorschrift weitgehend ihrer Vorgängerin, § 114b a.F. Die beiden Absätze sind umgestellt worden, was allgemein die Subjektstellung des Beschuldigten im Strafverfahren hervorheben mag, insbesondere aber aus Gründen der Gesetzessystematik das Gewicht
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KOM (2011) 326 endg. vom 8.6.2011. Dazu näher Brodowski ZIS 2011 947; Dettmers/Dimter SchlHA 2011 349, 351; C. Gatzweiler StraFo 2011 296; s. auch die Stellungnahme Nr. 2/2013 der BRAK (http://www.brak.de/zur-rechtspolitik/ stellungnahmen-pdf/stellungnahmendeutschland/2013/januar/stellungnahme-derbrak-2013-02.pdf).
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Vgl. hierzu die Erl. zu § 114a, 1 und § 114b, 1 in diesem Nachtrag. Im Schrifttum war teilweise schon nach bisheriger Rechtslage eine Benachrichtigungspflicht angenommen worden, vgl. die Nachw. bei LR/Hilger § 114b, 7 zu Fn. 11 im HW.
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des aktiven Benachrichtigungsrechts hervorhebt. Dieses ist unabhängig von den staatlichen Benachrichtigungspflichten und steht als individualschützendes subjektives Recht gleichrangig neben diesen.2 2. Geltungsbereich. Aufgrund der Verweisungen in den §§ 127 Abs. 4, 127b Abs. 1 2 Satz 2, 163c Abs. 1 Satz 3, 453c Abs. 2 Satz 2 gelten das Benachrichtigungsrecht sowie die Benachrichtigungspflicht nunmehr ausdrücklich für vorläufige Festnahmen durch Polizei oder Staatsanwaltschaft und das Festhalten zum Zweck der Identitätsfeststellung3 entsprechend; gleiches gilt für den Sicherungshaftbefehl. Anwendbar ist die Regelung ferner auf sonstige Verhaftungen, nämlich solche aufgrund eines Unterbringungsbefehls (§ 126a Abs. 2 Satz 1) und aufgrund eines Haftbefehls in den Fällen der §§ 230 Abs. 2, 236, 329 Abs. 4, 412 Satz 1.4 3. Einzelfragen a) Benachrichtigungsrecht (Absatz 1). Dass dem Beschuldigten die Gelegenheit zur 3 Wahrnehmung seines (aktiven) Benachrichtigungsrechts „unverzüglich“ zu gewähren ist, stellt eine Neuerung gegenüber § 114b Abs. 2 a.F. dar und soll nach der Gesetzesbegründung der Klarstellung dahin dienen, dass das Recht „nicht etwa erst nach der Vorführung vor den Richter entsteht“.5 Tatsächlich war die bisherige Behandlung des Benachrichtigungsrechts gekennzeichnet durch die hergebrachte Vorstellung über die Rechtsgewährung durch einen sog. Zugangsbrief, über die (erst) der Richter entscheide,6 der auch den Empfänger einer solchen (schriftlichen, auf dem Postweg zu versendenden) Nachricht bestimme.7 Dementsprechend wurde dem Beschuldigten nach bisheriger Praxis auch im Fall einer Verhaftung aufgrund eines Haftbefehls die Benachrichtigung nicht schon vor seiner Zuführung vor den Richter, vielfach auch nicht einmal vor der Vernehmung ermöglicht, sondern erst im Falle einer Haftanordnung im Anschluss an diese. Mit der Neuregelung ist der eindeutige Gesetzesbefehl ausgesprochen, dass dem Be- 4 schuldigten sein Recht unverzüglich nach der Festnahme schon durch den Verhaftenden zu gewähren ist, wobei grundsätzlich auch die Nutzung moderner Kommunikationsmittel einzuräumen ist,8 sofern auch in diesen Fällen die zum Ausschluss von Missbrauch gebotene Überwachung gewährleistet ist. Die Ansicht, es genüge, dass die Erstbenachrichtigung von einem Vertreter einer Strafverfolgungsbehörde vorgenommen wird, ist ungeachtet der ratio legis mit dem Wortlaut unvereinbar und kann auch nicht mit dem fortbestehenden Recht des Beschuldigten auf Briefverkehr begründet werden.9 Der Wert einer persönlichen Benachrichtigung von Angehörigen durch den Beschuldigten sollte
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SK/Paeffgen 3; Radtke/Hohmann/Tsambikakis 7. Dies sah schon § 163c Abs. 2 a.F. vor, der aufgehoben worden ist. Nicht aber für die Vorführungen nach diesen Vorschriften, vgl. SK/Paeffgen 4; Kritik wegen der unterlassenen Erstreckung auf Erzwingungs- und Ordnungshaft bei Michalke NJW 2010 19. BTDrucks. 16 11644, S. 18 (die Gesetzesbegründung hat die angestrebte geschlechtsneutrale Terminologie verfehlt).
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KK/Graf § 114b, 8; HK/Lemke § 114b, 13. Meyer-Goßner/Schmitt 2; AnwK-UHaft/ König 3. Meyer-Goßner/Schmitt 1; AnwK-StPO/Lammer 8; Michalke NJW 2010 19, der zutreffend darauf hinweist, dass dies besondere Bedeutung bei erforderlicher Benachrichtigung von Angehörigen im Ausland hat. So aber Bittmann NStZ 2010 15 (der allerdings ungeachtet der Neufassung des § 119 auch annimmt, dass der Briefverkehr regelmäßig überwacht werde).
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nicht zu gering geschätzt, das aktive Benachrichtigungsrecht insbesondere nicht als „weitgehend überflüssig“10 erachtet werden. Der Vorbehalt der Gefährdung des Untersuchungszwecks hat einen geringeren An5 wendungsbereich, als mitunter angenommen wird.11 Das einmalig gegebene, auf den Zeitpunkt der Verhaftung beschränkte Benachrichtigungsrecht kann nicht ganz entfallen, sondern nur Einschränkungen hinsichtlich der Art und Weise der Benachrichtigung oder des Empfängerkreises erfahren, soweit dies mit Blick auf die Sicherung des Untersuchungszecks unerlässlich ist.12 Hierbei ist der Zweck der im Interesse einer wirksamen Strafrechtspflege eingefügten Einschränkung zu bedenken: Nicht selten sind nach einer Festnahme noch weitere Ermittlungstätigkeiten durchzuführen, deren Erfolg gefährdet sein könnte, wenn der Verhaftete unmittelbar nach der Festnahme ohne Einschränkung andere Personen von der Verhaftung informieren würde.13 Demgegenüber dürfen etwa Gesichtspunkte der Vereinfachung oder Beschleunigung von Verfahrensabläufen keine Rolle spielen.14
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b) Benachrichtigungspflicht (Absatz 2). Hinsichtlich der gerichtlichen Benachrichtigungspflicht gemäß Absatz 2 Satz 1 soll die Neuregelung nach der Vorstellung des Gesetzgebers auch im Fall der Verhaftung aufgrund eines Haftbefehls keine bedeutsamen materiellen Änderungen zur Folge haben. Dies trifft im Ergebnis zu, weshalb im Grundsatz auf die Erläuterungen zu § 114b a.F. verwiesen werden kann. Allerdings wird im Schrifttum beanstandet, dass mit der Formulierung „wird … Haft 7 vollzogen“ für den Beschuldigten eine Verschlechterung der Rechtslage eingetreten sei. Denn nach bisherigem Recht sei unverzüglich nach der Festnahme ein Angehöriger oder eine Person des Vertrauens zu benachrichtigen gewesen, während die gerichtliche Benachrichtigungspflicht nunmehr erst nach der Vorführung bei vollzogener Haft greife, was jedenfalls bei einem Ausschluss des Benachrichtigungsrechts wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks auch zu einer tatsächlichen Schlechterstellung des Beschuldigten führe.15 Diese Kritik trifft zwar bei formaler Betrachtung zu. Sie basiert aber auf einer Annahme, die für die alte Rechtslage in der Praxis keine Geltung hatte. Nach § 114b Abs. 1 Satz 2 a.F. war für die Anordnung der (vermeintlich) unverzüglichen Benachrichtigung der Richter zuständig. Darauf gründete sich die Auslegung, dass für die Frage der Unverzüglichkeit die Zeitspanne in den Blick zu nehmen sei, die nach der ersten Befassung des Richters mit der Angelegenheit lief,16 sodass nach bisheriger Praxis die Benachrichtigung im Regelfall nicht schon bei der Verhaftung oder vor der Zuführung des Beschuldigten vor den Richter oder zumindest vor der Vernehmung vorgenommen wurde, sondern ebenfalls erst im Falle einer Haftanordnung.
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So indessen SK/Paeffgen 3; HK/Posthoff 2. Vgl. etwa Tsambikakis ZIS 2009 508; Radtke/Hohmann/Tsambikakis 15f. Die Kritik an der Vorbehaltsklausel, etwa auch bei Paeffgen GA 2009 454, beachtet nicht hinreichend die gebotene Differenzierung zwischen dem (aktiven) Recht des Beschuldigten auf Benachrichtigung und der staatlichen Benachrichtigungspflicht. LR/Hilger § 114b, 32 im HW; AnwK-UHaft/ König 2; Meyer-Goßner/Schmitt 1; AnwKStPO/Lammer 8; KMR/Wankel 2; HK-GS/
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Laue 3; a.A. Graf/Krauß 2 (jedoch ohne eindeutige Begründung: „je nach Gefährdungslage“). BTDrucks. 16 11644, S. 18. Dem kann keinesfalls entgegen gehalten werden, dass in hochkriminellen Strukturen die Verhaftung zentraler Figuren ohnehin auffallen werde; so jedoch Tsambikakis ZIS 2009 508. Vgl. SK/Paeffgen 7: „Ausflucht der Bequemlichkeit“. Tsambikakis ZIS 2009 508. Vgl. LR/Hilger § 114b, 21 ff. im HW.
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Jedenfalls vor dem Hintergrund des vom Gesetzgeber erhobenen Anspruchs einer Präzisierung der Norm17 erscheint das Tatbestandsmerkmal „anzuordnen“ in Satz 1 angesichts des durchgängigen Bestrebens um Beschleunigung als gesetzgeberische Fehlleistung. Da die neue Norm die bisherige Rechtslage sicher nicht verschlechtern sollte, kann man nicht ernsthaft annehmen, dass nicht mehr – wie im bisherigen § 114b – die Benachrichtigung selbst, sondern lediglich deren Anordnung den Anknüpfungspunkt für die Unverzüglichkeit des staatlichen Handelns bilden soll. Der in der alten Fassung (aber in anderem Zusammenhang) enthaltene Begriff der Anordnung ist offenbar ohne Problembewusstsein übernommen worden, und auch die „geschlechtsneutralen Sprachbemühungen“ haben das Ihre zur jetzigen Fassung beigetragen: Mit dem „Gericht“ soll der bzw. die amtierende Haftrichter(in) gemeint sein, aber nach zutreffender Interpretation obliegt die Ausführung der richterlichen Anordnung der gerichtlichen Geschäftsstelle18 und damit institutionell ebenfalls „dem Gericht“. Ungeachtet der missglückten Vorschrift ist selbstverständlich (auch) die Ausführung, also die tatsächliche Benachrichtigung unverzüglich vorzunehmen. Anstelle des Tatbestandsmerkmals „anzuordnen“ ist deshalb das Wort „vorzunehmen“ in den Text zu lesen. Die alleinige Zuständigkeit des Gerichts19 verbietet zugleich die Annahme, das Gericht könne die Benachrichtigung durch die Staatsanwaltschaft vornehmen lassen.20 Das Gericht ist auch dann zur Benachrichtigung verpflichtet, wenn zuvor bereits die Polizei21 oder die Staatsanwaltschaft eine solche vorgenommen hat.22 Es ist von seiner eigenen Pflicht auch nicht enthoben, wenn es sich vergewissert, ob eine vorherige Benachrichtigung durch Unzuständige tatsächlich beim Empfänger angekommen ist.23 In Jugendverfahren sind die Erziehungsberechtigten bzw. gesetzlichen Vertreter zu benachrichtigen. Die Unterrichtung der Jugendgerichtshilfe ist in § 72a JGG besonders geregelt.24 Die Benachrichtigungspflicht bei Entscheidungen über die Haftfortdauer (Satz 2) wird auch durch die Information eines Pflichtverteidigers erfüllt.25
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BTDrucks. 16 11644, S. 17. KMR/Wankel 7; SK/Paeffgen 14. Zutreffend in aller Klarheit, wenn auch nicht in politisch korrekter Terminologie, AnwKStPO/Lammer 7: „ausschließlich der Richter“. HK-GS/Laue 8; a.A. Radtke/Hohmann/ Tsambikakis 5 mit der unverständlichen Begründung, die Staatsanwaltschaft habe nach § 36 Abs. 1 „ohnehin die erforderlichen Zustellungen zu veranlassen.“ Diese fehlerhafte Argumentation beruht ersichtlich auf der Übernahme einer Passage aus einer Entscheidung des BVerfG zum Rechtszustand vor dem 1.1.1975. Dezidiert gegen eine solche Praxis LR/Hilger § 114b, 27 im HW. Großzügiger Münchhalffen/Gatzweiler Rn. 268, die aber gleichwohl die gerichtliche Pflicht nicht entfallen lassen: Wenn der Beschuldigte einverstanden
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sei, solle einer polizeilichen Benachrichtigung im Interesse der Beschleunigung nicht entgegengetreten werden. A.A. KMR/Wankel 7 („Benachrichtigung durch jedes Staatsorgan ersetzt die Tätigkeit des zuständigen Richters“); Graf/Krauß 7 und Meyer-Goßner/Schmitt 8 (Belehrung durch Polizei oder StA brauche nicht wiederholt zu werden). Diese Ansicht trifft – ungeachtet des entgegen stehenden Wortlauts – auch mit Blick auf die praktische Umsetzung schon deshalb nicht zu, weil die Benachrichtigung die Angabe des Verbleibs, mithin auch die konkrete JVA, enthalten muss. So aber SK/Paeffgen 14; HK/Posthoff 14. Es handelt sich hierbei nicht um einen Unterfall des 114c, vgl. KMR/Wankel 8; unklar HK-GS/Laue 10 f. KMR/Wankel 3 f.; entgegen AnwK-UHaft/ König 8 nicht nur „in aller Regel“.
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§ 114d StPO Nachtr.
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§ 114d (1) 1Das Gericht übermittelt der für den Beschuldigten zuständigen Vollzugsanstalt mit dem Aufnahmeersuchen eine Abschrift des Haftbefehls. 2Darüber hinaus teilt es ihr mit 1. die das Verfahren führende Staatsanwaltschaft und das nach § 126 zuständige Gericht, 2. die Personen, die nach § 114c benachrichtigt worden sind, 3. Entscheidungen und sonstige Maßnahmen nach § 119 Abs. 1 und 2, 4. weitere im Verfahren ergehende Entscheidungen, soweit dies für die Erfüllung der Aufgaben der Vollzugsanstalt erforderlich ist, 5. Hauptverhandlungstermine und sich aus ihnen ergebende Erkenntnisse, die für die Erfüllung der Aufgaben der Vollzugsanstalt erforderlich sind, 6. den Zeitpunkt der Rechtskraft des Urteils sowie 7. andere Daten zur Person des Beschuldigten, die für die Erfüllung der Aufgaben der Vollzugsanstalt erforderlich sind, insbesondere solche über seine Persönlichkeit und weitere relevante Strafverfahren. 3Die Sätze 1 und 2 gelten bei Änderungen der mitgeteilten Tatsachen entsprechend. 4Mitteilungen unterbleiben, soweit die Tatsachen der Vollzugsanstalt bereits anderweitig bekannt geworden sind. (2) 1Die Staatsanwaltschaft unterstützt das Gericht bei der Erfüllung seiner Aufgaben nach Absatz 1 und teilt der Vollzugsanstalt von Amts wegen insbesondere Daten nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 7 sowie von ihr getroffene Entscheidungen und sonstige Maßnahmen nach § 119 Abs. 1 und 2 mit. 2Zudem übermittelt die Staatsanwaltschaft der Vollzugsanstalt eine Ausfertigung der Anklageschrift und teilt dem nach § 126 Abs. 1 zuständigen Gericht die Anklageerhebung mit.
Schrifttum. Siehe bei § 114a.
Änderung. Die Vorschrift ist durch Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274) mit Wirkung zum 1.1.2010 neu in die StPO eingefügt worden. Übersicht Rn. I. Bedeutung
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II. Gesetzgebungskompetenz
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III. Einzelfragen 1. Mitteilungspflichten des Gerichts (Absatz 1) a) Übermittlung einer Haftbefehlsabschrift (Satz 1) . . . . . . . . . b) Katalog mitzuteilender Inhalte nach Satz 2 aa) Zu den Nummern 1, 2, 3 und 6
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Rn. bb) Zu den Nummern 4, 5 und 7 (insbesondere zur Erforderlichkeit) . . . . . . . . . . . . c) Mitteilung von Änderungen; Unterbleiben unnötiger Mitteilungen (Sätze 3 und 4) . . . . . . . . . . 2. Pflichten der Staatsanwaltschaft (Absatz 2) a) Unterstützung des Gerichts (Satz 1) b) Mitteilungen nach Satz 2 . . . . .
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I. Bedeutung Die Vorschrift soll zusammen mit dem ebenfalls neu eingefügten § 114e gewährleis- 1 ten, dass Gerichten, Staatsanwaltschaften und Vollzugsanstalten die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen personenbezogenen Daten zur Verfügung stehen und legen zu diesem Zweck wechselseitige Informationspflichten fest.1 § 114d ist ein Teil der Umsetzung der Föderalismusreform und übernimmt früher in der UVollzO enthaltene Regelungen in die StPO, soweit sie das gerichtliche Verfahren im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG betreffen. Derjenige (überwiegende) Teil der UVollzO, der materiell den Untersuchungshaftvollzug betrifft, ist infolge der Übertragung der Gesetzgebungskompetenz auf die Länder demgegenüber in Landesgesetzen geregelt. Inhaltliche Kritik gegen die neue Regelung wird mit Blick auf den Datenschutz und die allgemeinen Persönlichkeitsrechte des Beschuldigten2 sowie angesichts des in Absatz 1 Satz 2 Nummern 4, 5 und 7 enthaltenen Kriteriums der Erforderlichkeit wegen fehlender Bestimmtheit der Norm erhoben3 (dazu näher Rn. 11 ff.).
II. Gesetzgebungskompetenz Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes zur Regelung der Informationsrechte und 2 -pflichten wird teilweise infrage gestellt.4 Nach der Gesetzesbegründung soll sie sich daraus ergeben, dass es um die Sicherstellung des Zwecks der Untersuchungshaft gehe und die Regelung insoweit noch als Teil des gerichtlichen Verfahrens anzusehen sei, als Informationspflichten des Haftgerichts ein unmittelbarer Ausfluss der gerichtlichen Entscheidungen seien.5 Dem hat sich die überwiegende Auffassung im Ergebnis angeschlossen.6 Hinsichtlich der von der Gesetzesbegründung nicht in den Blick genommenen weiteren Regelungsgegenstände, die also nicht gerichtliche Informationspflichten betreffen, wird damit argumentiert, insoweit seien verfahrensbezogene Wahrnehmungen des Gerichts bzw. der Staatsanwaltschaft und damit das „gerichtliche Verfahren“ i.S.v. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG betroffen.7
III. Einzelfragen 1. Mitteilungspflichten des Gerichts (Absatz 1) a) Übermittlung einer Haftbefehlsabschrift (Satz 1). Die in Satz 1 bestimmte gericht- 3 liche Pflicht zur Übermittlung einer Abschrift des Haftbefehls und eines Aufnahmeersuchens überführt die in Nr. 15 Abs. 1 und 3 UVollzO enthaltenen Regelungen in Gesetzesform. Die Verwendung eines Aufnahmeersuchens entspricht bisheriger praktischer Handhabung, die sich bewährt hat. In der inhaltlichen Gestaltung des Ersuchens ist die Praxis frei, jedoch liegt es nahe, die in Satz 2 aufgeführten Inhalte aufzunehmen.
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BTDrucks. 16 11644, S. 6. SK/Paeffgen 7; Tsambikakis ZIS 2009 509; Radtke/Hohmann/Tsambikakis 3. SK/Paeffgen 12, 13. Tsambikakis ZIS 2009 509; Radtke/Hohmann/Tsambikakis 3; ihm folgend Herrmann StRR 2010 6.
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BTDrucks. 16 11644, S. 12 und 18. AnwK-StPO/Lammer 1; Meyer-Goßner/ Schmitt 1; AnwK-UHaft/König 1; HK-GS/ Laue 1. Vgl. König aaO.
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b) Katalog mitzuteilender Inhalte nach Satz 2
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aa) Zu den Nummern 1, 2, 3 und 6. Die in diesen Nummern konkret bezeichneten Inhalte verstehen sich von selbst und bedürfen keiner Erläuterung. Zu den gesetzgeberischen Motiven lässt sich Folgendes sagen: Die Unterrichtung nach Nummer 1 soll der Vollzugsanstalt ermöglichen, den ihr gemäß § 114e gegenüber dem Gericht und der Staatsanwaltschaft obliegenden, mitunter sehr kurzfristig zu erfüllenden Pflichten leichter nachkommen zu können. 5 Die Mitteilung nach Nummer 28 soll die Vollzugsanstalt in die Lage setzen, in Notfällen einen Angehörigen oder eine Vertrauensperson des Inhaftierten zu benachrichtigen und die Erforderlichkeit weiterer Benachrichtigungen zu beurteilen, die vom Inhaftierten gewünscht werden.9 Die hiergegen gerichtete Kritik, die die Erforderlichkeit der Information mit Blick darauf infrage stellt, dass die Vollzugsanstalt Notfälle ohnehin der Staatsanwaltschaft und dem Gericht zu melden habe,10 erscheint nicht gerechtfertigt. Zwar mag über den Begriff des Notfalls zu streiten sein; der Vollzugsalltag in seiner Vielgestaltigkeit erweist aber, dass der Inhaftierte durchaus ein Interesse daran haben kann, dringende Angelegenheiten durch einen Angehörigen auch zu Zeiten umgehend regeln zu lassen, zu denen der normale Geschäftsbetrieb von Gericht und Staatsanwaltschaft ruht. Die mit Blick auf den Daten- und Persönlichkeitsschutz vorgebrachten Bedenken scheinen doch zu sehr von der unbegründeten Vorstellung getragen, die Bediensteten der Vollzugsgeschäftsstellen hätten Zeit und Muße, ohne sachlichen Anlass in den Gefangenenpersonalien zu schmökern. 6 Die Informationen nach Nummer 3 benötigt die Vollzugsanstalt, weil sich die Staatsanwaltschaft bei der Ausführung der nach § 119 Abs. 1 angeordneten Beschränkungen, die das Gericht ihr übertragen kann, der Hilfe der Vollzugsanstalt bedienen kann (§ 119 Abs. 2 Satz 2). Darüber hinaus muss die Vollzugsanstalt in eigener Zuständigkeit prüfen, welche (weiteren) Beschränkungen aus vollzuglichen Gründen nach dem Landesuntersuchungshaftvollzugsgesetz erforderlich sind. Es soll auch sichergestellt werden, dass einerseits alle erforderlichen Beschränkungen angeordnet, andererseits aber nicht gleichzeitig verfahrenssichernde und vollzugsbedingte Einschränkungen mit im Ergebnis gleicher Zielrichtung ausgesprochen werden.11 Ferner soll es der Vollzugsanstalt ermöglicht werden, Maßnahmen zur Ausführung der vom Gericht angeordneten Beschränkungen bei diesem oder im Fall der Zuständigkeitsverlagerung bei der Staatsanwaltschaft anzuregen. 7 Der nach Nummer 6 mitzuteilende Rechtskrafteintritt ist für die Vollzugsanstalt von Belang, weil nach h.M. mit dem Eintritt der Rechtskraft die Untersuchungshaft ohne weiteres in Strafhaft übergeht und der vielfach kritisierte Zustand der sog. Organisations- oder Zwischenhaft eintritt. Diese Mitteilung muss ihrem Zweck nach, der Regelung in Nr. 7 Abs. 2 UVollzO entsprechend, unverzüglich geschehen, um die Vollzugsanstalt in die Lage zu setzen, die notwendigen organisatorischen Maßnahmen zu ergreifen, damit dieser Zustand umgehend beendet und mit dem Vollzug der Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel förmlich begonnen werden kann.
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Die der Regelung in Nr. 15 Abs. 2 Satz 2 UVollzO entspricht. BTDrucks. 16 11644, S. 19. SK/Paeffgen 7. Wenngleich der Gesetzgeber die Möglichkeit
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„gewisser Überschneidungen“ gesehen und in Kauf genommen hat, vgl. die Begründung zum neuen § 119, BTDrucks. 16 11644, S. 23.
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bb) Zu den Nummern 4, 5 und 7 (insbesondere zur Erforderlichkeit). Die Mitteilungspflichten nach den Nummern 4, 5 und 7 stehen unter der Voraussetzung, dass die aufgeführten Informationen für die Erfüllung der Aufgaben der Vollzugsanstalt erforderlich sind. Die Erforderlichkeit bestimmt sich für jeden Mitteilungsinhalt unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles besonders und ist nach der Intention des Gesetzgebers nicht dahin zu verstehen, dass die Kenntnis der Daten für die Aufgabenerfüllung zwingend notwendig sein müsste; vielmehr soll es ausreichen, dass die Aufgabenerfüllung durch die Datenübermittlung nicht nur unwesentlich gefördert wird.12 Im Fall der Nummer 4 soll dies etwa zutreffen für eine Haftentscheidung, die Ausführungen zu vom Beschuldigten ausgehenden Gefahren enthält.13 Mitteilungen nach Nummer 5 von den Hauptverhandlungsterminen sind stets erforderlich, weil die Vollzugsanstalt die nötigen organisatorischen Maßnahmen, wie beispielsweise die Vorführung des Angeklagten, treffen muss. Inhaltlich ist über die Hauptverhandlung etwa dann zu berichten, wenn es möglich erscheint, dass ein für den Angeklagten negativer Verlauf der Verhandlung die Gefahr aggressiven Verhaltens gegen sich oder andere birgt, aber auch, wenn konkrete Fluchtgedanken oder gar -pläne zutage getreten sind oder sich neue Erkenntnisse über den seelischen oder körperlichen Zustand ergeben haben, die für die vollzugliche Behandlung des Untersuchungsgefangenen von Belang sein können. Die in Nummer 7 vorgesehenen Mitteilungen sollen einen sicheren und an den spezifischen Bedürfnissen des Beschuldigten ausgerichteten Vollzug gewährleisten.14 Die Norm ist bewusst generalklauselartig gefasst und soll die (klarere) Regelung in Nr. 7 Abs. 1 UVollzO ersetzen und erweitern. Nach jener Verwaltungsvorschrift bezog sich die Mitteilungspflicht auf „alle für die Persönlichkeit des Gefangenen und dessen Behandlung und Verwahrung bedeutsamen Umstände“, die sich im Laufe des Verfahrens ergeben oder ändern, was namentlich von „Überhaft, Vorstrafen und weiteren schwebenden Strafverfahren“ anzunehmen sei. Ferner galt die Unterrichtungspflicht für die „Mitbeschuldigten und die wichtigsten Zeugen, soweit sie in Haft sind“. Hinzuweisen war ferner auf Umstände, die auf „besonderen Fluchtverdacht, auf die Gefahr gewalttätigen Verhaltens, des Selbstmordes oder der Selbstbeschädigung, auf gleichgeschlechtliche Neigungen oder auf seelische oder geistige Abartigkeiten hindeuten“, schließlich auch auf ansteckende Krankheiten. Mit Recht wird beanstandet,15 dass es nunmehr, obgleich ein Gesetzesbefehl an das Gericht ausgesprochen und an die Stelle einer für den Richter unverbindlichen Verwaltungsvorschrift getreten ist, zu einer Verminderung der Normbestimmtheit gekommen ist. Der gesetzgeberische Begründungsversuch, eine Aufzählung könne „ohnehin nie vollständig sein“,16 kann die fehlende Normklarheit nicht rechtfertigen. Dieses vermeintliche Problem träfe auf alle Vorschriften zu, die im Wege der Regelbeispielstechnik gestaltet sind. Solche Beispiele könnten auch im hiesigen Zusammenhang – wie es die UVollzO getan hat – einen großen Anwendungsbereich abdecken und böten zudem Anknüpfungspunkte für die Normauslegung. Diese müssen nach der Vorstellung des Gesetzgebers17 nun in den Materialien und damit letztlich in der UVollzO – einer außer Kraft gesetzten bloßen Verwaltungsvorschrift – gesucht werden.
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BTDrucks. 16 11644, S. 19. BTDrucks. 16 11644, S. 19. BTDrucks. 16 11644, S. 19. SK/Paeffgen 12 f; auf diese Kritik lediglich hinweisend HK-GS/Laue 9.
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BTDrucks. 16 11644, S. 19. Vgl. BTDrucks. 16 11644, S. 19: Die in der UVollzO aufgezählten Beispielsfälle würden „künftig von der allgemeiner gehaltenen Regelung (…) erfasst“.
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Orientiert man sich am Wortlaut, mag bei der Unterrichtung über „weitere relevante Strafverfahren“ die gegen den Beschuldigten geführt werden, noch leicht Klarheit zu gewinnen sein. Ganz undeutlich ist hingegen, was mit „Daten (…) über seine Persönlichkeit“ gemeint ist. Gewiss ist nur, dass sich der Gesetzgeber eine Ausweitung gegenüber der UVollzO vorgestellt hat. Die Motive nennen als Beispiele frühere Berichte der Bewährungshilfe sowie im anhängigen oder in früheren Strafverfahren erstellte „psychologische“ Gutachten über den Beschuldigten.18 Dass dies vor dem Hintergrund des (eingeschränkten) Aufgabenbereichs einer Untersuchungshaftvollzugsanstalt grundsätzlich problematisch ist, liegt auf der Hand. Weshalb die oftmals tief in die Persönlichkeit und das gesamte soziale Umfeld des Gefangenen greifenden Inhalte solcher Berichte und Gutachten für dessen Verwahrung von Belang sein sollten, ist nicht ausgeführt worden. Denn der Untersuchungshaftvollzug soll (lediglich) durch sichere Unterbringung des 13 Beschuldigten die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens gewährleisten und der Gefahr weiterer Straftaten begegnen.19 Die Untersuchungshaftvollzugsgesetze sehen zwar vor, dass es dafür ggf. auch der Unterstützung des Inhaftierten bedarf,20 nicht aber der Kenntnis oder gar Erforschung seiner gesamten Persönlichkeit und Familiengeschichte. Die kritischen Einwände gegen eine der Gesetzesbegründung entsprechende Rechtsanwendung gehen ersichtlich davon aus, dass solche Berichte und Gutachten in vollständiger Form übermittelt würden. Wäre dies so, müsste der Kritik beigetreten werden. Soweit einzelne Aspekte aus solchen Untersuchungen und Berichten für den Vollzug der Untersuchungshaft von Bedeutung sein können, mögen sie (nach entsprechender Auswahl durch einen hoffentlich mit genügend Zeit und Hintergrundwissen ausgestatteten Richter bzw. Staatsanwalt) mitgeteilt werden. Die Gefahr einer bedenken- oder jedenfalls gedankenlosen umfänglichen Weitergabe ist durch die Fassung und Begründung des Gesetzes indessen heraufbeschworen.
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c) Mitteilung von Änderungen; Unterbleiben unnötiger Mitteilungen (Sätze 3 und 4). Alle Mitteilungen sind auch bei Änderungen der entsprechenden Umstände zu machen (Satz 3). Die in Satz 4 enthaltene Einschränkung wird in erster Linie in den Fällen greifen, in denen die Staatsanwaltschaft nach Absatz 2 Satz 1 die nötigen Informationen bereits weitergegeben (und davon dann auch das Gericht in Kenntnis gesetzt) hat. 2. Pflichten der Staatsanwaltschaft (Absatz 2)
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a) Unterstützung des Gerichts (Satz 1). Die Staatsanwaltschaft „unterstützt das Gericht bei der Erfüllung seiner Aufgaben“ – ein Fall von Gesetzeslyrik. Der eigentliche gesetzliche Auftrag an die Verfolgungsbehörde folgt im zweiten Halbsatz, dessen Kodifizierung gereicht hätte. Immerhin hat die Normierung einer (vermeintlich) bloßen Unterstützerfunktion der Staatsanwaltschaft auch etwas Gutes: Soweit mit Blick auf die doppelte Zuständigkeit die Befürchtung geäußert worden ist, mangels Klarheit werde sich der eine auf den anderen verlassen,21 kann dem entgegen gehalten werden, dass das Gericht sich nicht darauf wird berufen können, sich auf eine bloße Gehilfin verlassen zu haben, und deshalb in erster Linie selbst handeln muss. Die Bestimmung der Doppelzuständigkeit soll sicherstellen, „dass die erforderlichen 16 Informationen auch tatsächlich übermittelt werden“.22 Ob diesem gesetzgeberischen 18
BTDrucks. 16 11644, S. 19 f. Damit sollen sicher auch die über Beschuldigte wesentlich häufiger erstellten psychiatrischen Gutachten gemeint sein.
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So etwa § 2 UVollzG Bln. Vgl. etwa § 6 UVollzG Bln („Soziale Hilfe“). Bittmann NStZ 2010 15. BTDrucks. 16 11644, S. 20.
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Motiv praktische Erfahrungen über Informationsdefizite zugrunde liegen, ist nicht bekannt. Es wird sich in der Praxis erweisen, ob die Regelung nicht eher die doppelte Übermittlung mehr oder weniger wichtiger Informationen oder aber häufige wechselseitige Nachfragen mit sich bringen wird, ob der jeweils andere die Informationen schon weitergeleitet habe. Zutreffend ist demgegenüber die Überlegung des Gesetzgebers, dass die Staatsanwalt- 17 schaft aus den fortlaufenden Ermittlungen häufig vollzugsrelevante Informationen über den Beschuldigten erlangen wird, die sie – ohne Zwischenschaltung des Gerichts – direkt an die Vollzugsanstalt weitergeben sollte. Dies wird schon aus Gründen der Beschleunigung geboten sein. Ob daneben auch einer praktisch relevanten „Gefahr des Verlorengehens“23 der Informationen entgegen gewirkt werden muss, sei dahingestellt. Im Ergebnis ist es jedenfalls richtig, den Ermittlungsrichter, der in manchen Phasen des Ermittlungsverfahrens mit der Sache nicht (mehr) befasst ist, nicht allein zum Zweck der Weitergabe einer Mitteilung an die Vollzugsanstalt mit einer Aktenvorlage zu konfrontieren. b) Mitteilungen nach Satz 2. Die Mitteilung von Entscheidungen und Maßnahmen 18 nach § 119 Abs. 1 und 2 betrifft nicht nur diejenigen, deren Überwachung vom Gericht der Staatsanwaltschaft übertragen wurde, sondern auch die von ihr selbst in Ausübung ihrer Eilkompetenz nach § 119 Abs. 1 Satz 4 angeordneten Beschränkungen. Die Übermittlung einer Ausfertigung der Anklageschrift an die Vollzugsanstalt ent- 19 spricht Nr. 7 Abs. 2 UVollzO. Weshalb allerdings die tatsächliche und rechtliche Würdigung in der Anklageschrift auch für den Untersuchungshaftvollzug von Bedeutung sein soll, hat die Gesetzesbegründung24 nicht erläutert. Mit der Anklageerhebung ist aber im Regelfall eine Veränderung der gerichtlichen Zuständigkeit verbunden (§ 126); davon muss die Vollzugsanstalt erfahren. Sinnvoll ist aus diesem Grund auch die Unterrichtung des nach § 126 Abs. 1 zustän- 20 digen Gerichts (i.d.R. des Ermittlungsrichters) von der Anklageerhebung. Mit dieser Regelung ist eine bereits geübte Rechtsanwendungspraxis kodifiziert worden.
§ 114e 1Die Vollzugsanstalt übermittelt dem Gericht und der Staatsanwaltschaft von Amts wegen beim Vollzug der Untersuchungshaft erlangte Erkenntnisse, soweit diese aus Sicht der Vollzugsanstalt für die Erfüllung der Aufgaben der Empfänger von Bedeutung sind und diesen nicht bereits anderweitig bekannt geworden sind. 2Sonstige Befugnisse der Vollzugsanstalt, dem Gericht und der Staatsanwaltschaft Erkenntnisse mitzuteilen, bleiben unberührt.
Schrifttum. Siehe bei § 114a.
Änderung. Die Vorschrift ist durch Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274) mit Wirkung zum 1.1.2010 neu in die StPO eingefügt worden.
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BTDrucks. 16 11644, S. 20.
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BTDrucks. aaO.
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Übersicht Rn. 1. Bedeutung und Gesetzgebungskompetenz 2. Einzelfragen a) Mitteilungspflichten der Vollzugsanstalt nach Satz 1 aa) Mitteilungsinhalte . . . . . . . .
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bb) Mitteilungsempfänger . . . . . . cc) Praktische Auswirkungen und Handhabung . . . . . . . . . . . b) Sonstige Mitteilungsbefugnisse der Vollzugsanstalt nach Satz 2 . . . . . . . .
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1. Bedeutung und Gesetzgebungskompetenz. Zur Bedeutung der Norm sei zunächst auf die Erläuterungen zu § 114d verwiesen.1 Auch in Bezug auf § 114e wird die Gesetzgebungskompetenz des Bundes mit der Begründung in Frage gestellt, der Bundesgesetzgeber könne Organe der Bundesländer nicht mit derartigen Amtshilfepflichten belegen.2 Die Gesetzesbegründung3 führt zu den kompetenzrechtlichen Bedenken aus, dass die im Vollzug gewonnenen Erkenntnisse jedenfalls auch dem in die Kompetenz des Bundes fallenden gerichtlichen Verfahren zuzurechnen seien, weil sie unmittelbar in dem anhängigen Verfahren Verwendung finden sollten.4 Deshalb könne der Bundesgesetzgeber „insbesondere regeln, unter welchen Voraussetzungen bestimmte Personen oder Stellen verpflichtet sein sollen, für die Frage der strafrechtlichen Schuld einer Person bedeutsame Umstände mitzuteilen“.5 Soweit die Mitteilungspflicht Umstände betreffe, die nicht für die Schuldfrage, sondern für andere in dem Verfahren zu treffende Entscheidungen von Bedeutung sein könnten (etwa die Aufrechterhaltung des Haftbefehls oder die Erforderlichkeit von Beschränkungen), dienten auch diese der Durchführung des gerichtlichen Verfahrens, in dem die Vollzugsanstalten die Strafverfolgungsbehörden zu unterstützen hätten.6 2. Einzelfragen a) Mitteilungspflichten der Vollzugsanstalt nach Satz 1
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aa) Mitteilungsinhalte. Die der Vollzugsanstalt obliegenden Mitteilungspflichten nach Satz 1 lehnen sich an die frühere Regelung in Nr. 8 UVollzO an. Diese verpflichtete den Anstaltsleiter, den „zuständigen Richter oder Staatsanwalt von allen für die Durchführung des Strafverfahrens bedeutsamen Maßnahmen, Wahrnehmungen und anderen wichtigen Umständen, die den Gefangenen betreffen“, zu verständigen. 3 Im Referentenentwurf zum neuen § 114e waren noch – in Entsprechung zu § 114d Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 – die Begriffe „Daten“ und „erforderlich“ enthalten. Mit der nunmehr Gesetz gewordenen Fassung soll Forderungen der vollzuglichen Praxis nach besserer Verständlichkeit und Handhabbarkeit entsprochen worden sein.7 Die Bediensteten
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Vgl. die Erl. zu § 114d, 1 in diesem Nachtrag. SK/Paeffgen 4; Paeffgen GA 2009 455; HKGS/Laue 1; Schlothauer/Weider Rn. 1141; Weider StV 2010 108. BTDrucks. 16 11644, S. 20. Zustimmend AnwK-UHaft/König 1; Graf/ Krauß 1; wohl auch KMR/Wankel 1. BTDrucks. 16 11644, S. 20. Die Frage, ob überhaupt eine Mitteilungs- und Unterstützungspflicht besteht, soll sich hiernach also gar nicht stellen; zweifelhaft.
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BTDrucks. 16 11644, S. 20: Dagegen SK/Paeffgen 4, der Verfassungswidrigkeit der Norm mit dem Argument annimmt, die Kompetenz, einen Amtsträger zur Informationsweitergabe zu verpflichten, richte sich nicht nach dem Inhalt des mitzuteilenden Erkenntnisses, sondern nach dem rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen dieses bekannt geworden ist. Harms FS 2009 14.
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der Vollzugsanstalten hätten insbesondere nicht beurteilen können, welche Daten im Einzelfall erforderlich seien und welche nicht.8 Der allgemeinere Terminus „Erkenntnisse“ soll die in der UVollzO aufgezählten Maßnahmen, Wahrnehmungen und anderen wichtigen Umstände umfassen, allerdings nur, soweit deren Kenntnis aus Sicht der Vollzugsanstalt für die Erfüllung der Aufgaben der Empfänger von Bedeutung ist. Ob die jetzige Fassung an das Beurteilungsvermögen der Vollzugsbediensteten geringere Anforderungen stellt, als dies bei der Bewertung der Erforderlichkeit von Daten der Fall gewesen wäre,9 mag dahinstehen. Die Problematik der Norm, die in ihrer Konturenarmut angelegt ist, kann jedenfalls 4 auch in ihrer jetzigen Gestalt nicht übersehen werden. Zweifel an ihrer Praktikabilität bestehen zum einen, soweit es darum geht, wie die Behörde einschätzen soll, ob bestimmte Umstände dem Gericht oder der Staatsanwaltschaft bereits anderweitig bekannt geworden sind. Ein insoweit bestehendes Wissensdefizit kann allerdings, wenn auch um den Preis unnötigen Aufwands, beseitigt werden. Ansonsten wird auch diese Gesetzespassage, die materiell überflüssig ist,10 unnötige Doppelinformationen nicht vermeiden. Zum anderen steht vor allem in Frage, nach welchen Kriterien die Vollzugsanstalt die 5 Verfahrensrelevanz einzelner Erkenntnisse beurteilen soll.11 Diese Frage ließe sich kaum überzeugend beantworten, wollte man den Kreis der Erkenntnisse so weit ziehen, wie es sich der Gesetzgeber vorgestellt hat. Denn ginge es ohne jede Einschränkung (auch) um „die Schuldfrage“, also die „für die Frage der strafrechtlichen Schuld einer Person bedeutsame Umstände“, wäre der Vollzugsanstalt letztlich die Pflicht auferlegt, nahezu alles mitzuteilen, was ihr zur Person und Persönlichkeit des Inhaftierten sowie der diesem vorgeworfenen Tat bekannt wird. Allerdings ist die Kritik, mit der Norm sei eine Totalüberwachung in dem Sinne ange- 6 strebt, dass unter Umgehung des Schweigerechts und Verstoß gegen § 136a durch die Einflussnahme Dritter Erkenntnisse über die Persönlichkeit des Beschuldigten gewonnen werden sollten, die dieser von sich aus nicht preisgeben wolle,12 überzogen. Der Formu-
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BTDrucks. 16 11644, S. 21. Zweifelnd AnwK-UHaft/König 1; HK/Posthoff 2 prognostiziert mit Recht, dass die Norm häufig ins Leere laufen wird, da den Bediensteten der Kenntnisstand der Strafverfolgungsbehörden oftmals kaum bekannt sein wird. Und mit der stilblütenhaften Gesetzesbegründung verknüpft bleiben wird, dass „vermeidbare Eingriffe“ … „zu vermeiden“ seien, vgl. BTDrucks. 16 11644, S. 21. Die gesetzgeberische Sorge um vermeidbare Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung erscheint geradezu rührend, wenn man sich vor Augen führt, dass zugleich die – wenig sinnvolle, vgl. die Erl. bei Rn. 14 – generelle Pflicht zur Übermittlung aller Erkenntnisse an beide Empfänger positiviert worden ist. Recht zurückhaltend formulieren dies Graf/ Krauß 2 und KMR/Wankel 2 („ohne dass dies aus Sicht der Vollzugsanstalt immer sicher zu beurteilen ist“).
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Tsambikakis ZIS 2009 509; Radtke/Hohmann/Tsambikakis 4, unter wörtlicher Übernahme des Textes der in anderem rechtlichem Zusammenhang ergangenen Entscheidung des BVerfG NJW 2002 283 – einschließlich unpassender Terminologie („Beschwerdeführer“); ihm folgend Herrmann StRR 2010 6; vgl. auch Schlothauer/ Weider Rn. 1142; Weider StV 2010 108, 109 („läuft auf ein Persönlichkeitsscreening hinaus“). Die von den Vertretern dieser Ansicht gezogene Parallele zur Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus zum Zwecke der Beobachtung nach § 81 ist angesichts der Situation des Beschuldigten im Untersuchungshaftvollzug, der zwar sicher verwahrt, nicht aber zwecks Erforschung seiner Persönlichkeit gezielt beobachtet werden soll, nicht zu begründen.
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lierung, dass es um „erlangte“ Kenntnisse geht, kann vielmehr ohne weiteres entnommen werden, dass die Norm keine Befugnis zur (gezielten) Erhebung von Daten vermitteln soll. Dies entspricht der Erkenntnis, dass es grundsätzlich nicht die Aufgabe einer Untersuchungshaftvollzugsanstalt ist, Ermittlungen zu den Untersuchungsgefangenen vorzunehmen. An dem entsprechenden Selbstverständnis der (schon an die frühere UVollzO gebundenen) Vollzugsbediensteten dürfte die neue Vorschrift nichts geändert haben. Auch ist die mitunter geäußerte Befürchtung unberechtigt, die Vollzugsanstalt könnte sich zu einer verstärkten Beobachtung des Untersuchungsgefangenen veranlasst sehen und – infolge Unkenntnis der Details des Verfahrensgegenstandes – eine Vielzahl tatsächlich irrelevanter Beobachtungen mitteilen, um nicht später den Vorwurf zu riskieren, sie habe wichtige Tatsachen nicht erkannt und übermittelt.13 Die Vollzugsanstalt wird sich vielmehr auf die Erfüllung ihrer gesetzlich bestimmten Aufgaben besinnen und beschränken. Aber auch ohne gezielte Beobachtung des Inhaftierten oder gar dessen Degradierung 7 zu einem „Explorationsobjekt“14 enthielte die Vorschrift erhebliches Konfliktpotential, wollte man sie der offenbar bestehenden Vorstellung des Gesetzgebers gemäß auslegen. Mit Recht ist bereits bei den Beratungen darauf hingewiesen worden,15 dass letztlich alle Informationen über den Untersuchungsgefangenen für das Strafverfahren – und sei es nur für eine angemessene Rechtsfolgenentscheidung – bedeutsam sein können. Alle persönlichen Neigungen, Haltungen und Ansichten sind für das Verständnis der Persönlichkeit des Beschuldigten, gegebenenfalls aber auch der ihm vorgeworfenen Tat, potenziell von Belang. Solche Erkenntnisse über die Persönlichkeit des Inhaftierten erlangen die Bediensteten im Vollzugsalltag in den verschiedensten Zusammenhängen. Man denke nur an die Soziale Hilfe für den Gefangenen16 oder an das Aufnahmeverfahren,17 in deren Rahmen den Bediensteten, wenn der Inhaftierte ihre Beratung und Unterstützung annimmt, zahlreiche persönliche Aspekte bekannt werden können. Darüber hinaus kann auch das gesamte Verhalten des Inhaftierten während des Vollzuges (etwa betreffend Arbeit, Bildung, Freizeit, Religionsausübung, Kontakte zur Familie oder zu anderen Personen sowie zu – ggf. ausgewählten – Mitgefangenen, Schriftverkehr, Einbringung von Gegenständen, Inanspruchnahme medizinischer Hilfe, Auftreten gegenüber den Bediensteten und Mitgefangenen usw.) bedeutsame Erkenntnisse zutage fördern. Wollte man annehmen, dass die Vollzugsanstalt verpflichtet ist, alle Umstände mitzu8 teilen, die nach ihrer – zwangsläufig unzulänglichen – Einschätzung verfahrensrelevant sein können, brächte dies nicht nur die Vollzugsbediensteten, sondern auch den Inhaftierten in eine schwierige Lage. Dieser müsste mit der Vorstellung leben, dass sein gesamtes Verhalten beobachtet werde und die hierbei gewonnenen Informationen an Staatsanwaltschaft und Gericht zur Verwertung bei der „Schuldfrage“ weitergeleitet werden können, was sein gesamtes Verhalten im Vollzugsalltag beeinflussen und ihn auch dazu verleiten kann, sich nötiger oder jedenfalls sinnvoller Hilfe und Unterstützung zu verschließen. 13 14 15
So aber Schlothauer/Weider Rn. 1142; Weider StV 2010 108, 109. SK/Paeffgen 6. Paeffgen GA 2009 454 (die Ausführungen entsprechen im Wesentlichen der schriftlichen Stellungnahme, die der Verfasser als Sachverständiger zur Anhörung des Rechtsausschusses des Bundestages am 22.4.2009 vorgelegt hat); vgl. auch die Stellungnahme Nr. 37/2008 der BRAK zum Referentenent-
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wurf des BMJ, S. 7 f. (abrufbar unter http://www.brak.de/zur-rechtspolitik/ stellungnahmen-pdf/stellungnahmendeutschland/2008/september/stellungnahmeder-brak-2008-37.pdf). Gemäß § 6 UVollzG Bln. und den entsprechenden anderen Landesregelungen. Vgl. § 7 UVollzG Bln. und die entsprechenden anderen Landesregelungen.
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Angesichts dessen ist eine enge Auslegung der dem Wortlaut nach scheinbar grenzen- 9 losen Vorschrift geboten. Wenig aussagekräftig erscheint die teilweise vorgeschlagene, dogmatisch nicht eindeutig zu verankernde Beschränkung der Mitteilungspflicht auf solche Erkenntnisse, deren Kenntnis für das anhängige Strafverfahren „unerlässlich“18 oder die „erkennbar von erheblichem Gewicht“ bzw. „offensichtlich unbedingt notwendig“19 seien. Wonach sich in diesem Sinne die Qualität eines Erkenntnisses bestimmen soll, ist von den Vertretern dieser Auffassungen nicht näher dargelegt worden. Eine am Wortlaut der Norm orientierte Abgrenzung lässt sich vornehmen, indem die 10 von Gericht und Staatsanwaltschaft zu erfüllenden Aufgaben unter Berücksichtigung der Stellung der Vorschrift genauer definiert werden. Die Aufgaben müssen mit Blick auf den Zweck der Untersuchungshaft bestimmt werden. Die Vorschrift dient, dies erhellt ihre Stellung im 9. Abschnitt, der Verfahrenssicherung durch vorläufige Inhaftnahme des Beschuldigten. Die Vollzugsanstalt hat durch sichere Unterbringung der Untersuchungsgefangenen die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zu gewährleisten.20 Sie ist hingegen nicht gehalten, die Ermittlungsbehörden bei der Erforschung des Sachverhalts im Sinne des § 160 Abs. 1 zu unterstützen; es fehlt etwa eine dem § 160 Abs. 3 Satz 221 entsprechende Regelung.22 Deshalb können die von Gericht und Staatsanwaltschaft zu erfüllenden Aufgaben im 11 hier gegebenen Zusammenhang nur auf die Gewährleistung der individuellen Untersuchungshaftzwecke bezogen sein. Es geht also (lediglich) um solche Tatsachen, die für die Beurteilung des oder der Haftgründe bedeutsam sein können.23 Diese kann die Vollzugsanstalt im Übrigen auch zuverlässiger bewerten, als solche, die die „Frage der strafrechtlichen Schuld“ betreffen. Letztere sind damit aber nicht generell aus dem Kreis der mitzuteilenden Erkenntnisse ausgeschlossen. Zu diesen gehören vielmehr auch Umstände, die für die Rechtsfolgenentscheidung von Belang sein können, weil etwa die konkrete Straferwartung die Beurteilung der Fluchtgefahr maßgeblich mit bestimmt.24 Im Übrigen dürfte unstreitig sein, dass Vorbereitungen für Flucht- oder Verdunkelungsversuche mitzuteilen sind.25 Aber auch den Fall, dass ein Bediensteter im Rahmen der Besuchsüberwachung davon Kenntnis erlangt, dass die Ehe des Untersuchungsgefangenen zu zerbrechen droht,26 wird man hierzu zählen müssen, und zwar nicht nur dann, wenn die ehelichen Bande vom Beschuldigten gerade in einem Haftprüfungs- oder Haftbeschwerdeverfahren als Fluchtanreiz mindernd geltend gemacht worden sind.
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So die Stellungnahme Nr. 37/2008 der BRAK (vgl. Fn. 15). AnwK-UHaft/König 1. In diesem Sinne ist – neben der Abwehr der Gefahr weiterer Straftaten – landesgesetzlich die Aufgabe des Untersuchungshaftvollzuges beschrieben, vgl. etwa § 2 UVollzG Bln. Betreffend die Einbindung der Gerichtshilfe in die Ermittlungen zu Rechtsfolgenumständen. Die allgemeinen landesgesetzlichen Aufgabenregelungen, z.B. in § 3 UVollzG Bln., verpflichten die Vollzugsanstalten (lediglich) dazu, mit Gericht und Staatsanwaltschaft zusammenzuarbeiten, um die Aufgabe des Untersuchungshaftvollzuges zu erfüllen und die Sicherheit und Ordnung zu gewährleis-
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ten. Ferner haben sie die zur Begegnung einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr getroffenen verfahrenssichernden Anordnungen zu beachten und umzusetzen. Die im Sinne der Terminologie Paeffgens „haftbefehls-erheblich“ sind, vgl. SK/Paeffgen 8; dies muss aber nicht für jedermann erkennbar sein, sondern obliegt der pflichtgemäßen Beurteilung des Bediensteten, die auch von Kenntnissen beeinflusst sein mag, die nicht jedermann besitzt . KG StV 2012 350 = StRR 2012 155 mit Anm. Burhoff. SK/Paeffgen 8. Diesen Fall spricht AnwK-StPO/Lammer 3 an.
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§ 114e StPO Nachtr.
Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
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Keine Mitteilungspflicht besteht hingegen bei Erkenntnissen, die allein für die Beoder Entlastung des Beschuldigten betreffend den Tatvorwurf relevant sein können und ohne den Willen des Beschuldigten oder eines Dritten, der sich etwa als Zeuge zur Verfügung stellen möchte, an Gericht und Staatsanwaltschaft gelangen würden. Auch Umstände, die allein die Sicherheit und Ordnung der Anstalt betreffen, unterfallen nicht der Mitteilungspflicht.27 Bei einer solcherart vorgenommenen Begrenzung der Mitteilungspflicht auf Um13 stände, die auf die Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr bezogen sind, erscheint es auch kompetenzrechtlich gerechtfertigt, den Landesbediensteten (bundesgesetzlich) eine Mitwirkungspflicht aufzuerlegen. Denn die Kompetenz des Bundesgesetzgebers im Zusammenhang mit der Ausführung von Untersuchungshaftanordnungen beschränkt sich, dies zeigen § 119 Abs. 1 und die dazu entwickelte Rechtsprechung, auf Maßnahmen zur Abwehr der genannten Haftgründe.
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bb) Mitteilungsempfänger. Die Mitteilung an Gericht und Staatsanwaltschaft soll nach der Vorstellung des Gesetzgebers sicherstellen, dass die Informationen „auch an der Stelle ankommen, wo sie benötigt werden“.28 Hier stellt sich wie bei § 114d29 die offen gebliebene Frage, ob es in der bisherigen Praxis zu nennenswerten Informationsdefiziten gekommen ist. Die Vorschrift wird im Ermittlungsverfahren – jedenfalls im Massengeschäft an größeren Gerichten – vermutlich dazu führen, dass Ermittlungsrichter Informationen erhalten, die sie im Regelfall mangels Aktenführung lediglich an die Staatsanwaltschaft weiterleiten werden. Denn diese führt nicht nur die Akten, sondern hat regelmäßig auch weitergehende Erkenntnisse über den aktuellen Verfahrensgegenstand als das Gericht. Dass die gesetzliche Konzeption, wonach der Staatsanwaltschaft auch im Ermittlungsverfahren lediglich eine unterstützende Rolle zufällt, mit der haftrichterlichen Praxis kaum sinnvoll zu vereinbaren ist, wurde bereits im Gesetzgebungsverfahren bei der Sachverständigenanhörung angesprochen.30
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cc) Praktische Auswirkungen und Handhabung. Ob die Neuregelung die teilweise prognostizierten31 erheblichen praktischen Auswirkungen haben wird, ist noch abzuwarten. Erste Erfahrungen der haftrichterlichen Praxis32 sprechen dagegen. Als ein Indikator könnte ferner die Anzahl der Anträge auf gerichtliche Entscheidungen nach § 119a Abs. 1 Satz 1, die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit von Informationsübermittlungen gerichtet wären, dienen; auch unter deren Berücksichtigung scheint sich die Prognose erheblicher praktischer Bedeutung nicht zu bewahrheiten. Hinsichtlich der praktischen Handhabung der Norm dürfte Einvernehmen darüber 16 bestehen, dass die übermittelten Informationen aktenkundig zu machen sind, damit der
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Anders wohl SK/Paeffgen 6 und 8 („anstaltsbezügliche Gefahrenabwehr im U-Haft-Vollzug“); HK/Posthoff 3. BTDrucks. 16 11644, S. 21. Siehe die Erl. zu § 114d, 16 in diesem Nachtrag. Vgl. die schriftliche Stellungnahme des langjährig als Ermittlungsrichter am AG Tiergarten in Berlin tätigen RiAG Frank Buckow, abrufbar unter http://webarchiv.bundestag. de/cgi/show.php?fileToLoad=1394&id=1134.
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AnwK-StPO/Lammer 3. Diese beruhen auf einer Befragung des bei Fn. 30 erwähnten RiAG Frank Buckow, der über die Erfahrungen in den fünf Ermittlungsrichter-Abteilungen des AG Tiergarten, die jährlich insgesamt etwa 2.000 Haftsachen bearbeiten, berichtet hat; für seine Auskünfte darf ich mich herzlich bedanken.
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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme
Nachtr. § 115 StPO
Beschuldigte die Gelegenheit erhält, sich hierzu zu erklären. Für den Fall, dass sich ein von der Vollzugsanstalt mitgeteilter Umstand nach der maßgeblichen Beurteilung durch die Staatsanwaltschaft bzw. – nach Anklageerhebung – seitens des Gerichts als für das Verfahren nicht bedeutsam erweist, sollte dies durch einen entsprechenden Aktenvermerk zum Ausdruck gebracht werden. Will man die für das Verfahren unerheblichen Informationen nicht – unter Beifügung dieses Vermerks – in eine verschlossene Hülle zur Akte nehmen, so ist in sonstiger Weise sicherzustellen, dass die fragliche Mitteilung von der Gewährung einer Akteneinsicht für Verletzte (§ 406e) oder Nichtverfahrensbeteiligte (§§ 474 ff.) ausgenommen wird, etwa durch vorübergehendes Entheften der Mitteilung vor der Einsichtnahme.33 Denn ein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht wird hinsichtlich solcher Erkenntnisse, die für das Verfahren ohne Bedeutung sind, nicht gegeben sein. b) Sonstige Mitteilungsbefugnisse der Vollzugsanstalt nach Satz 2. In Satz 2 findet 17 sich die überflüssige Regelung, wonach sonstige Mitteilungsbefugnisse der Vollzugsanstalt, etwa nach den Landesgesetzen über den Untersuchungshaftvollzug,34 unberührt bleiben. Dass diese Selbstverständlichkeit tatsächlich der Klarstellung35 bedurfte, will nicht einleuchten. Zweifellos hätte beim Fehlen dieser Regelung niemand einer landesgesetzlichen Ermächtigung zur Informationsübermittlung die Wirksamkeit abgesprochen.
§ 115 (1) Wird der Beschuldigte auf Grund des Haftbefehls ergriffen, so ist er unverzüglich dem zuständigen Gericht vorzuführen. (2) Das Gericht hat den Beschuldigten unverzüglich nach der Vorführung, spätestens am nächsten Tage, über den Gegenstand der Beschuldigung zu vernehmen. (3) 1Bei der Vernehmung ist der Beschuldigte auf die ihn belastenden Umstände und sein Recht hinzuweisen, sich zur Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. 2Ihm ist Gelegenheit zu geben, die Verdachts- und Haftgründe zu entkräften und die Tatsachen geltend zu machen, die zu seinen Gunsten sprechen. (4) Wird die Haft aufrechterhalten, so ist der Beschuldigte über das Recht der Beschwerde und die anderen Rechtsbehelfe (§ 117 Abs. 1, 2, § 118 Abs. 1, 2, § 119 Abs. 5, § 119a Abs. 1) zu belehren. § 304 Abs. 4 und 5 bleibt unberührt.
Schrifttum. Siehe bei § 114a.
Änderung. Durch Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274) sind die Absätze 1, 2 und 4 mit Wirkung zum 1.1.2010 neu gefasst worden. 33
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Entsprechend der Herausnahme der BZRAuskunft aus den Akten, vgl. Nr. 16 Abs. 2 Satz 2 RiStBV. Z.B. in § 48 Abs. 2 UVollzG Bln. (Übermitt-
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lung zur Identifizierung des Beschuldigten dienender Daten zu Fahndungszwecken bei einer Entweichung). BTDrucks. 16 11644, S. 21.
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Bedeutung. Die Änderungen in den Absätzen 1 und 2 bestehen ausschließlich in der Ersetzung des Begriffs „Richter“ durch das Wort „Gericht“ und sollen der Verwirklichung des Ziels einer geschlechtsneutralen Gesetzessprache dienen.1 Absatz 4 hat eine inhaltliche Ergänzung dahin erfahren, dass die bisherigen Belehrungspflichten, die bei Vollzug des Untersuchungshaftbefehls galten, erweitert worden sind. Die Neufassung stellt klar, dass bei Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft2 umfassend über alle Beschwerdemöglichkeiten und Rechtsbehelfe zu belehren ist. Das Ziel, diese erschöpfende Belehrung sicherzustellen, hat der Gesetzgeber zum einen dadurch erreicht, dass der Klammerzusatz zu den „anderen Rechtsbehelfen“ jetzt auch die Bestimmungen des § 119 Abs. 5 sowie des § 119a Abs. 1 aufführt. Eine Folgeänderung, die durch die Neuregelung in § 119a veranlasst ist, stellt die Aufnahme der Belehrungspflicht dahin dar, dass gegen vollzugliche Entscheidungen und Maßnahmen nach dem Landesuntersuchungshaftvollzugsgesetz die gerichtliche Entscheidung nach § 119a beantragt werden kann. Darüber hinaus ist der Begriff der Beschwerde, der bislang ausschließlich als „Haftbeschwerde“ verstanden worden ist, nunmehr weiter auszulegen. War der Beschuldigte bislang vor allem über das Recht zu belehren, Beschwerde (gegen den Haftbefehl) einlegen sowie (mündliche) Haftprüfung beantragen zu können,3 so erstreckt sich die Belehrungspflicht nunmehr auch auf das Recht zur Beschwerde gemäß den §§ 304 ff. gegen gerichtliche Entscheidungen der Amts- und Landgerichte nach § 119 Abs. 1 und 2 sowie insbesondere auch auf das Recht, im Falle der Unstatthaftigkeit der Beschwerde gegen Entscheidungen und sonstige (faktische) Maßnahmen nach § 119 Abs. 1 und 2 StPO gerichtliche Entscheidung nach § 119 Abs. 5 beantragen zu können. Der letztgenannte Rechtsbehelf betrifft beispielsweise Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft eine Eilanordnung nach § 119 Abs. 1 Satz 4 getroffen oder ihre Ermittlungspersonen nach § 119 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 7 einen Besuch oder ein Telefonat des Beschuldigten beendet haben. Aber auch die Entscheidungen der Oberlandesgerichte und des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof nach § 119 Abs. 1 und 2 werden, wegen des sich aus § 304 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1, Abs. 5 ergebenden Ausschlusses der Beschwerde,4 von § 119 Abs. 5 erfasst. Erfolgt nur eine vorläufige Festnahme und wird sodann ein Haftbefehl erlassen, ist § 115 Abs. 4 über § 128 Abs. 2 Satz 3 entsprechend anwendbar. Gleiches gilt über § 115a Abs. 3 Satz 2, falls der aufgrund eines Haftbefehls Festgenommene dem nächsten Amtsgericht vorzuführen ist und dieses den Haftbefehl aufrechterhält.
§ 115a (1) Kann der Beschuldigte nicht spätestens am Tage nach der Ergreifung dem zuständigen Gericht vorgeführt werden, so ist er unverzüglich, spätestens am Tage nach der Ergreifung, dem nächsten Amtsgericht vorzuführen.
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BTDrucks. 16 11644, S. 21. Nur dann hat die Erweiterung der Belehrungspflichten ihre Berechtigung. LR/Hilger § 115, 21 im HW.
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Den der Gesetzgeber glaubte in Absatz 4 Satz 2 ausdrücklich klarzustellen zu müssen, vgl. BTDrucks. 16 11644, S. 21.
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Nachtr. § 115a StPO
(2) 1Das Gericht hat den Beschuldigten unverzüglich nach der Vorführung, spätestens am nächsten Tage, zu vernehmen. 2Bei der Vernehmung wird, soweit möglich, § 115 Abs. 3 angewandt. 3Ergibt sich bei der Vernehmung, dass der Haftbefehl aufgehoben, seine Aufhebung durch die Staatsanwaltschaft beantragt (§ 120 Abs. 3) oder der Ergriffene nicht die in dem Haftbefehl bezeichnete Person ist, so ist der Ergriffene freizulassen. 4Erhebt dieser sonst gegen den Haftbefehl oder dessen Vollzug Einwendungen, die nicht offensichtlich unbegründet sind, oder hat das Gericht Bedenken gegen die Aufrechterhaltung der Haft, so teilt es diese dem zuständigen Gericht und der zuständigen Staatsanwaltschaft unverzüglich und auf dem nach den Umständen angezeigten schnellsten Wege mit; das zuständige Gericht prüft unverzüglich, ob der Haftbefehl aufzuheben oder außer Vollzug zu setzen ist. (3) 1Wird der Beschuldigte nicht freigelassen, so ist er auf sein Verlangen dem zuständigen Gericht zur Vernehmung nach § 115 vorzuführen. 2Der Beschuldigte ist auf dieses Recht hinzuweisen und gemäß § 115 Abs. 4 zu belehren.
Schrifttum. Siehe bei § 114a.
Änderung. Die Vorschrift ist durch Art. 1 Nr. 3a des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274) mit Wirkung zum 1.1.2010 geändert und teilweise neu gefasst worden. Die Änderungen gehen auf eine Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zurück,1 während der Entwurf der Bundesregierung2 die Vorschrift unangetastet lassen wollte.
Übersicht Rn. 1. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelfragen a) Aufhebungsantrag der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Information (auch) der zuständigen Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . .
Rn.
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c) Unverzügliche Entscheidung des zuständigen Gerichts . . . . . . . . . . . 3. Reformvorhaben . . . . . . . . . . . . .
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1. Bedeutung. Die Änderungen der Absätze 1 und 3 in Gestalt der Ersetzung des 1 Begriffs „Richter“ durch den Terminus „Gericht“ haben lediglich redaktionellen Charakter. Die Änderungen in Absatz 2 sind demgegenüber von inhaltlicher Bedeutung und sol- 2 len eine Beschleunigung und Verbesserung des Zusammenwirkens zwischen dem nächsten und dem zuständigen Gericht sowie der Staatsanwaltschaft bewirken. Die erst im parlamentarischen Verfahren vorgeschlagene Gesetzesänderung führt zu einer jedenfalls formalen Stärkung der Verfahrensrechte des Festgenommenen, der dem nächsten Amtsgericht vorgeführt wird. Die Neuregelung ist die Reaktion auf den Umstand, dass von der Vorführung des 3 Festgenommenen vor das nächste Amtsgericht bis zu seiner Vorführung vor das nach
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BTDrucks. 16 13097, S. 6.
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BTDrucks. 16 11644.
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§ 126 zuständige Gericht je nach räumlicher Entfernung zwischen beiden Gerichten mehrere Tage, mitunter auch mehrere Wochen, vergehen können. Diese Zeit wird in Anspruch genommen, um den Beschuldigten von einem Ort zum anderen zu „verschuben“. Angesichts dessen sowie der eingeschränkten Entscheidungsbefugnis des nächsterreichbaren Amtsgerichts,3 an der die Neufassung nichts geändert hat,4 besteht das Ziel der Gesetzesänderung darin, jedenfalls zweifelsfrei anzuordnende Entlassungen durch das nächsterreichbare Amtsgericht zu ermöglichen, statt den Beschuldigten auf den belastenden und auch die Verteidigungsmöglichkeiten faktisch einschränkenden5 Weg eines solchen Transportes6 zu bringen. 2. Einzelfragen
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a) Aufhebungsantrag der Staatsanwaltschaft. Ein Fall einer solchen zweifelsfrei anzuordnenden Entlassung liegt vor, wenn der Haftbefehl zwar noch besteht, die zuständige Staatsanwaltschaft aber gemäß § 120 Abs. 3 (als „Herrin“ des Ermittlungsverfahrens) dessen Aufhebung beantragt hat. Nach der neuen Regelung in Absatz 2 Satz 3 hat in diesem Fall das nächste Amtsgericht den Beschuldigten freizulassen. Entsprechendes wird man zur Vermeidung jeder fraglichen Freiheitsentziehung auch 5 für einen Außervollzugsetzungsantrag der zuständigen Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren annehmen dürfen,7 ohne dass es in diesem Zusammenhang auf die umstrittene Frage8 der Bindungswirkung eines solchen Antrags für das Gericht ankäme; denn hier geht es nicht um eine Entscheidungspflicht, sondern um die Entscheidungsbefugnis des nächsten Gerichts.
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b) Information (auch) der zuständigen Staatsanwaltschaft. Hat der Beschuldigte dem Zuführgericht Gesichtspunkte vorgetragen, die eine Aufhebung oder Außervollzugsetzung des Haftbefehls rechtfertigen könnten, oder hat dieses selbst Bedenken gegen die Aufrechterhaltung der Haft, ist es weiterhin nicht befugt, von sich aus den Haftbefehl aufzuheben oder außer Vollzug zu setzen. Nach der Neuregelung in Absatz 2 Satz 4 1. Halbsatz muss es aber nicht nur, wie bisher, dem zuständigen Gericht schnellstmöglich Mitteilung machen, sondern es hat auch die zuständige Staatsanwaltschaft über die aus seiner Sicht entscheidungserheblichen (neuen) Gesichtspunkte in gleicher Weise zu informieren. 3 4
Vgl. hierzu LR/Hilger § 115a, 8 ff. im HW. BTDrucks. 16 13097, S. 18; Meyer-Goßner/ Schmitt 5. Kritik hiergegen und die Forderung nach weiterer Gesetzesänderung finden sich z.B. bei Münchhalffen/Gatzweiler Rn. 291 ff.; KMR/Wankel 4a; HK/Posthoff 5. Die mit der eingeschränkten Kompetenz verbundene Problematik dürfte sich indessen deutlich vermindern, würde die Vorschrift ihrer Konzeption entsprechend in der Praxis tatsächlich selten angewendet, d.h. ihr strikter Ausnahmecharakter hinreichend beachtet. Käme es dann, wie anzunehmen ist, zu deutlich weniger Anwendungsfällen, hätten alle Beteiligten – ihr Bewusstsein für die Problematik vorausgesetzt – vermutlich die Gelegenheit und Zeit, im Wege der modernen Kommuni-
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kation die notwendigen Entscheidungsgrundlagen zu schaffen, um eine sachgerechte, jedenfalls unnötige Härten ausschließende Sachbehandlung und Entscheidung zu ermöglichen. Deckers StraFo 2009 443 spricht davon, dass in der bisherigen Praxis der Beschuldigte nach der Verhandlung vor dem nächsten Amtsrichter häufig „für Tage oder Wochen in der ‚Black Box‘ eines unergründlichen Verschubungswesens verschwunden“ sei. Der nach den bundeseinheitlichen Gefangenentransportvorschriften im Regelfall ein besonders belastender und zeitaufwendiger Sammeltransport ist. KMR/Wankel 3. LR/Hilger § 120, 40 im HW.
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Nachtr. § 115a StPO
Dass die Staatsanwaltschaft als im Ermittlungsverfahren aktenführende Stelle unmit- 7 telbar einzubinden ist und sogleich selbst prüfen und entscheiden muss,9 ob sie bei dem zuständigen Gericht, dem oftmals keine Akten mehr vorliegen werden,10 die Aufhebung oder Außervollzugsetzung des Haftbefehls zu beantragen hat, ist im Interesse einer schnelleren Entscheidung über nicht offensichtlich unbegründete Einwendungen des Beschuldigten oder über Bedenken des nächsten Gerichts in besonderer Weise sachgerecht. Soweit angenommen wird, eine Information der Staatsanwaltschaft habe bei verständiger Sachbehandlung auch bisher schon nahe gelegen11 bzw. sei als nobile officium anzusehen,12 nehmen diese zweifellos zutreffenden Hinweise der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung nicht ihren Wert. c) Unverzügliche Entscheidung des zuständigen Gerichts. Die Neufassung zielt aber 8 nicht nur auf ein besseres Zusammenwirken zwischen dem nächsten und dem zuständigen Gericht sowie der Staatsanwaltschaft, sondern positiviert auch die Verpflichtung des zuständigen Gerichts, unverzüglich über Bestand und Vollzug des Haftbefehls zu entscheiden (Absatz 2 Satz 4 2. Halbsatz).13 Das Haftgericht muss sich nach Eingang der Mitteilung umgehend die Akten beschaffen, sofern sie ihm nicht bereits vorliegen, und weitere notwendige Informationen sowie ggf. eine Stellungnahme der Staatsanwaltschaft einholen; besteht sodann in tatsächlicher Hinsicht eine ausreichende Entscheidungsgrundlage, hat es die Haftentscheidung ohne jede Verzögerung zu treffen.14 Entsprechendes gilt für die Prüfung und Entscheidung durch die Staatsanwaltschaft, 9 nachdem dieser eine Mitteilung nach Absatz 2 Satz 4 1. Halbsatz zugegangen ist. 3. Reformvorhaben. Durch das Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Video- 10 konferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren (VidVerfG) vom 25.4.2013 (BGBl. I S. 935) werden mit Wirkung zum 1.11.2013 in verschiedenen Verfahrensordnungen für die unterschiedlichsten Beteiligten die Möglichkeiten der Nutzung von Videokonferenztechnik erweitert. Die Änderungen im Bereich der StPO betreffen die §§ 58b, 118a Abs. 2, 138d Abs. 4, 163 Abs. 3, 163a Abs. 1, 233 Abs. 2, 247a und 462 Abs. 2.15 In diesem Zusammenhang ist kritisiert worden, dass der Einsatz der Videokonferenz- 11 technik nicht auch für den Fall einer Vorführung nach § 115a ermöglicht worden ist.16 Diese Thematik wird jedoch noch einer genaueren Diskussion bedürfen, bei der die Besonderheiten einer solchen Vorführung im Blick zu behalten sind. Es ist der im Regelfall gegebene Zeitdruck zu bedenken, der den hier vorliegenden Sachverhalt von den
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Von einer Prüfungspflicht geht auch die Gesetzesbegründung aus, BTDrucks. 16 13097, S. 18; ebenso Weider StV 2010 105; Schlothauer/Weider Rn. 364. Zu diesem oftmals vernachlässigten Aspekt vgl. auch die Erl. zu § 114e, 14 in diesem Nachtrag. AnwK-StPO/Lammer 5; König AnwBl 2010 51. LR/Hilger § 115a, 7 im HW. Mit Recht wird allerdings darauf hingewiesen, dass sich die Verpflichtung des zuständigen Gerichts zu unverzüglicher Prüfung aus
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Gründen der in Haftsachen in besonderer Weise gebotenen Verfahrensbeschleunigung an sich von selbst versteht, vgl. etwa Lammer und König aaO; AnwK-UHaft/König 7. Vgl. KMR/Wankel 1a. Wegen der Einzelheiten vgl. jeweils die Erl. zu den genannten Vorschriften in diesem Nachtrag. Vgl. etwa die Stellungnahme des Strafrechtsausschusses des DAV Nr. 42/2010 (http:// anwaltverein.de/downloads/stellungnahmen/ SN-10/SN42.pdf), S. 5; siehe auch Buckow ZIS 2012 557.
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durch das VidVerfG geregelten anderen Fällen durchaus unterscheidet. Dieser Zeitdruck könnte sich jedenfalls bei einer Ergreifung im Zuständigkeitsbereich kleinerer Gerichte, die (auch in Zukunft) nicht über ausreichende Videokonferenztechnik17 verfügen, hinsichtlich der rechtzeitigen Herstellung einer Videokonferenz negativ auswirken. Allerdings könnte diesem praktischen Problem durch eine Zuständigkeitskonzentration (in den von dieser Problematik betroffenen Flächenbundesländern) begegnet werden. Da bei einer bloßen „Zuschaltung“ per Videotechnik eines Richters des zuständigen Gerichts gegenüber der schon jetzt jederzeit möglichen telefonischen Erörterung regelmäßig keine maßgebliche Verbesserung der Situation zu erreichen wäre, müsste eine Neuregelung in Bezug auf die Verhandlungsleitung und Entscheidungskompetenzen grundlegender Natur sein. Die Neuregelung könnte grundsätzlich nur die Vernehmung durch das zuständige Gericht unter Nutzung der Videokonferenztechnik zum Ziel haben; diese wäre zudem verpflichtend zu regeln, ohne dass ein gerichtlicher Ermessensspielraum in Betracht käme. Vor einer solchen Neuregelung und bei deren näherer Ausgestaltung werden allerdings die Gesichtspunkte der Verfügbarkeit einer hinreichenden Technik (s.o.), der sicheren Datenübertragung, der Protokollierung18 und der sonstigen praktischen Umsetzung (Übermittlung und Durchführung von Entscheidungen eines Gerichts des Bundeslandeslandes A im Bundesland B; Erforderlichkeit einer Beteiligung der Justiz des Bundeslandeslandes B), hinreichend zu bedenken, aber auch Regelungen für mögliche (längere) Ausfälle der Technik zu treffen sein. Im Auge zu behalten bleibt bei allem, dass die Nutzung der Videokonferenztechnik 12 eine grundsätzliche Problematik der Ergreifung des Beschuldigten in großer räumlicher Entfernung zum zuständigen Gericht nicht beseitigen würde: Die Möglichkeit einer Vernehmung per Videokonferenz ändert nichts daran, dass der mit dem Fall und den Akten vertraute zuständige Richter häufig nicht innerhalb der Zeitspanne des Art. 104 Abs. 2 GG – zudem unter Zugriff auf die Sachakten – zur Verfügung steht. Die in Zukunft zu erwartende elektronische Aktenführung mag insoweit einen Teil der noch bestehenden Schwierigkeiten aus dem Weg räumen.
§ 116b 1Die Vollstreckung der Untersuchungshaft geht der Vollstreckung der Auslieferungshaft, der vorläufigen Auslieferungshaft, der Abschiebungshaft und der Zurückweisungshaft vor. 2Die Vollstreckung anderer freiheitsentziehender Maßnahmen geht der Vollstrekkung der Untersuchungshaft vor, es sei denn, das Gericht trifft eine abweichende Entscheidung, weil der Zweck der Untersuchungshaft dies erfordert.
Schrifttum. Siehe bei § 114a.
Änderung. Die Norm ist durch Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274) mit Wirkung zum 1.1.2010 neu eingefügt worden.
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Zu den Anforderungen s. die Erl. bei § 118a, 8 in diesem Nachtrag. S. dazu, aber auch zu weiteren Aspekten der
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(technischen) Durchführung Buckow ZIS 2012 555 ff.
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Nachtr. § 116b StPO
Übersicht Rn. 1. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelfragen a) Begriff der Untersuchungshaft . . . . . b) Vorrang der Untersuchungshaft (Satz 1)
Rn.
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c) Vorrang anderer freiheitsentziehender Maßnahmen (Satz 2) aa) Grundsatz (Halbsatz 1) . . . . . . bb) Ausnahmen (Halbsatz 2) . . . . .
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1. Bedeutung. Mit der neuen Vorschrift findet das früher nur unvollkommen geregelte 1 Verhältnis der Vollstreckung der Untersuchungshaft zur Vollstreckung anderer freiheitsentziehender Maßnahmen nunmehr eine ausdrückliche Regelung, die Rechtsklarheit schafft und insgesamt sachgerecht ist. Die bisherige Rechtslage stellte sich wie folgt dar: Für den Fall, dass bei Anordnung 2 von Untersuchungshaft gegen den Beschuldigten bereits eine andere freiheitsentziehende Maßnahme vollstreckt wurde, hat man diese Vollstreckung mangels entgegenstehender Regelungen grundsätzlich fortgesetzt. Hierbei unterlag der Gefangene im Vollzug der Freiheitsstrafe nach dem alten § 122 Abs. 1 StVollzG1 zusätzlichen Beschränkungen seiner Freiheit, die der Zweck der Untersuchungshaft erforderte. Waren die zur Erreichung des Untersuchungshaftzwecks erforderlichen Maßnahmen im Rahmen des Strafvollzugs nicht sicherzustellen, konnte die Vollstreckungsbehörde die Vollstreckung der Freiheitsstrafe bzw. freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung nach § 455a unterbrechen. Standen Strafvollstreckung und Vollzug der Untersuchungshaft gleichzeitig an, leitete die Strafvollstreckungsbehörde in aller Regel die Strafvollstreckung ein, ohne dass insoweit eine ausdrückliche gesetzliche Regelung bestand. Die Möglichkeit, zum Zwecke der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bzw. freiheitsentziehenden Maßregel die vollzogene Untersuchungshaft zu unterbrechen, war lediglich in der Verwaltungsanordnung des Nr. 92 Abs. 1 bzw. 5 UVollzO, einer Kann-Vorschrift, vorgesehen. Es fehlte damit nicht nur an einer gesetzlichen Regelung, die innerhalb bestimmbarer Zeit zu einer klaren und justiziablen Entscheidung führte, sondern der frühere Rechtszustand führte oftmals auch zu unbefriedigenden Ergebnissen. Denn die Unterbrechung war nicht selten von der Zufälligkeit anhängig, zu welchem Zeitpunkt der zuständige Haftrichter von der zu vollstreckenden anderen freiheitsentziehenden Maßnahme Kenntnis erhielt. Angesichts des Wegfalls der UVollzO und deren Ablösung durch Landesgesetze zum 3 Untersuchungshaftvollzug2 war es das Ziel des Gesetzgebers, die bisher nicht ausdrücklich geregelten Voraussetzungen für das Zurücktreten des Untersuchungshaftvollzuges gegenüber der Vollstreckung einer bereits laufenden oder gleichzeitig anstehenden freiheitsentziehenden Maßnahme bzw. gegenüber der Vollstreckung einer sich erst im Laufe der Untersuchungshaft ergebenden Freiheitsentziehung einheitlich und klar zu regeln.3 Da die Entscheidung über eine Unterbrechung der Untersuchungshaft nicht das in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fallende „Wie“ des Untersuchungshaftvollzugs betrifft, sondern das im Rahmen der Zuständigkeit für das gerichtliche Verfahren in der Kompetenz des Bundes verbliebene „Ob“ des Untersuchungshaftvollzugs, ist die Regelung in der StPO erfolgt.
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Dessen Regelungsgehalt sich nunmehr in § 119 Abs. 6 StPO findet. Infolge der Übertragung der Gesetzgebungskompetenz für den Vollzug der Unter-
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suchungshaft auf die Länder im Zuge der Föderalismusreform durch Änderung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG. BTDrucks. 16 11644, S. 22.
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§ 116b StPO Nachtr. 4
Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
In der Sache soll die Neuregelung sicherstellen, dass Untersuchungshaft nur dann vollzogen wird, wenn dies unabdingbar ist. Damit ist nicht nur den Freiheitsrechten der Beschuldigten Rechnung getragen, sondern auch eine Entlastung der Haftanstalten beabsichtigt,4 ohne dass dadurch die Zwecke des Strafverfahrens beeinträchtigt werden. 2. Einzelfragen
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a) Begriff der Untersuchungshaft. Untersuchungshaft im Sinne des § 116b ist nicht nur die Haft aufgrund eines nach den §§ 112, 112a erlassenen Haftbefehls, sondern auch die Hauptverhandlungshaft nach § 127b und die Haft aufgrund von Haftbefehlen nach § 230 Abs. 2, den §§ 236, 329 Abs. 4 und § 412 Satz 1. In § 126a findet sich kein Hinweis auf § 116b, sodass die einstweilige Unterbringung im Verhältnis zur Vollstreckung anderer freiheitsentziehender Maßnahmen ausnahmslos nachrangig ist.
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b) Vorrang der Untersuchungshaft (Satz 1). Nach Satz 1 ist zur Sicherstellung der innerstaatlichen Strafverfolgung Untersuchungshaft immer vorrangig zu vollstrecken, wenn es um das Verhältnis zu der Vollstreckung von Auslieferungshaft und vorläufiger Auslieferungshaft (§§ 15, 16 IRG), zur Abschiebungshaft (§ 62 AufenthG, auch in Verbindung mit § 57 Abs. 3 AufenthG), und zur Zurückweisungshaft (§ 15 Abs. 5 AufenthG) geht, sodass gewährleistet ist, dass der Beschuldigte bei anhängigem innerstaatlichem Strafverfahren diesem uneingeschränkt zur Verfügung steht. Dieser unbedingte Vorrang gründet sich nicht nur auf die Bedeutung, die der Gesetzgeber der innerstaatlichen Strafverfolgung beimisst, sondern er ist auch angesichts der zeitlichen Unwägbarkeiten, die einem Verfahren mit Auslandsbezug oftmals innewohnen, angemessen. c) Vorrang anderer freiheitsentziehender Maßnahmen (Satz 2)
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aa) Grundsatz (Halbsatz 1). Nach Satz 2 Halbsatz 1 kommt der Vollstreckung anderer freiheitsentziehender Maßnahmen (die der Gefangene in jedem Fall verbüßen muss) grundsätzlich der Vorrang vor der Untersuchungshaft zu. Dies ist zwingende Folge der Tatsache, dass Untersuchungsgefangene bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig gelten (Unschuldsvermutung). Es ist im Zeitpunkt der Anordnung der Untersuchungshaft nicht abzusehen, ob sie in dem der Untersuchungshaft zugrunde liegenden Verfahren tatsächlich eine Freiheitsstrafe zu verbüßen haben werden.5 Der Untersuchungshaftvollzug tritt gegenüber der Vollstreckung einer bereits laufenden, gleichzeitig anstehenden oder sich erst im Laufe der Untersuchungshaft ergebenden anderen Freiheitsentziehung zurück. Andere freiheitsentziehende Maßnahmen im Sinne der Norm sind nach der Gesetzes8 begründung vor allem: Freiheitsstrafe (§ 38 StGB), Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 StGB), Jugendstrafe (§ 17 JGG), Jugendarrest (§ 16 JGG), Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB), Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB), Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB), Ordnungshaft (z.B. § 51 Abs. 1 Satz 2, § 70 Abs. 1 Satz 2, §§ 177, 178 GVG), Erzwingungshaft (z.B. § 70 Abs. 2, § 96 OWiG, § 901 ZPO), zivilrechtliche Sicherungshaft (z.B. § 918 ZPO), strafrechtliche
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BTDrucks. 16 11644, S. 22. Dass diese Erwägung praktisch bedeutsam ist, zeigt schon die erste veröffentlichte Entscheidung KG StraFo 2011 108 = StRR 2011 237;
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dort wurde der Betroffene in dem Verfahren, in dem Untersuchungshaft vollzogen worden war, rechtskräftig freigesprochen.
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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme
Nachtr. § 116b StPO
Sicherungshaft (§ 453c), Unterbringung zur Beobachtung (§ 81), einstweilige Unterbringung (§ 126a), Unterbringung bei zu erwartender Sicherungsverwahrung (§ 275a Abs. 5) und Haft aufgrund einer Anordnung nach § 4 ÜAG. Nach der gesetzgeberischen Bewertung ergibt sich der Vorrang der strafrechtlichen Sicherungshaft (§ 453c) daraus, dass bei ihr die Wahrscheinlichkeit, dass letztlich Freiheitsstrafe zu verbüßen ist, in der Regel höher als bei der Untersuchungshaft ist. Im Verhältnis zur einstweiligen Unterbringung (§ 126a) ist deren Vorrangigkeit darin begründet, dass im Rahmen der Unterbringung besser auf die in diesen Fällen regelmäßig bestehenden besonderen Bedürfnisse des Beschuldigten eingegangen werden kann.6 Der Vorrang der Vollstreckung einer anderen freiheitsentziehenden Maßnahme tritt 9 kraft Gesetzes jedenfalls mit dem Eingang des Aufnahmeersuchens der Staatsanwaltschaft in der Justizvollzugsanstalt ein. Da es nach der gesetzlichen Konzeption zu vermeiden gilt, dass ein Verurteilter Untersuchungshaft anstelle von anstehender Strafhaft verbüßt, kommt aber auch ein früherer Zeitpunkt in Betracht, wenn die Staatsanwaltschaft auf andere Weise – etwa durch den Erlass eines Vollstreckungshaftbefehls – unmissverständlich zum Ausdruck bringt, dass gegen den in Untersuchungshaft befindlichen Verurteilten nunmehr Strafvollstreckung ansteht.7 Nach dem Sinn und Zweck des § 116b tritt die Folge, dass von Gesetzes wegen die 10 Vollstreckung der anderen freiheitsentziehenden Maßnahme vorgeht, automatisch, ohne haftgerichtliche Entscheidung ein. Denn nach der eindeutigen gesetzlichen Regelung setzt nur die Unterbrechung der Vollstreckung der anderen freiheitsentziehenden Maßnahme zugunsten der Untersuchungshaft eine richterliche Anordnung voraus.8 § 116b Abs. 2 geht der Verwaltungsvorschrift des § 38 Nr. 4 StVollstrO, der nicht mehr ohne weiteres auf die neue Gesetzeslage angewendet werden kann, vor.9 Aus dem kraft Gesetzes eintretenden Vorrang folgt auch, dass der Verurteilte keinen 11 Anspruch auf Anhörung vor Einleitung der Vollstreckung einer rechtskräftig verhängten anderen freiheitsentziehenden Maßnahme hat.10 bb) Ausnahmen (Halbsatz 2). Ausnahmen von dem Grundsatz des Vorrangs anderer 12 freiheitsentziehender Maßnahmen vor der Vollstreckung der Untersuchungshaft, weil der Zweck der Untersuchungshaft dies erfordert, sind mit Blick auf die Unschuldsvermutung nur in besonderen Fällen zulässig. Die Begrenzung auf enge Ausnahmefälle folgt aus dem Umstand, dass dem Beschuldigten mit der Untersuchungshaft in einem Verfahren die 6 7
8
BTDrucks. 16 11644, S. 23. KG StraFo 2011 108 = StRR 2011 237; HK/Posthoff 6; anders, aber nicht praktikabel, AnwK-StPO/Lammer 2; AnwK-UHaft/ König 4: Bereits mit Beginn der Freiheitsentziehung auf der Grundlage des Haftbefehls beginne die Vollstreckung der freiheitsentziehenden Maßnahme. KG NStZ-RR 2011 189, 190. A.A. MeyerGoßner/Schmitt vor § 112, 14 („gerichtlich anzuordnen, wenn nicht der Zweck der UHaft deren Vollstreckung erfordert“), der hinsichtlich der Anfechtbarkeit gar auf § 119a verweist; ebenfalls unzutreffend KMR/ Wankel 7, der annimmt, auch bei Anordnung der Vollstreckung der anderen freiheitsentzie-
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henden Maßnahme sei generell eine Entscheidung des für die Untersuchungshaftsache zuständigen Haftgerichts erforderlich, dessen „Genehmigung“ die vollstreckende fremde Stelle einholen müsse. Den praktischen Problemen, die mit dem kraft Gesetzes eintretenden Vorrang verbunden sein können, kann entgegen AnwK-UHaft/König 4 jedenfalls nicht durch eine Entscheidung nach § 116b Satz 2 Halbsatz 2 begegnet werden; vgl. demgegenüber KG StraFo 2011 108 mit zutreffender Darlegung der Konsequenzen der Neuregelung für die Strafzeitberechnung. S. dazu auch Rn. 16. KG StraFo 2011 108. KG NStZ-RR 2011 189, 190.
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Freiheit entzogen wird, in dem es möglicherweise nicht zu einer rechtskräftigen freiheitsentziehenden Verurteilung kommt. Ein solcher Ausnahmefall kommt in Betracht, wenn Maßnahmen nach § 119 Abs. 1, die zur Abwehr der die Untersuchungshaft begründenden Gefahren (insbesondere bei Verdunkelungsgefahr)11 erforderlich sind, in einer im Vergleich zu einer Untersuchungshaftanstalt offener organisierten Anstalt auch bei erheblichen Anstrengungen mit angemessenen Mitteln nicht zu gewährleisten ist.12 Letzteres wird insbesondere bei einer Jugendarrestanstalt häufig der Fall sein. Vor der Anordnung der vorrangigen Vollstreckung der Untersuchungshaft wird allerdings stets zu prüfen sein, ob als milderes Mittel die Vollstreckung der anderen freiheitsentziehenden Maßnahme in einer Untersuchungshaftanstalt möglich ist. Die nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten13 zu treffende Entscheidung über eine Abweichung von dem Grundsatz des Vorrangs der Vollstreckung der anderen freiheitsentziehenden Maßnahmen liegt in der Zuständigkeit des Haftgerichts (§ 126 Abs. 1)14, was sinnvoll ist, da der Haftrichter auch entscheidet, welche Beschränkungen nach § 119 geboten sind. Er kann daher am besten beurteilen, ob der Zweck der Untersuchungshaft auch im Rahmen der Vollstreckung einer anderen freiheitsentziehenden Maßnahme erreicht werden kann oder ob die Vollstreckung der Untersuchungshaft geboten ist.15 § 116b ist im Verhältnis zu § 455a lex specialis, d.h. die Unterbrechung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zum Zwecke der Vollstreckung von Untersuchungshaft setzt immer eine gerichtliche Anordnung voraus. Gegen die gerichtliche Entscheidung nach § 116b Satz 2 Halbsatz 2 über das Abweichen vom Grundsatz des Vorrangs der Vollstreckung der anderen freiheitsentziehenden Maßnahmen steht dem Beschuldigten die Beschwerde nach § 304 zu; auch eine weitere Beschwerde ist statthaft.16 Demgegenüber kann der Beschuldigte keine Unterbrechung der Vollstreckung der anderen freiheitsentziehenden Maßnahme und den Vollzug der Untersuchungshaft mit der Begründung begehren, dies sei für ihn in seiner konkreten Vollstreckungssituation günstiger. Für eine Beschwerde gegen die ein solches Begehren ablehnende Entscheidung des Haftgerichts, das zu Recht die gesetzlich bestimmte Voraussetzung für eine Entscheidung nach § 116b Satz 2 Halbsatz 2 verneint hat, fehlt dem Beschuldigten die für die Zulässigkeit eines jeden Rechtsmittels erforderliche Beschwer.17 11 12 13 14 15 16
KG StraFo 2011 108. BTDrucks. 16 11644, S. 23. KG NStZ-RR 2011 189, 190. Damit ist nicht die Zuständigkeit des Vorsitzenden nach § 126 Abs. 2 Satz 3 gemeint. BTDrucks. 16 11644, S. 23. Vgl. zur Ablehnung der richterlichen Genehmigung der Unterbrechung der Untersuchungshaft nach altem Recht OLG Hamburg NStZ 1992 206; KK/Graf vor § 112, 18. Zum neuen Recht siehe Schlothauer/Weider Rn. 718 (die dort ebenfalls in Anspruch genommene Entscheidung OLG Düsseldorf JMBlNW 1996 138 betraf allerdings keinen Fall einer weiteren Beschwerde). Entgegen Meyer-Goßner/Schmitt 6 und § 117, 10 sowie HK/Posthoff 9 sind in diesem Zusammenhang die §§ 119 Abs. 5, 119a nicht einschlägig.
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KG, Beschluss vom 29.8.2012 – 4 Ws 79/12 – [juris] = NStZ-RR 2013 159 (Ls.): Dort wollte der Beschuldigte die rückwirkende Unterbrechung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zum 2/3-Zeitpunkt des § 57 Abs. 1 StGB erreichen, um sich im Fall der – von ihm für wahrscheinlich gehaltenen – Verurteilung in dem Verfahren, in dem Untersuchungshaft angeordnet war, die Möglichkeit einer gemeinsamen Entscheidung über die Reststrafaussetzung im Sinne des § 454b Abs. 2 Satz 3 zu erhalten. Zum Ausschluss einer Beschwerde gegen die richterliche Bewilligung der Untersuchungshaftunterbrechung mangels Beschwer nach altem Recht vgl. KK/Graf vor § 112, 18 m.w.N.
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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme
Nachtr. § 118a StPO
§ 117 (1) (2) (3) (4) (5)
… … … (aufgehoben) (aufgehoben)
Schrifttum. Siehe bei § 114a.
Änderung. Durch Art. 1 Nr. 4a des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274) sind die bisherigen Absätze 4 und 5 mit Wirkung zum 1.1.2010 entfallen.
Bedeutung. Die Änderung ist Folge der Neuregelung in § 140 Abs. 1 Nr. 4. Da diese Norm nunmehr einen Fall notwendiger Verteidigung bereits mit dem Beginn vollstreckter Untersuchungshaft vorsieht,1 haben die bisherigen Regelungen über die Bestellung eines Verteidigers (§ 117 Abs. 4 a.F.) und die von Amts wegen durchzuführende Haftprüfung bei nicht verteidigten Inhaftierten (§ 117 Abs. 5 a.F.) jeweils nach Ablauf von drei Monaten vollzogener Untersuchungshaft keinen Anwendungsbereich mehr. Beide Änderungen haben während der parlamentarischen Beratungen Aufnahme in das Gesetz gefunden; sie gehen auf die Beschlussempfehlung und den Bericht des Rechtsausschusses des Bundestages vom 20.5.2009 zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zurück.2 Die vom Gesetzgeber gewollte geschlechtsneutrale Terminologie des Gesetzes, die ohnehin nicht konsequent umgesetzt worden ist,3 wurde hier im unverändert gebliebenen Absatz 3 offenbar vergessen.
§ 118a (1) … (2) 1Der Beschuldigte ist zu der Verhandlung vorzuführen, es sei denn, daß er auf die Anwesenheit in der Verhandlung verzichtet hat oder daß der Vorführung weite Entfernung oder Krankheit des Beschuldigten oder andere nicht zu beseitigende Hindernisse entgegenstehen. 2Das Gericht kann anordnen, dass unter den Voraussetzungen des Satzes 1 die mündliche Verhandlung in der Weise erfolgt, dass sich der Beschuldigte an einem anderen Ort als das Gericht aufhält und die Verhandlung zeitgleich in Bild und Ton an den Ort, an dem sich der Beschuldigte aufhält, und in das Sitzungszimmer übertragen wird. 3Wird der Beschuldigte zur mündlichen Verhandlung nicht vorgeführt und nicht nach Satz 2 verfahren, so muss ein Verteidiger seine Rechte in der Verhandlung
1 2
Vgl. die Erl. zu § 140 in diesem Nachtrag. BTDrucks. 16 13097, S. 7, 10, 18 f.
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Vgl. etwa die Erl. zu § 114b, 3 in diesem Nachtrag.
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wahrnehmen. 4In diesem Falle ist ihm für die mündliche Verhandlung ein Verteidiger zu bestellen, wenn er noch keinen Verteidiger hat. 5Die §§ 142, 143 und 145 gelten entsprechend. (3) … (4) …
Schrifttum Buckow Der Einsatz „neuer Medien“ im Dezernat des Ermittlungsrichters, ZIS 2012 551.
Änderung. Durch Art. 6 Nr. 2 des Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren (VidVerfG) vom 25.4.2013 (BGBl. I S. 935) wird der bisherige Satz 2 des Absatzes 2 mit Wirkung zum 1.11.2013 durch die neuen Sätze 2 und 3 ersetzt.
Übersicht Rn. 1. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelfragen a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . b) Pflichtverteidigerbestellung . . . . . .
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Rn. 3. Verordnungsermächtigung
. . . . . . . .
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1. Bedeutung. Der Gesetzgeber hat in der Annahme, dass die Vorteile einer verstärkten Nutzung der Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren „auf der Hand“ lägen und diese vor allem der Anwaltschaft die Gelegenheit biete, an gerichtlichen Verfahren ohne Reisetätigkeit aus der eigenen Kanzlei heraus oder unter Nutzung von durch die Justizverwaltungen bereitgestellten Videokonferenzanlagen teilzunehmen, durch das genannte Gesetz in den verschiedenen Verfahrensordnungen für die unterschiedlichsten Beteiligten die Möglichkeiten der Nutzung von Videokonferenztechnik erweitert. Er hat dabei zugrunde gelegt, bislang habe das Fehlen technischer Ausstattungen und auch das Erfordernis des Einverständnisses der Verfahrensbeteiligten einer stärkeren Nutzung der Videokonferenztechnik entgegen gestanden, und der geringere zeitliche Aufwand für alle Beteiligten und das Gericht werde die Terminierung von mündlichen Verhandlungen und Erörterungsterminen erleichtern und damit zu einer Verfahrensbeschleunigung sowie einer Erhöhung der Wirtschaftlichkeit „nicht zuletzt bei den professionellen Rechtsvertretern der Anwaltschaft“ beitragen.1 Die Änderungen im Bereich der StPO betreffen neben § 118a Abs. 2 die §§ 58b, 138d Abs. 4, 163 Abs. 3, 163a Abs. 1, 233 Abs. 2, 247a und 462 Abs. 2.2 2. Einzelfragen
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a) Allgemeines. Bei einer Haftprüfung in mündlicher Verhandlung (§§ 118, 118a) konnte nach bisheriger Fassung des § 118a Abs. 2 die Vorführung des Beschuldigten
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BTDrucks. 17 1224, S. 1, 10 und 12. Wegen der den Einzelheiten vgl. jeweils die
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Erl. zu den genannten Vorschriften in diesem Nachtrag.
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unterbleiben, wenn dieser auf seine Anwesenheit in der Verhandlung verzichtet hatte oder weite Entfernung, Krankheit oder andere nicht zu beseitigende Hindernisse seiner Anwesenheit entgegenstanden. Die mit der Gesetzesänderung verbundene Ergänzung des Absatzes 2 ermöglicht es dem Gericht in den genannten Fällen, die durch eine enge Auslegung der Hinderungsgründe gekennzeichnet sind,3 alternativ zu der bisher üblichen Verhandlung in Abwesenheit des Beschuldigten dessen Teilnahme an der Verhandlung im Wege der zeitgleichen Bild- und Tonübertragung anzuordnen. Über die Verweisungsnorm des § 122 Abs. 2 Satz 2 gilt dies auch für das Haftprüfungsverfahren bei dem Oberlandesgericht. Die Entscheidung über die Anordnung der Bild- und Tonübertragung obliegt dem 3 pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, wodurch nach den Vorstellungen der Gesetzesverfasser gewährleistet werden soll, „dass das jeweils entscheidende Gericht unter Beachtung aller Umstände des Einzelfalls dafür Sorge trägt, dass Videokonferenztechnik nur in hierfür geeigneten Fällen zum Einsatz kommt“.4 Für den Bereich des § 118a Abs. 2 passt diese gesetzgeberische Erwägung – wie nahe- 4 zu die gesamte Gesetzesbegründung, in der auch von einem „Serviceangebot einer kundenorientierten Justiz“5 die Rede ist, – nicht. Denn anders als in den anderen Verfahrensordnungen geht es hier nicht um die Ersetzung der ansonsten möglichen Anwesenheit des Beschuldigten. Der Anwendungsbereich der neuen Bestimmung ist vielmehr erst bei Vorliegen eines der in Satz 1 genannten, durch restriktive Auslegung zu bestimmenden Hinderungsgründe eröffnet (dabei wird weniger der Verzicht des Beschuldigten auf seine Teilnahme an der Verhandlung eine Rolle spielen, als vielmehr die sonstigen Teilnahmehindernisse6). Anders als mitunter angenommen,7 eröffnet die Neuregelung dem Gericht also nicht etwa die Möglichkeit, nach seinem Ermessen anstelle der (möglichen) unmittelbaren Anwesenheit des Beschuldigten die mediale Variante zu wählen, sondern es geht um die Gewährleistung wenigstens einer durch die Bild- und Tonübertragung vermittelten Anwesenheit desjenigen Beschuldigten, der ansonsten gar nicht mitwirken könnte. Angesichts dessen dürfte das neue „Serviceangebot“ im Haftprüfungsverfahren auch keine große praktische Relevanz erlangen. Soweit es die Ermessensausübung durch das Gericht angeht, wird, wenn ein Hinde- 5 rungsfall nach Satz 1 zu bejahen ist, im Regelfall allein die Nutzung verfügbarer Videokonferenztechnik zur Ermöglichung wenigstens der „hilfsweisen“ Art der Teilhabe an der Verhandlung8 – und nicht etwa der Verzicht darauf – dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts entsprechen.9 3 4
5 6 7
LR/Hilger § 118a, 14 ff. im HW. BTDrucks. 17 1224, S. 16. Kritik an der (einseitigen) Anordnungsbefugnis des Gerichts nach dessen Ermessen hat Gaede als Sachverständiger in seiner schriftlichen Stellungnahme zur Anhörung durch den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages geäußert (abrufbar unter http://webarchiv.bundestag. de/cgi/show.php?fileToLoad=2549&id=1206, dort Seiten 8 f.). BTDrucks. 17 1224, S. 2 und 12. LR/Hilger § 118a, 14 im HW. Vgl. etwa die Kritik an dem Gesetzentwurf in der Stellungnahme der BRAK Nr. 30/2010 (abrufbar unter http://www.brak.de/
8
9
zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/ stellungnahmen-deutschland/2010/oktober/ stellungnahme-der-brak-2010-30.pdf), S. 5. Gaede (Fn. 4) hat den Einsatz der Videokonferenztechnik als „milderes Mittel gegenüber dem Ausschluss“ des Inhaftierten bezeichnet (wobei es indessen in keinem der in Satz 1 geregelten Fälle um einen Ausschluss des Beschuldigten geht). Vgl. auch Gaede (Fn. 4), der vorgeschlagen hat, im Gesetz eine Verpflichtung des Gerichts zur Anordnung der Verhandlung unter Nutzung der Bild- und Tonübertragung bei Vorliegen der Voraussetzungen des Satzes 1 festzuschreiben.
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Mit Blick auf die Nachteile, die mit der Videokonferenztechnik angesichts der fehlenden Unmittelbarkeit des Kontaktes grundsätzlich verbunden sind und die die Rechtsprechung in unterschiedlichen rechtlichen Zusammenhängen zur Zurückhaltung bei der Anwendung solcher Technik bewogen haben,10 wird auch angesichts der Neuregelung die restriktive Auslegung der Hinderungstatbestände beizubehalten sein. Es gelten also nicht etwa deshalb geringere Anforderungen, weil nunmehr auf die Videokonferenz zurückgegriffen werden kann. Denn auch bei der Durchführung eines Haftprüfungstermins kann es für das Gericht von erheblicher Bedeutung sein, sich ein unmittelbares, persönliches Bild von dem anzuhörenden Beschuldigten zu machen. Auch hier ist – wie etwa in den von der Rechtsprechung entschiedenen Fällen der Zeugenvernehmung und Anhörung im Vollstreckungsverfahren – zu bedenken, dass die lediglich mediale „Zuschaltung“ des Untersuchungsgefangenen dessen Ausdrucksmöglichkeiten einengen und bei diesem unnötige Hemmungen und Nervosität hervorrufen kann. Nicht zu verkennen sind auch die in einer Haftprüfung zu erwartenden rein praktischen Probleme, die durch die „technische Distanz“ bedingt sind, z.B. beim Vorhalt von Schriftstücken, Plänen und anderen Augenscheinsobjekten, wie etwa Videoaufnahmen von Überwachungskameras, die in der Verhandlung vorgeführt werden sollen.11 Ein weiterer Aspekt soll nicht verschwiegen werden: Der vom Gesetzgeber insbeson7 dere mit Blick auf die Anwaltschaft in den Vordergrund gerückte Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit kann sich bei der Haftprüfung durchaus ins Gegenteil kehren. Man denke an die nicht seltenen Fälle, in denen Verteidiger die Anwesenheit des Beschuldigten an Gerichtsstelle zwecks Durchführung eines Haftprüfungstermins sogleich zu Besprechungen mit ihren Mandanten nutzen, und sei es nur zur unmittelbaren Vorbereitung der Haftprüfungsverhandlung. Verteidiger halten sich oftmals ohnehin an Gerichtsstelle auf und können – jedenfalls bei günstiger Terminierung, auf die sie Einfluss nehmen können, – an einem Tag ohne zusätzliche „Anreise“ nicht nur mehr als einen Haftprüfungstermin wahrnehmen, sondern bei dieser Gelegenheit auch entsprechende Mandantengespräche führen. Bei lediglich „medialer Anwesenheit“ des Beschuldigten in der Haftprüfungsverhandlung bliebe ihnen demgegenüber nur die Pflicht, zwecks Durchführung solcher Mandantengespräche (zuvor und/oder anschließend) den Weg in eine oder gar mehrere Haftanstalten zu absolvieren, will man nicht den – vom Gesetz nicht vorgesehenen und auch praktisch kaum handhabbaren – Weg von Mandantengesprächen unter Nutzung gerichtlicher Videokonferenztechnik in Betracht ziehen. Bei allen Bestrebungen nach einem verstärkten Einsatz der Videotechnik ist überdies 8 die praktische Bedeutung der Qualität der technischen Ausstattung zu beachten. Soweit in der Gesetzesbegründung an manchen Stellen von „Möglichkeiten webbasierender Bild- und Tonübertragung mit kostengünstigen Kameras und der IT-technischen Bürostandardausstattung“ oder dem „Einsatz von Webtechnik“ die Rede ist,12 muss angenommen werden, dass dies einer unangemessenen Euphorie geschuldet ist, die mitunter auch in den Beratungen des Deutschen Bundestages ihren Ausdruck gefunden hat. Diese in Bezug auf die moderne Technologie verbreitete Hochstimmung wird den Blick auf die Erfordernisse des Gerichtsalltags hoffentlich nicht dauerhaft verstellen. Die Ansprüche
10
BGH NJW 1999 3788, 3790 zur Zeugenvernehmung gemäß § 247a; OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 2006 357 und OLG Stuttgart NStZ-RR 2012 323, jeweils zur mündlichen Anhörung des Verurteilten gemäß § 454 Abs. 1 Satz 3.
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Vgl. zu diesem Gesichtspunkt näher Buckow ZIS 2012 556 f. BTDrucks. 17 1224, S. 10 und 11.
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Nachtr. § 119 StPO
an eine brauchbare Technik sind im forensischen Alltag schon grundsätzlich nicht gering, und insbesondere im strafprozessualen Bereich sind die erhöhten Anforderungen, die mit der Bedeutung der Verfahren sowie der Komplexität der Ausdrucksformen und Interaktionen im Sitzungssaal verbunden sind, zu bedenken. Auf die Bedeutung der technischen Aspekte ist aus der haftrichterlichen Praxis13 bereits hingewiesen worden. Ein (aktueller) Überblick über bereits verfügbare gerichtliche Videokonferenzanlagen 9 nebst Kontaktdaten der jeweiligen Ansprechpartner findet sich im Internet unter http://www.justiz.de/verzeichnis/zwi_videokonferenz/videokonferenzanlagen.pdf. b) Pflichtverteidigerbestellung. Nach dem bisherigen Wortlaut des § 118a Abs. 2 10 Satz 2 und 3 wurde dem Beschuldigten, der zur mündlichen Verhandlung nicht vorgeführt wird, ein Verteidiger bestellt. Nunmehr soll im Fall der „Zuschaltung“ des Beschuldigten per Videotechnik zur mündlichen Haftprüfungsverhandlung eine Pflichtverteidigerbestellung entbehrlich sein. Dies dürfte angesichts der Neuregelungen in den §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 Satz 4 durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 im Ergebnis unschädlich sein. Hiernach wird ein Verteidiger ohnehin „unverzüglich nach Beginn der Vollstreckung“ der Untersuchungshaft bestellt. Aus diesem Grund wird auch die aufrechterhaltene Regelung des bisherigen Satzes 3 als neuer Satz 4 ohne nennenswerte praktische Relevanz bleiben.14 Keinesfalls trifft allerdings die Erwägung der Gesetzesbegründung15 zu, eine Verteidigerbestellung sei bei dem Einsatz von Videotechnik im Rahmen einer mündlichen Haftprüfung „überflüssig, da der Beschuldigte mittels Videokonferenz selbst in der Lage ist, seine Rechte wahrzunehmen“. 3. Verordnungsermächtigung. Die in Art. 9 Satz 1 VidVerfG vorgesehene Verord- 11 nungsermächtigung gestattet es den Landesregierungen, die ihre Befugnisse insoweit auf die Landesjustizverwaltungen übertragen können (Art. 9 Satz 2), durch Rechtsverordnung zu bestimmen, dass die Regelungen über die Bild- und Tonübertragung längstens bis zum 31.12.2017 ganz oder teilweise keine Anwendung finden. Es steht zu befürchten, dass die Länder hiervon zwar Gebrauch machen, die Zeit aber nicht zum Aufbau der erforderlichen leistungsfähigen Infrastruktur nutzen werden, zumal für diese – entgegen den Beteuerungen der Gesetzesverfasser – nicht unerhebliche finanzielle Mittel aufzuwenden sein werden.16
§ 119 (1) 1Soweit dies zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr (§§ 112, 112a) erforderlich ist, können einem inhaftierten Beschuldigten Beschränkungen auferlegt werden. 2Insbesondere kann angeordnet werden, dass 1. der Empfang von Besuchen und die Telekommunikation der Erlaubnis bedürfen, 2. Besuche, Telekommunikation sowie der Schrift- und Paketverkehr zu überwachen sind, 3. die Übergabe von Gegenständen bei Besuchen der Erlaubnis bedarf,
13 14
Buckow ZIS 2012 556 f. Gaede (Fn. 4) hat sich sogar für die Streichung des bisherigen Satzes 3 ausgesprochen.
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BTDrucks. 17 1224, S. 13. S. auch (krit.) LR/Graalmann-Scheerer § 462, 4 f. in diesem Nachtrag.
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4. der Beschuldigte von einzelnen oder allen anderen Inhaftierten getrennt wird, 5. die gemeinsame Unterbringung und der gemeinsame Aufenthalt mit anderen Inhaftierten eingeschränkt oder ausgeschlossen werden. 3Die Anordnungen trifft das Gericht. 4Kann dessen Anordnung nicht rechtzeitig herbeigeführt werden, kann die Staatsanwaltschaft oder die Vollzugsanstalt eine vorläufige Anordnung treffen. 5Die Anordnung ist dem Gericht binnen drei Werktagen zur Genehmigung vorzulegen, es sei denn, sie hat sich zwischenzeitlich erledigt. 6Der Beschuldigte ist über Anordnungen in Kenntnis zu setzen. 7Die Anordnung nach Satz 2 Nr. 2 schließt die Ermächtigung ein, Besuche und Telekommunikation abzubrechen sowie Schreiben und Pakete anzuhalten. (2) 1Die Ausführung der Anordnungen obliegt der anordnenden Stelle. 2Das Gericht kann die Ausführung von Anordnungen widerruflich auf die Staatsanwaltschaft übertragen, die sich bei der Ausführung der Hilfe durch ihre Ermittlungspersonen und die Vollzugsanstalt bedienen kann. 3Die Übertragung ist unanfechtbar. (3) 1Ist die Überwachung der Telekommunikation nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 angeordnet, ist die beabsichtigte Überwachung den Gesprächspartnern des Beschuldigten unmittelbar nach Herstellung der Verbindung mitzuteilen. 2Die Mitteilung kann durch den Beschuldigten selbst erfolgen. 3Der Beschuldigte ist rechtzeitig vor Beginn der Telekommunikation über die Mitteilungspflicht zu unterrichten. (4) 1Die §§ 148, 148a bleiben unberührt. 2Sie gelten entsprechend für den Verkehr des Beschuldigten mit 1. der für ihn zuständigen Bewährungshilfe, 2. der für ihn zuständigen Führungsaufsichtsstelle, 3. der für ihn zuständigen Gerichtshilfe, 4. den Volksvertretungen des Bundes und der Länder, 5. dem Bundesverfassungsgericht und dem für ihn zuständigen Landesverfassungsgericht, 6. dem für ihn zuständigen Bürgerbeauftragten eines Landes, 7. dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, den für die Kontrolle der Einhaltung der Vorschriften über den Datenschutz in den Ländern zuständigen Stellen der Länder und den Aufsichtsbehörden nach § 38 des Bundesdatenschutzgesetzes, 8. dem Europäischen Parlament, 9. dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, 10. dem Europäischen Gerichtshof, 11. dem Europäischen Datenschutzbeauftragten, 12. dem Europäischen Bürgerbeauftragten, 13. dem Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, 14. der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz, 15. dem Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen, 16. den Ausschüssen der Vereinten Nationen für die Beseitigung der Rassendiskriminierung und für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau, 17. dem Ausschuss der Vereinten Nationen gegen Folter, dem zugehörigen Unterausschuss zur Verhütung von Folter und den entsprechenden Nationalen Präventionsmechanismen, 18. den in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 4 genannten Personen in Bezug auf die dort bezeichneten Inhalte, 19. soweit das Gericht nichts anderes anordnet,
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a) den Beiräten bei den Justizvollzugsanstalten und b) der konsularischen Vertretung seines Heimatstaates. 3Die Maßnahmen, die erforderlich sind, um das Vorliegen der Voraussetzungen nach den Sätzen 1 und 2 festzustellen, trifft die nach Absatz 2 zuständige Stelle. (5) 1Gegen nach dieser Vorschrift ergangene Entscheidungen oder sonstige Maßnahmen kann gerichtliche Entscheidung beantragt werden, soweit nicht das Rechtsmittel der Beschwerde statthaft ist. 2Der Antrag hat keine aufschiebende Wirkung. 3Das Gericht kann jedoch vorläufige Anordnungen treffen. (6) 1Die Absätze 1 bis 5 gelten auch, wenn gegen einen Beschuldigten, gegen den Untersuchungshaft angeordnet ist, eine andere freiheitsentziehende Maßnahme vollstreckt wird (§ 116b). 2Die Zuständigkeit des Gerichts bestimmt sich auch in diesem Fall nach § 126. Schrifttum Engelstätter Erste Rechtsprechung zum Vollzug der Untersuchungshaft gem. § 119 StPO neuer Fassung – neue praktische Anforderungen für (Haft-)Richter und Staatsanwälte? SchlHA 2011 365; Feest/Pollähne Haftgründe und Abgründe – Eine Zwischenbilanz zur Untersuchungshaftgesetzgebung, FS 2009 30; Kirschke/Brune Der gemeinsame Gesetzentwurf der länderübergreifenden Arbeitsgruppe zum Untersuchungshaftvollzugsgesetz, FS 2009 18; König Zur Neuregelung der haftrichterlichen Zuständigkeiten in § 119 StPO, NStZ 2010 185; Lammer Neuerungen im Recht der Untersuchungshaft – eine erste Bilanz, AnwBl 2013 325; Oppenborn/Schäfersküpper Das „Recht des Untersuchungshaftvollzugs“ in Niedersachsen, FS 2009 21; Paeffgen Das Niedersächsische Justizvollzugsgesetz vom 14.12.2007, StV 2009 46; Seebode Das „Recht des Untersuchungshaftvollzugs“ im Sinne des Art. 74 GG, HRRS 2008 236; ders. Wer regelt den Justizvollzug? Vollzugsgesetze und formelles Verfassungsrecht, FS 2009 7; Wiesneth Die Untersuchungshaft (2010); weiteres Schrifttum bei § 114a.
Änderung. Die Vorschrift ist mit Artikel 1 Nummer 5 des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2274) neu gefasst worden. Übersicht Rn. I. Bedeutung
. . . . . . . . . . . . . . . .
1
II. Gesetzgebungskompetenz . . . . . . . . .
5
III. Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Einzelfragen 1. Beschränkungen zur Erreichung der Untersuchungshaftzwecke (Absatz 1) a) Anordnung im Einzelfall (Satz 1) . . b) Die Haftzwecke . . . . . . . . . . c) Erforderlichkeit der Beschränkung . d) Beschränkungen im Einzelnen (Satz 2) 2. Anordnung von Beschränkungen a) Zuständigkeit . . . . . . . . . . . b) Anordnungszeitpunkt . . . . . . . c) Verfahren . . . . . . . . . . . . . . d) Form der Entscheidung, Begründung, Bekanntgabe an den Beschuldigten . 3. Ausführung der Anordnungen (Absatz 2) a) Begriffsbestimmung . . . . . . . . b) Zuständigkeit . . . . . . . . . . . c) Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . .
11 12 20 21 33 42 43 45 48 53 63
Rn. 4. Geschützter Verkehr mit privilegierten Personenkreisen (Absatz 4) a) Ziel des Gesetzgebers . . . . . . . . b) Verteidigerkontakt . . . . . . . . . c) Grundsatz des freien Verkehrs – Erstreckung auf weitere Kommunikationspartner . . . . . . . . . . . d) Prüfung der Voraussetzungen (Satz 3) 5. Überprüfung (Absatz 5) a) Prüfungsgegenstand . . . . . . . . b) Antragsbefugnis . . . . . . . . . . c) Prüfungsumfang . . . . . . . . . . d) Beschwerde . . . . . . . . . . . . . e) Antrag auf gerichtliche Entscheidung f) Belehrungspflicht . . . . . . . . . . g) Revision . . . . . . . . . . . . . . 6. Anwendung bei Überhaft (Absatz 6) a) Vollstreckung anderer freiheitsentziehender Maßnahmen . . . . . b) Mehrere Haftbefehle . . . . . . . .
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I. Bedeutung 1
Die mit Artikel 1 des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274) vorgenommene Novellierung der Strafprozessordnung und die vollständige Neufassung des § 119 als ihr Kernstück ist in erster Linie den Auswirkungen der Föderalismusreform geschuldet. Mit Art. 1 Nr. 7 a), aa) des 52. Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 (BGBl. I S. 2034) ist eine Neuverteilung der Gesetzgebungskompetenz für den Bereich der Untersuchungshaft zwischen Landes- und Bundesgesetzgeber vorgenommen worden. Die (konkurrierende) Gesetzgebungskompetenz des Bundes beschränkt sich nach Art. 70 Abs. 1 i.V.m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG nunmehr auf „das gerichtliche Verfahren (ohne das Recht des Untersuchungshaftvollzugs)“. Damit wurden weite Teile der Regelungsmaterie des § 119 a.F. und der ihn ergänzenden Untersuchungshaftvollzugsordnung (UVollzO) in die Gesetzgebungskompetenz der Länder übertragen, von der diese nach und nach mit der Verabschiedung von Landesuntersuchungshaftvollzugsgesetzen Gebrauch gemacht haben. Mit der Neufassung des § 119 sollte daher die Regelung der im Bereich der Gesetz2 gebungskompetenz des Bundes verbliebenen Inhalte des § 119 a.F. und der ihn ergänzenden UVollzO erfolgen.1 Zugleich sollte dieser, bislang im Wesentlichen außerhalb der Strafprozessordnung (nämlich in der UVollzO) normierte Bereich in die bundesgesetzliche Regelung integriert und so eine Zentralisation der bundesgesetzlichen Vorschriften zum gerichtlichen Verfahren i.S. des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG in der Strafprozessordnung herbeigeführt werden. Die am Rande mit der Neufassung des § 119 zudem verfolgte Zielsetzung der übersichtlicheren und verständlicheren Gestaltung der Regelung hat Ausdruck in ihrem Absatz 4 gefunden, der nunmehr alle Fälle erfasst, in denen dem inhaftierten Beschuldigten unüberwachter Verkehr mit Dritten zu gewähren ist, nachdem sich die bisherigen unvollständigen Regelungen hierzu in verschiedenen Rechtsvorschriften außerhalb der Strafprozessordnung fanden.2 Hatte § 119 in der bis zum 31.12.2009 geltenden Fassung in seinem Absatz 3 auch 3 noch die nunmehr in die Regelungskompetenz der Länder fallenden Beschränkungen umfasst, die der Richter (§ 119 Abs. 6 a.F.) dem Verhafteten auferlegen durfte, wenn sie zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Anstalt erforderlich waren, regelt § 119 nunmehr ausschließlich den Bereich, der bislang durch § 119 Abs. 3 1. Alt. a.F. erfasst wurde. Dabei normiert die Vorschrift – dem anerkannten Reformbedarf folgend – die bislang unter dem Gesichtspunkt „Zweck der Untersuchungshaft“ möglichen Beschränkungen der Freiheitsrechte des inhaftierten Beschuldigten, ihre Anordnung und Ausführung, die Zuständigkeiten sowie den diesbezüglich gewährten gerichtlichen Rechtsschutz weit umfassender und präziser als der generalklauselartige § 119 Abs. 3 a.F. Dies trägt dem verfassungsrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip differenzierter Rechnung als die bisherige Regelung.3 Eine inhaltliche Veränderung der möglichen Maßnahmen im Vergleich zur bisherigen Rechtslage beabsichtigte der Gesetzgeber dabei aber nicht.4 Die Vorschrift sieht keine standardmäßige Geltung von Beschränkungen zur Errei4 chung des Haftzwecks im Untersuchungshaftvollzug vor. Vielmehr legt sie fest, dass jede – über den Freiheitsentzug durch die Inhaftierung hinausgehende – Beschränkung der Frei-
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BTDrucks. 16 11644 S. 23. BTDrucks. 16 11644 S. 14. Bittmann NStZ 2010 14; Michalke NJW 2010 17.
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BTDrucks. 16 11644 S. 12, 24.
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heitsrechte des inhaftierten Beschuldigten im Einzelfall auf seine konkrete Erforderlichkeit geprüft und ausdrücklich angeordnet sowie begründet werden muss.5 Damit entzieht sie der bisher üblichen, auf die UVollzO zurückgehenden Praxis der regelmäßig weitreichenden Beschränkungen der Freiheitsrechte und ausnahmsweisem Absehen hiervon die Grundlage und stellt dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis in Umsetzung der Unschuldsvermutung und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes „vom Kopf auf die Füße“.6
II. Gesetzgebungskompetenz Während die ausschließliche legislative Zuständigkeit für den Untersuchungshaftvoll- 5 zug (das „Wie“ der Untersuchungshaft) mit der Föderalismusreform auf die Länder übergegangen ist, verblieb die Regelung des Untersuchungshaftrechts (das „Ob“ der Untersuchungshaft) in der Kompetenz des Bundesgesetzgebers. Dazu gehört die Regelung der Untersuchungshaft selbst einschließlich der Voraussetzungen, unter denen sie angeordnet und vollzogen werden kann, und ihrer Dauer. Dass die Regelungskompetenz des Bundes auch Bestimmungen mit dem Ziel, die ord- 6 nungsgemäße Durchführung des Strafverfahrens zu sichern, umfasst und der Bund deshalb auch solche Maßnahmen regeln kann, die der Zweck der Untersuchungshaft erfordert, wie es die Motive des Gesetzgebers ausweisen,7 wird teilweise infrage gestellt.8 Nach der Gesetzesbegründung9 soll die in § 119 Abs. 3 1. Alt. a.F. geregelte Anordnung solcher Beschränkungen, die zur Erreichung des Zwecks der Untersuchungshaft, mithin zur Abwehr von Flucht-, Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahren und der Sicherung der ordnungsgemäßen Durchführung des Strafverfahrens bzw. der Abwehr erheblicher Gefahren für bedeutende Rechtsgüter erforderlich sind, weiterhin in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes fallen. Ebenso wie die Anordnung der Freiheitsentziehung selbst würden sich diese, über sie hinausgehenden Beschränkungen eben gerade aus diesem Zweck rechtfertigen. Diesem engen Verständnis des Begriffs des Untersuchungshaftvollzugs hat sich mittlerweile die überwiegende Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum angeschlossen.10 Abweichend hiervon vertritt das OLG Celle11 in weiter Auslegung des Vollzugsbe- 7 griffs die Auffassung, die Länder seien für sämtliche Entscheidungen und sonstigen Maß-
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OLG Frankfurt NStZ-RR 2010 294; OLG Hamm NStZ-RR 2010 221; KG StV 2010 370; Brocke/Heller StraFo 2011 2. König NStZ 2010 185; ders. AnwBl 2010 50; ders. StV 2011 704. BTDrucks. 16 11644 S. 12. Mit beachtlichen Argumenten Seebode HRRS 2008 239, 241; ders. FS 2009 7. BTDrucks. 16 11644 S. 23. BGH (Ermittlungsrichter) StraFo 2012 227; OLG Frankfurt NStZ-RR 2010 294; OLG Hamm StV 2010, 369 (insoweit nicht abgedruckt in NStZ-RR 2010 221); NStZ-RR 2010 292; OLG Köln NStZ 2011 55; OLG Rostock NStZ 2010 350, 351; Bittmann NStZ 2010 14; Brocke/Heller StraFo 2011 3; Deckers StraFo 2009 441; Harms FS 2009
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13; Kazele NJ 2010 4; ders. StV 2010 258; Kirschke/Brune FS 2009 18; Graf/Krauß 1; AnwK-StPO/Lammer 1, 2; Meyer-Goßner/ Schmitt 2; Michalke NJW 2010 19; Paeffgen StV 2009 47 f.; SK/Paeffgen 2; HK/Posthoff 1; Weider StV 2010 106; hinsichtlich der Abwehr einer Fluchtgefahr differenzierend König NStZ 2010 186; AnwKUHaft/König 9. OLG Celle StV 2010 194 mit abl. Anm. Kazele StV 2010 258; Nestler HRRS 2010 546; festhaltend StraFo 2012 228 – gegen BGH (Ermittlungsrichter) StraFo 2012 227; anders für den Vollzug der Auslieferungshaft NStZ 2012 649 (Zuständigkeit des Senatsvorsitzenden für Beschränkungen in Auslieferungssachen, die den Zweck der Ausliefe-
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nahmen im Untersuchungshaftvollzug zuständig, die nicht die Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Untersuchungshaft an sich, sondern das „Wie“ der Untersuchungshaft betreffen, also für alle Eingriffsmaßnahmen, die einen Verdächtigen nur wegen seiner Inhaftierung und zusätzlich zu dieser treffen können, und damit auch für Beschränkungen, die dem Zweck der Untersuchungshaft dienen. Von dieser Regelungskompetenz habe der niedersächsische Landesgesetzgeber mit der Verabschiedung des NJVollzG12 Gebrauch gemacht, so dass § 119 für den Bereich des Untersuchungshaftvollzugs in Niedersachsen überhaupt keine Anwendung finde. Dieses weite Verständnis des Untersuchungshaftvollzugsbegriffs wird durch die Auslegung Seebodes nunmehr gestützt.13 Die Reichweite der Kompetenzänderung, die mit der Föderalismusreform eingetreten 8 ist, ist noch nicht verfassungsgerichtlich geklärt. Eine auf der Annahme, die Regelungen des NJVollzG über die Zuständigkeiten für die Kontrolle der Post des Untersuchungsgefangenen beträfen nicht den Untersuchungshaftvollzug und seien wegen fehlender Gesetzgebungsbefugnis des Landes verfassungswidrig, fußende Vorlage des OLG Oldenburg14 hat der 2. Senat des BVerfG für unzulässig erklärt.15 Auch eine nachfolgende, die gleichen Bestimmungen betreffende Vorlage des AG Meppen16 wurde mit Kammerbeschluss als unzulässig wegen nicht ausreichender Darlegung der Entscheidungserheblichkeit zurückgewiesen.17 In der Sache selbst hat sich das Bundesverfassungsgericht daher bisher nicht positioniert. Das der gesetzlichen Regelung zugrunde liegende enge Verständnis des Begriffs des 9 Untersuchungshaftvollzugs hat hinsichtlich der Beschränkungen, die einem inhaftierten Beschuldigten über den Freiheitsentzug hinaus auferlegt werden können, je nach dem Grund für die Anordnung derselben eine gewisse Überschneidung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern zur Folge.18 Dieselbe Beschränkung, beispielsweise die Fesselung des Untersuchungsgefangenen, kann sowohl (haftrichterlich) zum Zwecke der Abwehr von Flucht-, Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahren, als auch – auf länderrechtlicher Grundlage und durch die Vollzugsanstalt – aus vollzuglichen Gründen angeordnet werden.19 Daraus resultierende Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen haftrichterlichen und Anordnungszuständigkeiten der Vollzugsanstalten hat der Gesetzgeber nicht gesehen.20
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rungshaft betreffen, auch in Niedersachsen nach § 27 Abs. 1 IRG i.V.m. § 119 StPO und § 27 Abs. 3 IRG). Niedersächsisches Justizvollzugsgesetz (NJVollzG) vom 14.12.2007 (Nds.GVBl. Nr. 41/2007 S. 720), geändert durch das Gesetz vom 20.2.2009 (Nds. GVBl. Nr. 3/2009 S. 32) und Art. 2 der Gesetzes vom 25.3.2009 (Nds. GVBl. Nr. 6/2009 S. 72). Seebode HRRS 2008 236 ff.; ders. FS 2009 7. StV 2008 195. BVerfGE 121 233.
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Vorlagebeschluss vom 11.9.2008 – NZS 21 Gs 276/08 –, nicht veröffentlicht. BVerfG Beschluss vom 20.11.2008 – 2 BvL 16/08 – [juris]. BTDrucks. 16 11644 S. 12, 23: „… unvermeidbare Konsequenz der durch die Föderalismusreform in Artikel 74 GG getroffenen Kompetenzzuweisung“; Brocke/Heller StraFo 2011 3; HK/Posthoff 4; Weider StV 2010 106. BTDrucks. 16 11644 S. 12, 23. BTDrucks. 16 11644 S. 23 f.
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III. Geltungsbereich Die Regelungen des § 119 gelten – trotz ihrer systematischen Stellung im Gesetz – 10 nicht nur für den Vollzug der Untersuchungshaft auf der Grundlage eines nach den §§ 112, 112a ergangenen Haftbefehls und die Hauptverhandlungshaft nach § 127b, sondern auch für die Haft aufgrund von Haftbefehlen nach den §§ 230 Abs. 2, 236, 329 Abs. 4 und 412 Satz 1.21 Durch die Verweisungen in den §§ 126a Abs. 2 Satz 1, 453c Abs. 2 Satz 2 und 275a Abs. 5 Satz 4 sind die Vorschriften auch auf die einstweilige Unterbringung, die Sicherungshaft und die Haft bei erwarteter Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anwendbar.
IV. Einzelfragen 1. Beschränkungen zur Erreichung der Untersuchungshaftzwecke (Absatz 1) a) Anordnung im Einzelfall (Satz 1). Über den Freiheitsentzug durch Inhaftierung 11 hinaus können dem inhaftierten Beschuldigten nach Absatz 1 Satz 1 Beschränkungen auferlegt werden, soweit dies zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr erforderlich ist. Wie bereits ausgeführt (Rn. 4), sieht die Vorschrift – anders als noch der dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung vorausgehende Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz – keine standardmäßige Geltung von Beschränkungen zur Erreichung des Haftzwecks im Untersuchungshaftvollzug vor. Zwar galt dies nach dem Wortlaut des § 119 Abs. 3 1. Alt. a.F. auch schon bisher. Die in Ergänzung und Ausgestaltung der gesetzlichen Regelung von den Landesjustizverwaltungen geschaffene, am 12.2.1953 bundeseinheitlich beschlossene, zum 1.1.1977 neu gefasste und in der Folgezeit mehrfach geänderte UVollzO stellte dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis aber „auf den Kopf“. In der Praxis führte das dazu, dass die Anordnung weitreichender Beschränkungen der Normalfall war, der „beschränkungsfreie“ Vollzug der Untersuchungshaft dagegen nur äußerst selten stattfand. Zwar konnte diese Verwaltungsvorschrift den nach § 119 Abs. 6 a.F. für die Anordnung jeglicher Beschränkungen grundsätzlich zuständigen Richter nicht binden, stellte lediglich eine – unzulässige (§ 25 DRiG) – Handlungsempfehlung für ihn dar. Gleichwohl hielten sich die Haftrichter aber in aller Regel an die UVollzO und transformierten das von ihr vorgegebene Muster in eine richterliche Anordnung, indem sie die Geltung der Verwaltungsvorschrift für den Vollzug der Untersuchungshaft im Einzelfall – fast ausschließlich formularmäßig mit dem Aufnahmeersuchen an die Vollzugsanstalt – anordneten. Abweichende, weniger einschränkende Anordnungen wurden nur selten und zumeist erst nach Intervention des Verhafteten getroffen, obwohl dem Richter von Gesetzes wegen eine solche Entscheidung auferlegt war, wenn er durch diese – ohne wesentliche Beeinträchtigung des Haftzwecks und der Anstaltsordnung – eine „grundrechtsfreundlichere“ Gestaltung des Vollzuges ermöglichen konnte, also nicht nur, wenn besondere Gründe vorlagen. Dieser Praxis ist mit dem Wegfall der UVollzO und der Neuregelung der Beschränkungen in Umsetzung der Untersuchungshaftzwecke innerhalb der Strafprozessordnung die Grundlage entzogen. Jede über den Freiheitsentzug durch die Inhaftierung hinausgehende Beschränkung der Freiheitsrechte des inhaftierten Beschuldigten muss nunmehr – der Unschuldsvermutung und dem Gewicht des mit den Beschränkungen verbundenen Grundrechtseingriffs Rechnung tragend – im Einzelfall auf
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BTDrucks. 16 11644 S. 24.
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ihre konkrete Erforderlichkeit geprüft und ausdrücklich angeordnet sowie begründet werden.22 Die Nichtanordnung von Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 ist – zumindest in Ermittlungsverfahren ohne Bezug zur organisierten Kriminalität – der sich nach und nach auch in der Praxis durchsetzende Regelfall, die Beschränkung nach eingehender Einzelfallprüfung unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips die Ausnahme.
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b) Die Haftzwecke. In der Absicht der Klarstellung benennt Satz 1 die zulässigen Zwecke der Untersuchungshaft mit Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr ausdrücklich. Eine inhaltliche Änderung hinsichtlich der eine Beschränkung der dem inhaftierten Beschuldigten verbliebenen Freiheiten rechtfertigenden Gründe im Verhältnis zu § 119 Abs. 3 1. Alt. a.F. („Zweck der Untersuchungshaft“) soll damit nicht verbunden sein.23 Nach wie vor liegt der Zweck der Untersuchungshaft mithin im Fall des Bestehens von Flucht- oder Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2) in der Sicherstellung der ordnungsgemäßen Durchführung des Strafverfahrens durch Verhinderung von Flucht und Verdunkelungshandlungen; bei bestehender Wiederholungsgefahr (§ 112a) in der Abwehr erheblicher Gefahren für bedeutende Rechtsgüter durch Verhinderung bestimmter Wiederholungstaten. Andere Zwecke dürfen mit der Anordnung von Beschränkungen nicht verfolgt werden. Die von König vorgenommene Differenzierung, nach der Beschränkungen nach § 119 13 nur dann auf den Aspekt der Abwehr einer Fluchtgefahr gestützt werden können, „wenn Vorsorge gegen eine Flucht des (noch) Inhaftierten für den Fall der Wiedererlangung seiner Freiheit (sei es durch Entlassung, sei es durch Ausbruch) zu treffen ist“, während die Vollzugsanstalt (auf der Grundlage des jeweiligen Landesuntersuchungshaftvollzugsgesetzes) Maßnahmen zur „Abwehr der Gefahr eines Ausbruchs aus der Haftanstalt“ zu treffen habe,24 führt in der Praxis nicht zu einer Einschränkung der haftrichterlichen Anordnungskompetenzen. Zwar trifft es zu, dass sich die Gefahr des Ausbruchs nur aus dem Status des Beschuldigten als Inhaftiertem ergeben kann. Praktisch ist es aber so, dass ein inhaftierter Beschuldigter, der seinen Ausbruch aus der Vollzugsanstalt plant, sich nach dessen Gelingen mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht dem Verfahren zur Verfügung halten, sondern nach Wiedererlangung der Freiheit fliehen oder untertauchen wird. Anhaltspunkte, die darauf schließen lassen, dass der Beschuldigte seinen Ausbruch aus der Anstalt vorbereitet, begründen damit zugleich die Gefahr der Flucht für den Fall, dass ihm dieser gelingt. Insofern rechtfertigt die konkrete Gefahr des Ausbruchs auch bei dieser einschränkenden Definition des Haftzwecks sowohl die haftrichterliche Anordnung von Beschränkungen nach § 119, als auch Maßnahmen der Vollzugsanstalt zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in dieser. Die Zulässigkeit der Heranziehung haftbefehlsfremder Haftgründe zur Rechtfertigung 14 von Beschränkungsanordnungen zur Erreichung des Zwecks der Untersuchungshaft war in der Vergangenheit umstritten. Für die Anordnungen nach § 119 Abs. 1 soll es nach dem Willen des Gesetzgebers – der sich insoweit auf die nach bisheriger Rechtslage
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BTDrucks. 16 11644 S. 24; vgl. BerlVerfGH StV 2011 166; OLG Frankfurt NStZ-RR 2010 294, OLG Hamm NStZ-RR 2010 221; KG StV 2010 370; Brocke/Heller StraFo 2011 2; Burhoff ZAP 2010 F.22, 489; Harms FS 2009 13; Herrmann StRR 2010 4; König NStZ 2010 185; AnwK-UHaft/König 17; Graf/Krauß 8; Meyer-Goßner/Schmitt 7;
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Michalke NJW 2010 19 f.; Paeffgen GA 2009 456; SK/Paeffgen 5; HK/Posthoff 7; KMR/Wankel 4; Weider StV 2010 106; kritisch Bittmann NStZ 2010 16. BTDrucks. 16 11644 S. 24: „Eine sachliche Erweiterung oder Einschränkung der Kompetenzen ist damit nicht verbunden.“ König NStZ 2010 186.
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bereits „geübte und vom Bundesverfassungsgericht für zulässig erachtete Praxis“ beruft, die Beschränkungen nach § 119 Abs. 3 1. Alt. a.F. nicht nur zur Abwehr des im Haftbefehl ausdrücklich genannten Haftgrundes zuließ, sondern auch zur Abwendung dort nicht genannter Gefahren für die Haftzwecke – nicht darauf ankommen, ob der Haftbefehl, der der Inhaftierung zugrunde liegt, ausdrücklich auf den Haftgrund (Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr) gestützt ist, zu dessen Abwehr eine Beschränkung nach Absatz 1 angeordnet werden soll.25 Dafür, dass auch haftbefehlsfremde Haftgründe für die (nachträgliche) Anordnung 15 von Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 herangezogen werden dürfen, spricht, dass sich während des Vollzuges der (wegen eines bestimmten Haftgrundes angeordneten) Untersuchungshaft konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen eines (weiteren) Haftgrundes, auf den die Inhaftierung bislang nicht gestützt ist, ergeben können, durch den der Haftzweck gefährdet ist. Zumindest dann, wenn es sich in beiden Fällen um einen Haftgrund nach § 112 handelt, Untersuchungshaft also wegen Fluchtgefahr angeordnet wurde und sich später Anhaltspunkte dafür ergeben, dass auch Verdunkelungsgefahr besteht (oder umgekehrt), erscheint es nicht erforderlich, den Haftbefehl vor Anordnung einer Beschränkung zur Abwehr des neu zutage getretenen Haftgrundes um diesen zu ergänzen. Denn unabhängig davon, dass eine ggf. mehrfache Umstellung des Haftbefehls bei sich ändernder Erkenntnislage zu weiteren Haftgründen mit Blick etwa auf die Verkündungspflicht nicht praktikabel erscheint, dient sowohl die Verhinderung der Flucht als auch die Verhinderung von Verdunkelungshandlungen der Sicherung der ordnungsgemäßen Durchführung des Strafverfahrens und damit demselben Haftzweck. Ist der Haftbefehl, der gegen den Beschuldigten vollstreckt wird, auf § 127b gestützt 16 oder auf die §§ 230 Abs. 2, 236, 329 Abs. 4 oder 412 Satz 1, muss schon die ursprüngliche Anordnung von Beschränkungen auf die Abwehr eines dort nicht genannten Haftgrundes gestützt werden können. Da die Anordnung der Hauptverhandlungshaft nach § 127b weder Flucht- oder Verdunklungsgefahr noch Wiederholungsgefahr voraussetzt, sondern nur die Wahrscheinlichkeit einer Entscheidung im beschleunigten Verfahren (binnen einer Woche nach Festnahme) und die Befürchtung des Fernbleibens in der Hauptverhandlung,26 findet sich dort – wie im Falle der Haftanordnung nach den §§ 230 Abs. 2, 236, 329 Abs. 4 oder 412 Satz 1 – keiner der drei in § 119 genannten Haftzwecke ausdrücklich im Haftbefehl. Anordnungen nach § 119 Abs. 1 wären in diesen Fällen schlicht nicht möglich, selbst wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Flucht- oder Verdunkelungsgefahr bestünden, wollte man nicht auch ein Abstellen auf haftbefehlsfremde Haftgründe zulassen. Soll eine Beschränkung zur Abwehr einer Wiederholungsgefahr angeordnet werden, 17 muss in dem Fall, in dem neben dieser auch eine Flucht- oder Verdunkelungsgefahr besteht, ebenfalls auf einen haftbefehlsfremden Haftgrund zurückgegriffen werden, denn der Haftbefehl kann nach § 112a Abs. 2 nur dann auf die Wiederholungsgefahr gestützt werden, wenn ein Haftgrund nach § 112 (Flucht- oder Verdunkelungsgefahr) nicht vor-
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BTDrucks. 16 11644 S. 24; vgl. OLG Hamm NStZ-RR 2010 292, 293; KG StV 2010 370, 371; 2010 371; Beschluss vom 7.2.2012 – 4 Ws 11/12 – [juris]; OLG Karlsruhe StV 2010 198; OLG Köln NStZ 2011 55; StraFo 2013 71 für die Heranziehung haftbefehlsfremder Haftgründe zur Rechtfertigung von Beschränkungen nach § 119 Abs. 1;
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OLG Celle NStZ-RR 2010 160 ebenso für das NJVollzG; so auch Brocke/Heller StraFo 2011 3; Meyer-Goßner/Schmitt 5; HK/Posthoff 6; KMR/Wankel 7 f.; a.A. (wohl) OLG Rostock StV 2010 198; König NStZ 2010 187; AnwK-UHaft/König 14; SK/Paeffgen 10; Radtke/Hohmann/Tsambikakis 7. Vgl. LR/Hilger § 127b, 9 ff. im HW.
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liegt. Besteht also neben dem Haftgrund der Wiederholungsgefahr auch der der Fluchtoder Verdunkelungsgefahr, findet sich ersterer nicht im Haftbefehl. Wird eine Beschränkungsanordnung auf einen haftbefehlsfremden Haftgrund ge18 stützt, muss dieser aber in der richterlichen Verfügung ausdrücklich mit den Tatsachen, die seiner Annahme zugrunde liegen, benannt werden, damit dem inhaftierten Beschuldigten die Möglichkeit eröffnet wird, sich auch insoweit zu verteidigen. An die Feststellung des Vorliegens einer Gefahr für die Erfüllung der Haftzwecke sind 19 dabei im Hinblick auf die Unschuldsvermutung und die Grundrechtsrelevanz der zu ihrer Abwehr zu treffenden Beschränkungen hohe Anforderungen zu stellen. Anordnungen nach § 119 Abs. 1 sind nur zulässig, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte eine reale Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr besteht, der allein durch die Inhaftierung des Beschuldigten nicht hinreichend begegnet werden kann. Die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine (verbliebenen) Freiheiten missbraucht, genügt – wie nach der bisherigen Rechtslage27 – nicht. Unzureichend ist es, die Annahme einer – mit Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 zu begegnenden – Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr allein auf die Würdigung zu stützen, die der Anordnung bzw. der Fortdauer der Untersuchungshaft zugrunde liegt, ohne die durch die Inhaftierung geänderte Situation des Beschuldigten zu berücksichtigen.28 Auch die bloße „Verstrickung in die organisierte Kriminalität“ reicht allein für die Annahme einer realen Gefahr für die Haftzwecke nicht aus.29 Allerdings können nach der Gesetzesbegründung insbesondere in Fällen der organisierten Kriminalität (und bei dringendem Verdacht der Begehung terroristischer Taten) im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung auch allgemeine Erfahrungen und Erkenntnisse mit entsprechenden Tätergruppen berücksichtigt werden.30 Konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung der Haftzwecke können sich danach nicht nur aus dem Verhalten und den persönlichen Verhältnissen des Beschuldigten und seiner Mittäter, sondern auch aus den sonstigen Umständen der Tatbegehung sowie ggf. aus früheren Verurteilungen ergeben.31 Die Gefahrenprognose muss aber in jedem Falle alle diese Aspekte beleuchten und tatsachenfundiert sein.
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c) Erforderlichkeit der Beschränkung. Bereits nach bisherigem Recht war anerkannt, dass der Untersuchungsgefangene, für den die Unschuldsvermutung streitet und der trotz seiner Inhaftierung Grundrechtsträger bleibt, ausschließlich unvermeidbaren Beschränkungen unterworfen werden darf.32 Daran hat sich mit der Neuregelung des § 119 nichts geändert.33 Nach wie vor ist sowohl für die Entscheidung, ob überhaupt eine Beschränkung der Freiheiten des Beschuldigten über die Inhaftierung hinaus angeordnet werden muss, als auch für die Auswahl der möglichen Beschränkungen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit strikt zu beachten. Jede Beschränkungsanordnung ist an dem durch sie eingeschränkten Grundrecht zu messen und stets so zu wählen, dass sie das mildeste, zur Erreichung des Zwecks geeignete Mittel darstellt.34
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d) Die Beschränkungen im Einzelnen regelt Absatz 1 Satz 2 in seinen Nummern 1 bis 5 exemplarisch und nicht abschließend. Dieser Katalog umfasst alle häufig in Betracht 27 28
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BVerfGE 35 5. BerlVerfGH StV 2011 166; OLG Düsseldorf StV 2011 746; OLG Hamm NStZ-RR 2010 221; 2010 293; KG StV 2010 371; OLG Köln StV 2011 743; StraFo 2013 71. OLG Hamm NStZ-RR 2010 221; OLG Rostock NStZ 2010 350.
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BTDrucks. 16 11644 S. 26. Brocke/Heller StraFo 2011 4. Vgl. LR/Hilger 21 ff., 36 ff. im HW. KG StV 2010 370. Vgl. AnwK-UHaft/König 18; Graf/Krauß 9; SK/Paeffgen 7; HK/Posthoff 8; Radke/Hohmann/Tsambikakis 6.
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kommenden Beschränkungen, ohne dem Gericht die Möglichkeit zu nehmen, in diesem Katalog nicht genannte, auf den konkreten Einzelfall und seine Besonderheiten abgestimmte Maßnahmen anzuordnen.35 Eine inhaltliche Veränderung der möglichen Maßnahmen im Vergleich zur bisherigen Rechtslage beabsichtigte der Gesetzgeber nicht.36 aa) So kann nach Nummer 1 insbesondere angeordnet werden, dass der Empfang 22 von Besuchen und die Telekommunikation der Erlaubnis bedürfen. Ein solches Verbot mit Erlaubnisvorbehalt stellt einen ganz erheblichen Eingriff in die Grundrechte des Untersuchungsgefangenen dar. Sie kann regelmäßig dann gerechtfertigt werden, wenn und soweit zur Abwehr einer konkreten Gefahr für einen der Haftzwecke (auch) eine Anordnung nach Nummer 2 geboten ist. Denn müssen die Besuchskontakte des inhaftierten Beschuldigten und seine Telekommunikation überwacht werden, kann es erforderlich sein, diese Außenkontakte auf einen Umfang zu beschränken, der eine sachgerechte Überwachung erst ermöglicht.37 Unter Verhältnismäßigkeitsaspekten kann es geboten sein, bestimmte Personenkreise, 23 bei denen eine Überwachung wegen fehlender Gefährdung der Haftzwecke nicht erforderlich ist, (auch) von der Erlaubnispflicht auszunehmen. Besteht für die Besuche von oder die Telekommunikation mit Ehegatten oder Lebenspartnern bzw. deren oder eigenen Kindern ein Erlaubnisvorbehalt, ist bei der Prüfung, ob im Einzelfall eine solche Erlaubnis zu erteilen oder zu versagen ist, dem grundgesetzlichen Schutz von Ehe und Familie und dem Umstand Rechnung zu tragen, dass zusätzlich zu den bei jedem sonstigen Kommunikationspartner von dieser Entscheidung berührten Grundrechten hier auch ein Eingriff in das Grundrecht beider Beteiligter aus Art. 6 Abs. 1 GG erfolgt. Regelmäßig wird dem gefährdeten Haftzweck hier mit einer (inhaltlichen) Gesprächsüberwachung hinreichend genügt werden können. Eine Besuchs- oder Telekommunikationserlaubnis kann zudem dann mit Weisungen versehen werden, wenn nur hierdurch die Erlaubnisfähigkeit hergestellt werden kann. So kann der Beschuldigte angewiesen werden, bestimmte Themen mit seinem Kommunikationspartner nicht zu erörtern. bb) Neben der Überwachung der Besuche und der Telekommunikation des inhaftier- 24 ten Beschuldigten kommt nach Nummer 2 auch die Anordnung in Betracht, dass dessen Schrift- und Paketverkehr zu überwachen ist. Beschränkt werden darf der Schriftverkehr aus Gründen der Abwehr von Gefahren für die Haftzwecke grundsätzlich nicht.38 Der Untersuchungsgefangene darf auch dann (jedenfalls in deutscher Sprache) in unbeschränktem Umfang schriftlich mit der Außenwelt kommunizieren, wenn eine Überwachung des Schriftverkehrs erforderlich ist. In Einzelfällen kann aber eine Einschränkung des Rechts auf Schriftwechsel in quantitativ unbegrenztem Umfang ausnahmsweise dann gerechtfertigt sein, wenn der Schriftwechsel ein solches Ausmaß erreicht, dass eine erforderliche Kontrolle nicht mehr mit vertretbarem Aufwand durchgeführt werden kann.39 Möglich ist auch die Anordnung stichprobenartiger Kontrollen.40 Für den Schriftwechsel
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Vgl. BTDrucks. 16 11644 S. 25; HK/Posthoff 25. BTDrucks. 16 11644 S. 12. Vgl. BTDrucks. 16 11644 S. 25; HK/Posthoff 10. Vgl. für die alte Rechtslage KG NStZ 1992 558. Vgl. OLG Celle StV 2010 143 f., das in die-
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sen Fällen eine Beschränkung des Schriftwechsels auf ein noch kontrollierbares Maß, das bei durchschnittlich einem Brief von knapp 10 Seiten pro Tag noch nicht überschritten sein soll (zweifelhaft), für zulässig erachtet. AnwK-UHaft/König 38; Graf/Krauß 23.
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in Fremdsprachen gelten die bisherigen Beschränkungsmöglichkeiten; der unbeschränkte Schriftwechsel ist aber auch in diesem Falle die Regel. Die Außenkontakte des Untersuchungsgefangenen wurden in der Vergangenheit nahezu 25 ausnahmslos überwacht. Die – vom Richter regelmäßig in eine Anordnung nach § 119 Abs. 3, 6 a.F. transformierte – UVollzO sah in Nummer 27 Abs. 1 die Überwachung der Besuche, in Nummern 32, 33 und 39 Abs. 1 die Überwachung des Schrift- und Paketverkehrs und in Nummer 38 Abs. 1 die Überwachung der Telekommunikation des Untersuchungsgefangenen als Standard vor. Zwar wird auch nach neuer Rechtslage häufiger für diese als für andere Beschränkungen zur Erreichung des Haftzwecks Anlass bestehen, weil dem inhaftierten Beschuldigten mit ihnen die Möglichkeit der Absprache von Fluchtplänen und Verdunkelungshandlungen bzw. der Steuerung der Begehung weiterer Straftaten aus der Untersuchungshaft heraus genommen und den Untersuchungshaftzwecken effektiv zur Geltung verholfen werden kann.41 Standardmäßig darf aber auch eine Überwachung der Außenkontakte nicht angeordnet werden. Vielmehr kann auch die Anordnung einer solchen Beschränkung nur das Ergebnis einer an den Grundrechten des Untersuchungsgefangenen gemessenen, die Unschuldsvermutung und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtenden Einzelfallprüfung sein. Hinsichtlich der Art und Weise der Überwachung ist bei Besuchskontakten zu beach26 ten, dass die (nur) optische Überwachung in jedem Falle das mildere Mittel darstellt. Die inhaltliche Gesprächsüberwachung tangiert das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sowohl des Untersuchungsgefangenen als auch seines Besuchers und darf als eingriffsintensivere Maßnahme unter Verhältnismäßigkeitsaspekten nur angeordnet werden, wenn die optische Überwachung des Besuchs allein Gefahren für den Haftzweck nicht hinreichend abwehren kann.42 Ist die akustische Besuchsüberwachung eines ausländischen Untersuchungsgefangenen angeordnet worden und die Hinzuziehung eines Dolmetschers hierfür erforderlich, weil der Untersuchungsgefangene und sein(e) Besucher sich nicht in deutscher Sprache verständigen können, so ist der hinzugezogene Dolmetscher aus der Staatskasse zu vergüten.43 Liegen konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Haftzwecks durch Übergabe von Gegenständen bei einem Besuch vor, so kann – neben einer Anordnung nach Nummer 3 – auch dann die Anordnung der Verwendung einer Trennscheibe in Betracht kommen, wenn kein Verdacht einer Straftat nach § 129a StGB besteht.44 Nach Satz 7 schließt die Anordnung nach Satz 2 Nummer 2 die Ermächtigung ein, 27 Besuche und Telekommunikation abzubrechen sowie Schreiben und Pakete anzuhalten, wenn andernfalls der Zweck der Untersuchungshaft gefährdet wäre. Ohne eine solche Befugnis des die Anordnung Ausführenden könnte die Überwachung keine Wirkung entfalten, soll durch sie doch eine Absprache des Beschuldigten mit Dritten zur Fluchtvorbereitung, über Maßnahmen zur Verdunkelung oder zur Steuerung der Begehung weiterer Straftaten verhindert, nicht nur aufgedeckt werden.45 Angehaltene Schreiben oder Pakete sind an den Absender zurückzuschicken, wenn dies ohne eine Gefährdung des Zwecks
41
42
Vgl. OLG Köln NStZ 2011 55, wonach das Begehren des Untersuchungsgefangenen, Telefonate mit Personen außerhalb der Vollzugsanstalt zu führen, in der Regel dem Zweck der Untersuchungshaft widerstreiten soll (zweifelhaft, s. dazu auch HK/Posthoff 17). Vgl. HK/Posthoff 15.
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LG Düsseldorf StV 2012 357. SK/Paeffgen 22; AnwK-UHaft/König 35. Vgl. zum Anhalten eines Briefes des inhaftierten Beschuldigten, durch den eine Zeugin zum Zwecke der Beeinflussung ihres künftigen Aussageverhaltens psychisch unter Druck gesetzt werden soll, OLG Jena NStZ-RR 2012 28.
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der Untersuchungshaft möglich ist; beanstandete Schreiben des Beschuldigten sind zu dessen Habe zu nehmen. Als milderes Mittel ist grundsätzlich die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, die zu beanstandenden Passagen unkenntlich zu machen und das Schriftstück danach weiterzuleiten.46 Allerdings dürfte diese Vorgehensweise nur sehr selten praktikabel sein. Eine Rechtsgrundlage für die Aufzeichnung der Telekommunikation stellt Nummer 2 28 nicht dar. Diese kann nur nach Maßgabe anderer Normen, insbesondere nach den §§ 100a, 100b, und in der hierfür vorgesehenen Art und Weise angeordnet werden.47 Hinsichtlich der nach Satz 2 Nummer 2 angeordneten Überwachung der Telekommu- 29 nikation statuiert Absatz 3 die Verpflichtung, dem Gesprächspartner des Beschuldigten die beabsichtigte Überwachung unmittelbar nach Herstellung der Verbindung mitzuteilen. Die Mitteilungspflicht resultiert daraus, dass die Telekommunikationsüberwachung nicht nur in die Grundrechte des inhaftierten Beschuldigten, sondern auch in die seines Gesprächspartners eingreift. Sie dient dem Schutz des Rechts des Gesprächspartners des Gefangenen auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.48 Die Mitteilung der Überwachung zu Beginn des Telefonats ermöglicht dem Kommunikationspartner des Beschuldigten, eine Entscheidung darüber zu treffen, ob er trotz der Überwachung überhaupt mit dem Beschuldigten sprechen oder welche Themen er von dem Gespräch ausnehmen möchte, beispielsweise weil sie höchstpersönlicher Natur sind. Der Beschuldigte ist nach Absatz 3 Satz 3 rechtzeitig vor Beginn der Telekommunikation über die Mitteilungspflicht zu unterrichten. Nur unter dieser Voraussetzung ist es ihm überhaupt möglich, von der ihm mit Satz 2 eingeräumten Befugnis, seinem Gesprächspartner selbst Mitteilung davon zu machen, dass das Telefonat überwacht wird, Gebrauch zu machen. Weigert sich der Beschuldigte, die Mitteilung selbst vorzunehmen, oder gibt er nicht zu erkennen, ob er dies tun wird, hat die Mitteilung an den Gesprächspartner des Beschuldigten durch den mit der Überwachung Betrauten zu erfolgen. Ein mögliches Interesse des Untersuchungsgefangenen, gegenüber seinem Gesprächspartner den Umstand seiner Inhaftierung geheim zu halten, muss hinter dem grundrechtsrelevanten Informationsinteresse des Gesprächspartners zurückstehen.49 Absatz 3 übernimmt die von § 32 Satz 3 und 4 StVollzG bislang für den Strafvollzug vorgesehene Regelung wegen der vergleichbaren Schutzbedürftigkeit des Gesprächspartners im Kontakt mit dem Untersuchungsgefangenen. cc) Auch die Anordnung nach Nummer 3, dass die Übergabe von Gegenständen bei 30 Besuchen der Erlaubnis bedarf, beschränkt die Außenkontakte des Untersuchungsgefangenen. Das Gesetz selbst konstituiert keinen Erlaubnisvorbehalt diesbezüglich, sondern eröffnet lediglich die Möglichkeit der Anordnung einer solchen Maßnahme. Diese stimmt inhaltlich mit der bisherigen Regelung in Nr. 27 Abs. 2 UVollzO überein und soll verhindern, dass der inhaftierte Beschuldigte in den Besitz von Gegenständen gelangt, die ihm eine Flucht erleichtern, Verdunkelungshandlungen oder die Begehung weiterer Straftaten ermöglichen könnten. In erster Linie ist hier an die Übergabe von Mobiltelefonen oder Karten für solche an den Beschuldigten zu denken. Zugleich soll auch die Übergabe von Gegenständen vom Gefangenen an den Besucher unterbunden werden, die der Verdunkelung dienen können. Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit sind Ausnahmen vom Erlaubnisvorbehalt vorzusehen, sofern dies ohne Gefährdung des Haftzwecks
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Schlothauer/Weider 1220; HK/Posthoff 22. BTDrucks. 16 11644 S. 25.
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BTDrucks. 16 11644 S. 27. BTDrucks. 16 11644 S. 27 f.
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möglich ist. Dies dürfte für den in vielen Vollzugsanstalten üblichen „Automatenzug“ gelten. Die Übergabe von Gegenständen, etwa Tabak- oder Süßwaren, die der Besucher auf eigene Kosten aus einem, von der Vollzugsanstalt im Besucherraum aufgestellten und hinsichtlich der Warenbestückung überwachten Automaten „gezogen“ hat, wird den Haftzweck kaum gefährden können und muss daher regelmäßig von der Erlaubnispflicht ausgenommen werden.
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dd) Die von den Nummern 4 und 5 vorgesehenen Trennungsanordnungen sind nicht identisch mit den Trennungsgrundsätzen in § 119 Abs. 1 und 2 a.F. Die Regelung der Unterbringung der Untersuchungsgefangenen in den Vollzugsanstalten ist nach der Föderalismusreform in die Gesetzgebungskompetenz der Länder übergegangen. Die nach Nummer 4 zulässige Anordnung, dass der Beschuldigte von einzelnen oder allen anderen Inhaftierten getrennt wird, dient ebenso wie die Anordnung, dass die gemeinsame Unterbringung und der gemeinsame Aufenthalt mit anderen Inhaftierten eingeschränkt oder ausgeschlossen wird (Nummer 5), allein der Abwehr von Gefahren für den Untersuchungshaftzweck. Naheliegend wird es eher eine bestehende Verdunkelungsgefahr erfordern, dass die Kontaktaufnahme zwischen in derselben Vollzugsanstalt inhaftierten Tatgenossen durch Trennungsanordnungen im vorgenannten Sinne unterbunden wird.50 Eine generelle Trennung des inhaftierten Beschuldigten von allen Personen, die der Beteiligung an der ihm vorgeworfenen Straftat oder diesbezüglich der Begünstigung, Hehlerei oder Strafvereitlung verdächtig oder bereits verurteilt sind oder als Zeugen in Betracht kommen, sieht die Regelung – anders als Nr. 22 UVollzO bisher – nicht vor. Aber auch eine bestehende Fluchtgefahr kann die Trennung des Beschuldigten von anderen Inhaftierten erforderlich machen, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Beschuldigte versuchen könnte, gemeinsam mit anderen Inhaftierten ein Entweichen aus der Haftanstalt oder eine Flucht oder ein Untertauchen nach deren Gelingen vorzubereiten. Auch der Kontakt zwischen Untersuchungsgefangenen, die Mitglied derselben oder 32 einer mit dieser kooperierenden terroristischen Vereinigung oder einer solchen zugehörig sind, kann durch Anordnungen nach Nummer 4 und 5 beschränkt werden.51 Nach ihrem Wortlaut ist die Anordnung, den Beschuldigten von anderen Inhaftierten zu trennen, ihn nicht mit anderen Inhaftierten gemeinsam unterzubringen oder ihm den gemeinsamen Aufenthalt mit ihnen nicht zu gestatten, nicht auf sogenannte Tatgenossen, also auf Personen, die der Beteiligung an der ihm vorgeworfenen Straftat oder diesbezüglich der Begünstigung, Hehlerei oder Strafvereitlung verdächtig oder bereits verurteilt sind, und auf Personen begrenzt, die als Zeugen in Betracht kommen. Allerdings darf die Trennung (auch) von diesen Mitinhaftierten nur dann angeordnet werden, wenn bestimmte Tatsachen die konkrete Gefährdung der Haftzwecke bei unkontrollierter Kontaktaufnahme begründen.52 Bei der Prüfung, ob eine Gefahr für den Haftzweck besteht, der durch Beschränkungen nach Absatz 1, insbesondere durch Trennungsanordnungen zu begegnen ist, kann aber auf allgemeine Erfahrungen mit und Erkenntnisse zu entsprechenden terroristischen Vereinigungen zurückgegriffen werden. 50
Vgl. KG Beschluss vom 7.2.2012 – 4 Ws 11/12 – [juris], wonach bei – jedenfalls nicht geständigen – Tatbeteiligten der Erfahrungssatz gilt, dass der unkontrollierte Austausch untereinander die Gefahr der Erschwerung oder sogar Vereitelung der Wahrheitsfindung mit sich bringt. Das LG Gießen hat in StV 2012 93 dagegen – ohne nähere Begründung
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51 52
und Darlegung der Umstände des entschiedenen Einzelfalles – ein gemeinsames (nicht überwachtes) Gespräch der des Bandendiebstahls beschuldigten Untersuchungsgefangenen und deren Verteidigern in der Untersuchungshaft als zulässig angesehen. BTDrucks. 16 11644 S 25 f. HK/Posthoff 24.
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2. Anordnung der Beschränkungen a) Zuständigkeit. Die gesetzliche Kompetenzzuweisung für die Anordnung von Be- 33 schränkungen zur Erreichung des Haftzwecks (Absatz 1 Sätze 3 bis 5) ist durch die Neufassung des § 119 im Verhältnis zu § 119 Abs. 6 a.F. nicht geändert worden. Die Regelung trägt der Grundrechtsrelevanz möglicher Beschränkungsanordnungen dadurch Rechnung, dass sie die Zuständigkeit für die Entscheidung über zu treffende Anordnungen grundsätzlich dem Richter zuweist. Nur in Eilfällen besteht die Möglichkeit vorläufiger Anordnungen durch die Staatsanwaltschaft und die Vollzugsanstalt; diese bedürfen jedoch für ihre Fortgeltung über die Eilsituation hinaus der richterlichen Genehmigung. Soweit § 119 Abs. 1 in Satz 3 von der grundsätzlichen Anordnungskompetenz und in Satz 5 von der Genehmigung des „Gerichts“, nicht mehr von dem „Richter“ (§ 119 Abs. 6 Satz 1 und 3 a.F.) als zuständigem Organ spricht, handelt es sich – analog zu der entsprechenden Änderung in den §§ 115, 126 – um eine sprachliche Angleichung an die bei strafprozessualen Untersuchungshandlungen bereits bisher (§ 162 a.F.) gewählte Bezeichnung und die Umsetzung des gesetzgeberischen Ziels einer geschlechtsneutralen Gesetzessprache.53 Eine inhaltliche Änderung ist damit nicht verbunden. Gleiches gilt für die Verwendung der Begriffe „Staatsanwaltschaft“ – anstelle der Bezeichnung „der Staatsanwalt“ in § 119 Abs. 6 Satz 2 a.F. – und „Vollzugsanstalt“ – statt „der Anstaltsleiter oder ein anderer Beamter, unter dessen Aufsicht der Verhaftete steht“ – in Satz 4. aa) Gericht. Gemäß Absatz 1 Satz 3 trifft das Gericht die Anordnungen nach Satz 1. 34 Zuständig ist – wie bereits nach alter Rechtslage – das Haftgericht nach § 126, mithin stets ein allein entscheidender Richter. Im vorbereitenden Verfahren (§§ 158 bis 177) entscheidet der Richter bei dem Amtsgericht, der den Haftbefehl erlassen hat oder dem die Zuständigkeit übertragen worden ist (§ 126 Abs. 1, Ermittlungsrichter), in Sachen, die nach § 120 Abs. 1 und 2 GVG in die Zuständigkeit der Oberlandesgerichte fallen, der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs oder des Oberlandesgerichts, der den Haftbefehl erlassen hat. Nachdem die öffentliche Klage erhoben ist, ist der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts, während des Revisionsverfahrens desjenigen Gerichts, dessen Urteil angefochten ist (§ 126 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Satz 1 und 2), zuständig.54 Von der bundesgesetzlichen Zuständigkeitsregelung (Haftgericht) abweichende Lan- 35 desregelungen, wie etwa die §§ 134 Abs. 2, 134a Abs. 1 Satz 2 NJVollzG, die für Entscheidungen und sonstige Maßnahmen, die der Abwehr einer Verdunkelungsgefahr dienen, die Zuständigkeit des Vollzugsgerichts vorsehen, sofern es sich bei dem Haftgericht nicht um ein Gericht des Landes Niedersachsen handelt, bleiben im Hinblick auf die Gesetzgebungskompetenz des Bundes und die Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG außer Betracht.55 bb) Eilzuständigkeit. Kann die Entscheidung des Gerichts nicht so zeitnah herbei- 36 geführt werden, dass eine drohende Gefährdung des Haftzwecks mit ihr abgewendet werden kann, sieht Absatz 1 Satz 4 eine Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft und der Vollzugsanstalt56 vor. Diese kann zur Sicherung des Zwecks der Untersuchungshaft 53 54
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BTDrucks. 16 11644 S. 14, 21, 33. Vgl. wegen der Einzelheiten LR/Hilger § 126, 6 ff. im HW; LR/Lind § 126, 3 in diesem Nachtrag. BGH (Ermittlungsrichter) StraFo 2012 228; a.A. OLG Celle StV 2010 194 mit abl. Anm.
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Kazele StV 2010 258; Nestler HRRS 2010 546; festhaltend StraFo 2012 228. Kritisch zur Übertragung der Eilkompetenz an die Vollzugsanstalt: BRAK-Stellungnahme-Nr. 37/2008, S. 10 bis 13, Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer zum
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Anordnungen nach Satz 1 treffen, wenn der Haftzweck durch den bei Befassung des Gerichts zu erwartendem Zeitverlust gefährdet wäre. Soweit Staatsanwaltschaft oder Vollzugsanstalt in solchen dringenden Fällen Anordnungen treffen, handeln sie wie bisher (§ 119 Abs. 6 S. 2 a.F.) aus eigenem Recht, in eigener Verantwortung und, soweit ein Ermessen eingeräumt ist, nach eigenem Ermessen.57 Wie bisher (§ 119 Abs. 6 Satz 3 a.F.) unterliegen die Eilanordnungen von Staatsanwaltschaft und Vollzugsanstalt einem Genehmigungserfordernis. Sie haben den Charakter nur vorläufiger Maßnahmen, die für ihre Geltung über die Eilsituation hinaus der richterlichen Bestätigung bedürfen. Nach Absatz 1 Satz 5 sind die nach Satz 4 getroffenen Anordnungen daher grundsätzlich dem Gericht (§ 126) zur Genehmigung vorzulegen. Dieses prüft umfassend das Vorliegen der Anordnungsvoraussetzungen und entscheidet über die (vollständige oder teilweise) Aufrechterhaltung oder Aufhebung der vorläufigen Anordnung; das Gericht kann diese kraft eigener Anordnungskompetenz bei dieser Gelegenheit auch ändern und ergänzen. Indem es eine staatsanwaltschaftliche oder vollzugsanstaltliche (Eil-)Anordnung genehmigt, macht das Gericht sie zu seiner eigenen.58 Neu ist insoweit die ausdrückliche Normierung einer Frist von drei Werktagen, innerhalb welcher die Vorlage an das Haftgericht zu diesem Zweck erfolgen muss. Die DreiTages-Frist trägt einerseits der Grundrechtsrelevanz von beschränkenden Anordnungen und der daraus resultierenden Bedeutung des Richtervorbehaltes Rechnung. Andererseits ist sie so bemessen, dass nur ganz kurzfristig wirkende Anordnungen oder solche, die nach ganz kurzer Zeit wieder aufgehoben werden, die Aktenvorlage an das Haftgericht nicht ohne weiteres erfordern.59 Es handelt sich um eine Höchstfrist, die mit Blick auf die Grundrechtsbeschränkung nicht mutwillig ausgeschöpft werden darf. Der betroffene Beschuldigte kann auch schon vor Ablauf der Vorlagefrist durch Antragstellung nach Absatz 5 das Gericht von sich aus mit der rechtlichen Prüfung der Eilmaßnahme befassen. Für die Fristberechnung gelten die allgemeinen Vorschriften. Der Tag, an dem die Eilanordnung getroffen wird, bleibt danach bei der Fristberechnung außer Betracht (§ 42). Die drei folgenden Werktage werden jedoch mangels abweichender gesetzlicher Regelung fortlaufend gezählt, so dass ein in die Frist fallender Sonnabend mitgezählt wird.60 Wird eine Eilanordnung also am Donnerstag erlassen, endet die Vorlagefrist am Montag um 24 Uhr, für eine am Freitag erlassene Eilanordnung am Dienstag um 24 Uhr. Fällt das Fristende dagegen auf einen Sonnabend, so endet die Frist mit dem Ablauf des nächsten Werktages (§ 43 Abs. 2). Daher endet die Vorlagefrist ebenfalls (erst) am Montag um 24 Uhr, wenn die Eilanordnung am Mittwoch (Fristende am Sonnabend) erlassen wurde.61 Die Vorlagepflicht entfällt nach Satz 5 jedoch, wenn sich die Eilanordnung der Staatsanwaltschaft oder der Vollzugsanstalt vor Ablauf der Vorlagefrist erledigt hat oder durch die anordnende Stelle aufgehoben worden ist. Gleichwohl ist der inhaftierte Beschuldigte oder sonst von einer solchen Anordnung Betroffene diesbezüglich nicht schutzlos. Er kann die Rechtmäßigkeit der Anordnung entsprechend den allgemeinen Grundsätzen zur Erledigung durch Stellung eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung nach Absatz 5
57
Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz „Gesetz zur Überarbeitung des Untersuchungshaftrechts“ vom September 2008, abrufbar im Internet unter www.brak.de/BRAK-Intern/Ausschüsse. LR/Hilger 143 im HW.
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LR/Hilger 146 im HW. BTDrucks. 16 11644 S. 26. A.A. KMR/Wankel 28 ohne Begründung. Vgl. zu den Einzelheiten LR/GraalmannScheerer § 42, 1, 3; § 43, 3, 6 ff.
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prüfen lassen, wenn er ein nachwirkendes berechtigtes Interesse an einer solchen Feststellung hat.62 Nicht geregelt hat der Gesetzgeber auch mit der Neufassung der Norm den Fall einer 41 Erledigung der Eilanordnung nach Vorlage an das Haftgericht, aber vor dessen Entscheidung. Für eine gerichtliche Entscheidung ist auch in diesen Fällen kein Raum mehr, so dass der betroffene Beschuldigte eine richterliche Überprüfung und Feststellung der Rechtswidrigkeit der erledigten Anordnung ebenfalls nur durch Antragstellung nach Absatz 5 herbeiführen kann.63 b) Anordnungszeitpunkt. Richterliche Anordnungen vor Erlass des Haftbefehls wer- 42 den auch nach neuer Rechtslage kaum vorkommen, auch wenn sie – in Bezug auf einen vorläufig Festgenommenen – nicht undenkbar sind.64 Regelmäßig besteht das Bedürfnis nach haftzwecksichernden Beschränkungen erst bei Anordnung des Vollzuges der Untersuchungshaft und dessen Beginn mit Aufnahme in die Vollzugsanstalt. Das schließt aber nicht aus, dass eine Beschränkungsanordnung bereits mit Erlass des Haftbefehls oder in der Zeit erlassen wird, in der nach dem Beschuldigten mit Haftbefehl gefahndet wird, auch wenn naturgemäß die Auswirkungen des Beschränkungsbeschlusses erst dann greifen, wenn der Beschuldigte inhaftiert worden ist.65 Treten Umstände, die die – erstmalige oder ergänzende – Anordnung von Beschränkungen erfordern, erst im Vollzugsverlauf ein oder werden sie dem Gericht erst später bekannt, können Anordnungen nach Satz 1 auch zu einem späteren Zeitpunkt getroffen werden. Die Anordnungszuständigkeit endet jedoch weiterhin grundsätzlich mit der Untersuchungshaft.66 c) Verfahren. Für Anordnungen nach Satz 1 besteht kein Antragserfordernis.67 Das 43 Gericht ordnet Beschränkungen bei Vorliegen der Voraussetzungen von Amts wegen oder auf Antrag der Staatsanwaltschaft an. Vor der Anordnung grundrechtsrelevanter Beschränkungen ist dem Beschuldigten jedoch nach § 33 Abs. 3 rechtliches Gehör zu geben. Seine Anhörung durch das Gericht erfolgt zweckmäßigerweise bei Haftbefehlsverkündung. Eine mündliche Anhörung des inhaftierten Beschuldigten ist jedoch nicht zwingend erforderlich. Auch die Staatsanwaltschaft ist vor einer Entscheidung zu hören (§ 33 Abs. 2). Anordnungen nach Satz 1 erwachsen nicht in materielle oder formelle Rechtskraft. 44 Das Gericht hebt daher Beschränkungsanordnungen auf, wenn und soweit sie zur Sicherung des Haftzwecks nicht mehr erforderlich sind, oder ändert sie in Anpassung an veränderte tatsächliche Verhältnisse. Auch Anordnungen des Beschwerdegerichts darf es ändern oder aufheben.68 Wie die Haftfrage selbst, also die Frage, ob die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung und den Vollzug des Haftbefehls noch vorliegen, ist auch
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BTDrucks. 16 11644 S. 26; SK/Paeffgen 59c. BTDrucks. 16 11644 S. 26; SK/Paeffgen 59c. LR/Hilger 135 im HW; siehe auch Brocke/ Heller StraFo 2011 6, die weitergehend den festnehmenden Polizeibeamten als Annexkompetenz zu den §§ 127, 128 die Befugnis zusprechen wollen, bis zur Vorführung vor den zuständigen Haftrichter einen ungeregelten Außenkontakt des vorläufig Festgenommenen zu unterbinden. OLG Köln NStZ 2011 359; a.A. Brocke/Hel-
66 67 68
ler StraFo 2011 5, die eine vor der Entscheidung über die Invollzugsetzung des Haftbefehls ergangene verfahrenssichernde Anordnung unter Berufung auf den Wortlaut („einem inhaftierten Beschuldigten“) und den Beschluss des LG Berlin vom 16.3.2010 – 519 Qs 4/10 – [juris] für gegenstandslos halten. LR/Hilger 149 im HW. AnwK-UHaft/König 47. SK/Paeffgen 59.
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die Frage, ob und inwieweit die beschränkenden Anordnungen zur Sicherung des Haftzwecks noch erforderlich sind, ob sie aufgehoben oder modifiziert werden müssen oder ob neue oder neu zutage getretene Umstände weitere beschränkende Anordnungen erfordern, in jeder Lage des Verfahrens unabhängig von Anträgen der Beteiligten jederzeit von Amts wegen zu prüfen, denn kein Eingriff in die grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechte darf länger als notwendig bestehen bleiben.69 Eines Antrags des inhaftierten Beschuldigten, der Staatsanwaltschaft oder eines sonst von der Anordnung Betroffenen (etwa des Besuchers des Beschuldigten oder seines Telekommunikationspartners) bedarf es daher nicht; den Beteiligten steht jedoch jederzeit die Möglichkeit offen, das Gericht durch entsprechende Antragstellung auch zur Mitteilung des Ergebnisses dieser Prüfung zu veranlassen.
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d) Form der Entscheidung. Begründung. Bekanntgabe an den Beschuldigten. Entgegen der im Gesetzgebungsverfahren erhobenen Forderung nach einer Anordnung durch schriftlich begründeten Beschluss, dessen Abschrift dem Beschuldigten auszuhändigen ist,70 sieht das Gesetz die Schriftform für die Anordnung von Beschränkungen nicht vor. Mit Rücksicht auf das auch hier geltende allgemeine Begründungserfordernis (§ 34) erscheint die schriftliche Niederlegung der einzelnen Beschränkungen und der Gründe für ihre Anordnung in einer Verfügung des Ermittlungsrichters bzw. des Vorsitzenden des nach § 126 Abs. 2 zuständigen Gerichts jedoch sinnvoll und sollte als Regel betrachtet werden. Das gilt auch, wenn die richterliche Anordnung zunächst mündlich getroffen wurde. Die Begründung der Anordnung muss den von ihr Betroffenen in die Lage versetzen, eine sachgemäße Entscheidung über die Anfechtung derselben zu treffen. Er muss ihr entnehmen können, welche Tatsachen das Gericht verwertet und wie es diese gewürdigt hat und welcher Vortrag in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht in der Rechtsmittelinstanz noch angebracht werden kann.71 Der Beschuldigte ist über alle nach Satz 1 getroffenen Anordnungen in Kenntnis zu 46 setzen (Absatz 1 Satz 6). Das Bekanntgabeerfordernis, welches auch für Eilanordnungen der Staatsanwaltschaft oder der Vollzugsanstalt gilt, trägt der Grundrechtsrelevanz der Beschränkungen Rechnung. Ein inhaftierter Beschuldigter kann sich nur gegen die Beschränkungsanordnung wehren, die er kennt. Zugleich ist mit der gewählten Formulierung klargestellt, dass Absatz 1 keine heimliche Überwachung der Außenkontakte des inhaftierten Beschuldigten gestattet. Die durch andere Bestimmungen (etwa § 100a) geschaffene Befugnis zur Anordnung verdeckter Überwachung von Schriftwechsel oder Telekommunikation bleiben hiervon unberührt.72 Die Form der Bekanntgabe an den Beschuldigten normiert das Gesetz nicht. Eine 47 mündliche Mitteilung genügt. Liegt – was der Regelfall sein sollte – eine schriftliche und schriftlich begründete Anordnung vor, erscheint die Erteilung einer Abschrift derselben an den Beschuldigten jedoch sinnvoll und zweckmäßig.
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Zur permanenten Prüfungspflicht des Gerichts hinsichtlich der Haftfrage s. LR/Hilger § 117, 1 und § 120, 5 im HW. Paeffgen GA 2009 457. KG StV 2010 372; Brocke/Heller StraFo 2011 5.
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BTDrucks. 16 11644 S. 26; vgl. auch BGH NStZ 2009 519 f. zur verdeckten Aufzeichnung eines Besuchsgesprächs in der Untersuchungshaft.
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3. Ausführung der Anordnungen (Absatz 2) a) Begriffsbestimmung. Zur Ausführung der nach Absatz 1 Satz 1 und 2 getroffenen Anordnungen gehören alle Entscheidungen und (faktischen) Maßnahmen, die in Umsetzung der für die Kontakte eines inhaftierten Beschuldigten zu anderen Personen oder sonst zur Erreichung des Zwecks der Untersuchungshaft allgemein für diesen Beschuldigten getroffenen Beschränkungsanordnungen im Einzelfall ergriffen werden. Dazu gehört hinsichtlich der Anordnung nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 insbesondere die Erteilung oder Versagung der Erlaubnis für einen, nach Person des Besuchers und Besuchszeitpunkt bestimmten Besuch („Sprechschein“) oder für das Telefonat mit einer bestimmten Person. Auch eine generelle Erlaubnis, Telefonate mit einer bestimmten Person zu führen, ohne dass es der Erlaubniserteilung für jedes einzelne von ihnen bedarf („Dauertelefonerlaubnis“) ist möglich. Erlaubnisse können mit Weisungen versehen oder mit Einschränkungen erteilt werden. Es entspricht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, eine Erlaubnis zur Telekommunikation nicht zu versagen, wenn einer bestehenden Verdunkelungsgefahr etwa durch die Weisung, nicht über den Gegenstand des Verfahrens zu sprechen, – verbunden mit der Ankündigung des Gesprächsabbruchs bei Nichtbefolgung der Weisung – hinreichend begegnet werden kann.73 Die Anordnung nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 2 wird durch die konkrete Überwachung ausgeführt. Hinsichtlich des Schriftverkehrs erfolgt die Ausführung der Anordnung also durch das (Öffnen und) Lesen eines (an den Beschuldigten gerichteten oder von diesem zur Beförderung aufgegebenen) Briefs, einer Karte oder eines Telegramms. Zur Ausführung einer angeordneten Überwachung von Besuchs- und Telekommunikationskontakten gehört zum Einen die Beobachtung des Besuchskontaktes oder das Mithören des zwischen Beschuldigtem und Besucher bzw. Telefonpartner gesprochenen Wortes bzw. das Mitlesen des telekommunikativen Schriftwechsels (SMS). Zum Anderen ergeht auch die Festlegung, wie überwacht werden soll, ob ein Besuch im Einzelfall also (nur) optisch oder auch akustisch und ggf. unter Beiziehung eines Dolmetschers zu überwachen ist, in Ausführung der genannten Anordnung. Bedarf nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 3 die Übergabe von Gegenständen bei Besuchen der Erlaubnis, wird die entsprechende Anordnung durch Erteilung oder Versagung derselben ausgeführt. Auch hier sind Einschränkungen, insbesondere im Hinblick auf bestimmte Gegenstände oder Arten von Gegenständen, mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zulässig, sofern die Erlaubnis sonst gänzlich versagt werden müsste. Hinsichtlich der Anordnungen nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 4 und 5 wird sich die Ausführung auf die Überwachung der Umsetzung der getroffenen Regelungen in der Vollzugsanstalt beschränken müssen, weil die Trennung von anderen Inhaftierten und die Unterbringung des Beschuldigten in der Vollzugsanstalt kraft Natur der Sache nur durch diese erfolgen kann.
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b) Zuständigkeit aa) Grundsatz. Die Ausführung der nach Absatz 1 getroffenen Anordnungen obliegt 53 der anordnenden Stelle (Satz 1), denn diese weiß, da sie die Erforderlichkeit der jeweiligen Beschränkung vor ihrer Anordnung geprüft hat, grundsätzlich am besten, worauf bei ihrer Ausführung zu achten ist.74 Danach ist regelmäßig das Gericht für die Ausführung der Anordnungen nach Absatz 1 zuständig. Nur hinsichtlich der in Eilfällen getroffenen
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vorläufigen Anordnungen (und nur bis zur richterlichen Genehmigung derselben, denn mit dieser wird die Anordnung zu der des Gerichts, Rn. 37) ist die Staatsanwaltschaft oder die Vollzugsanstalt (originär) für deren Ausführung zuständig. Soweit der Vorsitzende nach Absatz 1 Satz 3 i.V.m. § 126 Abs. 2 Satz 3 für die 54 Anordnung und nach Absatz 2 Satz 1 für ihre Ausführung zuständig ist, muss dieser die zur Umsetzung seiner Anordnung im Einzelfall erforderlichen Entscheidungen und Maßnahmen, beispielsweise die Postkontrolle oder die Erteilung von Besuchserlaubnissen, selbst übernehmen.75 Eine Überlassung dieser Aufgaben – auch einzelner, den Beschuldigten nicht belastender – an ein anderes Mitglied des Gerichts, etwa den Berichterstatter, ist gesetzlich nicht vorgesehen und – anders als bisher76 – unzulässig.77
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bb) Übertragung auf die Staatsanwaltschaft. Allerdings kann das originär zuständige Gericht die Ausführung seiner Anordnungen ganz oder teilweise auf die Staatsanwaltschaft übertragen (Satz 2).78 Damit kann einerseits dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Staatsanwaltschaft – insbesondere, aber nicht nur vor Anklageerhebung – häufig über größeres Sach- und Hintergrundwissen verfügt.79 Zudem befinden sich bis zur Anklageerhebung die Akten bei ihr und müssen nicht zeitaufwändig dem Gericht übersandt werden. Andererseits eröffnet sich hierdurch die Möglichkeit, einer Überlastung des Gerichts entgegenzuwirken. Die Regelung sieht keine Differenzierung nach Verfahrensstadien vor, so dass die 56 Übertragung der Ausführung jederzeit, im Ermittlungsverfahren aber auch nach Anklageerhebung, erfolgen kann. Dies ermöglicht eine flexible, einzelfallorientierte Handhabung der Übertragungsermächtigung durch das Gericht. Die vom Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung80 erhobene Forderung, die Übertragung der Ausführung auf die Staatsanwaltschaft bis zur Anklageerhebung als Soll-Vorschrift zu gestalten, nach Erhebung der öffentlichen Klage aber grundsätzlich dem Gericht die Ausführungszuständigkeit zuzuweisen (mit der Möglichkeit der Übertragung auf die Staatsanwaltschaft im Einvernehmen mit dieser), ist im Gesetzgebungsverfahren mit Blick hierauf nicht umgesetzt worden. Die Übertragung setzt – anders als die frühere Befugnis des Richters nach Nr. 3 Abs. 1 57 UVollzO, bis zur Erhebung der öffentlichen Klage auf Antrag des Verhafteten die Anordnung einzelner Maßnahmen, namentlich über den Verkehr mit der Außenwelt, aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung dem Staatsanwalt zu überlassen, wenn sie den Verhafteten nicht beschweren81 – nicht das Einverständnis der Staatsanwaltschaft voraus. Auch insoweit hat der Änderungswunsch des Bundesrates82 keinen Eingang in die gesetzliche Regelung gefunden. Auch der Beschuldigte muss ihr nicht zustimmen oder sie beantragen.83 75
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Vgl. OLG Jena NStZ-RR 2012 28 für die Zuständigkeit des Vorsitzenden (auch) für die Entscheidung, ob ein Brief wegen der Gefährdung der Haftzwecke gemäß Absatz 1 Satz 7 von der Beförderung ausgeschlossen werden muss. Vgl. LR/Hilger 134 im HW. OLG Hamm NStZ-RR 2010 294; HK/Posthoff 30; a.A. Meyer-Goßner/Schmitt 28, der als „weniger weitgehende Übertragungsmöglichkeit“ (als die von Satz 2 vorgesehene) eine Übertragung auf ein richterliches Mit-
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glied des Kollegialgerichts „zwecks Entlastung des Vorsitzenden“ als zulässig ansehen möchte. Eisenberg hält die Übertragung im Jugendgerichtsverfahren für unzulässig, weil mit dem Erziehungsgedanken (§ 2 Abs. 1 JGG) nicht vereinbar, NJW 2010 1507. Vgl. BTDrucks. 16 11644 S. 27. BTDrucks. 16 11644 S. 41. LR/Hilger 139 im HW. BTDrucks. 16 11644 S. 41. AnwK-UHaft/König 51.
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Die Übertragung der Ausführung auf die Staatsanwaltschaft endet nicht automatisch mit der Anklageerhebung. Sie ist aber widerruflich, so dass das Gericht die Ausführung seiner Anordnungen ganz oder teilweise, z.B. (nur) die Erteilung/Versagung von Besuchsund Telefonerlaubnissen oder die Postkontrolle, jederzeit wieder an sich ziehen kann. Ob dies im Einzelfall erforderlich oder auch nur zweckmäßig ist, prüft das Gericht von Amts wegen oder auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder des Beschuldigten. Unabhängig von einem solchen Antrag besteht jedenfalls bei Anklageerhebung und damit verbundenem Wechsel der haftrichterlichen Zuständigkeit (§ 126) schon wegen der veränderten tatsächlichen Gegebenheiten (Akten beim Gericht) Prüfungsanlass. Der Vorsitzende des erkennenden Gerichts kann die Übertragung durch den Ermittlungsrichter wie eine eigene Entscheidung revidieren und die übertragene Ausführung ganz oder teilweise an sich ziehen. Die Staatsanwaltschaft (nicht auch das Gericht) kann sich, soweit ihr die Ausführung der Anordnungen nach Absatz 1 übertragen oder wenn sie in Eilfällen originär zur Ausführung ihrer eigenen vorläufigen Anordnungen berufen ist, bei der Erfüllung dieser Aufgabe der Hilfe ihrer Ermittlungspersonen (§ 152 GVG) oder der Vollzugsanstalt bedienen (Satz 2 2. Halbsatz). Diese Regelung dient nach dem Willen des Gesetzgebers der Schonung der begrenzten Ressourcen der Staatsanwaltschaft.84 Ein völliges Novum ist sie nicht, denn schon bisher nahm die Vollzugsanstalt – kraft Überlassung oder originär – Aufgaben wahr, die zur Ausführung von (richterlichen) Beschränkungsanordnungen gehören.85 Satz 2 nimmt jedoch – anders als dies nach der UVollzO der Fall war – keine Unterscheidung danach vor, welche Form von Kommunikation zu überwachen ist. Der Gesetzgeber sah eine Gleichbehandlung der zu überwachenden Außenkontakte als sachdienlich an, weil jede Form gleich sensible Kommunikationsgegenstände beinhalten könne. Es sei nicht ersichtlich, warum z.B. ein Brief nur von einem Staatsanwalt gelesen, ein Besuch (bei dem über die Kommunikationsinhalte hinaus auch persönliche Reaktionen sichtbar werden können) aber auch von der Vollzugsanstalt überwacht werden können soll.86 Der Delegation von Aufgaben durch die Staatsanwaltschaft hat nach dem Willen des Gesetzgebers stets eine gründliche Prüfung vorauszugehen, ob die beauftragte Stelle ihrer Aufgabe auch im erforderlichen Maße nachkommen kann. Überwachungsaufgaben können danach von den mit dem Ermittlungsstand vertrauten Ermittlungspersonen, die zudem auf Szenekenntnis zurückgreifen können, regelmäßig wahrgenommen werden. Der Vollzugsanstalt werden solche Aufgaben eher dann übertragen werden können, wenn die Überwachung der Abwehr einer Flucht- oder Wiederholungsgefahr dient. Auch hier soll mit der getroffenen Regelung eine flexible Handhabung ermöglicht werden, mit der den Besonderheiten des Einzelfalls optimal und ressourcenschonend Rechnung getragen werden kann.87 Durch die Formulierung der Norm wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass die Verantwortung für die ihr vom Gericht übertragene Ausführung bei der Staatsanwaltschaft verbleibt, auch wenn sie die erforderlichen Ausführungshandlungen ganz oder teilweise auf ihre Ermittlungspersonen bzw. die Vollzugsanstalt delegiert.88 Die Staatsanwaltschaft 84 85
BTDrucks. 16 11644 S. 27. Besuchsüberwachung, Nr. 27 Abs. 1 Satz 2 UVollzO: „Die Überwachung kann auch einem Anstaltsbeamten, den der Anstaltsleiter bestimmt, überlassen werden.“; Überwachung des fernmündlichen Verkehrs, Nr. 38 Abs. 1 Satz 3 UVollzO.
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BTDrucks. 16 11644 S. 27, a.A. SK/Paeffgen 62. BTDrucks. 16 11644 S. 27. BTDrucks. 16 11644 S. 27.
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kann sich danach nämlich nur der Hilfe dieser Stellen bedienen, führt die gerichtlichen Anordnungen gleichsam durch diese selbst aus. Eine Subdelegation der Verantwortung für Ausführungsentscheidungen findet nicht statt.89 Die Übertragung der Ausführung von Anordnungen durch das Gericht auf die Staats62 anwaltschaft ist aus Gründen der Nachvollziehbarkeit in den Akten zu dokumentieren90 und dem Beschuldigten mitzuteilen. Einer Begründung bedarf sie nicht, denn sie ist nach Absatz 2 Satz 3 unanfechtbar. Die Subdelegation von Ausführungshandlungen von der Staatsanwaltschaft auf ihre Ermittlungspersonen oder die Vollzugsanstalt kann dagegen mittels eines Antrages auf gerichtliche Entscheidung nach Absatz 5 angefochten werden,91 denn sie betrifft mit der Frage, ob die Staatsanwaltschaft die Anordnungen selbst oder durch die genannten Personen bzw. Behörden ausführt, das „Wie“ der Ausführung.
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c) Prüfungsmaßstab. Bei Ausführung der Anordnungen gilt derselbe Maßstab wie bei Anordnung der Beschränkungen.92 Ist der Besuchskontakt und/oder die Telekommunikation unter Erlaubnisvorbehalt gestellt, ist auch die Erteilung des einzelnen Sprechscheins oder der Telefonerlaubnis an der Unschuldsvermutung und am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auszurichten. Auch die Durchführung der angeordneten Überwachung muss sich am eingeschränkten Grundrecht orientieren und stets den am wenigsten intensiven Eingriff wählen. 4. Geschützter Verkehr mit privilegierten Personenkreisen (Absatz 4)
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a) Ziel des Gesetzgebers war es (neben anderem), die maßgeblichen Vorschriften für den Rechtsanwender verständlicher und übersichtlicher zu formulieren.93 Zu diesem Zweck fasst Absatz 4 nunmehr alle Fälle zusammen, in denen dem inhaftierten Beschuldigten grundsätzlich ohne Einzelfallprüfung ein unbeschränkter Verkehr mit Dritten gewährt wird, und integriert die bislang in der Untersuchungshaftvollzugsordnung und anderen Normen zu findenden Regelungen hierzu in die Strafprozessordnung. Zudem werden Personenkreise in die Regelung aufgenommen, deren freier Kontakt mit dem inhaftierten Beschuldigten bislang nicht ausdrücklich geregelt war.94 Der Katalog des Satzes 2 ist abschließend. Allerdings wird die Einzelfallprüfung hinsichtlich weiterer, nicht generell von den Beschränkungen nach Absatz 1 ausgenommener Kommunikationspartner, etwa des Bundespräsidenten oder der Gerichte und Behörden des Bundes und der Länder, regelmäßig ergeben, dass eine Überwachung des Kontaktes zur Erreichung der Haftzwecke nicht erforderlich ist.95
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b) Für den Kontakt zwischen inhaftiertem Beschuldigten und seinem Verteidiger96 stellt Satz 1 der Vorschrift durch Verweisung auf die §§ 148, 148a klar, dass Beschränkungen nach Absatz 1 nicht gelten, soweit sie den durch § 148 Abs. 1 garantierten freien Verkehr zwischen dem Gefangenen und seinem Verteidiger einschränken würden. Ausnahmen sind nur in dem durch § 148 Abs. 2 bestimmten Umfang nach Maßgabe des
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HK/Posthoff 30. HK/Posthoff 30. AnwK-UHaft/König 52; Schlothauer/Weider 1019. AnwK-UHaft/König 56; Graf/Krauß 46. BTDrucks. 16 11644 S. 13 f. BTDrucks. 16 11644 S. 14.
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Vgl. LR/Hilger 73 im HW für die Nichtüberwachung von Behördenpost nach alter Rechtslage. Vgl. hierzu insgesamt LR/Lüderssen/Jahn §§ 148, 148a im HW und in diesem Nachtrag.
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§ 148a zulässig.97 Insbesondere ist dem inhaftierten Beschuldigten daher auch der unüberwachte Telefonverkehr mit seinem nicht am Ort oder im näheren Umkreis der Vollzugsanstalt kanzleiansässigen Verteidiger im Regelfall gestattet.98 c) Mit Satz 2 erstreckt die Vorschrift den für das Verteidigungsverhältnis durch § 148 66 Abs. 1 gewährleisteten Grundsatz freien Verkehrs in 19 Unterpunkten auf eine Reihe von weiteren Kommunikationspartnern des inhaftierten Beschuldigten, für die der Gesetzgeber eine Missbrauchsgefahr und damit die Gefährdung der Untersuchungshaftzwecke bei unbeschränktem Verkehr zwischen diesen und dem Untersuchungsgefangenen grundsätzlich nicht sah.99 Dieser Personenkreis kann grob in drei Gruppen eingeteilt werden, ohne dass sich an diese Einteilung rechtliche Unterschiede in der Behandlung der Kommunikationspartner knüpfen: Der freie Verkehr des Beschuldigten mit den in der Vorschrift genannten nationalen und internationalen Gerichten und bestimmten Helfern derselben wird von der Vorschrift ebenso garantiert wie der mit Volksvertretungen (und deren Mitgliedern) sowie mit anderen „Rechtswahrungseinrichtungen“.100 Grundsätzlich bedarf weder der Besuch von Personen dieses Kreises noch die Telekommunikation mit den in Satz 2 genannten Stellen der Erlaubnis; die Kontakte des inhaftierten Beschuldigten zu den privilegierten Personenkreisen dürfen nicht beschränkt und nicht überwacht werden. Dabei werden einerseits Personenkreise erfasst, deren unüberwachter Verkehr mit 67 dem inhaftierten Beschuldigten bereits zuvor an anderer Stelle gesetzlich oder in Verwaltungsvorschriften geregelt war. Dies gilt namentlich für den Verkehr des inhaftierten Beschuldigten mit der für ihn zuständigen Bewährungshilfe (Nr. 1), Führungsaufsichtsstelle (Nr. 2) und Gerichtshilfe (Nr. 3), der bereits bisher nach Nr. 37a UVollzO im selben Umfang gewährleistet wurde, wie der Verkehr des Untersuchungsgefangenen mit seinem Verteidiger. Die Neuformulierung bemüht sich insoweit zudem um eine geschlechtsneutrale Gesetzessprache. Anlass zur Privilegierung dieser Stellen sah der Gesetzgeber darin, dass es für deren erfolgreiche Tätigkeit häufig von wesentlicher Bedeutung ist, dass sich der Beschuldigte ihnen gegenüber möglichst offen äußert, wozu er oft nicht bereit sein wird, wenn das Haftgericht oder die sonst zur Ausführung einer Überwachungsanordnung zuständigen Behörden Kenntnis vom Inhalt seiner Kommunikation mit ihnen nehmen können. Missbrauchsmöglichkeiten hat der Gesetzgeber insoweit nicht gesehen, weil es sich bei den genannten Kommunikationspartnern um – zudem mit dem Strafverfahrensrecht besonders vertraute – öffentlich-rechtliche Bedienstete handelt.101 Mit der Aufnahme der Volksvertretungen des Bundes und der Länder (Nr. 4) in den Katalog der privilegierten Kommunikationspartner trägt das Gesetz dem u.a. in Art. 17 GG normierten Petitionsrecht sowie der in Art. 47 Satz 2 GG geregelten Beschlagnahmefreiheit von Abgeordnetenpost Rechnung und übernimmt die bisherige Regelung der Nr. 30 Abs. 2 UVollzO in die Strafprozessordnung.102 Dabei ist nicht nur die Kommunikation des Beschuldigten mit den Parlamenten an sich und – nach Satz 2 Nr. 18 – deren Abgeordneten, sondern auch der Verkehr mit ihren Ausschüssen, namentlich dem Petitionsausschuss, beschränkungsfrei gewährleistet.103 Der unbeschränkte Verkehr des ausländischen Untersuchungsgefangenen mit der konsularischen Vertretung seines Heimatstaates ist in Art. 36 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen (WÜK) garantiert.
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BTDrucks. 16 11644 S. 28. BVerfG NJW 2012 2790; BGH NStZ 2011 592; LG Dresden StV 2011 745. Vgl. BTDrucks. 16 11644 S. 28.
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Bittmann NStZ 2010 16. BTDrucks. 16 11644 S. 28. BTDrucks. 16 11644 S. 28. SK/Paeffgen 35.
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Nach dessen Buchstaben c sind Konsularbeamte berechtigt, einen Angehörigen des Entsendestaates, der sich in Untersuchungshaft befindet, aufzusuchen, mit ihm zu sprechen und zu korrespondieren. Satz 2 trägt dem mit seiner Nummer 19 Buchstabe b) Rechnung und integriert die Vorschrift in die Strafprozessordnung.104 Soweit § 29 Abs. 2 StVollzG bislang ausdrücklich (nur) Strafgefangenen den be68 schränkungsfreien Verkehr mit den Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder, mit dem Europäischen Parlament, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe ermöglichte, gilt mit der Aufnahme der genannten Kommunikationspartner in den Katalog des § 119 Abs. 4 Satz 2 Nr. 7, 8, 9 und 13 dasselbe nunmehr auch für Untersuchungsgefangene. Nummer 7 trägt dabei dem Zeugnisverweigerungsrecht der Datenschutzbeauftragten und der damit einhergehenden Beschlagnahmefreiheit von Schriftstücken (§ 23 Abs. 4, § 12 Abs. 3 BDSG und die entsprechenden Regelungen der Ländergesetze) Rechnung.105 Die Aufnahme des Europäischen Parlaments in § 119 Abs. 4 Satz 2 Nr. 8 war aus Gründen der Gleichbehandlung der europäischen Institutionen mit den nationalen Einrichtungen angezeigt und entspricht der Regelung des § 29 Abs. 2 StVollzG, der neben den Bundes- und Landesparlamenten gleichrangig auch das Europäische Parlament als Institution nennt, mit der Strafgefangene ohne Überwachung in Schriftverkehr treten dürfen.106 Auch die Beiräte bei den Justizvollzugsanstalten (Nr. 19a) finden sich nunmehr im Kreis derjenigen Dritten, mit denen dem inhaftierten Beschuldigten die freie Kommunikation gewährt wird. Für Strafgefangene bestimmte § 164 Abs. 2 Satz 2 StVollzG bereits bisher, dass diese unüberwacht mit den Anstaltsbeiräten kommunizieren können. Neu in den nunmehr geschaffenen Katalog der privilegierten Kommunikationspartner 69 eines inhaftierten Beschuldigten aufgenommen wurden neben dem Bundesverfassungsgericht und dem jeweils für ihn zuständigen Landesverfassungsgericht (Nr. 5) sowie dem Europäischen Gerichtshof (Nr. 10) – Gerichte, an die sich der Beschuldigte als natürliche Person zur Wahrnehmung seiner (EU-)Grundrechte selbst mit der Verfassungsbeschwerde bzw. Nichtigkeits-, Untätigkeits- oder Amtshaftungsklagen wenden kann – auch der für ihn zuständige Bürgerbeauftragte eines Landes (Nr. 6) und der Europäische Bürgerbeauftragte (Nr. 12). Auch hier wurden unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung von nationalen und europäischen Institutionen nicht nur die in einigen Bundesländern nach dem Vorbild der skandinavischen Ombudsmänner und -frauen bestellten Bürgerbeauftragten von den Beschränkungen nach Absatz 1 ausgenommen, sondern auch die entsprechende europäische Institution. Ebenfalls dem Gleichbehandlungsgedanken folgt die Privilegierung des Europäischen Datenschutzbeauftragten (Nr. 11).107 Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) wurde vom Europarat eingerichtet und soll als unabhängiges Gremium die Einhaltung der Menschenrechte beobachten. Der Untersuchungsgefangene kann sich direkt an die Kommission wenden. Zudem gebot auch die Nähe zu dem in Nummer 13 erfassten Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, zu dem Strafgefangene bereits bisher unkontrollierten Kontakt pflegen durften, die Aufnahme der Kommission in den Katalog des Satzes 2, was mit dessen Nummer 14 geschehen ist. Entsprechendes gilt auch für die in den Nummern 15, 16 und 17 genannten Ausschüsse der Vereinten Nationen.108 104 105 106
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Der Verkehr des Untersuchungsgefangenen mit den in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 (Geist- 70 liche, zu denen auch Seelsorger zu zählen sind, die nicht formell dem Stand eines Geistlichen angehören, weil sie etwa keine Priesterweihe erhalten haben109) und 4 (Abgeordnete) genannten Berufsgeheimnisträgern bleibt in Bezug auf die dort bezeichneten Inhalte110 ebenfalls unbeschränkt (Nr. 18). Diese Vorschrift trägt (im Falle des – katholischen – Geistlichen) insbesondere dem Beichtgeheimnis Rechnung und nimmt – in Ergänzung zu Satz 2 Nummer 4 und aus den dort genannten Gründen – auch den Verkehr des inhaftierten Beschuldigten mit dem einzelnen Abgeordneten von den Beschränkungen nach Absatz 1 aus. Damit wird zugleich die Wertung des § 160a – Unterscheidung zwischen Verteidigern, Geistlichen und Abgeordneten einerseits und den übrigen Berufsgeheimnisträgern andererseits – in die Regelung des § 119 Abs. 4 übernommen,111 was der Einheitlichkeit der gesetzlichen Regelung dient. Nimmt § 119 Abs. 4 die vorgenannten Berufsgeheimnisträger (Verteidiger, Geistliche und Abgeordnete) generell von den nach Absatz 1 angeordneten Beschränkungen aus, ist der Bedeutung der Funktion der übrigen Berufsgeheimnisträger ausschließlich im Rahmen der Einzelfallprüfung vor Anordnung von Beschränkungen nach Absatz 1 Rechnung zu tragen,112 was häufig zu einer ausdrücklichen Ausnahme der – nicht generell privilegierten – Berufsgeheimnisträger von Beschränkungsanordnungen im Einzelfall führen wird. Generell beschränkungsfrei ist der Kontakt des inhaftierten Beschuldigten mit den zu 71 Nummer 1 bis 18 genannten Kommunikationspartnern. Ausnahmen sind hier – wie im Verteidigerverhältnis – nur nach §§ 148 Abs. 2, 148a zulässig. Anders die Kommunikation des Untersuchungsgefangenen mit den zu Nummer 19 genannten Personen und Institutionen. Zwar gilt auch für diese der Grundsatz des unüberwachten Verkehrs. Dieser greift aber nur, soweit das Gericht nichts anderes anordnet. Hier kann also (ausschließlich) das Gericht auch jenseits von § 148 Abs. 2 Beschränkungen des Verkehrs, insbesondere die Überwachung der Kommunikation des Untersuchungsgefangenen mit den genannten Dritten anordnen, wenn es dies für geboten und zur Erreichung des Haftzwecks erforderlich erachtet. Anlass können beispielsweise Anhaltspunkte für Fluchtpläne des Beschuldigten im Zusammenwirken mit einem Mitglied des Anstaltsbeirates sein.113 d) Für die Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Überwachungsfreiheit 72 nach den Sätzen 1 und 2 ist die Stelle zuständig, der nach Absatz 2 die Ausführung der Beschränkungsanordnungen, mithin die Überwachung des Kontaktes des Untersuchungsgefangenen zu Dritten in- und außerhalb der Vollzugsanstalt obliegt (Satz 3). Zu dieser Prüfung gehört insbesondere, ob ein an den inhaftierten Beschuldigten adressiertes Schreiben tatsächlich von einem der privilegierten Kommunikationspartner herrührt und ob es sich im Fall von Satz 2 Nummer 18 um einen unter das Zeugnisverweigerungsrecht fallenden Inhalt handelt. Welche Maßnahmen erforderlich sind, um das Vorliegen der Voraussetzungen für den unbeschränkten Kontakt festzustellen, richtet sich nach dem Einzelfall.114 Ausnahmsweise, etwa im Falle der Weiterleitung eines Briefs an den in eine andere Vollzugsanstalt verlegten Beschuldigten mittels eines Adressaufklebers, der die Einsicht in das ursprüngliche Adress- und Absenderfeld verdeckt, wird auch die Öffnung
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LR/Ignor/Bertheau § 53, 22 m.w.N.; SK/Paeffgen 36 (Laientheologen). Siehe hierzu umfassend LR/Ignor/Bertheau § 53, 23 f. (Geistliche) und 46 (Abgeordnete).
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des Schreibens zulässig sein. Allerdings darf der Kontrollierende in diesem Fall nur die Herkunft des Schriftstücks prüfen; vom Inhalt des Schreibens darf er keine Kenntnis nehmen, wenn es von einem privilegierten Kommunikationspartner herrührt.115 5. Überprüfung (Absatz 5)
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a) Prüfungsgegenstand. Nach Absatz 5 Satz 1 sind sowohl die gerichtliche oder staatsanwaltschaftliche bzw. vollzugsanstaltliche (Eil-)Anordnung von Beschränkungen als auch die in deren Ausführung getroffenen Entscheidungen oder sonstigen (tatsächlichen) Maßnahmen Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung. Soweit der Staatsanwaltschaft, deren Ermittlungspersonen und der Vollzugsanstalt 74 (Eil-)Anordnungs- und Ausführungskompetenzen nach Maßgabe von Absatz 1 Satz 4 und Absatz 2 übertragen sind, gebietet bereits die in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte Rechtsweggarantie, dass dem von den Entscheidungen und (tatsächlichen) Maßnahmen Betroffenen die Möglichkeit der Herbeiführung einer gerichtlichen Entscheidung über deren Rechtmäßigkeit zur Verfügung gestellt wird.116 Das ist mit Absatz 5 Satz 1 geschehen. Während die Übertragung der Ausführung der Anordnung auf die Staatsanwaltschaft nach § 119 Abs. 2 Satz 3 durch das Haftgericht unanfechtbar ist (Rn. 62), kann gegen die Entscheidungen und tatsächlichen Maßnahmen der Staatsanwaltschaft, ihrer Ermittlungspersonen oder der Vollzugsanstalt, die diese sodann in Ausführung der Anordnung treffen, Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach Absatz 5 gestellt werden. Dieser Antrag ist zulässig sowohl etwa gegen die Versagung der Besuchserlaubnis für eine bestimmte Person oder zu einem bestimmten Zeitpunkt als auch gegen die von der Staatsanwaltschaft angeordnete Art und Weise der Überwachung oder ihre konkrete (der Anordnung ggf. widersprechende) Ausführung.117 Zugleich hat der Gesetzgeber gegen die Entscheidungen und sonstigen Maßnahmen 75 nach Absatz 1 und 2, die durch das Oberlandesgericht oder den Ermittlungsrichter des BGH (oder des OLG) getroffen werden, die Möglichkeit der Antragstellung nach Absatz 5 eröffnet.118 Diese sind der Beschwerde entzogen, weil der Begriff „Verhaftung“ in § 304 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1, Abs. 5 Beschränkungen des Beschuldigten in der Untersuchungshaft über ihre Anordnung hinaus nicht erfasst.119 Gegen die Anordnungen und die in Ausführung derselben getroffenen Entscheidun76 gen und Maßnahmen des Amts- oder Landgerichts ist dagegen nach § 304 Abs. 1 die (einfache) Beschwerde zulässig, auch soweit es sich um Entscheidungen oder Maßnahmen (des Vorsitzenden) des erkennenden Gerichts handelt. Der Begriff der Verhaftung in § 305 Satz 2 ist – anders als in 304 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1, Abs. 5 – weit auszulegen, so dass § 305 Abs. 1 Satz 1 die Beschwerdemöglichkeit insoweit nicht ausschließt.120 Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist subsidiär gegenüber der Beschwerdemöglichkeit.121 Gegen die nach dieser Vorschrift ergangenen Entscheidungen und sonstigen Maßnahmen ist danach entweder die Beschwerde nach §§ 304 ff. oder der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 119 Abs. 5 statthaft, so dass sichergestellt ist, dass sie ausnahmslos alle zur gerichtlichen Überprüfung gestellt werden können.
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A.A. SK/Paeffgen 39, der die Öffnung eines Schreibens generell für unzulässig hält. BTDrucks. 16 11644 S. 30. Weider StV 2010 107. BTDrucks. 16 11644 S. 30.
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BGHSt 26 270. OLG Karlsruhe StV 1997 312; LR/Hilger 155 im HW; Graf/Krauß 52; MeyerGoßner/Schmitt 37; HK/Posthoff 35. BTDrucks. 16 11644 S. 30.
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b) Antragsbefugnis. Wie nach bisheriger Rechtslage sind beschwerdeberechtigt der 77 (durch die gerichtliche Entscheidung oder sonstige Maßnahme beschwerte) inhaftierte Beschuldigte, sein Verteidiger (jedoch nicht gegen den erklärten Willen des Beschuldigten, § 297), der gesetzliche Vertreter (§ 298) und die Staatsanwaltschaft (§ 296), nicht jedoch der Nebenkläger oder – anders als bei gerichtlichen Entscheidungen nach § 119a – die Vollzugsanstalt, weil eine Beschwer diesbezüglich nicht denkbar ist. Auch ein von der Entscheidung oder Maßnahme betroffener Dritter, der nicht notwendig Adressat derselben sein muss, kann sich der Beschwerde bedienen, wenn er geltend machen kann, dass sich die Entscheidung oder Maßnahme des Gerichts nachteilig auf seine tatsächliche oder Rechtsposition ausgewirkt hat.122 Gleiches gilt – auch im Hinblick auf die Antragsbefugnis der Staatsanwaltschaft, die ohne eigene Beschwer Rechtsmittel zu Gunsten des (beschwerten) Beschuldigten einlegen darf (§ 296 Abs. 2) – für den Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach Absatz 5.123 c) Prüfungsumfang. Der Inhalt der Prüfung des Antrags auf gerichtliche Entschei- 78 dung nach § 119 Abs. 5 einerseits und der Beschwerde nach §§ 304 ff. andererseits unterscheidet sich nicht voneinander. In beiden Fällen kann nicht nur geltend gemacht werden, dass für eine bestimmte Beschränkung oder ihre konkrete Ausführung von Anfang an die gesetzlichen Voraussetzungen nach Absatz 1 und 2 nicht vorgelegen hätten. Vielmehr kann auch eingewandt werden, dass eine bestimmte Beschränkung nicht mehr erforderlich sei, etwa weil die Verdunkelungsgefahr durch ein Geständnis des Beschuldigten entfallen ist. Dadurch wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass Beschuldigte nicht auf eine von Amts wegen erfolgende Aufhebung einer Beschränkung (Rn. 44) angewiesen sind, sondern diese auch selbst initiieren können.124 d) Beschwerde. Soweit die Beschwerde gegen Entscheidungen und Maßnahmen nach 79 § 119 Abs. 1 und 2 zulässig ist (Rn. 76), geht sie dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung vor. Das Beschwerdeverfahren richtet sich nach den §§ 304 ff.; hinsichtlich des Rechtsschutzes bei Beendigung der Untersuchungshaft gelten die für § 119 a.F. aufgestellten Grundsätze.125 Nach einer Entscheidung des OLG Hamm soll eine Beschwerde gegen Anordnungen nach § 119 Abs. 1 auch dann zulässig bleiben, wenn der (ursprünglich vollzogene) Haftbefehl (nur) außer Vollzug gesetzt, nicht aufgehoben wird.126 Eine bei Anklageerhebung noch nicht erledigte Beschwerde gegen eine ermittlungs- 80 richterliche Entscheidung oder Maßnahme ist – wie im Falle einer unerledigten Haftbeschwerde – umzudeuten in einen Prüfungsantrag an das neu zuständig gewordene erkennende Gericht. Über sie entscheidet (originär) der Vorsitzende des erkennenden Spruchkörpers (§ 126 Abs. 2 Satz 3). Seine Entscheidung kann ihrerseits mit der Beschwerde angegriffen werden, die keine weitere Beschwerde im Sinne des § 310 ist.127 Die weitere Beschwerde findet – wie nach h.M.128 zur bisherigen Rechtslage – nicht 81 statt, weil die vom Beschwerdegericht erlassenen Beschlüsse nicht die Verhaftung betref122 123
124 125
LR/Hilger 156 im HW; Graf/Krauß 52; Meyer-Goßner/Schmitt 36; SK/Paeffgen 71. Einschränkend Graf/Krauß 51, der der Staatsanwaltschaft (nur) gegen Entscheidungen der Oberlandesgerichte oder des Ermittlungsrichters beim BGH das Antragsrecht nach Absatz 5 zugestehen will. BTDrucks. 16 11644 S. 30. Vgl. LR/Hilger 157 ff. im HW; so auch für
126 127 128
§ 119 n.F.: BerlVerfGH StV 2011 165; Graf/ Krauß 53; Meyer-Goßner/Schmitt 36; SK/Paeffgen 72; HK/Posthoff 35; KMR/ Wankel 54. OLG Hamm NStZ-RR 2010 292. KG NStZ-RR 1996 365; Graf/Krauß 52; Meyer-Goßner/Schmitt 36. Nachweise bei LR/Hilger 159 im HW.
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fen, sondern die Art und Weise, wie die Untersuchungshaft vollzogen wird.129 Der Begriff der „Verhaftung“ ist hier – wie in § 304 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 und Abs. 5 – einschränkend auszulegen.
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e) Antrag auf gerichtliche Entscheidung. In den Fällen, in denen die Beschwerde nicht statthaft ist, kann nach Absatz 5 Satz 1 Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt werden. Da Eilanordnungen der Staatsanwaltschaft und der Vollzugsanstalt nach Absatz 1 Satz 4 ohnehin gemäß Absatz 1 Satz 5 innerhalb von drei Werktagen zur gerichtlichen Genehmigung vorgelegt werden müssen, ist regelmäßig nur Raum für eine diesbezügliche Antragstellung nach Absatz 5, wenn die Eilanordnung vor Ablauf der Vorlagefrist oder vor der Entscheidung des Gerichts darüber ihre Erledigung gefunden haben oder aufgehoben worden sind oder die Vorlage willkürlich verzögert wird.
83
aa) Zuständigkeit. Die gerichtliche Zuständigkeit für die Entscheidung über den Antrag nach Absatz 5 bestimmt sich nach § 126 130 (in Verbindung mit den §§ 125, 162 Abs. 1 Satz 2). Zur Entscheidung berufen ist danach das Haftgericht, bis zur Erhebung der öffentlichen Klage also der Richter beim Amtsgericht oder der Ermittlungsrichter des BGH oder OLG, danach der Vorsitzende des erkennenden Gerichts. Das Kollegialgericht ist funktionell unzuständig.131 Entscheidet anstelle des Vorsitzenden die Kammer132, hebt das Beschwerdegericht die angefochtene Entscheidung wegen der falschen Besetzung auf. Es kann die Sache an den Vorderrichter zurückverweisen, muss dies aber nicht tun, sondern kann auch in der Sache selbst entscheiden.133 Das gilt allerdings nur dann, wenn sich der Antrag gegen (erledigte) Eilanordnungen 84 der Staatsanwaltschaft oder der Vollzugsanstalt nach Absatz 1 Satz 4 oder Entscheidungen oder sonstige Maßnahmen richtet, die die Staatsanwaltschaft, ihre Ermittlungspersonen oder die Vollzugsanstalt in Ausführung dieser oder gerichtlicher Anordnungen getroffen haben. Wird Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen Anordnungen oder in deren Ausführung ergangene Entscheidungen oder sonstige Maßnahmen des Oberlandesgerichts oder des Ermittlungsrichters des BGH oder des OLG gestellt, ist das Haftgericht nicht zuständig. Vielmehr ist das zur Entscheidung über den Antrag berufene Gericht analog der Zuständigkeiten für die Entscheidung über die – ausnahmsweise gegen Beschlüsse des Oberlandesgerichts oder der Ermittlungsrichter des BGH und des OLG nach § 304 Abs. 4 Satz 2, Abs. 5 statthafte – Beschwerde zu bestimmen. Über Anträge gegen Entscheidungen oder sonstige Maßnahmen des (Vorsitzenden des erstinstanzlich zuständigen Strafsenats des) Oberlandesgerichts und des Ermittlungsrichters beim BGH befindet danach – entsprechend § 135 Abs. 2 GVG – der (Strafsenat des) Bundesgerichtshof(s).134 Hat der Ermittlungsrichter des OLG Anordnungen nach Absatz 1 oder Entscheidungen oder Maßnahmen in deren Ausführung getroffen, ist in entsprechender
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OLG Köln NStZ-RR 2012 93; Graf/Krauß 52; Meyer-Goßner/Schmitt 36; HK/Posthoff 35; a.A. SK/Paeffgen 73. BTDrucks. 16 11644 S. 30. KG Beschluss vom 2.1.2013 – 4 Ws 138/12 – [juris]; zur früheren Rechtslage ebenso LR/Hilger § 126, 19 im HW; a.A. (gesamter Spruchkörper in der Besetzung außerhalb der Hauptverhandlung) KMR/Wankel § 126, 16; AnwK-UHaft/König § 126, 10.
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Gegen Entscheidungen des Oberlandesgerichts ist die Beschwerde nicht statthaft (Rn. 86). Zur alten Rechtslage insoweit LR/Hilger § 126, 20 im HW. Ebenso ohne Begründung Graf/Krauß 51; HK/Posthoff 37.
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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme
Nachtr. § 119 StPO
Anwendung von § 120 Abs. 3 Satz 2 GVG der Strafsenat des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über den Antrag nach Absatz 5 berufen.135 bb) Verfahren. Form der Entscheidung. Hinsichtlich der Anbringung des Antrags 85 nach Absatz 5, des Verfahrens und der Form der gerichtlichen Entscheidung sind die Vorschriften über die Beschwerde entsprechend anzuwenden. Allerdings ist – jedenfalls dann, wenn eine behördliche Maßnahme angegriffen wird – abweichend von § 306 Abs. 1 die Antragstellung (auch) bei dem zur Entscheidung berufenen Gericht zuzulassen. Das entspricht den Regelungen zur Anfechtung von Justizverwaltungsakten nach den Vorschriften des EGGVG.136 Das Gericht entscheidet nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung über den Antrag. Die Entscheidung, die in Beschlussform ergeht, ist – soweit sie anfechtbar ist (Rn. 86) – zu begründen (§ 34) und den Beteiligten (formlos) bekannt zu machen. cc) Gegen die (erste) gerichtliche Entscheidung des nach § 126 zuständigen Amts- 86 oder Landgerichts, die dieses auf einen Antrag nach Absatz 5 getroffen hat, ist die einfache Beschwerde zulässig, die auch die Staatsanwaltschaft (bei ursprünglich angefochtenen Anordnungen der Vollzugsanstalt auch diese) einlegen kann. Hat das Oberlandesgericht oder der Ermittlungsrichter des BGH oder des OLG über den Antrag nach Absatz 5 entschieden, ist die Beschwerde nach § 304 Abs. 4 Satz 2, Abs. 5 ausgeschlossen. Eine nochmalige Überprüfung der gerichtlichen Entscheidung findet insoweit nicht statt. dd) Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat keine aufschiebende Wirkung, was 87 Absatz 5 Satz 2 klarstellt. Das entspricht der allgemeinen Regelung zur Anfechtbarkeit von Justizverwaltungsakten gemäß § 29 Abs. 2 EGGVG in Verbindung mit § 307 Abs. 1 sowie der Regelung für den strafvollzugsrechtlichen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 114 Abs. 1 StVollzG. Für die Beschwerde ergibt sich das Gleiche aus § 307 Abs. 1.137 Das Gericht kann jedoch nach Absatz 5 Satz 3 vorläufige Anordnungen treffen. Dabei lässt das Gesetz – anders als in § 307 Abs. 2 – nicht nur die Aussetzung der Vollziehung, sondern (in Anlehnung an § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG) auch weitergehende Anordnungen zu.138 f) Belehrungspflicht. Wird der gegen einen Beschuldigten erlassene Haftbefehl voll- 88 zogen und die Haft nach richterlicher Anhörung aufrecht erhalten, ist der Beschuldigte über das Recht, gerichtliche Entscheidung nach Absatz 5 zu beantragen bzw. Beschwerde nach den §§ 304 ff. einzulegen, zu belehren (§ 115 Abs. 4).139 Eine erneute Belehrung bei einer beschwerenden behördlichen Entscheidung oder Maßnahme ist nicht erforderlich.140 g) Für die auf eine Verletzung des § 119 i.V.m. §§ 336, 337 gestützt Revision gelten 89 die zur bisherigen Rechtslage entwickelten Grundsätze fort.141
135
136
A.A. wohl KMR/Wankel 48: „Entscheidungsüberprüfung eigener Art, ähnlich einer Gegenvorstellung“. § 26 EGGVG, Anbringung des Antrags schriftlich oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle des (zur Entscheidung berufenen) OLG (oder eines Amtsgerichts).
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140 141
BTDrucks. 16 11644 S. 30. KMR/Wankel 57. BTDrucks. 16 11644 S. 30; siehe zu den Einzelheiten LR/Lind § 115, 3 ff. in diesem Nachtrag. Brocke/Heller StraFo 2011 6. LR/Hilger 163 im HW.
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6. Anwendung bei Überhaft (Absatz 6)
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a) Vollstreckung anderer freiheitsentziehender Maßnahmen. Nach Satz 1 gelten die Regelungen der Absätze 1 bis 5 auch, wenn gegen einen Beschuldigten, gegen den Untersuchungshaft angeordnet ist, eine andere freiheitsentziehende Maßnahme vollstreckt wird. Damit wurde zum Einen der wesentliche Regelungsgehalt des – mit dem Inkrafttreten der Landesstrafvollzugsgesetze zukünftig in Wegfall geratenden – § 122 Abs. 1 StVollzG in die Strafprozessordnung übernommen. Zwar ist im Zuge der Föderalismusreform die Gesetzgebungskompetenz (auch) für den Strafvollzug auf die Länder übergegangen. Die bislang durch § 122 StVollzG geregelte Materie unterfällt aber auch nach der Änderung von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG der (konkurrierenden) Regelungskompetenz des Bundesgesetzgebers. Denn bei § 122 StVollzG handelt es sich nicht um eine (straf-)vollzugsrechtliche Norm, sondern um eine solche, die die Geltung der nach der Strafprozessordnung zur Sicherung des Untersuchungshaftzwecks angeordneten Beschränkungen im vorrangigen Strafvollzug bzw. Vollzug anderer freiheitsentziehender Maßnahmen betrifft und daher ebenso wie diese Beschränkungen selbst ihre Rechtfertigung aus dem gerichtlichen Verfahren bezieht.142 Zum Anderen wurden durch die Neunormierung auch bisherige Regelungslücken in diesem Bereich geschlossen.143 Während § 122 StVollzG neben der Freiheitsstrafe lediglich (durch Verweis in § 130 StVollzG) die Sicherungsverwahrung und (durch Verweis in § 171 StVollzG) die Ordnungshaft, die zivilrechtliche Sicherungshaft sowie die Erzwingungshaft erfasste, so dass für andere gegen den Beschuldigten unter Überhaftnotierung vollstreckte freiheitsentziehende Maßnahmen in der Praxis auf eine analoge Anwendung der Norm zurückgegriffen wurde, gelten nach der neuen Vorschrift die Regelungen der Absätze 1 bis 5 für alle gegen den Beschuldigten mit Vorrang vor einem Haftbefehl vollstreckten anderen freiheitsentziehenden Maßnahmen. Die Regelung des Absatz 6 Satz 1 bezieht sich durch ihren Klammerzusatz ausdrück91 lich (nur) auf die in § 116b geregelten Fallkonstellationen, in denen die Vollstreckung einer anderen freiheitsentziehenden Maßnahme derjenigen der Untersuchungshaft vorgeht.144 In diesen Fällen wird für den gegen den Beschuldigten erlassenen (nicht außer Vollzug gesetzten) Haftbefehl Überhaft notiert. Auch wenn in den genannten Fällen die Untersuchungshaft nicht vollzogen wird, 92 kann es (praktisch sehr selten) erforderlich sein, dem anderweitig verwahrten Beschuldigten zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr über die Entziehung seiner Freiheit hinaus zusätzliche, im Vollzug der anderen Maßnahme nicht vorgesehene Beschränkungen aufzuerlegen. Daher bestimmt Satz 1, dass es auch in diesen Fällen zulässig ist, nach Absatz 1 bis 4 Beschränkungen anzuordnen und umzusetzen. Anordnung und Ausführung dieser Beschränkungen kann in dem von Absatz 5 vorgesehenen Rechtsweg zur gerichtlichen Überprüfung gestellt werden.145 Die Zuständigkeit des Gerichts bestimmt sich – wie Satz 2 ausdrücklich klarstellt – 93 auch in diesem Fall nach § 126. Diese Regelung erschien dem Gesetzgeber sachgerecht, weil über die Erforderlichkeit der Beschränkungen – unabhängig davon, welche Art von Freiheitsentziehung gerade vollstreckt wird, – am sinnvollsten durch das Gericht entschieden werden kann, das auch für die Entscheidung über den Haftbefehl zuständig ist.146 142 143 144
BTDrucks. 16 11644 S. 30. BTDrucks. 16 11644 S. 31. BTDrucks. 16 11644 S. 30 f.; zum Vorrang anderer freiheitsentziehender Maßnahmen vor der Vollstreckung von Untersuchungs-
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haft vgl. LR/Lind § 116b, 7 f. in diesem Nachtrag. BTDrucks. 16 11644 S. 31. BTDrucks. 16 11644 S. 31.
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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme
Nachtr. § 119a StPO
b) Mehrere Haftbefehle gegen einen Beschuldigten. Auch dann, wenn gegen den- 94 selben Beschuldigten mehrere Haftbefehle erlassen worden sind, wird regelmäßig nur einer von ihnen vollzogen, während für die weiteren Haftbefehle Überhaft notiert wird.147 Nach dem Willen des Gesetzgebers, der sich insoweit darauf beruft, dass nach bisherigem Recht in dieser Konstellation vielfach auf § 122 StVollzG in entsprechender Anwendung zurückgegriffen wurde, soll Absatz 6 auch dann anzuwenden sein, wenn mehrere Haftbefehle gegen einen Beschuldigten erlassen worden sind und aus diesem Grund (weitere) Beschränkungen erforderlich sind, die über die Notwendigkeiten des vollzogenen Haftbefehls hinausgehen.148 Eine analoge Anwendung von § 119 Abs. 6 auf diese Fälle von Überhaft führt dazu, dass die Haftgerichte, deren Haftbefehle nicht vollzogen werden, ermächtigt werden, beschränkende Anordnungen nach § 119 Abs. 1 zu erlassen. Zwar wird es sich in der Praxis sehr selten als notwendig erweisen, dass auf dieser Grundlage mehrere Haftgerichte Beschränkungen anordnen. Geschieht dies aber, kann das im Einzelfall zu erheblichen Umständlichkeiten und Verzögerungen führen, wenn etwa Besucher die Erlaubnis mehrerer Stellen einholen und die Besuchskontakte des Beschuldigten von mehreren Stellen, eventuell in unterschiedlicher Art und Weise, überwacht werden müssen oder wenn seine Post von mehreren Stellen zu kontrollieren ist.
§ 119a (1) 1Gegen eine behördliche Entscheidung oder Maßnahme im Untersuchungshaftvollzug kann gerichtliche Entscheidung beantragt werden. 2Eine gerichtliche Entscheidung kann zudem beantragt werden, wenn eine im Untersuchungshaftvollzug beantragte behördliche Entscheidung nicht innerhalb von drei Wochen ergangen ist. (2) 1Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat keine aufschiebende Wirkung. 2Das Gericht kann jedoch vorläufige Anordnungen treffen. (3) Gegen die Entscheidung des Gerichts kann auch die für die vollzugliche Entscheidung oder Maßnahme zuständige Stelle Beschwerde erheben. Schrifttum. Siehe § 119
Änderung. Die Vorschrift ist durch Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274) mit Wirkung zum 1.1.2010 neu in die Strafprozessordnung eingefügt worden.
Übersicht Rn. I. Bedeutung
. . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . .
3
Rn. 1. Antrag auf gerichtliche Entscheidung (Absatz 1 und 2) a) Prüfungsgegenstand (Absatz 1) . . . b) Zuständigkeit . . . . . . . . . . .
III. Einzelfragen
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LR/Hilger Vor § 112, 51 f. im HW; MeyerGoßner/Schmitt Vor § 112, 12 f. m.w.N.; a.A. SK/Paeffgen 74, der von einer Parallel-
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4 8
vollstreckung aller gegen einen Beschuldigten ergangenen Haftbefehle ausgeht. BTDrucks. 16 11644 S. 31.
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§ 119a StPO Nachtr.
Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften Rn.
c) Verfahren, Form der Entscheidung . d) Zulässigkeit, Beschwer des Antragstellers . . . . . . . . . . . . . . . e) Begründetheit . . . . . . . . . . . f) (Keine) aufschiebende Wirkung, vorläufige Anordnungen des Gerichts (Absatz 2 Satz 1 und 2) . . . . . . g) Belehrungspflicht . . . . . . . . . .
Rn.
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2. Überprüfung der gerichtlichen Entscheidung (Absatz 3) a) Beschwerde . . . . . . . . . . . . . b) Anfechtungsberechtigung . . . . . . c) Beschwerdeverfahren . . . . . . . . d) Ausschluss der weiteren Beschwerde e) Revision . . . . . . . . . . . . . .
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I. Bedeutung 1
Durch Art. 1 Nr. 7 a), aa) des 52. Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 (BGBl. I S. 2034), die sogenannte Föderalismusreform, ist die Gesetzgebungskompetenz für den Untersuchungshaftvollzug auf die Länder übergegangen. Die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes beschränkt sich nach Art. 70 Abs. 1 i.V.m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG nunmehr auf „das gerichtliche Verfahren (ohne das Recht des Untersuchungshaftvollzugs)“. Ihre Befugnis haben die Länder mit dem Erlass ihrer Untersuchungshaftvollzugsgesetze ausgeübt und die Anordnungs- und Ausführungskompetenz (auch) für Beschränkungen im Einzelfall – soweit sie nicht dem Zweck der Untersuchungshaft (insoweit grundsätzlich gerichtliche Zuständigkeit nach § 119),1 sondern der Aufrechterhaltung der Sicherheit bzw. der Ordnung in der Anstalt dienen – in der Regel auf die Vollzugsanstalt2 übertragen. Die Befugnis zur Anordnung solcher Beschränkungen des inhaftierten Beschuldigten, die bislang im Hinblick auf die Grundrechtsrelevanz von Entscheidungen und Maßnahmen, die über den Freiheitsentzug hinaus gehen, grundsätzlich beim Richter lag,3 ist damit teilweise auf die Behörde übergegangen.4 Bezüglich der Entscheidungen und Maßnahmen der Behörde, die zur Regelung des Einzelfalls5 auf der Grundlage der Untersuchungshaftvollzugsgesetze der Länder ergehen, musste danach in Ausfüllung der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG eine Möglichkeit gerichtlicher Überprüfung geschaffen, den von ihnen Betroffenen der Rechtsweg eröffnet werden.6 Im Hinblick auf den zur Regelungsmaterie des § 119
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2
Siehe dort; Anders das Niedersächsische Justizvollzugsgesetz (NJVollzG) vom 14.12.2007 (Nds.GVBl. Nr. 41/2007 S. 720), geändert durch Gesetz vom 20.2.2009 (Nds.GVBl. Nr.3/2009 S. 32) und Art. 2 des Gesetzes vom 25.3.2009 (Nds.GVBl. Nr. 6/2009 S. 72), in dessen § 134 – unter Verneinung der diesbezüglichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes – auch die zur Abwehr der Flucht- oder Wiederholungsgefahr erforderlichen Entscheidungen und sonstigen Maßnahmen der Zuständigkeit der Vollzugsanstalt zugewiesen werden. Für das zugrunde liegende weite Verständnis des Begriffs „Untersuchungshaftvollzug“ nunmehr auch Seebode HRRS 2008 236 ff.; FS 2009 7. Für Entscheidungen und Maßnahmen nach den Untersuchungshaftvollzugsgesetzen der
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3 4 5
6
Länder sind regelmäßig die Vollzugsanstalten, funktionell die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter, zuständig. In Ausnahmefällen liegt die Entscheidungskompetenz auch bei der Aufsichtsbehörde, der beispielsweise nach § 63 Abs. 2 UVollzG Bln die Disziplinarbefugnis bei Verfehlungen gegen die Anstaltsleiterin oder den Anstaltsleiter zusteht. § 119 Abs. 6 a.F. Zur Kritik vgl. Weider StV 2010 108. Hinsichtlich anderer, zumeist die Gesamtheit der Untersuchungsgefangenen in einer Vollzugsanstalt betreffender Maßnahmen, die schon nach früherer Rechtslage der Vollzugsanstalt oblagen, bestand bereits die Möglichkeit, nach den §§ 23 ff. EGGVG bei den Oberlandesgerichten um Rechtsschutz nachzusuchen. OLG Jena StV 2011 37.
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bestehenden Sachzusammenhang lag es nahe, die gerichtliche Überprüfung in die Hand der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu geben, auch wenn es sich der Sache nach um verwaltungs(prozess)rechtliche Materie handelt. Das hat der Bundesgesetzgeber, in dessen Zuständigkeit die Regelung der Rechtswegfrage nach wie vor fällt, weil sie das gerichtliche Verfahren betrifft, mit der Aufnahme des § 119a in die Strafprozessordnung getan.7 Inhaltlich hat sich der Gesetzgeber dabei gegen die Ausweitung des Rechtsschutzes 2 nach den §§ 23, 24 Abs. 1 EGGVG, der dem Untersuchungsgefangenen nach Nr. 75 Abs. 3 UVollzO gegen die bislang bereits in die Zuständigkeit der Vollzugsanstalten fallenden Maßnahmen im Vollzug der Untersuchungshaft gewährt wurde,8 auf die im Einzelfall zur Wahrung der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt getroffenen Anordnungen und Maßnahmen entschieden. Im Sinne der Einheitlichkeit der Rechtsordnung und im Bemühen um eine praxisgerechte(re) Regelung9 wurde vielmehr in Anlehnung an § 119 Abs. 5 der Antrag auf gerichtliche Entscheidung (zum nach § 126 zuständigen Haftgericht, Rn. 8) einheitlich als statthafter Rechtsbehelf gegen alle behördlichen Entscheidungen und Maßnahmen im Untersuchungshaftvollzug, sowohl im Einzelfall als auch betreffend die allgemeine Vollzugsorganisation,10 kodifiziert. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 119a geht gemäß § 23 Abs. 3 EGGVG der von § 23 Abs. 1 Satz 2 EGGVG nur subsidiär vorgesehenen Anfechtungsmöglichkeit vor11 und ersetzt zugleich das mit Inkrafttreten der Untersuchungshaftvollzugsgesetze der Länder in Wegfall geratene Beschwerderecht nach Nr. 75 Abs. 1 UVollzO, das dem inhaftierten Beschuldigten gegen Anordnungen des Anstaltsleiters in Angelegenheiten, die der Zuständigkeit des Richters nach § 119 Abs. 6 (a.F.) unterlagen, bislang zustand.12
II. Geltungsbereich Die Rechtswegeröffnung gegen behördliche Entscheidungen und (faktische) Maßnah- 3 men nach § 119a gilt nicht nur für den Untersuchungshaftvollzug aufgrund eines Haftbefehls nach den §§ 112, 112a, sondern auch für den Vollzug der Hauptverhandlungshaft nach § 127b und die Haft aufgrund von Haftbefehlen nach den §§ 230 Abs. 2, 236, 329 Abs. 4 und 412 Satz 1.13 Für die vorläufige Unterbringung ergibt sich die Anwendbarkeit der Bestimmung aus § 126a Abs. 2 Satz 1, für die Sicherungshaft aus § 453c Abs. 2 Satz 2 und für die Haft bei erwarteter Unterbringung in der Sicherungsverwahrung aus § 275a Abs. 5 Satz 4.
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BTDrucks. 16 11644 S. 12. Zur bisherigen Rechtslage insoweit vgl. LR/Hilger § 119, 160 ff. im HW. Vgl. BTDrucks. 16 11644 S. 31: Das Verfahren nach den §§ 23 ff. EGGVG wurde als (zu) aufwändig erachtet, die Zuständigkeit des OLG als außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache stehend. So (ohne Begründung): KG NStZ-RR 2011 388; Wiesneth 388; a.A. OLG Hamm NStZ-RR 2012 62, das eine durch die Anstalt getroffene abstrakt-generelle Regelung mit unmittelbarer Außenwirkung nicht
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als Angelegenheit des Vollzugs von Untersuchungshaft und zur Überprüfung einer solchen „Organisationsregelung“ den Rechtsweg nach den §§ 23 ff. EGGVG weiterhin als eröffnet ansieht. OLG Jena StV 2011 37; OLG Naumburg, Beschluss vom 17.8.2010 – 2 ARs 7/10 – [juris]; LR/Böttcher § 23, 63 EGGVG im HW; Graf/Krauß 4; HK/Posthoff 1; Wiesneth 389. Zur bisherigen Rechtslage insoweit vgl. LR/Hilger § 119, 154 im HW. BTDrucks. 16 11644 S. 31.
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III. Einzelfragen 1. Antrag auf gerichtliche Entscheidung (Absatz 1 und 2)
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a) Prüfungsgegenstand (Absatz 1). Gegenstand der Überprüfung durch das zuständige Gericht sind alle behördlichen Entscheidungen oder Maßnahmen im Untersuchungshaftvollzug, mithin Justizverwaltungs- und Realakte, die (in der Regel) die Anstalt auf der Grundlage des jeweiligen Landesuntersuchungshaftvollzugsgesetzes getroffen oder – Absatz 1 Satz 2 – binnen angemessener Frist trotz entsprechender Antragstellung unterlassen hat. Denkbar sind danach (wie im Verwaltungsprozess) Anfechtungs- und Unterlassungs-, Verpflichtungs- und Vornahmeanträge, bei entsprechendem Rechtsschutzbedürfnis (Rn. 13) auch (Fortsetzungs-)Feststellungsanträge. Neu im Verhältnis zu der früheren Beschwerdemöglichkeit nach Nr. 75 Abs. 1 UVollzO, 5 die nur gegen Anordnungen des Anstaltsleiters bestand, ist die Aufnahme des Untätigkeitsantrages in Absatz 1 Satz 2, die dem inhaftierten Beschuldigten nunmehr auch die Antragstellung im Falle der Nichtbescheidung seines an die Behörde gerichteten Antrags binnen angemessener Zeit ermöglicht. Bedarf der Untersuchungsgefangene nach dem Untersuchungshaftvollzugsgesetz des Landes, in dem er inhaftiert ist, für bestimmte Handlungen oder den Besitz bestimmter Gegenstände einer Erlaubnis der Behörde, in der Regel der Vollzugsanstalt, gebietet es das Rechtsstaatsprinzip, namentlich die Unschuldsvermutung, dass über die Erteilung der Erlaubnis und damit über die Erforderlichkeit einer diesbezüglichen Beschränkung in angemessener Frist entschieden wird, zumal der Betroffene ohne eine Entscheidung der Behörde den Rechtsweg nach Absatz 1 Satz 1 nicht beschreiten kann.14 Die Frist, binnen der ein Untätigkeitsantrag (noch) nicht gestellt werden kann, ist im 6 Hinblick ebenfalls auf die Unschuldsvermutung und auf die regelmäßig nur kurze Dauer der Untersuchungshaft15 mit drei Wochen ab Antragstellung deutlich kürzer gehalten als sie § 113 StVollzG derzeit für Untätigkeitsanträge im Strafvollzug vorsieht.16 Der Gesetzgeber hielt dabei eine Entscheidung über den Antrag binnen drei Wochen für der Behörde zumutbar, weil diese in aller Regel ohne umfangreiche Ermittlungen oder Beteiligungen anderer Stellen getroffen werden könne,17 so dass er der von Länderseite18 im Gesetzgebungsverfahren erhobenen Forderung nach einer Verlängerung der Frist auf sechs Wochen nicht gefolgt ist. Eine kürzere Frist als drei Wochen wurde dagegen als nicht praktikabel angesehen.19 Durch diese Fristgestaltung läuft der Untätigkeitsantrag allerdings im Falle des Vollzugs der gesetzlich auf eine Woche Höchstdauer beschränkten Hauptverhandlungshaft nach § 127b Abs. 2 leer, was der Gesetzgeber gesehen und als im Hinblick auf die insgesamt kurze Dauer dieses Freiheitsentzuges für hinnehmbar erachtet hat.20 Absatz 1 Satz 2 setzt dem von der beantragten Maßnahme Betroffenen eine Aus7 schlussfrist zur gerichtlichen Geltendmachung, nicht der Vollzugsanstalt eine – von Paeffgen 21 unter dem Aspekt der hierfür fehlenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes für
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BTDrucks. 16 11644 S. 32. BTDrucks. 16 11644 S. 32. „… nicht vor Ablauf von drei Monaten seit dem Antrag auf Vornahme der Maßnahme“. BTDrucks. 16 11644 S. 32. Vgl. die Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetzentwurf der Bundesregierung,
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BTDrucks. 16 11644 S. 41 f., und die Gegenäußerung der Bundesregierung, BTDrucks. 16 11644 S. 46. BTDrucks. 16 11644 S. 32. BTDrucks. 16 11644 S. 32; kritisch SK/Paeffgen 12. SK/Paeffgen 11.
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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme
Nachtr. § 119a StPO
verfassungswidrig gehaltene – Verbescheidungs- oder Handlungsfrist. Zwar soll diese Vorschrift gewährleisten, dass im Untersuchungshaftvollzug gestellte Anträge, über die behördlich, in der Regel durch die Vollzugsanstalt, zu entscheiden ist, in angemessener Frist bearbeitet werden. Die Behörde muss aber nicht innerhalb von drei Wochen entscheiden bzw. die beantragte Maßnahme vornehmen. Tut sie es nicht, kann der Untersuchungsgefangene jedoch auf gerichtliche Klärung antragen. b) Zuständigkeit. Wie bei § 119 Abs. 5 bestimmt sich die gerichtliche Zuständigkeit 8 für die Entscheidung über den Antrag nach Absatz 1 nach § 126 (in Verbindung mit den §§ 125, 162 Abs. 1 Satz 2), dessen Absatz 1 Satz 1 entsprechend klarstellend ergänzt worden ist. Die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters des BGH und des erstinstanzlich entscheidenden Oberlandesgerichts im vorbereitenden Verfahren bestimmt sich nach § 169 (i.V.m. § 126, § 120 GVG). Zur Entscheidung berufen ist danach das Haftgericht, bis zur Erhebung der öffentlichen Klage also der Richter beim Amtsgericht oder der Ermittlungsrichter des BGH oder des OLG, danach das erkennende Gericht. Ist dies ein Kollegialgericht, so entscheidet der gesamte Spruchkörper in der für Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung vorgesehenen Besetzung. Die sich aus § 126 Abs. 2 Satz 3 ergebende Sonderzuständigkeit des Vorsitzenden für einzelne Anordnungen gilt nicht für Anträge nach § 119a Abs. 1.22 Hat anstelle der Kammer23 ihr Vorsitzender allein entschieden, hebt das Beschwerdegericht die angefochtene Entscheidung wegen der falschen Besetzung auf und entscheidet in der Sache selbst.24 Der Gesetzgeber hat dem Haftgericht, das auch über Beschränkungen nach § 119 zu 9 befinden hat, die Entscheidungsbefugnis über den Antrag nach § 119a zugewiesen und sich damit gegen eine Zuständigkeit des (nicht zwingend, aber in der Vielzahl der Fälle mit dem Haftgericht identischen) Vollzugsgerichts, also des Amtsgerichts, in dessen Bezirk die Vollzugsanstalt ihren Sitz hat, entschieden. Im Hinblick auf den sachlichen Zusammenhang zwischen den in § 119 geregelten gerichtlichen Entscheidungen und sonstigen Maßnahmen zur Erreichung des Zwecks der Untersuchungshaft und den gerichtlichen Entscheidungen nach § 119a erschien eine einheitliche Zuständigkeit für beide Arten gerichtlicher Entscheidungen sachgerecht, zumal dem Haftgericht der Sachverhalt bereits aus der Ermittlungsakte vertraut ist und eine mit zum Teil erheblichem Mehraufwand (Aktendoppelung) verbundene Einarbeitung eines weiteren Gerichts damit vermieden werden kann.25 Ziel des Gesetzgebers war es dabei auch, Informationsverlusten sowie positiven oder negativen Kompetenzkonflikten durch die Befassung zweier Gerichte in sachlich nahe beieinander liegenden und nicht immer einfach voneinander abgrenzbaren Bereichen entgegenzuwirken.26 Dass das Haftgericht in Einzelfällen, nämlich dann, wenn sich die Vollzugsanstalt in 10 einem anderen Bundesland befindet oder wenn der Ermittlungsrichter des BGH für die Entscheidung über den Antrag nach § 119a zuständig ist, fremdes Recht, nämlich das Untersuchungshaftvollzugsgesetz eines (anderen) Bundeslandes, das die zu entscheidende Frage abweichend vom Gesetz des Landes regeln kann, in dem das Haftgericht liegt,
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23
KG, Beschluss vom 2.1.2013 – 4 Ws 138/12 – [juris]; KMR/Wankel § 126, 16; a.A. SK/Paeffgen 10a unter Berufung auf Rechtsprechung zu § 119 Abs. 6 a.F. Gegen Entscheidungen des Oberlandesgerichts ist die Beschwerde nicht statthaft (Rn. 20).
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KG, Beschluss vom 2.1.2013 – 4 Ws 138/12 – [juris]. BTDrucks. 16 11644 S. 32; vgl. auch LR/Lind § 126, 2 in diesem Nachtrag. BTDrucks. 16 11644 S. 32.
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anwenden muss, hat der Gesetzgeber gesehen und im Hinblick auf den Ausnahmecharakter dieser Fälle und die mit der getroffenen Regelung verbundenen Vorzüge (Rn. 9) für hinnehmbar erachtet.27
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c) Verfahren. Form der Entscheidung. Hinsichtlich des Verfahrens und der Form der gerichtlichen Entscheidung sind die Vorschriften über die Beschwerde entsprechend anzuwenden. Für die Anbringung des Antrages ist allerdings abweichend von § 306 die Antragstellung (zumindest auch) bei dem zur Entscheidung berufenen Gericht zuzulassen, wie dies für den strafvollzugsrechtlichen Antrag auf gerichtliche Entscheidung von § 112 StVollzG vorgesehen ist. Das Gericht entscheidet nach Anhörung der Vollzugsanstalt ohne mündliche Verhandlung über den Antrag. Die Entscheidung, die in Beschlussform ergeht, ist im Hinblick auf die mit Absatz 3 gegebene Anfechtungsmöglichkeit (und soweit diese reicht) zu begründen (§ 34) und dem Antragsteller sowie der Vollzugsanstalt (formlos) bekannt zu machen. Der Zustellung des Beschlusses bedarf es nach § 35 Abs. 2 Satz 2 wegen der fehlenden Fristbindung der gegen ihn statthaften Beschwerde nicht. Eine Kostenentscheidung ergeht nicht.28 Die Staatsanwaltschaft ist – wie bisher im Rahmen der Antragstellung nach den 12 §§ 23 ff. EGGVG – in geeigneten Fällen (§ 309 Abs. 1) anzuhören.29 Zumindest bis zur Anklageerhebung wird die Anhörung der Staatsanwaltschaft schon aufgrund der dort bestehenden Vertrautheit mit dem Sachverhalt regelmäßig sinnvoll sein; sie kann mit der Anforderung der bei ihr geführten Akten verbunden werden.
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d) Zulässigkeit. Beschwer des Antragstellers. Der Antragsteller muss von der beanstandeten Entscheidung oder Maßnahme bzw. ihrem Unterlassen selbst betroffen sein, ohne dass er notwendig Adressat derselben sein muss,30 und geltend machen können, dass das Tun oder Unterlassen der Behörde sich nachteilig auf seine tatsächliche oder Rechtsposition ausgewirkt hat (Beschwer).31 Aus der – auch für die Zulässigkeit eines jeden anderen Rechtsmittels und Rechtsbehelfs der Strafprozessordnung erforderlichen – Beschwer ergibt sich das Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers. Im Falle der Antragstellung nach Absatz 1 Satz 2 kann das – neben der Einhaltung der Drei-Wochen-Frist positiv festzustellende – Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers fehlen, wenn von zuständiger Stelle über einen identischen Antrag bereits entschieden wurde und sich die Sachlage seitdem nicht verändert hat.32 Die Zulässigkeit von Anträgen gegen – vor Anbringung des Antrages oder vor Entscheidung darüber – erledigte behördliche Entscheidungen oder Maßnahmen erfordert ein entsprechendes (Fortsetzungs-)Feststellungs-
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BTDrucks. 16 11644 S. 32. Wiesneth 396. A.A. Wiesneth 395: „Die Staatsanwaltschaft ist am Verfahren nicht zu beteiligen, weil Gegenstand des Verfahrens keine verfahrenssichernden Maßnahmen sind und das Strafverfolgungsinteresse nicht berühren.“. Betroffener kann etwa auch der Besucher sein, der in Kontakt oder Kommunikation mit dem inhaftierten Beschuldigten aus Gründen der Sicherheit und Ordnung der Vollzugsanstalt auf der Grundlage des Landesuntersuchungshaftvollzugsgesetzes beschränkt wird.
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BTDrucks. 16 11644 S. 31: (Ungeschriebene) Zulässigkeitsvoraussetzung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung; so auch AnwKUHaft/König 2; Graf/Krauß 6; AnwK-StPO/ Lammer 2; SK/Paeffgen 9; HK/Posthoff 3; KMR/Wankel 3. BTDrucks. 16 11644 S. 32; HK/Posthoff 7; a.A. Meyer-Goßner/Schmitt 6: „Antrag nicht unzulässig, vielmehr kann er unter Bezugnahme auf die frühere Entscheidung als unbegründet zurückgewiesen werden“.
Kerstin Gärtner
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Nachtr. § 119a StPO
interesse und richtet sich im Übrigen nach den für den Rechtsschutz im Erledigungsfalle entwickelten Grundsätzen.33 Anders als § 112 StVollzG, der eine Antragstellung erst zwei Wochen nach Zustellung 14 oder schriftlicher Bekanntgabe der Maßnahme oder ihrer Ablehnung zulässt, und § 26 Abs. 1 EGGVG (Antragstellung innerhalb eines Monats nach Zustellung oder schriftlicher Bekanntmachung des Bescheides) sieht § 119a Abs. 1 Satz 1 keine Antragsfrist für die Stellung eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung vor. Eine diesbezügliche Forderung des Bundesrates34 im Gesetzgebungsverfahren hat keinen Niederschlag in der Regelung gefunden. Eine Befristung sah der Gesetzgeber als entbehrlich an, weil Entscheidungen und Maßnahmen der Behörde im Vollzug der Untersuchungshaft zunächst wirksam und zu beachten sind, so dass Rechtsunsicherheit für die vollzugliche Praxis bei Fehlen einer Antragsfrist nicht entsteht. Zudem ergehen Entscheidungen und Maßnahmen der Behörde im Vollzug der Untersuchungshaft regelmäßig nur mündlich. Eine Antragsbefristung könnte folglich nicht an die schriftliche Bekanntgabe der Entscheidung oder Maßnahme anknüpfen oder würde in diesem Falle in der Regel leer laufen. Bei mündlicher Bekanntgabe sind Unsicherheiten hinsichtlich des Fristbeginns und Auseinandersetzungen hierüber zu erwarten.35 e) Begründetheit. Prüfungsmaßstab für das Gericht ist hinsichtlich aller Anordnun- 15 gen und Maßnahmen im Vollzug der Untersuchungshaft – und der weiteren in den Geltungsbereich der Norm (Rn. 3) fallenden Haftarten – das Untersuchungshaftvollzugsgesetz des Landes, in dem die Vollzugsanstalt ihren Sitz hat. Als Rechtsgrundlage und damit Prüfungsmaßstab des Gerichts für Anordnungen und Maßnahmen im Vollzug der einstweiligen Unterbringung nach § 126a, die der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in der Unterbringungsanstalt dienen, ist dagegen – bis zu einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung durch den Landesgesetzgeber36 – das Landesgesetz zur Hilfe und Unterbringung psychisch kranker Menschen (PsychKG) heranzuziehen.37 Alle auf dieser Grundlage ergangenen Entscheidungen und Maßnahmen zur Aufrecht- 16 erhaltung der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt unterliegen der gerichtlichen Nachprüfung. Dabei gelten die zu entsprechenden Anordnungen nach § 119 Abs. 3 2. Alt. (a.F.) aufgestellten Grundsätze38 im selben Umfang fort. Das Gericht hat auf der Grundlage eines zureichend aufgeklärten Sachverhalts zu entscheiden und die von der Anstalt vorgetragenen Tatsachen eigenverantwortlich zu prüfen.39 Die Vorschriften der Untersuchungshaftvollzugsgesetze der Länder sind an den durch sie eingeschränkten Grundrechten zu messen und entsprechend restriktiv auszulegen, wobei die sachliche und personelle Ausstattung der Anstalt und die Erfüllung der ihr obliegenden Aufgaben angemessen zu berücksichtigen sind. Der besonderen Stellung des Untersuchungsgefangenen,
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34 35 36 37
Vgl. BVerfGE 96 27; Meyer-Goßner/Schmitt Vor § 296, 17 ff.; SK/Paeffgen 10 m.w.N.; HK/Posthoff 5 m.w.N.; zur Beschwerde nach Ende der Untersuchungshaft LR/Hilger § 119, 157 ff. im HW. BTDrucks. 16 11644 S. 41, Monatsfrist analog § 26 Abs. 1 EGGVG. BTDrucks. 16 11644 S. 46. BTDrucks. 16 11644 S. 33. Für Thüringen: OLG Jena, Beschluss vom 3.1.2012 – 1 Ws 575/11 – [juris].
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Vgl. LR/Hilger § 119, 40 ff. (zu den einzelnen Beschränkungen und Bequemlichkeiten einschließlich der Disziplinarmaßnahmen), 164 ff. (zu unmittelbarem Zwang, Zwangsbehandlung und -ernährung) im HW; BVerfG StV 2011 35 (zu Gefahren abwehrenden Maßnahmen zum Schutz eines Gefangenen vor Bedrohungen durch Dritte). BVerfG HRRS 2013 29; Wiesneth 395 (Amtsermittlungsgrundsatz).
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insbesondere der Unschuldsvermutung ist Rechnung zu tragen und die Pflichten und Beschränkungen, die dem Inhaftierten zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt auferlegt werden, sind so zu gestalten, dass sie diesen nicht mehr als notwendig beeinträchtigen.40 Das OLG Jena41 hat für eine Ermessenentscheidung, die auf der Grundlage von § 16 ThürUVollzG ergangen war, klargestellt, dass sich die gerichtliche Überprüfung diesbezüglich (auch) nach neuer Rechtslage nur auf Ermessensfehler beschränkt. Bedient sich die Behörde bei der konkreten Ausfüllung eines unbestimmten Rechtsbegriffs in einer in diesem Rahmen nicht zu beanstandenden Weise eines standardisierten Verfahrens, so ist dessen Ergebnis im Anschluss auf eine etwaige besondere Interessenlage des betroffenen Untersuchungsgefangenen zu überprüfen.42
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f) Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat – wie der nach § 119 Abs. 5 – keine aufschiebende Wirkung, was Absatz 2 Satz 1 klarstellt. Dies entspricht den für den Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen Justizverwaltungsakte nach den §§ 23 ff. EGGVG (§ 29 Abs. 2 EGGVG i.V.m. § 307 Abs. 1) und den gegenwärtig für den Antrag auf gerichtliche Entscheidung im Strafvollzug (§ 114 Abs. 1 StVollzG) geltenden Vorschriften.43 Das Gericht kann jedoch nach Absatz 2 Satz 2 zur Ermöglichung der vor einer ab18 schließenden Entscheidung notwendigen Aufklärung des Sachverhalts und Anhörung der Beteiligten vorläufige Anordnungen treffen, wenn dem Sicherungsbedürfnis der Vollzugsanstalt zumindest vorläufig durch mildere Mittel genügt werden kann. Absatz 2 gilt sowohl für Anfechtungs- als auch für Untätigkeitsanträge nach Absatz 1 Satz 1 und 2. Dabei lässt das Gesetz durch seine offene Formulierung – anders als in § 307 Abs. 2 – nicht nur die Aussetzung der Vollziehung, sondern (in Anlehnung an § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG) auch weitergehende Anordnungen zu. Im Hinblick auf die Unschuldsvermutung ist von dieser Möglichkeit jedenfalls dann großzügig Gebrauch zu machen, wenn die vor endgültiger Entscheidung erforderlichen Aufklärungs- oder sonstigen Maßnahmen voraussehbar längere Zeit in Anspruch nehmen werden.44 Vor einer entsprechenden Anordnung ist die Vollzugsanstalt zu hören, deren Zuständigkeitsbereich durch die gerichtliche Anordnung berührt wird.45
19
g) Belehrungspflicht. Wird der gegen einen Beschuldigten erlassene Haftbefehl vollzogen und die Haft nach richterlicher Anhörung aufrecht erhalten, ist der Beschuldigte (auch) über das Recht, gerichtliche Entscheidung nach § 119a Abs. 1 zu beantragen, zu belehren (§ 115 Abs. 4).46 Eine erneute Belehrung bei einer beschwerenden behördlichen Entscheidung oder Maßnahme ist nicht erforderlich.47
40 41 42
KG NStZ-RR 2011 388; OLG Celle NStZ 2011 710. StV 2011 36 (Haftraumausstattung). Entscheidungen nach neuer Rechtslage sind bislang nur vereinzelt veröffentlicht worden. Zur Haftraumausstattung vgl. aber OLG Jena StV 2011 36; zur Ausstattung des Besuchsraums mit Tischen mit Plexiglastrennscheiben KG NStZ-RR 2011 388; zur
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43 44 45 46 47
Ermöglichung des Bezugs von Bio- oder Reformkostprodukten durch einen Untersuchungsgefangenen OLG Celle NStZ 2011 710. BTDrucks. 16 11644 S. 32. So auch AnwK-UHaft/König 5. SK/Paeffgen 15; HK/Posthoff 9. LR/Lind § 115, 3 in diesem Nachtrag. Brocke/Heller StraFo 2011 6.
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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme
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2. Überprüfung der gerichtlichen Entscheidung (Absatz 3) a) Beschwerde. Gegen die auf den Antrag nach Absatz 1 ergangene gerichtliche Ent- 20 scheidung des nach § 126 zuständigen Amts- oder Landgerichts ist die einfache Beschwerde nach § 304 Abs. 1 zulässig.48 Dies gilt auch für Entscheidungen des erkennenden Gerichts; § 305 schließt die Beschwerdemöglichkeit nicht aus, weil es sich bei der Entscheidung nach § 119a nicht um eine solche handelt, die im Sinne dieser Norm der Urteilsfindung direkt vorausgeht.49 Der Begriff der Verhaftung in § 305 Satz 2 ist – anders als in 304 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1, Abs. 5 – weit auszulegen.50 Hat die Strafvollstreckungskammer durch Beschluss gemäß § 115 StVollzG entschieden, obwohl die Zuständigkeit des Haftgerichts nach §§ 119a, 126 bestand, ist dagegen ebenfalls die (einfache) Beschwerde zulässig; der Einlegung einer Rechtsbeschwerde bedarf es nicht.51 Gegen Entscheidungen des erstinstanzlich zuständigen Senats des Oberlandesgerichts oder des Ermittlungsrichters des BGH oder des OLG ist die Beschwerde dagegen ausgeschlossen. § 304 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1, Abs. 5 erfassen die Entscheidungen nach § 119a Abs. 1 und 2 nicht, da diese nicht den Bestand der Untersuchungshaft, sondern allein die Ausgestaltung ihres Vollzugs betreffen. Eine nochmalige Überprüfung der gerichtlichen Entscheidung findet insoweit nicht statt. b) Absatz 3 stellt klar, dass diesbezüglich nicht nur der beschwerte Betroffene oder 21 Dritte, sondern auch die für die vollzugliche Entscheidung oder Maßnahme nach dem Landesgesetz zuständige Stelle, regelmäßig also die Vollzugsanstalt, anfechtungsberechtigt ist. Die Vorschrift, die sich an § 304 Abs. 2 anlehnt und der aktuellen Regelung des Strafvollzugsgesetzes entspricht, erscheint sachgerecht. Denn die gerichtliche Entscheidung kann insbesondere dann für die Arbeit der Vollzugsanstalt von ganz erheblicher Bedeutung sein, wenn sie eine von der Behörde angeordnete Beschränkung für unzulässig erklärt oder dem Untersuchungsgefangenen mehr gewährt, als die Vollzugsanstalt bewilligt hatte.52 c) Das Beschwerdeverfahren richtet sich nach den §§ 304 ff.; hinsichtlich des Rechts- 22 schutzes bei Beendigung der Untersuchungshaft gelten die für § 119 a.F. aufgestellten Grundsätze.53 d) Die weitere Beschwerde findet – wie nach h.M.54 zur bisherigen Rechtslage – nicht 23 statt, weil die vom Beschwerdegericht erlassenen Beschlüsse nicht die Verhaftung betreffen, sondern die Art und Weise, wie die Untersuchungshaft vollzogen wird.55 e) Revision. Die Anfechtbarkeit der gerichtlichen Entscheidung mit der einfachen Be- 24 schwerde schließt die auf eine Verletzung des § 119a i.V.m. §§ 336, 337 gestützte Revision nicht aus. Allerdings bleibt diese – wie bei der Rüge der Verletzung des § 119 a.F. i.V.m. §§ 336, 33756 – zumeist erfolglos, weil das Urteil in der Regel nicht auf der
48 49 50
51 52
OLG Jena StV 2011 37. LR/Hilger § 119, 155 im HW. OLG Karlsruhe StV 1997 312; LR/Hilger § 119, 155 im HW; Graf/Krauß § 119, 52; Meyer-Goßner/Schmitt § 119, 37. OLG Stuttgart NStZ 2011 709. Vgl. BTDrucks. 16 11644 S. 32 f.
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LR/Hilger § 119, 157 ff. im HW; vgl. auch KMR/Wankel 11. Nachweise bei LR/Hilger § 119, 159 im HW. Meyer-Goßner/Schmitt § 304, 13; § 310, 7; KMR/Wankel 12; ablehnend SK/Paeffgen 17. Vgl. insoweit LR/Hilger § 119, 163 im HW.
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§ 126 StPO Nachtr.
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Rechtsverletzung beruht. Wie im Falle von Beschränkungen nach § 119 kann der Angeklagte in der Hauptverhandlung auch die Rechte ausüben, an deren Gebrauch ihn in der Untersuchungshaft Beschränkungen gehindert haben, die ihm die Vollzugsanstalt zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder der Ordnung in der Anstalt auf der Grundlage der Untersuchungshaftvollzugsgesetze der Länder auferlegt hat.
§ 126 (1) 1Vor Erhebung der öffentlichen Klage ist für die weiteren gerichtlichen Entscheidungen und Maßnahmen, die sich auf die Untersuchungshaft, die Aussetzung des Haftvollzugs (§ 116), ihre Vollstreckung (§ 116b) sowie auf Anträge nach § 119a beziehen, das Gericht zuständig, das den Haftbefehl erlassen hat. 2Hat das Beschwerdegericht den Haftbefehl erlassen, so ist das Gericht zuständig, das die vorangegangene Entscheidung getroffen hat. 3Wird das vorbereitende Verfahren an einem anderen Ort geführt oder die Untersuchungshaft an einem anderen Ort vollzogen, so kann das Gericht seine Zuständigkeit auf Antrag der Staatsanwaltschaft auf das für diesen Ort zuständige Amtsgericht übertragen. … (2) … 2Während des Revisionsverfahrens ist das Gericht zuständig, dessen Urteil angefochten ist. … (3) … (4) …
Schrifttum. Siehe bei § 114a.
Änderung. Durch Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274) ist die Vorschrift mit Wirkung zum 1.1.2010 dahin geändert worden, dass in Absatz 1 Satz 1 anstelle von „richterlichen“ nunmehr von „gerichtlichen“ Entscheidungen sowie in Absatz 1 Sätze 2 und 3 vom „Gericht“ bzw. „Amtsgericht“ und nicht mehr vom „Richter“ bzw. „Richter bei dem Amtsgericht“ die Rede ist. Neu aufgenommen wurden in die Zuständigkeitsregelung in Absatz 1 Satz 1 die Entscheidungen nach den §§ 116b und 119a. In Absatz 2 Satz 2 wurde die Passage „Nach Einlegung der Revision“ durch die Formulierung „Während des Revisionsverfahrens“ ersetzt.
1
Bedeutung. Die Änderungen des Absatzes 1 Sätze 1 bis 3 sind lediglich redaktioneller Natur, soweit sie – in Angleichung an die bei strafprozessualen Untersuchungshandlungen nunmehr allgemein übliche Bezeichnung (vgl. § 162) und zwecks Umsetzung des Ziels einer geschlechtsneutralen Gesetzessprache – zur Verwendung des Begriffs „Gericht“ anstelle des bislang gebräuchlichen Terminus „Richter“ führen. 2 Die inhaltliche Änderung in Absatz 1 Satz 1 ist mit Blick auf die Neuregelungen in §§ 116b und 119a erfolgt. Die Neufassung stellt klar, dass das nach § 126 (in Verbindung mit den §§ 125, 162 Abs. 1 Satz 2) zuständige Haftgericht auch für Entscheidungen nach den neu eingefügten §§ 116b und 119a zuständig ist. Der Gesetzgeber hat sich hierbei von der Überlegung leiten lassen, dass Entscheidungen nach § 116b in die Zuständig-
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Kerstin Gärtner/Detlef Lind
Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme
Nachtr. § 126a StPO
keit des Haftgerichts fallen müssen, weil bei ihnen auch die praktische Umsetzbarkeit der Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 zu prüfen ist, über die ebenfalls das nach § 126 zuständige Gericht zu entscheiden hat.1 Zudem könne der Umstand, dass sich Beschuldigte, gegen die Untersuchungshaft angeordnet wurde, nicht in einer Untersuchungshaftanstalt befinden, Auswirkungen auf den Inhalt der Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 haben, weshalb auch aus diesem Grund die Entscheidungen nach den §§ 116b und 119 in einer Hand liegen sollten. Gerichtliche Entscheidungen nach § 119a stünden ebenfalls in engem Zusammenhang mit den in § 119 geregelten gerichtlichen Entscheidungen über Beschränkungen aus Zwecken der Untersuchungshaft, so dass auch insoweit eine einheitliche Zuständigkeit sachgerecht sei.2 Bei Anhängigkeit der Sache in einem Kollegialgericht ist der gesamte Spruchkörper für Entscheidungen nach § 119a zuständig; § 126 Abs. 2 Satz 3 gilt insoweit nicht.3 Absatz 2 Satz 2 enthält nunmehr die klarstellende Regelung, dass entsprechend der 3 bisher einhelligen Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum4 nach einer Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht das Gericht zuständig ist, an das zurückverwiesen worden ist (und nicht das Gericht, dessen Urteil aufgehoben wurde). Durch die Formulierung „Während des Revisionsverfahrens“ soll deutlich werden,5 dass nach Erlass der Entscheidung des Revisionsgerichts wieder der Grundsatz des Absatzes 2 Satz 1 auflebt (Zuständigkeit des mit der Sache befassten Gerichts) und folglich das Gericht zuständig ist, an das zurückverwiesen worden ist.
§ 126a (1) … (2) 1Für die einstweilige Unterbringung gelten die §§ 114 bis 115a, 116 Abs. 3 und 4, §§ 117 bis 119a, 123, 125 und 126 entsprechend. … (3) … (4) …
Schrifttum. Siehe bei § 114a.
Änderung. Die Vorschrift ist durch Art. 1 Nr. 7 des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274) mit Wirkung zum 1.1.2010 dahin ergänzt worden, dass in Absatz 2 Satz 1 die Angabe „§§ 117 bis 119“ durch die Angabe „§§ 117 bis 119a“ ersetzt worden ist. Bedeutung. Die Ergänzung der Vorschriftenliste um den § 119a ist eine Folgeänderung der Einfügung dieser neuen Norm in diejenigen Bestimmungen des Untersuchungshaftrechts, die das „gerichtliche Verfahren“ betreffen; diese Vorschriften gelten nach wie
1 2
BTDrucks. 16 11644, S. 33; s. auch die Erl. zu § 116b, 14 in diesem Nachtrag. BTDrucks. 16 11644, S. 33; vgl. näher die Erl. zu § 119a, 8 ff. in diesem Nachtrag.
3 4 5
KG NStZ-RR 2013 284 = StV 2013 526. LR/Hilger § 126, 16; § 125, 15 im HW. BTDrucks. 16 11644, S. 33.
Detlef Lind
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§ 127 StPO Nachtr.
Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
vor auch für den Erlass und die Vollstreckung eines Unterbringungsbefehls entsprechend. Gegen die Anordnung unterbringungsbedingter Beschränkungen im Sinne des § 119 Abs. 1 kann der einstweilig Untergebrachte nunmehr entsprechend § 119 Abs. 5 und gegen nach Landesrecht getroffene vollzugliche Entscheidungen oder Maßnahmen der Vollzugseinrichtung entsprechend § 119a die gerichtliche Entscheidung des nach § 126 zuständigen Haftgerichts beantragen.1
§ 127 (1) … (2) … (3) … (4) Für die vorläufige Festnahme durch die Staatsanwaltschaft und die Beamten des Polizeidienstes gelten die §§ 114a bis 114c entsprechend.
Schrifttum. Siehe bei § 114a.
Änderung. Der Vorschrift ist durch Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274) mit Wirkung zum 1.1.2010 der Absatz 4 hinzugefügt worden. Bedeutung. Der neue Absatz 4 stellt klar, dass die für die Verhaftung (§ 114) geltenden Bestimmungen über die Informations-, Belehrungs- und Benachrichtigungspflichten in den §§ 114a bis 114c auf die vorläufige Festnahme von Beschuldigten durch Staatsanwaltschaft oder Polizeibeamte entsprechend anwendbar sind. Damit wurde den Forderungen des CPT entsprochen,1 die sich vor allem auf die vorläufige Festnahme bezogen, weshalb die Pflichten insbesondere hier bedeutsam sind.2 Wegen der Einzelheiten kann auf die Erläuterungen zu den §§ 114a bis 114c Bezug genommen werden. Inhaltlich ist die Verweisung auf die §§ 114a bis 114c zu weit geraten: Sie geht ins 2 Leere, soweit § 114a Regelungen enthält, die sich auf einen bestehenden Haftbefehl beziehen. Betreffend § 114a Satz 1 und 3 hat die Verweisung folglich keinen substanziellen Gehalt.3 Die Mitteilung der Verdachts- und Festnahmegründe „bei“ der vorläufigen Fest3 nahme setzt nicht Gleichzeitigkeit voraus, weil eine solches Vorgehen tatsächlich nicht zu erfüllen ist. Im Hinblick auf das im Gesetz mehrfach verankerte Erfordernis der Unverzüglichkeit ist die Information vielmehr unmittelbar nach dem Aussprechen der vorläufigen Festnahme, ohne jede Verzögerung durch weitere, aufschiebbare Handlungen der Organe, durchzuführen.4 Mit ihr darf nicht etwa bis zur Verbringung auf die Polizei-
1
1
2
Wegen der Einzelheiten s. die Erl. zu den §§ 119, 119a, 126 in diesem Nachtrag.
3 4
1
Weider StV 2010 102. Bittmann JuS 2010 512. Bittmann; Weider jeweils aaO.
Siehe hierzu insbesondere die Erl. zu § 114a, 1 und § 114b, 1 in diesem Nachtrag.
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Detlef Lind
Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme
Nachtr. § 127b StPO
dienststelle oder gar bis zur Vernehmung zugewartet werden.5 Etwas anderes wird etwa gelten, wenn der Beschuldigte nicht aufnahmefähig oder rentent ist.6 Bei einer zunächst von einem Privaten vorgenommenen vorläufigen Festnahme gelten 4 die Pflichten ab dem Zeitpunkt der Übergabe des Festgenommenen an die Polizei bzw. Staatsanwaltschaft.7
§ 127b (1) 1Die Staatsanwaltschaft und die Beamten des Polizeidienstes sind zur vorläufigen Festnahme eines auf frischer Tat Betroffenen oder Verfolgten auch dann befugt, wenn 1. eine unverzügliche Entscheidung im beschleunigten Verfahren wahrscheinlich ist und 2. auf Grund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, daß der Festgenommene der Hauptverhandlung fernbleiben wird. 2Die §§ 114a bis 114c gelten entsprechend. (2) … (3) …
Schrifttum. Siehe bei § 114a.
Änderung. Durch Art. 1 Nr. 9 des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274) ist dem Absatz 1 mit Wirkung zum 1.1.2010 der Satz 2 hinzugefügt worden Bedeutung. Die Ergänzung entspricht jener bei § 127 Abs. 4, weshalb auf die dortigen Ausführungen verwiesen sei. Die Regelung dient mithin der Klarstellung, dass die Informations-, Belehrungs- und Benachrichtigungspflichten in den §§ 114a bis 114c auch auf die vorläufige Festnahme nach § 127b entsprechend anwendbar sind.
5
Zur mitunter abweichenden Praxis vgl. Brocke/Heller StraFo 2010 1 zu Fn. 2.
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Weider StV 2010 102. AnwK-UHaft/König 12.
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ZEHNTER ABSCHNITT Vernehmung des Beschuldigten § 136 (1) Bei Beginn der ersten Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zur Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen. Er ist ferner darüber zu belehren, daß er zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen und unter den Voraussetzungen des § 140 Absatz 1 und 2 die Bestellung eines Verteidigers nach Maßgabe des § 141 Absatz 1 und 3 beanspruchen kann. In geeigneten Fällen soll der Beschuldigte auch darauf, dass er sich schriftlich äußern kann, sowie auf die Möglichkeit eines Täter-OpferAusgleichs hingewiesen werden. (2) … (3) …
Schrifttum Franke Unterbliebene Pflichtverteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren – § 141 III 1 StPO im Spannungsfeld zwischen Verwertungsverbot und sog. Beweiswürdigungslösung, GA 2002 573; Gless OHN(E)MACHT – Abschied von der Fiktion einer Waffengleichheit gegenüber europäischer Strafverfolgung? StV 2013 317; Klemke Unterlassene Pflichtverteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren und ihre Konsequenzen, StV 2003 413; B. Mehle Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren (2006); Neuhaus Ungeschriebene Belehrungspflichten im Rahmen des § 136 Abs. 1 S. 2 StPO und die Folgen ihrer Verletzung, StV 2010 45; Rabe Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten, NJW 2013 1407; Schlothauer/Weider Erweiterte Handlungsspielräume – gesteigerte Verantwortung der Verteidigung im künftigen Ermittlungsverfahren, StV 2004 504; Strate/ Venzke Unbeachtlichkeit einer Verletzung des § 137 Abs. 1 S. 1 StPO im Ermittlungsverfahren?, StV 1986 33; Wegner Die „Fransson“-Entscheidung des EuGH – Eine Erschütterung im System der europäischen Grundrechte? HRRS 2013 126; Wohlers FS Rudolphi 731; Yalcin Das Stigma des Finanzierungsvorbehalts – Stärkung der Beschuldigtenrechte im Strafverfahren, ZRP 2013 104.
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Änderung. Durch Art. 2 Nr. 3 des Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren v. 2.7.2013 (BGBl. I S. 1938) ist in § 136 Abs. 1 Satz 3 nach dem Wort „beantragen“: „und unter den Voraussetzungen des § 140 Absatz 1 und 2 die Bestellung eines Verteidigers nach Maßgabe des § 141 Absatz 1 und 3 beanspruchen kann“ eingefügt worden. Diese Änderung des § 136 Absatz 1 StPO dient der Umsetzung von Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 2012/13/EU über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren. Grundlage ist das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren (BTDrucks. 17/12578 und BTDrucks. 17/13528), das am 6. Juli 2013 in Kraft getreten ist. Der erste Entwurf, nach welchem der Beschuldigte darüber zu informieren sein sollte, dass er „unter den Voraus-
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setzungen des § 140 Absatz 1 und 2 die Bestellung eines Verteidigers beanspruchen“ kann, wurde auf Vorschlag des Bundesrates durch den Einschub „nach Maßgabe des § 141 Absatz 1 und 3“ ergänzt.1 Bedeutung. Die Richtlinie 2012/13/EU über das Recht auf Belehrung und Unterrich- 2 tung in Strafverfahren will die Verfahrensstellung von Beschuldigten stärken,2 indem sie neben Informations- und Belehrungsrechten vor allem das Recht auf Übersetzung (s. dazu § 187 Abs. 1 GVG) ausbaut. Da das deutsche Strafprozessrecht schon vor der Umsetzung der Richtlinie weitgehende Belehrungspflichten enthielt, sah der Gesetzgeber insoweit nur geringen Änderungsbedarf. Geboten war jedoch die ausdrückliche Verankerung der Belehrungspflicht über die Möglichkeit unentgeltlicher Verteidigung. In Umsetzung der Richtlinie 2012/13/EU gewährleistet der neu gefasste § 136 die 3 Belehrung über eine unentgeltliche Beiordnung eines Pflichtverteidigers bei richterlichen und – nach § 163a Absatz 3 Satz 2 und Absatz 4 Satz 2 – auch bei staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Vernehmungen. Die Belehrung hat sich auf die Fälle der notwendigen Verteidigung sowohl in den enumerierten Fällen nach § 140 Absatz 1 als auch nach den allgemeinen Voraussetzungen in § 140 Absatz 2 StPO zu beziehen.3 Die Verweisung auf § 141 Absatz 1 und 3 StPO stellt klar, dass der Beschuldigte insbesondere darüber zu belehren ist, dass ihm nach § 141 Absatz 3 Satz 2 StPO schon im Ermittlungsverfahren ein Verteidiger zu bestellen ist, wenn die Staatsanwaltschaft dies pflichtgemäß wegen des erkennbaren Bestehens notwendiger Verteidigung beantragt.4 Die ausdrückliche Verankerung einer Pflicht der Strafverfolgungsorgane zur Beleh- 4 rung über die Möglichkeit der unentgeltlichen Verteidigung ist grundsätzlich zu begrüßen. Bisher war die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen der Beschuldigte hierüber eigens zu belehren ist, entgegen Aussagen in den Gesetzesmaterialien5 nicht geklärt: Zwar bejahten Rechtsprechung und Teile der Literatur eine Belehrungspflicht, wenn ein Beschuldigter erkennbar einen Anwalt konsultieren wollte, sich dazu jedoch wirtschaftlich außerstande sah.6 Damit wurde jedoch nicht ein Hinweis auf den rechtlichen Anspruch des Beschuldigten auf Bestellung eines für ihn unentgeltlichen Verteidigers in den Fällen des § 141 Absatz 3 StPO begründet.7 Die Pflicht zu einem solchen Hinweis wurde nur von einigen Stimmen in der Literatur bejaht;8 gestützt wurde sie teils auf das Recht auf effektive Verteidigung und dem Anspruch auf ein waffengleiches Verfahren,9 teils auf die Fürsorgepflicht des Gerichts und staatlicher Behörden.10 1
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Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren (BTDrucks. 17/12578) und BTDrucks. 17/13528 vom 15.5.2013. Vgl. dazu KOM(2010) 392 endg. v. 20.7.2010. Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren, BTDrucks. 17/12578 vom 28.2.2013, Begründung zu Nummer 3. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren (BTDrucks. 17/12578), BTDrucks. 17/13528 vom 15.5.2013, S. 4.
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Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren, BTDrucks. 17/12578 vom 28. Februar 2013, Begründung zu Nummer 3; Sensburg Plenarprotokoll 17/240, Stenographischer Bericht der 240. Sitzung des Deutschen Bundestags vom 16.5.2013, 30427. BGH NStZ 2006 236, 237; KK/Diemer § 136, 14; vgl. Pfeiffer § 136, 5. Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt § 136, 10. SK/Rogall 52; LR/Lüderssen/Jahn § 137, 66b; Wohlers FS Rudolphi 731. Neuhaus StV 2010 45, 47 f.; Klemke StV 2003 413, 414. B. Mehle 305.
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Kritik. Der europäische Ansatz in den Richtlinien 2012/13/EU sowie 2010/64/EU sowie dessen Umsetzung in Deutschland durch das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren wurde von verschiedenen Seiten kritisiert. Ein Großteil der Kritik galt zwar dem ebenfalls in der Richtlinie verankerten Recht auf einen Dolmetscher (s. dazu § 187 Absatz 1 GVG).11 Doch auch die grundsätzliche Herangehensweise an eine Bestimmung der Verfahrensstellung von Beschuldigten auf europäischer Ebene hat Kritik erfahren. Denn in der Substanz zielen die neuen Vorgaben der EU-Richtlinien auf Deckungsgleichheit mit den Mindestanforderungen der EMRK12 und beschränken sich damit auf die Festlegung europäischer Minimalrechte.13 Das erscheint in zweierlei Hinsicht rechtspolitisch nicht ungefährlich: Zum ersten wird dem Anliegen einer strukturellen Stärkung der Verteidigung als Aus6 gleich zum Ausbau einer europäischen Strafverfolgung nicht Rechnung getragen.14 Das ist vor allem deshalb misslich, weil die Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten auf dem Gebiet der Strafverfolgung gerade mit dem Hinweis vorangetrieben wird, dass gleichzeitig die Rechte der Verteidigung durch neue Richtlinien verstärkt würden.15 Im Ergebnis vergrößert sich die Ungleichheit der Kräfte zwischen vernetzten Strafverfolgungsbehörden und nur im Einzelfall tätigen Strafverteidigern. Diese Kritik trifft auch die deutsche Umsetzung der Richtlinie, denn das europäische Recht sieht explizit die Möglichkeit eines weitergehenden Schutzes vor.16 Gleichwohl beschränkt sich der deutsche Gesetzgeber auf eine gesetzliche Verankerung des Mindeststandards und wird damit dem eigenen Anspruch nicht gerecht, Vorbild in Europa für die Wahrung von Grund- und Menschenrechten im Strafprozess zu sein.17 Diese Chance wird sich angesichts der Gesamtentwicklung in der europäischen Rechtspolitik nicht so bald wieder ergeben. Zum zweiten wirft die neu verankerte Belehrungspflicht ungeklärte Fragen im Ver7 hältnis zwischen den Belehrungspflichten auf, die sich einerseits (bereits) aus der EMRK und andererseits aus den – durch EU-Vorgaben veranlassten – neuen nationalen Verfahrensvorschriften ergeben. Dieses Spannungsfeld zwischen nationalen Vorgaben, EMRKPflichten und (über die Grundrechtecharta bei Umsetzung von EU-Vorgaben ins nationale Recht transponierter) EU-Bindung hat das „Fransson“-Urteil des EuGH (Große Kammer, Urt. v. 26.2.2013 – C-617/10) gezeichnet. Nach Aussage des Gerichtshofs bestimmt das Unionsrecht zwar weder das Verhältnis zwischen der EMRK und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, noch die Konsequenzen, die ein nationales Gericht aus einem Widerspruch zwischen den durch die EMRK gewährleisteten Rechten und einer nationalen Rechtsvorschrift zu ziehen hat. Der EuGH verlangt jedoch, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten die durch die Charta verbürgten Rechte auch innerstaatlich durchsetzen. Ein nationales Gericht, das Unionsrecht anwendet, sei gehalten, „für die volle
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Ausf. dazu Yalcin ZRP 2013 104; Wawzyniak Plenarprotokoll 17/240, Stenographischer Bericht der 240. Sitzung des Deutschen Bundestags vom 16.5.2013, 30428. LR/Esser Art. 6, 566 EMRK. Vgl. Richtlinie 2012/13/EU, Präambel (7). Nach dem Willen des europäischen Gesetzgebers sollte der Rechtsakt jedoch einen „proaktiven Ansatz“ etablieren, vgl. LR/Esser Art. 6, 566 EMRK.
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Zu dieser Problematik: Gless StV 2013 317. Vgl. Richtlinie 2012/13/EU vom 22.5.2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren, Präambel (10). Richtlinie 2012/13/EU vom 22.5.2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren, Präambel (40). Vgl. etwa Wawzyniak Plenarprotokoll 17/240, Stenographischer Bericht der 240. Sitzung des Deutschen Bundestags vom 16.5.2013, 30428.
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Zehnter Abschnitt. Vernehmung des Beschuldigten
Nachtr. § 136 StPO
Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt“.18 Die von Art. 51 Abs. 1 Grundrechtecharta vorausgesetzte „Durchführung des Rechts der Union“19 ist bei jeder im Rahmen der richterlichen oder exekutiven Anwendung von nationalen Rechtsvorschriften gegeben, die eine EU-Richtlinie oder einen EU-Rahmenbeschluss umsetzen.20 Dies gilt also auch für § 136 StPO n.F. Welche praktischen Konsequenzen sich aus diesem europäischen Kräftefeld für die 8 Belehrung über eine unentgeltliche Verteidigung in concreto ergeben, bleibt offen. Auch wenn die Grundrechtecharta selbst keinen ausdrücklichen Hinweis auf Belehrungsrechte enthält, lässt sich vertreten, dass sie die Vorgaben der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR zur „Achtung der Verteidigungsrechte“ (Art. 48 Absatz 2 Grundrechtecharta) übernimmt und für die Mitgliedstaaten unmittelbar verbindlich macht.21 Damit rückt das Recht auf Verteidigung nach Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK ins Blickfeld. 9 Hierzu hat der EGMR bereits früher angenommen, dass das Recht auf effektive Verteidigung in bestimmten Fällen, z.B. bei besonderer Schutzwürdigkeit des Beschuldigten, impliziert, dass der Beschuldigte über sein Recht auf einen unentgeltlichen Verteidiger belehrt wird.22 Da die staatlichen Organe dafür sorgen müssten, dass der Beschuldigte das Recht auf Verteidigung effektiv wahrnehmen kann, verlangt die EMRK eine adäquate Information über die Verteidigungsrechte, was die Belehrung über das Recht auf unentgeltlichen Rechtsbeistand – soweit ein solcher zur Verfügung steht – einschließt. Deshalb könne ein Beschuldigter auch erst dann wirksam auf die Bestellung eines Verteidigers verzichten, wenn er sich dieses Rechts voll bewusst ist und die Folgen des Verzichts abschätzen kann.23 Ob Deutschland mit dem Gesetz zur Stärkung der Verfahrens-
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EuGH Rs. v. 26.2.2013 Rs. 617/10 („Fransson“), Rn 44 und 45 mit weiteren Verweisen; kritisch zur EuGH-Rechtsprechung etwa Rabe NJW 2013 1407. Mit Verweis auf die Rechtsprechung EuGH v. 18.6.1991 – C-260/89, („ERT“). Wegner HRRS 2013 127. Zur Diskussion vor der „Fransson“-Entscheidung EuGH v. 12.12.1996 – C 74/95, Rn. 25, „Strafverfahren gegen X; Borowsky/ Ehlers in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. (2009), § 14 V 2 Rn. 51; umstritten ist, ob die Grundrechtecharta auch dann anwendbar ist, wenn eine nationale Norm zwar der Umsetzung einer Richtlinie dient, sich dabei aber noch im nationalen Umsetzungsspielraum bewegt, dazu: Kingreen in: Callies/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. (2011), Art. 51 GRCh Rn. 10 ff. m.w.N. In diesem Sinne Callewaert EuGRZ 2003 198, 200; Naumann EuR 2008 424; Winkler EuGRZ 2001 18, 23 ff.; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. (2010), Art. 52, 34, unter Hinweis auf Art. 52 Absatz 3
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Grundrechtecharta; siehe auch Wegner HHRS 2013 130. Etwa bei jugendlichen Personen, vgl. EGMR vom 11.12.2008, Panovits/Zypern, Nr. 4268/04, § 68. EGMR v. 9.6.1998, Twalib/Griechenland, Nr. 24294/94, § 55: vgl. auch Wohlers FS Rudolphi 727 ff.; LR/Esser Art. 6, 755 EMRK unter Verweis auf Art. 14 Abs. 3 lit. d IPBPR. Vgl. EGMR vom 11.12.2008, Panovits/ Zypern Nr. 4268/04, § 68: „The Court considers that given the vulnerability of an accused minor and the imbalance of power to which he is subjected by the very nature of criminal proceedings, a waiver by him or on his behalf of an important right under Article 6 can only be accepted where it is expressed in an unequivocal manner after the authorities have taken all reasonable steps to ensure that he or she is fully aware of his rights of defence and can appreciate, as far as possible, the consequence of his conduct”; ebenso EGMR vom 8.4.2010, Sinichkin/ Russland, Nr. 20508/03, § 35 und § 48. Aus deutscher Sicht: LR/Lüderssen/Jahn § 137, 66b.
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Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
rechte von Beschuldigten nun seinen Verpflichtungen nach der EMRK und deren Transposition über die EU-Grundrechtecharta zur Zufriedenheit aller Akteure nachgekommen ist, bleibt damit abzuwarten. Beschränkt man sich auf Mindeststandards mag das wohl genügen. Orientiert man sich aber an dem vom EU-Gesetzgeber anvisierten Ziel einer effektiven Stärkung der Beschuldigtenstellung durch Information, sind Zweifel angebracht, wie die zuständigen Stellen in der Praxis die Verweise auf die §§ 140, 141 in entsprechend prägnante und verständliche Belehrungen überführen können. Die neu verankerte Belehrungspflicht schafft insofern praktische Schwierigkeiten, als 10 die Voraussetzungen einer Verteidigerbestellung, insbesondere nach § 140 Absatz 2 StPO24, vor der ersten Vernehmung des Beschuldigten häufig nicht genau eingeschätzt werden können.25 Dies gilt insbesondere für die Verteidigerbestellung bereits für das Ermittlungsverfahren nach § 141 Absatz 3 StPO. Vor diesem Hintergrund stellt sich für die Zukunft die Frage, ob der deutsche Gesetzgeber nicht künftig jenseits der Umsetzung europäischer Mindestanforderungen nach Alternativen suchen sollte, hier etwa anstelle einer Ergänzung des § 136 durch Verweis auf § 140 und § 141 ein anderes Modell hätte wählen sollen. So wird beispielsweise in der Schweiz über den „Anwalt der ersten Stunde“26 ein Zugang zu einem Strafverteidiger für die erste Vernehmung gewährt. In der Praxis steht über einen Bereitschaftsdienst der Strafverteidiger ein Anwalt für die Vernehmung zur Verfügung, wobei die Kosten (auch für eine erste kurze Beratung des Beschuldigten) vom Kanton übernommen werden. Vor der Ergänzung des § 136 haben der BGH27 und ein Teil der Literatur28 ein 11 Beweisverwertungsverbot als Folge einer im Einzelfall angezeigten Belehrung über die Möglichkeit der unentgeltlichen Verteidigung abgelehnt. Andere Stimmen in der Literatur befürworteten ein Beweisverwertungsverbot, wenn der Beschuldigte über die Möglichkeit der unentgeltlichen Verteidigung nicht belehrt worden war.29 Spätestens seit der Ergänzung von § 136 ist der Fall, dass der Beschuldigte nicht über das Recht auf unentgeltliche Verteidigung belehrt wird, ebenso wie die Verletzung anderer Vorschriften zu behandeln, die den ungehinderten Zugang zu einem Verteidiger sichern sollen.30 Wenn man das Recht auf Verteidigerkonsultation auch für mittellose Beschuldigte ernst nimmt,31 muss eine Verletzung der Pflicht, über die Möglichkeit der Verteidigerbestellung zu informieren, also grundsätzlich zu einem Verwertungsverbot führen.32 Auch wenn man diesen Grundsatz anerkennt, bleiben jedoch viele Detailfragen offen. 12 So wie die konkrete Formel der Belehrung in der Praxis noch Probleme bereiten dürfte (s.o Rn. 9), wird es auch schwierig sein, die genauen Umstände festzulegen, unter denen die Belehrungspflicht als verletzt gelten muss. Das Verwertungsverbot kann auch nicht ohne Einschränkungen gelten. Der Umfang dieser Einschränkungen richtet sich nach den Grundsätzen, die generell bei unterlassener Belehrung über die Aussagefreiheit anzuwen-
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Vgl. zu der mit der kasuistischen Ausdifferenzierung verbundenen Unübersichtlichkeit LR/Lüderssen/Jahn § 140, 50. Vgl. Neuhaus StV 2010 45. Art. 159 Abs. 1 Schweizer Strafprozessordnung (SR 101, admin.ch). BGH NStZ 2006 236, 237 (Rn 1 und 4). B. Mehle 343. SK/Rogall § 136, 52; Klemke StV 2003 413, 415; Schlothauer/Weider StV 2004 504, 515. Vgl. dazu generell: LR/Gleß § 136, 95 ff.
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sowie zur Frage qualifizierter Belehrungspflichten: Neuhaus StV 2010 45, 50 ff. BGHSt 38 214; BGHSt 38 372 = JR 1993 332 mit Anm. Rieß = JZ 1993 425 mit Anm. Roxin; BGHSt 42 15 = BGH StV 1996 187, 189 mit Anm. Egon Müller ebenda S. 353 = NStZ 1996, 291 mit Anm. Beulke ebd. 257; Rieß JR 1993 334; SK/Rogall § 136, 55. Vgl. dazu BVerfGE 46 202, 210 BGHSt 38 214; BGHSt 38 372; 39 349, 352; 42 15; 47 172, 173; Eisenberg Rn 373 ff.
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Zehnter Abschnitt. Vernehmung des Beschuldigten
Nachtr. § 136 StPO
den sind.33 Die praktischen Probleme der Abgrenzung zwischen Regel- und Ausnahmefall versucht die Rechtsprechung unter Bezugnahme auf „die näheren Umstände der Vernehmungssituation“ zu lösen;34 hierzu sollten jedoch konkretere Vorgaben entwickelt werden. Es bleibt abzuwarten, ob § 136 Abs. 1 nach der Ergänzung zu einem Schauplatz des 13 europäischen Strafrechts wird und dem Ringen um die Definitionsmacht über Justiz- und Grundrechte im Strafverfahren neuen Zündstoff gibt.35 Denn nicht nur die nationalen Gerichte werden die neu etablierte Pflicht zur Belehrung über den unentgeltlichen Rechtsbeistand konkretisieren müssen, auch die Jurisdiktion des EuGH ist im Grundsatz insofern geöffnet, als die Gesetzesänderung auf der Umsetzung einer EU-Richtlinie beruht und damit eine starke Verknüpfung der nationalen Normen mit dem Recht der Union36 besteht.
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Vgl. BGH StV 1996 189; BGHSt 47 172; Franke GA 2002 573 ff. BGH NJW 1992 2905. Dazu: Ambos Internationales Strafrecht (2011) § 10, 2 ff. sowie zur indirekten Harmonisierung: Böse in Böse (Hrsg.), Europä-
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isches Strafrecht mit polizeilicher Zusammenarbeit (2013), § 4, 28 f. Vgl. EuGH Rs. 617/10 v. 26.2.2013 „Fransson“ Rn. 16.
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ELFTER ABSCHNITT Verteidigung § 138 (1) … (2) 1Andere Personen können nur mit Genehmigung des Gerichts gewählt werden. 2Gehört die gewählte Person im Fall der notwendigen Verteidigung nicht zu den Personen, die zu Verteidigern bestellt werden dürfen, kann sie zudem nur in Gemeinschaft mit einer solchen als Wahlverteidiger zugelassen werden. (3) Können sich Zeugen, Privatkläger, Nebenkläger, Nebenklagebefugte und Verletzte eines Rechtsanwalts als Beistand bedienen oder sich durch einen solchen vertreten lassen, können sie nach Maßgabe der Absätze 1 und 2 Satz 1 auch die übrigen dort genannten Personen wählen.
Schrifttum Barton Die Reform der Nebenklage: Opferschutz als Herausforderung für das Strafverfahren, JA 2009 753; Jahn Die Änderungen im Recht der Strafverteidigung durch das 2. Opferrechtsreformgesetz, NJW-FH Tepperwien (2010) 25, abrufbar über www.jura.uni-frankfurt.de/jahn; Ladiges Der Hochschullehrer im Strafverfahrensrecht nach der Neuregelung des § 138 Absatz 3 StPO, JR 2013 295; K. Schroth 2. Opferrechtsreformgesetz – Das Strafverfahren auf dem Weg zum Parteienprozess, NJW 2009 2916.
Änderungen. Durch Art. 1 Nr. 12a des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. OpferRRG)1 ist Absatz 2 unter sprachlicher Neufassung auf zwei Sätze aufgeteilt worden. Absatz 3 ist durch Art. 1 Nr. 12b des 2. OpferRRG mit Wirkung zum 1.10.2009 eingeführt worden.
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1. Bedeutung. Die Neufassung der Absätze 2 und 3 ist im Zusammenhang mit den sonstigen Änderungen der StPO im Zuge des 2. OpferRRG zu sehen.2 Das gilt besonders mit Blick auf die Erweiterung und Vereinfachung der Möglichkeiten zur Bestellung eines Opferanwalts sowie der gesetzlichen Anerkennung des Zeugenbeistandes, speziell § 406f Abs. 1 Satz 23. Absatz 3 stellt den Personenkreis möglicher Beistände klar und statuiert dabei identische Zulassungsvoraussetzungen für Verteidiger und Beistände.4 Mit
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BGBl. I S. 2280. Näher zu den sonstigen Änderungen im Recht der Verteidigung durch das 2. OpferRRG sowie zum nachfolgenden Text bereits Jahn FS Tepperwien 25 ff.; erg. Jahn FS I. Roxin
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585, 586 sowie im Ganzen krit. zum 2. OpferRRG Jahn/Bung StV 2012 754 ff. K. Schroth NJW 2009 2916, 2917; näher dazu LR/Wenske Nachtr. Erl. zu § 406f. BTDrucks. 16 12098 S. 20; SK/Wohlers 56.
Klaus Lüderssen/Matthias Jahn
Nachtr. § 138 StPO
Elfter Abschnitt. Verteidigung
der Regelung werden die Wahlmöglichkeiten des Zeugen (§ 68b), Privatklägers (§ 378), Nebenklägers (§ 397a), Nebenklagebefugten (§ 406g) und des Verletzten (§ 406f) erweitert. Diese können nach der nunmehr eindeutigen Gesetzeslage alle in Absatz 1 genannten Personen als Beistand frei wählen. Neben Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten sind dies auch Hochschullehrerinnen und -lehrer sowie gem. Absatz 2 andere zur Verteidigung befugte Personen, hier allerdings nur mit Zulassung des Gerichts. Dabei ist ungeachtet des mehrdeutigen Wortlauts („wählen“) auch die Bestellung bzw. Beiordnung der in Absatz 2 genannten Personen durch das Gericht möglich.5 Absatz 2 blieb inhaltlich unverändert und wurde lediglich unter sprachlicher Neufassung auf zwei Sätze aufgeteilt, da nur der Regelungsgehalt des neuen Satzes 1 auf die in Absatz 3 genannten Personen übertragbar ist.6 Der Kreis der nach Absatz 2 wählbaren Personen ist nach wie vor nicht beschränkt.7 2. Einzelheiten. Die gesetzliche Klarstellung der Wahlmöglichkeiten der in Absatz 3 2 genannten Personen ist im Sinne des Prinzips der Waffengleichheit – hier in Richtung der Verletztensphäre – konsequent. Sie entspricht einer im Schrifttum bereits für den Rechtszustand bis zum 1.10.2009 erhobenen Forderung.8 Auf diesem Weg sollen die Befugnisse des Verletzten bei der Wahl seines Beistandes an die des Beschuldigten bei der Wahl eines Verteidigers angeglichen werden. Die im Gesetzgebungsverfahren von Seiten des Bundesrats9 geltend gemachten Beden- 3 ken, welchen sich Schmidt-Sommerfeld 10 aus Sicht der (Strafverfolgungs-)Praxis in seiner Stellungnahme für den BT-Rechtsausschuss unter zusätzlichem Hinweis auf die Entstehung von Verfahrensverzögerungen angeschlossen hatte, gingen hingegen von unzutreffenden Voraussetzungen aus. Dort wurde ausgeführt, dass die Neuregelung des Absatzes 3 zur Stärkung der Verletztenrechte nicht zielführend sei, da über die Absätze 2 und 3 auch Privatpersonen zugelassen werden könnten, denen eine „bestimmte Mindestqualifikation“ für das Auftreten vor dem Strafgericht fehle. Das aber entsprach – und entspricht – nicht dem geltenden Recht. Die Genehmigung 4 nach Absatz 2 hat das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen nur dann zu erteilen, wenn der Gewählte als hinreichend sachkundig und vertrauenswürdig erscheint und auch sonst keine Bedenken gegen sein Auftreten als Verteidiger bestehen.11 Deshalb war auch die Gegenäußerung der Bundesregierung12 insoweit zweifelhaft, als dort behauptet wurde, auch beim Beschuldigten bestünde die Gefahr, er könne Personen als Beistand wählen, denen „bestimmte Mindestqualifikationen“ fehlten. Auf die Möglichkeit der gerichtlichen Genehmigungsverweigerung im Einzelfall wurde aber dort im Ergebnis zutreffend hingewiesen. Die Pflicht zur Beachtung dieser Mindestanforderungen ergibt sich aber stets aus der weit reichenden Rechtsfolge des Absatzes 2. Mit der Zulassung wird der Gewählte, wenn er die Wahl angenommen hat, Verteidiger mit allen Rechten 5
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Im Ergebnis überzeugend Ladiges JR 2013 295, 298 unter Hinweis auf BTDrucks. 16 12098 S. 20; ebenso SSW/Beulke 41. Eindeutig ergibt sich dies aus den Gesetzesmaterialien freilich nicht. BTDrucks. 16 12098 S. 20; OK-StPO/ Wessing 9. Jahn FH Tepperwien 25, 26; HW Rn. 24. Näher Ladiges JR 2013 295 f.; Radtke/Hohmann/Reinhart 13; OK-StPO/Wessing 18a sowie HW Rn. 25; s. auch SSW/Beulke 5, 41.
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BRDrucks. 178/09 S. 4. Schmidt-Sommerfeld Schriftliche Stellungnahme zu den Entwürfen eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren, abrufbar über webarchiv.bundestag.de, 6. BVerfG NJW 2006 1502, 1503; Lehmann JR 2012 287, 289 f.; SK/Wohlers 56; MeyerGoßner/Schmitt 13; Jahn FH Tepperwien 25, 26 sowie HW Rn. 27. BTDrucks. 16 12812 S. 19.
Klaus Lüderssen/Matthias Jahn
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§ 138 StPO Nachtr.
Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
(auch wenn er im Fall der notwendigen Verteidigung nur in Gemeinschaft mit einem anderen bestellt ist, der zu den Personen gehört, die zu Verteidigern bestellt werden dürfen, vgl. Absatz 2 Satz 2).13 Soweit auch Barton14 auf die Gefahr hingewiesen hat, dass unqualifizierte „Fachberater für Opferhilfe“ oder dubiose Opferrechts-„Experten“ (mit oder sogar ohne Assessorexamen) zu Verteidigern erwählt werden könnten, haben dem die Tatgerichte durch geeignete – und in diesen Fällen restriktive – Ausübung ihres Zulassungsermessens Rechnung zu tragen. Dabei sind bei der Auswahl der Beistände nach Absatz 3 i.V.m. Absatz 2 Satz 1 ebenso strenge Maßstäbe wie bei der Zulassung anderer Personen zum Verteidiger nach Absatz 2 Satz 1 anzulegen.15 Das Gericht hat stets die Sachkunde und die persönliche Geeignetheit der jeweiligen Person zu berücksichtigen.16 Die Gleichstellung von Beiständen und Verteidigern blieb mit Blick auf die Vertei5 digertätigkeit von Steuerberatern in Strafverfahren unvollständig. § 392 Abs. 1 AO ist nicht an den neuen Absatz 3 angepasst worden. Die in § 392 Abs. 1 AO genannten Personen der steuerberatenden Berufe können in Steuerstrafsachen ohne Weiteres als Verteidiger gewählt werden (vgl. auch Nr. 32 Abs. 1 AStBV [St] 2012). Für ihre Zulassung als Beistand bedürfen sie allerdings nach wie vor der Genehmigung des Gerichts gem. Absatz 3 i.V.m. Absatz 2 Satz 1.17 Hier dürfte dann allerdings das Ermessen unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit regelmäßig auf oder jedenfalls gegen Null reduziert sein. Durch Absatz 3 werden Hochschullehrer Rechtsanwälten hinsichtlich der Beistands6 und Vertretungsbefugnis sowie der Vornahme sonstiger Verfahrenshandlungen für andere Personen grundsätzlich gleichgestellt. Das hat nicht alle Zweifelsfragen beseitigt. Obgleich zwei Personengruppen – der im Privatklageverfahren Angeklagte und Privatpersonen oder sonstige Stellen i.S.v. § 475 Abs. 1 – von Absatz 3 nach wie vor nicht ausdrücklich erfasst sind, wäre es ohne willkürliche Differenzierungen kaum begründbar, wenn sich der Privatkläger durch einen Hochschullehrer vertreten lassen könnte, nicht jedoch der im gleichen Verfahrenstyp Angeklagte oder auch der Anspruchsteller des § 475 Abs. 1, obwohl nach der für das gesamte Verfahren geltenden Grundregel des Absatzes 1 Hochschullehrer und Rechtsanwälte als Verteidiger auftreten können.18 Angesichts der Zielbestimmung des Absatzes 3, dem Verletzten weitergehende Wahlmöglichkeiten bei seiner Vertretung im Strafverfahren zu eröffnen,19 kann auch für die Unterzeichnung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung im Klageerzwingungsverfahren und für die Vornahme der Akteneinsicht nichts anderes gelten als für die Vertretung des Privat- oder Nebenklägers. Deshalb sind auch Hochschullehrer in der Lage, den Antrag in der nach § 172 Abs. 3 Satz 2 gebotenen Form zu unterzeichnen (arg. ex § 172 Abs. 1 Satz 1: „Verletzter“) und Akteneinsicht nehmen (arg. ex § 147 Abs. 4: „dem Verteidiger“).20 In der Praxis erfolgte die erste Anwendung des Absatzes 3 schon kurz nach dessen 7 Inkrafttreten in dem Aufsehen erregenden Verfahren um die Tötung der ägyptischen Staatsbürgerin Marwa El-Sherbini während einer Gerichtsverhandlung in der sächsischen Landeshauptstadt.21 Im Strafverfahren vor dem Dresdner Schwurgericht plädierte u.a. der Präsident der ägyptischen Anwaltskammer als gewählter Vertreter der Neben13 14 15 16 17
Jahn FH Tepperwien 25, 26; HW Rn. 34. Barton JA 2009 753, 756. SK/Wohlers 56. BTDrucks. 16 12908 S. 30, 31. So auch HK-GS/Weiler 4; Radtke/Hohmann/ Reinhart 13.
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18 19 20 21
So auch Ladiges JR 2013 295, 296 f. unter Hinweis auf BVerwGE 83 315, 316 ff. Oben Rn. 1. Überzeugend auch insoweit Ladiges JR 2013 295, 297 f. Vgl. Jahn FH Tepperwien 25, 26.
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Nachtr. § 138d StPO
Elfter Abschnitt. Verteidigung
klage.22 Dass ein weiterer Schlussvortrag sogar in arabischer Sprache vorgetragen wurde, erscheint wegen § 184 Satz 1 GVG („Die Gerichtssprache ist deutsch.“) zunächst ungewohnt, ist aber mit Blick auf die spezielle Regelung in § 185 Abs. 1 GVG konsequent. Diese Novität in einem deutschen Schwurgerichtssaal war also nicht nur den besonderen Umständen dieses Falles und dem Interesse der – internationalen und insbesondere arabischen – Medienöffentlichkeit geschuldet.23 Man wird sich mithin auf Anträge, Prozesserklärungen und Schlussvorträge in einer Fremdsprache in deutschen Gerichtssälen zukünftig einzurichten haben.
§ 138d (1) … (2) … (3) … (4) 1… 2Für die Anhörung des Vorstands der Rechtsanwaltskammer gilt § 247a Absatz 2 Satz 1 entsprechend. 3… 4… (5) … (6) …
Änderungen. Durch Art. 6 Nr. 3 des Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren vom 25.4.2013 (VidVerfG)1 wurde mit Wirkung zum 1.11.2013 ein neuer Absatz 4 Satz 2 eingefügt. Gem. Art. 9 Satz 1 VidVerfG können die Landesregierungen jedoch für ihren Bereich durch Rechtsverordnung bestimmen, dass die Regelung bis längstens zum 31.12. 2017 keine Anwendung findet.
Bei dem neu eingefügten Absatz 4 Satz 2 handelt es sich um eine von zahlreichen Vor- 1 schriften zur Ausweitung des Einsatzes von Videotechnik im Gerichtsverfahren. Die Anordnung einer entsprechenden Anwendung des ebenfalls neuen § 247a Abs. 2 Satz 1 StPO2 führt konkret dazu, dass das Gericht künftig – wie für die Vernehmung eines Sachverständigen – anordnen kann, dass die Anhörung des Vorstands der Rechtsanwaltskammer in der Verhandlung über die Ausschließung des Verteidigers in der Weise erfolgt, dass dieser sich an einem anderen Ort als dem des Gerichts aufhält und die Vernehmung zeitgleich in Bild und Ton in das Sitzungszimmer übertragen wird. Dass diese Anhörung künftig per Videokonferenz stattfinden kann, ist – wenngleich 2 es sich um ein recht seltenes Verfahren handelt – in Übereinstimmung mit den in diesem Punkt einhelligen Stellungnahmen der Sachverständigen vor dem Rechtsausschuss des Bundestages zu begrüßen.3 Sowohl das Gericht als auch der Kammervorstand werden im 22 23 1 2
Süddeutsche Zeitung Nr. 259 v. 10.11.2009 S. 1; Der SPIEGEL Nr. 44/2009 S. 40. Näher LR/Wickern HW § 184, 17 f. GVG. BGBl. I S. 935. Näher LR/Becker Nachtr. Erl. zu § 247a.
3
Vgl. etwa auch BRAK Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren, Stellungnahme Nr. 30/2010, abrufbar über www.brak.de, 6 („Änderung
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§ 140 StPO Nachtr.
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Falle der Anwendung des Absatzes 4 Satz 2 entlastet, was infolge einer besseren Terminfindungsmöglichkeit dem Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung zugutekommt.4 Durch die eingesparten Reisekosten und den geringeren zeitlichen Aufwand wird das Verfahren zudem kostengünstiger.5 Die persönliche Anwesenheit des Vorstands6 dürfte auch in aller Regel für die gerichtliche Entscheidung nicht erforderlich sein.7 Die Entscheidung über den Einsatz der Videokonferenztechnik liegt im pflichgemäßen 3 Ermessen des Gerichts („kann“). Da Absatz 4 Satz 2 nicht auf § 247a Abs. 2 Satz 3 verweist, ist die Entscheidung nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht unanfechtbar.8 § 247a Abs. 2 Satz 3 wurde zwar erst nachträglich auf Empfehlung des Rechtsausschusses eingefügt und es ist nicht gänzlich ausgeschlossen, dass im Gesetzgebungsverfahren der Anpassungsbedarf bei § 138d Abs. 4 übersehen wurde. Ein Redaktionsversehen liegt aber zumindest nicht auf der Hand und da die Unanfechtbarkeit die Ausnahme und nicht die Regel ist, kommt eine analoge Anwendung nicht in Betracht.
§ 140 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
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(1) Die Mitwirkung eines Verteidigers ist notwendig, wenn … … … gegen einen Beschuldigten Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a oder einstweilige Unterbringung nach § 126a oder § 275a Absatz 6 vollstreckt wird; … … … …; dem Verletzten nach den §§ 397a und 406g Absatz 3 und 4 ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist.
begegnet keinen Bedenken“); Gaede Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren, abrufbar über www.bundestag.de, 9 („unproblematisch“); Wimmer Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren, abrufbar über www.bundestag.de, 5 („keine Bedenken“). Vgl. allg. Gesetzentwurf des BRats v. 24.3.2010 BTDrucks. 17 1224 S. 1, 12, 16; Gesetzesantrag des Landes Hess. v. 23.12.2009 BRDrucks. 902/09 i.V.m. Gesetzesantrag des Landes Hess. v. 19.9.2007 BRDrucks. 643/07 S. 1, 18. Vgl. allg. Gesetzentwurf des BRats v. 24.3.2010 BTDrucks. 17 1224 S. 2, 11, 16;
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Gesetzesantrag des Landes Hess. v. 23.12.2009 BRDrucks. 902/09 i.V.m. Gesetzesantrag des Landes Hess. v. 19.9.2007 BRDrucks. 643/07 S. 3, 14. Gemeint ist der Vorstand derjenigen Kammer, welcher der Verteidiger angehört; der Kammervorstand wird über das Äußerungsrecht des Absatzes 2 Satz 2 i.V.m. § 138c Abs. 2 Satz 4 zum Beteiligten i.S.v. Absatz 2 Satz 1 und ist demnach in der mündlichen Verhandlung zu hören (HW Rn. 5). In diesem Sinne auch Beschlussempfehlung und Bericht des BTRAussch. v. 20.2.2013 BTDrucks. 17/12418 S. 19; vgl. ferner allg. Gesetzentwurf des BRats v. 24.3.2010 BTDrucks. 17 1224 S. 11; Gesetzesantrag des Landes Hess. v. 23.12.2009 BRDrucks. 902/09 i.V.m. Gesetzesantrag des Landes Hess. v. 19.9.2007 BRDrucks. 643/07 S. 14. Ebenso SSW/Beulke 9.
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Elfter Abschnitt. Verteidigung
Nachtr. § 140 StPO
(2) 1In anderen Fällen bestellt der Vorsitzende auf Antrag oder von Amts wegen einen Verteidiger, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sachoder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, daß sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. 2… (3) 1… 2Die Bestellung des Verteidigers nach Absatz 1 Nr. 4 bleibt unter den in Absatz 1 Nr. 5 bezeichneten Voraussetzungen für das weitere Verfahren wirksam, wenn nicht ein anderer Verteidiger bestellt wird. Schrifttum Balbier Der Pflichtverteidiger in der Revisionsinstanz – Eine (kritische) Bestandsaufnahme, FS Egon Müller 15; Beukelmann Strafrechtsgesetzgebung am laufenden Band, NJW-Spezial 2009 456; Beulke Gesamtreform der StPO-Vorschriften über „Verteidigung“ – notwendig und wünschenswert? StV 2010 442; Bittmann Änderungen im Untersuchungshaftrecht, JuS 2010 510; ders. Gesetz zur Änderung der Untersuchungshaftrechts, NStZ 2010 13; BRAK Thesen zur Praxis der Verteidigerbestellung nach §§ 140 Abs. 1 Ziff. 4, 141 Abs. 3 Satz 4 StPO i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009, StV 2010 544 = BRAK-Mitt. 2010 201; dies. Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG), Stellungnahme Nr. 35/2011, abrufbar über www.brak.de; Brocke/Heller Das neue Untersuchungshaftrecht aus der Sicht der Praxis – Zwischenbilanz nach einem Jahr, StraFo 2011 1; Burhoff Neuregelungen in der StPO durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts, ZAP 2010 489; Busch Zur Geltung des § 140 I Nr. 4 StPO in Fällen der Überhaft und der sog. Verfahrenskumulation, NStZ 2011 633; Busse Frühe Strafverteidigung und Untersuchungshaft, Diss. Göttingen 2008; DAV Empfehlungen zur Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigerinnen und Pflichtverteidigern nach Inkrafttreten der Neuregelungen in §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 StPO, Stellungnahme Nr. 55/2009; ders. Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG), Stellungnahme Nr. 10/2011, jeweils abrufbar über anwaltverein.de; Deckers Einige Bemerkungen zum Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009, das am 1.1.2010 in Kraft tritt, StraFo 2009 441; Deutsche Strafverteidiger e.V. Stellungnahme zu dem Referentenentwurf über ein „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG)“, abrufbar über deutschestrafverteidigerev.de; Eisenberg Referentenentwurf des BMJ „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG)“ 2010, HRRS 2011 64; Esser Zur Bestellung des Verteidigers im Ermittlungsverfahren, FS Kühne 539; Graalmann-Scheerer Zur Reform des Rechts der notwendigen Verteidigung, StV 2011 696; Hellwig/Zebisch Pflichtverteidigung – Die Entpflichtung des Verteidigers wegen eines gestörten Vertrauensverhältnisses, NStZ 2010 602; D. Herrmann Zur Reform des Rechts der Untersuchungshaft, StRR 2010 4; ders. Aktuelles zur Pflichtverteidigung, StraFo 2011 133; Heydenreich Die Beiordnung des notwendigen Verteidigers nach neuem Recht, StRR 2009 444; ders. Die Beiordnung des Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 – Der schwierige Versuch einer statistischen Erfassung, StV 2011 700; ders. Die unverzügliche Beiordnung – Fluch oder Segen? StraFo 2011 263; Ignor Endlich mehr Rechte für den inhaftierten Beschuldigten, BRAKMagazin 06/2009 3; Jahn Untersuchungshaft und frühe Strafverteidigung im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, FS Rissing-van Saan 275; ders. Die Änderungen im Recht der Strafverteidigung durch das 2. Opferrechtsreformgesetz, NJW-FH Tepperwien (2010) 25, abrufbar über www.jura.uni-frankfurt.de/jahn; Kazele Änderungen im Recht der Untersuchungshaft, NJ 2010 1; Stefan König Untersuchungsgefangene bekommen mehr Rechte, AnwBl. 2010 50; ders. Der Zugang des (noch) nicht mandatierten Verteidigers zum inhaftierten Mandanten, StV 2011 704; Krekeler Das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29. Juli 2009 – eine Aufgabe auch für die Anwaltschaft, Kammerreport Hamm 4/2009 9, abrufbar (html) über www.rechtsanwaltskammerhamm.de; Lammer Neuerungen im Recht der Untersuchungshaft – eine erste Bilanz, AnwBl. 2013 325; Marberth-Kubicki Gemeinsame Empfehlungen zur Praxis der Beiordnung von notwendigen Verteidigern ab dem 01.01.2010, NJW 2010 aktuell Nr. 7 16; Reinhart Michalke Reform der Untersuchungshaft – Chance vertan? NJW 2010 17; Morgenstern Die Stärkung prozessualer Garantien im Recht der Untersuchungshaft in Deutschland und Polen, ZIS 2011 240; E. Müller/J. Schmidt Aus
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der Rechtsprechung zum Recht der Strafverteidigung, NStZ 2011 503; Nobis „U-Haft schafft Fakten“ – Verteidigung gegen Untersuchungshaft, StraFo 2012 45; Peters/Krawinkel Die notwendige Verteidigung bei Untersuchungshaft: Zum sachlichen Anwendungsbereich der neuen §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 Satz 4 StPO, StRR 2011 4; Schlothauer Pflichtverteidigerbeiordnung nach Inhaftierung, FS Samson 709; F. Schmidt Die Problematik des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO in der Praxis, NJ 2012 284; A. Schmitz Betreuung inhaftierter Mandanten, NJW 2010 1728; Schultheis Übersicht über die Rechtsprechung in Untersuchungshaftsachen 2009/2010 – Teil 2, NStZ 2011 682; ders. Übersicht über die Rechtsprechung in Untersuchungshaftfällen, NStZ 2013 87; Strafverteidigervereinigungen Gemeinsame Empfehlungen zur Praxis der Beiordnung von notwendigen Verteidigern ab dem 1.1.2010, StV 2010 109; dies. Stellungnahme zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG)“, abrufbar (html) über www.strafverteidigervereinigungen.org; Weider Dokumentation – Pflichtverteidigerwechsel in Fällen notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Ziff. 4 StPO, StV 2010 390; Wohlers Die „unverzügliche“ Beiordnung eines Pflichtverteidigers: Gefährdung des Anspruchs auf effektive Verteidigung? StV 2010 151; vgl. im Übrigen die Schrifttumsnachweise bei § 141.
Änderungen. Art. 1 Nr. 9a des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts (UHaftÄndG) vom 29.7.20091 hat mit Wirkung vom 1.1.2010 Absatz 1 Nummer 4 in der Fassung „gegen einen Beschuldigten Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a oder einstweilige Unterbringung nach § 126a oder § 275a Absatz 5 vollstreckt wird“ neu eingeführt und die Verweisung auf § 117 Abs. 4 in Absatz 3 Satz 2 durch die Verweisung auf jenen neuen Absatz 1 Nummer 4 ersetzt. Durch Art. 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu den begleitenden Regelungen (SiVerwNOG) vom 22.12.20102 ist mit Wirkung vom 1.1.2011 in Absatz 1 Nummer 4 der Verweis auf § 275a Abs. 5 durch eine Verweisung auf § 275a Abs. 6 ersetzt worden. Durch Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) vom 26.6.20133 ist mit Wirkung vom 1.9.2013 (Art. 8 Abs. 1) der Punkt am Ende des Absatzes 1 Nummer 8 durch einen Semikolon ersetzt und eine Nummer 9 mit dem Wortlaut „dem Verletzten nach den §§ 397a und 406g Absatz 3 und 4 ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist“ angefügt worden. Im Gegenzug sind in Absatz 2 Satz 1 nach dem Wort „kann“ das Komma und die Wörter „namentlich, weil dem Verletzten nach §§ 397a und 406g Absatz 3 und 4 ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist“ gestrichen worden.4
1 2 3 4
BGBl. I S. 2274; s. allg. Beukelmann NJWSpezial 2009 456. BGBl. I S. 2300. BGBl. I S. 1805; s. allg. v. Galen StV 2013 171, 173; F. Peter StraFo 2013 199, 202 f. Ferner ist durch das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren v. 2.7.2013 (BGBl. I S. 1938) § 114b Abs. 2 Satz 1 Nr. 4a eingefügt worden, wonach der verhaftete Beschuldigte in seiner Belehrung darauf hinzuweisen ist, dass er „in
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den Fällen des § 140 Absatz 1 und 2 die Bestellung eines Verteidigers nach Maßgabe des § 141 Absatz 1 und 3 beanspruchen kann“. Näher zur derzeitigen Praxis Thielmann HRRS 2013 281, 291 (ohne allerdings § 114b ausdrücklich zu erwähnen). Eine entsprechende Passage wurde außerdem für die erste Vernehmung in § 136 Abs. 1 Satz 3 nach dem Wort „beantragen“ eingefügt. Näher dazu LR/Gleß Nachtr. Erl. zu § 136.
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Übersicht Rn. A. Änderungen durch das UHaftÄndG und das SiVerwNOG I. Bedeutung und Reformgeschichte . . . . II. Regelungsgehalt . . . . . . . . . . . . . III. Notwendigkeit frühzeitiger Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren 1. Subjektiv-rechtliche Ebene . . . . . . . 2. Objektiv-rechtliche Ebene . . . . . . . IV. Voraussetzungen der Beiordnung nach Absatz 1 Nummer 4 1. Sachliche Voraussetzungen a) Vollstreckung von Untersuchungshaft aa) Anwendungsbereich . . . . . . bb) Tatsächliche Vollstreckung . . . b) Keine Bestellung eines Wahlverteidigers . . . . . . . . . . . . . . c) Besondere Verfahrensarten . . . . . 2. Zeitliche Voraussetzungen a) Beiordnungszeitpunkt . . . . . . . b) Dauer der Beiordnung . . . . . . .
Rn.
1 3
5 6
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aa) Absatz 3 Satz 2 . . . . . . . . . bb) Rücknahme unter erweiternder Anwendung des § 143 . . . . . (1) Verlegenheitswahlfälle . . . . . (2) Vorenthalten von Mitwirkungsmöglichkeiten . . . . . . . . . (3) Heilungsmöglichkeiten? . . . . V. Verhältnis zu Absatz 1 Nummer 5 . . . . VI. Vollstreckung in anderer Sache (Kumulationsfälle) 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . 2. Überhaft . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prozessuales . . . . . . . . . . . . . .
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B. Änderungen durch das StORMG I. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einzelheiten . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Weitergehender Regelungsbedarf nach UHaftÄndG und StORMG . . . . . . . .
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A. Änderungen durch das UHaftÄndG und das SiVerwNOG I. Bedeutung und Reformgeschichte Die Einfügung der Nummer 4 in den Katalog des Absatzes 1 war Bestandteil einer 1 umfassenden Neuregelung des Untersuchungshaftrechts,5 durch die die Rechte des Beschuldigten gestärkt und die Rechtsschutzmöglichkeiten bei drohender oder bestehender Inhaftierung verbessert werden sollten. Diese generelle Zielrichtung des Gesetzes wird im Schrifttum – zu Recht – begrüßt.6 Die Notwendigkeit der Verbesserung des Bestandes der Verteidigungsrechte ergab sich zunächst daraus, dass für den Gesetzgeber die Verteidigungsrechte des Beschuldigten trotz mancher Ausweitung im Katalog der Fälle der Pflichtverteidigung seit dem StVÄG 1964 nicht mehr im Fokus des gesetzgeberischen Handelns gestanden hatten.7 Die dahin gehenden, jahrzehntealten Forderungen der Strafverteidiger-Interessenvertretungen waren also inhaltlich berechtigt, so dass das UHaftÄndG auch bei ihnen eine grundsätzlich freundliche Aufnahme gefunden hat.8 Bei
5
6
Zu den Änderungen des Untersuchungshaftrechts insg. St. König AnwBl. 2010 50; Bittmann NStZ 2010 13; Burhoff ZAP 2010 489; Kazele NJ 2010 1; Krekeler Kammerreport Hamm 4/2009 9 und in diesem Band LR/Gärtner Nachtr. § 119, 1, 5 ff. So auch Schlothauer FS Samson 709, 711; ders./Weider (Untersuchungshaft) Rn. 282; Nobis StraFo 2012 45, 46 („erhebliche Verbesserung[en]“); D. Herrmann StraFo 2011 133, 135 („deutliche Verbesserung“); Heydenreich StRR 2009 444; R. Michalke NJW 2010 17, 20 sowie sogleich Rn. 3 ff. Kritischer unter Skizzierung weiterer – und weiter
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gehender – Reformvorschläge GraalmannScheerer StV 2011 696 ff.; erg. (zur Ausgestaltung der Bestellung in der Praxis) Nachtr. § 141, 24 ff. Daneben wurde der Gesetzgeber zum Erlass des UHaftÄndG durch europäische Vorgaben und der Verwirklichung des Grundsatzes der Beschleunigung des Strafverfahrens veranlasst (Beulke StV 2010 442, 443; Schünemann ZIS 2009 484 Fn. 4). Siehe etwa DAV Stellungnahme Nr. 55/2009 3 („weitgehend umgesetzt“) und Strafverteidigervereinigungen StV 2010 109. Zu den Reformforderungen etwa HW Rn. 64, 92.
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genauerem Hinsehen trat dazu, dass die Rechtsprechung die Ausweitung der Pflichtverteidigung zuweilen auch zur Beschränkung von Verteidigungsrechten an anderer Stelle genutzt hat.9 Der Einfluss des § 140 Abs. 1 Nr. 4 i.d.F. des UHaftÄndG auf die Kräftebalance der Strafprozessordnung kann deshalb kaum überschätzt werden. Mit der Regelung der frühen Pflichtverteidigung in Haftsachen wurde eines der Desiderate einer seit Jahrzehnten währenden Reformdiskussion verwirklicht.10 Nach der bis zum 13.12.2009 gültigen früheren Rechtslage war dem inhaftierten 2 Beschuldigten erst nach Vollzug von drei Monaten Untersuchungshaft auf Antrag ein Pflichtverteidiger zwingend beizuordnen (§ 117 Abs. 4 Satz 1 a.F.). Diese Regelung wurde nicht nur aus der Verteidigerschaft, sondern auch in Wissenschaft und Rechtspolitik seit langem kritisiert.11 Sowohl der Strafrechtsausschuss der BRAK12 als auch der DAV13 sowie (der in der nachfolgenden 17. Wahlperiode Vorsitzende des BT-Rechtsausschusses) MdB Siegfried Kauder14 und der Sachverständige im Gesetzgebungsverfahren Weider 15 hatten neben Stimmen aus der Wissenschaft16 vor und im Gesetzgebungsverfahren die Verteidigerbestellung bereits für den Zeitpunkt befürwortet, in dem die Staatsanwaltschaft in der Vorführungsverhandlung Antrag auf Erlass eines Haftbefehls zu stellen beabsichtigt (vgl. §§ 125, 128 Abs. 2 Satz 2). Dennoch haben entsprechende Änderungen zunächst im Gesetzgebungsverfahren keine Rolle gespielt.17 Erst in seiner 9
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S. etwa BGH StV 2008 617 f. („Der Senat kann offenlassen, ob angesichts der geänderten Lebenswirklichkeit – insbesondere der Ausweitung der Pflichtverteidigung […] – die Befragung nach § 216 Abs. 2 Satz 2 StPO überhaupt zwingend mündlich zu erfolgen hat“). Zu dieser Einschätzung kommt auch Beulke StV 2010 442, 444. Siehe die Würdigungen bei Lammer AnwBl. 2013 325; Tsambikakis ZIS 2009 503, 509; Deckers StraFo 2009 2, 3 und 441, 444; SK/Paeffgen Vorb. § 112, 3; Schlothauer FS Samson 709, 710 f.; zu indistinkt Kotz NJW 2010 2028. Zur – ebenfalls – neuen Rechtslage und voraufgegangenen Reformdiskussion in der Schweiz Ruckstuhl ZStrR 128 (2010) 132, 137 ff. Für eine möglichst frühe Verteidigerbestellung – mit weiteren Nachweisen – HW § 141, 24a sowie zum Ganzen bereits Jahn FS Rissing-van Saan 275, 276 ff. Vgl. auch die Forderungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) aus seinem Bericht an die deutsche Regierung vom 28.7.2006 (dazu Tsambikakis ZIS 2009 503, 506 f.) sowie zur älteren Diskussion Beschlüsse des 65. Deutschen Juristentages NJW 2004 3241, 3245; Deckers StraFo 2006 269, 270; Schöch StV 1997 323; Gebauer StV 1994 622; Schäfer/ Rühl StV 1986 456 und zusf. Püschel StraFo 2009 134, 138; D. Herrmann StraFo 2011 133, 134.
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BRAK Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren – Thesen mit Begründung (2004), 12 f. und StV 2010 544. Strafrechtsausschuss und AG Strafrecht im DAV Entwurf für eine Reform des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, Stellungnahme Nr. 51/2005, 11, abrufbar über www.anwaltverein.de (Beiordnung des Pflichtverteidigers ab erster Vernehmung des inhaftierten Beschuldigten, wenn Freiheitsstrafe von über einem Jahr zu erwarten). S. Kauder BTProt. 16 205 S. 22198. Weider BTRAussch. Prot.-Nr. 136 S. 4, 19 („Kind bereits in den Brunnen gefallen“; s. dazu BTDrucks. 16 13097 S. 16). Die Mehrheit der Rechtsausschuss-Sachverständigen lehnte diesen Vorschlag hingegen als zu weit gehend ab (vgl. Schöch BTRAussch. Prot.-Nr. 136 S. 12; Buckow BTRAussch. Prot.-Nr. 136 S. 2 f. und Tschanett BTRAussch. Prot.-Nr. 136 S. 15) bzw. favorisierte den Zeitpunkt der ersten Vernehmung des vorläufig festgenommenen Beschuldigten (St. König BTRAussch. Prot.-Nr. 136 S. 4; Tsambikakis BTRAussch. Prot.-Nr. 136 S. 14). Vgl. Schlothauer/Weider StV 2004 504, 516; zusf. R. Michalke NJW 2010 17. Weder der erste Regierungsentwurf v. 7.11.2008 (BRDrucks. 829/08) noch der durch die Föderalismusreform veranlasste zweite Regierungsentwurf v. 21.1.2009 (BTDrucks. 16 11644) sahen Derartiges vor.
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Beschlussempfehlung vom 20.5.200918 hatte sich der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages für eine Streichung der Absätze 4 und 5 in § 117 und Modifizierungen der §§ 140, 141 ausgesprochen. Dagegen hielt der Rechtsausschuss des Bundesrates in seiner Beschlussempfehlung vom 26.6.200919 eine Änderung im Hinblick auf die bestehenden Regelungen und – natürlich – die von den Ländern letztlich zu tragenden fiskalischen Lasten nicht für erforderlich. Zur Begründung wurde angeführt, es existierten keinerlei weit reichende und repräsentative Untersuchungen, welche belegten, dass eine derartige Neuregelung zu einer nachhaltigen Vermeidung von Untersuchungshaft und deren Kosten führen könne – eine angesichts des Standes der bundesdeutschen Rechtstatsachenforschung zur U-Haft recht gewagte Behauptung.20 Eine vom Bundesrat angeregte Anrufung des Vermittlungsausschusses gemäß Art. 77 Abs. 2 GG hätte jedoch das gesamte Vorhaben wegen des Diskontinuitätsgrundsatzes kurz vor dem Ende der 16. Legislaturperiode gefährdet. Der Bundesgesetzgeber21 hat sich deshalb mit §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 Satz 4 des geltenden Rechts zu einem Kompromiss entschlossen, der zumindest aus der damaligen Sicht praktischer Rechtspolitik nachvollziehbar ist. Die Bestellung des Pflichtverteidigers geht danach seit dem 1.1.2010 erst mit dem Beginn der Vollstreckung der Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a oder der einstweiligen Unterbringung nach den §§ 126a, 275a Abs. 5 einher. Sicherlich wäre ein noch früher einsetzender Bestellungsmechanismus nach dem Modell der BRAK/DAV-Forderungen wünschenswert gewesen. Der Pflichtverteidiger wäre so in den Stand gesetzt worden, schon in der Vorführungsverhandlung mitsamt der Vernehmung – für diese ist lediglich unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 118a Abs. 2 ein Verteidiger zu bestellen – auf die Entscheidung des Ermittlungsrichters zugunsten seines Mandanten einwirken zu können.22 Dass sich diese Position nicht hat durchsetzen können, ist vom Standpunkt der Beschuldigtenrechte aus bedauerlich, aber als bewusste Entscheidung des Gesetzgebers angesichts der Gefahr des Scheiterns des Gesamtvorhabens kurz vor Ablauf der 16. Wahlperiode de lege lata hinzunehmen.
II. Regelungsgehalt Neben Belehrungs- und Benachrichtigungspflichten und einem erweiterten Akten- 3 einsichtsrecht begründet die Untersuchungshaft schon ab dem Zeitpunkt ihrer Vollstreckung nunmehr einen Fall der notwendigen Verteidigung (Absatz 1 Nummer 4).23 Flankiert wird der Schutz des Beschuldigten insbesondere durch die Belehrungspflicht nach § 114b Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, die auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK aufsetzt:24 Danach ist der verhaftete Beschuldigte darauf hinzuweisen, dass er jederzeit,
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BTDrucks. 16 13097. Mit Superlativen für die Bewertung dieser – ähnlich wie beim Verständigungsgesetz (siehe Jahn/Müller NJW 2009 2625, 2526) – besonders selbstbewussten Haltung des 16. BT-Rechtsausschusses wurde deshalb von Seiten der berufsständischen Vereinigungen nicht gespart: Ignor BRAKMagazin 06/2009 3 spricht von einer „kleine(n) Sensation“ und St. König AnwBl. 2010 50 bezeichnet den Vorgang als „Sternstunde des Parlaments“. BRDrucks. 587/1/09 S. 2.
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Unten Rn. 6. BTDrucks. 16 13097 S. 14. Vgl. Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN BTDrucks. 16 13097 S. 16; R. Michalke NJW 2010 17; Wohlers StV 2010 151, 153; Jahn FS Rissing-van Saan 275, 278; ausf. D. Herrmann StraFo 2011 133, 135. S. zum Beiordnungszeitpunkt Rn. 16 und ausf. Nachtr. § 141, 4 ff. S. zu Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK BRDrucks. 459/1/10; Demko HRRS-FG Fezer 1 ff.
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auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger befragen kann. Dem inhaftierten Beschuldigten soll durch die Neuregelung eine geordnete und effektive Verteidigung gewährleistet werden. Zudem verfolgt der Gesetzgeber das Ziel, Haftzeiten zu verkürzen bzw. die Anzahl fragwürdiger Haftbefehle zu reduzieren.25 Somit werden durch die neue Reglung unter fiskalischen Gesichtspunkten auch unnötige Kosten durch den Untersuchungshaftvollzug vermieden. Aufgrund des erheblichen Grundrechtseingriffs durch die Inhaftierung war die Regelung des § 117 Abs. 4 a.F., nach der einem Beschuldigten, wenn sich dieser mindestens seit drei Monaten in Untersuchungshaft befand, durch den Haftrichter für die Dauer der Untersuchungshaft ein Verteidiger zu bestellen war, wenn die Staatsanwaltschaft, der Beschuldigte oder sein gesetzlicher Vertreter dies beantragten, vom Gesetzgeber – auch unter dem Einfluss der Rechtsprechung des EGMR,26 der seit langem eine effektive Verteidigung auch im Ermittlungsverfahren fordert – weithin als ungenügend empfunden worden.27 Das Gleiche galt für den Fall der Unterbringung nach § 126a. Die Dreimonatsprüfung nach § 117 Abs. 5 bei nichtverteidigten Inhaftierten ist nunmehr ebenso wie dessen Absatz 4 entfallen. Für die Umsetzung der neuen Regelungen wurden von Strafverteidigervereinigungen, insbesondere bzgl. der Auswahl des Verteidigers, des Zeitraums für die Auswahl und der Beiordnung, Empfehlungen28 aufgelegt, die der – nicht nur anwaltlichen – Praxis Orientierung bieten sollen. Der durch das SiVerwNOG geänderte Verweis auf § 275a Abs. 6 statt auf Absatz 5 4 der Vorschrift trägt der Tatsache Rechnung, dass der Unterbringungsbefehl im Fall der Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung nun infolge Art. 2 Nr. 4 lit. c SiVerwNOG dort normiert ist. Es handelt sich also um eine bloße redaktionelle Folgeänderung.
III. Notwendigkeit frühzeitiger Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren 5
1. Subjektiv-rechtliche Ebene. Der von der Unschuldsvermutung umhegte Beschuldigte ist der öffentlichen Gewalt bei Anordnung und Vollzug von Untersuchungshaft wie sonst nirgends ausgeliefert.29 Neben dem offensichtlichen Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG kann die Haftsituation schwerwiegende berufliche, familiäre und soziale Konsequenzen haben, wenn der Verhaftete unvorbereitet aus seinem sozialen Kontext gerissen wird. Der Beschuldigte hat zudem selbst nun kaum noch die Möglichkeit, sich um das Erforderliche zu kümmern und seine Ansprüche auf Partizipation am Verfahren wirksam durchzusetzen.30 Da aber gerade im Ermittlungsverfahren bekannter25
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Ignor BRAKMagazin 06/2009 3 sowie BRAK StV 2010 544 mit dem Hinweis, dass sich z.B. 2007 50 % der in Untersuchungshaftgefangenen tatsächlich weniger als drei Monate in Haft befanden und durch eine frühzeitige Verteidigung eine weitere Haftverkürzung erreichbar schien. EGMR NJW 2002 2013, 2015; NJW 2009 3707, 3708. BTDrucks. 16 13097 S. 18. Strafverteidigervereinigungen StV 2010 109; DAV Stellungnahme Nr. 55/2009; zur derzeitigen Praxis des Zugangs des Verteidigers
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zum inhaftierten Beschuldigten demgegenüber St. König StV 2011 704 ff. Siehe zu diesem Ausgangspunkt und zum nachfolgenden Text bereits Jahn FS Rissingvan Saan 275, 278 ff; dies ist auch der Ausgangspunkt der im hiesigen Umfeld besonders durchsetzungskräftigen Rspr. des BVerfG, vgl. nur Güntge in: Jahn/Krehl/ Löffelmann/Güntge, Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen (2011) Rn. 718 ff.; Jahn NStZ 2007 255, 257. Schlothauer FS Samson 709; so z.B. die Suche nach Zeugen, die Durchführung von
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maßen die Weichen für den Ausgang des Verfahrens gestellt werden, ist die Dringlichkeit effektiver Verteidigung offensichtlich.31 Dem entspricht die Spruchpraxis des EGMR jedenfalls seit Salduz ./. Türkei32 und auch diejenige des BGH33, die dem Ermittlungsverfahren (endlich) die ihm zukommende Bedeutung für die Vorbereitung des Hauptverfahrens beimessen. Der Grundsatz fairen Verfahrens des Art. 6 Abs. 1 EMRK, das Gebot der Waffengleichheit und nicht zuletzt die von Verfassungs wegen gebotene Chancengleichheit für wohlhabende und mittellose Inhaftierte gebieten daher die alsbaldige Bereitstellung fachkundiger Unterstützung.34 Die dem an sich Rechnung tragende Vorschrift des § 141 Abs. 3 Satz 2, der zufolge die Staatsanwaltschaft schon während des Vorverfahrens die Bestellung eines Pflichtverteidigers beantragen kann, wenn nach ihrer Auffassung dessen Mitwirkung notwendig sein wird, begründete für den Beschuldigten nach – freilich zu undifferenzierter35 – h.M.36 keinen Rechtsanspruch; die Ablehnung der Antragstellung durch die Staatsanwaltschaft wird konsequent, aber wiederum nicht überzeugend, als nie anfechtbar angesehen.37 Wohl auch deshalb wird von der Regelung ohne ausreichende Rezeption der rechtsstaatlich aufgeladenen Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK für die Fälle konfrontativer Zeugenbefragungen immer noch zu wenig Gebrauch gemacht.38 2. Objektiv-rechtliche Ebene. Dass die frühzeitige Verteidigerbestellung aber nicht 6 nur aus rechtsstaatlichen, sondern auch aus verfahrensökonomischen und damit letztlich fiskalischen Gründen angezeigt sein kann, wurde auch empirisch vielfach belegt.39 Insbesondere kann – entgegen der Befürchtung einiger Bundesländer im Gesetzgebungsverfahren zur Untersuchungshaft-Reform40 – die rechtzeitige Einschaltung des Pflichtverteidigers zu Einsparungen führen, wenn überflüssige Kosten in Bagatellfällen vermieden werden, bei denen nur der Haftgrund der Fluchtgefahr im Raum steht.
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Reisen, die notwendig sind, um Beweismittel aufzufinden oder Zeugen zur Aussage zu bewegen usw.; s. dazu HW Rn. 32. Zu dem von Karl Peters (Fehlerquellen 1972) 299 inspirierten Bild des Ermittlungsverfahrens als „Rutschbahn“ s. HbStrVf/Jahn Kap. I, 42 ff. m.w.N. EGMR NJW 2009 3707, 3708; siehe zur Bedeutung dieser Judikatur und zu weiteren Nachw. Nachtr. § 141, 5. BGH NStZ 2010 53, 54 m. (zu Unrecht) abl. Anm. Hartmut Schneider. Nach zutreffender Einschätzung von Danckert 205. BTSitzung v. 12.2.2009, BTProt. 16 22201, gab es unter der alten Gesetzeslage „den Beschuldigten, der sich von der ersten Minute an einen Verteidiger leisten kann, welcher sich für ihn einsetzt und ihn möglicherweise von der Untersuchungshaft bewahrt; andererseits (…) den nichtverteidigten Beschuldigten, der festgenommen wird, in Untersuchungshaft wandert und nach drei Monaten (…) möglicherweise einen Anspruch auf einen Verteidiger hat“. Im Einzelnen HW § 141, 24a. OLG Karlsruhe NStZ 1998 315, 316; LG
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Cottbus StV 2002 414 m. abl. Anm. Klemke; Meier GA 2004 441, 452; AnwK-StPO/Krekeler/Werner § 141, 4; KK/Laufhütte § 141, 6; Meyer-Goßner/Schmitt § 141, 5. Dazu mit Nachweisen Meyer-Goßner/ Schmitt § 141, 5; demgegenüber wiederum HW § 141, 24. So auch Wohlers StV 2010 151. Zur EGMRRspr. zusammenfassend BGHSt 46 93, 94 ff.; BGH StV 2010 342, 343 Tz. 16; zur weiterführenden Kritik an Konzeption und Rezeption Gaede (Fairness) 624 ff. Schöch StV 1997 323 ff.; ders. Der Einfluss der Strafverteidigung auf den Verlauf der Untersuchungshaft (1997) 68 f.; Gebauer StV 1994 622 ff.; Jehle/Bossow BewHi. 2002 73; Busse Frühe Strafverteidigung und Untersuchungshaft (2008) 95 ff.; 316 ff.; zusf. Lammer AnwBl. 2013 325, 327. Siehe zum EU-weiten Forschungsprojekt zu den „Verteidigungsrechten im Vorverfahren – bewährte Praxis und effektive anwaltliche Journal (Not-)Dienste/Pretrial Emergency Defence“ Soyer/St. Schumann StV 2012 495, 497 ff. Oben Rn. 2.
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Soweit ein Teil des Schrifttums und der ihm folgende Rechtsausschuss des Bundesrates demgegenüber die der Gerichtshilfe eingegliederte Haftentscheidungshilfe (§ 160 Abs. 3) als Mittel zur Haftvermeidung bzw. -beendigung aktivieren wollten, hätte sich dies als nicht in gleichem Maße zweckdienlich erwiesen. Wie das Landesrecht zeigt,41 spielt die Haftentscheidungshilfe bislang dort nur im Jugendstrafrecht und bei erwachsenen Beschuldigten bei den Haftgründen der Flucht oder Fluchtgefahr eine gewisse Rolle. Jede weitere Aufgabenübertragung würde schon deshalb zu einer deutlichen finanziellen Mehrbelastung führen, weil nicht bei allen Staatsanwaltschaften bereits Gerichtshilfestellen existieren. Darüber hinaus zählt die Gerichtshilfe zum Geschäftsbereich der Landesjustizverwaltungen mit einer Vielfalt an Organisationsmodellen (Art. 294 Satz 1 EGStGB). Wollte man die Rolle der Haftentscheidungshilfe stärken, müsste zunächst die Frage geklärt werden, ob nicht unter Gleichheitsaspekten die Befassung mit den Forderungen nach Vernetzung der ambulanten Straffälligenhilfe und bundeseinheitlicher Neustrukturierung der sozialen Dienste vorgreiflich ist.42 Auch würde die dogmatische Folgefrage aufgeworfen, ob die Anrufung der Haftentscheidungshilfe obligatorisch sein oder weiterhin im Ermessen der Staatsanwaltschaft stehen solle. Darüber hinaus ist auf den Zusammenhang mit der kontroversen Diskussion um die Privatisierung der sozialen Strafrechtspflege hingewiesen worden.43 Und nicht zuletzt haben empirische Untersuchungen wichtige Indizien dafür geliefert, dass der Einsatz der Haftentscheidungshilfe kaum die erhofften finanziellen Einsparungen zu erbringen vermag.44 Mit Recht hat sich der Bundesgesetzgeber also bei der Frage des „Ob“ für das Modell der frühzeitigen Verteidigerbestellung und gegen den Ausbau der Haftentscheidungshilfe entschieden.
IV. Voraussetzungen der Beiordnung nach Absatz 1 Nummer 4 1. Sachliche Voraussetzungen a) Vollstreckung von Untersuchungshaft
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aa) Anwendungsbereich. Die frühe Pflichtverteidigerbeiordnung beschränkt sich auf die Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a und die vom Gesetzgeber in ihrer Gewichtigkeit mit Recht gleichgestellten Fälle der einstweiligen Unterbringung nach den §§ 126a und 275a Abs. 5. Die Vorschrift findet damit e contrario keine Anwendung bei der Vollstreckung von Hauptverhandlungshaft nach §§ 127b Abs. 2, 230 Abs. 2, 329 Abs. 4 und von Sicherungshaft nach § 453c Abs. 1. Ebenso sind Fälle der Straf-, Auslieferungshaft oder Abschiebehaft (§§ 15, 16 IRG) nicht erfasst. Diese Differenzierung wird im Schrifttum45 teils als sachlich nicht nachvollziehbar empfunden, denn die eingeschränkte Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten ergibt sich auch in diesen Vollstreckungskonstellationen aus der Tatsache der Inhaftierung.46 Dieser sachlich gut begründete Einwand 41
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Verfügung des saarländischen Justizministeriums Nr. 4/1987 v. 9.3.1987, geändert durch Verfügung Nr. 6/1998 v. 4.3.1998 (4205-3); Erl. des schleswig-holsteinischen Justizministeriums v. 6.4.1990 (Abl. SchlH 1990 317); Verfügung des brandenburgischen Justizministeriums v. 26.10.1994 (4420-IV.2) und 26.4.2001 (4210-III.24). In diesem Sinne Dünkel NKrimpol. 2003 2, 4.
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Ostendorf BewHi. 2006 26 ff. Jehle BewHi. 1994 373 ff. SK/Wohlers 10; ders. StV 2010 151, 152; D. Herrmann StraFo 2011 133, 136; KMR/Haizmann 14; Meyer-Goßner/Schmitt 14; bezogen auf Auslieferungshaft auch Schomburg/Lagodny NJW 2012 349, 352. Deutlich wird dies gerade in Fällen der Überhaft, s. unten Rn. 29 f.
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ändert freilich nichts daran, dass diese Fälle nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers im Anwendungsbereich des Absatzes 1 Nummer 5 verbleiben sollen.47 Ausgenommen sind auch sonstige freiheitsentziehende Sanktionen (Jugendstrafe [§ 17 9 JGG] oder Jugendarrest [§ 16 JGG] sowie Strafarrest [§ 9 WStG]), die freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 61 Nrn. 1 bis 3 StGB) sowie die Fürsorgeerziehung und die Unterbringung in einem Erziehungsheim. Richtigerweise muss auch in Fällen, in denen im konkreten Verfahren ein Haftbefehl erlassen wurde, nicht aber vollzogen wird und sich der Beschuldigte zugleich in einem anderen Verfahren in Untersuchungshaft befindet, in dem konkreten Verfahren eine Beiordnung nach Absatz 1 Nummer 4 erfolgen.48 bb) Tatsächliche Vollstreckung. Die Beiordnung nach Absatz 1 Nummer 4 erfordert 10 zudem die tatsächliche Vollstreckung der Untersuchungshaft bzw. der einstweiligen Unterbringung.49 Voraussetzung ist also, dass der Haftbefehl bereits erlassen und in Vollzug ist. Es bedarf keiner Bestellung eines Pflichtverteidigers, wenn der Haftbefehl im Rahmen der Verkündung sogleich oder später (§ 116) wieder außer Vollzug gesetzt wird.50 Gleiches gilt für den Fall der Haftunfähigkeit. Im Falle der Außervollzugsetzung muss aber geprüft werden, ob nicht ein anderer Beiordnungsgrund nach Absatz 1 oder Absatz 2 gegeben ist.51 Legt man die Vorschrift streng nach ihrem Wortlaut aus, schadet jede auch nur kurzfristige Haftunterbrechung. Dies entspricht dem Sinn und Zweck der Nummer 4, weil das auf der Haft beruhende Autonomiedefizit nunmehr beseitigt ist, und der Systematik der Regelung. Denn im Gegensatz zur Nummer 5 stellt die Nummer 4 nicht auf einen bezifferten Zeitraum ab, obgleich der Beschuldigte hier wie dort gehindert ist, sich selbst um das für seine Verteidigung Erforderliche zu kümmern.52 Absatz 1 Nummer 4 findet deshalb auch für den Fall Anwendung, dass der Beschuldigte zwischenzeitlich aus der Haft entlassen und dann erneut inhaftiert wurde. b) Keine Bestellung eines Wahlverteidigers. Die Voraussetzungen nach Absatz 1 11 Nummer 4 liegen nur dann vor, wenn der Beschuldigte keinen Verteidiger seiner Wahl benannt hat. Auch wenn § 141 Abs. 1 Satz 1 nicht auf Absatz 1 Nummer 4 verweist, kann hieraus nicht geschlossen werden, dass im Falle der Vollstreckung von Untersuchungshaft dem Beschuldigten neben dem Wahlverteidiger auch noch ein Pflichtverteidiger mit der damit einhergehenden Kostenfolge beizuordnen ist.53 47
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Siehe BTDrucks. 16 13097 S. 19. Dem folgen Wohlers StV 2010 151, 152; R. Michalke NJW 2010 17; AnwK-UHaft/König 2; KMR/Haizmann 14; HK-GS/Weiler 8; HK/Julius 8 a.E.; Meyer-Goßner/Schmitt 14; SSW/Beulke 25 sowie – dort auch bereits zum nachfolgenden Text – Jahn FS Rissingvan Saan 275, 281. Für den Fall der Vollstreckung von Sicherungshaft a.A. – ohne Begr. und wegen des unverändert fortgeltenden Absatz 1 Nummer 5 contra legem (zust. in der Einschätzung Brocke/Heller StraFo 2011 1, 8 Fn. 73) – AG Aschersleben StV 2010 493. A.A. auch Heydenreich StRR 2012 103, 104. S. erg. unten Rn. 24, 30. S. zu den Kumulationsfällen unten Rn. 24 ff. m.w.N. auch zur Gegenansicht. OLG Düsseldorf StV 2011 651, 652; OLG
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Hamm Beschl. v. 3.9.2013 – 4 RVs 111/13 (unveröff.); SSW/Beulke 22. BTDrucks. 16 13097 S. 19; R. Michalke NJW 2010 17; Wohlers StV 2010 151, 152; SK/Wohlers 11; HK/Julius 8; OK-StPO/ Wessing 5a; HK-GS/Weiler 7; Meyer-Goßner/ Schmitt 14; Jahn FS Rissing-van Saan 275, 281. Burhoff (Ermittlungsv.) Rn. 1229e. Die Auffassung von Schlothauer/Weider (Untersuchungshaft) Rn. 285, die zeitliche Beschränkung des Absatzes 1 Nummer 5 gelte entspr., ist daher missverständlich, denn es kommt nicht auf eine starre Frist, sondern stets auf die Umstände der Vollstreckung im Einzelfall an. F. Schmidt NJ 2012 284, 285; Schlothauer/ Weider (Untersuchungshaft) Rn. 283.
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c) Besondere Verfahrensarten. Die Neuregelung ist auch auf besondere Verfahrensarten anwendbar: Aufgrund der Verweisung in § 46 Abs. 1 OWiG gelten die Vorschriften nach §§ 140, 13 141 auch im Bußgeldverfahren,54 insbesondere ist auch die Neuregelung des Absatzes 1 Nummer 4 in diesen Verfahren anwendbar.55 Im Jugendstrafverfahren ist Absatz 1 Nummer 4 über die Verweisung in § 68 Nr. 1 14 JGG anwendbar. Das Verhältnis von Absatz 1 Nummer 4 zur Regelung des mit diesem bis auf die altersmäßige Beschränkung gleichlautenden § 68 Nr. 5 JGG hat der Gesetzgeber in den Gesetzesmaterialien – im Gegensatz zum Verhältnis zu Absatz 1 Nummer 556 – nicht ausdrücklich thematisiert. Ein eigenständiger Regelungsgehalt kommt § 68 Nr. 5 JGG jedoch nicht mehr zu.57 Die Neuregelung von Absatz 1 Nummer 4 und § 141 Abs. 3 lässt hingegen die 15 Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung im Vollstreckungsverfahren58 unberührt59: Diese ist weiterhin60 nur in beschränktem Umfang in direkter Anwendung des Absatzes 2 Satz 1 zulässig, da im Vollstreckungsverfahren in einem deutlich geringerem Maße als im kontradiktorisch und partizipatorisch ausgestalteten Ermittlungsverfahren die Bestellung eines Verteidigers notwendig ist, etwa dann, wenn konkrete Prognoseentscheidungen anstehen. Vielmehr zeigt die Neuregelung in Absatz 1 Nummer 4 im Umkehrschluss, dass der Gesetzgeber keinen Anlass gesehen hat, auch für das Vollstreckungsverfahren grundsätzlich eine notwendige Verteidigung vorzusehen. Das ist bedauerlich, aber hinzunehmen. 2. Zeitliche Voraussetzungen
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a) Beiordnungszeitpunkt. Entscheidender Beiordnungszeitpunkt ist nach dem Wortlaut von Absatz 1 Nummer 4 und § 141 Abs. 3 Satz 1 (erst) der des Vollstreckungsbeginns, also der der Anordnung der Vollstreckung der Untersuchungshaft durch den Richter.61 Absatz 1 Nummer 4 soll auch dann noch anwendbar sein, wenn Untersuchungshaft zwar mittlerweile nicht mehr vollzogen wird, dies aber zum frühestmöglichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch der Fall war.62 Das mag prima facie mit Blick auf den von der Praxis vergleichsweise streng durchgehaltenen Grundsatz, der eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ausschließt,63 ebenso wie mit Rücksicht auf die Voraussetzungen von § 141 Abs. 3 Satz 2 zweifelhaft sein. Freilich steht das Gesetz nicht zwingend entgegen und vom – ohnehin problematischen – Grundsatz ist hier eine Ausnahme zu machen.64
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OLG Hamm StRR 2010 266; LG Ellwangen StV 2012 462; HW Rn. 42. Vgl. Bohnert (OWiG) § 46, 40. S. unten Rn 24. OLG Frankfurt StV 2011 218 m. Anm. Deutscher jurisPR extra 2011 34. Allg. HW Rn. 118 ff. OLG Köln NStZ-RR 2010 326. Für die Neuschaffung einer Pflichtverteidigung ab Beginn des Strafvollzugs bei Anordnung oder Vorbehalt der Anordnung anschließender
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Sicherungsverwahrung Deutscher Richterbund Stellungnahme Nr. 45/2010 9. Für eine weite Auslegung des Absatzes 2 im Vollstreckungsverfahren Wohlers FS Seebode 573, 575 ff. So zuvor schon BVerfG Beschl. v. 26.8.2008 – 2 BvR 335/08 (juris); HW Rn. 119a m.w.N. Ausf. Nachtr. § 141, 4 ff. Näher Rn. 31. HW § 141, 11. Unten Rn. 31.
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b) Dauer der Beiordnung. Für das Ende der Beiordnung des Pflichtverteidigers sind 17 bestimmte Ereignisse ausschlaggebend, die teils fakultative und teils obligatorische Folgeentscheidungen nach sich ziehen: aa) Absatz 3 Satz 2. Nach Absatz 3 Satz 2 gilt die Bestellung nach Absatz 1 Nummer 4 18 zunächst für das Ermittlungsverfahren und für das gerichtliche Verfahren unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 Nummer 5 fort, also wenn sich der Beschuldigte mindestens drei Monate in Haft befunden hat und nicht mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung entlassen wurde, soweit nicht ein anderer Verteidiger bestellt wird. Er bildet ebenso wie § 143 die Ausnahme zu dem Grundsatz, dass, soweit die Notwendigkeit der Verteidigung in irgendeinem Verfahrensstadium vom Gericht bejaht wurde, die Bestellung fort gilt. Eine erneute Entscheidung über die Bestellung ist insbesondere angezeigt, soweit die Hauptverhandlung an einem anderen Ort stattfindet und die Terminswahrnehmung dem bestellten Verteidiger nicht zugemutet werden kann.65 Ebenso verhält es sich, wenn sich vor Anklageerhebung ein neuer Verteidiger legitimiert und seine Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt, insbesondere, weil der erstbeigeordnete Verteidiger nur eine durch die Kürze der Überlegungsfrist bedingte Not- bzw. Verlegenheitslösung war. In diesem Fall kann ein Wechsel des auf Antrag des Beschuldigten bestellten Pflichtverteidigers auch ohne das Vorliegen von Widerrufsgründen nach § 143 auf Wunsch des Angeklagten erfolgen, selbst wenn hierdurch (geringfügige) Mehrkosten entstehen.66 Auch ein Gebührenverzicht ist nicht erforderlich,67 denn die Bestellung eines Verteidigers seines Vertrauens ist für den Beschuldigten mit Blick auf den (menschenrechtlichen) Grundsatz konkreter und wirklicher Verteidigung vorrangig: Der Gesetzgeber wollte durch die Regelung in Absatz 1 Nummer 4 gerade deshalb die Stellung des Beschuldigten stärken. Liegen die Voraussetzungen des Absatzes 1 Nummer 5 nicht vor, so wird die Bestel- 19 lung mit der Beendigung der Untersuchungshaft, also insbesondere dann, wenn der Haftbefehl (vor der Hauptverhandlung) aufgehoben oder außer Vollzug gesetzt wird, unwirksam. Nach dem Wortlaut des Absatzes 3 Satz 2 bedarf es eines entsprechenden Aufhebungsbeschlusses des Gerichts – wie in Absatz 3 Satz 1 für die Fälle des Absatzes 1 Nummer 5 festgelegt – nicht.68 Das Gesetz sieht also selbst einen solchen Wechsel ohne das Erfordernis des Vorliegens der tradierten Widerrufsgründe vor. Im Gegensatz dazu muss das Gericht im Rahmen des Absatzes 3 Satz 1 stets prüfen, ob die Beiordnung des Verteidigers aufrechtzuerhalten ist oder ob die auf der Freiheitsentziehung beruhende Beeinträchtigung der Verteidigungsmöglichkeit trotz der Entlassung fortwirkt.69 Dauert die Untersuchungshaft nach Anklageerhebung noch an und wird ein anderer Verteidiger 65 66
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SK/Wohlers 11; Meyer-Goßner/Schmitt 37; erg. HW § 143, 13. LG Heilbronn StV 2011 222, 223; BRAK StV 2010 544, 548; HK/Julius 8; SSW/Beulke 60; s. auch Stellungnahme des GBA v. 1.3. 2010 – 2 BGs 73/10, dokumentiert bei Weider StV 2010 390, 391 und sogleich Rn. 19. A.A. SK/Wohlers 11 und Meyer-Goßner/ Schmitt 37, der einen generellen Anspruch auf Auswechslung als zu weitgehend empfindet. BRAK StV 2010 544, 548; Schlothauer/ Weider (Untersuchungshaft) Rn. 329a.
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So wohl auch OLG Düsseldorf NJW 2011 1618, 1619 m. – insoweit abl. – Anm. D. Herrmann StV 2011 652, 655. A.A. Schlothauer/Weider (Untersuchungshaft) Rn. 285 (Bestellung gilt, ist aber nach § 143 widerrufbar); AnwK-UHaft/König, 3; HK/Julius 8. OLG Celle StV 2011 84; Busch NStZ 2011 663, 664 Fn. 13; Schlothauer/Weider (Untersuchungshaft) Rn. 285.
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beigeordnet, entfällt die Notwendigkeit der Verteidigung nach Absatz 1 Nummer 4, es sei denn der andere Verteidiger wird ausdrücklich neben den bereits vorhandenen bestellt.70
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bb) Rücknahme unter erweiternder Anwendung des § 143. Der unverzüglich im Vorverfahren beigeordnete Verteidiger ist grundsätzlich – eine wichtige Ausnahme bildet bereits die Regelung in Absatz 3 Satz 271 – für das gesamte Verfahren bestellt. Zum Beiordnungszeitpunkt ist aber regelmäßig nicht absehbar, welche Entwicklungen das weitere Verfahren nehmen wird. Somit kann es zu einer Kollision mit dem Recht des Beschuldigten auf effektive Verteidigung (z.B. gegen einer Tatvorwurf, der spezielle Sachkenntnisse des Verteidigers erfordert) bzw. auf Verteidigung durch den Rechtsanwalt seines Vertrauens kommen, auch wenn die frühzeitig erfolgte Beiordnung als Eilmaßnahme grundsätzlich zu begrüßen ist. Ein Verteidigerwechsel auf Initiative des Beschuldigten ist über den Wortlaut hinaus analog § 143 in der Praxis immer dann möglich, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Die an solche Gründe zu stellenden inhaltlichen Anforderungen sind aber umstritten. Akzeptiert werden nach noch vorherrschender Auslegung insbesondere die erhebliche Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses zwischen Pflichtverteidiger und Beschuldigtem oder eine besondere Pflichtwidrigkeit bei der Führung der Verteidigungsgeschäfte. Das war in dieser Allgemeinheit schon bislang zweifelhaft.72 Im neuen Recht seit dem 1.1.2010 ist diese (zu) enge Auslegung des § 143 für den vom Beschuldigten gewollten Austausch des Pflichtverteidigers mit dem Gesetz schlechthin nicht mehr vereinbar. Es will die Verteidigungsbelange und damit die Autonomie des Beschuldigten stärken, nicht schwächen. Es steht daher zu erwarten, dass infolge der Anerkennung dieses Zusammenhanges durch die bislang vorliegende Rechtsprechung zum U-Haft-Reformgesetz auch die bisherige Auslegung des § 143 im Ganzen auf den Prüfstand gestellt wird – ein längst überfälliger Vorgang.73
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(1) Verlegenheitswahlfälle. Der Verteidigerbeistand nach Absatz 1 Nummer 4 ist also im Ganzen ein vorläufiger in dem eingeschränkten Sinne, dass ein Wechsel nach § 143 ausnahmsweise unter vereinfachten Voraussetzungen zulässig ist. Der wesensmäßigen Einschränkung der Beschuldigtenrechte durch frühzeitige Beiordnung eines letztlich nicht ausreichend qualifizierten oder gar inhabilen Verteidigers tritt die Rechtsprechung indes trotz der Forderungen im Schrifttum74 und gleich dreier Interessenvertretungen der Strafverteidiger75 bislang nicht mit einer Herabsetzung der Anforderungen an einen Pflichtverteidigerwechsel entgegen. Sie will auch für die Fälle des Absatzes 1 Nummer 4 an den hergebrachten Voraussetzungen des wichtigen Grundes nach § 143 (Störung des Ver-
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Radtke/Hohmann/Reinhart 15; KK/Laufhütte 16. Soeben Rn. 18. Siehe zu den notwendigen Differenzierungen aufgrund der unangefochtenen Prämisse der Gleichstellung von Pflicht- und Wahlverteidigung HW Rn. 6 und § 143, 9 (extensive Auslegung bei Artikulation der Autonomie des Beschuldigten); sich dem jetzt erfreulicherweise annähernd Bittmann JuS 2010 510, 513. A.A. OLG München NJW 2010 1766 f.; Kett-Straub NStZ 2006 361, 363, je m.w.N. Wenske NStZ 2010 479, 484; Lam/Meyer-
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Mews NJW 2012 177, 183; Lammer AnwBl. 2013 325, 329; Jahn FS Rissing-van Saan 275, 287. Schlothauer FS Samson 709, 715; Jahn FS Rissing-van Saan 275, 287; AnwK-UHaft/ König 10; ders. AnwBl. 2010 50, 51; HK/Julius § 141, 9; ebenfalls zust., aber krit. zur praktischen Durchsetzbarkeit Heydenreich StRR 2009 444, 446 („frommer Wunsch“). DAV Stellungnahme Nr. 55/2009 7; BRAK StV 2010 544, 547; Strafverteidigervereinigungen StV 2010 109, 110.
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trauensverhältnisses; Gebührenverzicht; Einvernehmlichkeit) festhalten.76 Das vermag nicht zu überzeugen. Immerhin hat auch der Ermittlungsrichter des BGH unlängst klargestellt, dass die Anforderungen an die Darlegung einer Störung des Vertrauensverhältnisses „nicht überspannt“ werden dürfen, wenn dem Beschuldigten „wegen der Gegebenheiten des Verfahrens zur Haftbefehlseröffnung eine nur sehr eingeschränkte Überlegungszeit für die Auswahl eines Verteidigers eingeräumt werden konnte“77. Eine Auswechselung des Pflichtverteidigers auch ohne ein gestörtes Vertrauensverhältnis ist im Übrigen nach der schon zuvor in einem weiteren BGs-Verfahren vom Ermittlungsrichter des BGH gebilligten Auffassung des GBA zumindest dann zulässig, wenn es sich bei dem beigeordneten Verteidiger lediglich um eine „Verlegenheitswahl“ handelte, der Beschuldigte nun selbst einen Wechsel ausdrücklich wünscht, der bisher beigeordnete Verteidiger damit einverstanden ist und dadurch keine Verfahrensverzögerungen und – wie regelmäßig – nennenswerten Mehrkosten entstehen.78 Dem ist ohne Einschränkungen zuzustimmen. Einem weiteren Wechsel kann hingegen umgekehrt regelmäßig entgegenstehen, dass der Beschuldigte bis zur Äußerung seines erstmaligen Wechselbegehrens ausreichend Bedenkzeit hatte.79 (2) Vorenthalten von Mitwirkungsmöglichkeiten. Darüber hinaus muss ein Wechsel 22 ohne ein gestörtes Vertrauensverhältnis auch in Fällen möglich sein, in denen dem Beschuldigten keine ausreichende Mitwirkungsmöglichkeit an der Verteidigerauswahl eingeräumt worden ist. Das ergibt sich bereits aus der verfassungsrechtlichen Grundlage der Regelung in § 142 im Rechtsstaatsprinzip und dem Grundsatz rechtlichen Gehörs.80 Von der Soll-Vorschrift des § 142 Abs. 1 Satz 1 kann also auch in den Fällen des Absatzes 1 Nummer 4 nur in seltenen Ausnahmefällen abgewichen werden; sie kommt in praxi einer Anhörungspflicht gleich.81 Sofern also die nach § 142 Abs. 1 Satz 1 erforderliche Anhörung unterblieben ist, ist der vom Gericht bestellte Verteidiger auf Antrag des 76
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Stellungnahme des Justizministeriums Sachsen v. 5.2.2010 zum Antrag der Fraktion Die Linke, LTDrucks. 5 1047 S. 4; OLG Braunschweig StV 2012 719 f.; OLG Düsseldorf StV 2011 85; LG Osnabrück StV 2010 563; LG Berlin StV 2011 665, 666; zusf. AG München StV 2011 668: „Da es die gesetzgeberische Intention des § 140 Abs. 1 Nr. 4 ist, sofort nach der Inhaftierung den Kontakt des Untersuchungsgefangenen mit einem Verteidiger sicherzustellen, rechtfertigt die erheblich verzögerte Kontaktaufnahme des beigeordneten Verteidigers mit dem Gefangenen (hier: zwei Monate) das fehlende Vertrauen des Beschuldigten zum beigeordneten Verteidiger und damit den Pflichtverteidigerwechsel“ sowie Heydenreich StV 2011 700, 703 und Wohlers StV 2010 151, 157. Beide Zitate bei BGH (ER) StraFo 2013 23. Stellungnahme des GBA v. 1.3.2010 – 2 BGs 73/10, dokumentiert bei Weider StV 2010 390, 391; Meyer-Goßner/Schmitt § 143, 5a. Dies entspricht einer allerdings auch im Normbereich des § 143 unabhängig von
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Absatz 1 Nummer 4 mittlerweile allgemein akzeptierten Rückausnahme, vgl. OLG Oldenburg StV 2010 351; HW § 143, 9 Fn. 46. Kommt es während des Ermittlungsverfahrens zum Pflichtverteidigerwechsel, entstehen durch die Beiordnung des neuen Pflichtverteidigers eine weitere Grundgebühr (VV RVG Nr. 4100, 4101) und eine Verfahrensgebühr (VV RVG Nr. 4104, 4105). Die Zusatzkosten belaufen sich also auf € 299,–. Dem neu bestellten Verteidiger einen (rechtlich zulässigen: HW § 143, 9 Fn. 46; a.A. jetzt u.a. OLG Bremen Beschl. v. 12.7.2013 – Ws 184/12 m.w.N.) Verzicht auf die Geltendmachung dieser Gebühren anzusinnen, muss angesichts der besonderen Anforderungen, die mit der Verteidigung von nicht auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten verbunden sind, ausscheiden (so auch BRAK StV 2010 544 f.). Vgl. AnwK-UHaft/König 10; DAV Stellungnahme Nr. 55/2009 7. HW § 142, 12, 15; erg. HW § 137, 2. Vgl. bereits HW § 142, 14.
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Beschuldigten nach § 143 zu entpflichten und der vom Beschuldigten benannte Rechtsanwalt beizuordnen, sofern dem seinerseits keine (anderen) wichtigen Gründe entgegenstehen.82 Ebenso ist zu verfahren, wenn ein Pflichtverteidiger nach Absatz 1 Nummer 4 bereits vor dem ungenutzten Verstreichen der dem Beschuldigten zu setzenden angemessenen Frist gem. § 142 Abs. 1 Satz 1 bestellt wird bzw. dem Beschuldigten keine der Untersuchungshaft-Situation angemessene Möglichkeit eingeräumt worden ist, sich über die zur Verfügung stehenden Verteidiger zu informieren.83 Entsprechendes gilt, wenn die Mitteilung der Frist nach § 142 Abs. 1 entgegen § 35 Abs. 2 Satz 1 nicht förmlich zugestellt worden ist und deswegen nicht geklärt werden kann, ob der Beschuldigte die Frist hat verstreichen lassen.84
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(3) Heilungsmöglichkeiten? Ein Verzicht des Beschuldigten auf sein Benennungsrecht ändert nichts am Fristsetzungserfordernis, wenn zweifelhaft erscheint, ob er sich der Tragweite und Bindungswirkung seiner Erklärung bewusst war.85 Ebenso wird eine fehlende Anhörung durch eine widerspruchslose Zusammenarbeit mit dem bestellten Verteidiger nicht geheilt; ein Wechsel ist auch dann noch ohne das Vorliegen besonderer Widerrufsgründe zulässig.86 Eine Heilung wird auch nicht ohne Weiteres dadurch herbeigeführt, dass der Beschuldigte eine Einverständniserklärung gegenüber dem ihm ohne ordnungsgemäße Anhörung beigeordneten Verteidiger abgibt.87 Die Begründung ergibt sich hier daraus, dass ein Rechtsverzicht subjektiv voraussetzt, dass überhaupt ein Bewusstsein des Bestehens einer Alternative besteht. Dies kann allein aus der (einvernehmlichen) Entfaltung von Verteidigungsaktivitäten nicht geschlossen werden. Einem Verteidigerwechsel steht eine mehrere Wochen unbeanstandet andauernde Verteidigung durch den erstbeigeordneten Verteidiger deshalb auch dann nicht entgegen, wenn nicht auszuschließen ist, dass der Beschuldigte erst zu einem späteren Zeitpunkt von seinem Bezeichnungsrecht Kenntnis erlangt hat.88 Ein erneuter Wechsel ist aber abzulehnen,
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Vgl. OLG Braunschweig StraFo 2013 115, 116; OLG Celle StV 2012 720; OLG Düsseldorf StV 2010 350 m. zust. Anm. Burhoff StRR 2010 223 und Anm. Wollschläger jurisPR extra 2010 208; OLG Karlsruhe StV 2010 179; OLG Jena StraFo 2012 138, 139; OLG Dresden NStZ-RR 2012 213; KG StV 2012 656, 657; OLG Stuttgart Beschl. v. 28.6.2013 – 5 Ws 42–48/13 (unveröff.); LG Frankfurt (Oder) StV 2010 235, 236; LG Landshut Beschl. v. 1.7.2010 – 4 Qs 172/10 (unveröff.); LG Siegen StRR 2012 104, 105 m. Anm. Nobis; LG Dresden StraFo 2012 14; AG Stuttgart StV 2010 677; Lam/Meyer-Mews NJW 2012 177, 180; AnwK-UHaft/König 10; HK/Julius § 142, 8; Meyer-Goßner/Schmitt § 141, 3a. Dies entspricht der Rspr. vor dem UHaftÄndG, s. nur KG StV 2010 63, 65; HW § 142, 16a. LG Bochum StV 2011 155; LG Krefeld StV 2011 274; AG Stuttgart StV 2010 677; AG Arnsberg StRR 2012 104, 105 m. Anm. Nobis; Wohlers StV 2010 151, 157; AG München StV 2011 668 (LS); Meyer-
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Goßner/Schmitt § 141, 3a; Schlothauer/ Weider (Untersuchungshaft) Rn. 326; AnwKUHaft/König 10. Ein erleichterter Wechsel wurde vor dem UHaftÄndG bei zu kurzer Überlegungsfrist nur vereinzelt gewährt, s. etwa LG Berlin StV 2009 14. LG Bochum StV 2012 526. OLG Düsseldorf NJW 2011 1618 m. Anm. D. Herrmann StV 2011 652, 653 f.; OLG Koblenz StV 2011 349, 351; HK/Julius § 142, 8, 11. A.A. OLG München NJW 2010 1766; OLG Koblenz StV 2011 349, 351; OLG Stuttgart v. 28.6.2013 – 5 Ws 42–48/13 (unveröff.); KG StV 2012 656, 657 f.; LG Dresden StraFo 2012 14; wohl auch OLG Dresden NStZ-RR 2012 213; LG Frankfurt (Oder) StV 2010 235, 236; ausdrücklich offen gelassen hingegen von OLG Jena StraFo 2012 138, 139. OLG Stuttgart Beschl. v. 28.6.2013 – 5 Ws 42–48/13 (unveröff.). AG Stuttgart StV 2010 677.
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wenn das Gericht dem Wunsch des Beschuldigten auf Auswechslung des im Vorführungstermin beigeordneten Verteidigers nachgekommen ist und für einen erneuten Austausch keine Gründe ersichtlich sind, insbesondere weil sich der Beschuldigte dazu nicht äußert.89 Wünscht der Beschuldigte anlässlich der Verkündung des Haftbefehls die Beiordnung eines bestimmten Verteidigers, ist die ohne nochmalige Anhörung des Beschuldigten nach § 142 Abs. 1 erfolgte Bestellung dieses Verteidigers aufzuheben, wenn sich zuvor ein Wahlverteidiger gemeldet hat.90 Die in der Praxis recht häufig anzutreffende Konstellation, dass der Beschuldigte in der ihm gesetzten Frist zunächst keinen Pflichtverteidiger benennt, das Gericht ihm sodann einen Verteidiger bestellt und nach Ablauf der Frist schließlich doch ein Schriftsatz des Beschuldigten mit einer Benennung eingeht, ist im Lichte der Bedeutung der Wahrung der Autonomiesphäre des Beschuldigten durch die Vorschriften über die notwendige Verteidigung zu lösen.91 Die Rechtsprechung92 geht inzwischen begrüßenswerter Weise dahin, dass in diesem Falle die Bestellung durch das Gericht wieder aufzuheben ist, wenn der Angeschuldigte noch die Beiordnung eines bestimmten Rechtsanwalts beantragt, bevor der Beschluss Außenwirkung durch Bekanntmachung an eine Person außerhalb des Gerichts erlangen konnte, und kein wichtiger Grund entgegensteht. Die Benennungsfrist des § 142 Abs. 1 Satz 1, innerhalb der der Beschuldigte einen Verteidiger seiner Wahl bezeichnen kann, der zum Pflichtverteidiger bestellt werden soll, ist also keine Ausschlussfrist.
V. Verhältnis zu Absatz 1 Nummer 5 Von der Neuregelung bleibt der Anwendungsbereich des Absatzes 1 Nummer 5 24 unberührt; insbesondere ist dieser anwendbar, wenn sich der Beschuldigte in anderer Sache in Straf- oder Abschiebehaft befindet.93 Für Absatz 1 Nummer 5 verbleibt zudem ein sinnvoller Regelungsbereich bei der Unterbringung nach den §§ 63 ff. StGB, sowie für die Hauptverhandlungshaft nach §§ 127b den Abs. 2, 230 Abs. 2, 329 Abs. 4 und die Sicherungshaft nach § 453c Abs. 1, wobei in beiden letzteren Fällen in der Praxis in der Regel eine Haftdauer von drei Monaten nicht erreicht wird.94 Für die Fälle der Anstaltsunterbringung hat sich damit im Vergleich zur früheren Gesetzeslage im Grunde nichts geändert.95 Freilich stellt sich für den bereits in einer Anstalt Untergebrachten, der vor Ablauf der Drei-Monats-Frist in einem neuen Verfahren beschuldigt wird, das faktische Problem, nicht die erforderliche Freiheit für eine effektive Verteidigungsvorbereitung zu haben. Dies hat der Gesetzgeber jedoch – wenn auch aus kriminalpolitischer Sicht unverständlicherweise – sehenden Auges in Kauf genommen.96
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BGH (ER) v. 24.3.2010 – 2 BGs 87/10, dokumentiert bei Weider StV 2010 390, 391. OLG Karlsruhe StV 2010 179; LG Bonn StV 2010 180 f.; AnwK-UHaft/König 6. Vgl. HW Rn. 6 f. OLG Braunschweig StV 2012 401; LG Braunschweig StV 2010 69; LG Magdeburg
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StV 2012 525 f.; LG Magdeburg, Beschl. v. 26.03.2013 – 21 Qs 22/13 (unveröff.). BTDrucks. 16 13097 S. 18; vgl. oben Rn. 8. Vgl. SK/Wohlers 13; ders. StV 2010 151 (152); zu weiteren Fällen s. HW Rn. 34 ff. Jahn FS Rissing-van Saan 275, 282. Oben Rn. 8.
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VI. Vollstreckung in anderer Sache (Kumulationsfälle) 25
1. Allgemeines. Umstritten ist, ob vom Anwendungsbereich des Absatzes 1 Nummer 4 auch Fälle erfasst werden, bei denen in anderer, nicht aber in der anhängigen Sache Untersuchungshaft oder einstweilige Unterbringung vollstreckt wird, wenn sonst die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigung aus anderen Gründen nicht gegeben sind. Maßgeblich für die Entscheidung dieser Frage ist, ob Absatz 1 Nummer 4 verfahrensbezogen ist, d.h. in seiner Anwendung auf das Verfahren beschränkt ist, in dem Untersuchungshaft oder vorläufige Unterbringung vollstreckt wird. Der weit gefasste Wortlaut stellt nicht auf ein konkretes Verfahren, sondern auf die Vollstreckung von Untersuchungshaft überhaupt ab.97 Da bei dem in seinem Wortlaut fast identisch formulierten § 68 Nr. 5 JGG allgemein anerkannt ist, dass dem Beschuldigten auch dann ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist, wenn er sich in einem anderen Verfahren in Untersuchungshaft befindet,98 ist schon hiernach eine extensive Auslegung nicht fern liegend. Ausdrücklich geregelt ist dieser Fall im Gesetz aber nicht. Daraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, der Gesetzgeber habe diese Kumulationsfälle99 von der Neuregelung des Absatzes 1 Nummer 4 unberührt gesehen.100 Gemeinsamer Grund für die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist, dass der Beschuldigte nicht die Freiheit hat, sich selbst um das Erforderliche zu kümmern, und für diesen erheblichen Grundrechtseingriff ein Ausgleich geschaffen werden soll. Die Beeinträchtigung der Verteidigungsmöglichkeiten ist daher nicht verfahrensbezogen. Das Schweigen der Gesetzesmaterialien indiziert deshalb, dass der Gesetzgeber die zu der Nachbarvorschrift des Absatzes 1 Nummer 5 seit langem anerkannte Rechtsprechung stillschweigend rezipiert hat.101 Demnach ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn der Beschuldigte sich richterlich angeordnet oder genehmigt mindestens drei Monate in einer Anstalt befunden hat und nicht spätestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung entlassen wird. Dabei kann die dreimonatige Verwahrung verschiedene Sachen betreffen; eine Beziehung zu der zur Aburteilung anstehenden Tat wird nicht verlangt.102
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Zutr. LG Nürnberg-Fürth StV 2012 658; Heydenreich StRR 2012 103, 104 sowie O. Möller ZJJ 2008 10, 15 für § 68 Nr. 5 JGG. LG Berlin StV 2007 10; LG Saarbrücken ZJJ 2007 417 m. zust. Anm. O. Möller ZJJ 2008 10; Eisenberg § 68, 31. Zum Begriff Jahn FS Rissing-van Saan 275, 282. A.A. LG Saarbrücken StRR 2010 308 und Busch NStZ 2011 663, 664, die trotz Rezeption der Begründung des Gesetzgebers den Anwendungsbereich der Nummer 4 auf das Verfahren, in welchem die Untersuchungshaft vollstreckt wird, unter Verkennung des übergeordneten gesetzgeberischen Ziels der Stärkung der Beschuldigtenrechte im Ermittlungsverfahren beschränken. Auch das Argument Buschs, die Untersuchungshaft könne angesichts der stärkeren Beschränkung der Rechte des Beschuldigten nicht mit den freiheitsentziehenden Maß-
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nahmen nach Absatz 1 Nummer 5 auf eine Stufe gestellt werden, geht fehl. Daraus ist vielmehr zu schließen, dass für Maßnahmen mit stärkerem Eingriff die Rspr. zu Nummer 5, nach der auch Haftvollstreckungen in anderer Sache erfasst sind (HW Rn. 36), erst recht Anwendung finden muss. Ebenso OLG Frankfurt StV 2011 218 m. zust. Anm. Deutscher jurisPR extra 2011 34. Auch die strengeren Voraussetzungen des Absatzes 1 Nummer 5 stehen dem nicht entgegen, da der Gesetzgeber in Kenntnis dessen die Untersuchungshaft gegenüber anderen freiheitsentziehenden Maßnahmen privilegiert hat. A.A. AG Wuppertal NStZ 2011 720. Radtke/Hohmann/Reinhart 13; KK/Laufhütte 12; KMR/Haizmann 18; HW Rn. 32; LG Berlin StV 2011 665, 666; LG Ellwangen StV 2012 462; AG Tiergarten Beschl. v. 30.9.2008 – 315 Cs 3022 PLs 2342/08 (79/08) (unveröff).
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Auch die systematische Stellung der Neuregelung spricht gegen eine Beschränkung 26 der Beiordnung eines Pflichtverteidigers auf das Verfahren, in dem die Untersuchungshaft vollstreckt wird: Der Gesetzgeber hat die Verteidigerbestellung nicht in den Kontext der §§ 112 ff. gestellt, sondern gerade im Rahmen des § 140 ausgestaltet.103 Zuletzt ist auch nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift und unter Würdigung des vom Gesetzgeber durch das UHaftÄndG verfolgten Ziels, die Rechte des Beschuldigten zu stärken und der Tatsache, dass die bisherige Regelung des § 117 Abs. 4 a.F. als unzureichend empfunden wurde, eine extensive Auslegung geboten.104 Ein Fall notwendiger Verteidigung liegt also im Ergebnis auch dann vor, wenn in 27 anderer Sache in einem anderen Verfahren eine freiheitsentziehende Maßnahme im Sinne der §§ 112, 112a, 126, 275a Abs. 6 vollstreckt wird.105 Aus der Einschränkung des Anwendungsbereiches des Absatzes 1 Nummer 5 im Falle der Untersuchungshaft kann jedenfalls ein anderer Wille des Gesetzgebers nicht abgeleitet werden, denn die Regelung in Nummer 4 wurde erst sehr spät im Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Dabei wurde dessen einschränkende Wirkung bewusst hingenommen.106 Dem Gesetzgeber kam es maßgeblich auf die Unterscheidung zwischen Untersuchungshaft, die unter die Privilegierung der Nummer 4 fällt, und den sonstigen freiheitsentziehenden Maßnahmen an. Die Anwendbarkeit von Absatz 1 Nummer 4 auf Kumulationsfälle belässt Absatz 1 Nummer 5 zudem weiterhin einen eigenständigen Anwendungsbereich in den Fällen, in denen sich der Beschuldigte in einem anderen Verfahren schon über drei Monate in Untersuchungshaft befindet und diese zudem während der Hauptverhandlung fortdauert oder er in einem anderen Verfahren nach über drei Monaten kurzfristig vor der Hauptverhandlung aus der Untersuchungshaft entlassen wird.107 In diesen Fällen ist die Zuständigkeitszuweisung in § 141 Abs. 4 Halbsatz 2 teleologisch zu reduzieren, soweit die Notwendigkeit der Verteidigung in dem nicht die Haftsache betreffenden Verfahren außerhalb des Absatzes 1 Nummer 4 in Frage steht.108 Ergänzend ist daran zu erinnern, dass ein Verteidiger auch dann beizuordnen ist, 28 wenn dem Beschuldigten in dem Verfahren, für das er sich in Untersuchungshaft befin103
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So auch OLG Frankfurt StV 2011 218; LG Nürnberg-Fürth StV 2012 658. A.A. Busch NStZ 2011 663, 664 Fn. 19. OLG Frankfurt StV 2011 218 m. zust. Anm. Deutscher jurisPR extra 2011 34; LG Nürnberg-Fürth StV 2012 658; Burhoff StRR 2010 308; KMR/Haizmann 15; dem zust., aber im Ergebnis a.A. LG Bonn NStZ-RR 2012 15 f. m. zutr. abl. Anm. Krug FD-StrafR 2011 324299 und Anm. Heydenreich StRR 2012 103 f.; bestätigt durch Beschl. v. 11.10.2011 – 21 Qs – 664 Js 203/09 – 59/11, 21 Qs 59/11 (juris). OLG Frankfurt StV 2011 218; OLG Hamm Beschl. v. 3.9.2013 – 4 RVs 111/13 (unveröff.); LG Itzehoe StV 2010 562 f. m. zust. Anm. Tachau; LG Stade StV 2011 663 (LS); LG Köln StV 2011 663; LG Nürnberg-Fürth StV 2012 658; LG Berlin Beschl. v. 5.12. 2011 – 533 Qs 87/11 (juris); LG Frankfurt StV 2013 19 (LS); Herrmann StraFo 2011 133, 136; Brocke/Heller StraFo 2011 1, 8;
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Meyer-Goßner/Schmitt 14; SSW/Beulke 22; KMR/Haizmann 15; HK/Julius 8; Eisenberg § 68, 22a; Jahn FS Rissing-van Saan 275, 282 f. A.A. LG Saarbrücken StRR 2010 308 f. m. abl. Anm. Burhoff; LG Bonn NStZ-RR 2012 15 f. (Bestellung eines Verteidigers im Ermittlungsverfahren nur unter den Voraussetzungen des § 141 Abs. 3 Satz 2) m. zutr. abl. Anm. Krug FD-StrafR 2011 324299 und – insoweit abl. – Anm. Heydenreich StRR 2012 103 f.; Beschl. v. 11.10. 2011 – 21 Qs – 664 Js 203/09 – 59/11, 21 Qs 59/11 (juris); LG Oldenburg ZJJ 2011 461 m. zust. Anm. Sommerfeld; AG Wuppertal NStZ 2011 720; Peters/Krawinkel StRR 2011 4, 8; Wohlers StV 2010 151, 152. Zutr. LG Itzehoe StV 2010 562, 563 m. Anm. Tachau; LG Köln StV 2011 663; Burhoff StRR 2010 308. A.A. Busch NStZ 2011 663, 664. Erg. Nachtr. § 141, 32.
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det, schon ein Wahl- oder Pflichtverteidiger beisteht.109 Absatz 1 Nummer 4 will nicht der Erheblichkeit der Vorwürfe Rechnung tragen, sondern den im Falle der Inhaftierung bezüglich aller Verfahren und Tatvorwürfe vorhandenen tatsächlichen Nachteilen entgegenwirken, sich hinreichend effektiv verteidigen zu können.
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2. Überhaft. Die Überhaft ist eine Untergruppe im Rahmen der Kumulationsfälle. Der Beschuldigte befindet sich hier in einem anderen Verfahren schon in Straf- oder Untersuchungshaft und die Untersuchungshaft für ein weiteres Verfahren ist nur als Überhaft notiert und wird noch nicht vollstreckt. Die Notwendigkeit der Verteidigung ergibt sich auch in diesen Fällen aus der Beschränkung der Verteidigungsmöglichkeit aufgrund der Inhaftierung und zwar unabhängig von deren Rechtsgrundlage. Es ist daher wie folgt zu differenzieren: Befindet sich der Beschuldigte in Unter30 suchungshaft und wird der weitere Haftbefehl deswegen nicht vollstreckt, so liegt nach den oben dargelegten Gründen ein Fall des Absatzes 1 Nummer 4 vor.110 Befindet sich der Beschuldigte dagegen in einem anderen Verfahren in Strafhaft und wird deshalb der Haftbefehl nicht vollzogen, so ist der Anwendungsbereich der Nummer 4 – unabhängig von der Streitfrage, auf welches Verfahren sich der Vollzug der Untersuchungshaft erstreckt – nicht eröffnet, da tatsächlich überhaupt keine Untersuchungshaft vollstreckt wird. Obwohl gegen den in Strafhaft befindlichen Beschuldigten dann in der Regel Beschränkungsanordnungen nach § 119 Abs. 1, 6 getroffen werden, ist aufgrund des eindeutigen Gesetzeswortlauts lediglich unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 Nummer 5 (oder des Absatzes 2) notwendige Verteidigung denkbar,111 auch wenn eine solche im Sinne des Beschuldigten wünschenswert wäre.112 Gerichtliche Entscheidungen zu letztgenannter Konstellation stehen – soweit ersichtlich – derzeit noch aus.
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3. Prozessuales. Die Beschwerde gemäß § 304 Abs. 1 gegen den Ablehnungsbeschluss einer Beiordnung als notwendiger Verteidiger ist auch noch nach Abschluss des Strafverfahrens zulässig. Die notwendige Beschwer des Angeklagten liegt noch so lange vor, wie die Entscheidung noch nicht rechtskräftig ist. Wurde die Beiordnung eines Verteidigers nach Absatz 1 Nummer 4 abgelehnt, obwohl sich der Beschuldigte in anderer Sache in Untersuchungshaft befindet, ist eine Ausnahme von dem Grundsatz der Unzulässigkeit der nachträglichen Beiordnung nach Abschluss des Verfahrens113 zu machen. Voraussetzung hierfür ist, dass der Antrag auf Beiordnung ordnungsgemäß vor Abschluss des Strafverfahrens und damit rechtzeitig gestellt wurde, die Voraussetzungen des § 140 vorlagen und das Begehren auf Beiordnung in verfahrensfehlerhafter Weise behandelt wurde.114 109 110 111
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LG Berlin StV 2007 10, 12 (zu § 68 Nr. 4 JGG). Ohne Begr. ebenso LG Berlin Beschl. v. 5.12.2011 – 533 Qs 87/11 (juris). Vgl. LG Saarbrücken StRR 2010 308; Brocke/Heller StraFo 2011 1, 8. A.A. Heydenreich StRR 2012 103, 104; SSW/Beulke 22. So auch Wohlers StV 2011 151, 152 Fn. 22; erg. oben Rn. 8. OLG Köln NStZ 2011 325; LG Leipzig Beschl. v. 4.7.2011 – 6 Qs 31/11 (unveröff.); HW § 141, 11; erg. oben Rn. 16. LG Stade Beschl. v. 30.3.2011 – 11c Qs 123 Js 23 051/10 (55/11) (juris; insoweit in StV
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2011 663 nicht abgedr.); LG Itzehoe NStZ 2011 56 (insoweit in StV 2010 562 nicht abgedr.); LG Itzehoe Beschl. v. 25.11.2008 – jug 1 Qs 29/08 (unveröff.); LG Köln StV 2011 663 (Ablehnungsbeschluss nach Einstellung gem. § 154); enger LG Dresden StV 2011 666 (nur bei offenkundiger Untätigkeit des Gerichts) sowie LG Frankfurt StV 2013 19 (LS). In der (unveröff.) Begr. heißt es: „Dem AG ist zwar zuzugeben, dass die Anwendung dieser Vorschrift (§ 140 Abs. 1 Nr. 4 – d. Verf.) nicht mehr in Betracht kommt, wenn zum frühstmöglichen Zeitpunkt der Entscheidung keine Untersuchungshaft mehr vollzogen wird. Dieser
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B. Änderungen durch das StORMG I. Bedeutung Durch Einfügung einer Nummer 9 in den Katalog des Absatzes 1 hat der Gesetzgeber 32 noch gegen Ende der 17. Legislaturperiode und nach jahrelangem Ringen u.a. am sog. „Runden Tisch Sexueller Kindesmissbrauch“ wegen anderer Regelungen des StORMG115 den Katalog der allgemeinen Tatbestände der notwendigen Verteidigung erweitert.116 Das StORMG dient primär der Vermeidung mehrfacher Vernehmungen des Verletzten, 33 der Ausweitung der Bestellung des sog. Opferanwalts und damit im Ganzen der Stärkung von Verletztenrechten. Außerdem wurde die Verjährung zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche zugunsten der Verletzten von sexuellen Missbrauchsdelikten und anderen vorsätzlichen Verletzungen höchstpersönlicher Rechtsgüter verlängert.117 Mit der Regelung in Absatz 1 Nummer 9 soll hingegen ein Ausgleich zwischen den Beteiligungsrechten des Verletzten und den Verteidigungsrechten des Beschuldigten geschafft werden. Damit soll den Geboten des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit Rechnung getragen werden.118
II. Einzelheiten In Absatz 2 war bereits mit dem Opferschutzgesetz vom 18.12.1986119 festgeschrie- 34 ben worden, dass dem Beschuldigten insbesondere dann die Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen, fehlen kann, wenn dem Verletzten nach den §§ 397a und 406g Abs. 3 und 4 ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist. Die Folge ist regelmäßig die notwendige Beiordnung eines Verteidigers.120 Jenes Regelbeispiel ist nun mit dem StORMG durch den Tatbestand des Absatzes 1 Nummer 9 ersetzt worden, womit dem Beschuldigten in derartigen Konstellationen zwingend ein Verteidiger zu bestellen ist. Dem Gericht steht also insoweit kein – auch kein reduziertes – Ermessen mehr zu. Dies ist rechts- und verfassungspolitisch zu begrüßen – und als Kompensation für das mit dem StORMG nochmals erweitere Rechteportfolio des Verletzten auch in der Sache geboten.121
115
Zeitpunkt hätte jedoch – entgegen der Auffassung des AG – noch vor der Haftentlassung der Besch. gelegen (…). Indem das AG die Vollstreckungsübersicht jedoch erst am (…) anforderte (…), hat es den Entscheidungszeitpunkt für den Beiordnungsantrag ohne erkennbaren Grund – weitere vorrangige Bearbeitungsschritte sind der Akte nicht zu entnehmen – nach hinten verschoben, so dass der Beschwerde zu entsprechen war“. A.A. LG Oldenburg Beschl. v. 24.5.2011 – 6 Qs 21/11 (juris; insoweit in ZJJ 2011 461 nicht abgedr.). Die erste Beratung im BT fand bereits am 7.7.2011 statt, eine öffentliche Anhörung vor dem Rechtsausschuss des BT am 26.10.2011. Die hier in Rede stehenden Änderungen in den §§ 140–142 waren frei-
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lich unstreitig und wurden vom BTRAussch. (BTDrucks. 17 12735 S. 7; Beschlussempfehlung vom 13.3.2013) nicht angetastet. Weiter gehend de lege ferenda GraalmannScheerer StV 2011 696. S. RegE v. 22.6.2011, BTDrucks. 17 6261 S. 1 und zum Ganzen v. Galen StV 2013 171, 173; F. Peter StraFo 2013 199, 202 f. RegE v. 22.6.2011, BTDrucks. 17 6261 S. 11; Meyer-Goßner/Schmitt 20a. Vgl. hierzu Jahn FH Tepperwien 25, 26; allg. LR/Kühne HW Einl. I, 117. BGBl. I S. 2496. HW Rn. 101. Zur jüngeren Entwicklung zusf. Jahn/Bung StV 2012 754, 760 ff.; erg. Rn. 39; MeyerGoßner/Schmitt § 140, 20a, 31.
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Neben den beiden angesprochenen Gesichtspunkten des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit soll die Neuregelung des Absatzes 1 Nummer 9 nach dem RegE auch den Opferschutz verbessern. Schließlich könne für den Verletzten die Auseinandersetzung mit einem unverteidigten Angeklagten sehr viel belastender sein als der Umgang mit einem Pflichtverteidiger.122 Ob dies tatsächlich für die Mehrzahl derartiger Fälle angenommen werden kann, erscheint angesichts der dann eigentlich waffenmäßig überlegenen Stellung des verteidigten Verletzten zweifelhaft. In Einzelfällen können allerdings durchaus größere Strapazen für den Verletzten daraus resultieren, dass auf Seiten des Beschuldigten kein Verteidiger agiert, der moderierend auftritt und gegebenenfalls mäßigend auf den Angeklagten einwirkt. Wenn auf Seiten des Verletzten kein Pflicht-, sondern ein Wahlverteidiger auftritt, gilt 36 Absatz 1 Nummer 9 auf Grund des eindeutigen Wortlauts bedauerlicherweise nicht.123 Auch eine Analogie scheidet wegen des klar artikulierten gesetzgeberischen Willens aus. Vielmehr kommt insoweit nur der Auffangtatbestand des Absatzes 2 in Betracht.124 Nach den tragenden Rechtsgedanken des Absatzes 1 Nummer 9 (Waffengleichheit und faires Verfahren125) ist dem Beschuldigten aber auch in derartigen Fällen im Regelfall ein Verteidiger beizuordnen.126 Aus seiner Sicht macht es schließlich keinen spürbaren Unterschied, ob sich der Verletzte auf eigene oder auf Kosten des Staates eines Rechtsanwalts bedient. Wird eine zunächst erfolgte Bestellung eines Verletztenvertreters wieder aufgehoben, 37 so liegt auch kein Fall notwendiger Verteidigung nach Absatz 1 Nummer 9 mehr vor. Dem Beschuldigten ist somit konsequenterweise – sofern kein anderer Tatbestand notwendiger Verteidigung eingreift – kein Pflichtverteidiger beizuordnen. Wie aber ist zu verfahren, wenn letzteres zwischenzeitlich bereits geschehen ist, weil die Voraussetzungen dafür zunächst vorlagen? Richtigerweise muss in einem solchen Fall die Bestellung wegen wesentlicher Änderung der Umstände analog § 143 widerrufen werden,127 da ein Zustand der Waffengleichheit dann auch (bzw. – streng genommen – nur) ohne den Verteidiger auf Beschuldigtenseite gegeben ist. Nichts anderes kann gelten, wenn sich (nachträglich) herausstellt, dass die Bestellung des Anwalts des Verletzten unwirksam war und letzterer sodann im weiteren Verfahren ohne Rechtsbeistand bleibt. Beide Konsequenzen sind misslich, aber – wenn nicht aus anderen Gründen Absatz 2 greift – de lege lata nicht zu vermeiden. Selbstverständlich darf dem Beschuldigten nicht derselbe Rechtsanwalt beigeordnet 38 werden wie dem Verletzten. Dieses ohne Weiteres einleuchtende Ergebnis ergibt sich aus einer hier ausnahmsweise statthaften Anwendung des Rechtsgedankens des § 146.128 Problematisch ist aber der Fall, in dem der Beschuldigte die Beiordnung eines Verteidi-
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RegE v. 22.6.2011, BTDrucks. 17 6261 S. 11; zust. Nemetz Schriftliche Stellungnahme zu den Entwürfen eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs, 2. A.A. Böttcher Schriftliche Stellungnahme zu den Entwürfen eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs, jeweils abrufbar über www.bundestag.de, 4. Krit. mit Recht Strafverteidigervereinigungen (Stellungnahme) III.3; Deutsche Strafverteidiger e.V. (Stellungnahme) 4.
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RegE v. 22.6.2011, BTDrucks. 17 6261 S. 11; Eisenberg HRRS 2011 64, 69; MeyerGoßner/Schmitt 31. S. oben Rn. 33. Vgl. HW Rn. 101 m.w.N.; SSW/Beulke 33. A.A. KG StRR 2012 260 m. Anm. Burhoff. Vgl. allg. HW § 143, 8 m.w.N. KK/Laufhütte § 146, 4; siehe aber im Übrigen HW § 146, 10a a.E.
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gers wünscht, der derselben Sozietät wie der Anwalt des Verletzten angehört. Gem. § 142 Abs. 1 Satz 2 kann sich das Gericht nur dann gegen den gewünschten Verteidiger entscheiden, wenn der Bestellung ein wichtiger Grund entgegensteht.129 Wie beim Fall der Vertretung mehrerer Beschuldigte durch jeweils andere Verteidiger, die in einer Anwaltssozietät zusammengeschlossen sind,130 wird man davon ausgehen müssen, dass letztlich kein Verbotsfall nach dem Rechtsgedanken des § 146 vorliegt. Weil es sich bei § 142 Abs. 1 Satz 2 um eine streng zu handhabende Ausnahmevorschrift handelt,131 darf richtigerweise ein wichtiger Grund nur dann bejaht werden, wenn konkrete Hinweise auf das Bestehen eines Interessenskonflikts vorliegen.132
C. Weitergehender Regelungsbedarf nach UHaftÄndG und StORMG Für das Recht der Strafverteidigung hat das UHaftÄndG begrüßenswerte inhaltliche 39 Neuregelungen gebracht, auch wenn im Detail den legitimen Verteidigungs- und Informationsinteressen des inhaftierten Beschuldigten nicht immer ausdrücklich Rechnung getragen wurde. Dadurch entstandene Regelungslücken und Unklarheiten können weitgehend im Wege der Auslegung beseitigt werden. Offen – und durch Auslegung nur in gewissen Grenzen zu „reparieren“ – ist hingegen noch die rechtspolitische Zukunft der Frage des Zeitpunkts der Beiordnung gemäß § 141 Abs. 3 Satz 4.133 Es ist darüber hinaus anzuerkennen, dass sich der Gesetzgeber um einen weiteren Ausbau der Garantien einer rechtsstaatlichen Verteidigung bemüht134 und – nicht zuletzt im Hinblick auf das 2. OpferRRG und das StORMG – versucht hat, die Balance mit den beständig weiter ausgebauten Rechten des Verletzten im Strafverfahren nicht gänzlich aus dem Auge zu verlieren.135 Neben der Erstreckung des neuen Absatzes 1 Nummer 9 auf den Wahlverteidiger136 40 wäre hingegen noch eine andere Erweiterung der notwendigen Verteidigung im Zuge des StORMG wünschenswert gewesen. Durch Art. 1 Nrn. 3 und 6 StORMG ist der Anwendungsbereich der §§ 58a, 255a ausgedehnt worden.137 Es wird in der Folge zukünftig öfter als bisher in einem frühen Verfahrensstadium zu Bild-Ton-Aufzeichnungen von richterlichen Vernehmungen kommen, die in der späteren Hauptverhandlung gem. § 255a Abs. 2 als Ersatz für die (nochmalige) Vernehmung des Zeugen vorgespielt werden können. Nach angreifbarer, aber verbreiteter Auffassung138 kann eine Bild-TonAufzeichnung nach § 58a auch dann stattfinden, wenn der Beschuldigte keinen Verteidiger hat. Richtigerweise dürfte eine solche Situation in der Praxis allerdings gar nicht auftreten. Es gebietet nämlich das Gebot der Waffengleichheit und die Sicherung des Rechts auf konfrontative Befragung, dem Beschuldigten rechtzeitig vor einer solchen Vernehmung einen Pflichtverteidiger (de lege lata über Absatz 2) beizuordnen, wobei das Ermessen der Staatsanwaltschaft nach § 141 Abs. 3 Satz 2 als auf Null reduziert anzu-
129 130 131 132
133
Vgl. allg. zu den wichtigen Gründen HW § 142, 19 ff. sowie erg. Nachtr. § 142, 4 ff. HW § 146, 15. HW § 142, 20. So für den Fall der Vertretung mehrerer (Mit-)Beschuldigter durch Mitglieder derselben Sozietät zuletzt OLG Stuttgart NStZ-RR 2011 279; hierzu HW § 142, 21a. Nachtr. § 141, 6 f.
134 135 136 137 138
Vgl. oben Rn. 1. Jahn FS Rissing-van Saan 275, 298 f.; oben Rn. 34. Vgl. oben Rn. 36. Näher hierzu Meyer-Goßner § 58a, 6. Meyer-Goßner § 255a, 8a; KK/Diemer § 255a, 10; Seitz JR 1998 309, 313. A.A. Schlothauer StV 1999 47, 49.
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sehen ist.139 Nur auf diese Weise ist sichergestellt, dass im Rahmen der Vernehmung nach vorheriger Akteneinsicht das Fragerecht effektiv ausgeübt werden kann. Jedoch ist durch die derzeitige Gesetzeslage nicht gewährleistet, dass eine Pflichtverteidigerbeiordnung mit der hier vertretenen Ansicht auch in jedem Falle tatsächlich zu dem gebotenen frühen Zeitpunkt erfolgt. Daher ist zu fordern, dass die §§ 140 Abs. 1, 141 Abs. 3 dahingehend angepasst werden, dass dem Beschuldigten im Falle einer beabsichtigten Durchführung einer richterlichen Vernehmung als Bild-Ton-Aufzeichnung gesetzlich zwingend ein Verteidiger beigeordnet wird.140 Daneben ist auch für den Fall, dass durch das Gericht und/oder die Staatsanwalt41 schaft eine Verständigung nach § 257c in Betracht gezogen wird, die Aufnahme eines Tatbestands notwendiger Verteidigung in den Katalog des Absatzes 1 zu erwägen. Leider hat hierauf das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009 verzichtet141 und die – gebotene –142 Anwendung der Generalklausel des Absatzes 2 ist mit Imponderabilien belastet. In Fällen kleinerer und mittlerer Kriminalität wird nämlich ein Rückgriff auf Absatz 2 in der Praxis auch im Verständigungsfall – wenn auch zu Unrecht – häufig problematisiert. Auch dann, wenn eine Verständigung im Jugendstrafverfahren stattfindet, liegt nach dem Willen des Gesetzgebers (immerhin) in der Regel, nicht aber stets ein Fall der notwendigen Verteidigung vor.143 Dies bedarf ebenfalls – neben weiteren bedenkenswerten Vorschlägen der Vereinheitlichung, Klarstellung und Straffung des geltenden Rechts144 – der Korrektur.
§ 141 (1) In den Fällen des § 140 Abs. 1 Nr. 1 bis 3, 5 bis 9 und Abs. 2 wird dem Angeschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, ein Verteidiger bestellt, sobald er gemäß § 201 zur Erklärung über die Anklageschrift aufgefordert worden ist. (2) … (3) 1… 2… 3… 4Im Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 4 wird der Verteidiger unverzüglich nach Beginn der Vollstreckung bestellt. (4) Über die Bestellung entscheidet der Vorsitzende des Gerichts, das für das Hauptverfahren zuständig oder bei dem das Verfahren anhängig ist, oder das Gericht, das für
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LR/Mosbacher HW § 255a, 13 unter Hinweis auf BGHSt 46 93. Weiter gehend Esser FS Kühne 539, 560 ff. Ebenso BRAK Stellungnahme Nr. 35/2011 10; DAV Stellungnahme Nr. 10/2011 5; Strafverteidigervereinigungen (Stellungnahme) III.3 und 4; vgl. auch Deutsche Strafverteidiger e.V. (Stellungnahme) 3; v. Galen Schriftliche Stellungnahme zu den Entwürfen eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs, abrufbar über www.bundestag.de, 5. BGBl. I S. 2353. Jahn/Müller NJW 2009 2625, 2627; Graalmann-Scheerer StV 2011 696, 698.
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BTDrucks. 16 11736 S. 10; vgl. dazu Nowak JR 2010 248, 255 f. Zusf. Graalmann-Scheerer StV 2011 696, 700: „Das Recht der notwendigen Verteidigung ist reformbedürftig und insgesamt für alle Verfahrensstadien – auch für die Vollstreckung – in § 140 zu regeln. Der Katalog des Absatz 1 wird (…) erweitert werden müssen. § 140 Abs. 2 sollte um einen Regelbeispielkatalog ergänzt werden, der die wesentlichen, von der obergerichtlichen Rechtsprechung entschiedenen Konstellationen enthalten sollte“.
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eine von der Staatsanwaltschaft gemäß § 162 Abs. 1 Satz 1 oder Satz 3 beantragte richterliche Vernehmung zuständig ist, wenn die Staatsanwaltschaft dies zur Beschleunigung des Verfahrens für erforderlich hält; im Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 4 entscheidet das nach § 126 oder § 275a Abs. 6 zuständige Gericht.
Schrifttum Beulke Gesamtreform der StPO-Vorschriften über „Verteidigung“ – notwendig und wünschenswert? StV 2010 442; Bittmann Änderungen im Untersuchungshaftrecht, JuS 2010 510; ders. Gesetz zur Änderung der Untersuchungshaftrechts, NStZ 2010 13; BRAK Thesen zur Praxis der Verteidigerbestellung nach §§ 140 Abs. 1 Ziff. 4, 141 Abs. 3 Satz 4 StPO i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009, StV 2010 544; Brocke/Heller Das neue Untersuchungshaftrecht aus der Sicht der Praxis – Zwischenbilanz nach einem Jahr, StraFo 2011 1; Busse Frühe Strafverteidigung und Untersuchungshaft, Diss. Göttingen 2008; DAV Empfehlungen zur Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigerinnen und Pflichtverteidigern nach Inkrafttreten der Neuregelungen in §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 StPO, Stellungnahme Nr. 55/2009, abrufbar über anwaltverein.de; Deckers Reform des Strafprozesses – Unverzichtbares aus Sicht der Verteidigung, StraFo 2006 269; ders. 25 Jahre Strafverteidigung im Gegenwind, StraFo 2009 2; ders. Einige Bemerkungen zum Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009, das am 1.1.2010 in Kraft tritt, StraFo 2009 441; Esser Zur Bestellung des Verteidigers im Ermittlungsverfahren, FS Kühne 539; Fühling Ungerecht und praxisuntauglich, DRiZ 2010 17; D. Herrmann Aktuelles zur Pflichtverteidigung, StraFo 2011 133; Heydenreich Die Beiordnung des notwendigen Verteidigers nach neuem Recht, StRR 2009 444; ders. Die unverzügliche Beiordnung – Fluch oder Segen? StraFo 2011 263; ders. Die Beiordnung des Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 – Der schwierige Versuch einer statistischen Erfassung, StV 2011 700; Huff Pflichtverteidigerlisten – eine Aufgabe der Rechtsanwaltskammer? Unveröff. Referat auf der 209. Sitzung des Strafrechtsausschusses der BRAK in Hamburg am 17.10.2009; Ignor Endlich mehr Rechte für den inhaftierten Beschuldigten, BRAKMagazin 06/2009 3; Jahn Untersuchungshaft und frühe Strafverteidigung im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, FS Rissing-van Saan 275; Stefan König Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts, abrufbar über webarchiv.bundestag.de; ders. Untersuchungsgefangene bekommen mehr Rechte, AnwBl. 2010 50; Kortz Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, Diss. Bonn 2009; Lam/Meyer-Mews Die gestörte Verteidigung – Möglichkeiten und Grenzen des Widerrufs der Pflichtverteidigerbestellung, NJW 2012 177; Latz Eine effektive Hilfestellung DRiZ 2010 16; Lewitzki/Thielmann Ein Plädoyer gegen das richterliche Ermessen bei der Pflichtverteidigerauswahl, DRiZ 2011 306; Reinhart Michalke Reform der Untersuchungshaft – Chance vertan? NJW 2010 17; Püschel Vermeidung von Untersuchungshaft, StraFo 2009 134; Schlothauer Pflichtverteidigerbeiordnung nach Inhaftierung, FS Samson 709; F. Schmidt Die Problematik des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO in der Praxis, NJ 2012 284; Schultheis Übersicht über die Rechtsprechung in Untersuchungshaftfällen, NStZ 2013 87; Strafverteidigervereinigungen Gemeinsame Empfehlungen zur Praxis der Beiordnung von notwendigen Verteidigern ab dem 1.1.2010, StV 2010 109; Strafverteidigervereinigung NRW Zur Praxis der Beiordnung von notwendigen Verteidigern ab dem 1.1.2010, abrufbar über strafverteidigervereinigung-nrw.de; Thielmann Ein Plädoyer für die Transparenz bei der Pflichtverteidigerbeiordnung, HRRS 2009 452; ders. Aus dem dunklen Kämmerlein ins helle Licht – Die Zukunft der richterlichen Beiordnungspraxis, NJW 2011 1927; Tsambikakis Moderne Einwirkungen auf die Strafprozessordnung – Beispiel: Untersuchungshaft, ZIS 2009 503; Weider Das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts, StV 2010 102; ders. Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts, abrufbar über webarchiv.bundestag.de; Wenske Die Beiordnung des „Pflichtverteidigers“ (§§ 141 Abs. 4, 142 StPO) – Alte Fragen im neuen Gewand? NStZ 2010 479; Wohlers Die „unverzügliche“ Beiordnung eines Pflichtverteidigers: Gefährdung des Anspruchs auf effektive Verteidigung? StV 2010 151; vgl. im Übrigen die Schrifttumsnachweise bei § 140.
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Änderungen. Absatz 1 ist durch Art. 1 Nr. 9b lit. a des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts (UHaftÄndG) vom 29.7.20091 mit Wirkung vom 1.1.2010 an die ebenfalls geänderte Fassung des § 140 Abs. 1 angepasst worden. Der Verweis auf § 140 Abs. 1 erfasst nun alle Ziffern desselben unter Ausklammerung des dort neu eingefügten § 140 Abs. 1 Nr. 4. Absatz 3 wurde im Rahmen des Art. 1 Nr. 9b lit. b UHaftÄndG um einen Satz 4 ergänzt, welcher nunmehr auf die neue Fallgruppe der notwendigen Verteidigung des § 140 Abs. 1 Nr. 4 Bezug nimmt. Ebenso wurde Absatz 4 auf Grund des Art. 1 Nr. 9b lit. c UHaftÄndG durch Einfügung eines zweiten Halbsatzes an die neue Fassung des § 140 Abs. 1 sowie des damaligen § 275a Abs. 5 angepasst. Im Anschluss daran wurde durch Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen (SiVerwNOG) vom 22.12.20102 mit Wirkung vom 1.1.2011 der Verweis auf § 275a an die neue Rechtslage angepasst und auf Absatz 6 geändert.3 Durch Art. 1 Nr. 4 lit. a des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) vom 26.6.20134 ist mit Wirkung vom 1.9.2013 in Absatz 1 die Angabe „8“ durch die Angabe „9“ ersetzt worden. Ferner ist durch Art. 1 Nr. 4 lit. b StORMG Absatz 4 neu gefasst worden.
Übersicht Rn. A. Änderungen durch das UHaftÄndG und das SiVerwNOG I. Bedeutung und Reformgeschichte . . . . II. Zeitpunkt der Beiordnung gemäß Absatz 3 Satz 4 1. Begriff des „Beginns der Vollstreckung“ a) De lege lata . . . . . . . . . . . . . b) De lege ferenda . . . . . . . . . . . 2. Begriff der „Unverzüglichkeit“ a) Bedeutung des Kriteriums . . . . . b) Geltung von § 142 Abs. 1 Satz 2 . . c) „Unverzüglich“ ist nicht „sofort“ . d) Wochenfrist entsprechend der Interessenlage bei wichtigen Rechtsbehelfsfristen . . . . . . . . . . . . e) Folge bei Benennung durch den Beschuldigten . . . . . . . . . . . . .
Rn.
1
4 5 6 8 10 16
18
f) Folge bei Nichtbenennung durch den Beschuldigten . . . . . . . . . . . . aa) Sachliche Kriterien der Pflichtverteidigerauswahl . . . . . . . bb) „Schematische“ Bestellung und richterliche Unabhängigkeit . . g) Bestellung eines Notverteidigers bei dringenden Ermittlungshandlungen analog § 118a Abs. 2 Satz 3 . . . . III. Zuständigkeit für die Bestellung 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . 2. Kumulationsfälle . . . . . . . . . . . . IV. Folge bei unterlassener unverzüglicher Beiordnung . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Änderungen durch das StORMG . . . . .
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A. Änderungen durch das UHaftÄndG und das SiVerwNOG I. Bedeutung und Reformgeschichte 1
Durch das UHaftÄndG wurde in § 140 Abs. 1 Nr. 4 eine weitere Fallgruppe der notwendigen Verteidigung eingefügt für den Fall, dass gegen einen Beschuldigten Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a oder einstweilige Unterbringung nach § 126a oder 1 2 3
BGBl. I S. 2274. BGBl. I S. 2300. Vgl. ferner zu den durch das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren geänderten, § 141 in Bezug
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nehmenden Belehrungsvorschriften. Nachtr. (Gesetzgebungsgeschichte) § 140 Fn. 4. BGBl. I S. 1805; siehe dazu Nachtr. § 140, 32 f.
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§ 275a Abs. 6 5 vollstreckt wird.6 Der in Absatz 1 vorgesehene Zeitpunkt der Verteidigerbestellung im Anschluss an die Aufforderung zur Erklärung über die Anklageschrift (§ 201) wird für den Fall der Anordnung der Untersuchungshaft nicht übernommen. Vielmehr erfolgt diesbezüglich eine gesonderte Regelung in Absatz 3 Satz 4, wonach ein Verteidiger unverzüglich nach Beginn der Vollstreckung der Untersuchungshaft bestellt wird. Des Weiteren wird die Zuständigkeit für die Bestellung in Absatz 4 durch das UHaftÄndG abweichend geregelt. Durch die neue Regelung in Absatz 3 Satz 4 (i.V.m. § 140 Abs. 1 Nr. 4) normiert der 2 Gesetzgeber eine seit langem durch die Anwaltschaft, aber auch in Wissenschaft und Rechtspolitik erhobene rechtspolitische Forderung:7 Der Zeitpunkt der notwendigen Beiordnung eines Verteidigers bei einer Inhaftierung des Beschuldigten wird nach vorne verlagert. Nach der bis zum 1.1.2010 gültigen Rechtslage war dem inhaftierten Beschuldigten erst nach Vollzug von drei Monaten Untersuchungshaft auf Antrag ein Pflichtverteidiger zwingend beizuordnen (§ 117 Abs. 4 Satz 1 a.F.) sowie eine Beiordnung im Vorverfahren von einem Antrag der Staatsanwaltschaft abhängig (§ 141 Abs. 3 a.F.), was den Beschuldigteninteressen nicht ausreichend Rechnung trug. Da nunmehr kein Fall mehr denkbar ist, in welchem sich der Beschuldigte unverteidigt drei Monate in Haft befindet, wurde die Haftprüfung nach § 117 Abs. 5 a.F. aufgehoben. Für den Beschuldigten wurde die Situation unter Geltung der alten Rechtslage zudem dadurch verschärft, dass die Möglichkeit der Beiordnung eines Verteidigers im Ermittlungsverfahren auch schon vor Ablauf der Drei-Monats-Frist des § 140 Abs. 1 Nr. 5 in der Praxis die Ausnahme darstellte.8 Remedur sah die Rechtsprechung nur für Fälle vor, in denen anderenfalls ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens und die menschenrechtlichen Mindeststandards evident gewesen wäre: Eine Beiordnung im Ermittlungsverfahren musste demnach auch nach der Rechtslage vor dem 1.1.2010 über § 140 Abs. 2 jedenfalls dann erfolgen, wenn Belastungszeugen unter Ausschluss des Beschuldigten ermittlungsrichterlich vernommen werden sollten,9 dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Erlass eines Haftbefehls ein Verbrechen zu Grunde lag,10 der Beschuldigte zu einem komplexen Gutachten Stellung nehmen sollte11 oder auch für den Fall der Anordnung und Vollstreckung von Untersuchungshaft, um das Recht auf Akteneinsicht über den Pflichtverteidiger umfassend wahrnehmen zu können.12 Obgleich im Gesetzgebungsverfahren die Verteidigerbestellung teilweise bereits für 3 den Zeitpunkt befürwortet wurde, in dem die Staatsanwaltschaft in der Vorführungsverhandlung Antrag auf Erlass eines Haftbefehls zu stellen beabsichtigt (§§ 125, 128 Abs. 2 Satz 2), hat sich der Bundesgesetzgeber schlussendlich nur zu einem Kompromiss durchringen können: Nach Absatz 3 Satz 4 geht (erst) mit Beginn der Vollstreckung der Untersuchungshaft oder der einstweiligen Unterbringung die notwendige Verteidigung einher.13
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Der Verweis auf Abs. 6 statt auf Abs. 5 stellt eine Folgeänderung im Rahmen des SiVerwNOG dar, vgl. oben Änderungen sowie Nachtr. § 140, 4. Nachtr. § 140, 3. Umfassende Nachw. Nachtr. § 140, 1 f. Wohlers StV 2010 151; ausf. Busse 61 ff.; Kortz 118. BGHSt 46 93, 99 f.; 47 233, 236; erg. HW Rn. 24a.
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BGHSt 47 172, 176 f.; HW Rn. 24a. BGHSt 47 233, 236; OLG Zweibrücken Beschl. v. 6.7.2009 – 1 Ws 151/09 (juris); OLG Karlsruhe Beschl. v. 20.3.2009 – 2 Ws 112/09 sowie HW § 140, 75 u. 76a. Nachtr. § 147, 17. Zur Bewertung siehe Nachtr. § 140, 2.
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II. Zeitpunkt der Beiordnung gemäß Absatz 3 Satz 4 4
1. Begriff des „Beginns der Vollstreckung“. In zeitlicher Hinsicht knüpft die Bestellung an den Beginn der Vollstreckung der Untersuchungshaft an. Umstritten ist hierbei, ob der Begriff der Vollstreckung der Untersuchungshaft in diesem Kontext lediglich die tatsächliche Inhaftierung auf Grund erlassenen Haftbefehls erfasst oder ob darüber hinaus auch die früheren Zeitpunkte der vorläufigen Festnahme oder des Antrages der Staatsanwaltschaft auf einen Haftbefehl unter den Begriff der „Vollstreckung“ fallen.
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a) De lege lata. Ausgehend vom Wortlaut von Absatz 3 Satz 4 und § 140 Abs. 1 Nr. 4 ist eine Beiordnung nicht schon erforderlich für das Verfahren, in dem die Haft angeordnet wird und für die Festnahme nach Erlass eines Dezernatshaftbefehls. Zu diesen Zeitpunkten fehlt es noch an einer Anordnung bzw. einem Vollzug des Haftbefehls.14 Die Vollstreckung der Untersuchungshaft „beginnt“ nicht mit der Festnahme. Diese dient lediglich der Vorführung vor den zuständigen Richter. Der entscheidende Zeitpunkt ist also erst – aber auch gerade – derjenige der Anordnung der Vollstreckung.15 Einer Auslegung des Absatzes 3 Satz 4 dahin, dass schon vor der ersten Vernehmung durch den Haftrichter nach § 115 Abs. 2 ein Verteidiger beizuordnen ist, steht – auch wenn diese Forderung nach einer noch frühzeitigeren Beiordnung inhaltlich letztlich berechtigt ist16 – der Wortlaut („nach Beginn der Vollstreckung“) entgegen. Auch die bestens dokumentierte Gesetzgebungsgeschichte17 zeigt, dass sich der Rechtsausschuss mit dem zeitlichen Moment intensiv beschäftigt hat, so dass eine andere Auslegung den Willen des Normgebers (und nicht nur, wie sonst häufig, denjenigen ministerieller Entwurfsverfasser) desavouieren würde, zumal es sich um junge Vorschriften handelt. Heutiger Normzweck ist daher die effektive Verteidigung im Rahmen des Vollzugs, nicht aber schon im Rahmen von Vorermittlungen oder beim ersten Zugriff der Strafverfolgungsbehörden.
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b) De lege ferenda. Für den letztgenannten Zeitpunkt ist zudem die jüngere Rechtsprechung des EGMR seit der besonders pointierten Leitentscheidung Salduz18 geeignet und (auch in Deutschland) dazu bestimmt, jedenfalls für die formelle polizeiliche Vernehmung zumindest ein Anwesenheitsrechtsrecht des Verteidigers zu geben – ein längst überfälliger Prozess, der lange ungehörten Forderungen im hiesigen Schrifttum abbildet, ohne
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So auch Bittmann NStZ 2010 13, 15; ders. JuS 2010 510, 513; Brocke/Heller StraFo 2011 1,7; Heydenreich StRR 2009 444, 445; SK/Wohlers 12; ders. StV 2010 151, 152; Meyer-Goßner/Schmitt 3a; AnwK-UHaft/ König 4; Radtke/Hohmann/Reinhart 4; LR/Esser HW Art. 5, 359 EMRK; für ersteren Fall auch F. Schmidt NJ 2012 284, 285; HK/Julius § 140, 8; SSW/Beulke § 140, 22. A.A. BRAK StV 2010 544, 546; Deckers StraFo 2009 441, 443 f.; D. Herrmann StraFo 2011 133, 136 f.; ders. StV 2011 652, 653; Schlothauer/Weider (Untersuchungshaft) Rn. 298; Schlothauer FS Samson 709, 714 f.; Weider StV 2010 102, 104; diff. F. Schmidt NJ 2012 284, 285; HK/Julius § 140, 8. Sogleich Rn. 6 und bereits oben Rn. 3.
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Oben Rn. 3; Details bei Nachtr. § 140, 2. EGMR (GK) Salduz/TRK 21.11.2008 = NJW 2009 3707, 3708 m. (aus heutiger Sicht zu defensiver) Anm. J. Herrmann StRR 2009 97, 98 f.; EGMR Lopata/R 13.7.2010 Nr. 72250/01 Tz. 130 ff.; EGMR Stojkovic/F u. B 27.10.2011 Nr. 25303/08 = NJW 2012 3709 (3711 Tz. 50 ff.). Einen Überblick über die einschlägige EGMR-Rechtsprechung geben Matt/Dierlamm/Schmidt StV 2009 715; Soyer/St. Schumann StV 2012 495 f.; Esser/Gaede/Tsambikakis NStZ 2011 140, 144 ff.; Vetterli ZStrR 2012 447 (465) und zusf. LR/Esser HW Art. 6, 605 ff. EMRK sowie ders. FS Kühne 549, 555 ff. unter weiter führendem Hinweis auf Panovits/ZYP, Pishchalnikov/R und Brusco/F.
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sie ausdrücklich aufzugreifen. Die menschenrechtliche Auslegung integriert sich harmonisch in den Wortlaut des § 137 Abs. 1 („in jeder Lage des Verfahrens“).19 Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) garantiert dem Beschuldigten das Recht auf die Anwesenheit eines Verteidigers schon bei der ersten polizeilichen Vernehmung. Dieses Recht ist wesentliches Element des Grundsatzes fairen Verfahrens, der auch für Verfahrensabschnitte vor Beginn der Hauptverhandlung gilt. Das Anwesenheitsrecht mit Beginn der ersten polizeilichen Vernehmung kann nur durch – unter Berücksichtigung der besonderen Umstände – zwingende Gründe (z.B. Terrorismusverdacht wie im Fall Salduz im Zusammenhang der kurdischen PKK) eingeschränkt werden. Allerdings darf auch eine nach diesen Grundsätzen gerechtfertigte Beschränkung nicht in die Verteidigungsrechte im weiteren Verfahren eingreifen. Dies ist jedoch insbesondere dann der Fall, wenn belastende Aussagen für eine Verurteilung verwertet werden, die in einer polizeilichen Vernehmung ohne Verteidigerbeistand gewonnen worden sind. Die Verwertung solcher Angaben stellt einen weiteren Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK dar.20 Die noch h.M. im deutschen Schrifttum ist daher angesichts der Salduz-Rechtsprechung des EGMR und des durch die BVerfG-Judikatur seit Görgülü anerkannten Grundsatzes menschenrechtsfreundlicher Auslegung der Strafprozessordnung kaum mehr vertretbar.21 Offen und noch wenig diskutiert ist freilich, welche Folgerungen sich daraus für die Frage einer Pflicht zur Bestellung eines Verteidigers für die polizeiliche Vernehmung ergeben, wie sie etwa mit der progressiven Auslegung des § 141 Abs. 3 Satz 2 im Lichte des EMRK-Konfrontationsrechts durch den BGH bereits Anerkennung gefunden hat.22 Trotz des erheblichen praktischen Bedürfnisses hat somit der Beschuldigte de lege lata im Vorführungstermin (§§ 115, 115a) noch keinen Pflichtverteidiger. Im Ergebnis zu Recht ist unter dem Gesichtspunkt möglichst vollständigen Schutzes der Autonomiesphäre des Beschuldigten eine Vorverlagerung des Zeitpunktes, an den die Beiordnung eines Verteidigers nach Absatz 3 Satz 4 i.V.m. § 140 Abs. 1 Nr. 4 anknüpft, jedoch de lege ferenda weiterhin zu fordern.23 Der am weitesten vorgelagerte Anknüpfungspunkt für eine Beiordnung ist der Zeitpunkt der Beantragung des Erlasses eines Haftbefehls durch die Staatsanwaltschaft. Des Weiteren kommt der Zeitpunkt nach der vorläufigen Festnahme aufgrund eines zuvor erlassenen Haftbefehls in Betracht. Bei der weiterhin anstehenden, wenn auch am Ende der 17. Legislaturperiode im 7 rechtspolitischen Raum nicht (mehr) geführten Diskussion der Auswahl des richtigen Zeitpunktes steht allerdings häufig zu einseitig das Ziel der Haftverkürzung im Vordergrund. Es muss aber in die gesetzgeberische Abwägung auch eingestellt werden, dass die weitere Vorverlagerung auf den Zeitpunkt der vorläufigen Festnahme zu Wartezeiten führen24 und das Recht des Beschuldigten auf die Wahl des Verteidigers seines Vertrauens 19
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HW § 137, 73; HbStrVf/Jahn Kap. II, 137. Es lässt sich sagen, dass der EGMR hier an die Stelle eines zu zögerlichen Reformgesetzgebers gerückt ist; i.d.S. wohl auch Esser/ Gaede/Tsambikakis NStZ 2011 140, 146: „Im Hinblick auf die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung scheint der EGMR die nach nationalem Verfahrensrecht bestehenden Beschuldigtenrechte zu erweitern, …“. Erg. Nachtr. § 140, 5. EGMR Lopata/R 13.7.2010 Nr. 72250/01 Tz. 143 f.; LR/Esser HW Art. 6, 607 EMRK. HW Einl. M, 38 m.w.N. in Fn. 95; Jahn FS Wolter 963, 975 Fn. 47.
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Oben Rn. 2 unter Hinweis auf BGHSt 46 93, 99 f. Noch weiter gehend jetzt Esser FS Kühne 539, 560 ff. So auch Beulke StV 2010 442, 445: „ausgesprochen zaghaft“; Wohlers StV 2010 151, 153: „auf halbem Weg stecken geblieben“; D. Herrmann StraFo 2011 133, 135 f.; Schlothauer/Weider (Untersuchungshaft) Rn. 282; dies. StV 2004 504, 516; AnwKUHaft/König 4; KMR/Haizmann 16. Vgl. die statistische Erhebung bei Busse 187 f.
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empfindlich einschränken kann.25 Der Streit über den Zeitpunkt der Beiordnung ist zudem im Zusammenhang mit der Bemessung der Anhörungsfrist zu sehen, weil die Frage aufkommt, ob im Falle des Dezernatshaftbefehls diese Frist zu verkürzen ist. Auch ist die durch § 143 unvollkommen normierte Frage des Pflichtverteidigerwechsels unter erleichterten Voraussetzungen bei übereilter Wahl im Auge zu behalten.26 Teilweise wird deshalb de lege ferenda – zumindest für Kapitaldelikte – sogar ein (nur) vorläufiger Verteidigerbeistand für die Vorführung befürwortet.27 2. Begriff der „Unverzüglichkeit“
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a) Bedeutung des Kriteriums – ein „Danaergeschenk“ für den Beschuldigten? Mit Hilfe der zeitlichen Vorgabe der Unverzüglichkeit soll dem Beschuldigten rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) ermöglicht und deshalb ausreichend Zeit geboten werden, um dem Gericht einen Verteidiger seiner Wahl benennen zu können. Die Norm spielt mit § 142 Abs. 1 Satz 1 zusammen, wonach vor der Bestellung eines Verteidigers dem Beschuldigten Gelegenheit gegeben werden soll, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Verteidiger seiner Wahl zu bezeichnen.28 Zu beachten ist, dass die Freiheit, eine solche autonome Entscheidung treffen zu kön9 nen, auch zur Last werden kann. Der Druck, die Auswahl nach § 142 Abs. 1 Satz 1 treffen zu „sollen“, bekommt durch das in Absatz 3 Satz 4 enthaltene Zeitmoment nunmehr eine neue Qualität für den Beschuldigten. Insofern kann sich die Neuregelung bei unzweckmäßiger Auslegung negativ auf seine Lage auswirken. Insbesondere ist an Fälle zu denken, in denen die Entscheidung über die Person des zu bestellenden Verteidigers mangels ausreichender Zeit für die Formulierung eines Vorschlags durch den Beschuldigten letztlich beim Gericht verbleibt. Hier besteht die – abstrakte – Gefahr, dass Verteidiger beigeordnet werden, die nicht das Vertrauen des Beschuldigten, sondern des Gerichts genießen. Mangels Transparenz29 kann damit im Einzelfall der böse Anschein entstehen, für die Auswahl seien in erster Linie Routine, persönliche Bekanntschaft und die Erwartung geschmeidiger Zusammenarbeit mit dem Gericht verantwortlich. Stefan König hat deshalb von der Gefahr eines „Danaergeschenks“30 für den Beschuldigten gesprochen. Zuspitzungen wie das böse Wort vom „Geständnishelfer“, der „verurteilungsbegleitende Rechtsanwalt“ sowie das Berufsbild „Beiordnungsprostitution“ stehen in ihrem sachlichen Kerngehalt für in Einzelfällen nicht a limine von der Hand zu weisende Bedenken. Vieles hängt also am Zeitmoment – und damit an einer besonders interessensensiblen Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „unverzüglich“ in Absatz 3 Satz 4 durch die Praxis.
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b) Geltung von § 142 Abs. 1 Satz 1. In Streit geraten ist zunächst schon die besonders praxisrelevante Frage, ob die Regel des § 142 Abs. 1 Satz 1 auch für die Pflichtverteidigerbestellung in U-Haft-Fällen gilt. So ist weniger als zwei Monate nach Inkraft25 26 27 28 29 30
Siehe unten Rn. 15. Nachtr. § 140, 20 ff. Heydenreich StRR 2009 444, 448; zum Notverteidiger unten Rn. 30. HW § 142, 12 ff. S. unten Rn. 27. Vgl. St. König AnwBl. 2010 50, 51. Vergleichbare Problematisierungen finden sich bei Wohlers StV 2010 151, 153; Heydenreich
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StRR 2009 444, 445; DAV Stellungnahme Nr. 55/2009 4 f.; Strafverteidigervereinigungen StV 2010 109; D. Herrmann StraFo 2011 133, 140; Wenske NStZ 2010 479, 480; Nobis StRR 2012 105 f. Zur grundsätzlichen Diskussion Hilbers/Lam StraFo 2005 70, 71; Thielmann HRRS 2009 452, 454; ders. NJW 2011 1927.
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treten des § 140 Abs. 1 Nr. 4 auf dem 34. Strafverteidigertag 201031 beanstandet worden, den Beschuldigten werde in vielen Fällen nicht in ausreichendem Maße rechtliches Gehör gewährt, sondern vielmehr unmittelbar ein vom Richter ausgewählter Pflichtverteidiger beigeordnet. Nach zutreffender Ansicht,32 die auch in der Rechtsprechung33 auf breiter Front geteilt wird, ändert das Erfordernis der „unverzüglichen“ Verteidigerbestellung gem. Absatz 3 Satz 4 nichts am Bestehen des Anhörungs- und Bestimmungsrechts des Inhaftierten. Die Gegenauffassung34 überzeugt nicht. Hiernach soll es für die Einräumung einer Frist zur Bezeichnung eines Verteidigers in den Fällen des § 140 Abs. 1 Nr. 4 an einer gesetzlichen Gestattung mangeln. Die Vorschrift des § 142 Abs. 1 Satz 1 werde vielmehr durch die Spezialregelung in Absatz 3 Satz 4 aus sachbezogenen Gründen verdrängt. Dieses Rangverhältnis ergebe sich daraus, dass Absatz 3 Satz 4 die „unverzügliche“ Beiordnung ausdrücklich gebiete, während es sich bei § 142 Abs. 1 Satz 1 nur um eine „Soll-Vorschrift“ handelt. Bei der Auslegung der Gegenmeinung werden jedoch zugunsten des systematischen Vorrangs der §§ 140, 141 vor § 142 sowohl der Wortlaut als auch die Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck des § 142 gering geachtet. § 142 Abs. 1 Satz 1 erfasst unterschiedslos alle Fälle „der“ Bestellung eines Verteidigers, also auch den Untersuchungshaft-Fall und die ihm gleichgestellten Konstellationen. Der Gesetzgeber des StVÄG 1987 wollte mit diesem Wortlaut gerade die einschlägige Judikatur des BVerfG35 positivieren, nach der den Wünschen des Beschuldigten bei der Auswahl der Person des Pflichtverteidigers möglichst Rechnung zu tragen ist. Die Vorschrift solle nach dem erklärten Willen ihrer Verfasser „von der Praxis in dem Sinne ernst genommen werden, dass sie dem auf einen bestellten Verteidiger angewiesenen Beschuldigten wenigstens hinsichtlich der personellen Auswahl ähnliche Chancen bietet wie demjenigen, der selbst einen Verteidiger mandatieren kann“36. Schon diese Historie muss ein Verständnis zweifelhaft erscheinen lassen, das die Regelung für einen ganz besonders praxisbedeutsamen Fall gänzlich leerlaufen lässt. Dass § 142 im Ganzen auch für den Untersuchungshaft-Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 4 anwendbar ist, unterstreicht in systematischer Perspektive Absatz 2 der Vorschrift. Er 31
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S. die Resolution des 34. Strafverteidigertages, abrufbar über www.strafverteidigertag.de. Die Frage, welche Aussagekraft eine kurz nach Inkrafttreten eines Gesetzes stattfindende Evaluation auf Basis von nicht systematisch erhobenen Berichten aus der Praxis haben kann, kann hier erneut (vgl. schon Jahn FS Rissing-van Saan 275, 284 Fn. 38) dahinstehen. Wohlers StV 2010 151, 153; F. Schmidt NJ 2012 284; Lam/Meyer-Mews NJW 2012 177, 180; HK-GS/Weiler 6; AnwK-UHaft/König 4, § 142, 8; HK/Julius 9, § 142, 8 sowie Jahn FS Rissing-van Saan 275, 284 f. (dort auch bereits zum nachfolgenden Text); dem folgend SSW/Beulke 12, § 142, 14. OLG Düsseldorf StV 2010 350, 351 m. zust. Anm. Burhoff StRR 2010 223 und Anm. Wollschläger jurisPR extra 2010 208;
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OLG Düsseldorf NJW 2011 1618 m. Anm. D. Herrmann StV 2011 652, 653 f.; OLG Koblenz StV 2011 349, 350; OLG Dresden NStZ-RR 2012 213; KG StV 2012 656, 657; LG Bonn StV 2010 180, 181; LG Frankfurt (Oder) StV 2010 235, 236; LG Krefeld StV 2011 274; LG Dresden StraFo 2012 14; AG Stuttgart StV 2010 677; unklar hingegen OLG Hamm Beschl. v. 3.9.2013 – 4 RVs 111/13 (unveröff.). So Schlothauer FS Samson 709, 711 ff. A.A. aber ders./Weider (Untersuchungshaft) Rn. 289. Insbesondere BVerfGE 39 238, 243 (Fall Croissant); aus der neueren Rspr. stellvertretend OLG München NJW 2010 1766. Zusf. HW § 142, 12. Rieß/Hilger NStZ 1987 145, 147.
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nimmt explizit – wenn auch wegen der Kürze des juristischen Vorbereitungsdienstes heute weitgehend bedeutungslos geworden37 – auf die Vorschrift des § 140 Bezug. Bereits nach alter Rechtslage vor dem 1.1.2010 wurde der damalige § 142 Abs. 1 Satz 2 (entspricht § 142 Abs. 1 Satz 1 n.F.) zuletzt trotz seines insoweit missverständlichen Wortlauts („soll“) nach seinem erkennbaren Sinn und Zweck so ausgelegt, dass die Anhörung des Beschuldigten keinesfalls im Ermessen des Gerichts liegt, sondern eine Anhörungspflicht besteht („intendiertes Ermessen“).38 Dieses Verständnis resultiert aus dem verfassungsrechtlich anerkannten Recht des Beschuldigten, sein Interesse an der Bestellung des Verteidigers seines Vertrauens grundsätzlich selbst definieren zu können. Dazu tritt die grundrechtsgleiche Gewährleistung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, in deren Lichte § 142 Abs. 1 Satz 1 stets zu interpretieren ist. Nicht die Einräumung der Möglichkeit der Verteidigerbezeichnung bedarf im Untersuchungshaft-Fall entgegen der in Rn. 12 dargestellten Gegenauffassung also einer einfachgesetzlichen Grundlage, sondern umgekehrt deren Einschränkung. Eine verfassungsimmanente Beschränkung des Bezeichnungsrechts des Beschuldigten aus Art. 103 Abs. 1 GG zugunsten des Grundsatzes der Verfahrensbeschleunigung ist aber in der Praxis regelmäßig schon nicht erforderlich, darüber hinaus aber auch nicht angemessen. Im Ganzen kann von § 142 Abs. 1 Satz 1 damit auch bei Untersuchungshaft nur in 15 seltenen Ausnahmefällen abgewichen werden. Dies setzt voraus, dass die Gewährung rechtlichen Gehörs eine erhebliche Verfahrensverzögerung zur Folge hätte und die konkrete Verfahrenslage ausnahmsweise die sofortige Bestellung eines Pflichtverteidigers gebietet.39 Bereits das normative Erfordernis „erheblicher“ Verfahrensverzögerung wird angesichts der hohen verfassungsrechtlichen Bedeutung des Bezeichnungsrechts des Beschuldigten in praxi kaum einmal einschlägig sein. Schon bisher war, wenn die Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit eine schriftliche Erklärung des Beschuldigten nicht zulässt, die Anhörung fernmündlich (z.B. in der JVA) durchzuführen.40 Dass angesichts der flächendeckenden Verbreitung moderner Kommunikationstechnik in Untersuchungshaftanstalten und Justizbehörden eine solche fernmündliche Anhörung „erhebliche“ Verfahrensdauer in Anspruch nehmen könnte, ist praktisch auszuschließen.41 Vor der Bestellung des Verteidigers muss allerdings noch der Staatsanwaltschaft rechtliches Gehör gewährt werden (§ 33 Abs. 2); auch das ist fernmündlich, per Telefax oder E-Mail möglich und häufig geboten. Einer Anhörung des im Falle einer Anklageerhebung zuständigen Gerichts bedarf es entgegen einer aus der Praxis empfohlenen Handhabung mangels Rechtsgrundlage nicht, sie ist auch unter Beschleunigungsaspekten untunlich.
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c) „Unverzüglich“ ist nicht „sofort“. Mit dem Begriff „unverzüglich“ wird dem Gericht – und damit mittelbar auch dem Beschuldigten – ein gewisser zeitlicher Spiel37
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Barton (Strafverteidigung) § 4, 43; s. auch Jahn JuS 2006 660, 661 zum vergleichbaren Problem bei § 139. Das mag, neben anderen Motiven, erklären, warum § 142 Abs. 2 auch nach dem 1.1.2010 nicht auf § 140 Abs. 1 Nr. 4 verweist. Vgl. BVerfG NJW 2001 3695, 3697; BGH StV 2003 210, 211; OLG Frankfurt NStZ-RR 1996 271; LG Cottbus StV 2006 687; SK/Wohlers § 142, 3; HW § 142, 14 a.E. A.A. OLG Karlsruhe StV 2001 557, 558 m. abl. Anm. Braum. I.d.S. auch LG Frankfurt (Oder) StV 2010
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235, 236. S. erg. Jahn FS Rissing-van Saan 275, 298. OLG Düsseldorf StV 2004 62, 63; HW § 142, 14a; OLG Stuttgart Beschl. v. 28.6.2013 – 5 Ws 42-48/13 (unveröff.). Zum Folgeproblem des (Eil-)Falles der Ermöglichung eines telefonischen Anbahnungsgespräches zwischen Mandant und dem bezeichneten Verteidiger in der U-Haft nach § 148 s. bereits Jahn FH Tepperwien 25, 27; Schlothauer/Weider (Untersuchungshaft) Rn. 293 a.E.
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raum für die Bestellung des Pflichtverteidigers bei Vollzug der Untersuchungshaft eröffnet. Der Gesetzgeber hat sich mit dieser Formulierung bewusst von den zeitlichen Anforderungen an den Bestellungsakt in anderen Fällen des § 140 abgesetzt. Meist „wird“ der Verteidiger nach Absatz 1 „bestellt“, im Falle des Absatzes 2 ist die Bestellung sogar ausdrücklich per „sofort“ angeordnet. Gemeint ist in beiden Situationen aber der Sache nach die sofortige Bestellung.42 Ausweislich der Begründung in der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages43 soll die Formulierung „unverzüglich“ in Absatz 3 Satz 4 demgegenüber den Umständen des Einzelfalles Rechnung tragen, z.B. wenn die Verkündung auf ein Wochenende fällt oder ein vom Beschuldigten gewünschter Verteidiger nicht unmittelbar erreichbar oder hic et nunc bereit ist, die Verteidigung zu übernehmen. Diese vernünftige, an der Autonomie des Beschuldigten orientierte gesetzgeberische Zielbestimmung lässt eine Auslegung des Gesetzesbegriffes angezeigt sein, die dem Beschuldigten einen zweckmäßigen Zeitraum zugesteht, in dem er sich wegen der Auswahl eines geeigneten Verteidigers selbst informieren und entscheiden kann. Die Gegenauffassung44 vermag nicht zu überzeugen. Danach konterkariere dieses Verständnis des Absatzes 3 Satz 4 den Sinn und Zweck der Neuregelung. Er liege (allein) darin, dem inhaftierten Beschuldigten nach Beginn der Vollstreckung schnellstmöglich einen Verteidiger zu sichern. Dieser gesetzliche Auftrag sei für das Gericht bindend; auch der Beschuldigte könne keinen Dispens erteilen. Zur Widerlegung dieser monothematischen Interpretation der Norm mag man 17 darüber streiten, ob die hier zugrunde gelegte Lesart des Beschleunigungsgrundsatzes als wesensmäßig objektiv-rechtliches Verfahrensprinzip sakrosankt sein muss. Sie ist, was zuzugestehen ist, jedenfalls aber derzeit so absolut vorherrschend,45 dass die grundsätzliche Frage der (Grenze der) Disponibilität des Beschleunigungsprinzips für den Beschuldigten hier auf sich beruhen kann. Jedenfalls ist es der Sinn des Absatzes 3 Satz 4 nicht, dem Beschuldigten schnellstmöglich einen Verteidiger zu verschaffen, sondern den Verteidiger seines Vertrauens (arg. ex § 142 Abs. 1 Satz 2). In Anlehnung an die gängige Auslegung des Gesetzesbegriffes „unverzüglich“ im Zivilrecht ist darunter also weder „sofort“ noch „zeitgleich“ zu verstehen.46 Es verstößt damit gegen den erklärten gesetzgeberischen Willen, wenn dem Inhaftierten „sogleich“ ein Pflichtverteidiger bestellt werden soll.47 d) Wochenfrist entsprechend der Interessenlage bei wichtigen Rechtsbehelfsfristen. 18 Im Zivilrecht wird die Wendung „unverzüglich“ häufig verwendet, nicht nur in § 121
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Jahn FS Rissing-van Saan 275, 289 (dort auch bereits zum nachfolgenden Text). Die Wendung „… sobald … ist“ in Absatz 1 könnte auf den ersten Blick im Gegenschluss zu Absatz 2 („sofort“) so verstanden werden, als gebe es noch einen zeitlichen Ermessensspielraum. Das ist nicht der Fall. Vielmehr ist auch in Absatz 1 die Gleichzeitigkeit der Aufforderung gemäß § 201 und der Bestellung des Pflichtverteidigers gemeint, vgl. HW Rn. 19. BTDrucks. 16 13097 S. 19. So zuerst Schlothauer FS Samson 709, 714 f.; ders./Weider (Untersuchungshaft) Rn. 296 ff.; dass sich der Mitautor Weider (Unter-
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46 47
suchungshaft) Rn. 300 ff. im Gemeinschaftswerk dezidiert gegen diese Ansicht ausspricht, belegt die Bedeutung der Streitfrage. Für eine sofortige Beiordnung auch D. Herrmann StraFo 2011 133, 137; ders. StV 2011 652, 653. Statt vieler Kudlich Gutachten C für den 68. DJT 2010, S. C 16 f.; Trüg StV 2010 528 f. m.w.N. S. nochmals BTDrucks. 16 13097 S. 19. A.A. Bittmann JuS 2010 510, 513, der allerdings im Gegenzug – insoweit bei isolierter Betrachtung wieder zutreffend (s. Nachtr. § 140, 20 ff.) – die Entpflichtung nach § 143 erleichtern will.
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BGB, sondern auch in den §§ 355, 510, 536c, 625, 650 und 703 BGB und in § 377 HGB. In allen Fällen besteht für den Adressaten der Erklärung eine unklare Situation, die erst durch die Mitteilung aufgeklärt wird. In Ansehung der beiderseitigen Interessenlage muss diese Klärung aber möglichst bald erfolgen, d.h. ohne eine durch die Sachlage nicht begründete Verzögerung, damit der Schwebezustand oder der Zustand der Ungewissheit beseitigt werden kann.48 Das entspricht der Situation zwischen dem Beschuldigten und dem Gericht im Falle des Absatzes 3 Satz 4. Entscheidend ist also, dass die Erklärung des Beschuldigten „ohne schuldhaftes Zögern“49 erfolgt, technischer: ohne eine Obliegenheit in eigenen Angelegenheiten durch zurechenbar zu langes Zuwarten zu verletzen. Eine Prüfungs- und Überlegungsfrist von einer Woche (§ 43 Abs. 1) erscheint hier 19 geboten, aber auch ausreichend. Wenn schon für die regelmäßig noch gewichtigere Frage, ob ein Rechtsmittel wie Berufung oder Revision eingelegt (§§ 314, 341) oder ein sonstiger Rechtsbehelf weiterverfolgt (§§ 45 Abs. 1 Satz 1, 311 Abs. 2, 356a Satz 2) werden soll, die Wochenfrist hinreichen muss, kann für die Pflichtverteidigerbestellung auch in Ansehung der Erschwernisse der Untersuchungshaft keine großzügigere Regelung gelten.50 Aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit ist diese Höchstfrist zur Beendigung des Schwebezustandes ohne Rückausnahmen starr zu bemessen. Dem grundsätzlich erwägenswerten Vorschlag der Möglichkeit der Verkürzung der Wochenfrist im Einzelfall, sofern Ermittlungsmaßnahmen von erheblicher Bedeutung die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig machen,51 ist also auch nach erneuter Prüfung im Ergebnis nicht näher zu treten. Die vielfach aus der Praxis der Strafverteidigung52, der Staatsanwalt48 49
50
S. BGHZ 76 81, 84 f.; BGHR BGB § 121 Abs. 1 Anfechtungsfrist 1. BTDrucks. 16 13097 S. 19; Justizministerium Thür. LTDrucks. 5 617 S. 1; OLG Koblenz StV 2011 349, 350; OLG Dresden NStZ-RR 2012 213; Thielmann HRRS 2013 283; F. Schmidt NJ 2012 284; Meyer-Goßner/ Schmitt 3a; AnwK-UHaft/König 6 Fn. 13; Jahn FS Rissing-van Saan 275, 291 (dort auch bereits zum Nachstehenden). Ebenso Lammer AnwBl. 2013 325, 328 („in jedem Fall“). S. zur früheren Gesetzeslage bereits OLG Düsseldorf StV 2004 63 m. – insoweit ergebnisoffener – Anm. Bockemühl; AK/Stern 26; HW Rn. 14a a.E. Im Erg. ebenso, wenn auch ohne nähere Begr., BRAK StV 2010 544, 545. Sich dem annähernd, aber gegen eine starre Frist Schlothauer/Weider (Untersuchungshaft) Rn. 301 ff. (mindestens fünf Arbeitstage); Meyer-Goßner/ Schmitt 3a („regelmäßig“ eine Woche); Brocke/Heller StraFo 2011 1, 7 („in der Regel“ eine Woche). Eine Frist von zwei Tagen ist also in jedem Fall zu kurz bemessen (unverständlicherweise offengelassen von OLG Düsseldorf StV 2010 351: „Die Frage, ob eine Frist von zwei Tagen, wie sie nach Ansicht des LG Kleve gesetzt wurde, für einen in Haft befindlichen Beschuldigten überhaupt ausreichend ist, um das rechtliche
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Gehör in qualifizierter Form wahrnehmen zu können, bedarf demnach keiner Entscheidung“). DAV Stellungnahme Nr. 55/2009 6: „Regelfrist von einer Woche“; ebenso AnwKUHaft/König 6: Eine Woche, „nach Lage des Einzelfalls auch etwas kürzer oder länger“ – vgl. aber auch dens. AnwBl. 2010 50, 51: „im Regelfall eine Woche“ –, der in diesem Zusammenhang noch auf die Möglichkeit der Bestellung eines Notverteidigers hinweist (dazu unten Rn. 30). Für eine völlig flexible Handhabung demgegenüber OLG Stuttgart Beschl. v. 28.6.2013 – 5 Ws 42–48/13 (unveröff.): Das Beschleunigungsgebot könne „insbesondere (…), wenn (…) auch die Interessen weiterer in Untersuchungshaft befindlicher Mitangeschuldigter zu berücksichtigen sind“, im Einzelfall zur Folge haben, dass „dem Angeschuldigten eine sehr kurze Stellungnahmefrist zuzumuten ist“. Auch D. Herrmann StraFo 2011 133, 139; ders. StV 2011 652, 653; vgl. ferner OLG Hamm Beschl. v. 3.9.2013 – 4 RVs 111/13 (unveröff.). Strafverteidigervereinigungen StV 2010 109 (zust. LG Krefeld StV 2011 274) und bereits Strafverteidigervereinigung NRW 3; offen Justizministerium Thür. LTDrucks. 5 617 S. 2.
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schaften (so der weit verbreitete „Praktische Leitfaden zur Umsetzung des Untersuchungshaftrechts ab 1.1.2010“ der Staatsanwaltschaft bei dem LG München I53) und im Schrifttum54 vorgeschlagene (regelmäßige oder zumindest optionale) Zwei-WochenFrist ist jedenfalls zu lang bemessen und mit dem Wortlaut des Erfordernisses „unverzüglicher“ Bestellung nicht mehr in Einklang zu bringen.55 Auch das denkbare Gegenargument einer Analogie zur Zwei-Wochen-Einspruchsfrist beim Strafbefehl würde nicht zu überzeugen vermögen. Die durch das StVÄG 1987 gegenüber den sonstigen Rechtsmittelfristen verlängerte Sonderfrist des § 410 Abs. 1 Satz 1 soll nur eine Einschränkung von Wiedereinsetzungsanträgen sowie Verfassungsbeschwerden wegen angeblicher Verletzungen des rechtlichen Gehörs bewirken, die gerade bei Strafbefehlen besonders häufig sind.56 e) Folge bei Benennung durch den Beschuldigten – Notwendigkeit einer transparen- 20 ten Beiordnungspraxis. Sofern der Beschuldigte einen Verteidiger seiner Wahl benennt, steht dem Gericht kein Ermessen bei der Auswahlentscheidung mehr zu.57 Ausschließlich ein wichtiger Grund im Sinne des § 142 Abs. 1 Satz 2 kann der Bestellung jetzt noch entgegenstehen.58 Sofern der zunächst gewählte Verteidiger bei seinem Vorliegen durch das Gericht abgelehnt wird, muss dem Beschuldigten Gelegenheit zu einer erneuten Auswahlentscheidung gegeben werden.59 In diesem Zusammenhang empfiehlt sich die Führung von mindestens jährlich zu 21 aktualisierenden Listen, auf denen zur Übernahme der Pflichtverteidigung in Haftsachen (in den Grenzen der § 49 Abs. 2 i.V.m. § 48 Abs. 2 BRAO) bereite Rechtsanwälte verzeichnet sind. Sie sind dazu bestimmt – und müssen dazu auch geeignet sein –, dem unentschlossenen und unsicheren Beschuldigten als effektive Auswahlhilfe zu dienen.60 Angesichts des Ziels möglichst effektiver Verteidigung sollten dabei insbesondere am Ort der Untersuchungshaftanstalt ansässige oder ortsnahe Fachanwälte für Strafrecht, zumindest aber Rechtsanwälte mit einschlägigen Tätigkeitsschwerpunkten und möglichst Fortbildungsnachweisen im Haftrecht unter Hervorhebung ihrer einschlägigen Zusatzqualifikation(en) (z.B. Steuerberater, vereidigter Buchprüfer), ihrer Sprachkenntnisse, der Dauer ihrer Zulassung und der Erreichbarkeit auch an Wochenenden sowie Sonn- und Feier53
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Fassung v. 1.3.2010 (ohne Geschäftszeichen) S. 11. S. zum empfohlenen Vorgehen im Einzelnen Jahn FS Rissing-van Saan 275, 291 f. Fn. 65. Heydenreich StRR 2009 444, 446; ders. StraFo 2011 263, 265; Thielmann NJW 2011 1927, 1928; Lam/Meyer-Mews NJW 2012 177, 180; F. Schmidt NJ 2012 284, 286; HK/Julius 9. Im Grundsatz ebenso Wohlers StV 2010 151, 153, jedenfalls soweit absehbar sei, dass der Beschuldigte an der umgehenden Aufnahme der Bemühungen um einen Verteidiger seines Vertrauens gehindert ist; die Frist sei so anzusetzen, dass der Beschuldigte effektiv zwei Wochen zur Verfügung habe, um den Verteidiger seines Vertrauens zu finden. Zust. Radtke/Hohmann/Reinhart § 142, 8. KK/Fischer § 410, 3; LR/Gössel HW § 410, 6.
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Wohlers StV 2010 151, 154; AnwK-UHaft/ König 7. Zu ihnen HW § 142, 19 ff. sowie erg. Nachtr. § 142, 4 ff. So auch Wohlers StV 2010 151, 154 f. Zu den Vorschlägen im Einzelnen DAV Stellungnahme Nr. 55/2009 4; BRAK StV 2010 544, 545; Strafverteidigervereinigung NRW 3 ff.; Strafverteidigervereinigungen StV 2010 109, 110; Thielmann HRRS 2009 452, 454 f.; Heydenreich StRR 2009 444, 447; AnwK-UHaft/König 4 f., der daneben auch für eine freigiebige Ermöglichung von Telefonaten und Sprechstunden mit Vertrauenspersonen zum Zwecke der Informationsbeschaffung plädiert; vgl. zur gebotenen Hilfe bei der Verteidigerauswahl ferner F. Schmidt NJ 2012 284, 286.
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tagen (Handynummer) in derartige Listen aufgenommen werden.61 Diesen Anforderungen genügende Fotokopien sind dem Beschuldigten physisch auszuhändigen, da ein Zugang über das Internet aus vollzuglichen Gründen regelmäßig nicht umsetzbar sein wird. Daneben sind im Einzelfall dem Zweck der Auswahlentscheidung dienende Telefonate und Sprechstunden mit Vertrauenspersonen zum Zwecke der Informationsbeschaffung zu ermöglichen.62 Neben diesen praktischen Problemen werfen die Verteidigerlisten allerdings auch 22 Wettbewerbsfragen auf, wenn beispielsweise dem bestellungswilligen und nach § 142 Abs. 1 seit dem 2. OpferRRG63 auch grundsätzlich bestellungsfähigen auswärtigen Junganwalt die Aufnahme in eine solche Liste verweigert wird. Diese Fragen haben vor dem Hintergrund des Art. 12 Abs. 1 GG verfassungsrechtlichen Gehalt und mögen in Zukunft eine Anpassung der BRAO erforderlich machen.64 Die Praxis der Aufstellung und Nutzung solcher Listen erfolgt bis jetzt in den ein23 zelnen Bundesländern und Gerichtsbezirken unterschiedlich, intransparent und nach dem Ziel der Neuregelung, dem Beschuldigten eine effektive und geordnete Verteidigung zu gewährleisten, in einer Vielzahl von Fällen wohl unzureichend:65 Zum einen gibt es eine Vielzahl an Listen der unterschiedlichsten Autoren (Rechtsanwaltskammern, Strafverteidigervereinigungen, Anwaltvereine, Haftrichter) – vorgeschlagen wird hier eine Erstellung primär durch die örtlichen Rechtsanwaltskammern und sekundär durch die örtlichen Anwaltvereine und Strafverteidigervereinigungen –66 und zum anderen enthalten die Listen häufig keine Aussage zur Qualifikation und Befähigung der genannten Verteidiger und den angewandten (sachlichen) Auswahlkriterien. Es bedarf hier also noch weiterer Rechtstatsachenforschung.67
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f) Folge bei Nichtbenennung durch den Beschuldigten. Bezeichnet der Beschuldigte innerhalb der ihm gesetzten angemessenen (Wochen-)Frist keinen Verteidiger – was in der Praxis keinen Einzelfall darstellt –68, obliegt es dem Haftrichter bzw. der nach § 275a Abs. 6 zuständigen Strafkammer69, einen Verteidiger von Amts wegen zu bestellen.70 Welche Kriterien dabei die richterliche Auswahl begünstigen und ob sie stets sachlicher und fachlicher Natur sind, bleibt dabei nach dem Gesetz im Dunkeln.
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aa) Sachliche Kriterien der Pflichtverteidigerauswahl. Eine richterliche Verteidigerbestellung ohne die Heranziehung generalisierender Auswahlkriterien kann den Vorwurf einer Konterkarierung des mit dem UHaftÄndG verfolgten Regelungsziels der Stärkung
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Vgl. Wohlers StV 2010 151, 154; Jahn FS Rissing-van Saan 275, 294 f. (dort auch zum Vorstehenden). Die von Schlothauer/ Weider (Untersuchungshaft) Rn. 317 aufgeführten weiteren Kriterien wie Publikationen, Vorträge und Falllisten sind zweifelhaft. So auch AnwK-UHaft/König 4 a.E. S. Nachtr. § 142, 2 ff. Zu den Einzelheiten Huff 4 ff. Für eine transparente Beiordnungspraxis aber zu Recht Strafverteidigervereinigungen StV 2010 109, 110. A.A. Krekeler Kammerreport Hamm 4/2009 9: „In erster Linie wird es Aufgabe der örtlichen Anwaltvereine sein, (…) den für die
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Anordnung strafprozessualer Zwangsmaßnahmen zuständigen Abteilungen der Amtsgerichte Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte zu benennen, die bereit sind, sich beiordnen zu lassen (…)“. So auch Lammer AnwBl. 2013 325, 329. Siehe dazu im Rahmen einer (leider aufgrund zu zurückhaltender Teilnahme der Angesprochenen nicht repräsentativen) statistischen Erhebung Heydenreich StV 2011 700, 701; erg. Rn. 27. F. Schmidt NJ 2012 284, 285; Schlothauer FS Samson 709, 716. S. unten Rn. 31. Vgl. HW § 142, 27.
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der Verteidigungsrechte im Vorverfahren erwecken und mit dem Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren in Konflikt geraten.71 Die gesteigerten Verteidigungsbedürfnisse des inhaftierten Beschuldigten gebieten es also, ihm unter Heranziehung generalisierender Entscheidungskriterien einen geeigneten Verteidiger zur Seite zu stellen. Daher steht dem Gericht, entgegen einer teilweise anders verfahrenden Praxis, kein freies Ermessen bei der Auswahl zu.72 Die Bestellung des Verteidigers kommt ungeachtet der berufsrechtlichen Verpflichtung 26 zur Übernahme des Mandats sinnvollerweise nur dann in Betracht, wenn er tatsächlich in der Lage ist, den Beschuldigten zu verteidigen. Dabei kann auch dem Kriterium der Ortsferne eines Verteidigers trotz der Neufassung des § 142 Abs. 1 durch das 2. OpferRRG73 noch eine gewisse Rolle zukommen. Dies muss aber beschränkt auf solche Einzelfälle bleiben, in denen die Kontaktmöglichkeiten zu dem in der JVA einsitzenden Mandanten konkret beeinträchtigt erscheinen.74 Der stereotype Hinweis auf das staatliche Kosteninteresse mit dem Ziel der Bestellung eines ortsansässigen Verteidigers genügt jedenfalls nicht. Dem Vorwurf der Bevorzugung bestimmter Verteidiger, insbesondere die dem Gericht 27 bekannt sind oder einen einseitig konsensualen Verteidigungsstil ohne latent vorhandene Konfliktbereitschaft oder auch nur -fähigkeit pflegen und dann womöglich auch ohne Anhörung des Beschuldigten diesem beigeordnet werden,75 kann – wie durch den DAV schon vor Inkrafttreten des Gesetzes76 gefordert – durch die regelmäßige wissenschaftliche Evaluierung der Beiordnungspraxis und der damit einhergehenden Schaffung von Transparenz vorgebeugt werden. Eine vollständige Umsetzung dieser Forderung steht noch aus.77 Voraussetzung ist dafür auch eine grundsätzliche Bereitschaft in der (Ermittlungs-)Richterschaft, die ermessensleitenden Gründe für eine Beiordnung anonymisiert zu dokumentieren.78 bb) „Schematische“ Bestellung und richterliche Unabhängigkeit. Aus der Anwalt- 28 schaft79 wird gefordert, neben fachlichen Aspekten eine gleichmäßige Verteilung bei der Bestellung von Pflichtverteidigern sicherzustellen, da die Wahrnehmung solcher Mandate mindestens für solche Rechtsanwälte, deren beruflicher Schwerpunkt das Strafrecht ist, vielfach einen erheblichen Anteil an der wirtschaftlichen Grundlage ihrer Tätigkeit hat.
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Siehe bereits ausf. Jahn FS Rissing-van Saan 275, 295 f. Zur Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung durch die Vorschriften über die notwendige Verteidigung vgl. HW Vorb. § 137, 73. Zutr. Schlothauer FS Samson 709, 717; AnwK-UHaft/König 9; HK/Julius § 142, 11. Nachtr. § 142, 3 ff. So auch Wohlers StV 2010 151, 155 unter Hinweis auf Jahn FH Tepperwien 25, 27; erg. Nachtr. § 142, 4. A.A. OLG Köln NStZ-RR 2011 49; OLG Hamburg Beschl. v. 17.12.2012 – 2 Ws 175/12 (unveröff.). Das OLG Oldenburg StV 2010 351, 352 m. Anm. Burhoff StRR 2010 268 geht immerhin davon aus, dass eine große Entfernung (gemeint ist wohl: nur noch) „im Einzelfall“
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einer Bestellung eines auswärtigen Rechtsanwalts entgegen stehen kann. S. oben Rn. 9, 15. DAV Stellungnahme Nr. 55/2009 6 f. Mangels statistischer Erhebungen durch die Justizverwaltungen war bislang keine valide Auswertung möglich; zu Recht krit. Heydenreich StRR 2009 444, 448; ders. StV 2011 700 und ders. NJW 2011 1927, 1928; erg. oben Rn. 23. Die Stellungnahme des Justizministeriums des Freistaates Sachsen v. 1.7.2010 auf LTDrucks. 5 2642 zeichnet hingegen ein Bild, nach dem der Beschuldigte i.d.R. einen Verteidiger benennt und dieser ihm auch beigeordnet wird. Meier-Göring DRiZ 2011 307. Vgl. nur Thielmann StraFo 2006 358, 359; Lewitzki/Thielmann DRiZ 2011 306.
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Es wird deshalb angeregt,80 den Ermittlungsrichtern von den regionalen Rechtsanwaltskammern erstellte Pflichtverteidigerlisten an die Hand zu geben, die diese nach schematisierten Verfahren (Abarbeitung von „A bis Z“, Bestellung nach dem Zufallsprinzip o.ä.) zu erschöpfen hätten. So könne auch den turnusmäßigen Eilrichtern im Nacht-, Feiertags- und Wochenenddienst die Auswahl erleichtert werden, da diesen mit ihrem (häufig zivilrechtlichen) Regeldezernat nicht immer aktuelle und breite Kenntnisse übernahmebereiter Pflichtverteidiger zur Verfügung stehen werden. Diesen Vorschlägen sollte nicht näher getreten werden. Es wird übersehen, dass eine 29 rein schematische Bestellung von Pflichtverteidigern den Interessen des Beschuldigten jedenfalls in solchen Fällen nicht ausreichend Rechnung tragen kann, in denen dieser an Hand der Aktenlage nachvollziehbare Wünsche – etwa bestimmte Sprach- oder Rechtskenntnisse – zur Qualifikation seines Verteidigers äußert. Dann liegt ein Ermessensausfall vor, der zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung führt.81 Eine Auswahl nach einem ohne inhaltlichen Spielraum vorgegebenen Muster ohne die ergänzende Heranziehung sachlicher Kriterien im Einzelfall dürfte zudem nur schwerlich mit der richterlichen Unabhängigkeit zu vereinbaren sein.82 Legt man die für den Bereich der Insolvenzverwaltung durch das BVerfG83 entwickelten Kriterien zum Rechtsprechungsbegriff i.S.d. Art. 92 GG an, wird man nicht umhin können, die Pflichtverteidigerbestellung als letztverbindliche Klärung der Rechtslage im Rahmen eines besonders geregelten Verfahrens anzusehen.84 Der Gegenposition85, nach der die Pflichtverteidigerbeiordnung zwar dem Beschuldigten gegenüber Akt der Rechtsprechung sei, dem Rechtsanwalt gegenüber jedoch Justizverwaltungsakt gem. § 23 EGGVG auf Grundlage von § 49 BRAO, ist nicht zu folgen. Diese – nicht weiter begründete – „Theorie von der Bestellungsaktrelativität“ kann schon deshalb nicht überzeugen, weil jeder Akt der öffentlichen Gewalt i.S.d. Art. 1 Abs. 3 GG bereits aus Gründen der Rechtssicherheit in seiner Rechtsnatur grundsätzlich unteilbar ist.86 Es muss damit in letzter Konsequenz dem Richter selbst überlassen bleiben, den nach seiner Einschätzung geeignete(re)n Verteidiger zu bestellen.
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g) Bestellung eines Notverteidigers bei dringenden Ermittlungshandlungen analog § 118a Abs. 2 Satz 3. Es dürfte keinen ganz seltenen Einzelfall darstellen, dass aufgrund ermittlungstaktischer Überlegungen der Staatsanwaltschaft Untersuchungshandlungen bereits zu einem Zeitpunkt durchgeführt werden sollen, in dem der Beschuldigte innerhalb der ihm gem. § 142 Abs. 1 Satz 1 gesetzten (Wochen-)Frist noch keinen Verteidiger seiner Wahl benannt bzw. das Gericht ihm noch keinen Verteidiger beigeordnet hat. Im doppelten Sinne besonders dringlich wird dies etwa bei der geplanten richterlichen Vernehmung eines zentralen, aber moribunden oder nur auf der Durchreise befindlichen Belastungszeugen, bei der der Verteidiger anwesend sein muss (§ 168c Abs. 2, Art. 6 80 81
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S. Latz DRiZ 2010 16; Hilbers/Lam StraFo 2005 70, 71. So auch BRAK StV 2010 544, 547; Schlothauer FS Samson 709, 720; AnwKUHaft/König 9. So auch Wohlers StV 2010 151, 156; Fühling DRiZ 2010 17 und bereits Jahn FS Rissingvan Saan 275, 297, dort auch zum Nachstehenden. A.A. Thielmann StraFo 2006 358, 362; Hilbers/Lam StraFo 2005 70, 71. BVerfGK 4 1, 6 unter Hinweis auf BVerfGE 103 111, 137 f.
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So auch Wohlers StV 2010 151, 155 und bereits HW Vorb. § 137, 72. A.A. Wenske NStZ 2010 479, 481 ff. (u.a. in Verkennung der zivilrechtlichen Fundierung der Pflichtverteidigung, vgl. dazu HW Rn. 3 ff.). Schlothauer FS Samson 709, 713 f. sowie ders./Weider (Untersuchungshaft) Rn. 290; siehe bereits oben Rn. 12 u. 16. S. für den Verwaltungsakt gegen die „Lehre vom relativen VA“ nur Stelkens in: Stelkens/ Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG § 35, 23 mit zahlreichen Nachweisen.
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Abs. 3 lit. d EMRK),87 weil ansonsten die Ergebnisse jener Ermittlungshandlung unverwertbar sein werden.88 Nichts anderes gilt in den Fällen, in denen der Beschuldigte aufgrund eines bestehenden Haftbefehls ergriffen wird und unverzüglich, spätestens aber am nächsten Tag dem zuständigen Gericht vorzuführen und durch dieses verantwortlich zu vernehmen ist (§ 115 Abs. 1 und 2). Zur Lösung der Eilfallproblematik wird mit Recht vorgeschlagen,89 auch dann, wenn der Beschuldigte selbst an der Vernehmung teilnimmt, in analoger Anwendung des § 118a Abs. 2 Satz 3 einen Verteidiger nur für die konkret in Frage stehende Vernehmung oder sonstige Ermittlungshandlung zu bestellen. Dieses Verteidigungsverhältnis kann gegebenenfalls auf Wunsch des Beschuldigten fortgesetzt, ansonsten nach Maßgabe des § 143 umstandslos gelöst werden.90
III. Zuständigkeit für die Bestellung 1. Grundsätzliches. Zuständig für die Bestellung im Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 4 ist 31 auf Grund des neuen Absatzes 4 Halbsatz 2 das nach § 126 oder § 275 a Abs. 6 zuständige Gericht, d.h. im Falle der Vollstreckung von Untersuchungshaft der Haftrichter und in den Fällen einstweiliger Unterbringung die Strafkammer. Dieses Gericht ist, so die zutreffende Begründung,91 am besten mit der Sache vertraut, und zwar insbesondere auch dann, wenn der Haft- und Unterbringungsbefehl durch das „nächste“ Amtsgericht (§ 115a) verkündet worden ist. Daneben bleibt für die anderen Fälle der Pflichtverteidigerbestellung (also z.B. Kammersachen, Verbrechen, Generalklausel des § 140 Abs. 2) weiterhin das erkennende Gericht zuständig. 2. Kumulationsfälle. Dies führt zu der allgemeinen Frage, wie zu verfahren ist, wenn 32 in derselben Sache nicht nur § 140 Abs. 1 Nr. 4 einschlägig ist, sondern auch einer der anderen Katalogfälle des Absatzes 1, es also z.B. um eine Schwurgerichtssache geht (§ 140 Abs. 1 Nr. 1). Richtigerweise ist die mit dem 1.1.2010 geschaffene Rechtslage nicht so auszudeuten, dass die Pflichtverteidigerbestellung bei nur kumulativer Einschlägigkeit des § 140 Abs. 1 Nr. 4 allein durch den Ermittlungsrichter erfolgen könnte. Das entspricht weder der Systematik des Absatzes 4, dem zum Zweck der frühen Verteidigerbestellung nur ein weiterer Halbsatz beigegeben wurde, noch dem Sinn und Zweck des Gesetzes. Durch die Notwendigkeit der Bestellung des Pflichtverteidigers wegen eines der Fälle außerhalb des § 140 Abs. 1 Nr. 4 kann sich der Vorsitzende des für die Hauptsache zuständigen Gerichts vielmehr – wie bisher – in den in Kürze bei ihm zur Verhandlung anstehenden Sachverhalt einarbeiten und unter dem Gesichtspunkt des Beschleunigungsgebots seine Terminsbelastung abschätzen. Hier bleibt es also bei der Grundregel des Absatzes 4 Halbsatz 1.92 Gleiches gilt im Ergebnis, wenn in anderer Sache in einem anderen Verfahren eine freiheitsentziehende Maßnahme im Sinne der §§ 112, 112a, 126, 87
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Die richterliche Vernehmung des Beschuldigten außerhalb von Terminen im Zusammenhang mit Haftentscheidungen nach § 168c Abs. 1 hat in der Praxis keine große Bedeutung, vgl. HbStrVf/Jahn Kap. II, 73. LR/Erb HW § 168c, 53 f.; Schlothauer/ Weider (Untersuchungshaft) Rn. 320 ff.; HbStrVf/Jahn Kap. II, 232, 238, 253 ff. Wohlers StV 2010 151, 156; Jahn FS Rissingvan Saan 275, 298 (dort bereits auch zum
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Vorstehenden); krit. Schlothauer FS Samson 709, 712 ff. Nachtr. § 140, 20 ff. Vgl. BTDrucks. 16 11644 S. 33. Das gilt selbstverständlich auch für die Aufhebung der Beiordnung nach § 143, vgl. nur KG Beschl. v. 2.10.2013 – 4 Ws 126–128/13, unter Hinweis auf HW 143, 14 (26. Aufl.). Jahn FS Rissing-van Saan 275, 283 f.; SSW/ Beulke 33. A.A. Meyer-Goßner/Schmitt 6a.
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275a Abs. 6 vollstreckt wird.93 Die Zuständigkeitszuweisung in Absatz 4 Halbsatz 2 ist in diesen Fällen also teleologisch zu reduzieren, soweit die Notwendigkeit der Verteidigung in dem nicht die Haftsache betreffenden Verfahren außerhalb des § 140 Abs. 1 Nr. 4 in Frage steht.94
IV. Folge bei unterlassener unverzüglicher Beiordnung 33
Sofern entgegen Absatz 3 Satz 4 kein Verteidiger beigeordnet wurde, entsteht für die Aussage des Beschuldigten bei richterlicher Vernehmung ein Beweisverwertungsverbot.95 Entsprechendes gilt wegen § 163a Abs. 3 auch für die staatsanwaltschaftliche Vernehmung.96 Andernfalls könnte die klare gesetzgeberische Entscheidung zur erhöhten Schutzbedürftigkeit des inhaftierten Beschuldigten folgenlos unterlaufen werden.
B. Änderungen durch das StORMG 34
Bei der Ersetzung der Angabe „8“ durch „9“ in Absatz 1 handelt es sich um eine redaktionelle Folgeänderung, die durch die Einführung einer neuen Nummer 9 in § 140 Abs. 197 veranlasst war. Wie in den übrigen Fällen notwendiger Verteidigung (mit Ausnahme von § 140 Abs. 1 Nr. 498) ist der Verteidiger bei der Zustellung der Anklage (§ 201 Abs. 1) zu bestellen. Gem. Absatz 4 Halbsatz 1 ist für die Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestel35 lung alternativ auch der Ermittlungsrichter zuständig, wenn die Staatsanwaltschaft eine richterliche Vernehmung gem. § 162 Abs. 1 Satz 1 oder Satz 3 beantragt und eine Entscheidung durch den Ermittlungsrichter zur Beschleunigung des Verfahrens für erforderlich hält. Die Neuregelung gilt für alle Fälle notwendiger Verteidigung außer denen des § 140 Abs. 1 Nr. 499 und hängt mit den eigentlichen Zielen des StORMG100 nur lose zusammen. Zweck der Neuregelung ist die Vermeidung von Verfahrensverzögerungen, was bereits im Wortlaut („Beschleunigung des Verfahrens“) zum Ausdruck kommt. Die Gesetzesänderung ist gleichwohl im Interesse der Beschuldigtenrechte zu be36 grüßen. Durch sie sollen solche Verzögerungen des Verfahrens vermieden werden, die entstehen können, wenn vor der Vernehmung durch den Ermittlungsrichter zunächst noch das für das Hauptverfahren zuständige Gericht über die Bestellung eines Pflichtverteidigers entscheiden muss.101 Künftig ist es der Staatsanwaltschaft möglich, zugleich einen Antrag auf ermittlungsrichterliche Vernehmung und auf Beiordnung eines Pflicht-
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S. zur Anwendbarkeit des § 140 Abs. 1 Nr. 4 in diesen (Kumulations-)Fällen Nachtr. § 140, 25 ff. Wie hier Tachau StV 2010 563; SSW/Beulke 35; erg. Jahn FS Rissing-van Saan 275, 283 Fn. 35. A.A. wohl OLG Frankfurt StV 2011 218 f. m. Anm. Deutscher jurisPR extra 2011 34; LG Nürnberg-Fürth Beschl. v. 29.5.2011 – 5 Qs 53/2012 (unveröff.). Ebenso AnwK-UHaft/König 6; allg. auch HW § 137, 78 und Jahn Gutachten C für den 67. DJT 2008, S. C 73 unter Hinweis auf den
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Wesensgehalt des Anwaltskonsultationsrechts in (und im Anschluss an) die Situation des ersten Zugriffs. Siehe BRAK StV 2010 544, 546; Schlothauer FS Samson 709, 715 Fn. 20; Radtke/ Hohmann/Reinhart 9. Nachtr. § 140, Änderungen. S. oben Rn. 4 ff. S. oben Rn. 31. S. Nachtr. § 140, 32 f. RegE v. 22.6.2011, BTDrucks. 17 6261 S. 12.
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Nachtr. § 142 StPO
Elfter Abschnitt. Verteidigung
verteidigers zu stellen. Auf diese Weise kann insbesondere auch die Notwendigkeit der Übersendung der Akte (bzw. der Duplo-Akten in Haftsachen, Nr. 12 Abs. 2 RiStBV)102 an verschiedene Gerichte vermieden werden.103
§ 142 (1) 1Vor der Bestellung eines Verteidigers soll dem Beschuldigten Gelegenheit gegeben werden, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Verteidiger seiner Wahl zu bezeichnen. 2Der Vorsitzende bestellt diesen, wenn dem kein wichtiger Grund entgegensteht. (2) In den Fällen des § 140 Abs. 1 Nr. 2, 5 und 9 sowie des § 140 Abs. 2 können auch Rechtskundige, welche die vorgeschriebene erste Prüfung für den Justizdienst bestanden haben und darin seit mindestens einem Jahr und drei Monaten beschäftigt sind, für den ersten Rechtszug als Verteidiger bestellt werden, jedoch nicht bei dem Gericht, dessen Richter sie zur Ausbildung überwiesen sind.
Schrifttum Bittmann Perspektiven zum Opferschutz – Reform der Reform, ZRP 2009 212; Burhoff Neuregelungen in der StPO durch das 2. OpferRRG, StRR 2009 364; Jahn Die Änderungen im Recht der Strafverteidigung durch das 2. Opferrechtsreformgesetz, NJW-FH Tepperwien (2010) 25, abrufbar über www.jura.uni-frankfurt.de/jahn; Lehmann Zur Beiordnung des auswärtigen Verteidigers, NStZ 2012 188; Strafverteidigervereinigungen Stellungnahme zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG)“, abrufbar (html) über www.strafverteidigervereinigungen.org; Wohlers Die „unverzügliche“ Beiordnung eines Pflichtverteidigers: Gefährdung des Anspruchs auf effektive Verteidigung? StV 2010 151.
Änderungen. Durch Art. 1 Nr. 13 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. OpferRRG)1 ist Absatz 1 mit Wirkung zum 1.10.2009 neu gefasst worden. Durch Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) vom 26.6.20132 ist in Absatz 2 die Angabe „2 und 5“ durch die Angabe „2, 5 und 9“ mit Wirkung vom 1.9.2013 ersetzt worden. Übersicht Rn. I. Änderungen durch das 2. OpferRRG 1. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelheiten
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Rn. a) Das Kriterium der Ortsferne . . . . b) Ausweitung des Personenkreises . . II. Änderung durch das StORMG . . . . . .
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Vgl. HbStrVf/Jahn Kap. II, 20. Farries, Schriftliche Stellungnahme zu den Entwürfen eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs, abrufbar über www.bundestag.de, 4.
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BGBl. I S. 2280. BGBl. I S. 1805; s. Nachtr. § 140, 32 ff.
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Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
I. Änderungen durch das 2. OpferRRG 1
1. Bedeutung. Die Neufassung des Absatzes 1 gerade im Zuge des 2. OpferRRG erklärt sich mit dessen entsprechender Anwendbarkeit auf die Beiordnung des Zeugenbeistandes gem. § 68b Abs. 2 Satz 2 und von Verletztenbeiständen gem. §§ 397a Abs. 3 Satz 2, 406g Abs. 4 Satz 2. Mit den Primärzielen des 2. OpferRRG, welche in der Erweiterung der Rechte von Opfern und Zeugen von Straftaten sowie der Sicherstellung einer konsequenten Durchsetzung der bereits bestehenden Rechte lagen,3 ist die Änderung des Absatzes 1 – wie auch die des § 147 –4 hingegen nur lose verknüpft. Während die Klarstellung zum Kreis möglicher Verletztenbeistände in § 1385 noch im Zusammenhang der sonstigen Änderungen beim Verletztenbeistand – insbesondere § 406f Abs. 1 Satz 2 –6 steht, sind die Neufassungen der §§ 142, 147 nur im Kontext des Bedürfnisses nach Herstellung von Waffengleichheit zwischen dem Verletzten und dem Beschuldigtem erklärbar.7 Im Ganzen muss also die Subjektstellung des Beschuldigten und sein Recht auf Verteidigung in einem verfahrensrechtlichen Aktionsrahmen von Wechselseitigkeit und Partizipation gehalten werden. Damit ist, im Einklang mit dem gesetzgeberischen Ziel der Schaffung eines kalkulierten Gegengewichts zu den erweiterten Opferrechten, die teleologische Maxime der Auslegung des § 142 formuliert. Soweit innerhalb der Wortlautgrenze der Vorschriften Auslegungsspielräume verbleiben, sind die Verteidigungsrechte im Sinne der Herstellung von Waffengleichheit im Zweifel erweiternd zu interpretieren. Für das Recht der Strafverteidigung hat das 2. OpferRRG, wenn auch nur im Schlagschatten zuweilen etwas überbordender Opferrhetorik, damit begrüßenswerte inhaltliche Neuerungen gebracht.8 2 In der bis zum 1.10.2009 geltenden Fassung sah Absatz 1 Satz 1 vor, dass das Gericht als Pflichtverteidiger möglichst einen Rechtsanwalt auszuwählen hatte, der im Bezirk des ihn nach § 141 Abs. 4 bestellenden Gerichts(vorsitzenden) kanzleiansässig ist. Die Vorschrift galt kraft Verweisung auch bei der Beiordnung eines Zeugenbeistandes (§ 68b Satz 3), bei der Bestellung des Nebenklägerbeistandes (§ 397a Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2) und bei der Bestellung eines Beistands für den Nebenklagebefugten (§ 406g Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 2). Die Neufassung nimmt mit der ersatzlosen Streichung der nicht mehr zeitgemäßen örtlichen Beschränkung ausdrücklich9 eine in diesem Kommentarwerk geäußerte Anregung auf.
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BTDrucks. 16 12098 S. 1 f. Zur jüngeren Geschichte des Opferschutzgedankens im Strafverfahren zusammenfassend LR/Kühne HW Einl. F, 125; MAH/Kauder § 53, 3 ff.; krit. – auch zur Rhetorik der Gesetzesbegründung, nach der dem Opfer- und Zeugenschutz „die ihm gebührende Achtung zukommen“ solle – Jahn/Bung StV 2012 754, 759 ff. m.w.N. Nachtr. § 147, Änderungen. Nachtr. § 138, 2 ff. § 406f Abs. 1 Satz 2 n.F. entspricht im Grundsatz zwar dem bisher geltenden Recht,
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dehnt aber die Anwesenheitsbefugnis des Rechtsanwalts des Verletzten analog zu der Neuregelung des für den Zeugenbeistand geltenden § 68b Abs. 1 nunmehr auch auf die polizeiliche Vernehmung aus, vgl. OK-StPO/ Weiner § 406f, 2. Näher zur Rechtsstellung des Beschuldigten im Lichte des Gebots der Waffengleichheit Nachtr. § 140, 33 m.w.N. Jahn FH Tepperwien 25, 28; erg. Nachtr. § 147, 21 f. BTDrucks. 16 12098 S. 31 f. unter Hinweis auf HW Rn. 6 ff.
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2. Einzelheiten a) Das Kriterium der Ortsferne. Das überkommene Lokalisationsprinzip ist u.a. 3 angesichts schneller Verkehrsverbindungen und der jederzeitigen Möglichkeit elektronischer Kommunikation obsolet.10 Es war durch die Rechtsprechung ohnehin – und zu Recht – unter dem Gesichtspunkt des Anspruchs auf den Verteidiger des Vertrauens so durchlöchert, dass man kaum mehr von einem Prinzip sprechen konnte.11 Befürchtungen,12 dass insbesondere in den Fällen, in denen ein Beschuldigter die Beiordnung eines ihm bis dahin unbekannten auswärtigen Rechtsanwalts wünscht, ihm dieser künftig ohne weitere Nachfragen oder Prüfungen durch das Gericht beizuordnen sei, sind unbegründet. Sie nähren sich daraus, dass wegen der in § 49 Abs. 1 BRAO enthaltenen Regelung der weit entfernt ansässige Rechtsanwalt ein Mandat zu Pflichtverteidigerbedingungen übernehmen müsse, nur weil ein Beschuldigter dies wünscht. Dabei wird zunächst übersehen, dass auch unter der früheren Rechtslage der ortansässige Verteidiger zur Übernahme des Mandats eines ihm bis dato unbekannten Beschuldigten verpflichtet sein konnte, wenn ihn dieser benannte. Es ist nicht bekannt geworden, dass diese seit einem halben Jahrhundert bestehende Rechtslage zu größeren Unzuträglichkeiten geführt hätte.13 Etwa verbleibenden Extremfällen kann strafprozessual über die Auslegung des „wichtigen Grundes“ i.S.d. Absatzes 1 Satz 2 abgeholfen werden. Einen solchen „wichtigen“ Grund vermag aber spätestens14 nach der Neuregelung 4 zum 1.10.2009 die fehlende Ortsnähe als solche nicht mehr darzustellen.15 Zutreffend ist vielmehr, dass das Merkmal der Ortsansässigkeit nach dem gesetzgeberischen Willen nicht über eine fiskalisch motivierte Auslegung des Merkmals „wichtiger Grund“ und die erforderliche Berücksichtigung von (Reise-)Mehrkosten durch die Hintertür doch bei der Auswahl des Pflichtverteidigers wieder eine Bedeutung erlangen darf.16 Die in verschiedenen – meist begründungslosen – Schattierungen in Rechtsprechung17 und zu10
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Anders offenbar Dölling Schriftliche Stellungnahme zu den Entwürfen eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren, abrufbar über webarchiv.bundestag.de, 3, der praktische Probleme im Zusammenhang mit der Beiordnung nicht ortsansässiger Verteidiger befürchtet. Symptomatisch ist, dass der – soweit ersichtlich – die landgerichtliche Spruchpraxis zu Absatz 1 Satz 1 a.F. abschließende Beschluss einem in Magdeburg Angeklagten letztlich doch den gewünschten Berliner Strafverteidiger beiordnete (LG Magdeburg Beschl. v. 22.9.2009 – 24 Qs 83/09 [unveröff.]). Vgl. Deutscher Richterbund Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz), Stellungnahme Nr. 4/2009, 3. Das ist berufsrechtlich auch der durch § 49 Abs. 2 BRAO i.V.m. § 48 Abs. 2 BRAO ermöglichten Option zur kurzfristigen Aufhebung der Beiordnung schon beim Vorliegen gewichtiger Gründe (z.B. tatsächliche
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Verhinderung des Rechtsanwalts durch einwöchige Ortsabwesenheit oder unzureichende Vertrautheit des Anwalts mit der Rechtsmaterie) geschuldet, vgl. Lörcher in: Hartung (Hrsg.), Anwaltliche BerufsO § 49, 9; Kleine-Cosack (BRAO) § 49, 5; HW Rn. 32. S. oben Rn. 3. So auch SK/Wohlers 24 a.E.; ders. StV 2010 151, 154; Radtke/Hohmann/Reinhart 7 a.E.; HK-GS/Weiler 5; OK-StPO/Wessing 11 a.E.; AnwK-StPO/Krekeler/Werner 3; HK/Julius 1, 7 a.E.; vgl. auch LG Dresden StraFo 2012 14; Meyer-Goßner/Schmitt 5 („keine wesentliche Voraussetzung für eine sachgerechte Verteidigung mehr“). Zutr. Burhoff StRR 2009 364, 367. OLG Köln NStZ-RR 2011 49 m. abl. Anm. Burhoff StRR 2011 64; OLG Hamburg Beschl. v. 17.12.2012 – 2 Ws 175/12 (unveröff.); KG Beschl. v. 8.7.2013 – 2 Ws 349/13 (unveröff.); zurückhaltender OLG Köln Beschl. v. 29.6.2012 – 2 Ws 485/12 (juris) mit der Maßgabe, dass zusätzlich eine sachdienliche Verteidigung des Beschuldigten und der
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weilen auch im Schrifttum18 vertretene Gegenauffassung, nach der dieser Gesichtspunkt vom Gericht weiterhin stets (und lediglich nicht mehr vorrangig) zu berücksichtigen sei, ist mithin abzulehnen. Die Heranziehung des Kriteriums der Ortsferne muss beschränkt auf solche extreme Ausnahmefälle bleiben, in denen die Kontaktmöglichkeiten zu dem Mandanten konkret beeinträchtigt erscheinen. Das kann der Fall sein, wenn die JVA, in der der Beschuldigte inhaftiert ist, und der Kanzleisitz jeweils in ländlicher Region fernab der großen Verkehrswege und zudem viele hundert Kilometer voneinander entfernt liegen.19 Zur Anerkennung der Autonomie des Beschuldigten gehört es im Rahmen der Waf5 fengleichheit,20 dass er sein Interesse an der für ihn richtigen Verteidigung, auch was die Person des Verteidigers betrifft, grundsätzlich selbst definiert. Daher sind die „wichtigen Gründe“ des Absatzes 1 Satz 2 nur als ein Hinweis auf eine streng zu handhabende Ausnahme zu verstehen. Der verbleibende Spielraum eröffnet im Rahmen des Fürsorgeprinzips aber die Möglichkeit, die Wahlpflichtverteidigung, was die Person des Verteidigers betrifft, einzuschränken.21 Eine solche Lage ist auch dann gegeben, wenn die Wahl des Beschuldigten auf einen Verteidiger fällt, der nicht fähig und/oder nicht willens ist, die Autonomie des Beschuldigten im Verfahren zu respektieren, und von dem deshalb keine Verteidigung zu erwarten ist, die rückhaltlosen Beistand für den Beschuldigten erwarten lässt. Entsprechende Äußerungen und Erklärungen des Verteidigers bis zum Zeitpunkt, in dem das nach § 141 Abs. 4 i.d.F. des UHaftÄndG zuständige Gericht22 tätig wird, sind also tunlichst noch vor Erlass der Verfügung zu würdigen, mit der die Bestellung bewirkt wird. Lassen es die Umstände zu und liegen belastbare Gründe für die Annahme vor, dass 6 in der Person des Verteidigers ein „wichtiger Grund“ vorliegen könnte (z.B.: der ersichtlich mittellose Beschuldigte eines Flensburger Supermarktdiebstahls benennt einen berühmten Strafverteidiger und Honorarprofessor aus München), sollte das Gericht deshalb mit diesem Verteidiger Kontakt aufnehmen, auf den Umstand der Bezeichnung hinweisen und ggf. eine daraufhin erfolgende inhaltliche Erklärung des Verteidigers als Aktenvermerk niederbringen. Im Sonderfall des Unverzüglichkeitsgebots der §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 Satz 4 n.F. muss dem Beschuldigten, gegen den Haftbefehl erlas-
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ordnungsgemäße Verfahrensablauf gefährdet sein müsse. Einem bestehenden Vertrauensverhältnis sei trotz sehr großer Entfernung zum Gerichtsort jedenfalls dann der Vorrang einzuräumen, wenn der Angeklagte am Ort des RA wohnt und beide von dort anreisen müssen; OLG Oldenburg StV 2010 351, 352 m. Anm. Burhoff StRR 2010 268 (jedenfalls „im Einzelfall“); LG Duisburg Beschl. v. 3.9.2012 – 35 Qs 716 Js 9/12 – 102/12 (unveröff. und auf die Streichung von § 142 Satz 1 a.F. nicht eingehend). Erg. Nachtr. § 141, 26. Lehmann NStZ 2012 188, 189 ff. (bei auswärtigen Verteidigern bestehe eine erhöhte Darlegungslast mit Blick auf ein bestehendes Vertrauensverhältnis) und wohl auch Volk/ Engländer (Strafprozessrecht) § 11, 33. So auch SK/Wohlers 26; vgl. auch SSW/ Beulke 22. Entsprechendes muss für den Fall
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der fehlenden Bezeichnung eines Verteidigers durch den Beschuldigten gelten, s. Nachtr. § 141, 26. Oben Rn. 1 a.E. HW Rn. 21 m.w.N. und Jahn FH Tepperwien 25, 27. Dies würdigt Bittmann ZRP 2009 212, 213 leider nicht. Insbesondere entscheidet im praktisch nunmehr besonders bedeutsamen Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 4 n.F. seit dem 1.1.2010 (s. Nachtr. § 140, Änderungen) nicht der Vorsitzende des für die Hauptsache zuständigen Gerichts, sondern der (insbesondere) nach § 126 zuständige Haftrichter, s. Nachtr. § 141, 31. Dass in Absatz 1 Satz 2 immer noch von der Bestellung durch den „Vorsitzenden“ die Rede ist, stellt ein gesetzgeberisches Versehen dar (so auch HK/Julius 1 a.E.).
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sen worden ist, nach § 148 Abs. 1 ein unüberwachtes telefonisches Anbahnungsgespräch mit dem in Aussicht genommenen Verteidiger gewährt werden.23 Auf diese Weise kann verhindert werden, „dass etwas zusammengeführt wird, was nicht zusammen passt“24. Lassen die Umstände dieses Verfahren ausnahmsweise nicht zu, ist nötigenfalls nach § 143 zu verfahren und die Bestellung zu widerrufen.25 b) Ausweitung des Personenkreises. Während nach der vor dem 1.10.2009 geltenden 7 Fassung dem Beschuldigten die Gelegenheit gegeben werden sollte, einen „Rechtsanwalt“ zu bezeichnen, ist in der Neufassung von der Bezeichnung eines „Verteidigers“ die Rede. Daher können auch andere Personen, die ohne Weiteres Verteidiger sein können – also insbesondere Rechtslehrer an Hochschulen (§ 138 Abs. 1) und, mit den zeitlichen Einschränkungen des Absatzes 2, Referendare –,26 vom Beschuldigten vorgeschlagen werden. Es hat sich zwar um eine bewusste Ausweitung des Personenkreises gehandelt.27 Deren Reichweite ist aber für den Personenkreis des § 138 Abs. 2 und des § 392 Abs. 1 AO unklar, weil diese (ggf. nach Zulassung) auch „Verteidiger“ sein können, diese Konsequenz aber weder in den Materialien noch in den vom Gesetzentwurf ausdrücklich in Bezug genommen HW § 142, 17 angesprochen wird.28 Um ein Redaktionsversehen im technischen Sinne dürfte es sich nicht handeln, so dass dem Gesetzeswortlaut Geltung zu verschaffen und auch dieser Personenkreis wählbar ist. Die Befürchtung, effiziente und interessengerechte Verteidigung gerate durch die wortlautgetreue Auslegung in Gefahr,29 ist mit dem Hinweis auf das zusätzliche Erfordernis der Zulassung und ggf. gemeinschaftlichen Verteidigung in den Fällen des § 138 Abs. 2 und die sachlich-gegenständlich beschränkte Reichweite des § 392 Abs. 1 AO – außerhalb des Bereichs der Steuerstraftaten gilt ohnehin wieder § 138 Abs. 2 (vgl. § 392 Abs. 2 AO)30 – entgegenzutreten.
II. Änderung durch das StORMG Bei der Einfügung des Verweises auf Nummer 9 in Absatz 2 handelt es sich um eine 8 Änderung, die Folge der Einfügung jenes Tatbestandes in § 140 Abs. 1 ist.31 Nach der Neuregelung darf dem Beschuldigten für den ersten Rechtszug auch dann ein Rechtsreferendar, der seit mindestens 15 Monaten im Vorbereitungsdienst beschäftigt ist, als Pflichtverteidiger bestellt werden, wenn die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig ist, weil dem Verletzten nach den §§ 397a und 406g Abs. 3 und 4 ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist.32 Absatz 2 ist freilich wegen der Kürze des juristischen Vorbereitungsdienstes heute weitgehend bedeutungslos geworden.33 23
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Wohlers StV 2010 151, 154 f.; Jahn FH Tepperwien 25, 27; vgl. im Einzelnen HW § 148, 7. Schlothauer/Weider (Untersuchungshaft) Rn. 293 a.E. Zu den Einzelheiten Nachtr. § 140, 20 ff. und HW § 143, 7 ff. Vgl. HW § 138, 8 f. und Jahn FH Tepperwien 25, 27: „konsequent“. BTDrucks. 16 12098 S. 32 unter ausdrücklichem Hinweis auf HW § 142, 17. Vgl. Radtke/Hohmann/Reinhart 5; HK/Julius 5. Unklar Meyer-Goßner/Schmitt 10, wo in der Überschrift noch immer unver-
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ändert von der „Gelegenheit zur Bezeichnung eines RA“ die Rede ist, direkt nachfolgend aber die Bestellung des „Verteidigers“ (Meyer-Goßner/Schmitt 11) behandelt wird. Radtke/Hohmann/Reinhart 5 a.E. Flore/Tsambikakis (Steuerstrafrecht) § 392, 17 f. Nachtr. § 140, Änderungen. Krit. unter Hinweis auf das Fehlen notwendiger Spezialkenntnisse Strafverteidigervereinigungen (Stellungnahme) III.4. Barton (Strafverteidigung) § 4, 43; s. auch Jahn JuS 2006 660, 661 zum vergleichbaren Problem bei § 139.
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§ 145a (1) … (2) … (3) 1… 2Wird eine Entscheidung dem Beschuldigten zugestellt, so wird der Verteidiger hiervon zugleich unterrichtet, auch wenn eine schriftliche Vollmacht bei den Akten nicht vorliegt; dabei erhält er formlos eine Abschrift der Entscheidung.
Art. 1 Nr. 10 des BMJ-Diskussionsentwurfs eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen (Stand: 30.5.2012)1 sieht vor, mit Wirkung vom 1.1.2017 in Absatz 3 Satz 2 vor dem Wort „Vollmacht“ das Wort „schriftliche“ zu streichen. In der hieraus resultierenden medienneutralen Fassung der Vorschrift erschöpft sich die vorgeschlagene Änderung.2
§ 147 (1) … (2) 1Ist der Abschluss der Ermittlungen noch nicht in den Akten vermerkt, kann dem Verteidiger die Einsicht in die Akten oder einzelne Aktenteile sowie die Besichtigung von amtlich verwahrten Beweisgegenständen versagt werden, soweit dies den Untersuchungszweck gefährden kann. 2Liegen die Voraussetzungen von Satz 1 vor und befindet sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft oder ist diese im Fall der vorläufigen Festnahme beantragt, sind dem Verteidiger die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen in geeigneter Weise zugänglich zu machen; in der Regel ist insoweit Akteneinsicht zu gewähren. (3) Die Einsicht in die Niederschriften über die Vernehmung des Beschuldigten und über solche richterlichen Untersuchungshandlungen, bei denen dem Verteidiger die Anwesenheit gestattet worden ist oder hätte gestattet werden müssen, sowie in die Gutachten von Sachverständigen darf dem Verteidiger in keiner Lage des Verfahrens versagt werden. (4) 1Auf Antrag sollen dem Verteidiger, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, die Akten mit Ausnahme der Beweisstücke zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitgegeben werden. 2Die Entscheidung ist nicht anfechtbar. (5) 1… 2Versagt die Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht, nachdem sie den Abschluss der Ermittlungen in den Akten vermerkt hat, versagt sie die Einsicht nach Absatz 3 oder befindet sich der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß, so kann gerichtliche Entscheidung durch das nach § 162 zuständige Gericht beantragt werden. 3Die §§ 297 bis 300, 302, 306 bis 309, 311a und 473a gelten entsprechend. 4Diese Entscheidungen werden nicht mit Gründen versehen, soweit durch deren Offenlegung der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte.
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Näher dazu Nachtr. § 147, 26 ff. BMJ-DE (Stand: 30.5.2012), S. 34; siehe im Einzelnen Nachtr. § 147, 26 ff.
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(6) 1… 2Dem Verteidiger ist Mitteilung zu machen, sobald das Recht zur Akteneinsicht wieder uneingeschränkt besteht. (7) 1Dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, sind auf seinen Antrag Auskünfte und Abschriften aus den Akten zu erteilen, soweit dies zu einer angemessenen Verteidigung erforderlich ist, der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Strafverfahren, nicht gefährdet werden kann und nicht überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen. 2Absatz 2 Satz 2 erster Halbsatz, Absatz 5 und § 477 Abs. 5 gelten entsprechend.
Schrifttum Beulke Der Beitrag des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Entwicklung des deutschen Verfahrensrechts aus Sicht eines deutschen Strafverteidigers, in: Höland (Hrsg.), Wirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im deutschen Recht (2011) 71; ders./Witzigmann Das Akteneinsichtsrecht des Strafverteidigers in Fällen der Untersuchungshaft, NStZ 2011 254; Bittmann Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts, NStZ 2010 13; Börner Das Recht auf Akteneinsicht gemäß § 147 StPO im Lichte der EMRK, MRM 2010 97; BRAK Stellungnahme zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz „Gesetz zur Überarbeitung des Untersuchungshaftrechts“, Stellungnahme Nr. 37/2008; dies. Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren, Stellungnahme Nr. 9/2009; dies. Stellungnahme zum Entwurf der Bundesregierung eines „Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts“, Stellungnahme Nr. 10/2009, jeweils abrufbar über www.brak.de; DAV Stellungnahme zum Diskussionsentwurf des BMJ für ein Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen, Stellungnahme Nr. 79/2012, abrufbar über www.anwaltverein.de; Deckers Einige Bemerkungen zum Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts, StraFo 2009 441; Deutscher Richterbund Stellungnahme zum Diskussionsentwurf des Bundesministeriums der Justiz eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen, Stellungnahme Nr. 22/2012, ders. Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen, Stellungnahme Nr. 30/2012, jeweils abrufbar über www.drb.de; Esser/Gaede/Tsambikakis Übersicht zur Rechtsprechung des EGMR in den Jahren 2008 bis Mitte 2010 – Teil I, NStZ 2011 78; D. Herrmann Zur Reform des Rechts der Untersuchungshaft, StRR 2010 4; Jahn Die Änderungen im Recht der Strafverteidigung durch das 2. Opferrechtsreformgesetz, NJW-FH Tepperwien (2010) 25, abrufbar über www.jura.unifrankfurt.de/jahn; ders. „Parität des Wissens“? – Die konventionskonforme Auslegung der Neuregelung des Akteneinsichtsrechts (§ 147 StPO), FS I. Roxin 585; Kazele Änderungen im Recht der Untersuchungshaft, NJ 2010 1; Reinhart Michalke Reform der Untersuchungshaft – Chance vertan? NJW 2010 17; ders. Das Akteneinsichtsrecht des Strafverteidigers – Aktuelle Fragestellungen, NJW 2013 2334; Morgenstern Die Stärkung prozessualer Garantien im Recht der Untersuchungshaft in Deutschland und Polen, ZIS 2011 240; Neue Richtervereinigung Stellungnahme zum Diskussionsentwurf des BMJ zu einem Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen, abrufbar über www.drb.de; Paeffgen § 119 StPO soll reformiert werden!? GA 2009 450; ders. Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts, abrufbar über webarchiv.bundestag.de; Peglau Akteneinsichtsrecht des Verteidigers in Untersuchungshaftfällen, JR 2012 231; Strafverteidigervereinigungen Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts“, abrufbar (html) über www.strafverteidigervereinigungen.org; Tsambikakis Moderne Einwirkungen auf die Strafprozessordnung – Beispiel: Untersuchungshaft, ZIS 2009 503; ders. Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts, abrufbar über webarchiv.bundestag.de; Weider Das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts, StV 2010 102; ders. Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts, abrufbar über webarchiv.bundestag.de.
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Änderungen. Durch das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. OpferRRG) vom 31.7.20091 wurden mit Wirkung vom 1.10.2009 in Absatz 5 Satz 2 die Wörter „nach Maßgabe des § 161a Abs. 3 Satz 2 bis 4“ durch die Formulierung „durch das nach § 162 zuständige Gericht“ ersetzt. Zudem wurde ein neuer Satz 3 eingefügt. Durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts (UHaftÄndG), das ebenfalls auf den 31.7.2009 datiert,2 wurden Absatz 2 und Absatz 7 mit Wirkung zum 1.1.2010 neu gefasst.3 Art. 1 Abs. 2 Nr. 13 des BMJ-Referentenentwurfs eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen sieht mit Wirkung zum 1.1.2018 weitere Änderungen vor. In Absatz 3 soll das Wort „Niederschriften“ durch das Wort „Protokolle“ ersetzt werden. Absatz 4 soll insgesamt neu gefasst werden.4 Außerdem sollen in Absatz 6 Satz 2 nach dem Wort „Verteidiger“ die Wörter „oder dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat,“ eingefügt sowie Absatz 7 gänzlich aufgehoben werden.
Übersicht Rn. I. Änderungen durch das UHaftÄndG (Absätze 2, 7) 1. Bedeutung und Reformgeschichte . . . 2. Informationsrecht des Verteidigers (Absatz 2 Satz 2) . . . . . . . . . . . . a) Zugänglichmachung in geeigneter Weise . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Mündliche Unterrichtung . . . bb) Sonstige schriftliche Unterrichtung . . . . . . . . . . .9 b) Die „wesentlichen“ Informationen . c) Akteneinsicht als Regelfall . . . . . 3. Der aktenbezogene Informationsgewährungsanspruch des unverteidigten Beschuldigten (Absatz 7) . . . . . . . . .
Rn. II. Änderungen durch das 2. OpferRRG (Absatz 5) 1. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelheiten . . . . . . . . . . . . . .
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III. Vorgeschlagene Änderungen im Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen 1. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundsätzliche Bewertung . . . . . . . 3. Änderungshistorie . . . . . . . . . . . 4. Der Begriff „Protokoll“ (Absatz 3) . . 5. Das künftige Akteneinsichtsrecht des unverteidigten Beschuldigten (Absatz 4, Absatz 6 Satz 2) . . . . . . . . . . . .
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I. Änderungen durch das UHaftÄndG (Absätze 2, 7) 1
1. Bedeutung und Reformgeschichte. Das Akteneinsichtsrecht in § 147 ist neben dem Beweisantrags- und Fragerecht eines der Kernstücke der Verteidigung.5 Wichtige neuere Reformvorschläge wie der Alternativ-Entwurf Reform des Ermittlungsverfahrens (AE-EV)6
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BGBl. I S. 2280. BGBl. I S. 2274. Ferner ist durch das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren (BGBl. I S. 1938) § 114b Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 eingefügt worden, wonach der verhaftete Beschuldigte in seiner Belehrung darauf hinzuweisen ist, dass er „nach Maßgabe des § 147 Absatz 7 beantragen kann, Auskünfte und Abschriften aus den Akten zu erhalten, soweit er keinen Verteidiger hat“.
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Außerdem heißt es nunmehr in § 114b Abs. 2 Satz 2: „Der Beschuldigte ist auf das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers nach § 147 hinzuweisen.“ S. für den vorgeschlagenen Wortlaut unten Rn. 31. Zu dieser Charakterisierung – m.w.N. – HW § 147, 1; Jahn FS I. Roxin 585 (dort auch bereits zum Nachfolgenden). AE-EV 53 ff.
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und ein gemeinsames Papier des Strafrechtsausschusses des DAV und der AG Strafrecht im DAV7 zielten unter Betonung der Ein- bzw. Mitwirkungsmöglichkeiten des Beschuldigten in einer partizipatorisch ausgestalteten Vorverfahrensstruktur auf eine inhaltliche Erweiterung des Akteneinsichtsrechts. Ziel war die möglichst frühzeitige Information der Verteidigung über den Verfahrensstand und ein generelles Akteneinsichtsrecht des unverteidigten Beschuldigten, etwa mit § 147 Abs. 7 AE-EV. Der endgültige Anlass für die Änderungen des Akteneinsichtsrechts in den vom 2 UHaftÄndG betroffenen Absätzen 2 und 7 kam jedoch von außen. Die entscheidenden Impulse gingen – wie häufig im Straf- und Strafprozessrecht unserer Zeit –8 von der rechtsstaatlich besonders sensiblen Rechtsprechung des EGMR aus. Der Gerichtshof erkannte in den drei am selben Tag ergangenen Urteilen gegen die BRD in den Rechtssachen Schöpps, Lietzow und Garcia Alva9 schon vor mehr als einem Jahrzehnt eine Verletzung des Art. 5 Abs. 4 EMRK darin, dass dem Verteidiger des inhaftierten Beschuldigten die Akteneinsicht verweigert wurde.10 Diese Linie wurde durch die beiden EGMR-Entscheidungen in Sachen Mooren – mit der Entscheidung der Großen Kammer sogar einstimmig – sowie im Falk-Fall bestätigt.11 Demnach ist Waffengleichheit dann nicht gewährleistet, wenn dem Verteidiger der Zugang zu denjenigen Dokumenten in der Ermittlungsakte verweigert wird, die wesentlich sind, um die Rechtmäßigkeit der Haftentscheidung gegen seinen Mandanten angreifen zu können. Der EGMR hat zudem klargestellt, dass die Informationen, die in einem Haftbefehl 3 enthalten sind (Garcia Alva/Lietzow) und die zusätzlich durch den Haftrichter mündlich gegeben werden (Schöps), nur eine Zusammenfassung von und Schlussfolgerung aus Tatsachen sind, die der Haftrichter in der ihm von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Ermittlungsakte vorfindet. Auf der Grundlage einer solchen Zusammenfassung wird die Verteidigung in einem kontradiktorischen Verfahren noch nicht in die Lage versetzt, deren inhaltliche Belastbarkeit substantiell überprüfen zu können. Die dogmatisch interessante Frage, inwieweit hier auch der Normbereich des Art. 6 EMRK tangiert ist, hat der EGMR hingegen nicht ausdrücklich behandelt. Sie muss auch hier unentschieden bleiben.12 Aus den beiden Mooren-Entscheidungen des EGMR ergibt sich jedenfalls mit 7
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DAV AnwBl. 2006 24. Dazu insgesamt Jahn FS Kirchhof § 128, 6; ders. in: Goldenstein (Hrsg.), Mehr Gerechtigkeit. Aufbruch zu einem besseren Strafverfahren (2011) 117, 122 ff.; ders. ZStW 115 (2003) 815, 826 f.; HW Rn. 176 m.w.N. Siehe nur Nachtr. § 141, 6. Jeweils EGMR StV 2001 201 ff. m. Anm. Kempf; zusf. LR/Esser HW Art. 5, 343 EMRK. Mit Recht hebt Börner MRM 2010 97, 107 hervor: „Maßgeblicher Wegbereiter der rechtsstaatlich begrüßenswerten Entwicklung ist Art. 5 Abs. 4 EMRK in jener Auslegung, welche die Norm vom EGMR beginnend mit der Lamy-Entscheidung erfahren hat. Motor dieses Entwicklungsprozesses sind indes jene Vertreter der Anwaltschaft gewesen, die mit Beharrlichkeit den gerichtlichen Diskurs über Inhalt und Geltung der Art. 5 und 6 EMRK vorangetrieben haben“. Zu diesem Zeitpunkt konnte die StA das
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Recht auf Einsichtnahme in die Ermittlungsakten noch vollständig verweigern, wenn dadurch der Untersuchungszweck gefährdet werden konnte, vgl. HW § 147, Entstehungsgeschichte. Zunächst EGMR Mooren/D (5. Kammer) 13.12.2007 = StV 2008 475 m. Anm. Hagmann und Pauly, sodann EGMR 9.7.2009 Mooren/D (Große Kammer) = StV 2010 490 m. Anm. Pauly sowie EGMR Falk/D 11.5.2008 = NStZ 2009 164 m. Anm. Strafner. Zur Entwicklung der EGMR-Rspr. ausf. Esser/Gaede/Tsambikakis NStZ 2011 78, 81; Schultheis NStZ 2011 682, 688; Börner MRM 2010 97, 98 ff.; Paeffgen (Stellungnahme) 8 ff.; Tsambikakis (Stellungnahme) 3 ff.; HK/Julius 15; LR/Esser HW Art. 5, 344 ff. EMRK; vgl. auch SSW/Beulke 3, 37, 47. Siehe dazu LR/Esser HW Art. 6, 635 ff. EMRK.
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aller Deutlichkeit, dass bloß mündliche Zusammenfassungen des Akteninhalts den Anforderungen des Art. 5 Abs. 4 EMRK nicht genügen. Der Beschuldigte muss vielmehr Einsicht in alle Schriftstücke erhalten, die für eine wirksame Anfechtung der Rechtmäßigkeit der Haft wesentlich sind.13 Die Integration jener zustimmungswürdigen Rechtsprechung in den Regelungskomplex des § 147 wurde in den Regierungsentwürfen14 zu einem der vorrangigen Ziele der ins Auge gefassten Neuregelung erklärt. Gelungen ist das, wie nunmehr dazustellen ist,15 leider nur zu einem ganz geringen Teil. Deshalb bedarf die Regelung im Lichte der Gewährleistungen der EMRK einer differenzierenden Auslegung.
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2. Informationsrecht des Verteidigers (Absatz 2 Satz 2). Seit dem 1.1.2010 sieht Absatz 2 Satz 2 ein umfassendes Informationsrecht des Verteidigers vor, wenn sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet oder diese im Falle der vorläufigen Festnahme (§ 127 Abs. 2) beantragt ist. Voraussetzung ist stets (nur), dass sich der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß befindet.16 Die Vorschrift ist damit zwar auch in Fällen der Überhaft anzuwenden, wenn sich der Beschuldigte bereits in anderer Sache in Strafhaft, Untersuchungshaft oder sonstiger amtlicher Verwahrung befindet.17 Nach dem Sinn und Zweck der Neuregelung geht es letztlich aber auch nur darum, die dramatischen Folgen einer Freiheitsentziehung für die Grundrechte des Beschuldigten abzumildern. Sie greift demnach nicht (mehr) bei einer Aussetzung des Vollzuges oder wenn die Untersuchungshaft aus sonstigen Gründen unterbrochen wird.18 Die Leitlinien der Vorschrift gelten ungeachtet der ursprünglich konventionsrechtlichen Wurzel in der menschenrechtlichen Gewährleistung bei Freiheitsentziehung mittlerweile anerkanntermaßen auch für den dinglichen Arrest und im Falle einer (beendeten) Durchsuchung, regelmäßig aber nicht schon bei der einfachen Beschlagnahme. An ihrer prinzipiellen Verallgemeinerungsfähigkeit für alle tiefgreifenden strafprozessualen Eingriffsmaßnahmen dürfte aber kaum noch ein Zweifel bestehen.19 Trotz der relativ klaren Vorgaben des EGMR – es ging immerhin um zahlreiche Ver5 urteilungen Deutschlands auf Grundlage der Rechtslage nach § 147 –20 hat sich der Gesetzgeber mit Absatz 2 Satz 2 auf der Rechtsfolgenseite für eine Regelungstechnik entschieden, die aufgrund zahlreicher unbestimmter Rechtsbegriffe („wesentliche Informationen“ „in geeigneter Weise“) menschenrechtlich kontraindizierte Wertungsspielräume
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LR/Esser HW Art. 5, 358 EMRK; MeyerLadewig Art. 5, 89; OK-StPO/Valerius Art. 5 EMRK, 10; Jahn FS I. Roxin 585, 588 (dort auch zum Folgenden); i.d.S. auch Wohlers StV 2009 539; Gaede (Fairness) 245 f.; Ambos § 10, 47; Hecker § 3, 54 a.E.; Joecks 23 a.E. RegE v. 7.11.2008, BRDrucks. 829/08 S. 2, 48 f. und v. 21.1.2009, BTDrucks. 16 11644 S. 1. Ausf. bereits Jahn FS I. Roxin 585, 589 ff.; hieran lehnt sich der folgende Text an. Auch der RegE v. 21.1.2009 spricht (nur) vom „inhaftierten“ Beschuldigten: BTDrucks. 16 11644 S. 33. A.A. Peglau JR 2012 231, 232 mit Fn. 6 unter Hinweis auf KG JR 2012 260 und die
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unterschiedliche Formulierung in Absatz 5 Satz 2. Das KG aaO hat sich mit dieser konkreten Frage jedoch überhaupt nicht auseinandergesetzt. Vgl. AnwK-UHaft/König 2. Dem kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden; ausf. zur Begr. Börner NStZ 2007 680, 681 f.; Park StV 2009 276, 278 ff.; Beulke/Witzigmann NStZ 2011 254, 260 f.; Meyer-Goßner/Schmitt 25b sowie bereits HW Rn. 160a und LR/Esser HW Art. 5, 360 EMRK; s. auch SSW/Beulke 39. Zur Rechtsfigur des tiefgreifenden Grundrechtseingriffs Jahn in: Jahn/Krehl/ Löffelmann/Güntge Rn. 288 ff. m.w.N. Oben Rn. 2 f.
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eröffnet. Ihre Ausfüllung entzieht sich einer zuverlässigen Prognose des Entscheidungsverhaltens der Staatsanwaltschaft. Damit sieht sich der Bundesgesetzgeber dem vielstimmigen Vorwurf ausgesetzt, hinter den Vorgaben der Rechtsprechung zur EMRK deutlich zurückzubleiben.21 Die Umsetzung wird als unnötig unklar gerügt. Sie trage den Verteidigungsbelangen eines Inhaftierten nicht ausreichend Rechnung und werde dem Prinzip der Waffengleichheit nicht gerecht. Dieser Kritik kann man sich, wie die folgende Analyse des Wortlauts der Vorschrift ergeben wird, nicht verschließen. Die Neuregelung der Einschränkungen des Rechts der Akteneinsicht in Absatz 2 Satz 2 entspricht den vom EGMR ausgesprochenen Leitlinien damit nur, wenn sie nach den nachstehenden Grundsätzen innerhalb der hier sehr weit gezogenen Wortlautgrenze konventionskonform ausgelegt wird.22 Daraus ergibt sich Folgendes: a) Zugänglichmachung in geeigneter Weise. Gem. Absatz 2 Satz 2 sind dem Vertei- 6 diger die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen „in geeigneter Weise“ zugänglich zu machen. Die Formulierung überlässt es nach dem gänzlich offenen Wortlaut dem Einzelfall, wie der Zielbestimmung nachzukommen ist. Damit sind für die Verfahrensbeschleunigung in Haftsachen unzuträgliche Auseinandersetzungen über die Frage vorprogrammiert, ob konkret die Gewährung von Akten- oder Teilakteneinsicht oder eine schriftliche bzw. sogar bloß mündliche Zusammenfassung des Ermittlungsstandes hinlangt, um die Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten herzustellen.23 aa) Mündliche Unterrichtung. Jedenfalls die nach dem deutschen Gesetzestext ohne 7 Weiteres zulässige mündliche Unterrichtung des Verteidigers über den Akteninhalt ist ausnahmslos – und damit auch in einfach gelagerten Sachen – konventionswidrig. Auf diesen modus procedendi darf also nicht zurückgegriffen werden. Er entspricht schon nicht dem Ziel der Grundregel in Absatz 1, deren Einschränkung in Absatz 2 deshalb stets in deren Lichte zu lesen ist. Die Akteneinsicht dient der Herstellung einer Konkretisierung des Waffengleichheitsrechts, nämlich der „Parität des Wissens“24. Erst dieser grundsätzliche Gleichlauf der Informationsflüsse erlaubt es dem Beschuldigten und seinem Verteidiger, den Gang des Verfahrens effektiv beeinflussen zu können. Dieses Postulat kommt gerade in der Rechtsprechung des EGMR unmissverständlich zum Ausdruck. Der Gerichtshof hat mehrfach betont, dass die Verteidigungsfähigkeit bei lediglich mündlicher Information oder solchen Mitteilungen, die den Sachverhalt lediglich nach dem Verständnis der Ermittlungsbehörden (zusammenfassend) schildern, nicht ausreichend gewährleistet ist. Es ist für den Betroffenen dann „faktisch unmöglich, die Zuverlässigkeit dieser Schilderungen wirksam anzufechten“25. Eigene Wertungen des Autors zur
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Erhoben von Pauly StV 2010 492, 493; D. Herrmann StRR 2010 4, 8; Roxin/Schünemann § 19, 67; Sommer Effektive Strafverteidigung (2011) Rn. 128; HK-GS/Weiler 7; Radtke/Hohmann 16; LR/Esser HW Art. 5, 358 EMRK; BRAK Stellungnahme Nr. 37/ 2008 14 ff.; dies. Stellungnahme Nr. 10/2009 5 f.; Strafverteidigervereinigungen (Stellungnahme) II.5.b; Jahn FS I. Roxin 585, 589. Jahn FS I. Roxin 585, 589. Zur konventionskonformen Auslegung nach den Maßstäben von BVerfGE 111 307, 317 (Fall Görgülü);
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BVerfGE 120 180, 200 f. (Fall Caroline von Monaco); BVerfGE 124 300, 319 (Fall Wunsiedel) unter methodischen Gesichtspunkten HW Einl. M, 37. Zutreffende Kritik daran schon im Gesetzgebungsverfahren bei Weider (Stellungnahme) 6. BGHSt 36 305, 309; Tsambikakis FS Richter 529; Jahn FH Tepperwien 25, 26; HW Rn. 4. EGMR Schöps/D 13.2.2001 = StV 2001 203, 204 Tz. 50; EGMR Lietzow/D 13.2.2001 = StV 2001 201, 202 Tz. 46; zust. Pauly StV
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(dringenden) Verdachtslage, die vom Verfahrensstand nicht getragen werden, sind hier ohne Kenntnis des zugrundeliegenden Beweismaterials nicht erkennbar.26 Deshalb sind auch Rückausnahmen für einfach gelagerte Sachverhalte schon deshalb nicht denkbar (und werden auch vom EGMR nicht erwogen), weil der Verteidiger nicht erkennen kann, ob und ggf. aus welchen Gründen der Sachverhalt tatsächlich einfach ist oder die Einschätzung der Staatsanwaltschaft – wenn auch nur unbewusst – fehlerbehaftet ist.27 Mit einer bloß mündlichen Information sind also in Haftsachen insgesamt die aus Art. 5 Abs. 4 EMRK abzuleitenden Anforderungen an ein kontradiktorisches Verfahren verletzt. Wenn die Staatsanwaltschaft die Akten lediglich dem Gericht, nicht aber dem Vertei8 diger vorlegt und das Gericht dann seine Entscheidung in umfassender Kenntnis dieser Akten trifft, ohne sie dem Verteidiger zugänglich zu machen, verstößt dieses Vorgehen bei einer den Beschuldigten belastenden Entscheidung zugleich gegen Art. 103 Abs. 1 GG, da es dann Tatsachen zum Nachteil des Beschuldigten verwertet, ohne ihn vorher hierzu gehört zu haben.28 Damit ist der Wesensgehalt (Art. 19 Abs. 2 GG) des Rechts auf rechtliches Gehör betroffen, dessen einfach-rechtliche Ausprägung § 147 ist.29 Deshalb besteht hinsichtlich solcher Tatsachen, die dem Beschuldigten lediglich in einer mündlichen Zusammenfassung zugänglich gemacht wurden, für die anstehende Haftentscheidung ein Beweisverwertungsverbot. Das kann je nach Beweislage im Übrigen zur Aufhebung oder zum Nichterlass des Haftbefehls im Einzelfall führen.30
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bb) Sonstige schriftliche Unterrichtung. Ob außerhalb unzulässiger mündlicher Unterrichtung eine zwar schriftliche, aber nur zusammenfassende Information des Verteidigers unterhalb des Authentizitätsgrades der (Teil-)Akteneinsicht konventionskonform ist, kann nur mit Blick auf den Einzelfall beurteilt werden. Dabei sind die Anforderungen des Art. 5 Abs. 4 EMRK umso eher gewahrt, wie die betroffenen Partien den Sachverhalt nicht lediglich – wenn auch nur unbeabsichtigt – nach dem Verständnis der Ermittlungsbehörden schildern. Insbesondere die schriftlichen Schlussberichte der Polizei genügen dem regelmäßig nicht. Eine vollständige Authentizitätsvermutung im Rahmen des Absatzes 2 Satz 2 hat daher im Ergebnis nur die vollständige Akteneinsicht. Noch konven-
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2010 492, 493; HbStrVf/Dallmeyer Kap. II, 354 f.; Meyer-Goßner/Schmitt 25a; SK/Wohlers 65; AnwK-StPO/Krekeler/Werner 27; HK/Julius 15. Auch der erste RegE v. 7.11.2008, BRDrucks. 829/08 S. 48, erkennt den abstrakten Rechtssatz ausdrücklich an, ohne dass hieraus für die letztliche Gesetzesfassung geeignete Konsequenzen gezogen worden wären. A.A. wohl Peglau JR 2012 231, 233 f.; er erwägt etwas unklare Ausnahmen für solche Konstellationen, in denen „unter keinem Gesichtspunkt ein Informationsdefizit auftreten kann“. Beulke/Witzigmann NStZ 2011 254, 257; Weider StV 2010 102, 105. St. Rspr. seit BVerfGE 18 399, 405; vgl. HW Rn. 77. Aus jüngerer Zeit VerfGH Sachsen, Beschl. v. 27.9.2010 – 60-IV-10, Tz. 17 f. (juris); LG Berlin StV 2010 352 f.; HW Rn. 2. Zum
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Entstehen eines unselbstständigen Beweisverwertungsverbots bei Wesensgehaltsverstößen vgl. Jahn Gutachten zum 67. Deutschen Juristentag 2008, S. C 72 (Beweisbefugnislehre). Zu den Konsequenzen seit dem „Paradigmenwechsel“ (Rau StraFo 2008 9, 15) mit EGMR Lamy/B 30.3.3989 = StV 1993 283 mit Bespr. Zieger StV 1993 320 und R. Schmitz wistra 1993, 319 siehe BVerfG (2. Kammer des 2. Senats) NJW 1994 3219, 3220; OLG Brandenburg NStZ-RR 1997 107; vgl. auch AG Halle (Saale) StRR 2012 356 m. zust. Anm. Hunsmann; Tsambikakis ZIS 2009 503, 505 f.; Peglau JR 2012 231, 232; Paeffgen (Stellungnahme) 10; SK/Wohlers 65; AnwK-UHaft/König 4; HK/Julius 15; Sommer Effektive Strafverteidigung (2011) Rn. 129; Krehl in: Jahn/Krehl/Löffelmann/ Güntge, Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen (2011) Rn. 472.
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tionskonform kann je nach Tatvorwurf im Einzelfall auch die Teilakteneinsicht in alle für die Haftentscheidung (oder eines ihrer Derivate) wesentlichen Teile sein.31 Alle übrigen Informationsvermittlungsstrategien der Staatsanwaltschaft sind – neben dem gerade in Haftsachen unzuträglichen Zeitaufwand zu ihrer Erstellung – jedenfalls konventionsrechtlich risikobehaftet und damit schon aus Gründen der Verfahrensökonomie untunlich. Im Ergebnis wird man also zumindest dann, wenn nicht ganz besondere Umstände vorliegen, davon ausgehen müssen, dass nur die Einsicht in die Akten den menschenrechtlichen Anforderungen sicher gerecht wird.32 Die vom BVerfG in jüngerer Zeit verwendete Formulierung, nach der dem Beschuldigten die Beweismittel in gleicher Art und Weise „zugänglich und anschaulich“ gemacht werden müssten wie dem Richter,33 spricht dafür, dass auch Karlsruhe der Sache nach auf die Straßburger Linie eingeschwenkt ist.34 b) Die „wesentlichen“ Informationen. Bislang haben weder BVerfG noch EGMR ge- 10 fordert, dass dem Verteidiger stets alle Aktenteile überlassen werden müssen. Indes kann es sich bei den für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit relevanten Informationen im Einzelfall um die Vermittlung der vollständigen Ermittlungsakten handeln.35 Was nun die im Einzelfall für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung durch das Gericht „wesentlichen“ Informationen sind, ist aus der Perspektive der Verteidigung unklar. Die inhaltliche Auswahlentscheidung wird nach der formalen Entscheidung des Weges der Informationsvermittlung nach dem Wortlaut des Absatzes 2 Satz 2 erneut der Staatsanwaltschaft überlassen. Deren Wertungen werden damit zugleich (wiederum) einer Kontrolle durch den Verteidiger entzogen. Was bleibt, ist ein vorhersehbares und im Einzelfall zeitraubendes Konfliktpotenzial. Letztlich dürfte regelmäßig einzig die Beurteilung der Wesentlichkeit aus Sicht des Verteidigers in Abstimmung mit seinem Mandanten den berechtigten Verteidigungsinteressen wirklich gerecht werden. Schon vor zwei Jahrzehnten hat der 2. Strafsenat unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den für § 147 zentralen Topos der „Parität des Wissens“ ausgesprochen: „Es muß dem Angeklagten und seinem Verteidiger überlassen bleiben, selbst zu beurteilen, ob die Ermittlungsergebnisse entweder schon für sich gesehen ‚verteidigungsrelevant‘ sind oder zumindest Ansatzpunkte für weiteres Verteidigungshandeln bieten“36. Im Zusammenhang des Absatzes 2 Satz 2 besteht gerade deshalb die Gefahr, dass bei 11 einer selektiven Übermittlung von Ermittlungsergebnissen durch die Brille der Ermitt31
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Im Ergebnis ebenso, wenn auch unter zweifelhafter Bezugnahme auf EGMR Falk/D 11.5.2008 = NStZ 2009, 164 f. (wo es nicht um die Gewährung von Akteneinsicht, sondern um die Besichtigung von Beweisstücken ging), Strafner NStZ 2009 165 f.; Beulke/ Witzigmann NStZ 2011 254, 259; Peglau JR 2012 231, 232 f.: Es müsse jedenfalls nicht derjenige Akteninhalt zur Verfügung gestellt werden, der den Verdacht gegen den Beschuldigten nicht in Frage stelle. Jahn FS I. Roxin 585, 599 (dort auch zum Vorstehenden); ebenso Deckers StraFo 2009 441, 444; R. Michalke NJW 2010 17, 18; Beulke/Witzigmann NStZ 2011 254, 257; Weider StV 2010 102, 105; Schlothauer/ Weider (Untersuchungshaft) Rn. 242, 249; Krehl in: Jahn/Krehl/Löffelmann/Güntge,
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Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen (2011) Rn. 472; Radtke/Hohmann 19 f. BVerfG (3. Kammer des 2. Senats) NJW 2006 1048, 1049) BVerfG (3. Kammer des 2. Senats) NStZ-RR 2008 16, 17. Wie hier Park StV 2009 276, 279; Schlothauer/Weider (Untersuchungshaft) Rn. 435 a.E; SSW/Beulke 38; offen gelassen von Peglau JR 2012 231, 232. So wohl auch Beulke (EGMR) 71, 75; weiter gehend D. Herrmann StRR 2010 4, 8; Roxin/Schünemann § 19, 67; Sommer Effektive Strafverteidigung (2011) Rn. 128; HK/Julius 15. BGHSt 34 305, 312; erg. Tsambikakis ZIS 2009 503, 506; D. Herrmann StRR 2010 4, 9.
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lungsbehörden entlastende Anhaltspunkte, schon weil das Hintergrundwissen und weitere Informationsquellen, die der Verteidigung offenstehen, der Staatsanwaltschaft fehlen, unter den Tisch fallen.37 „Unwesentlich“ in diesem Sinne sind also grundsätzlich nur solche Aktenteile, die ausschließlich Mitbeschuldigte betreffen.38 Und letztlich wird in jedem Falle selektiver Bekanntgabe auch dem Haftrichter die konventionsrechtlich zwingende Entscheidung erschwert, ob im Einzelfall die Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten hergestellt werden konnte.39 Effektive Verteidigung, tatsächliche Waffengleichheit und Rechtssicherheit in einem kontradiktorisch geführten Verfahren gewährleistet in aller Regel also auch unter dem Gesichtspunkt der Wesentlichkeit der Informationen nur die (Teil-)Akteneinsicht.40 Das so verstandene Wesentlichkeitskriterium hat auch eine weitere wichtige proze12 durale Konsequenz: Die wesentlichen Informationen müssen nach dem Sinn und Zweck der Regelung auch zur rechten Zeit zur Verfügung stehen. Wird dem Verteidiger also erst im Vorführtermin oder im Termin zur Verkündung des Haftbefehls Akteneinsicht gewährt, wird es ihm – von ganz seriellen Fällen abgesehen – häufig faktisch unmöglich sein, die Akten gewissenhaft durchzuarbeiten und den Inhalt mit dem Mandanten zu erörtern. Der Verteidiger muss also – bei allen unmittelbaren Nachteilen für die Freiheitsrechte des Mandanten – im Zweifel beantragen, den Termin zu unterbrechen. Widrigenfalls „ist so zu verfahren, als habe er Akteneinsicht noch nicht gehabt“41.
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c) Akteneinsicht als Regelfall. Der Halbsatz, in der Regel sei nach den vorstehenden Grundsätzen („insoweit“) Akteneinsicht zu gewähren, fehlte noch in den Regierungsentwürfen vom 7.11.200842 und vom 21.1.200943. Die Formulierung wurde erst auf Empfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages in seiner 224. Sitzung am 28.5.2009 nach der Sachverständigenanhörung in den Gesetzestext aufgenommen. Es sollte klargestellt werden, dass die Übermittlung der wesentlichen Informationen regelmäßig nur durch Gewährung von Akteneinsicht (also auch bei Annahme der Gefährdung des Untersuchungszwecks, soweit die betroffenen Aktenteile nach Auffassung der Staatsanwaltschaft für die Haftentscheidung unverzichtbar sind) stattfinden kann.44 Damit kann vor dem Hintergrund der breiten und treffenden Kritik an der unbestimmten Terminologie des 1. Halbsatzes in der Sachverständigenanhörung und der ersten Lesung des Entwurfs im Bundestag und unter Berücksichtigung der kurz zuvor bekannt gewordenen, die bisherigen Leitsätze unterstreichenden Rechtsprechung des EGMR – in der Rechtssache Kunkel 45 hatte die Bundesregierung nunmehr selbst einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4 EMRK eingeräumt – eigentlich nur die vollständige Akteneinsicht nach den Maßgaben der Straßburger Rechtsprechung gemeint sein.46 37
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So auch Weider StV 2010 102, 105; Beulke/ Witzigmann NStZ 2011 254, 257; AnwKUHaft/König 3. Vgl. auch Sommer Effektive Strafverteidigung (2011) Rn. 129 a.E. Vgl. Kazele NJ 2010 1, 4. Jahn FS I. Roxin 585, 599; ebenso bereits Tsambikakis (Stellungnahme) 4; Schlothauer/Weider (Untersuchungshaft) Rn. 436; Weider (Stellungnahme) 6. AG Halberstadt StV 2004 549, 550; ebenso AG Halle (Saale) StRR 2012 356 m. zust. Anm. Hunsmann; Tsambikakis ZIS 2009 503, 506.
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Vgl. BRDrucks. 829/08 S. 6. Vgl. BTDrucks. 16 11644 S. 9. Für eine Auslegung im Sinne von „stets“ SSW/Beulke 40. BTDrucks. 16 13097 S. 10, 19. Vgl. EGMR Kunkel/D 2.6.2009 = EuGRZ 2009 472. Siehe die Wortbeiträge von S. Kauder, Montag und Danckert in BTProt. 16 205 S. 22198 ff.; vgl. im Übrigen Paeffgen GA 2009 450, 463; Morgenstern ZIS 2011 240, 242; R. Michalke NJW 2013 2334.
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Nachtr. § 147 StPO
Elfter Abschnitt. Verteidigung
Da nach dem Wortlaut lediglich „insoweit“ Akteneinsicht zu gewähren ist, stellt sich 14 dennoch die Frage, ob sich dies auf die Voraussetzungen oder die Rechtsfolgen des ersten Halbsatzes beziehen soll. Die Gesetzgebungsmaterialien geben keine belastbare Auskunft. Richtigerweise kann die Vorschrift aber nur so verstanden werden, dass sie die Tatbestandsseite betrifft.47 Anderenfalls ließe sich die Gefahr nicht von der Hand weisen, dass der 2. Halbsatz zu einem Einfallstor für weitergehende Einschränkungen als sogar noch unter der alten Fassung des Absatzes 2 werden könnte. Quasi durch die Hintertür könnte so wieder der Ablehnungsgrund der Gefährdung des Untersuchungszwecks auch in Haftsachen eingeführt werden.48 Mehr noch: Ein derartiges Verständnis hätte sogar zur Folge, dass einem Akteneinsichtsgesuch auch die Gefährdung des Untersuchungszwecks in einem anderen Verfahren entgegengehalten werden könnte. Denn im Rahmen des Satzes 1 kann sich eine der Gewährung von Akteneinsicht entgegenstehende Gefährdung des Untersuchungszwecks nunmehr49 auch daraus ergeben, dass durch die beantragte Akteneinsicht der Untersuchungszweck in einem anderen Strafverfahren gefährdet würde. Dies hat der BGH-Ermittlungsrichter50 in einer neueren Entscheidung in einem Verfahren nach dem VStGB mit Berührung zu einem Prozess vor dem Den Haager IStGH entschieden. Der RegE51 sah eine solche Erweiterung (wie bei Absatz 7 Satz 1) auf andere Verfah- 15 ren sogar explizit vor. Dieser Einschub wurde zwar im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens auf Empfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages wieder gestrichen. Eine Aussage über die Zulässigkeit der Versagung der Akteneinsicht im Hinblick auf eine Gefährdung des Untersuchungszwecks in einem anderen Verfahren sollte damit aber ausdrücklich nicht verbunden sein; ebenso sollte einem Umkehrschluss aus Absatz 7 vorgebeugt werden. Vielmehr wurde befürchtet, der Einschub könne unerwünschte Rückschlüsse oder Wertungswidersprüche in Bezug auf andere Bestimmungen der Strafprozessordnung zur Folge haben, die ebenfalls auf eine Gefährdung des Untersuchungszwecks abstellen.52 Vor diesem Hintergrund muss vor der Gefahr einer übermäßigen Beschränkung des Akteneinsichtsrechts bei unsachgemäßem Verständnis des Absatzes 2 Satz 2 gewarnt werden.53 Will man den Zweck der Neuregelung also nicht in sein Gegenteil verkehren, können mit ihr keinesfalls weiter gehende Einschränkungsmöglichkeiten als nach dem vor dem 2010 geltenden Recht verbunden sein. Dies hat, wenn auch nur beiläufig, das KG54 mittlerweile ausdrücklich anerkannt. Absatz 2 Satz 2 erweiterte nach dem Kammergericht vielmehr die Rechte des Beschuldigten: „Befindet er sich in Haft, sind seinem Verteidiger die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung wesentlichen Unterlagen in geeigneter Weise zur Verfügung zu stellen, ohne dass es auf die Gefährdung des Untersuchungszweckes ankäme“. 3. Der aktenbezogene Informationsgewährungsanspruch des unverteidigten Beschul- 16 digten (Absatz 7). Dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, sind nach Absatz 7 seit 47 48
49 50
A.A. Meyer-Goßner/Schmitt 25a; OKStPO/Wessing 6; AnwK-UHaft/König 3. Vgl. Schöch Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts, abrufbar über webarchiv.bundestag.de, 1; Radtke/Hohmann 19. S. zur gegenteiligen früheren Rspr. HW Rn. 132. BGH (ER) StV 2012 321, 323 (dort auch
51 52 53 54
bereits zum nachfolgenden Text) m. abl. Anm. Tsambikakis; dazu tendierend auch Meyer-Goßner/Schmitt 25; krit. Strafverteidigervereinigungen (Stellungnahme) II.5.a. BRDrucks. 829/08 S. 6. Vgl. BTDrucks. 16 13097 S. 19. Tsambikakis StV 2012 323, 325 Fn. 14 im Anschluss an Jahn FS I. Roxin 585, 597 f. KG JR 2012 260, 261 (Hervorh. v. Verf.)
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dem 1.10.2010 auf seinen Antrag die zu einer angemessenen Verteidigung erforderlichen Auskünfte und Abschriften aus den Akten zu erteilen, soweit (dadurch) der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Strafverfahren, nicht gefährdet werden kann und nicht überwiegend schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen. Für einen erfolgreichen Antrag auf Information aus der Akte ist es hingegen nicht erforderlich, dass der Antragsteller die Aktenbestandteile, über die er Auskunft begehrt, im Einzelnen benennt.55 Denn durch den Auskunftsgewährungsanspruch soll der Antragsteller gerade erst in die Lage versetzt werden, Aufschluss über ihm bis dahin unbekannte Aktenbestandteile zu erhalten, die er in Ermangelung eigener Kenntnis naturgemäß vorab nicht zu benennen vermag. Die praktische Relevanz der Vorschrift dürfte sich freilich gegenüber dem alten Recht etwas verringert haben. Infolge der Neufassung der §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 Satz 4 wird dem Beschuldigten nun häufiger bereits in einem frühen Verfahrensstadium ein (Pflicht-)Verteidiger beistehen.56 Damit ist der Anwendungsbereich der Grundregel des Absatzes 1 eröffnet.57 Nach wie vor wird dem nicht verteidigten Beschuldigten ein generelles Aktenein17 sichtsrecht „in Anbetracht der Missbrauchsmöglichkeiten“58 verwehrt. Diese Einschätzung des Gesetzgebers muss man im Rahmen seiner Prärogative solange hinnehmen, wie nicht durch die in Angriff genommene Einführung der elektronischen Ermittlungsakte auch in Strafsachen geeignete technische Vorkehrungen zum Schutz der Aktenintegrität verfügbar sind.59 Auch wenn der Beschuldigte nunmehr nach Absatz 7 grundsätzlich einen Anspruch auf die Erteilung von Auskünften und Abschriften aus den Akten hat, hält die ganz überwiegende Rspr.60 – insoweit immerhin konsequent – am Erfordernis der Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen der Notwendigkeit der umfassenden Akteneinsicht fest.61 Immerhin verbessert das UHaftÄndG seine Rechtsstellung auf der Rechtsfolgenseite. 18 Bis zum Jahr 2010 bestand für die Ermittlungsbehörden im Rahmen des Absatzes 7 a.F. ein Ermessensspielraum („können“). Nunmehr räumt der Gesetzgeber dem Beschuldigten einen Anspruch ein („sind“).62 Auch hier stand wiederum63 die Rechtsprechung des EGMR Pate. Der Gerichtshof hatte schon im Fall Foucher 64 ausgesprochen, dass die
55 56 57 58
59 60
KG StRR 2011 102 f. Nachtr. § 141, 5; vgl. auch SSW/Beulke 47 a.E. Vgl. Bittmann NStZ 2010 13, 16; AnwKStPO/Krekeler/Werner 31; HK/Julius 22. Begr. RegE v. 21.1.2009, BTDrucks. 16 11644 S. 34; gleichlautend RAussch. BRat, Empfehlung zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Belehrung in Strafverfahren v. 4.10.2010, BRDrucks. 459/1/10 S. 6; krit. Schroeder/Verrel § 12, 94. S. unten Rn. 26 ff. OLG Köln StV 2012 719 (allerdings unter Hinweis auf vor der Gesetzesänderung ergangene eigene Senatsrspr. und ohne Absatz 7 auch nur zu erwähnen); OLG Köln StraFo 2011 508; OLG Köln StV 2011 508, 509; OLG Stuttgart Beschl. v. 3.1.2011 – 2 Ws 193/10 (unveröff.); LG Berlin NStZ
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61 62
63 64
2010 536; LG Lübeck StV 2011 664; LG Cottbus StV 2012, 525; LG Hamburg Beschl. v. 28.2.2012 – 642 Qs 14/12 (unveröff.); AG Hamburg-Barmbek Beschl. v. 28.2.2012 – 841 Ds 6106 Js 79/09 (17/12) (unveröff.); anders aber unter Hinweis auf Absatz 7 KG Beschl. v. 25.9.2012 – 4 Ws 102/12 (unveröff.). Vgl. dazu auch HW § 147, 77; LR/Esser HW Art. 6, 644 a.E. und erg. Nachtr. § 141, 2. Zur Spruchpraxis zu Absatz 7 n.F. OLG Karlsruhe NStZ-RR 2010 287; KG Beschl. v. 25.9.2012 – 4 Ws 102/12 (unveröff.); LG Essen StV 2011 663, 664; zusf. Radtke/Hohmann 31. S. oben Rn. 2. EGMR Foucher/F 17.2.1997 = NStZ 1998 429, 430 m. zust. Anm. Deumeland; Böse StraFo 1999 293; LR/Esser HW Art. 6, 644 EMRK; HW Rn. 6.
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Weigerung der Staatsanwaltschaft, dem Beschuldigten bei seiner Verteidigung in eigener Person Akteneinsicht zu gewähren und Kopien aus der Akte auszuhändigen, Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK verletzen kann. Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren vom 22.5.201265 knüpft daran an und sieht ein generelles, freilich wiederum gegenständlich nur auf die „wesentlichen“ Unterlagen66 bezogenes, jedoch im Umkehrschluss aus Absatz 4 („abweichend von den Absätzen 2 und 3“) grundsätzlich nicht beschränkbares Akteneinsichtsrecht des nicht verteidigten Beschuldigten vor: Artikel 7 Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte (1) Wird eine Person in irgendeinem Stadium des Strafverfahrens festgenommen und inhaftiert, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass alle Unterlagen zu dem gegenständlichen Fall, die sich im Besitz der zuständigen Behörden befinden und für eine wirksame Anfechtung der Festnahme oder Inhaftierung gemäß dem innerstaatlichen Recht wesentlich sind, den festgenommenen Personen oder ihren Rechtsanwälten zur Verfügung gestellt werden. (2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder ihren Rechtsanwälten Einsicht in zumindest alle im Besitz der zuständigen Behörden befindlichen Beweismittel zugunsten oder zulasten der Verdächtigen oder beschuldigten Personen gewährt wird, um ein faires Verfahren zu gewährleisten und ihre Verteidigung vorzubereiten. (3) 1Unbeschadet des Absatzes 1 wird Zugang zu den in Absatz 2 genannten Unterlagen so rechtzeitig gewährt, dass die Verteidigungsrechte wirksam wahrgenommen werden können, spätestens aber bei Einreichung der Anklageschrift bei Gericht. 2Gelangen weitere Beweismittel in den Besitz der zuständigen Behörden, so wird Zugang dazu so rechtzeitig gewährt, dass diese Beweismittel geprüft werden können. (4) 1Abweichend von den Absätzen 2 und 3 kann, sofern das Recht auf ein faires Verfahren dadurch nicht beeinträchtigt wird, die Einsicht in bestimmte Unterlagen verweigert werden, wenn diese Einsicht das Leben oder die Grundrechte einer anderen Person ernsthaft gefährden könnte oder wenn dies zum Schutz eines wichtigen öffentlichen Interesses unbedingt erforderlich ist, wie beispielsweise in Fällen, in denen laufende Ermittlungen gefährdet werden könnten oder in denen die nationale Sicherheit der Mitgliedstaaten, in denen das Verfahren stattfindet, ernsthaft beeinträchtigt werden könnte. 2Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass im Einklang mit den Verfahren des innerstaatlichen Rechts die Entscheidung, die Einsicht in bestimmte Unterlagen gemäß diesem Absatz zu verweigern, von einer Justizbehörde getroffen wird oder zumindest einer richterlichen Prüfung unterliegt. (5) Die Einsichtnahme nach diesem Artikel wird unentgeltlich gewährt.
Zu befürchten ist allerdings – wie bei Absatz 2 Satz 2 – auch hier, dass es unabhängig 19 von den aus der Belehrungsrichtlinie entstehenden Notwendigkeiten richtlinienkonformer Auslegung ohne Einspiegelung der konventionsrechtlichen Grundlagen bei einer nur vordergründigen Verbesserung der Rechtsstellung des unverteidigten Beschuldigten mit Absatz 7 n.F. verbleibt. Schon die Vorgaben des EGMR wurden bislang nur unzureichend umgesetzt.67 So wird zwar die Rechtsfolgenseite gestärkt, aber die bisherigen Beschränkungsmöglichkeiten des aktenbezogenen Informationsanspruchs (Gefährdung des Untersuchungszwecks; kein Entgegenstehen schutzwürdiger Interessen Dritter) bestehen fort. Zudem wurden die Möglichkeiten der Staatsanwaltschaft, die Akteneinsicht wegen des unbestimmten Rechtsbegriffs einer Gefährdung des Untersuchungszwecks abzulehnen, entgegen bisheriger Rechtsprechung68 sogar noch auf andere Strafverfahren 65
RL 2012/13/EU, Abl. L 142 v. 1.6.2012, S. 1; vgl. dazu (mit berechtigter Kritik am ursprünglichen, generalklauselartigen Ratsvorschlag) Brodowski ZIS 2011 940, 947.
66 67 68
Oben Rn. 10 ff. So auch Wohlers StV 2009 539. OLG Schleswig StV 1989 95, 96; vgl. ausf. HW Rn. 132.
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erweitert.69 Folgt man – was angesichts des Gesetzeswortlauts unumgänglich erscheint – der Begründung des Regierungsentwurfs vom 21.1.2009,70 sollen hier etwa die Fälle eines zugleich gegen denselben Beschuldigten oder andere (noch unbekannte) Mitbeschuldigte laufenden Strafverfahrens erfasst werden, in dem sich die Ermittlungen noch in einem frühen Stadium befinden. Die Gewährung von Auskünften und Abschriften aus den Akten könne hier unerwünschte Rückschlüsse auf laufende und geplante Ermittlungen zulassen und unter Umständen zu Verdunklungshandlungen führen. Hinsichtlich der sich dann anschließenden inhaltlichen Frage, wann von einer Gefährdung des Untersuchungszwecks in dem oder den anderen Verfahren auszugehen ist, kann aber nichts anderes als bisher gelten.71 Nimmt man hingegen das gesetzgeberische (und konventionsinduzierte) Anliegen 20 einer tatsächlichen Verbesserung der Rechte des Beschuldigten ernst, muss im Übrigen selbst im Falle einer Gefährdung des Untersuchungszwecks die Akteneinsicht nicht versagt werden. Die Staatsanwaltschaft kann dies tun.72 Sie sollte angesichts des Standes der Auslegung der Konvention durch den EGMR von dieser Möglichkeit umsichtig Gebrauch machen. Nicht nur in einem solchen Fall ist also die Möglichkeit der Gewährung von (faktischer) (Teil-)Akteneinsicht durch großzügige Erteilung von Abschriften im Wege konventionsfreundlicher Auslegung des geltenden Rechts sorgfältig zu prüfen.73
II. Änderungen durch das 2. OpferRRG (Absatz 5) 21
1. Bedeutung. Mit dem 2. OpferRRG verfolgte der Gesetzgeber primär das Anliegen, die seit 1986 stetig erweiterten Rechte der Verletzten und (Opfer-)Zeugen von Straftaten nochmals auszubauen.74 Die Änderung bei § 147 ist vor diesem Hintergrund vor allem im Zusammenhang des verfassungs- und menschenrechtlich motivierten Bedürfnisses nach Herstellung von Waffengleichheit zwischen dem Verletzten und dem Beschuldigtem erklärbar.75 Ein wichtiges, mit den Änderungen durch das 2. OpferRRG verfolgtes Desiderat war hier die generelle Erstreckung der unzureichenden Überprüfungsmöglichkeit nach Absatz 5 Satz 2 a.F. auf sämtliche Fälle der Versagung von Akteneinsicht. Dabei sollten aber die legitimen Geheimhaltungsinteressen der Strafverfolgungsbehörden gewahrt bleiben.76 Damit ist – neben der Interpretation des § 142 – zugleich die teleologische Maxime für die Auslegung der Rechtsschutzerweiterung in Absatz 5 formuliert: Es geht um die Sicherung der Zielbestimmung einer „Parität des Wissens“ der Verfahrensbeteiligten. Soweit innerhalb der Wortlautgrenze der Vorschrift Auslegungsspielräume verbleiben, sind also die Rechtsschutzmöglichkeiten der Verteidigung im Sinne der Herstellung von Waffengleichheit im Zweifel erweiternd zu interpretieren.77 69 70 71 72
73
S. auch oben Rn. 14 f. BTDrucks. 16 11644 S. 34. Zur Auslegung HW Rn. 133 ff.; ebenso SSW/Beulke 49. Zur Natur der Ermessensentscheidung Schlothauer StV 2001 192, 195. Satzger StraFo 2006 45, 47 hält mit guten Gründen auch in diesen Fällen eine Bescheidungs- und Begründungspflicht für unerlässlich. Jahn FS I. Roxin 585, 599 unter Hinweis auf BTDrucks. 16 11644 S. 34. Ebenso LR/Esser HW Art. 6, 644 EMRK; Meyer-
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74 75 76 77
Goßner/Schmitt 4 i.V.m. 25; Krehl in: Jahn/Krehl/Löffelmann/Güntge, Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen (2011) Rn. 472 Fn. 277; enger („ausnahmsweise“) OK-StPO/Wessing 2. Siehe BTDrucks. 16 12098 S. 1; vgl. dazu ausf. – m.w.N. – Nachtr. § 142, 1. S. nochmals Nachtr. § 142, 1 m.w.N. Vgl. Satzger StraFo 2006 45, 47. Jahn FH Tepperwien 25, 26 und erg. Nachtr. § 142, 1.
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2. Einzelheiten. Die Neufassung des Absatzes 5 vermag vor dem Hintergrund ihres ent- 22 stehungsgeschichtlichen Zusammenhangs zu überzeugen.78 Hier optiert das 2. OpferRRG bei der Anfechtbarkeit der die Versagung der Akteneinsicht bestätigenden gerichtlichen Entscheidung nunmehr für eine neue Rechtsschutzmöglichkeit. Diese Entscheidung war nach bisheriger Rechtslage aufgrund des in Absatz 5 Satz 2 enthaltenen Verweises auf § 161a Abs. 3 Satz 4 nicht anfechtbar. Nach Wegfall dieses Verweises kann gegen die gerichtliche Entscheidung nunmehr Beschwerde gem. § 304 Abs. 1 eingelegt werden.79 Das ist im Sinne der Herstellung von Waffengleichheit mit dem Verletzten zu begrüßen.80 Da nämlich auch in § 406e Abs. 4 Satz 2 seit 1.10.2009 kein entsprechender Verweis mehr vorhanden ist, ist für diesen ebenfalls die Möglichkeit eröffnet, gegen eine ablehnende Entscheidung des Gerichts mit der Beschwerde vorzugehen. Dies gilt zwar nur für die Zeit nach Ermittlungsabschluss, vgl. § 406e Abs. 4 Satz 4. Ein solcher Fall wird aber, da der Verletzte anders als der Beschuldigte üblicherweise kein vitales Interesse daran hat, schon während der „geheimen“ Phase der Ermittlungen auf dem Laufenden zu bleiben,81 i.d.R. gegeben sein. Ob und inwieweit dem Beschuldigten auch in den über Absatz 5 Satz 2 n.F. hinaus- 23 gehenden Fällen die Eröffnung des Rechtsweges gegen die Versagung der Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren vor Abschluss der Ermittlungen eingeräumt werden soll, will der Reformgesetzgeber offenbar weiterhin82 erst im Zusammenhang mit einer Reform aller Rechtsmittel entscheiden.83 Ob und wann dieses Projekt allerdings angegangen wird, ist noch immer nicht einmal in Umrissen abzusehen.84 Eine angesichts der frühzeitigen Weichenstellungen durch das Ermittlungsverfahren notwendige effektive Verteidigung macht es aber weiterhin erforderlich, dass grundsätzlich alle Entscheidungen der Staatsanwaltschaft betreffend Gewährung von Akteneinsicht an den Verteidiger einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich gemacht werden und nicht nur in den drei Sonderfällen der Akteneinsichtsverweigerung bei nicht auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten, der Verweigerung der Einsicht in den Fällen des Absatzes 3 und bei Gesuchen nach Abschluss der Ermittlungen.85 Der Beschuldigte hat also mit Ausnahme der drei Spezialfälle des Absatzes 5 Satz 2 24 derzeit noch immer keine in der Praxis anerkannte Möglichkeit, die Verweigerung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft gerichtlich überprüfen zu lassen. Wird hingegen ein Antrag des Verletzten auf Akteneinsicht von der Staatsanwaltschaft abgelehnt, so kann dieser gem. § 406e Abs. 4 Satz 2 hierüber stets eine gerichtliche Entscheidung herbeiführen. Gibt das angerufene Gericht daraufhin der Staatsanwaltschaft Recht, besteht für den Verletzten sogar noch die weitere Option, Beschwerde gem. § 304 Abs. 1
78
79
80
Siehe – auch zum Nachfolgenden – schon Jahn FS I. Roxin 585, 586; ders. FH Tepperwien 25, 27 f. Gegen eine Schlechterstellung des Beschuldigten bereits HW Rn. 158 f. sowie SK/Wohlers 112. BTDrucks. 16 12098 S. 21; Arenhövel Schriftliche Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren, abrufbar über webarchiv.bundestag.de, 5; OK-StPO/Wessing 27a. Jahn FH Tepperwien 25, 27 (dort auch
81 82 83 84 85
bereits zum Nachfolgenden); s. aber sogleich Rn. 23. Vgl. LR/Hilger HW § 406e, 3. Vgl. bereits BTDrucks. 14 1484 S. 22. Vgl. schon HW Rn. 161. Statt aller Rieß ZIS 2009 466, 470 f. S. bereits AE-EV 53 ff.; DAV AnwBl. 2006 24; Schlothauer StV 2001 192, 196; Freund GA 2002 82, 87; Schünemann ZStW 114 (2002) 1, 41 f.; Satzger StraFo 2006 47; Jahn ZStW 115 (2003) 815, 826 f.; HW Rn. 176.
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einzulegen.86 Mit Waffengleichheit hat das nur dann zu tun, wenn man diesen Begriff bis zur Unkenntlichkeit kleinrechnet.87 Dazu tritt ein praktisches Problem, wenn der (oder die) Vertreter des (oder der) Ver25 letzten und der Verteidiger des Beschuldigten gleichzeitig Akteneinsicht beantragen. Es kann sich dann die Frage stellen, welches Akteneinsichtsgesuch zeitlich vorrangig zu behandeln ist, wenn noch keine ausreichende Anzahl von Duplo-Akten hergestellt ist (Nr. 12 Abs. 2 RiStBV).88 § 406e Abs. 2 Satz 3 und Nr. 184 RiStBV lösen das Problem nicht unmittelbar, denn eine unangemessene Verfahrensverzögerung würde in beiden Richtungen eintreten. Zutreffend dürfte es sein, die Wertung des Versagungstatbestandes in § 406e Abs. 2 Satz 1 Var. 1 („überwiegende schutzwürdige Interessen des Beschuldigten“) heranzuziehen, der vom Gesetzgeber systematisch an hervorgehobener Stelle positioniert worden ist. Gemeint sind richtigerweise nicht nur Geheimnisschutzinteressen, sondern auch das durch Absatz 1 verbriefte elementare Verteidigungsinteresse des Beschuldigten.89 In der Konsequenz ist also zunächst dem Verteidiger des Beschuldigten Akteneinsicht zu gewähren.
III. Vorgeschlagene Änderungen im Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen 26
1. Bedeutung. Das geplante Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen ist Teil eines umfassenden Gesetzgebungspakets zum elektronischen Rechtsverkehr.90 Der Referentenentwurf will künftig erstmals eine elektronische Aktenführung in Strafsachen ermöglichen. Außerdem sollen die schon existierenden Regelungen zum elektronischen Rechtsverkehr mit Staatsanwaltschaften und Strafgerichten einfacher und effizienter gestaltet werden. Das – in der 17. WP nicht mehr zu Ende diskutierte – Gesetz sollte ursprünglich gem. Art. 7 Abs. 2 RefE erst am 1.1.2018 in Kraft treten (§ 32 Abs. 1 StPO-E). Gem. Art. 2 RefE sollte aber durch Rechtsverordnung ein Termin vor dem 1.1.2022 (sog. Big Bang-Zeitpunkt)91 bestimmt werden können, bis zu dem die Akten noch in Papierform geführt werden können oder bis zu dem die elektronische Aktenführung auf einzelne Gerichte oder Staatsanwaltschaften oder allgemein auf bestimmte Verfahren beschränkt wird (§ 12 Abs. 2 EGStPO-E, sog. Opt-out-Möglichkeit). Nach den jüngsten zeitlichen Planungen zwischen Bund und Ländern, die zum Zeitpunkt des Manuskriptabschlusses noch andauern, soll jedenfalls der Zeitpunkt für eine Pilotierungsphase in einzelnen Bundesländern nunmehr (schon!) auf das Jahr 2015 vorverlegt werden; im Gegenzug soll der Zeitpunkt der Allgemeinverbindlichkeit der Führung der elektronischen Akte in Strafsachen auf das Jahr 2025 nach hinten verschoben werden. 86 87 88
89
90
S. oben Rn. 22. In diesem Sinne auch BRAK Stellungnahme Nr. 9/2009 6. Zu den Anwendungsgrundsätzen Jahn/Lips StraFo 2004 229, 231; HbStrVf/Jahn Kap. II, 20. Dem steht auch die bisher h.M. nicht entgegen, da sie nur „in erster Linie persönlichkeitsrechtliche Interessen“ (LR/Hilger HW § 406e, 18) zu schützen beabsichtigt. S. das Gesetz zur Förderung der elektronischen Verwaltung sowie zur Änderung weiterer Vorschriften (BTDrucks. 17 11473; 17 13139; BRDrucks. 356/13 [Beschluss])
230
91
und das Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten v. 10.10.2013 (BGBl. I 2013 S. 3786; Materialien: BTDrucks. 17 13948; BRDrucks. 500/13; 500/13 [Beschluss]); einführend Kriszeleit AnwBl. 2013 91, 93; Meyer-Seitz AnwBl. 2013 89 f. und speziell zur E-Justice im deutschen Strafverfahren Knierim StV 01/2013 I (Editorial). Zust. zur Länge der ursprünglichen Übergangsregelung (bezogen auf den DE, in dem noch vom Jahr 2020 die Rede war) DAV Stellungnahme Nr. 79/2012 3.
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2. Grundsätzliche Bewertung. Die geplante Einführung einer elektronischen Akte in 27 Strafsachen ist grundsätzlich zu begrüßen.92 Sie kann den Beschleunigungs- und Verteidigungsinteressen des Beschuldigten zu Gute kommen. Insbesondere kann durch die geplante Reform nicht nur der Aktentransfer, der sich noch heute wie im 19. Jahrhundert im Wesentlichen über den Ab- und Zutrag auf dem „Aktenbock“ und den Aktenwagen des Justizwachtmeisters vollzieht, erheblich beschleunigt werden. Auch ist eine ständige Verfügbarkeit der Akte gewährleistet, da ein gleichzeitiger Zugriff mehrerer Verfahrensbeteiligter ermöglicht wird.93 3. Änderungshistorie. Der dem RefE vorangehende Diskussionsentwurf (DE) vom 28 30.5.2012 enthielt jedoch Vorschriften, die die Verteidigungsinteressen des Beschuldigten zu gefährden geeignet waren. Abzulehnen war u.a. die Regelung des § 32b Abs. 1 StPO-DE insoweit, als dort noch vorgesehen war, von einer Übertragung von Dokumenten in die elektronische Akte könne abgesehen werden, wenn sie einen „unverhältnismäßigen technischen Aufwand“ mit sich bringen würde. Dies musste umso mehr gelten, als nach der Entwurfsbegründung94 für die Entscheidung einen Verzicht auf die Übertragung gar auch „wirtschaftliche Gesichtspunkte“ eine Rolle hätten spielen dürfen. Es bestand die Befürchtung, dass aufgrund dieser Einschränkungen wichtige verteidigungsrelevante Unterlagen nicht in die Akte gelangen könnten.95 Mehr noch: Nach der ursprünglichen Entwurfsbegründung zu § 32b Abs. 3 StPO-DE sollte explizit für die Umwandlung keine „Überprüfung der Authentizität und Integrität“ zur Pflicht gemacht werden, die umwandelnde Person also nicht feststellen müssen, „dass Ausgangsdokument und elektronisches Dokument inhaltlich übereinstimmen“. Dessen ungeachtet sah § 244 Abs. 5 StPO-DE hohe Anforderungen für den Nachweis der Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der elektronischen Akte vor („Ein Beweisantrag auf Verlesung eines Ausgangsdokuments kann abgelehnt werden, wenn nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts kein Anlass besteht, an der inhaltlichen Übereinstimmung mit dem übertragenen Dokument zu zweifeln“). Dies bot schwer zu beherrschende abstrakte Manipulationsgefahren, denen keine ausreichenden Korrekturmöglichkeiten der Verteidigung gegenüberstanden.96 Es fehlte zudem eine Regelung, die sicherstellt, dass – soweit das Akteneinsichtsrecht reicht – einem inhaftierten Beschuldigten der Inhalt der elektronischen Akte durch seinen Verteidiger durch technische Hilfsmittel auch in der Haft in angemessener und zugleich vollzugskompatibler Weise (Missbrauchspotentiale durch Internetzugang etc.) zugänglich gemacht werden kann.97 Nicht zuletzt die kritischen Stellungnahmen der (anwaltlichen) Berufsverbände zum 29 DE haben stellenweise zu begrüßenswerten Wortlautmodifikationen im RefE vom
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Ebenso Deutscher Richterbund Stellungnahme Nr. 30/2012 1 sowie (jeweils noch bezogen auf den DE) Deutscher Richterbund Stellungnahme Nr. 22/2012; DAV Stellungnahme Nr. 79/2012 12; abl. demgegenüber Neue Richtervereinigung (Stellungnahme), die u.a. einen zu hohen Aufwand, unverhältnismäßige Kosten und eine Absenkung des Datenschutzniveaus befürchtet. S. erg. zu den Vorteilen gegenüber der herkömmlichen Papierakte: RefE eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen S. 47.
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DE eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen (Stand: 30.5.2012) S. 26 f. Krit. zu § 32b StPO-DE auch Neue Richtervereinigung (Stellungnahme) 5 f.; Deutscher Richterbund Stellungnahme Nr. 22/2012 6. Weniger streng Deutscher Richterbund Stellungnahme Nr. 22/2012 7 f. Zutr. DAV Stellungnahme Nr. 79/2012 11; s. zur – grundsätzlich zulässigen – Weitergabe des Akteninhalts an den Beschuldigten HW Rn. 126 ff.
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November 2012 geführt. So soll etwa anders als in § 32b StPO-DE in der Nachfolgeregelung § 32d StPO-E keine Ausnahmeregelung für den Fall eines unverhältnismäßigen technischen Aufwands bei der Umwandlung der Dokumente (§ 32d Abs. 1 Satz 1 StPO-E) mehr vorhanden sein.98 Positiv zu vermerken ist ferner, dass nun nach § 32d Abs. 1 Satz 2 StPO-E explizit auch sichergestellte Beweisdokumente umgewandelt und zur Akte genommen werden können.99 Sinnvoll erscheint außerdem, dass sich nun in § 32e Abs. 2 StPO-E eine Regelung zur Einsichtnahme in die noch in Papierform vorliegenden Akten findet, die vor der Umstellung auf eine elektronische Aktenführung abgeschlossen wurden oder nach der Umstellung in Papier zu Ende geführt werden. Auch die Neufassung des Absatzes 4100 war im DE noch nicht vorgesehen. Hingegen wurden wünschenswerte Änderungen in § 32d Abs. 3 StPO-E im Zusammenhang mit der Übertragung eines nicht elektronischen Ausgangsdokumentes leider unterlassen, wobei ausweislich der Entwurfsbegründung insoweit weiterhin101– und obwohl auf eine Änderung in § 244 Abs. 5 StPO-E verzichtet wurde – keine „Überprüfung der Authentizität und Integrität“ stattfinden müssen soll. Unerfreulich ist auch, dass nach wie vor102 keine Regelung vorgesehen ist, die dafür sorgt, dass einem inhaftierten Beschuldigten der Inhalt der elektronischen Akte durch seinen Verteidiger zugänglich gemacht werden kann. Auf diese Desiderate ist in der weiteren rechtspolitischen Diskussion besonders Bedacht zu nehmen.
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4. Der Begriff „Protokoll“ (Absatz 3). Die Verwendung des Begriffs „Protokoll“ anstatt des eng mit der Papierform verbunden Begriffs „Niederschrift“ in Absatz 3 soll insbesondere der Klarstellung dienen, dass eine Protokollierung bei elektronischer Aktenführung auch in elektronischer Form vorliegen kann.103 Die geplante Änderung soll aber auch einer im Grundsatz begrüßenswerten sprachlichen Vereinheitlichung herbeiführen, da die genannten Begriffe bislang in verschiedenen Vorschriften der StPO trotz identischer Bedeutung nebeneinander verwendet werden.104 Unbefriedigend daran ist jedoch, dass die Verfasser des RefE von weiteren Änderungen der StPO (vorläufig?) absehen wollen, § 32e Abs. 1 Satz 1 StPO-E die Art der Einsichtnahme in die elektronische Akte im Grundsatz aber als bloßes Bereithalten der Akte zum Abruf normiert. Dies könnte darauf hindeuten, dass ein aus Sicht der Verteidigung inakzeptables Minus an Information im Vergleich zu dem durch die E-Akte ermöglichten Datentransfer zwischen den Justizbehörden gewollt ist. Es mag zudem dafür sprechen, dass den Entwurfsverfassern die Gewährung der Akteneinsicht durch Übergabe einer auf den Stichtag ihrer Herstellung bezogenen CD oder DVD vorschwebt, womit im Vergleich zum derzeitigen (Wirtschaftsstraf-)Verfahren nichts gewonnen wäre.105
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5. Das künftige Akteneinsichtsrecht des unverteidigten Beschuldigten (Absatz 4, Absatz 6 Satz 2). Der inhaltlich komplett neu formulierte Absatz 4 sieht unter Wegfall des bisherigen Absatzes 7 ein eigenständiges Akteneinsichtsrecht des unverteidigten Beschuldigten vor. Geplant ist folgender Wortlaut: 98 99 100 101 102 103
Dies ebenfalls begrüßend Deutscher Richterbund Stellungnahme Nr. 30/2012 1. So auch Deutscher Richterbund Stellungnahme Nr. 30/2012 1. S. dazu u. Rn. 31 ff. Vgl. o. Rn. 28. Vgl. nochmals o. Rn. 28. RefE eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen S. 74.
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RefE eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen S. 74 unter Hinweis auf LR/Hilger HW § 118a, 26; LR/Lüderssen/Jahn HW § 138d, 9, § 147, 140; LR/Becker HW § 232, 22 und LR/Sander/Cirener HW § 251, 8 f. Überzeugend insoweit DAV Stellungnahme Nr. 79/2012 10.
Klaus Lüderssen/Matthias Jahn
Nachtr. § 147 StPO
Elfter Abschnitt. Verteidigung
„1Der Beschuldigte, der keinen Verteidiger hat, ist nach Maßgabe der Absätze 1 bis 3 befugt, die Akten einzusehen und unter Aufsicht amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen, soweit der Untersuchungszweck auch in einem anderen Strafverfahren nicht gefährdet werden kann und überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter nicht entgegenstehen. 2§ 477 Absatz 5 gilt entsprechend.“
Insoweit sollen die Rechte des Beschuldigten also – auch in Anbetracht der Rechtsprechung des EMGR zum Akteneinsichtsrecht des sich selbst verteidigenden Beschuldigten und ihrer bislang unzureichenden Umsetzung mit Absatz 7106 – weiter107 gestärkt werden. Das Argument, einem generellen Akteneinsichtsrecht stünden Missbrauchsmöglichkeiten seitens des Beschuldigten entgegen, lässt sich im Falle der Einführung der elektronischen Akte nicht mehr aufrechterhalten.108 Manipulationsgefahren im Zusammenhang mit dem dann möglichen Bereitstellen einer bloßen Leseversion sind kaum noch denkbar.109 Eine gesetzliche Klarstellung, dass die Einsicht lediglich in eine identische (elektronische) Kopie erfolgen darf,110 erschiene freilich sinnvoll. Gleiches gilt für den Einwand zu hohen gerichtlichen oder behördlichen Aufwands im Zusammenhang mit der Verpflichtung zur Herstellung von Duplikaten. Das Generieren von elektronischen Duplo-Akten ist in Anbetracht des technischen Fortschritts ohne größere Schwierigkeiten möglich.111 Der Einwand, dem Entwurf stehe ein zu befürchtender erheblich erhöhter Zeit- und Arbeitsaufwand entgegen, weil stets geprüft werden müsse, ob dem Antragsteller Akteneinsicht teilweise verwehrt werden könne oder müsse (vgl. § 147 Abs. 4 Satz 1 StPO-E),112 überzeugt nicht. Zum einen sind auch beim Akteneinsichtsbegehren des Verteidigers (vgl. insbesondere Absatz 2 Satz 1) sowie beim Begehren des Beschuldigten nach Auskunft gem. Absatz 7 regelmäßig schon vergleichbare Prüfungen vorzunehmen. Zum anderen können diese rein fiskalischen Interessen ein Außerachtlassen der einschlägigen konventionsrechtlichen Vorgaben nicht rechtfertigen. Der Umfang der Einsichtnahme ist anders als Absatz 7 in der nun geltenden Fassung nicht mit der schwer fassbaren Einschränkung versehen, dass sie „zu einer angemessenen Verteidigung erforderlich“ sein müsste. Dies ist zu begrüßen, da die verteidigte Person selbst beurteilen können muss, welche Akteninhalte für eine effektive Verteidigung geeignet und nötig sind.113 Mit Inkrafttreten des neuen Absatzes 4 kann und soll Absatz 7, der momentan noch ein „schwächeres“ und kaum konventionskonformes Recht vorsieht,114 konsequenterweise entfallen. Die geplante Einfügung der Passage „oder dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger 32 hat,“ in Absatz 6 Satz 2 nach dem Wort „Verteidiger“ stellt eine notwendige Folgeänderung zur Neufassung des Absatzes 4 dar. Auch dem akteneinsichtsberechtigten
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Insbesondere EGMR Foucher/F 17.2.1997 = NStZ 1998 429, 430 m. zust. Anm. Deumeland; vgl. RefE eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen S. 74 f.; s. bereits o. Rn. 18. Vgl. oben Änderungen sowie Rn. 16 ff. A.A. Deutscher Richterbund Stellungnahme Nr. 30/2012 4 f.: Jedenfalls müsse die Strafbarkeit der Verbreitung des Akteninhalts neu geregelt werden bzw. die Akteneinsicht gesetzlich auf justizeigene Terminals (und auf bloße Aktenkopien; dazu sogleich) beschränkt werden. Zutr. RefE eines Gesetzes zur Einführung
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der elektronischen Akte in Strafsachen S. 75; s. bereits o. Rn. 17. S. hingegen für Akten, die noch in Papierform vorliegen § 32e Abs. 2 Satz 2 StPO-E. So die Forderung Deutscher Richterbundes Stellungnahme Nr. 30/2012 5. Vgl. bereits HW Rn. 8. Deutscher Richterbund Stellungnahme Nr. 30/2012 4. In diesem Sinne auch RefE eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen S. 75. S. nochmals o. Rn. 19.
Klaus Lüderssen/Matthias Jahn
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§ 148 StPO Nachtr.
Erstes Buch. Allgemeine Vorschriften
Beschuldigten muss Mitteilung gemacht werden, sobald das Recht zur Akteneinsicht nach zwischenzeitlicher Versagung der Akteneinsicht wieder uneingeschränkt besteht. Das Entfallen der derzeit in Absatz 4 enthaltenen Regelung, wonach die Akten dem 33 Verteidiger auf Antrag, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, zur Einsichtnahme mitgegeben werden sollen, wird kompensiert durch die allgemeine Regelung in § 32e StPO-E. In dessen Absatz 1 Satz 1 ist für die Einsichtnahme in die elektronische Akte als Normalfall das Bereithalten der Akte zum Abruf vorgesehen.115 Gem. § 32e Abs. 1 Satz 2 StPO-E soll auf Antrag Akteneinsicht durch Wiedergabe der Akte auf einem Bildschirm in Diensträumen oder durch Übermittlung elektronischer Dokumente gewährt werden. § 32e Abs. 1 Satz 3 StPO-E sieht vor, dass ein Aktenausdruck auf Antrag nur übermittelt wird, wenn der Antragsteller hieran ein berechtigtes Interesse darlegt. Nach § 32e Abs. 1 Satz 4 StPO-E soll eine Entscheidung nach Satz 3 nicht anfechtbar sein.
§ 148 (1) … (2) 1Ist ein nicht auf freiem Fuß befindlicher Beschuldigter einer Tat nach § 129a, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, des Strafgesetzbuches dringend verdächtig, soll das Gericht anordnen, dass im Verkehr mit Verteidigern Schriftstücke und andere Gegenstände zurückzuweisen sind, sofern sich der Absender nicht damit einverstanden erklärt, dass sie zunächst dem nach § 148a zuständigen Gericht vorgelegt werden. 2Besteht kein Haftbefehl wegen einer Straftat nach § 129a, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, des Strafgesetzbuches, trifft die Entscheidung das Gericht, das für den Erlass eines Haftbefehls zuständig wäre. 3Ist der schriftliche Verkehr nach Satz 1 zu überwachen, sind für Gespräche mit Verteidigern Vorrichtungen vorzusehen, die die Übergabe von Schriftstücken und anderen Gegenständen ausschließen.
Schrifttum Bittmann Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts, NStZ 2010 13.
Änderungen. Durch Art. 1 Nr. 11 des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts (UHaftÄndG) vom 29.7.20091 ist mit Wirkung zum 1.1.2010 in Absatz 2 Satz 1 ein Richtervorbehalt zur Anordnung der Überwachung des Verkehrs mit Schriftstücken und anderen Gegenständen aufgenommen worden. Ferner wurde das Erfordernis „Gegenstand der Untersuchung“ durch „dringend verdächtig“ ersetzt sowie die Rechtsfolge „so sind“ in „soll“ abgeändert. Der bisherige Absatz 2 Satz 2 wurde gestrichen und durch den geänderten Absatz 2 Satz 2 ersetzt. Absatz 2 Satz 3 bezieht sich nunmehr lediglich auf Satz 1.
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1. Bedeutung. Die Neuregelung des Absatzes 2 hat das Gesetzgebungsverfahren komplett unbeanstandet durchlaufen. Rechtspolitischen Forderungen nach Streichung der im
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Vgl. hierzu o. Rn. 30.
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BGBl. I S. 2274.
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Nachtr. § 148 StPO
Elfter Abschnitt. Verteidigung
Zuge der Terrorismus-Maßnahmegesetzgebung erlassenen Vorschrift wurde dabei nicht entsprochen.2 Immerhin wurde die Überwachung des Verkehrs zwischen einem einer Tat nach § 129a StGB, ggf. auch i.V.m. § 129b Abs. 1 StGB, Beschuldigten und seinem Verteidiger aus rechtsstaatlichen Gründen ausdrücklich unter einen generellen Richtervorbehalt gestellt. Damit darf der erhebliche Eingriff in die Rechte der Verteidigung ausschließlich auf der Grundlage richterlicher Prüfung vorgenommen werden.3 Absatz 2 Satz 1 ist nunmehr als Soll-Vorschrift ausgestaltet und findet unabhängig davon Anwendung, aufgrund welcher Haftform sich der einer Tat nach § 129a StGB Beschuldigte in Haft befindet und aufgrund welchen Vorwurfs der Haftbefehl ergangen ist. Der bisherige Streit zum Erfordernis eines auf § 129a StGB gestützten Haftbefehls4 hat sich durch die Änderung des Absatzes 2 Satz 1 damit erledigt. Der Inhalt der zu treffenden Anordnung wurde keiner Änderung unterzogen, sodass 2 weiterhin eine Zurückweisung der Schriftstücke und anderer Gegenstände als Rechtsfolge vorgesehen ist.5 Absatz 2 Satz 1 bildet demnach eine Ausnahme zum Grundsatz des freien Verteidigerverkehrs nach Absatz 1, den die neuere Rechtsprechung des BVerfG6 dahin anwenden will, dass der unkontrollierte Verkehr nur solche Schriftstücke umfasst, die unmittelbar das Strafverfahren betreffen. Diese Auffassung, mag sie im Rahmen der Bindungswirkung von BVerfG-Kammerentscheidungen auch für die Praxis vordergründig in gewissem Umfang verbindlich sein,7 überzeugt aber inhaltlich nicht. Der Gesetzgeber hat gleich auf dem Vorblatt der Bundesratsdrucksache der amtlichen Begründung zu § 160a n.F. festgestellt, dass die Differenzierung zwischen Verteidigern und Anwälten eine Abgrenzung der beiden Tätigkeitsbereiche voraussetze, die sich in der Praxis oftmals nicht durchführen lasse.8 Wenig später hat auch das BVerfG in der Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der TKÜ-Vorschriften9 das Untrennbarkeitspostulat selbst ausdrücklich anerkannt, wenn es ausführt, dass „eine Differenzierung zwischen Anwälten und Verteidigern aufgrund der Nähe der Tätigkeitsfelder faktisch kaum möglich ist (…) Bei der Kontaktaufnahme eines von einer Ermittlungsmaßnahme Betroffenen mit einem Rechtsanwalt wird sich aus der Außenperspektive vielfach nicht feststellen lassen, ob der Betroffene allgemeinen rechtlichen Rat oder die Beratung durch einen Strafverteidiger sucht. Auch bei einem bereits bestehenden, nicht strafrechtlichen Mandat ist der Übergang zur Strafverteidigung mitunter fließend. Einem anwaltlichen Beratungsverhältnis ist (…) bei generalisierender Betrachtung die Option der Strafverteidigung immanent“. Wie das inhaltlich verfehlte Unmittelbarkeitspostulat der Kammerentscheidung mit dem vom BVerfG in der zeitlich nachfolgenden TKÜ-Senatsentscheidung aus dem Jahr 2011 anerkannten Untrennbarkeitspostulat zu vereinbaren sein sollte, ist unerfindlich. Man wird also wohl kaum umhin können, es als durch den Senat mit BVerfGE 129 208 stillschwei2 3 4 5 6
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Näher dazu SK/Wohlers 38; HW Rn. 28. BTDrucks. 16 11644 S. 34. Näher HW Rn. 39 f. HW Rn. 51. BVerfG NJW 2010 1740, 1741 Tz. 21 f. = StV 2010 144 m. abl. Anm. Weider unter ausdrücklicher Ablehnung der in HW Rn. 17 vertretenen Auffassung. Zum Problem Jahn NJW 2006 652 f.: §§ 93c Abs. 1 Satz 2, 31 BVerfGG statten jedenfalls den Tenor und die tragenden Gründe stattgebender Kammerbeschlüsse mit Bindungswirkung aus.
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Siehe BTDrucks 17 2637 S. 6 f und BRDrucks. 229/10 S. 1: „Diese Differenzierung wird insbesondere im Verhältnis Verteidiger – Rechtsanwalt vielfach als nicht sachgerecht erachtet, zumal der Übergang vom Anwalts- zum Verteidigermandat in der Praxis mitunter fließend sein kann“. BVerfGE 129 208, 264 = StV 2012 257, 264 Tz. 262 m. Anm. B. Gercke. Dazu bereits zutr. Dallmeyer StV 07/2012 I (Editorial).
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gend aufgegeben und die Kammerentscheidung aus dem Jahr 2010 deshalb als overruled anzusehen. Absatz 2 Satz 2 wurde aufgrund der umfassenden Formulierung des Absatzes 2 Satz 1 3 in seiner bisherigen Fassung gestrichen und beinhaltet nunmehr eine auf Satz 1 bezogene Zuständigkeitsregel. Die Neufassung des Absatzes 2 Satz 3 erschöpft sich in einer sprachlichen Angleichung an die Sätze 1 und 2 und entspricht inhaltlich der bisherigen Regelung.
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2. Einzelheiten. Der Anwendungsbereich des Absatzes 2 Satz 1 wurde ausgeweitet. Nach dem geänderten Wortlaut wird nicht mehr vorausgesetzt, dass die Straftat nach § 129a StGB Gegenstand der Untersuchung sein muss. § 122 Abs. 2 StVollzG wurde in die StPO übernommen, sodass Absatz 2 Satz 1 auch auf Beschuldigte anzuwenden ist, bei denen die Vollstreckung der Untersuchungshaft zum Zwecke der Strafvollstreckung unterbrochen wird, sowie auf Strafgefangene, gegen die in anderer Sache Untersuchungshaft angeordnet wird.10 Absatz 2 ergänzt demnach die Neufassung des § 119 Abs. 6, durch welchen § 122 Abs. 1 StVollzG integriert worden ist.11 Sofern sich der Beschuldigte in anderer Sache in Vollzug der Strafhaft befindet, an welchen sich die Strafvollstreckung wegen einer Tat nach § 129a StGB anschließen soll, ist es für die Überwachung des Schriftverkehrs gleichgültig, welches der beiden Verfahren der Verkehr betrifft.12 Absatz 2 Satz 1 findet innerhalb seiner Wortlautgrenze auch dann Anwendung, wenn die Tat aufgrund einer Beschränkung nach § 154a aus dem Verfahren ausgeschieden ist oder Gegenstand der Untersuchung allein eine in Idealkonkurrenz zu § 129a StGB stehende schwere Straftat ist.13 Keine Anwendung des Absatzes 2 Satz 1 ist allerdings dann möglich, wenn die Tat nach § 129a StGB bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist, da entsprechend der Regelungskompetenz der Länder in diesem Falle Einschränkungen auf der Grundlage der Strafvollzugsgesetze bestehen.14 Diese verweisen jedoch regelmäßig auf Absatz 2 sowie auf § 148a (vgl. § 29 Abs. 1 Satz 2 StVollzG; Art. 32 Abs. 1 Satz 2 BayStVollzG; § 17 Abs. 2 Satz 3 JVollzGB BW III; § 28 Abs. 4 HmbStVollzG; § 30 Abs. 2 Satz 2 NJVollzG). Die Beschränkung des Schriftverkehrs ist nach der Neufassung des Absatzes 2 Satz 1 5 nur zulässig, sofern ein dringender Tatverdacht i.S.d. § 112 wegen einer Tat nach § 129a StGB besteht. Damit wurde die in Rechtsprechung und Literatur umstrittene Frage15 begrüßenswerterweise dahingehend kodifiziert, dass alleine die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zur Rechtfertigung des schwerwiegenden Eingriffs in die Beschuldigtenrechte nicht ausreichend ist. Vielmehr muss, sofern nicht bereits ein Haftbefehl auf der Grundlage einer Straftat nach § 129a StGB besteht, ein Verdachtsgrad vorliegen, welcher den Erlass eines Haftbefehls rechtfertigen würde. Das zuständige Gericht für die Anordnung der Überwachung des Schriftverkehrs 6 ergibt sich aus § 126 und sofern noch kein Haftbefehl wegen einer Straftat nach § 129a StGB ergangen ist, aus Absatz 2 Satz 2. Die Zuständigkeitsregelung entspricht der bisherigen Rechtsprechung des BGH zur alten Regelung, wonach aufgrund des erheblichen
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BTDrucks. 16 11644 S. 34; Meyer-Goßner/ Schmitt 18; AnwK-UHaft/König 15. Näher dazu LR/Gärtner Nachtr. § 119, 90 ff. Radtke/Hohmann/Reinhart 16; siehe auch AnwK-UHaft/König 15; Meyer-Goßner/ Schmitt 18.
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SK/Wohlers 41. A.A. Radtke/Hohmann/ Reinhart 14. BTDrucks. 16 11644 S. 34; KK/Laufhütte 10; SK/Wohlers 41; Radtke/Hohmann/Reinhart 14. Näher dazu Radtke/Hohmann/Reinhart 14; SK/Wohlers 42; HW Rn. 39.
Klaus Lüderssen/Matthias Jahn
Nachtr. § 148 StPO
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Eingriffs in die Rechte des Beschuldigten entgegen dem bisherigen Wortlaut des Absatzes 2 Satz 1 eine richterliche Anordnung in den Fällen erforderlich war, in denen gegen einen in anderer Sache inhaftierten Beschuldigten wegen des Verdachts einer Straftat nach § 129a StGB noch kein Haftbefehl ergangen war.16 Das zuständige Gericht entscheidet auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder von Amts wegen; ersterenfalls ist es nicht an den Antrag der Staatsanwaltschaft gebunden. Die Entscheidung ergeht stets außerhalb der Hauptverhandlung.17 Die erforderliche richterliche Anordnung kann sich nunmehr nicht mehr konkludent aus der Anordnung des Haftbefehls selbst ergeben.18 An der in der Rechtsprechung19 und bislang im HW20 vertretenen gegenteiligen Auffassung kann nach der Neufassung des Absatzes 2 Satz 1 daher nicht mehr festgehalten werden. Durch die Ausgestaltung des Absatzes 2 Satz 1 als Soll-Vorschrift wird dem zuständi- 7 gen Gericht die Möglichkeit gegeben, im Rahmen der Zurückweisung von Schriftstücken die jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalles zu berücksichtigen und ausnahmsweise von einer Anordnung abzusehen. Trotz der sprachlichen Soll-Regelung wird dem Gesetzgeber zufolge allerdings in der Mehrzahl der Fälle eine Überwachung geboten sein, sodass eine Zurückweisung grundsätzlich zu erfolgen hat.21 Demgegenüber sind aber Fälle denkbar, in denen eine Überwachung nicht notwendig ist, wenn der Beschuldigte z.B. mit den Ermittlungsbehörden kooperiert oder seine Betätigung in einer terroristischen Vereinigung nicht mehr weiterverfolgt.22 So ist auch nach der Rechtsprechung des KG23 eine bereits erfolgte Anordnung der Überwachung des Schriftverkehrs aufzuheben, sofern nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalles nicht mehr zu befürchten ist, dass sich der Beschuldigte aus der Haft heraus in terroristischer Hinsicht betätigt. Der Zweck des Absatzes 2, welcher in der Verhinderung der weiteren Betätigung an einer terroristischen Vereinigung liegt, greift in derartigen Fällen nicht (mehr). Die Einführung des generellen Richtervorbehalts wird auch nach Ansicht des Gesetz- 8 gebers nur einen geringfügigen Vollzugsmehraufwand zur Folge haben, da die Anordnung zumeist im Zusammenhang mit dem Erlass des Haftbefehls einhergehen wird bzw. nach der Rechtsprechung des BGH auch unter Geltung der bisherigen Rechtslage eine richterliche Anordnung zu treffen war, sofern wegen einer Tat nach § 129a StGB noch kein Haftbefehl ergangen war.24 Bittmann 25 äußerte hingegen nachvollziehbarerweise Bedenken, weil die Verlagerung der Verantwortung vom Gesetzgeber auf die Justiz im Einzelfall zu gewissen atmosphärischen Belastungen im Verfahren führen kann.
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BGHSt 36 205, 206 f. HW Rn. 47. SK/Wohlers 45; AnwK-UHaft/König 16; Radtke/Hohmann/Reinhart 18; MeyerGoßner/Schmitt 19; SSW/Beulke 33; Roxin/ Schünemann § 19, 76; dies übersieht HK/Julius 19. BGHSt 36 205, 207: „Ein gesonderter Ausspruch ist nur dann nicht erforderlich, wenn sich der Beschuldigte wegen einer Straftat nach § 129a StGB in Untersuchungshaft
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befindet, weil in einem solchen Fall die richterliche Anordnung bereits in dem Haftbefehl liegt“. HW Rn. 44. BTDrucks. 16 11644 S. 35. BTDrucks. 16 11644 S. 35; Bittmann NStZ 2010 13, 16; Meyer-Goßner/Schmitt 19; SSW/Beulke 32. KG StV 2011 296. BTDrucks. 16 11644 S. 14. Bittmann NStZ 2010 13, 16.
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ZWEITES BUCH Verfahren im ersten Rechtszug ERSTER ABSCHNITT Öffentliche Klage
§ 153a (1) 1Mit Zustimmung des für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts und des Beschuldigten kann die Staatsanwaltschaft bei einem Vergehen vorläufig von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen und zugleich dem Beschuldigten Auflagen und Weisungen erteilen, wenn diese geeignet sind, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen, und die Schwere der Schuld nicht entgegensteht. 2Als Auflagen oder Weisungen kommen insbesondere in Betracht, 1. zur Wiedergutmachung des durch die Tat verursachten Schadens eine bestimmte Leistung zu erbringen, 2. einen Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse zu zahlen, 3. sonst gemeinnützige Leistungen zu erbringen, 4. Unterhaltspflichten in einer bestimmten Höhe nachzukommen, 5. sich ernsthaft zu bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen (TäterOpfer-Ausgleich) und dabei seine Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wieder gut zu machen oder deren Wiedergutmachung zu erstreben, 6. an einem sozialen Trainingskurs teilzunehmen oder 7. an einem Aufbauseminar nach § 2b Abs. 2 Satz 2 oder § 4 Abs. 8 Satz 4 des Straßenverkehrsgesetzes teilzunehmen. 3Zur Erfüllung der Auflagen und Weisungen setzt die Staatsanwaltschaft dem Beschuldigten eine Frist, die in den Fällen des Satzes 2 Nr. 1 bis 3, 5 und 7 höchstens sechs Monate, in den Fällen des Satzes 2 Nr. 4 und 6 höchstens ein Jahr beträgt. 4Die Staatsanwaltschaft kann Auflagen und Weisungen nachträglich aufheben und die Frist einmal für die Dauer von drei Monaten verlängern; mit Zustimmung des Beschuldigten kann sie auch Auflagen und Weisungen nachträglich auferlegen und ändern. 5Erfüllt der Beschuldigte die Auflagen und Weisungen, so kann die Tat nicht mehr als Vergehen verfolgt werden. 6Erfüllt der Beschuldigte die Auflagen und Weisungen nicht, so werden Leistungen, die er zu ihrer Erfüllung erbracht hat, nicht erstattet. 7§ 153 Abs. 1 Satz 2 gilt in den Fällen des Satzes 2 Nr. 1 bis 6 entsprechend. 8§ 246a Absatz 2 gilt entsprechend. (2) 1Ist die Klage bereits erhoben, so kann das Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten das Verfahren bis zum Ende der Hauptverhandlung, in der die tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden können, vorläufig einstellen und zugleich dem Angeschuldigten die in Absatz 1 Satz 1 und 2 bezeichneten Auflagen und Weisungen erteilen. 2Absatz 1 Satz 3 bis 6 und 8 gilt entsprechend. 3Die Entscheidung nach Satz 1 ergeht durch Beschluß. 4Der Beschluß ist nicht anfechtbar. 5Satz 4
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Mark Zöller
Erster Abschnitt. Öffentliche Klage
Nachtr. § 153a StPO
gilt auch für eine Feststellung, daß gemäß Satz 1 erteilte Auflagen und Weisungen erfüllt worden sind. (3) Während des Laufes der für die Erfüllung der Auflagen und Weisungen gesetzten Frist ruht die Verjährung. (4) 1§ 155b findet im Fall des Absatzes 1 Satz 2 Nummer 6, auch in Verbindung mit Absatz 2, entsprechende Anwendung mit der Maßgabe, dass personenbezogene Daten aus dem Strafverfahren, die nicht den Beschuldigten betreffen, an die mit der Durchführung des sozialen Trainingskurses befasste Stelle nur übermittelt werden dürfen, sowiet die betroffenen Personen in die Übermittlung eingewilligt haben. 2Satz 1 gilt entsprechend, wenn nach sonstigen strafrechtlichen Vorschriften die Weisung erteilt wird, an einem sozialen Trainingskurs teilzunehmen. Änderungen. Die Vorschrift wurde in einem ersten Schritt zunächst im Jahr 2012 durch Art. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Täterverantwortung vom 15.11.2012 (BGBl. I 2298) ergänzt und trat in der dadurch bedingten Neufassung nach Art. 3 des Gesetzes zum 1.3.2013 in Kraft. Regelungskern ist die Erweiterung des Katalogs der nach § 153a Abs. 1 Satz 2 zulässigen Auflagen und Weisungen zur Verfahrenseinstellung nach dem Opportunitätsprinzip um die Teilnahme an einem sozialen Trainingskurs. Diese Befugnis zur Erteilung einer solchen Weisung findet sich infolgedessen in einer neuen Nr. 6, wodurch die Teilnahme an einem Aufbauseminar nach § 2b Abs. 2 Satz 2 oder § 4 Abs. 8 Satz 4 StVG nunmehr in § 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 zu finden ist. Im Vergleich zum ursprünglichen Gesetzentwurf des Bundesrates vom 21.4.2010 (BTDrucks. 17 1466 S. 5) spricht die letztlich verabschiedete Gesetzesfassung auf Vorschlag des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags (BTDrucks. 17 10164 S. 3) anstelle des zunächst vorgeschlagenen Begriffs „Täterprogramm“ nunmehr ausdrücklich von einem „sozialen Trainingskurs“. Außerdem ist dem § 153a ein neuer Absatz 4 angefügt worden, der eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für die Übermittlung von personenbezogenen Daten an die aufgrund einer Weisung mit einem sozialen Trainingskurs befasste Stelle enthält. Ein weiterer Änderungsantrag, den die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Rechtsausschuss eingebracht und der insbesondere den Begriff des „Programms zur Veränderung gewalttätigen Verhaltens“ favorisiert hatte, um eine Verharmlosung des als Auflage für eine Verfahrenseinstellung angeordneten Programms zu vermeiden (vgl. BTDrucks. 17 10164 S. 5), fand dort keine Mehrheit. Der zweite Schritt hin zur aktuell geltenden Fassung des § 153a wurde durch Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) vom 26.6.2013 (BGBl. I 1805) verwirklicht. Die Auswirkungen dieses rechtspolitisch umstrittenen Reformgesetzes (s. bereits zum Referentenentwurf Bittmann ZRP 2011, 72; Eisenberg HRRS 2011, 64; Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins Nr. 10/2011 vom Februar 2011 zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs [StORMG]; Stellungnahme des Deutschen Richterbundes Nr. 02/11 vom Januar 2011 zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs [StORMG]; zum Gesetzentwurf der Bundesregierung v. Galen StV 2013, 173; Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer Nr. 35/2011 vom Juni 2011 zum Gesetzentwurf der Bundesregierung Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs [StORMG]) auf § 153a beschränken sich allerdings auf die Anfügung eines Satzes 8 in Absatz 1. Die weitere redaktionelle Folgeänderung in § 153a Abs. 2 Satz 2 stellt lediglich sicher, dass der neue § 153a Abs. 1 Satz 8 auch für gerichtliche Verfahrenseinstellungen gilt. Diese gemäß Art. 8 Abs. 1 StORMG (BGBl. I 1807) am 1.9.2013 in Kraft getretenen Ergänzungen
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§ 153a StPO Nachtr.
Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
waren weder im vorausgegangenen Referentenentwurf noch im Gesetzentwurf der Bundesregierung (BTDrucks. 17 6261) enthalten und wurden erst auf Vorschlag des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (BTDrucks. 17 12735 S. 7) aufgenommen. Danach soll der ebenfalls durch das StORMG neu angefügte § 246a Abs. 2 auch im Rahmen von § 153a entsprechend gelten.
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1. Gesetzgeberische Zielvorstellungen. Die Ergänzung des § 153a durch das Gesetz zur Stärkung der Täterverantwortung aus dem Jahr 2012 ist Ausdruck der Überzeugung des Gesetzgebers, dass die Täterarbeit ein wichtiges Element zur Verbesserung der Gewaltprävention und des Opferschutzes darstellt.1 Sie zielt konkret auf eine Verbesserung und Erweiterung der Möglichkeiten, Straftäter über staatsanwaltschaftliche oder gerichtliche Weisungen im Rahmen von Strafverfahren sozialen Trainingskursen zuzuweisen und ihnen damit die Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme und zur Selbskontrolle zu vermitteln.2 In der Praxis stand einer solchen Zuweisung bislang regelmäßig die in § 153a Abs. 1 Satz 3 StPO a.F. zur Erfüllung von Weisungen vorgesehene Sechsmonatsfrist entgegen. Dieser Zeitrahmen lässt sich nicht mit den „Standards und Empfehlungen für die Arbeit mit männlichen Tätern im Rahmen von interinstitutionellen Kooperationsbündnissen gegen Häusliche Gewalt“ der Bundesarbeitsgemeinschaft „Täterarbeit Häusliche Gewalt“ vom 11.5.2007 in Einklang bringen, die ein mindestens sechsmonatiges Programm zuzüglich Aufnahmeverfahren und Follow-Up vorsehen.3 Der Gesetzgeber hält allerdings mit Blick auf den Opferschutz die Durchführung eines sozialen Trainingskurses im Rahmen einer Weisung für oftmals vielversprechender als die im Einzelfall ggf. in Betracht kommende Auferlegung einer Geldbuße oder die Verurteilung zu einer Geldstrafe, weil der Täter nachhaltig gezwungen werde, sich mit seiner Tat auseinanderzusetzen und die Verantwortung hierfür zu übernehmen.4 Insofern erscheint es nur konsequent, dass durch Art. 2 des Gesetzes zur Stärkung der Täterverantwortung auch der Katalog der im Falle einer Verwarnung mit Strafvorbehalt möglichen Anweisungen in § 59a StGB um die Möglichkeit der Weisung, an einem sozialen Trainingskurs teilzunehmen, ergänzt worden ist.5 Bei der Ergänzung des § 153a durch das StORMG von 2013 handelt es sich dem2 gegenüber um eine bloße Folgeänderung des ebenfalls durch dieses Gesetz neu geschaffenen § 246a Abs. 2. Indem § 153a Abs. 1 Satz 8 dessen entsprechende Anwendbarkeit ausdrücklich anordnet, wird sichergestellt, dass die in § 246a Abs. 2 enthaltene SollRegelung zur Begutachtung in der Hauptverhandlung auch für eine Therapieweisung im Rahmen einer Einstellungsentscheidung gilt, die vor Anklageerhebung bzw. vor Eröffnung des Hauptverfahrens oder außerhalb der Hauptverhandlung nach Maßgabe des § 153a Abs. 1 und 2 in Betracht kommt.6 Insofern sind auch die Ergänzungen des § 153a von dem Leitgedanken getragen, durch Begutachtung von Sexualstraftätern, bei denen eine Therapieweisung in Betracht kommt, Aufklärungsdefizite zu vermeiden und die Gefahr einer erneuten Straffälligkeit solcher Täter bereits zu Beginn möglicher Deliktskarrierren durch die Erteilung entsprechender Weisungen zu reduzieren.7
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2
Vgl. dazu auch Nr. 2.6 des Aktionsplans II der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen v. 28.9.2009 (BTDrucks. 16 6585 S. 15 f.). BTDrucks. 17 1466 S. 1; BTDrucks. 17 10164 S. 1.
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3 4 5 6 7
BTDrucks. 17 1466, 1 S. 6. BTDrucks. 17 1466 S. 6. S. insoweit den neuen § 59a Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 StGB. BTDrucks. 17 12735 S. 21. Vgl. BTDrucks. 17 12735 S. 21.
Mark Zöller
Nachtr. § 153a StPO
Erster Abschnitt. Öffentliche Klage
2. Überblick über die gesetzlichen Neuregelungen a) Erweiterung des Katalogs zulässiger Auflagen und Weisungen. Nach dem neuen 3 § 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 kann dem Beschuldigten nunmehr auch die Weisung erteilt werden, an einem sozialen Trainingskurs teilzunehmen. Auslöser für diese Neuregelung waren letztlich neuere Erkenntnisse im Zusammenhang mit Gewaltprävention und Opferschutz bei Fällen häuslicher Gewalt. Da die durch entsprechende Trainingskurse vermittelten Fähigkeiten aber auch über die Arbeit mit Tätern häuslicher Gewalt hinaus einen Beitrag zum Opferschutz leisten können, wurde eine offene Formulierung für den Gegenstand der Weisung gewählt, damit Verbesserungen nicht von vornherein auf diesen Bereich beschränkt bleiben müssen.8 Die Bezeichnung als „sozialer Trainingskurs“, die erst auf Empfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags ins Gesetz gelangt ist, geht letztlich auf eine Stellungnahme der Bundesregierung zum Gesetzentwurf des Bundesrates zurück.9 Darin wurde darauf hingewiesen, dass sich mit Blick auf noch nicht verurteilte Personen in einer Gesetzesnorm die Bezeichnung „Täter“ verbiete. Zudem sei der zunächst vorgeschlagene Begriff „Täterprogramm“ auf einen Vorschlag der Bundesarbeitsgemeinschaft „Täterarbeit bei häuslicher Gewalt“ als feststehender Fachbegriff zurückzuführen und beziehe sich daher konkret auf diesen Personenkreis. Um auch außerhalb spezifischer Taten von häuslicher Gewalt angesiedelte Programme zu erfassen, wurde daher eine allgemeinere Formulierung vorgeschlagen.10 Insofern wird an den bereits in § 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 JGG eingeführten Begriff des „sozialen Trainingskurses“ angeknüpft. Zur Erfüllung einer Weisung i.S. von § 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 können die Staats- 4 anwaltschaft (§ 153a Abs. 1 Satz 3) bzw. das Gericht (§ 153a Abs. 2 Satz 2) eine Frist von höchstens einem Jahr setzen. Auf diese Weise soll den bundesweiten Qualitätsstandards der Bundesarbeitsgemeinschaft „Täterarbeit Häusliche Gewalt“ (vgl. Rn. 1) und dem Bedürfnis einer Prozesshaftigkeit von sozialen Trainingskursen für das Errreichen nachhaltiger Verhaltensänderung entsprochen werden.11 Darüber hinaus will der Gesetzgeber gegenüber den Besonderheiten örtlicher Programme oder in Fällen, in denen die Aufnahme in ein entsprechendes Programm eines gewissen Vorlaufs bedarf, die nötige Flexibilität schaffen. Und schließlich soll mit der Änderung eine – dem Opferschutz zugute kommende – längerfristige und damit nachhaltigere Einwirkung auf die Lebensund Verhaltensweise des Täters ermöglicht werden. Zwar ließ sich die Frist zur Erfüllung von Auflagen und Weisungen schon bislang nach § 153a Abs. 1 Satz 4 einmalig um drei Monate verlängern. Allerdings soll der Ausnahmecharakter dieser Regelung nicht unterlaufen werden. Gericht und Staatsanwaltschaft dürfen daher bei der Bemessung der angemessenen Frist zur Erfüllung einer Auflage oder Weisung nicht von vornherein stets auf die Möglichkeit der Fristverlängerung abzielen.12 Nach dem insoweit ergänzten § 153a Abs. 1 Satz 7 gilt § 153 Abs. 1 Satz 2 im Übrigen auch im Fall des § 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 entsprechend. Dies bedeutet, dass es bei einer Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft dann keiner Zustimmung des Gerichts bedarf, wenn die zu Grunde liegende Tat ein Vergehen ist, das nicht mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe bedroht ist und bei dem die durch die Tat verursachten Folgen gering sind. b) Übermittlung von personenbezogenen Daten. Der neu geschaffene § 153a Abs. 4 5 enthält eine Ermächtigungsgrundlage für die Übermittlung von personenbezogenen 8 9
Vgl. BTDrucks. 17 1466 S. 1. BTDrucks. 17 1466 S. 8; vgl. auch BTDrucks. 17 10164 S. 7.
10 11 12
BTDrucks. 17 1466 S. 8. BTDrucks. 17 1466 S. 6. BTDrucks. 17 1466 S. 7.
Mark Zöller
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§ 153a StPO Nachtr.
Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
Daten an die aufgrund einer Weisung mit einem sozialen Trainingskurs betrauten Stellen. Auf diese Weise soll es den mit der Ausrichtung eines solchen Kurses befassten Personen ermöglicht werden, Informationen über den der Beschuldigung zugrunde liegenden Sachverhalt zu erhalten, um möglichen Bagatellisierungstendenzen der Beschuldigten wirksam entgegenzutreten.13 § 153a Abs. 4 S. 1 ordnet die entsprechende Anwendbarkeit der Regelungen für die Durchführung eines Täter-Opfer-Ausgleichs in § 155b an. Daraus ergeben sich folgende Konsequenzen14: Die Übermittlung personenbezogener Daten an die mit dem sozialen Trainingskurs befasste Stelle kann auch durch Übersendung der Akten zur Einsichtnahme erfolgen, soweit die Erteilung von Auskünften einen unverhältnismäßigen Aufwand verursachen würde (§ 153a Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 155b Abs. 1 Satz 2). Die mit dem sozialen Trainingskurs befasste Stelle ist darauf hinzuweisen, dass sie die übermittelten Daten nur für Zwecke der Durchführung des Kurses verwenden darf (§ 153a Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 155b Abs. 1 Satz 3). Sie kann die ihr übermittelten Daten zudem nur verarbeiten und nutzen, soweit dies für die Durchführung des sozialen Trainingskurses erforderlich ist und schutzwürdige Interessen des Betroffenen nicht entgegenstehen (§ 153a Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 155b Abs. 2 Satz 1). Weitere personenbezogene Daten dürfen von ihr nur erhoben und verwendet werden, soweit der Betroffene eingewilligt hat und dies für die Durchführung des sozialen Trainingskurses erforderlich ist (§ 153a Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 155b Abs. 2 Satz 2). Nach Abschluss ihrer Tätigkeit hat die mit dem sozialen Trainingskurs befasste Stelle in dem erforderlichen Umfang der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht Bericht zu erstatten (§ 153a Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 155b Abs. 2 Satz 3). Ist die mit dem sozialen Trainingskurs befasste Stelle eine nichtöffentliche Stelle, finden die §§ 27 ff. BDSG auch dann Anwendung, wenn die Daten nicht in oder aus Dateien verarbeitet werden (§ 153a Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 155b Abs. 3). Und schließlich hat die mit dem sozialen Trainingskurs befasste Stelle die erhobenen personenbezogenen Daten nach Ablauf eines Jahres seit dem Abschluss des Strafverfahrens zu vernichten (§ 153a Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 155b Abs. 4 Satz 1). In Abweichung von § 155b Abs. 1 Satz 1 verlangt § 153a Abs. 4 Satz 1 allerdings 6 zusätzlich die Einwilligung der betroffenen Personen in die Datenübermittlung. Damit soll insbesondere den Opferinteressen Rechnung getragen werden, da personenbezogene Daten gerade bei Gewaltproblemen in sozialen Näheverhältnissen sehr sensibler Natur sein können und die Opfer an sozialen Trainingskursen – im Gegensatz zum TäterOpfer-Ausgleich – gerade nicht teilnehmen.15 Die Einwilligung des Beschuldigten in die Übermittlung seiner personenbezogenen Daten ist demgegenüber nicht erforderlich. Schließlich erfolgt die vorläufige Einstellung des Verfahrens mit der Weisung, gemäß § 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 an einem sozialen Trainingskurs teilzunehmen, stets mit seiner Zustimmung. Will der Beschuldigte die Übermittlung seiner personenbezogenen Daten an die mit dem sozialen Trainingskurs befasste Stelle verhindern, so muss er seine Zustimmung zur Verfahrenseinstellung insgesamt verweigern.16
7
c) Begutachtung von Beschuldigten, bei denen eine Therapieweisung in Betracht kommt. Durch das StORMG wurde § 246a um einen neuen Absatz 2 erweitert. Dieser enthält eine Soll-Vorschrift zur Begutachtung von Angeklagten von Sexualdelikten nach § 181b StGB zum Nachteil eines Minderjährigen, bei denen eine eine sog. Therapieweisung in Betracht kommt. Es geht mithin um Weisungen nach § 153a, nach den
13 14
BTDrucks. 17 10164 S. 7. S. dazu die Übersicht in BTDrucks. 17 10164 S. 8.
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15 16
Vgl. BTDrucks. 17 10164 S. 7. Vgl. BTDrucks. 17 10164 S. 7.
Mark Zöller
Erster Abschnitt. Öffentliche Klage
Nachtr. § 154f StPO
§§ 56c, 59a Absatz 2 Satz 1 Nr. 4 StGB oder nach § 68b Absatz 2 Satz 2 StGB, wonach sich der Angeklagte psychiatrisch, psycho- oder sozialtherapeutisch betreuen und behandeln zu lassen hat. In diesen Fällen soll nunmehr ein Sachverständiger über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten vernommen werden, soweit dies erforderlich ist, um festzustellen, ob der Angeklagte einer solchen Betreuung und Behandlung bedarf. Auf diese Weise wird die ohnehin bereits aus § 244 Abs. 2 folgende allgemeine Amtsaufklärungspflicht speziell für den Bereich von Therapieweisungen bei Sexualstraftaten zum Nachteil von Minderjährigen ergänzt.17 § 246a Abs. 2 wird durch die Neufassung von § 153a in Absatz 1 Satz 8 und Absatz 2 Satz 2 für entsprechend anwendbar erklärt. Damit gilt diese Soll-Vorschrift auch im Rahmen der hier in Rede stehenden Verfahrenseinstellungen aus Opportunitätsgründen, sofern dabei eine Therapieweisung in Betracht kommt. Auf diese Weise wird klargestellt, dass dem in § 246a Abs. 2 zutage tretende Grundanliegen des Gesetzgebers nicht nur im Rahmen der Hauptverhandlung, sondern auch vor Anklageerhebung bzw. vor Erlass des Eröffnungsbeschlusses sowie außerhalb der Hauptverhandlung Rechnung getragen werden soll (vgl. Rn. 2). Insofern ist es nur konsequent, dass sich entsprechende Folgeregelungen nunmehr auch in den §§ 453 Absatz 1 Satz 3, 454 Absatz 4 Satz 1 für den Bereich der Strafvollstreckung finden. Zu weiteren Einzelheiten sei im Übrigen auf die Erläuterungen zu § 246a verwiesen.
§ 154f Steht der Eröffnung oder Durchführung des Hauptverfahrens für längere Zeit die Abwesenheit des Beschuldigten oder ein anderes in seiner Person liegendes Hindernis entgegen und ist die öffentliche Klage noch nicht erhoben, so kann die Staatsanwaltschaft das Verfahren vorläufig einstellen, nachdem sie den Sachverhalt so weit wie möglich aufgeklärt und die Beweise so weit wie möglich gesichert hat.
Schrifttum Bittmann Perspektiven zum Opferschutz – Reform der Reform, ZRP 2009 212; Krause Die vorläufige Einstellung von Strafverfahren praeter legem, GA 1969 97; Kunkel Zur entsprechenden Anwendung des § 205 StPO bei nicht in der Person des Beschuldigten liegenden Hindernissen, DRiZ 1981 263; Schroth 2. Opferrechtsreformgesetz – Das Strafverfahren auf dem Weg zum Parteienprozess?, NJW 2009 2916.
Entstehungsgeschichte. Die Vorschrift wurde durch Art. 1 Nr. 15 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz) vom 29.7.2009 (BGBl. I 2280) neu eingefügt und ist zum 1.10.2009 in Kraft getreten. Sie beruht auf einem Formulierungsvorschlag, der bereits im Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD vom 3.3.2009 (BTDrucks. 16/1298, 5) enthalten war. Der demgegenüber unterbreitete Vorschlag des Bundesrates (BRDrucks. 178/09, 5), wonach das Ermittlungsverfahren nur dann durch die Staatsanwaltschaft vorläufig eingestellt werden sollte, wenn „der Fortführung oder dem Abschluss des Ermitt-
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BTDrucks. 17 12735 S. 21.
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§ 154f StPO Nachtr.
Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
lungsverfahrens“ die Abwesenheit des Beschuldigten oder andere in dessen Person liegende Hindernisse entgegenstehen, hat sich im Ergebnis nicht durchsetzen können. Die Bundesregierung befürchtete, dass die vom Bundesrat vorgeschlagene Formulierung dazu führen würde, dass die Staatsanwaltschaften in allen Fällen, in denen die Ermittlungen inhaltlich abgeschlossen sind und der Beschuldigte Gelegenheit zur Stellungnahme hatte, Anklage zu erheben hätte, auch wenn der Beschuldigte etwa unbekannten Aufenthalts oder verhandlungsunfähig erkrankt ist und insoweit auch zukünftig keine Änderungen zu erwarten stehen (BTDrucks. 16 12812 S. 19).
Übersicht Rn. 1. Hintergrund und Regelungszweck der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Materielle Anwendungsvoraussetzungen a) Vorläufiges Hindernis . . . . . . . . . . b) Abwesenheit des Beschuldigten oder anderes Hindernis . . . . . . . . . . . c) Hindernis für die Eröffnung oder Durchführung des Hauptverfahrens . . . . . . d) Sachverhaltsaufklärung und Beweissicherung . . . . . . . . . . . . . . . .
Rn. 3. Anwendungsbereich a) Zeitlicher Anwendungsbereich . b) Inhaltlicher Anwendungsbereich 4. Entscheidung der Staatsanwaltschaft a) Ermessen . . . . . . . . . . . . b) Form . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . .
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1. Hintergrund und Regelungszweck der Vorschrift. Mithilfe des im Jahr 2009 neu eingeführten § 154f hat der Gesetzgeber eine bislang bestehende Regelungslücke für den Bereich der vorläufigen Verfahrenseinstellung geschlossen.1 Diese Regelungslücke bestand insofern, als für die Situation des Vorliegens vorübergehender Verfahrenshindernisse mit § 205 lediglich für das Zwischenverfahren eine ausdrückliche Regelung existierte. Insofern behalf sich die Praxis bislang mit einer analogen Anwendung von § 205, sofern bereits im Ermittlungsverfahren erkennbar war, dass der Eröffnung oder Durchführung des Hauptverfahrens für längere Zeit die Abwesenheit des Beschuldigten oder ein anderes in seiner Person liegendes Hindernis entgegenstehen würden.2 Für diese Fälle gilt nunmehr unmittelbar § 154f, der damit faktisch auch die auf der Grundlage von Nr. 104 Abs. 1 RiStBV praktizierte Vorgehensweise in den Rang formellen Strafverfahrensrechts erhebt. Insofern soll die neu geschaffene Bestimmung vor allem dem Interesse der Rechtssicherheit dienen.3 Schließlich treten die entsprechenden Sachverhalte in der Praxis häufig schon vor Anklageerhebung auf, insbesondere wenn der aktuelle Aufenthaltsort des Beschuldigten nicht ermittelt werden kann. Ebenso wie § 205 ermöglicht auch § 154f eine angemessene Berücksichtigung des Be2 schleunigungsgrundsatzes sowie des Rechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Die Norm ist von dem allgemeinen Rechtsgedanken getragen, dass auf Verfahrensverzögerungen durch mittelfristig behebbare Hindernisse nicht durch bloße Untätigkeit der Strafverfolgungsbehörden reagiert werden darf, sondern hierfür eine förmliche Einstellungsentscheidung nach Sicherung der für eine spätere Verfahrensfortführung benötigten Beweise
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BTDrucks. 16 12098 S. 21; SK/Weßlau 2; HK/Gercke 1; Radtke/Hohmann/Radtke 2; AnwK/Walther 1; Schroth NJW 2009 2918. LR/Stuckenberg § 205, 5; Radtke/Hohmann/
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Radtke 2; AnwK/Walther 2; Krause GA 1969 99. BTDrucks. 16 12098, 21 f.; SK/Weßlau 2; HK/Gercke 1.
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Nachtr. § 154f StPO
Erster Abschnitt. Öffentliche Klage
erforderlich ist.4 Schließlich wird durch den Einstellungsvermerk dokumentiert, dass es sich um eine sachlich begründete Verzögerung handelt.5 Insofern enthält § 154f eine Ausnahmeregelung zu dem aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK und zahlreichen Einzelregelungen der StPO abzuleitenden Grundsatz der Beschleunigung.6 Andererseits sichert die Vorschrift den Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 2 GG), da das Verfahren grundsätzlich nicht fortgesetzt wird, solange er durch in seiner Person liegende Gründe daran gehindert ist, der Hauptverhandlung zu folgen.7 Damit wird zugleich den Erfordernissen eines fairen Verfahrens Rechnung getragen, da nur dem verhandlungsfähigen Beschuldigten eine effektive Ausübung der in Art. 6 Abs. 3 MRK normierten Rechte möglich ist.8 2. Materielle Anwendungsvoraussetzungen a) Vorläufiges Hindernis. Der Eröffnung oder Durchführung des Hauptverfahrens 3 muss für längere Zeit entweder die Abwesenheit des Beschuldigten oder ein anderes in seiner Person liegendes Hindernis entgegenstehen. Aus der Formulierung „für längere Zeit“ folgt, dass nach dem Kenntnisstand der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren der weiteren Förderung des Verfahrens ein vorläufiges Hindernis entgegenstehen muss. Ein solches vorläufiges Hindernis ist in jedem rechtlichen oder tatsächlichen Umstand zu sehen, der dem Fortgang des Verfahrens entgegensteht, voraussichtlich mittelfristig behoben werden kann und in der Person des Beschuldigten begründet ist. In zeitlicher Hinsicht scheidet eine abstrakt-generelle Festlegung der erforderlichen Zeitdauer von vornherein aus.9 Vielmehr ist hinsichtlicher der Frage der Vorläufigkeit im jeweiligen Einzelfall auf der einen Seite von bloß kurzfristigen und auf der anderen Seite von endgültigen Verfahrenshindernissen abzugrenzen. Bei kurzfristigen Hindernissen, beispielsweise kurzen Erkrankungen oder erkennbarem Zeitablauf der Abwesenheit des Beschuldigten, scheidet eine vorläufige Einstellung nach § 154f aus. Insofern ist vielmehr deren Behebung abzuwarten.10 Ist demgegenüber schon im Ermittlungsverfahren erkennbar, dass eine Behebung des Hindernisses bei verständiger Würdigung der Sachlage unmöglich oder doch zumindest sehr unwahrscheinlich ist, also in Wahrheit ein endgültiges Hindernis vorliegt, so ist das Verfahren nach § 170 Abs. 2 einzustellen.11 b) Abwesenheit des Beschuldigten oder anderes Hindernis. Der Gesetzeswortlaut 4 lässt – wie bei § 205 – keinen Zweifel daran, dass es sich bei dem vorläufigen Hindernis um ein solches handeln muss, das in der Person des Beschuldigten wurzelt.12 Insofern stellt die Abwesenheit des Beschuldigten lediglich einen besonders benannten Beispielsfall des „anderen in seiner Person liegenden Hindernisses“ dar.13 Von Abwesenheit ist nach der auch im Rahmen von § 154f heranzuziehenden Legaldefinition des § 276 auszugehen, wenn der Aufenthalt des Beschuldigten unbekannt ist oder wenn er sich im Ausland aufhält und seine Gestellung vor das zuständige Gericht nicht ausführbar oder nicht 4 5 6 7 8 9
Vgl. SK/Weßlau 2; Radtke/Hohmann/ Radtke 1. SK/Weßlau 2. RH/Radtke 1. HK/Julius § 205, 1. Vgl. OLG Brandenburg NStZ-RR 2005 49; HK/Julius § 205, 1. LR/Stuckenberg § 205, 12; Radtke/Hohmann/ Radtke 6.
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LR/Stuckenberg § 205, 12; SK/Paeffgen § 205, 4; HK/Julius § 205, 6; Radtke/Hohmann/Radtke 5; AnwK/Kirchhof § 205, 2; Krause GA 1969 102. Radtke/Hohmann/Radtke 7; vgl. auch Nr. 104 Abs. 2 RiStBV. HK/Gercke 2; Radtke/Hohmann/Radtke 5; krit. Bittmann ZRP 2009 213. Radtke/Hohmann/Radtke 6.
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Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
angemessen erscheint. Zu den sonstigen, in der Person des Beschuldigten wurzelnden Hindernissen zählt in der Praxis vor allem die Verhandlungsunfähigkeit des Beschuldigten.14 Darüber hinaus kommen in Betracht: Fälle der parlamentarischen Immunität des Beschuldigten nach Art. 46 Abs. 2 bis 4 GG oder den entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen vor Erteilung der Genehmigung zur Strafverfolgung, die völkerrechtliche Immunität nach den §§ 18, 19 GVG, sofern eine spätere Strafverfolgung nicht ausgeschlossen erscheint sowie der auslieferungsrechtliche Spezialitätsgrundsatz, wenn eine Strafverfolgung durch nachträgliche Bewilligung oder Wegfall des auslieferungsrechtlichen Schutzes infolge freiwilligen Verweilens im Bundesgebiet noch möglich erscheint.15
5
c) Hindernis für die Eröffnung oder Durchführung des Hauptverfahrens. Das vorläufige Hindernis muss allerdings auch konkret der Eröffnung oder Durchführung des Hauptverfahrens entgegenstehen. Insofern hat § 154f mit Blick auf seinen eindeutigen Wortlaut lediglich den Fortgang des Strafverfahrens dergestalt im Blick, als diesem im Zwischen- oder Hauptverfahren Hindernisse in der Person des Beschuldigten entgegenstehen. Der bisherigen Auffassung, die § 205 analog auch dann anwenden will, wenn dem weiteren Fortgang des Ermittlungsverfahrens ganz allgemein Hindernisse entgegenstehen16, ist durch § 154f die Grundlage entzogen worden, da davon auszugehen ist, dass der Gesetzgeber der Einbeziehung in Kenntnis des Meinungsstandes zu § 205 eine bewusste Absage erteilt hat. Das praktische Bedürfnis für eine analoge Anwendung – nunmehr von § 154f – dürfte ohnehin gering sein. Zum einen muss die Staatsanwaltschaft für ihre das Ermittlungsverfahren abschließende Anklageentscheidung nach § 170 ebenso wie der Richter im Zwischenverfahren nach § 203 für den Erlass eines Eröffnungsbeschlusses den hinreichenden Tatverdacht bejahen können, so dass der Prüfungsmaßstab insoweit vergleichbar ist. Zum anderen dürfte es im Ermittlungsverfahren auch bei in der Person des Beschuldigten liegenden Hindernissen regelmäßig möglich und geboten sein, den Sachverhalt weiter aufzuklären.17 Mit der Eröffnung des Hauptverfahrens ist der Erlass des Eröffnungsbeschlusses gem. § 203 gemeint. Mit der ausdrücklichen Aufnahme dieses in § 205 bislang nicht enthaltenen Merkmals hat der Gesetzgeber klargestellt, dass eine vorläufige Verfahrenseinstellung auch dann möglich sein soll, wenn es um Hindernisse geht, die bereits der Zulassung der Anklage entgegenstehen. Auch insoweit wird allerdings nur die bisherige Rechtspraxis kodifiziert. Konkret geht es um Fälle, in denen der Beschuldigte nach der im Ermittlungsverfahren zu treffenden Prognose der Staatsanwaltschaft auch im Zwischenverfahren verhandlungsunfähig sein wird oder ihm die Anklage nicht zugestellt werden kann, weil sein Aufenthalt unbekannt und eine öffentliche Zustellung nicht möglich ist.18 Die Durchführung des Hauptverfahrens umfasst sowohl ihre Vorbereitung nach den §§ 212 ff. als auch ihre sämtlichen Verfahrensabschnitte vom Aufruf der Sache bis hin zur Verkündung des Urteils. Dieses Merkmal bezieht sich auf solche Fälle, bei denen das Hindernis nach der Einschätzung der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren entweder erst nach Eröffnung des Hauptverfahrens auftreten oder erst dann für die Hauptverhandlung bedeutsam werden wird. Zu denken ist etwa
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Vgl. dazu die Erläuterungen bei LR/Stuckenberg § 205, 17 ff. m.w.N. sowie MeyerGoßner 2. LR/Stuckenberg § 205, 31; Radtke/Hohmann/Radtke 7. LR/Stuckenberg § 205, 5; HK/Julius
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§ 205, 2; Meyer-Goßner § 205, 3; Henkel 315; Ranft 1133; Schäfer 673; Schlüchter 406, 1; Krause GA 1969, 99; Kunkel DRiZ 1981, 263. LR/Stuckenberg § 205, 5. LR/Stuckenberg § 205, 6.
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Erster Abschnitt. Öffentliche Klage
an Fälle, in denen es zu erwarten ist, dass ein gesundheitlich labiler Beschuldigter erst unter den Belastungen der Hauptverhandlung verhandlungsunfähig wird. Die Gefahr der Flucht während der Hauptverhandlung kommt demgegenüber nur dann in Betracht, wenn dieser nicht durch entsprechende Sicherungsmaßnahmen von Seiten der Justiz begegnet werden kann. Auch die Abwesenheit des Beschuldigten in der späteren Hauptverhandlung stellt nur dann einen Einstellungsgrund dar, wenn nicht ausnahmsweise (nach den §§ 231 Abs. 2, 231a, 231b, 232, 233, 247, 329 Abs. 1, 412) ohne den Angeklagten verhandelt werden kann.19 d) Sachverhaltsaufklärung und Beweissicherung. Die vorläufige Verfahrenseinstellung 6 auf der Grundlage von § 154f ist auch bei Vorliegen der weiteren Normvoraussetzungen nur dann möglich, wenn die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt so weit wie möglich aufgeklärt und die Beweise so weit wie nötig gesichert hat. Diese Voraussetzung übernimmt die entsprechende Formulierung aus Nr. 104 Abs. 1 RiStBV.20 Insofern ist auch im Rahmen von § 154f davon auszugehen, dass eine förmliche Beweissicherung nach den §§ 285 ff. nur in wichtigen Fällen stattzufinden hat. Im Übrigen wird auf die – ohnehin aus dem Legalitätsprinzip und dem Ermittlungsgrundsatz folgende – Verpflichtung der Staatsanwaltschaft hingewiesen, vor einer Entscheidung nach § 154f sämtliche Ermittlungen vorzunehmen, denen das in der Person des Beschuldigten liegende Hindernis nicht entgegensteht.21 Auf diese Weise wird sichergestellt, dass das Verfahren nach dem Wegfall des vorläufigen Hindernisses unmittelbar wieder aufgenommen und ohne Beweismittelverlust weitergeführt werden kann.22 Insbesondere zu Zwecken der Beweissicherung ist daher an die Beantragung ermittlungsrichterlicher Vernehmungen und die Sicherstellung von Beweismitteln zu denken.23 3. Anwendungsbereich a) Zeitlicher Anwendungsbereich. In zeitlicher Hinsicht ist § 154f lediglich im 7 Ermittlungsverfahren bis zur Erhebung der öffentlichen Klage anwendbar. Gem. § 170 Abs. 1 wird somit der Anwendungsbereich durch die Einreichung der Anklageschrift bei dem zuständigen Gericht markiert. Nach Erhebung der öffentlichen Klage gilt somit § 205 unabhängig davon, ob das Hauptverfahren bereits eröffnet wurde.24 Allerdings greift § 154f auch dann wieder ein, nachdem die bereits erhobene Klage (zulässig) wieder zurückgenommen wurde (vgl. § 156).25 Nicht erforderlich ist ein tatsächlicher Abschluss der Ermittlungen. Insofern kommt eine Einstellung nach § 154f auch dann in Betracht, wenn die Staatsanwaltschaft die Entscheidung, ob sie Anklage erheben soll, noch nicht getroffen hat.26 b) Inhaltlicher Anwendungsbereich. Nach seinem Wortlaut bezieht sich der unmittel- 8 bare Anwendungsbereich von § 154f ausschließlich auf vorläufige, in der Person des Beschuldigten liegende Hindernisse. Der Gesetzgeber hat somit keine Regelung hinsicht-
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Vgl. LR/Stuckenberg § 205, 8; Meyer-Goßner § 205, 3. Vgl. BTDrucks. 16 12098 S. 22. Radtke/Hohmann/Radtke 8. Radtke/Hohmann/Radtke 8. Radtke/Hohmann/Radtke 8. BTDrucks. 16 12098 S. 22; Radtke/Hoh-
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mann/Radtke 3; Meyer-Goßner 1; AnwK/Walther 3. BTDrucks. 16 12098 S. 22; SK/Weßlau 3; Radtke/Hohmann/Radtke 3; MeyerGoßner 1; AnwK/Walther 3. SK/Weßlau 3; HK/Gercke 2.
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Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
lich der im Rahmen von § 205 umstrittenen Frage27 vorgenommen, inwieweit die Vorschrift auch auf nicht in der Person des Beschuldigten liegende Hindernisse anwendbar sein soll.28 Für eine analoge Anwendung von § 154f auf vorübergehende Hindernisse außerhalb der Person des Beschuldigten fehlt es allerdings bereits am Vorliegen einer planwidrigen Gesetzeslücke. Auch wenn sich die Gesetzesmaterialien zu dieser Frage nicht näher verhalten29, ist doch davon auszugehen, dass der Gesetzgeber in Kenntnis des Streitstandes zu § 205 hier auf eine Einbeziehung dieser Fälle in § 154f bewusst verzichtet hat. Zudem fehlt auch ein sachliches Bedürfnis für eine analoge Anwendung von § 154f, da die Erhebung der öffentlichen Klage durch ein vorübergehend unerreichbares Beweismittel nicht ausgeschlossen wird. Notfalls muss das Gericht im Zwischenverfahren eine vorläufige Verfahenseinstellung analog § 205 durch Beschluss vornehmen, etwa wenn ein wichtiger Zeuge wegen unbekannten Aufenthalts nicht geladen werden kann und kein ausreichendes Vernehmungssurrogat (z.B. Vernehmungsprotokoll oder Videoaufzeichnung) existiert.30 Somit scheint auch de lege ferenda zumindest kein dringender gesetzgeberischer Ergänzungsbedarf zu bestehen.31 4. Entscheidung der Staatsanwaltschaft
9
a) Ermessen. Der Gesetzgeber hat § 154f in Anlehnung an § 205 bewusst als „KannBestimmung“ ausgestaltet.32 Es liegt somit im pflichtgemäßen Ermessen der Staatsanwaltschaft, ob sie bei Vorliegen der Normvoraussetzungen von der Möglichkeit der vorläufigen Verfahrenseinstellung Gebrauch macht oder sich dennoch für die Erhebung der öffentlichen Klage entscheidet.33 Eine Einstellung soll im Ermittlungsverfahren regelmäßig in Betracht kommen, wenn die Klage nicht erhoben werden kann, weil die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind (z.B. wenn der Beschuldigte noch keine Gelegenheit zur Stellungnahme hatte).34 Sofern die Erhebung der öffentlichen Klage möglich, jedoch erkennbar ist, dass das Hauptverfahren nicht eröffnet oder die Hauptverhandlung nicht durchgeführt werden kann, kann eine Anklageerhebung allerdings schon deshalb in Betracht kommen, weil die Unterbrechung der Verjährungsfrist nach § 78c Abs. 1 S. 1 Nr. 10 StGB nur durch einen gerichtlichen Beschluss nach § 205 bewirkt wird.35 Sofern das Verfahren gegen mehrere Beschuldigte geführt wird und nur hinsichtlich einzelner von ihnen die Einstellungsvoraussetzungen nach § 154f vorliegen, sind die diesbezüglichen Verfahren abzutrennen und vorläufig nach § 154f einzustellen. Das Verfahren gegen die übrigen Beschuldigten wird dann weiter betrieben.36
10
b) Form. Die Entscheidung über die vorläufige Verfahrenseinstellung nach § 154f erfolgt durch entsprechende Verfügung des sachbearbeitenden Staatsanwalts, die akten27
28
Für eine analoge Anwendbarkeit etwa LR/Stuckenberg § 205, 32; SK/Paeffgen § 205, 13; KK/Schneider § 205, 16; MeyerGoßner § 205, 8; AK/Loos § 205, 9; Ranft 1311; Meyer-Goßner JR 1984 436; Loos JR 1998 344 f.; dagegen OLG München NJW 1978 176; OLG Frankfurt NStZ 1982 218; OLG Düsseldorf JR 1984 435; OLG Koblenz StV 1993 513; OLG Stuttgart Justiz 2001 552; LG Düsseldorf StV 2008 348; LG Cottbus NStZ-RR 2009 246; Bloy GA 1980 167. Vgl. Radtke/Hohman/Radtke 10; MeyerGoßner 5.
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29 30 31 32 33 34 35
36
BTDrucks. 16 12098 S. 21 f. Meyer-Goßner 5. A.A. Radtke/Hohmann/Radtke 10; Bittmann ZRP 2009 213. BTDrucks. 16 12098 S. 22; HK/Gercke 2; Meyer-Goßner 3. SK/Weßlau 4; Radtke/Hohmann/Radtke 9; KMR/Plöd 2. BTDrucks. 16 12098 S. 22. BTDrucks. 16 12098 S. 22; SK/Weßlau 4; HK/Gercke 2; Radtke/Hohmann/Radtke 9; Meyer-Goßner 3; AnwK/Walther 5. Meyer-Goßner 4.
Mark Zöller
Nachtr. § 154f StPO
Erster Abschnitt. Öffentliche Klage
kundig zu machen ist.37 Um zeitnah zu erkennen und mit einer Fortsetzung des Verfahrens reagieren zu können, wenn das vorläufige Hindernis wegfällt, ist das zur Einstellung führende Hindernis in der staatsanwaltschaftlichen Verfügung deutlich zu bezeichnen.38 Diesbezüglich hat die Staatsanwaltschaft durch geeignete Aktenführung und Wiedervorlagefristen dafür Sorge zu tragen, dass sie ihrer Überwachungsfunktion hinsichtlich des Bestehens des Hindernisses gerecht werden kann. Aus der Verweisung in Nr. 104 Abs. 3 auf Nr. 103 RiStBV ergibt sich, dass eine vorläufige Einstellung nach § 205 dem Anzeigenden mitzuteilen ist. Diese Mitteilungspflicht ist sinngemäß auf Einstellungen nach § 154f zu übertragen.39 5. Rechtsbehelfe. In § 172 Abs. 2 S. 3 sind Verfahrenseinstellungen nach § 154f nicht 11 explizit aufgeführt. Allerdings ist anerkannt, dass das Klageerzwingungsverfahren im Geltungsbereich des Opportunitätsprinzips über die in § 172 Abs. 2 S. 3 aufgeführten Vorschriften hinaus unzulässig ist. Dies gilt insbesondere für vorläufige Verfahrenseinstellungen, so dass der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nicht statthaft ist.40 Insofern bleibt lediglich die Möglichkeit der Dienstaufsichtsbeschwerde.41
37 38 39
Radtke/Hohmann/Radtke 11. Radtke/Hohmann/Radtke 11, 13. Vgl. AnwK/Walther 6.
40 41
Radtke/Hohmann/Radtke 14. Radtke/Hohmann/Radtke 14.
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ZWEITER ABSCHNITT Vorbereitung der öffentlichen Klage § 158 (1) … (2) … (3) 1Zeigt ein im Inland wohnhafter Verletzter eine in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union begangene Straftat an, so übermittelt die Staatsanwaltschaft die Anzeige auf Antrag des Verletzten an die zuständige Strafverfolgungsbehörde des anderen Mitgliedstaats, wenn für die Tat das deutsche Strafrecht nicht gilt oder von der Verfolgung der Tat nach § 153c Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, auch in Verbindung mit § 153f, abgesehen wird. Von der Übermittlung kann abgesehen werden, wenn 1. die Tat und die für ihre Verfolgung wesentlichen Umstände der zuständigen ausländischen Behörde bereits bekannt sind oder 2. der Unrechtsgehalt der Tat gering ist und der verletzten Person die Anzeige im Ausland möglich gewesen wäre.
Änderung. Absatz 3 wurde durch Art. 1 Nr. 16 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz – 2. ORRG) vom 29.7.2009, BGBl. I, S. 2280, mit Wirkung zum 1.10.2009 eingefügt. Er dient der Umsetzung von Art. 11 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union vom 15.3.2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (2001/220/JI, AblEG Nr. L 82/1 v. 22.3.2001). Danach müssen die Mitgliedstaaten gewährleisten, „dass das Opfer einer Straftat, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnsitzstaat begangen wurde, bei den zuständigen Behörden seines Wohnsitzstaats Strafanzeige erstatten kann, wenn es nicht in der Lage war, die Anzeige in dem Staat zu erstatten, in dem die Straftat begangen wurde, oder wenn es dies im Falle einer schweren Straftat nicht tun wollte“, und dass die zuständige Behörde, bei der die Strafanzeige erstattet wurde, diese unverzüglich an die zuständige Behörde des Tatortstaats übermittelt, sofern sie keine evtl. bestehende eigene Verfolgungszuständigkeit wahrnimmt. Übersicht Rn. 1. Zweck der Neuregelung . . . . . . . . . . 2. Regelungsgehalt a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . b) Einschränkungen . . . . . . . . . . . .
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Rn. 3. Übermittlung in sonstigen Fällen . . . . . .
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1. Zweck der Neuregelung. In Ermangelung einer gesetzlichen Regelung bestand bislang eine erhebliche Unsicherheit, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen die deutschen Strafverfolgungsbehörden bei der Anzeige von Auslandstaten, für die das deutsche
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Zweiter Abschnitt. Vorbereitung der öffentlichen Klage
Nachtr. § 158 StPO
Strafrecht keine Anwendung nach §§ 5 ff. StGB findet, den Behörden eines anderen EUStaats, in dem die Tat begangen wurde, die notwendigen Informationen übermitteln sollen, damit diese eine nach dem Recht des Tatorts mögliche Strafverfolgung durchführen können. Dabei wurde nach Angaben von Opferschutzverbänden selbst nach Inkrafttreten des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union vom 15.3.2001 vielfach nicht nach den Vorgaben von dessen Art. 11 Abs. 2 verfahren, weil die Kenntnis von dessen Inhalt in der Praxis offenbar wenig verbreitet war. Diesem Zustand wollte der Gesetzgeber durch die Schaffung des neuen § 158 Abs. 3 abhelfen.1 2. Regelungsgehalt a) Grundsatz. Entsprechend den Vorgaben des Rahmenbeschlusses verpflichtet Ab- 2 satz 3 Satz 1 die Staatsanwaltschaft grundsätzlich, nach der Anzeige einer im EU-Ausland begangenen Straftat durch einen im Inland wohnhaften Verletzten die Anzeige auf dessen Antrag (also nicht von Amts wegen) an die zuständige Strafverfolgungsbehörde des anderes Mitgliedsstaats zu übermitteln, wenn das deutsche Strafrecht für die Tat entweder überhaupt nicht anwendbar ist oder wenn die Tat gerade im Hinblick darauf, dass es sich um eine Auslandstat handelt, nach § 153c Abs. 1 Nr. 1 (ggf. i.V.m. § 153f) im Inland nicht verfolgt wird. Daraus kann man im Umkehrschluss entnehmen, dass sonstige Gründe, aus denen die Staatsanwaltschaft eine Auslandstat, auf die nach den §§ 5 ff. StGB deutsches Strafrecht anwendbar ist, im Einzelfall nicht verfolgt (z.B. nach den §§ 153, 153a, aber auch nach § 153c Abs. 3), die Übermittlungspflicht nicht auslösen. b) Einschränkungen. Satz 2 erlaubt der Staatsanwaltschaft in Nr. 1 zunächst den Ver- 3 zicht auf eine Übermittlung, die im Hinblick darauf überflüssig erschiene, dass die ausländische Behörde mit der Kenntnis der Tat und der für ihre Verfolgung wesentlichen Umstände schon über alle Informationen verfügt, die sie zur Durchführung eines Strafverfahrens benötigt. Nr. 2 räumt der Staatsanwaltschaft ein entsprechendes Ermessen auch für den Fall ein, dass der Unrechtsgehalt der Tat gering ist und der verletzten Person eine Anzeigeerstattung im Land des Tatorts möglich gewesen wäre. Ersteres ist im Allgemeinen unter den gleichen Voraussetzungen der Fall, unter denen bei einer im Inland verfolgbaren Tat die Anwendung von § 153 in Betracht kommt.2 Letzteres ist unter Aspekten der Zumutbarkeit für den Verletzten zu beurteilen, wobei insbesondere dessen Informationsstand während seines Auslandsaufenthalts und die Frage evtl. Sprachbarrieren eine Rolle spielen.3 Weil beide Voraussetzungen kumulativ vorliegen müssen, besteht die Übermittlungspflicht der Staatsanwaltschaft schon bei Straftaten mittlerer Schwere selbst dann, wenn eine Anzeigeerstattung im Ausland eigentlich zumutbar gewesen wäre; insofern stellt die Vorschrift den Anzeigeerstatter besser, als dies der Rahmenbeschluss gebietet.4 Umgekehrt kann sich die Staatsanwaltschaft selbst bei noch so geringfügigen Taten nicht auf Satz 2 Nr. 2 berufen, wenn eine Anzeigeerstattung im Ausland nach Lage der Dinge unzumutbar war. Handelt es sich um eine Tat, auf
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3 4
Vgl. RegE BTDrucks. 16 12098 S. 22. Ebenso SK/Wohlers 68; vgl. auch das Bsp. in RegE BTDrucks. 16 12098 S. 23 (einfacher Diebstahl von Modeschmuck im Wert von 20 Euro). Ebenso SK/Wohlers 68. Damit soll der besonderen Situation des-
jenigen Rechnung getragen werden, der im Ausland Opfer einer Straftat wurde und sich aufgrund der Sprachbarriere und unzureichender Kenntnisse über die Institutionen des betreffenden Landes scheut, vor Ort eine Anzeige zu erstatten, vgl. RegE BTDrucks. 16 12098 S. 23.
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§ 160a StPO Nachtr.
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die nach den §§ 5 ff. StGB neben dem ausländischen grds. auch deutsches Strafrecht anwendbar ist, kann die Staatsanwaltschaft die Übermittlungspflicht allerdings vermeiden, indem sie selbst ein Ermittlungsverfahren einleitet und dieses sogleich nach § 153 einstellt. Die de facto weiter gehende Übermittlungspflicht bei Taten, für die eine Anwendung deutschen Strafrechts von vornherein nicht in Betracht kommt und für die der Weg zu § 153 somit versperrt ist, begründet mit Blick auf absolute Bagatelldelikte, bei denen im Inland eine Nichtverfolgung nach § 153 StPO mehr oder weniger selbstverständlich erschiene, einen gewissen Wertungswiderspruch.
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3. Übermittlung in sonstigen Fällen. Auch jenseits des Anwendungsbereichs von Absatz 3 ist die Staatsanwaltschaft nicht gehindert, unter den Voraussetzungen von § 61a Abs. 1 IRG und § 92 Abs. 1 IRG eine Einzelfallentscheidung darüber zu treffen, ob in Fällen mit Auslandsbezug die Weiterleitung einer im Inland erstatteten Anzeige an eine zur Verfolgung zuständige ausländische Stelle sachgerecht erscheint.5
§ 160a (1) 1Eine Ermittlungsmaßnahme, die sich gegen eine in § 53 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, 2 oder Nummer 4 genannte Person, einen Rechtsanwalt, eine nach § 206 der Bundesrechtsanwaltsordnung in eine Rechtsanwaltskammer aufgenommene Person oder einen Kammerrechtsbeistand richtet und voraussichtlich Erkenntnisse erbringen würde, über die diese das Zeugnis verweigern dürfte, ist unzulässig. 2Dennoch erlangte Erkenntnisse dürfen nicht verwendet werden. 3Aufzeichnungen hierüber sind unverzüglich zu löschen. 4Die Tatsache ihrer Erlangung und der Löschung der Aufzeichnungen ist aktenkundig zu machen. 5Die Sätze 2 bis 4 gelten entsprechend, wenn durch eine Ermittlungsmaßnahme, die sich nicht gegen eine in Satz 1 in Bezug genommene Person richtet, von dieser Person Erkenntnisse erlangt werden, über die sie das Zeugnis verweigern dürfte. (2) 1Soweit durch eine Ermittlungsmaßnahme eine in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 3b oder Nr. 5 genannte Person betroffen wäre und dadurch voraussichtlich Erkenntnisse erlangt würden, über die diese Person das Zeugnis verweigern dürfte, ist dies im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit besonders zu berücksichtigen; betrifft das Verfahren keine Straftat von erheblicher Bedeutung, ist in der Regel nicht von einem Überwiegen des Strafverfolgungsinteresses auszugehen. 2Soweit geboten, ist die Maßnahme zu unterlassen oder, soweit dies nach der Art der Maßnahme möglich ist, zu beschränken. 3Für die Verwertung von Erkenntnissen zu Beweiszwecken gilt Satz 1 entsprechend. 4Die Sätze 1 bis 3 gelten nicht für Rechtsanwälte, nach § 206 der Bundesrechtsanwaltsordnung in eine Rechtsanwaltskammer aufgenommene Personen und Kammerrechtsbeistände. (3) Die Absätze 1 und 2 sind entsprechend anzuwenden, soweit die in § 53a Genannten das Zeugnis verweigern dürften. (4) 1Die Absätze 1 bis 3 sind nicht anzuwenden, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass die zeugnisverweigerungsberechtigte Person an der Tat oder an einer Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei beteiligt ist. 2Ist die Tat nur auf
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So ausdrücklich RegE BTDrucks. 16 12098 S. 23 mit einigen Beispielen; ebenso SK/Wohlers 67; Meyer-Goßner 30.
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Antrag oder nur mit Ermächtigung verfolgbar, ist Satz 1 in den Fällen des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 anzuwenden, sobald und soweit der Strafantrag gestellt oder die Ermächtigung erteilt ist. (5) Die §§ 97 und 100c Abs. 6 bleiben unberührt.
Schrifttum Ballo Beschlagnahmeschutz im Rahmen von Internal Investigations – Zur Reichweite und Grenze des § 160a StPO, NZWiSt 2013, 46; Bertheau § 160a neuer Fassung – doch offene Fragen bleiben, StV 2012 303; Beulke Fernwirkungen des § 148 StPO – Ein Plädoyer wider den „gläsernen Strafverteidiger“, FS Fezer 3; Beulke/Ruhmannseder Strafprozessuale Zwangsmaßnahmen in der Verteidigungssphäre, StV 2011 180, 252; Ende Verstärkter Schutz von Berufsgeheimnisträgern – auch für Steuerberater!, DStR 2009 2556; Erb Die Beschlagnahme von Unterlagen bei Rechtsanwälten, FS Kühne 171; Fahr Die Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung – Steuerberater fahren beim Zeugnisverweigerungsrecht künftig nur noch „zweiter Klasse“, DStR 2008 375; Glaser/ Gedeon Dissonante Harmonie: Zu eine zukünftigen „System“ strafprozessualer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen, GA 2007 415; Gruske Telekommunikationsüberwachung und Pressefreiheit (2011); Hilger Über den flankierenden Schutz von Zeugnisverweigerungsrechten – Zugleich Besprechung von BVerfG, Urteil vom 12.3.2003, GA 2003 482; Ignor Der rechtliche Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Rechtsanwalt und Mandant im Visier des Gesetzgebers, NJW 2007 3403; Jahn Die verfassungskonforme Auslegung des § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO, ZIS 2011 453; J. Kretschmer § 160a StPO – gelungene oder misslungene Gesetzgebung?, HRRS 2010 551; Leitner Strafverteidigung und Verstrickungsverdacht, FS Widmaier 325; Müller-Jacobsen Schutz von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozess – Ein erster Schritt zum Abschied vom „Zwei-KlassenRecht“, NJW 2011 257; Puschke/Singelnstein Telekommunikationsüberwachung, Vorratsdatenspeicherung und (sonstige) heimliche Ermittlungsmaßnahmen der StPO nach der Neuregelung zum 1.1.2008, NJW 2008 113; Reiß Der strafprozessuale Schutz verfassungsrechtlich geschützter Kommunikation vor verdeckten Ermittlungsmaßnahmen, StV 2008 539; Rüping Gefahren für das Zeugnisverweigerungsrecht des Steuerberaters, DStR 2007 1182; Siegrist Ermittlungen in Steuer- und Wirtschaftsstrafsachen – Quo Vadis? wistra 2010 427; Winterhoff Kanzleidurchsuchungen im Lichte von Grund- und Menschenrechten, AnwBl. 2011 789; Zöller Heimliche und verdeckte Ermittlungsmaßnahmen im Strafverfahren, ZStW 124 (2012) 411.
Entstehungsgeschichte. Die Vorschrift wurde durch Art. 1 Nr. 13a TKÜG vom 21.12.2007, BGBl. I S. 3198, mit Wirkung zum 1.1.2008 in die StPO eingefügt, wobei sie nach dem RegE ursprünglich als § 53b in Kraft treten sollte.1 Ihre jetzige Fassung erhielt sie durch Art. 1 des Gesetzes zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht vom 22.10.2010. Durch dieses wurde mit Wirkung zum 1.2.2011 Absatz 1 Satz 1 allgemein auf Rechtsanwälte, nach § 206 der Bundesrechtsanwaltsordnung in eine Rechtsanwaltskammer aufgenommene Personen und Kammerrechtsbeistände erstreckt, Absatz 1 Satz 5 durch die allgemeine Formulierung entsprechend angepasst und die betreffenden Berufsträger durch den neuen Absatz 2 Satz 4 von der beschränkten Zulässigkeit einschlägiger Ermittlungsmaßnahmen gegen Angehörige der übrigen in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 genannten Berufsgruppen ausdrücklich ausgenommen. 1
Vgl. BTDrucks. 16 5846 S. 9; die (zugleich mit kleineren inhaltlichen Änderungen verbundene Verschiebung) an die vorliegende Stelle beruht auf der Beschlussempfehlung des BTRAussch., in der diese als „systematisch
passender“ bezeichnet wurde (BTDrucks. 16 6979 S. 45); auch insoweit krit. jedoch J. Kretschmer HRRS 2010 551; HK/Zöller 2; SK/Wolter 3.
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Übersicht Rn. I. Allgemeines 1. Zweck der Vorschrift a) Ursprüngliche Fassung . . . . . . . b) Die Ausdehnung des absoluten Schutzes auf Rechtsanwälte . . . . 2. Regelungsübersicht a) Absatz 1 . . . . . . . . . . . . . . b) Absatz 2 . . . . . . . . . . . . . . c) Absätze 3–5 . . . . . . . . . . . . 3. Zur Möglichkeit künftiger Änderungen a) Aktuelle Forderungen . . . . . . . b) Verfassungsrechtlicher Spielraum . . c) Vorschläge de lege ferenda . . . . . II. Anwendungsbereich 1. Erfasste Ermittlungsmaßnahmen . . 2. Berechtigung zur Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts a) Grundsatz . . . . . . . . . . . b) Bedeutung einer Entbindung von der Schweigepflicht . . . . . . . c) Widerruf einer Entbindung von der Schweigepflicht . . . . . . . 3. Freiwillig übermittelte Angaben . .
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IV. Relativer Schutz von Berufsgeheimnissen nach Absatz 2 1. Personenkreis . . . . . . . . . . . . 2. Beweiserhebungsverbot . . . . . . . a) Prognose . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnismäßigkeitsprüfung . . c) Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung . . . . . . . . .
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III. Absoluter Schutz von Berufsgeheimnissen nach Absatz 1 1. Personenkreis . . . . . . . . . . . . 2. Beweiserhebungsverbot . . . . . . . a) Erfordernis einer Prognose . . . . b) Maßnahmen gegen Beschuldigte oder gegen Dritte . . . . . . . . . 3. Verwendungsverbot nach Satz 2 a) Reichweite . . . . . . . . . . . . b) Entlastende Erkenntnisse . . . . . c) Entbindung von der Schweigepflicht . . . . . . . . . . . . . . 4. Löschungs- und Dokumentationspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Erkenntnisse aus anderweitig ausgerichteten Maßnahmen a) Interessenlage . . . . . . . . . . b) Konsequenzen . . . . . . . . . . c) Vom Berufsgeheimnisträger weitergegebene Informationen . . . . .
Rn. d) Tod der durch das geschützte Geheimnis betroffenen Person . . . e) Konsequenzen der Unverhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . 3. Verwertung von Erkenntnissen a) Voraussetzungen der Verwertbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . b) Reichweite eines Verwertungsverbots . . . . . . . . . . . . .
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V. Einbeziehung der Berufshelfer 1. Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pflichtwidrige Gestattung der Übermittlung von Informationen . . . . . . VI. Kriminelle Verstrickung des Zeugnisverweigerungsberechtigten 1. Verdacht der Beteiligung . . . . . . . 2. Besonderheiten beim Verteidiger a) Situation beim Verdacht eines Anschlussdelikts . . . . . . . . . b) Wegfall des Schutzes bei Tatbeteiligung i.e.S. . . . . . . . . . . . . . 3. Medienangehörige . . . . . . . . . . 4. Nachträgliche Änderung der Verdachtslage . . . . . . . . . . . . . a) Wegfall des Verdachts . . . . . . b) Nachträgliche Verdachtsbegründung . . . . . . . . . . . . VII. Verhältnis zu den §§ 97, 100c Abs. 6 1. Diskussionen trotz § 160a Abs. 5 . . 2. Die aktuelle Debatte . . . . . . . . . 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . a) Gesetzessystematische Betrachtung b) Weiterreichende Folgen von Beschlagnahmeverboten . . . . . c) Konsequenzen für die Auslegung von § 97 . . . . . . . . . . . . . 4. Zur Zulässigkeit vorbereitender Durchsuchungen . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . b) Einschränkungen . . . . . . . . . c) Problem der evtl. gleichzeitigen Erlangung geschützter Informationen VIII. Revision 1. Unzulässige Erkenntnisverwertung a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . b) Beurteilungsspielräume . . . . . . c) Widerspruch gegen die Verwertung 2. Fehlerhafte Annahme eines Beweisverwertungsverbots . . . . . . . . . . 3. Die Revisionsbegründung . . . . . .
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Alphabetische Übersicht Abgeordnete s. Parlamentarier Abwägungslehre 38, 49 Ärzte 8, 35 Berufshelfer 40 f. Beschlagnahme von Gegenständen 53 ff., 63 ff. Beurteilungs- und Prognosespielräume – des Gesetzgebers 10 – der Strafverfolgungsorgane 20, 31, 42, 67 Beweiserhebungsverbot 19 ff., 30 Beweisverwertungsverbot 22, 38 f., 47, 52, 53, 66 – fehlerhafte Annahme 69 Deliktsgegenstände 56 Differenzierung zwischen Berufsgruppen 1, 6, 11 Durchsuchungen 62 ff. Erkenntnisse – aus dem geschützten Bereich 19 ff. – entlastende 12, 23, 25, 38, 69 – (Un-)Verwertbarkeit 3, 12, 22, 38 f., 47, 52, 53 Ermittlungsmaßnahmen – offene und heimliche 13 Geistliche 1, 3, 8, 15, 17, 18 Internal investigations s. Untersuchungen, interne Journalisten 6, 8 f., 15, 17, 18, 45 Katalogtaten 12, 33 Kernbereich privater Lebensgestaltung 7, 12, 35, 37, 39, 47, 51 Löschungs- und Dokumentationspflichten 3, 25, 27, 39 Maßnahmen gegen Dritte 21, 26 Medienvertreter s. Journalisten Ordnungswidrigkeiten 34 Parlamentarier 1, 3, 8, 15, 17, 18 Prognose 20, 31 Rechtsanwälte 2, 8 f., 18, 54, 58, 61, 65
Revision 66 ff. – Begründung 70 Schutz – absoluter 18 ff. – relativer 29 ff. Schweigepflicht – Entbindung 15, 24, 38, 40 – Verletzung 17, 28, 38, 41 – Widerruf der Entbindung 16 Seelsorger 3, 18 Sondervorschriften 53, 56 Spurenansatz 12, 22, 39, 47, 51 f. Steuerberater 6, 8 Straftat von erheblicher Bedeutung 12, 33, 36 Strafverteidiger s. Verteidiger Tod der geschützten Person 12, 36 Untersuchungen, interne 54, 58, 60 f., 65 Verdacht krimineller Verstrickung 7, 12, 40, 42 ff. – Anschlussdelikt 43 – nachträgliche Begründung 48 ff. – nachträglicher Wegfall 12, 47 – Tatbeteiligung i.e.S. 44 Verhältnismäßigkeitsprüfung 4, 32 ff., 37, 64, 67 Verfassungsmäßigkeit 7 Verlagerung beweisrelevanter Gegenstände 60 Vermischung von Kommunikationsinhalten 20, 65 Verteidiger 1, 3, 8, 43 f. Verwendungsverbot nach Absatz 1 3, 22 ff., 26 f., 47, 51, 66 Widerspruch gegen die Verwertung 68 Wohnraumüberwachung, akustische 53 Zeugnisverweigerungsrecht 13 ff. – Verzicht des Geheimnisträgers 15, 17, 40
I. Allgemeines 1. Zweck der Vorschrift a) Ursprüngliche Fassung. Mit Schaffung der Vorschrift verfolgte der Gesetzgeber 1 das Ziel, den durch § 53 geschützten Berufsgeheimnissen über die dort geregelten Zeugnisverweigerungsrechte und die damit korrespondierenden Beschlagnahmeverbote nach § 97 hinaus und jenseits der Sonderregelung für den „großen Lauschangriff“ in § 100c Abs. 6 auch im Rahmen aller anderen Ermittlungsmaßnahmen einen Schutz zu gewähren, der allerdings in folgender Weise abgestuft wurde: Während solche Maßnahmen gegenüber Geistlichen, Verteidigern (zunächst hingegen nicht allgemein Rechtsanwälten) und Abgeordneten absolut unzulässig sind (mit Ausnahme von Fällen ihrer kriminellen Verstrickung), soweit dabei mit der Erlangung von Kenntnissen zu rechnen wäre, die dem Zeugnisverweigerungsrecht unterliegen, und von diesen Berufsträgern gleichwohl erlangte Erkenntnisse solcher Art in keinem Fall verwendet werden dürfen, ist das Interesse an der Wahrung des Berufsgeheimnisses bei den anderen von § 53 genannten Personen insoweit nur im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung besonders zu berücksichtigen. Der Grund für diese Differenzierung lag in der Annahme, dem Gespräch mit dem Strafverteidiger komme im Hinblick auf die fundamentale rechtsstaatliche Bedeutung der Verteidigungsrechte „eine wichtige Funktion zur Wahrung der Menschenwürde
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zu“, das Gespräch mit dem Geistlichen als Seelsorger sei „dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen, der dem staatlichen Zugriff schlechthin entzogen ist“, und das mandatsbezogene Vertrauensverhältnis sei – auch im Hinblick auf Art. 47 GG und entsprechende Regelungen in den Landesverfassungen – im Interesse einer „Stärkung des freien Mandats und zugleich der ungestörten parlamentarischen Arbeit sowie daraus folgend der Funktionsfähigkeit der Volksvertretung“ umfassend zu schützen.2 Demgegenüber seien die Geheimhaltungsinteressen bei den übrigen Berufsgeheimnisträgern zwar ebenfalls hoch zu veranschlagen, könnten gegenüber den Belangen der Strafrechtspflege aber keinen generellen Vorrang beanspruchen, weshalb die Frage eines Erhebungs- und Verwertungsverbots hier in einer einzelfallbezogenen Abwägung entschieden werden müsse; ein „Überwiegen der schutzwürdigen Individualinteressen“ sei dabei insbesondere dort anzunehmen, wo „es um Informationen aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung oder zumindest um kernbereichsnahe besonders sensible Informationen geht, die in einem Arzt-Patienten-Gespräch ausgetauscht werden.“3
2
b) Die Ausdehnung des absoluten Schutzes auf Rechtsanwälte und bestimmte gleichgestellte Personen mit anwaltlichen Aufgaben erfolgte vor dem Hintergrund einer verbreiteten Kritik an der Differenzierung zwischen absolut und relativ geschützten Vertrauensverhältnissen,4 durch die sich die Bundesregierung ausweislich der Begr. des RegE motiviert sah, „den Schutz von Berufsgeheimnisträgern insgesamt weiter zu verbessern.“ Dabei sollte „in einem ersten Schritt die als problematisch erachtete Differenzierung zwischen dem Vertrauensverhältnis zu einem Verteidiger einerseits und demjenigen zu einem (sonstigen) Rechtsanwalt … andererseits“ beseitigt werden, während die Erstreckung auf weitere Berufsgruppen der Prüfung vorbehalten blieb, „ob die Einbeziehung weiterer Berufsgeheimnisträger in den absoluten Schutz des § 160a Absatz 1 StPO angezeigt und im Hinblick auf die Durchsetzung des Strafverfolgungsanspruches des Staates vertretbar ist“.5 Die vorrangige Berücksichtigung der Rechtsanwälte wurde zum einen mit der besonderen Stellung des Rechtsanwalts als „unabhängigem Organ der Rechtspflege“, zum anderen mit den in der Praxis zu verzeichnenden Schwierigkeiten bei der Abgrenzung zwischen Strafverteidigung und sonstiger anwaltlicher Tätigkeit begründet. 2. Regelungsübersicht
3
a) Absatz 1 sieht zum absoluten Schutz der Berufsgeheimnisse von Geistlichen als Seelsorgern, Verteidigern (zu den darunter fallenden Personen s.u. Rn. 18), Rechtsanwälten und diesen gleichgestellten Personen sowie Parlamentariern ein Verbot von Ermittlungsmaßnahmen gegenüber diesen Berufsgruppen vor, bei denen Erkenntnisse zu erwarten sind, die einem entsprechenden Zeugnisverweigerungsrecht unterliegen. Bei einer solchen Maßnahme erlangte Erkenntnisse dieser Art dürfen unabhängig davon, ob die 2 3 4
So die Begr. des RegE TKÜG zu § 53b-E, BTDrucks. 16 5846 S. 35. Vgl. BTDrucks. 16 5846 S. 36 f. Allgemein etwa J. Kretschmer HRRS 2010 551, 554 f.; Rüping DStR 2007 1182 ff.; SK/Wolter 4 ff.; speziell in Bezug auf die Differenzierung zwischen Verteidigern und (sonstigen) Rechtsanwälten Ignor NJW 2007 3403 ff.; Leitner FS Widmaier 325, 333; für
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die grds. Zulässigkeit einer Differenzierung zwischen verschiedenen Berufsgruppen bei gleichzeitiger Kritik, die alleinige Privilegierung speziell der in § 53 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 Genannten sei jedoch „willkürlich“, mit Blick auf eine entsprechende Regelung in § 100h a.F. bereits Hilger GA 2003 882, 485. Vgl. BTDrucks 17 2637 S. 6.
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Maßnahme rechtswidrig oder (weil mit solchen Erkenntnissen ex ante nicht zu rechnen war) rechtmäßig war, „nicht verwendet werden“ (d.h. auch nicht als Spurenansatz); näher dazu unten Rn. 22. Das Verwendungsverbot wird durch Löschungs- und Dokumentationspflichten flankiert und nach Satz 5 ausdrücklich auf den Fall erstreckt, dass solche Erkenntnisse unmittelbar (s.u. Rn. 26 ff.) durch anderweitige Ermittlungsmaßnahmen erlangt wurden. b) Absatz 2 verlangt bei den übrigen Berufsgeheimnisträgern in entsprechender Situa- 4 tion, die Bedeutung des Berufsgeheimnisses sowohl vor Anordnung der Maßnahme (ggf. mit dem Ergebnis, dass diese zu unterlassen oder zu beschränken ist) als auch bei der Verwertung einschlägiger Erkenntnisse (ggf. mit der Konsequenz, dass diese unterbleibt) im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung besonders zu berücksichtigen (s.u. Rn. 32 ff.). c) Absätze 3–5. Absatz 3 bezieht sowohl für Absatz 1 als auch für Absatz 2 die 5 Berufshelfer im Rahmen der Reichweite ihres Zeugnisverweigerungsrechts in die jeweilige Regelung ein. Absatz 4 sieht in allen Konstellationen eine Ausnahme von den Einschränkungen bei der Gewinnung und Verwertung von Erkenntnissen vor, wenn zumindest ein auf „bestimmte Tatsachen“ gestützter Verdacht besteht, dass der Berufsgeheimnisträger bzw. Berufshelfer in das verfahrensgegenständliche kriminelle Geschehen verstrickt ist. Absatz 5 stellt den Vorrang der Sonderregelungen klar, die das Gesetz in § 97 für die Beschlagnahme und in § 100c Abs. 6 für den „großen Lauschangriff“ vorsieht. 3. Zur Möglichkeit künftiger Änderungen a) Rechtspolitische Forderungen. Ausweislich der Begründung des Änderungsgesetzes 6 war die Einbeziehung der Rechtsanwälte in Absatz 1 als „erster Schritt“ zur allgemeinen Verbesserung der Situation von Berufsgeheimnisträgern gedacht (s.o. Rn. 2). Damit zeigte der Gesetzgeber eine grundsätzliche Aufgeschlossenheit gegenüber entsprechenden Forderungen von Berufsvertretern und wissenschaftlichen Autoren. Diese Forderungen gehen vielfach dahin, die nach geltendem Recht bestehende Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen dergestalt zu beseitigen, dass der in Absatz 1 geregelte absolute Schutz nunmehr allen Berufsgeheimnisträgern zugutekommt.6 Unabhängig davon wird insbesondere von Steuerberatern verlangt, speziell ihr Berufsgeheimnis auch jenseits der Fälle, in denen sie nach § 392 Abs. 1 AO als Verteidiger tätig sind, allgemein dem gleichen Schutz wie dasjenige von Verteidigern und (nunmehr auch) Rechtsanwälten zu unterwerfen.7 Ein anderer Vorschlag lautet, neben diesen zugleich die Notare, Wirtschaftsprüfer und vereidigten Buchprüfer in eine solche Regelung einzubeziehen,8 und auch in Bezug auf Journalisten finden sich entsprechende Stimmen.9 6
7
Beulke Rn. 232a; J. Kretschmer HRRS 2010 551, 554 f.; Zöller ZStW 124 (2012) 411, 432 f.; Radtke/Hohmann/J. Kretschmer 13; entsprechend auch eine Bundesratsinitiative des Landes Schleswig-Holstein, BRDrucks. 99/12. Vgl. etwa Becherer IStR 2010 555, 557; Ende DStR 2009 2556 ff.; Fahr DStR 2008 375, 379 f.; entsprechend die Resolutionen der Bundeskammerversammlung der Bundes-
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steuerberaterkammer vom 5.4.2011 (Juris-Dokument jnachr-JUNA110602036. htm) und der Mitgliederversammlung des Deutschen Steuerberaterverbands vom 17.6.2011 (Juris-Dokument jnachr-JUNA110401082.htm). Müller-Jacobsen NJW 2011 257, 258 f. Gola/Klug/Reif NJW 2007 2599, 2602; im Zusammenhang mit § 100h Abs. 2 a.F. bereits Welp GA 2002 535, 549; für eine Verbesse-
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b) Verfassungsrechtlicher Spielraum. Das Bundesverfassungsgericht hat indessen sowohl die in Absatz 2 getroffene Regelung, wonach die Vertrauensbeziehung bei den meisten Berufsgeheimnisträgern nur einen relativen, von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall abhängigen – dabei im Falle einer Tangierung des „unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung“ allerdings zwingend zu gewährenden – Schutz genießt, als auch (im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz) die Privilegierung der in Absatz 1 genannten Berufsgruppen und überdies auch die Vorschrift für den Verdacht einer kriminellen Verstrickung des Berufsgeheimnisträgers (mithin also die gesamte gegenwärtige Regelung) für verfassungsgemäß erklärt.10 Damit ist für den Gesetzgeber nicht nur ein verfassungsrechtlich begründeter Handlungsdruck zu einer neuerlichen Ausweitung des absoluten Schutzes vor Ermittlungsmaßnahmen nach dem Modell von Absatz 1 entfallen, sondern für entsprechende Reformansätze sind im Gegenteil zusätzliche Hürden entstanden.
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aa) So dürfte der Weg für eine partielle Erweiterung von Absatz 1 auf einzelne weitere Berufsgruppen dadurch versperrt sein, dass das BVerfG zwar ausdrücklich die Erwägungen teilt, die den Gesetzgeber zur Privilegierung von Geistlichen, Verteidigern und Parlamentariern veranlasst hatten, aber schon die Erstreckung des absoluten Schutzes auf Rechtsanwälte, nach § 206 BRAO in eine Rechtsanwaltskammer aufgenommene Personen und Kammerrechtsbeistände nur deshalb als „vor Art. 3 Abs. 1 GG noch zu rechtfertigen“ und „mit Blick auf den Menschenwürdebezug der Strafverteidigung vertretbar“ (also nicht etwa „verfassungsrechtlich geboten“!) bezeichnete, weil beim anwaltlichen Mandat „der Übergang zur Strafverteidigung mitunter fließend“ sei. Dabei stellte es entscheidend darauf ab, dass einem „anwaltlichen Beratungsverhältnis … bei generalisierender Betrachtung die Option der Strafverteidigung immanent sei.“11 Weil es letzteres für die Tätigkeit der Steuerberater im gleichen Satz ausdrücklich verneinte, muss man wohl davon ausgehen, dass der Gesetzgeber nach der in dieser Entscheidung vertretenen Position die Möglichkeit der Steuerberater, in Steuerstrafsachen als Verteidiger aufzutreten, nicht zum Anlass nehmen könnte, auch diese (den Forderungen ihrer Berufsverbände gemäß) generell in den absoluten Schutz von § 160a Abs. 1 einzubeziehen, ohne mit Blick auf die im Geltungsbereich von Absatz 2 verbleibenden Berufsgruppen gegen Art. 3 Abs. 1 GG zu verstoßen. Weil das BVerfG auch weder in Bezug auf Ärzte noch in Bezug auf Journalisten (um die es in der Entscheidung primär ging) einen verfassungsrechtlich begründeten Anlass sah, deren Berufsgeheimnis einen generellen Vorrang vor den Belangen der Strafverfolgung einzuräumen,12 und weil man von den weiteren in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 3b genannten Berufsgruppen wohl keiner eine höhere Schutzbedürftigkeit als Ärzten und Steuerberatern zusprechen kann, folgt daraus, dass nach der Entscheidung bei konsequenter Betrachtung jegliche Erstreckung von § 160a Abs. 1 auf einzelne weitere Berufsgruppen als Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz unzulässig wäre.
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rung der Situation von Journalisten, die aber nicht zwangsläufig in einem absoluten Schutz entsprechend Absatz 1 bestehen müsse, auch Gruske 74 ff.; SK/Wolter 37. BVerfGE 129 208, 258 ff., 262 ff., 267 f. In BVerfG NJW 2010 287 f. wurde im Übrigen die Verfassungsmäßigkeit der Nicht-
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erstreckung von § 160a auf zeugnisverweigerungsberechtigte Angehörige klargestellt, die im Schrifttum z.T. ebenfalls Gegenstand heftiger Kritik ist, vgl. etwa Zöller ZStW 124 (2012) 411, 433. BVerfGE 129 208, 264 f. BVerfGE 129 208, 266.
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bb) Darüber hinaus erwecken einige Formulierungen in der Entscheidung den Ein- 9 druck, das BVerfG halte eine Erstreckung des Schutzniveaus von § 160a Abs. 1 auf alle Berufsgeheimnisträger für verfassungsrechtlich problematisch. In der Entscheidung werden die „durch Strafverfolgungsmaßnahmen bezweckte Aufklärung von Straftaten und ihr Beitrag zur Durchsetzung der Strafgesetze, … [die] durch Zeugnisverweigerungsrechte oder vergleichbare verfahrensrechtliche Beschränkungen der Strafverfolgung empfindlich berührt werden“ könnten, nämlich nicht nur als legitimer Anlass für Eingriffe in die hinter den Berufsgeheimnissen stehenden grundrechtlich geschützten Belange, sondern als eigenes Schutzgut behandelt, dessen Beeinträchtigungen, die im vorliegenden Zusammenhang sicherlich zu erwarten sind, ihrerseits „der verfassungsrechtlichen Legitimation“ bedürften.13 In Bezug auf die Rechtsanwälte heißt es sodann, deren „Stellung … als unabhängige Organe der Rechtspflege und ihre Teilnahme an der Verwirklichung des Rechtsstaats … [würde] sie noch nicht in einer Weise aus dem Kreis der lediglich von dem relativen Schutz des § 160a Abs. 2 StPO erfassten Berufsgeheimnisträger heraus[heben], die einen Verzicht auf Ermittlungsmaßnahmen rechtfertigen könnte.“14 Warum das BVerfG diese im vorliegenden Kontext schiefe Formulierung (da es um die Prüfung von Art. 3 Abs. 1 GG geht, kommt es ja nicht darauf an, ob der Verzicht als solcher zu rechtfertigen ist, sondern nur darauf, ob man ihn einer Berufsgruppe im Unterschied zu anderen einseitig gewähren darf!) wählt, erscheint zunächst einmal unklar. Betrachtet man ihn zusammen mit den Ausführungen zu den Medienvertretern, wo betont wird, der Gesetzgeber sei „weder gehalten, noch steht es ihm frei, der Presseund Rundfunkfreiheit den absoluten Vorrang vor anderen wichtigen Rechtsgütern einzuräumen, wie etwa dem hier in Rede stehenden Gebot der Wahrheitserforschung im Strafprozess“,15 so drängt sich jedoch unweigerlich die Frage auf, ob das Bundesverfassungsreicht den Ambitionen des Gesetzgebers zu weiteren Ausdehnung des Schutzes von Berufsgeheimnissen im Rahmen von § 160a vielleicht gezielt entgegenwirken wollte. Damit wurde gegen weitere Reformen in dieser Richtung aber keine konkrete Sperre 10 errichtet, auf deren Einhaltung das BVerfG ohne weiteres bestehen könnte: Im Hinblick auf die weiten Beurteilungs- und Prognosespielräume, die das BVerfG dem Gesetzgeber allgemein gewährt und die es ihm im vorliegenden Zusammenhang schwerlich vorenthalten könnte, müsste dieses eine Einschätzung des Gesetzgebers, wonach weitergehende Ermittlungsbeschränkungen die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ nicht in nennenswertem Maße beeinträchtigen würden, zunächst einmal hinnehmen. Auf der Grundlage einer solchen Annahme wäre ein rechtspolitisch liberal ausgerichteter Gesetzgeber richtigerweise nicht einmal gehindert, entsprechend den im Schrifttum erhobenen Maximalforderungen das Schutzniveau von § 160a Abs. 1 auf alle Berufsgeheimnisträger zu erstrecken, sondern müsste nur dann, wenn ein solcher Schritt letzten Endes doch zu ernsten Defiziten bei der Verfolgung gravierender Straftaten führen sollte, für die notwendigen Korrekturen sorgen. Im Übrigen sollte man bedenken, dass das gesetzgeberische Bestreben, „den Schutz 11 von Berufsgeheimnisträgern insgesamt weiter zu verbessern“ (s.o. Rn. 2) ja nicht zwangsläufig in eine Verallgemeinerung des Schutzniveaus von § 160a Abs. 1 auf alle Berufsgruppen oder eine (nach der Entscheidung des BVerfG wohl in der Tat unzulässige, s.o. Rn. 8) Einbeziehung einzelner weiterer Berufsgruppen in das absolute Ermittlungs- und Verwendungsverbot münden muss. Stattdessen wäre z.B. auch ein Kompromiss denkbar, 13 14
BVerfGE 129 208, 260. BVerfGE 129 208, 264 (Hervorhebung vom Verfasser der Kommentierung).
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BVerfGE 129 208, 266 (Hervorhebung wiederum vom Verfasser der Kommentierung).
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nach dem die jetzige Differenzierung zwischen den von Absatz 1 und Absatz 2 erfassten Berufsgruppen zwar bestehen bleibt, die Durchführung von Ermittlungsmaßnahmen bei denjenigen, die nicht dem absoluten Schutz von Absatz 1 unterfallen, und die Verwertung der bei den betreffenden Berufsgeheimnisträgern erlangten Erkenntnisse jedoch an deutlich höhere Hürden geknüpft wird.
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c) Vorschläge de lege ferenda. Nach alledem könnte eine sachgerechte Lösung z.B. darin bestehen, entsprechende Maßnahmen bzw. Beweisverwertungen überhaupt nur bei einem engen Katalog von Straftaten zuzulassen, die abstrakt und darüber hinaus auch im Einzelfall besonders schwerwiegend erscheinen (etwa nach dem Vorbild von § 100c Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 2), statt wie derzeit nur eine Regelvermutung der Unzulässigkeit für Fälle zu statuieren, in denen „das Verfahren keine Straftat von erheblicher Bedeutung betrifft“. Darüber hinaus erschiene es angemessen, das vom BVerfG angemahnte Verbot eines gezielten Zugriffs auf bzw. die Verwendung von Erkenntnissen aus dem „unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung“, soweit dieser Gegenstand der Kommunikation mit dem Berufsgeheimnisträger ist, in der Vorschrift ausdrücklich auszusprechen.16 Umgekehrt würde es sich anbieten, für den Fall des zwischenzeitlichen Todes der Person, auf die sich das geschützte Geheimnis bezieht, im Hinblick darauf, dass der postmortale Achtungsanspruch nicht so weit reicht wie die Persönlichkeitsrechte eines Lebenden,17 die Eingriffsschwelle abzusenken, um z.B. auf psychiatrische Erkenntnisse über den Täter eines schweren Verbrechens zugreifen zu können, wenn sich dieser durch Suizid der Verantwortung entzogen hat und nunmehr das grob pflichtwidrige Verhalten einer Person in seinem Umfeld nach § 222 StGB geahndet werden soll; dass sich speziell in dieser Konstellation auch ein Fahrlässigkeitsdelikt als „Straftat von erheblicher Bedeutung darstellen kann, liegt auf der Hand.18 Der Gesetzgeber sollte des Weiteren die Verwendung vorhandener entlastender Erkenntnisse zugunsten des Beschuldigten (dazu unten Rn. 23) ausdrücklich für zulässig erklären. Was die (im Grundsatz ebenfalls schon de lege lata anzunehmende, s.u. Rn. 47) Unverwertbarkeit aller Erkenntnisse betrifft, die auf Maßnahmen beruhen, die aufgrund eines zunächst in der von Absatz 4 geforderten Weise bestehenden, später aber wieder entfallenen Verdachts einer kriminellen Verstrickung des Berufsgeheimnisträgers durchgeführt wurden, sollte ebenfalls zum einen eine gesetzliche Klarstellung, zum anderen auch bei den von Absatz 2 erfassten Berufsgruppen eine Erstreckung des Verbots auf die Verwendung als Spurenansatz erfolgen.
II. Anwendungsbereich 13
1. Erfasste Ermittlungsmaßnahmen. § 160a gilt grundsätzlich für alle strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen, nicht nur für heimliche (bei denen die Gefahr einer Unterlaufung der Zeugnisverweigerungsrechte freilich besonders hoch und der Schutz der Vorschrift deshalb besonders dringlich ist19), die sich gegen einen der unmittelbar oder durch
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So auch – bzw. durch die Forderung nach Einbeziehung von Angehörigenverhältnissen noch weitergehend – Reiß StV 2008 539, 542; J. Kretschmer HRRS 2010 551, 556 f.; Radtke/Hohmann/J. Kretschmer 14. BGH NStZ 1998 635; BGH StraFo 2012 173, 175; Jäger JA 2012 634, 636.
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Zutr. BGH StraFo 2012 173, 175 im Fall des Amoklaufs von Winnenden; zust. Jäger JA 2012 634, 636. Zutr. HK/Zöller 2.
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Verweisung auf § 53 genannten Berufsgeheimnisträger richten, soweit dieser nicht selbst Beschuldigter des betreffenden Verfahrens ist (in diesem Fall scheitert die Anwendung von § 160a schon nach dessen Wortlaut daran, dass ein Beschuldigter nicht das hier vorausgesetzte „Zeugnisverweigerungsrecht“, sondern ein Schweigerecht nach § 136 Abs. 1 Satz 2 hat; zu der in einer Ausnahmekonstellation gebotenen analogen Anwendung s.u. Rn. 42 a.E.)20 oder die Voraussetzungen einer kriminellen Verstrickung i.S. von § 160a Abs. 4 erfüllt sind (dazu unten Rn. 42 ff.).21 Ob der Beschuldigte des Verfahrens, in dem die Anwendung von § 160a zur Debatte steht, selbst in den Schutz des Berufsgeheimnisses einbezogen ist, oder ob das durch die Ermittlungsmaßnahme berührte Berufsgeheimnis einen nichtbeschuldigten Dritten schützt, spielt keine Rolle, weil auch im letztgenannten Fall eine empfindliche Erschütterung der Vertrauensbeziehung droht, die durch das Berufsgeheimnis gesichert werden soll.22 Dass § 160a nicht nur einen durch das Berufsgeheimnis geschützten Beschuldigten begünstigen, sondern das Berufsgeheimnis als solches einer staatlichen Ausforschung entziehen soll, kann man im Übrigen aus der unterschiedslosen Einbeziehung auch solcher Berufsgeheimnisse erkennen, deren allgemeiner Zweck gar nicht darin besteht, den Kommunikationspartner des Berufsgeheimnisträgers zu privilegieren (so bei Abgeordneten und Journalisten). Allgemein nicht von der Vorschrift erfasst sind Zeugenvernehmungen, für die es bei der Anwendung der unmittelbar einschlägigen §§ 53, 53a bleibt.23 Zum Verhältnis zu § 97 bzw. § 100c Abs. 6 s.u. Rn. 53 ff. 2. Berechtigung zur Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts a) Grundsatz. Indem sowohl Absatz 1 als auch Absatz 2 daran anknüpfen, dass die 14 betreffende Person über die fraglichen Erkenntnisse „das Zeugnis verweigern dürfte“, kommt auf der einen Seite klar zum Ausdruck, dass nicht erst die tatsächliche Ausübung dieser Befugnis, sondern allein schon ihr Bestehen – insbesondere auch bei demjenigen Berufsgeheimnisträger, der von seiner Rolle als potentieller Zeuge und den damit korrespondierenden Rechten in der betreffenden Angelegenheit noch gar nichts weiß – die von § 160a statuierten Verbote auslöst.24 b) Bedeutung einer Entbindung von der Schweigepflicht. Auf der anderen Seite folgt 15 daraus aber auch, dass eine Entbindung von der Schweigepflicht, die als solche das Zeugnisverweigerungsrecht entfallen lässt (also nach § 53 Abs. 2 Satz 1 bei den in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bis 3b genannten Berufsgruppen) zugleich der Anwendbarkeit von § 160a die Grundlage entzieht, und zwar auch in Bezug auf Erkenntnisse, die aus einer nach der Vorschrift zunächst unzulässigen Ermittlungsmaßnahme gewonnen wurden.25 Für die Fälle, in denen die Entbindung von der Schweigepflicht keine Pflicht des Berufsgeheimnisträgers zum Zeugnis begründet (also bei Geistlichen nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und bei Journalisten nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5) oder in denen dieser ohnehin
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BGHSt 53 257, 260, 262; Winterhoff AnwBl. 2011 789, 791; Meyer-Goßner 1. HK/Zöller 2. Vgl. dazu BVerfG NJW 2009 2518, 2520; Ignor NJW 2007 3403, 3405; im Ergebnis auch LG Mannheim wistra 2012 400, 407; Bertheau StV 2012 303; Schuster NZWiSt 2012 28 f.
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HK/Zöller 2; Meyer-Goßner 1; SK/Wolter 12. HK/Zöller 8; SK/Wolter 12. Ebenso Bertheau StV 2012 303, 304; Glaser/Gedeon GA 2007 415, 425; MeyerGoßner 1; entsprechend auch die Annahme in der Begr. des RegE zu § 53b-E, BTDrucks. 16 5846 S. 37.
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unabhängig von einer solchen frei über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts entscheiden kann (so bei Parlamentariern nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4), lässt jene mit dem Zeugnisverweigerungsrecht hingegen auch die Wirkungen von § 160a zunächst einmal unberührt.26 Hier ändern sich die Dinge erst, wenn der Berufsgeheimnisträger tatsächlich auf die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts verzichtet. Im letztgenannten Fall entfallen die Beschränkungen der Erkenntnisgewinnung und -verwendung nicht nur bei Geistlichen und Parlamentariern,27 sondern richtigerweise auch bei Journalisten. Wenn deren Zeugnisverweigerungsrecht auch „vorrangig der im öffentlichen Interesse liegenden Tätigkeit von Presse und Rundfunk liegt“,28 so braucht die Justiz ihre eigene Aufgabe der Wahrheitsfindung im Strafverfahren hinter diesem Interesse nicht zurückzustellen, wenn der primär zu dessen Wahrung berufene Journalist auf den Einsatz des entsprechenden Schutzinstruments selbst keinen Wert legt (wofür er im Einzelfall ja vielleicht gute Gründe haben kann – jedenfalls dann, wenn der Informant seinerseits einverstanden ist).
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c) Widerruf einer Entbindung von der Schweigepflicht. Wird eine Entbindung von der Schweigepflicht dort, wo sie die Anwendbarkeit des § 160a entfallen lässt, später widerrufen, so lebt das Zeugnisverweigerungsrecht wieder auf,29 womit die weitere Durchführung von Ermittlungsmaßnahmen gegen den Berufsgeheimnisträger nicht mehr zulässig ist. Zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse bleiben jedoch unbeschränkt verwertbar:30 Erstens ist die Schutzwürdigkeit eines evtl. gegenläufigen Interesses nach dem freiwilligen Verzicht der begünstigten Person auf die Wahrung des Berufsgeheimnisses geringer zu veranschlagen, und zweitens hätte eine Anwendung von § 160a Abs. 1 Satz 2 oder Abs. 2 Satz 3 hier die untragbare Konsequenz, dass Personen, die durch die Schweigepflicht eines Berufsgeheimnisträgers begünstigt sind, durch Entbindungserklärungen und deren Widerruf nach Belieben Beweise generieren und annullieren und auf diese Weise das Verfahren in bedenklicher Weise manipulieren könnten.
17
3. Freiwillig übermittelte Angaben. Liegt ein rechtlich geschütztes Geheimhaltungsinteresse des Kommunikationspartners vor, auf das dieser nicht durch eine Entbindung des Berufsgeheimnisträgers von der Schweigepflicht verzichtet hat, so findet § 160a Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 3 auch auf Informationen Anwendung, die letzterer freiwillig an die Strafverfolgungsorgane übermittelt hat.31 Im Gegensatz zur Situation bei § 53, wo Rspr. und h.M. bei einer unbefugten und ggf. nach § 203 StGB strafbaren Offenbarung eines Berufsgeheimnisses im Rahmen einer Zeugenvernehmung kein Beweisverwertungsverbot annehmen,32 kann man hierfür nicht nur den Willen des Gesetzgebers,33 sondern auch den Umstand anführen, dass § 160a eben nicht auf die Ausübung, sondern auf das schlichte Bestehen eines Zeugnisverweigerungsrechts abstellt.34
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Bertheau StV 2012 303; Glaser/Gedeon GA 2007 415, 425; im Ergebnis wohl ebenso HK/Zöller 6; SK/Wolter 12; nicht eindeutig Meyer-Goßner 1. Insoweit wie hier Glaser/Gedeon GA 2007 415, 426. So der Einwand von Glaser/Gedeon GA 2007 415, 426. Vgl. Meyer-Goßner § 53, 49. A.A. Bertheau StV 2012 303, 304. HK/Zöller 13; Radtke/Hohmann/J. Kretsch-
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mer 4; Meyer-Goßner 1; SK/Wolter 12; teilweise a.A. (lediglich Fortdauer des Verbots von Ermittlungsmaßnahmen, aber Verwertbarkeit der preisgegebenen Erkennisse) HK-GS/Pflieger 1. Dazu eingehend LR/Ignor/Bertheau § 53, 12 f. m.w.N. Vgl. die Begr. des RegE zu § 53b-E Abs. 2 a.E., BTDrucks. 16 5846 S. 37, zweifelnd Glaser/Gedeon GA 2007 415, 427. Ähnlich Bertheau StV 2012 303.
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Dieses entfällt als solches nämlich nicht schon deshalb, weil der Geheimnisträger gegen die Schweigepflicht verstößt, weil ein solcher Verstoß nichts daran ändert, dass er für die Zukunft weiterhin zum Schweigen berechtigt bzw. im Verhältnis zum Partner der vertraulichen Kommunikation sogar verpflichtet ist. Etwas anderes gilt wiederum nur, wenn der Berufsgeheimnisträger ohne einen solchen Verstoß und insofern in befugter Weise auf das an sich bestehende Zeugnisverweigerungsrecht verzichtet, was dann auch konkludent durch die Übermittlung der Information an die Strafverfolgungsorgane geschehen kann. Hiervon ist außer in den Fällen einer wirksamen Entbindung eines Geistlichen von der Schweigepflicht (s.o. Rn. 15; ohne eine solche scheitert die Verwertbarkeit trotz fehlender Strafbewehrung des Geheimnisbruchs nach § 203 StGB wohl daran, dass seelsorgerische Gespräche per se zum unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung gehören35) zunächst allgemein bei Parlamentariern auszugehen, weil diese unabhängig vom Willen desjenigen, der ihm die geschützten Informationen anvertraut hat, nach freiem Ermessen darüber entscheiden können, ob sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen wollen oder nicht.36 Entsprechendes gilt richtigerweise auch bei Medienangehörigen, weil der Informant keinen Rechtsanspruch darauf hat, dass der Journalist von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht.37 Ein befugter und wirksamer Verzicht auf das Zeugnisverweigerungsrecht, der die Anwendbarkeit von § 160a entfallen lässt, ist schließlich dort anzunehmen, wo die durch die Mitteilung an die Strafverfolgungsorgane erfolgte Offenbarung des Geheimnisses durch einen allgemeinen Rechtfertigungsgrund (z.B. nach § 34 StGB) gedeckt ist.
III. Absoluter Schutz nach Absatz 1 1. Personenkreis. Der absolute Schutz von Absatz 1 gilt infolge der Verweisung auf 18 § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 und 4 für Geistliche als Seelsorger, Verteidiger und Parlamentarier38 und im Übrigen für Rechtsanwälte und ihnen gleichgestellte Personen.39 Verteidiger sind bei entsprechender Tätigkeit neben Rechtsanwälten auch Hochschullehrer nach § 138 Abs. 1, nach § 138 Abs. 2 zugelassene Personen, Rechtsreferendare im Rahmen von § 139 und Steuerberater unter den Voraussetzungen von § 392 Abs. 1 AO. Unter „Rechtsanwälten“ sind neben den nach § 12 BRAO bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwälten auch ausländische Rechtsanwälte zu verstehen, soweit sie nach § 2 EuRAG als niedergelassene europäische Rechtsanwälte in Deutschland in die Rechtsanwaltskammer aufgenommen sind oder soweit es sich nach den in §§ 25 ff. EuRAG getroffenen Regelungen um dienstleistende europäische Rechtsanwälte handelt.40 Sonstige ausländische Rechtsanwälte werden als weitere Personen erfasst, wenn sie nach § 206 BRAO in eine Rechtsanwaltskammer aufgenommen sind, während sich die Erstreckung auf „Kammerrechtsbeistände“ auf die – nach § 209 BRAO ebenfalls in eine Rechtsanwaltskammer aufgenommenen – Inhaber einer Erlaubnis nach dem Rechtsberatungsgesetz bezieht.41 Auf Rechtsanwaltsgesellschaften und deren Geschäftsführer als solche 35 36 37 38
Vgl. LR/Ignor/Bertheau § 53, 26. LR/Ignor/Bertheau § 53, 45. LR/Ignor/Bertheau § 53, 48 m.w.N.; vgl. ferner die Erwägungen oben Rn. 15 a.E. Zur genauen Abgrenzung dieser Berufsgruppen LR/Ignor/Bertheau § 53, 21 f., 26, 44; zu den Gründen für ihrer Privilegierung s.o. Rn. 1.
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Zu den Gründen für deren Einbeziehung s.o. Rn. 2; zu deren Bewertung durch das BVerfG s.o. Rn. 8 f. Vgl. RegE BTDrucks. 17 2637 S. 7 f.; LR/Ignor/Bertheau § 53, 29. Vgl. RegE BTDrucks. 17 2637 S. 8.
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ist die Vorschrift nicht anwendbar; insofern erfolgt der Schutz ausschließlich durch Anwendung von § 160a Abs. 1 auf die in den Gesellschaften tätigen Berufsträger.42
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2. Beweiserhebungsverbot. Absatz 1 Satz 1 verbietet Ermittlungsmaßnahmen, die sich gezielt gegen die hier genannten Personen richten, soweit diese „voraussichtlich“ Erkenntnisse aus dem durch das Zeugnisverweigerungsrecht geschützten Bereich43 erbringen würden.
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a) Erfordernis einer Prognose. Insofern bedarf es einer Prognose, die anhand der zum betreffenden Zeitpunkt bekannten Tatsachen zu erstellen ist (ohne dass insoweit gesonderte Ermittlungen geboten wären), und bei deren Vornahme den Strafverfolgungsorganen ein gewisser Beurteilungsspielraum zuzubilligen ist.44 Zur Begründung des Verbots genügt es dabei, wenn nach Lage der Dinge eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass die Maßnahme zumindest auch (also nicht notwendigerweise ausschließlich!) einschlägige Erkenntnisse zutage bringen würde (was insbesondere bei heimlichen Überwachungsmaßnahmen eher die Regel als die Ausnahme sein dürfte).45 Die engere Annahme, wonach das Verbot nur greifen soll, wenn die vorliegenden Anhaltspunkte dies „zweifelsfrei“ erwarten lassen,46 wird weder der Bedeutung des Wortes „voraussichtlich“ noch dem verfassungsrechtlich fundierten Schutzzweck der Norm gerecht.47 Die Erwartung, mit der Maßnahme auch geschützte Inhalte zu erfassen, steht deren Zulässigkeit jedoch dann nicht entgegen, wenn die Umstände darauf schließen lassen, dass geschützte Bestandteile der Kommunikation gezielt mit nicht geschützten, berechtigterweise dem Ermittlungsziel unterfallenden Gesprächsinhalten vermischt werden, um einen Zugriff der Strafverfolgungsorgane auf letztere zu vereiteln.48 Ergibt sich erst im Zuge der Ermittlungsmaßnahme, dass deren Durchführung gegen § 160a Abs. 1 Satz 1 verstößt, so ist sie abzubrechen,49 wobei jedoch im Gegensatz zu § 100c keine Pflicht zur „Echtzeiterhebung“ besteht, die insofern eine sofortige Reaktion ermöglichen würde.50
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b) Maßnahmen gegen Beschuldigte oder gegen Dritte sind grds. nicht deshalb unzulässig, weil sie mittelbar den Zugriff auf Inhalte eröffnen, die durch ein Zeugnisverweigerungsrecht eines der von § 160a Abs. 1 erfassten Berufsgeheimnisträgers geschützt sind,51 da Satz 1 ausdrücklich voraussetzt, dass sich die Maßnahme „gegen“ die zeugnis-
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KMR/Plöd 3d. Zu dessen Reichweite und Grenzen bzgl. der einzelnen Berufsgruppen LR/Ignor/Bertheau § 53, 23 ff., 27, 34, 46. KMR/Plöd 3e; Meyer-Goßner 3a; OK-StPO/ Patzak 5a. Im Ergebnis ähnlich wohl J. Kretschmer HRRS 2010 551, 552; Radtke/Hohmann/ J. Kretschmer 5; noch weitergehend i.S. einer umfassenden Anwendbarkeit von § 160a Abs. 1 Satz 1, solange nicht „zumindest genügende (konkrete) tatsächliche Anhaltspunkte bzw. bestimmte Tatsachen dafür [sprechen], dass § 53 im Ergebnis erst gar nicht betroffen ist“, SK/Wolter 22; ähnlich HK/Zöller 7. So AnwK/Walther 7; KK/Griesbaum 6.
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Gegen diesen Ansatz auch Meyer-Goßner 3a; Radtke/Hohmann/J. Kretschmer 5; SK/Wolter 19. Ebenso Meyer-Goßner 3a; OK-StPO/Patzak 5a, jew. unter Hinweis auf eine entsprechende Bemerkung des BVerfG in einer Entscheidung zur „Online-Durchsuchung“, BVerfGE 120 274, 338 = NJW 2008 822, 834; a.A. HK/Zöller 7. HK/Zöller 3; KMR/Plöd 4. Vgl. auch die Begr. des RegE zu § 53b-E, BTDrucks. 16 5846 S. 35 bzgl. der Konstellation einer zufälligen Betroffenheit des Berufsgeheimnisträgers. Begr. des RegE zu § 53b-E, BTDrucks. 16 5846 S. 35; Meyer-Goßner 3 a.E.; a.A. für den Fall einer „Erwartung“ oder „konkreten
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verweigerungsberechtigte Person „richtet“. Etwas anderes – und ggf. auch die Pflicht zur Unterbrechung oder Beschränkung einer bereits begonnenen Maßnahme52 – kann sich allerdings im Einzelfall aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ergeben. Dies muss zum einen dann gelten, wenn sich abzeichnet, dass die gegen Dritte gerichtete Maßnahme ausschließlich geschützte Erkenntnisse zutage fördern würde (und damit im Hinblick auf das nach Absatz 1 Satz 5 folgende Verwendungsverbot keinem legitimen Zweck mehr dienen könnte), zum anderen mindestens überall dort, wo im Anwendungsbereich von Absatz 2 Satz 1 eine Interessenabwägung zur Annahme der Unzulässigkeit führen würde, weil der Schutz von Absatz 1 schwerlich hinter demjenigen von Absatz 2 zurückbleiben kann. Die Möglichkeit, dass sich unter diesen Aspekten während der Durchführung der Maßnahme ihre weitere Unzulässigkeit ergibt, begründet jedoch wiederum keine Pflicht, durch eine „Echtzeiterhebung“ vorsorglich sicherzustellen, dass der Abbruch in diesem Fall unverzüglich erfolgen kann.53 3. Verwendungsverbot nach Satz 2 a) Reichweite. Der Flankierung des Beweiserhebungsverbots durch das Verwen- 22 dungsverbot in Absatz 1 Satz 2 kommt nicht nur im Hinblick auf mögliche Verstöße gegen Satz 1, sondern auch im Hinblick darauf zentrale Bedeutung zu, dass der durch Satz 1 gewährte Schutz angesichts der Notwendigkeit einer Prognose über den Gegenstand der zu erwartenden Erkenntnisse (s.o. Rn. 20), mit der die Strafverfolgungsorgane selbst bei einem sorgfältigen Vorgehen im Ergebnis naturgemäß falsch liegen können, zwangsläufig lückenhaft ist. Weil dies angesichts des hohen verfassungsrechtlichen Rangs der Belange, die hinter den von Absatz 1 geschützten Berufsgeheimnissen stehen, wenigstens im Ergebnis nicht zum Nachteil des Beschuldigten durchschlagen darf (was auch im Falle eines von diesem verschiedenen Begünstigten der geschützten Kommunikationsbeziehung zu einer Schwächung des allgemeinen Vertrauens in das betroffene Berufsgeheimnis führen würde), ist die Regelung somit nicht nur als unselbständiges (bei Rechtswidrigkeit der vorangegangenen Maßnahme), sondern für den Fall, dass durch eine rechtmäßige Maßnahme Erkenntnisse erlangt wurden, die in den vom jeweiligen Zeugnisverweigerungsrecht erfassten Bereich fallen, zugleich auch als selbständiges Verwendungsverbot zu verstehen.54 Sowohl aus dem Wortlaut, der (im Gegensatz zu Absatz 2 Satz 3) nicht nur eine Verwertung „zu Beweiszwecken“ untersagt, als auch aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben folgt, dass die dem Verbot unterfallenden Erkenntnisse weder unmittelbar noch (i.S. eines Spurenansatzes) mittelbar verwendet werden dürfen.55 Zu den bei einer kriminellen Verstrickung des Berufsgeheimnisträgers geltenden Ausnahmen s.u. Rn. 42 ff. b) Entlastende Erkenntnisse. Obwohl der Wortlaut von § 160a Abs. 1 Satz 2 insofern 23 keine Einschränkung enthält,56 ist die Vorschrift einer teleologischen Reduktion zu
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Möglichkeit“, bei einer Maßnahme gegen Dritte entsprechende Informationen zu erlangen, SK/Wolter 30; für den Fall, dass der Berufsgeheimnisträger von der Maßnahme „mitbetroffen“ ist, HK-GS/Pflieger 2. AnwK/Walther 10; KK/Griesbaum 11; Meyer-Goßner 7; OK-StPO/Patzak 9. Begr. des RegE zu § 53b-E, BTDrucks. 16 5846 S. 35; Meyer-Goßner 7; insgesamt krit. Glaser/Gedeon GA 2007 415, 424.
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Meyer-Goßner 4. Meyer-Goßner 4; vgl. ferner Glaser/Gedeon GA 2007 415, 429; J. Kretschmer HRRS 2010 551, 552; HK/Zöller 8; KK/Griesbaum 9; SK/Wolter 26. Darauf verweisend HK/Zöller 8; MeyerGoßner 4; SK/Wolter 25; ausdrücklich für ein Verbot der Verwertung auch entlastender Erkenntnisse OK-StPO/Patzak 5.
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unterwerfen, nach der geschützte Erkenntnisse selbst dann, wenn sie durch einen Verstoß gegen Absatz 1 Satz 1 erlangt wurden, in vollem Umfang verwertbar sind, soweit sie für den Beschuldigten entlastende Wirkung haben. Die andernfalls drohende Konsequenz, dass die Entscheidungsträger in der Justiz weitere belastende Maßnahmen aller Art (eingriffsintensive Ermittlungshandlungen, Anklageerhebung, Eröffnung des Hauptverfahrens und im Extremfall die Verurteilung eines Angeklagten, von dem sie wissen, dass er die Tat nicht begangen haben kann, bei dem die rechtmäßig erlangten Beweise als solche aber so erdrückend erscheinen, dass sie für sich genommen zwangläufig zur Bildung einer sicheren Überzeugung von dessen Schuld führen) durchführen müssten – oder überhaupt nur dürften, ohne dafür ggf. nach § 344 StGB belangt zu werden –, obwohl dafür nach den ihnen persönlich bekannten Tatsachen eigentlich keine Legitimation besteht, liefe auf eine Pervertierung der freiheitsschützenden Grundfunktion des Strafprozessrechts hinaus.57 Diese Ausnahme von der Absolutheit des Verwendungsverbots gilt natürlich nur und erst dann, wenn die entlastende Wirkung gewonnener Erkenntnisse für die Strafverfolgungsorgane nach den Umständen naheliegend erscheint. Demgegenüber rechtfertigt eine vage Möglichkeit, dass Erkenntnisse aus dem geschützten Bereich eines Berufsgeheimnisses eine solche Wirkung entfalten könnten, nicht deren nähere Auswertung (etwa durch die bislang nicht erfolgte Betrachtung des genauen Inhalts eines aufgezeichneten Gesprächs). Weil auch zugunsten des Beschuldigten keine „Wahrheitsfindung um jeden Preis“ verlangt werden kann, ist die bloße Hoffnung auf Gewinnung entlastenden Materials nämlich nicht geeignet, die in einem solchen Vorgehen liegende Vertiefung des Grundrechtseingriffs zu legitimieren. Aus dem gleichen Grund ist die Durchführung der nach Absatz 1 Satz 1 verbotenen Maßnahmen als solche selbstverständlich auch dann rechtswidrig, wenn sie gezielt zu Entlastungszwecken erfolgt, aber nur die bloße Hoffnung auf ein solches Ergebnis besteht.
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c) Entbindung von der Schweigepflicht. Unabhängig von der Frage, ob die Erkenntnisse den Beschuldigten be- oder entlasten, hat eine Entbindung von der Schweigepflicht in den Fällen, in denen sie zum Wegfall des Zeugnisverweigerungsrechts führt, zur Folge, dass jene selbst dann verwertbar werden, wenn die Maßnahme, die zu ihrer Erlangung geführt hat, unzulässig war (dazu bereits oben Rn. 15).
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4. Löschungs- und Dokumentationspflichten. Soweit durch eine Maßnahme Erkenntnisse erlangt wurden, die nach Absatz 1 Satz 2 einem absoluten Verwendungsverbot unterliegen, sind die Aufzeichnungen über ihren Inhalt nach Satz 3 unverzüglich zu löschen. Weil damit nicht nur „einer etwaigen Perpetuierung der Verletzung des Erhebungsverbots nach Satz 1 vorgebeugt“, sondern auch „die Einhaltung des [hier sog.] Verwertungsverbots nach Satz 2 abgesichert“ werden soll,58 und die Bezugnahme auf Satz 2 denn auch ohne jede Einschränkung erfolgt, kommt es dabei nicht darauf an, ob die betreffenden Erkenntnisse „durch einen unzulässigen Eingriff erlangt“ wurden,59 sondern ausschließlich auf deren (ggf. auch nach rechtmäßigen Eingriffen mögliche, s.o. Rn. 22) Unverwertbarkeit.60 Bei erkennbar entlastenden Erkenntnissen (s.o. Rn. 23) besteht demnach richtigerweise weder eine Pflicht noch überhaupt nur eine Befugnis zu
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Im Hinblick auf den Inhalt von Selbstgesprächen im Ergebnis tendenziell auch BGHSt 50 206, 215. So ausdrücklich RegE zu § 53b-E, BTDrucks. 16 5846 S. 36.
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So eine verbreitete missverständliche Formulierung, vgl. RegE zu § 53b-E, BTDrucks. 16 5846 S. 36; KK/Griesbaum 10; SK/Wolter 28. Zutr. Formulierung bei Meyer-Goßner 5.
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einer (dann ggf. nach § 274 StGB strafbaren!) Löschung der betreffenden Aufzeichnungen. Weil die Entscheidung über die Verwertbarkeit u.U. schwierige rechtliche Bewertungen voraussetzt und die Löschung für das Verfahren von hoher Tragweite sein kann, muss sich die Staatsanwaltschaft die Entscheidung in jedem Fall selbst vorbehalten und darf diese entgegen der Vorstellung des Gesetzgebers61 keinesfalls der „mit der Auswertung von Überwachungsaufzeichnungen betrauten Ermittlungsperson“ überlassen.62 Um die Erfüllung der Löschungspflicht sicherzustellen und einem evtl. Rechtsschutzbegehren gegen den Eingriff zur Effektivität zu verhelfen,63 müssen die Tatsache der Erlangung unverwertbarer Erkenntnisse und ihre Löschung in den Akten dokumentiert werden. Diesem Zweck entsprechend muss der Vermerk erkennen lassen, warum es zur Erlangung unverwertbarer Erkenntnisse kam, wobei diese zur Vermeidung einer Perpetuierung des Eingriffs selbstverständlich nicht inhaltlich referiert werden dürfen.64 5. Erkenntnisse aus anderweitig ausgerichteten Maßnahmen a) Interessenlage. Die Beschränkung der Verbote in den Sätzen 1 und 2 auf Maß- 26 nahmen, die gerade gegen einen der genannten Berufsgeheimnisträger gerichtet sind, bzw. auf die gerade aus solchen Maßnahmen erlangten Erkenntnisse führt zu einer massiven Durchlöcherung des Schutzes der betreffenden Geheimnisse, weil auch Ermittlungsmaßnahmen, die sich gegen den Beschuldigten selbst oder gegen Dritte richten, zufällig oder sogar vorhersehbar (z.B. bei einem Beschuldigten, von dem nach den Umständen zu erwarten ist, dass er während der Überwachung seines Telefonanschlusses sowohl mit Komplizen als auch mit seinem Strafverteidiger telefonieren wird) dazu führen können, dass von einem Berufsgeheimnisträger Informationen erlangt werden, die dessen Zeugnisverweigerungsrecht unterfallen. Da diese Schutzlücken auf der Primärebene nur in Ausnahmefällen geschlossen werden können (Unzulässigkeit einer Maßnahme nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip vor allem dann, wenn sich abzeichnet, dass diese ausschließlich zur Erlangung von Erkenntnissen aus dem geschützten Bereich führen wird, s.o. Rn. 21), ist es umso wichtiger, dass Absatz 1 Satz 5 den geschützten Informationen auf der Sekundärebene des Verwendungsverbots durch die Verweisung auf die Sätze 2–4 den gleichen Schutz angedeihen lässt, wie das nach Maßnahmen gegen den Berufsgeheimnisträger selbst der Fall ist. b) Konsequenzen. Auch insofern gilt also unabhängig von der Rechtmäßigkeit der 27 zugrundeliegenden Maßnahme ein (abgesehen von den oben Rn. 22 ff. dargestellten Ausnahmen) absolutes, auch die Nutzung als Spurenansatz ausschließendes Verwendungsverbot, flankiert durch die in den Sätzen 3 und 4 statuierten Löschungs- und Dokumentationspflichten. Es erstreckt sich auf alle dem jeweiligen Berufsgeheimnis unterfallenden Tatsachen und schließt insofern z.B. auch die aus der Auswertung von Verbindungsdaten zu erschließenden Kontaktaufnahmen des Beschuldigten zu seinem späteren Verteidiger mit ein.65 c) Vom Berufsgeheimnisträger weitergegebene Informationen. Schon nach dem Wort- 28 laut von Absatz 1 Satz 5, der darauf abstellt, dass trotz Ausrichtung der Maßnahme auf
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Vgl. RegE TKÜG BTDrucks. 16 5846 S. 36 i.V.m. S. 45. Zutr. KK/Griesbaum 10. RegE zu § 53b-E, BTDrucks. 16 5846 S. 36.
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eine andere als die „in Satz 1 in Bezug genommene Person … von dieser Person Erkenntnisse erlangt werden“, ist die Regelung auf Erkenntnisse, die von einem Dritten erlangt wurden, an den der Berufsgeheimnisträger die betreffenden Informationen weitergegeben hat, nicht anwendbar.66 In der Sache kann man für diese Einschränkung anführen, dass sich letztere nach der (sei es unbefugten, sei es aufgrund eines allgemeinen Rechtfertigungsgrunds erlaubten) Weitergabe an einen Dritten bei ihrer Gewinnung durch die Strafverfolgungsorgane nicht mehr in dem durch das Berufsgeheimnis geschützten Bereich befinden, was die Konstellation u.a. auch maßgeblich vom Fall einer unbefugten Übermittlung vom Berufsgeheimnisträger an die Strafverfolgungsorgane (dazu oben Rn. 17) unterscheidet. Dementsprechend erfasst § 160a Abs. 1 Satz 5 selbstverständlich auch nicht den Fall, in dem die Strafverfolgungsorgane eine Information, die der Berufsgeheimnisträger dem Partner der geschützten Kommunikationsbeziehung übermittelt hat, ausschließlich (d.h. ohne Eingriff in die Kommunikation mit dem Berufsgeheimnisträger als solche) bei letzterem erheben. So ist z.B. der Inhalt einer Mitteilung, die ein Rechtsanwalt seinem Mandanten gemacht hat, ohne weiteres verwertbar, wenn er bei der Überwachung eines Telefongesprächs nach § 100a ermittelt wird, das das Mandant darüber mit einem Dritten führt.67
IV. Relativer Schutz von Berufsgeheimnissen nach Absatz 2 29
1. Personenkreis. Absatz 2 erfasst alle übrigen, nicht durch Absatz 1 privilegierten Träger von Berufsgeheimnissen, denen nach § 53 ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht.68 Die negative Formulierung in Satz 4 stellt noch einmal klar, dass Absatz 2 auf die dort genannten, von der Verweisung in Satz 1 formal miterfassten Personen angesichts deren weitergehender Privilegierung nach Absatz 1 keine Anwendung mehr findet.
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2. Beweiserhebungsverbot. Im Gegensatz zu Absatz 1 Satz 1 betrifft das relative Beweiserhebungsverbot nach Absatz 2 Satz 1 nicht nur Maßnahmen, die sich gezielt gegen einen der in der Vorschrift genannten Berufsgeheimnisträger wenden, sondern auch solche, die sich gegen den Beschuldigten oder gegen Dritte richten und dabei voraussichtlich geschützte Erkenntnisse erbringen werden. Als letztere gelten dabei wiederum nur Informationen aus dem Bereich, auf den sich das jeweilige Zeugnisverweigerungsrecht bezieht.69
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a) Prognose. Für die Prognose hinsichtlich der Erlangung geschützter Erkenntnisse, die bei Maßnahmen, die sich nicht gezielt gegen den Berufsgeheimnisträger richten, auch die Frage umfasst, ob gleichwohl ein solcher davon betroffen sein wird, gelten die glei-
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KMR/Plöd 7; Meyer-Goßner 7, entsprechend auch RegE des Gesetzes zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht, BTDrucks. 17 2637 S. 7. A.A. für den (richtigerweise indessen ohnehin nicht nach § 160a, sondern ausschließlich nach § 97 zu beurteilenden, s.u. Rn. 55 ff.) Zugriff der Strafverfolgungsorgane auf schriftliche Nachrichten von Rechtsanwälten an ihre Mandanten Ballo
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NZWiSt 2013 46 (48, 51, 52), entgegen dessen Annahme die Beeinträchtigung des Vertrauensverhältnisses zwischen Rechtsanwalt und Mandant sehr wohl entscheidend davon abhängt, in wessen Gewahrsamssphäre der Zugriff erfolgt. Zum Kreis dieser Personen näher LR/Ignor/ Bertheau § 53, 33, 35, 36, 40, 42, 47 ff. Dazu im Einzelnen LR/Ignor/Bertheau § 53, 34, 35, 37 ff., 41, 43, 59 ff.
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chen Maßstäbe wie im Rahmen von Absatz 1 Satz 1, so dass insofern auf die Ausführungen oben Rn. 20 verwiesen werden kann. b) Verhältnismäßigkeitsprüfung. Nach Absatz 2 Satz 1 steht die zu erwartende Erlan- 32 gung geschützter Erkenntnisse der Zulässigkeit der Maßnahme nur dann entgegen, wenn diese bei „besonderer Berücksichtigung“ jenes Umstands unverhältnismäßig erscheint. Für diese Prüfung, bei der das „Interesse an einer wirksamen, auf die Ermittlung der materiellen Wahrheit und die Findung einer gerechten Entscheidung gerichteten Strafrechtspflege gegen das öffentliche Interesse an den durch die zeugnisverweigerungsberechtigten Personen wahrgenommenen Aufgaben und das individuelle Interesse an der Geheimhaltung der einem Berufsgeheimnisträger anvertrauten oder bekannt gewordenen Tatsachen“ abgewogen werden sollen,70 liefert das Gesetz keine hinreichend bestimmten und schon gar keine der Bedeutung der Berufsgeheimnisse angemessenen Maßstäbe.71 aa) § 160a Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz, wonach „in der Regel nicht von einem Über- 33 wiegen des Strafverfolgungsinteresses auszugehen“ sein soll, wenn das Verfahren „keine Straftat von erheblicher Bedeutung“ betrifft, bewirkt insofern nur eine sehr vage Konkretisierung, die überdies in eine äußerst fragwürdige Richtung weist: Abgesehen von der Dehnbarkeit des Begriffes der „erheblichen Bedeutung“, die nach Ansicht des BVerfG auch bei Vergehen mit einer Höchststrafe von weniger als fünf Jahren zwar nicht generell, wohl aber mit Blick auf den Einzelfall bejaht werden kann,72 lässt diese Formulierung als bloße Regelvermutung zum einen selbst dann noch die Möglichkeit offen, über die Behauptung eines Ausnahmefalles gleichwohl ein Überwiegen des Strafverfolgungsinteresses zu bejahen, wenn die „erhebliche Bedeutung“ verneint wurde. Zum anderen verleitet sie zu dem Umkehrschluss, bei Straftaten, denen man eine „erhebliche Bedeutung“ zuspricht, sei die Ausforschung des Berufsgeheimnisses im Zweifel zulässig. Bedenkt man, dass die meisten Ermittlungsmaßnahmen, bei denen § 160a praktisch werden dürfte, ohnehin nur bei gravierenden Delikten zulässig sind (wobei die maßgebliche Schwere i.d.R. sogar in doppelter Hinsicht begründet sein muss, nämlich erstens durch die Zugehörigkeit des Delikts zu einem bestimmten Katalog und zweitens durch eine zusätzliche einzelfallbezogene Schwerebetrachtung, vgl. etwa § 100a Abs. 1, § 100f Abs. 1, § 100g Abs. 1 Nr. 1, § 110a Abs. 1), hätte eine solche Betrachtung indessen zur Folge, dass § 160a Abs. 2 de facto so gut wie keine Erhöhung der Eingriffsschwelle bewirken würde.73 bb) Zur Vermeidung dieser – in BVerfGE 129 208 nicht ansatzweise erörterten und 34 dem BVerfG insofern offenbar entgangenen – verfassungsrechtlich kaum akzeptablen Konsequenz74 ist die Regelung richtigerweise so auszulegen, dass die Vermutung nicht
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RegE zu § 53b-E, BTDrucks. 16 5846 S. 36, wenngleich die beiden für die Maßnahmenbeschränkung streitenden Faktoren entgegen dem ursprünglichen Entwurf nicht ausdrücklich in den Gesetzestext aufgenommen wurden; entsprechende Formulierung bei MeyerGoßner 9a. Krit. auch Ignor NJW 2007 3403, 3405; Reiß StV 2008 539, 544; J. Kretschmer HRRS 2010 551, 553; Bertheau StV 2012 303, 304 f.; Radtke/Hohmann/J. Kretschmer
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12; SK/Wolter 2; Bedenken im Hinblick auf die Rspr. des EGMR zu Art. 6 Abs. 1, 3 und Art. 8 EMRK bei Kühne Rn. 826.2. So im Zusammenhang mit der Sicherstellung und Beschlagnahme von E-Mails auf dem Mailserver des Providers BVerfGE 124 43, 64 f. = NJW 2009 2431, 2435. Ähnlich HK/Zöller 11; SK/Wolter 34. In BVerfGE 129 208 nicht ansatzweise erörtert; die Entscheidung stand ganz im Zeichen der Diskussion um die Ungleich-
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nur bei Straftaten ohne erhebliche Bedeutung, sondern grundsätzlich für die Unzulässigkeit der Maßnahme spricht, während ein Überwiegen des Strafverfolgungsinteresses stets der besonderen Begründung bedarf.75 Hierfür wird in erster Linie der Umstand in Betracht kommen, dass das Gewicht der zu verfolgenden Tat das Minimum dessen, was das Gesetz für die Zulässigkeit der betreffenden Maßnahme generell voraussetzt, noch einmal deutlich überschreitet. De lege ferenda ist der Gesetzgeber aufgerufen, durch eine entsprechende Bestimmung für Abhilfe zu sorgen (dazu bereits oben Rn. 12). Zu Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten kommt die Durchführung von Ermittlungsmaßnahmen gegen Berufsgeheimnisträger vor diesem Hintergrund allgemein nicht in Betracht.76
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c) Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung. Bei alledem ist zu beachten, dass der „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ absoluten Schutz genießt, was im Einzelfall dazu führen kann, dass die Durchführung von Maßnahmen gegen Berufsgeheimnisträger deshalb per se unzulässig ist, weil sie erkennbar zur Ausforschung von Informationen führt, die nicht nur dem Zeugnisverweigerungsrecht unterliegen, sondern diesem besonders geschützten Bereich zuzuordnen sind. Diese Möglichkeit, dass das betreffende Berufsgeheimnisses im Einzelfall ebenso abwägungsfest und damit im Ergebnis mit der gleichen Reichweite wie die Berufsgeheimnisse der in Absatz 1 erfassten Personen zu schützen ist, haben sowohl der Gesetzgeber als auch das BVerfG im Falle von Arztgesprächen ausdrücklich anerkannt (wobei eine Klarstellung im Gesetzeswortlaut durchaus wünschenswert erschiene, s.o. Rn. 12).77 Soweit mit den Angehörigen der übrigen geschützten Berufsgruppen eine ebenso intime Kommunikation stattfindet, was jedenfalls bei den weiteren in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 genannten Heilberufen und bei den nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3a und 3b privilegierten Beratungsstellen eine naheliegende Möglichkeit darstellt, wird man zwangsläufig genauso entscheiden müssen.
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d) Tod der durch das geschützte Geheimnis betroffenen Person. Ist die Person, auf die sich das geschützte Geheimnis bezieht, zwischenzeitlich verstorben, führt dies (was der Gesetzgeber ggf. auch de lege ferenda berücksichtigen sollte, s.o. Rn. 12) im Hinblick darauf, dass der postmortale Achtungsanspruch nicht so weit reicht wie die Persönlichkeitsrechte eines Lebenden,78 zu einer Absenkung der Eingriffsschwelle. In dieser Konstellation kann die Ermittlung von Informationen, die grundsätzlich durch das Zeugnisverweigerungsrecht eines Berufsgeheimnisträgers geschützt sind, deshalb auch zur Verfolgung eines Fahrlässigkeitsdelikts nach § 160a Abs. 2 Satz 1 zulässig sein, wenn dieses aufgrund des Umfangs der Tatfolgen und den Umständen ihrer Herbeiführung (Tötung von Menschen durch einen psychisch gestörten Amokläufer, dem der Beschuldigte in grob pflichtwidriger Weise Zugang zu einer Waffe ermöglichte) zu einer nachhaltigen Erschütterung des Rechtsfriedens geführt hat und insofern eine „Straftat von erheblicher Bedeutung“ darstellt.79
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behandlung der von Absatz 1 und Absatz 2 erfassten Berufsgruppen. So auch SK/Wolter 36. Bertheau StV 2012 303, 305. RegE zu § 53b-E, BTDrucks. 16 5846 S. 36 f.; BVerfGE 129 208, 265 f. unter Bezugnahme auf BVerfGE 32 373, 397; 109 279, 323; im Schrifttum etwa Bertheau StV 2012 303, 305; KMR/Plöd 11a; MeyerGoßner 13. BGH NStZ 1998 635; BGH StraFo 2012
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173, 175; speziell für das Bsp. des Amokläufers bezweifelt Jäger JA 2012 634, 636, ob die Auswertung der Krankenakte, die dessen Taten „sogar bis zu einem gewissen Grad erklärbar machen könnte“, überhaupt den Schutzbereich des postmortalen Persönlichkeitsrechts berührt. Zutr. BGH StraFo 2012 173, 175 im Fall des Amoklaufs von Winnenden; zust. Jäger JA 2012 634, 636.
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e) Konsequenzen der Unverhältnismäßigkeit. Soweit der Zugriff auf geschützte Er- 37 kenntnisse nach den vorgenannten Grundsätzen unzulässig ist, muss die Maßnahme nach Absatz 2 Satz 2 wenn möglich so beschränkt werden, dass die unzulässigen Auswirkungen vermieden werden; können die maßgeblichen Verhältnismäßigkeitsanforderungen auf diese Weise nicht erfüllt werden, hat sie ggf. ganz zu unterbleiben. Für den Fall, dass sich die Unverhältnismäßigkeit während der Durchführung der Maßnahme herausstellt (insbesondere wenn entgegen ursprünglicher Erwartung der „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ getroffen wird), ist sie entsprechend der Situation bei Absatz 1 Satz 1 (s.o. Rn. 20 a.E.) nachträglich entsprechend einzuschränken oder abzubrechen, wobei die Möglichkeit, dies unverzüglich zu tun, jedoch wiederum nicht durch eine „Echtzeiterhebung“ sichergestellt werden muss. 3. Verwertung von Erkenntnissen a) Voraussetzungen der Verwertbarkeit. Werden im Zuge von Ermittlungsmaßnah- 38 men, seien sie gezielt gegen die von Absatz 2 erfassten Berufsgeheimnisträger, seien sie gegen Beschuldigte oder Dritte gerichtet, Erkenntnisse erlangt, die vom Zeugnisverweigerungsrecht umfasst sind, knüpft Absatz 2 Satz 3 deren Verwertung zu Beweiszwecken durch die Verweisung auf Satz 1 an die gleichen Verhältnismäßigkeitsmaßstäbe, die für die Zulässigkeit ihrer gezielten Erhebung gelten würden. Im Falle der Unverhältnismäßigkeit folgt daraus je nachdem, ob die vorangegangene Maßnahme aufgrund der damaligen Prognoselage rechtmäßig oder aufgrund eines Verstoßes gegen Satz 1 rechtswidrig war, ein selbständiges oder ein unselbständiges Verwertungsverbot. Erscheint die Verwertung geschützter Erkenntnisse, deren Gewinnung zunächst unter Verstoß gegen Satz 1 erfolgte, für sich genommen nunmehr verhältnismäßig (insbesondere deshalb, weil sich eine anfangs zu Unrecht als „Straftat von erheblicher Bedeutung“ eingestufte Tat nach dem neuen Stand der Ermittlungen tatsächlich als hinreichend gravierend erweist), so richtet sich die Verwertbarkeit danach, welche Folgen man der Rechtswidrigkeit einer Beweiserhebung allgemein beimisst; nach der dazu von der h.M. vertretenen „Abwägungslehre“ bedarf es insofern einer zusätzlichen Prüfung, ob das Strafverfolgungsinteresse nicht nur die Bedeutung des Berufsgeheimnisses, sondern darüber hinaus auch das Gewicht des Rechtsverstoßes bei der Beweisgewinnung überwiegt.80 Für die Verwertbarkeit entlastender Erkenntnisse ist auf die Ausführungen oben Rn. 23, für die Konsequenzen einer wirksamen Entbindung von der Schweigepflicht auf Rn. 24 und für Informationen, die der Berufsgeheimnisträger unter Verletzung seiner Schweigepflicht aus freien Stücken weitergegeben hat, auf Rn. 17 (bei Übermittlung an die Strafverfolgungsorgane) und Rn. 28 (bei einer Weitergabe an Dritte) zu verweisen. b) Reichweite eines Verwertungsverbots. Aus der Formulierung „zu Beweiszwecken“ 39 und der insoweit bestehenden Abweichung gegenüber Absatz 1 Satz 2 folgt, dass die Unverhältnismäßigkeit einer diesbezüglichen Nutzung nur ein Beweisverwertungsverbot als solches, aber keine Fernwirkungen auslöst, d.h. die Verwendung der erlangten Erkenntnisse als „Spurenansatz“ für weitere Ermittlungen bleibt zulässig.81 Letzteres gilt 80
Bertheau StV 2012 303, 305; J. Kretschmer HRRS 2010 551, 553; Puschke/Singelnstein NJW 2008 113, 117; AnwK/Walther 15; KK/Griesbaum 16; Radtke/Hohmann/ J. Kretschmer 10; wohl ohne diese Einschränkung RegE zu § 53b-E, BTDrucks. 16 5846
81
S. 37; HK-GS/Pflieger 13; Meyer-Goßner 11; OK-StPO/Patzak 12. Glaser/Gedeon GA 2007 415, 429; KK/Griesbaum 16; KMR/Plöd 11; MeyerGoßner 12; Radtke/Hohmann/J. Kretschmer 11; a.A. HK/Zöller 14; SK/Wolter 41.
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jedoch nicht in Bezug auf Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung, die im Rang den von Absatz 1 geschützten Berufsgeheimnissen gleichstehen und denen deshalb der gleiche, jegliche Verwendung entsprechender Erkenntnisse ausschließende (s.o. Rn. 22) Schutz zuteil werden muss.82 Dementsprechend sind auf letztere auch die in § 160a Abs. 1 Satz 3 und 4 geregelten Löschungs- und Dokumentationspflichten (s.o. Rn. 25) entsprechend anzuwenden, während Absatz 2 für diejenigen Erkenntnisse aus dem geschützten Bereich, bei denen grundsätzlich eine Abwägung zwischen Strafverfolgungs- und Geheimhaltungsinteresse erfolgen kann, nichts Vergleichbares vorsieht.
V. Einbeziehung der Berufshelfer 40
1. Grundsatz. Eine Unterlaufung des Schutzes der Berufsgeheimnisse durch Ermittlungsmaßnahmen, die nicht gegen den Berufsgeheimnisträger selbst, sondern stattdessen gegen sein Hilfspersonal gerichtet sind bzw. dieses beiläufig treffen, wird durch Absatz 3 ausgeschlossen, indem dieser die Anwendung der Absätze 1 und 2 auf die in § 53a genannten Berufshelfer ausdehnt. Dabei ist die Akzessorietät von deren Zeugnisverweigerungsrecht gegenüber demjenigen des Hauptberufsträgers zu beachten. Aufgrund dieser führt (insofern schon aus § 53a Abs. 2 folgend) eine Entbindung des Hautberufsträgers von der Schweigepflicht, sein (je nach Art des Berufsgeheimnisses ggf. kumulativ mit einer Schweigepflichtentbindung oder unabhängig von einer solchen möglicher, s.o. Rn. 15) rechtmäßiger Verzicht auf das Zeugnisverweigerungsrecht oder seine kriminelle Verstrickung in das Tatgeschehen im gleichen Umfang zur Zulässigkeit von Ermittlungsmaßnahmen gegen seine Berufshelfer, wie das in Bezug auf Ermittlungen gegen ihn selbst der Fall ist.83
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2. Pflichtwidrige Gestattung der Übermittlung von Informationen. Weil Angaben, die dem (nach § 160a Abs. 1 absolut bzw. aufgrund der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Absatz 2 relativ) geschützten Bereich unterfallen, im Rahmen von § 160a selbst dann unverwertbar sind, wenn der Berufsgeheimnisträger sie unter Verletzung einer nicht zu seiner freien Disposition stehenden Schweigepflicht freiwillig an die Strafverfolgungsorgane übermittelt (s.o. Rn. 17), darf die Verwertbarkeit der betreffenden Informationen bei konsequenter Betrachtung auch nicht dadurch eröffnet werden, dass der Hauptberufsträger seinen Berufshelfern ein solches Verhalten in pflichtwidriger Weise erlaubt. Dies gilt selbst dann, wenn der Hauptberufsträger für den Berufshelfer eine nach § 53a Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz verbindliche Entscheidung getroffen hat, das Zeugnisverweigerungsrecht als solches nicht auszuüben. Angesichts der unterschiedlichen Konsequenzen einer Verletzung der Schweigepflicht passt diese Vorschrift nämlich nur im originären Anwendungsbereich der §§ 53, 53a, nicht hingegen im Rahmen von § 160a. Deshalb lässt eine solche Entscheidung des Hauptberufsträgers im Falle ihrer Pflichtwidrigkeit trotz des in Bezug auf § 53a begründeten Wegfalls des Zeugnisverweigerungsrechts und trotz der in § 160a Absatz 3 anzutreffenden Formulierung „soweit die in § 53a Genannten das Zeugnis verweigern dürfen“ die Anwendbarkeit von § 160a richtigerweise unberührt.84
82 83
Ebenso im Ergebnis Meyer-Goßner 13. Vgl. HK/Zöller 15; Meyer-Goßner 14 i.V.m. § 97, 43.
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A.A. wohl HK/Zöller 15 a.E.
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VI. Kriminelle Verstrickung des Zeugnisverweigerungsberechtigten 1. Verdacht der Beteiligung. Nach Absatz 4 Satz 1 entfällt der Schutz von § 160a 42 grundsätzlich im Falle einer Beteiligung des Zeugnisverweigerungsberechtigten an der Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist, oder an einer darauf bezogenen Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei. Insoweit ist ein durch bestimmte Tatsachen begründeter Verdacht erforderlich, d.h. die Schwelle ist gegenüber einem einfachen Anfangsverdacht dadurch erhöht, dass „vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen“ keinesfalls genügen, sondern „auf Grund der Lebenserfahrung oder der kriminalistischen Erfahrung fallbezogen aus Zeugenaussagen, Observationen oder anderen sachlichen Beweisanzeichen“ entsprechende Schlüsse gezogen werden können.85 Dies impliziert richtigerweise eine erhöhte Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung,86 die allerdings noch weit davon entfernt sein kann, die Annahme eines – nach dem Gesetz gerade nicht erforderlichen – „dringenden Tatverdachts“87 zu tragen. Dabei kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dazu führen, dass die notwendige Stärke des Tatverdachts je nach Gewicht der konkreten Tat, der Eingriffstiefe und der Bedeutung der zu erwartenden Erkenntnisse für das weitere Verfahren etwas variiert, weil zwischen all diesen Faktoren ein angemessenes Verhältnis bestehen muss.88 Im Übrigen haben die Strafverfolgungsorgane bei der Bewertung der Verdachtslage – wie in anderen Zusammenhängen auch – einen Beurteilungsspielraum.89 Dass gegen den Berufsgeheimnisträger bereits irgendwelche Maßnahmen ergriffen wurden, setzt § 160a Abs. 4 Satz 1 nicht voraus. Im Vergleich zu der im RegE zu § 53b-E ursprünglich vorgesehenen Regelung, wonach die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Berufsgeheimnisträgers das maßgebliche Kriterium sein sollte,90 dürfte die vorliegende Fassung des Gesetzes mit dem Erfordernis der Verdachtsbegründung durch „bestimmte Tatsachen“ besser geeignet sein, entsprechend der Zielsetzung des Gesetzgebers91 einer „Umgehung der Schutzregelungen allein aufgrund bloßer Vermutungen“ entgegenzuwirken, weil die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens auch bei einem Anfangsverdacht niedrigsten Grades jederzeit kurzfristig möglich ist und ein entsprechendes Erfordernis deshalb keine ernstzunehmende Hürde wäre.92 Wird gegen den Berufsgeheimnisträger aufgrund eines den Anforderungen von § 160a Abs. 4 Satz 1 nicht genügenden Verdachts, dass er in die Tat eines Partners der geschützten Kommunikation verstrickt ist, gleichwohl ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, so bleibt § 160a trotz der damit entstandenen Beschuldigtenrolle ausnahmsweise (zum Grundsatz s.o. Rn. 13) analog anwendbar, solange sich der Verdacht nicht bis zur maßgeblichen Schwelle erhärtet hat, weil die vom Gesetzgeber gewollte Schutzwirkung der erhöhten Verdachtsanforderungen andernfalls jegliche Effektivität verlieren würde. 85
86 87
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So im Zusammenhang mit der Einstufung eines Rechtsanwalts als Nachrichtenmittler i.S. von § 100a Abs. 3 BVerfG NJW 2007 2752 f.; allgemein LR/Schäfer 25 § 97, 40; krit. im Hinblick auf die Konturenlosigkeit des Merkmals Leitner FS Widmaier 325, 332, 335. KK/Griesbaum 18. Für eine entsprechende Erhöhung der Verdachtsschwelle de lege ferenda Ignor NJW 2007 3403, 3405; speziell in Bezug auf Journalisten Gruske 73 f. KK/Griesbaum 18; allgemein LR/Schäfer 25 § 97, 40.
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90 91 92
KK/Griesbaum 18; für die Beurteilung der Voraussetzungen von § 100a entsprechend BGHSt 41 30, 33 f. BTDrucks. 16 5846 S. 37. Begr. des RegE zu § 53b-E, BTDrucks. 16 5846 S. 37. Zutr. Leitner FS Widmaier 325, 334; SK/Wolter 45; in Bezug auf die geltende Regelung pessimistischer J. Kretschmer HRRS 2010 551, 554; Radtke/Hohmann/ J. Kretschmer 16.
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2. Besonderheiten beim Verteidiger
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a) Situation beim Verdacht eines Anschlussdelikts. Für den Verteidiger ist bei der Anwendung von § 160a Abs. 4 Satz 1 ergänzend die – ihrerseits verfassungsrechtlich fundierte – weitergehende Rechtsgarantie des § 148 Abs. 1 zu beachten. Soweit keine Tatbeteiligung i.e.S. im Raum steht, sondern lediglich ein Anschlussdelikt bzw. die Beteiligung an einem solchen (was nach dem Wortlaut von § 160a Abs. 4 Satz 1 ja ohne weiteres genügt), würde diese Garantie jedenfalls dann in unannehmbarer Weise verkürzt, wenn auf Grund eines derartigen Verdachts Eingriffe in den Verkehr zwischen Verteidiger und Beschuldigtem erlaubt wären. Neben der Leichtigkeit, mit der sich bei diesem speziell in Bezug auf § 258 ein (und sei er zur Umgehung der Schutzvorschrift vorgeschobener) Verdacht begründen ließe, selbst wenn er sich am Ende als unhaltbar erweist,93 ist hier nämlich zu berücksichtigen, dass der auf eine freie Kommunikation mit dem Verteidiger existenziell angewiesene Beschuldigte die dafür maßgeblichen Umstände u.U. überhaupt nicht erkennen, geschweige denn beeinflussen kann.94 Deshalb werden zumindest solche Maßnahmen, die mit einem Eindringen in die mündliche Kommunikation zwischen Verteidiger und Beschuldigtem verbunden sind, durch § 160a Abs. 4 Satz 1 mit Rücksicht auf § 148 Abs. 1 nur beim Verdacht einer Beteiligung i.e.S. gestattet,95 während sie im Falle der Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei nur und erst dann zulässig sind, wenn der Verteidiger nach den §§ 138a ff. rechtskräftig von der Mitwirkung im Verfahren gegen den betreffenden Mandanten ausgeschlossen ist oder zumindest nach § 138c Abs. 3 das vorläufige Ruhen seiner Rechte aus den §§ 147, 148 angeordnet wurde.
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b) Wegfall des Schutzes bei Tatbeteiligung i.e.S. Zu weit gehen dürfte es indessen, das letztgenannte Erfordernis auch auf den Fall zu erstrecken, in dem der Verteidiger einer unmittelbaren Beteiligung an der verfahrensgegenständlichen Tat verdächtig ist.96 Hier ist nämlich erstens zu bedenken, dass ein solcher Verdacht jedenfalls bei einem Verteidiger, der nicht von vornherein die gebotene professionelle Distanz zum Mandanten vermissen lässt, wesentlich schwerer zu begründen ist als derjenige eines Anschlussdelikts, weshalb die Gefahr, dass der Verdacht einer Tatbeteiligung nur vorgeschoben wird, um den Schutz von § 160a auszuhebeln, nicht so groß erscheint. Zweitens wäre gerade in Konstellationen, in denen die unmittelbare Beteiligung eines Strafverteidigers an der verfahrensgegenständlichen Tat ernsthaft denkbar erscheint (z.B. bei einem Verteidiger von politisch oder religiös motivierten Straftätern, der selbst in die betreffende extremistische Szene integriert ist, aber auch bei Rechtsanwälten, die im Rahmen einer unseriösen Beratungstätigkeit auf dem Gebiet der Wirtschafts- oder organisierten Kriminalität in Bezug auf Betätigungen, deren Legalität zweifelhaft erscheint, strafrechtliche Risiken unterschlagen, um den Mandanten zu einem „gekauften Verbotsirrtum“ zu verhelfen, und die sich sodann in der gleichen Sache als Verteidiger betätigen) in besonderem Maße zu befürchten, dass die vorbehaltlose Gewährung des Schutzes von § 160a „zur Begründung von Geheimbereichen führen [würde], „in denen kriminelles Verhalten
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Radtke/Hohmann/J. Kretschmer 16. Zum letztgenannten Aspekt Beuke/Ruhmannseder StV 2011 180, 185. Beulke FS Fezer 3, 8 ff.; KK/Griesbaum 20; wohl auch Meyer-Goßner 15 i.V.m. § 100a,
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21; entsprechend für die Zulässigkeit einer Telefonüberwachung nach § 100a im Lichte von § 148 bereits BGHSt 33 347, 350 ff. Dafür Beulke/Ruhmannseder StV 2011 180, 185 f.; SK/Wolter 44.
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einer staatlichen Aufklärung schlechthin entzogen ist“,97 also genau das, was der Gesetzgeber durch § 160a Abs. 4 berechtigterweise verhindern möchte.98 3. Medienangehörige genießen über § 160a Abs. 4 Satz 2 einen etwas erhöhten Schutz, 45 indem Satz 1 bei ihnen im Falle eines Antrags- oder Ermächtigungsgesetzes erst dann zum Tragen kommt, wenn tatsächlich der Strafantrag gestellt bzw. die Ermächtigung erteilt wurde. In der Begründung des RegE des Gesetzes zur Stärkung der Pressefreiheit im Straf- und Strafprozessrecht vom 25.6.2012 BGBl. I S. 1374, Geltung ab 1.8.2012, wurde dem Bestehen dieser Regelung in Bezug auf den Informantenschutz im Zusammenhang mit § 353b StGB, der in Absatz 4 die Strafverfolgung von einer Ermächtigung abhängig macht, besondere Bedeutung beigemessen.99 4. Nachträgliche Änderung der Verdachtslage. In allen Fällen der Anwendung von 46 § 160a Abs. 4 ergeben sich besondere Probleme, wenn es im Lauf des Verfahrens zu einer Änderung der Verdachtslage kommt, was angesichts der Dynamik strafprozessualer Ermittlungen in der Praxis ein alltägliches Phänomen sein dürfte. a) Wegfall des Verdachts. Erweist sich der zunächst angenommene Verdacht gegen 47 den Berufsgeheimnisträger später als unbegründet, so führt dies zunächst zur Unzulässigkeit einer weiteren Durchführung der Maßnahme. Sodann kommt der (wie gesagt nicht an die Rechtswidrigkeit der vorangegangenen Maßnahme gebundene, s.o. Rn. 22, 38) Schutz von § 160a Abs. 1 Satz 2 bzw. Abs. 2 Satz 3 zum Tragen, was im Falle von ersterem zu einem absoluten Verwendungsverbot (s.o. Rn. 22) führt, im Falle von letzterem zu einem Beweisverwertungsverbot, das eine Verwendung als Spurenansatz freilich nicht ausschließt (es sei denn, es ginge um Erkenntnisse aus dem „Kernbereich privater Lebensgestaltung, was wiederum eine Angleichung an das Schutzniveau von § 160 Abs. 1 Satz 2 zur Folge hätte, s.o. Rn. 39). Eine Übertragung der (richtigerweise schon dort abzulehnenden100) fragwürdigen Rspr., die bei § 97 eine weitere Verwertung des Beweismittels zulässt, wenn der Tatverdacht nachträglich entfällt,101 ist für § 160a infolge der unmittelbaren Erfassung der Konstellation durch die in Absatz 1 Satz 2 und Absatz 2 Satz 3 normierten Verbote zwingend ausgeschlossen.102 Die Unzulässigkeit nicht nur einer unmittelbaren Verwertbarkeit als Beweismittel, sondern auch einer Verwendung als Spurenansatz (mit entsprechenden Folgewirkungen für die auf entsprechender Grundlage dann ihrerseits rechtswidrig erlangten Folgebeweise) dürfte ein wirksamer Gegenanreiz gegen Verlockungen sein, den Schutz von § 160a durch eine allzu eilfertige Bejahung der Voraussetzungen von dessen Absatz 4 Satz 1 zu umgehen. Das absolute Verwendungsverbot sollte für den Fall einer im Ergebnis unzutreffenden Annahme eines Tatverdachts deshalb de lege ferenda allgemein auf alle Berufsgeheimnisträger ausgedehnt werden (s.o. Rn. 12).
97 98
So die Formulierung in der Begr. des RegE zu § 53b-E, BTDrucks. 16 5846 S. 37. Gegen ein Erfordernis, Strafverteidiger von Abhörmaßnahmen unter allen Umständen auszunehmen, denn auch BGHSt 33 347, 348 f.; vgl. im Übrigen bereits BVerfGE 30 1 (32 f.); im Schrifttum etwa KK/Nack § 100a, 48 i.V.m. § 97, 39; Meyer-Goßner 15 i.V.m § 100a, 21; warum im Rahmen von § 160a
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etwas anderes gelten sollte, ist nicht ersichtlich. Vgl. BTDrucks. 17 3355 S. 7; entsprechende Einschätzung bei Meyer-Goßner 16. Überzeugend m.w.N. SK/Wohlers § 97, 47. Vgl. LR/Schäfer 25 § 97, 147; Meyer-Goßner § 97, 48, jew. m.w.N. Zutr. Meyer-Goßner 15; Radtke/Hohmann/ J. Kretschmer 15.
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b) Nachträgliche Verdachtsbegründung. Entsteht der Verstrickungsverdacht gegen einen Berufsgeheimnisträger erst nach einer zunächst unter Verstoß gegen § 160a erfolgten Ermittlungsmaßnahme, so führt dies entgegen der in der Begründung des RegE zu § 53b-E geäußerten Einschätzung103 nicht allgemein zur Verwertbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse.
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aa) Selbst wenn der Verdacht unabhängig von der betreffenden Maßnahme und insofern rechtmäßig begründet wurde, ändert dies nichts daran, dass die Beweiserhebung als solche rechtswidrig war, was nach allgemeinen Grundsätzen zwar nicht automatisch ein Verwertungsverbot nach sich zieht, nach der „Abwägungslehre“ abhängig von der Schwere des Verstoße und dessen Relation zum Gewicht des Strafverfolgungsinteresses im Einzelfall aber durchaus ein solches zur Folge haben kann.104 Das wird man i.d.R. z.B. dann annehmen müssen, wenn sich die Strafverfolgungsorgane im Rahmen einer vorsätzlich-rechtswidrigen Ausforschung des eines zu diesem Zeitpunkt völlig unverdächtigen Berufsgeheimnisträgers willkürlich über § 160a Abs. 1 Satz 1 bzw. Abs. 2 Satz 1 hinweggesetzt haben.
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bb) Weitergehende Konsequenzen ergeben sich, wenn der Verdacht gegen den Berufsgeheimnisträger selbst auf Erkenntnissen beruht, die aus der rechtswidrig angeordneten Maßnahme gewonnen wurden. In diesem Fall folgt bei einem Verstoß gegen § 160a Abs. 1 Satz 1 (und bei einem 51 solchen gegen Absatz 2 Satz 1, soweit Erkenntnisse aus dem „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ zur Debatte stehen) für die betreffenden Informationen schon aus der Logik des Gesetzes ein absolutes Verwendungsverbot, das die Anwendung von § 160a Abs. 4 sogar für die Zukunft ausschließt (es sei denn, für die Verstrickung des Berufsgeheimnisträgers würden weitere hinreichende Anhaltspunkte auftauchen, die mit der verbotenen Maßnahme in keinem Zusammenhang stehen): Weil § 160 Abs. 1 Satz 2 „dennoch“ – d.h. unter Verstoß gegen das Beweiserhebungsverbot – erlangte Erkenntnisse ohne jede Einschränkung einem absoluten Verwendungsverbot unterstellt, muss dies konsequenterweise nicht nur für ihre Verwendung als „Spurenansatz“ für weitere Ermittlungen i.e.S. gelten, sondern auch für ihre Heranziehung zur Begründung einer Verdachtslage mit wie auch immer gearteten Folgewirkungen für die prozessuale Situation im vorliegenden Verfahren. Das Argument, die aufgrund eines rechtswidrigen Vorgehens erlangten Verdachtsmomente könnten nicht nur die Anwendbarkeit von Absatz 4 eröffnen, sondern über diese durch eine Suspendierung der Wirkungen von Absatz 1 Satz 2 sogar die unter Verstoß gegen Absatz 1 Satz 1 erlangten Erkenntnisse der Verwertbarkeit zuführen,105 ist demgegenüber offenkundig zirkulär und mithin nicht tragfähig. Bei Verstößen gegen § 160a Abs. 2 Satz 1, die den Verdacht gegen den Berufsgeheim52 nisträger begründen, ist demgegenüber zwar kein (Absatz 2 nun einmal fremdes) absolutes Verwendungsverbot anzunehmen, weshalb der solchermaßen gewonnene Verdacht immerhin als Grundlage weiterer Ermittlungen unter Einschluss einer – nunmehr durch Absatz 4 legitimierten – Fortsetzung der ursprünglichen Maßnahme dienen kann. Die als solche rechtswidrige Erlangung der hierfür maßgeblichen Erkenntnisse kann aber schwerlich dazu führen, dass auch die bis dahin erlangten geschützten Informationen zu
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Vgl. BTDrucks. 16 5846 S. 37; im Schrifttum KMR/Plöd 13. Puschke/Singelnstein NJW 2008 113, 117. In diesem Sinne unter ausdrücklichem Ein-
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schluss von „Fallgestaltungen, die Absatz 1 unterfallen“, die Begr. des RegE zu § 53b-E, BTDrucks. 16 5846 S. 37.
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Beweiszwecken verwendet werden dürfen. Andernfalls hätten es die Strafverfolgungsorgane nämlich in der Hand, dem von Absatz 2 Satz 1 statuierten Verbot gerade durch dessen Missachtung de facto jede Wirkung zu entziehen. Deshalb unterliegen Erkenntnisse, die bis zur Begründung eines den Anforderungen von Absatz 4 genügenden Verdachts gegen den Berufsgeheimnisträger angefallen sind unter Einschluss derjenigen, auf die dieser Verdacht gestützt wird (weil die Weiterführung der Maßnahme mit deren Gewinnung erst für die Zukunft legitimiert wird), auch im Falle von Absatz 2 einem Beweisverwertungsverbot.106
VII. Verhältnis zu den §§ 97, 100c Abs. 6 1. Diskussionen trotz § 160a Abs. 5. Trotz der auf den ersten Blick eindeutigen Rege- 53 lung in § 160a Abs. 5, wonach die §§ 97, 100c Abs. 6 „unberührt“ bleiben, ist das Verhältnis von § 160a zu diesen Vorschriften nicht unumstritten. Es besteht zwar (selbstverständlich) kein Zweifel, dass letztere für die Beschlagnahme von Gegenständen und für akustische Wohnraumüberwachungen in ihrem jeweiligen Regelungsbereich weiterhin anwendbar sind, also durch die Schaffung von § 160a nicht etwa aufgehoben wurden. Umgekehrt besteht wohl Einigkeit darüber, dass im Zusammenhang mit § 97 und § 100c Abs. 6 ein Rückgriff auf § 160a möglich ist, soweit diese für bestimmte Fragen keine Regelung treffen (so z.B. § 97 für die Verwertbarkeit der unter Verstoß gegen ihn erlangten Beweismittel); im Übrigen ist die Rückverweisung von § 100c Abs. 6 Satz 3 auf § 160a Abs. 4 zu beachten,107 neuerdings ebenso diejenige von § 97 Abs. 5 Satz 2 auf § 160a Abs. 2 Satz 3 und Abs. 4 Satz 2. Umstritten ist jedoch, ob die §§ 97, 100c Abs. 6 in ihrem originären Anwendungsbereich Sondervorschriften darstellen, die eine Heranziehung von § 160a immerhin insoweit ausschließen, oder ob § 160a den durch § 97 gewährleisteten Schutz erweitern kann. 2. Die aktuelle Debatte. Praktische Bedeutung hat diese Frage im Zusammenhang 54 mit internen Untersuchungen („internal investigations“) erlangt, die Rechtsanwälte im Auftrag von Unternehmen durchführen, und bei denen sie (u.a. durch die Befragung von Mitarbeitern108) Erkenntnisse über betriebsbezogene Straftaten zusammentragen. Im Streit, ob und ggf. inwieweit entsprechende Unterlagen im Rahmen der nachfolgenden Strafverfahren gegen die betreffenden Mitarbeiter bei den Rechtsanwälten, die vom Unternehmen im eigenen Interesse (also nicht etwa als potentielle Verteidiger belasteter Mitarbeiter) beauftragt wurden, beschlagnahmt und als Beweismittel verwertet werden dürfen, wurde neben einer originär auf die Auslegung von § 97 bezogenen Argumentation nämlich z.T. auch auf § 160a und hier insbesondere auf dessen Absatz 1 rekurriert:
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Im Ergebnis ähnlich HK/Zöller 18; MeyerGoßner 15; SK/Wolter 46; a.A. KK/Griesbaum 16. Meyer-Goßner 17 i.V.m. § 97, 50 und § 100a, 24; vgl. auch KMR/Plöd 15; OK-StPO/Patzak 17. Auch von solchen, die sich möglicherweise strafbar gemacht haben und deren Recht auf Selbstbelastungsfreiheit insofern gefährdet ist. Dieser Gesichtspunkt kann im vorliegenden Zusammenhang allerdings nicht aus-
schlaggebend sein: Weil ein Beschlagnahmeverbot die betroffenen Mitarbeitern von den strafrechtlichen Folgen einer Selbstbelastung nur so lange schützt, wie die Unternehmensleitung die beauftragten Rechtsanwälte nicht von ihrer Schweigepflicht entbindet, muss die Wahrung des nemo-tenetur-Grundsatzes bei „internen Untersuchungen“ nämlich ohnehin auf anderen, hier nicht zu erörternden Wegen sichergestellt werden; vgl. dazu auch Bauer StV 2012 277, 278 f.
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Dessen weitergehender, eindeutig nicht auf die Mandatsbeziehung zwischen dem betroffenen Berufsgeheimnisträger und dem Beschuldigten des jeweiligen Verfahrens beschränkter109 Schutz müsse im Ergebnis auch bei der Beschlagnahme von Gegenständen zum Tragen kommen. Dabei dürfe vor allem § 160a Abs. 1, der neben den Strafverteidigern nunmehr auch allen (sonstigen) Rechtsanwälten einen absoluten Schutz vor strafprozessualen Ermittlungseingriffen gewährt, nicht durch die Zugrundelegung eines niedrigeren Schutzniveaus unterlaufen werden, das auf einer Auslegung von § 97 Abs. 1 Nr. 3 beruht, die den Regelungsgehalt von § 160a unberücksichtigt lässt.110 Die Annahme eines solchen Vorrangs von § 97 folge auch nicht aus § 160a Abs. 5, denn dieser habe in Bezug auf § 97 lediglich die Funktion, bei denjenigen Berufsgeheimnisträgern, die im Rahmen von § 160a nach dessen Absatz 2 nur einen eingeschränkten Schutz genießen, gleichwohl die uneingeschränkte Geltung der Beschlagnahmeverbote nach § 97 Abs. 1 aufrechtzuerhalten.111
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3. Stellungnahme. Die Annahme, wonach § 160a im ureigenen Anwendungsbereich von § 97 neben diesem anwendbar bleiben112 oder dessen Auslegung unmittelbar mitbestimmen soll, ist abzulehnen.
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a) Gesetzessystematische Betrachtung. Gegen sie spricht zunächst in gesetzessystematischer Hinsicht, dass eine Übertragung des absoluten Schutzes, den § 160a Abs. 1 bestimmten Berufsgruppen gewährt, auf die Beschlagnahme von Gegenständen nicht nur den Streit um die grundsätzliche Reichweite der Beschlagnahmeverbote bei Berufsgeheimnisträgern im Sinne eines umfassenden (d.h. nicht auf den Bereich der Mandatsbeziehung zwischen dem Berufsgeheimnisträger und dem Beschuldigten des jeweiligen Verfahrens begrenzten) Beschlagnahmeverbots in der Sphäre des Berufsgeheimnisträgers entscheiden würde, sondern auch deren Einschränkungen nach § 97 Abs. 2 Satz 3 teilweise leerlaufen ließe. Die dort getroffene Regelung, wonach eine Beschlagnahme außer beim Verdacht einer kriminellen Verstrickung des Berufsgeheimnisträgers auch allgemein bei Deliktsgegenständen zulässig ist, erlaubt in bestimmten Konstellationen nämlich durchaus ein Vorgehen gegen einen nicht tatverstrickten (!) Berufsgeheimnisträger, das Erkenntnisse verspricht, über die dieser das Zeugnis verweigern dürfte – man denke etwa an einen Schriftwechsel, den ein Rechtsanwalt als erkennbar gutgläubiges Werkzeug eines Betrügers mit dessen Opfern geführt hat. Eine ergänzende Heranziehung von § 160a oder gar dessen Anwendungsvorrang vor § 97 hätte bei konsequenter Betrachtung aber die Unzulässigkeit der Beschlagnahme solcher Unterlagen zur Folge und würde mithin einen offenen Widerspruch zum Regelungsgehalt von § 97 Abs. 2 Satz 3 begründen. Diesen zugunsten von § 160a aufzulösen, wäre mit der in § 160a Abs. 5 getroffenen Anordnung, wonach § 97 „unberührt“ bleiben soll (und zwar der gesamte § 97 durch den gesamten § 160a, nicht nur Absatz 1 von ersterem durch Absatz 2 von letzterem,
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S.o. Rn. 13; zum diesbezüglichen Streit im Rahmen von § 97 Abs. 1 Nr. 3 LR/Schäfer 25 § 97, 21 ff. m.w.N. Vgl. Bertheau StV 2012 303, 306; von Galen NJW 2011 945; Schuster NZWiSt 2012 28 ff.; ders. NZWiSt 2012 431, 432; Winterhoff AnwBl. 2011 789, 792; Bock/Gerhold in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis (Hrsg.), Internal Investigations (2013) Kap. 5 Rn. 68.
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Schuster NZWiSt 2012 28, 30; ders. NZWiSt 2012 431, 432; Ballo NZWiSt 2013 46 (49 ff.). Unabhängig vom Problem der „internen Untersuchungen“ dafür in Bezug auf § 160a Abs. 2 ohne nähere Begründung auch LG Saarbrücken NStZ-RR 2013 183.
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wie die Formulierung von § 160a Abs. 5 und dessen Konzeption als eigener Absatz und nicht etwa als Satz 5 von Absatz 2 deutlich zeigen), offensichtlich unvereinbar. Um dieser Anordnung zur Geltung zu verhelfen, muss § 97 somit zwangsläufig als Sondervorschrift betrachtet werden, die für die von ihr erfasste Regelungsmaterie den Rückgriff auf § 160a sperrt.113 Bei einer solchen Einstufung spricht nun aber nichts mehr dagegen bzw. es erscheint sogar im Gegenteil naheliegend, auch Grenzfragen der Anwendung von § 97, die sich nicht unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut beantworten lassen, in einer autonomen, nicht durch § 160a präjudizierten Auslegung dieser Vorschrift zu entscheiden. b) Weiterreichende Folgen von Beschlagnahmeverboten. Die Aufrechterhaltung 57 unterschiedlicher Maßstäbe in § 97 und in § 160a erscheint im Hinblick auf die unterschiedlichen Auswirkungen von Beschlagnahmeverboten auf der einen und den nach § 160a vorgesehenen Beschränkungen der Beweisgewinnung und -verwertung auf der anderen Seite auch in der Sache gerechtfertigt. Erstere führen nämlich deshalb zu einer deutlich stärkeren Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung, weil der Beschlagnahme unterliegende Beweismittel selbst dann, wenn aus ihnen dem Berufsgeheimnis unterliegende Informationen ersichtlich sind, vielfach nicht nur durch die Berufstätigkeit des Geheimnisträgers als solche geprägt wurden, sondern zugleich Träger von Spuren eines äußeren Geschehens oder des Verhaltens von Beschuldigten oder Dritten sein können (vgl. dazu etwa das in Rn. 56 gebildete Beispiel). Dabei besteht – anders als bei der durch § 160a geschützten reinen Kommunikation mit einem solchen – die Möglichkeit, dass der Berufsgeheimnisträger gerade deshalb eingeschaltet wird, um die betreffenden Gegenstände durch die Begründung eines Beschlagnahmeverbots dem Zugriff der Strafverfolgungsorgane zu entziehen.114 Vor diesem Hintergrund bedarf es für die Beschlagnahme einer differenzierten Regelung, wie sie der Gesetzgeber in § 97 getroffen hat. Damit ist übrigens weder gegenüber den betreffenden Berufsgeheimnisträgern noch gegenüber deren Auftraggebern ein Misstrauen oder ein Vorwurf unlauteren Verhaltens verbunden, weil hier (anders als im Zusammenhang mit § 160 Abs. 4) keine kriminellen Machenschaften im Raum stehen. Es geht vielmehr nur darum, legale Handlungsoptionen auf ein erträgliches Maß zu begrenzen, denn die vorliegenden Möglichkeiten der „Beweisvereitelung“ sind als Ausfluss der gesetzlich eingeräumte Zeugnisverweigerungsrechte im Grundsatz ja durchaus ein legitimes Instrument, von dem der Berufsgeheimnisträger im Interesse seines Mandanten Gebrauch machen darf bzw. dies zur Erfüllung seiner diesem gegenüber bestehenden Pflichten sogar tun muss! c) Konsequenzen für die Auslegung von § 97 aa) Soweit § 97 insofern eindeutige Anordnungen trifft, sind diese somit allein maß- 58 geblich, weshalb z.B. die nach dessen Absatz 2 Satz 3 vorgesehene Beschlagnahme von Deliktsgegenständen ebenso unbegrenzt möglich bleibt wie die nach § 97 Abs. 2 Satz 1, 1. Halbsatz grds. erlaubte Beschlagnahme von Gegenständen, die sich nicht im Gewahrsam des Berufsgeheimnisträgers befinden. Dabei ist die im letztgenannten Fall für Vertei-
113
Näher Erb FS Kühne 171, 175 ff.; im Ergebnis auch LG Hamburg NJW 2011 942, 944 = StV 2011 148, 151; LG Mannheim wistra 2012 400, 409; Bauer StV 2012 277; Jahn ZIS 2011 453, 459 f.; Jahn/Kirsch StV 2011 151, 154 (die beiden letztgenannten Autoren zwar unter Annahme großzügiger Beweis-
114
erhebungsverbote, die jedoch systematisch korrekt ausschließlich auf eine entsprechende Auslegung von § 97 Abs. 1 Nr. 3 gestützt werden); Siegrist wistra 2010 427, 430; Meyer-Goßner § 97, 10. LG Mannheim wistra 2012 400, 405 f.; zum Ganzen Erb FS Kühne 171, 176 f.
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digerkorrespondenz geltende Ausnahme ausschließlich durch § 148 Abs. 1 und dessen verfassungsrechtliche Fundierung bedingt, so dass hier nicht der geringste Anlass besteht (und insbesondere auch der Hinweis auf die Gleichbehandlung von Verteidigern und [sonstigen] Rechtsanwälten in § 160a Abs. 1 n.F. nicht verfängt), im Besitz des Mandanten befindliche Korrespondenz, die dieser mit einem nicht zu Zwecken der Strafverteidigung mandatierten Rechtsanwalt geführt hat, von der Beschlagnahme auszunehmen. Der Bericht, den ein mit internen Untersuchungen beauftragter Rechtsanwalt, der nicht zugleich als potentieller Verteidiger der verdächtigen Mitarbeiter eingesetzt wurde, dem selbst nicht beschuldigten Auftraggeber übersendet, unterliegt also keinem Schutz.115
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bb) Soweit § 97 Auslegungsspielräume lässt, sind sie unter Zugrundelegung der allgemeinen Auslegungsmethoden primär nach Sinn und Zweck dieser (!) Norm zu schließen. Ohne dass dazu abschließend Stellung genommen werden könnte (hier ist stattdessen auf die Kommentierung von § 97 zu verweisen), sei in diesem Zusammenhang nur Folgendes bemerkt: Im Hinblick auf die aus § 97 Abs. 2 Satz 3 ersichtliche Zielsetzung, eine Vereitelung 60 strafrechtlicher Ermittlungen durch die Verlagerung beweisrelevanter Gegenstände in die Gewahrsamssphäre eines Berufsgeheimnisträgers tunlichst auszuschließen, liegt es nahe, außerhalb der (von § 97 Abs. 1 Nr. 1 und 2 schon nach dem Gesetzeswortlaut besonders geschützten) Beziehung zwischen dem Berufsgeheimnisträger und dem Beschuldigten des betreffenden Verfahrens sämtliche Schriftstücke, die dem Berufsgeheimnisträger übergeben oder sonst zugespielt wurden, auch dann der Beschlagnahme zu unterwerfen (§ 97 Abs. 1 Nr. 3 insoweit also nicht anzuwenden), wenn sie sich in dessen Gewahrsam befinden und die Voraussetzungen von § 97 Abs. 2 Satz 3 nicht vorliegen.116 Speziell mit Blick auf interne Untersuchungen lässt sich (nur) auf diese Weise vermeiden, dass Unternehmen, die solche Untersuchungen in Auftrag geben, die Weitergabe nicht nur von be-, sondern auch von entlastendem (!) Material an die Strafverfolgungsorgane beliebig dosieren und so im Extremfall die Herrschaft über das staatliche Strafverfahren an sich reißen können.117 Auf der anderen Seite darf § 97 freilich nicht so ausgelegt werden, dass er den Schutz 61 des Berufsgeheimnisses, der ja weder nach § 53 noch nach § 160a auf die Beziehung zwischen dem Berufsgeheimnisträger und einem Beschuldigten des konkreten Verfahrens beschränkt ist (s.o. Rn. 13), außerhalb einer solchen Beziehung völlig leerlaufen ließe. Weil die meisten der in § 53 genannten Berufsangehörigen kaum jemals in der Lage sein werden, ihre Tätigkeit in rein mündlicher Form ohne schriftliche Konzepte und ohne Dokumentation auszuüben, würde indessen genau dieser Effekt eintreten, wenn die eigenen Aufzeichnungen, Niederschriften und Ausarbeitungen des Berufsgeheimnisträgers aus dessen Gewahrsamssphäre heraus beschlagnahmt werden dürften. Eine solche Beschlagnahme (etwa von den Untersuchungsprotokollen und Berichten, die ein mit
115 116 117
Zutr. LG Mannheim wistra 2012 400, 407 ff. So im Ergebnis etwa Meyer-Goßner § 97, 10; a.A. Jahn ZIS 2011 453 ff., jew. m.w.N. Näher Erb FS Kühne 171, 180 f.; ähnlich LG Mannheim wistra 2012 400, 405 ff., wo als Voraussetzung der Zulässigkeit einer Beschlagnahme allerdings „konkrete Anhaltspunkte für eine missbräuchliche
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Inanspruchnahme der Möglichkeit der Verlagerung beweisrelevanter Unterlagen“ verlangt werden. Diese ist indessen schon deshalb abzulehnen, weil es vorliegend nicht um die Unterbindung eines Missbrauchs, sondern nur darum geht, legale Möglichkeiten der Vorenthaltung von Beweismitteln in sachgerechter Weise zu begrenzen, s.o. Rn. 57 a.E.!
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internen Untersuchungen betrauter Rechtsanwalt erstellt hat) muss deshalb – wiederum völlig unabhängig von § 160a und der Frage, welche Berufsgruppen dort in welcher Form privilegiert werden – nach § 97 Abs. 1 als unzulässig eingestuft werden.118 Das Beschlagnahmeverbot umfasst dabei auch die schriftlichen Auskünfte, die der Berufsgeheimnisträger in Ausübung seiner Tätigkeit von Dritten eingeholt hat. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die vom Berufsgeheimnisträger formulierten Fragen und die Antworten der Befragten in einem Dokument miteinander verbunden sind.119 Der entscheidende Punkt liegt vielmehr im Fehlen eines sachlichen Grundes, schriftlich eingeholte Auskünfte im Ergebnis anders zu behandeln als die Notizen über die mündliche Befragung Dritter (auf die die Betroffenen ja auch leicht ausweichen könnten, wenn ersteren der Beschlagnahmeschutz versagt bliebe). Für letztere kommt eine Beschlagnahme im Beispiel des nicht von seiner Schweigepflicht entbundenen Rechtsanwalts aber schon deshalb nicht in Betracht, weil über das, was er im Rahmen des Mandats von Dritten erfahren hat, nach § 250 StPO grundsätzlich durch seine Vernehmung als Zeuge vom Hörensagen Beweis zu erheben wäre. Würde man deshalb, weil diese Vernehmung an der Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO scheitert, stattdessen auf die beruflichen Aufzeichnungen zugreifen, wäre die Umgehung des Zeugnisverweigerungsrechts insofern besonders offensichtlich. 4. Zur Zulässigkeit vorbereitender Durchsuchungen. Wenn die Beschlagnahme von 62 Gegenständen in der Gewahrsamssphäre von Berufsgeheimnisträgern nach alledem auch in Konstellationen zulässig sein kann, in denen sich dies weder mit einer Interessenabwägung nach § 160a Abs. 2 Satz 1 noch mit einer kriminellen Verstrickung nach § 160a Abs. 4 rechtfertigen lässt, stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Möglichkeit ihrer Durchsetzung im Rahmen von Durchsuchungsmaßnahmen.120 a) Grundsatz. Diese ist aus folgender Erwägung grundsätzlich zu bejahen: Soweit die 63 Beschlagnahme von Gegenständen nach dem Regelungskonzept von § 97, der von § 160a nach dessen Absatz 5 ausdrücklich „unberührt“ bleiben soll (!), zulässig ist, befinden wir uns außerhalb des Schutzbereichs, den der Gesetzgeber dem hierdurch beeinträchtigten Berufsgeheimnis gewährt hat. Somit kommt die Funktion von § 160a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1, eine Unterlaufung eben dieses Schutzes von Zeugnisverweigerungsrechten durch Maßnahmen zur Ausforschung der geschützten Vertrauensbeziehung zu verhindern, hier ersichtlich nicht zum Tragen. Die dort normierten Verbote von Ermittlungsmaßnahmen, bei denen voraussichtlich Erkenntnisse erlangt würden, über die der Geheimnisträger das Zeugnis verweigern dürfte, sind deshalb dahingehend restriktiv zu interpretieren, dass sie der Zulässigkeit von Zwangsmaßnahmen, die nur der Durchführung von Beschlagnahmen in dem durch § 97 erlaubten Rahmen dienen, nicht deshalb entgegenstehen, weil die betreffenden Erkenntnisse im Wege einer Vernehmung des Berufsgeheimnisträgers nicht erhoben werden dürften. Eine andere Auslegung von § 160a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 wäre methodisch unzulässig, weil sie nach § 160a Abs. 5 „unberührt“ bleibende Möglichkeiten der Beweisgewinnung de facto unmöglich
118
Erb FS Kühne 171, 179 f., im Ergebnis ebenso LG Mannheim wistra 2012 400, 407; Jahn/Kirsch StV 2011 151 ff.; a.A. LG Hamburg NJW 2011 942 ff. = StV 2011 148 ff.; Bauer StV 2012 277 ff.; Meyer-Goßner § 97, 10.
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So aber LG Mannheim wistra 2012 400, 407 im Fall der Mitarbeiterfragebögen bei internen Untersuchungen. Generell gegen deren Zulässigkeit im Hinblick auf § 160a Winterhoff AnwBl. 2011 789, 792; Schuster NZWiSt 2012 431, 432.
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machen und damit das Regelungsgefüge zwischen § 160a und § 97 zerstören würde. Die Vorstellung, mit der Schaffung von § 160a habe der Gesetzgeber die von dessen Absatz 1 erfassten Berufsgeheimnisträger (d.h. nunmehr insbesondere auch sämtliche Rechtsanwälte) außer im Falle eigener krimineller Verstrickung von strafprozessualen Zwangsmaßnahmen jeder Art bedingungslos freigestellt,121 ist insofern eindeutig zu verwerfen.
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b) Einschränkungen. Dies bedeutet nun selbstverständlich nicht, dass Durchsuchungen bei Berufsgeheimnisträgern außerhalb der von § 160a Abs. 4 geregelten Situationen zur Auffindung und Sicherstellung von Gegenständen, die keinem Beschlagnahmeverbot nach § 97 unterliegen, ein Mittel erster Wahl sein dürften. Unter Berücksichtigung der besonderen Sensibilität der Gewahrsamssphäre von Personen, die dem Schutz von § 160a unterliegen,122 dürfte der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vielmehr durchweg gebieten, einen Berufsgeheimnisträger, der grds. die Vermutung rechtstreuen Verhaltens auf seiner Seite hat, zunächst einmal zur freiwilligen Herausgabe der betreffenden Gegenstände aufzufordern. Kommt er dieser Aufforderung deshalb nicht nach, weil er sich nach eigenen Angaben nicht in Besitz der gesuchten Gegenstände befindet, so ist dies zunächst einmal so hinzunehmen, solange keine konkreten Tatsachen vorliegen, die eine gegenteilige Annahme nahelegen.
65
c) Problem der evtl. gleichzeitigen Erlangung geschützter Informationen. Ist letzteres der Fall (etwa bei einem Rechtsanwalt, der vielleicht sogar einräumt, Unterlagen zu besitzen, die ihm im Zuge eines Beratungsmandats übergeben wurden, sich aber explizit weigert, diese den Strafverfolgungsorganen auszuhändigen), so stellt sich weiterhin die Frage, ob die Zulässigkeit einer Durchsuchung als ultima ratio nicht daran scheitert, dass diese neben dem Zugriff auf die zu beschlagnahmenden Gegenstände voraussichtlich weitere Erkenntnisse erbringt, die tatsächlich dem Schutz von § 160a unterfallen (s.o. Rn. 20).123 In diesem Zusammenhang ist von einem Berufsgeheimnisträger indessen zu verlangen, dass er potentiell der Beschlagnahme unterliegende Gegenstände (also alle unabhängig von seiner Tätigkeit vorhandenen Unterlagen, die er von Mandanten oder von Dritten erhalten hat) von solchen, die geschützte Informationen verkörpern (d.h. seine eigenen Aufzeichnungen, Erhebungen und Ausarbeitungen) innerhalb seiner Aktenführung so voneinander trennt, dass eine Durchsuchung effektiv auf erstere begrenzt werden kann. Andernfalls führt die dann gegebene Vermischung geschützter mit nicht geschützten Dokumenten dazu, dass die Zulässigkeit der Maßnahme nicht mehr an § 160a Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 2 Satz 1 scheitert (s.o. Rn. 20).
VIII. Revision 1. Unzulässige Erkenntnisverwertung
66
a) Allgemeines. Verstöße gegen die Verwendungs- bzw. Verwertungsverbote nach § 160a Abs. 1 Satz 2 (ggf. i.V.m. Satz 5) oder Abs. 2 Satz 3, jeweils auch i.V.m. Abs. 3, können unabhängig davon, ob ihnen ein Verstoß gegen ein (für eine erfolgreiche Revi121
122
So wohl Bertheau StV 2012 303, 306; von Galen NJW 2011 945; eingehende Ktitik bei Erb FS Kühne 171, 177 f. Vgl. etwa Beulke/Ruhmannseder StV 2011 180, 182.
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Vgl. zu diesem Problem und der drohenden Diskrepanz zwischen der Zulässigkeit einer Beschlagnahme und der Unmöglichkeit ihrer Durchsetzung im Rahmen einer Durchsuchung auch Siegrist wistra 2010 427, 430.
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Nachtr. § 160a StPO
sion allein nicht ausreichendes, weil das Urteil auf ihm allein schwerlich beruhen kann) Beweiserhebungsverbot nach § 160a Abs. 1 Satz 1 bzw. Abs. 2 Satz 1 vorausging oder ob sie ohne einen solchen Verstoß selbständig zum Tragen kommen (s.o. Rn. 22, 38), die Revision gegen das Urteil begründen, das bei Eingang der gesperrten Erkenntnisse in die Überzeugungsbildung des Gerichts regelmäßig auf ihnen beruht. Dies gilt sowohl für die unzulängliche Erfassung der originären Voraussetzungen dieser Regelungen als auch für die fälschliche Bejahung der Voraussetzungen, unter denen ihre Anwendbarkeit nach Absatz 4 entfällt. b) Beurteilungsspielräume. Soweit bei der Anwendung der Vorschrift ein Beurtei- 67 lungsspielraum besteht (s.o. Rn. 20, 31, 42), beschränkt sich die Nachprüfung durch das Revisionsgericht auf eine Vertretbarkeitskontrolle.124 Für die Prüfung der besonderen Verhältnismäßigkeit nach § 160a Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Satz 1 kann letzteres richtigerweise jedoch nicht gelten,125 weil die dabei vorzunehmenden Abwägung kein prognostisches oder situationsgebundenes Moment enthält, das die Anerkennung eines entsprechenden Spielraums legitimieren könnte. c) Widerspruch gegen die Verwertung. Die Erhebung eines Widerspruchs gegen die 68 Verwertung in der tatgerichtlichen Hauptverhandlung ist im Hinblick auf die in anderen Zusammenhängen bestehende Rechtsprechung126 und das bisherige Fehlen einer höchstrichterlichen Entscheidung zur Frage nach deren Übertragbarkeit auf die Verwertungsverbote nach § 160a aus Verteidigersicht dringend zu empfehlen. Richtigerweise darf der Erfolg der Revision hiervon allerdings nicht abhängen, weil die von § 160a erfassten Berufsgeheimnisse nicht nur im Interesse des Beschuldigten, sondern im öffentlichen Interesse an der Erhaltung eines allgemeinen Vertrauens in ihre grundsätzliche Wahrung geschützt werden.127 2. Fehlerhafte Annahme eines Beweisverwertungsverbots. Umgekehrt eröffnet auch 69 eine nicht durch die einschlägigen Regelungen in § 160a gedeckte Ausklammerung von Erkenntnissen aus der gerichtlichen Wahrheitsfindung – im Wege der Aufklärungsrüge – die Revision.128 Dies ist allgemein dann der Fall, wenn (richtigerweise immer zu berücksichtigende, s.o. Rn. 23, 38) manifeste entlastende Erkenntnisse außer Betracht bleiben. Bei der unrichtigen Annahme der Unverwertbarkeit belastender Erkenntnisse ist im Hinblick auf die (nur) insoweit gegebene Beschwer an eine Revision von Staatsanwaltschaft oder der Nebenklage zu denken. 3. Die Revisionsbegründung muss nach § 344 Abs. 2 Satz 2 zunächst die Tatsachen 70 enthalten, aus denen sich ein Verstoß gegen § 160a Abs. 1 Satz 2 (ggf. i.V.m. Satz 5) oder Abs. 2 Satz 3 ergibt. Darüber hinaus sollte sie bei der Rüge einer unzulässigen Verwer-
124
125 126
So in Bezug auf das Vorliegen eines auf bestimmte Tatsachen gerichteten Tatverdachts und die Einhaltung des Subsidiarität bei § 100a BGHSt 41 30 ff.; für § 160a KK/Griesbaum 23 f.; Meyer-Goßner 18; OK-StPO/Patzak 18; krit. SK/Wolter 49. A.A. BGH StraFo 2012 173, 175; KK/Griesbaum 24. Vgl. etwa BGHSt 50 206, 215 f.
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Zur ausschließlichen Dispositionsbefugnis des Beschuldigten als Voraussetzung der „Widerspruchslösung“ BGHSt 51 1, 3; BGH NJW 2007 2269, 2273; im vorliegenden Zusammenhang insofern wohl unentschieden KK/Griesbaum 22. HK/Zöller 21; KK/Griesbaum 22; MeyerGoßner 18; OK-StPO/Patzak 18.
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tung von Erkenntnissen im Hinblick auf die – in der Sache äußerst fragwürdige,129 vom Revisionsverteidiger aber tunlichst zu beachtende – Rechtsprechung zum Erfordernis der Anführung von „Negativtatsachen“ auch ausführen, inwiefern das Tatgericht Absatz 4 entweder nicht angewendet oder dessen Voraussetzungen zu Unrecht bejaht hat.130
§ 160b 1Die
Staatsanwaltschaft kann den Stand des Verfahrens mit den Verfahrensbeteiligten erörtern, soweit dies geeignet erscheint, das Verfahren zu fördern. 2Der wesentliche Inhalt dieser Erörterung ist aktenkundig zu machen.
Schrifttum Altenhain/Haimerl Die gesetzliche Regelung der Verständigung im Strafverfahren – eine verweigerte Reform, JZ 2010 327; Bittmann Das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren, wistra 2009 414; Jahn/Müller Das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren – Legitimation und Reglementierung der Absprachenpraxis, NJW 2009 2625; Niemöller/Schlothauer/ Wieder Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren (2010).
Änderung. Die Vorschrift wurde durch Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009, BGBl. I, S. 2353, in die StPO eingefügt.
Übersicht Rn. 1. Zweck und Problematik der Neuregelung a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . b) Zusammenhang mit Verfahrensabsprachen . . . . . . . . . . . . . . c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . 2. Regelungsgehalt a) Kann-Vorschrift . . . . . . . . . . . .
129 130
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1
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2 3
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4
Eingehende Kritik bei SK/Frisch § 344, 64. HK/Zöller 21; Meyer-Goßner 18; SK/Wolter 49; die in diesem Zusammenhang angeführten Belegstellen BGHSt 37 245, 248 f. und BGHSt 38 144, 145 f. (beide zu § 97) passen allerdings nicht ganz, weil es dort um vergleichsweise naheliegende Negativtatsachen ging (nämlich im einen Fall um ein mögliches Einverständnis der selbst nicht beschuldigten Patientinnen eines Arztes, im anderen um die Deliktsverstrickung nicht des Berufsgeheimnisträgers selbst, sondern der bei diesem beschlagnahmten Unterlagen,
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Rn. b) Verfahrensbeteiligte . . . . . . . . . . c) Gegenstand der Erörterungen . . . . . d) Die Form der Erörterungen . . . . . . e) Dokumentation . . . . . . . . . . . . 3. Wirkungen des erzielten Ergebnisses a) Keine unmittelbaren Rechtswirkungen b) Kompensation bei Vorleistungen . . .
. . . .
5 7 8 9
. .
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unter denen sich Rechnungen befanden, die der Beschuldigte gefälscht hatte). Eine strafbare Beteiligung des Berufsgeheimnisträgers an der verfahrensgegenständlichen Tat oder an einem Anschlussdelikt zu dieser ist demgegenüber ein außergewöhnliches Ereignis, bei dem es als maßlose Überspannung von § 344 Abs. 2 Satz 2 zu bezeichnen wäre, zu seinem Nichtvorliegen selbst dann Ausführungen zu verlangen, wenn eine auf einen solchen Verdacht gestützte Anwendung von § 160a Abs. 4 im vorangegangenen Verfahren niemals zur Debatte stand.
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1. Zweck und Problematik der Neuregelung a) Allgemeines. Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs soll die Vorschrift 1 bewirken, „dass die Gesprächsmöglichkeiten zwischen Staatsanwaltschaft und Verfahrensbeteiligten gefördert werden und damit – wo dies Aufgabe und Funktion des Strafverfahrens zulassen – ein offenerer Verhandlungsstil unterstützt wird, der – sachgerecht eingesetzt – das Verfahren insgesamt fördern kann.“1 Wo dies den Beteiligten aus welchem Grund auch immer sachdienlich erscheint, dürften solche Gespräche freilich schon immer stattgefunden haben, und es ist auch nicht ersichtlich, was unabhängig vom Vorhandensein einer gesetzlichen Regelung gegen ihre Zulässigkeit sprechen sollte,2 soweit es darum geht, der Verteidigung durch ein „Spiel mit offenen Karten“ die Möglichkeit zu geben, ihr Vorgehen in sachdienlicher Weise situationsadäquat auszurichten. b) Zusammenhang mit Verfahrensabsprachen. Brisanz gewinnen Erörterungen der 2 Staatsanwaltschaft mit den Verfahrensbeteiligten und die gesetzliche Regelung solcher Gespräche jedoch dort, wo sie der Anbahnung von Verfahrensabsprachen dienen. Wenn es in der Begründung des Gesetzentwurfs auch heißt, die Regelung stehe „nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Gegenstand der Verfahrensabsprache im Strafprozess, die zu diesem frühen Zeitpunkt und außerhalb der Beteiligung des Gerichts noch nicht möglich ist“,3 so erscheint es doch naheliegend, dass die Weichen für eine derartige Erledigung des Hauptverfahrens vielfach schon im Rahmen von Gesprächen zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung (ggf. unter informeller Beteiligung der Berufsrichter, die dem für das Hauptverfahren zuständigen Spruchkörper angehören) gestellt werden. Damit schlagen bereits an dieser Stelle nicht nur alle Bedenken zu Buche, die gegen das Institut der Verfahrensabsprachen allgemein erhoben werden,4 sondern es besteht vor allem auch in besonderem Maße die Gefahr, dass die Aushandlung des Verfahrensergebnisses entgegen der Intention des Gesetzgebers de facto weiterhin nicht in öffentlicher Hauptverhandlung, sondern im Verborgenen erfolgt: Erzielen Staatsanwaltschaft und Verteidigung schon vor Anklageerhebung einen Konsens, zu dem das Gericht im Rahmen einer inoffiziellen Einbindung sein Wohlwollen signalisiert (was § 160b natürlich nicht vorsieht, jedoch eine gängige Praxis darstellt, die durch die gesetzliche Regelung der Verfahrensabsprachen wohl kaum effektiv unterbunden wurde), ändert die Bestätigung des Ergebnisses in dem von § 257c Abs. 3 vorgesehenen förmlichen Prozedere in der Hauptverhandlung nichts daran, dass die eigentliche Entscheidungsfindung in Wahrheit schon im Ermittlungsverfahren erfolgt ist.5 Im Übrigen kommt die rechtsstaatliche Problematik der Verfahrensabsprachen nicht nur da zum Tragen, wo diese ein nach mündlicher Hauptverhandlung ergehendes Urteil zum Gegenstand haben, sondern auch – bzw. sogar in besonderem Maße – dort, wo die Erörterungen zwischen den Verfahrensbeteiligten im Ermittlungsverfahren im Ergebnis darauf hinauslaufen, dass der durch frühzeitigen Einsatz der „Sanktionsschere“ eingeschüchterte Beschuldigte auf der Grundlage eines nicht einmal ansatzweise ausermittelten Verdachts bei zweifelhafter Beweislage einen Strafbefehl akzeptiert.6
1 2
3
RegE BTDrucks. 16 12310 S. 11. Ebenso Meyer-Goßner 1; für einen „rein deklaratorischen Charakter“ der Norm insoweit SK/Wohlers 1. RegE BTDrucks. 16 12310 S. 12.
4 5 6
Dazu eingehend LR/Stuckenberg HW § 257c, 1 ff. Vgl. Schünemann FS Rieß 525, 543 f.; Altenhain/Haimerl JZ 2010 327, 334 f. Näher dazu HW Vor § 158, 56 ff.
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c) Bewertung. Vor diesem Hintergrund könnte die Vorschrift wie alle Regelungen des VerständigungsG die Praxis in bedenklicher Weise ermuntern, von den Möglichkeiten des „Deals“ in noch großzügigerer Weise Gebrauch zu machen, als das bisher schon der Fall war. Bei § 160b fällt dabei besonders ins Gewicht, dass das Gesetz – offenbar in Verkennung des Gewichts der Probleme, die sich auch und gerade in diesem Stadium des Strafprozesses stellen – für das Ermittlungsverfahren (anders als für die Hauptverhandlung in § 257c) nicht einmal den Versuch unternommen hat, entsprechende Praktiken zu kanalisieren und vorhandene Missstände (s.o. Rn. 2 a.E.) durch einschlägige Verbote zu unterbinden. Dass in Satz 2 der Vorschrift statuierte Verpflichtung, den „wesentlichen Inhalt“ von Erörterungen aktenkundig zu machen, kaum in der Lage sein dürfte, insofern für effektive Abhilfe zu sorgen, liegt auf der Hand. Im Übrigen unterliegen – was im Hinblick auf die vorgenannten Bedenken ein großes Manko darstellt – Erörterungen nach § 160b auch nicht der Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4.7 2. Regelungsgehalt
4
a) Kann-Vorschrift. Mit der Formulierung „kann“ räumt die Vorschrift der Staatsanwaltschaft ein Ermessen darüber ein, ob sie mit Verfahrensbeteiligten Erörterungen führen möchte, um das Verfahren zu fördern. Diesen steht es offen, von sich aus die Initiative zu ergreifen, um die Staatsanwaltschaft hierzu zu bewegen, sie haben jedoch keinen Anspruch darauf, dass sich letztere hierauf tatsächlich einlässt.8 Eine willkürliche Verweigerung von Gesprächen (etwa dann, wenn ein Staatsanwalt bei mehreren Mitbeschuldigten nur gegenüber einem Teil von ihnen zu Erörterungen bereit ist, ohne dass für die Ungleichbehandlung ein sachlicher Grund ersichtlich wäre), wird man als ermessensmissbräuchlich und rechtswidrig ansehen müssen,9 ohne dass für die Betroffenen jedoch eine Möglichkeit bestünde, die Gesprächsbereitschaft auf dem Rechtsweg zu erzwingen; hier wäre lediglich ein Anlass gegeben, nach den für den „befangenen Staatsanwalt“ geltenden Grundsätzen10 bei dessen Vorgesetzten auf seine Ersetzung durch einen anderen Staatsanwalt hinzuwirken.11 Ob ein Verfahrensbeteiligter umgekehrt bereit ist, an Erörterungen teilzunehmen, die die Staatsanwaltschaft oder ein anderer Verfahrensbeteiligter vorgeschlagen hat, ist seine freie Entscheidung.
5
b) Verfahrensbeteiligte, mit denen die Staatsanwaltschaft den Verfahrensstand erörtern kann, sollen nach dem Willen des Gesetzgebers nicht nur Beschuldigte und Verteidiger, sondern auch Nebenklageberechtigte und in Steuerstrafverfahren die Finanzbehörde, nicht aber (jenseits der Fälle einer Nebenklageberechtigung) die durch eine Straftat verletzte Person sein.12 Ebenso wenig sind Zeugen und Sachverständige sowie Angehörige der Bewährungs- und Gerichtshilfe „Verfahrensbeteiligte“ i.S. von § 160b,13 wohl aber
7
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SK/Wohlers 7. Der BGH verlangt allerdings gleichwohl, dass Gespräche, die im Ermittlungsverfahren zur Anbahnung einer Verfahrensabsprache geführt wurden, in der Hauptverhandlung offengelegt werden, BGH NStZ 2012 347, 348. Meyer-Goßner 1, 5; Niemöller/Schlothauer/ Weider/Schlothauer 9. Ähnlich SK/Wohlers 3. Dazu LR/Graalmann-Scheerer HW Vor § 22, 8 ff.
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13
Vgl. auch SK/Wohlers 7. Vgl. RegE BTDrucks. 16 12310 S. 11, zustimmend Meyer-Goßner 2 ff.; SK/Wohlers 4; teilweise a.A. (keine Beteiligteneigenschaft des Nebenklageberechtigten, wohl aber allgemein des Verletzten) Niemöller/ Schlothauer/Weider/Schlothauer 14. Meyer-Goßner 4; Niemöller/Schlothauer/ Weider/Schlothauer 13; SK/Wohlers 4.
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im Jugendgerichtsverfahren die Vertreter der Jugendgerichtshilfe und dort im Übrigen auch die Erziehungsberechtigten und die gesetzlichen Vertreter des Beschuldigten.14 Die Bedeutung der Einordnung wird dadurch relativiert, dass „Verfahrensbeteiligte“ i.S. der Vorschrift keinen Anspruch darauf haben, dass die Staatsanwaltschaft mit ihnen Erörterungen führt, während es dieser auf der anderen Seite aber auch nicht verwehrt ist, andere Personen als „Verfahrensbeteiligte“ in Erörterungen einzubeziehen, wenn ihr dies sachdienlich erscheint.15 Das nach Anklageerhebung in der Hauptsache zuständige Gericht ist (selbstverständ- 6 lich) kein „Verfahrensbeteiligter“.16 Der Gesetzgeber hat darüber hinaus die Auffassung bekundet, dass eine Verfahrensabsprache „zu diesem frühen Zeitpunkt und außerhalb der Beteiligung des Gerichts noch nicht möglich ist“.17 Ob er die verbreitete Praxis, den „Deal“ gleichwohl schon im Ermittlungsverfahren anzubahnen und – unter informeller Einbeziehung des Gerichts – ggf. auch schon weitgehend „in trockene Tücher zu bringen“ (s.o. Rn. 2) dabei in naiver Weise verkannt oder aufgrund ihres Potenzials, neben dem Rest der Hauptverhandlung auch die dort in den Formen des § 257c praktizierte „Verständigung“ zu einer reinen Schauveranstaltung (entsprechend dem „endlichen Rechtstag“ im klassischen Inquisitionsprozess) degenerieren zu lassen, nicht wahrhaben wollte, sei dahingestellt. c) Gegenstand der Erörterungen können alle Aspekte des Verfahrens sein, deren Be- 7 sprechung geeignet ist, dieses in irgendeiner Form zu fördern. Darunter fällt sowohl die Mitteilung der gegenwärtigen eigenen Einschätzung hinsichtlich der tatsächlichen und rechtlichen Bewertung des Falles, um den anderen Beteiligten eine sachdienliche Ausrichtung ihres Prozessverhaltens zu ermöglichen, als auch die Besprechung von Möglichkeiten des weiteren Verfahrensgangs. Neben Fragen einer sachdienlich Ausgestaltung der Beweiserhebung (z.B. Auswahl von Sachverständigen, Kreis der zu vernehmenden Zeugen, Durchführung der Vernehmungen, Teilnahmemöglichkeiten der Verfahrensbeteiligten usw.)18 kommen hier auch Art und Bedingungen des Verfahrensabschlusses in Betracht. In der Begründung des Gesetzentwurfs wurden insofern die Beendigung des Verfahrens nach § 153a und die Vorbereitung eines Täter-Opfer-Ausgleichs genannt;19 im Übrigen ist hier an die Begrenzung der Strafverfolgung nach §§ 154, 154a, an die Wahl des Strafbefehlsverfahrens und – mit allen damit verbundenen Problemen – an die Anbahnung einer Verfahrensabsprache zu denken.20 d) Die Form der Erörterungen hat der Gesetzgeber dem Ermessen der Staatsanwalt- 8 schaft überlassen, wobei in der Begründung des Gesetzentwurfs neben mündlichen ausdrücklich auch telefonische Erörterungen genannt hat.21 Ein höheres Maß an Förmlichkeit ist damit selbstverständlich nicht ausgeschlossen, wobei sich neben der (i.d.R. wohl zu umständlichen) schriftlichen Kommunikation auch diejenige per E-Mail anbieten
14 15 16 17 18 19
Niemöller/Schlothauer/Weider/Schlothauer 12. Ebenso Niemöller/Schlothauer/Weider/ Schlothauer 13. SK/Wohlers 4. RegE BTDrucks. 16 12310 S. 12. Dazu Niemöller/Schlothauer/Weider/ Schlothauer 18. RegE BTDrucks. 16 12310 S. 12.
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Meyer-Goßner 6; SK/Wohlers 2; für die Zulässigkeit von letzterer ausdrücklich BGH NStZ 2012 347, 348, wobei solche Gespräche dann jedoch in der Hauptverhandlung unbedingt offenzulegen seien. Nach den in BVerfG NJW 2013 1058, 1064 ff. ausgeführten Grundsätzen muss Letzteres erst recht gelten. RegE BTDrucks. 16 12310 S. 12.
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dürfte,22 die einerseits schnell und unkompliziert erfolgen kann und dabei andererseits eine zuverlässigere Dokumentation erzeugt, als das bei dem nach Satz 2 vorgesehenen Aktenvermerk über den wesentlichen Inhalt mündlicher Erörterungen der Fall ist. Welche von mehreren Verfahrensbeteiligten überhaupt in Erörterungen einbezogen werden (solange keine willkürlich selektive Gesprächsverweigerung erfolgt, s.o. Rn. 4) und ob mehrere Verfahrensbeteiligte gleichzeitig beteiligt oder nacheinander getrennte Gespräche geführt werden, steht ebenfalls im Ermessen der Staatsanwaltschaft.23
9
e) Dokumentation. Zur Dokumentation der Erörterungen schreibt Satz 2 vor, deren „wesentlichen Inhalt“ aktenkundig zu machen. Dies setzt voraus, dass es über eine bloße Kontaktaufnahme hinaus tatsächlich zu einer sachbezogenen Besprechung gekommen ist (unabhängig davon, ob es dabei irgendeine Übereinkunft erzielt wurde) oder dass der angesprochene Verfahrensbeteiligte eine solche ausdrücklich verweigert hat.24 Ein entsprechender Aktenvermerk muss mindestens den kontaktierten Verfahrensbeteiligten, den Gegenstand und ein evtl. erzieltes Ergebnis des Gesprächs festhalten. Sofern eine Zusage erteilt oder eine wie auch immer geartete Vereinbarung getroffen wurde, ist bei der Dokumentation besondere Sorgfalt geboten;25 zur Vermeidung späterer Streitigkeiten sollte die Niederschrift von den Beteiligten hier überdies nach Möglichkeit unterzeichnet werden.26 3. Wirkungen des erzielten Ergebnisses
10
a) Keine unmittelbaren Rechtswirkungen. Im Rahmen von Erörterungen nach § 160b erfolgte Zusagen und Vereinbarungen begründen für sich genommen keinen durchsetzbaren Anspruch auf ihre Erfüllung. Hält eine Seite nicht Wort, braucht die Gegenseite ihre Zusagen (selbstverständlich) ebenfalls nicht einzuhalten.
11
b) Kompensation bei Vorleistungen. Die eigentlichen Probleme treten dann auf, wenn der Beschuldigte bereits Vorleistungen erbracht hat (insbesondere bei Ablegung eines Geständnisses). Hier wird man die Staatsanwaltschaft aus dem Gebot des fairen Verfahrens heraus für verpflichtet halten müssen, ihre Zusage ebenfalls zu erfüllen, also z.B. die in Aussicht gestellte Einstellung eines weiteren Verfahrens nach § 154 Abs. 1 tatsächlich vorzunehmen.27 Kommt sie dieser Verpflichtung nicht nach, so muss das Gericht die Fairness des Verfahrens gewährleisten, indem es aufgrund eines für diesen Fall anzunehmenden Verfahrenshindernisses die Eröffnung des Verfahrens ablehnt bzw. ein bereits eröffnetes Verfahren einstellt.28
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Niemöller/Schlothauer/Weider/Schlothauer 21. Meyer-Goßner 7; SK/Wohlers 5. SK/Wohlers 6; enger (Vermerk in den Akten nur, wenn tatsächlich ein Ergebnis erzielt wurde) Bittmann wistra 2009 414; MeyerGoßner 8. So auch BGH NStZ 2012 347, 348. Jahn/Müller NJW 2009 2625, 2627; SK/Wohlers 6.
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Vgl. BGHSt 52 165, 172; Meyer-Goßner 10 f.; Niemöller/Schlothauer/Weider/ Schlothauer 26; SK/Wohlers 8. Meyer-Goßner 11; SK/Wohlers 8; einschränkend (Verfahrenshindernis nur, wenn keine Kompensation im Rahmen der Strafzumessung möglich ist) BGHSt 52 165, 172 ff. im Anschluss an BGHSt 37 10.
Volker Erb
Zweiter Abschnitt. Vorbereitung der öffentlichen Klage
Nachtr. § 161 StPO
§ 161 (1) … (2) 1Ist eine Maßnahme nach diesem Gesetz nur bei Verdacht bestimmter Straftaten zulässig, so dürfen die auf Grund einer entsprechenden Maßnahme nach anderen Gesetzen erlangten personenbezogenen Daten ohne Einwilligung der von der Maßnahme betroffenen Personen zu Beweiszwecken im Strafverfahren nur zur Aufklärung solcher Straftaten verwendet werden, zu deren Aufklärung eine solche Maßnahme nach diesem Gesetz hätte angeordnet werden dürfen. 2§ 100d Abs. 5 Nr. 3 bleibt unberührt. (3) In oder aus einer Wohnung erlangte personenbezogene Daten aus einem Einsatz technischer Mittel zur Eigensicherung im Zuge nicht offener Ermittlungen auf polizeirechtlicher Grundlage dürfen unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu Beweiszwecken nur verwendet werden (Art. 13 Abs. 5 des Grundgesetzes), wenn das Amtsgericht (§ 162 Abs. 1), in dessen Bezirk die anordnende Stelle ihren Sitz hat, die Rechtmäßigkeit der Maßnahme festgestellt hat; bei Gefahr im Verzuge ist die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen.
Schrifttum Glaser/Gedeon Dissonante Harmonie: Zu einem zukünftigen „System“ strafprozessualer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen, GA 2007 415; Hefendehl Die Entfesselung des Strafverfahrens über Methoden der Nachrichtendienste, GA 2011 209; Jahn Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote im Spannungsfeld zwischen den Garantien des Rechtsstaats und der effektiven Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus, Gutachten C zum 67. DJT (2008); Knierim Fallrepetitorium zur Telekommunikationsüberwachung nach neuem Recht, StV 2008 599; ders. Fallrepetitorium zur Wohnraumüberwachung und anderen verdeckten Eingriffen nach neuem Recht, StV 2009 206; Rehbein Die Verwertbarkeit von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen aus dem Inund Ausland im Strafprozess (2011); Singelnstein Strafprozessuale Verwendungsregelungen zwischen Zweckbindungsgrundsatz und Verwertungsverboten, ZStW 120 (2008) 854; Wolter Strafprozessuale Verwendung von Zufallsfunden nach polizeirechtlichen Maßnahmen, FS Schenke 541.
Änderung. Absatz 2 wurde durch Art. 1 Nr. 14 TKÜG vom 21.12.2007, BGBl. I S. 3198, mit Wirkung zum 1.1.2008 eingefügt; der frühere Absatz 2, in dem ohne sachliche Änderungen der Begriff „Informationen“ durch „Daten“ ersetzt wurde, wurde dabei zum neuen Absatz 31. Übersicht Rn. 1. Zweck der Neuregelung . . . . . . . . . . 2. Regelungsgehalt a) Voraussetzungen der Zweckumwidmung personenbezogener Daten . . . . . . . .
1
Rn. b) Verwendung als Spurenansatz . . . . . . c) Nachrichtendienstliche Erkenntnisse . . d) Verhältnis zu § 100d Abs. 5 Nr. 3 . . . .
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1. Zweck der Neuregelung. Absatz 2 soll die zuvor umstrittene Verwendbarkeit 1 präventivpolizeilicher Erkenntnisse im Strafprozess gesetzlich regeln. Er beschränkt sie dabei entsprechend der früher in einer Reihe von Einzelvorschriften und nunmehr in
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Zu dessen Kommentierung s. HW, 63 ff.
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§ 477 Abs. 2 Satz 2 allgemein getroffenen Regelung für Zufallsfunde, die im Rahmen strafprozessualer Maßnahmen erlangt wurden, nach dem Grundsatz des hypothetischen Ersatzeingriffs.2 Dies erscheint systemgerecht und beseitigt einen bis dahin bestehenden verfassungswidrigen Zustand.3 2. Regelungsgehalt
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a) Voraussetzungen der Zweckumwidmung personenbezogener Daten. Personenbezogene Daten sind beliebige Informationen über persönliche und sachliche Verhältnisse von Personen, unabhängig davon, ob sie in einer Datei gespeichert sind oder nicht.4 Wurden sie im Rahmen einer außerhalb der StPO (insbesondere in den Vorschriften über die polizeiliche Gefahrenabwehr) geregelten Maßnahme gewonnen, so dürfen sie zu Beweiszwecken im Strafverfahren ohne Einwilligung der Betroffenen nur verwendet werden, wenn es um die Verfolgung von Taten geht, zu deren Aufklärung die Anordnung einer gleichartigen Maßnahme nach der StPO („hypothetischer Ersatzeingriff“) zulässig gewesen wäre. Beschränkungen auf einen bestimmten Katalog von Straftaten und Regelungen, wonach die jeweiligen Delikte allgemein ein bestimmtes Gewicht aufweisen müssen (z.B. eine „auch im Einzelfall schwerwiegende“ Katalogtat nach § 100a Abs. 1 Nr. 2 oder eine „Straftat von erheblicher Bedeutung“ nach § 98a), sind dabei gleichermaßen zu beachten.5 Ein für den hypothetischen Ersatzeingriff nach der StPO geforderter gesteigerter Verdachtsgrad oder besondere Anforderungen an die diesbezügliche Tatsachengrundlage spielen dagegen de facto keine Rolle, weil sie, soll die vom Gesetzgeber gewollte Verwertbarkeit von Zufallserkenntnissen über Taten entsprechender Art und Schwere nicht weitestgehend leerlaufen, mit Blick auf die Situation im neuen Verfahren zu prüfen sind.6 Sobald dort ihre Verwendung zu Beweiszwecken (!) in Rede steht, dürfte eine entsprechende Verdichtung der Verdachtslage aber praktisch immer eingetreten sein. Anders lägen die Dinge nur, wenn man auch die Verwendung als Spurenansatz den gesteigerten Anforderungen des hypothetischen Ersatzeingriffs unterwerfen wollte (dagegen s.u. Rn. 3): In diesem Fall wäre es konsequent, eine Anknüpfung jeglicher strafprozessualen Ermittlungstätigkeit an die betreffenden Erkenntnisse auch bei Hinweisen auf ein Delikt, das den Voraussetzungen der entsprechenden strafprozessualen Maßnahme genügt, nur und erst dann zuzulassen, wenn der betreffende Verdacht die maßgebliche Schwelle überschritten hat und dabei den einschlägigen Anforderungen an die ihm zugrunde liegenden Tatsachen entspricht.7 In jedem Fall mit Blick auf die Situation im neuen Verfahren zu beachten ist eine auf den hypothetischen Ersatzeingriff nach der StPO bezogene Subsidiaritätsklausel.8 Eine Verwendung der anderweitig erhobenen Daten für strafprozessuale Zwecke setzt im Übrigen voraus, dass das Gesetz, auf dessen Grundlage die Datenerhebung erfolgt war, eine Umwidmung für Zwecke der Strafverfol-
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Vgl. RegE BTDrucks. 16 5846 S. 64. Dazu bereits HW, Änderungen und 3f, 65, 71a. Näher dazu LR/Hilger HW Vor § 483, 9 ff. In Bezug auf § 100d Abs. 5 Nr. 3 offenbar zutr. als selbstverständlich unterstellt in BGHSt 54 69, 80. Vgl. BGHSt 54 69, 79 zu § 100d Abs. 5 Nr. 3; Wolter FS Schenke 541, 551 Fn. 43; MeyerGoßner 18c. So wohl Singelnstein ZStW 120 (2008) 854,
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882. In jedem Fall zu weit ginge hingegen die Forderung, der gesteigerte Verdacht müsse schon bei Durchführung der präventivpolizeilichen Maßnahme begründbar gewesen sein, in dieser Richtung Knierim StV 2008 599, 601 f.; ders. StV 2009 206, 207; gegen eine solche Annahme im Zusammenhang mit § 100d Abs. 5 Nr. 3 ausdrücklich BGHSt 54 69, 79. BGHSt 54 69, 80 zu § 100d Abs. 5 Nr. 3.
Volker Erb
Zweiter Abschnitt. Vorbereitung der öffentlichen Klage
Nachtr. § 161 StPO
gung gestattet.9 Ob ein evtl. Rechtsverstoß bei der Datenerhebung einer strafprozessualen Verwertung nach § 161 Abs. 2 Satz 1 entgegensteht, richtet sich nach den gleichen (im einzelnen freilich str.) Grundsätzen wie die Auswirkungen von Rechtsverstößen bei der strafprozessualen Beweiserhebung auf die Verwertbarkeit der dabei gewonnenen Beweise.10 b) Verwendung als Spurenansatz. Die Möglichkeit, präventivpolizeilich erlangte 3 Erkenntnisse allgemein zur Ermittlung des Aufenthaltsorts von Beschuldigten oder als Spurenansatz auch zur Aufklärung sonstiger Straftaten zu verwenden, soll nach der Entwurfsbegründung unberührt bleiben.11 Dies ist systemgerecht und verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.12 Eine entsprechende mittelbare Verwendung kommt dementsprechend auch bei Erkenntnissen aus einer präventivpolizeilichen „Online-Durchsuchung“ gemäß § 20a BKAG in Betracht, soweit § 20v Abs. 5 Nr. 3 BKAG deren Übermittlung zu Zwecken der Strafverfolgung zulässt (d.h. bei Straftaten, die „im Höchstmaß mit mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind“), während eine unmittelbare Verwendung als Beweismittel in diesem Fall daran scheitert, dass die StPO insofern keinen hypothetischen Ersatzeingriff kennt.13 Ausgeschlossen ist die Verwertung als Spurenansatz im Hinblick auf die dort abweichende verfassungsrechtliche Situation hingegen im Falle von § 161 Abs. 3, wenn eine unmittelbare Verwendung der betreffenden Daten zu Beweiszwecken daran scheitert, dass nicht (wie richtigerweise zu verlangen) zugleich die Voraussetzungen von § 100 Abs. 5 Nr. 3 vorliegen.14 Für die Strafverfolgung generell unverwertbar sowohl zu Beweiszwecken als auch als Spurenansatz sind Erkenntnisse aus einer präventivpolizeilichen optischen Wohnraumüberwachung, weil es hier nicht nur keinen strafprozessualen hypothetischen Ersatzeingriff gibt, sondern die Maßnahme zugleich das Gewicht einer akustischen Wohnraumüberwachung nochmals übersteigt, so dass die Unverwertbarkeit der Erkenntnisse nicht weniger weit reichen kann als dort, wo die StPO eine Verwertung von Erkenntnissen aus letzterer verbietet.15 c) Nachrichtendienstliche Erkenntnisse. Verdeckte Maßnahmen der Nachrichten- 4 dienste, die nicht auf einem konkreten Anlass beruhen, haben angesichts ihrer extremen Streubreite auf Unbeteiligte und der Gefahr eines selektiven Einsatzes der erlangten Erkenntnisse nicht nur im Vergleich zu strafprozessualen, sondern auch gegenüber präventivpolizeilichen Maßnahmen eine so weitgehende Sonderstellung, dass die äußerliche Übereinstimmung mit strafprozessual geregelten Grundrechtseingriffen (z.B. im Falle einer
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BGHSt 54 69, 82 zu § 100d Abs. 5 Nr. 3; Singelnstein ZStW 120 (2008) 854, 863 ff.; Meyer-Goßner 18c. Eingehend BGHSt 54 69, 87 ff. unter Rekurs auf die vom BGH insoweit vertretene „Abwägungslehre“; ebenso Meyer-Goßner 18c; für die Situation bei § 477 Abs. 2 Nr. 2 entsprechend LR/Hilger HW § 477, 8e; a.A. (Verwertbarkeit de lege la nur bei umfassender Rechtmäßigkeit der Ausgangsmaßnahme) Singelnstein ZStW 120 (2008) 854, 888 f.; für eine Verwertbarkeit nur unter der Voraussetzung, dass die Daten auch im Ausgangsverfahren verwertbar sind, Wolter FS Schenke 541, 554 ff.; KK/Griesbaum 40.
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RegE BTDrucks. 16 5846 S. 64. Vgl. BVerfG NJW 2005 2766; für die Zulässigkeit der Verwendung als Spurenansatz auch KK/Griesbaum 36; Meyer-Goßner 18d; SK/Wohlers 53; a.A. Jahn 96; Singelnstein ZStW 120 (2008) 854, 884 ff.; HK/Zöller 32; krit. auch Glaser/Gedeon GA 2007 415, 435; Wolter FS Schenke 541, 546 mit einem Vorschlag de lege ferenda a.a.O. S. 553. KMR/Plöd 25b; Meyer-Goßner 18e; vgl. auch allgemein KK/Griesbaum 35. Ausf. HW 71 ff.; dazu nunmehr auch Wolter FS Schenke 541, 548 f.; a.A. Meyer-Goßner 19. Vgl. Wolter FS Schenke 541, 550.
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Überwachung der Telekommunikation) keine hinreichende Legitimation für die Anwendung der Figur des „hypothetischen Ersatzeingriffs“ bietet.16 Die Verwendung entsprechender Beweismittel im Strafverfahren erscheint deshalb richtigerweise nur in Bezug auf Straftaten zulässig, bei denen die einschlägigen Gesetze über die Nachrichtendienste ausnahmsweise ausdrücklich eine Datenübermittlung an Strafverfolgungsorgane zum Zwecke der Strafverfolgung vorsehen.17 Die allgemeinen Ermächtigungen der Nachrichtendienste, nach ihrem Ermessen „für Zwecke der öffentlichen Sicherheit“ personenbezogene Daten zu übermitteln, reichen insofern keinesfalls aus und erlauben den Strafverfolgungsorganen richtigerweise lediglich ein Aufgreifen als Spurenansatz.18 Soweit ein legitimes Bedürfnis besteht, zur Verfolgung besonders gravierender Taten, die in den Gesetzen über die Nachrichtendienste nicht ausdrücklich genannt sind, eine Verwendung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse als Beweismittel im Strafverfahren zuzulassen, bedürfte es einer ergänzenden gesetzlichen Bestimmung.19
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d) Verhältnis zu § 100d Abs. 5 Nr. 3. Absatz 2 Satz 2 stellt klar, dass für die strafprozessuale Verwertung von Erkenntnissen, die bei präventivpolizeilichen Maßnahmen der akustischen Wohnraumüberwachung erlangt wurden, nicht § 161 Abs. 2 Satz 1, sondern ausschließlich die speziellere Regelung in § 100d Abs. 5 Nr. 3 Anwendung findet.
§ 161a (1) … (2) 1… 2Jedoch bleibt die Festsetzung der Haft dem nach § 162 zuständigen Gericht vorbehalten. (3) 1Gegen Entscheidungen der Staatsanwaltschaft nach Absatz 2 Satz 1 kann gerichtliche Entscheidung durch das nach § 162 zuständige Gericht beantragt werden. 2Gleiches gilt, wenn die Staatsanwaltschaft Entscheidungen im Sinne des § 68b getroffen hat. 3Die §§ 297 bis 300, 302, 306 bis 309, 311a und 473a gelten jeweils entsprechend. 4Gerichtliche Entscheidungen nach den Sätzen 1 und 2 sind unanfechtbar. (4) …
Änderung. Die Vorschrift wurde durch Art. 1 Nr. 17 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz – 2. ORRG) vom 29.7.2009, BGBl. I, S. 2280, mit Wirkung zum 1.10.2009 in die vorliegende Fassung gebracht.
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1. Zweck der Neuregelung. Die Änderung dient zum einen dazu, Zeugen, die von staatsanwaltlichen Entscheidungen nach § 68b Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 Satz 1 n.F. betroffen sind, die Möglichkeit zu eröffnen, eine gerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der staatsanwaltlichen Entscheidung herbeizuführen, zum anderen einer Ver16 17 18
Dazu Rehbein 248 ff.; Hefendehl GA 2011 209, 224 ff. Vgl. HW 82; differenzierend Rehbein 252 ff. Zu dessen Zulässigkeit Rehbein 258; auch insofern krit. Hefendehl GA 2011 209, 225.
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Diese könnte z.B. auch im Rahmen eines weiteren Absatzes von § 161 getroffen werden, vgl. dazu den de lege ferenda erhobenen Vorschlag von Rehbein 414.
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einheitlichung und Vereinfachung des Rechtsbehelfsverfahrens.1 Sie erscheint in vollem Umfang sachgerecht. 2. Regelungsgehalt. Absatz 2 Satz 2 enthält hinsichtlich der richterlichen Zuständig- 2 keit für die Festsetzung von Haft nunmehr eine schlichte Verweisung auf § 162. Gleiches gilt nach Absatz 3 Satz 1 für richterliche Entscheidungen, die gegen Entscheidungen der Staatsanwaltschaft beantragt werden, die nach Absatz 2 Satz 1 ergangen sind. Damit ist vor Klageerhebung jetzt auch insoweit gemäß § 162 Abs. 1 der Ermittlungsrichter und nicht mehr wie früher das Landgericht zur Entscheidung berufen. Durch den neuen Satz 3 werden Entscheidungen der Staatsanwaltschaft „im Sinne des § 68b“, d.h. der Ausschluss eines anwaltlichen Zeugenbeistands nach dessen Absatz 1 Satz 3 und die Ablehnung der Bestellung eines solchen nach dessen Absatz 2 Satz 1, in ihrer Anfechtbarkeit einer staatsanwaltlichen Entscheidung nach § 161a Abs. 2 Satz 1 gleichgestellt. An der durch Absatz 3 Satz 3 eröffneten Anwendbarkeit der dort genannten Vorschriften über das Rechtsmittelverfahren hat sich nichts geändert, neu ist insofern lediglich die Verweisung auf die neue Kostenregelung in § 473a, durch die die frühere Verweisung auf die „Vorschriften über die Auferlegung der Kosten des Beschwerdeverfahrens“ ersetzt wurde. Die Geltung der Verweisung auf § 307 für die Anfechtung staatsanwaltlicher Entscheidungen über den Ausschluss eines anwaltlichen Zeugenbeistands von der Vernehmung oder die Ablehnung der Beiordnung eines solchen hat die Konsequenz, dass es im Ermessen der Staatsanwaltschaft steht, ob sie bei Einlegung des Rechtsbehelfs die Vernehmung gleichwohl fortsetzt oder diese unterbricht, um zunächst die Entscheidung des Gerichts abzuwarten.2 § 161a Abs. 3 Satz 4 bestimmt weiterhin die Unanfechtbarkeit von richterlichen Entscheidungen, die aufgrund der Bestimmungen dieses Absatzes ergangen sind. Nach wie vor zulässig bleibt die Beschwerde gegen richterliche Haftanordnungen nach § 161a Abs. 1 Satz 2.3
§ 162 (1) 1Erachtet die Staatsanwaltschaft die Vornahme einer gerichtlichen Untersuchungshandlung für erforderlich, so stellt sie ihre Anträge vor Erhebung der öffentlichen Klage bei dem Amtsgericht, in dessen Bezirk sie oder ihre den Antrag stellende Zweigstelle ihren Sitz hat. 2Hält sie daneben den Erlass eines Haft- oder Unterbringungsbefehls für erforderlich, so kann sie, unbeschadet der §§ 125, 126a, auch einen solchen Antrag bei dem in Satz 1 bezeichneten Gericht stellen. 3Für gerichtliche Vernehmungen und Augenscheinnahmen ist das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk diese Untersuchungshandlungen vorzunehmen sind, wenn die Staatsanwaltschaft dies zur Beschleunigung des Verfahrens oder zur Vermeidung von Belastungen Betroffener dort beantragt. (2) Das Gericht hat zu prüfen, ob die beantragte Handlung nach den Umständen des Falles gesetzlich zulässig ist. (3) 1Nach Erhebung der öffentlichen Klage ist das Gericht zuständig, das mit der Sache befasst ist. Während des Revisionsverfahrens ist das Gericht zuständig, dessen
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Vgl. RegE BTDrucks. 16 12098 S. 24 f. mit eingehenden Zweckmäßigkeitsüberlegungen zur alten und neuen Rechtslage. So auch die ausdrückliche Intention des
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Gesetzgebers, vgl. RegE BTDrucks. 16 12098 S. 26. Dazu HW 66.
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Urteil angefochten ist. 2Nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gelten die Absätze 1 und 2 entsprechend. 3Nach einem Antrag auf Wiederaufnahme ist das für die Entscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren zuständige Gericht zuständig.
Änderungen. Durch Art. 1 Nr. 15 TKÜG vom 21.12.2007, BGBl. I S. 3198, erhielt Absatz 1 mit Wirkung zum 1.1.2008 im Wesentlichen die vorliegende Fassung, zunächst allerdings ohne die ausdrückliche Einschränkung „vor Erhebung der öffentlichen Klage“. Zugleich wurde der alte Absatz 2 gestrichen und der frühere Absatz 3 wurde bei gleichzeitiger redaktioneller Anpassung an den neuen Sprachgebrauch der StPO (Ersetzung der Wendung „Der Richter hat zu prüfen …“ durch „Das Gericht hat zu prüfen …“) ohne inhaltliche Änderung zum neuen Absatz 2. Durch Art. 1 Nr. 12 des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009, BGBl. I S. 2274 (Nr. 48) erhielt Absatz 1 mit Wirkung zum 1.1.2010 besagten Zusatz, während die Zuständigkeit für die späteren Verfahrensstadien im neuen Absatz 3 in der vorliegenden Form ausdrücklich geregelt wurde.
Übersicht Rn. 1. Zweck der Änderungen a) TKÜG . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Regelungsgehalt a) Allgemeine ermittlungsgerichtliche Zuständigkeit vor Klageerhebung . . . . .
Rn. b) Haft- und Unterbringungsbefehl . . . . c) Gerichtliche Vernehmungen und Augenscheineinnahmen . . . . . . . . . . . . d) Anderweitige Antragstellung in Eilfällen e) Sonderzuständigkeiten . . . . . . . . . f) Situation nach Klageerhebung . . . . .
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1. Zweck der Änderungen
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a) TKÜG. Die Neufassung von Absatz 1 im Zuge des TKÜG diente dazu, die „Bestimmung der ermittlungsgerichtlichen Zuständigkeit“ zu vereinfachen und zu beschleunigen. Dabei sollte durch die Zuständigkeitskonzentration beim Amtsgericht am Sitz der Staatsanwaltschaft bzw. ihrer den Antrag stellenden Zweigstelle zugleich die Bereitstellung eines gerichtlichen Bereitschaftsdienstes erleichtert und eine „Kompetenzbündelung gerade für die Anordnung von Ermittlungsmaßnahmen mit technischem Hintergrund und dadurch eine Verbesserung des Rechtsschutzes Betroffener erreicht werden“.1 Absatz 1 Satz 2 war im RegE ursprünglich nicht vorgesehen. Nachdem der BRat in seiner Stellungnahme forderte, auch die Zuständigkeit zum Erlass von Haftbefehlen in die Konzentrationsregelung einzubeziehen,2 wurde dieser Vorschlag in der Gegenerklärung der BReg und in der Beschlussempfehlung des BTRAussch. mit der Maßgabe aufgegriffen, auch Unterbringungsbefehle zu erfassen und zugleich die Zuständigkeiten nach den §§ 125, 126a neben der neugeschaffenen Zuständigkeit zu erhalten.3 Absatz 1 Satz 3 (= Satz 2 im RegE) soll es der Staatsanwaltschaft ermöglichen, den Antrag auf gerichtliche Vernehmungen oder Augenscheinnahmen auch bei dem Amtsgericht zu stellen, in dessen Bezirk die betreffende Untersuchungshandlung vorzunehmen ist, wenn dies zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung oder im Interesse Betroffener, denen die
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Vgl. RegE BTDrucks. 16 5846 S. 65. BRDrucks. 275/07 S. 11 f.
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Vgl. BTDrucks. 16 5846 S. 94 und BTDrucks. 16 6979 S. 46.
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Zweiter Abschnitt. Vorbereitung der öffentlichen Klage
Nachtr. § 162 StPO
Anreise zum Amtsgericht am Sitz der Staatsanwaltschaft nicht zugemutet werden kann, geboten erscheint.4 Der alte Absatz 2 wurde durch die in Absatz 1 Satz 1 getroffene Neuregelung entbehrlich. Zur Bewertung der Neuregelung s. bereits HW Rn. (a), (b) und (c). b) Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts. Bereits nach altem Recht war 2 § 162 nach zutr. h.M. nach Erhebung der öffentlichen Klage grds. nicht mehr anwendbar.5 Um dies klarzustellen und die Zuständigkeiten nach Erhebung der öffentlichen Klage eindeutig festzulegen, wurde im Zuge des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts Abs. 1 Satz 1 entsprechend ergänzt und der neue Absatz 3 in die Vorschrift eingefügt. 2. Regelungsgehalt a) Allgemeine ermittlungsgerichtliche Zuständigkeit vor Klageerhebung. Nach Ab- 3 satz 1 Satz 1 kann die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren den Antrag auf richterliche Untersuchungshandlungen bei dem Amtsgericht stellen, in dessen Bezirk sie ihren Sitz hat. Für den Fall, dass der Antrag von einer Zweigstelle (wobei auch eine durch Justizverwaltungsakt errichtete „Außenstelle“ als solche zu betrachten ist6) gestellt wird, ist insofern deren Sitz maßgebend. Damit besteht nunmehr eine einfach zu bestimmende allgemeine ermittlungsrichterliche Zuständigkeit, durch die eine Vielzahl von Problemen entfallen ist, die mit der umständlichen früheren Regelung verbunden waren.7 Wird das Ermittlungsverfahren an eine andere Staatsanwaltschaft abgegeben, so geht die Zuständigkeit automatisch auf das Amtsgericht über, in dessen Bezirk die neue Staatsanwaltschaft ihren Sitz hat.8 b) Haft- und Unterbringungsbefehl. Die nach Satz 2 vorgesehene Möglichkeit, auch 4 beim Antrag auf Erlass eines Haft- oder Unterbringungsbefehls die in Satz 1 geregelte Zuständigkeit in Anspruch zu nehmen, ist nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes („daneben“) allerdings auf Fälle beschränkt, in denen der Haft- oder Unterbringungsbefehl nicht allein, sondern zusammen mit einer oder mehreren anderen richterlichen Untersuchungshandlungen beantragt wird,9 und auch in diesem Fall ist die Staatsanwaltschaft nicht gezwungen, von ihr Gebrauch zu machen, sondern kann den Antrag auf Erlass des Haft- oder Unterbringungsbefehls gleichwohl bei einem anderen Gericht stellen, dessen Zuständigkeit nach § 125 Abs. 1 (ggf. i.V.m. § 126a Abs. 2 Satz 1) begründet ist. Um nach der Inanspruchnahme einer haftrichterlichen Zuständigkeit nach der letztgenannten Vorschrift ein wenig sachdienliches Auseinanderfallen der Zuständigkeiten für die weiteren haftrechtlichen Entscheidungen und für nachfolgende sonstige ermittlungsgerichtliche Entscheidungen zu verhindern, bietet sich ein Vorgehen nach § 126 Abs. 1 Satz 3 an.10 Praktische Bedeutung dürfte dieser Möglichkeit vor allem dort zukommen, wo das Ermittlungsverfahren an eine andere Staatsanwaltschaft abgegeben wird, weil die Übernahme in Bezug auf eine nach § 125 Abs. 1 begründete Zuständigkeit
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RegE BTDrucks. 16 5846 S. 65. Dazu und zu den Ausnahmen HW 4 sowie LR/Stuckenberg HW § 202, 8. HK-GS/Pflieger 5; Meyer-Goßner 8. Dazu HW 17 ff., 24 ff. SK/Wohlers 20; zur alten Gesetzeslage HW 23.
9 10
HK/Zöller 6; HK-GS/Pflieger 6; MeyerGoßner 10. Vgl. Bittmann NStZ 2010 13, 16; MeyerGoßner 10.
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Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
(im Gegensatz zu derjenigen nach § 162 Abs. 1 Satz 1 oder 2, s.o. Rn. 3 a.E.) nicht ohne weiteres den Übergang auf das Amtsgericht am Sitz der neuen Staatsanwaltschaft bewirkt.
5
c) Gerichtliche Vernehmungen und Augenscheineinnahmen. Absatz 1 Satz 1 gilt grds. auch für gerichtliche Vernehmungen und Augenscheinnahmen. Satz 3 eröffnet in diesen Fällen jedoch eine alternative Zuständigkeit des Amtsgerichts, in dessen Bezirk die Untersuchungshandlung vorzunehmen ist, wenn dies zur Beschleunigung des Verfahrens oder der Vermeidung von Belastungen Betroffener geboten erscheint. Ist die Annahme dieser Voraussetzungen vertretbar, so hat die Staatsanwaltschaft einen Ermessensspielraum, ob sie von dieser Möglichkeit Gebrauch macht; das angerufene Gericht kann seine Zuständigkeit nur im Falle von Willkür verneinen.11 Für Video-Vernehmungen ist auch nach neuem Recht daran festzuhalten, dass es nicht auf den Wohnort der zu vernehmenden Person, sondern auf den Standort des Videovernehmungszimmers ankommt.12
6
d) Anderweitige Antragstellung in Eilfällen. Die Aufrechterhaltung der Eilzuständigkeit eines anderen Gerichts entsprechend Absatz 1 Satz 3, 2. Alt. a.F. hielt der Gesetzgeber im Hinblick darauf für entbehrlich, „dass in Eilfällen regelmäßig auch eine Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft oder ihrer Ermittlungspersonen gegeben ist“.13 Wenngleich die alte Regelung sicherlich in der Tat von geringer praktischer Bedeutung war, so sollte in den immerhin denkbaren einschlägigen Konstellationen (Bsp.: ein außerhalb seines Dienstsitzes ermittelnder Staatsanwalt muss hier eine dringliche Durchsuchung oder Beschlagnahme durchführen und der mit Anrufung des Ermittlungsrichters am Sitz der Staatsanwaltschaft verbundene Zeitverlust kann nicht hingenommen werden)14 eine im Einzelfall bestehende Möglichkeit, den Richtervorbehalt durch Einschaltung des Richters vor Ort zu wahren, im Hinblick auf die Bemühungen des BVerfG, dem Richtervorbehalt zu effektiver Geltung zu verhelfen, wo immer dies geht, tunlichst genutzt werden. Eine Rechtsgrundlage hierfür findet sich in § 21, der es der Staatsanwaltschaft erlaubt, sich bei Gefahr im Verzug jederzeit an das Amtsgericht zu wenden, in dessen Bezirk die Untersuchungshandlung vorzunehmen ist. Diese Vorschrift ist nämlich ohne weiteres auch im Ermittlungsverfahren anwendbar und kam dort bislang lediglich deshalb nicht zum Tragen, weil hier die speziellere Regelung in § 162 Abs. 1 Satz 3, 2. Alt. vorging.15
7
e) Sonderzuständigkeiten, die durch spezielle Regelungen eingerichtet sind, behalten ihren Vorrang und schließen eine Zuständigkeit nach § 162 Abs. 1 ggf. aus. Entsprechende Vorschriften finden sich z.B. in § 81 Abs. 3, § 100d Abs. 1, § 141 Abs. 4, § 153 Abs. 1 Satz 1, § 153a Abs. 1 Satz 1, § 153b Abs. 1 sowie in § 67 Abs. 3 Satz 1 IRG.16
8
f) Situation nach Klageerhebung. Durch die Klarstellung in Absatz 1 Satz 1 steht nunmehr endgültig fest, dass die durch die Vorschrift eröffnete ermittlungsrichterliche
11
12
Zutr. LG Nürnberg-Fürth NStZ-RR 2008 313 f.; HK/Zöller 7; HK-GS/Pflieger 8; Meyer-Goßner 11; a.A. SK/Wohlers 22. Ebenso HK/Zöller 7; HK-GS/Pflieger 7; für die alte Gesetzeslage LG München II NStZ-RR 2005 317; HW 19; a.A. OLG München NStZ 2004 642; auch für die neue Gesetzeslage a.A. Meyer-Goßner 11.
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13 14 15 16
RegE BTDrucks. 16 5846 S. 65. Dazu HW 30. Vgl. HW § 21, 2. AG Eggenfelden NStZ-RR 2009 280; MeyerGoßner 12.
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Zweiter Abschnitt. Vorbereitung der öffentlichen Klage
Nachtr. § 163 StPO
Zuständigkeit grds. mit Klageerhebung endet. Durch den Wegfall der Eilkompetenz nach § 162 Abs. 1 Satz 3, 2. Alt. a.F. kann eine solche jetzt auch in Eilfällen nicht mehr auf § 162 gestützt werden, wobei sich hier jedoch ein Rückgriff auf § 21 anbietet (s.o. Rn. 6). Für Maßnahmen, die zwar mit dem laufenden Verfahren in Zusammenhang stehen, aber nicht für dieses, sondern für anderweitige Ermittlungen benötigt werden (z.B. im Hinblick auf den Verdacht der Tatbeteiligung eines in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen), bleibt es weiterhin bei der ermittlungsrichterlichen Zuständigkeit nach § 162 Abs. 1. Mit Ende der nach Absatz 1 geregelten Zuständigkeit tritt an deren Stelle, wie Ab- 9 satz 3 Satz 1 jetzt ausdrücklich bestimmt, diejenige des nunmehr mit der Sache befassten Gerichts. In Anlehnung an § 126 Abs. 2 Satz 2 gilt dies nach Absatz 3 Satz 2 jedoch ausdrücklich nicht für das Revisionsverfahren, während dessen Dauer das Gericht der Vorinstanz zuständig bleibt. Für die Zeit nach Rechtskraft des Urteils sieht Absatz 3 Satz 3 wieder eine Zuständigkeit nach Absatz 1 vor, die aufgrund vorrangiger Spezialregelungen (z.B. in § 457 Abs. 3 Satz 3) allerdings nicht für das Vollstreckungsverfahren gilt.17 Nach Absatz 3 Satz 4 führt schließlich schon der Eingang eines Wiederaufnahmeantrags bei dem für das Wiederaufnahmeverfahren zuständigen Gericht dazu, dass auch die Zuständigkeit für die Entscheidung über gerichtliche Untersuchungshandlungen auf dieses übergeht.18
§ 163 (1) … (2) … (3) 1Bei der Vernehmung eines Zeugen durch Beamte des Polizeidienstes sind § 52 Absatz 3, § 55 Absatz 2, § 57 Satz 1 und die §§ 58, 58a, 58b, 68 bis 69 entsprechend anzuwenden. 2Über eine Gestattung nach § 68 Absatz 3 Satz 1 und über die Beiordnung eines Zeugenbeistands entscheidet die Staatsanwaltschaft; im Übrigen trifft die erforderlichen Entscheidungen die die Vernehmung leitende Person. 3Bei Entscheidungen durch Beamte des Polizeidienstes nach § 68b Absatz 1 Satz 3 gilt § 161a Absatz 3 Satz 2 bis 4 entsprechend. 4Für die Belehrung des Sachverständigen durch Beamte des Polizeidienstes gelten § 52 Absatz 3 und § 55 Absatz 2 entsprechend. 5In den Fällen des § 81c Absatz 3 Satz 1 und 2 gilt § 52 Absatz 3 auch bei Untersuchungen durch Beamte des Polizeidienstes sinngemäß.
Schrifttum Erb Kritische Bemerkungen zur geplanten Einführung einer strafprozessualen Erscheinens- und Aussagepflicht des Zeugen vor der Polizei, StV 2010 655.
Änderungen. Absatz 3 wurde durch Art. 1 Nr. 18 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz – 2. ORRG) vom 29.7.2009, BGBl. I, S. 2280, mit Wirkung zum 1.10.2009 in die Vor-
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schrift eingefügt. Er entspricht in der Sache in wesentlichen Teilen dem gleichzeitig gestrichenen § 163a Abs. 5 a.F. Der in der Stellungnahme des BRats u.a. erhobenen Forderung nach der zusätzlichen Einfügung eines Absatzes 4, in dem die Pflicht des Zeugen statuiert werden sollte, „auf Ladung vor der Polizeibehörde zu erscheinen und zur Sache auszusagen, wenn der Ladung ein Auftrag oder ein Ersuchen der Staatsanwaltschaft zugrunde liegt“, hat der Gesetzgeber aus guten Gründen widerstanden.1 Durch Art. 6 Nr. 3a des Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltlichen Verfahren (VidVerfG) vom 25.4.2013, BGBl. I, S. 935, wurden die Verweisungen in Satz 1 mit Wirkung zum 1.11.2013 um den neuen § 58b ergänzt.
Übersicht Rn. 1. Zweck der Neuregelung . . . . . . . . . . 2. Regelungsgehalt a) Belehrungspflichten . . . . . . . . . . . b) Vernehmungsrichtlinien . . . . . . . . .
1
Rn.
1
c) Videovernehmungen . . . . . . . . . . d) Anwaltlicher Zeugenbeistand . . . . . . e) Entscheidungskompetenzen . . . . . . .
2 3
4 5 6
1. Zweck der Neuregelung. Soweit der Regelungsgehalt des alten § 163a Abs. 5 an die vorliegende Stelle übertragen wurde, geschah dies, damit die Materie „an eine systematisch passendere Stelle verschoben [wird], was ihr Auffinden erleichtert und ihren Inhalt deutlicher zum Tragen kommen lässt“. Die Erweiterung des Kreises der Vorschriften, auf die die Regelung verweist, soll die Stellung der Zeugen verbessern, indem „klargestellt wird, dass Zeugen bei einer polizeilichen Vernehmung grundsätzlich dieselben Rechte zustehen wie bei einer richterlichen Vernehmung“. Zugleich versprach sich der Gesetzgeber „auch für die vernehmenden Beamten des Polizeidienstes mehr Rechtsklarheit“, wobei in der Begr. des RegE zutreffend darauf verwiesen wird, dass die §§ 58, 68, 68a und 69 als allgemeine Vernehmungsrichtlinie von der Polizei auch schon früher zu berücksichtigen waren.2 Im Übrigen sollte gewährleistet werden, dass dem Zeugen auch in einer polizeilichen Vernehmung ein anwaltlicher Zeugenbeistand zusteht und ein solcher unter den Voraussetzungen von § 68b Abs. 2 hier ebenfalls beizuordnen ist. Dabei ging der Gesetzgeber zu Recht davon aus, dass für die Entscheidung über die Beiordnung nicht die Polizei, sondern die Staatsanwaltschaft die „geeignete Stelle“ sei.3 Für Entscheidungen nach § 68b Absatz 1 Satz 3 hielt er demgegenüber „die Zuständigkeit des vernehmenden Beamten … [für] sachgerecht, weil dieser bei von ihm durchzuführenden Vernehmung[en] aufgrund seiner aktuellen Kenntnisse der Sachlage und des häufig unmittelbaren Kontakts mit den an der Vernehmung beteiligten Personen in der Regel über die beste Bewertungsgrundlage verfügt“.4 Absatz 3 Satz 3 soll klarstellen, dass eine solche Entscheidung „in gleichem Umfang gerichtlich überprüfbar ist, wie dies bei einer Entscheidung der Staatsanwaltschaft … der Fall wäre.5 Die Einfügung von Satz 4 war erforderlich, um die entsprechende Anwendung der §§ 52 Abs. 2, 55 Abs. 2 auch für die polizeiliche Vernehmung von Sachverständigen weiterhin vorzusehen, denn Satz 1 be-
1
Vgl. die Stellungnahme des BRats in BTDrucks. 16 12812 S. 11 und die Gegenerklärung der BReg. in BTDrucks. 16 12812 S. 19 f.; zu den gegen eine solche Regelung bestehenden Einwänden Erb StV 2010 655 ff.
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2 3 4 5
RegE BTDrucks. 16 12098 S. 26. RegE BTDrucks. 16 12098 S. 27. RegE BTDrucks. 16 12098 S. 27. RegE BTDrucks. 16 12098 S. 27.
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Zweiter Abschnitt. Vorbereitung der öffentlichen Klage
Nachtr. § 163 StPO
zieht sich im Gegensatz zu § 163a Abs. 5 a.F. nur noch auf Zeugen, weil die neu eingefügten Verweisungen für Sachverständige nicht passen. Absatz 3 Satz 5 ist gegenüber der früheren Formulierung in § 163a Abs. 5 a.E. zum einen als redaktionelle Korrektur des sprachlichen Bezuges (weil es bei § 81c Abs. 3 nicht um Vernehmungen geht), zum anderen als Klarstellung der Geltung der Belehrungspflicht auch im Falle von § 81 Abs. 3 Satz 1 gedacht.6 2. Regelungsgehalt a) Belehrungspflichten. Was die Verweisung von Absatz 3 Satz 1, 4 und 5 auf die 2 Belehrungspflichten nach §§ 52 Abs. 3, 55 Abs. 2 und 81c Abs. 3 Satz 1 und 2 i.V.m. § 52 Abs. 3 betrifft, so ist – insbesondere hinsichtlich des Zeitpunkts der Entstehung der Belehrungspflichten – auf die Kommentierung der Vorgängernorm in § 163a Abs. 5 im HW (s. dort Rn. 86 ff.) zu verweisen. b) Vernehmungsrichtlinien. Die Anwendung der als Richtlinie bei der Vernehmung 3 von Zeugen schon früher zu beachtenden7 §§ 57 Satz 1, 58, 68, 68a, 69 ist nach § 163 Abs. 3 Satz 1 jetzt gesetzlich zwingend vorgeschrieben. Durch die Abspaltung der Verweisungen für die Sachverständigenvernehmung in Satz 4 von denjenigen für die Zeugenvernehmung in Satz 1 ist für erstere übrigens eine Lücke entstanden, was § 136a betrifft, denn zu diesem besteht über § 69 Abs. 3 jetzt nur noch für die Zeugenvernehmung eine Verweisungskette. § 136a dürfte bei der Vernehmung von Sachverständigen, wo im Falle richterlicher und staatsanwaltlicher Vernehmungen die Verweisung § 72 auf § 69 seine Anwendbarkeit begründet,8 freilich keine praktische Rolle spielen. Sollte im Rahmen einer polizeilichen Vernehmung doch einmal der Einsatz entsprechender Methoden gegenüber einem Sachverständigen im Raum stehen, wäre ihr Verbot damit zu begründen, dass § 136a einen allgemeinen Rechtsgrundsatz verkörpert, an den alle im Strafprozess tätigen staatlichen Organe unabhängig davon gebunden sind, ob die Vorschrift auf ihre jeweilige Tätigkeit bei formaler Betrachtung anwendbar ist. c) Videovernehmungen. Für die nunmehr ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit einer 4 Videovernehmung nach § 58a dürfte sich für die Praxis insofern wenig ändern, als eine solche einerseits mit Einverständnis des Zeugen schon immer möglich war, dieser eine solche andererseits aber nach wie vor verhindern kann, indem er sich für den Fall der Einschaltung eines Aufzeichnungsgeräts schlicht weigert, eine (als solche ja nicht erzwingbare) Aussage vor der Polizei zu machen.9 Die mit Schaffung des neuen § 58b eingefügte Verweisung auf diese Vorschrift, die es nunmehr ermöglicht, dass sich der Zeuge bei der Vernehmung an einem anderen Ort aufhält als die vernehmende Person und die Kommunikation zwischen beiden durch eine zeitgleiche Übertragung von Bild und Ton erfolgt, statuiert die Zulässigkeit eines solchen Vorgehens auch im Rahmen polizeilicher Vernehmungen. Grundsätzlich ist die Durchführung von Videovernehmungen durch die Polizei nach wie vor als unzweckmäßig zu bewerten, weil dort, wo sie in der Sache angebracht erscheinen, infolge des mit ihnen verbundenen hohen Aufwands tunlichst gleich eine richterliche Vernehmung erfolgen sollte, um eine optimale Verwertbarkeit in der Hauptverhandlung zu gewährleisten.10
6 7 8
RegE BTDrucks. 16 12098 S. 28. HW § 163a, 87 m.w.N. LR/Gleß HW § 136a, 14.
9 10
Vgl. HW § 163a, 87. HW § 163a, 87; vgl. auch Meyer-Goßner § 58a, 2.
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d) Anwaltlicher Zeugenbeistand. In der Sache neu ist das durch den Einschluss von § 68b in die Verweisungen von § 163 Abs. 3 Satz 1 begründete Recht des Zeugen auf einen (ihm nach § 68b Abs. 2 ggf. auch beizuordnenden) anwaltlichen Zeugenbeistand. Diese Regelung ist rechtsstaatlich begrüßenswert, erzeugt im Hinblick auf ihre Geltung für den Opferzeugen und potentiellen Nebenkläger als Gegner des Beschuldigten bei gleichzeitiger Nichtgewährung eines verbrieften Rechts des Beschuldigten, sich bei seiner eigenen polizeilichen Vernehmung des Beistands eines Verteidigers zu bedienen, ein mit Art. 3 Abs. 1 GG schwerlich zu vereinbarendes Ungleichgewicht. Abgesehen davon, dass der Gesetzgeber dringend aufgerufen ist, dieses zu beseitigen, gibt dieser Umstand Anlass, von der im HW noch vertretenen h.M. abzurücken, die eines solches Recht des Beschuldigten de lege lata verneint.11
6
e) Entscheidungskompetenzen. Nach Absatz 3 Satz 2 obliegt die Entscheidung darüber, ob dem Zeugen gemäß § 68 Abs. 3 Satz 1 gestattet wird, nur eingeschränkte Angaben zur Person zu machen, ebenso wie die Entscheidung über die Anordnung eines anwaltlichen Beistands gemäß § 68b Abs. 2 auch im Falle einer polizeilichen Vernehmung der Staatsanwaltschaft. Für alle anderen im Rahmen der Vernehmung zu treffenden Entscheidungen erklärt die Vorschrift hingegen den Beamten für zuständig, der die Vernehmung leitet; dies gilt u.a. für Entscheidungen über die Anfertigung einer Videoaufzeichnung und über den evtl. Ausschluss eines Zeugenbeistands nach § 68b Abs. 1 Satz 3.12 Im letztgenannten Fall besteht infolge der Verweisung in § 163 Abs. 3 Satz 3 die gleiche Anfechtungsmöglichkeit wie dort, wo die Staatsanwaltschaft eine solche Entscheidung getroffen hat.
§ 163a (1) 1Der Beschuldigte ist spätestens vor dem Abschluß der Ermittlungen zu vernehmen, es sei denn, daß das Verfahren zur Einstellung führt. 2§ 58a Absatz 1 Satz 1, Absatz 2 und 3 sowie § 58b gelten entsprechend. 3In einfachen Sachen genügt es, daß ihm Gelegenheit gegeben wird, sich schriftlich zu äußern. (2) … (3) … 3Über die Rechtmäßigkeit der Vorführung entscheidet auf Antrag des Beschuldigten das nach § 162 zuständige Gericht. 4Die §§ 297 bis 300, 302, 306 bis 309, 311a und 473a gelten entsprechend. 5Die Entscheidung des Gerichts ist unanfechtbar. (4) … (5) § 187 Absatz 1 bis 3 und § 189 Absatz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes gelten entsprechend.
Änderungen. Durch Art. 1 Nr. 18 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz – 2. ORRG) vom 29.7.2009, BGBl. I, S. 2280, wurde mit Wirkung zum 1.10.2009 Absatz 3 Satz 3 neu
11
Zu dieser HW § 163a, 95a m.w.N. in Fn. 233 und m.w.N. zur nunmehr vorzugswürdigen Gegenansicht in Fn. 234.
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Meyer-Goßner 46c.
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gefasst, Satz 4 und Satz 5 angefügt und der alte Absatz 5 aufgehoben. Durch Art. 6 Nr. 4 des Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltlichen Verfahren (VidVerfG) vom 25.4.2013, BGBl. I, S. 935, wurde mit Wirkung zum 1.11.2013 in Absatz 1 der neue Satz 2 eingefügt. Der neue Absatz 5 wurde mit Wirkung zum 6.7.2013 durch Art. 2 Nr. 4 des Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren vom 2.7.2013, BGBl. I, S. 1938, in die Vorschrift eingefügt. Zweck der Neuregelungen. Die Änderungen in Absatz 3 sind eine Folgeänderung zur Neuregelung von § 161a Abs. 3. Aus den gleichen Erwägungen wie dort hat der Gesetzgeber auch im Rahmen der vorliegenden Norm an der Sonderzuständigkeit, die ursprünglich durch eine Verweisung auf § 161a Abs. 3 geregelt war, nicht mehr festgehalten. Dabei erschien es zweckmäßig, statt einer erneuten Verweisung auf § 161a Abs. 3 in § 163a Abs. 3 Satz 3 und 4 nunmehr unmittelbar auf die in § 161a Abs. 3 Satz 1 und 3 genannten Vorschriften zu verweisen und die Unanfechtbarkeit der richterlichen Entscheidung ohne Verweisung direkt anzuordnen. Absatz 5 war aufzuheben, weil sein Gegenstand jetzt in § 163 Abs. 3 geregelt ist.1 Mit der Ergänzung von Absatz 1 um den neuen Satz 2 mit den dort angeordneten Verweisungen wird auch im Rahmen von Beschuldigtenvernehmungen durch Staatsanwaltschaft, Polizei und diesen gleichgestellte Behörden der bislang auf Zeugenvernehmungen beschränkte Einsatz der Videokonferenztechnik ermöglicht (einschließlich der durch § 58b neu geschaffenen Möglichkeit, dass sich der Vernommene bei der Vernehmung an einem anderen Ort aufhält als die vernehmende Person und die Kommunikation zwischen beiden durch eine zeitgleiche Übertragung von Bild und Ton erfolgt). Die Verweisungen im neuen Absatz 5 stellen durch die Bezugnahme auf § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG n.F. zunächst klar, dass (wie schon aus Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK folgt) einem Beschuldigten auch bei nichtrichterlichen Vernehmungen im Ermittlungsverfahren Dolmetscher- und Übersetzungsleistungen zustehen, wenn er diese benötigt.2 In Umsetzung von Art. 3 Abs. 1 lit. d der Richtlinie 2012/13/EU wird durch die entsprechende Anwendung von § 187 Abs. 1 Satz 2 GVG n.F. sodann eine Belehrungspflicht über diesen Anspruch geschaffen.3 Mit der Verweisung auf § 187 Abs. 2 GVG n.F. gewährt die Vorschrift ein Recht auf Übersetzung bestimmter Unterlagen, über § 187 Abs. 3 GVG werden die Voraussetzungen eines wirksamen Verzichts auf eine schriftliche Übersetzung geregelt, und die Bezugnahme auf § 189 Abs. 4 GVG soll die Verschwiegenheit der Dolmetscher auch bei nichtrichterlichen Vernehmungen sicherstellen. Der Anspruch auf Dolmetscher- und Übersetzerleistungen besteht auch im Zusammenhang mit Beweiserhebungen nach § 163a Abs. 2.4
1 2 3
Vgl. RegE BTDrucks. 16 12098 S. 28. RegE BTDrucks. 17 12578 S. 18. RegE BTDrucks. 17 12578 S. 18.
4
So ausdrücklich RegE BTDrucks. 17 12578 S. 19.
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§ 163c StPO Nachtr.
Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
§ 163c (1) … 3Die §§ 114a bis 114c gelten entsprechend. (2) [a.F. weggefallen, n.F. entspricht Absatz 3 a.F.] … (3) [entspricht Absatz 4 a.F.] Änderung. Durch Art. 1 Nr. 13 des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009, BGBl. I S. 2274 (Nr. 48) wurde mit Wirkung zum 1.1.2010 Absatz 1 Satz 3 eingefügt und Absatz 2 aufgehoben, Absatz 3 a.F. wurde zum neuen Absatz 2, Absatz 4 a.F. zum neuen Absatz 3.
1
1. Zweck der Neuregelung. Die neue Verweisung in Absatz 1 Satz 3 dient dazu, zugunsten einer zur Identitätsfeststellung festgehaltenen Person grds. die gleichen Mitteilungs-, Belehrungs- und Benachrichtigungspflichten einzurichten, wie das nach den §§ 114a bis 114c bei inhaftierten Personen der Fall ist.1 Damit wurde die für die Benachrichtigung von Angehörigen bisher geltende Regelung in Absatz 2 hinfällig.
2
2. Reichweite der Verweisung. Hinsichtlich der dem Betroffenen über die Verweisung im Einzelnen eingeräumten Rechte vgl. die Kommentierung der §§ 114a bis 114c.2 Diese Vorschriften sind dabei nur insoweit („entsprechend“) anzuwenden, wie sie im vorliegenden Regelungszusammenhang passen. So versteht es sich von selbst, dass man einer nach § 163b Abs. 2 festgehaltenen Person, die keiner Straftat verdächtig ist, keinen Tatverdacht eröffnen kann,3 die Aushändigung der Abschrift eines Haftbefehls kommt im Rahmen der §§ 163b, 163c naturgemäß generell nicht in Betracht und die Belehrungen nach § 114b Abs. 2 sind der Situation anzupassen (Nr. 1: Unverzüglichkeit der Vorführung nach Maßgabe von § 163c Abs. 1 Satz 2; Nr. 2 und Nr. 3 entfallen; Nr. 4: „Rechtsanwalt“). Im Übrigen wird man entsprechend der Differenzierung in § 163c Abs. 2 Satz 2 a.F. dem Nichtverdächtigen weiterhin ein unbedingtes Recht zubilligen müssen, die Benachrichtigung selbst vorzunehmen,4 ohne dass insoweit jedoch ein Anspruch auf unüberwachte Benachrichtigung bestünde.5 Der „Zweck der Untersuchung“, der beim Beschuldigten über die Verweisung auf § 114 Abs. 2 Satz 2 Nr. 6 dem Recht auf eigene Benachrichtigung entgegenstehen kann, ist nach wie vor in der Aufklärung der Straftat insgesamt und nicht etwa in der (durch die Benachrichtigung als solche schwerlich zu gefährdenden) Identitätsfeststellung zu erblicken.6
1 2 3 4
Vgl. RegE BTDrucks. 16 11644 S. 35. LR/Lind im vorliegenden Nachtragsband. Bsp. nach RegE BTDrucks. 16 11644 S. 35. Bittmann NStZ 2010 13, 15; Meyer-Goßner 13.
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Zur alten Gesetzeslage HW 22; a.A. SK/Wolter 20–22. Zur alten Gesetzeslage HW 23; ferner SK/Wolter 24.
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Zweiter Abschnitt. Vorbereitung der öffentlichen Klage
Nachtr. § 163e StPO
§ 163d (1) … 2. eine der in § 100a Abs. 2 Nr. 6 bis 9 und 11 bezeichneten Straftaten … (2) ... 3§ 100b Abs. 1 Satz 3 gilt entsprechend. (3) … (4) … [Satz 4 und 5 aufgehoben] (5) [aufgehoben]
Änderung. Durch Art. 1 Nr. 17 TKÜG vom 21.12.2007, BGBl. I S. 3198, wurden mit Wirkung zum 1.1.2008 in Absatz 1 Nr. 2 die Angabe „§ 100a Satz 1 Nr. 3 und 4“ durch „§ 100a Abs. 2 Nr. 6 bis 9 und 11“ und in Absatz 2 die bis dahin in Satz 3 unmittelbar getroffene Regelung durch die Verweisung auf § 100b Abs. 1 Satz 3 ersetzt; Absatz 4 Satz 4 und 5 und Absatz 5 wurden aufgehoben. Zweck der Neuregelung. Die Änderung von Absatz Satz 1 Nr. 1 erfolgte zur Anpassung an die gleichzeitig erfolgte Neufassung von § 100a.1 Absatz 2 Satz 3 wurde auf Empfehlung des BTRAussch. geändert, um durch die Verweisung zu erreichen, dass bei Tagesfristen einheitlich von „Werktagen“ gesprochen wird.2 Die Streichung der Verwendungsregeln in Absatz Satz 4 und 5 und der Benachrichtigungspflicht in Absatz 5 erfolgte im Hinblick auf die Schaffung allgemeiner Regelungen entsprechender Art in § 161 Abs. 2 und § 477 Abs. 2 Satz 2 und 3 bzw. § 101 Abs. 4 bis 8. Damit sind die spezifischen Probleme entfallen, die früher mit der Anwendung dieser Teile von § 163d verbunden waren.3
§ 163e (1) … (2) Das Kennzeichen eines Kraftfahrzeuges, die Identifizierungsnummer oder äußere Kennzeichnung eines Wasserfahrzeuges, Luftfahrzeuges oder eines Containers kann ausgeschrieben werden, wenn das Fahrzeug auf eine nach Absatz 1 ausgeschriebene Person zugelassen ist oder das Fahrzeug oder der Container von ihr oder einer bisher namentlich nicht bekannten Person genutzt wird, die einer Straftat von erheblicher Bedeutung verdächtig ist. (3) Im Falle eines Antreffens können auch personenbezogene Daten eines Begleiters der ausgeschriebenen Person, des Führers eines nach Absatz 2 ausgeschriebenen Fahrzeuges oder des Nutzers eines nach Absatz 2 ausgeschriebenen Containers gemeldet werden. (4) 1Die Ausschreibung zur polizeilichen Beobachtung darf nur durch das Gericht angeordnet werden. 2Bei Gefahr im Verzug kann die Anordnung auch durch die Staatsanwaltschaft getroffen werden. 3Hat die Staatsanwaltschaft die Anordnung getroffen, so 1 2
RegE BTDrucks. 16 5846 S. 65. BTDrucks. 16 6979 S. 45.
3
Dazu HW 66–74, 78–81.
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§ 163e StPO Nachtr.
Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
beantragt sie unverzüglich die gerichtliche Bestätigung der Anordnung. 4§ 100b Abs. 1 Satz 3 gilt entsprechend. 5Die Anordnung ist auf höchstens ein Jahr zu befristen. 6Eine Verlängerung um jeweils nicht mehr als drei Monate ist zulässig, soweit die Voraussetzungen der Anordnung fortbestehen.
Änderung. Die Neufassung der Sätze 1, 3, 4 und 6 in Absatz 4 sowie die Ersetzung des Wortes „Informationen“ durch „Daten“ in Absatz 3 erfolgte mit Wirkung zum 1.1.2008 durch Art. 1 Nr. 17 TKÜG vom 21.12.2007, BGBl. I S. 3198. Die Ergänzungen in den Absätzen 2 und 3 wurden durch Artikel 4 des Gesetzes zum Schengener Informationssystem der zweiten Generation (SIS-II-G) vom 06.06.2009, BGBl. I S. 1226, mit Wirkung zum Tage nach der Verkündung vorgenommen.
Zweck der Neuregelung 1
1. TKÜG. Die Ersetzung des Wortes „Informationen“ durch das Wort „Daten“ in Absatz 3 sowie der Formulierung „den Richter“ durch „das Gericht“ und „richterliche“ durch „gerichtliche“ in Absatz 4 Satz 1 und 3 diente der sprachlichen Anpassung. Der Ausformulierung der früheren Verweisung auf § 100b Abs. 1 Satz 5 StPO in Absatz 4 Satz 6 lag neben Erwägungen zur „besseren Lesbarkeit“ die Annahme zugrunde, dass „die mit einer Beibehaltung des Verweise[s] aufgrund der Neuregelung in § 100b Abs. 1 Satz 5 StPO-E verbundene Verkürzung der Verlängerungsfrist auch bei der Ausschreibung zur polizeilichen Beobachtung nicht sachgerecht“ sei.1 Dass bei Absatz 4 Satz 4 umgekehrt eine unmittelbare Regelung durch die Verweisung auf § 100b Abs. 1 Satz 3 ersetzt wurde, geschah (wie bei § 163d Abs. 2 Satz 3) auf Empfehlung des BTRAussch., um auf diese Weise zu erreichen, dass bei Tagesfristen einheitlich von „Werktagen“ gesprochen wird.2
2
2. SIS-II-G. Die Ergänzung der in Absatz 2 zuvor ausschließlich vorgesehenen Möglichkeit, das Kennzeichen eines Kraftfahrzeugs auszuschreiben, wurde mit Blick auf die in Artikel 36 Abs. 1 des Beschlusses 2007/533/JI des Rates vom 12.6.2007, ABlEU Nr. L 205/63 v. 7.8.2007, vorgesehenen Handlungsoptionen um die Ausschreibung der Kennzeichnung von Wasser- und Luftfahrzeugen sowie Containern ergänzt, mit einer entsprechenden Folgeänderung in Absatz 3. Für diese Fälle hielt der Gesetzgeber (zu Recht) eine spezielle Regelung für erforderlich, weil die entsprechenden Objekte i.d.R. einen „Personenbezug“ aufweisen (infolge ihrer behördlichen Registrierung). Deshalb kann ihre Ausschreibung im Gegensatz zu anderen Gegenständen, bei denen nicht automatisch eine Verbindung zu einer bestimmten Person herzustellen ist, nicht auf die Ermittlungsgeneralklausel in § 161 Abs. 1 Satz 1 bzw. § 163 Abs. 1 Satz 2 gestützt werden.3
1 2
RegE BTDrucks. 16 5846 S. 65. BTDrucks. 16 6979 S. 45 f.
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Vgl. RegE BTDrucks. 16 10816 S. 9; MeyerGoßner 9.
Volker Erb
Zweiter Abschnitt. Vorbereitung der öffentlichen Klage
Nachtr. § 163f StPO
§ 163f (1) … (2) … (3) 1Die Maßnahme darf nur durch das Gericht, bei Gefahr im Verzug auch durch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen (§ 152 des Gerichtsverfassungsgesetzes) angeordnet werden. 2Die Anordnung der Staatsanwaltschaft oder ihrer Ermittlungspersonen tritt außer Kraft, wenn sie nicht binnen drei Werktagen von dem Gericht bestätigt wird. 3§ 100b Abs. 1 Satz 4 und 5, Abs. 2 Satz 1 gilt entsprechend. (4) [aufgehoben]
Änderung. Absatz 3 wurde durch Art. 1 Nr. 18 TKÜG vom 21.12.2007, BGBl. I S. 3198, mit Wirkung zum 1.1.2008 neu gefasst, Absatz 4 aufgehoben.
Übersicht Rn. 1. Zweck der Neuregelung . . . . . . . . . . 2. Regelungsgehalt a) Eilkompetenz und gerichtliche Bestätigung
1
Rn. b) Fristbeginn . . . . . . . . . . . . . . . c) Weiteres Vorgehen . . . . . . . . . . .
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1. Zweck der Neuregelung. Der Gesetzgeber hielt die durch die Neufassung von 1 Absatz 3 Satz 1 bewirkte Einführung eines präventiven Richtervorbehalts mit „mit Blick auf das Ziel der Harmonisierung der verdeckten Ermittlungsmaßnahmen [für] notwendig, weil die längerfristige Observation im Einzelfall mit erheblichen Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Betroffenen verbunden sein und mit Blick auf die Problematik der Kumulierung von Ermittlungsmaßnahmen … eine Eingriffsintensität erreichen kann, die eine staatsanwaltliche Anordnung nicht mehr als ausreichend erscheinen lässt“. Eine gerichtliche Anordnung sei auch in praktischer Hinsicht „ohne weiteres möglich, weil sie während des Laufs einer kurzfristigen Observation erfolgen kann, die bereits auf Grundlage der §§ 161, 163 StPO zulässig ist, und zudem bei Gefahr im Verzug eine Eilanordnungskompetenz der Staatsanwaltschaft und ihrer Ermittlungsbeamten verbleibt“.1 Das Erfordernis einer gerichtlichen Bestätigung der Eilanordnung binnen drei Werktagen nach Absatz 3 Satz 2 ist erklärtermaßen an die Regelung in § 100b Abs. 1 Satz 3 angelehnt, ohne dass insoweit (wie in im gleichzeitig geänderten § 163d Abs. 2 Satz 3 und im wenig später geänderten §§ 163 Abs. 4 Satz 4) der Weg einer Verweisung gewählt wurde. Mit der Verweisung auf § 100b Abs. 1 Satz 4 und 5, Abs. 2 Satz 1 durch § 163f Abs. 3 Satz 3 wurden die dort getroffenen Regelungen über Beweisverwertungsverbot, Befristung, Verlängerungsmöglichkeiten und Schriftformerfordernis übernommen. Durch die Neuregelung von Absatz 3 wurde Absatz 4 a.F. entbehrlich.
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RegE BTDrucks. 16 5846 S. 65 f.
Volker Erb
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§ 163f StPO Nachtr.
Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
2. Regelungsgehalt
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a) Eilkompetenz und gerichtliche Bestätigung. Mit Einführung des Richtervorbehalts verbleibt für die Staatsanwaltschaft und (insofern unverändert) für ihre Ermittlungspersonen eine Eilkompetenz bei „Gefahr im Verzug“. Für die in diesem Fall vorgeschriebene Herbeiführung einer gerichtlichen Bestätigung gebietet Absatz 3 zwar nicht mehr ausdrücklich eine „unverzügliche“ Antragstellung. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass die Frist von drei Werktagen bis zur Antragstellung voll ausgeschöpft oder die Herbeiführung der gerichtlichen Entscheidung bei einer weniger als drei volle Werktage dauernden Observation sogar unterbleiben dürfte.2 Andernfalls liefe der vom Gesetz schon bei Überschreitung von 24 Stunden Beobachtungsdauer vorgesehene Richtervorbehalt nämlich faktisch leer, wenn die Maßnahme im Wege der Eilkompetenz angeordnet wurde und weniger als drei volle Werktage andauert. Durch die hier wie an anderen Stellen der StPO (insbesondere in § 100b Abs. 1 Satz 3 und in den hierauf verweisenden Bestimmungen) nunmehr nach „Werktagen“ bestimmte Frist, die der StPO bis dahin unbekannt war, kam der Gesetzgeber dem Bedürfnis der Praxis nach einem größeren zeitlichen Spielraum nach Eilanordnungen entgegen, die am (oder unmittelbar vor einem) Wochenende ergehen.3 Die Einschätzung, hierdurch sei „Klarheit“ geschaffen worden,4 erscheint jedoch zweifelhaft, weil mit der Neuerung der im Zivilrecht nicht abschließend geklärte Streit, ob der Samstag nach wie vor als „Werktag“ zu betrachten ist,5 in die StPO hineingetragen wird.
3
b) Fristbeginn. Die Frist zur Herbeiführung der gerichtlichen Bestätigung beginnt mit dem Erlass der Anordnung durch die Staatsanwaltschaft oder ihre Ermittlungspersonen zu laufen, nicht etwa mit Beginn der Durchführung der Maßnahme.6 Dies gilt sowohl für den Fall, dass die tatsächliche Beobachtung erst einige Zeit nach Erlass der Anordnung beginnt (wobei ein längeres Zuwarten mit der Annahme von „Gefahr im Verzug“ i.d.R. freilich kaum vereinbar sein dürfte), als auch für die umgekehrte Konstellation, in der eine Observation zunächst als kurzfristige, nicht den Anforderungen von § 163f unterfallende Maßnahme geplant und begonnen wurde und später eine Eilentscheidung getroffen wird, sie über die Dauer von 24 Stunden hinaus auszudehnen (bzw. die für einen Tag konzipierte Beobachtung an einem anderen Tag fortzusetzen). Mit einer solchen Entscheidung wird die als kurzfristige Maßnahme begonnene Observation nämlich nicht rückwirkend, sondern nur ex nunc zu einer längerfristigen.7
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c) Weiteres Vorgehen. Soweit § 163f Abs. 3 Satz 3 nunmehr auf § 100b verweist, ergeben sich folgende Konsequenzen: § 100b Abs. 1 Satz 4 sieht eine Befristung der Maßnahme auf höchstens drei Monate vor, wobei nach Satz 5 eine Verlängerung um jeweils nicht mehr als drei Monate möglich ist, wenn die Voraussetzungen der Anordnung „unter Berücksichtigung der gewonnenen Ermittlungsergebnisse“ fortbestehen. Die Frist wird auch hier jeweils schon durch die Anordnung und nicht erst durch den Beginn der Maßnahme in Gang gesetzt.8 Die Verweisung auf § 100b Abs. 2 Satz 1 normiert das Schriftformerfordernis. Die Begründungspflicht für die gerichtliche Anordnung ergibt
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HK/Zöller 7; SK/Wolter 12. So Bär MMR 2008 215, 217. SK/Wolter § 100b, 5 Fn. 3. Mit der wohl zutr. h.M. bejahend MüKoBGB/Grothe § 193, 2 BGB; a.A. MüKo-BGB/ Häublein § 573c, 13 BGB.
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Meyer-Goßner 6. So für den Beginn der Monatsfrist nach § 163f Abs. 4 a.F. auch BVerfG StraFo 2009 453 f. Vgl. BGHSt 44 243, 246; Meyer-Goßner 6 i.V.m. § 100b, 2.
Volker Erb
Zweiter Abschnitt. Vorbereitung der öffentlichen Klage
Nachtr. § 168b StPO
sich allgemein aus § 34 StPO.9 Bei Ausübung der Eilkompetenz durch die Staatsanwaltschaft oder ihre Ermittlungspersonen besteht schon nach allgemeinen Grundsätzen eine umfassende Dokumentationspflicht.10 Lässt sich aufgrund deren Verletzung nicht mehr sicher rekonstruieren, ob die Maßnahme so lang andauerte, dass eine gerichtliche Entscheidung erforderlich gewesen wäre und mithin der Richtervorbehalt verletzt wurde, ist für das weitere Verfahren zugunsten des Beschuldigten letzteres anzunehmen.11 Auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung ist die Maßnahme unverzüglich zu beenden, sobald ihr Zweck erreicht ist oder die Voraussetzungen ihrer Anordnung entfallen sind.12
§ 168b (1) Das Ergebnis der Untersuchungshandlungen der Ermittlungsbehörden ist aktenkundig zu machen. (2) … (3) Die Belehrung des Beschuldigten vor seiner Vernehmung nach § 136 Absatz 1 sowie § 163a ist zu dokumentieren.
Änderung. Mit Wirkung zum 6.7.2013 wurden durch Art. 2 Nr. 5 des Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren vom 2.7.2013, BGBl. I, S. 1938, in Absatz 1 die Worte „staatsanwaltschaftlicher Untersuchungshandlungen“ durch „der Untersuchungshandlungen der Ermittlungsbehörden“ ersetzt und Absatz 3 neu angefügt.
Zweck der Neuregelung. Durch die von Art. 7 der Richtlinie 2010/64/EU geforderte allgemeine Dokumentation von Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen bei strafprozessualen Untersuchungshandlungen sah sich der Gesetzgeber veranlasst, die in § 168b bislang nur für staatsanwaltliche Untersuchungshandlungen ausdrücklich geregelte Dokumentationspflicht auf alle Ermittlungsbehörden zu erstrecken, wobei er insbesondere auch die Zollverwaltung im Blick hatte.1 Zur vollständigen Umsetzung der Richtlinie 2012/13/EU wurde in Absatz 3 eine umfassende Dokumentationspflicht für alle in § 136 Abs. 1 und § 163a vorgeschriebenen Belehrungspflichten geschaffen.2
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10 11
So auch die Begründung für die vollständige Aufhebung von Absatz 4 a.F. in RegE BTDRucks 16 5846 S. 66. Vgl. insbesondere BVerfG StV 2004 633. Für § 163f Abs. 4 Satz 2 a.F. BVerfG StraFo 2009 453 (454 f.).
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SK/Wolter 16 i.V.m. § 163e, 28. Vgl. RegE BTDrucks. 17 12578 S. 19. Vgl. RegE BTDrucks. 17 12578 S. 19.
Volker Erb
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VIERTER ABSCHNITT Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens § 200 (1) 1–2… 3Bei der Benennung von Zeugen ist deren Wohn- oder Aufenthaltsort anzugeben, wobei es jedoch der Angabe der vollständigen Anschrift nicht bedarf. 4In den Fällen des § 68 Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 1 genügt die Angabe des Namens des Zeugen. 5… (2) …
Änderung. Art. 1 Nr. 20 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz) vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2280) fügt in § 200 Absatz 1 einen neuen Satz 3 ein, der den Grundsatz aufstellt, dass die Angabe der vollständigen Anschrift der Zeugen in allen Fällen verzichtbar ist. Als Folgeänderung wird der bisherige Satz 3 in geänderter Fassung zu Satz 4. Der bisherige Satz 4 wird unverändert zu Satz 5. Zweck der Änderung. Die vom Bundesrat1 vorgeschlagene Änderung schafft die Ver1 pflichtung zur Angabe der Wohnanschrift des Zeugen in der Anklageschrift insgesamt ab und lässt die bloße Ortsangabe genügen. Bei gefährdeten Zeugen entfällt folglich auch die Angabe der ladungsfähigen Anschrift. Begründet wird die Änderung mit dem besseren Schutz der persönlichen Daten des Zeugen.2 In den weitaus meisten Fällen sei es nicht erforderlich, dass der Angeschuldigte die Wohnanschrift des Zeugen kenne. Sollte dies im Einzelfall zum Zwecke der Glaubwürdigkeitsüberprüfung erforderlich sein, könne er diese im Wege der Akteneinsicht in Erfahrung bringen.3 Die Unterdrückung der Wohnanschrift im neuen Satz 3 dürfte freilich nicht nur dem Schutz der Daten, sondern vielmehr der wichtigeren Rechtsgüter des Zeugen wie Gesundheit, Leben, Eigentum dienen, indem möglichen Gefährdungen oder Belästigungen vorgebeugt wird. Der ausdrückliche Verzicht auf die Angabe der Wohnanschrift ist zu begrüßen,4 weil 2 zum einen durch die nun erfolgte legislative Klarstellung ein Desiderat erfüllt wird,5 indem die bisherigen Unsicherheiten, ob nur der Ort oder auch die Adresse anzugeben ist, wegfallen, zum anderen die unnötige Exposition der Zeugen, insbesondere der Opferzeugen, vermieden wird, womit auch eine Steigerung der Aussagebereitschaft in Fällen unterhalb einer Gefährdung im Sinne von § 68 Abs. 2 Satz 1 verbunden sein mag. Eine Minderung der Verteidigungsrechte ist nicht zu besorgen, weil die Kenntnis der
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BTDrucks. 16 12812 S. 12. BTDrucks. 16 12812 S. 12; 16 13671 S. 21. BTDrucks. 16 13671 S. 21. So wohl auch Graf/Ritscher 16; SK/Paeffgen
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5
16a; a.A. Radtke/Hohmann/Reinhart 14 (wegen Pauschalität missglückt). Dazu LR/Stuckenberg HW § 200, 40 Fn. 152.
Carl-Friedrich Stuckenberg
Vierter Abschnitt. Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens
Nachtr. § 201 StPO
Adresse für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung ohnehin praktisch bedeutungslos ist,6 jedenfalls aber im Wege der Akteneinsicht leicht erlangt werden kann. Wegen der letztgenannten Möglichkeit beschränkt sich der mit dem neuen Satz 3 zu erzielende Zeugenschutz allerdings auch darauf, die zur Belästigung von Zeugen erforderliche Anstrengung geringfügig7 zu erhöhen, was gleichwohl durchaus effektvoll sein kann. Es ist jedenfalls angemessen und entspricht der Verantwortung des grundrechtsgebundenen Staates, den Bürger, der seine Zeugenpflicht erfüllt, möglichen Angriffen nicht zu leicht preiszugeben. Der neue Satz 4 bringt eine nötige Folgeänderung. Bisher brauchte in den Situationen 3 des § 68 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 nur die ladungsfähige Anschrift angegeben zu werden, was nach der generellen Beschränkung auf die Ortsangabe im neuen Satz 3 nicht mehr stimmig wäre. Die neue Beschränkung auf die Namensangabe rückt das Verhältnis zum Normalfall der Zeugenbenennung wieder zurecht.
§ 201 (1) 1… 2Die Anklageschrift ist auch dem Nebenkläger und dem Nebenklagebefugten, der dies beantragt hat, zu übersenden; § 145a Absatz 1 und 3 gilt entsprechend. (2) …
Änderung. Art. 1 Nr. 21 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz) vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2280) hat an den ersten Absatz des § 201 einen Satz 2 angehängt. Zweck der Änderung ist die Verbesserung der Stellung des Nebenklägers bzw. Neben- 1 klagebefugten.1 Zuvor bestand nach überwiegender Ansicht keine Verpflichtung, dem Nebenkläger die Anklageschrift von Amts wegen zu übermitteln,2 auch wenn dies zulässig war, so dass der Nebenkläger oft erst mit der Ladung zum Hauptverhandlungstermin von der Tatsache der Anklageerhebung erfuhr. Vom Inhalt der Anklageschrift konnte er nur durch Akteneinsicht seines anwaltlichen Beistands Kenntnis erlangen, obwohl er vielfach erst dadurch in den Stand gesetzt wurde, sachgerecht zum Verfahren Stellung beziehen und ggf. Beweisanträge zur Hauptverhandlung stellen zu können. Zu diesem Zeitpunkt war zumeist der wesentliche Teil der Terminsvorbereitung durch das Gericht bereits abgeschlossen, folglich eine angemessene Berücksichtigung etwaiger Anregungen des Nebenklägers möglicherweise mit Schwierigkeiten verbunden. Außerdem konnte auch der Nebenklagebefugte, der im Vorverfahren noch keine Entscheidung über den Anschluss treffen wollte, häufig erst nach Kenntnisnahme der Anklageschrift und der sich aus ihr ergebenden Bewertung der Sach- und Rechtslage durch die Staatsanwaltschaft sachgerecht beurteilen, ob er sich der Klage anschließen und anwaltlich beraten oder vertreten lassen sollte. Die Pflicht zur Übersendung der zugelassenen Anklageschrift
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Graf/Ritscher 16; LR/Stuckenberg HW § 200, 40 Fn. 154; SK/Paeffgen 16a; a.A. Radtke/ Hohmann/Reinhart 14. Für effektiveren Schutz, etwa durch Videovernehmung, daher SK/Paeffgen 16a.
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BTDrucks. 16 12098 S. 28. LR/Stuckenberg HW § 201, 16; SK/Paeffgen 6, jew. m.w.N.
Carl-Friedrich Stuckenberg
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§ 202a StPO Nachtr.
Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
zum frühestmöglichen Zeitpunkt, nämlich bei Zustellung an den Angeschuldigten, ermöglicht dem Nebenkläger und Nebenklagebefugten nunmehr eine bessere Wahrnehmung ihrer prozessualen Rechte. Dem Nebenkläger ist die Anklageschrift bei Zustellung an den Angeschuldigten stets 2 zu übermitteln, dem Nebenklagebefugten jedoch nur dann, wenn er dies ausdrücklich beantragt hat. Soweit der Nebenkläger oder Nebenklagebefugte anwaltlich vertreten ist, kann die Übermittlung auch an den Vertreter erfolgen, wie die Anordnung der entsprechenden Anwendung des § 145a Absatz 1 und 3 ergibt.
§ 202a 1Erwägt
das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens, kann es den Stand des Verfahrens mit den Verfahrensbeteiligten erörtern, soweit dies geeignet erscheint, das Verfahren zu fördern. 2Der wesentliche Inhalt dieser Erörterung ist aktenkundig zu machen.
Schrifttum. Siehe im Hauptwerk bei § 257c.
Entstehungsgeschichte. Die Vorschrift wurde durch Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2353) eingefügt.1
1
1. Bedeutung der Vorschrift. Die Einführung der Verständigung über das Verfahrensergebnis in § 257c wurde durch eine Reihe von Normen flankiert, die die Aufnahme von Erörterungen des Verfahrensstandes nicht nur, aber insbesondere mit dem Ziel einer einverständlichen Verfahrensbeendigung erlauben. Dem Staatsanwalt wird dies in § 160b gestattet, dem Gericht im Zwischenverfahren in § 202a, im Hauptverfahren in §§ 212, 257b.2 Zu den Zielen des „transparenten Verfahrensstils“ und der Vermeidung des Vorwurfs der Befangenheit s. die Erl. im HW zu § 257b, 2, 11. Die Problematik der Vorschrift liegt darin, dass hiermit die Sachentscheidung aus der Hauptverhandlung sichtbar herausverlagert wird, wenn es zu einer Verständigung kommt, deren Inhalt schon im Zwischenverfahren (wenn auch rechtlich unverbindlich) festgelegt und in der Hauptverhandlung dann nur noch vollzogen wird. Dass ein solches Urteil nicht aus dem „Inbegriff der Hauptverhandlung“ geschöpft sein kann, wie § 261 es verlangt, sondern nur aus den Akten, liegt auf der Hand.3
2
2. Beteiligte. Die Erörterungen finden zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten statt. Gericht bezeichnet in dieser Phase des Verfahrens nur die Berufsrichter.4 Die Übertragung solcher Anbahnungsgespräche auf nur einen beauftragten Richter, regelmäßig den Vorsitzenden, wird überwiegend für zulässig gehalten,5 zumal nur dann, wenn „feste
1 2 3
Zur Gesetzgebungsgeschichte Niemöller/ Schlothauer/Weider 1 ff. BTDrucks. 16 12310 S. 12. Vgl. BVerfG NJW 2013 1058, 1063, 1071; HW § 257c, 10, 13.
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BTDrucks. 16 12310 S. 12; Graf/Ritscher 7; Meyer-Goßner 4. BGH StV 2011 202 mit insoweit zust. Anm. Schlothauer 205; Meyer-Goßner 4; krit. SK/Paeffgen 31; a.A. KMR/Seidl 14.
Carl-Friedrich Stuckenberg
Vierter Abschnitt. Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens
Nachtr. § 202a StPO
Vereinbarungen“ getroffen würden,6 alle Richter des Spruchkörpers beteiligt sein müssten. Dem ist zu widersprechen, denn nur ein Richter einer Strafkammer oder eines Strafsenats ist nicht „das Gericht“7 und „feste Vereinbarungen“ können im Rahmen des § 202a ohnehin nicht getroffen8 werden. Unter Verfahrensbeteiligten versteht der Gesetzgeber die Personen und Stellen, die 3 nach dem Gesetz eine Prozessrolle ausüben, d.h. durch eigene Willenserklärungen im prozessualen Sinn gestaltend als Prozesssubjekt mitwirken müssen oder dürfen; wer davon umfasst ist, sei für jeden Verfahrensabschnitt gesondert zu bestimmen.9 Zu den Verfahrensbeteiligten im Sinne des § 202a zählen demnach der Angeschuldigte und sein Verteidiger, der Staatsanwalt, in Steuerstrafverfahren auch die Finanzbehörde. Nebenklagebefugte Personen gehören nur dazu, wenn sie zu diesem Verfahrenszeitpunkt schon ihren Anschluss erklärt haben,10 nicht dazu zählen der Verletzte, Zeugen, Sachverständige und sonstige Dritte.11 In welcher Reihenfolge das Gericht die Erörterungen führt und wen es zur gleichen Zeit hinzuzieht, steht in seinem Ermessen.12 Gespräche nur mit einzelnen Beteiligten können jedoch den Eindruck der Parteilichkeit erwecken und sollten daher die Ausnahme bleiben;13 in jedem Fall sind zumindest andere Mitangeschuldigte darüber unverzüglich zu informieren.14 Schließlich verbietet es sich, Gespräche über die Möglichkeit einer Verständigung allein mit einem unverteidigten Angeschuldigten zu führen.15 3. Voraussetzung der Erörterung ist, dass das Gericht die Eröffnung des Hauptverfah- 4 rens erwägt und dass die Erörterungen „geeignet erscheinen, das Verfahren zu fördern“. Das Gericht muss also noch nicht entschlossen sein, das Hauptverfahren zu eröffnen; es darf lediglich nicht entschlossen sein, die Eröffnung abzulehnen, zumal dann Erörterungen ohnehin gegenstandslos sind und nach § 204 zu verfahren ist.16 Solange das Gericht noch unentschieden ist, können Erörterungen mit den Beteiligten nützlich sein.17 Ist das Gericht allerdings der Auffassung, dass die Hauptverhandlung vor einem anderen Gericht stattfinden müsste (§§ 209, 209a), dürften Erörterungen kaum sinnvoll sein.18 Zu den das Verfahren fördernden Ergebnissen einer Erörterung kann nicht nur die allseitige Absicht einer Verständigung, sondern auch die Klarstellung, dass derzeit keine konsensuale Verfahrensgestaltung erreichbar ist, gehören.19 Sind die Voraussetzungen erfüllt,
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Meyer-Goßner 4. A.A. Schlothauer StV 2011 205. Dass die Gesetzesbegründung stets vermerkt, ob die Schöffen bei den Erörterungen nach §§ 202a, 212, 257b dabei sein müssen, BTDrucks. 16 12310 S. 12 f., spricht eher dagegen, den Terminus „Gericht“ nur als „Funktionseinheit“ aufzufassen, für die ohne weiteres der Vorsitzende oder ein anderer ermächtigter Richter handeln könnte. Unten Rn. 7; zutr. Niemöller/Schlothauer/ Weider 17. BTDrucks. 16 12310 S. 11. BTDrucks. 16 12310 S. 11. BTDrucks. 16 12310 S. 11 f.; KMR/Seidl 13. BTDrucks. 16 12310 S. 12 (zu § 160b); Graf/Ritscher 5; KMR/Seidl 11; Meyer-Goß-
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ner 1; Niemöller/Schlothauer/Weider 15; Radtke/Hohmann/Reinhart 3. Meyer-Goßner 1. Vgl. BGH StV 2009 393; 2011 72; 2012 393; Meyer-Goßner 1; Schlothauer StraFo 2011 487, 492. Niemöller/Schlothauer/Weider 18. Graf/Ritscher 6; KMR/Seidl 4; Meyer-Goßner 3; Niemöller/Schlothauer/Weider 9; Radtke/Hohmann/Reinhart 3; SK/Paeffgen 29. Meyer-Goßner 3; Niemöller/Schlothauer/ Weider 10 ff. Radtke/Hohmann/Reinhart 6 hält sie für möglich unter Einbeziehung des anderen Gerichts (zweifelhaft). OLG Nürnberg StV 2011 750 f.
Carl-Friedrich Stuckenberg
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§ 202a StPO Nachtr.
Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
liegt es gleichwohl im Ermessen des Gerichts,20 ob es Erörterungen führen will, die auch von Verfahrensbeteiligten vorgeschlagen werden können; ein Anspruch21 darauf besteht nicht.
5
4. Ablauf. Zur gleichmäßigen Heranziehung der Beteiligten s. Rn. 2. Die Erörterungen dürfen weder erhebliche Teile des Ermittlungsverfahrens nachholen noch zu einem Anhörungstermin im Zwischenverfahren ausarten.22 Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung soll der Erörterungstermin so gestaltet sein, dass im Anschluss daran über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden und Termin anberaumt werden kann.23
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5. Der Gegenstand der Erörterungen ist mit „Stand des Verfahrens“ bewusst weit gefasst und soll natürlich der Auslotung der Möglichkeit einer Verständigung dienen, aber ebenso auch Fragen betreffen, die für das Eröffnungsverfahren relevant sind oder die Strukturierung des Hauptverfahrens fördern,24 wobei sich fragt, ob über die beiden letztgenannten Themenkreise bisher noch nicht gesprochen werden durfte25. Erörterungen einer Verfahrenseinstellung nach §§ 153 ff. waren auch zuvor schon nach diesen Normen möglich.26 Die gesetzliche Verankerung der Erörterungen kann freilich einen Vorwurf der Befangenheit des Gerichts wegen ihrer Form oder ihres Inhalts nicht ausschließen, s. HW § 257b, 11.27 Die Gespräche haben nur informatorischen Charakter und lösen selbst keine Bin7 dungswirkung aus, die § 257c vorbehalten bleibt,28 und können auch keinen Vertrauenstatbestand schaffen, aus dem eine Bindung hergeleitet werden könnte.29 Allerdings kann es aus Gründen des fairen Verfahrens und der Fürsorgepflicht geboten sein, den Angeklagten auf ein beabsichtigtes Abweichen von früheren Ankündigungen hinzuweisen, sofern dies sein Verteidigungsverhalten beeinflussen kann.30
8
6. Der wesentliche Inhalt der Erörterungen ist aktenkundig zu machen, um die Einhaltung der gesetzlichen Regeln über die Verständigung zu dokumentieren31 und den schädlichen Eindruck der Heimlichkeit zu vermeiden sowie Streit über Ob und Wie der Gespräche32 zu verhindern. Zum wesentlichen Inhalt gehören stets Themen, Teilnehmer und Ergebnisse der Erörterungen,33 im Falle avisierter Verständigung auch deren Inhalt, vgl. die Erläuterungen zu § 160b; HW § 273, 32. Wenn die Erörterung eine Verständigung betraf, muss der Vorsitzende dies außerdem 9 in der Hauptverhandlung gem. § 243 Abs. 4 Satz 1 mitteilen; diese Mitteilung ist zu protokollieren, § 273 Abs. 1a Satz 2. Ein „Negativattest“, dass keine Erörterungen im Zwischenverfahren stattgefunden haben, verlangt das Gesetz nicht.34 20 21 22
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Graf/Ritscher 3; Niemöller/Schlothauer/ Weider 13; Radtke/Hohmann/Reinhart 3. KMR/Seidl 9; SK/Paeffgen 34; vgl. LR/Stuckenberg HW § 257b, 6 m.w.N. Graf/Ritscher 6; KMR/Seidl 7; Meyer-Goßner 3; Radtke/Hohmann/Reinhart 4; vgl. LR/Stuckenberg HW § 202, 4; skeptisch SK/Paeffgen 30. OLG Nürnberg StV 2011 750 f.; KMR/ Seidl 3; Meyer-Goßner 2. BTDrucks. 16 12310 S. 12; eingehend Niemöller/Schlothauer/Weider 10 ff. Vgl. SK/Paeffgen 27. Graf/Ritscher 4.
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Vgl. SK/Paeffgen 37. Ein Negativbeispiel schildert Salditt FS DAV 794 ff. Vgl. BGH StV 2012 392 f. BGH StV 2010 673; 2011 74; 2011 645 f. m.w.N.; KMR/Seidl 11a; Meyer-Goßner 2; Niemöller/Schlothauer/Weider 22. BGH NJW 2011 3463, 3464; MeyerGoßner 2. Graf/Ritscher 8; KMR/Seidl 15; Radtke/Hohmann/Reinhart 7. Vgl. BTDrucks. 16 12310 S. 12 (zu § 160b). Vgl. Niemöller/Schlothauer/Weider § 160b, 23 f.; SK/Paeffgen 40. KMR/Seidl 16.
Carl-Friedrich Stuckenberg
FÜNFTER ABSCHNITT Vorbereitung der Hauptverhandlung § 212 Nach Eröffnung des Hauptverfahrens gilt § 202a entsprechend. 1. Änderung. Die Vorschrift wurde durch Art. 1 des Gesetzes zur Regelung der Ver- 1 ständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009 (BGBl. I 2009, S. 2353) mit Wirkung vom 4.8.2009 in die Strafprozessordnung eingefügt.1 2. Gründe. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „Diese Vorschrift transferiert 2 den Inhalt des § 202a auch in das Stadium nach Eröffnung des Hauptverfahrens. Da der 5. Abschnitt ‚Vorbereitung der Hauptverhandlung‘ nicht ausdrücklich auf das Stadium vor dem ersten Hauptverhandlungstermin beschränkt ist, gilt diese Vorschrift auch für Erörterungen, die nach Beginn der Hauptverhandlung, aber außerhalb dieser stattfinden“.2 In der Literatur wird hierzu teilweise die Auffassung vertreten, dass die Funktion der Vorschrift nur in zweiter Linie darin bestehe, zu Vorgesprächen zu ermächtigen (§ 212 i.V.m. 202a Satz 1), während sie primär darauf abziele, den wesentlichen Inhalt dieser Gespräche aus Gründen der Verfahrensklarheit aktenkundig zu machen (§ 212 i.V.m. 202a Satz 2).3 Noch weitergehend wird sogar bezweifelt, dass es einer Ermächtigung zu verfahrensfördernden Erörterungen in diesem Stadium überhaupt bedurft hätte, weil die Berechtigung zur Verfahrensbeendigung durch Absprache deren Vorbereitung außerhalb der Hauptverhandlung mit einschließe.4 Jedoch ist diese Auffassung insofern problematisch, als der Gesetzgeber sich zur Regelung der Möglichkeiten einer Vorbereitung von Verfahrensabsprachen gerade deshalb entschlossen hat, weil er Einzelheiten des Konsensualverfahrens rechtsstaatlich absichern und auf diese Weise dem Vorbehalt des Gesetzes Rechnung tragen wollte. Vor diesem Hintergrund ist die gesetzgeberische Klarstellung zu begrüßen, dass auch in frühen Verfahrensstadien bereits auf eine einverständliche Verfahrensbeendigung hingewirkt werden kann. Denn gerade angesichts der mit Verfahrensabsprachen einhergehenden Gefahr einer Verkürzung der Wahrheitsermittlung ist die gesetzgeberische Entscheidung, dass auf Absprachen zielende Erörterungen frühzeitig erfolgen können, keine Selbstverständlichkeit. Dies gilt umso mehr, als es im Schrifttum immer wieder explizite Einwände gegen übereilte abspracheorientierte Erörterungen gegeben hat.5 Bedenken dieser Art ist der Gesetzgeber nunmehr durch die
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Näher zur Entstehungsgeschichte Niemöller/ Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, S. 223 ff.; Murmann ZIS 2009 526 ff. Kritisch zur Rechtsprechungsentwicklung auf der Grundlage der Neuregelung Knauer/Lickleder NStZ 2012 366 ff.
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Vgl. BTDrucks. 16 12310, S. 11. SK/Deiters 3. SK/Deiters 2; vgl. auch Jahn/Müller NJW 2009 2627 m.w.N. Vgl. nur Schünemann FS Rieß 543; Weigend NStZ 1999 59.
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§ 212 StPO Nachtr.
Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
§§ 160b, 202a, 212 entgegengetreten.6 Insofern handelt es sich bei den §§ 160b, 202a, 212 und 257b um panoramahaft miteinander verbundene Vorschriften, „die nicht zuletzt darauf zielen, dass sich die Verfahrensbeteiligten nicht voneinander abschotten, sondern da, wo es für das Verfahren geeignet erscheint, eine gemeinsame Aussprache suchen“.7
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3. Einzelheiten. Das Gesetz bezeichnet mit dem Ausdruck „Vorbereitung der Hauptverhandlung“ (§§ 212–225a) den Inbegriff all derjenigen Handlungen des Gerichts, der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten und ggfls. des Nebenklägers,8 welche in den Zeitraum zwischen dem Erlass der das Hauptverfahren eröffnenden Entscheidung und dem Beginn der Hauptverhandlung selbst fallen.
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a) Mit Einführung der Verständigung als gesetzlich normierter Möglichkeit der Verfahrensbeendigung war es nur folgerichtig in den sechsten Abschnitt eine Norm aufzunehmen, die die Möglichkeit der Vorbereitung einer konsensualen Verfahrensbeendigung zwischen den Verfahrensbeteiligten anordnet. § 212 soll daher gewährleisten, dass außerhalb der Hauptverhandlung Gespräche mit dem Ziel einer Urteilsabsprache geführt werden können, um frühzeitig klären zu können, ob zur Beschleunigung der Hauptverhandlung eine Verständigung in Frage kommt. § 243 Abs. 4 ist insoweit zu entnehmen, „dass die Erörterungen zur Verfahrensförderung im Stadium des Zwischenverfahrens und des Hauptverfahrens bereits auf eine Verständigung zielen können, ohne dass dies explizit in §§ 202a, 212 StPO zum Ausdruck kommt“.9 Dabei lässt § 212 i.V.m. § 202a nicht nur (persönliche oder fernmündliche10) Gespräche zwischen den Verfahrensbeteiligten über ihre Verständigungsbereitschaft zu, sondern es können auch bereits die Konditionen, unter denen eine Absprache stattfinden soll, vorab erörtert werden. Sofern in den Vorgesprächen der Wille zur Erledigung des Strafverfahrens im Wege der Urteilsabsprache von allen Verfahrensbeteiligten signalisiert wurde, besteht die Möglichkeit, nach Verlesung der Anklage und der Mitteilung des Vorsitzenden über die Erörterungen (vgl. § 243 Abs. 4 Satz 1) das Abspracheverfahren in der Hauptverhandlung in Gang zu setzen. Auf diese Weise kann durch das Gespräch vor Beginn der Hauptverhandlung die spätere Hauptverhandlung als solche erheblich verkürzt werden.11 § 212 ist im Übrigen nicht nur im Zeitraum vor der eigentlichen Hauptverhandlung 5 anwendbar. Vielmehr hat er auch „nach Beginn der Hauptverhandlung für die Abschnitte zwischen einzelnen Verhandlungstagen und für die Zeit nach einer ausgesetzten Hauptverhandlung und vor dem neuen Hauptverhandlungstermin“ Gültigkeit,12 da
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Dies bedeutet freilich nicht, dass der Streit um die Berechtigung früher Verfahrensabsprachen damit beendet wäre, vgl. nur SK/Paeffgen § 212, 6. BTDrucks. 65 09, S. 9; vgl. auch Radtke/ Homann/Britz 3. Vgl. im Übrigen Fromm NJW 2012 2939 sowie ders. NZV 2010 550 zur Anwendbarkeit der §§ 160b, 202a, 212 im Bußgeldverfahren über §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG. Vgl. aber näher zum Nebenkläger als möglichem Verfahrensbeteiligten im Sinne der §§ 202a, 212 bei Jahn/Müller NJW 2009 2627. Vgl. dazu Murmann ZIS 2009 530 unter
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Hinweis auf RegE vom 18.3.2009, BTDrucks. 16 12310, S. 9. Jahn/Müller NJW 2009 2627. Vgl. insoweit auch OLG Nürnberg StV 2011 750, wonach der Erörterungstermin ohnehin so zu gestalten ist, dass im Anschluss umgehend über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden und die Hauptverhandlung anberaumt werden kann. Siehe dazu auch den Vorschlag des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer vom September 2005 (BRAK-Stellungnahme-Nr. 25/2005 zu Art. 1 Nr. 1). Vgl. RegE vom 18.3.2009, BTDrucks. 16 12310; Meyer-Goßner 1; Graf/Ritscher 1;
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Fünfter Abschnitt. Vorbereitung der Hauptverhandlung
Nachtr. § 212 StPO
§ 212 die Vorschrift des § 202a nach Eröffnung des Hauptverfahrens ohne zeitliche Limitierung für entsprechend anwendbar erklärt und mit ihm daher trotz seiner systematischen Stellung keine Geltungsbeschränkung auf den Zeitraum der Vorbereitung der Hauptverhandlung verbunden ist. Das Urteil des BVerfG vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10,13 das sich mit der Ver- 6 fassungskonformität der Absprachen im Strafprozess befasst, hat keine Auswirkungen auf § 212. Das BVerfG hat zwar darauf hingewiesen, dass informelle Absprachen ausgeschlossen sind.14 Dies ändert jedoch nichts an der grundsätzlichen Zulässigkeit von Vorerörterungen im Sinne von §§ 212 i.V.m. 202a. Das BVerfG greift die Gesetzesbegründung15 auf, wonach auch außerhalb der Hauptverhandlung Gespräche über die Möglichkeit und Umstände einer Verständigung geführt werden können.16 Die Absprache selbst kann jedoch nur in der Hauptverhandlung unter Berücksichtigung der materiell- und formalrechtlichen Voraussetzungen des § 257c getroffen werden.17 Insbesondere ist zu beachten, dass die Verständigung niemals als solche Grundlage des Urteils sein kann, sondern weiterhin allein und ausschließlich die – ausreichend fundierte – Überzeugung des Gerichts von dem von ihm festzustellenden Sachverhalt maßgeblich bleibt.18 Das Gericht hat die materielle Wahrheit zu erforschen und sich im Wege eigener Sachverhaltsaufklärung von der Richtigkeit eines Geständnisses zu überzeugen.19 Zudem sind vielfältige Transparenz- und Dokumentationspflichten sowie die nach § 257c Abs. 5 erforderliche Belehrung einzuhalten.20 Im hier interessierenden Zusammenhang trägt diesem Transparenz- und Dokumentationsgebot § 212 i.V.m. § 202a S. 2 auch außerhalb der Hauptverhandlung Rechnung (näher dazu Rn. 9 f.). Allerdings können sondierende Äußerungen des Vorsitzenden nicht ohne Weiteres als 7 Erörterungen des Gerichts21 i.S.d. §§ 202a, 212 verstanden werden. Zu berücksichtigen ist insoweit, dass das Gesetz zwischen den Aufgaben des Gerichts (§§ 202a, 212) und des Vorsitzenden (§ 243 Abs. 4) unterscheidet.22 Zwar muss an den Erörterungen gemäß §§ 202a, 212 das Gericht nicht immer in der vollen Besetzung teilnehmen, sondern es kann sich auch über eines seiner Mitglieder, in der Regel durch den Vorsitzenden als beauftragten Richter,23 äußern. Dann aber muss gewährleistet sein und auch nach außen deutlich werden, dass den Äußerungen des Vorsitzenden eine entsprechende aktenkundig zu machende (§ 202a Abs. 2) und in der Hauptverhandlung nach Verlesung des Anklagesatzes mitzuteilende (§ 243 Abs. 4 Satz 1) Beratung bzw. ein ausdrücklicher Auftrag
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BeckOK/Ritscher 1; Schlothauer/Weider StV 2009 601 m. Fn. 29; Krekeler/Löffelmann/ Sommer (AnwK) § 212. BVerfG NJW 2013 1058 mit Bespr. Beulke/ Stoffer JZ 2013 662; Caspari DRiZ 2013 160; Fezer HRRS 2013 117; Heintschel-Heinegg JA 2013 474; Jahn JuS 2013 659; Knauer NStZ 2013 433; König/Harrendorf AnwBl 2013 321; Kudlich NStZ 2013 379; Leipold NJW-Spezial 2013 248; Leitner DRiZ 2013 162; Löffelmann JR 2013 333; Meyer NJW 2013 1850; Mosbacher NZWiSt 2013 201; Neumann NJ 2013 240; Niemöller StV 2013 420; Scheinfeld ZJS 2013 296; Stuckenberg ZIS 2013 212; Trück ZWH 2013 169; Tsambikakis ZWH 2013 209; Weigend StV 2013 424; Wußler DRiZ 2013 161.
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BVerfG NJW 2013 1064. BTDrucks. 16 12310, S. 9, 12. BVerfG NJW 2013 1065. BVerfG NJW 2013 1065. Vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, BTDrucks. 16 12310, S. 13. BVerfG NJW 2013 1063. Eingehend zu den Voraussetzungen der Absprache vgl. SK/Velten, § 257c, 9. Mit „Gericht“ meinen die §§ 202a, 212 nur die Berufsrichter, vgl. Jahn/Müller NJW 2009 2627. BGH NStZ 2011 593. BGH NStZ 2011, 592 m. Anm. Schlothauer StV 2011 203; a.A. KMR/Seidl 202a, 14.
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Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
des Gerichts zugrunde liegt.24 In der Hauptverhandlung gem. § 243 Abs. 4 mitteilungspflichtige Erörterungen des Gerichts mit den Verfahrensbeteiligten gem. §§ 202a, 212 sind daher nur solche, die seitens des Gerichts in voller Besetzung oder durch eines seiner Mitglieder stattfinden, das hierzu nach entsprechender Beratung ausdrücklich beauftragt wurde.25 Im Übrigen ist aus Transparenzgründen grundsätzlich die Kontaktaufnahme mit allen Verfahrensbeteiligten empfehlenswert.26 Insbesondere gilt dies bei Verfahren, die sich gegen mehrere Angeklagte richten, da hier Einzelgespräche mit dem Verteidiger eines einzelnen Angeklagten leicht die Besorgnis der Befangenheit begründen können.27 Zu beachten ist, dass Gespräche nach §§ 212, 202a keinerlei formelle Bindung des 8 Gerichts auslösen, etwa bezüglich in Aussicht gestellter Strafober- oder -untergrenzen.28 Auch ein telefonischer Hinweis des Strafkammervorsitzenden, der Angeklagte könne im Falle eines Geständnisses mit einer Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung rechnen, führt weder zu einer Bindung der Strafkammer, noch vermag er ein Vertrauen des Angeklagten dahingehend zu begründen, dass von dieser Einschätzung der Bewährungsfrage nicht ohne Erteilung eines entsprechenden Hinweises abgewichen werde.29 Verbindliche Absprachen können vielmehr prinzipiell erst in der Hauptverhandlung mit Zustimmung der Schöffen getroffen werden.30 Freilich darf aus dieser fehlenden formellen Bindungswirkung nicht auf die Bedeutungslosigkeit von Erörterungen nach §§ 202a, 212 geschlossen werden, da sie sowohl für die Verfahrensbeteiligten als auch für ein Revisionsverfahren relevant werden können.31 Dies ist auch der Grund dafür, dass der Gesetzgeber die Verpflichtung geschaffen hat, den Inhalt der Erörterungen aktenkundig zu machen (vgl. dazu sogleich).
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b) § 212 verweist vollständig auf § 202a und statuiert damit auch die Pflicht, den wesentlichen Inhalt der vor Beginn der Hauptverhandlung geführten Gespräche aktenkundig zu machen,32 und zwar vorzugsweise durch einen zu den Akten gebrachten Vermerk.33 Die Pflicht, die Gespräche aktenkundig zu machen, hat zum Ziel, dass die Mitteilung des wesentlichen Inhalts in der Hauptverhandlung nach Verlesung der Anklage erleichtert wird. Dies kann gegebenenfalls auch durch bloße Verlesung des Vermerks geschehen.34 Auf diese Weise erhalten Personen, die nicht an den Gesprächen teilgenommen haben, jederzeit einen zuverlässigen Einblick. Die Bestimmung hat daher Transparenz- und Informationsfunktion und dient damit vor allem auch dem Schutz des Angeklagten.35 Von Bedeutung ist diese Transparenz- und Informationsfunktion etwa dann,
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BGH aaO. BGH aaO. Zutreffend Knauer/Lickleder NStZ 2012 370. Vgl. BGH StV 2010 72; Niemöller NZWiSt 2012 290 m.w.N. Vgl. BGH StV 2011 74; 645; 728; BGH NStZ 2011 107. Vgl. einerseits BGH NStZ-RR 2012 148 und andererseits BGH NJW 2011 3463, wo eine solche Verpflichtung zur Erteilung eines Hinweises nicht ausgeschlossen wurde. Näher Meyer-Goßner 202a, 4; ders. § 257c, 23. Zutreffend Schlothauer/Weider StV 2009 603.
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Allgemein kritisch hierzu Fischer StraFo 2009 186. Jahn/Müller NJW 2009 2627. Vgl. auch Leipold NJW-Spezial 2009 520. Vgl. hierzu den Vorschlag des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer vom September 2005 (BRAK-StellungnahmeNr. 25/2005 zu Art. 1 Nr. 1). Vgl. hierzu auch SK/Deiters 3 unter Hinweis auf Schlothauer, in: Niemöller/Schlothauer/ Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, § 212, 7 i.V.m. § 160b, 24; ebenso Schlothauer/Weider StV 2009 603. Vgl. auch Jahn/Müller NJW 2009 2626.
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Fünfter Abschnitt. Vorbereitung der Hauptverhandlung
Nachtr. § 214 StPO
wenn der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft nicht identisch mit dem Vertreter der Staatsanwaltschaft ist, der die Gespräche geführt hat. Gleiches gilt im Falle eines Verteidigerwechsels bzw. für Verfahrensbeteiligte, die an den Gesprächen aus sonstigen Gründen nicht teilgenommen haben. Da der Vorsitzende nach § 243 Abs. 4 Satz 2 verpflichtet ist, auch nach Beginn der Hauptverhandlung mitzuteilen, wenn es außerhalb der Hauptverhandlung zu Gesprächen gekommen ist, die eine mögliche Verständigung zum Inhalt hatten, hat die Verpflichtung, diesbezügliche Gespräche außerhalb der Hauptverhandlung aktenkundig zu machen, eine besondere Bedeutung. Denn „erfahrungsgemäß entsteht die Bereitschaft des Gerichts bzw. der Verfahrensbeteiligten, eine Hauptverhandlung im Wege einer Verständigung zu beenden, vielfach erst während der Hauptverhandlung, wenn sich dort unerwartete Komplikationen oder Änderungen im Zusammenhang mit der Rechts- oder Sachbeurteilung oder der Verfahrensgestaltung ergeben. Erörterungen über die Möglichkeit und Umstände einer Verständigung finden in solchen Situation häufig zunächst außerhalb der Hauptverhandlung und regelmäßig ohne Beteiligung von Schöffen und Angeklagten statt. Sowohl aus Gründen der Transparenz als auch zum Schutz des Angeklagten ist der Inhalt dieser Erörterungen unverzüglich aktenkundig zu machen und nach Fortsetzung der Hauptverhandlung öffentlich mitzuteilen.“36 Auch bei einem Wechsel des Spruchkörpers oder des Vorsitzenden kann die Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 leichter erfüllt werden, wenn zuvor die Pflicht besteht, den Inhalt der Gespräche außerhalb der Hauptverhandlung aktenkundig zu machen. Kontrovers wird in der Literatur die Frage erörtert, ob die Pflicht zur Aktenkundig- 10 machung bei lediglich substanzlosen Erörterungen entfallen kann.37 Vor allem in Fällen, in denen die Vorgespräche ergebnislos verlaufen, wird gefordert, von einer Pflicht zur Aktenkundigmachung abzusehen, zumal es dann im Interesse des Angeklagten liegen könne, dass Gespräche dieser Art nicht bekannt werden.38 Dem ist jedoch zu widersprechen, da sich dem Gesetzestext für eine einschränkende Auslegung dieser Art keinerlei Anhaltspunkte entnehmen lassen.39 Im Gegenteil: Aus § 243 Abs. 4 Satz 1 ergibt sich, dass das „Ob“ von Vorerörterungen in jedem Fall aktenkundig zu machen ist, weil eine diesbezügliche Mitteilungspflicht in der Hauptverhandlung auch dann besteht, wenn die Gespräche ergebnislos verlaufen sind.40 Die in der Literatur vertretenen Einschränkungsansätze übersehen daher die transparenzbezogene Einbettung der §§ 212, 202a in die Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 1.
§ 214 (1) 1Die zur Hauptverhandlung erforderlichen Ladungen ordnet der Vorsitzende an. veranlasst er die nach § 397 Absatz 2 Satz 3 und § 406g Absatz 1 Satz 4, Absatz 2 Satz 2 erforderlichen Benachrichtigungen vom Termin; § 406d Absatz 3 gilt entsprechend. 3Die Geschäftsstelle sorgt dafür, dass die Ladungen bewirkt und die Mitteilungen versandt werden. 2Zugleich
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Schlothauer in: Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren § 212, 6. Vgl. dazu Bittmann wistra 2009 414; Kudlich, Gutachten C zum 68. Deutschen Juristentag, 2010, C 45.
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Näher Bittmann wistra 2009 414. Vgl. Leipold NJW-Spezial 2009, 521. Zutreffend Dießner StV 2011 43 unter Verweis auf Meyer-Goßner § 160, 8 und § 243, 18a.
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§ 222 StPO Nachtr.
Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
(2) … (3) … (4) …
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1. Änderung. § 214 Abs. 1 hat durch Art. 1 Nr. 22 des am 1.10.2009 in Kraft getretenen Zweiten Opferrechtsreformgesetzes vom 29.7.2009 (BGBl. I 2009, S. 2280, 2282) Änderungen erfahren, die auf Modifizierungen der Vorschriften im Bereich der Nebenklage zurückzuführen sind.1 § 214 Abs. 1 Satz 1 ist im Vergleich zur bisherigen Fassung unverändert geblieben. Geändert haben sich jedoch § 214 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3, in denen bislang geregelt war, in welchen Fällen Nebenklagebefugte von Hauptverhandlungsterminen zu benachrichtigen sind. Da diese Benachrichtigungspflicht nun in § 406g Abs. 1 Satz 4 geregelt ist, hat sich der Gesetzgeber zu einer entsprechenden Änderung veranlasst gesehen.
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2. Gründe. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „Soweit derzeit in § 214 Abs. 1 Satz 2 und 3 StPO geregelt ist, in welchen Fällen Nebenklagebefugte von Hauptverhandlungsterminen zu benachrichtigen sind, wird dies nunmehr durch § 406g Abs. 1 Satz 4 StPO-E bestimmt. Das erscheint sachgerecht, weil § 406g StPO-E auch die übrigen Rechte der Nebenklagebefugten regelt. Zudem wird dadurch auch ein systematischer Zusammenhang mit der Regelung der Ladung des Nebenklägers in § 397 Abs. 1 Satz 2 StPO-E hergestellt. § 214 Abs. 1 StPO kann damit wesentlich vereinfacht werden. Die bisherigen Sätze 2 bis 4 werden zu einem Satz 2 zusammengefasst; geregelt wird an dieser Stelle jetzt nur noch die formale Veranlassung der Terminsnachrichten, allerdings auch für die in § 397 Abs. 2 Satz 3 und § 406g Abs. 2 Satz 2 StPO-E (neu) geregelten Benachrichtigungen der anwaltlichen Beistände von Nebenklägern und Nebenklagebefugten.“2 Die Vereinfachung des § 214 Abs. 1 führt daher dazu, dass die einschlägigen Mitteilungspflichten im Zusammenhang mit den Regelungen der Nebenklage zu finden sind. Nebenklagebefugte haben daher nunmehr gemäß § 406g Abs. 1 Satz 4 eine Mitteilung vom Hauptverhandlungstermin zu erhalten, wenn sie dies beantragt haben. Auch ohne Antrag müssen die anwaltlichen Beistände der Nebenkläger oder Nebenklagebefugten gemäß §§ 397 Abs. 2 Satz 3 und 406g Abs. 2 Satz 2 eine solche Mitteilung erhalten.
§ 222 (1) 1Das Gericht hat die geladenen Zeugen und Sachverständigen der Staatsanwaltschaft und dem Angeklagten rechtzeitig namhaft zu machen und ihren Wohn- oder Aufenthaltsort anzugeben. 2Macht die Staatsanwaltschaft von ihrem Recht nach § 214 Abs. 3 Gebrauch, so hat sie die geladenen Zeugen und Sachverständigen dem Gericht und dem Angeklagten rechtzeitig namhaft zu machen und deren Wohn- oder Aufenthaltsort anzugeben. 3§ 200 Abs. 1 Satz 3 bis 5 gilt sinngemäß. (2) … 1
Vgl. zu den Änderungen der Vorschriften im Bereich der Nebenklage Barton JA 2009 753 ff.; Baumhöfener StraFo 2012 2 ff.; Bittmann ZRP 2009 112; ders. JuS 2010 221 f.; Bung StV 2009 430 ff.; Celebi ZRP 2009
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110 ff.; Hilger GA 2009 657 ff.; Schiemann KritV 2012 161 ff.; K. Schroth NJW 2009 2916 ff. Vgl. BTDrucks. 16 12098, S. 28 f.
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Fünfter Abschnitt. Vorbereitung der Hauptverhandlung
Nachtr. § 222 StPO
1. Änderung. Durch Art. 1 Nr. 23 des am 1.10.2009 in Kraft getretenen Zweiten 1 Opferrechtsreformgesetzes vom 29.7.2009 (BGBl. I 2009, S. 2280, 2282) wurde § 222 Abs. 1 Satz 3 StPO geändert. Statt bisher „§ 200 Abs. 1 Satz 3 und 4 gilt sinngemäß“ lautet der Wortlaut nunmehr „§ 200 Abs. 1 Satz 3 bis 5 gilt sinngemäß“. 2. Gründe. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: „Im Interesse des Zeugen- 2 schutzes sollte die Nichtaufnahme der ladungsfähigen Anschrift eines Zeugen in Anklageschriften, Strafbefehlen und Antragsschriften als ausdrückliche gesetzliche Regelung aufgenommen werden. Durch Angabe lediglich des Vor- und Zunamens eines Zeugen, seines Wohnorts, gegebenenfalls noch des Stadtbezirks sowie der Fundstellen der Vernehmungen und der Fundstelle der ladungsfähigen Anschrift in den Akten kann den Rechten von Angeschuldigten ausreichend Rechnung getragen werden“.1 3. Einzelheiten. Die Änderung entspricht einer Bitte des Bundesrats, im Verlauf des 3 Gesetzgebungsverfahrens zu prüfen, ob im Rahmen von § 200 Abs. 1 StPO-E eine Möglichkeit geschaffen werden kann, dass es in der Anklageschrift der Angabe der ladungsfähigen Anschrift der Zeugen nicht bedarf.2 Der Gesetzgeber hat diesem Wunsch in § 200 Abs. 1 Satz 3 bis 5 Rechnung getragen. Logische Folge dieser Änderung war daher eine Anpassung des § 222 Abs. 1 Satz 3 bezüglich der sinngemäßen Anwendung des § 200 Abs. 1 Satz 3 bis 5. Der Gesetzgeber hat sich damit zu einer längst überfälligen Regelung durchgerungen. Bisher waren die Beweispersonen mit ihrem Wohnort, d.h. grundsätzlich mit ihrer vollen Adresse eindeutig zu bezeichnen, damit sie identifizierbar waren und gegebenenfalls Erkundigungen über sie eingeholt werden konnten.3 Hingewiesen wurde in diesem Zusammenhang vor allem auch auf § 68 Abs. 2 Satz 1, in dem sich der Wortlaut „andere ladungsfähige Anschrift“ findet.4 Allerdings war diese Notwendigkeit insbesondere im Hinblick auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung seit jeher kontrovers diskutiert. So wurde zum Teil angenommen, dass eine genaue Angabe nur dann notwendig sei, wenn dies zur Identifizierung5 oder durch ein substantiiert geltend gemachtes Verteidigungsinteresse6 veranlasst sei. Einschränkungen dieser Art blieben jedoch stets unbefriedigend, weil sich ein besonderes Identifizierungs- bzw. Verteidigungsinteresse jederzeit ohne weiteres begründen ließ. Da der Gesetzgeber in § 222 die sinngemäße Anwendung des § 200 Abs. 1 Satz 3 bis 5 StPO anordnet, gilt auch für § 222 die Trennung von Wohnort und Anschrift. Nur der Wohn- oder Aufenthaltsort eines Zeugen ist anzugeben, nicht dagegen die Anschrift. Dass auf diese Weise der ursprünglich verfolgte Zweck – die mögliche Einholung von Erkundigungen – insbesondere bei größeren Gemeinden nicht mehr erfüllbar ist, ist hinzunehmen und entspricht der vom Gesetzgeber als vorrangig angesehenen Intention des Zeugenschutzes.7 Zu Recht weist auch Deiters8 darauf hin, dass die Angabe der Wohnanschrift nunmehr mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verstoßen würde. Gericht und Staatsanwaltschaft haben daher auf die Begren1 2 3
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BTDrucks. 16 12812, S. 12. Vgl. auch hierzu BTDrucks. 16 12812, S. 12. Vgl. hierzu bereits BGH StV 1990 197 m. Anm. Odenthal; OLG Stuttgart NStZ 1991 298; LR/Jäger § 222, 12; HK/Julius 6; AK/Keller 8; KK/Gmel 7. So vor allem KK/Gmel 7. Vgl. SK/Schlüchter 12. Ergänzungslieferung 1994, Rn. 4.
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Vgl. BGH NJW 1990 1126. Dazu auch BTDrucks. 16 12812, S. 12; allgemein auch Meyer-Goßner 9; HKGS/Schulz 2; Radtke/Hohmann 5; Graf/Ritscher 9. Vgl. zur vom Gesetzgeber beabsichtigten Stärkung des Zeugenschutzes auch SK/Paeffgen § 200, 1 u. 16a. SK/Deiters 5.
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§ 222 StPO Nachtr.
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zung der Mitteilungspflichten durch § 222 zu achten: „Die Angabe der Wohnanschrift des Zeugen darf deshalb nicht nur, sie muss unterbleiben, wenn die Beweisperson einer entsprechenden Mitteilung nicht ausdrücklich zugestimmt hat“.9 Der darüber hinausgehende Verweis in § 222 Abs. 1 S. 3 auf die sinngemäße Anwendung des § 200 Abs. 1 Satz 4 und 5 kann zu einer noch weitergehenden Einschränkung der Mitteilungspflichten führen. So beschränkt sich die Mitteilungspflicht bei Zeugen, die in amtlicher Eigenschaft vernommen werden sollen, nach § 222 i.V.m. §§ 200 Abs. 1 Satz 4, 68 Abs. 1 Satz 2 oder bei Gefährdung von Rechtsgütern des Zeugen oder anderer Personen bzw. bei Besorgnis der unlauteren Beeinflussung nach §§ 222 i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 4, 68 Abs. 2 Satz 1 auf die bloße Angabe des Vor- und Nachnamens der Zeugenperson, während auf die Mitteilung des Wohn- bzw. Aufenthaltsortes sowie auf die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift verzichtet werden kann.10 Die weitestgehende Beschränkung sieht nun § 222 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. §§ 200 Abs. 1 Satz 5, 68 Abs. 3 im Falle der Gefährdung von Leben, Leib oder Freiheit des Zeugen bzw. anderer Personen vor. In einem solchen Fall besteht sogar die Pflicht, je nach den Umständen des Einzelfalls auf eine Namhaftmachung der Zeugenperson zu verzichten. Allerdings muss der Angeklagte dann darüber aufgeklärt werden, dass es sich bei dem geladenen Zeugen um eine Person handelt, deren Identität nach § 68 Abs. 3 der Geheimhaltung unterliegt. Auch dies ist eine Folge der sinngemäßen Anwendung des § 200 Abs. 1 Satz 5.11
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Auch dazu SK/Deiters 5. Vgl. auch Meyer-Goßner 9.
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Wie hier auch SK/Deiters 6.
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SECHSTER ABSCHNITT Hauptverhandlung § 233 (1) 1Der Angeklagte kann auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden werden, wenn nur Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten, Geldstrafe bis zu einhundertachtzig Tagessätzen, Verwarnung mit Strafvorbehalt, Fahrverbot, Verfall, Einziehung, Vernichtung oder Unbrauchbarmachung, allein oder nebeneinander, zu erwarten ist. 2Eine höhere Strafe oder eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf in seiner Abwesenheit nicht verhängt werden. 3Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist zulässig. (2) 1Wird der Angeklagte von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden, so muß er durch einen beauftragten oder ersuchten Richter über die Anklage vernommen werden. 2Dabei wird er über die bei Verhandlung in seiner Abwesenheit zulässigen Rechtsfolgen belehrt sowie befragt, ob er seinen Antrag auf Befreiung vom Erscheinen in der Hauptverhandlung aufrechterhalte. 3Statt eines Ersuchens oder einer Beauftragung nach Satz 1 kann außerhalb der Hauptverhandlung auch das Gericht die Vernehmung über die Anklage in der Weise durchführen, dass sich der Angeklagte an einem anderen Ort als das Gericht aufhält und die Vernehmung zeitgleich in Bild und Ton an den Ort, an dem sich der Angeklagte aufhält, und in das Sitzungszimmer übertragen wird. (3) 1Von dem zum Zweck der Vernehmung anberaumten Termin sind die Staatsanwaltschaft und der Verteidiger zu benachrichtigen; ihrer Anwesenheit bei der Vernehmung bedarf es nicht. 2Das Protokoll über die Vernehmung ist in der Hauptverhandlung zu verlesen.
Entstehungsgeschichte. Durch Art. 6 Nr. 5 des Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren (VidVerfG)1 wurde dem Absatz 2 der Satz 3 angefügt. Er trat am 1.11.2013 in Kraft (Art. 10 Abs. 1 VidVerfG). Allerdings wurden die Landesregierungen durch Art. 9 Satz 1 des Gesetzes ermächtigt, durch Rechtsverordnung zu bestimmen, dass § 233 Abs. 2 Satz 3 bis längstens zum 31.12.2017 „ganz oder teilweise“ keine Anwendung findet. Die Landesregierungen sind gemäß Art. 9 Satz 2 des Gesetzes befugt, die Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf die „Landesjustizverwaltungen“ zu übertragen. 1. Zweck der Vorschrift; Kritik. Die dem Gericht eingeräumte Befugnis, den Ange- 1 klagten im Wege der Videokonferenztechnik selbst zur Anklage zu vernehmen, statt die Vernehmung durch einen beauftragten oder ersuchten Richter durchführen zu lassen, dient der Verfahrensbeschleunigung, da sie es ermöglicht, eine zeitaufwendige Versen1
BGBl. I S. 935.
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§ 233 StPO Nachtr.
Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
dung der Akten zu vermeiden. Damit verbunden ist der Vorteil, dass der in die Sache eingearbeitete „erkennende“ Richter die Vernehmung vornimmt,2 was deren Qualität steigern kann. Im Hintergrund steht das mit dem VidVerfG allgemein verfolgte Anliegen, die Belastung von Verfahrensbeteiligten durch Zeit- und Reiseaufwand im Wege des Einsatzes moderner Kommunikationstechniken zu reduzieren.3 Die mit § 233 schon bisher, jedoch allein mit Blick auf den Angeklagten, verbundene Intention (§ 230, 1) soll somit verstärkt werden. Die Umsetzung dieses Anliegens durch den Gesetzgeber ist indes gründlich miss2 glückt. Während Wortlaut und Begründung des Gesetzentwurfs des Bundesrates dahin zu verstehen waren, dass die Vernehmung des Angeklagten über die Anklage Teil der Hauptverhandlung sein sollte,4 ist aufgrund der Beratungen im Rechtsausschuss ausdrücklich in den Wortlaut des § 233 Abs. 2 Satz 3 aufgenommen worden, dass diese Vernehmung „außerhalb der Hauptverhandlung“ durchgeführt wird.5 Dabei handelt es sich aber entgegen der Auffassung des Rechtsausschusses nicht nur um eine redaktionelle Änderung und den Versuch, das gesetzgeberische Anliegen stärker herauszuarbeiten. Vielmehr gewinnt die Vernehmung damit eine völlig andere Qualität; denn da sie nicht Teil der Hauptverhandlung ist, muss sie, um für das Urteil verwertbar zu sein, erst in diese eingeführt werden (§ 261). Wie dies geschehen soll, bleibt unerfindlich; ob der Gesetzgeber eine entsprechende Regelung schlicht vergessen oder mit Bedacht unterlassen hat, lässt sich den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen. Jedenfalls hat er damit ein von ihm mit der Vorschrift verfolgtes Ziel in weitem Umfang konterkariert (zu den Konsequenzen s. Rn. 8).
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2. Anordnung der audiovisuellen Vernehmung. Ob die Vernehmung des Angeklagten über die Anklage statt durch einen beauftragten oder ersuchten Richter im Wege der Videokonferenztechnik durchgeführt wird, hat das Gericht (vgl. § 230, 12) nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Da im Hinblick auf die nach § 233 Abs. 1 Satz 1 allein in Betracht kommenden Rechtsfolgen für ein Vorgehen nach § 233 in aller Regel nur Verfahren vor dem Strafrichter in Betracht kommen, wird sich insoweit die Besetzungsfrage im Allgemeinen nicht stellen; sollte dennoch ausnahmsweise das Verfahren vor einem Spruchkörper anhängig sein, so hat dieser seine Entscheidung in der außerhalb der Hauptverhandlung vorgesehenen Besetzung zu treffen. Bei der Ausübung des Ermessens ist zu beachten, dass grundsätzlich die Vernehmung des Angeklagten durch das mit der Sache befasste Gericht unter dem Gesichtspunkt der Wahrheitserforschung (§ 244 Abs. 2) effektiver sein wird als die Anhörung durch einen beauftragten oder ersuchten Richter; steht die entsprechende technische Ausstattung zur Verfügung, so wird die audiovisuelle Vernehmung daher regelmäßig vorzugswürdig sein, zumal dies auch der Zwecksetzung des Gesetzgebers entspricht. Dem steht auch nicht entgegen, dass deren Ergebnis nach bisherigem Gesetzesstand nur in unzureichendem Maße in die Hauptverhandlung eingeführt werden kann (s. Rn. 8). Entsprechend der bisherigen Handhabung (§ 230, 7) ist es als zulässig zu erachten, dass das Gericht schon vor einem Antrag des
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Gesetzentwurf des Bundesrates BTDrucks. 17 1224 S. 14; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses BTDrucks. 17 12418 S. 19. Gesetzentwurf des Bundesrates BTDrucks. 17 1224 S. 1 f.; Stellungnahme der Bundesregierung BTDrucks. 17 1224 S. 16.
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BTDrucks. 17 1224 S. 9, 11; die Regelung wäre dann allerdings systematisch stimmiger in § 243 Abs. 5 oder § 247a aufzunehmen gewesen. BTDrucks. 17 12418 S. 9, 19.
Jörg-Peter Becker
Sechster Abschnitt. Hauptverhandlung
Nachtr. § 233 StPO
Angeklagten nach § 233 Abs. 1 Satz 1 dessen Entbindung von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung sowie dessen Videovernehmung für den Fall anordnet, dass dieser nach diesbezüglicher Belehrung während der audiovisuellen Vernehmung einen solchen Antrag stellt. 3. Durchführung der audiovisuellen Vernehmung. Die äußeren Umstände der Vernehmung legt das Gesetz lediglich dahin fest, dass sich der Angeklagte an einem anderen Ort als das Gericht aufhält und die Vernehmung zeitgleich in Bild und Ton an den Ort, an dem sich der Angeklagte aufhält, und in das Sitzungszimmer übertragen wird. Wo genau sich der Angeklagte bei der Vernehmung zu befinden hat, ist indes nicht geregelt. Es versteht sich aber von selbst, dass – unabhängig von der Frage der technischen Ausstattung – nicht jede denkbare, auch private Örtlichkeit für die Durchführung der Vernehmung in Betracht kommt. Vielmehr muss gewährleistet sein, dass diese in rechtlich geordneten Bahnen und insbesondere ohne (unzulässige) äußere Einflüsse auf den Angeklagten abläuft. Dies wird regelmäßig der Fall sein, wenn sich der Angeklagte in einem Gerichtsgebäude aufhält, da dort die notwendigen organisatorischen Maßnahmen getroffen werden können. In Betracht kommt auch ein Gericht im Ausland oder ein Deutsches Konsulat. Es ist auch denkbar, dass die Vernehmung in der Kanzlei des Verteidigers des Angeklagten durchgeführt werden; empfehlenswert ist dies wegen des grundsätzlichen Anwesenheitsrechts des Staatsanwalts (s. Rn. 5) indes nicht. Zu dem jeweiligen Vernehmungsort ist der Angeklagte zu laden; gegebenenfalls müssen dabei die einschlägigen rechtshilferechtlichen Vorschriften beachtet werden. Für die sonstigen Verfahrensbeteiligten bestehen keine besonderen Regelungen. Es gilt daher zunächst Absatz 3 Satz 1. Staatsanwaltschaft und Verteidiger sind von dem Vernehmungstermin zu benachrichtigen; anwesend sein müssen sie nicht. Nehmen sie teil, so stellt sich jedoch die Frage, wo sie sich während der Vernehmung aufhalten dürfen oder müssen. Da § 233 Abs. 2 Satz 3 vom „Sitzungszimmer“ spricht, könnte dies suggerieren, dass sich Staatsanwalt und Verteidiger an dem Ort aufzuhalten haben, von dem aus das Gericht die Vernehmung durchführt. Dies trifft aber nicht zu. Der Begriff des „Sitzungszimmers“ dürfte ein versehentliches Überbleibsel aus dem ursprünglichen Gesetzentwurf des Bundesrates sein, der die audiovisuelle Vernehmung des Angeklagten noch als Teil der Hauptverhandlung ansah (Rn. 2). Dies ist in der Gesetz gewordenen Fassung aber ausdrücklich anders geregelt. Da die Vernehmung des Angeklagten danach außerhalb der Hauptverhandlung stattfindet, steht es Staatsanwaltschaft und Verteidiger frei, ob sie an ihr an dem Ort, wo sich der Angeklagte befindet, oder am Aufenthaltsort des Gerichts teilnehmen wollen. Insbesondere für den Verteidiger wird es nahe liegen, sich bei dem Angeklagten aufzuhalten, da nur dort die unmittelbare, ungestörte und insbesondere auch vertrauliche Kommunikation mit diesem gewährleistet ist. Dementsprechend muss bei der Terminsbenachrichtigung nach § 233 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 sowohl mitgeteilt werden, von wo aus das Gericht die Vernehmung durchführt, als auch, wo sich der Angeklagte während der Vernehmung befindet. Für die inhaltliche Ausgestaltung der Vernehmung bestehen keine Besonderheiten. Die Belehrungspflicht nach § 233 Abs. 2 Satz 2 gilt auch für die audiovisuelle Vernehmung nach Satz 3. Im Übrigen ist der Angeklagte zu seinen persönlichen Verhältnissen anzuhören (§ 243 Abs. 2 Satz 2), nach § 243 Abs. 5 Satz 1 zu belehren und im Falle seiner Aussagebereitschaft nach Maßgabe des § 243 Abs. 5 Satz 2 zur Sache zu vernehmen (zu den Einzelheiten s § 230, 18 und 23 ff.). Die einzig sinnvolle Form der Dokumentation der audiovisuellen Vernehmung des Angeklagten durch deren Aufzeichnung in Wort und Bild hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen. Er straft damit insoweit seine angebliche technische Fortschrittlichkeit selbst
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§ 246a StPO Nachtr.
Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
Lügen. Über die möglichen Gründe soll hier nicht räsoniert werden. Vielmehr ist festzuhalten, dass es auch im Falle der audiovisuellen Vernehmung des Angeklagten bei der Protokollierung nach §§ 168, 168a verbleibt (s. § 233, 27), wie sich auch aus dem unverändert gebliebenen § 233 Abs. 3 Satz 2 ergibt.
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3. Hauptverhandlung. Da eine Aufzeichnung der audiovisuellen Vernehmung nicht vorgesehen ist, fehlt es konsequenterweise auch an einer Bestimmung, die es erlaubt, eine derartige Aufzeichnung in die Hauptverhandlung einzuführen und sie so zu deren Inbegriff zu machen (§ 261). Es muss daher bei der Protokollverlesung nach § 233 Abs. 3 Satz 2 sein Bewenden haben. Anstelle einer wesentlich authentischeren Bild-Ton-Aufzeichnung der Vernehmung, die einen deutlich aussagekräftigeren, unmittelbareren und komplexeren Eindruck von deren Inhalt und Ablauf liefern könnte, bleibt dem erkennenden Gericht lediglich deren durch das Vernehmungsprotokoll gefilterte Verschriftlichung. Alles, was dort nicht enthalten ist, wird auch nicht zum Inbegriff der Hauptverhandlung und darf daher vom Gericht bei seiner Überzeugungsbildung nicht verwertet werden, mag es sich daran auch noch so gut aus der Durchführung der audiovisuellen Vernehmung erinnern. Damit ist ein wesentlicher Vorteil verspielt, den diese Form, den Angeklagten außerhalb der Hauptverhandlung zum Tatvorwurf anzuhören, für die Wahrheitsfindung hätte eröffnen können.
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4. Für die Revision gelten keine Besonderheiten (s. § 233, 45).
§ 246a (1) 1Kommt in Betracht, dass die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung angeordnet oder vorbehalten werden wird, so ist in der Hauptverhandlung ein Sachverständiger über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten zu vernehmen. 2Gleiches gilt, wenn das Gericht erwägt, die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt anzuordnen. (2) Ist Anklage erhoben worden wegen einer im § 181b des Strafgesetzbuchs genannten Straftat zum Nachteil eines Minderjährigen und kommt die Erteilung einer Weisung nach § 153a dieses Gesetzes oder nach den §§ 56c, 59a Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 oder § 68b Absatz 2 Satz 2 des Strafgesetzbuchs in Betracht, wonach sich der Angeklagte psychiatrisch, psycho- oder sozialtherapeutisch betreuen und behandeln zu lassen hat (Therapieweisung), soll ein Sachverständiger über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten vernommen werden, soweit dies erforderlich ist, um festzustellen, ob der Angeklagte einer solchen Betreuung und Behandlung bedarf. (3) Hat der Sachverständige den Angeklagten nicht schon früher untersucht, so soll ihm dazu vor der Hauptverhandlung Gelegenheit gegeben werden. Entstehungsgeschichte. Durch Art. 1 Nr. 6 STORMG1 wurde § 246a (erst) auf Initiative des Rechtsausschusses2 geändert und erweitert. Die bisherigen Sätze 1 und 2 der 1 2
BGBl. I S. 1805. Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht vom
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13.3.2013, BTDrucks. 17 12735 S. 7 f. und 21.
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Sechster Abschnitt. Hauptverhandlung
Nachtr. § 246a StPO
Vorschrift sind nunmehr in Absatz 1 enthalten. Absatz 2 ist neu eingefügt. Absatz 3 enthält Satz 3 der vorherigen Fassung.
1. Zweck der Vorschrift. Absatz 2 ist geleitet von dem Gedanken, dass Sexualstraf- 1 täter bereits zu Beginn möglicher Deliktskarrieren sachverständig darauf begutachtet werden sollen, ob sie unter einer behandlungsbedürftigen und -fähigen „Störung“ leiden. Damit soll in den Fällen des „niedrigschwelligen Bereichs“, in denen der Täter nicht zu einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe zu verurteilen ist, jedoch im Rahmen der strafrechtlichen Reaktion auf die von ihm begangene Tat die Weisung zur Aufnahme einer entsprechenden Therapie in Betracht kommt, frühzeitig aufgeklärt werden, ob die hierfür erforderlichen tatsächliche Voraussetzungen vorliegen. Dies dient dem Ziel, durch die Erteilung einer derartigen Weisung die Gefahr einer erneuten (einschlägigen) Straffälligkeit des Täters möglichst zu reduzieren, wenn dies durch eine der genannten Therapien möglich erscheint.3 Damit enthält die Vorschrift aber nichts bahnbrechend Neues; denn soweit seine eigene Sachkunde hierfür nicht ausreicht, ist das Gericht schon durch die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2) gehalten, in derartigen Konstellationen die Frage der Therapiebedürftigkeit und -fähigkeit des Angeklagten durch sachverständige Begutachtung zu klären. Dies hat auch der Gesetzgeber nicht verkannt. Er hat dennoch gemeint, den „Vorteilen einer frühzeitigen Begutachtung bereits zu Beginn von möglichen Deliktskarrieren“ durch § 246a Abs. 2 „in der Praxis noch stärker Geltung“ verschaffen zu müssen.4 Dass insoweit ein Defizit festzustellen war, hat er indessen nicht belegt. Es kann danach füglich bezweifelt werden, dass für die Regelung eine Notwendigkeit bestand. Sie ist eher Ausdruck des politisch geleiteten Aktionismus des Gesetzgebers als eine sinnvolle Fortentwicklung des Verfahrensrechts. 2. Formeller Anwendungsbereich a) Anlasstaten. Absatz 2 findet nur Anwendung in Verfahren, in denen – zumindest 2 auch – wegen einer der in § 181b StGB genannten Straftaten (§§ 174 bis 174c, 176 bis 180, 181a und 182 StGB) zum Nachteil eines Minderjährigen Anklage erhoben worden ist.5 Damit ist zwar der Tatvorwurf der Zuhälterei (§ 181a StGB) erfasst, nicht hingegen derjenige der Ausbeutung von Prostituierten (§ 180a StGB). Dies ist insbesondere im Hinblick auf § 180a Abs. 2 Nr. 1 StGB unverständlich, da diese Vorschrift gerade den Schutz Minderjähriger bezweckt. Nicht nachvollziehbar ist auch, warum § 246a Abs. 2 etwa in Verfahren wegen exhibitionistischer Handlungen (§ 183 StGB; s. insb. dessen Absatz 3) keine Anwendung findet, obwohl es sich nach dem Gesetzeszweck geradezu aufgedrängt hätte, dieses Sexualdelikt des „niedrigschwelligen Bereichs“ mit zu erfassen. Unabhängig hiervon ist die Begrenzung auf Straftaten zum Nachteil Minderjähriger verfehlt. § 246a Abs. 2 ist keine Bestimmung, die ihren Sinn aus der Stellung des Tatopfers als Minderjährigem ableitet. Sie hat vielmehr die Klärung der Therapiebedürftigkeit des Angeklagten im Blick, um einer möglichen Rückfallgefahr vorzubeugen oder sie zumindest zu verringern. Dies dient gleichermaßen dem Schutz potentieller zukünftiger minderjähriger wie erwachsener Opfer von Sexualstraftaten. Letztere sind im Grundsatz nicht
3 4 5
BTDrucks. 17 12735 S. 21. BTDrucks. 17 12735 S. 21. Erfasst sind die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, bei denen nach § 181b
StGB gemäß § 68 Abs. 1 StGB die gerichtliche Anordnung der Führungsaufsicht in Betracht kommt, wenn der Angeklagte Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verwirkt hat.
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§ 246a StPO Nachtr.
Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
weniger schutzwürdig als Kinder und Jugendliche, auch wenn diese durch besondere Strafvorschriften in weitergehendem Umfang vor sexuellen Übergriffen bewahrt werden sollen. Indes wirkt sich der gesetzgeberische Fehlgriff im Ergebnis nicht aus. Denn auch wenn dem Angeklagten eine Sexualstraftat gegen einen Erwachsenen (oder auch jedes sonstige Delikt) zur Last liegt, das eine der in § 246a Abs. 2 genannten strafrechtlichen Reaktionen nebst Therapieweisung in Betracht kommen lässt, ist das in dieser Vorschrift normierte Aufklärungsprogramm dem Gericht ohnehin schon durch § 244 Abs. 2 aufgegeben (s. Rn. 1).
3
b) Gemäß seiner systematischen Stellung im Gesetz betrifft § 246a Abs. 2 nur die Anhörung eines Sachverständigen in der Hauptverhandlung. Die Anklage muss also (jedenfalls auch wegen einer der in § 181b StGB genannten Katalogtaten; vgl. Rn. 10) zugelassen worden sein (§ 207 Abs. 1) und das Hauptverfahren bis zur Hauptverhandlung betrieben werden. Vor dem Eröffnungsbeschluss und im Hauptverfahren außerhalb der Hauptverhandlung hat der Gesetzgeber die Zuziehung eines Sachverständigen in entsprechender Anwendung des Absatzes 2 nur zur Vorbereitung einer Verfahrenseinstellung gemäß § 153a Abs. 2 vorgesehen (§ 153a Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 8; s. Rn. 9). Damit hat er das Strafbefehlsverfahren völlig aus dem Auge verloren. Das ist zwar für die Fälle ohne Belang, in denen es nach Erlass eines Strafbefehls und Einspruch hiergegen zur Hauptverhandlung kommt, da insoweit keine Besonderheiten gegenüber dem Anklageverfahren bestehen (vgl. § 407 Abs. 1 Satz 4). Durch Strafbefehl kann aber auch ohne eine Hauptverhandlung auf Verwarnung mit Strafvorbehalt oder Bewährungsstrafe erkannt werden (§ 407 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Satz 2), mithin auf Rechtsfolgen, die im damit verbundenen Bewährungsbeschluss eine Therapieweisung nach sich ziehen können (§§ 56c, 59a Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StGB), deren Notwendigkeit gemäß § 246a Abs. 2 in der Hauptverhandlung grundsätzlich unter Zuziehung eines Sachverständigen geklärt werden soll; eine Bestimmung über dessen Anhörung durch das Gericht vor Erlass eines derartigen Strafbefehls mit entsprechendem Bewährungsbeschluss fehlt indes. Diese Gesetzeslücke ist jedoch nicht notwendig dadurch zu schließen, dass das Gericht in entsprechenden Fällen gemäß § 408 Abs. 3 Satz 2 vom Erlass des Strafbefehls absieht und Hauptverhandlung anberaumt, um § 246a Abs. 2 unmittelbar zur Anwendung bringen zu können. Vielmehr greift hier wiederum die unabhängig von dieser Vorschrift bestehende allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts ein, die es ihm nicht nur ermöglicht, sondern sogar aufgibt, im Freibeweisverfahren außerhalb der Hauptverhandlung (vgl. § 244, 30 und 37) die erforderliche Anhörung eines Sachverständigen vorzunehmen.
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c) Potentielle Rechtsfolgen. Die Zuziehung eines Sachverständigen nach § 246a Abs. 2 setzt weiterhin voraus, dass die Erteilung einer Therapieweisung im Zusammenhang mit der Einstellung des Verfahrens nach § 153a Abs. 2, der Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung (§§ 56, 56c StGB), der Verwarnung mit Strafvorbehalt (§§ 59, 59a Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StGB) oder der Anordnung von Führungsaufsicht (§§ 68, 68b Abs. 2 Satz 2 StGB) in Betracht kommt. Damit sind teilweise nicht unerhebliche Einschränkungen der Anwendbarkeit der Norm verbunden: Die Einstellung des Verfahrens nach § 153a Abs. 2 kommt von vornherein nicht für 5 solche Taten aus dem Deliktskatalog des § 181b StGB in Betracht, bei denen es sich um Verbrechen (§ 12 Abs. 1 StGB) handelt (s. § 153a Abs. 1 Satz 1). Damit fallen insoweit aus dem Katalog des § 181b StGB die §§ 176a bis 178 sowie § 179 Abs. 5 und 7 (i.V.m. § 177 Abs. 4 Nr. 2 oder 178) StGB heraus. § 153a Abs. 2 Satz 1 macht die (vorläufige) Verfahrenseinstellung außerdem von der Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten abhängig. Es ist daher geboten, schon vor der Zuziehung eines Sachver-
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Sechster Abschnitt. Hauptverhandlung
Nachtr. § 246a StPO
ständigen diese Zustimmungen einzuholen und bei der entsprechenden Anfrage darauf hinzuweisen, dass unter Beteiligung eines Sachverständigen die Voraussetzungen einer Therapieweisung geprüft werden sollen. Lehnt die Staatsanwaltschaft oder der Angeklagte die Verfahrenseinstellung von vornherein ab, scheidet die Beauftragung des Sachverständigen aus, so nicht die Tat mit einer der in § 246a Abs. 2 genannten anderen Rechtsfolgen geahndet und die Therapieweisung an diese angeknüpft werden kann. Da die Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung nur bei Freiheitsstrafen bis zu 6 zwei Jahren in Betracht kommt (§ 56 Abs. 2 StGB), scheiden insoweit alle Verbrechen nach § 176a Abs. 5, §§ 176b, 177 Abs. 3 und 4 (vorbehaltlich der Anwendung des Absatz 5), sowie §§ 178, 179 Abs. 7 (i.V.m. § 177 Abs. 4 Nr. 2 oder 178) StGB von vornherein als Anlasstaten aus. Verbrechen nach § 176a Abs. 2 (vorbehaltlich Abs. 4) und 3 sowie § 179 Abs. 5 (vorbehaltlich Absatz 6) sind nur einbezogen, wenn auf die Mindeststrafe erkannt wird. Gleiches gilt bei Anwendung des Regelstrafrahmens des § 177 Abs. 2 Satz 1 StGB bei sexueller Nötigung im besonders schweren Fall oder Vergewaltigung. Die Verwarnung mit Strafvorbehalt ist nur möglich, wenn der Angeklagte Geldstrafe 7 von nicht mehr als 180 Tagessätzen verwirkt hat (§ 59 Abs. 1 Satz 1 StGB). Damit kommen unter Beachtung des § 47 Abs. 2 StGB aus dem Katalog des § 181b StGB insoweit als Anlasstaten nur Delikte nach §§ 174 bis 174c, 176 Abs. 4 und 5, § 176a Abs. 1 i.V.m. Abs. 4, §§ 180, 181a Abs. 2 (auch i.V.m. Abs. 3) und § 182 StGB in Frage. Da § 181b StGB bei Verurteilungen wegen aller in ihm genannten Straftaten die 8 fakultative Anordnung der Führungsaufsicht (§ 68 Abs. 1 StGB) vorsieht, ergibt sich insoweit an sich keine Einschränkung des Katalogs möglicher Anlasstaten nach § 246a Abs. 2. Hier stellt sich indessen ein anderes Problem. § 68 Abs. 1 StGB sieht Führungsaufsicht nur vor, wenn der Angeklagte zeitige Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verwirkt hat und die Gefahr besteht, dass er weitere Straftaten begehen wird. In diesem Fall ist die Strafe aber eigentlich zu vollstrecken (§ 56 Abs. 1 StGB). § 246a Abs. 2 StGB soll aber gerade den Bereich nicht zu vollstreckender Freiheitsstrafen abdecken (s. Rn. 1).6 Zwar ergibt sich aus § 68g StGB,7 dass Führungsaufsicht trotz des Wortlauts des § 68 Abs. 1 StGB auch neben einer Bewährungsstrafe in Betracht kommen kann.8 Dann ist § 246a Abs. 2 aber bereits wegen seines Verweises auf § 56c StGB anwendbar. Soweit er darüber hinaus auch auch die Fälle des § 68b StGB erfassen soll, handelt es sich daher um einen gesetzgeberischen Missgriff. 3. Entsprechende Anwendung. Gemäß § 153a Abs. 1 Satz 8 und § 153a Abs. 2 Satz 2 9 i.V.m. Abs. 1 Satz 8 gilt § 246a Abs. 2 entsprechend, wenn im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren oder nach Anklageerhebung im gerichtlichen Zwischenverfahren bzw. nach Zulassung der Anklage außerhalb der Hauptverhandlung eine Verfahrenseinstellung nach § 153a Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 2 Satz 1 in Betracht kommt.9 Die Vorschrift ist gemäß § 453 Abs. 1 Satz 3 weiterhin entsprechend anzuwenden, wenn eine Therapieweisung im Zusammenhang mit der Nachtragsentscheidung zu einem Bewährungsbeschlusses bei Aussetzung der Strafvollstreckung (§§ 56e, 56c StGB) oder bei Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59a Abs. 2 Satz 3, §§ 56e, 56c StGB) in Rede steht. Gleiches gilt bei der Entscheidung über die Aussetzung eines Strafrests zur Bewährung (§ 454 6
Für zu vollziehende Strafen gelten die §§ 6 und 9 StVollzG bzw. die entsprechenden Vorschriften der Landesstrafvollzugsgesetze, vgl. BTDrucks. 17 12735 S. 21.
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S. auch die Führungsaufsicht kraft Gesetzes nach § 67b Abs. 2 StGB. Vgl. etwa Fischer § 68, 5 StGB m.w.N. BTDrucks. 17 12735 S. 21.
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Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
Abs. 4 Satz 1) und über die Verweisung in § 453 Abs. 2 auch bei Nachtragsentscheidungen im Rahmen der Führungsaufsicht (§ 68d Abs. 1, § 68b Abs. 2 StGB). Wegen der Einzelheiten wird auf die Kommentierung der genannten strafprozessualen Bestimmungen verwiesen. 4. Materielle Anwendungsvoraussetzungen
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a) Schuldspruchprognose. Anders als es sein Wortlaut vermuten lassen könnte, ist die Anwendbarkeit des § 246a Abs. 2 im Ausgangspunkt nicht allein schon dadurch eröffnet, dass die Staatsanwaltschaft wegen einer der in § 181b StGB genannten Straftaten zum Nachteil eines Minderjährigen Anklage erhoben hat. Vielmehr ist es darüber hinaus erforderlich, dass das Gericht den Angeklagten für hinreichend verdächtig hält, diese Straftat begangen zu haben (§ 203). Eröffnet es das Hauptverfahren nur wegen anderer Tatvorwürfe (§ 207 Abs. 2 Nr. 1) oder würdigt es die Tat abweichend von der Anklageschrift dahin, dass sie nicht dem Deliktskatalog des § 181b StGB unterfällt (§ 207 Abs. 2 Nr. 3), so scheidet die Zuziehung eines Sachverständigen nach § 246a Abs. 2 von vornherein aus. Denn nach der Konzeption dieser Vorschrift soll sich ihr Anwendungsbereich ersichtlich allein auf die Fälle beschränken, in denen zu prüfen ist, ob anknüpfend an die mögliche Verurteilung (oder gegebenenfalls Verfahrenseinstellung nach § 153a Abs. 2) wegen einer in § 181b StGB genannten Straftat eine Therapieweisung erforderlich ist, um einer einschlägigen Rückfälligkeit des Angeklagten vorzubeugen. Dass sich bei hinreichendem Verdacht einer anderen Straftat unter den nämlichen Voraussetzungen das Erfordernis, einen Sachverständigen anzuhören, aus § 244 Abs. 2 ergeben kann (Rn. 1), steht auf einem anderen Blatt und belegt nur die strukturelle Brüchigkeit der gesetzlichen Neuregelung. Diese zeigt sich gleichermaßen darin, dass sich eigentümlicherweise die Notwendigkeit der Anhörung eines Sachverständigen ebenfalls allein nach der allgemeinen Aufklärungspflicht selbst dann richtet, wenn die Staatsanwaltschaft nicht wegen einer Straftat aus dem Katalog des § 181b StGB Anklage erhoben hat, jedoch das Gericht die Tat im Eröffnungsbeschluss (§ 207 Abs. 2 Nr. 3) oder später in der Hauptverhandlung abweichend als derartiges Delikt rechtlich würdigt. Dieser Konzeptionslosigkeit des § 246a Abs. 2 könnte allenfalls dadurch abgeholfen werden, dass man entgegen seinem Wortlaut unter „einer in § 181b des Strafgesetzbuchs genannten Straftat“ nicht das materiell-rechtliche Delikt, sondern die prozessuale Tat im Sinne des § 264 Abs. 1 versteht. Aber derartige Auslegungsakrobatik ist im Hinblick auf die umfassende Geltung des § 244 Abs. 2 entbehrlich.
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b) Rechtsfolgenprognose. § 246a Abs. 2 greift nur ein, wenn als strafrechtliche Reaktion auf die Tat eine Rechtsfolge möglich erscheint, die mit einer Therapieweisung nach einer der in der Vorschrift zitierten Bestimmungen des Straf- oder Strafprozessrechts verknüpft werden kann. Es muss demgemäß nach der Vorabwürdigung des Gerichts eine Verfahrenseinstellung nach § 153a Abs. 2 Satz 1 denkbar sein, auf Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) oder eine Bewährungsstrafe (§ 56 StGB) erkannt werden können bzw. die Anordnung von Führungsaufsicht (§ 68 Abs. 1 StGB) im Raum stehen. Darüber hinaus ist erforderlich, dass in Verbindung mit dieser strafrechtlichen Reak12 tion die Therapieweisung in Betracht kommt, also möglich erscheint (s. § 246a, 7 m.w.N.), dass sich der Angeklagte psychiatrisch, psycho- oder sozialtherapeutisch betreuen und behandeln lässt.10 Dies ist der Fall, wenn in der Tat Anhaltspunkte dafür zu Tage treten, 10
Zu den Einzelheiten der Therapieweisung, insbesondere ihre möglichen Inhalte, wird
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auf die Kommentierungen zu § 68b Abs. 2 Satz 2 und 3 StGB verwiesen.
Jörg-Peter Becker
Sechster Abschnitt. Hauptverhandlung
Nachtr. § 246a StPO
dass ihr möglicherweise behandlungsbedürftige (krankheitsbedingte oder andere) Persönlichkeitsdefizite des Angeklagten zugrunde liegen, die die Gefahr begründen können, er werde trotz der Warnwirkung des vorliegenden Verfahrens ohne entsprechende Betreuung und Behandlung in vergleichbarer Weise rückfällig werden. Die Voraussetzungen für die Vernehmung eines Sachverständigen sind nach Gesetzeswortlaut und -zweck11 vergleichsweise gering. Soweit allerdings absehbar ist, dass allein eine Weisung in Erwägung zu ziehen ist, die nur mit Einwilligung des Angeklagten erteilt werden kann (§ 56c Abs. 3, § 59a Abs. 2 Satz 3, § 68b Abs. 2 Satz 4 StGB; zu § 153a Abs. 2 s. Rn. 5), wird es zunächst nahe liegen, dass sich das Gericht vor Zuziehung des Sachverständigen des Einverständnisses des Angeklagten mit der potentiellen Weisung versichert; denn fehlt es hieran und scheidet die Weisung daher aus, so ist die Anhörung eines Sachverständigen – jedenfalls auf der Grundlage des § 246a Abs. 2 – von vornherein entbehrlich. Weiterhin ist vorab der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Betracht zu ziehen. Die etwaige Therapieweisung darf nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der vom Angeklagten begangenen Tat stehen und auch keine unzumutbaren Anforderungen an dessen Lebensführung stellen. Dies ist in § 59a Abs. 2 Satz 2 StGB für die Weisungen nach Verwarnung mit Strafvorbehalt ausdrücklich geregelt und in § 56c Abs. 1 Satz 2 sowie § 68b Abs. 3 StGB zumindest im Hinblick auf die Anforderungen an die Lebensführung des Angeklagten einfachgesetzlich in den Blick genommen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist notwendigerweise in verstärktem Umfang zu beachten, wenn der Angeklagte durch die Anlasstat nur derart geringe Schuld auf sich geladen hat, dass die Verfahrenseinstellung nach § 153a Abs. 2 Satz 1 in Betracht kommt. Auch ist in den Blick zu nehmen, dass das Gesetz neben der gegenüber der Verfahrenseinstellung nach § 153a Abs. 2 und der Verwarnung mit Strafvorbehalt schärferen strafrechtliche Reaktion der Geldstrafe gerade nicht die Möglichkeit eröffnet, eine Therapieweisung zu erteilen. Eine solche Weisung wird daher neben der Verfahrenseinstellung nach § 153a Abs. 2 Satz 1 oder der Verwarnung mit Strafvorbehalt nur in Betracht zu ziehen sein, wenn gerade nur ihre Erteilung die Voraussetzung dafür schaffen kann, dass die Tat lediglich diese relativ milden strafrechtlichen Reaktionen nach sich zieht. 5. Vernehmung eines Sachverständigen. Welcher Fachrichtung der anzuhörende Sach- 13 verständige zugehört, hat das Gericht entsprechend der Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles zu entscheiden. Es wird dabei insbesondere darauf ankommen, ob den möglichen Persönlichkeitsdefiziten des Angeklagten eher krankhafte oder nicht krankhafte Ursachen zugrunde liegen dürften. Es ergeben sich insoweit keine Besonderheiten gegenüber Absatz 1; daher kann auf die Erläuterungen bei § 246a, 3 verwiesen werden. Absatz 3 gilt auch für die Zuziehung eines Sachverständigen nach Absatz 2. Dies wurde zwar im Gesetzgebungsverfahren nicht ausdrücklich erörtert, folgt aber schon aus der Gesetzessystematik. Die Einzelheiten sind bei § 246a, 12 f. erläutert. Für die Revision ergeben sich bei Verstößen gegen Absatz 2 (auch i.V.m. Absatz 3) 14 keine Besonderheiten gegenüber Verletzungen des Absatz 1 (s. näher § 246a, 14 ff.).
11
Vgl. BTDrucks. 17 12735 S. 21.
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§ 247a StPO Nachtr.
Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
§ 247a (1) 1Besteht die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für das Wohl des Zeugen, wenn er in Gegenwart der in der Hauptverhandlung Anwesenden vernommen wird, so kann das Gericht anordnen, daß der Zeuge sich während der Vernehmung an einem anderen Ort aufhält; eine solche Anordnung ist auch unter den Voraussetzungen des § 251 Abs. 2 zulässig, soweit dies zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist. 2Die Entscheidung ist unanfechtbar. 3Die Aussage wird zeitgleich in Bild und Ton in das Sitzungszimmer übertragen. 4Sie soll aufgezeichnet werden, wenn zu besorgen ist, daß der Zeuge in einer weiteren Hauptverhandlung nicht vernommen werden kann und die Aufzeichnung zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist. 5§ 58a Abs. 2 findet entsprechende Anwendung. (2) 1Das Gericht kann anordnen, dass die Vernehmung eines Sachverständigen in der Weise erfolgt, dass dieser sich an einem anderen Ort als das Gericht aufhält und die Vernehmung zeitgleich in Bild und Ton an den Ort, an dem sich der Sachverständige aufhält, und in das Sitzungszimmer übertragen wird. 2Dies gilt nicht in den Fällen des § 246a. 3Die Entscheidung nach Satz 1 ist unanfechtbar.
Entstehungsgeschichte. Durch Art. 6 Nr. 6 des Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren (VidVerfG)1 wurde der bisherige Wortlaut der Vorschrift zum Absatz 1 und Absatz 2 neu angefügt. Die Neuregelung trat am 1.11.2013 in Kraft (Art. 10 Abs. 1 des Gesetzes). Allerdings wurden die Landesregierungen durch Art. 9 Satz 1 des Gesetzes ermächtigt, durch Rechtsverordnung zu bestimmen, dass § 247a Abs. 2 bis längstens zum 31.12. 2017 „ganz oder teilweise“ keine Anwendung findet. Die Landesregierungen sind gemäß Art. 9 Satz 2 des Gesetzes befugt, die Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf die „Landesjustizverwaltungen“ zu übertragen.
1
1. Zweck der Vorschrift. Vor dem Hintergrund des mit dem VidVerfG allgemein verfolgten Ziels, durch den Einsatz moderner Kommunikationstechniken die Belastung von Verfahrensbeteiligten durch Zeit- und Reiseaufwand zu reduzieren und damit auch zu einer Beschleunigung des Verfahrens beizutragen,2 eröffnet § 247a Abs. 2 Satz 1 die Möglichkeit, einen Sachverständigen dann im Wege der zeitgleichen Bild-Ton-Übertragung in der Hauptverhandlung zu vernehmen, wenn dies ohne wesentliche Beeinträchtigung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes geschehen kann, es also für die Bewertung des erstatteten Gutachtens nicht auf den direkten persönlichen Eindruck von dem Sachverständigen im Sitzungszimmer ankommt.3 Gedacht ist dabei insbesondere an Fälle, in denen die Verlesung eines schriftlichen Gutachtens (§ 256) nicht möglich ist, etwa weil ein solches nicht vorliegt, die rechtlichen Voraussetzungen für eine Verlesung nicht gegeben sind oder diese zur Aufklärung des Sachverhalts nicht ausreichend ist, andererseits
1 2
BGBl. I S. 935. Gesetzentwurf des Bundesrates BTDrucks. 17 1224 S. 1 f., 11; Stellungnahme der Bundesregierung BTDrucks. 17 1224 S. 16; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses BTDrucks. 17 12418 S. 20.
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3
Gesetzentwurf des Bundesrates BTDrucks. 17 1224 S. 11; Stellungnahme der Bundesregierung BTDrucks. 17 1224 S. 16 f.; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses BTDrucks. 17 12418 S. 18.
Jörg-Peter Becker
Sechster Abschnitt. Hauptverhandlung
Nachtr. § 247a StPO
aber die persönliche Anwesenheit des Sachverständigen im Sitzungszimmer entbehrlich erscheint, weil er lediglich einfache, klar umgrenzte und eher „isolierte“ technische Fragen zu beantworten hat, zu deren Klärung er aus dem Inhalt der Hauptverhandlung auch keine zusätzlichen neuen Befundtatsachen gewinnen kann.4 2. Anwendungsbereich. Durch § 247a Abs. 2 Satz 2 ist die audiovisuelle Vernehmung 2 eines Sachverständigen gesetzlich ausgeschlossen, wenn dieser gemäß § 246a zugezogen wird. Allerdings hatte der Gesetzgeber dabei nur die Fälle im Auge, in denen der Sachverständige gemäß § 246a a.F. zu den Voraussetzungen der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus, einer Entziehungsanstalt oder in der Sicherungsverwahrung gehört werden soll.5 Indes ist zwischenzeitlich durch Art. 1 Nr. 6 STORMG § 246a neu gefasst und erweitert worden. Gemäß § 246a Abs. 2 n.F. soll nunmehr ein Sachverständiger auch dann über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten vernommen werden, wenn eine Therapieweisung in Betracht kommt (s. die Nachtragskommentierung zu § 246a). Da sich aber auch in diesen Fällen regelmäßig aus dem Inhalt der Hauptverhandlung maßgebliche neue Befundtatsachen für die vom Sachverständigen zu beantwortenden Fragen ergeben können, ist es durchaus sinnvoll, dass sich der Ausschluss der audiovisuellen Vernehmung nach § 247a Abs. 2 Satz 2 auch auf die Fälle des § 246a Abs. 2 n.F. erstreckt. Im Übrigen ist nach dem reinen Gesetzeswortlaut § 247a Abs. 2 Satz 1 zwar auf alle 3 sonstigen denkbaren Gutachtenserstattungen anwendbar. Jedoch ergeben sich aus der Zwecksetzung der Vorschrift in Verbindung mit dem gesetzgeberischen Willen erhebliche weitere Einschränkungen der Anwendbarkeit der Vorschrift, die das Ermessen des Gerichts bei der Entscheidung über die Anordnung der audiovisuellen Vernehmung deutlich begrenzen. So scheidet diese insbesondere dann von vornherein aus, wenn zu erwarten steht, dass der Sachverständige durch seine Anwesenheit in der Hauptverhandlung zusätzliche Befundtatsachen gewinnen kann, die er seinem Gutachten zugrunde zu legen hätte (s. Rn. 1). So liegt es namentlich dann, wenn er zur Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten (§§ 20, 21 StGB) zugezogen wird. Zwar mag es in derartigen Fällen theoretisch denkbar sein, dass der Sachverständige an dem für die Beantwortung der Beweisfrage maßgeblichen Teil der Hauptverhandlung teilnimmt, sein Gutachten dann aber im Wege der Bild-Ton-Übertragung erstattet. Eine sinnvolle Verfahrensgestaltung liegt darin indes nicht; sie kann daher allenfalls in Ausnahmefällen in Betracht kommen. Darüber hinaus schränkt die erforderliche Beachtung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes die Möglichkeit der Anordnung einer Bild-Ton-Übertragung ein. Immer dann, wenn zu erwarten steht, dass die direkte Befragung des Sachverständigen im Sitzungszimmer eine bessere Bewertung der Validität seines Gutachtens ermöglicht als seine audiovisuelle Anhörung, scheidet deren Anordnung aus. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn mit einer kritischen oder kontroversen Befragung des Sachverständigen durch die Verfahrensbeteiligten zu rechnen ist. In diesem Fall ist die unmittelbare persönliche Vernehmung des Sachverständigen im Sitzungszimmer auch durch die Aufklärungspflicht geboten (§ 244 Abs. 2).
4
Gesetzentwurf des Bundesrates BTDrucks. 17 1224 S. 14; Stellungnahme der Bundesregierung BTDrucks. 17 1224 S. 16; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses BTDrucks. 17 12418 S. 19 f.
5
Vgl. den Gesetzentwurf des Bundesrates BTDrucks. 17 1224 S. 11, 14.
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§ 247a StPO Nachtr.
Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
4
3. Zuständig für die Anordnung der audiovisuellen Vernehmung ist das Gericht, nicht der Vorsitzende allein. Insoweit gelten keine Besonderheiten gegenüber Anordnungen nach Absatz 1 (vgl. § 247a, 15 ff.). Insbesondere kann der erforderliche Beschluss in der Gerichtsbesetzung außerhalb der Hauptverhandlung schon vor deren Beginn gefasst werden.6 Dies wird wegen der zu treffenden organisatorischen Maßnahmen in der Regel auch sinnvoll sein. Allerdings ist das Gericht in der Hauptverhandlung an diesen Beschluss nicht gebunden. Die Entscheidung ist nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen. Dabei sind die diesem 5 gezogenen Grenzen (s. Rn. 2) und namentlich die Aufklärungspflicht zu beachten. Danach wird die Anordnung der Bild-Ton-Übertragung sich im Allgemeinen auf Fälle beschränken, in denen mit Einwänden gegen die gutachterlichen Äußerungen des Sachverständigen nicht zu rechnen ist und dieser zur Klärung von Beweisfragen zugezogen wird, die den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch eher am Rande betreffen (s. Rn. 1).
6
4. Durchführung der audiovisuellen Vernehmung. Die äußeren Umstände der Vernehmung legt das Gesetz lediglich dahin fest, dass sich der Sachverständige an einem anderen Ort als das Gericht aufhält und die Vernehmung zeitgleich in Bild und Ton an den Ort, an dem sich der Sachverständige aufhält, und in das Sitzungszimmer übertragen wird. Wo genau sich der Sachverständige bei der Vernehmung zu befinden hat, ist indes nicht geregelt. Anders als bei der Vernehmung des Angeklagten nach § 233 Abs. 2 Satz 2 n.F. (s. Nachtragskommentierung § 233, 5) ist es bei der audiovisuellen Vernehmung eines Sachverständigen eher denkbar, dass sich dieser während seiner Anhörung nicht in einem anderen Gerichts- oder sonstigen öffentlichen Gebäude aufhält. Insbesondere wenn es sich nur um eine kurze, gegebenenfalls ergänzende Befragung handelt, erscheint es möglich, dass der Sachverständige sich etwa an seinem Arbeitsplatz befindet, so dort die notwendige technische Ausrüstung für eine Bild-Ton-Übertragung vorhanden ist. All dies ist vorher abzustimmen und bei der Terminsladung entsprechend zu berücksichtigen. Da es sich bei der audiovisuellen Vernehmung des Sachverständigen um einen Teil der Hauptverhandlung handelt, haben sich die sonstigen (notwendigen) Verfahrensbeteiligten während deren Durchführung im Sitzungszimmer aufzuhalten.
7
5. Da beim Sachverständigenbeweis mit einem Beweismittelverlust für eine weitere Hauptverhandlung in aller Regel nicht zu rechnen ist, sieht Absatz 2 anders als Absatz 1 Satz 4 für die audiovisuelle Anhörung eines Zeugen nicht die Möglichkeit einer Aufzeichnung der Vernehmung des Sachverständigen vor.
8
6. Rechtsmittel. Gemäß § 247a Abs. 2 Satz 3 ist die Entscheidung des Gerichts nach Satz 1 des Absatzes unanfechtbar. Diese Bestimmung wurde erst während der Beratungen des Rechtsausschusses in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht und damit begründet, dass sich der Einsatz der Videokonferenztechnik nicht durchsetzen werde, wenn jede Anordnung nach § 247a Abs. 2 Satz 1 einen potentiellen Angriffspunkt für eine Revision bieten könnte.7 Dies nährt den Verdacht, dass der Gesetzgeber entgegen den ansonsten im Gesetzgebungsverfahren getätigten Aussagen (s Rn. 1, 3) nicht an eine eher enge Anwendung der Vorschrift dachte, sondern vielmehr ein großzügiges Gebrauchmachen von der Norm fördern wollte und die hehren Worte von der Wahrung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes eher zur Beruhigung des dogmatisch am Strafverfahren interessierten
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Vgl. BGH StV 2012 65 m abl. Anm. Eisenberg; § 247a, 17.
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BTDrucks. 17 12418 S. 20.
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Sechster Abschnitt. Hauptverhandlung
Nachtr. § 255a StPO
Fachpublikums als zur Beachtung in der täglichen gerichtlichen Praxis gedacht waren. Aufgrund ihrer Unanfechtbarkeit ist die Entscheidung nach § 247a Abs. 2 Satz 1 der Anfechtung im Wege der Beschwerde (§ 304 Abs. 1) und der Revision (§ 335 Satz 2) entzogen. Es gelten insoweit dieselben Grundsätze wie für § 247a Abs. 1 Satz 2 n.F. Auf die Erläuterungen bei § 247a, 31 ff. kann daher verwiesen werden, soweit sie auf die audiovisuelle Vernehmung eines Sachverständigen übertragbar sind. § 247a Abs. 2 Satz 3 gilt indessen nicht, wenn der Sachverständige gemäß § 246a 9 zugezogen wird. Insoweit ist gemäß § 247a Abs. 2 Satz 2 der Anwendungsbereich des Satzes 1 schon gar nicht eröffnet, sodass keine Entscheidung nach dieser Vorschrift zu treffen ist. Ordnet das Gericht dennoch die audiovisuelle Vernehmung des Sachverständigen an, so kann dies mit der Revision beanstandet werden, auch als Verstoß gegen § 250 Satz 1 oder § 244 Abs. 2. Ist der Sachverständige ausnahmsweise einmal durch die Anordnung beschwert, so ist er, da nicht revisionsberechtigt, gemäß § 305 Satz 2 zur Einlegung der Beschwerde befugt.
§ 255a (1) Für die Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung einer Zeugenvernehmung gelten die Vorschriften zur Verlesung einer Niederschrift über eine Vernehmung gemäß §§ 251, 252, 253 und 255 entsprechend. (2) 1In Verfahren wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 bis 184g des Strafgesetzbuches) oder gegen das Leben (§§ 211 bis 222 des Strafgesetzbuches), wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 des Strafgesetzbuches) oder wegen Straftaten gegen die persönliche Freiheit nach den §§ 232 bis 233a des Strafgesetzbuches kann die Vernehmung eines Zeugen unter 18 Jahren durch die Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung seiner früheren richterlichen Vernehmung ersetzt werden, wenn der Angeklagte und sein Verteidiger Gelegenheit hatten, an dieser mitzuwirken. 2Dies gilt auch für Zeugen, die Verletzte einer dieser Straftaten sind und zur Zeit der Tat unter 18 Jahre alt waren. 3Das Gericht hat bei seiner Entscheidung auch die schutzwürdigen Interessen des Zeugen zu berücksichtigen und den Grund für die Vorführung bekanntzugeben. 4Eine ergänzende Vernehmung des Zeugen ist zulässig. Schrifttum Bittmann Das 2. Opferrechtsreformgesetz, JuS 2010 219; ders. Perspektiven zum Opferschutz – Reform der Reform, ZRP 2009 212; ders. Referentenentwurf für ein Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG), ZRP 2011 72; Burhoff Neuregelungen in der StPO durch das 2. Opferrechtsreformgesetz, ZAP Fach 22 (2010), 483; Eisenberg Referentenentwurf des BMJ „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG)“ 2010, HRRS 2011 64; Schroth 2. Opferrechtsreformgesetz – Das Strafverfahren auf dem Weg zum Parteienprozess?, NJW 2009 2916.
Änderung. Durch Art. 1 Nr. 35 des 2. Opferrechtsreformgesetzes vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2280) wurde mit Wirkung zum 1.10.2009 in § 255a Abs. 2 S. 1 das Wort „sechzehn“ durch die Angabe „18“ ersetzt. Die gleiche Änderung wurde in § 241a Abs. 1 und § 247 Satz 2 sowie § 60 Nr. 1 vorgenommen. Mit Wirkung zum 1.9.2013 wurden durch Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) vom 26.6.2013 (BGBl. I S. 1805) die Sätze 2 und 3 bei Absatz 2 eingefügt.
Jörg-Peter Becker/Andreas Mosbacher
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§ 255a StPO Nachtr.
Zweites Buch. Verfahren im ersten Rechtszug
Einzelfragen 1
1. Sinn und Zweck der Neuregelung in Abs. 2 S. 1. Die Heraufsetzung der Schutzaltersgrenze in § 255 a Abs. 2 S. 1 und in anderen Vorschriften von bislang einheitlich 16 auf nunmehr einheitlich 18 Jahre dient dem Zweck, die Rechte von Jugendlichen, die Opfer von Straftaten sind und als Zeugen in einem Strafverfahren aussagen müssen, weiter zu stärken. Es soll damit gewährleistet werden, dass die Belastungen eines Strafverfahrens, die für Jugendliche aufgrund ihres Entwicklungsprozesses oftmals besonders stark sind, durch entsprechende Schutzmaßnahmen abgemildert werden können.1 Nach Ansicht des Gesetzgebers haben sich die bisherigen Schutzregelungen für kind2 liche und jugendliche Zeugen in § 241a Abs. 1, § 247 und § 255a Abs. 2 in der Praxis bewährt und werden als richtig und wichtig anerkannt.2 Aus der Praxis sei allerdings darauf hingewiesen worden, dass die Altersgrenze von 16 Jahren als nicht ausreichend erscheine, insbesondere bei Jugendlichen, die Opfer einer Sexualstraftat geworden seien; die Belastungssituation einer 16-Jährigen unterscheide sich insoweit nicht wesentlich von der Belastungssituation einer 15-Jährigen. Dieser Befund trifft nach Auffassung des Gesetzgebers nicht nur auf Opfer von Sexualdelikten, sondern auch auf jugendliche Opfer anderer Delikte zu.3 Im deutschen Strafprozessrecht soll nach dem Willen des Gesetzgebers deshalb ein 3 noch stärkerer Augenmerk auf den Schutz der noch nicht volljährigen Opfer und Zeugen von Straftaten gerichtet werden. Im Strafverfahren gegen jugendliche Beschuldigte seien der Gedanke der besonderen Ansprache dieser Zielgruppe und das Erfordernis jugendgerechter Spezialregelungen seit langem anerkannt; insoweit bestehe hinsichtlich der altersgemäßen Behandlung jugendlicher Beschuldigter und jugendlicher Opfer und Zeugen ein „Ungleichgewicht“, das im Interesse der jugendlichen Opferzeugen zu beseitigen sei.4
4
2. Anpassung der Schutzaltersgrenze an internationale Abkommen und europäische Vorgaben. Mit der Heraufsetzung der Schutzaltersgrenze will der Gesetzgeber auch zahlreichen internationalen Abkommen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, denen die Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist, besser Rechnung tragen. In diesen Abkommen wird unter Kind regelmäßig jeder Mensch verstanden, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat.5 Zudem habe sich Deutschland mit mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit dem in Portoroz verabschiedeten Papier der Hochrangigen
1 2 3 4 5
BTDrucks. 16 12098 S. 2. BTDrucks. 16 12098 S. 40. BTDrucks. 16 12098 S. 41. BTDrucks. 16 12098 S. 41. Vgl. Art. 1 UN-Kinderrechtskonvention vom 20.11.1990 i.V.m. Resolution 2005/20 der VN für eine Richtlinie für den Schutz kindlicher Opfer und Zeugen im Strafverfahren vom 22.7.2005; Rahmenbeschlüsse 2004/ 68/JI und 2002/629/JI des Rates der EU vom 22.12.2003 zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornografie und vom 19.7.2002 zur Bekämpfung des Menschenhandels; Europaratsüber-
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einkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 16.5.2005, zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch vom 25.10.2007; Empfehlungen des Europarats Nr. 2001/16 zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung vom 31.10.2001, Nr. 1985/11 zur Stellung des Opfers im Rahmen des Strafrechts und im Strafverfahren vom 28.6.1985, Nr. 1987/21 zur Unterstützung von Opfern und der Prävention von Viktimisierung vom 17.9.1987 und Nr. 2006/8 zur Unterstützung von Opfern von Straftaten vom 14.6.2006.
Andreas Mosbacher
Sechster Abschnitt. Hauptverhandlung
Nachtr. § 255a StPO
Gruppe zur Zukunft der Europäischen Justizpolitik6 dem Ziel verschrieben, insbesondere für die kindlichen und jugendlichen Opfer von Straftaten weitere Verbesserungen zu erreichen.7 3. Erweiterung der Vernehmungsersetzung nach Abs. 2 S. 2 und 3: Durch Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) wurden nach § 255a Abs. 2 S. 1 die Sätze 2 und 3 neu eingefügt. Diese Regelungen beruhen insbesondere auf den Beratungen des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“.8 Mit der Neuregelung soll der besonderen Schutzbedürftigkeit von Personen Rechnung getragen werden, die als Minderjährige Opfer einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 bis 184g StGB), gegen das Leben (§§ 211 bis 222 StGB), der Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB) oder gegen die persönliche Freiheit nach den §§ 232 bis 233a StGB geworden sind und die unter den psychischen Folgen häufig noch bis weit in das Erwachsenenalter hinein zu leiden hätten. Zahlreiche Fälle, die auch Anlass für die Bildung des Runden Tisches gewesen seien, hätten gezeigt, dass insbesondere die mit Missbrauch im Kindesalter verbundene psychische Verletzung und die daraus resultierende Unfähigkeit der Opfer, über das von ihnen Erlittene offen zu sprechen, auch nach Erreichen der Volljährigkeit anhielten, so dass für die Betroffenen die erneute Vernehmung in der fremden Umgebung der Hauptverhandlung zu einer vergleichbaren Belastung führe wie für minderjährige Zeugen.9 Der Gesetzgeber hat mit der Gesetzesformulierung klargestellt, dass es sich bei den Zeugen im Sinne von § 255a Abs. 2 S. 2 – anders als bei § 255a Abs. 2 S. 1 – um Verletzte der Straftaten handeln muss, die Gegenstand des Verfahrens sind.10 Gegenstand des Verfahrens sind derartige Straftaten, wenn die prozessuale Tat im Zeitpunkt der vernehmungsersetzenden Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung Gegenstand der Hauptverhandlung ist und sich diese prozessuale Tat materiell-rechtlich als eine der von § 255a Abs. 1 S. 1 erfassten Straftaten erweist.11 Durch die Einfügung des neuen § 255a Abs. 2 S. 3 soll der opferschützende Charakter der Vorschrift verdeutlicht werden, demgegenüber Gesichtspunkte der Verfahrensökonomie und Prozessbeschleunigung zurückzutreten hätten.12 Nach Auffassung des Gesetzgebers hatte das Gericht schon nach bislang geltendem Recht bei seiner Entscheidung über die vernehmungsersetzende Vorführung neben der Aufklärungspflicht und dem Verteidigungsinteresse vor allen Dingen auch den Zweck der Vorschrift zu beachten, Mehrfachvernehmungen zum Schutz minderjähriger Zeugen zu vermeiden. Insoweit handelt es sich bei der Gesetzesergänzung um eine besondere Hervorhebung dieses Gesichtspunkts, die sich im Rahmen von Ermessensentscheidungen auswirken kann. Mit der Änderung soll besonders unterstrichen werden, dass das Gericht bei seiner Entscheidung auch zu prüfen habe, inwieweit die besondere Schutzbedürftigkeit eines minderjährigen Zeugen bzw. eines zum Tatzeitpunkt minderjährigen Opferzeugen eine vernehmungsersetzende Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung gebiete.13 6
7 8 9
Vgl. Vermerk des Vorsitzes für den AStV/Rat (Justiz und Inneres) vom 7.7.2008 – 11549/08, S. 31 f. BTDrucks. 16 12098 S. 41. BTDrucks. 17 6261 S. 1. BTDrucks. 17 6261 S. 12; kritisch Eisenberg HRRS 2011 66.
10 11 12 13
BTDrucks. 17 6261 S. 12. Vgl. näher hierzu LR/Mosbacher 10. BTDrucks. 17 6261 S. 12. BTDrucks. 17 6261 S. 12; kritisch Eisenberg HRRS 2011, 66.
Andreas Mosbacher
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§ 255a StPO Nachtr.
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Auf Vorschlag des Rechtsausschusses wurde bei § 255a Abs. 2 S. 3 ein Halbsatz angefügt, wonach das Gericht bei seiner Entscheidung den Grund für die Vorführung bekannt zu geben hat. Hierdurch solle klargestellt werden, dass das Gericht wie auch bei § 255a Abs. 1 seine Entscheidung zur Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung zu begründen habe; diese Begründung diene der Transparenz und dem fairen Verfahren.14 Der Verweis auf § 255a Abs. 1 ist indes unklar, denn dort gibt es keine obligatorische Mitteilungspflicht, sondern nur den Verweis auf § 255 (Mitteilungspflicht nur bei ausdrücklichem Antrag) bzw. § 251 Abs. 4 (Mitteilungspflicht aufgrund Beschlusserfordernis). Dem Wortlaut von § 255a Abs. 2 S. 3 ist indes eindeutig zu entnehmen, dass das Gericht in allen Fällen seine Entscheidung zur vernehmungsersetzenden Vorführung der Bild-TonAufzeichnung begründen muss. In aller Regel wird hierzu der Verweis auf den Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung – Schutz des minderjährigen oder sonst besonders schutzbedürftigen Opferzeugen – ausreichen.
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5. Anordnung des Vorsitzenden bei Vernehmungsersetzung nach Absatz 2? Die bislang umstrittene Frage, ob die vernehmungsersetzende Vorführung der Bild-Ton-Aufnahmen zu Beweiszwecken nach Absatz 2 eines Gerichtsbeschlusses bedarf oder insoweit eine Anordnung des Vorsitzenden ausreicht, hat der BGH unter Hinweis auf die hiesige Kommentierung15 im letztgenannten Sinne entschieden.16 Ob diese Rechtsprechung nach der Einfügung von § 255a Abs. 2 S. 3 durch das StORMG noch haltbar ist, erscheint indes zweifelhaft. Denn der Gesetzgeber spricht dort ausdrücklich von einer „Entscheidung“ des „Gerichts“. Auch in der Gesetzesbegründung ist die Rede davon, dass „das Gericht“ bei „seiner Entscheidung“ über die vernehmungsersetzende Vorführung andere, weniger einschneidende Möglichkeiten des Zeugenschutzes wie §§ 247, 247a bedenken und insbesondere prüfen müsse, ob die Schutzbedürftigkeit des Zeugen eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes zu rechtfertigen vermöge,17 und dass „das Gericht seine Entscheidung“ zu begründen habe.18 Mit „Gericht“ ist regelmäßig der gesamte Spruchkörper, nicht nur der Vorsitzende gemeint. Anordnungen nach §§ 247, 247a kann ebenfalls nur das gesamte Gericht treffen, weshalb auch die Wahl zwischen § 255a Abs. 2 und §§ 247, 247a nur eine Wahl des Gerichts als Spruchkörper sein kann. Zutreffend erscheint vor dem Hintergrund des neuen Wortlauts von § 255a Abs. 2 und der insoweit eindeutigen Gesetzesbegründung deshalb, für eine derartige Entscheidung über die vernehmungsersetzende Vorführung einer Bild-Ton-Aufzeichnung einer richterlichen Zeugenvernehmung einen begründeten Gerichtsbeschluss zu fordern. Das Beschlusserfordernis gilt jedenfalls für vernehmungsersetzende Vorführungen von Bild-Ton-Aufzeichnungen nach dem Inkrafttreten der Änderungen in Abs. 2 S. 3, also ab dem 1.9.2013.
14 15
BTDrucks. 17 12735 S. 22. LR/Mosbacher 17; im Ergebnis ebenso Meyer-Goßner 11; SK/Schlüchter 19; Schlothauer StV 1999 47, 49; a.A. LR/Gollwitzer25 18; KK/Diemer 14; bislang offen gelassen von BGHSt 49 72, 74.
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16
17 18
BGH NStZ 2011 712 m. jeweils abl. Anm. Lickleder/Sturm HRRS 2012 74; Eisenberg StraFo 2012 397; Krüger/Wengenroth StV 2012 452. BTDrucks. 17 6261 S. 12. BTDrucks. 17 12735 S. 22.
Andreas Mosbacher
Sechster Abschnitt. Hauptverhandlung
Nachtr. § 268 StPO
§ 268 (1) … (2) 1–2… 3Bei der Entscheidung, ob die Urteilsgründe verlesen werden oder ihr wesentlicher Inhalt mündlich mitgeteilt wird, sowie im Fall der mündlichen Mitteilung des wesentlichen Inhalts der Urteilsgründe soll auf die schutzwürdigen Interessen von Prozessbeteiligten, Zeugen oder Verletzten Rücksicht genommen werden. (3) … (4) …
Änderung. Art. 1 Nr. 9 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) vom 26.6.2013 (BGBl. I 1805) hat einen Satz 3 an Absatz 2 angehängt. 1. Zweck der Änderung. Der neue Satz 3 dient der ausdrücklichen Klarstellung, dass auf die schutzwürdigen Interessen von Prozessbeteiligten, Zeugen oder Verletzten bei der Gestaltung der mündlichen Urteilsbegründung Rücksicht genommen werden soll. In welcher Weise dies geschieht, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, das die der mündlichen Urteilsbegründung zugedachten Zwecke (HW § 268, 21) und die im Einzelfall als schutzwürdig erkannten Individualinteressen in ein angemessenes Verhältnis zu bringen hat. Dieser Schutz kann dadurch bewirkt werden, dass etwa statt der Verlesung der Urteilsbegründung nur der wesentliche Inhalt der Urteilsgründe mitgeteilt wird und bei dieser Darstellung auf solche Details aus den privaten Lebensbereichen der Betroffenen verzichtet wird, die deren schutzwürdige Interessen verletzen würden.1 Von Bedeutung ist diese Klarstellung insbesondere in den Fällen, in denen die Öffentlichkeit nach §§ 171b, 172 GVG zum Schutz der Privatsphäre der Betroffenen ausgeschlossen wurde. Der neue Satz 3 des § 268 Abs. 2 verlängert diesen Schutz der Privatsphäre nun in die Phase der Eröffnung der Urteilsgründe hinein.2
1
BTDrucks. 17 12735 S. 22.
2
BTDrucks. 17 12735 S. 22.
Carl-Friedrich Stuckenberg
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ACHTER ABSCHNITT Verfahren gegen Abwesende § 291 Der die Beschlagnahme verhängende Beschluß ist im Bundesanzeiger bekanntzumachen und kann nach dem Ermessen des Gerichts auch auf andere geeignete Weise veröffentlicht werden.
Änderung. Das Wort „elektronischen“ wurde durch Art. 2 Abs. 30 des Gesetzes v. 22.11.2011 (BGBl. I 3044) wieder gestrichen, weil der Bundesanzeiger gemäß § 5 VkBkmG i.d.F. des vorgenannten Gesetzes nunmehr nur noch elektronisch herausgegeben wird.
§ 292 (1) Mit dem Zeitpunkt der ersten Bekanntmachung im Bundesanzeiger verliert der Angeschuldigte das Recht, über das in Beschlag genommene Vermögen unter Lebenden zu verfügen. (2) …
Änderung. Das Wort „elektronischen“ in Absatz 1 wurde durch Art. 2 Abs. 30 des Gesetzes v. 22.11.2011 (BGBl. I 3044) wieder gestrichen, weil der Bundesanzeiger gemäß § 5 VkBkmG i.d.F. des vorgenannten Gesetzes nur noch elektronisch herausgegeben wird.
§ 293 (1) … (2) 1… 2Ist die Veröffentlichung nach § 291 im Bundesanzeiger erfolgt, ist zudem deren Löschung zu veranlassen; die Veröffentlichung der Aufhebung der Beschlagnahme im Bundesanzeiger ist nach Ablauf von einem Monat zu löschen. Änderung. Die Wörter „elektronischen“ vor „Bundesanzeiger“ in beiden Halbsätzen von Absatz 2 Satz 2 wurden durch Art. 2 Abs. 30 des Gesetzes v. 22.11.2011 (BGBl. I 3044) gestrichen, weil der Bundesanzeiger gemäß § 5 VkBkmG i.d.F. des vorgenannten Gesetzes nur noch elektronisch herausgegeben wird.
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Carl-Friedrich Stuckenberg
FÜNFTES BUCH Beteiligung des Verletzten am Verfahren ZWEITER ABSCHNITT Nebenklage § 395 (1) Der erhobenen öffentlichen Klage oder dem Antrag im Sicherungsverfahren kann sich mit der Nebenklage anschließen, wer verletzt ist durch eine rechtswidrige Tat nach 1. den §§ 174 bis 182 des Strafgesetzbuches, 2. den §§ 211 und 212 des Strafgesetzbuches, die versucht wurde, 3. den §§ 221, 223 bis 226 und 340 des Strafgesetzbuches, 4. den §§ 232 bis 238, 239 Absatz 3, §§ 239a, 239b und 240 Absatz 4 des Strafgesetzbuches, 5. § 4 des Gewaltschutzgesetzes, 6. § 142 des Patentgesetzes, § 25 des Gebrauchsmustergesetzes, § 10 des Halbleiterschutzgesetzes, § 39 des Sortenschutzgesetzes, den §§ 143 bis 144 des Markengesetzes, den §§ 51 und 65 des Geschmacksmustergesetzes, den §§ 106 bis 108b des Urheberrechtsgesetzes, § 33 des Gesetzes betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie und den §§ 16 bis 19 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb. (2) Die gleiche Befugnis steht Personen zu, 1. deren Kinder, Eltern, … 2. die durch einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 172) die Erhebung der öffentlichen Klage herbeigeführt haben. (3) Wer durch eine andere rechtswidrige Tat, insbesondere nach den §§ 185 bis 189, 229, 244 Absatz 1 Nummer 3, §§ 249 bis 255 und 316a des Strafgesetzbuches, verletzt ist, kann sich der erhobenen öffentlichen Klage mit der Nebenklage anschließen, wenn dies aus besonderen Gründen, insbesondere wegen der schweren Folgen der Tat, zur Wahrnehmung seiner Interessen geboten erscheint. (4) … (5) Wird die Verfolgung nach § 154a beschränkt, so berührt dies nicht das Recht, sich der erhobenen öffentlichen Klage als Nebenkläger anzuschließen. Wird der Nebenkläger zum Verfahren zugelassen, entfällt eine Beschränkung nach § 154a Absatz 1 oder 2, soweit sie die Nebenklage betrifft.
Schrifttum Barton Wie wirkt sich das 2. Opferrechtsreformgesetz auf die Nebenklage aus? StRR 2009 404; ders. Die Reform der Nebenklage: Opferschutz als Herausforderung für das Strafverfahren, JA 2009
Marc Wenske
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§ 395 StPO Nachtr.
Fünftes Buch. Beteiligung des Verletzten am Verfahren
753; ders./Flotho Opferanwälte im Strafverfahren (2010); Böttcher Unterlassener Hinweis auf die Nebenklagebefugnis – folgenlos? FS Widmaier 81; Bittmann Das 2. Opferrechtsreformgesetz, JuS 2010 219; Bung Zweites Opferrechtsreformgesetz, StV 2009 430; Ferber Das Opferrechtsreformgesetz, NJW 2004 2562; Hilger Das 2. Opferrechtsreformgesetz, GA 2009 657; Herrmann Die Entwicklung des Opferschutzes im deutschen Strafrecht und Strafprozessrecht – Eine unendliche Geschichte, ZIS 2010 236; Jahn/Bung Die Grenzen der Nebenklagebefugnis, StV 2012 357; Kölbel/ Bork Sekundäre Viktimisierung als Legitimationsformel (2012); Rieß Die Beteiligung des Verletzten im Strafverfahren, FS Jung 751; ders. Entwicklungstendenzen in der deutschen Strafprozessgesetzgebung seit 1950, ZIS 2009 466; Schroth 2. Opferrechtsreformgesetz – Das Strafverfahren auf dem Weg zum Parteienprozess? NJW 2009 2916; Weigend Das Opfer als Prozesspartei – Bemerkungen zum Opferrechtsreformgesetz, FS Schöch 947.
Änderungen. Die Vorschrift ist über einige sprachliche Umstellungen hinaus zur besseren Lesbarkeit und Verständlichkeit durch Art. 1 Nr. 25 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz – 2. OpferRRG)1 neu gefasst worden. Absatz 1 Nr. 1 war zuvor § 395 Abs. 1 Nr. 1 lit. a. Die neugefassten Nrn. 2 und 3 sind inhaltlich identisch mit der bisherigen Regelung des § 395 Abs. 1 Nr. 2. bzw. § 395 Abs. 1 Nr. 1 lit. c. Die Nr. 4 entspricht weitergehend der bislang in § 395 Abs. 1 Nr. 1 lit. d enthaltenen Regelung; hierher wurde die zur Nebenklage berechtigende Nachstellung (§ 238 StGB) aus § 395 Abs. 1 Nr. 1 lit. e a.F. verschoben und dieser Katalog ergänzt um rechtswidrige Taten nach §§ 236 und 240 Abs. 4 StGB. Die ebenfalls in § 395 Abs. 1 Nr. 1 lit. e bislang enthaltene Nebenklagebefugnis aus § 4 GewaltschG ist Gegenstand der neu eingeführten Nr. 5. In die neu eingefügte Nr. 6 wurden die Inhalte der bisherigen § 395 Abs. 2 Nr. 2 a.F. verschoben und sprachlich neu gefasst. Statt §§ 108a und 108b Abs. 3 UrhG heißt es nunmehr § 106 bis 108b UrhG. Neu aufgenommen in diesen Katalog wurden § 33 des Gesetzes betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie sowie die §§ 16 bis 19 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb. In Absatz 22 wurde lediglich die Reihenfolge der Berechtigten in Nr. 1 geändert.3 Nr. 2 war zuvor § 395 Abs. 1 Nr. 3 a.F.4 Absatz 3 wurde umgestaltet. Aufgenommen wurde ein Relativsatz, der beispielhaft die dem Grunde nach zur Nebenklage berechtigenden rechtswidrigen Taten umschreibt. Neben dem bisher allein erfassten § 229 StGB sind ausdrücklich benannt worden § 244 Abs. 1 Nr. 3, §§ 249 bis 255 und 316a StGB. Die Beleidigungsdelikte §§ 185 bis 189 StGB sind im Katalog des 395 Abs. 1 gestrichen (§ 395 Abs. 1 Nr. 1 lit. b a.F.) und hier eingefügt worden. Absatz 5 blieb unverändert. Der die frühere Regelung des § 397 Abs. 2 a.F. enthaltende Absatz 5 wurde neu in § 395 eingefügt.
1
1. Bedeutung. Die Neufassung der Nebenklagebefugnis steht im regelungssystematischen Zusammenhang mit den sonstigen Änderungen der StPO durch das 2. OpferRRG und einer hierdurch erstrebten Neuordnung des Rechts der Nebenklage und der Stärkung der Rechte von Opfern und Zeugen im Strafverfahren.5 Zu nennen sind hier etwa 1 2 3
BGBl. 2009 I S. 2280. Zur fehlenden Nebenklagebefugnis eines Stiefvaters BGH v. 14.2.2012 – 3 StR 7/12. Zur Nebenklageberechtigung des rechtskräftig geschiedenen Ehegatten bei Fehlen der
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4 5
nach materiellem türkischen Recht erforderlichen Anerkennungsbescheinigung BGH NJW 2012 3524. Vgl. OLG München NStZ-RR 2011 378, 380. BTDrucks 16 12098 S. 1, 29.
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Zweiter Abschnitt. Nebenklage
Nachtr. § 395 StPO
die durch eine Neufassung des § 395 erreichte Erwerterung der Anschlussmöglichkeiten eines Verletzten als Nebenkläger, die erleichterte Möglichkeit, dem besonders schutzwürdigen Nebenkläger einen Opferanwalt zu bestellen (§§ 397, 397a), sowie die Erweiterung von Informationsrechten des möglichen Verletzten einer Tat (§§ 406d, 406e, 406h). Die einzelnen Änderungen, die in der Tradition der Opferschutzgesetzgebung stehen,6 gehen über die vom Gesetzgeber ausdrücklich erstrebte bloße „Neujustierung“ des Rechts der Nebenklage7 signifikant hinaus.8 Dies gilt namentlich für die Neufassung von Absatz 39 aber auch für die Gleichstellung verletzter Träger gewerblicher Schutzrechte in Absatz 1 mit Opfern gegen Leib und Leben gerichteter Aggressionsdelikte.10 Letztere erweist sich ebenso wie die Nebenklage bei §§ 185 ff. StGB als systemwidrig. 2. Deliktskatalog Absatz 1. Die Katalogtatbestände Absatz 1 Nr. 4 und 6 wurden um 2 weitere zur Nebenklage berechtigende Straftatbestände ergänzt. a) Absatz 1 Nr. 4. In den Katalog aufgenommen wurden der Kinderhandel (§ 236 3 StGB) und die Nötigung in besonders schweren Fällen (§ 240 Abs. 4 StGB). Zur Nötigung ist den Gesetzesmaterialien zu entnehmen, dass nunmehr jedenfalls die in § 240 Abs. 4 Nr. 1 bis 3 StGB benannten besonders schweren Fälle zur Nebenklage berechtigen.11 Die Aufnahme des Regelbeispiels nach § 240 Abs. 4 Nr. 1 StGB geht zurück auf eine Gesetzesinitiative des Bundesrates, der hiermit eine verbesserte Rechtsstellung der Opfer von Zwangsverheiratung12 und sexuellen Handlungen erstrebte.13 Über dieses urspünglich begrenzte Gesetzesvorhaben hinaus erweiterte der Reformgesetzgeber die Nebenklagebefugnis auf sämtliche benannte Regelbeispiele des § 240 Abs. 4 StGB und begründete dies mit dem jeweils gegenüber dem Grundtatbestand gesteigerten Unrecht, das für die „Lebensführung“ und den „höchstpersönlichen Lebensbereich“ der Tatopfer von vergleichbarer Schwere ist und und zu „besonders nachhaltigen Verunsicherungen führen“ kann.14 Hingegen verhalten sich die Gesetzesmaterialien nicht ausdrücklich zu der Frage, ob 4 auch die unbenannten besonders schweren Fälle des § 240 Abs. 4 StGB eine Nebenklagebefugnis nach § 395 Abs. 1 konstituieren. Auch dem Gesetzeswortlaut ist eine ausdrückliche Begrenzung auf die benannten Regelbeispiele nicht zu entnehmen. Vor diesem Hintergrund ist es zunächst scheinbar konsequent, bei besonders schweren Fällen der Nötigung stets eine Nebenklagebefugnis nach § 395 Abs. 1 anzunehmen.15 Dem kann allerdings nicht gefolgt werden. Denn die unbenannten Regelbeispiele sind nicht geeignet, dieselben Rechtswirkungen wie die ausdrücklich benannten Straftatbestände nach § 395 Abs. 1 Nr. 1 bis 3, 5 und 6 oder wie die benannten besonders schweren Fälle (§ 395 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m § 396 Abs. 2 Satz 1) zu vermitteln. Dem liegen folgende Erwägungen zugrunde: Nach der heute überwiegenden, auch hier vertretenen Auffassung16 erweist sich die 5 Anschlusserklärung nach § 396 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 als prozessuale Bewirkungs6 7 8
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10
BTDrucks. 16 12098 S. 29 ff. BTDrucks. 16 12098 S. 1. Darauf weist zu Recht krit. hin Jahn in Anhörung im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages vom 13.5.2009, S. 24. Krit. hierzu Bung StV 2009 430, 435; Hilger GA 2009 657, 658; Safferling ZStW 122 (2010) 87, 95; HK/Kurth/Weiser 8. Krit. HK/Kurth/Weiser 8.
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Barton StRR 2009 404, 405; ders. JA 2011 753, 754. Hierzu Letzgus FPR 2011 451 ff. BTDrucks. 16 9448 S. 30; vgl. bereits Lehmann NStZ 2002 353, 356. BTDrucks. 16 12098 S. 30. HK/Kurth/Weißer 23. HW Rn. 12 ff., 15.
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§ 395 StPO Nachtr.
Fünftes Buch. Beteiligung des Verletzten am Verfahren
handlung.17 Bei Vorliegen aller erforderlichen Voraussetzungen, namentlich einer Zugehörigkeit zum berechtigten Personenkreis18 und einer wirksamen Prozesserklärung19, vermittelt bereits die Anschlusserklärung des nebenklageberechtigten Verletzten dessen Rechsstellung als Nebenkläger, sofern die Verurteilung des Angeklagten wegen einer Katalogtat nach dem von der Anklage erfassten Sachverhalt (§ 264) möglich erscheint.20 Einer gerichtlichen Entscheidung nach § 396 Abs. 2 Satz 1 kommt in diesen Fällen allein deklaratorische Wirkung zu. Dieser begrenzte materielle Prüfungsumfang wird durch die mit dem 2. OpferRRG erstmals erfolgte Aufnahme eines ausschließlichen Regeltatbestands in den Katalog des § 395 Abs. 1 erweitert.21 Zu prüfen ist in diesen Fällen nämlich über die Verurteilungsmöglichkeit hinaus, ob der Fall nach Gewicht von Unrecht und Schuld vom Durchschnitt vorkommender Fälle derart abweicht, dass die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens geboten ist.22 Dieser gerichtliche Wertungsakt mag bei den benannten besonders schweren Fällen mit Blick auf die durch sie vermittelte gesetzliche Vermutung und die dadurch allein veranlasste Prüfung auf atypische Fallkonstellationen hin noch begrenzt sowie wegen der ihnen zugeschriebenen Tatbestandsähnlichkeit23 als Gegenstand einer Bewirkungshandlung noch vertretbar sein. Das gilt allerdings nicht in gleichem Maße für die unbenannten Fälle. Hier fehlt es an einer gesetzlichen Vermutungsregel und eindeutigen gesetzlichen Anhaltspunkten für das Gewicht von Schuld und Unrecht, sodass ausschlaggebend allein eine gerichtliche Gesamtwürdigung von Tat und Täter ist. Dies zugrunde gelegt, bewirkt die Anschlusserklärung für sich in diesen Fällen die 6 Rechtsstellung als Nebenkläger noch nicht; sie erwirkt vielmehr über die Prüfung der vorgenannten formellen Umstände und der Verurteilungsmöglichkeit hinaus die gerichtliche Gesamtwürdigung von Tat und Täter. Der Begründung einer Anschlusserklärung des möglichen Verletzten kann sie nicht überlassen werden. Normsystematisch ist die Nebenklagebefugnis wegen eines unbenannten besonders schweren Falles daher nicht in § 395 Abs. 1, sondern vielmehr in § 395 Abs. 3 zu verorten.24 Dass auch der Gesetzgeber dieses Ergebnis naheliegend im Blick hatte und durch die Aufnahme unbenannter besonders schwerer Fälle in den Katalog des § 395 Abs. 1 nicht etwa einen Strukturbruch zwischen Bewirkungs- und Erwirkungshandlungen nach § 395 Abs. 1 bzw. § 395 Abs. 3 bezweckte oder auch nur in Kauf nahm, legen schließlich auch die Gesetzgebungsmaterialien nahe.25 Diese behandeln ausdrücklich die bewusste Aufnahme der Regelbeispiele, schweigen indes zu den unbenannten besonders schweren Fällen. Ungeachtet erhobener gewichtiger Einwände gegen die Gesetzgebungstechnik der Regelbeispiele26 sowie gegen die tatbestandliche Weite des § 240 Abs. 4 StGB27 vermag auch dieses Auslegungsergeb-
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Vgl. allgemein zur Differenzierung prozessualer Be- und Erwirkungshandlungen HW Einl. K 13 ff.; Eb. Schmidt I 213 ff. Unzureichend hierfür soll nach OLG Rostock NStZ 2013 126 ein vom möglichen Verletzten erstrebter Freispruch des Angeklagten sein. Vgl. zur erforderlichen Prozessfähigkeit Minderjähriger KG NStZ-RR 2011 22. HW Rn. 13; § 396, 8; vgl. zuletzt nur BGH NStZ-RR 2008 352, 353; BGH v. 25.5.2011 – 4 StR 126/11, BeckRS 2011 16369; OLG Brandenburg NStZ 2010 654, 655 m.w.N.
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Bislang enthielt im Kernstrafrecht allein die Verweisungsnorm des § 177 StGB (sexuelle Nötigung, Vergewaltigung) in seinem Absatz 2 einen – unbenannten – besonders schweren Fall, vgl. Rieß GA 2007 377, 387. Vgl. BGHSt 28 318, 319; ferner nur Fischer § 46, 88 StGB. Vgl. BTDrucks. 13 7164, S. 42; BGHSt 33 370, 374. Barton StRR 2009 404. Barton StRR 2009 404, 405. Rieß GA 2007 377 ff. Fischer § 240, 58a und § 46, 96 f. StGB.
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Zweiter Abschnitt. Nebenklage
Nachtr. § 395 StPO
nis nicht zu verdecken, dass die Aufnahme gerade der unbenannten besonders schweren Fälle des § 240 Abs. 4 StGB problematisch und wenig praxistauglich ist. Sie sollte überdacht werden. b) Absatz 1 Nr. 6. Rechtswidrig verletzte gewerbliche Schutzrechte berechtigen nach 7 der Neufassung in erweitertem Umfang zur Nebenklage.28 Bereits die nahezu wortgleiche frühere Gesetzesfassung (§ 395 Abs. 2 Nr. 2 a.F.) war allerdings durch das Schrifttum als unvereinbar mit den Grundgedanken der Nebenklage kritisiert worden.29 Dieser orientiert sich nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers maßgeblich an der Schutzbedürftigkeit der durch schwerwiegende Straftaten gegen höchstpersönliche Rechtsgüter Verletzten.30 Mit der Aufnahme von gewerblichen Schutzrechten werden hingegen erkennbar allein wirtschaftliche Verletzteninteressen geschützt.31 Dieser Kritik wurde im Gesetzesentwurf zum 2. OpferRRG zunächst Rechnung getragen; der § 395 Abs. 2 Nr. 2 a.F. sollte entfallen, weil dieser „die überholte Verbindung von Privatklage und Nebenklage fortsetzt“ und Verstöße gegen gewerbliche Schutzrechte keine schwerwiegenden Aggressionsdelikte darstellten.32 Auf „scharfen Protest der Interessenverbände“33 und entsprechende Empfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages hin fanden die gewerblichen Schutzrechte inhaltlich gleichwohl unverändert Eingang in die gesetzliche Neufassung.34 Eine dogmatische Begründung hierfür ist den Gesetzesmaterialien nicht zu entnehmen. Der Rechtsausschutz beschränkte sich auf den Hinweis, dass seiner Beschlussempfehlung – nicht näher ausgeführte – „rechtspolitische Erwägungen“ zugrunde liegen.35 Der bereits zur früheren Gesetzesfassung bestehende Systembruch im Regelungsregime der Nebenklage wurde damit perpetuiert.36 Bedauerlicherweise hat es der Gesetzgeber damit versäumt, den Katalog der zur Nebenklage berechtigenden rechtswidrigen Taten kohärent zu fassen.37 Solches ist ersichtlich kein Selbstzweck, sondern gerade für die Auslegung einzelner Tatstandsmerkmale der Nebenklageberechtigung durch den Rechtsanwender von besonderer Bedeutung.38 3. Auffangtatbestand Absatz 3. Zum Anschluss als Nebenkläger ist nach Absatz 3 8 befugt, wer durch andere als die in den Absätzen 1 und 2 Nr. 1 abschließend benannten rechtswidrigen Taten verletzt worden ist und dies aus besonderen Gründen zur Wahrnehmung seiner Interessen geboten erscheint.
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34
Vgl. OLG Jena NJW 2012 547 zur fehlenden Nebenklagebefugnis des Insolvenzverwalters mangels Inhaberschaft der durch die Tat möglicherweise betroffenen gewerblichen Schutzrechte. Ferber NJW 2004 2562, 2563; Rieß FS Jung 751, 757. Nachtr. Rn. 12; HW Vor § 395, 9. HW Vor § 395, 9. BTDrucks. 16 12098 S. 30. Bung Strafprozessuale Fragen beim Schutz des geistigen Eigentums in: Bosch/Bung/Klippel, Geistiges Eigentum und Strafrecht (2011) 139, 152 m.w.N.; ders. StV 2009 430 434. BTDrucks. 16 13671 S. 22.
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BTDrucks. 16 13671 S. 22. HK/Kurth/Weißer 9; KMR/Stöckel 10; Meyer-Goßner 6; SK/Velten 22; BeckOK/ Weiner 13b; Barton JA 2009 753, 754 f.; ders. StRR 2009 404, 405; Jahn/Bung StV 2012 357, 359; Bung Strafprozessuale Fragen beim Schutz des geistigen Eigentums in: Bosch/Bung/Klippel Geistiges Eigentum und Strafrecht (2011) 139, 152 m.w.N.; Weigend FS Schöch 956. Hilger GA 2009 657, 658; krit. auch HK/Kurth/Weißer 24; Meyer-Goßner 6. Dies bringt erkennbar auch zum Ausdruck BGH NJW 2012 2601, 2602.
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a) Allgemeines. Im Regelungsgefüge des § 395 erweist sich Absatz 3 als Auffangtatbestand.39 Beschränkte sich die durch Absatz 3 eröffnete Nebenklagezulassung nach früherer Gesetzesfassung auf § 229 und damit rechtspraktisch maßgeblich auf Straßenverkehrsdelikte, sind nach der Neufassung nunmehr alle rechtswidrigen Taten über § 395 Abs. 3 anschlussfähig, die im Einzelfall als besonders schwerwiegend einzuordnen sind und bei denen der Verletzte besonders schutzwürdig ist.40 Den Gesetzesmaterialien ist zu entnehmen, dass der Regierungsentwurf Wert auf einen nicht abschließenden Regelungsbereich des § 395 Abs. 3 StPO gelegt hat.41 Auf diese Weise sollte der individuell unterschiedlichen Schutzbedürftigkeit von Tatopfern im Einzelfall Rechnung getragen werden.42 Die Fassung des Absatzes war im Gesetzgebungsverfahren umstritten. Der Bundesrat hatte sich für einen abschließenden Wortlaut ausgesprochen und befürchtete mit der nunmehr Gesetzesform gewordenen Fassung eine „Ausuferung“ der Nebenklage.43 Zahlreiche, auch ersichtlich von vornherein unsinnige, die Gerichte zusätzlich belastende Anträge seien absehbar. Die materielle Voraussetzung der besonderen Gründe für eine Anschlussbefugnis erweise sich als zu unbestimmt und lasse besorgen, dass die im Einzelfall gebotene rechtliche wie tatsächliche Klärung nicht unerhebliche Verfahrensverzögerungen bewirken könne.44 Diesen – auch von angehörten Sachverständigen geteilten45 – gewichtigen Bedenken hielt die Bundesregierung in ihrer Gegenvorstellung das aus ihrer Sicht zureichende Korrektiv der gerichtlichen Befugnis entgegen, nach „Ermessen“46 im Einzelfall über die Nebenklagebefugnis zu entscheiden und dieserart einer Ausuferung entgegen zu wirken.47 Erfasst werden vom Auffangtatbestand des Absatzes 3 etwa die Anstiftung zum 10 Mord,48 aber auch rechtswidrige Taten nach §§ 185 bis 189 StGB, die aus dem Katalog des § 395 Abs. 1 Nr. 1 lit. b hierher überführt worden sind und neben § 244 Abs. 1, §§ 249 bis 255 und § 316a beispielhaft erwähnt werden. Die vom Bundesrat mit Recht ausgesprochene systemkonforme Empfehlung einer vollständigen Streichung der §§ 185 bis 189 StGB aus dem Recht der Nebenklage49 wurde bedauerlicher Weise nicht erhört; sie sind weiter Gegenstand der Vorschrift, weil bei diesen Delikten typischerweise die Gefahr bestehe, dass Verantwortungsweisungen des Angeklagten durch den Verletzten abzuwehren seien.50
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b) Voraussetzungen. Die Nebenklagebefugnis ist wie schon nach früherer Rechtslage51 – abgesehen von den allgemeinen Voraussetzungen52 – an das Vorliegen des materiellen Anschlussgrundes53 geknüpft, dass der Anschluss „aus besonderen Gründen“ zur 39
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BTDrucks. 16 12098 S. 9, 30 f.; vgl. auch Barton JA 2009 753, 755; Bung StV 2010 430, 435; Hermann ZIS 2010 236, 241; Hilger GA 2009 657, 658; KMR/Stöckel 15; HK/Kurth/Weißer 29; Meyer-Goßner 10; Safferling ZStW 2010 87, 95; SK/Velten 23 f.; Weigend FS Schöch 947, 956. BTDrucks. 16 12098 S. 29 ff. 16 13671 S. 22. BTDrucks. 16 12098 S. 30; BTDrucks. 16 12812 S. 20. BTDrucks. 16 12098 S. 28. BRDrucks. 178/09 S. 14. BRDrucks. 178/09 S. 14; vgl. auch die Erhebung von Barton/Flotho 93 ff., 97. Jahn, Anhörung im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages vom 13.5.2009 S. 24;
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krit. auch die BRAK-Stellungnahme 9/2009 S. 4. Diese Formulierung erweist sich als irreführend, war doch in der Begründung zum Gesetzesentwurf noch – zutreffend – der materielle Anschlussgrund als unbestimmter Rechtsbegriff bezeichnet worden, vgl. BTDrucks. 16 12812 S. 31. Anlage 4 zu BTDrucks. 16 12812 S. 20. OLG Koblenz NStZ 2012 655. BRDrucks. 178/09 S. 12. BTDrucks. 16 12812 S. 12. HW Rn. 17. HW Rn. 12, 23, 25 ff., 28 ff., § 396, 1 ff. HW Rn. 17 ff.
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Nachtr. § 395 StPO
Wahrnehmung der Verletzteninteressen „geboten erscheint“. Dies muss im maßgeblichen Zeitpunkt der Anschlusserklärung nicht nur möglich, sondern konkret absehbar und tatsachenfundiert vermittelbar sein.54 Dabei erweisen sich die beispielhaft vom Gesetz benannten Straftatbestände des StGB nicht als Regelbeispiele im gesetzestechnischen Sinne.55 Über eine schlichte symbolische Hervorhebung hinaus bringen sie keine gesetzliche Vermutung dahin zum Ausdruck, dass – bei Abwesenheit einer atypischen Fallkonstellation – ein bestimmter materiell-rechtlicher Tatbestand die Annahme besonderer Gründe regelmäßig zur Folge hat. aa) Besondere Gründe. Maßgeblich für die Zuerkennung der privilegierten Rechts- 12 stellung des Nebenklägers ist die im Einzelfall im Wege einer Gesamtschau gerichtlich zu ermittelnde besondere prozessuale Schutzbedürftigkeit des möglicherweise durch die Tat Verletzten.56 Denn die Anschlussbefugnis erweist sich auch in der Fassung des 2. OpferRRG als Ausprägung staatlicher Schutzfunktionen.57 Das 2. OpferRRG steht nach dem ausdrücklichen gesetzgeberischen Willen in der Tradition früherer Reformgesetze zur Verbesserung der Verletztenstellung im Strafverfahren.58 Ebenso wie schon durch das Opferschutzgesetz59 soll dadurch staatlichen Pflichten zum Schutz des möglichen Tatopfers vor Beeinträchtigungen durch das Verfahren selbst entsprochen60 und einer erneuten Traumatisierung des möglichen Tatopfers durch das Verfahren vorgebeugt werden.61 Diese besondere Schutzbedürftigkeit antizipierte der Gesetzgeber für Verletzte der von den Katalogtatbeständen des Absatzes 1 erfassten Taten. Aber auch die frühere Fassung des Absatzes 3 trug diesem Regelungskonzept Rechnung.62 Entsprechend dieser vom Gesetzgeber des 2. OpferRRG aufgegriffenen Wertungen können schwere Folgen der Tat ebenso wie abesehbare erhebliche Schuldzuweisungen auch nach der gesetzlichen Neufassung Anhaltspunkte für das Vorliegen besonderer Gründe im Sinne von Absatz 3 bieten. Schwere Folgen der Tat können die notwendige Schutzbedürftigkeit begründen. Sie 13 liegen namentlich dann vor, wenn beim möglicherweise Verletzten durch die Tat körperliche oder seelische Schäden – etwa Gesundheitsschädigungen, Traumatisierungen oder gewichtige Schockerlebnisse – mit einem gewissen Grad an Erheblichkeit bereits eingetreten oder aber zu erwarten sind.63 Der Schweregrad braucht nicht die Schwelle schwerer körperlichen oder seelischer Schäden im Sinne des § 397a Abs. 1 Nr. 3 zu erreichen.64 Hingegen ist die abstrakte Betrachtung des Tatunrechts – anders als bei den Katalogtaten des Absatzes 1 – für sich ohne Aussagekraft. Allein das wirtschaftliche Interesse an der effektiven Durchsetzung zivilrechtlicher 14 Ansprüche gegen den Angeklagten ist allerdings zur Begründung der Anschlussbefugnis
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Ebenso SK/Velten 24. Insoweit irreführend die Formulierung in BTDrucks. 16 12812 S. 20. BGH NJW 2012 2601, 2602; hierzu Jahn/Bung StV 2012 754 ff. Hierzu bereits Rieß Gutachten C zum 55. DJT 120; Weigend FS Schöch 958. BTDrucks. 16 12098 S. 29 ff.; kritisch aber Jahn/Bung StV 2012 754, 759; Weigend FS Schöch 958; vgl. ferner HW Vor § 395, 8 ff. Vom 18.12.1986, BGBl I S. 2496; BTDrucks. 10 5305 S. 8.
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BTDrucks. 10 5305 S. 11; vgl. hierzu Weigend FS Schöch 957 f. Vgl. Nachweise bei Kölbel Kriminalpolitische Instrumentalisierung der „Gefahr sekundärer Viktimisierung“ in Barton/ders. [Hrsg.], Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts (2012) 213, 215 ff.; Kölbel/Bork 25. BTDrucks. 10 5305 S. 12. BTDrucks. 16 12098 S. 31. BTDrucks. 16 12098 S. 31.
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ohne weitere wesentliche drohende Beeinträchtigungen durch das Verfahren auch dann unzureichend, wenn der mögliche Verletzte in erheblicher Weise wirtschaftlich geschädigt worden ist.65 Delikte ohne persönlich Verletzten, wie etwa Staatsschutz-, Organisationsund Vereinigungsdelikte berechtigen grundsätzlich nicht zum Anschluss als Nebenkläger.66 Insoweit fehlt es jeweils an einer notwendigen prozessualen Schutzbedürftigkeit.67 Dies gilt gleichermaßen, wenn nicht die angeklagte Tat, sondern andere Handlungen des Angeklagten für die geltend gemachten Folgen ursächlich sein sollen.68 Eine andere Auslegung widerspräche der überkommenen Wertung, die nicht das Tatunrecht als besonderen Grund anerkennt, sondern eine – möglicherweise durch die Tatfolgen bedingte – prozessuale Schutzbedürftigkeit voraussetzt. Für den Ausgleich erlittener Schäden stellt im Übrigen das Zivilprozessrecht hinreichende Möglichkeiten zur Verfügung,69 welche durch das Adhäsionsverfahren (§§ 403 ff. StPO) und die Verletztenbefugnisse nach §§ 406d ff. StPO strafprozessual bereits erheblich erweitert wurden. Auch konfligierte ein anderes Normverständnis mit dem Zügigkeitsgebot des Strafverfahrensrechts; in umfangreichen Betrugsverfahren verursachte etwa die Rechtsstellung gar hunderter Nebenkläger einen zeitlichen und organisatorischen Aufwand, der geeignet ist, vorrangigeren Zielen des Strafverfahrens zuwiderzulaufen.70 Einer solchen, ersichtlich nicht beabsichtigten, Wesensänderung der Nebenklage hat der Gesetzgeber gerade durch das beibehaltene materielle Anschlusserfordernis entgegen gewirkt.71 Die erforderliche besondere verfahrensbezogene Schutzbedürftigkeit kann in diesen Konstellationen ausnahmsweise mit einer gravierenden, nur durch eine von den Strafgerichten herbeizuführende Rechtshilfe zu beseitigenden Beweisnot, etwa des Adhäsionsklägers wegen Auslandsbezugs der Taten, gegeben sein.72 Dies gilt über die Vermögens-, Steuerhinterziehungs- und Bestechungsdelikte hinaus 15 auch für Straßenverkehrs- und Sachbeschädigungsstraftaten. Denn der Umstand einer nicht abgeschlossenen zivilrechtlichen Schadensregulierung stellt selbst dann keine durch das Strafverfahren bedingte Beeinträchtigung für den möglichen Verletzten dar, wenn sein etwaiges Mitverschulden bestimmend für die Strafzumessung sein könnte. Eine andere rechtliche Bewertung folgt auch nicht aus einer dem Verletzten weiterhin zuerkannten Befugnis, mittels der Nebenklage Verantwortungszuweisungen des Angeklagten abzuwehren.73 Diese wohl von Rieß entwickelte Schutzfunktion der Nebenklage74 wurde vom Gesetzgeber des Opferschutzgesetzes aufgegriffen75 und war fortan stehende Wendung in den Begründungen der Reformgesetzgebung.76 Hierfür reicht allerdings ein energisches Bestreiten des Angeklagten nicht aus. Vor dem Hintergrund der Gesetzesgenese und der ausdrücklichen Bezugnahme auf frühere Gesetzesreformen77 kann die Frage eines Schutzes vor Verantwortungszuweisung auch hier nicht ohne Berücksichtigung einer
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BGH NJW 2012 2601 2602; vgl. ferner HW Rn. 18. BGH v. 2.8.2011 – 1 StR 633/10, BeckRS 2011 20606. Vgl. Nachtr. Rn. 12. LG Freiburg v. 17.8.2012 – 3 Qs 44/12, BeckRS 2012 19398. Vgl. BVerfG [Kammer] NJW 1988 405. Vgl. BGH wistra 2010 272. BGH NJW 2012 2601 2602; a.A. Herrmann ZIS 2010 236, 241; zweifelnd auch Jahn/Bung StV 2012 754, 759.
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NJW 2012 2601 2602; hierzu Schiemann JR 2012 393. Vgl. BTDrucks. 10 5305 S. 11; BTDrucks. 16 12098 S. 12, 29 ff.; Weigend FS Schöch 958; Böttcher FS Widmaier 82; vgl. ferner HW Rn. 18. Vgl. Rieß Gutachten C zum 55. DJT 83; hierzu ferner Weigend FS Schöch 957 f. BTDrucks. 10 5305 S. 10 f. BTDrucks. 16 12098 S. 31; vgl. Kölbel/Bork 18 ff. Nachtr. Rn. 9.
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besonderen prozessualen Schutzbedürftigkeit bestimmt werden. Letztere wird sich gerade mit Blick auf die „uferlose“ Weite78 des Absatzes 3 und der deshalb signifikant gestiegenen Bedeutung des Tatbestandsmerkmals der „besonderen Gründe“ zumindest auch an der Tatschwere zu orientieren haben.79 bb) Gebotenheit. Zur Bestimmung der Gebotenheit der privilegierten Nebenklage- 16 stellung ist durch das Gericht im Wege einer Gesamtwürdigung namentlich die individuelle Handlungs- und Beschwerdemacht des möglichen Verletzten in den Blick zu nehmen und ins Verhältnis zur erkennbar drohenden Rechtsbeinträchtigung durch das Strafverfahren zu setzen. Hierbei verfügt der durch ein gravierendes Aggressionsdelikt physisch wie emotional Verletzte typischerweise über ein geringeres Maß an Handlungskompentenz.80 Wie schon vor 30 Jahren ist hierbei auch heute zu Bedenken: „Nicht alle Verletzten entsprechen dem Bild des unterprivilegierten, handlungsschwachen und in seiner Rechtstreue erschütterten Bürgers; es gibt auch den informierten, handlungsmächtigen Verletzten, demgegenüber eher der Beschuldigte schutzbedürftig erscheint.“81 c) Entscheidung (§ 396 Abs. 2 Satz 2). Der Entscheidung über die Nebenklagezulas- 17 sung nach § 395 Abs. 3 i.V.m. mit § 396 Abs. 2 Satz 2 Hs. 1 kommt auch nach der Neufassung konstitutive Wirkung zu.82 Es handelt sich um einen Beschluss, bei dem das Gericht einerseits die allgemeinen Voraussetzungen der Nebenklagebefugnis (etwa Prozessfähigkeit) und andererseits den materiellen Anschlussgrund zu prüfen83 und für die nachfolgenden Instanzen bindend festzulegen hat (§ 395 Abs. 3 i.V.m mit § 396 Abs. 2 Satz 2 Hs. 2, § 336 S. 2).84 Der Beschluss ist zu begründen. Dieses Begründungserfordernis wird zwar nicht durch 18 die Maßgaben des § 34 erzwungen; die Entscheidung nach § 396 Abs. 2 Satz 2 Hs. 1 ist für den Angeklagten unanfechtbar (§ 396 Abs. 2 Satz 2 Hs. 2). Die Notwendigkeit der Begründung folgt aber aus dem systematischen Zusammenspiel der § 395 Abs. 3, § 396 Abs. 2 mit § 400 Abs. 1 und dem Gebot der Rechtssicherheit für die Verfahrensbeteiligten. Hierzu gilt folgendes: Auf den ersten Blick besehen wirkt die Rechtsmittelbefugnis eines Nebenklägers nach 19 der Neufassung des Gesetzes nunmehr uferlos. Die vormals durch § 400 Abs. 1 gezogene Grenze, nach der ein Nebenkläger sein Rechtsmittel nicht mit dem Ziel führen kann, dass der Angeklagte wegen einer Gesetzesverletzung verurteilt wird, die nicht zum Anschluss des Nebenklägers berechtigt,85 scheint durch § 395 Abs. 3 aufgelöst. Hiernach berechtigen im Wege eines Auffangtatbestandes grundsätzlich sämtliche Straftaten zur Nebenklage und könnten damit die Anfechtungsbegrenzung des § 400 Abs. 1 leerlaufen lassen. Zu diesem – möglicherweise durch ein Redaktionsversehen ermöglichten – Normverständnis zwingen aber keine Rechtsgründe.
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Hilger GA 2009 657, 658; Weigend FS Schöch 956; vgl. auch BRDrucks. 178/09 S. 9. Vgl. zur Funktion des materiellen Anschlussgrundes BTDrucks. 16 12098 S. 29; Anlage 4 zu BTDrucks. 16 12812 S. 20. Zutreffend schon Rieß Gutachten C zum 55. DJT 83. Rieß Gutachten C zum 55. DJT 65; vgl. ferner HW Rn. 17. Vgl. HW § 396, 17.
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Da es nur eine Rechtsfolge als Ergebnis dieser Prüfung gibt, erscheint die Auffassung von Beulke Rn. 595, es handele sich um zwei zeitlich zusammenfallende Beschlüsse, nicht überzeugend. BGH NJW 2012 2601 2602; OLG Hamm NStZ-RR 2012 22; OLG Köln v. 10.1.2012 – 2 Ws 12/12, BeckRS 2012 07682. Hierzu BGH v. 11.10.2011 – 5 StR 326/11, BeckRS 2011 25350.
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Bei Lichte besehen erweist sich an dieser Stelle vielmehr die besondere Bedeutung des vom Gesetzgeber ausdrücklich einer „Uferlosigkeit der Anwendung“86 des § 395 Abs. 3 entgegen gestellten Korrektivs der gerichtlichen Zulassungsentscheidung nach § 395 Abs. 3, § 396 Abs. 2 Satz 2 Hs. 1. Diese gibt bindend den Korridor vor, innerhalb dessen sich die Verfahrensbeteiligung des Nebenklägers fortan instanzübergreifend bewegt. Ein Rechtsmittel des nach § 395 Abs. 3, § 396 Abs. 2 Anschlussberechtigten ist demzufolge nur dann zulässig, wenn die von der eingeschränkten Rechtsmittelbefugnis nach § 400 Abs. 1 gedeckte Angriffsrichtung87 und die Anschlussberechtigung nach § 395 Abs. 3 kongruent sind. Nur wenn das im Zulassungsbeschluss anerkannte Delikt nach § 395 Abs. 3 als Rechtsvorschrift vom Vorderrichter rechtsfehlerhaft angewandt worden ist, kann der Nebenkläger sein Rechtsmittel erfolgreich führen; ansonsten ist der Rechtsmittelangriff unzulässig.88 Um dem Rechtsmittelgericht diese Prüfungsmöglichkeit zu erleichtern, hat der Zulassungsbeschluss nach § 396 auszuweisen, wegen welcher rechtswidrigen Tat(en) ein Anschluss gerichtlich bindend anerkannt worden ist. Ausnahmsweise kann zur Ermittlung des Anerkennungswillens im Rahmen des § 396 Abs. 2 Satz 2 Hs. 1 auch auf den Inhalt der zugelassenen Anklageschrift zurückgegriffen werden, sofern dieser in einfach gelagerten Fällen eindeutig, namentlich auf einen materiell-rechtlich übersichtlich gelagerten prozessualen Sachverhalt (§ 264) beschränkt ist. Dieses Normverständnis stellt den Nebenkläger auch dann nicht rechtsschutzlos, 21 wenn sich im Laufe des Verfahrens, etwa während laufender Hauptverhandlung, die rechtliche Bewertung des angeklagten Geschehens durch das Tatgericht ändert und ein anderes nach § 395 Abs. 3 nebenklagefähiges, nicht aber vom Zulassungsbeschluss umfasstes Delikt abgeurteilt wird (etwa § 244 statt § 249 StGB). Gerade der anwaltlich vertretene Nebenkläger wird den in diesen Fällen für den Angeklagten ohnehin zu erteilenden Hinweis nach § 265 Abs. 1 StPO aufgreifen und – als Ausdruck der ihm als Verfahrenssubjekt obliegenden Mitwirkungspflichten – auf einen Anschluss auch nach den geänderten materiell-rechtlichen Maßgaben antragen. Unterbleibt ein gerichtlicher Hinweis oder versäumt der Nebenkläger eine entsprechende Änderung der Zulassung aus anderen Gründen, erscheint es aus Gründen der Verfahrensfairness und des effektiven Rechtsschutzes naheliegend, dass das Rechtsmittelgericht eine Zulassungsentscheidung nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten selbst treffen und die Rechtsmittelbefugnis nach § 400 Abs. 1 dadurch im Einzelfall herstellen kann.89 Erforderlich dürfte es hierfür freilich für den die Anfechtung betreibenden Verletzten sein, neben einer möglicherweise notwendigen Rechtsmittelbegründung (vgl. § 344 Abs. 2) auch Ausführungen zu den Voraussetzungen des § 395 Abs. 3 zu machen. Um eine solche rechtsmittelgerichtliche Zulassungsentscheidung zu ermöglichen, hat der Rechtsmittelführer allerdings konkrete Anknüpfungspunkte, namentlich zur Gebotenheit seines Anschlusses als Nebenkläger und seiner Schutzbedürftigkeit, vorzutragen. Erst vor diesem Hintergrund kann das Rechtsmittelgericht prüfen, ob eine Nebenklagebefugnis im vorgetragenen Sinne in Betracht kommt und freibeweisliche Ermittlungspflichten, etwa im Wege der Anhörung der übrigen Verfahrensbeteiligten, ausgelöst werden.90 86 87
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BTDrucks. 16 12812 S. 20. Diese muss sich aus der Rechtsmittelbegründung ergeben, sofern sie nicht offensichtlich ist, vgl. BGH, Beschl. 28.2.2013 – 2 StR 502/12; Barton StRR 2009 164, 166. HW § 400, 10. Vgl. BVerfG NJW 2012 1136, 1137 zu den Ermittlungspflichten bei geltend gemachter
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Unwirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts wegen zuvor erfolgter Verständigung. Vgl. BGHSt 56 3, 6 = NJW 2011 321 zu den revisionsrechtlichen Vortragspflichten bei geltend gemachter Unwirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts wegen zuvor erfolgter Verständigung.
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Mit Blick auf die instanzübergreifende Bedeutung des Gerichtsbeschlusses nach § 395 22 Abs. 3, § 396 Abs. 2 Satz 2 und seiner notwendigen Begründung scheidet eine konkludente Entscheidung des Gerichts über die Anschlussbefugnis in diesen Fällen aus.91 Sie ist unvereinbar mit dem – einfach-gesetzlich in § 396 Abs. 2 Satz 2 Hs. 1 Ausdruck findenden – grundrechtsgleichen Recht auf rechtliches Gehör des Angeklagten (Art. 103 Abs. 1 GG). Diesem wird hierdurch jede Möglichkeit abgeschnitten, zu den mit § 395 Abs. 3 verbundenen Rechts- und Tatsachenfragen sowie zu möglichem Vorbringen eines Verletzten, etwa zu dessen Schutzbedürftigkeit, Stellung zu nehmen. Dass der eindeutige Normbefehl des § 396 Abs. 2 Satz 2 Hs. 1 keine „bloße Förmelei“ zum Inhalt hat, erhellt bereits der Blick auf die mit der Zulassung des Nebenklägers für den Angeklagten verbundene prozessuale und kostenrechtliche Beschwer. 4. Verfolgungsbeschränkungen (Absatz 5). Die Vorschrift ist identisch mit der frühe- 23 ren Regelung des § 397 Abs. 2 a.F., die aus systematischen Gründen inhaltlich unverändert als Absatz 5 dem § 395 durch das 2. OpferRRG angefügt worden ist.92 Zum Regelungsbereich vgl. HW § 397 Rn. 19. 5. Anfechtbarkeit. Die Anfechtungsmöglichkeiten sind unverändert geblieben.93 Der 24 Verletzte einer rechtswidrigen Tat muss sich wegen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde grundsätzlich vor Erhebung seiner Verfassungsbeschwerde der Anklage als Nebenkläger angeschlossen haben.94
§ 397 (1) 1Der Nebenkläger ist, auch wenn er als Zeuge vernommen werden soll, zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung berechtigt. 2Er ist zur Hauptverhandlung zu laden; § 145a Absatz 2 Satz 1 und § 217 Absatz 1 und 3 gelten entsprechend. 3Die Befugnis zur Ablehnung eines Richters (§§ 24, 31) oder Sachverständigen (§ 74), das Fragerecht (§ 240 Absatz 2), das Recht zur Beanstandung von Anordnungen des Vorsitzenden (§ 238 Absatz 2) und von Fragen (§ 242), das Beweisantragsrecht (§ 244 Absatz 3 bis 6) sowie das Recht zur Abgabe von Erklärungen (§§ 257, 258) stehen auch dem Nebenkläger zu. 4Dieser ist, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, im selben Umfang zuzuziehen und zu hören wie die Staatsanwaltschaft. 5Entscheidungen, die der Staatsanwaltschaft bekannt gemacht werden, sind auch dem Nebenkläger bekannt zu geben; § 145a Absatz 1 und 3 gilt entsprechend. (2) 1Der Nebenkläger kann sich des Beistands eines Rechtsanwalts bedienen oder sich durch einen solchen vertreten lassen. 2Der Rechtsanwalt ist zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung berechtigt. 3Er ist vom Termin der Hauptverhandlung zu benachrichtigen, wenn seine Wahl dem Gericht angezeigt oder er als Beistand bestellt wurde.
Änderungen. Die Vorschrift ist über einige sprachliche Umstellungen und weggefallene Verweisungen auf das Recht der Privatklage hinaus zur besseren Lesbarkeit und Ver-
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A.A. ohne nähere dogmatische Begründung allerdings OLG Hamm NStZ-RR 2012 22 mit krit. Anm. Wenske 2014 (im Erscheinen).
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BTDrucks. 16 12098 S. 31. HW § 396, 27. VerfG Brandenburg NJW 2010 2196 (Ls.).
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ständlichkeit durch Art. 1 Nr. 26 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz – 2. OpferRRG)1 neu gefasst worden.2 Absatz 1 Satz 1 ist inhaltlich unverändert geblieben; lediglich zur Vereinfachung sind die Wörter „nach erfolgtem Anschluss“ entfallen, da die Nebenklage ohnehin erst nach erklärtem Anschluss an eine erhobene öffentliche Klage zulässig ist.3 Satz 2 übernimmt inhaltlich die bisherige Regelung aus der Verweisung von § 397 Abs. 1 Satz 2 a.F. auf § 385 Abs. 2 i.V.m. § 378 Satz 2 und gibt dessen Regelungsgehalt nunmehr zur besseren Verständlichkeit und zum Zwecke der Abgrenzung vom Recht der Privatklage in § 397 selbst wieder.4 Dies gilt gleichermaßen für die aus den Verweisungen von § 397 Abs. 1 Satz 2 a.F. auf § 385 Abs. 1 Satz 1 sowie § 397 Abs. 1 Satz 2 a.F. auf § 385 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 378 Satz 2 folgenden bisherigen Regelungen, deren Regelungsgehalt jetzt die Sätze 4 bzw. 5 enthalten.5 Satz 3 ist unverändert geblieben. Absatz 2 übernimmt mit seinen Sätzen 1 und 2 inhaltlich die bisherige Regelung aus der Verweisung von § 397 Abs. 1 Satz 2 a.F. auf § 378 Satz 1 und gibt dessen Regelungsgehalt fortan zur besseren Verständlichkeit und zur Abgrenzung zum Recht der Privatklage in § 397 selbst wieder.6 Mit dem neu eingefügten Satz 3 wird nunmehr geregelt, dass auch Vertretern und Beiständen von Nebenklägern eine Terminsnachricht übersandt werden muss, sofern diese sich zur Akte legitimiert haben oder durch das Gericht bestellt worden sind.7
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1. Bedeutung. Die Neufassung des § 397 steht im regelungssystematischen Zusammenhang mit den sonstigen Änderungen der StPO durch das 2. OpferRRG und einer hierdurch erstrebten Stärkung der Rechte von Opfern und Zeugen im Strafverfahren.8 Zu nennen sind an dieser Stelle etwa die durch eine Neufassung des § 395 erweiterte Anschlussmöglichkeit als Nebenkläger und die für besonders schutzwürdige Nebenkläger erleichterte Möglichkeit, einen Opferanwalt zu bestellen (§ 397a). Gerade dessen Rechtsposition wird durch die in Absatz 2 Satz 3 nunmehr zwingend ausgestaltete gesetzliche Pflicht gestärkt, ihn von Terminen zu unterrichten. Überdies erstrebt der Reformgesetzgeber mit Absatz 2 Sätze 1 und 2 einen systematischen Gleichklang mit den Vorschriften über die Inanspruchnahme eines anwaltlichen Beistands durch Zeugen (§ 68b), Verletzte (§ 406f Abs. 1) und Nebenklagebefugte (§ 406g Abs. 1).9
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2. Anwesenheitsrecht (Absatz 1 Satz 1). Der Nebenkläger ist nach Absatz 1 Satz 1 berechtigt, aber nicht verpflichtet, an der Hauptverhandlung teilzunehmen; die Teilnahmebefugnis besteht auch bei einer nichtöffentlichen Hauptverhandlung (§§ 171a ff. GVG), weil er Prozessbeteiligter ist.10 § 247 ist nicht (analog) anwendbar.11 Will das Gericht den Nebenkläger dennoch aus dem Sitzungssaal weisen, ist die Anordnung unmittelbar zu beanstanden,12 um eine hieran anknüpfende Verfahrensrüge zu sichern (s. Rn. 17). Die Anwesenheitsbefugnis des Nebenklägers gilt nach Absatz 1 Satz 4 auch
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BGBl. 2009 I S. 2280. BTDrucks. 16 12098 S. 9, 31. BTDrucks. 16 12098 S. 31. BTDrucks. 16 12098 S. 31. BTDrucks. 16 12098 S. 31. BTDrucks. 16 12098 S. 31. BTDrucks. 16 12098 S. 32. BTDrucks. 16 12098 S. 1, 29.
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BTDrucks. 16 12098 S. 1, 31. S. auch LG Dresden NStZ 1999 313 mit Anm. Rüping (Finanzbehörde). Amelunxen (Nebenkläger) 53; Gollwitzer FS Schäfer 78. Ggf. Anrufung des Gerichts – § 238 Abs. 2, RG HRR 1934 539; ferner HW Rn. 15.
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Zweiter Abschnitt. Nebenklage
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für besondere Teile der Hauptverhandlung, wie kommissarische Vernehmungen nach § 223 und Augenscheinseinnahmen nach § 225. Der Nebenkläger ist vom Termin zu benachrichtigen (§ 224). Zum Wegfall der Benachrichtigungspflicht s. § 224 Abs. 1 Satz 2. Ein Absehen von der Terminsnachricht wegen Gefahr im Verzug13 wäre unbedenklich, ein solches wegen Gefährdung der Wahrheitsfindung14 aber im Hinblick auf das uneingeschränkte Anwesenheitsrecht problematisch (vgl. aber Rn. 3). Das Recht des Nebenklägers, nicht an der Hauptverhandlung teilzunehmen, lässt 3 seine Pflicht unberührt, einer Zeugenladung Folge zu leisten (s. §§ 48, 51). Der Nebenkläger ist zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung auch dann berechtigt und zu dieser zu laden, wenn beabsichtigt ist, ihn darin als Zeugen zu vernehmen;15 die § 58 Abs. 1, § 243 Abs. 2 Satz 1 sollen nicht anwendbar sein.16 Hieraus können in Verfahren mit sogenannter Aussage-gegen-Aussage-Konstellation Beweiswürdigungsprobleme entstehen. Regelmäßig wird nämlich einer Aussage, die ohne Kenntnis der Einlassung des Angeklagten erfolgt ist, ein höherer Beweiswert zukommen. Im Einzelfall kann es daher in Umsetzung des Willens des historischen Gesetzgebers (vgl. § 58 Abs. 1) aus Gründen bestmöglicher Wahrheitsermittlung geboten sein (§ 244 Abs. 2), den Nebenkläger unter Hinweis auf die Besonderheiten der Beweislage zu bitten, den Saal bis zur eigenen Vernehmung zu verlassen.17 Entsprechend wird der gut beratene Nebenkläger im Regelfall über sein Anwesenheitsrecht disponieren (vgl. zum Akteneinsichtsrecht, HW § 406e, 8 ff., 12 sowie Nachtr. § 406e, 2, 12). Ein Nebenkläger, der weder in der Hauptverhandlung anwesend noch durch einen 4 Rechtsanwalt vertreten ist, kann grundsätzlich nicht unmittelbar auf den Ablauf der Verhandlung durch Anträge einwirken.18 Schriftliche Anregungen und Anträge kann das Gericht beachten, muss es aber – unbeschadet § 244 Abs. 2 – nicht, es sei denn, der Antrag kann außerhalb der Hauptverhandlung gestellt werden (vgl. §§ 26, 222b).19 Auch eine Anhörung (§ 33 Abs. 1) des in der Hauptverhandlung nicht anwesenden und nicht durch einen Rechtsanwalt vertretenen Nebenklägers kommt nicht in Betracht. § 401 Abs. 3 Satz 1 bleibt unberührt.20 3. Ladungsnotwendigkeit (Absatz 1 Satz 1). Der Nebenkläger ist zur Hauptverhand- 5 lung zu laden; unterbleibt dies, kann darin im Einzelfall ein revisibler Verfahrensmangel erblickt werden (vgl. Rn. 17). Die Ladungsfrist (§ 217 Abs. 1) beträgt eine Woche. Auf ihre Einhaltung kann der Nebenkläger nach § 217 Abs. 3 verzichten. Ist der Nebenkläger durch einen schriftlich bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten (§ 145a Abs. 2 Satz 1; vgl. Rn. 15), so kann die Ladung des Nebenklägers auch mit rechtlicher Wirkung an den Rechtsanwalt bewirkt werden. Hat sich ein Rechtsanwalt für den Nebenkläger als Beistand oder Vertreter zu den Akten legitimiert, so muss auch er geladen werden. In allen Fällen gilt § 398 Abs. 2; die Ladungsfrist muss also nicht eingehalten werden, wenn dies ohne Verschiebung eines bereits anberaumten Termins nicht möglich wäre. Aus der Ratio des § 398 folgt überdies, dass der anwaltliche Beistand des Nebenklägers zwar in die Terminsabstimmung mit Staatsanwaltschaft und Verteidigung eingebunden und nach Möglichkeit seinen Terminswünschen entsprochen wird, aber eine verzögerte Durchführung der Hauptverhandlung allein wegen seiner Verhinderung nicht in Betracht kommt. Ein
13 14 15 16
Vgl. HW § 224, 20. Vgl. HW § 224, 19. HW Rn. 15. Meyer-Goßner 2; eingehend, krit. hierzu HbStrVf/Scheffler VII 99 ff.
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BeckOK/Weiner 2. Vgl. auch Gollwitzer FS Schäfer 69, 79. HW Rn. 8, 11. HW § 401, 16.
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entsprechendes Prozessieren kann dementsprechend die Besorgnis der Befangenheit aus Sicht des Nebenklägers nicht begründen (§§ 24, 26a).20a
6
4. Befugnisse des Nebenklägers (Absatz 1 Satz 3). Die rechtlichen Befugnisse des Nebenklägers sind durch die Neufassung unverändert geblieben.21 Der nicht tragenden Erwägung des 5. Strafsenats des BGH, nach der ungeachtet von § 397 Abs. 1 Satz 3 eine weniger restriktive Anwendung der gesetzlich vorgesehenen Ablehnungsgründe auf Beweisanträge des Nebenklägers als beim Angeklagten vertretbar erscheine,22 ist der 3. Strafsenat des BGH ausdrücklich nicht gefolgt. Dieser entnimmt Wortlaut, Gesetzgebungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Vorschrift keine Einschränkungen des Beweisantragsrechts der Nebenklage.23
7
5. Relativer Gleichlauf mit der Beteiligung der Staatsanwaltschaft (Absatz 1 Satz 4). Der Nebenkläger ist im selben Umfang zu hören und „zuzuziehen“ wie die Staatsanwaltschaft, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist.
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a) Allgemeines. Inhaltlich entspricht diese Regelung vollständig den zuvor durch Verweisung in das Privatklagerecht (§ 385 Abs. 1) anerkannten Befugnissen des Nebenklägers24 und bedeutet über eine Hervorhebung seiner Stellung hinaus keine Erweiterung seines Rechtskreises.25 Dem Grunde nach wird dem Nebenkläger hierdurch einfachgesetzlich rechtliches Gehör garantiert (§ 33 Abs. 1 und 2).26 9 Einzelne Anhörungsrechte. Namentlich ist er vor einer Verfahrenseinstellung nach den §§ 153 ff.27 zu hören, auch wenn die Einstellung nicht von seiner Zustimmung abhängig ist (vgl. aber zu Einschränkungen auch Rn. 4).28 Ihm ist ferner die Besetzungsentscheidung (§ 222a) bekannt zu machen; Einsicht in die hierfür maßgeblichen Unterlagen steht indes nur seinem anwaltlichen Beistand zu (§ 222a Abs. 3). Das Akteneinsichtsrecht des Nebenklägers und mögliche Einschränkungen richten sich nach § 406e.29
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b) Spannungsverhältnis von Gehörs- und Informationsrechten. Die gesetzliche Ausgestaltung der Gehörsrechte des Nebenklägers, die denen der Staatsanwaltschaft vorbehaltlich anderer gesetzlicher Bestimmungen gleichgestellt sind, erweist sich gerade mit Blick auf die vom Gesetzgeber mit dem 2. OpferRRG erstrebte vollständige Abkopplung der Nebenklage vom Recht der Privatklage30 als nicht vollständig kohärent (s. Rn. 11, 12). Während im Rahmen des Akteneinsichtsrechts (§ 406e Abs. 2) und damit in der für eine effektive Durchsetzung seiner Interessen maßgeblichen Verfahrensgarantie des Nebenklägers Versagungsgründe auch für den Fall etabliert sind, dass der Untersuchungszweck hierdurch gefährdet erscheint, finden sich entsprechende ausdrückliche gesetzliche Vorkehrungen bei der Umsetzung der Gehörsrechte nicht. Auf den ersten Blick vermittelt der 20a
21 22 23
Wird der Nebenkläger in der Hauptverhandlung trotz Verhinderung seines Beistands zeugenschaftlich vernommen und stützt er hierauf später eine entsprechende Verfahrensrüge, ist ein Beruhen des Urteils regelmäßig auszuschließen, vgl. BGH v. 9.10.2013 – 2 StR 297/13 Tz. 36. BGH NStZ 2011 713, 714; HW 8 ff. BGH NStZ 2010 714. BGH NStZ 2011 713, 714; vgl. auch Senge FS Rissing-van Saan 657, 666 sowie HW Rn. 8.
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24 25 26 27 28 29 30
Hierzu HW Rn. 6. Weigend FS Schöch 960 f. OLG Hamm NStZ-RR 2008 219 (nicht im Haftverfahren). Für ein eingeschränktes „Vetorecht“ wohl SK/Velten 11. Meyer-Goßner 8; HW Rn. 6. BTDrucks. 16 12098 S. 32, 34; vgl. bereits Schäfer wistra 1988 218. BTDrucks. 16 12098 S. 31.
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Gesetzeswortlaut des Abs. 1 Satz 4 daher den Eindruck eines vollständigen Gleichlaufs mit staatsanwaltschaftlichen Gehörsrechten, soweit gesetzlich anderes nicht ausdrücklich bestimmt ist. Hierzu im Einzelnen: aa) Gehör bei Bekanntgabe der Anklageschrift (§ 201 Abs. 1 Satz 2). Nach § 201 11 Abs. 1 Satz 2 ist dem Nebenkläger oder dessen anwaltlichem Vertreter die Anklageschrift mitzuteilen (§ 201 Abs. 1 Satz 2). Hierdurch soll den Informationsinteressen des Nebenklägers entsprochen werden; seine Einwendungen gegen die Bewertung der Sachund Rechtslage durch die Anklagebehörde sollen möglichst frühzeitig im gerichtlichen Verfahren Gehör finden.31 Die durch Übersendung der vollständigen Anklageschrift vom Gesetzgeber erstrebte umfassende Information des Nebenklägers ist allerdings nicht unbedenklich. Durch Mitteilung des wesentlichen Ermittlungsergebnisses (§ 200 Abs. 2 Satz 1) wird die rechtliche wie tatsächliche Bewertung der Staatsanwaltschaft auch dem Nebenkläger gegenüber offengelegt. Dies kann sich namentlich in Verfahren als problematisch erweisen, in denen die Belastung eines Angeschuldigten ausschließlich oder auch zentral auf den Wahrnehmungen des möglicherweise Verletzten beruht. Dessen genaue Kennntis vom wesentlichen Ermittlungsergebnis ermöglicht dem als Zeugen zu vernehmenden Nebenkläger eine gezielte Vorbereitung auf etwaige neuralgische Punkte seiner Aussage oder auf das Beweisgebäude der Anklagebehörde und kann deshalb im Einzelfall die Gefahr einer taktischen Anpassung seines Aussageverhaltens begründen. Eine § 406e Abs. 2 entsprechende – nunmehr auch den Nebenkläger treffende32 – Einschränkung33 hat der Gesetzgeber für § 201 gesetzlich nicht geregelt. Mit Blick auf diese planwidrige Regelungslücke bei gleicher Interessenlage – Schutz von Wahrheitsermittlung und Subjektstellung des Angeschuldigten einerseits und Durchsetzung eines Informationsinteresses des Verletzten andererseits – kann es im Einzelfall geboten sein, in entsprechender Anwendung der Maßgaben des § 406e Abs. 2 bei anderenfalls konkreter Gefährdung des Untersuchungszwecks durch Kenntnisnahme vom wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen, dieses von der Mitteilung auszunehmen; der übrige Inhalt der Anklageschrift wird dem Nebenkläger unter Hinweis auf diese Kürzung und die sie tragenden Gründe bekanntgegeben. Dies erfolgt im Einzelfall nach Rücksprache mit seinem anwaltlichen Beistand. bb) Beweisbegehren des Angeklagten im Zwischenverfahren (§ 201 Abs. 1 Satz 1). Zu 12 Beweisanträgen des Angeklagten im Zwischenverfahren (§ 201) ist neben der Staatsanwaltschaft auch der Nebenkläger zu hören.34 Hierin werden vereinzelt Gefahren für die Wahrheitserforschung erblickt, wenn etwa in sog. Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen – und ersichtlich ungeachtet der erforderlichen Zustimmung des Nebenklägers zur Exploration – die Begründung eines Antrags auf Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens oder eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens dem Nebenkläger über mitgeteilte Anknüpfungstatsachen hinaus erhebliche Aktenkenntnis vermittelt.35 Ob der Reformgesetzgeber diese rechtspraktische Konsequenz einer möglichen Gefährdung des Untersuchungszwecks bei der unterschiedlichen Ausgestaltung von Akteneinsichts- und Gehörsrecht im Blick hatte, mag dahin stehen; eines teleologisch begründeten Rückgriffs
31 32 33
BTDrucks. 16 12098, S. 28. BTDrucks. 16 13671, S. 22, vgl. Nachtr. § 406e, 2. Vgl. Nachtr. § 406e, 2 sowie Riedel/Wallau NStZ 2003 395, 397; Herrmann ZIS 2010
34 35
236, 238; Safferling ZStW 122 (2010) 87, 99 f. Meyer-Goßner § 201, 7; SK/Paeffgen § 201, 10; HW § 201, 32. Baumhöfener StraFo 2012 2 ff.
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auf § 406e Abs. 2 und einer entsprechenden Anwendung der dort geregelten Einschränkungsmöglichkeiten bedarf es hier jedenfalls nicht.36 Denn die im Ausnahmefall erforderliche Konkordanz der widerstreitenden Interessen (s. auch Rn. 11) kann an dieser Stelle gerichtlich bereits durch eine Anwendung der allgemeinen Regelungen des § 33 erreicht werden. Da § 201 Abs. 1 und § 219 jeweils keine Regelung über die Anhörung der Verfahrensbeteiligten vor einer Entscheidung über die begehrte Beweiserhebung enthalten, unterstehen beide insoweit den Maßgaben des § 33. Dessen Absatz 2 ist ersichtlich auf die allein zur Strafverfolgung berufene Anklagebehörde zugeschnitten und erweist sich als Ausfluss ihrer Amtsgewalt. Jedenfalls nach der mit dem 2. OpferRRG erfolgten vollständigen Abkopplung der Nebenklage vom Recht der Privatklage steht dem Nebenkläger das Strafverfolgungsprivileg der Privatklage37 nicht (mehr) zu. Auf den Nebenkläger findet Absatz 2 daher keine Anwendung. Er untersteht als Verfahrensbeteiligter eigener Art dem Regelungsbereich der § 33 Abs. 3 und 4 als spezielle gesetzliche Regelung i.S.d. § 397 Abs. 1 Satz 4,38 die eine unterschiedliche Ausprägung der ansonsten gleichlaufenden Gehörsbefugnisse von Anklagebehörde und Nebenkläger unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls gebietet. Damit kann aber nach § 33 Abs. 4 Satz 1 das von § 33 Abs. 3 vorgeschriebene Gehör entfallen, wenn die Anhörung eines Verfahrensbeteiligten vor einer zu seinem Nachteil ergehenden Entscheidung den Zweck der Anordnung gefährden würde.39 Solches ist im Einzelfall durch das Gericht zu prüfen; Akteneinsicht kann – gerade bei systematischer Normbetrachtung – etwa dann zu versagen sein, wenn diese auch nach den Maßgaben des § 406e Abs. 2 Satz 2 nicht möglich wäre. Dieses Normverständnis stellt den Nebenkläger auch nicht etwa frei von Rechtsschutz; er kann nach den Maßgaben des § 33a auf die Nachholung rechtlichen Gehörs antragen.
13
cc) Beweisbegehren des Angeklagten vor Beginn der Hauptverhandlung (§ 219). Bei Beweisbegehren im Hauptverfahren vermittelt § 219 keine Gehörsrechte für den Nebenkläger. Eine Anhörung der Staatsanwaltschaft vor Erlass der Entscheidung über etwaige Beweisanträge des Angeklagten, die über § 397 Abs. 1 Satz 4 auch eine solche des Nebenklägers vermitteln könnte, ist gesetzlich nicht vorgesehen. Auch die Vorgaben des § 219 zur Verbescheidung des Beweisantrags lassen eine Gefährdung des Untersuchungszwecks nicht besorgen,40 denn eine Begründungspflicht für stattgebende Entscheidungen sieht § 219 Abs. 1 nicht vor.41 Soweit eine ablehnende Entscheidung des Vorsitzenden wegen § 34 und aus Fürsorgegesichtspunkten zu begründen ist, unterfällt diese nicht dem Regelungsbereich des § 397 Abs. 1 Satz 4. Das hierdurch einfach gesetzlich garantierte Recht auf rechtliches Gehör umfasst die Befugnis, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern,42 nicht aber als Dritter über die Gründe einer Ablehnung unterrichtet zu werden. Auch soweit § 219 Abs. 2 vorschreibt, dass der Staatsanwaltschaft im Falle eines stattgegebenen Beweisbegehrens eines Angeklagten dessen Beweisantrag mitzuteilen ist,43 untersteht dies nicht dem Schutzbereich des rechtlichen Gehörs des Nebenklägers. Im Übrigen erweist sich diese Mitteilungspflicht auch deshalb als unanwendbar auf den Nebenkläger, da sie Ausfluss der Amtsgewalt der Anklagebehörde ist und ihr namentlich die Prüfung ermöglichen soll, ob vor dem Hintergrund des Beweisbegehrens für sie
36 37 38
So aber Baumhöfener StraFo 2012 2, 5; offen gelassen von Meyer-Goßner 9; HW Rn. 6. HW Vor § 374, 6. Vgl. VerfGH Berlin v. 16.3.2010 – VerfGH 50/09, BeckRS 2011 45009.
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39 40 41 42 43
HW § 33, 41 ff. A.A. Baumhöfener StraFo 2012 2 ff. HW § 219, 16. HW § 33, 1; Meyer-Goßner Einl. 23. HW § 219, 22.
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Anlass zu weitere Ermittlungen oder für die Beiziehung von Akten besteht;44 diese Fragen stellen sich dem Nebenkläger in keinem Fall. 6. Bekanntgabe von Entscheidungen (Absatz 1 Satz 5). Dem Nebenkläger sind Ent- 14 scheidungen im selben Umfang bekanntzumachen wie der Staatsanwaltschaft (vgl. aber auch Rn. 9 f.). Für die Zustellung gelten § 35 Abs. 2 und § 145a Abs. 1 und 3 (s. auch § 401 Abs. 1, 2). Dem Nebenkläger ist eine Rechtsmittelbelehrung zu erteilen (§ 35a), wenn er die Entscheidung durch ein befristetes Rechtsmittel anfechten kann (vgl. §§ 400, 401). § 399 bleibt unberührt. Eine Zustellung an den (bevollmächtigten) Rechtsanwalt ist nach dem in Bezug genommenen § 145a Abs. 1 nur wirksam, wenn sich die Vollmacht schriftlich bei den Akten befindet45 oder vor dem Protokoll46 erteilt worden ist. Sie hat sich bei mehreren Mitbeschuldigten auf den des Nebenklagedelikts verdächtigen Angeklagten zu beziehen, den die zuzustellende Entscheidung betrifft.47 7. Anwaltlicher Beistand (Absatz 2). Der Nebenkläger kann sich des Beistands eines 15 Rechtsanwalts bedienen oder sich durch einen schriftlich bevollmächtigten Rechtsanwalt in der Hauptverhandlung vertreten lassen.48 Dessen Rechtsstellung ist – anders als bei dem auch eigene Rechte wahrnehmenden Verteidiger49 – begrenzt durch die dem Nebenkläger selbst verliehenen gesetzlichen Befugnisse. Der Rechtsanwalt ist zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung ebenso wie der Nebenkläger berechtigt (s. Rn. 2) und vom Hauptverhandlungstermin zu benachrichtigen. Seine förmliche Ladung ist neben einer Ladung des Nebenklägers nicht geboten (s. Rn. 3).50 Neben Rechtsanwälten können als Beistand oder Vertreter nach den Maßgaben von § 138 Abs. 3 etwa auch Rechtslehrer an Hochschulen oder – mit gerichtlicher Genehmigung – anderere Personen gewählt werden.51 Jedoch bleibt § 406f Abs. 252 unberührt, sodass bei der Vernehmung des Nebenklägers als Zeuge auch einer Person seines Vertrauens die Anwesenheit zu gestatten ist. Mehrere Nebenkläger können im Beistand eines gemeinschaftlichen Rechtsanwalts 16 erscheinen oder sich durch einen gemeinschaftlichen Rechtsanwalt vertreten lassen.53 Dies wird in besonderen Ausnahmeverfahren schon mit Blick auf die ansonsten drohende Undurchführbarkeit des Verfahrens von sämtlichen Beteiligten zu erstreben sein. Zur Verfahrenssicherung kann das Gericht einer ausuferndern Anzahl an Nebenklägern mit ersichtlich gleichgelagerten Interessen einen gemeinsamen Vertreter nach § 397a bestellen.54 Bei seriell begangenen Wirtschaftsstraftaten zum Nachteil von mehreren hundert Geschädigten droht der Anschluss einer Vielzahl von Nebenklägern de lege lata nicht, weil diese Delikte grundsätzlich nicht zum Anschluss als Nebenkläger berechtigen.55 8. Revision. Die unterbliebene Ladung des Nebenklägers mit der Folge seines Aus- 17 bleibens in der Hauptverhandlung stellt keinen absoluten Revisionsgrund nach § 338 44 45 46
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HW § 219, 21. Vgl. BGHSt 41 303, 304. Vgl. die zu §§ 234, 411 Abs. 2 ergangenen Entscheidungen OLG Hamburg NJW 1968 1687, 1688; OLG Köln MDR 1964 435; OLG Düsseldorf NStZ 1984 524; OLG Hamm BeckRS 2008 07685. BGH NStZ 1995 47. Krit. dazu Fabricius NStZ 1994 257. HW Vor § 137, 151. SK/Velten 11.
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SK/Velten 11; Meyer-Goßner § 138, 20a. Nachtr. § 406f, 10. Meyer-Goßner 5; SK/Velten 11; sind die Nebenkläger Mitbeschuldigte, ist insoweit § 146 zu beachten. Nachtr. § 397a, 26; vgl. etwa auch den Fall El-Motassadeq vor dem HansOLG Hamburg, bei dem sich der Anklage – Beihilfe zum Mord in mehreren tausend Fällen – mehrere hundert Nebenkläger anschlossen. Nachtr. § 395, 14.
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Nr. 5 dar, weil seine Anwesenheit gesetzlich nicht zwingend vorgeschrieben ist. Im Einzelfall kann dieser relative Revisionsgrund auf entsprechende Verfahrensrüge hin zur Urteilsaufhebung führen (§ 337), wenn nicht auszuschließen ist, dass der Nebenkläger von seinem Anwesenheitsrecht Gebrauch gemacht und auf eine Verurteilung des Angeklagten – etwa durch Abgabe von Erklärungen (§ 257) oder gestellte Beweisanträge – hingewirkt hätte.56 Ebenso wie beim Angeklagten ist hierfür allerdings der Vortrag erforderlich (§ 344 Abs. 2 Satz 2), dass der als Zeuge in der Hauptverhandlung gehörte – anwesende – Nebenkläger auf diesen Ladungsmangel hingwiesen und deshalb die Aussetzung beantragt hat.57 Im Einzelfall mag in einer auf Begehren des Angeklagten hin unterbliebenen gerichtlichen Bemühung, den Nebenkläger während der Vernehmung des Angeklagten um das Verlassen des Saals zu bewegen, ein Verstoß gegen die Pflicht zur Amtsaufklärung gem. § 244 Abs. 2 StPO zu sehen sein.58
§ 397a (1) Dem Nebenkläger ist auf seinen Antrag ein Rechtsanwalt als Beistand zu bestellen, wenn er 1. durch ein Verbrechen nach den §§ 176a, 177, 179, 232 und 233 des Strafgesetzbuches verletzt ist, 2. durch eine versuchte rechtswidrige Tat nach den §§ 211 und 212 des Strafgesetzbuches verletzt oder Angehöriger eines durch eine rechtswidrige Tat Getöteten im Sinne des § 395 Absatz 2 Nummer 1 ist, 3. durch ein Verbrechen nach den §§ 226, 234 bis 235, 238 bis 239b, 249, 250, 252, 255 und 316a des Strafgesetzbuches verletzt ist, das bei ihm zu schweren körperlichen oder seelischen Schäden geführt hat oder voraussichtlich führen wird, 4. durch eine rechtswidrige Tat nach den § 174 bis 182 und 225 des Strafgesetzbuches verletzt ist und er zur Zeit der Tat das 18. Lebensjahr nicht vollendet hatte oder seine Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen kann, oder 5. durch eine rechtswidrige Tat nach den §§ 221, 226, 232 bis 235, 237, 238 Absatz 2 und 3, §§ 239a, 239b, 240 Absatz 4, §§ 249, 250, 252, 255 und 316a des Strafgesetzbuches verletzt ist und er bei Antragstellung das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder seine Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen kann. (2) Liegen die Voraussetzungen für eine Bestellung nach Absatz 1 nicht vor, so ist dem Nebenkläger für die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts auf Antrag Prozesskostenhilfe nach denselben Vorschriften wie in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten zu bewilligen, wenn er seine Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen kann oder ihm dies nicht zuzumuten ist. § 114 Satz 1 zweiter Halbsatz und § 121 Absatz 1 bis 3 der Zivilprozessordnung sind nicht anzuwenden. (3) Anträge nach den Absätzen 1 und 2 können schon vor der Erklärung des Anschlusses gestellt werden. Über die Bestellung des Rechtsanwalts, für die § 142 Absatz 1 entsprechend gilt, und die Bewilligung der Prozesskostenhilfe entscheidet der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts.
56 57
OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001 142, 144. Vgl. Meyer-Goßner § 216, 9; HW § 216, 18.
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Vgl. OLG Nürnberg BeckRS 2009 12260.
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Änderungen. Die Vorschrift ist, auch zur besseren Verständlichkeit, durch Art. 1 Nr. 27 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz – 2. OpferRRG)1 sowie durch Art. 1 Nr. 7 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG)2 – im Wege einer nunmehr enumerativen Aufzählung der Bestellungsgründe – neu gefasst und darüber hinaus teilweise erweitert worden.3 Absatz 1 Nr. 1 entspricht § 397a Abs. 1 Satz 1 a.F., soweit dieser auf § 395 Abs. 1 Nr. 1 lit. a a.F. verweist und die Fälle der §§ 232, 233 benennt. Die durch Art. 1 Nr. 27 neu eingefügte Nr. 2 entspricht der bisherigen Regelung des § 397a Abs. 1 Satz 1 a.F. i.V.m. § 395 Abs. 1 Nr. 2 a.F. und garantiert Opfern von (versuchten) Tötungsverbrechen nach §§ 211, 212 StGB oder deren Angehörigen das Recht auf einen anwaltlichen Beistand. Hingegen erweitert die neu eingefügte Nr. 3 den Katalog des § 397a Abs. 1 um weitere Straftatbestände, die bislang kein Recht auf einen Opferanwalt begründeten; dies allerdings unter der Bedingung, dass die rechtswidrige Tat zu schweren körperlichen oder seelischen Schäden geführt hat oder voraussichtlich führen wird. Nach der durch Art. 1 Nr. 7 des StORMG eingeführten Nr. 4 können Verletzte rechtswidriger Taten nach §§ 174 bis 182 StGB einen anwaltlichen Beistand verlangen, sofern sie im maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Schutzaltersgrenze, wofür nunmehr – anders als nach früherer Gesetzesfassung, nach welcher der Zeitpunkt der Antragsstellung maßgebend war – auf die Zeit der Tat abzustellen ist, das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hatten oder sonst nicht in der Lage sind, ihre Interessen ausreichend wahrzunehmen.4 Die – ursprünglich durch Art. 1 Nr. 27 des 2. OpferRRG neu eingefügte Nr. 4 und sodann – durch Art. 1 Nr. 7 des StORMG durch Streichung der Aufzählung „§ 174 bis 182“ und § 225“ neugefasste Nr. 5 der Vorschrift entspricht der Regelung des § 397a Abs. 1 Satz 2 a.F., soweit dieser einerseits einen erweiterten Anspruch auf Bestellung eines Opferanwaltes für Kinder, Jugendliche und die Personen vorsieht, die ihre Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen können und andererseits auf Delikte nach den §§ 174 bis 182, 225 bis 233a StGB Bezug genommen wird. Diese Regelung war bereits durch das 2. OpferRRG in Absatz 1 Nr. 4 überführt, die bisherige Schutzaltersgrenze von sechzehn auf achtzehn Jahre angehoben und ferner ein Anspruch solcher Personengruppen auf einen kostenlosen Opferanwalt Gesetz begründet worden, die durch eine rechtswidrige Tat nach §§ 211 oder § 240 Abs. 4 StGB verletzt worden sind (§ 397a Abs. 1 Nr. 4 a.F.). In dem neugefassten Absatz 2 Satz 1 ist das Tatbestandsmerkmal der „Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage“ entfallen; fortan steht dem bedürftigen Nebenkläger schon dann ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe zu, wenn er nicht in der Lage ist, seine Interessen wahrzunehmen und ihm solches auch nicht zuzumuten ist. Die Änderung des Satzes 2 stellt lediglich eine Anpassung an die in Bezug genommene geänderte Vorschrift des § 114 ZPO dar. Absatz 3 Satz 1 entspricht inhaltlich den Regelungen aus § 397a Abs. 1 Satz 3 a.F. und Abs. 2 Satz 3 a.F. Gleichermaßen fasst Absatz 3 Satz 2 die bisherigen Regelungen aus § 397a Abs. 1 Satz 4 und Abs. 2 Satz 3 zusammen und überführt diese mit der bisher 1 2 3
BGBl. 2009 I S. 2280. v. 26.6.013, BGBl. 2013 I S. 1805. Abs. 1 Nr. 4 i.d.F. des 2. OpferRRG wurde überdies um den Katalogtatbestand des § 237 StGB durch Art. 5 des Gesetzes zur Bekämpfung von Zwangsheirat und zum besseren
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Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften vom 23. Juni 2011 (BGBl. I S. 1266) erweitert. BTDrucks. 17 6261 S. 12.
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in Absatz 3 Satz 1 enthaltenen Regelung über die Entscheidungszuständigkeit in einen einzigen Satz. Hiermit wird die Zuständigkeit nunmehr dem Gerichtsvorsitzenden allein übertragen. Die durch das 2. OpferRRG in Absatz 3 Satz 3 überführte Regelung des § 397a Abs. 3 Satz 2 a.F. wurde durch das StORMG aufgehoben.5
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1. Bedeutung. Die Neufassung der Bestellung eines Beistands für ausgewählte Nebenkläger steht im regelungssystematischen Zusammenhang mit den sonstigen Änderungen der StPO durch das 2. OpferRRG und einer hierdurch erstrebten Neuordnung des Rechts der Nebenklage und der Stärkung der Rechte von Opfern und Zeugen im Strafverfahren.6 Zu nennen sind hier etwa die durch eine Neufassung des § 395 erreichte Erweiterung der Anschlussmöglichkeiten eines Verletzten als Nebenkläger sowie die Erweiterung von Informationsrechten des möglichen Verletzten einer Tat (§§ 406d, 406e, 406h). Der neugefasste § 397a enthält im Wesentlichen zweierlei: Absatz 1 regelt die Bestellung eines anwaltlichen Beistands für den Nebenkläger und knüpft zur Bestimmung der notwendigen Schutzbedürftigkeit zunächst ausschließlich an das Gewicht der in Rede stehenden rechtswidrigen Taten an, etwa Sexual- (Nr. 1) oder Tötungsverbrechen (Nr. 2), ermöglicht hinterbliebenen Angehörigen (Nr. 2) und solchen Verletzten anwaltlichen Beistand, die schwere Tatfolgen erlitten haben (Nr. 3) oder im Tatzeitpunkt (Nr. 4) oder bei der Antragstellung (Nr. 5) das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder sonst ersichtlich nicht in der Lage sind, ihre Interessen als Verletzte der Tat ausreichend wahrzunehmen; Absatz 2 bestimmt die Voraussetzungen, unter denen Prozesskostenhilfe für die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts in den sonstigen Fällen einer Nebenklage zu gewähren ist (zur Entstehungsgeschichte HW Rn. 2). Die Beiordnung eines Rechtsanwalts nach Absatz 1 schließt die Bestellung eines Zeugenbeistands nach § 68b aus.7 Die Vorschrift erweist sich insgesamt als lex specialis im Verhältnis zu § 68b.8
2
2. Sachliche Voraussetzungen des Absatzes 1. Das Recht auf Bestellung eines Rechtsanwalts als Beistand knüpft auch nach der Neufassung durch verschiedene Reformgesetze (s. Rn. 1) an die Nebenklagebefugnis nach § 395 Abs. 1 an. Die Befugnis zur Bestellung eines anwaltlichen Beistandes ist in vier unterschiedliche Stufen gegliedert: Die Nrn. 1 und 2 begründen den Anspruch auf Beistand bei den benannten Sexual- und Tötungsverbrechen stets und ohne weitere Voraussetzungen; Nr. 3 erfordert schwere Folgen aus den dort abschließend benannten Katalogtaten. Nach Nr. 4 ist über die Katalogtaten hinaus erforderlich, dass der Verletzte zur Tatzeit Jugendlicher war oder im Zeitpunkt des Antrags nicht in der Lage ist, seine Interessen selbst wahrzunehmen. Dies gilt nach Nr. 5 gleichermaßen bei im Zeitpunkt der Antragsstellung Jugendlichen. Im Einzelnen gilt folgendes:
3
a) Die in Absatz 1 Nr. 1 und 2 benannten Delikte begründen ein unmittelbares Recht zur Bestellung eines anwaltlichen Beistands, wenn sie ein Verbrechen i.S.v. § 12 Abs. 1 StGB darstellen.9 Dieser Anspruch steht nach Nr. 2 auch nebenklageberechtigten Angehörigen eines durch eine rechtswidrige Tat Getöteten zu,9a wobei deren Bestellungsanspruch über die §§ 211, 212 StGB hinaus geht und – korrespondierend mit § 395 Abs. 1 Nr. 1 – durch den Todeserfolg qualifizierte Delikte und die fahrlässige Tötung umfasst.10 5 6 7 8 9 9a
BTDrucks. 17 6261 S. 13. BTDrucks. 16 12098 S. 1, 29. Meyer-Goßner 2; AnwK/Böttger 1. Meyer-Goßner 2. BTDrucks. 16 12098 S. 32. Vgl. allerdings zu einer aus dem Rechts-
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10
schutzbedürfnis abgeleiteten Gruppenverletzung von mehreren Angehörigen zutreffend OLG Köln BeckRS 2013 17029 sowie Rn. 26. Zur fahrlässigen Tötung OLG Celle NStZ-RR 2012 291.
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Zweiter Abschnitt. Nebenklage
Nachtr. § 397a StPO
b) Hingegen führen die in Absatz 1 Nr. 3 benannten Verbrechen (§§ 226, 234 bis 4 235, 238 Abs. 3, §§ 239 Abs. 3, §§ 239a, 239b, 249, 250, 252, 255 und 316a StGB) nur dann zur Bestellung eines anwaltlichen Beistandes für den Nebenkläger, wenn die rechtswidrige Tat beim ihm zu schweren körperlichen oder seelischen Schäden geführt hat oder voraussichtlich führen wird. Die grundsätzlich zur Bestellung des Beistands berechtigenden Katalogtaten sind im Vergleich zur früheren Rechtslage durch das 2. OpferRRG deutlich erweitert worden und enthalten sowohl Verbrechen aus dem Katalog des § 395 Abs. 1 als auch solche, die erst unter den strengen Anforderungen des Auffangtatbestandes des § 395 Abs. 3 zum Anschluss als Nebenkläger berechtigen (Nachtr. § 395, 8 ff.). Dabei indiziert die im letztgenannten Fall erfolgte Nebenklagezulassung nach § 396 Abs. 2 Satz 2 Hs. 1 allerdings nicht die für § 397a Abs. 1 Nr. 3 erforderlichen bereits eingetretenen oder aber absehbaren schweren Folgen (vgl. Nachtr. § 395, 13).11 Notwendig ist vielmehr eine darüber hinaus gehende besondere Schutzbedürftigkeit des Nebenklägers.12 Diese kann sich ergeben aus der Schwere des Delikts, naheliegend unter Würdigung 5 der gesamten Tatumstände, namentlich des Vor- und Nachtatgeschehens, der Täterpersönlichkeit sowie dem Gewicht erlittener körperlicher oder seelischer Schäden. Notwendig ist eine erhebliche und dauerhafte Gesundheitsschädigung bzw. in psychischer Hinsicht eine erhebliche Schädigung von ebensolchem Gewicht.13 Dabei kommt es nicht darauf an, ob die erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigung auf unabsehbare Zeit besteht (vgl. etwa § 226 StGB).14 Der Gesetzgeber hat eine solche Voraussetzung erkennbar gerade nicht zum Tatbestandsmerkmal erhoben; notwendig aber auch hinreichend ist eine umfassende gerichtliche Würdigung der Umstände des Einzelfalles, in der namentlich der Dauer der Schadensfolgen – auch einer für sich noch nicht gravierenden Verletzung – ebenfalls Bedeutung zukommen kann. Dabei sind auch körperliche Reaktionen als Folge einer psychischen Belastung – etwa durch einen besonders brutalen Raubüberfall – in den Blick zu nehmen, die über den Tattag hinaus andauern.15 Eine mögliche Schädigung (auch) in finanzieller Hinsicht ist hingegen unbeachtlich.16 Sind körperliche oder seelische Schäden im Zeitpunkt der Antragsstellung noch nicht 6 eingetreten aber zu besorgen, ist das Maß der Wahrscheinlichkeit eines entsprechenden Schadenseintritts zu bestimmen und in die gerichtliche Entscheidung einzustellen. Hierfür kommt dem Vortrag des Nebenklägers – strukturell vergleichbar mit seiner Anschlusserklärung nach § 395 Abs. 3, § 396 – besondere Bedeutung zu (s. Rn. 21); soweit die hierfür tragenden Gründe nicht bereits aktenkundig oder sonst ersichtlich sind, hat er diese, zumindest aber die bestimmenden Anknüpfungstatsachen, darzulegen. c) Die in Absatz 1 Nr. 4 benannten rechtswidrigen Taten (§§ 174 bis 182 und 225 7 StGB) berechtigen den Nebenkläger nur dann zur Bestellung eines anwaltlichen Beistandes, wenn er im Zeitpunkt der Tat das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder nicht in der Lage ist, seine Interessen selbst wahrzunehmen. Bereits durch das 2. OpferRG hatte der Gesetzgeber die Schutzaltersgrenze von sechzehn auf achtzehn Jahre erhöht und dadurch den Anwendungsbereich der Vorschrift in personaler Hinsicht erweitert. Mit der nur kurze Zeit später erfolgten weiteren Änderung durch das StORMG, nach der nunmehr nicht der Zeitpunkt der Antragstellung, sondern der Zeit-
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BTDrucks. 16 12098 S. 31. BTDrucks. 16 12098 S. 33. BTDrucks. 16 12098 S. 33. Vgl. auch OLG Düsseldorf NStZ-RR 2011 186.
15 16
OLG Düsseldorf BeckRS 2012 07682. BTDrucks. 16 12098 S. 33.
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punkt der Tat für die Berechnung der Schutzaltersgrenze maßgeblich ist, sind die Beistandsbefugnisse auch in zeitlicher Hinsicht signifikant erweitert worden.17 War die Schutzaltersgrenze des Verletzten zur Tatzeit bereits überschritten, kommt die 8 Bestellung eines anwaltlichen Beistands nur unter der Voraussetzung in Betracht, dass er unfähig ist, seine Interessen selbst ausreichend wahrzunehmen. In die gebotene wertende Gesamtschau sind maßgeblich solche Umstände einzustellen, die ihren Ursprung im Rechtskreis des Nebenklägers finden, etwa dessen spezielle Interessenlage und Schutzbedürftigkeit. Anhaltspunkte für einen besonders schutzwürdigen Nebenkläger können dessen persönliche Dispositionen vermitteln, sein Alter – z.B. die Nähe zur Schutzaltersgrenze –, etwaige körperliche oder geistige Gebrechen sowie psychisch bedingte Einschränkungen oder eine anders begründete prozessuale Hilflosigkeit. Hingegen rechtfertigen sprachliche Schwierigkeiten des Nebenklägers – vergleichbar mit den Maßgaben des § 140 Abs. 2 – die Bestellung nur, sofern diese nicht durch die Beiziehung eines Dolmetschers ausgeglichen werden können.18 In die Gesamtwürdigung kann auch das Tatbild selbst einzustellen sein, wenn dieses etwa durch emotionale oder psychische Dispositionen des Verletzten oder eine Abhängigkeit vom Angeklagten geprägt ist. Ferner kann eine schwierige Sach- oder Rechtslage – ggf. in der Zusammenschau mit körperlichen, geistigen oder psychischen Defiziten – eine prozessuale Unfähigkeit zur eigenen Interessenwahrnehmung nahelegen. Die Sach- und Rechtslage erweist sich regelmäßig als schwierig, wenn – aus der Sicht des Nebenklägers – der Sachverhalt umfangreich ist, sich seine Aufklärung als kompliziert erweist, seine Bewertung Spezialkenntnisse oder voraussichtlich die Stellung von Beweisanträgen erfordert. In Betracht kommen ferner Konstellationen, in denen komplexe bzw. umstrittene Rechtsfragen zu entscheiden sind, etwa zu Maßnahmen, die den persönlichen Lebensbereich des Nebenklägers betreffen und zum Ausschluss der Öffentlichkeit oder zur Entfernung des Beschuldigten aus der Verhandlung führen sollen.19 Betrifft die Schwierigkeit sachspezifisch sowie unter vernünftiger Betrachtungsweise nur die Rechtssphäre des Beschuldigten (z.B. Auslieferung, allein den Beschuldigten betr. Fristen, Bestellung und Auswahl des Pflichtverteidigers, reine Strafzumessungsfragen), fehlt also der „Opferbezug“, so kann jedenfalls mit Hilfe dieser Voraussetzung eine Bestellung bzw. die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht begründet werden.20 Bei den von Nr. 4 benannten Sexualdelikten kann im Einzelfall bei §§ 179, 180 StGB 9 eine besondere Schutzbedürftigkeit namentlich mit Blick auf die Deliktsstruktur begründet sein. Dies gilt gleichermaßen für Verletzte solcher rechtswidrigen Taten, die auf eine strukturelle Unterdrückung des Opfers, die Begründung und Aufrechterhaltung einer emotionalen oder materiellen Abhängigkeit vom Täter oder auf Einschüchterung gerichtet sind (etwa § 180a StGB). Hingegen wird sich dem Tatbild des § 174 StGB regelmäßig keine solche strukturelle Beziehung entnehmen lassen, sodass hier in besonderem Maße die Umstände des Einzelfalls von Bedeutung sind.
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d) Schließlich sind nach Absatz 1 Nr. 5 die Verletzten der enumerativ benannten Verbrechen und Vergehen (§§ 221, 226, 232 bis 235, 237, 238 Absatz 2 und 3, §§ 239a, 239b, 240 Absatz 4, §§ 249, 250, 252, 255 und 316a) antragsberechtigt, sofern sie im Zeitpunkt der Antragsstellung das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder nicht in der Lage sind, ihre Interessen selbst wahrzunehmen (hierzu Rn. 8). Anhalts17 18
BT-Drucks. 17 6261 S. 12. Zu weitgehend LG Bochum StV 1987 450; KMR/Stöckel 9; AK/Rössner 7; vgl. ferner HK/Kurth/Weißer 8.
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19 20
Vgl. AK/Rössner 6; a.A. wohl Kaster MDR 1994 1074. Vgl. AK/Rössner 6; KMR/Stöckel 9.
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Nachtr. § 397a StPO
punkte für eine mangelnde Fähigkeit zur eigenen Interessenwahrnehmung können sich für die hier gebotene wertende Gesamtschau namentlich aus dem Alter des Nebenklägers – etwa eine Nähe zur Schutzaltersgrenze – oder seinem Ausbildungsstand aber auch aus der Tat selbst ergeben. Gerade in den Fällen der Zwangsverheiratung (§ 237 StGB)21 und der Nötigung zum Schwangerschaftsabbruch liegt solches regelmäßig nahe.22 3. Sachliche Voraussetzungen des Absatzes 2. Dem Nebenkläger, der die Vorausset- 11 zungen des Absatzes 1 nicht erfüllt, kann Prozesskostenhilfe (ausschließlich) für die Bestellung eines anwaltlichen Beistands bewilligt werden. a) Allgemeines. Die im Verhältnis zu Absatz 1 subsidiäre23 Bewilligung der Prozess- 12 kostenhilfe richtet sich zwar grundsätzlich nach denselben Vorschriften wie in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (§§ 114 ff. ZPO), setzt also „Mittellosigkeit“ des Nebenklägers voraus (HW Rn. 12), knüpft jedoch nicht an die weiteren sachlichen Voraussetzungen nach § 114 ZPO an, nämlich die „hinreichende Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung“24 und dass diese nicht „mutwillig“ erscheinen darf. Diese Voraussetzungen sind zivilprozessual geprägt und passen nicht zur Stellung des Nebenklägers als eines Zusatzbeteiligten im Offizialverfahren. Insbesondere im Hinblick auf den Gedanken des Verletztenschutzes, welcher der Nebenklagebefugnis zugrunde liegt (HW Vor § 395, 8; Nachtr. § 395, 12), lässt sich die Frage der „Erfolgsaussicht“ der Nebenklage kaum sinnvoll stellen; entsprechendes gilt für die „Mutwilligkeit“ einer Nebenklage.25 Daher ist § 114 Satz 1 2. Hs. ZPO nicht anwendbar (Absatz 2 Satz 2).26 Statt dessen knüpft § 397a Abs. 2 Satz 1 – in Anlehnung an § 140 Abs. 2 – alternativ an die „Unfähigkeit“ (Rn. 13) oder die „Unzumutbarkeit“ (Rn. 14) der eigenen Interessenwahrnehmung an. Die weitere Tatbestandsalternative, eine Beiordnungsmöglichkeit wegen schwieriger Sach- und Rechtslage, ist mit dem 2. OpferRRG gestrichen worden.27 Ob die Unfähigkeit oder Unzumutbarkeit eigener Interessenwahrnehmung (alternativ) gegeben ist, ist aus der Sicht des Nebenklägers zu entscheiden; dabei ist jedoch nicht auf dessen rein subjektive Bewertung abzustellen, sondern – begrenzend – auf eine „vernünftige Betrachtungsweise“ (vgl. HW § 24, 7).28 Eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe kommt jedoch nicht in Betracht, wenn ein Schutzbedürfnis fehlt, etwa bei einem unzulässigen, einem offensichtlich unbegründeten (§ 349 Abs. 2)29 oder einem allein gegen den Strafausspruch geführten Rechtsmittel (s. Rn. 20).30 Zur Bedeutung eines bereits bei Antragstellung mandatierten anwaltlichen Beistands s. Rn. 17. 21 22 23 24 25 26 27
Vgl. hierzu BTDrucks. 17 4401 S. 13. BTDrucks. 16 12098 S. 33. BGH NJW 1999 2390; NStZ 2000 218; BeckRS 2006 03152. Will der Antragsteller sich dazu beraten lassen, kann das BerathG Anwendung finden. Vgl. BTDrucks. 10 5305 S. 14; BGH AnwBl. 1989 688; Jung JuS 1987 158. BGH NStZ-RR 2008 49. Mit Blick auf den Charakter als alternative, nicht aber kumulative Tatbestandsvoraussetzung für die Prozesskostenhilfe und die erstrebte Beseitigung von „Unbilligkeiten“ erscheint dies freilich nicht zwingend, vgl. BTDrucks. 16 12098 S. 34; zur weiterhin gebotenen Berücksichtigung dieses Topos bei
28 29
30
den gerichtlichen Wertungsakten in Absatz 1 Nr. 4 und 5 sowie Absatz 2 vgl. Nachtr. Rn. 8. AK/Rössner 4, 6; vgl. auch Ruppert MDR 1995 556 (zum Revisionsverfahren). H.M.; vgl. z.B. BGH AnwBl. 1989 688; NStZ 1993 351; BGH bei Kusch NStZ 1994 26; BGH bei Kurth NStZ 1997 4; bei Kusch NStZ-RR 2000 40; bei Becker NStZ-RR 2003 6 und 102; StraFo 2004 399; BeckRS 2010 31027; s. auch BayObLG bei Bär DAR 1989 371; HansOLG Hamburg NStZ 1988 193; OLG Düsseldorf Rpfleger 1988 548 (Rechtsverteidigung abgeschlossen); Ruppert MDR 1995 556 (zum Revisionsverfahren). BGHR § 397a I PKH 7.
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b) Die Unfähigkeit des Nebenklägers, seine Interessen selbst ausreichend wahrzunehmen, ist gegeben, wenn er aus persönlichen Gründen nicht fähig ist, seine Interessen ausreichend zu verfolgen (hierzu Rn. 8).
14
c) Die Unzumutbarkeit der eigenen Interessenwahrnehmung stellt im Wesentlichen auf die psychische Betroffenheit des Nebenklägers durch die Tat ab.31 Sie kann auch dann gegeben sein, wenn der Nebenkläger zwar zur eigenen Interessenwahrnehmung in der Lage wäre (Nachtr. Rn. 8), ihn solches jedoch – aus seiner Sicht – unvertretbar belasten würde. Diese Voraussetzung kann namentlich bei Opfern von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sowie von schwerwiegenden Nachstellungen eine erhebliche Rolle spielen.32 Da nach Absatz 2 Satz 2 der § 121 Abs. 1 bis 3 ZPO unanwendbar ist, scheidet der Umstand, dass der Beschuldigte einen Verteidiger hat (vgl. § 121 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. ZPO) als zwingender Grund für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe aus.33
15
d) Mittellosigkeit. Weitere, unverzichtbare Voraussetzung ist, dass der Nebenkläger nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Kosten eines Rechtsanwalts aufzubringen (§§ 114, 115 ZPO);34 dessen Gebühren ergeben sich aus dem RVG.35 Mittellosigkeit im Sinne der §§ 114, 115 ZPO ist anzunehmen, wenn der Nebenkläger im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag persönlich, wenn auch vielleicht nur teilweise oder vorübergehend, unvermögend ist, diese Kosten zu zahlen. Es genügen also eine wenigstens wahrscheinliche Unfähigkeit und der finanzielle Engpass, die Kosten nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen zu können. Zur Berechnung der sog. „Mittellosigkeit“ s. § 115 ZPO.36 4. Entscheidung über die Anträge (Absatz 3)
16
a) Antragsvoraussetzungen. Der anwaltliche Beistand wird dem Nebenkläger nur auf dessen Antrag hin bestellt; dies gilt gleichermaßen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe. Der Antrag auf Bestellung bzw. auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe kann schon vor der Anschlusserklärung (§ 396 Abs. 1 Satz 1) angebracht werden (Absatz 3 Satz 1). Denn der Verletzte kann – je nach Sachlage – ein berechtigtes Interesse daran haben, dass hierüber entschieden wird, bevor er sich als Nebenkläger anschließt.37 Allerdings wirkt ein Antrag vor dem in § 396 Abs. 1 Satz 2 und 3 benannten Zeitpunkt, namentlich im Ermittlungsverfahren, nur als aufschiebend bedingt gestellt und erwirkt die gerichtliche Entscheidung hierüber erst mit Anklageerhebung (s. Rn. 17).38 Einem minderjährigen Verletzten ist für die Anträge nach Absatz 1 und 2 ggf. ein Ergänzungspfleger zu bestellen.39 Der Antrag ist bei dem für die Entscheidung über die Anschlussbefugnis (§ 396) zu17 ständigen Gericht (Absatz 3 Satz 2) schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle
31 32
33
Böttcher JR 1987 137. Vgl. BTDrucks. 10 6124 S. 14; s. auch AK/Rössner 8, 9 (zutreffend für eine großzügige, „opferfreundliche“ Anwendung); KMR/Stöckel 12; HK/Kurth/Weißer 6; Mosbacher NStZ 2007 671. Vgl. auch OLG Celle Rpfleger 1997 473; OLG Düsseldorf MDR 1987 79; KMR/ Stöckel 10 ff.
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34 35 36 37 38 39
Vgl. auch HW § 379, 14 ff. S. Vorb. 4 Abs. 1 VVRVG. Zu Einzelfragen vgl. Kurth NStZ 1997 2 ff. sowie die Kommentare zur ZPO. Vgl. Rieß/Hilger NStZ 1987 154. Meyer-Goßner 12. OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001 303.
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Zweiter Abschnitt. Nebenklage
Nachtr. § 397a StPO
(§ 117 Abs. 1 ZPO – ggf. analog) zu stellen (HW § 396, 7) oder wird, falls er schon im Ermittlungsverfahren40 gestellt worden war, von der Staatsanwaltschaft mit samt den Verfahrensakten vorgelegt. Die gerichtliche Zuständigkeit wird erstmals mit Anklageerhebung begründet (§ 199) und geht auf das Berufungs- oder Revisionsgericht mit Eingang der Akten dort über.41 Eine Entscheidung über den Antrag erfolgt (unbeschadet des § 406g, also wenn eine Bestellung oder Prozesskostenhilfe nur für das gerichtliche Verfahren beantragt wird) jedoch, wie sich aus Absatz 3 Satz 2 ableiten lässt („befasste“ Gericht), erst, wenn die öffentliche Klage erhoben ist oder – im Verfahren bei Strafbefehlen – wenn Termin zur Hauptverhandlung anberaumt oder der Antrag auf Erlass eines Strafbefehls abgelehnt worden ist (§ 396 Abs. 1 Satz 2, 3).42 Ob der Antragssteller bereits einen Anwalt mandatiert hat, ist für die Bestellungsentscheidung nach Absatz 1 Nr. 1, 2 und 3 bedeutungslos.43 Entsprechend ist ein gerichtlicher Bestellungsakt auch dann nicht – in entsprechender Anwendung des § 143 – zurückzunehmen, wenn sich der Verletzte selbst eines anderen Beistands versichert hat.44 Angesichts der ausschließlich § 142 Abs. 1 betreffenden Bezugnahme ist für eine ergänzende Anwendung weiterer Vorschriften des Rechts der notwendigen Verteidigung kein Raum. Allerdings kann im Rahmen der gebotenen gerichtlichen Würdigung nach Absatz 1 Nr. 4 und 5 (s. Rn. 7 ff., 12) einer bereits vorhandenen anwaltlichen Mandatierung Bedeutung zukommen. Liegen die Voraussetzungen von Absatz 1 vor und wird gleichwohl nur ein Antrag 18 auf Bewilligung von Prozesskostemnhilfe nach Absatz 2 gestellt, ist dieser mit Rücksicht auf den Rechtsgedanken des § 300 als Antrag auf Bestellung eines anwaltlichen Beistands auszulegen.45 Im Falle einer Verfolgungsbeschränkung gemäß § 154a ist § 395 Abs. 5 zu beachten 19 (s. Nachtr. § 395 Rn. 23). Eine Einstellung bzw. Beschränkung nach den §§ 153 ff. bis § 154 wird mit Blick auf die Schwere der Katalogtaten nur selten in Betracht kommen. Ggf. ist nach § 396 Abs. 3 zu verfahren. Auch dann, wenn eine Berechtigung zum Anschluss (grundsätzlich) bejaht wird (vgl. § 396 Abs. 3), kommt die Bestellung eines Rechtsanwalts mit Wirkung für die Zukunft aus teleologischen Gründen nicht in Betracht, wenn mit einer Verurteilung wegen des zum Anschluss berechtigenden Nebenklagedelikts nicht mehr zu rechnen ist oder/und eine Wahrnehmung der Interessen des Verletzten in der (weiteren) Verhandlung nicht mehr erforderlich ist. Wohl aber kann eine Bestellung mit „Rückwirkung“ ab Antragstellung in Betracht kommen, etwa wenn der Verletzte mit einem Rechtsanwalt als Beistand nach Antragstellung an der Hauptverhandlung bis zur Beschränkung teilgenommen hat und der Antrag noch nicht beschieden worden ist. Der Antrag des Verletzten auf Bestellung eines anwaltlichen Beistandes ist ferner 20 zurückzuweisen, wenn es dem Nebenkläger erkennbar an der notwendigen Schutzbedürftigkeit mangelt. Dies gilt namentlich, wenn der Antrag im Zusammenhang mit einem Rechtsmittel gestellt wird und dieses unzulässig oder – die Revision – als offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2) zu verwerfen ist.46 In diesen und in den Fällen des 40 41 42 43
Dagegen Meyer-Goßner 12; vgl. auch Notthoff DAR 1995 461. BGH NJW 1999 2380. HK/Kurth/Weißer 29; AK/Rössner 11. KG StraFo 2008 47; a.A. HK/Kurth/Weißer 12, wobei zweifelhaft erscheint, ob die tatbestandliche Voraussetzung einer prozessualen Schutzbedürftigkeit des Nebenklägers (s. Nachtr. § 395, 12) als Voraussetzung
44 45 46
des Anspruchs mit dem generellen Rechtsschutzbedürfnis gleichgesetzt werden kann. A.A. HK/Kurth/Weißer 33. BGH BeckRS 2010 11468. HK/Kurth/Weißer 12; a.A. BGH StraFo 1999 376 (Erfolgsaussicht sei nach dem Sinn der Vorschrift nicht zu prüfen); NStZ 2005 650 für den Fall des § 349 Abs. 2 (darauf abstellend: anders als bei Absatz 2 sei bei der Bei-
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Fünftes Buch. Beteiligung des Verletzten am Verfahren
Absatzes 2 (vgl. Rn. 11 ff.), ist der Nebenkläger gerade nicht schutzbedürftig im Sinne der Norm (s. HW Rn. 2; Nachtr. § 395, 12). Er bedarf also keines anwaltlichen Beistands (vgl. auch HW Rn. 8). Hat der Angeklagte sein Rechtsmittel auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt, ist also der Schuldspruch rechtskräftig, so besteht die Beteiligungsbefugnis des Nebenklägers weiter (vgl. HW § 395, 29) und dementsprechend kann grundsätzlich auch in einem solchen Rechtsmittelverfahren eine Beiordnung in Betracht kommen; jedoch dürfte auch in einem solchen Fall die Schutzbedürftigkeit – als eine dem Sinn der Vorschrift entsprechende immanente Erforderlichkeitsbegrenzung – besonders sorgfältig zu prüfen und zumeist zu verneinen sein.
21
b) Antragsbegründung. Eine gesetzliche Begründungspflicht für den Antrag nach Absatz 1 oder 247 besteht nicht.48 Sind die Voraussetzungen für die Bestellung oder Bewilligung nach Absatz 1 und 2 allerdings nicht aktenkundig, kommt der Antragsbegründung des Nebenklägers namentlich in den Fällen des § 397a Abs. 1 Nr. 3 bis 5 besondere Bedeutung zu.49 Der Antragssteller hat sich dort zu sämtlichen Tatbestandsmerkmalen zu verhalten und dem Gericht seine besondere Schutzbedürftigkeit, etwa abgeleitet aus einer Unfähigkeit zur eigenen Interessenwahrnehmung oder deren Unzumutbarkeit, darzulegen (vgl. Rn. 8). Hierzu sind die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte zu hören (s. Rn. 24 ff.) und ggf. freibeweisliche gerichtliche Ermittlungen zu veranlassen. Dass der Antragssteller bereits als Nebenkläger nach § 395 Abs. 3 zugelassen worden ist, ändert hieran nichts, weil die Anforderungen an die notwendige Schutzwürdigkeit in § 397a strenger sind. Ist ein bestehendes Vertrauenshältnis des ortsfremden Rechtsanwalts nicht ersichtlich, sind in der Antragsschrift zur begehrten Auswahlentscheidung des Vorsitzenden (§ 142 Abs. 1) ebenfalls Ausführungen veranlasst (s. Rn. 26).
22
c) Bewilligungsverfahren. Das Verfahren über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe richtet sich über die Verweisung des § 397a Abs. 2 Satz 1 im Wesentlichen nach den Bestimmungen der §§ 117 ff. ZPO50 (s. Rn. 16 ff.). Dem Antrag sind – unter Verwendung vollständig ausgefüllter amtlicher Vordrucke51 – eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie die notwendigen Belege beizufügen (§ 117 Abs. 2, 4 ZPO). Darlegung und Nachweis dieser Verhältnisse (vgl. § 117 Abs. 2 ZPO) ist allerdings in der Regel nicht erforderlich, wenn ein entsprechender Bescheid der zuständigen Sozialbehörde vorgelegt wird; der Antragsteller darf zunächst darauf vertrauen, dass das Gericht diesen Angaben folgt – ggf. ist ihm rechtliches Gehör zu gewähren.52 Ergibt sich die Nebenklagebefugnis nicht eindeutig aus den Akten, so muss der Antragsteller darlegen, dass deren Voraussetzungen (§ 395) erfüllt sind (§ 117 Abs. 1 Satz 2 ZPO; s. Rn. 21). Das Gericht kann die Glaubhaftmachung der Angaben verlangen und eigene Erhebungen anstellen (§ 118 Abs. 2 ZPO).53 Fraglich54 ist, ob eidesstattliche Ver-
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48 49 50
standsbestellung nach Absatz 1 kein Raum für die Berücksichtigung der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage). Freilich mit Ausnahme der auf dem amtlichen Vordruck (vgl. BGBl. 1994 I S. 3003) mitzuteilenden wirtschaftlichen Verhältnisse, s. Rn. 22. HK/Kurth-Weißer 24. Vgl. auch SK/Velten 6. BTDrucks. 10 5305, S. 14; HK/Kurth-Weißer 13 ff.
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52 53
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Vgl. BGBl. 1994 I S. 3003; ferner BGH VRS 72 (1987) 375; bei Kurth NStZ 1997 2; allg. M.; OLG Hamm MDR 1996 861 (zum Klageerzwingungsverfahren). BVerfG NStZ 1999 469. Vgl. AK/Rössner 12; Meyer-Goßner 10; einschränkend OLG Bamberg JurBüro 1988 1716 (bzgl. Zeugenvernehmung). Vgl. HW § 379, 25.
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Zweiter Abschnitt. Nebenklage
Nachtr. § 397a StPO
sicherungen des Nebenklägers oder von Zeugen zulässig sind. Einer eidesstattlichen Versicherung des Nebenklägers dürfte jedenfalls in der Regel wenig Wert zukommen. Eidesstattliche Versicherungen von Zeugen dürften mit besonderer Sorgfalt zu prüfen und sehr zurückhaltend zu bewerten sein. Macht der Antragsteller innerhalb einer von dem Gericht gesetzten Frist Angaben über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht glaubhaft oder beantwortet er bestimmte Fragen nicht oder ungenügend, so lehnt das Gericht die Bewilligung der Prozesskostenhilfe insoweit ab (§ 118 Abs. 2 Satz 4 ZPO). b) Zuständigkeit. Zuständig für die Entscheidungen ist nach Absatz 3 Satz 2 der Vor- 23 sitzende des mit der Sache befassten Gerichts. Er hat demzufolge sowohl über die Bestellung nach Absatz 1 oder die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach Absatz 2 zu entscheiden, als auch die Auswahl des Rechtsanwalts vorzunehmen und diesen konkret zu bestellen. Zur Mitwirkung des Rechtspflegers vgl. § 20 Nr. 4, 5 RpflG. Die Zuständigkeit wird erstmals mit Anklageerhebung begründet (§ 199) und geht auf das Berufungsoder Revisionsgericht mit Eingang der Akten dort über.55 Entscheidet in diesem Fall gleichwohl das Tatgericht, soll dies die Wirksamkeit der Bestellung dann nicht berühren, wenn dem Antrag stattgegeben worden ist.56 Mit der Bewilligung der Prozesskostenhilfe entscheidet der Vorsitzende auch über die Frage, ob und welche „Ausgleichszahlungen“ der Nebenkläger an die Landeskasse zu leisten hat (§ 120 ZPO).57 Ferner ordnet er dem Antragssteller einen Rechtsanwalt58 bei. Die Bestellung gemäß Absatz 1 und 2 richtet sich – kraft ausdrücklicher Verweisung durch Absatz 2 Satz 2 – nach der spezifisch strafverfahrensrechtlichen Bestimmung des § 142 Abs. 1 StPO.59 Nach der durch das 2. OpferRRG erfolgten Neufassung des § 140 Abs. 1 ist das bisherige Erfordernis entfallen, den Rechtsanwalt möglichst aus der Zahl der beim Gerichtsbezirk niedergelassenen Berufsträger zu bestellen (vgl. noch HW Rn. 14 sowie Nachtr. Rn. 26).60 b) Verfahren. Dem Angeklagten ist vor der Bewilligung der Prozesskostenhilfe recht- 24 liches Gehör zu gewähren (§ 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO);61 zur Anhörung bzgl. der Nebenklagebefugnis vgl. HW § 396, 9, 21. Die Staatsanwaltschaft ist ebenfalls zu hören (§ 33 Abs. 2 StPO). Im Einzelnen: Dem Angeklagten ist vor der Bestellung nach Absatz 1 Gelegenheit zur Stellung- 25 nahme zu geben.62 Dies folgt schon aus der für den Fall der Verurteilung für ihn entstehenden Kostenlast63 und aus der für den Angeklagten auch im Übrigen – vom Gesetzgeber ausdrücklich bedachten64 – prozessual belastenden Teilnahme eines Rechtsanwalts auf Seiten des Nebenklägers im Hauptverfahren (vgl. § 140 Abs. 1 Nr. 9).65 Besonders aber die durch das 2. OpferRRG und das StORMG weitgehend geänderte Normstruktur legt seine Anhörung nahe. Beschränkte sich nach § 397a Abs. 1 Satz 1 a.F. die gericht-
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BGH NJW 1999 2380. BGH NJW 1990 460. Vgl. BGH bei Kusch NStZ 1994 229. Zu dessen Stellung vgl. Fabricius NStZ 1994 257; Thomas FS Koch 277. Vgl. auch KMR/Stöckel 14. Vgl. BTDrucks. 16 12098 S. 20 Vgl. KMR/Stöckel 14; AK/Rössner 12; SK/Velten 16; HK/Kurth/Weißer 30;
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Kaster MDR 1994 1074; a.A. Meyer-Goßner 13. HW Rn. 13; KMR/Stöckel 14; SK/Velten 16; a.A. Meyer-Goßner 13; AnwK/Böttger 10. Hierzu plastisch Barton JA 2009 758; ders./Flotho S. 239. BTDrucks. 17 6261 S. 11. HW Rn. 5.
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liche Prüfung maßgeblich auf eine Verurteilungswahrscheinlichkeit betreffend die wenigen benannten Katalogtaten (vgl. Nachtr. § 395, 5), fordert die Neufassung nach § 397a Abs. 1 Nr. 3 bis 5 und Absatz 2 umfassende gerichtliche Wertungsakte für die Zuweisung der durch sie garantierten Rechtspositionen ein, etwa betreffend körperlicher oder seelischer Tatschäden (s. Rn. 4) oder einer Unfähigkeit des Verletzten zur eigenen Interessenwahrnehmung (s. Rn. 8). Sofern die hierfür relevanten Umstände nicht offenkundig sind, kommt dem Vortrag des Verletzten in seiner Antragsschrift nunmehr maßgebende Bedeutung zu. Hierzu muss sich der Angeklagte verhalten dürfen, zumal da er dem Gericht noch unbekannte Umstände vortragen kann, die für die Entscheidung erheblich sein können (vgl. bereits HW Rn. 5). Erwägt das Gericht die Bestellung eines anwaltlichen Beistandes und hat der Neben26 kläger mit seiner Antragsschrift keinen Rechtsanwalt benannt, soll er vor einer gerichtlichen Auswahlentscheidung Gelegenheit erhalten, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Rechtsanwalt zu bezeichnen. Dieser Rechtsanwalt wird bestellt, wenn nicht wichtige Gründe entgegenstehen.66 Aus der entsprechenden Anwendbarkeit des § 142 Abs. 1 folgt, dass ein Rechtsanspruch des Nebenklägers auf Bestellung des gewünschten Rechtsanwalts nicht besteht.67 Zu den vom Vorsitzenden zu beachtenden Auswahlkriterien zählt neben einem vorzutragenden oder erkennbaren Vertrauensverhältnis zwischen den Beteiligten auch die Gerichtsnähe des benannten Rechtsanwalts.68 Schließen sich der erhobenen öffentlichen Klage wegen der Tötung eines Angehörigen mehrere Hinterbliebene mit erkennbar gleichgerichteter Interessenlage als Nebenkläger an (§ 395 Abs. 2), kann die Bestellung desselben Rechtsanwalts für sämtliche Nebenkläger oder für nach Kategorien zu bestimmende Gruppen von Nebenklägern aus Gründen effizienter und zügiger Verfahrensführung sowie der gerichtlichen Fürsorge (verringerte Kostenlast für den verurteilten Angeklagten, s. Rn 30)69 bei gleichzeitiger Erhöhung der Vergütung nach dem RVG für den bestellten Beistand geboten sein.70 Eine Auswechselung des anwaltlichen Beistands erfolgt in analoger Anwendung des § 143 StPO.71 Dem Beschuldigten ist auch vor der Bewilligung der Prozesskostenhilfe nach Absatz 2 27 Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (§ 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO),72 namentlich zur Bewertung einer vorgebrachten Unfähigkeit oder Unzumutbarkeit eigener Interessenwahrnehmung. Auch hierzu muss sich der Angeklagte verhalten dürfen, zumal da er dem Gericht noch unbekannte Umstände vortragen kann, die für die Entscheidung erheblich sein können (s. Rn. 21). Ihm ist daher die Antragsbegründung – ohne die Ausführungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen, sofern diese nicht ohnehin Verfahrensgegenstand sind – bekannt zu machen.
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c) Form. Die Entscheidung über die Bestellung nach Absatz 1, über die Gewährung von Prozesskostenhilfe nach Absatz 2 und die Auswahl des konkret beigeordneten Rechtsanwalts ergeht im Beschlusswege. Der ablehnende Beschluss ist zu begründen (§ 34). Solches ist mit Blick auf die weitgehenden Anfechtungsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten (s. Rn. 34 ff.) auch für den stattgebenden Beschluss angezeigt. 66 67 68
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Böttcher JR 1987 137; Rieß/Hilger NStZ 1987 154. HansOLG Hamburg NStZ-RR 2013 153. HansOLG Hamburg NStZ-RR 2013 153; vgl. ferner OLG Köln NStZ-RR 2011 49 sowie Lehmann NStZ 2012 188. Vgl. HansOLG Hamburg NStZ-RR 2012 390, 392.
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HansOLG Hamburg NStZ-RR 2013 153. BGH bei Becker NStZ-RR 2002 104; HK/Kurth/Weißer 33. Vgl. KMR/Stöckel 14; AK/Rössner 12; SK/Velten 16; Kaster MDR 1994 1074; a.A. HK/Kurth/Weißer 34; a.A. Meyer-Goßner 13.
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d) Wirkung. Der Umfang seiner rechtlichen Befugnisse leitet sich für den wirksam 29 bestellten anwaltlichen Beistand von den Rechten des Nebenklägers (§ 397) selbst ab. aa) Gebührenanspruch. Durch den Bestellungsakt wird ein Gebührenanspruch für 30 den gemäß Absatz 1 bestellten Rechtsanwalt nach den §§ 15, 45 ff., 53, 52 RVG i.V.m. Vorb. 4 VVRVG begründet. Gebührenzahlungen der Staatskasse hat der Verurteilte zu erstatten (§§ 464a, 465; Nr. 9007 KVGKG).73 Den Nebenkläger trifft gemäß § 53 Abs. 2 Satz 1 RVG kein Kostenrisiko. Da sich das Verfahren im Übrigen nach den Bestimmungen der Zivilprozessordnung richtet, ist es – neben der Bestellung als solcher – erforderlich, dass zwischen dem Rechtsanwalt und dem Nebenkläger ein Mandatsvertrag geschlossen wird und der Nebenkläger eine prozessuale Vollmacht erteilt.74 Im Falle des Absatzes 1 entspricht die Bestellung des anwaltlichen Beistandes der Verteidigerbestellung nach § 141.75 bb) Umfang der Prozesskostenhilfe. Dem bedürftigen Nebenkläger wird Prozesskos- 31 tenhilfe nur für die Bestellung eines Rechtsanwalts gewährt, nicht für seine sonstigen Kosten.76 Die Gewährung hat zur Folge, dass der beigeordnete Rechtsanwalt seinen Gebührenanspruch gegen die Staatskasse geltend machen kann (s. §§ 45, 48 RVG). Der Nebenkläger hat diese Kosten ggf. – je nach Inhalt des Bewilligungsbeschlusses (§ 120 ZPO; Rn. 14)77 – der Staatskasse zu erstatten. Ob sie endgültig von der Staatskasse oder – infolge einer Ratenzahlung – vom Nebenkläger zu tragen sind, hängt vom Ausgang des Strafverfahrens und der damit verbundenen Kosten- und Auslagenentscheidung ab (§§ 465, 472).78 Der gemäß Absatz 2 beigeordnete Rechtsanwalt kann seine Gebühren auch gemäß § 126 ZPO direkt gegen den Verurteilten geltend machen.79 Wegen der Auswirkungen der Bestellung nach Absatz 1 oder der Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Recht der Pflichtverteidigung vgl. die Erl. zu § 140 Abs. 2.80 Stirbt der Nebenkläger, so ist für eine Bewilligung der vor seinem Tod von ihm beantragten Prozesskostenhilfe kein Raum mehr.81 Das Gericht kann die Bewilligung der Prozesskostenhilfe nur dann aufheben, wenn die Voraussetzungen des § 124 ZPO erfüllt sind,82 nicht jedoch mit der Begründung, eine erneute Prüfung habe ergeben, dass die Bestellung des Rechtsanwalts nicht erforderlich erscheine. cc) Reichweite des Bestellungsakts. Schon im Hinblick auf den Wortlaut des Absatzes 3 32 Satz 1 könnte man diese Regelung dahin interpretieren, dass sowohl über die Beistandsbestellung (Absatz 1) als auch über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (Absatz 2) das Rechtsmittelgericht neu entscheidet, auch wenn diese bereits in erster Instanz erfolgte bzw. bewilligt wurde. Nach h.M.83 wirkt jedoch eine in der Vorinstanz erfolgte Beistandsbestellung gemäß Absatz 1, (im Wesentlichen) weil § 119 Abs. 1 ZPO insoweit
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S. auch Lappe Rpfleger 2003 116. HansOLG Hamburg NStZ 1988 193. Zur Mandatsproblematik s. daher die Erl. im HW zu § 141. BTDrucks. 10 5305, S. 14; AK/Rössner 2; allg. M. Vgl. auch Mümmler JurBüro 1988 563 (zur Änderung der Nachzahlungspflicht). Vgl. die Erl. zu §§ 464a, 465, 472. OLG Hamburg AnwBl. 1975 404; OLG Hamm StRR 2012 438.
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Vgl. auch Weider StV 1987 317. OLG Düsseldorf JurBüro 1987 535; s. auch OLG Koblenz AnwBl. 1997 237 (Beendigung der PKH mit dem Tod des Nebenklägers). OLG Frankfurt NStZ 1986 43 mit Anm. v. Stackelberg. St. Rspr. des BGH; vgl. z.B. BGH NJW 2000 3222; NStZ 2000 218; bei Becker NStZ-RR 2001 266; 2003 293; StraFo 2005 438; 2008 131; NStZ-RR 2009 253; 2010 714; OLG Düsseldorf StraFo 2000 23.
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nicht gilt, für die Rechtsmittelinstanz fort und gilt auch für die Hauptverhandlung84 in dieser; nicht erfasst ist allerdings das Adhäsionsverfahren.85 Ob nach einer Bestellung gemäß § 406g Abs. 3 Nr. 1 eine neue Bestellungsentscheidung nach § 397a Abs. 1 erforderlich ist, erscheint zweifelhaft, dürfte aber schon zur Klarstellung zweckmäßig sein. Im Übrigen endet die wirksame Bestellungsentscheidung nur durch ein Ausscheiden des Nebenklägers aus dem Verfahren oder durch Rücknahme des Bestellungsakts – auch zum Zwecke der Auswechslung des anwaltlichen Beistandes86 – als actus contrarius; eines – systematisch ohnehin zweifelhaften – Rückgriffs auf die Maßgaben des § 143 bedarf es hierzu nicht.87 Die Rücknahme ist nur bei Vorliegen besonderer Gründe möglich; allein der Wechsel eines Mitarbeiters der Kanzlei des bestellten Anwalts in ein anderes Rechtsanwaltsbüro ist unzureichend.88
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dd) Reichweite gewährter Prozesskostenhilfe. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (Absatz 2) gilt nur für den jeweiligen Rechtszug (vgl. § 119 Abs. 1 ZPO).89 Ist ein Rechtsmittel eingelegt, so entscheidet das Rechtsmittelgericht über eine Beiordnung nach Absatz 1, falls noch keine besteht, bzw. über die Bewilligung der Prozesskostenhilfe für die Rechtsmittelinstanz (Absatz 3 Satz 1), wenn ihm die Akten vorliegen.90 Eine solche Entscheidung ist nicht erforderlich, wenn die in der Vorinstanz bewilligte Prozesskostenhilfe als (fortwirkende) Beistandsbestellung nach Absatz 1 ausgelegt werden kann.91 In jeder Instanz ist erneut zu prüfen, ob alle Voraussetzungen für die Gewährung der Prozesskostenhilfe erfüllt sind. Dies gilt auch, wenn der Angeklagte das Rechtsmittel eingelegt hat.92 Die Maßgaben des 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO, wonach in einem höheren Rechtszug nicht zu prüfen ist, ob die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet oder mutwillig erscheint, wenn der „Gegner“ das Rechtsmittel eingelegt hat, findet keine Anwendung, weil es auf diese Kriterien gemäß § 397a nicht ankommt.93 Auf in der Vorinstanz vorgelegte Belege über die wirtschaftlichen Verhältnisse kann – ausnahmsweise – Bezug genommen werden, wenn sich diese Verhältnisse nicht geändert haben.94 Die Bestellung nach Absatz 1 bzw. die Bewilligung der Prozesskostenhilfe wirken grundsätzlich nur – vom Zeitpunkt der Mitteilung (§ 35 Abs. 2 Satz 2) der Bewilligung an den Nebenkläger an – für die Zukunft. Ausnahmsweise kann – je nach Lage des Einzelfalles – die Anordnung einer Rückwirkung auf den Zeitpunkt zulässig sein, zu dem das Gericht bei ordnungsgemäßer Sachbehandlung hätte entscheiden können, wenn ein vollständiger, entscheidungsreifer Antrag nicht rechtzeitig beschieden wurde,95 namentlich die Anordnung der Rückwirkung zur Vermeidung grober Unbillig-
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BGH NJW 2000 3222; StraFo 2005 343; NStZ 2010 714. BGH NStZ-RR 2009 253. BGH NStZ 2010 714; OLG Düsseldorf NStZ-RR 2010 22, 23. Nach a.A. soll die Rücknahme in entsprechender Anwendung des § 143 erfolgen, vgl. BGH bei Becker NStZ-RR 2002 104; HK/Kurth/Weißer 33, s. auch Rn. 17. BGH NStZ 2010 714. Vgl. BGH StraFo 2008 131; VRS 72 (1987) 375; OLG Düsseldorf MDR 1993 390; StraFo 2000 23. Vgl. BGHSt 38 308; BGH StraFo 1999 376; s. auch BGH bei Miebach NStZ 1990 29.
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BGH NStZ 2000 218; s. auch OLG Köln NStZ 2000 285. Vgl. BGH bei Miebach NStZ 1989 16; 1989 221; KG StV 1989 11; Meyer-Goßner 17. Anders BGH StraFo 2008 131 für § 404 Abs. 5. Vgl. BGH VRS 72 (1987) 375; bei Miebach NStZ 1989 16; 1989 221; s. auch BGH NJW 1983 2145; zu eng KG StV 1989 11. BGH NStZ 2001 106; OLG Köln NStZ-RR 2000 285; OLG Hamm NStZ-RR 2003 335; KMR/Stöckel 16 ff.
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keiten erforderlich ist.96 Einem Antrag auf Beistandsbestellung (Absatz 1) oder auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (Absatz 2), der erst nach Abschluss des Revisionsverfahrens gestellt wird, kann also grundsätzlich nicht stattgegeben werden.97 Wohl aber ist eine rückwirkende Bewilligung für die Revisionsinstanz möglich, wenn bereits vor deren Abschluss ein entscheidungsreifer Antrag vorlag, den das Revisionsgericht vor Abschluss des Revisionsverfahrens hätte bescheiden können.98 Wird das Urteil in der Rechtsmittelinstanz aufgehoben und die Sache in der Vorinstanz erneut verhandelt, so gelten eine Bestellung nach Absatz 1 oder eine Prozesskostenhilfebewilligung, die schon früher für diese Instanz erfolgt waren, weiter.99 Schließt sich der Nebenklagebefugte, dem nach § 406g Abs. 3 Nr. 2 Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, dem Verfahren als Nebenkläger an, so dürfte – klarstellend – ein neuer Bewilligungsbeschluss erforderlich sein. 5. Anfechtbarkeit. Bereits nach früherer Gesetzesfassung war die Entscheidung über 34 die Bestellung des anwaltlichen Beistandes nach Absatz 1 für den durch die Entscheidung Beschwerten anfechtbar.100 Der Gesetzgeber hat hier offenbar dem Interesse an der richtigen Entscheidung den Vorrang geben wollen vor Gründen der Verfahrensökonomie und dem Interesse an einer schnellen Festlegung der Rechtslage. Der Statthaftigkeit der einfachen Beschwerde soll § 305 Satz 1 nicht entgegen stehen, weil die Ablehnung eines Antrags auf Bestellung eines Beistandes nach Absatz 1 eine selbständige Bedeutung entfaltet, die über die bloße Vorbereitung der Hauptverhandlung hinaus gehe.101 Anfechtungsberechtigt sind daher im Falle einer ablehenden Entscheidung der Antragssteller und die Staatsanwaltschaft. Dies gilt für die Staatsanwaltschaft auch, sofern ein anwaltlicher Beistand bestellt wird. Hingegen ist umstritten, ob auch der Angeklagte durch die Bestellung nach Absatz 1 unmittelbar in seinen Rechten betroffen und deshalb ebenfalls beschwerdebefugt ist. Dies wird teilweise mit Hinweis auf eine für das Rechtsmittelrecht unzureichende mittelbare Betroffenheit abgelehnt.102 Bei Lichte gesehen erweist sich die anwaltliche Vertretung des Nebenklägers und die ihm hierdurch ermöglichte profesionelle Ausübung von Verfahrensrechten als unmittelbare Belastung.103 Dies anerkennt auch der Gesetzgeber, der aus Gründen prozessualer Waffengleichheit mit dem Umstand einer Beiordnung nach § 397a zu Recht einen Katalogtatbestand notwendiger Verteidigung normiert hat.104 Da der anwaltliche Beistand eines Nebenklägers nur in dessen Rechtskreis tätig wird (s. Nachtr. § 397, 15), steht ihm in eigener Person kein Beschwerderecht zu.105 Den nach § 397a Abs. 3 Satz 3 a.F. bestehenden Anfechtungsausschluss für die Ent- 35 scheidung über einen Prozesskostenhilfeantrag des Nebenklägers hat der Gesetzgeber des StORMG im Jahre 2013 zur Verbesserung des Rechtsschutzes für den Verletzten und zur
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Vgl. BGH VRS 72 (1987) 375; bei Miebach NStZ 1989 16; 1990 29; 1992 226; JurBüro 1992 823; KG JR 1988 436. BGH bei Pfeiffer/Miebach NStZ 1987 221; NStZ-RR 2008 255 (zu Absatz 1; auch zur Wiedereinsetzung). Vgl. BGH bei Miebach NStZ 1992 226; KG JR 1988 436; OLG Hamm JurBüro 1986 1730. Vgl. OLG Schleswig SchlHA 1997 75. KK/Senge 6; Rieß NJW 1998 3240 ff. Fn. 56. Vgl. auch HansOLG Hamburg NStZ-RR 2013 153; OLG Köln NStZ-RR
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2000 285 (besteht Anspruch gemäß Absatz 1, so ist auch Versagung der Prozesskostenhilfe anfechtbar). HansOLG Hamburg NStZ-RR 2013 153; OLG Köln BeckRS 2013 17029; OLG Köln NStZ-RR 2000 285. OLG Hamm NJW 2006 2057; MeyerGoßner 19; HK/Kurth/Weißer 45. So auch SK/Velten 7; KMR/Stöckel 20; s. auch Rieß NJW 1998 3243 Fn. 56 BTDrucks. 17 6261 S. 8, 11. HK/Kurth/Weißer 45.
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Gewährleistung einer einheitlichen Rechtsprechung aufgehoben.106 Die von der früheren Fassung gewährleistete Verfahrensökonomie und das gleichsam bedachte Interesse an einer schnellen Klärung der Rechtslage107 – auch und gerade für den Angeklagten108 –, hat er demgegenüber ersichtlich als nachrangig bewertet.109 Demzufolge sind ablehnende Entscheidungen, auch über Art und Umfang einer Ratenzahlungsbefugnis, für den Nebenkläger mit der Beschwerde nunmehr anfechtbar. Dies gilt gleichermaßen für die Auswahl des Rechtsanwalts entsprechend den Maßgaben des § 142 Abs. 1 (s. Rn. 26) als regelhafter Bestandteil der Entscheidung über die Gewährung von Prozesskostenhilfe.110 § 305 Satz 1 soll dem nicht entgegen stehen (s. Rn. 34). An dieser Stelle ist ohne Bedeutung, ob sich diese Beschwerdebefugnis – was schon mit Blick auf die nahezu uneingeschränkte Verweisung auf die Vorschriften der Zivilprozessordnung und die im Übrigen in der StPO fehlenden Verfahrensregelungen über die Prozesskostenhilfe (§§ 117 ff. ZPO) vorzugswürdig erscheint111 – aus der Anwendung des § 127 Abs. 2 Satz 2 ZPO oder aber einer strafprozessualen Verfahrensregelung aus § 304 ergibt. Unzweifelhaft besteht nach beiden Ansichten keine Befugnis zur weiteren Beschwerde (vgl. § 127 Abs. 2 Satz 2, § 568 Abs. 2 ZPO, § 310 Abs. 2). Dem Bezirksrevisor als Vertreter der Landeskasse steht eine Beschwerde gegen die stattgebende Entscheidung auch dann nicht zu, wenn diese grob gesetzeswidrig ist (vgl. § 127 Abs. 3).112 Eine Beschwerde des Angeklagten ist nach § 127 Abs. 2 Satz 1 ZPO ausgeschlossen. Soweit dem entgegen das strafverfahrensrechtliche Regime der Beschwerde nach §§ 304 ff. zugrunde gelegt wird, erscheint zweifelhaft, ob eine Beschwer des Angeklagten abgelehnt werden kann. Erst die stattgebende Entscheidung führt zu der für ihn belastenden Teilnahme des anwaltlichen Beistandes eines Nebenklägers in der Hauptverhandlung (s. Rn. 34).
36
6. Revision. Mit einer entsprechend ausgeführten Verfahrensrüge kann der Nebenkläger die rechtsfehlerhaft versagte Bestellung eines anwaltlichen Beistands nach § 397a rügen. Zum vollständigen Vortrag der rügebegründenden Tatsachen (§ 344 Abs. 2 Satz 2) dürfte allerdings die Ausschöpfung des Beschwerderechtswegs und damit das notwendige Rechtsschutzbedürfnis gehören. Allerdings wird das Urteil auf diesem Rechtsfehler in aller Regel nicht beruhen (§ 337), weil auszuschließen sein wird, dass der Nebenkläger im Beistand eines Rechtsanwalts für den Schuldspruch (§ 400) wesentliche Tatsachen oder Beweismittel mitvorgebracht hätte.113 Dies gilt auch für den Fall einer verspäteten Bestellung während laufender Hauptverhandlung oder eine zu Unrecht versagte Prozesskostenhilfe nach Absatz 2. Die bedingte Revisionseinlegung, abhängig von der Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach Absatz 2, ist nicht zulässig.114 Auch auf der fehlerhaften Bestellung eines anwaltlichen Beistandes und dessen Mitwirkung in der Hauptverhand-
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BTDrucks. 17 6261 S. 13. BTDrucks. 10 5305, S. 14; OLG Koblenz MDR 1991 557. Vgl. auch OLG Düsseldorf JurBüro 1990 769; Rpfleger 1993 506; OLG Koblenz MDR 1991 557 (Staatskasse). Vgl. zur früheren Rechtslage BGH NJW 1990 460; OLG Düsseldorf JurBüro 1990 769 (unzuständiges Gericht); KK/Senge 5. Vgl. zur früheren Rechtslage OLG Düsseldorf NStZ-RR 1999 115; Rieß/Hilger NStZ 1987 154; s. auch OLG Düsseldorf Rpfleger
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1993 506 (Unanfechtbarkeit auch der Ratenzahlungsanordnung). Vgl. HW § 379, 21. Vgl. HW § 379, 33; Meyer-Goßner § 379, 18. HW § 396, 34; vgl. zur früheren Gesetzesfassung BGH NStZ 1997 97; 1999 259; s. auch BGH MDR 1952 660 (verspätete Zulassung); Meyer-Goßner 20; vgl. ferner BGH v. 9.10.2013 – 2 StR 297/13 Tz. 13. BGH NStZ-RR 2008 49.
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Zweiter Abschnitt. Nebenklage
Nachtr. § 397a StPO
lung wird das Urteil in der Regel nicht beruhen. Dies gilt auch, sofern im Ausnahmefall eine Verletzung der Grundsätze des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 MRK) erwogen und durch den Angeklagten eine Verfahrensrüge mit der Angriffsrichtung eines Verstoßes gegen die Waffengleichheit geführt wird. Zum Zwecke vollständigen Vortrags der rügebegründenden Tatsachen wäre hierzu namentlich mitzuteilen (§ 344 Abs. 2 Satz 2), ob und in welcher Weise der Revident um Rechtsschutz im Erkenntnisverfahren, etwa durch das Beschwerderecht, ersucht hat,115 welche konkrete Art der Beeinträchtigung bei welchem konkreten Verfahrensstand gerügt wird116 und in welcher Weise hierdurch die Wahrnehmung seiner Verfahrensinteressen beeinträchtigt worden ist.117
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Vgl. BGH NStZ 2005 222 mit krit. Anm. Ventzke NStZ 2005 396 f.; vgl. auch BGH BeckRS 2012 10161.
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Vgl. BGH NJW 2005 1519, 1520. BGH NStZ 2005 222.
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VIERTER ABSCHNITT Sonstige Befugnisse des Verletzten § 406d (1) … (2) Dem Verletzten ist auf Antrag mitzuteilen, ob 1. … 2. freiheitsentziehende Maßnahmen gegen den Beschuldigten oder den Verurteilten angeordnet oder beendet oder ob erstmalig Vollzugslockerungen oder Urlaub gewährt werden, wenn er ein berechtigtes Interesse darlegt und kein überwiegendes schutzwürdiges Interesse des Betroffenen am Ausschluss der Mitteilung vorliegt; in den in § 395 Absatz 1 Nummer 1 bis 6 genannten Fällen sowie in den Fällen des § 395 Absatz 3, in denen der Verletzte zur Nebenklage zugelassen wurde, bedarf es der Darlegung eines berechtigten Interesses nicht; 3. dem Verurteilten erneut Vollzugslockerung oder Urlaub gewährt wird, wenn dafür ein berechtigtes Interesse dargelegt oder ersichtlich ist und kein überwiegendes schutzwürdiges Interesse des Verurteilten am Ausschluss der Mitteilung vorliegt. (3) …
Schrifttum Gelber/Walter Probleme des Opferschutzes gegenüber dem inhaftierten Täter, NStZ 2013 75.
Änderungen. Die Vorschrift ist durch Art. 1 Nr. 28 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz – 2. OpferRRG)1 in ihrem Absatz 2 Nr. 2 geändert worden. Hier sind die Wörter „§ 395 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a, c, und d und Nr. 2 genannten Fällen“ durch die Wörter „§ 395 Abs. 1 Nummer 1 bis 5 genannten Fällen sowie in den Fällen des § 395 Abs. 3, in denen der Verletzte zur Nebenklage zugelassen wurde“ ersetzt worden.2 Ferner wurde in Absatz 2 die Nr. 3 durch Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG)3 angefügt.
1
1. Bedeutung. Die Neufassung des Auskunftsanspruchs des Verletzten betreffend Haftund Vollstreckungsfragen erweist sich zunächst als Folgeänderung der mit dem 2. OpferRRG erfolgten Neuordnung des Rechts der Nebenklage, namentlich der Neufassung des § 395.4 An die dort vorgenommenen Änderungen wird der Gesetzeswortlaut von § 406d lediglich angepasst, inhaltlich aber unverändert gelassen.5 Durch das StORMG wurden 1 2 3
BGBl. 2009 I S. 2280. BTDrucks. 16 12098 S. 34. v. 26.6.2013 BGBl. 2013 I S. 1805.
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BTDrucks. 16 12098 S. 1, 29; Nachtr. § 395 1. BTDrucks. 16 12098 S. 34.
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Vierter Abschnitt. Sonstige Befugnisse des Verletzten
Nachtr. § 406d StPO
die Informationsrechte durch den neueingefügten Absatz 2 Nr. 3 nochmals erweitert. Die Auskunftsansprüche nach der Norm stehen neben den im Nachgang zur Föderalismusreform durch verschiedene Landesgesetzgeber eingerichteten Auskunftsansprüchen nach den Landesstrafvollzugsgesetzen.6 An einer näheren Bestimmung durch die RiStBV fehlt es bislang.7 2. Mitteilungspflicht Absatz 2 a) Allgemeines. Absatz 2 regelt die antragsgebundene Pflicht zur Mitteilung bestimm- 2 ter Verfahrensereignisse bzw. Maßnahmen, die für den Verletzten von Interesse8 sein könnten.9 Der Antrag ist an keine Form gebunden und kann daher – auch bereits in der Hauptverhandlung – durch den Verletzten mündlich gestellt werden.10 Ist der Antragsteller nicht nebenklagebefugt, hat er sein berechtigtes Interesse an der Auskunftserteilung darzulegen. Der Verletzte kann den Antrag auf Mitteilung vor Anordnung bzw. Beginn der genannten Maßnahmen rein vorsorglich stellen, da er in der Regel nicht vorher erfahren wird, dass sie geplant sind. Eine vorherige Anhörung des Gefangenen ist nach den allgemeinen Maßgaben zu ge- 3 währen (§ 33); jede durch § 406d legitimierte Auskunft über dessen Vollzugsgestaltung stellt einen Eingriff in sein allgemeines Persönlichkeitsrecht11 dar.12 Gerade zu den Antragsvoraussetzungen ist er zu hören und es ist ihm die Gelegenheit zu geben, das vorgebrachte berechtigte Interesse zu entkräften. Zuständig für die Auskunftserteilung im Falle des Straf- oder Maßregelvollzugs ist die 4 Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde; innerbehördlich ist die Entscheidung dem Rechtspfleger übertragen (§ 31 Abs. 2 RechtspflG).13 Ob dieses Ergebnis – was nahe liegt – aus systematischen Zusammenhängen (§ 478)14 oder aber aus Verwaltungsvorschriften (Nr. 140 Abs. 2 RiStBV)15 hergeleitet wird, mag dahin stehen. Zur Entscheidung nach § 406d sind jedenfalls die Justizvollzugsanstalten, in denen sich der Gefangene zur Zeit der Antragstellung aufhält, nicht berufen.16 Sie sind keine Organe der Strafrechtspflege im Sinne der StPO und unterliegen daher deren Regelungsregime selbst nicht.17 Wird Untersuchungshaft vollstreckt, ist zuständig für die Auskunftserteilung die aktenführende Stelle, im Vorverfahren die Anklagebehörde und im Zwischen- sowie Haupt- und Rechtsmittelverfahren das jeweils zuständige Gericht. b) Nr. 1 erfasst Weisungen eines Kontaktverbotes jeder Art zwischen dem Verurteilten 5 und dem Verletzten.18 Die Regelung dient nämlich dem Schutz des Verletzten, soll zu seinem Sicherheitsgefühl beitragen und ihm die Möglichkeit geben, Verstöße gegen solche Weisungen anzuzeigen. Sie dürfte nach ihrem Zweck auf Fälle eines Kontaktverbotes 6 7 8 9 10
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Gelber/Walter NStZ 2013 75, 78; SK/Velten 5. Gelber/Walter NStZ 2013 75, 79. Vermeidung von Gefährdungslagen; Sicherheitsbedürfnis des Verletzten. Vgl. Ferber NJW 2004 2563. Gelber/Walter NStZ 2013 75, 78, die zugleich instruktiv die vielfachen Friktionen mit den Auskunftsmöglichkeiten der Justizvollzugsanstalten nach den Landesjustizvollzugsgesetzen aufzeigen. Hierzu BVerfG NJW 2007, 1052.
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HW Rn. 6; ebenso Radtke/Hohmann 7; AnwK/Krekeler 3. Gelber/Walter NStZ 2013 75, 79, die zutreffend für das Jugendstrafverfahren auf § 82 Abs. 1 JGG hinweisen. Radtke/Hohmann 7. Meyer-Goßner 3. A.A. HK/Kurth/Pollähne 11. Gelber/Walter NStZ 2013 75, 79. KMR/Stöckel 6 (z.B. bei Strafaussetzung und Führungsaufsicht).
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Fünftes Buch. Beteiligung des Verletzten am Verfahren
zwischen dem Beschuldigten und dem Verletzten (vgl. HW § 116, 19 ff.) entsprechend anwendbar sein. Eine Interessenabwägung findet gemäß Nr. 1 nicht statt. c) Nr. 2 erfasst im Hinblick auf ihren Zweck (HW Rn. 4)19 alle freiheitsentziehenden Maßnahmen, also auch Untersuchungshaft und einstweilige Unterbringung, Unterbringung nach § 81, Ordnungshaft (§ 177 GVG), Straf- und Maßregelvollzug sowie erstmalige Vollzugslockerungen und „Urlaub“ jeder Art, auch kurzzeitige Unterbrechungen der Untersuchungshaft und Ausführungen sowie Aufenthalte in Vollzugskrankenhäusern, da auch sie eine faktische Lockerung des regulären Vollzugs bedeuten.20 Nicht unter Nr. 2 fallen Maßnahmen, die nicht nach StGB, StPO, GVG und StVollzG angeordnet werden, wie etwa eine Unterbringung nach Landesgesetzen. Dem Antrag wird in den Fällen der Nr. 2 nur stattgegeben, wenn eine Abwägung der 7 wechselseitigen Interessen ergibt, dass das eventuelle und schutzwürdige Interesse des Betroffenen21 am Ausschluss der Mitteilung nicht ein berechtigtes Interesse des Verletzten an der Information22 überwiegt und die Mitteilung zur Wahrung der berechtigten und überwiegenden Interessen des Verletzten erforderlich ist.23 Das berechtigte Interesse des Verletzten kann sich aus der Gefahr von Übergriffen des Beschuldigten oder Verurteilten gegenüber dem Verletzten ergeben, das schutzwürdige Interesse des Betroffenen aus der Gefahr von Racheakten des Verletzten.24 Grundlage der Abwägung, an die im Hinblick auf die Bedeutung der (eventuellen) wechselseitigen Interessen hohe Anforderungen zu stellen sind, müssen konkrete Umstände (Tatsachen, Hinweise, Indizien) sein; aus ihnen muss eine konkrete Interessenlage (Gefährdung), nicht nur eine Vermutung derselben, abzuleiten sein.25 In den Absatz 2 Nr. 2 Halbsatz 2 genannten Fällen einer Nebenklagebefugnis muss 8 der Verletzte sein berechtigtes Interesse nicht darlegen; es wird unterstellt. Diese gesetzliche Vermutung soll nach dem Willen des Gesetzgebers ab dem Zeitpunkt der Zulassungsentscheidung nach § 396 Abs. 2 Satz 2 auch für den nach § 395 Abs. 3 zur Nebenklage berechtigten Verletzten gelten. Diese sind demzufolge nach Absatz 2 Nr. 2 Halbsatz 2 des Vortragserfordernisses betreffend ein berechtigtes Interesse an der Auskunft enthoben. Notwendig ist auch nach der Neufassung der Vorschrift eine einzelfallbezogene Abwägung mit möglicherweise bestehenden schutzwürdigen und überwiegenden Interessen des Betroffenen.26 Die Gegenauffassung27 stützt sich ersichtlich auf die insoweit nicht eindeutig gefasste Gesetzesbegründung. Hiernach geht in den durch Bezug auf § 395 StPO genannten Fällen „das berechtigte Interesse des Verletzten am Erhalt der Informationen stets dem Interesse des Beschuldigten oder Verurteilten vor“.28 Diese Formulierung erzwingt ein entsprechendes Normverständnis indes nicht. Dies gilt gleichermaßen für den Gesetzeswortlaut; dieser regelt ausdrücklich nur den Wegfall des Darlegungserfordernisses. Eine kontextgebundene Lektüre der Gesetzesbegründung erhellt, dass der Reformgesetzgeber als Folge der bei Gewaltdelikten (§ 395 Abs. 1) oder aber wegen anerkannter besonderer Gründe (§ 395 Abs. 3) naheliegenden prozessualen Schutzbedürftigkeit des Verletzten die Durchsetzung von Informationsmöglichkeiten
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S. auch Art. 4 Abs. 3 Rahmenbeschluss der EU v. 15.3.2001 (ABl. EG Nr. L 82 v. 22.3. 2001). Vgl. § 112, 69; § 119, 103 ff. Resozialisierung, „Datenschutz“. Abgeleitet aus berechtigter Befürchtung von Gefährdungen – Sicherheitsbedürfnis.
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Ähnlich AnwK/Krekeler 4. Meyer-Goßner 5; h.M. Ähnlich AnwK/Krekeler 4. HW Rn. 6. BeckOK/Weiner 3; Meyer-Goßner 5. BTDrucks. 16 12098 S. 34.
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Vierter Abschnitt. Sonstige Befugnisse des Verletzten
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lediglich in formeller Hinsicht erleichtern, nicht aber die materiellen Anforderungen an den Auskunftsanspruch reduzieren wollte.29 Diese Interessenabwägung ist zwar nicht einfach gelagert, wenn das berechtigte Interesse des Verletzten nicht näher bekannt ist, sondern nur gesetzlich unterstellt wird. Diese Schwierigkeit scheint jedoch überwindbar, weil das Interesse des Verurteilten oder Beschuldigten schutzwürdig zu sein und zu überwiegen hat. d) Nr. 3. Hiernach erhält der Verletzte über die von Nr. 2 allein erfasste erstmalige 9 Vollzugslockerung hinaus auch Auskunft über im Straf- und Maßregelvollzug erneute Vollzugslockerungen oder gewährten Hafturlaub, sofern dafür ein berechtigtes Interesse dargelegt wird oder ersichtlich ist und kein überwiegendes schutzwürdiges Interesse des Verurteilten vorliegt. Zwar muss der Verletzte grundsätzlich damit rechnen, dass auf die erstmalig gewährte Vollzugslockerung weitere entsprechende Maßnahmen folgen, sodass „in den meisten Fällen“ die Mitteilung nach Nr. 2 ausreichend ist.30 Ein berechtigtes Interesse an einer Auskunft auch über den weiteren Vollzugsablauf kann ausnahmsweise aber dann bestehen, wenn der Verurteilte aus der Haft heraus versucht hat, Kontakt zum Verletzten aufzunehmen.31
§ 406e (1) … (2) 1… 2Sie kann versagt werden, soweit der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Strafverfahren, gefährdet erscheint. 3Sie kann auch versagt werden, wenn durch sie das Verfahren erheblich verzögert würde, es sei denn, dass die Staatsanwaltschaft in den in § 395 genannten Fällen den Abschluss der Ermittlungen in den Akten vermerkt hat. (3) … (4) 1… 2Gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nach Satz 1 kann gerichtliche Entscheidung durch das nach § 162 zuständige Gericht beantragt werden. 3Die §§ 297 bis 300, 302, 306 bis 309, 311a und 473a gelten entsprechend. 4Die Entscheidung des Gerichts ist unanfechtbar, solange die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind. 5Diese Entscheidungen werden nicht mit Gründen versehen, soweit durch deren Offenlegung der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte. (5) … (6) …
Schrifttum Lauterwein Akteneinsicht und -auskünfte für den Verletzten, Privatpersonen und sonstige Stellen §§ 406e und 475 StPO (2011); Meister Die Versagung der Akteneinsicht des Verletzten, § 406e Abs. 2 StPO (2011).
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SK/Velten 6; von einer unveränderten materiellen Rechtslage gehen auch aus Gelber/Walter NStZ 2013 75, 76.
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BTDrucks. 17 6261 S. 13. BTDrucks. 17 6261 S. 13.
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Änderungen. Die Vorschrift ist zur besseren Verständlichkeit und zur Beseitigung von Auslegungsschwierigkeiten, die wegen der Aufsplittung des Akteneinsichtsrechts für Verletzte und Nebenklagebefugte nach § 406e a.F. einerseits und des Akteneinsichtsrechts für den Nebenkläger über die Verweisung § 397 Abs. 1 Satz 2 a.F. auf § 385 Abs. 3 andererseits entstanden waren,1 durch Art. 1 Nr. 29 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzen und Zeugen im Strafverfahren vom 29.7.2009 (2. Opferrechtsreformgesetz – 2. OpferRRG)2 geändert worden. Absatz 1 ist hierdurch unverändert geblieben und erfasst durch das Tatbestandsmerkmal des Verletzten Nebenkläger, Nebenklagebefugte und Verletzte.3 Auch die Absätze 3, 5 und 6 wurden nicht geändert. Soweit diese nunmehr ebenfalls auf den Nebenkläger anwendbar sind, entsprechen die Regelungen ohne „wesentliche Änderungen“ inhaltlich der diesem zuvor über die Verweisung § 397 Abs. 1 Satz 2 a.F. auf § 385 Abs. 3 – wobei jener in seinem Satz 2 wiederum die Regelungen des § 147 Abs. 4 und 5 in Bezug nimmt – vermittelten Rechtspositionen.4 Absatz 2 Satz 1 ist unverändert geblieben. In Satz 2 sind die Wörter „oder durch sie das Verfahren erheblich verzögert würde“ gestrichen und der neue Satz 3 angefügt worden. Durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.20095 ist Satz 2 überdies um den Nebensatz „auch in einem anderen Strafverfahren“ ergänzt worden. In Absatz 4 Satz 2 wurden die Wörter „nach Maßgabe des § 161a Abs. 3 Satz 2 bis 4“ gestrichen und durch die Wörter „durch das nach § 162 zuständige Gericht“ ersetzt sowie Satz 3 durch folgende Sätze ersetzt: „Die §§ 297 bis 300, 302, 306 bis 309, 311a und 473a gelten entsprechend. Die Entscheidung des Gerichts ist unanfechtbar, solange die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind.“ Im Übrigen ist auch dieser Absatz unverändert geblieben.
I. Bedeutung 1
Die sprachliche Neufassung der Vorschrift und ihre geringfügige inhaltliche Änderung stehen im regelungssystematischen Zusammenhang mit den sonstigen Änderungen der StPO durch das 2. OpferRRG und einer hierdurch erstrebten Neuordnung des Rechts der Nebenklage.6 Zu nennen sind hier etwa die erleichterte Möglichkeit für besonders schutzwürdige Nebenkläger, einen „Opferanwalt“ zu bestellen (§§ 397, 397a), sowie die erweiterten Informationsrechte der möglichen Verletzten einer rechtwidrigen Tat (§§ 406d, 406e, 406h). Durch die Neufassung des § 406e und die entbehrliche Verweisung auf das Privatklagerecht wird das Akteneinsichtsrecht von Nebenkläger, Nebenklagebefugten und Verletzten erstmals einheitlich in dieser Vorschrift geregelt. Zur Akteneinsicht berechtigt sind hiernach auch die Angehörigen i.S.d. § 395 Abs. 2 Nr. 1.7 Klargestellt ist nunmehr, was bislang nicht ausdrücklich geregelt war, dass auch für den Nebenkläger das Akteneinsichtsrecht, insbesondere wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks, versagt werden kann. Die Regelung erweist sich als lex specialis zum Auskunftsanspruch nach den Informationsgesetzen (vgl. etwa § 1 Abs. 3 IFG), soweit Auskünfte gegen Strafverfolgungsbehörden darin nicht ohnehin ausgeschlossen sind.8 1 2 3 4 5
HW Rn. 2, 3. BGBl. I S. 2280. BTDrucks. 16 12098, S. 35. BTDrucks. 16 12098, S. 35. BGBl. I S. 2274.
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BTDrucks. 16 12098 S. 29. BTDrucks. 16 13761 S. 23. Vgl. nur § 5 Nr. 1 Hamburgisches TransparenzG.
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II. Begrenzungen der Akteneinsicht (Absatz 2) Die Vorschrift begrenzt das Akteneinsichtsrecht des Verletzten einer rechtswidrigen 2 Tat unabhängig davon, ob dieser prozessual die Stellung eines Nebenklägers, Nebenklagebefugten oder Verletzten inne hat.9 Nach der Neufassung enthalten die drei Sätze des Absatzes 2 nunmehr jeweils eigene Versagungsgründe; inhaltlich gelten hierfür die rechtlichen Maßgaben der Versagungsgründe nach früherer Gesetzesfassung fort (vgl. hierzu HW Rn. 8 ff.). Namentlich nach Satz 1 ist die Akteneinsicht zwingend zu versagen, wenn schutzwürdige Belange des Beschuldigten oder anderer Personen entgegenstehen.10 Dieses Abwägungsverbot gilt auch für den Nebenklageberechtigten.11 Rechtspolitische Bestrebungen, dem Nebenkläger – gleichlaufend mit den Rechten des Angeschuldigten – nach Abschluss der Ermittlungen (§ 169a) ein unbeschränkbares Akteneinsichtsrecht zu gewährleisten,12 konnten sich im Gesetzgebungsverfahren nicht durchsetzen.13 Der Versagungsgrund aus Satz 2 wurde – korrespondierend mit § 147 Abs. 2 Satz 1 – um den Einschub erweitert, nach dem Akteneinsicht für den Fall versagt werden kann, dass sich die Gefährdung des Untersuchungszwecks auch aus einem anderen Strafverfahren ergeben kann. Hiermit soll etwa Konstellationen Rechnung getragen werden, in denen der Verletzte durch die Akteneinsicht Rückschlüsse auf Ermittlungsansätze oder Beweiswürdigungsfragen in anderen Strafverfahren ziehen kann, in denen sich die Ermittlungen namentlich noch in einem früheren Stadium befinden.14 Eine zeitliche Beschränkung des Anwendungsbereichs des Absatzes 2 Satz 2, entsprechend Absatz 2 Satz 3, sieht das Gesetz nicht vor.15
III. Entscheidung; Anfechtbarkeit (Absatz 4) Der über seine Rechte aus § 406e nach den Maßgaben des § 406h unterrichtete Ver- 3 letzte hat Akteneinsicht zu beantragen; sie wird weder von Amts wegen gewährt noch angeboten.16 Das notwendige Gesuch ist an keine Form gebunden. 1. Dem Beschuldigten ist rechtliches Gehör zu gewähren,17 wenn durch die Entschei- 4 dung in dessen grundrechtlich geschützte Positionen (Art. 2, 12, 14 GG) eingegriffen werden könnte. Ein solcher Eingriff jedenfalls in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung liegt mit einer erteilten Einsicht in Strafakten und die dadurch zugänglich gemachten personenbezogenen Daten für den Beschuldigten stets vor.18 Die Anhörungspflicht folgt ferner aus dem Gebot der Sachaufklärungspflicht betreffend möglicherweise
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S. auch OLG Naumburg NStZ 2011 118; zur fehlenden Verletzteneigenschaft mutmaßlich durch Marktmanipulationen Geschädigter vgl. OLG Stuttgart BeckRs 2013 13426. Hierzu zählen auch Soldaten der Bundeswehr im Auslandseinsatz, vgl. BGH StV 2012 327, der im Übrigen offen gelassen hat, ob (andere) Belange der Bundesrepublik Deutschland hiervon erfasst werden können. BGH StV 2012 327. BTDrucks. 16 12098 S. 35. BTDrucks. 16 13671 S. 22 und 16 12812 S.15. BTDrucks. 16 11644 S. 34.
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S. auch OLG Naumburg NStZ 2011 118. Lauterwein 158. Vgl. BVerfG NStZ-RR 2005 242; LG Stralsund StraFo 2006 76; Lauterwein 102, 158; Meyer-Goßner 9; KMR/Stöckel 22; HK/Kurth/Pollähne 14; Schlothauer StV 1987 356; s. auch Otto GA 1989 306; Neuhaus StraFo 1996 27; a.A. AK/Schöch 22; zu Anhörungspflichten in Verfahren wegen strafbarer Verletzung gewerblicher Schutzrechte vgl. Geißler/Jüngel/Linden MMR 2010 70, 71. Lauterwein 102.
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bestehender Versagungsgründe und der nach Absatz 2 erforderlichen Interessenabwägung.19 Nichts anderes gilt grundsätzlich, wenn bei der Gewährung von Akteneinsicht (Aus5 kunft) die Gefahr der Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Positionen beteiligter Dritter, etwa die Bekanntgabe personenbezogener Informationen über Zeugen, besteht und nicht durch Begrenzungen (z.B. partielle Auskünfte) vermieden werden kann, hinsichtlich deren vorheriger Anhörung.20 Dies gilt dem Grunde nach auch für Dritte, bei denen durch die Akteneinsicht eine Gefahr für Leib oder Leben zu besorgen ist.21 Erhebliche ressourcenbindende und dem Zügigkeitsgebot zuwiderlaufende Auswirkungen der so verstandenen verfassungsrechtlich abgesichertern Gehörsrechte auf die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs sind nicht zu besorgen.22 Bei einer unübersehbaren Vielzahl an beteiligten Dritten und einer hierdurch begründeten Unmöglichkeit einer partiellen Auskunftsgewährung kann im Einzelfall von einer Anhörung der beteiligten Dritten nach den Maßgaben des § 33 Abs. 4 durch die Strafverfolgungsbehörden abgesehen werden. Darin findet einfach-gesetzlich der Grundsatz praktischer Konkordanz zwischen den Gehörsrechten beteiligter Dritter – freilich nicht Verfahrensbeteiligter23 – und der ebenfalls verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Erhalt einer funktionsfähigen Strafrechtspflege24 Ausdruck. Zuständig für die Entscheidung ist von der Erhebung der öffentlichen Klage an bis 6 zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens der Vorsitzende des jeweils mit der Sache befassten Gerichts, ansonsten die Staatsanwaltschaft (Satz 1);25 die Unzuständigkeit der Polizei selbst im Ermittlungsverfahren ist eine Konsequenz der Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft (s. auch HW Rn. 21). Entsprechend liegt die Kompetenz wieder beim Vorsitzenden, wenn ein Wiederaufnahmeverfahren betrieben wird (§§ 359 ff.), und bei der Gnadenstelle im Falle eines Gnadenverfahrens.26 Zur Begründung der Entscheidung s. HW Rn. 17a; die Bekanntmachung erfolgt nach § 35 (bei nichtrichterlichen Entscheidungen in entsprechender Anwendung).
7
2. Gegen die stattgebende oder ablehnende Entscheidung der Staatsanwaltschaft kann nach Absatz 4 Satz 2 bis 5 eine gerichtliche Entscheidung des nach § 162 zuständigen Gerichts herbeigeführt werden.27 Der Beschuldigte, der bei seiner Anhörung (Rn. 4) einer Gewährung von Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft widersprochen hat, sollte rechtzeitig vor der Einsichtsgewährung informiert werden,28 damit er ggf. vorher eine gerichtliche Entscheidung beantragen kann. Statthaft ist als Konsequenz der Eingriffstiefe und der Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) auch ein nachträg-
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21 22 23
HW Rn. 16; Lauterwein 102; LG Krefeld NStZ 2009 112. HW Rn. 16; Lauterwein 102; Wallau FS Dahs 512; Otto GA 1989 305; Schlothauer StV 1987 358; s. auch LG Krefeld NStZ 2009 112; a.A. Meyer-Goßner 9; AK/Schöch 22; Schäfer wistra 1988 219; s. auch OLG Karlsruhe JR 1995 79 mit Anm. Otto; VerfGH Brandenburg v. 15.4.2010 – 37/09. Vgl. zu den am ISAF-Einsatz beteiligten Soldaten der Bundeswehr BGH StV 2012 327. Vgl. aber auch HW Rn. 16. Vgl. HW § 33, 18.
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S. Landau NStZ 2007 121 ff. OLG Stuttgart MDR 1993 265 (nicht die Polizei). Zur Amtspflicht (konkreten Schutzpflicht) der StA gegenüber dem Verletzten vgl. BGH NJW 1996 2373; Vogel NJW 1996 3401; Vogel wistra 1996 219; s. auch BGH JR 2006 297; HW Vorbem. 5. Buch Rn. 1, 23. Rieß/Hilger NStZ 1987 155. Vgl. zum Bußgeldverfahren § 49b Nr. 5 OWiG. Schlothauer StV 1987 359; Wallau FS Dahs 514.
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licher Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit einer erfolgten Akteneinsicht.29 Zuständig für die gerichliche Entscheidung gegen die Anordnung der Anklagebehörde ist nach § 162 Abs. 1 der Ermittlungsrichter des Amtsgerichts bzw. in Staatsschutzsachen nach § 169 Abs. 1 der Ermittlungsrichter des OLG bzw. des BGH30 oder nach § 162 Abs. 3 Satz 1 das mit der Sache befasste Gericht.31 Die Vorschriften des Beschwerdeverfahrens nach §§ 297 bis 300, 302, 306 bis 309, 311a sowie der § 473a gelten entsprechend. Das Gericht ist bei seiner Entscheidung nach Absatz 4 schon aus grundsätzlichen Erwägungen, aber auch im Hinblick auf die Notwendigkeit der Feststellung eines berechtigten Interesses (Absatz 1) sowie einer Abwägung der Interessenlage (Absatz 2) nicht an Bewertungen (etwa der Verdachtsfrage) durch die Staatsanwaltschaft gebunden.32 Die gerichtliche Entscheidung ist unanfechtbar, solange die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind (Absatz 4 Satz 4); mit Abschluss der Ermittlungen (§ 169a) kann sie mit der einfachen Beschwerde angegriffen werden (§ 304).33 Die Beschwerdebefugnis besteht, wenn hinreichender Tatverdacht angenommen worden ist und das Verfahren weiter betrieben wird. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll sie darüber hinaus auch nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens oder nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss statthaft sein.34 Dies wird begründet mit der erheblichen Bedeutung, die dem Akteneinsichtsrecht des Verletzten etwa mit Blick auf von ihm verfolgte Schadensersatzoder Schmerzensgeldansprüche zukomme.35 3. Gegen eine nach Anklageerhebung ergangene Entscheidung des Vorsitzenden des 8 erkennenden Gerichts ist die einfache Beschwerde statthaft (§§ 304 ff.).36 § 305 findet mangels Verweisung keine Anwendung. Auch Absatz 4 Satz 4 ist strukturell auf diese Konstellation nicht anwendbar, weil der Vorsitzende erst zur Entscheidung berufen ist, wenn die öffentliche Klage anhängig gemacht worden ist.37 Um dem Ausgang des Beschwerdeverfahrens nicht vorzugreifen, ist es regelmäßig angezeigt, mit der Umsetzung eines zuerkannten Akteneinsichtsrechts bis zum Abschluss des Beschwerdeverfahrens zuzuwarten;38 anderenfalls dürfte es für den Beschwerdeführer naheliegen, ausnahmsweise die aufschiebende Wirkung seiner Beschwerde mittels eines Antrags nach § 406e Abs. 2 Satz 3 i.V.m. § 307 Abs. 2 herbeizuführen. Wird der Antrag auf Akteneinsicht in der Hauptverhandlung gestellt, ist hierüber naheliegend außerhalb der Hauptverhandlung zu befinden. Selbst bei einer Entscheidung in der Hauptverhandlung unterliegt diese nicht dem Beanstandungsrecht des § 238 Abs. 2, weil es sich insoweit um keine verfahrensleitende Anordnung i.S.d. § 238 Abs. 1 handelt.
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HW Rn. 16; Lauterwein 159; Wallau FS Dahs 516; Barton StRR 2009 405, 407; LG Stralsund StraFo 2006 76. Vgl. BGH BeckRs 2009 86260 Tz. 3 sowie BGH StV 2012 327. BTDrucks. 16 12098 S. 36. HW 17; KMR/Stöckel 25; Lauterwein 160; Otto GA 1989 307; Wallau FS Dahs 515; a.A. OLG Koblenz StV 1988 333 mit abl. Anm. Schlothauer; HK/Kurth/Pollähne 16; s. auch LG Stralsund StraFo 2006 76; vgl. aber zur Annahme einer bindenden Zuerkennung der Verletztenstellung durch die Staatsanwaltschaft BGH StV 2012 327.
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Nachermittlungen des Gerichts im Zwischenverfahren stehen der Anfechtbarkeit nicht entgegen, vgl. OLG Naumburg NStZ 2011 118. BTDrucks. 16 12098 S. 36; BeckOK/ Weiner 6; Lauterwein 51, 136 f. BTDrucks. 16 12098 S. 36. S. auch OLG Naumburg NStZ 2011 118. Lauterwein 161. HW § 478, 14; Lauterwein S. 158; im Ergebnis ebenso Meyberg FS Gauweiler 467, 470 f.
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IV. Fehlerfolgen 9
Rechtsfehlerhafte Entscheidungen im Zusammenhang mit Fragen der Akteneinsicht des Verletzten können in mehrfacher Hinsicht für das Strafverfahren selbst aber auch darüber hinaus rechtliche Konsequenzen auslösen.
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1. Wird Akteneinsicht fehlerhaft und schuldhaft verweigert oder gewährt und ist dadurch ein Schaden entstanden, so kann ein Schadensersatzanspruch gemäß § 839 BGB in Betracht kommen.39
2. Revision. Eine rechtsfehlerhafte Behandlung des Akteneinsichtsrechts kann – anders als nach früherer Rechtslage40 – grundsätzlich mit der Revision beanstandet werden. Allerdings sind die Erfolgsaussichten eines mit dieser Angriffsrichtung geführten Rechtsmittels beschränkt. Dies gilt zunächst für die Verfahrensrüge. Ein – ohnehin schwer vorstellbares – Beweisverwertungsverbot als Folge fehlerhaft gewährter Akteneinsicht für den Verletzten wird für das Strafverfahren41 von der h.M. mit Recht verneint.42 Im Ausnahmefall mag eine Beanstandung der Grundsätze des fairen Verfahrens (Art. 6 12 Abs. 1 MRK) im Wege einer Verfahrensrüge erwogen werden.43 Dies gilt zum einen, soweit in der gewährten Akteneinsicht – auch nach gebotener Gesamtwürdigung des Verfahrensablaufs – eine Ursache für eine konventionswidrige Verfahrensverzögerung gesehen wird.44 Zum anderen mag diese als Angriffsrichtung einen Verstoß gegen die Waffengleichheit haben. Im letztgenannten Fall ist zum Zwecke vollständigen Vortrags der rügebegründenden Tatsachen namentlich mitzuteilen (§ 344 Abs. 2 Satz 2), ob und in welcher Weise der Revident um Rechtsschutz im Erkenntnisverfahren, etwa durch das Beschwerderecht, ersucht hat,45 welche konkrete Art der Beeinträchtigung gerügt wird und bei welchem konkreten Verfahrensstand die Akteneinsicht gewährt worden46 und in welcher Weise hierdurch die Wahrnehmung der Verfahrensinteressen des Revisionsführers beeinträchtigt worden ist.47 Ungeachtet dieser Schwierigkeiten erscheint die Rüge auch in der Sache nicht aussichtsreich, weil kaum ein Fairnessverstoß zum Nachteil des Angeklagten im Zusammenhang mit gewährter Akteneinsicht für den Verletzten denkbar sein dürfte, auf dem das Urteil beruht (§ 337). Aber auch der Sachrüge wird hier der Erfolg regelmäßig versagt sein. Denn in aller 13 Regel ist es für den Tatrichter nicht geboten, eine dem Verletzten gewährte Akteneinsicht in den schriftlichen Urteilsgründen zu erörtern. Anderes gilt nur ausnahmsweise in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen, in denen die Angaben des einzigen Belastungszeugen dem Bestreiten oder einer Einlassung des Angeklagten entgegenstehen und nicht durch Hilfstatsachen gestützt werden. In diesen Fällen kommt der Glaubhaftigkeitsprüfung der Zeugenaussage gerade unter Berücksichtigung aussagepsychologischer Erkenntnisse besonderes Gewicht zu. Dies gilt namentlich für die gebotene Konstanzanalyse48, welche ohne Berücksichtigung einer vor der Zeugenaussage gewährten Aktenkenntnis
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Wallau FS Dahs 509, 521. S. zur früheren Rechtslage BGH NJW 2005 1519, 1520 sowie HW Rn. 17. Zu möglichen Auswirkungen auf andere Verfahren vgl. Wallau FS Dahs 509, 521 m.w.N. BGH NJW 2005 1519, 1520; s. dazu auch Wallau FS Dahs 519; KMR/Stöckel 18; a.A. wohl SK/Velten 13.
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BGH NStZ 2005 222. Vgl. BGH JR 2006 297, 298 f. mit Anm. Cirener/Sander; Lauterwein 168. BGH NStZ 2005 222 mit krit. Anm. Ventzke NStZ 2005 396 f. Vgl BGH NJW 2005 1519, 1520. BGH NStZ 2005 222. BGH NJW 1999 2746, 2748.
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nur unzureichend gewürdigt werden kann. Die Besonderheiten dieser Beweissituation können es im Einzelfall daher geboten erscheinen lassen, in der Frage, ob dem verletzten Zeugen im Verfahren Akteneinsicht gewährt worden ist, einen für die Beweiswürdigung bestimmenden Umstand zu erblicken, den der Tatrichter in den schriftlichen Urteilsgründen ausdrücklich zu bedenken hat.49 Eine erfolgte Akteneinsicht steht dabei freilich der Überzeugung von einer glaubhaften Aussage nicht entgegen, sondern ist lediglich als ein Aspekt ausdrücklich zu würdigen.50 3. Verfassungsbeschwerde. Die Verfassungsbeschwerde ist nach Ausschöpfung des für 14 die Entscheidung über die Akteneinsicht des Verletzten vorgesehenen Rechtszugs zulässig.51 Die Zulässigkeit eines verfassungsgerichtlichen Eilverfahrens (vgl. § 32 BVerfGG) gegen eine nach Absatz 4 Satz 4 – zumindest vorläufig – unanfechtbare Entscheidung des Ermittlungsrichters während eines noch laufenden Ermittlungsverfahrens52 erscheint im Blick auf das notwendige Gewicht drohender Nachteile bei weiterem Zuwarten bis zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens zweifelhaft.
§ 406f (1) 1Verletzte können sich des Beistands eines Rechtsanwalts bedienen oder sich durch einen solchen vertreten lassen. 2Einem zur Vernehmung des Verletzten erschienenen anwaltlichen Beistand ist die Anwesenheit gestattet. (2) 1Bei einer Vernehmung von Verletzten ist auf deren Antrag einer zur Vernehmung erschienenen Person ihres Vertrauens die Anwesenheit zu gestatten, es sei denn, dass dies den Untersuchungszweck gefährden könnte. 2Die Entscheidung trifft die die Vernehmung leitende Person; die Entscheidung ist nicht anfechtbar. 3Die Gründe einer Ablehnung sind aktenkundig zu machen. Änderungen. Die Vorschrift wurde durch Art. 1 Nr. 30 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz – 2. OpferRRG)1 neu gefasst. Absatz 1 Satz 1 entspricht inhaltlich der früheren Fassung des § 406f Abs. 1; es ist lediglich das Wort „Strafverfahren“ gestrichen und die Vorschrift geschlechtergerecht neutralisiert worden.2 Satz 2 entspricht der bisherigen Regelung des § 406f Abs. 2 Satz 1 a.F., erweitert dessen Anwendungsbereich aber über gerichtliche und staatsanwaltschaftliche Vernehmungen hinaus auf polizeiliche Vernehmungen des Verletzten. Absatz 2 entspricht der bisherigen Regelung des § 406f Abs. 3 mit lediglich redaktionellen Änderungen, die eine geschlechterneutrale Fassung und den begrifflichen Gleichklang mit vergleichbaren Bestimmungen verfolgen.3 49 50
Pfordte FS Müller 551, 563 ff.; Barton StRR 2009 405, 407. A.A. wohl Meister 68, die das tatgerichtliche Gebot einer umfassenden Würdigung des Zeugen verkennt, soweit sie in diesen Fällen – vergleichbar mit der Konstellation eines Zeugen vom Hören-Sagen – stets das Vorliegen von Hilfstatsachen außerhalb der Zeugenaussage für eine tragfähige gerichtliche Überzeugungsbildung fordert.
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Lauterwein 161 f.; s. auch VerfGH Brandenburg v. 15.4.2010 – 37/09. Lauterwein 162. BGBl. 2009 I S. 2280. BTDrucks. 16 12098 S. 36. BTDrucks. 16 12098 S. 37.
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1. Bedeutung. Die zur vereinfachten Lesbarkeit und Anwendbarkeit durch das 2. OpferRRG neu gefasste Vorschrift4 steht im regelungssystematischen Zusammenhang mit weiteren durch dieses Reformgesetz vorgenommenen Änderungen der StPO und einer hierdurch erstrebten Stärkung der Rechte von Opfern und Zeugen im Strafverfahren.5 Sie regelt auch weiterhin grundlegende Befugnisse des Verletzten, die auch dem Nebenklageberechtigten zustehen und für diesen durch § 406g ergänzt werden, es sind das Recht auf den Beistand eines Rechtsanwalts oder die Vertretung durch diesen nebst dessen Befugnissen sowie die Möglichkeit der Hinzuziehung einer Vertrauensperson bei Vernehmung des Verletzten.6 Allgemein erstrebt der Reformgesetzgeber durch die Neufassung einen systematischen 2 Gleichklang mit den Vorschriften über die Inanspruchnahme eines anwaltlichen Beistands durch Zeugen (§ 68b), Nebenklagebefugten (§ 406g Abs. 1) und Nebenklägern (§ 397).7 Im Einzelnen ist der neu gefasste § 406f im Kontext mit ausgedehnten Informationsrechten und den Verletzten betreffende Informationspflichten (§§ 406e, 406h) sowie der für besonders schutzwürdige Nebenkläger erleichterten Möglichkeit, einen Opferanwalt zu bestellen (§ 397a), zu lesen. Gerade die Rechtsposition des anwaltlichen Verletztenbeistands wird durch die in Abs. 1 Satz 2 nunmehr auch auf polizeiliche Vernehmungen des Verletzten erweiterte Anwesenheitsbefugnis gestärkt. Der Gesetzgeber erfüllt die Maßgaben der dafür in Bezug genommenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Zeugenbeistand allerdings auch betreffend § 406f in überschießender Weise.8 Dieses hatte gerade nicht für jeden Zeugen in jeder Lage des Verfahrens ein solches Recht konstituiert, sondern dieses an besondere Verfahrenslagen geknüpft, etwa an ein im Raum stehendes Auskunftsverweigerungsrecht (§ 55 StPO) oder besonderen individuellen Disposition der Aussageperson.9 Für derartige individuelle Entscheidungen ist – anders als dem Grunde nach bei § 406h – nach der Neufassung kein Raum mehr. Der Anwendungsbereich der Vorschrift kann sich mit dem des § 68b überschneiden. Die Ziele der Regelungen sind jedoch auch nach der jeweiligen Neufassung unterschiedlich. § 68b betrifft auch Zeugen, die nicht Verletzte sind, und dient speziell dem Beistand bei der Vernehmung,10 aber auch nur soweit, während die §§ 406f, 406g –, begrenzt auf durch die rechtswidrige Tat möglicherweise Verletzte –, der Wahrnehmung weitergehender berechtigter Interessen dieser Personengruppe dienen sollen.11
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1. Absatz 1. Verletzte können sich nach Satz 1 des Beistands eines Rechtsanwalts bedienen oder sich durch einen solchen vertreten lassen. Dieses Recht besteht zeitlich schon ab Beginn des Ermittlungsverfahrens.12 Zwar könnte aus § 406g Abs. 1 Satz 1 rückgeschlossen werden, die Zulässigkeit im Ermittlungsverfahren sei davon abhängig, dass der Verletzte nebenklageberechtigt sei. Gerade im Lichte der durch das 2. OpferRRG auf polizeiliche Vernehmungen erweiterten Anwesenheitsbefugnis des anwaltlichen Verletztenbeistands (§ 406f Abs. 1 Satz 2) erscheint es nicht mehr naheliegend anzunehmen, dass der Gesetzgeber dem Verletzten verbieten wollte, sich im Ermittlungsverfahren durch einen Rechtsanwalt beraten und von diesem „Schutzschriften“ oder sonstige schriftliche Erklärungen fertigen zu lassen. Neben Rechtsanwälten können als Beistand oder Vertre-
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BTDrucks. 16 12098 S. 10, 36. BTDrucks. 16 12098 S. 1, 29. S. auch Nr. 19a RiStBV. BTDrucks. 16 12098 S. 1, 36. BTDrucks. 16 12098 S. 15.
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BVerfGE 38, 105 = BVerfG NJW 1975 103, 105. Vgl. die Erl. zu § 68b. Vgl. HW Rn. 2 ff. und Vor § 406d, 3, 4. HW Rn. 2; SK/Velten 5; Meyer-Goßner 1.
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ter nach den Maßgaben von § 138 Abs. 3 etwa auch Rechtslehrer an Hochschulen oder – mit gerichtlicher Genehmigung – anderere Personen gewählt werden.13 Die Auslagen, die dem Verletzten hierdurch entstehen, sind von ihm zu tragen, soweit nicht ein Fall des § 406g vorliegt und die Auslagen von der Staatskasse getragen bzw. dem Angeklagten überbürdet werden.14 Die Beiordnung eines Rechtsanwalts ist nur in den Fällen des § 406g Abs. 3 und 4 möglich. In Betracht kommt im Einzelfall auch eine Beiordnung nach den subsidiär anwendbaren Maßgaben des § 68b.15 Der neueingefügte Satz 2 entspricht dem früheren § 406f Abs. 2 Satz 1, dessen Anwendungsbereich nunmehr über richterliche Vernehmungen innerhalb wie außerhalb der Hauptverhandlung (§§ 162, 223) und staatsanwaltschaftliche Vernehmungen (§ 161a) hinaus auf polizeiliche Vernehmungen (§ 163 Abs. 3 Satz 1) erweitert wurde.16 Die erweiterte Anwesenheitsbefugnis des anwaltlichen Verletztenbeistands erweist sich für den Reformgesetzgeber als Konsequenz der neugeregelten allgemeinen Zeugenbefugnisse nach § 68b Abs. 1. Zu dieser wird ein Gleichklang auch deshalb erstrebt, weil den tragenden Erwägungen beim Verletzten der rechtswidrigen Tat wegen dessen „besonderer Schutzbedürftigkeit“ „noch stärkere Geltung“ zukomme.17 Diese Rechtsposition eines jeden Verletzten geht über die gesetzlichen Befugnisse für den Beschuldigten hinaus. Dieser hat keinen Anspruch auf Anwesenheit seines Verteidigers bei der polizeilichen Vernehmung des Verletzten.18 Eine Ladung oder Terminsnachricht an den Rechtsanwalt ist nicht vorgeschrieben; § 168c Abs. 5 Satz 1 gilt nicht entsprechend (Umkehrschluss aus § 406g Abs. 2 Satz 3). Der Rechtsanwalt hat sich selbst zu informieren.19 Das Anwesenheitsrecht ist beschränkt auf die Dauer der Vernehmung des Verletzten, dessen Interessen der Rechtsanwalt vertritt.20 Der Verletzte ist nicht berechtigt, sein Erscheinen21 und die Zeugenaussage mit der Begründung zu verweigern, er wolle zunächst einen Rechtsanwalt nach § 406f beauftragen oder dieser sei verhindert, am Vernehmungstermin teilzunehmen.22 Der anwaltliche Verletztenbeistand kann von sämtlichen rechtlichen Befugnissen Gebrauch machen, die dem Verletzen während einer zeugenschaftlichen Vernehmung gesetzlich zustehen.23 Seine Rechtsstellung wird – anders als bei dem auch eigene Rechte wahrnehmenden Verteidiger24 – begrenzt durch die dem Verletzten selbst verliehenen gesetzlichen Befugnisse.25 Nicht unter Hinweis auf § 406f „vertreten“ kann er den Verletzten bei der Erfüllung der in seiner Zeugenstellung begründeten Erscheinens- oder Aussagepflicht, also nicht über die Wahrnehmungen des Verletzten an dessen Stelle berichten.26 Die einzelnen Verletztenbefugnisse während seiner Vernehmung werden nicht mehr ausdrücklich gesetzlich genannt. Mit dem 2. OpferRRG ist der § 406f Abs. 2 Satz 2 a.F. entfallen, der eine Aufzählung einzelner prozessualer Befugnisse des Verletzten enthielt.
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Meyer-Goßner 1. HW § 406g, 15, 22, 28; AnwK/Krekeler 1; h.M. (keine PKH; keine Auslagenüberbürdung auf den Verurteilten); vgl. auch die Erl. zu HW § 472. Hierzu Meyer-Goßner § 68b, 11. HW Rn. 3. BTDrucks. 16 12098 S. 36. SK/Velten 6; Meyer-Goßner § 163, 16; Barton StRR 2009 405, 407; Bung StV 2009 430, 436.
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SK/Velten 6. HW 3; HK/Kurth/Pollähne 3; allg. M. Vgl. auch BGH NStZ 1989 484 mit krit. Anm. Krehl NStZ 1990 192. Meyer-Goßner 3; AK/Schöch 6; HK-GS/Ferber 5; a.A. LG Hildesheim StV 1985 229. BTDrucks. 16 12098 S. 36. HW Vor § 137, 151. BTDrucks. 16 12098 S. 36. BTDrucks. 16 12098 S. 36; HW Rn. 3; SK/Velten 6.
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Hierdurch wird nunmehr der durch die frühere Gesetzesfassung vermittelte unzutreffende Anschein vermieden, die Verletztenbefugnisse während einer Vernehmung seien auf die ausdrücklich benannten § 238 Abs. 2, § 242 und den Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit (§ 171b GVG) beschränkt. Nach Ansicht des Gesetzgebers sei es weder möglich noch erforderlich, sämtliche Befugnisse abschließend aufzuzählen.27 Da auch die frühere Gesetzesfassung nicht abschließend bewertet wurde,28 haben sich die Verletztenbefugnisse durch das 2. OpferRRG inhaltlich nicht verändert (vgl. hierzu im Einzelnen HW 3, 4). Dem Verletzten steht nach den Maßgaben des § 406e ein Akteneinsichtsrecht zu. Da die Befugnisse des anwaltlichen Verletztenbeistands in der Hauptverhandlung den 9 eines Zeugenbeistandes entsprechen,29 steht diesem ein Recht auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung auch dann zu, wenn die Öffentlichkeit ausgeschlossen ist.30 Aus dieser Rechtsstellung folgt weiter, dass der Verletztenbeistand nach den insoweit ergänzend anwendbaren Maßgaben des § 68b Abs. 1 von der Vernehmung ausgeschlossen werden kann.31 Auch nach dem 2. OpferRRG bleibt allerdings zweifelhaft, ob gegen den Rechtsanwalt Ordnungsmaßnahmen nach § 164 StPO, §§ 177, 178 GVG ergriffen werden können.32 Ebenso wie bei der näheren Ausgestaltung der rechtlichen Befugnisse des Zeugenbeistands (§ 68b) hat der Gesetzgeber des 2. OpferRRG die Rechtsstellung des Verletztenbeistands nicht umfassend bestimmt. Wird der Rechtsanwalt zu Unrecht von der staatsanwaltschaftlichen Vernehmung ausgeschlossen, so kann er analog § 161a Abs. 3 eine gerichtliche Entscheidung beantragen.33
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2. Absatz 2. Die Vorschrift entspricht dem bisherigen § 406f Abs. 3 und wurde lediglich redaktionell neu gefasst. Die Anwesenheit der Vertrauensperson kann auch weiterhin versagt werden, wenn diese den Untersuchungszweck gefährden könnte. Solches dürfte namentlich dann der Fall sein, wenn eine der in § 68b Abs. 1 beispielhaft aufgeführten Verfahrenskonstellationen vorliegt.34
§ 406g (1) 1Nach § 395 zum Anschluss mit der Nebenklage Befugte können sich auch vor Erhebung der öffentlichen Klage und ohne Erklärung eines Anschlusses eines Rechtsanwalts als Beistand bedienen oder sich durch einen solchen vertreten lassen. 2Sie sind zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung berechtigt, auch wenn sie als Zeugen vernommen werden sollen. 3Ist zweifelhaft, ob eine Person nebenklagebefugt ist, entscheidet über das Anwesenheitsrecht das Gericht nach Anhörung der Person und der Staatsanwaltschaft; die Entscheidung ist unanfechtbar. 4Nebenklagebefugte sind vom Termin der Hauptverhandlung zu benachrichtigen, wenn sie dies beantragt haben. (2) 1Der Rechtsanwalt des Nebenklagebefugten ist zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung berechtigt; Absatz 1 Satz 3 gilt entsprechend. 2Er ist vom Termin der Hauptverhandlung zu benachrichtigen, wenn seine Wahl dem Gericht angezeigt oder er als Beistand bestellt wurde. 3Die Sätze 1 und 2 gelten bei richterlichen Vernehmungen und der
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BTDrucks. 16 12098 S. 36. HW Rn. 4. Meyer-Goßner 3. BTDrucks. 16 12098 S. 37. Meyer-Goßner 3; SK/Velten 6.
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Bejahend z.B. AK/Schöch 9; abl. HK/Kurth/Pollähne 5; SK/Velten 6. AK/Schöch 10. SK/Velten 11.
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Einnahme richterlichen Augenscheins entsprechend, es sei denn, dass die Anwesenheit oder die Benachrichtigung des Rechtsanwalts den Untersuchungszweck gefährden könnte. (3) 1… 2 Im vorbereitenden Verfahren entscheidet das nach § 162 zuständige Gericht. (4) …
Änderungen. Die Absätze 1 und 2 der Bestimmung wurden durch Art. 1 Nr. 31 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzen und Zeugen im Strafverfahren vom 29.7.2009 (2. Opferrechtsreformgesetz – 2. OpferRRG)1 zur besseren Verständlichkeit inhaltlich neu strukturiert.2 Aus demselben Grund wurden die bislang in § 214 oder noch nicht gesetzlich geregelten Benachrichtigungspflichten betreffend den Nebenklagebefugten und dessen Rechtsanwalt in § 406g verankert.3 Absatz 1 bestimmt nunmehr die Rechte, die dem Nebenklagebefugten selbst zustehen. Satz 1 entspricht inhaltlich dem früheren § 406g Abs. 1 Satz 2 und wurde an den Anfang der Vorschrift gestellt, um diese in Aufbau und Struktur den entsprechenden Regelungen §§ 68b, 406f anzugleichen und um in den folgenden Sätzen aufeinanderfolgend die Bestimmungen zu fassen, die sich auf die Teilnahme des Nebenklagebefugten in der Hauptverhandlung beziehen.4 Satz 2 entspricht inhaltlich dem früheren § 406g Abs. 1 Satz 1 und wurde um den Regelungsgegenstand der § 58 Abs. 1 Satz 2 a.F. und § 243 Abs. 2 Satz 2 bei gleichzeitigem Wegfall dieser Bestimmungen5 erweitert, wodurch das Anwesenheitsrecht des Nebenklagebefugten trotz seiner Zeugenstellung in § 406g Abs. 1 abschließend geregelt ist. Satz 3 entspricht inhaltlich § 406g Abs. 1 Satz 3 a.F.; hier wurde lediglich das Wort „nebenklagebefugt“ aufgenommen und auf einen Verweis auf den voranstehenden Satz verzichtet. Satz 4 wurde neu eingefügt. Er enthält nunmehr die durch Art. 1 Nr. 22 des 2. OpferRRG entfallenden Regelungen über die Benachrichtigung des Nebenklägers und Nebenklagebefugten aus § 214 Abs. 1 Satz 2 bis 4 a.F. Beide sind nunmehr vom Termin der Hauptverhandlung zu benachrichtigen. Absatz 2 bestimmt nunmehr die Befugnisse des Rechtsanwalts, der von der nebenklagebefugten Person hinzugezogen oder von ihr mit ihrer Vertretung beauftragt wurde. Satz 1 Halbs. 1 entspricht inhaltlich § 406g Abs. 2 Satz 1 a.F. Die Neufassung verzichtet indes auf die Zusätze, dass die Anwesenheitsbefugnis über die Anwesenheitsbefugnis des Verletztenbeistands (§ 406f) hinausgeht und auch im Falle nicht öffentlicher Verhandlung gilt. Satz 1 Halbs. 2 erklärt Abs. 1 Satz 3 für entsprechend anwendbar und erfasst Fälle, in denen der Verletzte nicht selbst zum Termin erscheint und seine Nebenklagebefugnis, etwa nach § 395 Abs. 3, zweifelhaft ist.6 Der neu gefasste Satz 2 enthält nunmehr eine gesetzliche Pflicht, den Rechtsanwalt des Nebenklagebefugten vom Hauptverhandlungstermin zu benachrichtigen. Satz 3 übernimmt den Inhalt des § 406g Abs. 2 Satz 2 und 3 a.F., verzichtet lediglich aus Gründen der Verständlichkeit auf die Verweisungen auf § 168c Abs. 5 und § 224 Abs. 1.7 Absatz 3 Satz 1 bleibt unverändert. Mit dem neu gefassten Satz 2 wird die Zuständigkeit bei Entscheidungen im vorbereitenden Verfahren – im Gleichklang mit § 68b Abs. 2 Satz 2 und § 406g Abs. 4 Satz 2 – auf den Ermittlungsrichter übertragen (§ 162).8 Absatz 4 bleibt unerverändert. 1 2 3 4
BGBl. I S. 2280. BTDrucks. 16 12098 S. 37. BTDrucks. 16 12098 S. 37. BTDrucks. 16 12098 S. 37.
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Art. 1 Nr. 3 und 24 des 2. OpferRRG. BTDrucks. 16 12098 S. 38. BTDrucks. 16 12098 S. 38. BTDrucks. 16 12098 S. 38.
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1. Bedeutung. Die Neufassung des § 406g steht im regelungsystematischen Zusammenhang mit den sonstigen Änderungen der StPO durch das 2. OpferRRG und einer hierdurch erstrebten Stärkung der Rechte von Opfern und Zeugen im Strafverfahren.9 Zu nennen sind hier etwa die durch eine Neufassung des § 395 erweiterte Anschlussmöglichkeit als Nebenkläger und die für besonders schutzwürdige Nebenkläger erleichterte Möglichkeit, einen Opferanwalt zu bestellen (§§ 397, 397a). Dessen Rechtsposition wird durch die in Absatz 2 Satz 2 nunmehr zwingend ausgestaltete gesetzliche Pflicht gestärkt, ihn von Terminen zu unterrichten. Überdies erstrebt der Reformgesetzgeber mit Absatz 2 einen systematischen Gleichklang mit den Vorschriften über die Inanspruchnahme eines anwaltlichen Beistands durch Zeugen (§ 68b), Verletzte (§ 406f Abs. 1) und Nebenkläger (§ 397).10
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2. Beistandsbefugnis (Absatz 1). Auch ohne den erklärten Anschluss als Nebenkläger steht dem hierzu befugten Verletzten nach Absatz 1 Satz 1 bereits im Ermittlungsverfahren das Recht zu, sich der Hilfe eines Rechtsanwalts zu bedienen, dem die (im Vergleich zu § 406f Abs. 2) weitergehenden Rechte nach Absatz 2 zustehen. Der Verletzte ist befugt, als Zeuge die Auskunft über den Inhalt der Beratungsgespräche mit seinem Beistand zu verweigern.11 Das Recht des Nebenklagebefugten, sich durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen, lässt seine Pflicht, einer Zeugenladung Folge zu leisten (s. §§ 48, 51) oder auszusagen sowie seine Aussage ggf. zu beeinden, unberührt. Einem minderjährigen Verletzten ist im Falle eines Interessenwiderstreits seiner Eltern (Personensorgeberechtigten) für die Entscheidung zur Bestellung eines Beistands bzw. Rechtsanwalts nach dieser Vorschrift ein Ergänzungspfleger zu bestellen.12 Vgl. hierzu im Einzelnen HW Rn. 5a.
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3. Anwesenheitsrecht. Gemäß Absatz 1 Satz 2 ist der Nebenklagebefugte zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung berechtigt. Das gilt ausnahmslos, also z.B. auch, wenn er als Zeuge13 in Betracht kommt oder die Hauptverhandlung nichtöffentlich ist.14 Dies gilt gleichermaßen, wenn er nicht beabsichtigt, seinen Anschluss als Nebenkläger zu erklären.15 Das Anwesenheitsrecht bei nichtöffentlicher Verhandlung16 und bei Gefährdung des Untersuchungszwecks hätte, wenn anderes gewollt gewesen wäre, ausdrücklich eingeschränkt werden müssen. Der Nebenklagebefugte sollte auch in der Hauptverhandlung keine schlechtere Stellung haben als sein Beistand (s. Absatz 2 Satz 1; HW Rn. 9). Hieraus können insbesondere in Verfahren mit sogenannter Aussage-gegen-AussageKonstellation Beweiswürdigungsprobleme entstehen. Regelmäßig wird nämlich einer Aussage, die ohne Kenntnis der Einlassung des Angeklagten erfolgt ist, ein höherer Beweiswert zukommen. Im Einzelfall kann es daher aus Gründen bestmöglicher Wahrheitsermittlung (§ 244 Abs. 2) in Umsetzung des Willens des historischen Gesetzgebers (§ 58 Abs. 1) geboten sein, den Nebenklagebefugten und dessen Vertreter unter Hinweis auf die Besonderheiten der Beweislage zu bitten, den Saal bis zur eigenen Vernehmung zu verlassen. Entsprechend wird der gut beratene nebenklagebefugte Verletzte im Regelfall über sein Anwesenheitsrecht disponieren. Zur Anwesenheit bei richterlichen Vernehmungen und Augenscheinseinnahmen außerhalb der Hauptverhandlung ist der Nebenklage-
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BTDrucks. 16 12098 S. 1, 29. BTDrucks. 16 12098 S. 1, 31, 37. OLG Düsseldorf NStZ 1991 503; MeyerGoßner 4; HW Vor § 48, 21; a.A. SK/Velten 5 (nur § 55).
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OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001 303. BTDrucks. 16 12098 S. 37. S. auch § 175 Abs. 2 Satz 2 GVG. BTDrucks. 16 12098 S. 37. Meyer-Goßner 1.
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befugte dagegen – anders als sein Beistand – mangels ausdrücklicher gesetzlicher Zulassung nicht berechtigt; wohl aber, wenn sie besonderer Teil der Hauptverhandlung (z.B. gemäß §§ 223, 225) sind (s. HW Rn. 10; § 397, 5). Dem Nebenklagebefugten stehen die Befugnisse des Nebenklägers aus § 397 nicht zu. 4 Zum Akteneinsichtsrecht vgl. § 406e; vgl. ferner HW Vor § 406d, 5. 4. Anschlussbefugnis (Absatz 1 Satz 3). Ob ein Verletzter zum Anschluss als Neben- 5 kläger befugt ist (Absatz 1), ist nach Lage des jeweiligen Einzelfalles, insbesondere des jeweiligen Verfahrensstandes zu beurteilen. Entscheidend ist, ob nach dem Stand der Ermittlungen im Zeitpunkt der Entscheidung eine Anschlussberechtigung in Betracht kommen kann. Hierfür erforderlich ist im Ermittlungsverfahren der Anfangsverdacht (§ 152 Abs. 2). Dieser hat sich entweder auf eine Katalogtat nach § 395 Abs. 1 oder nach § 395 Abs. 3 auf jedes andere Delikt zu beziehen (s. Nachtr. § 395, 8 ff.), wobei bereits hier die materiellen Voraussetzungen des § 395 Abs. 3 zu prüfen sind (vgl. Nachtr. § 395, 11 ff.).17 Unerheblich ist, ob sich das Verfahren gegen Unbekannt richtet. Hat allerdings im Vorverfahren der Ermittlungsrichter zu entscheiden, dann darf er die Nebenklagebefugnis nicht wegen des Fehlens des Tatverdachts verneinen, wenn die StA das Verfahren gerade wegen des Verdachts eines Nebenklagedelikts zum Nachteil des Verletzten betreibt.18 Bei Antragsdelikten ist außerdem erforderlich, dass eine Beteiligung des Verletzten am Verfahren als Nebenkläger nicht am Fehlen eines erforderlichen Strafantrags scheitern würde (vgl. HW § 395, 20 ff.).19 Zur Entscheidung und Anfechtung vgl. HW Rn. 12 f. 5. Benachrichtigung. Der Nebenklagebefugte ist nach Absatz 1 Satz 4 vom Termin 6 der Hauptverhandlung zu benachrichtigen, wenn er dies beantragt hat (vgl. § 406h Satz 1; vgl. ferner § 214 Abs. 1 Satz 2). Eine förmliche Ladung ist nicht geboten. 6. Anwaltlicher Beistand (Absatz 2). Der Nebenklagebefugte kann sich des Beistands 7 eines Rechtsanwalts bedienen. Ist die Nebenklagebefugnis zweifelhaft, hat das Gericht nach Anhörung der Staatsanwaltschaft und des Rechtsanwalts sowie des Verletzten selbst zu entscheiden (s. Rn. 4).20 Neben Rechtsanwälten können als Beistand nach den Maßgaben des § 138 Abs. 3 auch Rechtslehrer an Hochschulen und – mit gerichtlicher Genehmigung – andere Personen gewählt werden. § 406f Abs. 221 bleibt unberührt, sodass bei der Vernehmung des Nebenklägers als Zeuge einer Person seines Vertrauens die Anwesenheit zu gestatten ist. Ebenso wie eine größere Anzahl von Nebenklägern können mehrere Nebenklagebefugte im Beistand eines gemeinschaftlichen Rechtsanwalts erscheinen oder sich durch einen gemeinschaftlichen Rechtsanwalt vertreten lassen (vgl. Nachtr § 397a, 26). a) Anwesenheit in der Hauptverhandlung (Satz 1). Der Beistand hat ein uneinge- 8 schränktes Anwesenheitsrecht in der Hauptverhandlung, selbst wenn diese nicht öffentlich ist (s. auch § 175 Abs. 2 Satz 2 GVG) und auch, wenn der Verletzte nicht vernom17
BTDrucks. 16 12098 S. 37; vgl. ferner BTDrucks. 10 5305, S. 20; OLG Hamm NStZ-RR 2000 244; LG Baden-Baden NStZ-RR 2000 52; Meyer-Goßner 3; h.M.; § 395, 8, 17 und § 396, 8; a.A. (enger) HansOLG Hamburg NStZ-RR 2007 280 (LS).
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KMR/Stöckel 8. Vgl. auch Rieß NStZ 1989 105 ff.; KMR/Stöckel 6. BTDrucks. 16 12098 S. 38. Nachtr. § 406f, 3.
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men wird oder nicht anwesend ist (Satz 1 Hs. 1).22 Im Übrigen wird die Rechtsstellung des anwaltlichen Beistands – anders als bei dem auch eigene Rechte wahrnehmenden Verteidiger23 – begrenzt durch die dem Nebenklagebefugten selbst verliehenen gesetzlichen Befugnisse. Ihm stehen deshalb auch Befugnisse des Verletzten nach § 406f zu (s. hierzu Nachtr. § 406f, 7 f.). Er kann sich auf deren Wahrnehmung beschränken (s. HW Vor § 406d, 5). Der Vorsitzende kann im Rahmen seiner Sachleitungsbefugnis dem Beistand gestatten, einzelne Fragen zu stellen.24 S. zum Fragerecht im Übrigen die Erl. HW zu § 240 und § 168c. Auch nach der gesetzlichen Neufassung ist zweifelhaft, ob gegen den Beistand Ordnungsmaßnahmen nach § 164 StPO, §§ 177, 178 GVG ergriffen werden können25 (s. HW § 406f, 3; Nachtr. § 406f, 9).
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b) Benachrichtigungspflicht (Satz 2). Um eine Rechtsausübung zu gewährleisten,26 ist der anwaltliche Beistand vom Termin der Hauptverhandlung zu benachrichtigen, wenn er gerichtlich bestellt oder seine Wahl dem Gericht gegenüber angezeigt worden ist. Seine förmliche Ladung ist neben einer Ladung des Nebenklägers nicht geboten.
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c) Anwesenheit bei sonstigen richterlichen Untersuchungen (Satz 3). Absatz 2 Satz 3 betrifft nicht das Anwesenheitsrecht bei Vernehmungen des Verletzten, das sich nach § 406f Abs. 2 Satz 1 richtet, sondern richterliche (nicht staatsanwaltschaftliche oder polizeiliche) Vernehmungen des Beschuldigten, anderer Zeugen oder von Sachverständigen sowie richterliche Augenscheinseinnahmen, soweit diese außerhalb der Hauptverhandlung, namentlich im Ermittlungsverfahren, gemäß § 202 oder im Wiederaufnahmeverfahren (§ 369), stattfinden. Die Regelung ist an die §§ 168c, 168d angelehnt, wobei die Neufassung aus Gründen der Normenklarheit auf die Verweisungen auf § 168c Abs. 5 und § 224 Abs. 1 verzichtet.27 Zum Fragerecht s. die Erl. HW zu § 168c. Das Recht zur Beanstandung von Fragen betrifft hier nicht – wie im Falle des § 406f Abs. 1 Satz 2 (s. Nachtr. § 406f, 7) – Fragen an den Verletzten, sondern auch Fragen an Beschuldigte, sonstige Zeugen und Sachverständige. Das Anwesenheitsrecht ist jedoch – anders als beim Verteidiger (vgl. § 168c) – an die Voraussetzung gebunden, dass durch die Teilnahme des Beistandes der Untersuchungszweck, insbesondere die Wahrheitsfindung nicht beeinträchtigt oder gefährdet wird. Dies muss feststehen; in Zweifelsfällen ist also die Anwesenheit nicht zulässig. Dies gilt namentlich dann, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass der zu Vernehmende in Gegenwart des Beistandes nicht die Wahrheit sagen wird. Wird der Beistand hier in der Ausübung seiner Befugnisse nach § 406g Abs. 2 eingeschränkt (HW Rn. 11), so darf sich diese Einschränkung nicht auf seine Befugnisse nach § 406f Abs. 1 auswirken.
11
7. Kostenloser Beistand des Nebenklagebefugten (Absatz 3). Nach dieser Vorschrift i.V.m. § 397a Abs. 1 ist dem (ggf. einem bestimmten – s. § 397a Abs. 1) Verletzten einer in § 397a Abs. 1 genannten Straftat auf dessen Antrag hin schon im Ermittlungsverfahren, aber auch im Hauptverfahren, soweit ein Anschluss nicht erklärt wird, ein Rechtsanwalt als Beistand zu bestellen, wenn nur der Anfangsverdacht der Begehung einer solchen Tat (vgl. auch HW § 397a, 5 ff.) besteht („kostenloser Opferanwalt“28). Die 22 23 24 25
BTDrucks. 16 12098 S. 37. HW Vor § 137, 151. BGH NStZ 2005 222 mit Anm. Ventzke NStZ 2005 396. Vgl. (verneinend) AK/Schöch 8; Meyer-Goßner 4; HK/Kurth/Pollähne 5; SK/Velten 4;
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26 27 28
s. auch die Erl. zu den genannten Vorschriften. BTDrucks. 16 12098 S. 38. BTDrucks. 16 12098 S. 38. BTDrucks. 16 12098 S. 32.
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Vierter Abschnitt. Sonstige Befugnisse des Verletzten
Nachtr. § 406g StPO
Bestellung eines Rechtsanwalts als Beistand gemäß § 406g Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 397a Abs. 1 gilt für das gesamte weitere Verfahren, also auch für die Revisionsinstanz.29 Die Bestellung gemäß Absatz 3 Nr. 2 dürfte dagegen nur für die jeweilige Instanz gelten (vgl. Nachtr. § 397a, 33). Die materiellen Beiordnungsgründe sind durch die Neufassung des 2. OpferRRG unberührt geblieben (hierzu HW Rn. 16 ff. sowie Nachtr. § 397a, 16 ff.). a) Der Antrag auf Bestellung eines Rechtsanwalts als Beistand (Nr. 1) bzw. auf 12 Bewilligung der Prozesskostenhilfe für dessen Hinzuziehung (Nr. 2) ist im Ermittlungsverfahren beim zuständigen Ermittlungsrichter (Absatz 3 Satz 2), ansonsten bei dem mit der Entscheidung über den Anschluss nach § 396 befassten Gericht zu stellen (§ 406g Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 397a Abs. 3 Satz 2).30 b) Das Verfahren zu Nr. 2 richtet sich über die Verweisung auf § 397a Abs. 2 im 13 Wesentlichen nach den Bestimmungen der §§ 117 ff. ZPO (s. auch Nachtr. § 397a, 22 ff.). Dem Antrag sind – unter Verwendung amtlicher Vordrucke31 – eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie die notwendigen Belege beizufügen (§ 117 Abs. 2 ZPO). Ergibt sich die Nebenklagebefugnis nicht eindeutig aus den Akten, so muss der Antragsteller darlegen, dass die in HW Rn. 6 sowie Nachtr. § 397a, 16 ff. genannten Voraussetzungen erfüllt sind (§ 117 Abs. 1 Satz 2 ZPO); gleiches muss für die Bestellung gemäß Nr. 1 gelten, sofern die Voraussetzungen der Nebenklagebefugnis etwa nach § 395 Abs. 3 nicht aktenkundig oder sonst offenbar sind. Das Gericht kann die Glaubhaftmachung der Angaben verlangen und eigene Erhebungen anstellen (§ 118 Abs. 2 ZPO). Macht der Antragsteller innerhalb einer von dem Gericht gesetzten Frist Angaben über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht glaubhaft oder beantwortet er bestimmte Fragen nicht oder ungenügend, so lehnt das Gericht die Bewilligung der Prozesskostenhilfe insoweit ab (§ 118 Abs. 2 Satz 4 ZPO). Dem Beschuldigten ist vor der Bewilligung der Prozesskostenhilfe Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (§ 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO);32 gleiches gilt vor einer Bestellung gemäß Nr. 1. Die Staatsanwaltschaft ist zu hören (§ 33 Abs. 2 StPO). c) Mit der Bewilligung der Prozesskostenhilfe entscheidet das Gericht ferner über die 14 Frage, ob und welche „Ausgleichszahlungen“ der Nebenklagebefugte an die Landeskasse zu leisten hat (§ 120 ZPO) und ordnet ihm einen Rechtsanwalt bei. § 121 Abs. 1 bis 3 ZPO ist nicht anwendbar. Die Beiordnung gemäß Nr. 1 und 2 richtet sich nach der spezifisch strafverfahrensrechtlichen Bestimmung des § 142 Abs. 1 StPO. Dies bedeutet, dass der Nebenklagebefugte Gelegenheit erhalten soll, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Rechtsanwalt zu bezeichnen (§ 142 Abs. 1 Satz 1). Dieser Rechtsanwalt wird bestellt, wenn nicht wichtige Gründe, etwa das Gebot zügiger Verfahrensführung, entgegenstehen.33 Die Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag ist unanfechtbar (§ 397a Absatz 3 Satz 2). Dies gilt auch für die Auswahl des Rechtsanwalts nach § 142 Abs. 1 StPO. Sie ist mittelbar Teil der Gewährung der Prozesskostenhilfe und daher gleichfalls – auch bei Verstoß gegen die Auswahlgrundsätze – unanfechtbar. Dies entspricht der Intention des Gesetzgebers,34 der die Unanfechtbarkeit in dem in Bezug
29 30 31 32
BGH NJW 2009 308. BTDrucks. 16 12098 S. 38. Vgl. BGBl. 1994 I S. 3003. Vgl. HW § 397a, 13 sowie Nachtr. § 397a, 24 f.
33 34
Vgl. Böttcher JR 1987 137; Rieß/Hilger NStZ 1987 154, 155. Vgl. BTDrucks. 10 5305 S. 14, 20.
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Fünftes Buch. Beteiligung des Verletzten am Verfahren
genommenen § 397a Abs. 3 Satz 2 aus Gründen der Prozessökonomie sowie im Interesse einer schnellen Klärung der Rechtslage angeordnet hat.35 Zur Anfechtbarkeit der Entscheidung gemäß Absatz 3 Nr. 1 vgl. HW § 397a, 14. Die Prozesskostenhilfe wird nur für die Beiordnung eines Rechtsanwalts gewährt, nicht 15 für sonstige Kosten des Nebenklagebefugten. Die Gewährung hat zur Folge, dass der beigeordnete Rechtsanwalt seinen Gebührenanspruch gegen die Staatskasse geltend machen kann. Der Nebenklagebefugte hat diese Kosten ggf. – je nach Inhalt des Bewilligungsbeschlusses (§ 120 ZPO) – der Staatskasse zu erstatten. Ob sie von der Staatskasse oder (z.B. infolge einer Ratenzahlung) vom Nebenklagebefugten zu tragen sind, hängt vom Ausgang des Strafverfahrens und von der damit verbundenen Kosten- und Auslagenentscheidung ab. Im Falle der Bestellung nach Nr. 1 hat der Rechtsanwalt ebenfalls einen Gebührenanspruch gegen die Staatskasse. Bei Verurteilung kann diese die gezahlten Gebühren gegen den Verurteilten geltend machen;36 trifft den Beschuldigten keine Kostenpflicht, so verbleibt die Belastung dieser Gebührenauslagen bei der Staatskasse.37
§ 406h 1Verletzte
sind möglichst frühzeitig, regelmäßig schriftlich und soweit möglich in einer für sie verständlichen Sprache auf ihre aus den §§ 406d bis 406g folgenden Befugnisse und insbesondere auch darauf hinzuweisen, dass sie 1. sich unter den Voraussetzungen der §§ 395 und 396 dieses Gesetzes oder des § 80 Absatz 3 des Jugendgerichtsgesetzes der erhobenen öffentlichen Klage mit der Nebenklage anschließen und dabei nach § 397a beantragen können, dass ihnen ein anwaltlicher Beistand bestellt oder für dessen Hinzuziehung Prozesskostenhilfe bewilligt wird, 2. nach Maßgabe der §§ 403 bis 406c dieses Gesetzes und des § 81 des Jugendgerichtsgesetzes einen aus der Straftat erwachsenen vermögensrechtlichen Anspruch im Strafverfahren geltend machen können, 3. nach Maßgabe des Opferentschädigungsgesetzes einen Versorgungsanspruch geltend machen können, 4. nach Maßgabe des Gewaltschutzgesetzes den Erlass von Anordnungen gegen den Beschuldigten beantragen können sowie 5. Unterstützung und Hilfe durch Opferhilfeeinrichtungen erhalten können, etwa in Form einer Beratung oder einer psychosozialen Prozessbegleitung. 2Liegen die Voraussetzungen einer bestimmten Befugnis im Einzelfall offensichtlich nicht vor, kann der betreffende Hinweis unterbleiben. 3Gegenüber Verletzten, die keine zustellungsfähige Anschrift angegeben haben, besteht keine Hinweispflicht. 4Die Sätze 1 und 3 gelten auch für Angehörige und Erben von Verletzten, soweit ihnen die entsprechenden Befugnisse zustehen.
Schrifttum Blum Gerichtliche Zeugenbetreuung im Zeichen des Opferschutzes (2005).
35 36
Rieß/Hilger NStZ 1987 154. S. auch BGH HRRS 2008 Nr. 921.
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37
S. auch HW § 397a, 15.
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Vierter Abschnitt. Sonstige Befugnisse des Verletzten
Nachtr. § 406h StPO
Änderungen. Die durch das Opferrechtsreformgesetz aus dem Jahre 20041 eingeführten gesetzlichen Informationspflichten wurden durch Art. 1 Nr. 32 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz – 2. OpferRRG)2 erweitert und zwingend ausgestaltet. Ferner wurde die Norm zum Zwecke besserer Übersichtlichkeit und Verständlichkeit neu gefasst und einzelne Hinweispflichten – nicht abschließend – durchnummeriert dargestellt. Inhaltlich sind die Informationspflichten des Satz 1 Hs. 1 identisch mit der früheren Regelung des § 406h Abs. 1 Hs. 1 a.F. Im neugefassten Satz 1 Hs. 2 werden weitere dem möglichen Verletzten zustehende Befugnisse benannt, auf die dieser in jedem Fall hinzuweisen ist; die Verwendung des Wortes „insbesondere“ bringt den nicht abschließenden Charakter der Aufzählung zum Ausdruck.3 Der neu eingeführte Satz 1 Hs. 2 Nr. 1 ist inhaltlich identisch mit der bisherigen Regelung des § 406h Abs. 1 Hs. 2; er ist als Folgeänderung zum 2. Justizmodernisierungsgesetz,4 mit dem die Nebenklage gegenüber Jugendlichen in den Grenzen des § 80 Abs. 3 JGG zugelassen worden war,5 um den Hinweis auf die in bestimmten Fällen mögliche Nebenklage in Verfahren gegen Jugendliche ergänzt worden. Nr. 2 enthält die bereits zuvor in § 406h Abs. 2 a.F. enthaltene Hinweispflicht auf das Adhäsionsverfahren, nunmehr unter Angabe der maßgeblichen Vorschriften des Dritten Abschnitts des Fünften Buches der StPO. Nr. 3 enthält neu aufgenommene Hinweispflichten auf etwaige Versorgungsansprüche des Verletzten nach dem Opferentschädigungsgesetz. Eingang in Nr. 4 hat die Hinweispflicht auf das Gewaltschutzgesetz und die nach ihm bestehenden Möglichkeiten des Eilrechtsschutzes vor weiteren Beeinträchtigungen durch den Angeklagten gefunden. Die bereits in der früheren Fassung (§ 406h Abs. 3 a.F.) enthaltene Hinweispflicht auf die Möglichkeit, Hilfe durch Opferschutzverbände zu erhalten, ist nunmehr Regelungsgegenstand der Nr. 5; diese wird inhaltlich ergänzt durch eine beispielhafte Erwähnung einer „Beratung“ oder einer „psychosozialen Prozessbegleitung“. Neu eingeführt wurde mit Satz 2 die Befugnis, von einer Hinweiserteilung entsprechend Satz 1 abzusehen, wenn die Voraussetzungen einer bestimmten Befugnis offensichtlich nicht vorliegen. Satz 3 entspricht der früheren Fassung des § 406h Abs. 4; zur besseren Verständlichkeit wurde auf eine Verweisung verzichtet und der Regelungsgegenstand des von der früheren Fassung in Bezug genommenen § 406d Abs. 3 Satz 1 in den Wortlaut aufgenommen. Mit dem neu eingeführten Satz 4 werden die Hinweispflichten über den Adressatenkreis des Satz 1 hinaus auch auf Angehörige und Erben erstreckt. 1. Bedeutung. Die Neufassung der gesetzlichen Hinweispflichten steht im regelungs- 1 systematischen Zusammenhang mit den sonstigen Änderungen der StPO durch das 2. OpferRRG und einer hierdurch erstrebten Stärkung der Rechte von Opfern und Zeugen im Strafverfahren.6 Zu nennen sind hier etwa die Erweiterung von Informationsrechten des möglichen Verletzten einer Tat (§§ 406d, § 406e, 406h) und die durch eine Neufassung des § 395 erweiterte Anschlussmöglichkeit als Nebenkläger und die für besonders schutzwürdige Nebenkläger erleichterte Möglichkeit, einen Opferanwalt zu bestellen (§§ 397, 397a). Maßgeblich für die erweiterten Informationsbefugnisse eines Verletzten waren keine zwingenden Rechtsgründe; die Vorgaben des Rahmenbeschlusses des Europäischen Rats vom 15.3.2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren7
1 2 3 4
BGBl. I S. 1354. BGBl. 2009 I S. 2280. BTDrucks. 16 12098 S. 39. BGBl. 2006 I 3416.
5 6 7
Kritisch hierzu Eisenberg § 80, 16 m.w.N. BTDrucks. 16 12098 S. 1, 29. 2001/220/JI, ABl EG L 82/1.
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waren bereits mit der früheren Gesetzesfassung erschöpfend im nationalen Recht umgesetzt worden.8 Als Hintergrund darf angesichts der eindeutigen Formulierung der Gesetzesbegründung vielmehr die erfolgreiche Arbeit von Interessenverbänden angesehen werden.9 Mit der erweiterten Neufassung und nunmehr nach Satz 1 zwingenden Ausgestaltung der Hinweispflichten ist rechtspraktisch ein nicht unerheblicher Mehraufwand verbunden. Dies gilt namentlich mit Blick auf die gesetzliche Vorgabe an die Strafverfolgungsbehörden, ihre Merkblätter schriftlich (s. Rn. 3) und in „häufig gesprochene(n) Sprachen“10 zu fassen.
2
2. Allgemeines (Satz 1). Sämtliche Hinweise nach Satz 1 sind nunmehr für die Strafverfolgungsbehörden zwingend. Nach früherer Rechtslage waren die Hinweise auf das Adhäsionsverfahren oder auf Unterstützungsmöglichkeiten durch Opferhilfeeinrichtungen noch fakultativ ausgestaltet.11 Hierdurch hat der Reformgesetzgeber Forderungen der Opferschutzverbände umgesetzt. Rechtspraktische Einwände12 gegen die bereits nach früherer Rechtslage weitreichenden Hinweispflichten hat er nicht aufgegriffen.13 Der Zeitpunkt zur Umsetzung gesetzlicher Hinweispflichten ist durch die Neufassung unverändert geblieben; weiterhin sind die Verletzten nach Maßgabe des Einzelfalles möglichst frühzeitig entsprechend zu informieren.14 Die Hinweise sind nach Satz 1 regelmäßig schriftlich zu erteilen. Die bisherige Rechts3 lage erschien dem Gesetzgeber unzureichend, weil zweifelhaft sei, ob Verletzte in der Lage sind, die ihnen im Rahmen einer Vorsprache bei den Strafverfolgungsbehörden erteilten mündlichen Rechtserläuterungen vollständig zu erfassen.15 Die Strafverfolgungsbehörden entsprechen dieser gesetzlichen Vorgabe bereits durch Aushändigung von Merkblättern, die in einer für Laien verständlichen Weise formuliert sind;16 individuell abgefasste oder in allen Fällen mündlich um Einzelfallinteressen ergänzte Hinweise sind daher nicht erforderlich.17 Nur in außergewöhnlich gelagerten Fällen dürfte eine ergänzende, speziell angepasste Unterrichtung erforderlich sein. Ob mit der Neuregelung den Bedürfnissen der Verletzten von Straftaten der Alltagskriminalität tatsächlich gedient ist, erscheint allerdings zweifelhaft. Eine weniger ausladende, mündliche Unterrichtung im Einzelfall – etwa betreffend die Möglichkeit eines anwaltlichen Beistands – ist auch weiterhin besser geeignet, dem mündigen Bürger Orientierung zu verschaffen.18 Denn in einer Vielzahl von Fällen steht zu befürchten, dass durch umfassende Merkblätter unberechtigte Erwartungen durch überschießende Hinweise geweckt und Enttäuschungen verursacht werden; so etwa bei einem Hinweis auf die Nebenklagebefugnis nach §§ 395 ff. und § 80 Abs. 3 JGG, obgleich deren Voraussetzungen nicht vorliegen (s. Rn. 16). 8
9
10 11 12
Schünemann ZStW 114 (2002) 1, 34; Wehnert NJW 2005 3760, 3761; Wenske NStZ 2008 434, 437. BTDrucks 16 12098 S. 38 ff.; s. zu einer in der Rechtspraxis vorgenommenen Differenzierung zwischen „Zeugenbetreuung“, „Zeugenbegleitung“ und „psychosozialer Prozessbegleitung“ nur die Ergebnisse einer interdisziplinären Arbeitsgruppe in Rheinland-Pfalz aus dem Jahre 2011, S. 69 ff., abzurufen unter www. Mjv.rlp.de/ ministerium/Opferschutz/AG. BTDrucks. 16 12098 S. 38. HW § 406h, 3 und 4. Lorenzen FS 125-jähriges Bestehen der
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13 14 15 16 17
18
Staatsanwaltschaft Schleswig-Holstein S. 541, 550; Groß FS Hanack S. 9; Rieß FS Dahs 435; Wenske NStZ 2008 434, 437; Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Entwurf des 2. OpferRRG vom März 2009 (4/09) S. 4. BTDrucks. 16 12098 S. 38. HW Rn. 3, 8; SK/Velten 3; Meyer-Goßner 3. BTDrucks. 16 12098 S. 38. BTDrucks. 16 12098 S. 38; HW Rn. 3. Solches bevorzugen indes ungeachtet rechtspraktischer Realisierungsfragen Gelber/Walter NStZ 2013 74, 80. Rieß FS Dahs 435.
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Vierter Abschnitt. Sonstige Befugnisse des Verletzten
Nachtr. § 406h StPO
Wird die Unterrichtung, etwa mangels vorliegender Merkblätter oder wegen zurei- 4 chender Kenntnisse eines hinreichend handlungsmächtigen Verletzten19, ausnahmsweise mündlich vorgenommen, so ist dies aktenkundig zu machen. Eine entsprechende Pflicht kennt das Gesetz nicht und ist aus diesem auch im Wege der Auslegung nicht ableitbar; 20 sie folgt aber aus dem ungeschriebenen Grundsatz der Aktenwahrheit- und klarheit. Die Verfahrensakten haben als wesentliche Grundlage des behördlichen Handelns vollständig zu sein21 und dokumentieren nachvollziehbar für sämtliche auch in späteren Verfahrensabschnitten befasste Behörden und Gerichte, dass den Hinweispflichten entsprochen wurde.22 Das Gesetz regelt nunmehr auch, dass Verletzte in einer für sie verständlichen Sprache 5 zu informieren sind und entspricht damit Art 4 Abs. 1 Satz 1 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 15.3.2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren.23 Die rechtspraktische Umsetzung dieser mit Blick auf die unübersehbare Anzahl der in Frage kommenden Sprachen erheblichen Ausweitung der Hinweispflichten24 kann durch eine Übersetzung der Merkblätter in die im Zuständigkeitsbereich der jeweiligen Strafverfolgungsbehörde gängigen Sprachen erfolgen.25 Liegt im Einzelfall kein übersetztes Formblatt vor, ist der anwesende nicht sprachkundige Verletzte mittels eines anwesenden Dolmetschers mündlich zu unterrichten und dies aktenkundig zu machen (s. Rn. 4). Bei einer schriftlich erstatteten Strafanzeige genügt es, wenn der Verletzte im Rahmen seiner ersten Vernehmung auf seine Befugnisse hingewiesen wird. Eine Übersetzung des Merkblatts und dessen postalische Zusendung ist nicht erforderlich. 3. Hinweisinhalte (Satz 1 Hs. 2). Die Unterrichtungspflichten des § 406h Satz 1 sind 6 weitgehend identisch mit der früheren Rechtslage; die Vorschrift wurde übersichtlicher strukturiert und um einzelne Aspekte ergänzt. Anders als die frühere Gesetzesfassung ist die Aufzählung der Hinweisinhalte nun nicht mehr abschließend formuliert („insbesondere“). Angesichts der von der Norm vollständig erfassten Verletztenrechte ermöglicht diese Öffnungsklausel keine weiteren Hinweise auf Rechte des Verletzten, sondern lediglich auf rechtspraktische Schutzmöglichkeiten, namentlich die Unterbringung in einem Frauenhaus oder eine Auskunftssperre beim Einwohnermeldeamt.26 Auch ein Hinweis auf Zeugenschutzvorschriften im engeren Sinne, etwa §§ 58a, 68, 68a, 68b, 241, 247, 247a, wird von den Hinweispflichten nach § 406h Satz 1 nicht erfasst. Dies folgt zunächst aus dem Wortlaut und der systematischen Stellung der Vorschrift. Aber auch eine abschnittsübergreifende Betrachtung in Abgrenzung zum Regelungskreis des § 48 Abs. 2 bestätigt dieses Normverständnis. Danach ist die Zeugenladung unter Hinweis auf verfahrensrechtliche Bestimmungen vorzunehmen, die dem Interesse des Zeugen dienen. In Betracht kommen danach nur solche „Interessen“ des Zeugen, die ihren Ursprung gerade in der Zeugenstellung selbst finden, nicht aber in seiner – möglicherweise zugleich – bestehenden Verletzteneigenschaft.27 Folgende Hinweisinhalte sind nach neuer Rechtslage nunmehr zwingend: a) Nebenklageverfahren (Nr. 1). Der Verletzte ist nach der Neufassung über die 7 §§ 395, 396, 397a hinaus nunmehr auch auf § 80 Abs. 3 JGG hinzuweisen. Danach
19 20 21 22 23
SK/Velten 2. A.A. BeckOK/Weiner 2. BVerfG NJW 1983 2135. Hierzu Nr. 174a RiStBV. 2001/220/JI, ABl EG L 82/1.
24 25 26 27
Weigend FS Schöch 953. BTDrucks. 16 12098 S. 38 f.; KMR/Stöckel 2. BTDrucks. 16 12098 S. 39. Wenske DRiZ 2005 293, 295.
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§ 406h StPO Nachtr.
Fünftes Buch. Beteiligung des Verletzten am Verfahren
kann sich der erhobenen öffentlichen Klage anschließen, wer durch ein Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung oder nach § 239 Abs. 3, § 239a oder § 239b StGB, durch welches das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder einer solchen Gefahr ausgesetzt worden ist, oder durch ein Verbrechen nach §§ 251, 252 oder § 255 StGB verletzt worden ist. Einer näheren Erläuterung der Tatbestandsmerkmale einer seelischen oder körperlichen schweren Schädigung oder der Gefahr einer solchen bedarf es zur Erfüllung der gesetzlichen Hinweispflichten – namentlich in Merkblättern – nicht, da solche nicht nur unerheblichen Beeinträchtigungen mit den in Rede stehenden Taten regelmäßig einhergehen dürften.28
8
b) Adhäsionsverfahren (Nr. 2). Auf das Adhäsionsverfahren und dessen gesetzliche Regelungen ist auch weiterhin hinzuweisen. Die Neufassung wude um die Unterrichtungspflicht nach § 81 JGG erweitert, wonach die Vorschriften über die Entschädigung des Verletzten in Verfahren gegen Jugendliche keine Anwendung finden. Der Verletzte ist auch weiterhin – etwa durch Vordrucke – dahin zu unterrichten, dass er „nach Maßgabe der §§ 403 bis 406c“ entsprechende Ansprüche geltend machen kann. Der Hinweis hat zum Inhalt, dass ein Strafverfahren gegen den Beschuldigten anhängig ist und dass die Möglichkeit besteht, den Entschädigungsanspruch in diesem Verfahren geltend zu machen;29 dabei sind auch weiterhin Informationen darüber aufzunehmen, in welcher Weise, bei welcher zuständigen Stelle und in welcher Form der Anspruch im laufenden Strafverfahren gegen den Beschuldigten geltend gemacht werden kann. Dies ergibt sich nach Neufassung der Vorschrift zwar nicht mehr unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut. Aus diesem hatte Hilger mit Recht abgeleitet, dass nicht ein allgemeiner Hinweis auf §§ 403 ff. genügt, sondern dieser vielmehr einzelfallbezogene Details enthalten sollte.30 Die dem zugrunde liegende Formulierung „dass und in welcher Weise“ der Verletzte einen aus der Straftat erwachsenen vermögensrechtlichen Anspruch nach den Vorgaben des Dritten Abschnitts geltend machen kann, ist weggefallen und einzig der Hinweis auf die Vorgaben des Dritten Abschnitts in der neugefassten Fassung beibehalten worden. Aus Art. 9 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 15.3.2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren31 ergibt sich eine Pflicht der Strafverfolgungsbehörden, die zur angemessenen Entschädigung im Strafverfahren erforderlichen Maßnahmen zu treffen.32 Ob auch detaillierte – und naheliegend verwirrende – Informationen zur Möglichkeit eines Grundurteils oder zur vorläufigen Bewertung der Schadenshöhe33 mit Blick auf eine rahmenbeschlusskonforme Auslegung veranlasst sind, erscheint hingegen zweifelhaft. Noch weitergehende Unterrichtungspflichten obliegen nach Nr. 173 RiStBV der Staatsanwaltschaft. Hiernach ist der Verletzte ferner namentlich auf Form und Inhalt des Antrags, die Möglichkeit von Prozesskostenhilfe und das Verhältnis von Adhäsions- und Zivilverfahren hinzuweisen.34
9
c) Opferentschädigungsgesetz (Nr. 3). Der Verletzte ist auf mögliche Entschädigungsansprüche gegen den Staat nach dem OEG hinzuweisen. Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), u.a. auch Beschädigtenrente nach § 31 Abs 1 BVG, wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deut-
28 29 30 31
Eisenberg § 80, 18. Meyer-Goßner 11; BeckOK/Weiner 5. HW Rn. 3. 2001/220/JI, ABl EG L 82/1.
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Im Ergebnis ebenso Meyer-Goßner 11. HW Rn. 3. SK/Velten 8.
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Vierter Abschnitt. Sonstige Befugnisse des Verletzten
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schen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat (§ 1 Abs. 1 OEG). Nach § 1 Abs. 8 OEG steht auch den Erben ein solcher Anspruch grundsätzlich zu. Angesichts der besonders restriktiven Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu 10 den Tatbestandsvoraussetzungen des Versorgungsanspruchs35 und die – namentlich bei ausländischen Verletzten – differenzierten Zuständigkeitsregelungen nach dem OEG (§ 6 OEG) sollten die Hinweise auf diese Entschädigungsmöglichkeit knapp unter Angabe der Normen und ggf. eines Ansprechpartners bei der zuständigen Landessozialverwaltung ausgestaltet werden. Anderenfalls könnten sowohl unberechtigte Erwartungen geweckt und enttäuscht werden, als auch die Vordrucke an Übersichtlichkeit und Informationsgehalt verlieren sowie die Strafverfolgungsbehörden mit einer Einzelfallprüfung überfordert werden. Eine andere Lesart erzwingen hier auch die Maßgaben des Rahmenbeschlusses des Rates vom 15.3.2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren36 nicht. Diese haben ausschließlich eine Entschädigung durch den Täter, nicht aber durch die Sozialgemeinschaft im Blick. Die hier vorgeschlagene reduzierte Hinweisfassung trägt schließlich auch Art. 11 des Europäischen Übereinkommens vom 24.11.1983 über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten zureichend Rechnung,37 das den eigenverantwortlichen Schritt zur Realisierung eines Versorgungsanspruchs gegen die Sozialgemeinschaft dem Verletzten nicht abnimmt. d) Gewaltschutzgesetz (Nr. 4). Verletzte sind nunmehr ferner darauf hinzuweisen, 11 dass sie zum Schutz vor weiteren Beeinträchtigungen durch den Beschuldigten gegen diesen den Erlass einstweiliger Anordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz38 beantragen können. Mit Blick auf Art. 4 Abs. 1 lit. e des Rahmenbeschlusses des Rates vom 15.3.2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren39 sollten die Hinweise die nach § 1 GewSchG möglichen Maßnahmen – Betretungs-, Näherungs-, Aufenthalts- und Kontaktverbot sowie Abstandsgebot – benennen. Weiter erscheint es sinnvoll, die sachliche Zuständigkeit des Amtsgerichts hervorzuheben, um den Verletzten in die Lage zu versetzen, sich selbständig um zivilgerichtlichen Schutz zu bemühen. e) Opferhilfeeinrichtungen (Nr. 5). Der Verletzte ist auch weiterhin auf die Möglich- 12 keit hinzuweisen, Hilfe und Unterstützung durch Opferschutzverbände, Frauenhäuser oder Gewaltschutzstellen zu erhalten. Die frühere Gesetzesfassung ergänzend werden zwei Unterstützungsangebote beispielhaft aufgeführt, damit sich der Verletzte von den durch die Opferschutzverbände angebotenen Hilfsmöglichkeiten „ein besseres Bild machen“ kann.40 Durch die abstrakte gesetzliche Benennung von Opferhilfeeinrichtungen und der psychosozialen Prozessbegegleitung wird ihm lediglich die Art möglicher Unterstützung konkretisiert. Wobei die beispielhafte Nennung gerade der psychosozialen Prozessbegleitung überrascht: Eine einhellig geteilte Begriffs- und Aufgabenbestimmung liegt derzeit ebenso wenig vor wie empirisch belastbares Material hierüber.41 Auch der
35 36 37
Vgl. nur BSG v. 7.4.2011 – B 9 VG 2/10 R, BeckRs 2011, 73003 (Stalking). 2001/220/JI, ABl EG L 82/1. ZustimmungsG v. 17.7.1996, BGBl. II 1120; Bekanntmachung vom 24.2.1997 über das Inkrafttreten des Übereinkommens in Deutschland am 1.3.1997, BGBl. II 740.
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BGBl. 2001 I S. 3513. 2001/220/JI, ABl EG L 82/1. BTDrucks. 16 12098 S. 39. Weigend FS Schöch 953.
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§ 406h StPO Nachtr.
Fünftes Buch. Beteiligung des Verletzten am Verfahren
Strafprozessordnung selbst oder der Gesetzesbegründung kann eine Begriffsbestimmung nicht entnommen werden. Naheliegend gemeint ist wohl eine emotionale wie sachliche Vorbereitung des Verletzten auf die mit den unterschiedlichen Verfahrensstadien verbundenen Verletztenrechte und und Zeugenpflichten. Anders als die allein das gerichtliche Hauptverfahren betreffende Zeugenbetreuung setzen die mit der psychosozialen Prozessbegleitung verbundenen Aufgaben, etwa das Angebot psychologischer Unterstützung oder die Unterrichtung über unvermeidbare Belastungen und die im Einzelfall mit dem Verfahren verbundenen Unnehmlichkeiten, bereits im Ermittlungsverfahren an. Staatliche Stellen, die dieses Aufgabenfeld abgedecken, gibt es – soweit ersichtlich – gegenwärtig nicht. Der Gesetzeswortlaut gebietet keine namentliche Nennung konkret vor Ort tätiger 13 Opferhilfeeinrichtungen und beugt dem ansonsten leicht geweckten Anschein einer Marktmacht einzelner Vereine vor. Verfügt ein Verletzter im Einzelfall erkennbar nicht über die notwendige Handlungsmacht, um sich mittels Telefonbuch, Auskunft oder Internet selbst sachkundig zu machen, kann der allgemein gehaltene Hinweis im Einzelfall mündlich – freilich unter Angabe von Alternativen – ergänzt werden. Das Gebot, Hinweise noch konkreter abzufassen, lässt sich auch aus den Vorgaben von auf Art. 4 Abs. 1 lit. f des Rahmenbeschlusses des Rates vom 15.3.2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren nicht herleiten.42 Dies gilt gleichermaßen, sofern von den privatrechtlich organisierten Opferschutz14 einrichtungen im Einzelfall Möglichkeiten psychosozialer Prozessbegleitung vorgehalten werden. Letzteres gilt namentlich auch mit Blick auf die mit einer intensiven Zeugenbetreuung verbundenen Gefahren für die Wahrheitsermittlung im Erkenntnisverfahren.43 Der Gesetzgeber anerkennt diese und verlangt von den Strafverfolgungsbehörden sicherzustellen, dass „eine bewusste oder unbewusste Beinflussung des Inhalts der Aussage der Verletzten unterbleibt“.44 Der hiermit geforderten Kontrolle, ob die Zeugenbetreuung durch „besonders geschulte Mitarbeiter der Opferschutzverbände“ erfolgt, die mit den üblichen Abläufen solcher Verhandlungen und den Möglichkeiten, sie für Verletzte möglichst schonend auszugestalten, vertraut sind,45 können die Strafverfolgungsbehörden nicht ohne erheblichen, auch finanziellen, Aufwand gerecht werden. 15 Ist entsprechend vielfacher – guter – Gerichtspraxis46 hingegen im Bereich des für das Erkenntnisverfahren örtlich zuständigen Gerichts eine organisatorisch in die Justizverwaltung eingegliederte Zeugenbetreuungsstelle eingerichtet, liegt ein entsprechender Hinweis unter Angabe von Adresse und Erreichbarkeit dieser staatlichen Einrichtung nahe. Hier können die mit der Strafverfolgung betrauten Organe durch Auswahl, Schulung und persönliche Kontakte Sachkunde aufbauen, die Notwendigkeit bestimmter Zwänge und Unannehmlichkeiten für den Zeugen durch diese vermitteln und sich der fortdauenden Sachkunde der Mitarbeiter durch die organisatorische Einbindung und den hierdurch erleichterten engen Austausch zwischen Richtern, Staatsanwälten und Zeugenbetreuungsdienststelle vergewissern. Solange keine staatliche Prüfung oder Zulassung für eine Zeugenbetreuung organisiert ist, sollte es aus diesen Gründen bei der Benennung einer eingerichteten justiziellen Zeugenbetreuung im Rahmen des Satz 1 Hs. 2 Nr. 5 bleiben.
16
4. Entbehrlichkeit des Hinweises (Satz 2 und 3). In den Sätzen 2 und 3 hat der Gesetzgeber nunmehr Befreiungstatbestände formuliert. Liegen die Voraussetzungen einer 42 43 44
2001/220/JI, ABl EG L 82/1. Dahs NStZ 2011 200 ff.; Blum S. 142 ff. BTDrucks. 16 12098 S. 39.
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45 46
BTDrucks. 16 12098 S. 38. Blum S. 9 ff.; Kaczynski NStZ 2000, 451.
Marc Wenske
Vierter Abschnitt. Sonstige Befugnisse des Verletzten
Nachtr. § 406h StPO
„bestimmten“ Befugnis nicht vor, kann der „betreffende“ Hinweis unterbleiben (Satz 2). Nur in seltenen Fällen dürften tatsächlich sämtliche der umfassend von § 406h Satz 1 benannten Opferrechte oder der – über die Öffnungsklausel Eingang findenden – rechtspraktischen Schutzmöglichkeiten nicht gegeben sein. Da dies im Einzelfall schwierig zu übersehen sein kann,47 sollte im Zweifel zweckmäßiger Weise ein Merkblatt übergeben und der Verletzte damit in die Lage versetzt werden, näheres selbst zu prüfen. Die vom Gesetzeswortlaut nahegelegte Einzelfallprüfung und individuelle Zusammenstellung von Hinweisen ist weder geboten, noch rechtspraktisch durchführbar. Gegenüber Verletzten, die keine zustellungsfähige Anschrift angegeben haben, besteht 17 auch nach der Neufassung keine Hinweispflicht;48 insoweit besteht für die Strafverfolgungsbehörden daher auch keine Sachaufklärungspflicht. Hier sieht der Gesetzgeber einen dogmatischen Anküpfungspunkt für eine Beschränkung der Hinweispflichten aus Satz 1 in Massenverfahren, etwa mittels Internet begangener Betrugstaten.49 Selbst wenn aber die Verletzten und ihre Anschriften bekannt sind, kann sich ein Absehen von Hinweisen – auch im Ermittlungsverfahren50 – aufdrängen. Die Hinweispflichten nach Satz 1 bestehten in diesen Fällen der Wirtschaftskriminalität ohnehin nur eingeschränkt, namentlich scheidet eine Nebenklagebefugnis nach § 395 Abs. 3 in aller Regel aus; 51 auch der Unterstützung von Opferhilfeeinrichtungen bedürfen die wirtschaftlich Geschädigten nicht in gleichem Maße, wie Verletzte von Aggressionsdelikten. Soweit damit regelmäßig nur noch die gesetzliche Pflicht zum Hinweis auf die Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen in Rede steht (Satz 1 Hs. 2 Nr. 2), ist die Durchführung des Adhäsionsverfahrens in aller Regel ungeeignet, wenn schon der mit einem Grundurteil zu erwartende zeitliche und organisatorische zur Sachaufklärung notwendigen Aufwand, etwa die erforderliche Anzahl zu vernehmender geschädigter Zeugen, erheblich überschreitet und damit vorrangigeren Ziele des Strafverfahrens und dem Gebot zügiger Verfahrensführung zuwiderläuft (§ 406 Abs. 3 Satz 4 und 5).52 5. Angehörige und Erben. Der neugefasste Satz 4 erweitert die Hinweispflichten nach 18 Satz 1 auch auf Angehörige und Erben des durch die rechtswidrige Tat Verletzten. Der Gesetzgeber anerkennt insoweit eine gleiche Schutzbedürftigkeit wie bei den Verletzten selbst. Von Bedeutung sind namentlich die Nebenklagebefugnis für Angehörige nach § 395 Abs 2 Nr 2 StPO und die Durchführung eines Adhäsionsverfahrens nach §§ 403 ff. für Erben sowie Versorgungsansprüche nach § 1 Abs 8 OEG.53 6. Rechtsmittel und Rechtsbehelfe. Ein Verstoß gegen die neugefassten Hinweis- 19 pflichten stellt weder einen revisiblen Rechtsfehler noch einen Grund für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dar.54
47 48 49 50 51
BeckOK/Weiner 2. HW Rn. 5. BTDrs 16 12098 S. 39 f. BGH wistra 2010 272. Nachtr. § 395 14.
52
53 54
BGH wistra 2010 272; vgl. ferner die Konstelletation in BGH JR 2009 471, 472; vgl. aber auch HW 3 aE; SK/Velten 12. BTDrucks. 16 12098 S. 40. HW Rn. 6.
Marc Wenske
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SECHSTES BUCH Besondere Arten des Verfahrens ERSTER ABSCHNITT Verfahren bei Strafbefehlen § 407 (1) … (2) 1Durch Strafbefehl dürfen nur die folgenden Rechtsfolgen der Tat, allein oder nebeneinander, festgesetzt werden: 1. … 2. … 2a. Verbot des Haltens oder Betreuens von sowie des Handels oder des sonstigen berufsmäßigen Umgangs mit Tieren jeder oder einer bestimmten Art für die Dauer von einem Jahr bis zu drei Jahren sowie 3. … 2… (3) …
Änderung. Nr. 2a wurde aufgrund der Richtlinie 2010/63/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2010 zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere (ABl. L 276 vom 20.10.2010, S. 33) durch Art. 3 des 3. Gesetzes zur Änderung des TierSchG (BGBl. I S. 2182) eingefügt.
I. Materiellrechtliche Grundlage 1
In Strafverfahren können nur solche Rechtsfolgen festgesetzt werden, die das materielle Recht ausdrücklich nach Art, Inhalt und Umfang gesetzlich unter den jeweiligen Voraussetzungen vorsieht: Wer vielfach beliebige andere Menschen verprügelt oder anpöbelt, wer seine Einbruchsdiebstähle nicht im Zusammenhang mit dem Führen eines Kfz und auch sonst ohne Verletzung seiner Pflichten eines Kfz-Führers begeht, dem kann mangels der Voraussetzungen des § 69 StGB die Fahrerlaubnis selbst dann nicht entzogen werden, wenn die Festsetzung dieser Maßregel künftiges rechtstreues Verhalten erwarten lassen würde. Das gilt auch im Strafbefehlsverfahren: § 407 ist insoweit streng akzessorisch zu den materiellrechtlichen Vorschriften der strafrechtlichen Rechtsfolgen: § 407 bietet keine selbständige Grundlage für die Festsetzung von strafrechtlichen Sanktionen.
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Karl Heinz Gössel
Erster Abschnitt. Verfahren bei Strafbefehlen
Nachtr. § 407 StPO
II. Umfang der Rechtsfolge § 20 TierSchG kommt als einzige materiellrechtliche Grundlage der in Abs. 2 Nr. 2a 2 genannten Rechtsfolge in Betracht; Zuwiderhandlungen gegen verwaltungsrechtliche Verbote (vgl. z.B. § 16a TierSchG; TierSchHundeV; TierSchNutzTV1; landesrechtliche Vorschriften1) sehen keine strafrechtlichen Sanktionen vor. Der bisherige Rechtsfolgenkatalog des § 20 TierSchG ist um ein Betreuungsverbot erweitert (Rn. 4) worden, die Festsetzung der dort vorgesehenen Rechtsfolgen, auch durch Strafbefehl, ist allerdings durch die Anlasstat inhaltlich beschränkt (Rn. 3). 1. Anlasstat. Die in Abs. 2 Nr. 2a benannte Rechtsfolge kann nur zum Schutze von 3 Wirbeltieren vor den in § 17 TierSchG genannten strafbaren Handlungen (Tötung ohne vernünftigen Grund; Zufügung von erheblichen Schmerzen oder Leiden aus Rohheit oder von länger anhaltenden oder sich wiederholenden erheblichen Schmerzen oder Leiden), nicht aber z.B. zum Schutze von Menschen vor menschlichen Haltern etc., welche Tiere, etwa Kampfhunde, ohne rechtfertigenden Grund dazu bringen, Menschen anzugreifen und zu verletzen oder welche es unterlassen, andere Menschen vor solchen Angriffen zu schützen. 2. Gegenständliche Erweiterung. Mit Art. 1 Nr. 36 des 3. Gesetz zur Änderung des 4 TierSchG wurde zugleich auch § 20 TierSchG geändert: Neben den schon nach der bisherigen Fassung möglichen Halter-, Handels- und Umgangsverboten kann nunmehr auch die Rechtsfolge eines Betreuungsverbotes wegen einer Straftat nach § 17 TierSchG angeordnet2 werden, die indessen schon bisher dann festgesetzt werden konnte, wenn die Betreuung einen „sonstigen berufsmäßigen Umgang mit Tieren“ darstellt.
III. Natur der Rechtsfolge Die in § 20 TierSchG vorgesehene Rechtsfolge entspricht dem Berufsverbot in § 70 5 StGB, das zusätzlich verhängt werden kann3, wenn die Voraussetzungen des § 70 StGB vorliegen: Sie kann auch bei einer schuldlos verwirklichten Anlasstat des § 17 TierSchG festgesetzt werden und dient der Sicherung von Wirbeltieren vor weiteren Taten nach § 17 TierSchG und insoweit auch zur Besserung der jeweiligen Täter. Damit ist diese Rechtsfolge ihrer Natur nach als eine Maßregel der Besserung und Sicherung anzusehen.
IV. Gesetzesfassung Formal hätte es nahegelegen, die Vorschrift des § 407 Abs. 2 redaktionell so zu 6 fassen, dass sie mit den Vorschriften des materiellen Rechts über die Reihenfolge der Rechtsfolgen von Straftaten harmonisiert (§§ 38 ff. StGB). Demnach hätte es sich angeboten, die bisherige Nr. 3 (Absehen von Strafe) als Nr. 1 vorzusehen, Nr. 2 zu belassen
1 2
3
Vgl. z.B. Art. 37, 37a BayLStVG. BTDrucks. 17 10572 v. 29.8.2012 S. 18; s. auch BTDrucks. 17 11811 v. 11.12.2012 S. 8. Vgl. z.B. Hirz/Maisack/Moritz Tierschutz-
gesetz, 2. Aufl. 2007, § 20, 2; Lorz/Metzger Tierschutzgesetz 6. Aufl. 2008, § 20, 3; a.A. Kluge/Ort/Reckewell Tierschutzgesetz, 2002, § 20, 1: § 20 TierSchG ist Spezialgesetz zu § 70 StGB.
Karl Heinz Gössel
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§ 407 StPO Nachtr.
Sechstes Buch. Besondere Arten des Verfahrens
und die Maßregel der Nr. 2a als Nr. 4 zuletzt zu nennen, womit auch die störende a-Bezeichnung entfallen wäre, wodurch ein mögliches Missverständnis der in Abs. 2 Nr. 2a benannten Rechtsfolge als Unterart einer anderen Maßregel ausgeschlossen worden und das Verbot der Tierhaltung etc. als eine selbständige Rechtsfolge deutlich erkennbar geblieben wäre.
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Karl Heinz Gössel
DRITTER ABSCHNITT Verfahren bei Einziehungen und Vermögensbeschlagnahmen § 443 (1) 1Das im Geltungsbereich dieses Gesetzes befindliche Vermögen oder einzelne Vermögensgegenstände eines Beschuldigten, gegen den wegen einer Straftat nach 1. den §§ 81 bis 83 Abs. 1, 89a, den §§ 94 oder 96 Abs. 1, den §§ 97a oder 100, den §§ 129 oder 129a, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, des Strafgesetzbuches, 2. … 3. §§ 51, 52 Abs. 1 Nr. 1, 2 Buchstabe c und d, Abs. 5, 6 des Waffengesetzes, den §§ 17 und 18 des Außenwirtschaftsgesetzes, wenn die Tat vorsätzlich begangen wird, oder nach § 19 Abs. 1 bis 3, § 20 Abs. 1 oder 2, jeweils auch in Verbindung mit § 21, oder § 22a Abs. 1 bis 3 des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen oder 4. … (2) … (3) …
Änderung durch das GewVVG. Durch Art. 3 Nr. 6 des Gesetzes zur Verfolgung der 1 Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten vom 30.7.2009 (BGBl. I S. 2437, 2439) ist in § 443 Abs. 1 Nr. 1 § 89a StGB eingefügt worden. Diese Ergänzung gilt seit dem 4. August 2009. Die Aufnahme des neu geschaffenen und in seiner Verfassungsmäßigkeit umstrittenen 2 § 89a StGB (Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) in den Katalog der Vermögensbeschlagnahme soll diese Beschlagnahme auch dann ermöglichen, wenn der Beschuldigte weder in eine Organisation nach den §§ 129a, 129b Abs. 1 StGB eingebunden ist, noch eine solche unterstützt.1 Auch in dieser Konstellation soll der Beschuldigte sein Vermögen nicht selbst oder über andere zur Vorbereitung weiterer einschlägiger Straftaten verwenden können. Im Vergleich mit dem bisherigen Katalog ist die Aufnahme der Norm zwar nicht systemwidrig. Mit der Einfügung werden indes zwei schon für sich genommen verfassungsrechtlich problematische Vorschriften kombiniert. Eine absehbare praktische Bedeutung der Erweiterung ist aber wegen der offenbar in der Praxis geteilten gravierenden Legitimitätszweifel zu § 443 (dazu schon LR/Gössel Rn. 2 zu § 443) nach wie vor nicht zu erwarten.2 Änderung durch das AWRModF. Der Art. 2 Abs. 9 Nr. 2 des Gesetzes zur Moderni- 3 sierung des Außenwirtschaftsrechts vom 6. Juni 2013 (BGBl. I S. 1482, 1494) hat die
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BTDrucks. 16 12428 S. 20. Siehe m.w.N. SK/Weßlau 3 ff.; LR/Gössel 2; Meyer-Goßner 1a; nun auch Radtke/Hoh-
mann/Kiethe 1; a.A. KMR/Metzger 6, der jedoch ebenfalls für eine enge verfassungskonforme Auslegung eintritt.
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Norm mit Wirkung zum 1. September 2013 an die mit ihm erfolgte Umgestaltung des AWG angepasst. § 443 Abs. 1 Nr. 3 verweist heute auf die nunmehr in den § 17 und 18 geregelten Straftaten nach den AWG, soweit diese vorsätzlich begangen werden. Der Anwendungsbereich der Vermögensbeschlagnahme wurde dadurch zum Teil ausgeweitet.3
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Siehe näher BTDrucks. 17 11127 S. 25 f. und BTDrucks. 17 12101 S. 6 f.
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Karsten Gaede
SIEBENTES BUCH Strafvollstreckung und Kosten des Verfahrens ERSTER ABSCHNITT Strafvollstreckung § 453 (1) 1… 2… 3§ 246a Absatz 2 und § 454 Absatz 2 Satz 4 gelten entsprechend. 4… 5… (2) …
Änderung. Durch Art. 1 Nr. 12 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) vom 26.6.2013 (BGBl. I S. 1805) wurde in Absatz 1 nach Satz 2 ein neuer Satz 3 eingefügt, wonach § 246a Abs. 2 und § 454 Abs. 2 Satz 4 entsprechend gelten. Die bisherigen Sätze 3 und 4 werden Sätze 4 und 5.
Übersicht Rn. Änderung durch Art. 1 Nr. 12 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs 1. Zweck der Regelung . . . . . . . . . . . 2. Voraussetzungen für die Einholung eines Sachverständigengutachtens (Absatz 1 Satz 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anklage wegen einer in § 181b StGB genannten Straftat zum Nachteil eines Minderjährigen . . . . . . . . . . . .
1
2
Rn. b) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . c) Zeitpunkt für die Beauftragung des Sachverständigen . . . . . . . . . d) Anhörung des Sachverständigen (Absatz 1 Satz 3 i.V.m. § 454 Abs. 2 Satz 4) . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfahrensmängel . . . . . . . . . . .
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3
Änderung durch Art. 1 Nr. 12 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs 1. Zweck der Regelung. Der Referentenentwurf des BMJ und auch der Gesetzent- 1 wurf der Bundesregierung1 sahen keine Änderung des § 453 vor. Erst auf die Beschlussempfehlung des BTRAussch. wurde § 246a und in dessen Folge für das Verfahren über nachträgliche Entscheidungen über die Strafaussetzung zur Bewährung oder Verwarnung mit Strafvorbehalt § 453 Abs. 1 geändert. Nach dem neuen § 246a Abs. 2 soll ein Sachverständiger über den Zustand des Angeklagten und dessen Behandlungsaussichten ver-
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nommen werden, soweit dies erforderlich ist, um festzustellen, ob der Angeklagte einer solchen Betreuung und Behandlung bedarf, wenn Anklage wegen einer in § 181b StGB genannten Straftat – also wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 180, 181a und 182 StGB – zum Nachteil eines Minderjährigen erhoben worden ist und die Erteilung einer Therapieweisung in Betracht kommt. Durch den Verweis in Absatz 1 Satz 3 auf § 246a Abs. 2 findet diese Regelung auch in Verfahren bei nachträglichen Entscheidungen über die Strafaussetzung zur Bewährung oder Verwarnung mit Strafvorbehalt entsprechende Anwendung.2
2
2. Voraussetzungen für die Einholung eines Sachverständigengutachtens (Absatz 1 Satz 3). Die Regelung des Absatzes 1 Satz 3 soll sicherstellen, dass die Soll-Vorschrift des § 246a Abs. 2 auch für die Begutachtung von Verurteilten gilt, die wegen einer in § 181b StGB genannten Straftat zum Nachteil eines Minderjährigen verurteilt wurden und für die eine nachträgliche Therapieweisung im Rahmen einer laufenden Bewährung (Absatz 1 Satz 1) oder im Hinblick auf eine bestehende, insbesondere kraft Gesetzes angeordnete Führungsaufsicht (§ 463 Abs. 2 i.V.m. § 453 Abs. 1) in Betracht kommt. Der Anwendungsbereich des Absatzes 1 Satz 3 ist damit erst dann eröffnet, wenn die zunächst durch den Beschluss nach § 268a getroffenen Entscheidungen wegen nachträglich eingetretener Umstände zu ändern sind oder über den Widerruf der Strafaussetzung (§ 56f Abs. 1 und 2 StGB), den Straferlass oder dessen Widerruf (§ 56g StGB) zu entscheiden ist oder wenn bei einer Verwarnung mit Strafvorbehalt die Änderung von Weisungen (§ 59a Abs. 2 StGB) zu entscheiden ist. Hauptanwendungsfälle werden die nachträgliche Erteilung einer Therapieweisung nach § 56c StGB in Fällen der Strafaussetzung zur Bewährung (Absatz 1), der Strafrestaussetzung (§ 454 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 453 Abs. 1 Satz 3) sowie im Rahmen der Führungsaufsicht (§ 463 Abs. 2 i.V.m. § 453 Abs. 1 Satz 3) sein. Die Neuregelung in Absatz 1 Satz 3 führt für das Gericht eine Pflicht zur Einholung eines Sachverständigengutachtens vor einer nachträglichen Therapieweisung in allen Fällen ein, in denen der Verurteilte wegen einer in § 181b StGB genannten Straftat zum Nachteil eines Minderjährigen verurteilt worden ist. Dabei stehen spezialpräventive Erwägungen im Vordergrund, denn mit Hilfe des Sachverständigen soll das Gericht klären, ob der Verurteilte einer Betreuung und Behandlung im Rahmen einer Therapieweisung während der Bewährungszeit bedarf.3
3
a) Anklage wegen einer in § 181b StGB genannten Straftat zum Nachteil eines Minderjährigen. Während § 246a Abs. 2 auf eine Anklageerhebung wegen einer in § 181b StGB genannten Straftat zum Nachteil eines Minderjährigen als Voraussetzung für die Vernehmung eines Sachverständigen abstellt, stellt sich in Fällen von Absatz Satz 3 die Frage, ob in dem Verfahren, in dem die Strafaussetzung zur Bewährung gewährt worden ist, Voraussetzung eine Verurteilung wegen einer in § 181b StGB genannten Straftat ist oder ob eine entsprechende Anwendung von § 246a Abs. 2 auch solche Fälle erfasst, in denen keine Verurteilung wegen einer Anlasstat nach § 181b StGB vorliegt, gegen den Verurteilten aber während des Laufs der Bewährungszeit in einem neuen Verfahren Anklage wegen einer in § 181b StGB genannten Straftat erhoben worden ist. Der Wortlaut von Absatz 1 Satz 3 steht einer solchen Auslegung nicht entgegen. Allerdings kann der Beschlussempfehlung des BTRAussch. nichts dafür entnommen werden, dass der Gesetzgeber diese Fallkonstellation im Blick hatte.4 Der Normzweck hingegen legt es
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BTDrucks. 17 6261 S. 22. BTDrucks. 17 12735 S. 21.
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BTDrucks. 17 12735 S. 22.
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Erster Abschnitt. Strafvollstreckung
Nachtr. § 453 StPO
nahe, die Soll-Regelung des § 246a Abs. 2 auch auf diese Fallkonstellationen zu erstrecken. Dessen ungeachtet hat das die Bewährungsaufsicht führende Gericht aber ohnehin aufgrund der ihm obliegenden umfassenden Pflicht zur Aufklärung5 bei der eventuell zu treffenden nachträglichen Entscheidung, ob die Einholung eines Sachverständigengutachtens geboten ist, weil ggf. eine Therapieweisung in Betracht kommt, von Amts wegen alle erforderlichen Umstände stets zu prüfen. b) Erforderlichkeit. Der Einholung eines Sachverständigengutachtens bedarf es bei 4 Vorliegen einer (neuen) Anlasstat nur dann, soweit dies erforderlich ist, um festzustellen, ob der Verurteilte einer psychiatrischen, psycho- oder sozialtherapeutischen Betreuung und Behandlung (Therapieweisung) bedarf. Der Sachverständige soll dem Gericht Rat und Hilfe geben, ob eine solche Weisung überhaupt angezeigt ist und wie sie ggf. ausgestaltet sein sollte, um eine bestmögliche Betreuung und Behandlung für den Verurteilten zu gewährleisten. c) Zeitpunkt für die Beauftragung des Sachverständigen. Einen bestimmten Zeit- 5 punkt für die Beauftragung des Sachverständigen schreibt das Gesetz nicht vor. Nach dem Sinn und Zweck von § 246a Abs. 2 StGB und mit Blick auf die ihm obliegende Aufklärungspflicht ist das Gericht gehalten, einen Sachverständigen zu beauftragen, sobald Anlass für die Prüfung besteht, ob dem Verurteilten eine nachträgliche Therapieweisung erteilt werden soll. Ein solcher Anlass muss sich aufgrund bestimmter Tatsachen ergeben (z.B. Bericht des Bewährungshelfers, eigene Angaben des Verurteilten, neues (einschlägiges) Ermittlungsverfahren). d) Anhörung des Sachverständigen (Absatz 1 Satz 3 i.V.m. § 454 Abs. 2 Satz 4). Der 6 Sachverständige ist grundsätzlich bei nachträglichen Entscheidungen über die Strafaussetzung zur Bewährung oder Verwarnung mit Strafvorbehalt mündlich zu hören. Eine schriftliche Gutachtenerstattung reicht nicht aus. Vielmehr ist das Gericht verpflichtet, ihn – ebenso wie die Staatsanwaltschaft und den Verurteilten (Absatz 1 Satz 2) – mündlich zu hören (Absatz 1 Satz 3 i.V.m. § 454 Abs. 2 Satz 4). Nur wenn der Verurteilte, sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft auf eine mündliche Anhörung des Sachverständigen verzichten,6 darf das Gericht ausnahmsweise davon absehen. Es ist dazu aber nicht verpflichtet. Sofern es die Anhörung des Sachverständigen trotz eines wirksamen Verzichts im Rahmen der Aufklärungspflicht für geboten hält, hört es ihn mündlich an, wobei dann auch dem Verurteilten, dessen Verteidiger und der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur Teilnahme zu geben ist. 3. Verfahrensmängel im Zusammenhang mit der Beauftragung und Anhörung des 7 Sachverständigen nach Absatz 1 Satz 3 i.V.m. § 246a Abs. 2, § 454 Abs. 2 Satz 4 können auf eine (sofortige) Beschwerde des Verurteilten oder der Staatsanwaltschaft (Absatz 2) zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses sowie zur Zurückverweisung führen. Ein solcher Verfahrensmangel kann dann vorliegen, wenn das Gericht zu Unrecht eine Anlasstat angenommen hat oder von der Einschaltung eines Sachverständigen nach Absatz 1 Satz 3 i.V.m. § 246a Abs. 2 abgesehen hat, obwohl es dazu verpflichtet gewesen wäre. Ebenso stellt eine unterlassene mündliche Anhörung des Sachverständigen ohne
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HW 11. BTDrucks. 17 12735 S. 22; vgl. HW § 454,
62 f. zur Wirksamkeit von Verzichtserklärungen.
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wirksame Verzichtserklärung des Verurteilten, seines Verteidigers und der Staatsanwaltschaft stets einen Verfahrensmangel dar, der das Beschwerdegericht zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung nötigt.
§ 454 (1) … (2) … (3) … (4) 1Im Übrigen sind § 246a Absatz 2, § 268a Absatz 3, die §§ 268d, 453, 453a Absatz 1 und 3 sowie die § 453b und § 453c entsprechend anzuwenden. …
Änderung. Durch Art. 2 Nr. 5 des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22.12.2010 (BGBl. I S. 2300) wurde Absatz 4 Satz 1 ergänzt. Durch Art. 1 Nr. 13 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) vom 26.6.2013 (BGBl. I S. 1805) wurde in Absatz 4 Satz 1 nach dem Wort „sind“ die Angabe „246a Absatz 2,“ eingefügt.
Übersicht Rn. I. Änderung durch Art. 2 Nr. 5 des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen 1. Zweck der Regelung . . . . . . . . . 2. Anwendungsbereich . . . . . . . . . 3. Belehrung entsprechend § 268d . . . a) Belehrungspflicht . . . . . . . . . b) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . c) Form . . . . . . . . . . . . . . . d) Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . 4. Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . 5. Belehrungsmängel a) Unterbliebene Belehrung . . . . . b) Unvollständige Belehrung . . . . . c) Sprachunkundige Verurteilte . . .
Rn. II. Änderung durch Art. 1 Nr. 13 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs 1. Zweck der Regelung . . . . . . . . . 2. Voraussetzungen für die Einholung eines Sachverständigengutachtens (Absatz 4 Satz 1 i.V.m. § 453) . . . . a) Anklage wegen einer in § 181b StGB genannten Straftat zum Nachteil von Minderjährigen . . . b) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . c) Zeitpunkt für die Beauftragung des Sachverständigen . . . . . . . d) Anhörung des Sachverständigen (Absatz 4 Satz 1 i.V.m. § 453 Abs. 1 Satz 2, § 454 Abs. 2 Satz 4) . . . . 3. Verfahrensmängel . . . . . . . . . .
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I. Änderung durch Art. 2 Nr. 5 des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen 1
1. Zweck der Regelung. Der Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP1 sah eine Änderung des Absatzes 4 Satz 1 nicht vor. Erst die Beratungen im Rechtsausschuss des Bundestages haben zu einer Ergänzung des Absatzes 4 Satz 1 geführt.2 1
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Erster Abschnitt. Strafvollstreckung
Nachtr. § 454 StPO
Danach werden die Regelungen zu den Belehrungspflichten in Absatz 4 Satz 1 um eine Belehrung zur Fortdauer des Vorbehalts der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66a Abs. 1 StGB) bei zwischenzeitlicher Strafrestaussetzung ergänzt. Erfolgt die Aussetzung des Strafrestes der gegen den Verurteilten verhängten Freiheitsstrafe, neben der im Urteil der Vorbehalt der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist, so ist der Verurteilte im Falle der Aussetzung des Strafrestes neben der Belehrung über die Bedeutung der Strafrestaussetzung auch über das Fortbestehen des Vorbehalts nach § 66a Abs. 1 StGB und die Möglichkeit, die Sicherungsverwahrung im Falle des Widerrufs der Strafrestaussetzung anzuordnen, zu belehren. Die Belehrungspflicht bei Vorbehalt der Entscheidung über die Sicherungsverwahrung nach § 268d im Zusammenhang mit der Urteilsverkündung wird mit der Regelung des Absatzes 4 Satz 1 für das Vollstreckungsverfahren ergänzt. Der Gesetzgeber hat insoweit nach sachverständiger Beratung im BTRAussch. Anregungen der Praxis3 aufgegriffen und sich gegen einen Verbrauch des Vorbehalts im Falle einer Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung entschieden.4 Die Belehrung entsprechend § 268d nach Absatz 4 Satz 1 soll dem Verurteilten verdeutlichen, dass trotz der Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes der Vorbehaltsausspruch bestehen bleibt und er bei einem schwerwiegenden Bewährungsversagen, namentlich bei Begehung einschlägiger Straftaten und sich dadurch verdeutlichender prognosewidrig fortdauernder Gefährlichkeit nicht nur mit einem Bewährungswiderruf, sondern auch noch mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung rechnen muss. 2. Anwendungsbereich. Die Belehrungspflicht entsprechend § 268d in Absatz 4 Satz 1 2 hat in der Praxis im Hinblick auf die Entscheidung des BVerfG5 bis zu der gesetzlichen Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung nur geringe praktische Bedeutung gehabt. Das BVerfG hat nämlich in seinem Urteil vom 4.5.2011 unter anderem § 66a StGB in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22.12.20106 sowie § 66a Abs. 1 und 2 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21.8.20027 als mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG unvereinbar angesehen. Auch wenn das BVerfG gemäß § 35 BVerfGG angeordnet hat, dass diese sowie weitere in dem Urteil aufgeführte Vorschriften betreffend die Sicherungsverwahrung in ihren verschiedenen gesetzlichen Ausgestaltungen bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31.5.2013, nach Maßgabe der Urteilsgründe weiter anwendbar sind,8 wird in der Praxis davon außerordentlich zurückhaltend, wenn überhaupt, Gebrauch gemacht werden. Der Anwendungsbereich des Absatzes 4 Satz 1 wird sich hinsichtlich der Belehrung entsprechend § 268d damit im Wesentlichen wohl auf die vor der Entscheidung des BVerfG rechtskräftigen Anordnungen eines Vorbehalts der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung konzentrieren. 3. Belehrung entsprechend § 268d. Nach § 268d belehrt der Vorsitzende den An- 3 geklagten, sofern in dem Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66a
3
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Vgl. Stellungnahme von Wankel S. 3 f.; Stellungnahme des Deutschen Richterbundes Nr. 38/10 S. 12 und Nr. 45/10 S. 5. So noch BTDrucks. 17 3403 S. 41. BVerfG NJW 2011 1931 ff. = BVerfGE 128 326, 330.
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BGBl. I S. 2300. BGBl. I S. 3344. BVerfGE 128 326, 404 ff.
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§ 454 StPO Nachtr.
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Abs. 1 oder 2 StGB vorbehalten ist, im Anschluss an die Urteilsverkündung, aber vor der Rechtsmittelbelehrung, über die Bedeutung des Vorbehalts sowie über den Zeitraum, auf den sich der Vorbehalt erstreckt. Absatz 4 Satz 1 schreibt vor, dass § 268d im Verfahren über die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes entsprechend anzuwenden ist. Das bedeutet, dass nunmehr der Verurteilte (nicht mehr der Angeklagte) über die Fortdauer der Anordnung des Vorbehalts der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung im Verfahren über die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung ein weiteres Mal zu belehren ist.
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a) Belehrungspflicht. Die Belehrung entsprechend § 268d ist – wie auch die sonstigen Belehrungen nach Absatz 4 Satz 1 – obligatorisch.9
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b) Inhalt. Mit dem Beschluss nach Absatz 1 Satz 1 belehrt der Vorsitzende des Gerichts des ersten Rechtszuges (§ 462a Abs. 2 Satz 3) den Verurteilten über die Bedeutung des Vorbehalts nach § 66a Abs. 1 und 2 StGB sowie über den Zeitraum, auf den sich der Vorbehalt der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (noch) erstreckt (§ 268d). Der Vorsitzende muss den Verurteilten darüber in Kenntnis setzen, dass mit der Strafrestaussetzung noch nicht über die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 3 StGB entschieden wird, weil für das Gericht nicht mit hinreichender Sicherheit feststeht, dass der Verurteilte eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt und dass das Gericht des ersten Rechtszuges zu einem späteren Zeitpunkt bis zur vollständigen Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe darüber entscheiden kann (§ 66a Abs. 3 Satz 1 StGB). Die Belehrung muss den Hinweis enthalten, dass das Gericht die Sicherungsverwahrung anordnet, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder Taten und ergänzend seiner Entwicklung, insbesondere in der Bewährungszeit bis zur vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe, ergibt, dass von ihm erhebliche Straftaten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Dem Verurteilten muss mit der Belehrung deutlich gemacht werden, dass er bei einem Bewährungsversagen und einem Widerruf der Strafrestaussetzung mit der Prüfung der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 3 StGB rechnen muss. Er muss weiter darüber belehrt werden, dass das Gericht über die vorbehaltene Anordnung der Sicherungsverwahrung spätestens sechs Monate vor der vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe entscheidet (§ 275a Abs. 5).
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c) Form. § 268d schreibt keine Form für die Belehrung vor. Die Entscheidung nach Absatz 1 Satz 1 ergeht im schriftlichen Verfahren durch Beschluss. Die Verkündung im Anhörungstermin ist nicht zulässig.10 Die Belehrung entsprechend § 268d hat demgemäß mit der Bekanntmachung der Entscheidung nach Absatz 1 Satz 1 (§ 35 Abs. 2 Satz 1) schriftlich zu erfolgen. Durch die Zustellung des Beschlusses nebst Rechtsmittelbelehrung und Belehrung nach § 268d befindet sich ein Nachweis über die erfolgte Belehrung entsprechend § 268d in den Akten. Die Belehrung darf das Gericht (§ 462a Abs. 2 Satz 3) nicht auf die Vollzugsanstalt 7 übertragen, denn nach Absatz 4 Satz 2 2. Hs. kann nur die Belehrung über die Aussetzung des Strafrestes der Vollzugsanstalt übertragen werden. Die Belehrung sollte in der Praxis mittels eines Vordrucks erfolgen, dessen Inhalt in 8 den RiStBV vorgegeben werden könnte, um eine einheitliche Belehrung im Vollstre-
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Vgl. Erl. zu § 268d HW.
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Vgl. § 454, 80 HW.
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ckungsverfahren möglichst zu gewährleisten. Der Vorsitzende des Gerichts des ersten Rechtszuges ist an eine solche Vorgabe nicht gebunden; sie stellt nur eine mögliche Arbeitshilfe dar. d) Zeitpunkt. Die Belehrung entsprechend § 268d hat das Gericht (§ 462a Abs. 2 9 Satz 3) zeitgleich mit der Bekanntmachung der Entscheidung über die Strafrestaussetzung (Absatz 1 Satz 1) vorzunehmen. Ist die Belehrung versehentlich unterblieben, so ist sie unverzüglich im schriftlichen Verfahren nachzuholen. 4. Zuständigkeit. Die Erteilung der Belehrung obliegt dem Gericht des ersten Rechts- 10 zuges (§ 462a Abs. 2 Satz 3). Letzteres ist demnach nicht nur zur Entscheidung über die Strafrestaussetzung, sondern auch zu den nachfolgenden Vollstreckungsentscheidungen berufen.11 Diese Regelung, die auf einen Vorschlag des BTRAussch. zurückgeht, hat der Gesetzgeber vor allem deswegen als sachgerecht angesehen, weil auch die nachfolgenden Entscheidungen (z.B. Widerruf der Strafrestaussetzung nach § 57 Abs. 5 Satz 1, § 56f Abs. 1 StGB; § 57 Abs. 5 Satz 1, § 56f Abs. 2, § 56g StGB) unmittelbare Auswirkungen auf einen im Urteil angeordneten Vorbehalt der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung haben.12 Die Zuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszuges endet erst dann, wenn die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 3 Satz 1 StGB nicht mehr möglich ist, was nach vollständiger Vollstreckung der Freiheitsstrafe der Fall ist.13 5. Belehrungsmängel a) Eine unterbliebene Belehrung entsprechend § 268d hindert eine Anordnung der 11 vorbehaltenen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht. Die Belehrung ist aber unverzüglich nachzuholen und in den Akten zu dokumentieren. In einem solchen Fall sind die Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung besonders sorgfältig zu prüfen, weil die mit der Belehrung entsprechend § 268d verbundene zusätzliche Warnfunktion zunächst nicht erfolgt ist.14 b) Eine unvollständige Belehrung ist verfahrensrechtlich wie eine unterbliebene Beleh- 12 rung zu behandeln. Dem Verurteilten ist unverzüglich eine neue vollständige Belehrung zu erteilen. Es reicht nicht aus, nur den nicht erteilten Teil der Belehrung nachträglich vorzunehmen. Im Hinblick auf die für den Verurteilten unter Umständen schwerwiegenden Folgen durch Anordnung der Sicherungsverwahrung hat eine neue vollständige Belehrung zu erfolgen, um der damit bezweckten Warnfunktion gerecht zu werden. Die Gründe für die Erteilung der neuen vollständigen Belehrung sollte das Gericht dem Verurteilten kurz erläutern. c) Bei sprachunkundigen Verurteilten ist die schriftliche Belehrung entsprechend 13 § 268d in eine für den Verurteilten verständliche Sprache zu übersetzen (Art. 6 Abs. 3 Buchst. e EMRK), um ein faires Vollstreckungsverfahren sicherzustellen. Andernfalls kann die Belehrung ihre Warnfunktion für einen sprachunkundigen Verurteilten nicht entfalten.
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BTDrucks. 17 4062 S. 16. BTDrucks. 17 4062 S. 16. BTDrucks. 17 4062 S. 16.
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So auch KK/Engelhardt § 268d, 3; MeyerGoßner § 268d, 3; SK/Frister § 268d, 4. AnwK-StPO/Martis § 268d, 2.
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Bei Verurteilten, die des Lesens nicht mächtig sind oder eine erhebliche Leseschwäche haben, hat der Vorsitzende durch im Einzelfall geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass der Verurteilte die Belehrung zur Kenntnis nehmen kann. Eine Übertragung dieser Aufgabe auf die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde oder die Vollzugsanstalt ist nicht zulässig.
II. Änderung durch Art. 1 Nr. 13 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs 15
1. Zweck der Regelung. Der Referentenentwurf des BMJ und auch der Gesetzentwurf der Bundesregierung15 sahen keine Änderung des § 454 vor. Erst auf die Beschlussempfehlung des BTRAussch. wurde § 246a und in dessen Folge für das Verfahren über die Aussetzung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung § 454 geändert. Nach dem neuen § 246a Abs. 2 soll ein Sachverständiger über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten vernommen werden, soweit dies erforderlich ist, um festzustellen, ob der Angeklagte einer solchen Betreuung und Behandlung bedarf, wenn Anklage wegen einer in § 181b StGB genannten Straftat – also wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 180, 181a und 182 StGB – zum Nachteil eines Minderjährigen erhoben worden ist und die Erteilung einer Therapieweisung in Betracht kommt. Durch den Verweis in Absatz 4 Satz 1 auf § 246a Abs. 2 findet diese Regelung auch im Verfahren über die Vollstreckung von Restfreiheitsstrafe zur Bewährung entsprechende Anwendung.16 Der Regelung in Absatz 4 Satz 1 hätte es nicht bedurft, denn durch den darin bereits 16 enthaltenen Verweis auf § 453 wäre § 246a Abs. 2 ohnehin im Verfahren über die Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung entsprechend anwendbar gewesen. Die jetzige Regelung hebt aber noch einmal die entsprechende Anwendung von § 246a Abs. 2 ausdrücklich hervor.
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2. Voraussetzungen für die Einholung eines Sachverständigengutachtens (Absatz 4 Satz 1 i.V.m. § 453). Die Regelung des Absatzes 4 Satz 1 erweitert die Voraussetzungen, unter denen ein Sachverständigengutachten eingeholt wird. Nach dem bisherigen Recht war das Gericht nur unter den Voraussetzungen von Absatz 2 Satz 1 verpflichtet, das Gutachten eines Sachverständigen einzuholen, wenn es erwägt, die Vollstreckung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe oder einer zeitigen Freiheitsstrafe wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB bezeichneten Art auszusetzen und nicht auszuschließen ist, dass Gründe der öffentlichen Sicherheit einer vorzeitigen Entlassung des Verurteilten entgegenstehen. Die Neuregelung in Absatz 4 Satz 1 erweitert die Pflicht zur Einholung eines Sachverständigengutachtens auf alle Fälle, in denen der Verurteilte wegen einer in § 181b StGB genannten Straftat zum Nachteil eines Minderjährigen verurteilt worden ist. Auf die Höhe der verhängten Freiheitsstrafe kommt es nicht mehr an. Damit besteht über die Pflicht zur Einholung eines Sachverständigengutachten aus generalpräventiven Erwägungen („Gründe der öffentlichen Sicherheit“) nach Absatz 2 Satz 1 hinaus jetzt die Pflicht („… soll ein Sachverständiger … vernommen werden …“), einen Sachverständigen dann zu vernehmen, wenn der Verurteilte zu einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren wegen einer in § 181b StGB genannten Straftat zum Nachteil eines Minder-
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BTDrucks. 17 6261.
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BTDrucks. 17 6261 S. 22.
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jährigen verurteilt worden und eine Aussetzung der Restfreiheitsstrafe nach Absatz 1 zu prüfen ist. In diesen Fällen stehen spezialpräventive Erwägungen im Vordergrund, denn mit Hilfe des Sachverständigen soll das Gericht klären, ob der Verurteilte einer Betreuung und Behandlung im Rahmen einer Therapieweisung bedarf.17 a) Anklage wegen einer in § 181b StGB genannten Straftat zum Nachteil eines Min- 18 derjährigen. Während § 246a Abs. 2 auf eine Anklageerhebung wegen einer in § 181b StGB genannten Straftat zum Nachteil eines Minderjährigen als Voraussetzung für die Vernehmung eines Sachverständigen abstellt, bedarf es bei der Prüfung, ob die weitere Vollstreckung der zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird, einer Verurteilung wegen einer solchen Straftat. Sofern es im Erkenntnisverfahren – aus welchen tatsächlichen oder rechtlichen Gründen auch immer – nicht zu einer entsprechenden rechtskräftigen Verurteilung gekommen ist, besteht jedenfalls nach Absatz 4 Satz 1 i.V.m. § 453 keine Pflicht, aus spezialpräventiven Erwägungen einen Sachverständigen nach § 246a Abs. 2 hinzuziehen. Vielmehr hat das Gericht aufgrund der ihm im Vollstreckungsverfahren obliegenden Sachaufklärungspflicht stets auch über Absatz 2 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1 i.V.m. § 453 hinaus von Amts wegen unabhängig von der der Verurteilung zugrunde liegenden Straftat zu prüfen, ob die Einholung eines Sachverständigengutachtens angezeigt erscheint.18 b) Erforderlichkeit. Der Einholung eines Sachverständigengutachtens bedarf es bei 19 Vorliegen einer Anlasstat nur dann, soweit dies erforderlich ist, um festzustellen, ob der Verurteilte einer psychiatrischen, psycho- oder sozialtherapeutischen Betreuung und Behandlung (Therapieweisung) bedarf. Der Sachverständige soll dem Gericht Rat und Hilfe leisten, ob eine Therapieweisung überhaupt angezeigt ist und wie sie ggf. ausgestaltet sein sollte, um eine bestmögliche Betreuung und Behandlung des Verurteilten zu gewährleisten. Ist es aufgrund der Anlasstat und/oder des Verhaltens des Verurteilten im Vollzug offenkundig, dass dieser eine entsprechende Betreuung und Behandlung im Rahmen einer Therapieweisung benötigt, so kann ein Sachverständiger dem Gericht allenfalls noch bei der Frage der Ausgestaltung der Betreuung beratend zur Seite stehen. c) Zeitpunkt für die Beauftragung des Sachverständigen. Vgl. insoweit HW § 454, 20 61. d) Anhörung des Sachverständigen (Absatz 4 Satz 1 i.V.m. § 453 Abs. 1 Satz 2, § 454 21 Abs. 2 Satz 4). Der Sachverständige ist grundsätzlich im Aussetzungsverfahren mündlich zu hören. Es reicht nicht aus, dass der Sachverständige sein Gutachten schriftlich erstattet. Vielmehr ist das Gericht verpflichtet, ihn – ebenso wie die Staatsanwaltschaft und den Verurteilten (Absatz 4 Satz 1 i.V.m. § 453 Abs. 1 Satz 2) und ggf. dessen Verteidiger – mündlich zu hören. Nur wenn der Verurteilte, sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft auf eine mündliche Anhörung des Sachverständigen verzichten,19 kann das Gericht ausnahmsweise davon absehen. Es ist dazu aber nicht verpflichtet. Hält das Gericht vielmehr eine Anhörung des Sachverständigen zur Aufklärung im Aussetzungsverfahren für geboten, so hört es den Sachverständigen an, wobei es aber dann auch dem Verurteilten, seinem Verteidiger, der Staatsanwaltschaft und Vollzugsanstalt Gelegenheit zur Mitwir-
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BTDrucks. 17 12735 S. 21. Vgl. zur Aufklärungspflicht des Gerichts im Aussetzungsverfahren HW § 454, 58.
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BTDrucks. 17 12735 S. 22; vgl. HW § 454, 62 f. zur Wirksamkeit von Verzichtserklärungen.
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kung geben sollte, auch wenn dies für den Verteidiger und die Vollzugsanstalt nicht gesetzlich vorgeschrieben ist, da Absatz 2 Satz 3 nicht entsprechend anwendbar ist.
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3. Verfahrensmängel im Zusammenhang mit der Anhörung des Sachverständigen nach Absatz 4 Satz 1 i.V.m. § 246a Abs. 2, §§ 453, 454 Abs. 2 Satz 4 können auf eine sofortige Beschwerde des Verurteilten oder der Staatsanwaltschaft (Absatz 3) zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses sowie zur Zurückverweisung an die Strafvollstreckungskammer führen. Ein solcher Verfahrensmangel kann dann vorliegen, wenn das Gericht zu Unrecht eine Anlasstat angenommen hat oder von der Einschaltung eines Sachverständigen nach Absatz 4 Satz 1 i.V.m. § 246a Abs. 2 abgesehen hat, obwohl es dazu verpflichtet gewesen wäre. Ebenso stellt eine unterlassene mündliche Anhörung des Sachverständigen ohne wirksame Verzichtserklärung des Verurteilten, seines Verteidigers und der Staatsanwaltschaft stets einen Verfahrensmangel dar, der das Beschwerdegericht zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung nötigt.
§ 462 (1) … (2) 1… . 2Ordnet das Gericht eine mündliche Anhörung an, so kann es bestimmen, dass sich der Verurteilte dabei an einem anderen Ort als das Gericht aufhält und die Anhörung zeitgleich in Bild und Ton an den Ort, an dem sich der Verurteilte aufhält, und in das Sitzungszimmer übertragen wird. 3… (3) …
Änderung. Durch Art. 6 Nr. 7 des Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik im gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren vom 25.4.2013 (BGBl. I S. 935, 936) wurde nach Absatz 2 Satz 1 der neue Satz 2 eingefügt. Der bisherige Satz 2 wird Satz 3, ohne dass der Gesetzgeber dies ausdrücklich geregelt hat. Der Gesetzentwurf des Bundesrats zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren ist im Jahre 2009 bereits einmal der Diskontinuität unterfallen.1 Aufgrund des Gesetzesantrags des Landes Hessen vom 17.12.2009 hat der Bundesrat die erneute Einbringung gemäß Art. 76 Abs. 1 GG beantragt.2 Der Gesetzentwurf des Bundesrats3 sah in Art. 6 Nr. 7 und 8 vor, in § 453 Abs. 1 und § 454 Abs. 1 jeweils nach deren Satz 3 eine Regelung einzufügen, wonach das Gericht anordnen kann, dass die Anhörung des Verurteilten unter Verzicht auf die persönliche Anwesenheit zeitgleich in Bild und Ton an den Ort, an dem sich der Verurteilte aufhält, und in das Sitzungszimmer übertragen wird. In den Fällen des § 454 Abs. 2 Satz 1 sollte diese Regelung nicht gelten. Der Entwurf des Bundesrats sah in Art. 7 Nr. 9 bei Anordnung einer Anhörung die Möglichkeit vor, sie unter Verzicht auf die persönliche Anwesenheit des Verurteilten zeitgleich in Bild und Ton an den Ort, an dem sich der Verurteilte aufhält, und in das Sitzungszimmer zu übertragen.4 Den inhaltlichen Bedenken der Bundesregierung zu Art. 6 Nr. 7 (Änderung von § 453 Abs. 1 Satz 4 –
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BRDrucks. 643/07. BRDrucks. 902/09.
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BTDrucks. 17 1224. BTDrucks. 17 1224 S. 9.
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neu) und Art. 6 Nr. 8 (Änderung von § 454 Abs. 1 Satz 4 – neu), die im Wesentlichen gegen die Möglichkeit einer Videokonferenz anstelle einer höchstpersönlichen Anhörung für die Fälle des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung wegen Verstoßes gegen Auflagen oder Weisungen nach § 453 Abs. 1 Satz 3 und für die Fälle der Strafrestaussetzung zur Bewährung nach § 454 Abs. 1 Satz 3 hat der BTRAussch. nach Anhörung von Sachverständigen5 Rechnung getragen6 und damit klargestellt, dass eine gerichtliche Entscheidung über den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung oder die Verhängung einer vorbehaltenen Geldstrafe sowie über die Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung einen unmittelbaren persönlichen Eindruck des Gerichts vom Verurteilten voraussetzt, den eine Videokonferenz nicht ersetzen kann. Den Empfehlungen des BTRAussch. ist der Gesetzgeber gefolgt und hat von einer Änderung des § 453 Abs. 1 und § 454 Abs. 1 abgesehen. Rechtliches Gehör (Absatz 2) a) Grundsatz (Satz 1). Die Staatsanwaltschaft als Strafverfolgungsbehörde und der 1 Verurteilte sind vor der Entscheidung zu hören, d.h. ihnen muss Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden. Eine mündliche Anhörung des Verurteilten ist jedoch nicht vorgeschrieben.7 Sie ist aber auch nicht unzulässig und in gewissem Umfang, namentlich bei der Gesamtstrafenbildung zwecks „Würdigung der Person des Täters“ (§ 54 Abs. 1 Satz 1, § 55 StGB, § 460) sogar empfehlenswert.8 Eine mündliche Anhörung des Verurteilten kommt daher namentlich dann in Betracht, wenn zu erwarten ist, dass die Angaben des Verurteilten entscheidend zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen werden, etwa weil nur er über bestimmte Erkenntnisse verfügt und aufgrund seiner Angaben dem Gericht die Entscheidung erleichtert wird.9 b) Videoübertragung. Sofern das Gericht eine mündliche Anhörung anordnet, liegt es 2 in seinem pflichtgemäßen Ermessen („… kann es bestimmen, …“) anzuordnen, dass sich der Verurteilte dabei an einem anderen Ort als dem des Gerichts aufhält und die Anhörung zeitgleich in Bild und Ton an den Ort, an dem sich der Verurteilte befindet sowie in das Sitzungszimmer übertragen wird. Die Anordnung des Gerichts zur mündlichen Anhörung des Verurteilten mittels Bild-Ton-Übertragung ist nicht beschränkt auf die Anordnung als solche. Das Gericht hat vielmehr zugleich mit der Anordnung der mündlichen Anhörung des Verurteilten mittels Videotechnik diesen zum Anhörungstermin zu laden. Dabei muss sichergestellt sein, dass am Anhörungsort mit den technischen Standards am Sitz des anordnenden Gerichts kompatible technische Voraussetzungen für eine Bild-Ton-Übertragung bestehen. c) Anfechtbarkeit. Die Anordnung ergeht durch richterliche Verfügung, die einer 3 Anfechtung nicht zugänglich ist.10 Erst die nach § 450a Abs. 3 Satz 1 und den §§ 458 bis 461 zu treffende gerichtliche Entscheidung nach Absatz 1 ist nach Absatz 3 Satz 1 mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar. 5
Vgl. zustimmende Stellungnahmen der Sachverständigen Deckers S. 5; Gaede S. 11; Stahlmann-Liebelt S. 4 zu den Empfehlungen des BTRAussch.; demgegenüber Wimmer S. 7 f.; Köbler S. 4, die sich für eine Beibehaltung der im Gesetzentwurf des Bundesrats enthaltenen Regelungen aussprechen.
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BTDrucks. 17 12418 S. 10. HW § 462, 4. HW § 462, 4 m.w.N. HW § 462, 4. BTDrucks. 17 12418 S. 1.
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d) Verordnungsermächtigung (Art. 9). Art. 9 Satz 1 des Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren eröffnet für die Landesjustizverwaltungen durch eine Opt-out-Verordnungsermächtigung die Möglichkeit, das Inkrafttreten der Vorschriften über die Videokonferenztechnik in den Verfahrensordnungen durch Rechtsverordnung bis zum 31.12.2017 zurückzustellen. Zwar ist es einerseits zu begrüßen, dass die Länder dadurch die Gelegenheit erhalten, die für den Einsatz der Videokonferenztechnik erforderlichen technischen Voraussetzungen bis zu diesem Zeitpunkt zu schaffen. Die Länder haben so einen erheblichen Gestaltungsspielraum, im Rahmen ihrer haushaltsrechtlichen Möglichkeiten in den einzelnen Gerichtsbarkeiten die technischen Voraussetzungen sukzessive zu schaffen, landespezifische Gesichtspunkte zu berücksichtigen und Prioritäten bei der Einführung der Videokonferenztechnik zu setzen. Andererseits wird die Regelung in Art. 9 Satz 1 bis zum Ablauf des 31.12.2017 aber dazu führen, dass die Videokonferenztechnik in den einzelnen Ländern in unterschiedlichem Umfang eingeführt werden wird. Dies ist bereits bei dem Einsatz dieser Technik nach § 168e, § 247a der Fall. Soweit von der Verordnungsermächtigung Gebrauch gemacht werden sollte, findet die Bestimmung über die Bild-Tonübertragung nach Absatz 2 Satz 2 längstens bis zum Ablauf der Frist des Art. 9 Satz 1 (31.12.2017) keine Anwendung. In der Praxis wirft diese Regelung Probleme vor allem dann auf, wenn ein mit der Videokonferenztechnik ausgestattetes Gericht die mündliche Anhörung eines Verurteilten in einem nicht entsprechend ausgestatteten Gericht oder einer Justizvollzugsanstalt eines anderen Bundeslandes anordnet. Derartige Fälle sind aufgrund der Zuständigkeitsregelungen der §§ 462, 462a nicht von vornherein ausschließen. Es wird daher Aufgabe der Landesregierungen bzw. der Landesjustizverwaltungen (Art. 9 Satz 2) sein, die von der Verordnungsermächtigung nach Art. 9 Satz 1 Gebrauch machen wollen, diese Information sowie den Umsetzungsstand hinsichtlich der Einführung der Videokonferenztechnik den Gerichten allgemein zugänglich zu machen (z.B. durch Einstellen des Umsetzungsstands für einzelne Gerichte, Staatsanwaltschaften, Justizvollzugsanstalten auf der Internetseite der jeweiligen Landesjustizverwaltung). Die lange Übergangsfrist für die Landesregierungen bzw. Landesjustizverwaltungen 5 begegnet nicht nur in länderübergreifenden Vollstreckungsfällen, sondern auch in allen anderen Fällen wegen der in den einzelnen Ländern zu erwartenden uneinheitlichen Inanspruchnahme der Verordnungsermächtigung nach Art. 9 Satz 1 rechtlichen Bedenken. Mit der Opt-out-Verordnungsermächtigung hat der Gesetzgeber bewusst eine ungleiche Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) sowie des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 EMRK) für einen längeren Zeitraum in Kauf genommen.11 Verfassungsrechtlich bedenklich erscheint es, dass die Landesregierungen für ihren Bereich durch Rechtsverordnung bzw. die Landesjustizverwaltungen nach Übertragung der Ermächtigung durch Rechtsverordnung bestimmen können, dass bundesgesetzliche Regelungen bis längstens 31.12.2017 in ihrem Bereich keine Anwendung finden. Dies führt zu einer nicht hinnehmbaren uneinheitlichen Anwendung von Bundesrecht in den Ländern. Die Anwendung von in Kraft getretenen bundesgesetzlichen Regelungen (Art. 10 Abs. 1) wird der Opportunität der Länder unterstellt mit der Folge, dass in den Ländern unterschiedliche verfahrensrechtliche Standards, die zum
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BTDrucks. 17 12418 S. 21, wonach der BTRAussch. den Ländern, die von der Verordnungsermächtigung des Art. 9 Satz 1 keinen Gebrauch machen wollen, gleichwohl eine kurzfristige Anpassung ihrer technischen
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Ausstattung an die künftigen gesetzlichen Erfordernisse durch die Regelung über das Inkrafttreten in Art. 10 Abs. 1 ermöglichen will.
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Kernbereich eines rechtsstaatlichen Verfahrens zählen, angewandt werden. Als problematisch wird es sich erweisen, wenn eine Landesregierung bzw. Landesjustizverwaltung von der Verordnungsermächtigung keinen Gebrauch macht, aber etwa unter Berufung auf die mutmaßlich geringe Anzahl der Fälle die technischen Voraussetzungen für eine Bild-TonÜbertragung nicht schafft, weil dann Bundesrecht, obwohl es anwendbar sein muss, tatsächlich nicht anwendbar sein wird. d) Inkrafttreten (Art. 10). Das Gesetz tritt am ersten des siebenten auf die Verkün- 6 dung (am 30.4.2013) folgenden Kalendermonats in Kraft (Art. 10 Abs. 1). Absatz 2 Satz 2 wird zu diesem Zeitpunkt geltendes Recht. Ob diese Regelung indessen dann angewandt werden wird, hängt davon ab, ob die jeweilige Landesregierung bzw. Landesjustizverwaltung von der Verordnungsermächtigung Gebrauch machen wird. Art. 9 tritt am 1.1.2018 außer Kraft (Art. 10 Abs. 2) mit der Folge, dass für darauf gestützte Rechtsverordnungen die Verordnungsermächtigung entfällt. Diejenigen Landesregierungen bzw. Landesjustizverwaltungen, die von der Verordnungsermächtigung Gebrauch machen, müssen spätestens bis Ende 2017 die technischen Voraussetzungen für den Einsatz der Videokonferenztechnik geschaffen haben.12 In den übrigen Ländern müssen die Voraussetzungen bereits bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der gesetzlichen Regelung geschaffen worden sein.
§ 462a (1) … (2) 1… 2… 3Abweichend von Absatz 1 ist in den dort bezeichneten Fällen das Gericht des ersten Rechtszuges zuständig, wenn es die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten hat und eine Entscheidung darüber gemäß § 66a Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches noch möglich ist. (3) … (4) … (5) … (6) …
Änderung. Durch Art. 2 Nr. 6 Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22.12.20101 wurde dem Absatz 2 ein neuer Satz 3 angefügt. Danach ist abweichend von Absatz 1 nicht die Strafvollstreckungskammer für Entscheidungen in den dort bezeichneten Fällen zuständig, sondern das Gericht des ersten Rechtszuges, wenn es die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorbehalten hat (§ 66a StGB) und eine Entscheidung darüber nach § 66a Abs. 3 StGB noch möglich ist.
12
Vgl. zu den Erwartungen des BTRAussch. BTDrucks. 17 12418 S. 21.
1
BGBl. I S. 2300, 2303.
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§ 462a StPO Nachtr.
Siebentes Buch. Strafvollstreckung und Kosten des Verfahrens
Übersicht Rn. I. Zweck der Regelung
. . . . . . . . . . .
Rn.
1
a) Zuständigkeit nach Absatz 1 b) Umfang der Erweiterung . . c) Dauer der Zuständigkeit . . 2. Verfahren . . . . . . . . . . .
II. Anwendungsbereich 1. Erweiterte Zuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszuges (Absatz 2 Satz 3)
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
2 3 4 6
I. Zweck der Regelung 1
Die Ergänzung des Absatzes 2 um Satz 3 stellt eine Folgeänderung der durch Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22.12.20102 Änderung des § 66a Abs. 3 StGB dar. Sowohl der Diskussionsentwurf des Bundesministeriums der Justiz vom 30.6.2010 als auch der Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP3 sahen jeweils abweichend von Absatz 1 eine Zuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszuges für die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung nur dann vor, wenn es die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten hat (§ 66a StGB) und bisher noch keine rechtskräftige Aussetzung erfolgt ist. Erst durch die Beratungen im BTRAussch. ist Absatz 2 Satz 3 den Änderungen des § 66a Abs. 3 StGB angepasst worden und regelt nun eine sachliche Zuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszuges in den in Absatz 1 bezeichneten Fällen, solange eine Entscheidung über die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 3 Satz 1 StGB noch möglich ist. Die sachliche Zuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszuges ist damit bis zur vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe begründet.4 Dies wurde vor allem deshalb als sachgerecht angesehen, weil die Entscheidungen nach Absatz 1 unmittelbare Auswirkungen auf eine etwaige Anordnung der durch Urteil vorbehaltenen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung haben.5
II. Anwendungsbereich 1. Erweiterte Zuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszuges (Absatz 2 Satz 3)
2
a) Zuständigkeit nach Absatz 1. Hinsichtlich der nach Absatz 1 zu treffenden Entscheidungen wird auf die Erläuterungen Rn. 29 ff. HW verwiesen.
3
b) Umfang der Erweiterung. Nach Absatz 2 Satz 3 obliegen die nach den §§ 453, 454, 454a und 462 zu treffenden Entscheidungen und damit (§ 462) die nachträglichen gerichtlichen Entscheidungen nach § 450a Abs. 3 Satz 1, §§ 458 bis 461 und die in § 462 Abs. 1 Satz 2 aufgezählten Nachtragsentscheidungen dem Gericht des ersten Rechtszuges, wenn es die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorbehalten hat und eine Entscheidung darüber nach § 66a Abs. 3 Satz 1 StGB noch möglich ist. Damit wird die sachliche Zuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszuges für im Rahmen der Vollstreckung notwendig werdende Entscheidungen erheblich erweitert. Dem Gesetzgeber erschien dies vor allem deshalb sachgerecht, weil auch nachträgliche Entscheidungen im Vollstreckungsverfahren unmittelbare Auswirkungen auf eine 2 3
BGBl. I S. 2300, 2301. BTDrucks. 17 3403 S. 7.
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BTDrucks. 17 4062 S. 16. BTDrucks. 17 4062 S. 16.
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Erster Abschnitt. Strafvollstreckung
Nachtr. § 463 StPO
etwaige Anordnung der durch Urteil vorbehaltenen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung haben. Das gilt namentlich für die Entscheidung über den Widerruf der Strafrestaussetzung nach § 57 Abs. 5 Satz 1, § 56f Abs. 1 StGB, die Verlängerung der Bewährungszeit (§ 57 Abs. 5 Satz 1, § 56f Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB) oder den Erlass der Reststrafe (§ 57 Abs. 5 Satz 1, § 56g Abs. 1 StGB) oder dessen Widerruf (§ 57 Abs. 5 Satz 1, § 56g Abs. 2 StGB).6 Aber auch für alle sonstigen nach Absatz 1 erforderlich werdenden Entscheidungen ist das Gericht des ersten Rechtszuges sachlich zuständig, wenn es die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorbehalten hat. c) Dauer der Zuständigkeit. Die sachliche Zuständigkeit des Gerichts des ersten 4 Rechtszuges endet erst mit der vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe, denn dann ist eine Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 3 Satz 1 StGB nicht mehr möglich. Durch das Urteil des BVerfG vom 4.5.20117 wird Absatz 2 Satz 3 nur insoweit 5 berührt, als dass es in der Praxis aufgrund der Unvereinbarkeit von § 66a StGB in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22.12.20108 mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG zu keinen weiteren Anordnungen eines Vorbehalts der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung mehr kommen wird. 2. Verfahren. Die Staatsanwaltschaft stellt die nach den §§ 453, 454, 454a und 462 6 (§ 450a Abs. 3 Satz 1, §§ 458 bis 461) erforderlichen Anträge unter Vorlage der Akten bei dem Gericht des ersten Rechtszuges. Dieses entscheidet in der Besetzung außerhalb der Hauptverhandlung mit drei Berufsrichtern (§ 76 Abs. 1 Satz 2 GVG).
§ 463 (1) … (2) … (3) 1… 2… 3§ 454 Abs. 2 findet in den Fällen des § 67d Absatz 2 und 3 und des § 72 Absatz 3 des Strafgesetzbuches unabhängig von den dort genannten Straftaten sowie bei Prüfung der Voraussetzungen des § 67c Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 des Strafgesetzbuches auch unabhängig davon, ob das Gericht eine Aussetzung erwägt, entsprechende Anwendung, soweit das Gericht über die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung zu entscheiden hat; im Übrigen findet § 454 Abs. 2 bei den dort genannten Straftaten Anwendung. 4Zur Vorbereitung der Entscheidung nach § 67d Abs. 3 des Strafgesetzbuches sowie der nachfolgenden Entscheidungen nach § 67d Abs. 2 des Strafgesetzbuches hat das Gericht das Gutachten eines Sachverständigen namentlich zu der Frage einzuholen, ob von dem Verurteilten weiterhin erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind. 5Ist die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden, bestellt das Gericht dem Verurteilten, der keinen Verteidiger hat, rechtzeitig vor einer Entscheidung nach § 67c Absatz 1 des Strafgesetzbuches einen Verteidiger.
6 7
BTDrucks. 17 4062 S. 16. BVerfGE 128 326 = NJW 2011 1931.
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BGBl. I S. 2300.
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§ 463 StPO Nachtr.
Siebentes Buch. Strafvollstreckung und Kosten des Verfahrens
(4) … (5) … (6) … (7) … (8) 1Wird die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vollstreckt, bestellt das Gericht dem Verurteilten, der keinen Verteidiger hat, für die Verfahren über die auf dem Gebiet der Vollstreckung zu treffenden gerichtlichen Entscheidungen einen Verteidiger. 2Die Bestellung hat rechtzeitig vor der ersten gerichtlichen Entscheidung zu erfolgen und gilt auch für jedes weitere Verfahren, solange die Bestellung nicht aufgehoben wird.
Änderung. Durch Art. 2 Nr. 7 des Gesetzes zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22.12.2010 (BGBl. I S. 2300, 2303) wurden in Absatz 3 Satz 4 die Wörter „aufgrund seines Hanges“ als Folge der Änderung in § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB (vgl. Art. 1 Nr. 5) gestrichen. Durch Art. 3 Nr. 1a und b des Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5.12.2012 (BGBl. I S. 2425, 2427 f.) wurde in Absatz 3 der Satz 3 geändert und der bisherige Satz 5 neu gefasst. Ein neuer Absatz 8 wurde durch Art. 3 Nr. 2 desselben Gesetzes eingefügt.
Übersicht Rn. 1. Einholung eines Sachverständigengutachtens a) Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . b) Auswahl des Sachverständigen . . . c) Inhaltliche Anforderungen . . . . . 2. Pflicht zur Verteidigerbestellung vor einer Entscheidung nach § 67c Abs. 1 StGB (Abs. 3 Satz 5) . . . . . . . . . . . . . a) Sachliche Zuständigkeit . . . . . . . b) Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . .
. . .
. . .
1 ff. 4 5
6 ff. 7 8
Rn. c) Ende der Bestellung . . . . . . . . . d) Rücknahme . . . . . . . . . . . . . 3. Pflicht zur Verteidigerbestellung bei Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung a) Umfang der Pflicht . . . . . . . . . b) Sachliche Zuständigkeit, Rücknahme und Widerruf der Bestellung . . . . c) Begrenzung der Bestellung . . . . . . 4. Reformüberlegungen . . . . . . . . . .
. .
9 10
.
11
. . .
12 13 14
1. Einholung eines Sachverständigengutachtens
1
a) Pflicht. Im Gegensatz zu der früheren gesetzlichen Regelung ist das Gericht nunmehr nach Absatz 3 Satz 3 i.V.m. § 454 Abs. 2 Satz 1 und 2 stets verpflichtet, zur Vorbereitung seiner Entscheidung nach § 67d Abs. 2 und 3 StGB, § 67c Abs. 1 StGB und § 72 Abs. 3 StGB das Gutachten eines Sachverständigen zu der Frage einzuholen, ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht. Es kommt also für die Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht mehr darauf an, ob das Gericht eine Aussetzung der Sicherungsverwahrung nach § 67d Abs. 2 und 3 StGB, § 72 Abs. 3 StGB erwägt. Es ist nach Absatz 3 Satz 3 auch unbeachtlich, welche Straftaten der Anordnung der Sicherungsverwahrung zugrunde liegen („unabhängig von den dort [§ 454 Abs. 2] genannten Straftaten“).1 Mit der Pflicht zur Einholung eines Sachverständigengutachtens soll nach dem Willen des Gesetzgebers der Bedeutung der Entscheidung über die Vollstreckung der Sicherungsver-
1
Vgl. HW § 463, 14 ff.
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Nachtr. § 463 StPO
wahrung für das Freiheitsgrundrecht des Verurteilten Rechnung getragen werden.2 Darüber hinaus will der Gesetzgeber dadurch aber auch sicherstellen, dass die Entscheidung des Gerichts nicht schematisch zur Anordnung der Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung führt3 und meint, damit die vom BVerfG eingeforderte Umsetzung des ultima-ratio-Prinzips4 bei der Anordnung der Fortdauer der Unterbringung zu unterstützen.5 Die in der öffentlichen Anhörung des BTRAussch. am 27.6.2012 gehörten Sachverständigen haben, soweit sie sich überhaupt zu den vorgesehenen strafprozessualen Regelungen geäußert haben, letztere nahezu einhellig begrüßt.6 Ob die obligatorische Einholung eines Sachverständigengutachtens in den Fällen von 2 § 67c Abs. 1 Nr. 1, § 67d Abs. 2 und 3 sowie § 72 Abs. 3 StGB in der Vollstreckungspraxis dazu führen wird, dass die gerichtliche Entscheidung künftig nicht mehr bloßer „Durchlaufposten“ in Richtung Vollstreckung sein wird,7 darf bezweifelt werden. Zwar bietet die Pflicht zur Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Prognose des Verurteilten einerseits die Chance, dessen Entwicklung in der Sicherungsverwahrung über einen langen Zeitraum sachverständig zu begleiten und eine Prognose im Einzelfall abzusichern. Andererseits kann die obligatorische Einholung eines Sachverständigengutachtens aber auch zu einer Manifestation einer Negativprognose führen. Ob die hohen inhaltlichen Anforderungen an ein Sachverständigengutachten8 angesichts ansteigender Begutachtungen eingehalten werden können, erscheint zweifelhaft. Schon nach dem früheren Recht hat sich die Auswahl des Sachverständigen für das Gericht nicht selten schwierig gestaltet. Es ist daher eher zu befürchten, dass sich diese Situation angesichts der Anzahl der Sicherungsverwahrten weiter verschärfen wird. Künftiger Evaluation wird es vorbehalten bleiben, ob die Pflicht zur Einholung eines Sachverständigengutachtens in den Fällen des Absatzes 3 Satz 3 zu einer Reduzierung der inhaltlichen Anforderungen an ein solches Gutachten führen wird. Die Pflicht zur Einholung eines Sachverständigengutachtens bezieht sich nach dem 3 insoweit eindeutigen Wortlaut von Absatz 3 Satz 3 1. Hs. sowie dem Willen des Gesetzgebers9 nicht auf diejenigen Tatsachen, die Grundlage für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit nach § 67c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB sind. Das Gericht hat hier nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob es für die Beurteilung des Betreuungsangebots in dem letzten, noch zu kontrollierenden Vollzugszeitraum und für die erforderliche Gesamtbetrachtung der Betreuung während des Vollzugs zur Frage ausreichender Betreuung unter Berücksichtigung der vollzugsbegleitend ergangenen bindenden Entscheidung einer Erweiterung des Gutachtensauftrags bedarf.10 Soweit das Gericht eine solche zulässige und auch gebotene Erweiterung des Gutachtenauftrags nicht in Betracht gezogen hat, wird es sich in der zu treffenden Entscheidung hierzu im Einzelnen unter Darlegung der konkreten Umstände des Einzelfalls
2
3 4 5
6
Entwurf eines Gesetzes zur bundeseinheitlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung BTDrucks. 17 9874 S. 39. BTDrucks. 17 9874 S. 39. BVerfGE 128 326, 379. Entwurf eines Gesetzes zur bundeseinheitlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung BTDrucks. 17 9874 S. 39. Vgl. Stellungnahme der Sachverständigen
7 8 9 10
Peglau S. 7 („Gegen die Änderungen ist nichts einzuwenden.“); Radtke S. 15 („Änderung- oder Ergänzungsbedarf besteht … nicht.“); differenziert demgegenüber die gemeinsame Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen und des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins S. 12. BTDrucks. 17 9874 S. 39. Vgl. HW § 463, 23 ff. BTDrucks. 17 9874 S. 39. BTDrucks. 17 9874 S. 39.
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Siebentes Buch. Strafvollstreckung und Kosten des Verfahrens
nach § 34 zu verhalten haben, um dem Beschwerdegericht eine rechtliche Nachprüfung der Verhältnismäßigkeit der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 67c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB zu ermöglichen.
4
b) Auswahl des Sachverständigen. Zur Auswahl des Sachverständigen sowie der Gefahr einer wiederholenden Routinebegutachtung vgl. HW § 463, 25.11
5
c) Inhaltliche Anforderungen. Bei der Regelung in Absatz 3 Satz 4 handelt es sich nicht nur um eine bloße redaktionelle Änderung als Folge der Änderung in § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB. Vielmehr werden durch die Änderung die inhaltlichen Anforderungen an das einzuholende Sachverständigengutachten geändert. Nach Absatz 3 Satz 4 muss sich das Sachverständigengutachten nicht mehr dazu verhalten, ob von dem Verurteilten aufgrund seines Hanges weiterhin erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind. Die inhaltlichen Anforderungen an das Sachverständigengutachten12 werden damit reduziert.
6
2. Pflicht zur Verteidigerbestellung vor einer Entscheidung nach § 67c Abs. 1 StGB (Abs. 3 Satz 5). Im Vollstreckungsverfahren war nach dem früheren Recht lediglich für Verfahren nach § 463 Abs. 3 Satz 5 sowie § 463 Abs. 4 Satz 5 die Bestellung eines Verteidigers ausdrücklich gesetzlich vorgeschrieben. Der Gesetzgeber hat nunmehr mit den durch Art. 3 Nr. 1 Buchst. b und Nr. 2 des Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5.12.201213 getroffenen Regelungen dem angesichts der Komplexität vollstreckungsrechtlicher Entscheidungen auch im Vollstreckungsverfahren geltenden Grundsatz des fairen Verfahrens zumindest hinsichtlich der Vollstreckung der Anordnung der Sicherungsverwahrung Rechnung getragen.14
7
a) Sachliche Zuständigkeit. Die Regelung sieht nunmehr vor, dass das Gericht dem Verurteilten, der keinen Verteidiger hat, rechtzeitig vor einer Entscheidung nach § 67c Abs. 1 StGB einen Verteidiger bestellt, wenn die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist. Die Verteidigerbestellung ist obligatorisch (… „bestellt das Gericht … einen Verteidiger“). Für die Bestellung gelten die § 141 Abs. 3 Satz 2, Abs. 4 Satz 1, § 142 Abs. 1 und § 143 entsprechend. Für die Bestellung des Verteidigers ist analog § 141 Abs. 4 Satz 1 der Vorsitzende der Großen Strafvollstreckungskammer (§ 78b Abs. 1 Nr. 1 GVG, § 463 Abs. 1, Abs. 3 Satz 3; § 454 Abs. 2, § 462a Abs. 1 Satz 1) zuständig.
8
b) Zeitpunkt. Das Gericht ist verpflichtet, den Verteidiger rechtzeitig vor einer Entscheidung nach § 67c Abs. 1 StGB zu bestellen. Einen Zeitpunkt für die Bestellung sieht das Gesetz nicht vor. Sie hat zu erfolgen, sobald das Gericht in die Prüfung eintritt, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung noch erfordert (§ 67c Abs. 1 Nr. 1 StGB) oder ob die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung unverhältnismäßig wäre, weil dem Verurteilten bei einer Gesamtbetrachtung des Vollzugsverlaufs ausreichende Betreuung i.S.d. § 66c Abs. 2 StGB i.V.m. § 66c Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht angeboten worden ist. Da nach Absatz 3 Satz 3 i.V.m. § 454 Abs. 2 Satz 1 vor einer Entscheidung nach § 67c Abs. 1 StGB stets ein Sachverständigengutachten einzuho-
11 12 13
Ferner BTDrucks. 17 9874 S. 39. Vgl. HW § 463, 23 f. BGBl. I S. 2425, 2427 f.
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14
Vgl. HW Vor § 449, 47; § 454, 68 ff.; § 463, 27, 32, 42; Graalmann-Scheerer StV 2011 696, 699.
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len ist, hat das Gericht den Verteidiger vor der Beauftragung des Sachverständigen zu bestellen.15 Der konkrete zeitliche Vorlauf, mit dem das Gericht den Verteidiger und alsdann den Sachverständigen bestellen sollte, hängt zwar von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Um die Verfahrensrechte des Verurteilten, insbesondere einen effektiven durchsetzbaren Rechtsanspruch auf Durchführung von Maßnahmen, die zur Reduzierung seiner Gefährlichkeit geboten sind,16 hat die Verteidigerbestellung so frühzeitig zu erfolgen, dass der Verteidiger noch zu der beabsichtigten Auswahl des Sachverständigen gegenüber dem Gericht Stellung nehmen kann.17 Das Gericht wird daher in der Praxis spätestens drei Monate vor der Bestellung des Sachverständigen die Verteidigerbestellung anordnen müssen. Ein effektiver Rechtsschutz für den Verurteilten ist nämlich regelmäßig nur dann gewährleistet, wenn dessen Verteidiger vor der Beauftragung des Sachverständigen die in derartigen Fällen oft sehr umfangreichen Strafakten einsehen und mit dem Verurteilten das weitere Verfahren und die Verteidigungsstrategie besprechen konnte. c) Ende der Bestellung. Die Verteidigerbestellung nach Absatz 3 Satz 5 bezieht sich 9 nur auf die noch während der Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe zu treffende Entscheidung nach § 67c Abs. 1 StGB. Die Bestellung endet mit der formellen Rechtskraft des Beschlusses.18 d) Rücknahme. Für die Rücknahme einer Verteidigerbestellung ist § 143 entspre- 10 chend anwendbar. Der Widerruf der Bestellung ist zwar gesetzlich nicht geregelt, jedoch nach der h.M. dann zulässig, wenn Umstände vorliegen, die den Zweck der notwendigen Verteidigung, dem Verurteilten einen effektiven Rechtsschutz im Verfahren nach § 67c Abs. 1 StGB zu sichern und einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, ernsthaft gefährden. Insoweit finden die zum Widerruf der Bestellung des Verteidigers im Erkenntnisverfahren analog § 143 entwickelten Rechtsgrundsätze entsprechende Anwendung.19 3. Pflicht zur Verteidigerbestellung bei Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Absatz 8) a) Umfang der Pflicht. Nach Absatz 8 Satz 1 ist das Gericht verpflichtet, wenn die 11 Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vollstreckt wird, dem Verurteilten, der keinen Verteidiger hat, für Verfahren über die auf dem Gebiet der Vollstreckung zu treffenden Entscheidungen einen Verteidiger zu bestellen. Damit werden alle vollstreckungsrechtlichen Entscheidungen erfasst. Die Verteidigerbestellung nach Absatz 8 ist ebenfalls obligatorisch („… bestellt das Gericht … einen Verteidiger“). Auch hier gelten die § 141 Abs. 3 Satz 2, Abs. 4 Satz 1, § 142 Abs. 1 und § 143 entsprechend. b) Sachliche Zuständigkeit, Rücknahme und Widerruf der Bestellung. Hinsichtlich 12 der sachlichen Zuständigkeit für die Bestellung sowie die Rücknahme und den Widerruf der Bestellung gelten die Ausführungen zu Absatz 3 entsprechend (vgl. Rn. 7, 10). Im
15 16 17
HW § 463, 27. BVerfGE 128 382. BTDrucks. 17 9874 S. 40; vgl. auch Nr. 70 Abs. 1 Satz 1 RiStBV zur Anhörung des Verteidigers zur Auswahl des Sachverständigen.
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BTDrucks. 17 9874 S. 40. Vgl. hierzu Meyer-Goßner § 143, 3 ff.
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Gegensatz zu Absatz 3 Satz 5 gilt die Bestellung nach Absatz 8 Satz 2 aber für jedes weitere Verfahren, solange sie nicht aufgehoben wird.
13
c) Begrenzung der Bestellung. Nach dem Willen des Gesetzgebers 20 und dem Wortlaut von Absatz 3 Satz 5 und Absatz 8 sind Angelegenheiten auf dem Gebiet des Strafvollzuges von der Bestellung nicht umfasst. Für den Strafvollzug oder den Vollzug freiheitsentziehender Maßregeln der Besserung und Sicherung sieht Art. 4 Nr. 2 Buchst. b mit § 109 Abs. 3 StVollzG sowie Art. 4 Nr. 6 mit § 119a Abs. 6 StVollzG die Beiordnung eines Rechtsanwalt von Amts wegen vor.
14
4. Reformüberlegungen. Der Gesetzgeber hat mit den Regelungen zur obligatorischen Bestellung eines Verteidigers bei Entscheidungen nach § 67c Abs. 1 StGB sowie allen weiteren die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung betreffenden Entscheidungen zwar den Vorgaben des BVerfG zur Sicherung eines effektiven Rechtsschutzes für Verurteilte nach Anordnung der Sicherungsverwahrung im Vollstreckungsverfahren21 sowie Forderungen im Schrifttum22 Rechnung getragen. Wenig sinnvoll erscheint allerdings die damit weiter ausgebaute sektorale Zersplitterung des Rechts der notwendigen Verteidigung. Vielmehr hätte es nahe gelegen, schon aus rechtssystematischen Erwägungen eine Reform des Rechts der notwendigen Verteidigung und eine Regelung im 11. Abschnitt des Ersten Buches der Strafprozessordnung und hier insbesondere eine breitere gesetzliche Regelung für das Vollstreckungsverfahren in Betracht zu ziehen23 und nicht – wie nunmehr aber wiederum geschehen – sektorale Regelungen zu treffen, die es erforderlich machen, die allgemeinen Vorschriften des Rechts der notwendigen Verteidigung im Ersten Buch der Strafprozessordnung entsprechend anzuwenden.
§ 463a (1) … (2) … (3) … (4) 1Die Aufsichtsstelle erhebt und speichert bei einer Weisung nach § 68b Absatz 1 Satz 1 Nummer 12 des Strafgesetzbuches mit Hilfe der von der verurteilten Person mitgeführten technischen Mittel automatisiert Daten über deren Aufenthaltsort sowie über etwaige Beeinträchtigungen der Datenerhebung; soweit es technisch möglich ist, ist sicherzustellen, dass innerhalb der Wohnung der verurteilten Person keine über den Umstand ihrer Anwesenheit hinausgehenden Aufenthaltsdaten erhoben werden. 2Die Daten dürfen ohne Einwilligung der betroffenen Person nur verwendet werden, soweit dies erforderlich ist für die folgenden Zwecke: 1. zur Feststellung des Verstoßes gegen eine Weisung nach § 68b Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, 2 oder 12 des Strafgesetzbuches, 2. zur Ergreifung von Maßnahmen der Führungsaufsicht, die sich an einen Verstoß gegen eine Weisung nach § 68b Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, 2 oder 12 des Strafgesetzbuches anschließen können, 20 21 22
BTDrucks. 17 9874 S. 40. BVerfGE 128 326 ff., 382. HW § 463, 27, 32, 42; § 454, 68 ff.; Vor § 449, 47; LR/Jahn/Lüderssen § 140,
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118 ff.; Graalmann-Scheerer StV 2011 696, 699. Graalmann-Scheerer StV 2011 696, 699.
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3. zur Ahndung eines Verstoßes gegen eine Weisung nach § 68b Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, 2 oder 12 des Strafgesetzbuches, 4. zur Abwehr einer erheblichen gegenwärtigen Gefahr für das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung Dritter oder 5. zur Verfolgung einer Straftat der in § 66 Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches genannten Art. 3Zur Einhaltung der Zweckbindung nach Satz 2 hat die Verarbeitung der Daten zur Feststellung von Verstößen nach Satz 2 Nummer 1 in Verbindung mit § 68b Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 oder 2 des Strafgesetzbuches automatisiert zu erfolgen und sind die Daten gegen unbefugte Kenntnisnahme besonders zu sichern. 4Die Aufsichtsstelle kann die Erhebung und Verarbeitung der Daten durch die Behörden und Beamten des Polizeidienstes vornehmen lassen; diese sind verpflichtet, dem Ersuchen der Aufsichtsstelle zu genügen. 5Die in Satz 1 genannten Daten sind spätestens zwei Monate nach ihrer Erhebung zu löschen, soweit sie nicht für die in Satz 2 genannten Zwecke verwendet werden. 6Bei jedem Abruf der Daten sind zumindest der Zeitpunkt, die abgerufenen Daten und der Bearbeiter zu protokollieren; § 488 Absatz 3 Satz 5 gilt entsprechend. 7Werden innerhalb der Wohnung der verurteilten Person über den Umstand ihrer Anwesenheit hinausgehende Aufenthaltsdaten erhoben, dürfen diese nicht verwertet werden und sind unverzüglich nach Kenntnisnahme zu löschen. 8Die Tatsache ihrer Kenntnisnahme und Löschung ist zu dokumentieren. (5) 1Örtlich zuständig ist die Aufsichtsstelle, in deren Bezirk der Verurteilte seinen Wohnsitz hat. 2Hat der Verurteilte keinen Wohnsitz im Geltungsbereich dieses Gesetzes, so ist die Aufsichtsstelle örtlich zuständig, in deren Bezirk er seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort hat und, wenn ein solcher nicht bekannt ist, seinen letzten Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort hatte.
Änderung. Durch Art. 2 Nr. 8 des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22.12.2010 (BGBl. I S. 2300) wurde Absatz 4 eingefügt und der bisherige Absatz 4 zu Absatz 5. Die Änderungen sind mit dem 1.1.2011 in Kraft getreten. Von der Entscheidung des BVerfG vom 4.5.20111 ist die Änderung nicht betroffen.
Übersicht Rn. 1. Zweck der Regelung . . . . . . . . . . . 2. Aufgaben der Aufsichtsstelle . . . . . . . a) Erhebung von Daten . . . . . . . . . b) Speicherung von Daten . . . . . . . . 3. Umfang der Datenerhebung und -speicherung . . . . . . . . . . . . . . . a) Daten über den Aufenthaltsort der verurteilten Person . . . . . . . . . . b) Daten über etwaige Beeinträchtigungen der Datenerhebung . . . . . . . . . . 4. Zweckbindung der Verwendung der Daten (Satz 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1 5 6 8 9 10 11 12
Rn. a) Verstoß gegen eine Weisung nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 12 StGB (Satz 2 Nr. 1) . . . . . . . . . . . . . b) Ergreifung von Maßnahmen der Führungsaufsicht bei einem Verstoß gegen eine Weisung nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 12 StGB (Satz 2 Nr. 2) . . c) Ahndung eines Verstoßes gegen eine Weisung nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 12 StGB (Satz 2 Nr. 3) . . d) Abwehr einer erheblichen gegenwärtigen Gefahr für das Leben, die körper-
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liche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung Dritter (Satz 2 Nr. 4) . . . . . . e) Verfolgung einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Art (Satz 2 Nr. 5) . . . . . . . . . . . . . f) Verwendung mit Einwilligung der betroffenen Person (Satz 2 1. Hs.) . . . g) Sicherstellung der Zweckbindung (Sätze 3 und 4) . . . . . . . . . . . . aa) Besondere Sicherung gegen unbefugte Kenntnisnahme . . . . bb) Übertragung der Datenerhebung und -verarbeitung auf die Behörden und Beamten des Polizeidienstes .
Rn.
17
5.
21
6. 7.
23 24
8.
25 9.
cc) Gemeinsame elektronische Überwachungsstelle der Länder (GÜL) Protokollierungspflicht bei Datenabruf (Satz 6) . . . . . . . . . . . . . . . . . Löschung der Daten (Satz 5) . . . . . . Löschung und Verwertung von über die Aufenthaltsdaten hinausgehende Daten (Satz 7) sowie Dokumentation der Datenlöschung (Satz 8) . . . . . . . . . . . . Praktische Durchführung der elektronischen Überwachung des Aufenthaltsortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anfechtung . . . . . . . . . . . . . . .
.
27
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29 30
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35
. .
37 40
26
Alphabetische Übersicht Abwehr einer erheblichen gegenwärtigen Gefahr 17 Anfechtung 40 Aufenthaltsdaten 31 – Befugnisse der Aufsichtsstelle 34 – Löschung 35 – Verwertung 35 Aufenthaltsort 10 Aufsichtsstelle 5 – Aufgaben 5 ff. Beschwerde 40 Datenabruf 29 Datenerhebung 6 ff. – Beeinträchtigung 11 – Übertragung 26 Datensicherung 25 Datenspeicherung 9 Dauergefahr 19 Dokumentationspflicht 36 Einschlusszonen 39
1
Einwilligung 23 Führungsaufsicht 3 f. Gefahrenabwehr 18, 33 gegenwärtige Gefahr 17 ff. Gemeinsame Überwachungsstelle der Länder (GÜL) 27 Global Positioneering System 38 Löschungspflicht 30 Neuregelung zur elektronischen Überwachung des Aufenthaltsortes 2, 4 Protokollierungspflicht 35 f. Standortkoordinaten 14 Verwendungsbeschränkung 22 Verwendungsregelung 20, 22 Verwertungsverbot 35 Weisungsverstoß 13 ff. Übertragung der Datenerhebung und -verarbeitung 26 Zeitplan 39 Zweck der Regelung 1 Zweckbindung 12, 24
1. Zweck der Regelung. Die Entscheidung des EGMR vom 17.12.2009,2 die seit dem 10.5.2010 endgültig ist, wonach die Vollstreckung in sogenannten Altfällen in der Sicherungsverwahrung wegen Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 EMRK für konventionswidrig erklärt wurde, hat nicht nur den Gesetzgeber vor die Herausforderung einer dem Abstandsgebot genügenden konventions- und verfassungskonformen Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung gestellt. In Folge der Entscheidung des EGMR hat eine von den Landesjustizverwaltungen eingeleitete Prüfung ergeben, dass etliche bis dahin in der Sicherungsverwahrung untergebrachte Personen als Altfälle einzustufen sind, bei denen eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vor dem 31.1.1998 erstmals angeordnet wurde und seit mehr als zehn Jahren vollstreckt wird und die nunmehr von der nachträglichen Unbefristetheit der Unterbringungsdauer betroffen sind, die der EGMR für konventionswidrig erachtet hat. In einigen dieser Altfälle ist es in
2
EuGRZ 10 25 = NJW 2010 2495 mit Anm. Eschelbach NJW 2010 2499 = StV 2010 181
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mit Anm. H. E. Müller StV 2010 207; Kinzig NStZ 2010 233.
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der Folgezeit zur Entlassung von Untergebrachten aus der Sicherungsverwahrung unter Anordnung der Führungsaufsicht (§ 67d Abs. 3 Satz 2 StGB) gekommen.3 In diesen Fällen erfolgte eine personalressourcenintensive ununterbrochene Überwachung der verurteilten Personen durch die Polizei im Rahmen der Gefahrenabwehr. Der Gesetzgeber hat die Forderungen der Justiz- und Innenminister4 nach neuen Regelungen über eine elektronische Überwachung der Aufenthaltsermittlung im Rahmen der Führungsaufsicht zeitnah aufgegriffen. Die Neuregelung zur elektronischen Überwachung des Aufenthaltsortes bezieht sich 2 nicht nur auf die sogenannten Altfälle, auch wenn diese Anlass für die gesetzgeberischen Aktivitäten waren, sondern geht darüber hinaus, denn der Regelungsgehalt ist nicht auf die Altfälle begrenzt. Dem Gesetzgeber kam es darauf an, mit der Einführung der elektronischen Überwachung des Aufenthaltsortes ein neues Standardinstrumentarium in das Recht der Führungsaufsicht einzuführen5 und damit das Recht der Führungsaufsicht weiter auszubauen.6 Die elektronische Überwachung des Aufenthaltsortes im Rahmen der Führungsauf- 3 sicht greift erheblich in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein. Um der Rechtsprechung des BVerfG7 zur Rechtfertigung eines solchen Grundrechtseingriffs zu genügen, bedarf es verfahrensrechtlicher Absicherungen. Absatz 4 sieht insoweit einen begrenzten Umfang der Datenerhebung und -speicherung, eine enge Zweckbindung (Satz 2) und Regelungen zur Sicherung derselben (Sätze 3 und 4), Löschungspflichten (Sätze 5 und 7) und die Bestimmung der Wohnung des Betroffenen als grundsätzlich erhebungsfreien Raum (Satz 1 2. Hs.) vor. Vor allem durch die enge Zweckbindung, die relativ kurze Speicherfrist und die Bestimmung der Wohnung des Betroffenen als grundsätzlich erhebungsfreien Raum soll sichergestellt werden, dass eine verfassungsrechtlich unzulässige „Rundumüberwachung“, mit der ein umfassendes Persönlichkeitsprofil erstellt werden könnte,8 unterbleibt. Da es sich bei der Führungsaufsicht nicht um eine Freiheitsentziehung handelt, dürfte 4 ein Verstoß gegen Art. 5 EMRK und auch gegen den vom EGMR bei der Sicherungsverwahrung beanstandeten Abstand zur Freiheitsstrafe nicht vorliegen. Damit gelten die Neuregelungen auch für solche Fallkonstellationen, bei denen eine verurteilte Person aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden soll oder auch bereits entlassen worden ist, weil – wie in dem vom EGMR entschiedenen Fall9 – die Sicherungsverwahrung seit mehr als zehn Jahren vollstreckt wird und die Anlasstat vor dem 31.1.1998 begangen wurde,10 denn in diesen Fällen tritt sowohl nach altem11 als auch nach geltendem Recht nach § 67d Abs. 3 Satz 2 StGB kraft Gesetzes Führungsaufsicht ein. 2. Aufgaben der Aufsichtsstelle. Der neue Absatz 4 regelt abschließend unter ande- 5 rem die Aufgaben der Aufsichtsstelle sowie den Umfang der Datenerhebung und -speicherung.
3
4
BGH StV 2010 482 mit Anm. Ahmed StV 2010 574; Brauneisen StV 2011 311; BTDrucks. 17 3403 S. 14. Vgl. Ergebnisse der 190. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 27./28.5.2010 TOP 17 sowie Ergebnisse der 81. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister vom 23./24.6.2010 in Hamburg TO II. 1 und II. 2.
5 6 7 8 9 10 11
Brauneisen StV 2011 311, 312. BTDrucks. 17 3403 S. 14. BVerfGE 109 279, 323; 112 304, 319. BTDrucks. 17 3403 S. 18 f. EuGRZ 10 25 = NJW 2010 2495. BTDrucks. 17 3403 S. 20. Vgl. § 67d Abs. 4 StGB i.d.F. des EGStGB 1974.
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6
a) Erhebung von Daten. Nach Absatz 4 Satz 1 1. Hs. ist es Aufgabe der Aufsichtsstelle, bei einer Weisung nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 StGB die für die elektronische Überwachung des Aufenthaltsortes erforderlichen Daten zu erheben. Die Regelung ergänzt damit § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 und 4 StGB und § 68a Abs. 3 StGB, wonach die Aufsichtsstelle im Einvernehmen mit dem Gericht und mit Unterstützung der Bewährungshilfe das Verhalten der verurteilten Person und die Erfüllung von Weisungen überwacht. Die Datenerhebung umfasst grundsätzlich alle Aufenthaltsdaten einschließlich der Daten über eine Beeinträchtigung der Erhebung.12 Der Gesetzgeber hat sich bewusst für eine solch umfassende Regelung entschieden, um sämtliche in Absatz 4 Satz 2 Nr. 1 bis 5 vorgesehenen Verwendungszwecke zu erfassen und die mit der Überwachung angestrebte spezialpräventiven Wirkungen erreichen zu können.13 Daher erhebt die Aufsichtsstelle insbesondere die Daten über den Aufenthaltsort der verurteilten Person auch, um deren jeweiligen Aufenthaltsort feststellen zu können, sofern dies zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben, Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung Dritter erforderlich ist (Absatz 4 Satz 2 Nr. 4) oder um nachträglich den Aufenthaltsort feststellen zu können, wenn gegen den Verurteilten der Verdacht einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Art besteht (Absatz 4 Satz 2 Nr. 5). Der Befugnis zur Erhebung von Daten über etwaige Beeinträchtigungen der Daten7 erhebung bedarf es, um Verstöße gegen eine nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 StGB erteilte Weisung feststellen zu können, aber auch, um davon unabhängig Funktionsbeeinträchtigungen des Geräts zeitnah erkennen zu können, die etwa eine Reparatur oder Neueinstellung des von der verurteilten Person mitgeführten Geräts erforderlich machen.
8
b) Speicherung von Daten. Absatz 4 Satz 1 enthält zugleich die gesetzliche Grundlage für die Speicherung der mit Hilfe der von der verurteilten Person mitgeführten technischen Mittel erhobenen Daten über deren Aufenthaltsort sowie etwaige Beeinträchtigungen der Datenerhebung. Erhobene Daten werden grundsätzlich gespeichert.
9
3. Der Umfang der Datenerhebung und -speicherung ist durch Absatz 4 Satz 1 gesetzlich beschränkt.
10
a) Daten über den Aufenthaltsort der verurteilten Person. Nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 StGB kann das Gericht die verurteilte Person für die Dauer der Führungsaufsicht anweisen, die für eine elektronische Überwachung ihres Aufenthaltsortes erforderlichen technischen Mittel ständig in betriebsbereitem Zustand bei sich zu führen und deren Funktionsfähigkeiten nicht zu beeinträchtigen. Nach § 68b Abs. 1 Satz 2 StGB ist das Gericht verpflichtet, das verbotene oder verlangte Verhalten genau zu bestimmen. Die Weisung nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 StGB muss darüber hinaus erforderlich erscheinen, die verurteilte Person durch die Möglichkeit der Datenverwendung nach Absatz 4 Satz 2 von der Begehung weiterer Straftaten der in § 66 Abs, 3 Satz 1 StGB genannten Art abzuhalten. Das Gericht kann daher Ge- und Verbotszonen nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 StGB festlegen. Die Definition derartiger Ge- und Verbotszonen mit aufenthaltsbeschränkenden Weisungen in Verbindung mit einer Weisung nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 StGB zur elektronischen Aufenthaltsüberwachung wirkt daher spezialpräventiv. Nach Absatz 4 Satz 1 2. Hs. dürfen jedoch keine über den Umstand der Anwesenheit der verurteilten Person in der Wohnung hinausgehende Aufenthaltsdaten erhoben und gespeichert werden. Es ist daher nicht zulässig, Daten über den genauen Aufenthalts12
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ort in der Wohnung (z.B. Bad, Schlafzimmer) zu erheben und zu speichern. Diese Regelung soll sicherstellen, dass die elektronische Aufenthaltsüberwachung nicht zu einem unzulässigen Eingriff in den Kernbereich privater Lebensgestaltung14 führt.15 Soweit technisch derartige Daten nicht von der Erhebung und Speicherung ausgenommen werden können, stellt die Regelung in Absatz 4 Satz 7 aber sicher, dass diese erhobenen (und gespeicherten) Daten nicht verwertet werden dürfen und unverzüglich nach Kenntnisnahme zu löschen sind. b) Daten über etwaige Beeinträchtigungen der Datenerhebung. Eine Erhebung und 11 Speicherung von Daten ist auch über etwaige Beeinträchtigungen der Datenerhebung erforderlich. Die eingesetzten technischen Mittel, die dem technischen Fortschritt unterfallen, können aus technischen Gründen und/oder bei nicht sachgerechter Verwendung in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden. In einem solchen Fall muss die Aufsichtsstelle von sich aus in der Lage sein, diesen Mangel unverzüglich zu erkennen und beheben zu können. 4. Zweckbindung der Verwendung der Daten (Satz 2). Die nach Satz 1 erhobenen 12 und gespeicherten Daten dürfen ohne Einwilligung der betroffenen Person nach Satz 2 nur unter der dort abschließend geregelten Zweckbindung verwendet werden. Danach ist eine Verwendung nur zulässig, um einen Verstoß gegen eine Weisung nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 12 StGB feststellen (Satz 2 Nr. 1), darauf mit Maßnahmen der Führungsaufsicht (Satz 2 Nr. 2) oder der Strafverfolgung (Satz 2 Nr. 3) reagieren zu können sowie um eine akute und schwere Gefährdung abzuwenden (Satz 2 Nr. 4) oder eine schwere Straftat im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB zu verfolgen.16 a) Verstoß gegen eine Weisung nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 12 StGB (Satz 2 13 Nr. 1). Absatz 4 Satz 2 Nr. 2 gestattet die Verwendung der erhobenen Aufenthaltsdaten auch ohne Einwilligung der betroffenen Person zur Feststellung eines Verstoßes gegen eine Weisung nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 12 StGB. Die Daten können damit nicht nur zur Überwachung angeordneter Aufenthaltsbeschränkungen nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 oder 2 StGB verwandt werden. Es ist vielmehr auch zulässig, sie zur Kontrolle einzusetzen, ob die verurteilte Person den Wohn- oder Aufenthaltsort oder einen bestimmten Bereich ohne Erlaubnis der Aufsichtsstelle verlassen hat (§ 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB) oder sich an einem bestimmten Ort aufgehalten hat, der ihr Gelegenheit oder Anreiz zu weiteren Straftaten bieten kann (§ 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB) oder ob die verurteilte Person der erteilten Weisung nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 StGB nachkommt und die für eine elektronische Überwachung ihres Aufenthaltsortes erforderlichen technischen Mittel auch tatsächlich ständig in betriebsbereitem Zustand bei sich führt und deren Funktionsfähigkeit nicht beeinträchtigt. Die nach Absatz 4 Satz 2 Nr. 1 erhobenen Daten dürfen auch dazu verwendet werden, eine nicht von der verurteilten Person vorsätzlich und schuldhaft herbeigeführte Funktionsbeeinträchtigung festzustellen, um diese – durch Reparatur oder Austausch des technischen Mittels – zu beseitigen.17 Ein strafbewehrter Verstoß gegen eine Weisung nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 StGB setzt nämlich stets die uneingeschränkte Funktionsfähigkeit des eingesetzten technischen Mittels voraus.
14 15
BVerfGE 109 279 ff. = NJW 2004 999; Meyer-Goßner § 100c, 13 ff. BTDrucks. 17 3403 S. 44.
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14
Zur Feststellung von Verstößen nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 oder 2 StGB müssen die Standortkoordinaten festgestellt werden, aus denen sich der Aufenthaltsort der verurteilten Person innerhalb des vom Gericht festgesetzten Bereichs sowie der Zeitpunkt der Datenerhebung ergeben. Bei einem Verstoß gegen § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 StGB müssen diejenigen Daten festgestellt werden, aus denen sich ergibt, dass die verurteilte Person entweder das technische Mittel nicht mehr bei sich führt oder dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt hat. Die erhobenen Daten können auch zum Nachweis verwendet werden, dass die verurteilte Person eine technische Störung des eingesetzten technischen Mittels nicht zu vertreten hat und damit ihrer Entlastung dienen.
15
b) Ergreifung von Maßnahmen der Führungsaufsicht bei einem Verstoß gegen eine Weisung nach § 68b Abs. 1 Satz 1, 2 oder 12 StGB (Satz 2 Nr. 2). Satz 2 Nr. 2 knüpft an Nr. 1 an und regelt, dass die erhobenen Daten verwendet werden dürfen, um nach einem festgestellten Verstoß gegen eine Weisung nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 12 StGB Maßnahmen der Führungsaufsicht ergreifen zu können, etwa durch eine neue Weisung, Änderung oder Aufhebung einer Weisung nach § 68d Abs. 1 StGB.
16
c) Ahndung eines Verstoßes gegen eine Weisung nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 12 StGB (Satz 2 Nr. 3). Absatz 4 Satz 2 Nr. 3 regelt, dass die erhobenen und gespeicherten Daten zur Ahndung eines Verstoßes gegen eine Weisung nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 12 StGB verwendet werden dürfen. Die Standortkoordinaten, aus denen sich der Aufenthaltsort der verurteilten Person zu einem bestimmten erhobenen Zeitpunkt ergibt, dürfen damit zur Begründung eines Anfangsverdachts (§ 152 Abs. 2) für eine Straftat nach § 145a StGB verwendet werden.
17
d) Abwehr einer erheblichen gegenwärtigen Gefahr für das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung Dritter (Satz 2 Nr. 4). Die Regelung gestattet die Verwendung der erhobenen und gespeicherten Daten zum Zwecke der Gefahrenabwehr und greift in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Die Verwendungsregelung verfolgt alleine den Zweck, eine erhebliche gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben, persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung Dritter abzuwenden. Der Begriff der Erheblichkeit ist im Strafgesetzbuch nicht einheitlich.18 Die Erheblichkeit kann sich aus der Art einer drohenden Straftat ergeben, so wenn es sich um zu erwartende Verbrechen handelt.19 Bei zu erwartenden Gewalt- und Aggressionsdelikten wird die Erheblichkeitsschwelle in der Regel überschritten sein. Eine zu erwartende Bagatelltat wird hingegen keine erhebliche Gefahr begründen. Letztlich wird es in Grenzbereichen regelmäßig von den Umständen des Einzelfalls abhängen, wobei den strafrechtlichen Vorbelastungen und der Rückfallgeschwindigkeit sowie der Art der Rückfälle der verurteilten Person eine Indizwirkung für die Erheblichkeit der von ihr ausgehenden Gefahr zukommt. 18 Die Verwendung der erhobenen und gespeicherten Daten zur Gefahrenabwehr dürfte noch nicht den Kernbereich privater Lebensgestaltung verletzen.20 Der Gesetzgeber geht davon aus, dass allein das Wissen um den jeweiligen Aufenthaltsort keine umfassende Kenntnis von die verurteilte Person betreffende Vorgänge höchstpersönlicher Art ermög-
18 19
Fischer § 63, 16 StGB. BGH NStZ 2008 210, 212; 2009 689 f.; NStZ-RR 2011 271, 272.
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BTDrucks. 17 3403 S. 45 (keine Verletzung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung).
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licht,21 weil mit der Ortskenntnis jeweils nicht auch die Kenntnis verbunden ist, womit sich die verurteilte Person an dem jeweiligen Ort gerade beschäftigt. Eine erhebliche gegenwärtige Gefahr liegt dann vor, wenn bei natürlicher Weiterent- 19 wicklung der Dinge der Eintritt einer Rechtsgutverletzung sicher oder doch höchstwahrscheinlich ist, sofern nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen werden, oder wenn der ungewöhnliche Zustand nach menschlicher Erfahrung und natürlicher Weiterentwicklung der gegebenen Sachlage jederzeit in eine Rechtsgutverletzung umschlagen kann.22 Eine gegenwärtige Gefahr kann auch schon gegeben sein, wenn die Angriffshandlung noch nicht begonnen hat.23 Die von der obergerichtlichen Rechtsprechung zum Begriff der Gegenwärtigkeit i.S.v. § 34 StGB entwickelten Rechtsgrundsätze sind bei der Auslegung des Begriffs der erheblichen gegenwärtigen Gefahr nach Absatz 4 Satz 2 Nr. 4 entsprechend heranzuziehen. Im Gegensatz zum Begriff der Gegenwärtigkeit eines Angriffs i.S.v. § 32 Abs. 2 StGB setzt die Gegenwärtigkeit einer Notstandsgefahr nämlich nicht unbedingt voraus, dass die Rechtsgutverletzung in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zu der Ausgangssituation einzutreten droht.24 Gegenwärtig ist auch eine von der verurteilten Person ausgehende Dauergefahr,25 die jederzeit, also auch alsbald, in eine Rechtsgutverletzung umschlagen kann, auch wenn offen ist, ob sie noch eine Zeit lang auf sich warten lässt. Eine Dauergefahr kann dann eine gegenwärtige Gefahr darstellen, wenn der Eintritt der drohenden Rechtsgutverletzung zwar erst nach Ablauf einer gewissen Zeit zu erwarten ist, aber ein unverzügliches Handeln angezeigt ist, um ihr wirksam begegnen zu können (z.B. bei einem völlig unberechenbaren Verhalten eines psychisch kranken Verurteilten). Eine erhebliche gegenwärtige Gefahr liegt insbesondere bei Ausnahmesituationen wie etwa der Entführung eines Kindes vor, deren der Verurteilte verdächtigt wird.26 Sie kann sich aber auch aus anderen Umständen ergeben. So können aktuelle Berichte des Bewährungshelfers, aber auch von Mitarbeitern der forensischen Ambulanz (§ 68a Abs. 8 Satz 2 Nr. 3 StGB), die – zureichende tatsächliche – Anhaltspunkte einer erheblichen Gefahr für das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung Dritter enthalten, Anlass geben, die erhobenen und gespeicherten Daten Aufenthaltsdaten zu verwenden. Die Regelung des Absatz 4 Satz 2 Nr. 4 ist gegenüber § 483 Abs. 1 lex specialis, denn 20 sie enthält eine besondere Verwendungsregelung gegenüber § 483 Abs. 1, der unter anderem der Aufsichtsstelle gestattet, personenbezogene Daten in Dateien zu speichern, verändern und zu nutzen, soweit dies für Zwecke des Strafverfahrens erforderlich ist. Die sich aus Absatz 4 Satz 2 Nr. 4 ergebende Zweckbindung ist insbesondere bei der Datenübermittlung an die Polizei und deren dortige Verwendung zu beachten (vgl. § 487 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 477 Abs. 2 Satz 1, § 487 Abs. 6 Satz 1 sowie § 481 Abs. 2).27 e) Verfolgung einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Art (Satz 2 21 Nr. 5). Absatz 4 Satz 2 Nr. 5 gestattet die Verwendung der erhobenen und gespeicherten Aufenthaltsdaten nur zum Zwecke der Verfolgung einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB28 genannten Art. Der Bereich der mittleren und einfachen Kriminalität ist bewusst 21 22
23 24
BTDrucks. 17 3403 S. 45. BGHSt 5 371, 373; BGH NJW 1989 176 und 1289 jeweils zu § 255 StGB; Fischer § 34, 7 StGB; LK/Zieschang § 34, 36 f.; MüKoStGB/Erb § 34, 78 ff. BGHSt 39 133, 137. LK/Zieschang § 32, 140; MüKo-StGB/Erb § 32, 105 und § 34, 78.
25 26 27 28
BGHSt 48 255. BTDrucks. 17 3403 S. 45. BTDrucks. 17 3403 S. 45. Vgl. hinsichtlich der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Straftaten Fischer § 66, 15 ff. StGB.
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nicht erfasst worden. Die Daten über den Aufenthaltsort einer verurteilten Person dürfen mithin nachträglich auch für andere Strafverfahren ausgewertet werden, wenn der Verdacht besteht, dass sie mit einer solchen Straftat in Verbindung stehen könnte und nun ermittelt werden soll, wo sie sich zur mutmaßlichen Tatzeit aufhielt.29 Ein Anfangsverdacht gegen die verurteilte Person wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB ist im Zeitpunkt der Datenabfrage noch nicht erforderlich. Dies ist weder dem Wortlaut von Absatz 4 Satz 2 Nr. 5 noch dem Willen des Gesetzgebers zu entnehmen.30 Die Möglichkeit einer Verwendung der Aufenthaltsdaten soll zum einen die Tataufklärung und die Strafverfolgung ermöglichen oder erleichtern. Zum anderen aber soll das Wissen um eine sehr hohe Gefahr einer Tatentdeckung spezialpräventiv wirken und die überwachte Person davon abhalten, Straftaten der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Art zu begehen.31 Die Verwendungsregelung bedingt zugleich eine Verwendungsbeschränkung. Sofern 22 die Aufenthaltsdaten zum mutmaßlichen Tatzeitpunkt in einer Datei im Sinne von § 483 Abs. 1 gespeichert sind, ist eine Datenübermittlung nach § 487 Abs. 1 i.V.m. § 477 Abs. 2 Satz 1 nur dann zulässig, wenn wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Art ermittelt wird. Die Ermittlungen können sich gegen Unbekannt richten. Ein Anfangsverdacht gegen den Verurteilten wegen einer neuen, während der Führungsaufsicht begangenen Straftat nach § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB ist nicht erforderlich. Bei der ermittelnden Behörde, insbesondere Polizeibehörden und Staatsanwaltschaft, darf nach § 160 Abs. 4 nur dann um Auskunft nach den Aufenthaltsdaten ersucht werden, wenn Gegenstand des Ermittlungsverfahrens eine Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Art ist. Soweit die entsprechenden Aufenthaltsdaten in den Akten vermerkt sind, findet § 477 Abs. 2 Satz 1 direkte Anwendung und führt dazu, dass eine Akteneinsicht bzw. Auskunftserteilung nach § 474 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 17 Nr. 1 EGGVG und § 479 Abs. 1 und 3 beschränkt ist. Die um Akteneinsicht oder Auskunft nachsuchende Behörde hat daher Absatz 4 Satz 2 Nr. 5 über § 160 Abs. 4 zu beachten.32 Die Verwendungsregelung ist damit enger, als dies der in § 477 Abs. 2 Satz 2 (auch i.V.m. § 487 Abs. 1 Satz 2) und der in § 161 Abs. 2 Satz 1 enthaltene Grundgedanke des hypothetischen Ersatzeingriffs zulassen würde.33 Die Beschränkung der Verwendungsregelung rechtfertigt sich mit dem systematischen Argument, dass eine Weisung nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 StGB unter anderem nur wegen einer oder mehrerer Straftaten der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Art zulässig ist (§ 68b Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 StGB) und insoweit die Gefahr weiterer entsprechender Straftaten (§ 68b Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 und 4 StGB) besteht. Darüber hinaus soll die Beschränkung der Verwendungsregelung zur Verhältnismäßigkeit der Gesamtregelung beitragen.34
23
f) Verwendung mit Einwilligung der betroffenen Person (Absatz 4 Satz 2 1. Hs.). Nach Absatz 4 Satz 2 1. Hs. dürfen die erhobenen Aufenthaltsdaten über die in Absatz 4 Satz 2 2. Hs. Nr. 1 bis 5 geregelten Zwecke hinaus mit Einwilligung der betroffenen Person für sonstige Zwecke verwendet werden. Insoweit kann eine Verwendung zur Aufklärung von nicht in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Straftaten Betracht kommen.35 Eine solche Einwilligung sollte schriftlich nach vorheriger Belehrung über die Freiwilligkeit und Folgen einer Einwilligung erfolgen.
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g) Sicherstellung der Zweckbindung (Satz 3 und 4). Absatz 4 Satz 3 schreibt zwin- 24 gend vor, dass die Verarbeitung der Aufenthaltsdaten nach Feststellung von Weisungsverstößen nach Absatz 4 Satz 2 Nr. 1 i.V.m. mit § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 oder 2 StGB automatisiert zu erfolgen hat. Die Vorschrift soll zusammen mit der in Satz 1 enthaltenen Pflicht zur automatisierten Datenerhebung und -speicherung sicherstellen, dass die Aufsichtsstelle im „Normalbetrieb“ einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung nur von solchen Daten erfährt, die auf einen solchen Verstoß hinweisen, sofern nicht ausnahmsweise die Voraussetzungen für eine anderweitige Verwendung der Aufenthaltsdaten nach Absatz 4 Satz 2 Nr. 4 oder 5 gegeben sind. In der Praxis bedeutet dies, dass das System grundsätzlich nur dann ein Alarmsignal abgibt, wenn es Hinweise auf einen Weisungsverstoß gibt. Durch technische Vorkehrungen muss daher verhindert werden, dass der Aufenthaltsort des Verurteilten unabhängig von etwaigen Weisungsverstößen oder den Voraussetzungen nach Absatz 4 Satz 2 Nr. 4 oder 5 jederzeit oder gar fortlaufend kontrolliert werden kann.36 aa) Die besondere Sicherung der Daten nach Absatz 4 Satz 3 2. Hs. gegen unbefugte 25 Kenntnisnahme hat nach den Vorgaben von § 9 BDSG i.V.m. der Anlage zu Satz 1 dieser Vorschrift zu erfolgen. Es müssen die dort beschriebenen Maßnahmen, die sich unter anderem auf die Zutritts-, Zugangs- und Zugriffskontrolle beziehen, eingehalten werden. Dabei ist ein dem Stand der Technik entsprechendes Verschlüsselungsverfahren zu nutzen.37 Dadurch ist sicherzustellen, dass nur ein begrenzter, mit der Aufgabenerfüllung befasster Personenkreis Zugriff auf die erhobenen Aufenthaltsdaten haben kann.38 bb) Übertragung der Datenerhebung und -verarbeitung auf die Behörden und Beam- 26 ten des Polizeidienstes. Absatz 4 Satz 4 ermöglicht es der Aufsichtsstelle, über Absatz 1 hinaus die Erhebung und Verarbeitung der Aufenthaltsdaten durch die Behörden und Beamten des Polizeidienstes vornehmen zu lassen. Diese sind verpflichtet, dem Ersuchen der Aufsichtsstelle zu entsprechen. cc) Mit Staatsvertrag über die Einrichtung einer Gemeinsamen elektronischen Über- 27 wachungsstelle der Länder haben die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen eine Gemeinsame elektronische Überwachungsstelle der Länder (GÜL) gebildet, die bei der Gemeinsamen IT-Stelle der Hessischen Justiz (GIT) angesiedelt ist. Inzwischen sind alle Länder dem Staatsvertrag beigetreten. Nach Art. 2 Abs. 1 des Staatsvertrags haben die Länder der GÜL die Aufgaben im 28 Zusammenhang mit der elektronischen Überwachung des Aufenthalts von Verurteilten übertragen, die der Führungsaufsicht unterstehen und denen eine Weisung nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 StGB erteilt wurde. Die GÜL hat den Echtbetrieb am 1.1.2012 aufgenommen. 5. Protokollierungspflicht bei Datenabruf (Satz 6). Bei jedem Abruf der Aufenthalts- 29 daten sind nach Satz 6 1. Hs. der Zeitpunkt, die abgerufenen Daten und der Bearbeiter verpflichtend zu protokollieren. Diese Regelung dient dem Datenschutz und ermöglicht eine nachträgliche Kontrolle, ob bei dem Abruf, der Kenntnisnahme sowie der Verwendung der Daten die Zweckbindung nach Absatz 4 Satz 2 beachtet worden sind und durch eine berechtigte Person erfolgt ist. Darüber hinaus kommt der Regelung aber auch 36 37
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eine präventive Wirkung zu.39 Nach Absatz 4 Satz 6 2. Hs. gilt § 488 Abs. 3 Satz 5 entsprechend. Danach dürfen die Protokolldaten nur für die Kontrolle der Zulässigkeit der Abrufe verwendet werden und sind nach zwölf Monaten zu löschen.
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6. Löschung der Daten (Satz 5). Satz 5 schreibt eine Löschungspflicht der in Satz 1 genannten Daten spätestens zwei Monate nach ihrer Erhebung vor, soweit sie nicht für die in Satz 2 abschließend genannten Zwecke verwendet werden, also zur Feststellung und Ahndung von Weisungsverstößen nach § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 12 StGB, zur Abwehr einer erheblichen gegenwärtigen Gefahr für das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung Dritter oder zur Verfolgung einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Art. Die Zweimonatsfrist ist erforderlich, um klären zu können, ob die erhobenen und gespeicherten Daten für die in Satz 2 genannten Zwecke noch benötigt werden. Für die Praxis erweist sich die Zweimonatsfrist als recht kurz. Die Frist beginnt mit der Erhebung der Daten zu laufen. Für die Fristberechnung ist § 43 Abs. 1 entsprechend anwendbar, nicht jedoch § 43 Abs. 2, da dies dem Sinn und Zweck der bewusst vom Gesetzgeber gewählten strikten Fristenregelung40 widersprechen würde. Die Frist von zwei Monaten ist allerdings für Ermittlungsbehörden zwingend erforderlich, denn vor allem bei der Verfolgung von Straftaten der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Art fallen Tatzeit und Kenntnis der Ermittlungsbehörden von der neuen Straftat oftmals zeitlich auseinander, z.B. weil bei einem Tötungsdelikt der Leichenfund erst deutlich nach der Tatbegehung erfolgt oder bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Verletzte nicht sogleich nach der Tat Strafanzeige erstatten.41 Schließlich kann es aber auch zur Abwehr einer erheblichen gegenwärtigen Gefahr für das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die persönliche Freiheit, etwa im Falle einer Freiheitsberaubung (§ 239 Abs. 3 und 4 StGB), eines erpresserischen Menschenraubes (§ 239a StGB) oder einer Geiselnahme (§ 239b StGB) erforderlich sein, die Aufenthaltsdaten der womöglich mit dem Entführungsopfer in Verbindung stehenden verurteilten Person, zurückverfolgen zu können, um so Hinweise zum eventuellen Aufenthaltsort des Opfers zu erlangen.42 Eine über die Frist von zwei Monaten hinausgehende Verwendung ist nur dann zu31 lässig, wenn die Aufenthaltsdaten zu diesem Zeitpunkt bereits für einen der in Satz 2 genannten Zwecke verwendet werden. Eine darüber hinausgehende Speicherung der Aufenthaltsdaten auf Vorrat, weil diese unter Umständen später noch benötigt werden könnten, ist unzulässig. Ob die Zweimonatsfrist sich in der Praxis als ausreichend erweisen wird, wird künftiger Evaluation vorbehalten bleiben müssen. Aufenthaltsdaten, die für die Zwecke des Satzes 2 von den Ermittlungsbehörden 32 benötigt werden, können über die Zweimonatsgrenze hinaus gespeichert und die Zwecke des Satzes 2 weiter verwendet werden. Soweit die Aufenthaltsdaten danach für strafprozessuale Zwecke (Absatz 4 Satz 2 Nrn. 1, 2, 3 und 5) verwendet werden, richtet sich die weitere Speicherung und Löschung der Aufenthaltsdaten nicht mehr nach Satz 5, sondern nach den §§ 483 ff. Nach § 489 Abs. 2 Satz 1 sind die Daten insbesondere dann zu löschen, wenn sie für Zwecke des Strafverfahrens nicht mehr erforderlich sind.43 Die Aufenthaltsdaten dürfen dabei aber nicht für jeden strafprozessualen Zweck verwendet werden, sondern unterliegen der Verwendungsregelung von Absatz 4 Satz 2. Sofern die
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BTDrucks. 17 3403 S. 48. BTDrucks. 17 3403 S. 47. BTDrucks. 17 3403 S. 47.
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BTDrucks. 17 3403 S. 47. BTDrucks. 17 3403 S. 47; LR/Hilger § 483, 8.
Kirsten Graalmann-Scheerer
Erster Abschnitt. Strafvollstreckung
Nachtr. § 463a StPO
Aufenthaltsdaten für diese Zwecke nicht mehr benötigt werden, sind sie nach § 489 Abs. 2 Satz 1 zu löschen. Werden die Aufenthaltsdaten für Zwecke der Gefahrenabwehr (Absatz 4 Satz 2 Nr. 4) 33 verwendet, so richtet sich die weitere Speicherung und Löschung nach den einschlägigen Gefahrenabwehrgesetzen und nicht nach den §§ 483 ff. Dabei hat die für die Gefahrenabwehr zuständige Stelle, in der Regel die Polizeibehörden von Bund und Ländern, zu beachten, dass die Aufenthaltsdaten zweckgebunden nur zu dem in Absatz 4 Satz 2 Nr. 4 genannten Gefahrenabwehrzweck übermittelt wurden und daher nach § 487 Abs. 6 Satz 1 auch nur zu diesem Zweck verwendet werden dürfen.44 Im Übrigen richten sich die Befugnisse der Aufsichtsstelle zum Umgang mit den per- 34 sonenbezogenen (Aufenthalts-)Daten nach den §§ 474 ff. und §§ 483 ff., soweit sich aus Absatz 4 nichts Abweichendes ergibt.45 7. Löschung und Verwertung von über die Aufenthaltsdaten hinausgehende Daten 35 (Satz 7) sowie Dokumentation der Datenlöschung (Satz 8). Satz 7 enthält ein Verwertungsverbot hinsichtlich solcher Daten, die über den Umstand der Anwesenheit hinausgehende Aufenthaltsdaten hinausgehen, die innerhalb der Wohnung der verurteilten Person erhoben worden sind. Damit ist eine genaue Ortung und Verwertung von Daten, aus denen sich mehr Informationen ergeben als die bloße Anwesenheit der verurteilten Person, unzulässig.46 Sofern es technisch möglich ist, dürfen über den Umstand der Anwesenheit in der Wohnung hinausgehende Aufenthaltsdaten gar nicht erst erhoben werden. Wenn es jedoch nicht möglich sein sollte, eine differenzierende Datenerhebung technisch umzusetzen, dürfen die Daten zwar erhoben werden, unterliegen nach Satz 7 aber einer unverzüglichen Löschungspflicht nach Kenntnisnahme und darüber hinaus auch einem Verwertungsverbot. Nach Satz 8 ist die Tatsache der Kenntnisnahme von über die Anwesenheit der ver- 36 urteilten Person hinausgehende Aufenthaltsdaten innerhalb der Wohnung sowie die Löschung dieser Daten zu dokumentieren. Dadurch soll gewährleistet werden, dass die elektronische Aufenthaltsüberwachung nicht in unzulässiger Weise in den Kernbereich privater Lebensgestaltung eingreift.47 Nicht zulässig ist es, durch die Dokumentationspflicht nach Satz 8 unzulässigerweise erhobene Aufenthaltsdaten in den Akten zu dokumentieren. Die aktenmäßige Dokumentation hat sich daher auf die Dokumentation der Kenntnisnahme zu löschender Daten unter Angabe von Datum und Uhrzeit der Kenntnisnahme sowie die Löschung zu beschränken. Es ist nicht zulässig, den darüber hinausgehenden Inhalt der zur Kenntnis genommenen Aufenthaltsdaten zu dokumentieren. Ein Verstoß gegen die Dokumentationspflicht führt hinsichtlich derjenigen Daten, die nicht hätten dokumentiert werden dürfen, zu einem Verwertungsverbot (Satz 7). 8. Praktische Durchführung der elektronischen Überwachung des Aufenthaltsortes. 37 Bei dem eingesetzten technischen Mittel handelt es sich um ein Gerät, das wasserdicht und stoßfest ist und oberhalb des Knöchels vom Verurteilten („Fußfessel“) getragen wird. Das Gerät wird über einen Akku betrieben und muss regelmäßig aufgeladen werden. Der Verurteilte wird über LED-Leuchten sowie einen Vibrationsalarm im Gerät über Ereignisse, z.B. einen zu niedrigen Ladezustand des Geräts, informiert. Beim An-
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BTDrucks. 17 3403 S. 47. BTDrucks. 17 3403 S. 47. BVerfGE 27 1, 6; BTDrucks. 17 3403 S. 44.
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BTDrucks. 17 3403 S. 44; BVerfGE 112 304, 319.
Kirsten Graalmann-Scheerer
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§ 463b StPO Nachtr.
Siebentes Buch. Strafvollstreckung und Kosten des Verfahrens
legen des Geräts oberhalb des Knöchels und unterhalb der Wade wird das Befestigungsband verschlossen. Es kann jetzt nicht mehr ohne eine Zerstörung des Bandes abgenommen werden. Im Falle einer Zerstörung des Befestigungsbandes, etwa wenn der Verurteilte das Gerät abnimmt, läuft ein Alarm in der Gemeinsamen Überwachungsstelle der Länder auf, die sodann mit dem Verurteilten Kontakt aufnimmt. In technischer Hinsicht wird die Überwachung durch die Hessische Datenzentrale (HZD) ununterbrochen im 24/7Betrieb gewährleistet. Der Verurteilte kann mit Hilfe von GPS (Global Positioneering System) jederzeit von 38 der Zentrale der Gemeinsamen Überwachungsstelle der Länder geortet werden. Diese Ortung darf aus datenschutzrechtlichen Gründen nur im Alarmfall eingesehen werden. Es erscheint dann auf einer Karte ein roter Alarmpunkt, der den aktuellen Standort des Verurteilten anzeigt. Zugleich erscheinen grüne Pfeile, die den Weg des Verurteilten zum Ort des Alarms nachzeichnen. Sofern der Verurteilte vom Alarmort flieht, zeigt das System seinen Fluchtweg auf, wobei auch die jeweilige Uhrzeit aufgezeichnet wird. Des Weiteren werden die Geschwindigkeit des Verurteilten zum Alarmort und seine Fluchtgeschwindigkeit registriert. Dies kann insbesondere für die Polizei von Bedeutung sein, damit eingeschätzt werden kann, ob der Verurteilte zu Fuß oder mit einem Auto unterwegs ist. Ab dem Zeitpunkt des Anlegens des Geräts kann mithin der Aufenthalt der verurteilten Person nachvollzogen werden. Im System können Einschlusszonen hinterlegt werden, die der Verurteilte ohne Er39 laubnis der Aufsichtsstelle nicht verlassen darf. Sie können auch mit einem Zeitplan versehen werden. Soweit der Verurteilte die festgesetzte Zone ohne Erlaubnis verlassen sollte, wird ein Alarm ausgelöst. Im Falle einer Ausschlusszone darf er bestimmte Orte nicht betreten. Missachtet der Verurteilte die ihm vom Gericht auferlegten aufenthaltsbezogenen Weisungen, so wird neben der Ereignismeldung des Systems automatisch eine SMS an die Gemeinsame Überwachungsstelle der Länder versandt. Bei Eingang dieser Meldung ist der Verurteilte telefonisch anzusprechen und über sein Fehlverhalten aufzuklären. Auf diese Weise werden ihm die Konsequenzen seines Fehlverhaltens sofort aufgezeigt. Unter Umständen kann auch ein sofortiges Einschreiten der Polizei erfolgen.
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9. Anfechtung. Der verurteilten Person, die sich gegen die mit der elektronischen Aufenthaltsüberwachung verbundene Datenerhebung und -speicherung wenden will, steht das Rechtsmittel der Beschwerde nach § 463 Abs. 2, § 453 Abs. 2 Satz 1 zu.48
§ 463b (1) … (2) … (3) 1… 2§ 883 Abs. 2 und 3 der Zivilprozessordnung gilt entsprechend. Änderung. Durch Art. 4 Abs. 7 des Gesetzes zur Reform der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung vom 29.7.2009 (BGBl. S. 2258, 2270) wurde in Absatz 3 Satz 2 die Angabe „§ 883 Abs. 2 und 4, die §§ 899, 900 Abs. 1 und 4 sowie die §§ 901, 902, 904 bis 910 und 913“ durch die Angabe „§ 883 Abs. 2 und 3“ und das Wort „gelten“ durch das Wort „gilt“ ersetzt. 48
LR/Graalmann-Scheerer § 463, 5.
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Kirsten Graalmann-Scheerer
Erster Abschnitt. Strafvollstreckung
Nachtr. § 463b StPO
Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung (Absatz 3). Hat das Gericht rechtskräftig ein Fahrverbot nach § 44 Abs. 1 oder 2 StGB verhängt, so wird für die Dauer des Verbots ein von einer deutschen Behörde ausgestellter nationaler Führerschein amtlich verwahrt (§ 44 Abs. 2 Satz 2 StGB). Gibt der Verurteilte den Führerschein nach Aufforderung nicht freiwillig heraus, so hat die Vollstreckungsbehörde ihn zu beschlagnahmen. Ein ausländischer Führerschein, der zum Führen in der Bundesrepublik berechtigt, ohne dass eine deutsche Behörde einen Führerschein ausgestellt hat, unterliegt nur einem beschränkten Beschlagnahmeverbot.1 Wird der Führerschein bei dem Verurteilten nicht vorgefunden, so kann die Vollstreckungsbehörde diesen zur Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung entsprechend § 883 Abs. 2 und 3 ZPO anhalten. Zuständig für die Abnahme der eidesstattlichen Versicherung ist nach Absatz 3 Satz 2 i.V.m. § 883 Abs. 2 Satz 2 ZPO der nach § 802e Abs. 1 ZPO zuständige Gerichtsvollzieher bei dem Amtsgericht, in dessen Bezirk der Verurteilte im Zeitpunkt des Antrags der Vollstreckungsbehörde seinen Wohnsitz oder in Ermangelung eines solchen seinen Aufenthaltsort hat. Der Gerichtsvollzieher entscheidet auf Antrag der Vollstreckungsbehörde (Absatz 3 Satz 1). Der Antrag obliegt dem Rechtspfleger (§ 31 Abs. 1 Satz 1 RpflG) und ist erst zulässig, wenn eine Durchsuchung bei dem Verurteilten zum Zwecke der Beschlagnahme des Führerscheins nicht zum Erfolg geführt hat.2 Nach Absatz 3 Satz 2 i.V.m. § 883 Abs. 2 Satz 3 ZPO gelten die §§ 478 bis 480, 483, 802f Abs. 4; §§ 802g bis 802i und 802j Abs. 1 und 2 ZPO entsprechend.
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HW § 463b, 3.
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HW § 463b, 1, 4; AG Bremen NZV 2011 151.
Kirsten Graalmann-Scheerer
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ACHTES BUCH Erteilung von Auskünften und Akteneinsicht, sonstige Verwendung von Daten für verfahrensübergreifende Zwecke, Dateiregelungen, länderübergreifendes staatsanwaltschaftliches Verfahrensregister ERSTER ABSCHNITT Erteilung von Auskünften und Akteneinsicht, sonstige Verwendung von Daten für verfahrensübergreifende Zwecke § 478 (1) 1Über die Erteilung von Auskünften und die Akteneinsicht entscheidet im vorbereitenden Verfahren und nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens die Staatsanwaltschaft, im Übrigen der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts. 2Die Staatsanwaltschaft ist auch nach Erhebung der öffentlichen Klage befugt, Auskünfte zu erteilen. 3Die Staatsanwaltschaft kann die Behörden des Polizeidienstes, die die Ermittlungen geführt haben oder führen, ermächtigen, in den Fällen des § 475 Akteneinsicht und Auskünfte zu erteilen. 4Gegen deren Entscheidung kann die Entscheidung der Staatsanwaltschaft eingeholt werden. 5Die Übermittlung personenbezogener Daten zwischen Behörden des Polizeidienstes oder eine entsprechende Akteneinsicht ist ohne Entscheidung nach Satz 1 zulässig, es sei denn, es bestehen Zweifel an der Zulässigkeit der Übermittlung oder der Akteneinsicht. (2) … (3) … Schrifttum Böse Der Grundsatz der Verfügbarkeit von Informationen in der strafrechtlichen Zusammenarbeit der Europäischen Union (2007); Hetzer Zusammenarbeit der Polizeibehörden, in: Sieber/Brüner/Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (2011) § 41; Wasmeier Entwicklung des Rechtshilferechts der EU, in: Sieber/Brüner/Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (2011) § 32; Zöller Informationssysteme und Vorfeldmaßnahmen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Nachrichtendiensten (2002).
Übersicht Rn. 1. Hintergrund und Bedeutung der Änderung 2. Entformalisierter Datenaustausch zwischen Polizeibehörden (Absatz 1 Satz 5 Halbsatz 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Reformalisierung bei Zweifeln an der Zulässigkeit (Absatz 1 Satz 5 Halbsatz 2) a) Regelungsziel . . . . . . . . . . . . . b) Tatbestand . . . . . . . . . . . . . .
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Rn. aa) Schwierige rechtliche Beurteilungen bb) Schwierige tatsächliche Beurteilungen . . . . . . . . . . . . . . cc) Offensichtliche Unzulässigkeit der Übermittlung . . . . . . . . . . . dd) Mindesteffizienz . . . . . . . . . c) Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . 4. Gerichtliche Kontrolle . . . . . . . . . .
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Erster Abschnitt. Erteilung von Auskünften und Akteneinsicht
Nachtr. § 478 StPO
1. Hintergrund und Bedeutung der Änderung Durch das Gesetz über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und 1 Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union wurde in Absatz 1 Satz 5 hinter „zulässig“ folgender Halbsatz eingefügt: „es sei denn, es bestehen Zweifel an der Zulässigkeit der Übermittlung oder der Akteneinsicht“.1 Die Neuregelung ist Bestandteil eines Artikelgesetzes, das formell der Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2006/960/JI über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (im Folgenden: RbDatA)2 dient. Die hier betroffene Ergänzung des § 478 trägt freilich keinen spezifischen Erfordernissen des Unionsrechts Rechnung (s.u. Rn. 5). Der Inhalt des Rahmenbeschlusses 2006/960/JI steht im Kontext der übergreifenden 2 unionsrechtlichen Regelungskonzepte der gegenseitigen Anerkennung3 und der wechselseitigen Verfügbarkeit von Informationen.4 Der Rechtsakt fällt also in ein Bündel von Maßnahmen im Bereich der früheren (durch den Lissabon-Vertrag in das supranationale Recht integrierten) Dritten Säule, die den Beweistransfer zwischen den Mitgliedstaaten erleichtern sollen.5 Die Art. 39, 40 SDÜ werden insoweit im Geltungsbereich des Unionsrechts kraft Spezialität vom Rahmenbeschluss ersetzt (Art. 12 Abs. 1 RbDatA).6 Ungeachtet dessen gilt das SDÜ im Schengen-Rahmen als Schengen-Acquis weiter und wird auch im Übrigen von dem Rahmenbeschluss nur modifiziert.7 Ziel des Rahmenbeschlusses ist es ausweislich Art. 1 Abs. 1 RbDatA, Regeln festzulegen, nach denen die Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten wirksam und rasch bestehende Informationen und Erkenntnisse zum Zwecke der Durchführung strafrechtlicher Ermittlungen oder polizeilicher Erkenntnisgewinnungsverfahren austauschen können. Die Mitgliedstaaten stellen nach Art. 3 Abs. 1 RbDatA sicher, dass den zuständigen Strafverfolgungsbehörden anderer Mitgliedstaaten Informationen und Erkenntnisse zur Verfügung gestellt werden können, und zwar – zur Vermeidung von Umwegen8 – unmittelbar auf Antrag der jeweils für die Ermittlungen zuständigen Behörde (Art. 3 Abs. 2 RbDatA). Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 RbDatA darf – als Ausformung des Äquivalenzgebots – der grenzüberschreitende Infor1
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Art. 2 Nr. 1 des Gesetzes v. 21.7.2012 über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (BGBl. I S. 1566). Rahmenbeschluss 2006/960/JI des Rates v. 18.12.2006 über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. L 386 vom 29.12.2006, S. 89). Böse in: Ambos (Hrsg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon (2011) 57, 62. Gleß/Trautmann in: Schomburg/Lagodny/ Gleß/Hackner (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2012) 1 f. zu Rahmenbeschluss 2006/960/JI; Safferling Internationales Strafrecht (2011) § 10, 38. Siehe zur Entwicklung Wasmeier § 32, 31 ff.; ferner den Überblick bei Kühne Strafprozessrecht (2010) § 3, 73.3.
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S. auch Hetzer § 41, 52. Siehe Gleß in: Schomburg/Lagodny/Gleß/ Hackner (Hrsg.), Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2012) III E 3 ff. Insoweit gilt Art. 39 Abs. 2 SDÜ fort, der die Verwendung schriftlicher Informationen in einem konkreten Strafverfahren von der Zustimmung der zuständigen Justizbehörde der ersuchten Vertragspartei abhängig macht. Diese Bestimmung enthält insoweit ein vom Rahmenbeschluss nicht modifiziertes Beweisverwertungsverbot. Siehe Gleß in: Breitenmoser/ Gleß/Lagodny (Hrsg.), Rechtsschutz bei Schengen und Dublin (2013) 13 (18). Anders noch Art. 39 Abs. 3 SDÜ, wonach dies nur in besonderen Eilfällen möglich war. Vgl. Hecker Europäisches Strafrecht (2010) § 5, 35.
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Achtes Buch. Erteilung von Auskünften und Akteneinsicht
mationstransfer nicht von strikteren Bedingungen abhängig gemacht werden als der Transfer innerhalb eines Mitgliedstaates. Dies bedeutet aber auch, dass das nationale Recht (hier: §§ 474 ff. StPO) die allgemeinen Anforderungen eines zulässigen Informationstransfers festlegt, die dann gleichermaßen auch im grenzüberschreitenden Verkehr zu beachten sind.9 Art. 3 Abs. 4 RbDatA lässt es ausdrücklich zu, die Datenübermittlung insbesondere durch Polizeidienststellen von der Zustimmung einer Justizbehörde abhängig zu machen. Stammen die Informationen aus einem anderen Mitgliedstaat oder Drittstaat und unterliegen sie rechtshilferechtlich der Spezialität, ist die Zustimmung des Ursprungsstaates einzuholen (Art. 3 Abs. 5 RbDatA). Art. 4 legt gestufte Fristen für die Rechtshilfe fest. Art. 8 RbDatA definiert datenschutzrechtliche Standards und stellt insbesondere klar (Abs. 4), dass die übermittelnde Stelle nach nationalem Recht Verwendungsbedingungen festlegen darf, an die die empfangende Stelle gebunden ist. Art. 10 statuiert Verweigerungsgründe, bei deren Vorliegen die Übermittlung von Informationen abgelehnt werden darf. Diese Verweigerungsgründe gelten freilich ausdrücklich vorbehaltlich des Art. 3 Abs. 3 RbDatA, stellen also über die nach nationalem Recht allgemein geltenden Anforderungen an den Informationstransfer zwischen Behörden hinaus zusätzliche Ablehnungsmöglichkeiten zur Verfügung, die sich spezifisch gegen eine grenzüberschreitende Übermittlung richten. 2. Entformalisierter Datenaustausch zwischen Polizeibehörden (Absatz 1 Satz 5 Halbsatz 1)
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Grundsätzlich ist die Erteilung von Auskünften oder Akteneinsicht nach Absatz 1 nur auf Grund einer Entscheidung der Staatsanwaltschaft bzw. des Vorsitzenden des erkennenden Gerichts zulässig. Absatz 1 Satz 5 enthält jedoch eine Ausnahme zu Gunsten der Übermittlung personenbezogener Daten oder der Akteneinsicht zwischen Behörden des Polizeidienstes. Polizeibehörden können also Informationen untereinander austauschen, ohne dass es einer vorherigen Entscheidung der genannten Justizbehörden bedarf.10 Sinn und Zweck dieser Ausnahme ist die Vereinfachung und Beschleunigung des Informationsaustausches zwischen den operativen Polizeidienststellen im Interesse effektiver Strafverfolgung.11 Der Polizeidienststelle, die über die zu übermittelnden Daten oder Akten verfügt, fällt insoweit auch die Kompetenz zu, über die rechtliche Zulässigkeit des Datentransfers zu entscheiden.12 Ob eine entsprechende Übermittlungsentscheidung rechtmäßig ist, unterliegt allerdings der Kontrolle der Staatsanwaltschaft und des Strafgerichts im jeweiligen Verfahren, zu dessen Förderung die Informationen übermittelt wurden, sofern die erlangte Information im Ergebnis in den anderweitigen Strafprozess eingeführt wird. 3. Reformalisierung bei Zweifeln an der Zulässigkeit (Absatz 1 Satz 5 Halbsatz 2)
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Die Neuregelung in Absatz 1 Satz 5 stellt die Zuständigkeit der Polizeibehörde unter einen Vorbehalt und führt zu einer Reformalisierung des Datenaustausches, indem in Zweifelsfällen die Entscheidungskompetenz an die Staatsanwaltschaft bzw. an das Strafgericht nach Absatz 1 Satz 1 zurückfällt. Insoweit knüpft § 478 an die Sachleitungsbefugnis von Justizbehörden in Strafsachen an. Demgegenüber bleibt es bei den parallel
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Zur damit verbundenen Mitverantwortung für die Informationsverwendung Böse 145. Kritisch Zöller 210.
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LR/Hilger § 478, 10; Meyer-Goßner § 478, 2. Vgl. BTDrucks. 17 5096 S. 22.
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Erster Abschnitt. Erteilung von Auskünften und Akteneinsicht
Nachtr. § 478 StPO
eingeführten Übermittlungsregelungen im präventiv-polizeilichen und finanzbehördlichen Bereich (§ 14a BKAG; § 32a BPolG; § 34a ZFdG; § 11a ZollVG; § 6a SchwarzArbG; § 117a AO) konsequent bei der Entscheidungskompetenz der jeweiligen Polizei- oder Finanzbehörde. Die einschlägigen Übermittlungsbestimmungen wurden allerdings im gleichen Zuge durch das hier besprochene Artikelgesetz um allgemeine Datenschutzklauseln ergänzt (§ 14 Abs. 7 Satz 7 BKAG; §§ 33, 33a BPolG; § 34 Abs. 4 Satz 5 ZFdG; § 11 Abs. 2 Satz 5 ZollVG),13 um im Rahmen des Äquivalenzgrundsatzes nach Art. 3 Abs. 3 RbDatA ein Verweigerungsrecht zur Verfügung zu haben (vgl. auch Rn. 7). Sobald jedoch Daten aus einem Strafverfahren betroffen sind, gilt die vorliegende Regelung der StPO.14 a) Regelungsziel. Die Neuregelung der StPO soll den besonderen Risiken des erleich- 5 terten Datenaustausches Rechnung tragen: Der durch die förmlich über §§ 92–92b IRG erfolgte15 Umsetzung des Rahmenbeschlusses „bewirkte größere Informationsaustausch mit einer erheblich erweiterten Zahl möglicher Empfänger erschwert aber auch die Kontrolle darüber, was mit den weitergeleiteten Daten geschieht und erhöht zugleich das Risiko einer unzulässigen Weitergabe sensibler personenbezogener Daten, die in einem Strafverfahren gewonnen wurden. Um dem zu begegnen, soll den Staatsanwaltschaften und Gerichten die Möglichkeit gegeben werden, in Zweifelsfällen die Rechtmäßigkeit des Datenaustauschs sowohl im innerstaatlichen als auch im grenzüberschreitenden Bereich auf Veranlassung der jeweils zuständigen Polizeibehörde vorab zu überprüfen.“16 Der Regierungsentwurf verweist zutreffend darauf, dass die Frage, ob eine Übermittlung von personenbezogenen Daten zulässig ist, mit einer komplexen juristischen Prüfung verbunden sein könne, zumal wenn es um Daten gehe, die durch heimliche Ermittlungsmaßnahmen gewonnen worden seien.17 Die Neuregelung verhindert keinen Datenaustausch zwischen Polizeidienststellen zum Zwecke der Strafverfolgung, zu dem § 474 Abs. 1 ermächtigt, unterwirft diesen aber in Fällen, in denen Zweifel an der Zulässigkeit des Informationstransfers bestehen, wieder der förmlichen Sachleitungsbefugnis durch die Staatsanwaltschaft bzw. durch das erkennende Gericht.18 Es erscheint im Hinblick auf die Automatisierungstendenzen des zwischenpolizei- 6 lichen Informationsaustausches sachgerecht, rechtlich anspruchsvollere Übermittlungsentscheidungen, zumal diese meist zugleich von qualifizierter Grundrechtsrelevanz sind (vgl. Rn. 10), institutionell in die Verantwortung von Justizbehörden zu legen. Die Novelle beseitigt damit ein eklatantes Defizit der bisherigen Regelung.19 Die darin liegende Hochwälzung der Entscheidungskompetenz auf eine Justizbehörde ist eine institutionelle Sicherung, die dem Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren20 dient, weil Justizbehörden institutionell eine höhere Gewähr für eine sachlich distanzierte und juris13
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Art. 3–7, 9 des Gesetzes v. 21.7.2012 über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (BGBl. I S. 1566). Vgl. BTDrucks. 17 8870 S. 11. Art. 1 des Gesetzes v. 21.7.2012 über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (BGBl. I S. 1566).
16 17 18 19 20
BTDrucks. 17 5096 S. 18. BTDrucks. 17 5096 S. 23. BTDrucks. 17 5096 S. 22 f. Zutreffende Kritik SK/Weßlau § 478, 12. Hierzu allgemein BVerfGE 39 276, 294 f.; 44 105, 120 ff.; 45 422, 430 ff.; 46 325, 334; 49 220, 225; 51 324; 53 30, 65; 57 295, 320 f.; 63 131, 143; 65 76, 94; 69 315, 355 f.; 73 280, 296; 83 130, 152.
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tisch sorgfältige Prüfung der Informationsersuchen bieten. Da der Vorbehalt zu Absatz 1 Satz 5 allgemein und auch für den innerstaatlichen Informationstransfer gilt, kann er nach Art. 3 Abs. 3 RbDatA auch Ersuchen von Strafverfolgungsbehörden anderer Mitgliedstaaten entgegengehalten werden. Die Regelungswirkung des Absatz 1 Satz 5 Halbsatz 2 ist hiernach zwar unions7 rechtsunspezifisch, aber unionsrechtlich veranlasst. Letztlich wird durch die Neuregelung anlässlich der Umsetzung des Rahmenbeschlusses ein Problem gelöst, das durch den in Bezug genommenen Rahmenbeschluss nicht geschaffen wurde, sondern schon bislang bestand und allenfalls unionsrechtlich durch die grenzüberschreitenden Transfererleichterungen forciert wurde. Die formellen Anforderungen an die Informationsübermittlung wurden insoweit erhöht, um – nicht notwendig unzulässig (vgl. aber Rn. 14), aber durchaus im Kontrast zum Regelungsanliegen des Rahmenbeschlusses – den nunmehr potentiell europaweiten Informationstransfer zu erschweren. Dies war aber im Hinblick auf Art. 3 Abs. 3 RbDatA nur durch eine Regelung möglich, die Standards schafft, die gleichermaßen für innerstaatliche wie für grenzüberschreitende Vorgänge gelten. Dieses Regelungsziel wird im Zusammenspiel mit der korrespondierenden rechtshilferechtlichen Generalklausel für den innereuropäischen Informationsaustausch erreicht: Die Übermittlung erfolgt nach § 92 Abs. 1 Satz 2 IRG nämlich unter den gleichen gesetzlichen Voraussetzungen wie für eine inländische Polizeibehörde.
8
b) Tatbestand. Die Rückausnahme des Absatz 1 Satz 5 Halbsatz 2 setzt voraus, dass Zweifel an der Zulässigkeit der Übermittlung oder der Akteneinsicht bestehen. Hierbei stellt sich die Frage, wer institutionell Zweifel haben muss und ob sich dies im Wege einer objektiven Betrachtung der Rechtslage oder subjektiv anhand der Einschätzung der Polizeibehörde bestimmt. Der missverständlich begründete Regierungsentwurf könnte so verstanden werden, dass es auf die Sichtweise der Polizeibehörde ankommen soll.21 Dies würde freilich dem gesetzlichen Regelungsziel der Norm nicht gerecht. Die Neuregelung beruht nämlich auf der zutreffenden Einsicht, dass die mit der Übermittlung nach Absatz 1 Satz 5 betrauten Polizeibehörden institutionell überfordert sein können, rechtlich anspruchsvolle Entscheidungen über die Zulässigkeit der Datenübermittlung zu treffen. Solche Entscheidungen sollen daher den verfahrensleitenden Justizbehörden vorbehalten bleiben. Die zu Gunsten der Justiz neu austarierte Verteilung der Entscheidungskompetenzen würde indes ausgehebelt, wenn die Polizeidienststellen allein auf Grund ihrer subjektiven Einschätzung darüber entscheiden könnten, wann rechtliche Zweifel an der Zulässigkeit bestehen. Umgekehrt kann sich eine Polizeibehörde auch nicht ihrer gesetzlichen Pflicht entziehen, eine Übermittlungsentscheidung aus eigener Kompetenz zu treffen, weil man sich hiermit rein subjektiv überfordert fühlt, obschon es sich rechtlich eher um einen Routinefall handelt. Richtigerweise ist daher Absatz 1 Satz 5 Halbsatz 2 so zu verstehen, dass die Rückausnahme bereits dann (aber auch nur) greift, wenn Zweifel an der Zulässigkeit objektiv indiziert sind. Zweifel können sowohl im Hinblick auf komplexe Tatsachenfragen als auch auf Rechtsfragen angezeigt sein.
9
aa) Schwierige rechtliche Beurteilungen, die Zweifel indizieren, können in folgenden Fällen vorliegen: Zunächst einmal bestehen Zweifel immer dann, wenn die Rechtslage hinsichtlich eines konkreten Übermittlungs- oder Verwertungsproblems entweder nicht
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BTDrucks. 17 5096 S. 23: Fälle, „in denen bei den zuständigen Polizeibehörden Zweifel daran bestehen“.
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Erster Abschnitt. Erteilung von Auskünften und Akteneinsicht
Nachtr. § 478 StPO
hinreichend geklärt (keine Orientierungssicherheit durch Rechtsprechung) oder umstritten ist. Umgekehrt können sich anfängliche Zweifel im Laufe der Zeit durch eine Nachverdichtung der Rechtsprechung erledigen. Eine qualifizierte Grundrechtsrelevanz begründet objektive Zweifel und damit die 10 Zuständigkeit der Justiz. Nicht nur die erstmalige Erhebung von Daten, sondern auch ihre Übermittlung an andere Stellen zu einem anderen Verfahrenszweck stellt einen Grundrechtseingriff dar.22 Abhängig vom Kontext der Informationserhebung sind an den Grundrechtseingriff besondere Rechtfertigungsanforderungen zu stellen (z.B. im Hinblick auf Art. 10, 13 GG bei Telefonüberwachung, akustischer Wohnraumüberwachung usf.). In diesem Rahmen ist meist eine sorgfältige Abwägung nicht zuletzt unter Berücksichtigung der inzwischen durch eine feingliedrige Rechtsprechung des BVerfG vorgezeichneten Leitlinien vorzunehmen, was Übermittlungsentscheidungen rechtlich anspruchsvoll macht. Damit verbundene spezifische verfassungsrechtliche Vorfragen indizieren Zweifel im Sinne des Absatz 1 Satz 5. Dass nach § 477 Abs. 2 Satz 2 bei Maßnahmen, die nur beim Verdacht bestimmter 11 Straftaten zulässig sind, ein hypothetischer Ersatzeingriff23 zu prüfen ist,24 führt für sich gesehen noch nicht zu substanziellen Zweifeln an der Zulässigkeit des Informationstransfers, weil auch in solchen Fällen bei klarer Verdachtslage eine mehr oder weniger schematische Prüfung erfolgen kann. Demgegenüber wird die Weitergabe von Informationen aus heimlichen Überwachungsmaßnahmen grundsätzlich rechtliche Zweifel im Sinne von Absatz 1 Satz 5 Halbsatz 2 auslösen. Solche Daten unterliegen, wie namentlich § 100d Abs. 5 zeigt, grundsätzlich engen Verwendungsbeschränkungen,25 ohne die oft bereits der Primäreingriff zur Datenerhebung unzulässig wäre, weil die Dimension möglicher Datenweiterverwendungen auf Grund der Schwere des Grundrechtseingriffs bereits bei der Beurteilung des Erhebungseingriffs zu berücksichtigen ist. In diesem Kontext stellen sich dann qualifizierte rechtliche Anforderungen an die Verhältnismäßigkeitsprüfung, die kraft ihrer Grundrechtssensibilität besondere Sorgfalt bei der Abwägung einfordern und daher den in Satz 1 genannten Justizbehörden vorbehalten bleiben müssen. Gleiches gilt, wenn bereits die Maßnahme, mit der die zu übermittelnden Informationen gewonnen wurden, einem Richtervorbehalt unterworfen war; die damit einhergehende Institutionalisierung einer qualifizierten Eingriffsprüfung26 indiziert überdurchschnittliche Prüfungsanforderungen, die sich dann in rechtlichen Zweifeln und einer justizbehördlichen Entscheidungszuständigkeit fortsetzen, soweit die Weiterverwendung der Daten in anderen Verfahren erfolgen soll. bb) Schwierige tatsächliche Beurteilungen führen zu Zweifeln, wenn die Prüfung der 12 Zulässigkeit des Informationstransfers aus rechtlichen Gründen (z.B. der Verhältnismäßigkeit) zunächst eine anspruchsvolle oder umfangreiche Würdigung der zu übermittelnden Informationen oder des Aktenmaterials erfordert, was wiederum zur Abhängigkeit von rechtlichen Wertungen führt.
22 23
Vgl. BVerfGE 100 313, 360; Gusy ZJS 2012 155, 156. Zur schillernden Figur stellvertretend Böse Wirtschaftsaufsicht und Strafverfolgung (2005) 312 f.; Kelnhofer Hypothetische Ermittlungsverläufe im System der Beweisverbote (1994) 177 ff.; Meyer-Goßner Einl 57c; Velten in: FS Fezer 89, 92 f.
24 25 26
Kritisch zur Regelungsstruktur Zöller 209. Vgl. BTDrucks. 17 5096 S. 23. Zur Funktion Asbrock ZRP 1998 17, 18; Gärditz Strafprozess und Prävention (2003) 188 ff.; Kruis/Wehowsky NJW 1999 682, 683; Lisken/Mokros NVwZ 1991 609, 610 ff.; Paeffgen JZ 1997 178, 186.
Klaus Ferdinand Gärditz
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§ 478 StPO Nachtr.
Achtes Buch. Erteilung von Auskünften und Akteneinsicht
13
cc) Offensichtliche Unzulässigkeit der Übermittlung. Keine Zweifel im Sinne des Absatz 1 Satz 5 Halbsatz 2 bestehen, sofern sich die beantragte Auskunft oder Akteneinsicht nach Maßgabe des geltenden Rechts offensichtlich als unzulässig erweist. In diesem Fall kann die zuständige Polizeibehörde kraft ihrer Kompetenz aus Absatz 1 Satz 5 Halbs. 1 eine Negativentscheidung treffen und die Übermittlungshandlung ablehnen.
14
dd) Mindesteffizienz. Zwar gelten auch für den grenzüberschreitenden Informationstransfer zwischen Mitgliedstaaten der EU nach Art. 3 Abs. 3 RbDatA die allgemeinen Anforderungen des mitgliedstaatlichen Rechts an die Übermittlung von Informationen zwischen Strafverfolgungsbehörden (s.o. Rn. 2). Diese Anforderungen werden aber überlagert von dem allgemeinen – aus dem Grundsatz der Unionstreue (Art. 4 Abs. 3 EUV) folgenden – Effektivitätsgebot. Hiernach darf über das Äquivalenzgebot hinaus die praktische Wirksamkeit der Unionsrechtsanwendung nicht durch nationale Verfahrensregeln faktisch vereitelt oder erheblich beeinträchtigt werden.27 Dies führt dazu, dass zum einen die Regelungen des nationalen Rechts mittelbar daraufhin zu überprüfen sind, ob sie den unionsrechtlich geforderten wirksamen Informationstransfer (Art. 3 Abs. 1 RbDatA) unangemessen behindern (wofür im Rahmen der §§ 474 ff. nichts ersichtlich ist) und zum anderen auch die Anwendung des geltenden Rechts im konkreten Einzelfall nicht faktisch unangemessene Transferhindernisse errichtet. Dies wäre namentlich dann der Fall, wenn bereits der grenzüberschreitende Bezug im Regelfall zum Anlass genommen würde, Zweifel an der Zulässigkeit anzunehmen und den Vorgang daher – unter Inkaufnahme von Verzögerungen – zur Entscheidung der Justiz vorzulegen.
15
c) Rechtsfolge. Bestehen nach Absatz 1 Satz 5 Halbsatz 2 Zweifel an der Zulässigkeit des Informationstransfers, geht die Entscheidungskompetenz auf die in Absatz 1 Satz 1 genannte Stelle über (gesetzlicher Devolutiveffekt), sprich: im vorbereitenden Verfahren und nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens auf die zuständige Staatsanwaltschaft, im Übrigen auf den Vorsitzenden des mit dem Verfahren befassten Gerichts. In der Sache handelt es sich also um einen nach Art. 3 Abs. 4 RbDatA zugelassenen justizbehördlichen Zustimmungsvorbehalt. Aus Art. 3 Abs. 4 Satz 1 RbDatA folgt insoweit, dass sich die ersuchte Polizeibehörde umgehend um eine Zustimmung bemühen, also die Anfrage zur Entscheidung der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht vorlegen muss. Da das Vorliegen von Zweifeln objektiv zu bestimmen ist (Rn. 7), könnten Staatsanwaltschaft oder Gericht eine Entscheidung an die überweisende Polizeidienststelle zurückverweisen, wenn keine entsprechenden Schwierigkeiten bestehen (Rückverweisungskompetenz). Allerdings hat die Ausnahmebestimmung des Absatz 1 Satz 5 eine reine Ermächtigungsfunktion zu Gunsten der Polizei, die die übergeordnete Kompetenz der verfahrensleitenden Justizbehörde nach Absatz 1 Satz 1 nicht verdrängt, zumal auch § 152 Abs. 1 GVG von der selbstständigen Entscheidungskompetenz der Polizeibehörden unberührt bleibt.28 Damit besteht insoweit ein Selbsteintrittsrecht der Justiz, sodass auch 27
Siehe EuGH, Urt. v. 20.3.1997 – C-24/95 (Alcan II), Slg. 1997 I-1608, 34 ff.; Urt. v. 12.5.1998 – C-366/95 (Steff-Houlberg), Slg. 1998 I-2661, 35; Urt. v. 16.7.1998 – C-298/96 (Oelmühle und Schmidt Söhne), Slg. 1998 I-4767, 37; Urt. v. 19.9.2002 – C-336/00 (Martin Huber), Slg. 2002 I-7736, 56; Urt. v. 13.1.2004 – C-453/00 (Kühne & Heitz), Slg. 2004 I-837, 20 ff.; Urt. v. 19.9.2006 – C-392/04 und C-422/04 (i-21
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28
Germany/Arcor), Slg. 2006 I-8559, 33 ff. Vertiefend Britz/Richter JuS 2005 198 ff.; von Danwitz Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration (1996) 256 ff.; Gärditz NWVBl. 2006 441 ff.; Gundel FS Götz 191 ff.; Suerbaum VerwArch 91 2000 169 ff. Vgl. zu den faktischen Problemen aber Zöller 74 ff.
Klaus Ferdinand Gärditz
Erster Abschnitt. Erteilung von Auskünften und Akteneinsicht
Nachtr. § 481 StPO
bei zweifelsfrei zulässigen Informationstransfers nach Prüfung sogleich die Staatsanwaltschaft oder das Gericht die erforderliche Entscheidung über die Übermittlung treffen kann. 4. Gerichtliche Kontrolle Ob die übermittelnde Polizeibehörde im Rahmen ihrer Zuständigkeit nach Absatz 1 16 Satz 5 gehandelt hat, unterliegt als Rechtsfrage der gerichtlichen Kontrolle im Rahmen des Verfahrens, in dem die übermittelten Daten Verwendung finden sollen. Eine fehlerhafte Annahme der Zuständigkeit durch die Polizei trotz objektiver Zweifel dürfte freilich keine Folgen für die Verwertung der Information im jeweiligen Verfahren zeitigen. Werden Daten übermittelt, ohne dass es zu einer Verwendung in einem Verfahren kommt, so muss die Übermittlung im Hinblick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) jedenfalls dann einer gerichtlichen Kontrolle (über § 23 EGGVG29) zugänglich sein, wenn der Betroffene eine Rechtsverletzung und auf Grund ihrer Schwere auch ein Rechtsschutzbedürfnis für eine nachträgliche Überprüfung des erledigten Übermittlungsvorganges geltend machen kann.30
§ 481 (1) 1Die Polizeibehörden dürfen nach Maßgabe der Polizeigesetze personenbezogene Daten aus Strafverfahren verwenden. 2Zu den dort genannten Zwecken dürfen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte an Polizeibehörden personenbezogene Daten aus Strafverfahren übermitteln oder Akteneinsicht gewähren. 3Die Sätze 1 und 2 gelten nicht in den Fällen, in denen die Polizei ausschließlich zum Schutz privater Rechte tätig wird. (2) … (3) Hat die Polizeibehörde Zweifel, ob eine Verwendung personenbezogener Daten nach dieser Bestimmung zulässig ist, gilt § 478 Absatz 1 Satz 1 und 2 entsprechend. 1. Änderung Durch das Gesetz über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und 1 Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union1 wurden in Absatz 1 Satz 2 auch Gerichte explizit zur Übermittlung ermächtigt; zudem wurde die Akteneinsicht ausdrücklich zugelassen (Art. 2 Nr. 2 lit. a)). Schließlich wurde der jetzige Absatz 3 neu eingefügt (Art. 2 Nr. 2 lit. b)). Auch diese Neuregelung ist Bestandteil eines Artikelgesetzes, das ausweislich der Regierungsbegründung der Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2006/960/JI über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (im Folgenden RbDatA)2 dient. 29 30
1
Vgl. KK/Gieg § 478, 5. Siehe im Einzelnen BVerfGE 96 27, 41 ff. Grundlegend Amelung, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1976) 76 ff. Gesetz v. 21.7.2012 über die Vereinfachung
2
des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (BGBl. I S. 1566). Rahmenbeschluss 2006/960/JI des Rates v. 18.12.2006 über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkennt-
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§ 481 StPO Nachtr.
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2. Klarstellungen in Absatz 1
2
Die Regierungsbegründung geht davon aus, dass die Neuregelung nunmehr auch Gerichte zur Informationsübermittlung ermächtigt.3 Dies dürfte unionsrechtlich erforderlich sein, weil auch Strafgerichte, die zur Ermittlung des Sachverhalts befugt sind, unter die Definition der Strafverfolgungsbehörden nach Art. 2 lit. a RbDatA fallen, zumal die Sachleitungskompetenz im Ermittlungsverfahren zwischen Justiz und Staatsanwaltschaft im europäischen Rechtsvergleich sehr unterschiedlich ausfällt, der effektive Informationstransfer aber nicht von den unionsrechtlich nicht determinierten Zufälligkeiten der Justizorganisation in Strafsachen abhängen kann. Richtigerweise erfasste freilich schon der Begriff der Strafverfolgungsbehörde in Absatz 1 Satz 2 vor der hier in Rede stehenden Ergänzung auch Strafgerichte, weil Behörde hier nicht gewaltengliederungsrechtlichinstitutionell, sondern funktionell zu verstehen war und sich demnach auch auf Gerichtsbehörden erstreckte, die beim Informationstransfer eben nicht rechtsprechende Gewalt ausüben, sondern den Gerichten übertragene Verwaltungsaufgaben erfüllen. Die Neuregelung ist insoweit deklaratorisch, wobei künftig auf Grund der nun expliziten Differenzierung Gerichte nicht mehr unter den Begriff der Strafverfolgungsbehörde fallen. Auch der Ergänzung um die Akteneinsicht, die ein Unterfall der Datenübermittlung ist, kommt rein deklaratorische Bedeutung zu.4 Eine konstitutive Bedeutung kommt der Einfügung einer Transferkompetenz der 3 Gerichte allerdings in solchen Ausnahmekonstellationen zu, in denen Daten aus einem Strafverfahren bei einem Gericht verfügbar sind, das selbst nicht unmittelbar mit Aufgaben der Strafverfolgung betraut ist (z.B. bei einem Verwaltungsgericht, das mit doppelfunktionalen Maßnahmen der Polizei befasst ist, oder bei einem Finanzgericht, das einen auch steuerstrafrechtlich relevanten Sachverhalt prüft) und daher von vornherein nicht als Strafverfolgungsbehörde qualifiziert werden kann. 3. Neuregelung des Absatzes 3
4
Durch den Verweis auf § 478 Abs. 1 Sätze 1–2 folgt bei Zweifeln über die Zulässigkeit des Informationstransfers, dass an die Stelle der Zuständigkeit der Polizeibehörde die zuständige Justizbehörde (Staatsanwaltschaft oder Gericht) tritt (gesetzlicher Devolutiveffekt, vgl. § 478, 15). Die Interessenlage entspricht insoweit § 478 Abs. 1 Satz 5.5 Auch diese Ergänzung des § 481 folgt keinen spezifischen Umsetzungserfordernissen des Rahmenbeschlusses, sondern trägt lediglich den mit einer Ausweitung des Informationstransfers einhergehenden Schutz- und Formalisierungsbedürfnissen Rechnung. Hinsichtlich der Anforderungen, bei denen Zweifel indiziert sind, gilt das zu § 478 Ausgeführte entsprechend (siehe dort Rn. 6 ff.).
3
nissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. L 386, S. 89). BTDrucks. 17 5096 S. 23.
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4
5
Hiervon geht offenbar auch die Regierungsbegründung aus, vgl. BTDrucks. 17 5096 S. 23: „wird klargestellt“. BTDrucks. 17 5096 S. 23.
Klaus Ferdinand Gärditz
Gerichtsverfassungsgesetz DRITTER TITEL Amtsgerichte § 22 (1–5) … (6) 1… 2Richter in Inslovenzsachen sollen über belegbare Kenntnisse auf den Gebieten des Insolventrechts, des Handels- und Gesellschaftsrechts sowie über Grundkenntnisse der für das Insolvenzverfahren notwendigen Teile des Arbeits-, Sozial- und Steuerrechts und des Rechnungswesens verfügen. 3Einem Richter, dessen Kenntnisse auf diesem Gebiet nicht belegt sind, dürfen Aufgaben eines Insolvenzrichters nur zugewiesen werden, wenn der Erwerb der Kenntnisse alsbald zu erwarten ist. Änderung. Durch das am 1.3.2012 in Kraft getretene Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (InsOuaÄndG) vom 7.12.2011 (BGBl. I S. 2582) wurden mit Wirkung ab 1.1.2013 in Absatz 6 der Vorschrift zwei weitere Sätze eingefügt. Bedeutung. Ziel des Gesetzes vom 7.12.2011 ist eine Erleichterung der Sanierung von Unternehmen und hierdurch der Erhalt von Arbeitsplätzen.1 Hierzu soll sichergestellt werden, dass auch auf Seiten der Gerichte Personen tätig werden, die über die erforderlichen und jedenfalls mehr als nur rudimentären Kenntnisse der für die Bearbeitung von Insolvenzsachen relevanten Rechtsgebiete verfügen.2 Die bewusst nur als Soll-Vorschrift ausgestaltete Regelung hat für den strafrechtlichen Bereich keine Bedeutung. Soweit zum Bearbeiten von Insolvenzstrafsachen entsprechende Kenntnisse im Sinne von § 74c Abs. 1 Nr. 1 GVG erforderlich sind, wird dem seitens der Präsidien bereits regelmäßig durch eine Auswahl der hierzu berufenen und besonders fortgebildeten Richter Rechnung getragen.
§ 24 (1) … 1. …, 2. …, 3. …. 2Eine besondere Schutzbedürftigkeit nach Satz 1 Nummer 3 liegt insbesondere vor, wenn zu erwarten ist, dass die Vernehmung für den Verletzten mit einer besonderen Belastung verbunden sein wird, und deshalb mehrfache Vernehmungen vermieden werden sollten. (2) … 1
BTDrucks. 17 5712 S. 2.
2
BTDrucks. 17 5712 S. 43.
Dirk Gittermann
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§ 24 GVG Nachtr.
Gerichtsverfassungsgesetz
Schrifttum Bittmann Referentenentwurf für ein Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) ZRP 2011 72; Eisenberg Referentenentwurf des BMJ „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG)“ 2010 HRRS 2011 64; Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer zum Gesetzentwurf der Bundesregierung Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (BRAK-Stellungnahme-Nr. 35/2011)
Änderung. Durch das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs vom 26.6.2013 (StORMG, BGBl. I S. 1805) wurde mit Wirkung ab 1.9.2013 dem Absatz 1 der Vorschrift ein Satz 2 angefügt, der das in Abs. 1 Nr. 3 benannte Kriterium der besonderen Schutzbedürftigkeit von Verletzten, die als Zeugen in Betracht kommen, näher bestimmt. Hierdurch soll ein verbesserter Schutz namentlich von jugendlichen Opferzeugen erreicht werden. Die Vorschrift blieb im Übrigen unverändert.
Übersicht Rn. 1. Mehrfachvernehmungen als Regelbeispiel
Rn.
1
2. Verfassungsrechtliche Bedenken
. . . . .
4
Bedeutung der Änderung 1
1. Mehrfachvernehmungen als Regelbeispiel. Mit der Änderung soll verdeutlicht werden, dass die Vorschrift des § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 (die – anders als bei den in Nr. 1 und 2 die Zuständigkeit eindeutig zuweisenden Fällen – eine Anklage vor dem Amtsoder dem Landgericht eröffnet, sog. bewegliche Zuständigkeit) insbesondere anwendbar ist, um durch eine Anklage beim Landgericht besonders schutzbedürftige Opferzeugen vor Mehrfachvernehmungen zu bewahren. Inhaltlich geht diese Regelung über das bisher geltende Recht indessen nicht hinaus; ihr kommt eine eher interpretierende Wirkung zu.1 Mit der durch das Opferrechtsreformgesetz vom 24.6.2004 (BGBl. I 1354) in Nr. 3 2 erst eingefügten Fallgruppe der besonderen Schutzbedürftigkeit sollen Opfer geschützt werden, bei denen im Falle des Erhebens der Anklage beim Amtsgericht durch eine dann mögliche weitere Vernehmung in einer zweiten Tatsacheninstanz vor dem Landgericht gravierende psychische Auswirkungen zu befürchten sind. Hierdurch sollte vermieden werden, dass insbesondere kindliche Opfer von Sexualstraftaten zwei Tatsacheninstanzen durchleiden müssen.2 Dieser Aspekt der gravierenden psychischen Belastung durch Mehrfachvernehmungen ist nunmehr ausdrücklich als Regelbeispiel für das Vorliegen der besonderen Schutzbedürftigkeit im Sinne dieser Vorschrift in den Gesetzestext aufgenommen worden, um diesen von der Staatsanwaltschaft auszulegenden, unbestimmten Rechtsbegriff näher zu konturieren.3 Dies darf im Ergebnis aber nicht dazu führen, dass die von der Staatsanwaltschaft zu treffende Entscheidung allein von dem Ziel getragen wird, Mehrfachvernehmungen zu vermeiden. Denn es wird schon im Interesse der Wahr-
1
Bittmann ZRP 2011 73; entsprechend auch die insoweit zustimmende Stellungnahme des Deutschen Richterbundes Nr. 02/11 zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG).
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2 3
BTDrucks. 15 1976 S. 19. BTDrucks. 17 6261 S. 13; Eisenberg HRRS 2011 70.
Dirk Gittermann
Dritter Titel. Amtsgerichte
Nachtr. § 26 GVG
heitsfindung aus kriminologischer wie aus aussagepsychologischer Sicht auch künftig oft unumgänglich sein, Zeugen trotz der damit verbundenen Belastungen mehrfach zu vernehmen.4 Bei ihrer Entscheidung steht der Staatsanwaltschaft nach wie vor kein Wahlrecht zu, 3 ob sie Anklage vor dem Landgericht oder dem Amtsgericht erhebt; auch ist ihre Entscheidung für das Gericht nicht bindend und unterliegt der Überprüfung im Eröffnungsverfahren nach § 209 StPO.5 Insoweit hat sich keine Änderung gegenüber der bisherigen Rechtslage ergeben.6 Aus der gerichtlichen Überprüfbarkeit der Entscheidung folgt daher auch weiterhin das Erfordernis, dass die Staatsanwaltschaft bei Erheben der Anklage die Umstände angibt, aus denen sich die besondere Schutzbedürftigkeit ergibt, sofern diese nicht offensichtlich ist.7 Maßgeblich bleibt die individuelle Schutzbedürftigkeit des Zeugen im konkreten Verfahren.8 2. Verfassungsrechtliche Bedenken. Bereits die gegen die bislang geltende Regelung, 4 die eine Anklage vor dem Jugendrichter oder vor der Jugendkammer ermöglichte (sog. bewegliche Zuständigkeit), waren vor dem Hintergrund der Bestimmbarkeit des gesetzlichen Richters verfassungsrechtliche Bedenken erhoben worden.9 Diese werden für die nunmehr in § 24 Abs. 1 Satz 2 gefundene Regelung erneuert; nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts10 sei eine bewegliche Zuständigkeitsregelung nur dann mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar, wenn sachfremden Einflüssen bei der Bestimmung der Zuständigkeit vorgebeugt werde. Mit der neuen, auf eine ‚besondere Belastung‘ von Zeugen abstellende Regelung werde hingegen ausschließlich an ein subjektives Kriterium angeknüpft, so dass diese auch bei verfassungskonformer Auslegung nicht mehr mit dem Grundgesetz vereinbar sei.11 Dem wird man indessen auch weiterhin mit dem Einwand begegnen können, dass der Staatsanwaltschaft bei ihrer Entscheidung kein (subjektives) Wahlrecht zusteht, sondern dass diese ihre Entscheidung im Einzelfall nachvollziehbar begründen muss und dies einer gerichtlichen Nachprüfbarkeit unterliegt.
§ 26 (1) … (2) 1In Jugendschutzsachen soll der Staatsanwalt Anklage bei den Jugendgerichten erheben, wenn damit die schutzwürdigen Interessen von Kindern oder Jugendlichen, die in dem Verfahren als Zeugen benötigt werden, besser gewahrt werden können. 2Im Übrigen soll die Staatsanwaltschaft Anklage bei den Jugendgerichten nur erheben, wenn aus sonstigen Gründen eine Verhandlung vor dem Jugendgericht zweckmäßig erscheint.
4 5 6
7
BRAK-Stellungnahme-Nr. 35/2011, S. 5. Meyer-Goßner § 24, 9 GVG. Vgl. zur nachträglichen Änderung und zur gerichtlichen Nachprüfung der Entscheidung sowie zu den etwaigen Folgen einer willkürlichen Annahme der sachlichen Zuständigkeit HW § 24, 28 ff. GVG. BTDrucks. 15 1976 S. 19; BTDrucks. 17 6261 S. 14.
8
9 10 11
BTDrucks. 15 1976 S. 19; OLG Hamburg NStZ 2005 654; LG Hechingen NStZ-RR 2006 51; OLG Karlsruhe NStZ 2011 479 sowie Justiz 2011 141. Siehe hierzu u.a. die Ausführungen im HW zu § 24, 18 GVG. BVerfGE 9 223. BRAK-Stellungnahme-Nr. 35/2011, S. 7.
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§ 26 GVG Nachtr.
Gerichtsverfassungsgesetz
(3) Die Absätze 1 und 2 gelten entsprechend für die Beantragung gerichtlicher Untersuchungshandlungen im Ermittlungsverfahren.
Schrifttum Bittmann Referentenentwurf für ein Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) ZRP 2011 72; Eisenberg Referentenentwurf des BMJ „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG)“ 2010 HRRS 2011 64.
Änderung. Durch das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs vom 26.6.2013 (StORMG, BGBl. I S. 1805) wurde mit Wirkung ab 1.9.2013 Absatz 2 der Vorschrift durch zwei neue Absätze ersetzt, wobei der jetzige Absatz 2 eine Abänderung der bisherigen Regelung beschreibt, der jetzige Absatz 3 indessen eine Neuregelung darstellt. Hierdurch soll ein verbesserter Schutz namentlich von jugendlichen Opferzeugen erreicht werden.
Übersicht Rn. 1. Umkehr des Regel-Ausnahme-Verhältnisses 2. Schutzwürdige Interessen . . . . . . . .
Rn.
1 2
3. Zweckmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . 4. Untersuchungshandlungen . . . . . . . .
3 4
Bedeutung 1
1. Umkehr des Regel-Ausnahme-Verhältnisses. Mit der in Absatz 2 Satz 1 getroffenen Neuregelung werden die Voraussetzungen für das Erheben der Anklage bei den Jugendgerichten neu gefasst, konkretisiert und hierbei deutlicher am Schutz jugendlicher Opferzeugen orientiert. Die Regelung sieht nunmehr vor, dass der Staatsanwalt Anklage bei den Jugendgerichten erheben soll, wenn damit die schutzwürdigen Interessen von Kindern oder Jugendlichen, die in dem Verfahren als Zeugen benötigt werden, besser gewahrt werden können.1 Nach der bisher geltenden Regelung durfte die Staatsanwaltschaft Anklage vor dem Jugendgericht nur erheben, wenn in dem Verfahren Kinder oder Jugendliche als Zeugen benötigt wurden oder aus sonstigen Gründen eine Verhandlung vor dem Jugendgericht zweckmäßig erschien. Sie musste dies jedoch nicht tun und konnte auch bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen die Sache vor das allgemeine Strafgericht bringen.2 Die bisherige Regelung bedeutete demnach nur, dass die Jugendgerichte nicht mit Verfahren befasst werden sollten, in denen es an den genannten Voraussetzungen fehlt. Dies ist nunmehr dahingehend abgeändert worden, dass das Erheben der Anklage vor den Jugendgerichten in den benannten Fällen die Regel darstellt („soll“), während dies nach der bisherigen Regelung als Ausnahme ausgestaltet war („darf … nur“). Die neue Vorschrift stellt insoweit bei Vorliegen der maßgeblichen Voraussetzungen im Hinblick auf eine Anklage bei den Jugendgerichten eine Umkehr des bisherigen Regel-Ausnahme-Verhältnisses dar. Die Staatanwaltschaft soll nunmehr also bei Vorliegen der Voraussetzungen Anklage bei den Jugendgerichten erheben und nur noch in Ausnahmefällen die Sache vor das allgemeine Strafgericht bringen.3 Ob diese Umkehr des 1 2
BTDrucks. 17 6261 S. 14. BGHSt 13 297.
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Eisenberg HRRS 2011 70.
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Dritter Titel. Amtsgerichte
Nachtr. § 26 GVG
Regel-Ausnahme-Verhältnisses tatsächlich zu einem verbesserten Schutz der entsprechenden Zeugen im Einzelfall führen wird, muss indessen bezweifelt werden. Ob es durch diese Neuregelung zu einer Zunahme der Anklagen vor den Jugendgerichten kommen wird, bleibt abzuwarten. 2. Schutzwürdige Interessen. Schutzwürdige Interessen im Sinne von Absatz 2 Satz 1 2 können insbesondere bestehen, wenn minderjährige Verletzte von Sexual- und Misshandlungsdelikten als Zeugen benötigt werden, und die nach § 37 JGG für den Umgang mit jungen Menschen besonders qualifizierten Jugendrichter besser in der Lage sind, deren Interessen zu wahren.4 Von einer Anklage bei den Jugendgerichten kann indessen weiterhin abgesehen werden, wenn unter den Spruchkörpern für allgemeine Strafsachen durch Geschäftsverteilung besondere Jugendschutzabteilungen oder -kammern eingerichtet sind und hierdurch eine gleichwertige Wahrung der schutzwürdigen Belange der minderjährigen Zeugen zu erwarten ist.5 Die Vorschrift räumt der Staatsanwaltschaft indessen weiterhin kein Wahlrecht ein, sondern einen Beurteilungsspielraum, ohne aber die Entscheidung über die Anklageerhebung beim Jugendgericht oder bei dem allgemeinen Strafgericht bindend zu machen; die Entscheidung unterliegt nach wie vor der gerichtlichen Kontrolle im Eröffnungsverfahren nach Maßgabe der §§ 209, 209a Nr. 2b StPO. 3. Zweckmäßigkeit. Die nunmehr in Absatz 2 Satz 2 getroffene Regelung entspricht 3 weitgehend dem bisherigen Absatz 2 in der 2. Alternative. Sie sieht vor, dass bei Fehlen der Voraussetzungen aus Satz 1 eine Anklage bei den Jugendgerichten nur erhoben werden darf, wenn aus sonstigen Gründen eine Verhandlung vor dem Jugendgericht zweckmäßig erscheint. Insoweit handelt es sich weiterhin ausdrücklich um eine Ausnahmeregelung („nur … darf“). Hiernach kann unbeschadet des Vorliegens schutzwürdiger Interessen von minderjährigen Zeugen Anklage beim Jugendgericht auch dann erhoben werden, wenn etwa zu erwarten ist, dass die Aussage eines jugendlichen Zeugen oder die Aussage eines Zeugen über Erlebnisse aus seiner Jugendzeit durch das Jugendgericht besser gewürdigt werden kann, und aus diesem Grund eine Verhandlung vor dem Jugendgericht zweckmäßig erscheint.6 Insoweit hat sich keine Änderung gegenüber der bisherigen Regelung ergeben und kann auf die entsprechenden Ausführungen im HW7 verwiesen werden. Die Vorschrift des § 74b Satz 2 GVG stellt weiterhin klar, dass die Regelung in § 26 Abs. 2 GVG für die Anklage vor den Jugendkammern entsprechend gilt. 4. Untersuchungshandlungen. Der neue Absatz 3 stellt klar, dass die Regelung über 4 das Erheben der Anklage bei den Jugendgerichten entsprechend für das Beantragen gerichtlicher Untersuchungshandlungen im Ermittlungsverfahren gilt.8 Diese Ausdehnung des Opferschutzes auf frühere Verfahrensstadien erscheint konsequent und sachgerecht. Denn die besonderen Belange schutzbedürftiger Opferzeugen werden bereits im Ermittlungsverfahren regelmäßig tangiert. Weshalb der besondere Schutz etwa für richterliche Vernehmungen entsprechender Zeugen nicht bereits im Ermittlungsverfahren gelten sollte, war nicht nachvollziehbar. Die Zuständigkeit der Jugendschutzgerichte in Ermittlungssachen richtet sich hierbei nach Absatz 1 der Vorschrift.9
4 5 6
BTDrucks. 17 6261 S. 14. HW § 209a, 32 StPO; Eisenberg HRRS 2011 70. BTDrucks. 17 6261 S. 14; BGHSt 13 53.
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HW § 26, 10 ff. GVG. BTDrucks. 17 6261 S. 14; Bittmann ZRP 2011 73. Eisenberg HRRS 2011 70.
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VIERTER TITEL Schöffengerichte § 51 (1) Ein Schöffe ist seines Amtes zu entheben, wenn er seine Amtspflichten gröblich verletzt hat. (2) 1Die Entscheidung trifft ein Strafsenat des Oberlandesgerichts auf Antrag des Richters beim Amtsgericht durch Beschluss nach Anhörung der Staatsanwaltschaft und des beteiligten Schöffen. 2Die Entscheidung ist nicht anfechtbar. (3) 1Der nach Absatz 2 Satz 1 zuständige Senat kann anordnen, dass der Schöffe bis zur Entscheidung über die Amtsenthebung nicht zu Sitzungen heranzuziehen ist. 2Die Anordnung ist nicht anfechtbar.
Schrifttum Albers Die Abberufung eines ehrenamtlichen Richters nach § 24 VwGO MDR 1984 888; Anger Die Verfassungstreuepflicht der Schöffen NJW 2008 3041.
Entstehungsgeschichte. Die ursprünglich an dieser Stelle im Gesetz vorhandene Regelung entfiel (vgl. stattdessen jetzt § 45 Abs. 2 ff. DRiG in der Fassung des 1. StVRGErgG vom 20.12.1974). Die nunmehr hier neu eingefügte Regelung beruht auf dem Gesetz zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie in der Justiz und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 22.12.2010 (BGBl. I S. 2248) mit einer Berichtigung vom 4.2.2011 (BGBl. I S. 223); inkraftgetreten am 28.12.2010. Übersicht Rn. 1. Ziel der Regelung . . . . . . . . . . . . . 2. Das Enthebungsverfahren a) Gröbliche Verletzung der Amtspflichten (Abs. 1) . . . . . . . . . . . b) Zuständigkeit (Abs. 2 Satz 1) . . . . .
1
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Rn. c) Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . d) Anhörung . . . . . . . . . . . . . . . e) Unanfechtbarkeit (Abs. 2 Satz 2) . . . 3. Einstweilige Anordnung (Abs. 3) . . . . .
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1. Ziel der Regelung. Obwohl Art. 33 Abs. 5 GG nur die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums anerkennt und somit auf ehrenamtliche Richter nicht unmittelbar anzuwenden ist, fungieren ehrenamtliche Richter nach Maßgabe von § 30 Abs. 1 grundsätzlich gleichberechtigt neben den hauptamtlichen Richtern als Organe staatlicher Aufgabenerfüllung.1 Das BVerfG hat vor diesem Hintergrund nicht zuletzt mit seiner 1
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Entscheidung vom 6.5.20082 herausgestellt, dass auch ehrenamtliche Richter – und somit auch Schöffen – einer besonderen Verfassungstreuepflicht unterliegen und von ihnen daher zu fordern ist, dass sie für die Verfassungsordnung, auf die sie vereidigt sind, auch einzutreten. Die Grundentscheidung der Verfassung schließe es aus, dass der Staat zur Ausübung von Staatsgewalt Bewerber zulässt und in Ehrenämtern, die mit der Ausübung staatlicher Gewalt verbunden sind, Bürger belässt, die die freiheitliche demokratische, rechts- und sozialstaatliche Ordnung ablehnen und bekämpfen.3 Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist diese Pflicht zur Verfassungstreue indessen nicht auf die richterliche Tätigkeit beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf Aktivitäten außerhalb des eigentlichen Ehrenamts.4 Hieraus wird die staatliche Pflicht hergeleitet, Schöffen, welche die freiheitliche demokratische Grundordnung ablehnen oder bekämpfen, ihres Amtes zu entheben.5 Vor dem Hintergrund der richterlichen Unabhängigkeit bestimmt § 44 Abs. 2 DRiG, dass eine Amtsenthebung nur unter den gesetzlich bestimmten Voraussetzungen und nur durch Entscheidung eines Gerichts erfolgen kann. Die Vorschrift liefert bzgl. Schöffen hierfür nunmehr die gesetzliche Grundlage. Während in anderen Verfahrensordnungen, die ebenfalls eine Beteiligung ehrenamt- 2 licher Richter vorsehen, gesetzliche Regelungen zur Amtsenthebung oder zur Entbindung vom Amt aufgrund von Pflichtverletzungen bereits vorhanden waren,6 fehlte bislang eine vergleichbare Regelung für Schöffen. Die im Gesetz vorhandenen Möglichkeiten, Schöffen ihres Amtes zu entheben, wurden für nicht ausreichend erachtet: denn während die §§ 32, 33 erst zur Anwendung kommen, wenn das Verhalten, namentlich die verfassungsfeindlichen Aktivitäten zugleich geeignet sind, einen Straftatbestand zu erfüllen, decken auch die an eine Verstrickung mit dem SED-Unrechtsregime anknüpfenden Vorschriften in §§ 44a und 44b DRiG7 die hier maßgebliche Problematik nicht vollständig ab. Die Vorschrift des § 52 mit der Möglichkeit zur Streichung von der Schöffenliste hingegen wurde vom Gesetzgeber als zu formalistisch und letztlich wenig praxisfreundlich angesehen.8 2. Das Enthebungsverfahren a) Gröbliche Verletzung von Amtspflichten. Materielle Voraussetzung einer Amtsent- 3 hebung von Schöffen ist eine gröbliche Verletzung der Amtspflichten (Abs. 1). Die Vorschrift ist insoweit der für Handelsrichter geltenden Vorschrift des § 113 Abs. 1 Nr. 2 nachgebildet, so dass auf hierzu vorhandene Rechtsprechung und Literatur zunächst hingewiesen werden kann. Die Beschränkung allein auf gröbliche Verletzungen ist hierbei Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, zumal die Amtsenthebung eines Schöffen umfassend ist und den weitreichendsten Eingriff in dessen Rechtsstellung darstellt.9 Nicht jeder Pflichtenverstoß kann daher zur Entbindung von dem Amt führen.10 Eine gröbliche Pflichtverletzung in diesem Sinne liegt daher nur vor, wenn es sich um eine besonders schwerwiegende Verletzung einer Amtspflicht handelt oder wenn immer wieder weniger schwer wiegende Verstöße begangen werden.11 2 3 4 5 6
NJW 2008 2568 für ehrenamtliche Richter bei den Arbeitsgerichten. Vgl. hierzu auch die Erläuterungen im HW § 31, 17 GVG. NJW 2008 2568. BRDrucks. 539/10 S. 20. § 27 Satz 1 ArbGG, § 113 Abs. 1 Nr. 2 GVG, § 22 Abs. 1 Satz 2 SGG, § 24 Abs. 1 Nr. 2 VwGO und § 21 Abs. 1 Nr. 3 FGO.
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Vgl. hierzu im HW § 33, 12 ff. GVG sowie Schmidt-Räntsch DRiG § 44a, 5. BTDrucks. 17 3356 S. 17. BRDrucks. 539/10 S. 20. Eyermann/Geiger Verwaltungsgerichtsordnung, 12. Aufl., § 24, 4. Posser/Wolff/Garloff Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl., § 113, 2 GVG.
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Als Pflichtverletzung in diesem Sinne kommt zunächst die Mitgliedschaft in einer Partei in Betracht, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, aber nicht nach Art. 21 Abs. 2 GG verboten ist.12 Zu denken ist neben verfassungsfeindlichen Aktivitäten ferner an andere Pflichtverletzungen von besonderer Erheblichkeit, etwa an eine nicht nur unerhebliche oder wiederholte Verletzung des Beratungsgeheimnisses und an wiederholtes unentschuldigtes Fernbleiben von Sitzungen,13 die nicht nur vorübergehende fehlende Sicherstellung der telefonischen und postalischen Erreichbarkeit14 sowie ein Verweigern der Eidesleistung.15 In der Rechtsprechung der Arbeitsgerichtsbarkeit zu § 27 Satz 1 ArbGG ist als Grund zur Amtsenthebung eines ehrenamtlichen Richters anerkannt worden: Die Teilnahme an Diffamierungskampagnen gegen die Verfassung sowie der Aufruf zu Gewaltaktionen,16 das Verbreiten rassistischer Parolen einer rechtsextremen Partei17 oder die Mitgliedschaft in einer Neonaziband.18 In der Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde eine gröbliche Verletzung von Amtspflichten im Sinne von § 24 Abs. 1 Nr. 2 VwGO angenommen bei wahrheitswidrigen Angaben im Zusammenhang mit der Berechnung der Entschädigung.19 Daneben wird man auch ein beharrliches Verhalten, das für sich genommen die ständige Besorgnis der Befangenheit des Schöffen zu begründen geeignet ist, als gröbliche Verletzung der Amtspflichten ansehen müssen, etwa ein fortwährendes, völlig unangepasstes Verhalten namentlich in der Hauptverhandlung, aber auch außerhalb derselben. In Betracht kommt aber auch ein schwerwiegendes außergerichtliches Verhalten,20 wenn dadurch die Vertrauenswürdigkeit des Schöffen ausgeschlossen wird oder wenn es Auswirkungen auf die zukünftige Ausübung der Amtspflichten haben kann.21 Für ehrenamtliche Richter der Sozialgerichtsbarkeit wurde hierfür als ausreichend erachtet etwa schwere Trunksucht, entwürdigendes Verhalten oder das Erteilen von rechtlichen Auskünften unter Hinweis auf die Tätigkeit als ehrenamtlicher Richter.22 Wegen der Tragweite des Eingriffs wird insoweit aber Zurückhaltung mit der Annahme einer gröblichen Pflichtverletzung geboten sein. Letztlich darf das Verfahren auch im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht dazu dienen bzw. nicht dazu missbraucht werden, sich eines lediglich missliebigen oder nur lästigen Schöffen zu entledigen. Vorausgesetzt wird schuldhaftes Handeln, wobei bei leichter Fahrlässigkeit wieder5 holte Verstöße ausreichend sein können.23 Zumindest in derartigen Fällen wird man unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit indessen voraussetzen müssen, dass zuvor eine Abmahnung erfolgt ist.24 In Betracht kommt hierfür der Richter beim Amtsgericht, der dem Schöffenwahlausschuss (§ 40 Abs. 2) vorsitzt, bzw. der nach § 77 Abs. 3 Satz 3 zuständige Vorsitzende der Strafkammer. Während im Hinblick auf das Vorliegen einer gröblichen Pflichtverletzung dem erkennenden Gericht – anders als bei
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BRDrucks. 539/10 S. 21; a.A. zum ArbGG: LAG Hamm NZA 1993 476; Meyer-Ladewig/Kellner/Leitherer Sozialgerichtsgesetz, 9. Aufl., § 22, 7. MüKo-ZPO/Zimmermann § 113, 5 GVG; Stein/Jonas/Jacobs, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 22. Aufl., § 113, 4 GVG; Kissel/Mayer § 113, 5 GVG; Zöller/Lückemann § 113, 1 GVG. OLGR Frankfurt 2007 179 für § 113. Meyer-Goßner 2. LAG Baden-Württemberg ArbuR 2008 114. LAG Hamm NZA 1993 479.
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BVerfG NJW 2008 2568. BlnB NVwZ-RR 2008 846; Kopp/Schenke Verwaltungsgerichtsordnung, 9. Aufl., § 24, 2. Kissel/Mayer § 113, 5 GVG. Stein/Jonas/Jacobs, aaO 4. Meyer-Ladewig/Kellner/Leitherer aaO 7. Kissel/Mayer § 113, 5 GVG. Albers 888, 889; MüKo-ZPO/Zimmermann § 113, 4 GVG; Wieczorek/Schütze Zivilprozessordnung, 3. Aufl. § 113, 3 GVG; Kissel/Mayer § 113, 5 GVG; Posser/Wolff/ Garloff aaO 2; Eyermann/Geiger aaO 4.
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§ 52 – ein Beurteilungsspielraum bzw. Ermessen eingeräumt werden soll, legt die Formulierung „ist seines Amtes zu entheben“ auf der Rechtsfolgenseite eine gebundene Entscheidung nahe.25 Hierdurch soll zugleich aber auch klargestellt werden, dass die Amtsenthebung unabhängig vom Willen des Betreffenden erfolgt; dessen entgegenstehender Wille hindert eine Amtsenthebung nicht.26 b) Zuständigkeit (Abs. 2 Satz 1). Die Entscheidung trifft ein Strafsenat bei dem Ober- 6 landesgericht, in dessen Bezirk sich das Amts- oder Landgericht befindet, an dem der beteiligte Schöffe tätig ist. Die Zuständigkeit eines OLG soll nicht nur den gewichtigen Auswirkungen einer Amtsenthebung gerecht werden und den Anspruch des beteiligten Schöffen auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sicherstellen, sondern soll auch dem Schutz der Unabhängigkeit der ehrenamtlichen Richter Rechnung tragen, da – anders als beim Amts- oder Landgericht – beim OLG keine verfahrensbedingten Berührungspunkte zur Spruchtätigkeit der beteiligten Schöffen und dadurch keine Anknüpfungspunkte für eine etwaig fehlende Unvoreingenommenheit bei der Entscheidung über die Amtsenthebung bestehen.27 Befinden sich bei dem OLG mehrere Strafsenate, wird – anders als bei der Regelung nach § 113 Abs. 3 Satz 128 – der zuständige Senat durch den Geschäftsverteilungsplan bestimmt.29 Wenngleich der Wortlaut des Gesetzes „ein Strafsenat“ auch eine andere Auslegung zulassen dürfte, erscheint es zumindest sachgerecht, durch Geschäftsverteilungsplan die Zuständigkeit für das Enthebungsverfahren auf nur einen Senat zu konzentrieren. Die Entscheidung des Senats erfolgt in der Besetzung mit 3 Richtern.30 c) Antrag. Der Senat entscheidet (nur) auf Antrag des Richters beim Amtsgericht, der 7 dem Schöffenwahlausschuss (§ 40 Abs. 2) vorsitzt, bzw. auf Antrag des nach § 77 Abs. 3 Satz 3 zuständigen Vorsitzenden der Strafkammer. Andere Richter sind zur Antragstellung nicht befugt,31 wobei dies indessen eine Mitteilung über Pflichtverletzungen namentlich durch erkennende Richter an die Antragsberechtigten nicht ausschließt. Diese Beschränkung soll nicht nur zu einer Aufgaben-, sondern auch zu einer Verantwortungsbündelung, Effektivitätssteigerung und zur Ausgestaltung eines klaren Verfahrensablaufs führen. Ein weiterer Vorteil wird darin gesehen, dass das betroffene Amts- bzw, Landgericht früh über das Durchführen des Verfahrens informiert wird und auch dem OLG gegenüber auf weitere verfahrensrelevante Gesichtspunkte hinweisen kann, z.B. auf anhängige Verfahren, in welche der Schöffe eingebunden ist. Liegen die Voraussetzungen zur Antragstellung vor, soll der Antrag gestellt werden müssen; Ermessen soll insoweit nicht bestehen.32 d) Anhörung. Vor der Amtsenthebung ist eine Anhörung sowohl der Staatsanwalt- 8 schaft als auch des betroffenen Schöffen erforderlich. Während die Anhörung des Schöffen dessen Recht auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 GG Rechnung trägt, ist die Beteiligung der Staatsanwaltschaft Ausdruck der Schwere des Eingriffs und dient zugleich dem entscheidenden Senat als wichtige Erkenntnisquelle. 25 26 27 28
So auch für § 24 VwGO Eyermann/Geiger aaO. 4. BTDrucks. 17 3356 S. 17. BRDrucks. 539/10S. 21. Hiernach trifft die Entscheidung über die Amtsenthebung eines Handelsrichters stets der erste Zivilsenat des Oberlandesgerichts.
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Meyer-Goßner § 51, 5 GVG. Vgl. BRDrucks. 539/10 S. 22. Meyer-Goßner § 51, 3 GVG. BTDrucks. 17 3356 S. 18; vgl. zur VwGO auch Posser/Wolff/Garloff aaO 2.
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e) Unanfechtbarkeit (Abs. 2 Satz 2). Die vom Senat schließlich getroffene Entscheidung ist nicht anfechtbar, und zwar weder die Amtsenthebung noch das Ablehnen des Antrags.33 Zwar stellt die Amtsenthebung einen schwerwiegenden Eingriff in die Rechte des Schöffen dar. Da die Entscheidung aber durch einen Senat als Kollegialorgan mit drei Berufsrichtern ergeht, wird die Rechtsstellung der Schöffen als hinreichend geschützt angesehen.34 Die Regelung entspricht letztlich der Vorschrift des § 304 Abs. 1 Satz 2 StPO, die auch im Streichungsverfahren nach § 52 in dessen Absatz 4 ihren Ausdruck gefunden hat. Hiernach ist für die Frage der (Un)anfechtbarkeit unerheblich, ob die Enthebung mit zutreffender Begründung vorgenommen oder mit unzutreffender Begründung abgelehnt wurde.35 Denn durch die Entscheidung soll Klarheit geschaffen werden.36 Im Hinblick auf eine etwaige Anfechtung der Amtsenthebung oder von deren Ablehnung im Rahmen einer Revision (§§ 336 Satz 2, 338 Nr. 1 StPO) wird man auf die u.a. zu § 52 ergangene Willkürrechtsprechung des BGH37 zurückgreifen können.
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3. Einstweilige Anordnung (Abs. 3). Das zuständige OLG kann nach pflichtgemäßem Ermessen38 eine einstweilige Anordnung erlassen, in deren Folge der Schöffe, der des Amtes enthoben werden soll, bis zur abschließenden Entscheidung nicht zu Sitzungen heranzuziehen ist. Eine derartige Anordnung wird namentlich dann in Betracht kommen, wenn ein Schöffe derart schwerwiegend gegen Amtspflichten verstößt, dass ein Zuwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr zumutbar erscheint. Dies soll vor allem dann der Fall sein, wenn anderenfalls ein Strafverfahren unter Mitwirkung eines Schöffen durchgeführt werden müsste, gegen den zwischenzeitlich ein Strafverfahren eingeleitet worden ist.39 Da das Enthebungsverfahren der gesetzgeberischen Wertung zufolge aber nicht auf die Fälle beschränkt sein soll, in denen die fehlende Verfassungstreue sogleich ein Ermittlungsverfahren nach sich zieht,40 wird der Erlass einer einstweiligen Anordnung indessen nicht auf diese Fälle beschränkt bleiben. Auch die Entscheidung über den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist ebenso wie die Entscheidung in der Hauptsache unanfechtbar.
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Meyer-Goßner § 51, 4 GVG. BRDrucks. 539/10 S. 22. KK/Hannich § 52, 9 GVG; HW § 52, 15 GVG. Kissel/Mayer § 52, 18 GVG.
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HW § 52, 15 GVG m.w.N. BTDrucks. 17 3356 S. 18. Meyer-Goßner § 51, 6 GVG. Rn. 2.
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FÜNFTER TITEL Landgerichte § 74 (1) … (2) 1Für die Verbrechen … 9a. der Nachstellung mit Todesfolge (§ 238 Absatz 3 des Strafgesetzbuches), … 11. des erpresserischen Menschenraubes mit Todesfolge (§ 239a Abs. 2 des Strafgesetzbuches), 12. der Geiselnahme mit Todesfolge (§ 239b Abs. 3 in Verbindung mit § 239a Abs. 3 des Strafgesetzbuches), … 27. der schweren Gefährdung durch Freisetzen von Giften mit Todesfolge (§ 330a Absatz 2 des Strafgesetzbuches), 28. der Körperverletzung im Amt mit Todesfolge (§ 340 Absatz 3 in Verbindung mit § 227 des Strafgesetzbuches), 29. des Abgebens, Verabreichens oder Überlassens von Betäubungsmitteln zum unmittelbaren Verbrauch mit Todesfolge (§ 30 Absatz 1 Nummer 3 des Betäubungsmittelgesetzes), 30. des Einschleusens mit Todesfolge (§ 97 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes). ist eine Strafkammer als Schwurgericht zuständig. 2§ 120 bleibt unberührt. (3) …
Änderungen. Durch das zum 1.1.2012 in Kraft getretene Gesetz über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung vom 6.12.2011 (BGBl. I S. 2554) wurden in Absatz 2 der Vorschrift die Nrn. 11 und 12 redaktionell abgeändert und die Nrn. 9a sowie 27 bis 30 neu eingefügt.
Übersicht Rn. 1. Bedeutung der Änderungen . . . . . . . .
1
Rn. 2. Rechtspolitisches . . . . . . . . . . . . .
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1. Bedeutung der Änderungen. Die in Nrn. 11 und 12 unrichtig gewordenen Verwei- 1 sungen auf die Vorschrift des § 239a StGB wurden korrigiert. Der in Nr. 11 benannte erpresserische Menschenraub mit Todesfolge ist in § 329a Abs. 3 StGB geregelt, und die in Nr. 12 benannte Geiselnahme mit Todesfolge ist geregelt in § 239b Abs. 2 in Verbindung mit § 239a Abs. 3 StGB. Eine inhaltliche Änderung hat die Vorschrift hierdurch nicht erfahren.
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Die in den neu eingefügten Nrn. 9a sowie 27 bis 30 benannten Straftatbestände der Nachstellung mit Todesfolge, der schweren Gefährdung durch Freisetzen von Giften mit Todesfolge und die Körperverletzung im Amt mit Todesfolge waren bislang die einzigen den Tod eines Menschen voraussetzenden Verbrechenstatbestände des Strafgesetzbuches, die nicht in den Katalog der Zuständigkeiten des Schwurgerichts fielen. Nach Auffassung des Gesetzgebers erschien es systemgerecht, den Zuständigkeitskatalog um diese im Strafgesetzbuch normierten Verbrechenstatbestände zu erweitern.1 Entsprechendes gilt für die (im Gesetzgebungsverfahren erst spät) in den Katalog nunmehr aufgenommenen Tatbestände aus dem Betäubungsmittel- und dem Aufenthaltsgesetz. Dem kann in der Sache nur zugestimmt werden. Denn es war in der Tat nicht nachzuvollziehen, warum die nunmehr erfassten Tatbestände bislang vom Katalog des Absatzes 2 ausgenommen waren.
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2. Rechtspolitisches. Keine Änderung hat der Katalog der Absatz 2 hingegen erfahren im Hinblick auf die im Vollrausch nach § 323a StGB begangene Tötung eines Menschen. Nach geltender Rechtslage begründet das Vergehen des Vollrauschs, auch wenn hierdurch die Tötung eines Menschen verursacht wurde, nicht die Zuständigkeit des Schwurgerichts; vielmehr verbleibt es bei den allgemeinen Regelungen.2 Der in der Rechtsprechung insoweit bereits aufgestellte Appell, auch den Tatbestand des Vollrausches in den Katalog des § 74 Abs. 2 aufzunehmen3, blieb folgenlos. Soweit sich nachfolgend die Literatur mit dieser Frage beschäftigt und eine Zuständigkeit des Schwurgerichts für diese Fallgruppe verneint hat4, wurde ohne weitere Begründung stets nur auf die Entscheidung des OLG Stuttgart5 verwiesen, in der eine im Katalog des Absatzes 2 nicht erfasste Zuständigkeit des Schwurgerichts für die im Vollrausch begangene Tötung zwar verneint wurde mit der – systematisch zutreffenden – Erwägung, der Tod eines Menschen sei lediglich objektive Bedingung der Strafbarkeit des Vollrauschs als Vergehen; dass das OLG Stuttgart eine Zuständigkeit des Schwurgericht zumindest de lege ferenda gleichwohl für sachdienlich erachtete, fand indessen keine Erwähnung. Die in der Praxis vorkommenden Fälle der im Vollrausch begangenen Tötung eines Menschen zeigen jedoch, dass gerade in derartigen Konstellationen die besondere Sachkunde und Erfahrung eines Schwurgerichts gefordert ist, um hierbei regelmäßig auftretende Grenzfragen psychiatrischer, rechtsmedizinischer und auch juristischer Natur sachgerecht zu beantworten. Nicht selten kann nämlich erst in der Hauptverhandlung zuverlässig herausgearbeitet werden, ob tatsächlich ein Vollrausch vorgelegen hat, oder ob eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen ist – was auch nach geltender Rechtslage die Zuständigkeit des Schwurgerichts fraglos begründet. In derartigen Fällen von vornherein auf die Möglichkeit einer Verweisung nach § 270 StPO vertrauen zu müssen, erscheint wenig prozessökonomisch. Vor diesem Hintergrund hat jüngst das OLG Celle6 sich der Auffassung angeschlossen, dass aus den dargelegten Erwägungen der Katalog des Absatzes 2 um die im Vollrausch begangene Tötung eines Menschen erweitert werden sollte. Dem ist zuzustimmen. Denn es ist zumindest im Ergebnis nicht einleuchtend, warum bei Annahme von Schuldunfähigkeit ein Sicherungsverfahren mit dem Ziel einer Unterbringung nach § 63 StGB die Zuständigkeit des Schwurgerichts begründet, und bei Annahme (lediglich) eines Vollrausches die allgemeine
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BRDrucks. 460/11 S. 11. Vgl. hierzu auch die Hinweise im HW unter Rn. 8. OLG Stuttgart MDR 1992 290.
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Kissel/Mayer § 74, 9 GVG; KK/Diemer 74, 2 GVG. AaO. NJW-Spezial 2012 218 = NStZ-RR 2012 181.
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Fünfter Titel. Landgerichte
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große Strafkammer zuständig sein soll. Mit der Tragweite einer möglichen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wird man die Zuständigkeit des Schwurgerichts nicht begründen können – zumal nach § 76 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 (n.F.) in diesen Fällen auch die große Strafkammer ausnahmslos in der Besetzung mit 3 Berufsrichtern entscheidet.
§ 74c (1) Für Straftaten … 2. nach den Gesetzen über das Bank-, Depot-, Börsen- und Kreditwesen sowie nach dem Versicherungsaufsichtsgesetz, dem Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz und dem Wertpapierhandelsgesetz, … 5. des Subventionsbetruges, des Kapitalanlagebetruges, des Kreditbetruges, des Bankrotts, der Verletzung der Buchführungspflicht, der Gläubigerbegünstigung und der Schuldnerbegünstigung, … 6. a) des Betruges, des Computerbetruges, des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt, des Wuchers, der Vorteilsannahme, der Bestechlichkeit, der Vorteilsgewährung und der Bestechung, b) nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz und dem Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz, … soweit zur Beurteilung des Falles besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens erforderlich sind, ist, soweit nach § 74 Abs. 1 als Gericht des ersten Rechtszuges und nach § 74 Abs. 3 für die Verhandlung und Entscheidung über das Rechtsmittel der Berufung gegen die Urteile des Schöffengerichts das Landgericht zuständig ist, eine Strafkammer als Wirtschaftsstrafkammer zuständig. 2§ 120 bleibt unberührt. (2) … (3) … (4) …
Änderungen. Durch das zum 1.1.2012 in Kraft getretene Gesetz über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern vom 6.12.2011 (BGBl. I S. 2554) wurden in Abs. 1 Nr. 2 der Vorschrift als Katalogtat neu eingefügt die Straftaten nach dem Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz und in Nr. 5 die Verletzung der Buchführungspflicht. Nr. 6a wurde neu gefasst und in Nr. 6b wurden die Wörter „dem dritten Buch Sozialgesetzbuch sowie“ gestrichen. Übersicht Rn. 1. Straftaten nach dem Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz . . . . . . . . . . . . . . 2. Verletzung der Buchführungspflicht . . .
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Rn. 3. Vorteilsannahme und Bestechlichkeit . . . 4. Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz . . . .
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Bedeutung der Änderungen
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1. Da die Wirtschaftsstrafkammern über besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens verfügen und nach bisher geltender Rechtslage nach Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 bereits für Straftaten nach den Gesetzen über das Bank-, Depot-, Börsen- und Kreditwesen sowie nach dem Versicherungsaufsichtsgesetz und dem Wertpapieraufsichtsgesetz zuständig waren, erschien es dem Gesetzgeber systemgerecht, die Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammern um Straftaten nach dem Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz (Gesetz über die Beaufsichtigung von Zahlungsdiensten, ZAG) zu erweitern.1 Erfasst werden hiermit namentlich Straftaten im Zusammenhang mit Ein- oder Auszahlungen sowie das Ausführen von Zahlungsvorgängen bei Kreditinstituten, sonstigen Unternehmen oder insoweit hoheitlich handelnden Gebietskörperschaften. Die entsprechenden Straftatbestände werden in § 31 ZAG vom 25.6.2009 (BGBl. I S. 1506) i.d.F. vom 22.12.2011 (BGBl. I S. 3044) erfasst. Dieser hat folgenden Wortlaut: § 31 Strafvorschriften (1) Wer 1. entgegen § 2 Abs. 1 oder Abs. 3 Satz 1 Einlagen oder andere rückzahlbare Gelder entgegennimmt oder Kredit gewährt, 2. ohne Erlaubnis nach § 8 Abs. 1 Satz 1 Zahlungsdienste erbringt, 2a. ohne Erlaubnis nach § 8a Absatz 1 Satz 1 das E-Geld-Geschäft betreibt, 3. entgegen § 16 Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 1 eine Anzeige nicht, nicht richtig oder nicht rechtzeitig erstattet oder 4. entgegen § 23a E-Geld ausgibt, wird in den Fällen der Nummern 3 und 4 mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe und in den Fällen der Nummern 1, 2 und 2a mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft. (2) Handelt der Täter fahrlässig, so ist die Strafe in den Fällen der Nummern 3 und 4 Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe und in den Fällen der Nummern 1, 2 und 2a Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe.
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2. Das vorhandene Fachwissen der Wirtschaftsstrafkammern ist insbesondere auch für die Beurteilung der im 24. Abschnitt des StGB aufgeführten Insolvenzstraftaten erforderlich. Durch die Ergänzung des Katalogs um die Verletzung der Buchführungspflicht gem. § 283b StGB wird die Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammern für die Insolvenzstraftaten des 24. Abschnitts des StGB vervollständigt.
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3. Bereits nach bislang geltendem Recht waren die Wirtschaftsstrafkammern unter anderem für die Straftaten der Vorteilsgewährung und der Bestechung zuständig, soweit zur Beurteilung des Falles besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens erforderlich sind. Dem Gesetzgeber erschien es daher systemgerecht, den Katalog und somit die Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammern um die der Vorteilsgewährung und der Bestechung spiegelbildlich gegenüberstehenden Delikte der Vorteilsannahme und der Bestechlichkeit zu ergänzen,2 soweit auch hier zur Beurteilung des Falles besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens erforderlich sind. Dies erscheint nur folgerichtig. Denn es war nicht nachzuvollziehen, weshalb bei dem Erfordernis besonderer Sachkunde zwar das Gewähren von Vorteilen, nicht hingegen deren Annahme die besondere Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer begründet hat. 1
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Nachtr. § 74f GVG
4. Durch das Gesetz zur Intensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und 4 damit zusammenhängender Steuerhinterziehung vom 23.7.2004 (BGBl. I S. 1842) wurden die Strafvorschriften des Dritten Buchs Sozialgesetzbuch in das Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung (Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz) übernommen. Insoweit war eine redaktionelle Anpassung erforderlich. Eine inhaltliche Änderung ist hiermit nicht beabsichtigt. Zugleich wurde die Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammern um Straftaten nach dem Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz erweitert. Auch dies erscheint systemgerecht. Das Dritte Buch Sozialgesetzbuch enthält seither keine Strafvorschriften mehr; auch Absatz 1 Satz 1 Nr. 6b wurde daher entsprechend angepasst.3
§ 74f (1) Hat im ersten Rechtszug eine Strafkammer die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten oder im Fall des § 66b des Strafgesetzbuches als Tatgericht entschieden, ist diese Strafkammer im ersten Rechtszug für die Verhandlung und Entscheidung über die im Urteil vorbehaltene oder die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zuständig. (2) Hat im Fall des § 66b des Strafgesetzbuches im ersten Rechtszug ausschließlich das Amtsgericht als Tatgericht entschieden, ist im ersten Rechtszug eine Strafkammer des ihm übergeordneten Landgerichts für die Verhandlung und Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zuständig. (3) Im Fall des § 66b des Strafgesetzbuches gilt § 462a Abs. 3 Satz 2 und 3 der Strafprozessordnung entsprechend. (4) In Verfahren, in denen über die im Urteil vorbehaltene oder die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu entscheiden ist, ist die große Strafkammer mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden besetzt und zwei Schöffen besetzt. Bei Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung wirken die Schöffen nicht mit. Änderung zum 1.1.2011. Die Vorschrift wurde zunächst mit Wirkung vom 1.1.2011 geändert durch das Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen (SiVerwNOG) vom 22.12.2010 (BGBl. I S. 2300 [Nr. 68]). In den Absätzen 1 bis 3 wurde die bisherige Formulierung „in den Fällen des § 66b StGB“ ersetzt durch die Wörter „im Fall des § 66b StGB“. Bedeutung. Ebenfalls durch das Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen (SiVerwNOG) vom 22.12.2010 wurde § 66b StGB1 dahingehend geändert, dass dessen bisherigen Absätze 1 und 2 aufgehoben wurden. Infolgedessen war eine redaktionelle Änderung der Zuständigkeitsregelung notwendig geworden, da § 66b StGB statt in bisher drei Fällen nur noch in einem Fall die Möglich-
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Die hier in Bezug genommene Vorschrift des § 66b StGB wurde durch die Entscheidung des BVerfG vom 4.5.2011 (2 BvR 2333/08 u.a., BGBl. I 2011 1003) für unvereinbar mit
Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG erklärt. Sie bleibt bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31.5.2013, nur noch mit Einschränkungen anwendbar.
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§ 76 GVG Nachtr.
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keit der nachträglichen Sicherungsverwahrung vorsah. Eine inhaltliche Änderung der Zuständigkeitsregelung des § 74f ist hiermit nicht erfolgt. Änderung zum 1.1.2012. Durch das Gesetz über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung vom 6.12.2012 (BGBl. I 2011 S. 2554) wurde Absatz 3 ersetzt durch die jetzigen Absätze 3 und 4. In Absatz 3 blieb Satz 1 unverändert bestehen, während Absatz 3 Satz 2 entfiel2 und ersetzt wurde durch den neuen Absatz 4. Bedeutung. Es handelt sich um eine durch die ebenfalls mit dem Gesetz über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung erfolgte Umgestaltung der §§ 76 GVG, 33b JGG bedingte Folgeänderung. Für Verfahren, in denen über die im Urteil vorbehaltene oder die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu entscheiden ist, wird die Besetzung der großen Strafkammern nunmehr abschließend in Abs. 4 geregelt. Im Fall der nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung war schon nach der bisherigen Rechtslage mit Abs. 3 der Vorschrift in der Fassung vor dem 1.1.2012 eine Besetzungsreduktion ausgeschlossen. Nach Auffassung des Gesetzgebers war es systemgerecht, dass die große Strafkammer künftig auch bei der Verhandlung über die im Urteil vorbehaltene Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt sein muss, da auch diese Entscheidung besonders weitreichende Folgen haben kann.3
§ 76 (1) … (2) Bei der Eröffnung des Hauptverfahrens beschließt die große Strafkammer über ihre Besetzung in der Hauptverhandlung. Ist das Hauptverfahren bereits eröffnet, beschließt sie hierüber bei der Anberaumung des Termins zur Hauptverhandlung. Sie beschließt eine Besetzung mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen, wenn 1. sie als Schwurgericht zuständig ist, 2. die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, deren Vorbehalt oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu erwarten ist oder 3. nach dem Umfang oder der Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Richters notwendig erscheint. Im Übrigen beschließt die große Strafkammer eine Besetzung mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen. (3) Die Mitwirkung eines dritten Richters nach Absatz 2 Satz 3 Nummer 3 ist in der Regel notwendig, wenn die Hauptverhandlung voraussichtlich länger als zehn Tage dauern wird oder die große Strafkammer als Wirtschaftsstrafkammer zuständig ist. (4) Hat die Strafkammer eine Besetzung mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen beschlossen und ergeben sich vor Beginn der Hauptverhandlung neue Umstände, die nach Maßgabe der Absätze 2 und 3 eine Besetzung mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen erforderlich machen, beschließt sie eine solche Besetzung. 2
Absatz 3 Satz 2 in der Fassung vor dem 1.1.2012 lautete: § 76 Abs. 2 dieses Gesetzes und § 33b Abs. 2 des Jugendgerichtsgesetzes sind nicht anzuwenden.
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(5) Ist eine Sache vom Revisionsgericht zurückverwiesen oder ist die Hauptverhandlung ausgesetzt worden, kann die jeweils zuständige Strafkammer erneut nach Maßgabe der Absätze 2 und 3 über ihre Besetzung beschließen. (6) 1In Verfahren über Berufungen gegen ein Urteil des erweiterten Schöffengerichts (§ 29 Abs. 2) ist ein zweiter Richter hinzuzuziehen. 2Außerhalb der Hauptverhandlung entscheidet der Vorsitzende allein.
Schrifttum Vgl. zur Vorschrift in ihrer bisherigen Fassung zunächst die Angaben im HW. Zur neuen Fassung der Vorschrift: Meyer-Goßner Reform des Rechtsmittelsystems in Strafsachen ZRP 1996 354; Die Chance nutzen: Gerichtsaufbau in Strafsachen, ZRP 2011 129; Rieß Die reduzierte Besetzung der großen Strafkammer – Gedanken zu einer (fast) unendlichen Geschichte, FS Schöch 895; Rissingvan Saan Die Besetzungsreduktion der großen Strafkammern nach § 76 Abs. 2 GVG, 3b Abs. 2 JGG – als Dauerlösung tauglich? FS Krey 431; Deutscher Die Zweier-Besetzung in der Hauptverhandlung als dauerhafter Regelfall – Zur Neuregelung der §§ 76 GVG, 33b JGG, StRR 2012 10; Schlothauer Die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung StV 2012 749; Zur Besetzung im Übrigen: Gittermann Die Besetzung der Gerichte bei Entscheidungen über Haftfragen in laufender Hauptverhandlung – zugleich eine Anmerkung zu BGH 1 StR 648/10, DRiZ 2012 11.
Entstehungsgeschichte. Vgl. zur Entwicklung der Vorschrift in ihrer früheren Fassung (und auch zum entspr. Schrifttum) zunächst die Ausführungen im HW. Erstmals mit dem Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege (RPflEntlG) vom 11.1.93 (BGBl. I S. 50) wurden aus Anlass der Wiedervereinigung mit Absatz 2 der Vorschrift Regelungen über eine Besetzungsreduktion der großen Strafkammer eingeführt. Durch Art. 3 des Gesetzes zur weiteren Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen und zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 22.12.97 (BGBl. I S. 3223) wurde die Geltung der Regelungen über die Besetzungsreduktion vom 28.2.98 bis zum 31.12.2000 verlängert. Durch das Gesetz zur Verlängerung der Besetzungsreduktion bei Strafkammern vom 19.12.2000 (BGBl. I S. 1756) wurde die Geltung der Vorschrift zum zweiten Mal verlängert, nunmehr bis zum 31.12.2002; zudem wurde mit Absatz 2 S. 2 der Vorschrift die Möglichkeit einer Korrektur der Besetzung nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht geschaffen. Die dritte Verlängerung der Befristung bis zum 31.12.2004 erfolgte durch Art. 24 des Gesetzes zur Änderung des Rechts der Vertretung durch Rechtsanwälte vor den Oberlandesgerichten vom 23.7.2002 (BGBl. I S. 2850). Durch das Gesetz zur nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23.7.2004 (BGBl. I S. 1950) wurde für die Entscheidung über die nachträgliche Sicherungsverwahrung die Besetzungsreduktion ausgeschlossen. Durch Art. 12g Abs. 20 des 1. Gesetzes zur Modernisierung der Justiz vom 24.8.2004 (BGBl. I S. 2198) erfolgte die 4. Befristungsverlängerung, nunmehr bis zum 31.12.2006. Die 5. Verlängerung erfolgte durch Art. 5 des 2. Gesetzes zur Modernisierung der Justiz vom 22.12.2006 (BGBl. I S. 3416), und zwar bis zum 31.12.2008. Durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 7.12.2008 (BGBl. I S. 2348) erfolgte die 6. (und letzte) Verlängerung der Befristung, und zwar bis zum 31.12.2011. Die Vorschrift in ihrer jetzigen Fassung geht zurück auf das Gesetz über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung und zur Änderung weiterer gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften sowie des Bundesdisziplinargesetzes (GVerfRÄndG) vom 6.12.2011 (BGBl. I S. 2554) und gilt seit dem 1.1.2012. Hierdurch
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wurde die durch das RpflEntlG vom 11.1.1993 (BGBl. I S. 50) erstmals geschaffene, als vorübergehend geplante und als solche wiederholt verlängerte Regelung zur Möglichkeit der Besetzungsreduzierung innerhalb der großen Strafkammer konkretisiert und nunmehr dauerhaft festgeschrieben. Absatz 2 der bisherigen Regelung wurde durch die Absätze 2 bis 5 ersetzt, und der bisherige Absatz 3 wurde Absatz 6. Das RPflEntlG tritt außer Kraft.
Übersicht Rn. I. Hintergrund und Anlass der Neuregelung
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II. Praktische Erfahrungen mit der Besetzungsreduktion . . . . . . . . . . . . .
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III. Bewertung durch Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Die Besetzung der großen Strafkammern 1. Anwendungsbereich der Norm . 2. Die Besetzungsentscheidung nach Absatz 2 S. 1 . . . . . . . . . . 3. Die Besetzungsentscheidung nach Absatz 2 S. 2 . . . . . . . . . . 4. Die Besetzungsentscheidung nach Absatz 4 . . . . . . . . . . . .
Rn.
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5. Die Besetzungsentscheidung nach Absatz 5 . . . . . . . . . . . . . 6. Fallgruppen für die Besetzung . . . a) Zuständigkeit als Schwurgericht b) Zu erwartende Unterbringung . c) Umfang oder Schwierigkeit der Sache . . . . . . . . . . . . d) Die Besetzung „im Übrigen“ . . e) Prüfungsmaßstab . . . . . . . f) Anfechtbarkeit . . . . . . . . . g) Übergangsregelungen . . . . .
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V. Folgen der Besetzung und kleine Strafkammern . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Jugendsachen
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I. Hintergrund und Anlass der Neuregelung 1
Nach § 76 in der bis zum 11.1.1993 geltenden Fassung war die große Strafkammer in der Hauptverhandlung stets mit drei Berufsrichtern (einschließlich des Vorsitzenden) und zwei Schöffen besetzt; Ausnahmen von der sog. Dreierbesetzung waren gesetzlich nicht vorgesehen und demzufolge nicht möglich. Infolge der Wiedervereinigung und den hiermit einhergehenden besonderen Belastungen bei dem Aufbau einer funktionierenden Justiz in den neuen Ländern sollte mit dem Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege (RpflEntlG) dieser „Notsituation der Justiz in den neuen Ländern“ Rechnung getragen werden.1 Erreicht werden sollte diese Entlastung mit der erstmals geschaffenen Möglichkeit, in geeigneten Fällen eine Besetzung der großen Strafkammer in der Hauptverhandlung mit nur zwei Berufsrichtern (einschließlich des Vorsitzenden) zu beschließen. Von dieser Möglichkeit hat die Praxis, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, aber seither doch regelmäßig Gebrauch gemacht. Die Regelung galt nach Art. 15 Abs. 2 RpflEntlG zunächst befristet bis zum 28.2.1998, wurde anschließend aber meist im Zweijahresrhythmus verlängert, zuletzt durch das Gesetz vom 7.12.2008 (BGBl. I S. 2348) befristet bis zum 31.12.2011. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass etwa 20 Jahre nach der Wiedervereinigung der mit dem RpflEntlG beabsichtigte Zweck (Unterstützung beim Aufbau der Justiz in den neuen Ländern) mittlerweile erreicht und somit der als nur vorübergehend gedachten Regelung allmählich der Boden entzogen worden sein dürfte, sollte nach der Begründung des Entwurfs des Gesetzes vom 7.12.2008, mit dem zuletzt eine Verlängerung der Regelung beschlossen worden war, die Anwendungspraxis der
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Besetzungsreduktion umfassend evaluiert werden, um hierauf gestützt eine endgültige Entscheidung über die Ausgestaltung der Regelung treffen zu können.2 Hierzu wurden im Jahre 2009 durch das Bundesministerium der Justiz und durch das Bundesamt für Justiz zwei Gutachtenaufträge erteilt, zum einen an die Große Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes, und zum anderen an die Hochschullehrer Prof. Dr. Dölling (Heidelberg) und Prof. Dr. Feltes (Bochum).
II. Praktische Erfahrungen mit der Besetzungsreduktion In der Begründung zum Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlas- 2 tung der Rechtspflege vom 7.12.2008 wird hierzu ausgeführt, dass die Besetzungsreduktion inzwischen eine feste Größe im Justizalltag darstelle und grundsätzlich ein geeignetes Instrument sei, um in sachgerechter Weise Einsparpotentiale der Strafjustiz auszuschöpfen.3 Von der zunächst durch das RPflEntlG eröffneten Möglichkeit, als große Strafkammer in der Hauptverhandlung in der sog. Zweierbesetzung zu verhandeln, hat die Praxis durchweg Gebrauch gemacht – wenn auch in recht unterschiedlichem Maße. Nach dem Gutachten Dölling/Feltes4 stieg im bundesweiten Durchschnitt der Anteil der Hauptverhandlungen mit nur zwei Richtern von 43 % im Jahre 1994 kontinuierlich auf einen Anteil von 78 % im Jahre 2009, wobei sowohl regionale Unterschiede als auch Differenzierungen nach Kammerarten5 festzustellen waren. In einzelnen Ländern hat sich der Anteil der Hauptverhandlung in reduzierter Besetzung von 5 % im Jahre 1994 gesteigert auf 95 % im Jahre 2009.6 Signifikante Unterschiede etwa im Hinblick auf das Ausmaß der Anfechtung von Urteilen je nach der beschlossenen Besetzung fanden sich nicht, wobei in Dreierbesetzung erkannte Urteile etwas häufiger der Anfechtung unterlagen.7 Im Hinblick auf Dauer, Bedeutung und Umfang der Verfahren war indessen zu erkennen, dass der Anteil der Verhandlungen in Dreierbesetzung hiermit einhergehend deutlich zunahm.8 Das Gutachten der großen Strafrechtskommission des deutschen Richterbundes9 hebt demgegenüber hervor, dass die Möglichkeit zum Verhandeln in der Zweierbesetzung vordergründig zwar Vorteile aufweise, namentlich einen effizienteren Personaleinsatz, dass denen aber eine Vielzahl von Nachteilen gegenüber stehe, wie etwa eine mangelnde Rechtsklarheit der maßgeblichen Vorschriften, fehlende effektive Arbeitsteilung zwischen Vorsitzendem, Berichterstatter und Beisitzer, verändertes Stimmenverhältnis gegenüber den Schöffen, höhere Fehleranfälligkeit der Urteile oder eine geringere Akzeptanz der Rechtsprechung.10 Die große Strafrechtskommission hat sich hiernach einstimmig gegen eine unbefristete Fortgeltung der §§ 76 Abs. 2 GVG, 33b Abs. 2 JGG ausgesprochen.11
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BTDrucks. 16 10570 S. 61. BTDrucks. 16 10570 S. 3. Endbericht über das Forschungsvorhaben „Besetzungsreduktion bei den großen Strafund Jugendkammern nach § 76 Abs. 2 GVG, § 33b Abs. 2 JGG – Evaluierung der Regelungen, ihrer Praxisanwendung und Möglichkeiten der Ausgestaltung der Besetzungsreduktion“ vom 15.3.2011, S. 27 ff., 230. AaO S. 66. AaO S. 30.
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AaO S. 39 ff. AaO S. 71 ff. Gutachten zum Thema: Besetzungsreduktion bei der Großen Strafkammer (§§ 76 Abs. 2 GVG, 33b Abs. 2 JGG) und Änderungen bei der Besetzung der erstinstanzlichen Spruchkörper? Modell „Meyer-Goßner“, Ergebnisse der Sitzung vom 3. bis 8. August 2009 in Gotha. AaO S. 91 ff. AaO S. 93.
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III. Bewertung durch Rechtsprechung und Literatur 3
Der BGH hat nicht nur im Rahmen seiner Rechtsprechung die maßgeblichen Kriterien für die Anwendung des § 76 Abs. 2 und das entsprechende Verfahren präzisiert und festgelegt,12 sondern hat auch inhaltlich zur Frage der Besetzungsreduktion Stellung bezogen. Der BGH bewertet die Besetzung der großen Strafkammer mit nur zwei Berufsrichtern eher kritisch und hat hierzu ausgeführt, dass sich die Besetzung einer großen Strafkammer mit drei Berufsrichtern bewährt habe. Es sei sachfremd und damit objektiv willkürlich, etwa aus Gründen der Personaleinsparung oder Ähnlichem eine reduzierte Besetzung zu beschließen. Vielmehr habe die Justizverwaltung sicherzustellen, dass umfangreiche oder schwierige Verfahren mit drei Berufsrichtern durchgeführt werden.13 Der BGH hat auch ausgeführt, dass – jedenfalls soweit erkennbar – die Praxis der großen Strafkammern dem erforderlichen sensiblen Umgang mit der Besetzungsreduktion nicht hinreichend gerecht werde; anders sei es nicht zu erklären, dass in einzelnen Bezirken ganz überwiegend oder fast ausschließlich in reduzierter Besetzung verhandelt worden sei. Der 5. Strafsenat hat hieraus das Erfordernis hergeleitet, den Begriff des Umfangs der Sache dahingehend zu präzisieren, dass jedenfalls bei einer zum Zeitpunkt der Eröffnung vorhersehbaren Verhandlungsdauer von mehr als 10 Tagen von der Mitwirkung eines dritten Berufsrichters grundsätzlich nicht abgesehen werden darf.14 Insgesamt hat nach den Erfahrungen der Strafsenate des BGH die zunehmend in Anspruch genommene Besetzungsreduktion im Hinblick auf die Arbeitsfähigkeit der Strafkammern und der Effizienz ihrer Rechtsprechung zu spürbaren Nachteilen geführt, die sich im vermehrten Auftreten von Flüchtigkeitsfehlern und rechtlichen Fehlleistungen wiederspiegelten,15 wie etwa Mängel bei der Urteilsfindung durch eine vorschnelle Neigung zu Absprachen und Qualitätseinbußen bei Abfassen der Urteile,16 was häufig zu (sonst vermeidbaren) Aufhebungen und Zurückverweisungen führe.17 Die Strafsenate des BGH seien daher übereinstimmend zu dem Ergebnis gelangt, dass sich die Besetzungsreduktion nicht bewährt habe und sich die Zweierbesetzung nicht als dauerhafte Lösung der Regelbesetzung der großen Strafkammer eigne.18 Nach Rissing-van Saan sei die reduzierte Besetzung vielmehr Verfahren vorzubehalten, die sich ohne rechtliche und tatsächliche Probleme bewältigen ließen. Hierzu gehörten jedenfalls solche Verfahren nicht, in denen über eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung zu entscheiden sei. Im Hinblick auch auf die Einheitlichkeit der Handhabung empfehle sich das Anknüpfen an Regelbeispiele.19 Ähnlich kritisch äußert sich Rieß und führt aus, dass § 76 in der bislang geltenden Fassung wenig bestimmt gewesen sei und dies eine extensive, revisionsrechtlich kaum zu kontrollierende Anwendung der Besetzungsreduktion gefördert habe.20 Eine generelle Besetzung der großen Strafkammer mit nur zwei Berufsrichtern empfehle sich nicht; vielmehr sollten die Voraussetzungen einer reduzierten Besetzung vom Gesetzgeber näher bestimmt werden, wobei auch Rieß das Konkretisieren durch Regelbeispiele empfiehlt21.
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Vgl. etwa BGHSt 44 328 und BGHSt 44 361. BHGSt 44 328, 334 f. BGH NJW 2010 3045, 3047. Gutachten der großen Strafrechtskommission S. 41. Rissing-van Saan FS Krey 431, 432.
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AaO S. 442. AaO S. 435. AaO S. 444 ff. Rieß FS Schöch 895, 909. AaO S. 911.
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IV. Die Besetzung der großen Strafkammern Für die Entscheidung über die Besetzung der großen Strafkammer gelten auf der Grundlage der seit dem 1.1.2012 geltenden Regelung nunmehr folgende Grundsätze: 1. Anwendungsbereich der Norm. Die Möglichkeit einer Besetzungsreduktion bezieht 4 sich lediglich auf die Besetzung in der Hauptverhandlung und damit notwendigerweise auf die in und aufgrund der Hauptverhandlung zu treffenden Entscheidungen, insbesondere die Urteile. Die Verfassungsmäßigkeit der Möglichkeit des Verhandelns in reduzierter Besetzung steht nicht in Frage.22 Außerhalb der Hauptverhandlung entscheidet die große Strafkammer nach Abs. 1 unverändert stets durch drei Berufsrichter,23 also namentlich über Beschwerden gegen amtsgerichtliche Entscheidungen (§ 73 Abs. 1), sowie bei denjenigen Entscheidungen im erstinstanzlichen Verfahren, die außerhalb einer Hauptverhandlung ergehen, insbesondere den Eröffnungsbeschluss. Schöffen wirken an diesen Entscheidungen nicht mit.24 Dies gilt auch dann, wenn eine Beschwerde mit dem durch eine Berufung angefochtenen Urteil im Zusammenhang steht.25 Können nach dem Gesetz während einer laufenden Hauptverhandlung Entscheidungen in dieser oder außerhalb der Hauptverhandlung26 getroffen werden, so richtet sich die Besetzung grundsätzlich danach, zu welchem Zeitpunkt (während oder außerhalb der laufenden Hauptverhandlung) die jeweilige Entscheidung getroffen wird; außerhalb der Hauptverhandlung ist also zusätzlich zu den dort u.U. nur zwei mitwirkenden Berufsrichtern ein drittes Mitglied der Strafkammer hinzuzuziehen (zur Problematik etwaiger Schöffenbeteiligung s. auch HW § 30, 12 ff. GVG). In welcher Besetzung während laufender Hauptverhandlung über die Haftfrage zu 5 entscheiden ist, wird kontrovers beurteilt. Teilweise wird davon ausgegangen, dass im Hinblick auf den gesetzlichen Richter hierüber stets in der sog. Hauptverhandlungsbesetzung zu beschließen sei, also stets mit Schöffen, teilweise wird angenommen, dass aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung stets in der sog. Beschlussbesetzung zu entscheiden sei, also stets mit drei Berufsrichtern und ohne Schöffen.27 Diese Rechtsfrage bewegt sich im verfassungsrechtlich relevanten Spannungsfeld zwischen dem in Haftsachen zu beachtenden besonderen Beschleunigungsgebot einerseits sowie dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter andererseits. Richtigerweise wird man danach auch hier darauf abstellen müssen, ob die Entscheidung innerhalb der laufenden Hauptverhandlung (dann Hauptverhandlungsbesetzung) oder außerhalb der laufenden Hauptverhandlung (dann Beschlussbesetzung) getroffen wird.28 Nach dem einen Beschluss des 1. Strafsenats des BGH vom 11.1.2011 letztlich nicht tragenden obiter dictum soll im Hinblick auf den gesetzlichen Richter und zum Vermeiden von Zufälligkeiten über die Besetzung die Entscheidung über die Haftfrage hingegen „immer“ in der Besetzung außerhalb der Hauptverhandlung, also (nur) mit drei Berufsrichtern zu treffen sein.29 Jedenfalls die nach § 268b StPO zugleich mit dem Urteil zu verkündende Haftentscheidung indessen wird
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Vgl. zur entspr. Regelung im EV Anl. I Kap. III Sachgeb. A Abschn. III Nr. 1 Buchst. j; BVerfG NStZ 1994 45 m. Anm. Nix, und BVerfG 2 BvR 1712/07 vom 16.10.2007; kritisch offenbar Meyer-Goßner ZRP 2011 129; Schlothauer StV 2012 749. Vgl. auch EntwBegr. BTDrucks. 12 1217 S. 48.
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Meyer-Goßner § 76, 1 GVG. OLG Köln StV 1993 464; Radtke/Hohmann/ Rappert 4; Meyer-Goßner 7. Vgl. hierzu HW § 30, 13 GVG. Vgl. zum Meinungsstand HW § 30, 18 ff. GVG. Gittermann DRiZ 2012 11. BGH NStZ 2011 356.
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notwendigerweise aber stets in der Hauptverhandlungsbesetzung getroffen werden müssen. Denn es ist nicht zu erkennen, wie für die nach § 268b StPO zugleich mit dem Urteil zu verkündende Haftentscheidung die für eine Entscheidung außerhalb der Hauptverhandlung maßgebliche Besetzung hergestellt werden soll.30 Außerhalb der Hauptverhandlung und in Dreierbesetzung ist auch ein evtl. unterbliebener Eröffnungsbeschluss nachzuholen.31
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2. Die Besetzungsentscheidung nach Absatz 2 S. 1. Die Entscheidung über die Besetzung erfordert einen entsprechenden (konstitutiven) Ausspruch bei der Eröffnung des Hauptverfahrens. Dieser Wortlaut lässt zwar die Möglichkeit offen, sowohl im Eröffnungsbeschluss als auch durch einen gesonderten Beschluss die Besetzung zu beschließen, der dann aber zeitgleich mit dem Eröffnungsbeschluss gefasst werden muss; in der Praxis hat sich indessen die erstgenannte Möglichkeit weitgehend durchgesetzt. Während nach bisheriger Rechtslage ein ausdrücklicher Beschluss, dass die Strafkammer in der Hauptverhandlung mit drei Berufsrichtern besetzt ist, als rechtlich nicht erforderlich angesehen wurde und ein entsprechender Beschluss demnach nur für den Fall einer reduzierten Besetzung zwingend vorgesehen war,32 ist aus Gründen der Klarheit nunmehr stets über die Besetzung zu beschließen.33 Dies folgt bereits aber auch daraus, dass nach bisheriger Regelung ein Beschluss nur bei Vorliegen der Voraussetzungen einer reduzierten Besetzung erforderlich war („beschließt die große Strafkammer …, wenn“), während schon nach dem Wortlaut der neuen Regelung die große Strafkammer – und zwar ohne Ausnahme – bei Eröffnung des Hauptverfahrens über ihre Besetzung in der Hauptverhandlung beschließt – also beschließen muss. Die Entscheidung ist von Amts wegen zu treffen; eines Antrags der Staatsanwaltschaft 7 bedarf es hierfür nicht. Dies galt bereits nach bisheriger Rechtslage bei letztlich nur fakultativer Besetzungsentscheidung,34 und gilt nach neuer Rechtslage bei nunmehr stets erforderlicher Besetzungsentscheidung erst recht. Anregungen der Prozessbeteiligten im Eröffnungsverfahren hierzu binden die eröffnende Strafkammer nicht (§ 206 StPO). Rechtliches Gehör wird dem Angeschuldigten dadurch gewährt, dass ihm gemäß § 201 StPO die Anklageschrift mitgeteilt wird. Es bedarf keines ausdrücklichen Hinweises darüber, in welcher Besetzung die Kammer zu verhandeln gedenkt,35 denn es handelt sich hierbei um eine bei der Eröffnungsentscheidung allgemein vorzunehmende Prüfung, auf die sich der Angeschuldigte auch ohne besonderen Hinweis einstellen muss. Einer gesonderten Mitteilung über die Besetzung der Kammer bedarf es allgemeiner Auffassung zufolge grundsätzlich nicht,36 jedenfalls soweit diese mit dem Eröffnungsbeschluss bereits getroffen und hiermit bekanntgemacht wurde. Kommt es hingegen nach Maßgabe von Abs. 2 Satz 2 oder Abs. 5 zu einer erst nachträglichen oder nach Abs. 4 zu einer geänderten Entscheidung über die Besetzung, so ist diese durch eine formlose Mitteilung bekanntzumachen.37 Erfolgt dies indessen erst so kurz vor dem Beginn der
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Gittermann DRiZ 2012 11. BGH NStZ 2006 298 mit Anm. Rieß. Vgl. hierzu im HW § 76, 5 GVG m.w.N. in Fn. 15. BRDrucks. 460/11 S. 13; Deutscher StRR 2012 12. HW § 76, 9 GVG. BGHSt 44 328 (3. Senat) = NStZ 1999 367 mit Anm. Rieß = NJW 1999 1644 = JR 1999
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302 mit Anm. Katholnigg; a.A. Katholnigg § 76, 5 GVG; Schlothauer StV 1993 148 (Vorsitzender muss mit besonderem Hinweis ausdrücklich Gelegenheit zur Äußerung geben). BGH StV 2005 204; Meyer-Goßner § 222b StPO 3a; Schlothauer StV 2012 749, 753. Schlothauer StV 2012 749, 753.
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Hauptverhandlung, dass die Wochenfrist des § 222a StPO nicht mehr zur Verfügung steht, kann der Angeklagte nach Maßgabe von § 222a Abs. 2 StPO einen Anspruch auf Unterbrechung der Hauptverhandlung geltend machen. Die Rechtsfolge einer bei Eröffnung gleichwohl unterbliebenen Entscheidung über die 8 Besetzung lässt die Neuregelung offen. Während nach der bisher geltenden Regelung bei Unterbleiben einer Entscheidung über die Zweierbesetzung die große Strafkammer zwangsläufig in Dreierbesetzung zu verhandeln hatte,38 wird man dies für § 76 in der nunmehr geltenden Fassung nicht aufrecht erhalten können. Denn während nach § 76 a.F. die Dreierbesetzung den gesetzlichen Regelfall der Besetzung der großen Strafkammer dargestellt hat, und die große Strafkammer nur in dem in der Vorschrift beschriebenen Ausnahmefall in reduzierter Besetzung verhandeln konnte, sieht § 76 in geltender Fassung nunmehr eine Dreierbesetzung (nur noch) in den in der Vorschrift benannten Fällen vor – während nach Absatz 2 S. 3 die große Strafkammer in allen weiteren Fällen („Im Übrigen“) eine Besetzung mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen vorsieht. Auch wenn sich dies in der Begründung zum Gesetzentwurf39 so nicht wiederfindet, wird man die Neuregelung als Abkehr vom Grundsatz der Besetzung der großen Strafkammern mit drei Berufsrichtern werten müssen.40 Denn die große Strafkammer verhandelt der gesetzlichen Konzeption zufolge in der Besetzung mit drei Berufsrichtern nunmehr nur noch in den in der Vorschrift (Nr. 1 und 2) benannten und überdies zum Teil nur als Regelbeispiel (Nr. 3) ausgestalteten Fällen, und in allen weiteren Fällen ausdrücklich in der Besetzung mit zwei Berufsrichtern. Hieraus wird man gegenüber der früheren Rechtslage aber nicht herleiten können, dass bei versehentlich unterbliebener Besetzungsentscheidung die Kammer nunmehr in der Besetzung mit nur zwei Berufsrichtern zu verhandeln habe. Vielmehr bietet sich in diesen Fällen an, in entsprechender Anwendung der in Abs. 4 jetzt vorgesehen Regelung nunmehr jedenfalls bis zum Beginn der Hauptverhandlung ein Nachholen der Besetzungsentscheidung für zulässig zu erachten41. Denn wenn dies sogar für die Eröffnungsentscheidung für möglich erachtet wird,42 ist nicht einzusehen, warum dies nicht auch für die bei der Eröffnung zu treffende Entscheidung über die Besetzung gelten soll. Im Übrigen wurde auch nach bisher geltender Rechtslage eine Änderung der Besetzungsentscheidung auf einen entsprechenden Einwand nach § 222b StPO für zulässig erachtet.43 Dass mit der Neuregelung zur Besetzung der großen Strafkammer insoweit eine Änderung beabsichtigt wurde, ist nicht zu erkennen. 3. Die Besetzungsentscheidung nach Absatz 2 S.2. Gesetzlich bislang nicht geregelt 9 waren die Fälle, in denen (an anderer Stelle) bereits über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden worden war, so dass hier keine Besetzungsentscheidung mehr zusammen mit dem Eröffnungsbeschluss ergehen konnte, etwa in den Fällen der Vorlage eines
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BGHSt 44 361 = NStZ 1999 365; BGH StV 2008 505 = NStZ 2009 53; LR/Rieß24 Anh. GVG Rn. 46; Siegismund/Wickern wistra 1993 136, 139; HW 4. Dort wird einleitend vielmehr ausgeführt, dass die Möglichkeit, mit zwei statt drei Berufsrichtern zu verhandeln, grundsätzlich beibehalten wird, BRDrucks. 460/11. So auch Deutscher StRR 2012 10,11; Schlothauer StV 2012 749, 752.
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Deutscher StRR 2012 10, 13; anders noch für § 76 GVG a.F. HW 4. Vgl. für das Nachholen des Eröffnungsbeschlusses BGH NStZ 2006 298 mit Anm. Rieß. Meyer-Goßner 4; Schlothauer StV 2012 749, 750.
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Verfahrens nach § 225a StPO oder der Verweisung nach § 270 StPO. In diesen Fällen hat bereits der Verweisungsbeschluss die Wirkung eines das Hauptverfahren eröffnenden Beschlusses. Die Praxis hat sich bislang im Wege gesetzesergänzender Auslegung damit beholfen, im Falle des § 225a StPO zusammen mit dem Übernahmebeschluss gleichzeitig auch über die Kammerbesetzung zu entscheiden, und bei einer Verweisung nach § 270 StPO einen gesonderten, zeitlich mit der Terminsbestimmung zu verbindenden Beschluss zu fassen.44 Diese Praxis war vom BGH bestätigt worden.45 Absatz S. 2 stellt demgegenüber nunmehr ausdrücklich klar, dass die große Strafkammer in denjenigen Fällen, in denen das Hauptverfahren bereits eröffnet ist, hierüber (mit drei Richtern) beschließt, und zwar bei der Anberaumung des Termins zur Hauptverhandlung durch den Vorsitzenden.46
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4. Die Besetzungsentscheidung nach Absatz 4. Bislang ebenfalls nicht geregelt waren diejenigen Fälle, in denen sich noch vor Beginn der Hauptverhandlung aufgrund neu aufgetretener Umstände ergab, dass die bereits getroffene Entscheidung über die Besetzung mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen nicht mehr sachgerecht oder tragfähig ist. Während eine Änderung der Besetzungsentscheidung nach jüngerer Rechtsprechung des BGH auch nach bisheriger Rechtslage bereits zulässig war, wenn sich nach der Eröffnungs- und Besetzungsentscheidung der Umfang des Verfahrens durch eine Verbindung mit einem anderen, namentlich weiteren bei derselben Kammer angeklagten Verfahren wesentlich erweiterte und sich deshalb die auf der Grundlage getrennter Verfahrensführung beschlossenen Besetzungsreduktionen als nicht mehr sachgerecht erwiesen hätte,47 nimmt die nunmehr in Absatz 4 neu geschaffene Regelung neben dieser Konstellation insbesondere den Fall in Betracht, in dem eine große Strafkammer wesentliche Teile einer Anklage nicht zur Hauptverhandlung zulässt und im Hinblick auf den verbleibenden Verfahrensstoff eine Besetzung mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen beschließt, das Oberlandesgericht dann aber auf eine sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft das Hauptverfahren in einem Umfang eröffnet, der eine Entscheidung in Dreierbesetzung erforderlich machen würde.48 Hieraus erhellt zugleich, dass in derartigen Fällen die Entscheidung über die Besetzung (trotz § 309 Abs. 2 StPO) nicht dem das Verfahren eröffnenden OLG als Beschwerdegericht obliegen soll, sondern der Kammer. Dies lässt sich aber auch darauf zurückführen, dass der Kammer als erkennendem Gericht im Hinblick auf die Besetzung ein Beurteilungsspielraum (vgl. Rn. 22) zusteht, den das Beschwerdegericht regelmäßig nicht an sich ziehen kann. Der Anwendungsbereich der Vorschrift ist jedoch nicht auf diese in der Begründung 11 benannten Fälle beschränkt, sondern ist stets dann eröffnet, wenn vor der Hauptverhandlung neue Umstände im diesem Sinne eintreten oder bekannt werden, die nach Maßgabe der Absätze 2 und 3 eine Besetzung mit drei Richtern erforderlich machen. Dies kann etwa dann in Betracht kommen, wenn durch die Verteidigung eine Vielzahl von Beweisanträgen angekündigt wird, wenn zunächst nicht erkannte rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten aufgetreten sind 49 oder wenn der Angeklagte oder die Staatsanwaltschaft von einer im Rahmen von Erörterungen gem. § 202a StPO in Aussicht gestellten Verständigung wieder Abstand nimmt.50 Eine Änderung der Besetzungsentscheidung wird hingegen für unzulässig erachtet, wenn das Gericht seine frühere Ent-
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Vgl. HW § 76, 5 GVG. BGHSt 44 361 = NStZ 1999 365. BRDrucks. 460/11 S. 10. BGHSt 53 169.
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BTDrucks. 17 6905 S. 10. Meyer-Goßner 10. Schlothauer StV 2012 749, 750.
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scheidung lediglich für unrichtig hält und die Hauptverhandlung unter Mitwirkung eines dritten Richters durchführen möchte, ohne dass neue Umstände dies erfordern.51 Hier ist im Zweifel ‚Kreativität‘ beim Abfassen der entsprechenden Beschlussgründe gefragt. Absatz 4 gilt seinem Wortlaut zufolge indessen nur für diejenigen Fälle, in denen sich 12 eine beschlossene Zweierbesetzung als nicht mehr tragfähig erweist; der umgekehrt liegende Fall, dass nach Beschließen der Dreierbesetzung die neuen Umstände eine Verhandlung in reduzierter Besetzung ausreichend erscheinen lassen, wird von Absatz 4 nicht erfasst. Die große Strafkammer wird in derartigen Fällen demzufolge weiterhin in der beschlossenen Besetzung mit drei Richtern zu verhandeln haben. Der Wortlaut „beschließt“ legt im Übrigen nahe, dass die Kammer bei Vorliegen neuer Umstände über ihre Besetzung mit drei Richtern eine neue Entscheidung zu treffen hat. Ergeben sich die neuen Umstände indessen erst nach Beginn der Hauptverhandlung, ist das Verfahren in der beschlossenen Besetzung zu Ende zu führen. Dies gilt auch dann, wenn sich erst nach Beginn der Hauptverhandlung herausstellt, dass sie deutlich länger dauern wird als bei Eröffnung zu erwarten war, bei früherer Kenntnis der entsprechenden Umstände eine andere Besetzung beschlossen worden wäre und sonst keine Gründe für eine Aussetzung (vgl. hierzu nunmehr Absatz 5) vorliegen.52 Die Entscheidung ergeht jedenfalls außerhalb der Hauptverhandlung unter der Mitwirkung von drei Berufsrichtern; die Schöffen wirken hieran nicht mit. Zu welchem Zeitpunkt diese Entscheidung zu fassen ist, lässt das Gesetz – anders als in Absatz 2 S. 2 – offen. Zumindest in praktischer Hinsicht bietet sich aber auch hier ein mit der Terminsbestimmung zu verbindender Beschluss an.53 Die Rechte des Angeklagten werden hierdurch jedenfalls gewahrt.54 5. Die Besetzungsentscheidung nach Absatz 5. Während bereits nach Absatz 2 S. 2 in 13 der seit dem 23.12.2000 geltenden Fassung55 eine neue Entscheidung über die Besetzung getroffen werden konnte nach Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht, namentlich wenn sich hiernach – etwa infolge von Teilaufhebungen oder Teileinstellungen – der Umfang des Verfahrens geändert hat,56 ist diese Möglichkeit nunmehr in Absatz 5 fortgeschrieben und dahingehend erweitert worden, dass eine neue Entscheidung über die Besetzung auch dann in Betracht kommt, wenn die Hauptverhandlung ausgesetzt worden ist. Dies war nach bisher geltender Rechtslage nicht möglich. Im Hinblick auf die Möglichkeit einer Aussetzung mit dem Ziel einer veränderten 14 Besetzung ist jedoch Vorsicht geboten. Denn der Begründung des Gesetzesentwurfs zufolge soll eine Aussetzung nur zu dem Zweck, erneut über die Besetzung entscheiden zu können, nicht erfolgen dürfen.57 Hiernach ist das Verfahren insbesondere dann nicht auszusetzen, wenn sich erst nach Beginn der Hauptverhandlung herausstellt, dass sie deutlich kürzer oder länger als erwartet dauern wird, bei früherer Kenntnis eine andere Besetzung beschlossen worden wäre und sonst keine Gründe für die Aussetzung vorliegen.58 Hierdurch sollen letztlich Manipulationen des gesetzlichen Richters durch entspre-
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Schlothauer StV 2012 749, 750. BRDrucks. 460/11 S. 14; BGH NStZ 2013 181 für den Fall, dass das Gericht nach Beginn der Hauptverhandlung einen Hinweis auf eine mögliche Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gegeben hatte. So auch HW § 76, 10 GVG und HW § 122, 9 GVG.
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BGHSt 44 361; BGHR GVG § 76 Abs. 2 Besetzungsbeschluss. Art. 2 des Gesetzes zur Verlängerung der Besetzungsreduktion bei Strafkammern v. 19.12.2000 (BGBl. I S 1756). BTDrucks. 14 3831 S. 2; Rissing-van Saan FS Krey 431, 438. BRDrucks. 460/11 S. 14. BTDrucks. 17 6905 S. 10.
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chendes Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten ausgeschlossen werden. Anders soll der Fall indessen liegen und eine Aussetzung zulässig sein, wenn sich z.B. erst in der Hauptverhandlung Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, deren Vorbehalt oder die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu erwarten ist und die Vernehmung einer sachverständigen Person nach § 246a StPO anderenfalls nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden kann. Dann sei eine erneute Beschlussfassung über die Besetzung in der neu zu terminierenden Verhandlung zulässig.59 Indessen ist die Zulässigkeit der Aussetzung (mit der Folge der Möglichkeit einer geänderten Besetzung) nicht auf die in Abs. 5 benannten Fälle beschränkt. Zwar kommt aufgrund des Beschleunigungsgebots eine Aussetzung grundsätzlich nur in Ausnahmefällen in Betracht,60 sie kann in Einzelfällen aber sachlich geboten sein.61 Sie ist in bestimmten Fällen von Gesetzes wegen sogar vorgeschrieben.62 Erfolgt in diesen Fällen eine Aussetzung der Hauptverhandlung, ist die Möglichkeit einer Besetzungsänderung nunmehr deren notwendige Folge. Während die Regelung in Absatz 4 ihrem Wortlaut zufolge lediglich eine Korrektur 15 der Besetzung von zwei auf drei Berufsrichter, hingegen keine Korrektur von der beschlossenen 3er- zur 2er-Besetzung zulässt,63 ist die Vorschrift in Absatz 5 insoweit offen gefasst. Eine Korrektur der Besetzung ist hiernach also in beide Richtungen möglich: entweder kann eine früher beschlossene Reduktion rückgängig gemacht werden, oder es kann nunmehr erstmals eine Reduktion beschlossen werden. Dies galt auch schon nach der bislang geltenden Rechtslage.64 Auch die Entscheidung nach Abs. 5 ergeht außerhalb der Hauptverhandlung unter der Mitwirkung von drei Berufsrichtern; die Schöffen wirken hieran nicht mit. Zu welchem Zeitpunkt diese Entscheidung zu fassen ist, lässt das Gesetz auch hier offen; vgl. insoweit Rn. 11 a.E.
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6. Fallgruppen für die Besetzung. Während die Vorschrift in der bislang geltenden Fassung im Hinblick auf die Besetzung der großen Strafkammer neben der Tätigkeit als Schwurgericht lediglich Umfang oder Schwierigkeit der Sache als Kriterium benannte, bestand im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens im Grunde Einigkeit, dass die bislang nur wenig bestimmte Regelung um Fallgruppen ergänzt und die Begriffe ‚Umfang‘ und ‚Schwierigkeit der Sache‘ etwa durch Regelbeispiele konturiert werden sollten.65 Die Vorschrift benennt in Absatz 2 nunmehr drei Fallgruppen, in denen die große Strafkammer ihre Besetzung mit drei Berufsrichtern beschließt. Nr. 1 und 2 sehen hierbei eine Dreierbesetzung ohne Ausnahme vor, während Nr. 3 durch Absatz 3 als Regelbeispiel ausgestaltet wird. Liegen die Voraussetzungen der Nr. 1 bis 3 nicht vor, beschließt nach Absatz 2 S. 4 die große Strafkammer ihre Besetzung mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen.
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AaO. OLG Frankfurt MDR 1983 253; KK/Gmel § 229, 3 StPO. Etwa wenn die Hauptverhandlung wegen der erfolgreichen Ablehnung eines Dolmetschers nahezu vollständig wiederholt werden muss und überdies der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft ausgewechselt werden musste, oder wenn sich das Erfordernis einer Begutachtung erst in der Hauptverhandlung ergibt,
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das Gutachten aber nicht in der Zeitspanne einer Unterbrechung vorgelegt werden kann, oder wegen einer Vorlage an das BVerfG. Meyer-Goßner § 228, 3 StPO. Meyer-Goßner § 76, 10 GVG; Deutscher StRR 2012 13. HW § 76, 10 GVG. Rissing-van Saan FS Krey 431, 444; Rieß FS Schöch 895, 911; BRDrucks. 460/11 S. 13.
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a) Tätigkeit als Schwurgericht (Absatz 2 S. 3 Nr. 1). Soweit die große Strafkammer 17 als Schwurgericht nach Maßgabe von § 74 Absatz 2 tätig wird, war auch nach bislang geltender Regelung eine Besetzung mit drei Berufsrichtern zwingend und ohne Ausnahme vorgesehen. Dies ist für die Neuregelung übernommen worden, ohne dass die Materialien hierfür eine Begründung erkennen lassen. Das Erfordernis der Dreierbesetzung in Schwurgerichtsverfahren wurde offenkundig aufgrund der Bedeutung der Sachen und der weitreichenden Folgen eines entsprechenden Schuldspruchs als selbstverständlich angesehen. Änderungen gegenüber der bisherigen Rechtslage haben sich in formaler Hinsicht lediglich dahingehend ergeben, dass auch in diesen Fällen die Kammer nach Absatz 2 S. 1 über ihre Besetzung zu beschließen hat (vgl. schon Rn. 6) – wobei im Hinblick auf den klaren Regelungsgehalt dem Gericht insoweit keine Entscheidungsmöglichkeit zur Verfügung steht. Im Hinblick auf die Zuständigkeit als Schwurgericht ist die Vorschrift (anders als in Absatz 3) nicht als Regelbeispiel ausgestaltet; von einer Besetzung mit drei Berufsrichtern kann demnach auch in einfach gelagerten Schwurgerichtssachen nicht abgesehen werden. Ist gleichwohl, etwa irrtümlich,66 in einer Schwurgerichtssache eine Besetzungsreduzierung beschlossen worden, so dürfte dem auch weiterhin keine Bedeutung zukommen, weil dieser Beschluss jeglicher Rechtsgrundlage entbehrt und insoweit nichtig ist.67 Vielmehr muss die Hauptverhandlung in der Besetzung mit drei Berufsrichtern durchgeführt werden. b) Zu erwartende Unterbringung (Absatz 2 S. 3 Nr. 2). Ebenfalls zwingend und ohne 18 Ausnahme ist die große Strafkammer nunmehr mit drei Berufsrichtern besetzt, soweit die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, deren Vorbehalt oder die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu erwarten ist. Auch insoweit ist die Vorschrift (anders als in Absatz 3) nicht als Regelbeispiel ausgestaltet, so dass auch hier selbst in einfach gelagerten Fällen von einer Dreierbesetzung nicht (mehr) abgesehen werden kann.68 Dies erscheint wegen der besonders einschneidenden Wirkung dieser freiheitsentziehenden Maßregeln sachgerecht69 und war auch im Gesetzgebungsverfahren im Grunde unbestritten.70 Die Neuregelung mit der zwingenden Dreierbesetzung in den genannten Maßregelfällen soll zudem der Rechtsvereinheit-
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Wenn z.B. eine Schwurgerichtskammer, die zugleich auch als allgemeine Strafkammer tätig ist, für die Eröffnungsentscheidungen mit einer Besetzungsreduktion besondere Vordrucke verwendet und diesen Vordruck versehentlich für eine Schwurgerichtssache benutzt. So schon zur früheren Rechtslage HW § 76, 7 GVG. Anders noch nach bisher geltender Rechtslage, vgl. BGH StV 2004 250; Rissing-van Saan FS Krey 431, 445; HW § 76, 9 GVG – auch wenn eine Besetzung mit drei Berufsrichtern in derartigen Fällen regelmäßig zumindest angezeigt gewesen ein dürfte. BRDrucks. 460/11 S. 13. Allein die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses vom 12.9.2011 (BRDrucks. 460/1/11, S. 4) hatte sich dafür
ausgesprochen, die Fallgruppe der zu erwartenden Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus als Regelbeispiel im Sinne von Abs. 3 auszugestalten, so dass in einfach gelagerten Fällen, etwa in unstreitigen Sicherungsverfahren oder in Fällen geringerer Schwere, in denen zugleich mit der Anordnung der Maßregel nach § 67b StGB deren Aussetzung zu erwarten ist, in reduzierter Besetzung hätte verhandelt werden können. Dem ist jedoch entgegen zu setzen, dass auch eine solche Unterbringung eine besonders einschneidende Wirkung entfalten kann, weshalb eine zwingende Dreierbesetzung in diesen Fällen zu Recht eingeführt wurde (vgl. hierzu auch die Gegenäußerung der Bundesregierung BTDrucks 17 7275 S. 4).
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lichung dienen. Wenn schon nach bisheriger Rechtslage (§ 74f Abs. 3) drei Berufsrichter mitwirkten, wenn über eine nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zu entscheiden war, und auch im Vollstreckungsverfahren über die Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung oder in einem psychiatrischen Krankenhaus die große Strafvollstreckungskammer in der Besetzung mit drei Berufsrichtern zu entscheiden hat (§ 78b Abs. 1 Nr. 1), dann sei nicht nachvollziehbar, warum dies bei der originären Anordnung der Maßregel im Hauptverfahren nicht erforderlich sein soll.71 Dies ist nunmehr angepasst. Die Formulierung „zu erwarten ist“ orientiert sich an § 74 Abs. 1 S. 272 und entspricht der für die Amtsgerichte geltenden Regelung in §§ 24 und 25. Das Eröffnungsgericht prüft diese Erwartung unter dem Gesichtspunkt einer überschlägigen Prognoseentscheidung unter Berücksichtigung der ermittelten rechtsfolgeerheblichen Umstände des Ermittlungsverfahrens.73 Maßgeblich ist hierbei allein die Auffassung des Gerichts. Ob eine Unterbringung im Urteil schließlich angeordnet wird, ist indessen unerheblich. Stellt sich andererseits heraus, dass anders als erwartet eine solche Anordnung doch erfolgen muss, kann es ratsam sein, die Hauptverhandlung auszusetzen und nach Absatz 5 über die Besetzung neu zu entscheiden. Zwingend ist dies indessen nicht.74
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c) Umfang oder Schwierigkeit der Sache (Absatz 2 S. 3 Nr. 3, Absatz 3). Weiterhin mit drei Berufsrichtern besetzt ist die große Strafkammer, wenn dies nach dem Umfang oder der Schwierigkeit der Sache notwendig erscheint. Insoweit gilt die bisherige Regelung aus § 76 Absatz 2 grundsätzlich fort. Im Gesetzgebungsverfahren bestand indessen Einigkeit, dass die bislang nur vage bestimmten Rechtsbegriffe des Umfangs und der Schwierigkeit weiter konturiert werden sollten.75 Dem dienen die nunmehr in Absatz 3 benannten Regelbeispiele. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung ist jener der Besetzungsentscheidung; nachfolgende Änderungen der maßgeblichen Umstände können lediglich im Rahmen einer neuen Besetzungsentscheidung nach Absatz 4 oder 5 Berücksichtigung finden. Im Hinblick auf den Umfang der Sache hat die Rechtsprechung auch bislang bereits 20 einen quantitativen Maßstab angelegt. Bedeutsam sind u.a. die Zahl der Angeklagten und der Verteidiger, die Zahl der Delikte, der notwendigen Dolmetscher, die Zahl der Zeugen und anderen Beweismittel, der Umfang der Akten sowie die zu erwartende Dauer der Hauptverhandlung.76 Auch das Ankündigen oder die begründete Erwartung eines Geständnisses kann Bedeutung für die Annahme des Umfangs haben. Bei der Notwendigkeit, einen Ergänzungsrichter hinzuzuziehen (§ 192 Absatz 2), wird eine reduzierte 71
Rissing-van Saan FS Krey 431, 445; BRDrucks. 460/11 S. 8. In der Empfehlung des Rechtsausschusses vom 12.9.2011 wird demgegenüber dies mit der – fraglos zutreffenden – Erwägung entkräftet, dass die große Strafkammer außerhalb der Hauptverhandlung ohnehin stets in der Besetzung mit drei Richtern besetzt sei, BRDrucks. 460/1/11 S. 5. Hinzu kommt, dass bei einer Entscheidung in der Hauptverhandlung neben den Berufsrichtern zwei Schöffen mitwirken, die Entscheidung also von immerhin vier Richtern getragen wird. Dieser Einwand hat sich im Gesetzgebungsverfahren indessen nicht durchgesetzt.
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BTDrucks. 17 6905 S. 11. OLG Koblenz OLGSt 5; Kissel/Mayer § 24, 7; KK/Hannich § 24, 4 StPO; HW § 24, 13 GVG. Meyer-Goßner 3. BRDrucks. 460/11 S. 8, 13. BGHSt 44 328 = NStZ 1999 367 mit Anm. Rieß = NJW 1999 1644 = JR 1999 302 mit Anm. Katholnigg BGH JR 2004 170 m. Anm. Weber; Rieß FS Schöch 895, 905; Rissing-van Saan FS Krey 431, 440; KK/Hannich § 71, 3 GVG.
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Besetzung grundsätzlich nicht angebracht sein; ausgeschlossen ist sie dadurch jedoch nicht. Entsprechendes gilt für das Hinzuziehen von Ergänzungsschöffen.77 Unzulässig, weil sachfremd und damit objektiv willkürlich, wäre es jedenfalls, etwa aus Gründen der Personaleinsparung eine reduzierte Besetzung zu beschließen.78 Für die Annahme der Schwierigkeit der Sache kann abgestellt werden auf Beweisschwierigkeiten, die Notwendigkeit einer Mehrzahl von Sachverständigengutachten oder die rechtliche oder tatsächliche Kompliziertheit, etwa wenn es sich um Rechtsfragen auf unsicherem dogmatischen Boden mit geringer rechtswissenschaftlicher Vorerörterung handelt.79 Die Strafsache muss sich insoweit also über das „normale“ Maß der erstinstanzlichen Sachen herausheben. Dass die Sache besonders umfangreich oder schwierig erscheint, ist demgegenüber nicht erforderlich. Das Kriterium des Umfangs und der Schwierigkeit der Sache wird nunmehr in Ab- 21 satz 3 der Vorschrift in Form von Regelbeispielen konkretisiert. Hiernach ist die Mitwirkung eines dritten Richters in der Regel notwendig, wenn die Hauptverhandlung voraussichtlich länger als zehn Tage dauern wird oder die große Strafkammer als Wirtschaftsstrafkammer tätig wird. Das Ausgestalten dieser Fallgruppen als Regelbeispiel ermöglicht, im Einzelfall von der Besetzung mit drei Berufsrichtern abzuweichen, etwa in weniger komplexen oder wenig schwierigen Verfahren, wenn deren Umfang allein durch eine Vielzahl für sich genommen sehr einfach liegender Fälle bedingt ist.80 Ob die Hauptverhandlung schließlich mehr als zehn Tage dauern wird, lässt sich im Vorfeld nicht immer sicher bestimmen – zumal es auch vom Vorsitzenden abhängt, wie weit oder eng er terminiert. Dies eröffnet naturgemäß Spielräume, ohne sich sogleich dem revisionsrechtlich relevanten Vorwurf der Willkür ausgesetzt sehen zu müssen. Für Wirtschaftsstrafkammern ist etwa an Fälle zu denken, die zwar eine erhebliche Strafdrohung in sich tragen, die aber trotz Vorliegens einer Katalogtat oder wegen des Erfordernisses besonderer Kenntnisse im Sinne von § 74c rechtlich oder tatsächlich einfach gelagert sind.81 Aus der Ausgestaltung als Regelbeispiel folgt aber auch, dass eine Besetzung mit drei Berufsrichtern bei Vorliegen entsprechender Umstände im Sinne von Absatz 2 auch dann in Betracht kommt, wenn die in Absatz 3 benannten Voraussetzungen nicht vorliegen. d) Besetzung im Übrigen. Liegt eine der in Absatz 2 benannten Fallgruppen nicht 22 vor, beschließt nach Absatz 2 S. 3 die große Strafkammer eine Besetzung mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen. Wenngleich in den Gesetzgebungsmaterialien durchgehend hervorgehoben wird, dass sich die Besetzung der großen Strafkammer mit drei Berufsrichtern als vorzugswürdig bewährt hat, wird man die Neuregelung faktisch als Abkehr vom Grundsatz der Besetzung der großen Strafkammern mit drei Berufsrichtern werten müssen.82 Denn die große Strafkammer verhandelt der 77 78
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Deutscher StRR 2012 11. BGHSt 44 328 = NStZ 1999 367 mit Anm. Rieß = NJW 1999 1644 = JR 1999 302 mit Anm. Katholnigg; Haller/Janssen NStZ 2004 469, 472. Böttcher/Mayer NStZ 1993 158; Schlothauer StV 1993 147. BR/Drucks. 460/11 S. 9; BGH StV 2011 463; Meyer-Goßner 5. Der BGH hat zu § 76 Abs. 2 a.F. ausgeführt, dass eine Sache weder tatsächlich noch rechtlich überdurchschnittlich komplex – und eine
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Zweierbesetzung demnach nicht zu beanstanden – ist, wenn bei einem vor der Wirtschaftsstrafkammer zu verhandelnden Betrug die Täuschungshandlung offen liegt; der Umstand, dass Verfahrensbeteiligte in der Hauptverhandlung umfangreiche Anträge stellen, ändere hieran nichts (1 StR 375/04 = NStZ-RR 2005 47). Man wird diese Einschätzung für Abs. 76 Abs. 3 n.F. übernehmen können. So auch Deutscher StRR 2012 10,11; Schlothauer StV 2012 749, 752. Vgl. hierzu
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gesetzlichen Konzeption zufolge in der Besetzung mit drei Berufsrichtern nunmehr nur noch in den in der Vorschrift (Nr. 1 und 2) benannten und überdies zum Teil nur als Regelbeispiel (Nr. 3) ausgestalteten Fällen, und in allen weiteren Fällen ausdrücklich in der Besetzung mit zwei Berufsrichtern.
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e) Prüfungsmaßstab. Zwar steht der eröffnenden Strafkammer bei der Entscheidung über die Besetzung kein Ermessen zu83. Vielmehr ist eine Besetzung mit jeweils zwei oder drei Richtern zu beschließen, soweit die jeweiligen Voraussetzungen hierfür vorliegen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung ist stets jener der Besetzungsentscheidung auf der Grundlage der zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse. Dies gilt namentlich auch für die Frage, ob eine Hauptverhandlung voraussichtlich länger als zehn Tage andauern wird. Eine spätere Änderung der Sachlage bleibt grundsätzlich unbeachtlich. Dies gilt auch dann, wenn sich erst nach Beginn der Hauptverhandlung herausstellt, dass sie deutlich länger dauern wird als bei Eröffnung zu erwarten war und bei früherer Kenntnis der entsprechenden Umstände eine andere Besetzung beschlossen worden wäre.84 Hierdurch soll auch vermieden werden, dass Verfahrensbeteiligte etwa durch das Stellen einer Vielzahl von Anträgen den Umfang der Hauptverhandlung ausdehnen und auf diese Weise die getroffene Besetzungsentscheidung unterlaufen könnten. Die Rechtsprechung des BGH hat den Strafkammern im Hinblick auf die Annahme von Umfang oder Schwierigkeit schon nach § 76 a.F. einen weiten Beurteilungsspielraum anerkannt, der vom Revisionsgericht letztlich nur bei objektiver Willkür beanstandet werden kann.85 Dieser den Kammern von der Rechtsprechung belassene weite Beurteilungsspielraum spiegelt sich auch darin wieder, dass Urteile auf eine entsprechende Besetzungsrüge hin (§ 338 Nr. 1 StPO) bislang nur in ganz wenigen Fällen allein aus diesem Grunde der Aufhebung unterlagen. Seit Inkrafttreten des RPflEntlG im Januar 1993 hat der BGH die Revision in bislang lediglich drei Fällen deshalb durchgreifen lassen, weil im Hinblick auf Umfang oder Schwierigkeit der Sache eine Besetzungsreduktion objektiv willkürlich gewesen sei.86 Nicht bedenkenfrei erscheint vor diesem Hintergrund indessen die auch bislang bereits nicht wenig verbreitete Praxis, die Hauptverhandlung zum Zwecke einer Zweierbesetzung von vornherein auf zunächst weniger als zehn Tage anzuberaumen – und ggf. das Einlegen einer Besetzungsrüge abzuwarten, um sodann weitere, in der Gesamtheit die Summe von zehn übersteigende Hauptverhandlungstage anzuhängen. Ein derart planmäßiges Unterlaufen der Besetzungsregelungen wäre – so es im Einzelfall denn nachweisbar wäre – fraglos willkürlich.
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aber auch die zum Entwurf insoweit kritischen Stellungnahmen in der 126. Sitzung des Deutschen Bundestages am 21.9.2011, Plenarprotokoll 17/126 (S. 14924 ff.); vorzugswürdig sei deshalb eine Regelung, die unter Beibehalten der grundsätzlichen Dreierbesetzung festlege, unter welchen Voraussetzungen in einer reduzierten Besetzung verhandelt werden könne. BTDrucks. 12 1217 S. 47; BGHSt 44 328 = NStZ 1999 367 mit Anm. Rieß = NJW 1999 1644 = JR 1999 302 mit Anm. Katholnigg; BGH NStZ 2004 56.
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BRDrucks. 460/11 S. 14. BGHSt 44, 328; Rieß S. 904. Vgl. zu Einzelheiten BGH NJW 2003 3633; BGH NStZ-RR 2004 175; BGH StraFo 2009 338; Rieß FS Schöch 895, 908, der zugleich darauf hinweist, dass im fraglichen Zeitraum bei geschätzten 80.000 Hauptverhandlungen in reduzierter Besetzung etwa 20.000 einer revisionsrechtlichen Überprüfung unterlegen haben dürften.
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f) Anfechtbarkeit. Die Entscheidung über die Besetzung unterliegt keiner Anfechtung, 24 eine Beschwerde ist nicht eröffnet.87 Eine Begründung für die Nichtanfechtbarkeit lässt sich der Entscheidung des BGH zwar nicht entnehmen, man wird dies aber aus § 305 StPO herleiten können.88 Indirekt ist eine Anfechtung indessen im Wege zunächst des Besetzungseinwands nach § 222b StPO sowie nachfolgend im Rahmen der Revision durch das Erheben einer Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 1 StPO eröffnet.89 Hierzu hat der BGH recht früh klargestellt, dass die Präklusionsvorschrift des § 222b StPO hier – zumindest entsprechend – anwendbar ist90 mit der Folge, dass die von der Kammer beschlossene Besetzung mit der Revision nur dann in zulässiger Weise beanstandet werden kann, wenn der entsprechende Besetzungseinwand rechtzeitig (bis zum Beginn der Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache) und vollständig zu Beginn der Hauptverhandlung geltend gemacht wurde.91 Greift der Besetzungseiwand nach § 222a StPO durch, ist die Hauptverhandlung auszusetzen und dieselbe mit veränderter, dann zutreffender Besetzung neu zu beginnen. Ist der Einwand nicht erfolgt, ist weiter in der beschlossenen Besetzung zu verhandeln und kann die Revision auf den Einwand einer fehlerhaften Besetzung nicht mehr gestützt werden. Dies gilt grundsätzlich auch, wenn sich erst später eine Änderung des Umfangs oder der Schwierigkeit der Sache ergibt.92 In diesen Fällen bleibt nur die nunmehr in Absatz 5 eröffnete Möglichkeit einer Aussetzung (vgl. Rn 12 ff.). In der Sache kann die Rüge der fehlerhaften Besetzung nach der bisher hierzu vorliegenden Rechtsprechung des BGH nur durchgreifen, wenn die Kammer bei der Besetzungsentscheidung den ihr zustehenden weiten Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten und damit objektiv willkürlich gehandelt hat.93 Nicht ausdrücklich entschieden ist die Frage, ob im Rahmen einer Revision auch eine willkürliche Besetzung mit drei Berufsrichtern gerügt werden kann. Der BGH hat insoweit aber klargestellt, dass auch diese Rüge dem Willkürmaßstab unterliegt.94 g) Übergangsregelungen. Für Altverfahren, in denen der Eröffnungsbeschluss vor 25 dem Inkrafttreten des RPflEntlG, also vor dem 1.3.1993 erlassen worden ist, konnte mangels einer dahingehenden Überleitungsvorschrift § 76 Absatz 2 nicht angewandt werden95 (vgl. insoweit auch HW 6). Für die zum 1.1.2012 in Kraft getretene Regelung indessen bestimmt § 41 Absatz 1 EGGVG (ebenfalls in der seither geltenden Fassung), dass auf die vor dem 1.1.2012 beim Landgericht eingegangenen Verfahren die Vorschriften der §§ 74, 74c und 76 in der bis zum 31.12.2011 geltenden Fassung anzuwenden sind. Auf die danach eingehenden Verfahren sind die jeweiligen Vorschriften in ihrer neuen Fassung anzuwenden.96 Ausnahmen sieht das Gesetz nicht vor; die Vorschrift in der bis zum 31.12.2011 geltenden Fassung gilt daher nicht nur für die ursprüngliche
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BGH NStZ 1999 367 mit Anm. Rieß = NJW 1999 1644 = JR 1999 302 mit Anm. Katholnigg; Meyer-Goßner § 76, 8 GVG; KK/Hannich § 76, GVG; 4; Pfeiffer 2. So offenbar BGHSt 44 328, der eine demgegenüber ebenfalls in Betracht kommende Anwendung des § 210 StPO (so noch Katholnigg § 76, 6 und JR 1999 304) ausdrücklich ablehnt. KK/Hannich § 76, 5 GVG; Meyer-Goßner § 76, 17 GVG; Schlothauer StV 2012 749, 753. BGHSt 44 328; BGHSt 44 361.
91 92 93
94 95 96
Rissing-van Saan FS Krey 431, 437. BGH NStZ 2013 181 (vgl. auch Fn 52); Radtke/Homann/Rappert § 76, 8 GVG. BGHSt 44 328; KK/Hannich § 76, 3 GVG; Radtke/Hohmann/Rappert § 76, 19 GVG; Meyer-Goßner § 67, 17 GVG m.w.N.; vgl auch hier Fn. 72, 73 und 74. BGH 3 StR 285/02 = StraFo 2003 134; Rieß NStZ 1999 369. Böttcher/Mayer NStZ 1993 153, 158; Siegismund/Wickern wistra 1993 136, 139. BRDrucks. 460/11 S. 14; BTDrucks. 17 6905 S. 14.
Dirk Gittermann
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§ 76 GVG Nachtr.
Gerichtsverfassungsgesetz
Besetzungsentscheidung nach Absatz 2 Satz 1, sondern auch für spätere Besetzungsentscheidungen nach Absätzen 4 und 5. Abzustellen ist demnach allein auf den Zeitpunkt des (erstmaligen) Eingangs des Verfahrens bei dem Landgericht. Wird etwa ein vor dem 31.12.2011 bei dem Landgericht eingegangenes Verfahren nach dem 1.1.2012 ausgesetzt oder vom BGH zurückverwiesen, bestimmt sich die Besetzung der Kammer stets nach der bis zum 31.12.2011 geltenden Regelung. Vgl. im Übrigen die Ausführungen zu § 41 EGGVG.
V. Folgen der Besetzung und kleinen Strafkammern 26
Hinsichtlich der Folgen der getroffenen Besetzungsentscheidung insbesondere für die Geschäftsverteilung sowie zur der Besetzung der kleinen Straf- und Strafvollstreckungskammern kann auf die Ausführungen im HW (dort Rn. 16 bis 25 und 28 bis 33) Bezug genommen werden; Änderungen haben sich insoweit gegenüber der bisherigen Rechtslage im Grundsatz nicht ergeben.
VI. Jugendsachen 27
Ebenfalls durch das Gesetz über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung vom 6.12.2011 (BGBl. I 2554) wurde entsprechend der Regelung für die großen Strafkammern in § 76 Abs. 2 die Regelung des § 33b JGG in Abs. 2 neu gefasst und durch Absätze 2 bis 6 ersetzt. § 33b JGG hat nunmehr folgenden Wortlaut: § 33b Besetzung der Jugendkammer (1) Die Jugendkammer ist mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Jugendschöffen (große Jugendkammer), in Verfahren über Berufungen gegen Urteile des Jugendrichters mit dem Vorsitzenden und zwei Jugendschöffen (kleine Jugendkammer) besetzt. (2) Bei der Eröffnung des Hauptverfahrens beschließt die große Jugendkammer über ihre Besetzung in der Hauptverhandlung. Ist das Hauptverfahren bereits eröffnet, beschließt sie hierüber bei der Anberaumung des Termins zur Hauptverhandlung. Sie beschließt eine Besetzung mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Jugendschöffen, wenn 1. die Sache nach den allgemeinen Vorschriften einschließlich der Regelung des § 74e des Gerichtsverfassungsgesetzes zur Zuständigkeit des Schwurgerichts gehört, 2. ihre Zuständigkeit nach § 41 Absatz 1 Nummer 5 begründet ist oder 3. nach dem Umfang oder der Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Richters notwendig erscheint. Im Übrigen beschließt die große Jugendkammer eine Besetzung mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Jugendschöffen. (3) Die Mitwirkung eines dritten Richters ist nach Absatz 2 Satz 3 Nummer 3 in der Regel notwendig, wenn 1. die Jugendkammer die Sache nach § 41 Absatz 1 Nummer 2 übernommen hat, 2. die Hauptverhandlung voraussichtlich länger als zehn Tage dauern wird oder 3. die Sache eine der in § 74c Absatz 1 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes genannten Straftaten zum Gegenstand hat. (4) In Verfahren über die Berufung gegen ein Urteil des Jugendschöffengerichts gilt Absatz 2 entsprechend. Die große Jugendkammer beschließt ihre Besetzung mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Jugendschöffen auch dann, wenn mit dem angefochtenen Urteil auf eine Jugendstrafe von mehr als vier Jahren erkannt wurde.
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Dirk Gittermann
Fünfter Titel. Landgerichte
Nachtr. § 76 GVG
(5) Hat die große Jugendkammer eine Besetzung mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Jugendschöffen beschlossen und ergeben sich vor Beginn der Hauptverhandlung neue Umstände, die nach Maßgabe der Absätze 2 bis 4 eine Besetzung mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Jugendschöffen erforderlich machen, beschließt sie eine solche Besetzung. (6) Ist eine Sache vom Revisionsgericht zurückverwiesen oder die Hauptverhandlung ausgesetzt worden, kann die jeweils zuständige Jugendkammer erneut nach Maßgabe der Absätze 2 bis 4 über ihre Besetzung beschließen. (7) § 33a Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 gilt entsprechend.
Wie bereits nach bislang geltender Rechtslage ist die große Jugendkammer danach 28 zwingend mit drei Berufsrichtern – und zwei Jugendschöffen – besetzt, wenn nach Maßgabe von § 74 die Sache in die Zuständigkeit des Schwurgerichts fällt (§ 33b Absatz 2 S. 3 Nr. 1 JGG). Nach Satz 2 Nr. 3 ist die große Jugendkammer nunmehr auch zwingend mit 3 Berufsrichtern zu besetzen, wenn ihre Zuständigkeit nach 41 Absatz 1 Nr. 5 JGG begründet ist, mithin in Fällen, in denen eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung in Betracht kommt. Entsprechendes gilt – wie bereits nach bisheriger Rechtslage –, wenn nach Umfang oder Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Richters erforderlich erscheint (S. 3 Nr. 3), wobei dies nunmehr auch hier durch Regelbeispiele konturiert wird (Absatz 3). Insofern kann auf die hiesigen Ausführungen zu § 76 Bezug genommen werden (hier Rn. 18 ff.). Da eine Zuständigkeit der großen Jugendkammer als Wirtschaftsstrafkammer entfällt, war abweichend von § 76 Absatz 3 indessen eine Klarstellung erforderlich, dass die Mitwirkung eines dritten Richters in der Regel erforderlich ist, wenn die Sache eine der in § 74c Absatz 1 S. 1 genannten Straftaten zum Gegenstand hat.97 Hinzu kommt indessen ein weiteres Regelbeispiel. Demnach ist die große Jugendkammer in der Regel mit drei Richtern zu besetzen, wenn ihre Zuständigkeit nach § 41 Absatz 1 Nr. 2 JGG begründet ist, mithin in Fällen, in denen allein wegen des besonderen Umfangs der Sache diese vom deshalb vorlegenden Jugendschöffengericht übernommen wird. Im Übrigen beschließt die große Jugendkammer ihre Besetzung mit zwei Berufsrichtern. § 33b Absätze 5 und 6 JGG mit der Möglichkeit einer späteren Besetzungsänderung entsprechen § 76 Absätze 4 und 5. § 33b JGG in bisheriger Fassung verhielt sich jedenfalls nicht ausdrücklich zu der 29 Frage, ob die große Jugendkammer auch dann eine Besetzungsreduzierung auf zwei Berufsrichter vornehmen durfte, wenn sie als Berufungsgericht zu verhandeln hatte. Dies wurde demzufolge auch entsprechend kontrovers beurteilt.98 Die obergerichtliche Rechtsprechung hatte diese Möglichkeit indessen bejaht,99 so dass in der Folge von dieser Möglichkeit rege Gebrauch gemacht wurde. Diese Entwicklung wurde nunmehr vom Gesetzgeber aufgegriffen: Nach § 33b Absatz 4 JGG Satz 1 gilt in Verfahren über die Berufung gegen ein Urteil des Jugendschöffengerichts Absatz 2 der Vorschrift entsprechend, so dass anhand der dort aufgestellten Grundsätze die große Jugendkammer auch als Berufungsgericht über ihre Besetzung mit zwei oder drei Berufsrichtern zu entscheiden hat. Nach Satz 2 ist die große Jugendkammer im Berufungsverfahren zudem zwingend mit drei Berufsrichtern zu besetzen, wenn mit dem angefochtenen Urteil auf eine Jugendstrafe von mehr als vier Jahren erkannt wurde. Dies erschien wegen der weit reichenden Sanktionsmacht des Jugendschöffengerichts sowie zum Schaffen einer gewissen
97 98
BTDrucks. 17 6905 S. 13. Vgl. zum Meinungsstand HW § 76, 27 GVG.
99
BGHR zu § 328 Abs. 1 – Überleitung 2; BayObLG NStZ 1998 102.
Dirk Gittermann
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§ 76 GVG Nachtr.
Gerichtsverfassungsgesetz
Gleichwertigkeit in der Besetzung der Rechtsmittelgerichte im allgemeinen Strafrecht und Jugendstrafrecht angezeigt.100 Denn im Strafverfahren gegen Erwachsene ist bei einer Erwartung einer Freiheitsstrafe von mehr als vier Jahren das Landgericht bereits erstinstanzlich zuständig. Gegen ein entsprechendes Urteil ist die Revision zum nicht besetzungsreduziert entscheidenden BGH statthaft. Wird hingegen gegen ein Urteil des Jugendschöffengerichts, dessen Sanktionskompetenz nicht beschränkt ist, Berufung eingelegt, so bleibt aufgrund der Alternativität der Rechtsmittel nach § 55 Absatz 2 JGG der spätere Weg einer Revision zum ebenfalls nicht besetzungsreduziert entscheidenden OLG versperrt. Vor diesem Hintergrund sollte eine Anpassung im Hinblick auf eine ebenfalls nicht in reduzierter Besetzung entscheidende große Jugendkammer herbeigeführt werden.
100
BRDrucks. 460/11 S. 15.
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ACHTER TITEL Oberlandesgerichte § 120a (1) Hat im ersten Rechtszug ein Strafsenat die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten oder im Fall des § 66b des Strafgesetzbuches als Tatgericht entschieden, ist dieser Strafsenat im ersten Rechtszug für die Verhandlung und Entscheidung über die im Urteil vorbehaltene oder die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zuständig. (2) Im Fall des § 66b des Strafgesetzbuches gilt § 462a Abs. 3 Satz 2 und 3 der Strafprozessordnung entsprechend.
Änderung. Die Vorschrift wurde mit Wirkung vom 1.1.2011 geändert durch das Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen (SiVerwNOG) vom 22.12.2010 (BGBl. I S. 2300 [Nr. 68]). In den Absätzen 1 und 2 wurde die bisherige Formulierung ‚in den Fällen des § 66b StGB‘ ersetzt durch die Wörter ‚im Fall‘ des § 66b StGB. Bedeutung. Ebenfalls durch das Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen (SiVerwNOG) vom 22.12.2010 wurde § 66b StGB1 dahingehend geändert, dass dessen bisherigen Absätze 1 und 2 aufgehoben wurden. Infolgedessen war eine redaktionelle Änderung der Zuständigkeitsregelung notwendig geworden, da § 66b StGB statt in bisher drei Fällen nur noch in einem Fall die Möglichkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung vorsah. Eine inhaltliche Änderung der Zuständigkeitsregelung des § 120a ist hiermit nicht erfolgt. Die für die erstinstanzlich tätig werdenden Oberlandesgerichte geltende – in der Praxis eher selten zur Anwendung kommende – Vorschrift entspricht jener des § 74f GVG für die Landgerichte.
1
Die hier in Bezug genommene Vorschrift des § 66b StGB wurde durch die Entscheidung des BVerfG vom 4.5.2011 (2 BvR 2333/08 u.a., BGBl. I 2011 1003) für unvereinbar mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1
GG erklärt. Sie bleibt bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31.5.2013, nur noch mit Einschränkungen anwendbar.
Dirk Gittermann
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ZEHNTER TITEL Staatsanwaltschaft § 143 (1) 1Die örtliche Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft bestimmt sich nach der örtlichen Zuständigkeit des Gerichts, bei dem die Staatsanwaltschaft besteht. 2Fehlt es im Geltungsbereich dieses Gesetzes an einem zuständigen Gericht oder ist dieses nicht ermittelt, ist die zuerst mit der Sache befasste Staatsanwaltschaft zuständig. 3Ergibt sich in den Fällen des Satzes 2 die Zuständigkeit eines Gerichts, ist das Verfahren an die nach Satz 1 zuständige Staatsanwaltschaft abzugeben, sobald alle notwendigen verfahrenssichernden Maßnahmen ergriffen worden sind und der Verfahrensstand eine geordnete Abgabe zulässt. 4Satz 3 gilt entsprechend, wenn die Zuständigkeit einer Staatsanwaltschaft entfallen ist und eine andere Staatsanwaltschaft zuständig geworden ist. (2) … (3) ... (4) ... (5) ...
1
Änderung. Durch Artikel 2 des Gesetzes für einen Gerichtsstand bei besonderer Auslandsverwendung der Bundeswehr vom 21.1.2013 (BGBl. I 89) wurden mit Wirkung vom 1.4.2013 in § 143 Abs. 1 die Sätze 2 bis 4 eingefügt. Ziel der Ergänzung war es, die Rechtssicherheit sowie die Opferrechte im Strafverfahren dadurch zu stärken, dass insbesondere in Fällen von im Ausland begangenen Straftaten klar und effektiv geregelt wird, welche nationale Staatsanwaltschaft für die Verfahrensbearbeitung zunächst zuständig ist.1 Die Zuständigkeitsregelung des § 143 Abs. 1 Satz 2 begründet aber keinen Gerichtsstand.2
I. Die örtliche Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft gem. § 143 Abs. 1 Satz 1 2
Die örtliche Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft richtet sich gem. § 143 Abs. 1 Satz 1 grundsätzlich nach der örtlichen Zuständigkeit des Gerichts, bei dem sie besteht (vgl. § 143 HW). Durch die Neuregelung vom 21.1.2013 erfolgte in Absatz 1 Satz 1 lediglich eine redaktionelle Änderung, nach der für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit die Staatsanwaltschaft selbst und nicht wie bisher ihre Beamten in Bezug genommen wird. Dieser Ansatz wurde bereits in dem im Jahr 2000 angefügten § 143 Abs. 5 gewählt. 1
BTDrucks. 17 9694 S. 8 (Gesetzentwurf); BTDrucks. 17 11182 (Beschlussempfehlung und Bericht des BTRAussch. v. 24.10.2012); s.a. Sachverständigenanhörung im
480
2
BTRAussch. am 26.9.2012, BTRAussch.Prot. Nr. 93. BTDrucks. 17 9694 S. 8.
Matthias Krauß
Zehnter Titel. Staatsanwaltschaft
Nachtr. § 143 GVG
II. Die Zuständigkeit der zuerst mit der Sache befassten Staatsanwaltschaft (§ 143 Abs. 1 Satz 2) Unsicherheiten bei der Bestimmung der zuständigen Staatsanwaltschaft und damit 3 Kompetenzkonflikte und Verfahrensverzögerungen konnten vor der Einfügung von § 143 Abs. 1 Satz 2 in Fällen entstehen, in denen die Zuständigkeitsbestimmung des § 143 Abs. 1 Satz 1 (zunächst) ins Leere läuft, weil es an einem zuständigen Gericht in Deutschland fehlt oder ein solches noch nicht ermittelt ist. In solchen Fällen kommt § 143 Abs. 1 Satz 1 erst dann zum Tragen, wenn ein zuständiges Gericht nach den §§ 7 bis 13 StPO ermittelt werden kann oder vom Bundesgerichtshof gem. § 13a StPO bestimmt wird. Letzteres betrifft etwa im Ausland begangene Taten, auf die das deutsche Strafrecht zwar anwendbar ist, für die sich aus den §§ 7 bis 13 StPO jedoch kein Gerichtsstand ergibt. An einem für die Durchführung eines strafgerichtlichen Verfahrens zuständigen deutschen Gericht fehlt es dagegen dauerhaft, wenn die Tat nicht der deutschen Gerichtsbarkeit unterfällt. Dies kann darauf beruhen, dass der Tatvorwurf sich auf Personen bezieht, die nach den §§ 18 bis 20 GVG als Exterritoriale von der deutschen Gerichtsbarkeit befreit sind,3 oder deutsches Strafrecht für eine Auslandstat nicht anwendbar ist.4 Bei fehlender deutscher Gerichtsbarkeit ist auch kein Raum für eine Gerichtsstandsbestimmung durch den Bundesgerichtshof gem. § 13a StPO.5 Gleichwohl kann – wie es bereits in Artikel 11 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15.3.2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (ABl. L 82 v. 22.3.2001, S. 1) vorgesehen ist – das Opfer einer in einem anderen Mitgliedstaat begangenen Straftat bei den Behörden seines Wohnsitzortes Strafanzeige erstatten. Gilt für die Tat das deutsche Strafrecht nicht, weil etwa ein in Deutschland wohnhafter Angehöriger eines anderen Mitgliedstaates dort Opfer einer auch nicht von §§ 5, 6 oder 7 Abs. 2 StGB erfassten Straftat geworden ist, hat die Staatsanwaltschaft die Strafanzeige unter den Voraussetzungen des § 158 Abs. 3 StPO an die zuständige Strafverfolgungsbehörde des anderen Mitgliedstaates zu übermitteln. Die in solchen Fällen auftretende Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Zuständigkeit 4 der Staatsanwaltschaft barg die Gefahr, dass diese bei Hinweisen auf Straftaten nicht zeitnah und effektiv tätig wurde. Gerade in Ermittlungsverfahren ist jedoch nicht selten sofortiges Handeln geboten, um einen drohenden Beweismittelverlust zu verhindern. Um zu gewährleisten, dass jederzeit eine Staatsanwaltschaft leicht feststellbar ist, die in der Lage ist, Ermittlungshandlungen durchzuführen, schließt § 143 Abs. 1 Satz 2 diese Regelungslücke. In Fällen, in denen es an einem zuständigen deutschen Gericht fehlt oder dieses noch nicht ermittelt ist, ist diejenige Staatsanwaltschaft zuständig, die zuerst – etwa aufgrund einer Strafanzeige – mit der Sache befasst wurde. Geht ein Hinweis auf eine Straftat, die örtlich nicht zugeordnet werden kann, zuerst bei der Polizei oder bei einem Amtsgericht ein, soll der Vorgang von diesen Stellen an die für sie zuständige Staatsanwaltschaft weitergeleitet werden, die dann als erste mit der Sache befasste Staatsanwaltschaft zuständig wird.6 Geht die Anzeige beim Generalbundesanwalt ein, betrifft diese aber keine in dessen Zuständigkeit gem. § 142a fallende Straftat, kommt § 143 Abs. 1 Satz 2 nicht zum Tragen, weil die eingeschränkte sachliche Zuständigkeit des Generalbundesanwalts durch § 143 Abs. 1 Satz 2 nicht ausgehebelt werden kann. In solchen Fäl-
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BGHSt 33 97, 98. Vgl. BGHSt 34 3; BGH NStZ 2007 534, 535. BGHSt 11 379; 12 326; 15 72; 33 97; BGH NStZ 2007 534.
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BTDrucks. 17 9694 S. 8.
Matthias Krauß
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§ 143 GVG Nachtr.
Gerichtsverfassungsgesetz
len wird die Staatsanwaltschaft, an die der Generalbundesanwalt den Vorgang abgibt, als erste mit der Sache befasste Staatsanwaltschaft zuständig. Die Neuregelung des § 143 Abs. 1 Satz 2 erfasst danach zunächst Fälle, in denen ein 5 Gerichtsstand nach §§ 7 bis 13 StPO noch nicht ermittelt ist. Die Zuständigkeit der zuerst mit der Sache befassten Staatsanwaltschaft kommt auch dann zum Tragen, wenn auf eine Auslandstat zwar deutsches Strafrecht anwendbar ist, sich aber kein Gerichtsstand nach den §§ 7 bis 13 StPO ergibt. Hier kann die nach § 143 Abs. 1 Satz 2 zuständige Staatsanwaltschaft die Gerichtsstandsbestimmung gem. § 13a StPO beantragen oder anregen. Sie kann aber auch – ohne Mitwirkung eines Gerichts – von der Verfolgung der Tat gem. § 153c Abs. 1 Nr. 1 StPO absehen oder das Verfahren gem. § 170 Abs. 2 StPO einstellen. Schließlich bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft dann nach § 143 Abs. 1 Satz 2, wenn die Tat überhaupt nicht der deutschen Gerichtsbarkeit unterfällt, weil sich der Tatvorwurf auf Personen bezieht, die nach den §§ 18 bis 20 GVG als Exterritoriale von der deutschen Gerichtsbarkeit befreit sind,7 oder deutsches Strafrecht für eine Auslandstat nicht anwendbar ist.8 In solchen Fällen ist auch kein Raum für eine Gerichtsstandsbestimmung durch den Bundesgerichtshof gem. § 13a StPO.9 Wurde eine solche Tat in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union begangen und wohnt der anzeigende Verletzte im Inland, hat die gem. § 143 Abs. 1 Satz 2 zuständige Staatsanwaltschaft die bei den hiesigen Strafverfolgungsbehörden erstattete Anzeige nach § 158 Abs. 3 StPO unter den dort bezeichneten Voraussetzungen an die für die Strafverfolgung zuständige Stelle des anderen Mitgliedstaates zu übermitteln. § 143 Abs. 1 Satz 3 bestimmt, dass die nach § 143 Abs. 1 Satz 2 zuständig gewordene 6 Staatsanwaltschaft das Verfahren an die nach § 143 Abs. 1 Satz 1 zuständige Staatsanwaltschaft abgibt, wenn sich im Nachhinein die Zuständigkeit eines Gerichts ergibt. Die Zuständigkeit gem. § 143 Abs. 1 Satz 2 endet aber nicht automatisch zu dem Zeitpunkt, zu dem ein zuständiges Gericht ermittelt oder bestimmt wurde. Sie besteht vielmehr so lange weiter, bis alle notwendigen verfahrenssichernden Maßnahmen ergriffen worden sind und der Verfahrensstand eine geordnete Abgabe zulässt. Die nach § 143 Abs. 1 Satz 2 zuständige Staatsanwaltschaft hat deshalb vor einer Abgabe alle keinen Aufschub duldenden Maßnahmen zu veranlassen, die von der neu zuständig gewordenen Staatsanwaltschaft nicht in der Zeitspanne vorgenommen werden könnten, die diese benötigt, um das Verfahren zu übernehmen und sich einen angemessenen Überblick über die Sachund Rechtslage zu verschaffen.10 Die Verpflichtung zur Durchführung der keinen Aufschub duldenden Maßnahmen 7 gilt gem. § 143 Abs. 1 Satz 4 auch in Fällen, in denen die Zuständigkeit einer Staatsanwaltschaft entfällt und eine andere Staatsanwaltschaft zuständig wird. Dies kommt etwa in Fällen in Betracht, in denen die örtliche Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft nur aufgrund des Wohnsitzes eines Beschuldigten begründet ist (§ 8 StGB) und der Beschuldigte während des Ermittlungsverfahrens in den Bezirk einer anderen Staatsanwaltschaft verzieht.
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BGHSt 33 97, 98. Vgl. BGHSt 34 3; BGH NStZ 2007 534, 535. BGHSt 11 379; 12 326; 15 72; 33 97; BGH NStZ 2007 534.
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BTDrucks. 17 9694 S. 8 f.
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Zehnter Titel. Staatsanwaltschaft
Nachtr. § 143 GVG
III. § 143 Abs. 2 bis 5 Die bisherigen Regelungen der Notzuständigkeit (Absatz 2), des Zuständigkeitsstreits 8 (Absatz 3) und der Möglichkeit der Zuständigkeitskonzentration (Absätze 4 und 5) bleiben von der Neuregelung durch das Gesetz für einen Gerichtsstand bei besonderer Auslandsverwendung der Bundeswehr vom 21.1.2013 unberührt.
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VIERZEHNTER TITEL Öffentlichkeit und Sitzungspolizei § 171b (1) 1Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden, soweit Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich eines Prozessbeteiligten, eines Zeugen oder eines durch eine rechtswidrige Tat (§ 11 Absatz 1 Nummer 5 des Strafgesetzbuchs) Verletzten zur Sprache kommen, deren öffentliche Erörterung schutzwürdige Interessen verletzen würde. 2Das gilt nicht, soweit das Interesse an der öffentlichen Erörterung dieser Umstände überwiegt. 3Die besonderen Belastungen, die für Kinder und Jugendliche mit einer öffentlichen Hauptverhandlung verbunden sein können, sind dabei zu berücksichtigen. 4Entsprechendes gilt bei volljährigen Personen, die als Kinder oder Jugendliche durch die Straftat verletzt worden sind. (2) 1Die Öffentlichkeit soll ausgeschlossen werden, soweit in Verfahren wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 bis 184g des Strafgesetzbuchs) oder gegen das Leben (§§ 211 bis 222 des Strafgesetzbuchs), wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 des Strafgesetzbuchs) oder wegen Straftaten gegen die persönliche Freiheit nach den §§ 232 bis 233a des Strafgesetzbuchs ein Zeuge unter 18 Jahren vernommen wird. 2Absatz 1 Satz 3 gilt entsprechend. (3) 1Die Öffentlichkeit ist auszuschließen, wenn die Voraussetzungen der Absätze 1 oder 2 vorliegen und der Ausschluss von der Person, deren Lebensbereich betroffen ist, beantragt wird. 2Für die Schlussanträge in Verfahren wegen der in Absatz 2 genannten Straftaten ist die Öffentlichkeit auszuschließen, ohne dass es eines hierauf gerichteten Antrags bedarf, wenn die Verhandlung unter den Voraussetzungen der Absätze 1 oder 2 oder des § 172 Nummer 4 ganz oder zum Teil unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hat. (4) Abweichend von den Absätzen 1 und 2 darf die Öffentlichkeit nicht ausgeschlossen werden, soweit die Personen, deren Lebensbereiche betroffen sind, dem Ausschluss der Öffentlichkeit widersprechen. (5) Die Entscheidungen nach den Absätzen 1 bis 4 sind unanfechtbar.
I. Änderungen 1
§ 171b wurde geändert durch Art. 2 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) vom 26.6.2013 (BGBl. I S. 1805),1 der am 1.9.2013 in Kraft getreten ist. Nach der bisherigen Regelung des § 171b stand es im pflichtgemäßen 1
Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 15.4.2011, BTDrucks. 213/11 und BTDrucks. 17 6261; Beschlussempfehlung und Bericht des BTRAussch. vom 13.3.2013,
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BTDrucks. 17 12735; Protokoll der 64. Sitzung des BTRAussch. vom 26.11.2011; BTProt. 17/228 vom 14.3.2013 S. 28472 ff.
Matthias Krauß
Vierzehnter Titel. Öffentlichkeit und Sitzungspolizei
Nachtr. § 171b GVG
Ermessen des Gerichts, die Öffentlichkeit auszuschließen, wenn Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich eines Prozessbeteiligten, Zeugen oder Verletzten zur Sprache kommen und durch deren öffentliche Erörterung schutzwürdige Interessen verletzt würden, es sei denn, dass das Interesse der Allgemeinheit an der öffentlichen Erörterung dieser Umstände überwiegt. Dieses Ermessen war in zweifacher Hinsicht eingeschränkt: Lagen die Voraussetzungen für einen Ausschluss nach § 171 Abs. 1 Satz 1 a.F. vor, musste das Gericht die Öffentlichkeit ausschließen, wenn die Person, deren Lebensbereich betroffen war, dies beantragte (§ 171 Abs. 2 a.F.). Im Falle eines Widerspruchs der Person, deren Lebensbereich betroffen ist, durfte die Öffentlichkeit, gestützt auf § 171b, nicht ausgeschlossen werden (§ 171b Abs. 1 Satz 2 a.F.). Diese Systematik wurde durch die Neufassung beibehalten und lediglich um die Hinweise zur Ermessensausübung gem. § 171b Abs. 1 Satz 3 und 4 ergänzt. Darüber hinausgehend sieht die Neuregelung nach Absatz 2 nunmehr einen grundsätzlich verbindlichen Ausschluss der Öffentlichkeit während der Dauer der Vernehmung von Zeugen unter 18 Jahren vor, soweit sie in Verfahren vernommen werden sollen, die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 bis 184g StGB), gegen das Leben (§§ 211 bis 222 StGB), wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB) oder gegen die persönliche Freiheit (§§ 232 bis 233a StGB) zum Gegenstand haben. Ausgangspunkt der gesetzlichen Neuregelung waren zahlreiche vor allem 2010 auf- 2 gedeckte Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs, die sich teilweise über Jahrzehnte hinweg in verschiedensten Betreuungseinrichtungen für Kinder zugetragen hatten. Mit ihrem Gesetzentwurf wollte die Bundesregierung weitere gesetzliche Verbesserungen im Strafverfahren gerade für die minderjährigen Opfer sexuellen Missbrauchs einführen und bestehende Schutzlücken in Fällen sexuellen Missbrauchs in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen schließen.2 Dabei griff sie Empfehlungen des von ihr eingesetzten Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ auf.3 Der Gesetzentwurf sah u.a. Regelungen zur Vermeidung von Mehrfachvernehmungen von Zeugen, zur Erleichterung der Bestellung eines Opferanwalts, zur Erweiterung der Informationsrechte von Opfern, zur Präzisierung der Zuständigkeit der Jugendgerichte in Jugendschutzsachen und zu Qualifikationsanforderungen an Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte sowie eine Verlängerung der Verjährungsfrist für zivilrechtliche Ansprüche wegen sexuellen Missbauchs und der vorsätzlichen Verletzung anderer höchstpersönlicher Rechtsgüter auf 30 Jahre vor.4 Hinsichtlich des Ausschlusses der Öffentlichkeit bei Hauptverhandlungen mit minderjährigen Opfern beschränkte sich der Regierungsentwurf auf die Einfügung von § 171b Abs. 1 Satz 2, wonach die besonderen Belastungen, die für Kinder und Jugendliche mit einer öffentlichen Verhandlung verbunden sein können, zu berücksichtigen sind.5 Die Gesetz gewordene Fassung des StORMG entstammt der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestags,6 die auf einen im Rechtsausschuss eingebrachten Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zurückgeht.7 2 3 4
BTDrucks. 17 6261 S. 8. BTDrucks. 17 6261 S. 8. Siehe BTDrucks. 17 6261; Bittmann ZRP 2011 72; zu dem Gesetzentwurf der Fraktion der SPD (Verlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfrist beim sexuellen Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen auf 20 Jahre) s. BTDrucks. 17 3646 und zu dem Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN (Anhebung der
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Regelungen bzgl. der Hemmung der Verjährung in den §§ 207, 208 BGB auf den Zeitpunkt der Vollendung des 25. Lebensjahres und Ausweitung des Ruhens der strafrechtlichen Verjährung bis zum 25. Lebensjahr) s. BTDrucks. 17 5774. BTDrucks. 17 6261 S. 6, 14. BTDrucks. 17 12735 S. 8. Zu den einzelnen Gesetzesänderungen siehe die Erläuterungen zu § 78b Abs. 1 Nr. 1
Matthias Krauß
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§ 171b GVG Nachtr.
Gerichtsverfassungsgesetz
II. Die Neuregelung im Einzelnen 1. Die Ermessensentscheidung nach Absatz 1
3
Die Neuregelung lässt die bisher in § 171b Abs. 1 Satz 1 geregelte Möglichkeit des Öffentlichkeitsausschlusses unverändert. Danach steht es im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts die Öffentlichkeit auszuschließen, wenn Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich eines Prozessbeteiligten, Zeugen oder Verletzten zur Sprache kommen und durch deren öffentliche Erörterung schutzwürdige Interessen verletzt würden, es sei denn, dass das Interesse der Allgemeinheit an der öffentlichen Erörterung dieser Umstände überwiegt. Eine Änderung ist lediglich insoweit eingetreten, als der Regelungsgehalt nunmehr in zwei Sätzen dargestellt ist (Sätze 1 und 2). Wegen der Einzelheiten zu den Voraussetzungen, dem Umfang und der Dauer des Ausschlusses der Öffentlichkeit wird auf die Kommentierung zu § 171b HW verwiesen. 4 Neu eingefügt in § 171b Abs. 1 wurden die Sätze 3 und 4. Sie enthalten Hinweise für die Ausübung des Ermessens bei der Entscheidung über den Ausschluss der Öffentlichkeit. Danach sind die besonderen Belastungen, die für Kinder und Jugendliche mit einer öffentlichen Hauptverhandlung verbunden sein können, zu berücksichtigen. Satz 4 stellt aus Opferschutzgründen klar, dass bei der Prüfung des Ausschlusses der Öffentlichkeit der für geboten erachtete Schutz des Betroffenen auch den zur Zeit der Verhandlung volljährigen Opfern zukommen kann, wenn sie als Kinder oder Jugendliche durch die den Gegenstand des Verfahrens bildende Straftat verletzt worden sind. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die Folgen einer als Minderjähriger erlittenen Straftat oft bis weit in das Erwachsenenalter hinein andauern und eine Mitwirkung an einem Gerichtsverfahren zu einer besonderen Belastung für die Betroffenen werden kann.8 5 Die Vorschrift des Absatzes 1 knüpft an den Begriff der Verhandlung vor dem erkennenden Gericht in § 169 Satz 1 an und lässt beim Vorliegen ihrer Voraussetzungen einen Ausschluss der Öffentlichkeit für sämtliche Abschnitte der Hauptverhandlung zu.9 Da Absatz 2 nunmehr aber eine spezielle Regelung für den Ausschluss der Öffentlichkeit in Strafverfahren wegen der dort aufgeführten Straftaten während der Vernehmung von Zeugen unter 18 Jahren trifft, kommt Absatz 1 Satz 3 und 4 in Strafverfahren vor allem bei der Entscheidung über den Ausschluss der Öffentlichkeit während Vernehmungen von Kindern oder Jugendlichen wegen anderer als den in Absatz 2 angeführten Straftaten, während der Dauer der Erörterung der Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich der Schutzbedürftigen außerhalb ihrer Vernehmungen und während Vernehmungen von erwachsenen Zeugen in Betracht. Der Einfügung der Sätze 3 und 4 als opferfreundliches Signal kommt lediglich klarstellende Funktion zu. Selbstverständlich waren bereits nach der alten Regelung bei der Güterabwägung gem. Absatz 1 Satz 1, ob das verfolgte öffentliche Interesse generell und nach der Gestaltung des Einzelfalls Vorrang vor dem Eingriff in die Privatsphäre des Betroffenen verdient, die besonderen Belastungen, die für Kinder und Jugendliche mit einer öffentlichen Hauptverhandlung verbunden sein können, zu berücksichtigen.
StGB; §§ 58a Abs. 1, 69 Abs. 2, 140 Abs. 1 und 2, 141 Abs. 1 und 4, 153a, 246a Abs. 2, 255a Abs. 2, 268 Abs. 2, 397a Abs. 1, 406d Abs. 2, 453 Abs. 1, 454 Abs. 4 StPO; §§ 24 Abs. 1, 26 Abs. 2 und 3 GVG; § 36 JGG und § 197 Abs. 1 BGB.
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8 9
BTDrucks. 17 12735 S. 17. BGH NJW 2012 3113; Kissel/Mayer § 171b, 1. Vgl. aber die besondere Regelung für die Urteilsverkündung in § 173.
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2. Der Ausschluss der Öffentlichkeit nach Absatz 2 Die Regelung des Absatzes 2 geht zurück auf die Beschlussempfehlung des Rechtsaus- 6 schusses des Bundestages.10 In der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses hatten die Sachverständigen übereinstimmend die im Regierungsentwurf aus Opferschutzgründen vorgesehene Ergänzung des Absatzes 1 um die Sätze 3 und 4 für nicht ausreichend erachtet, weil es eine Wertefriktion darstelle, dem jugendlichen Täter die Öffentlichkeit zu ersparen (§ 48 JGG), nicht aber dem jugendlichen Opfer.11 Vorgeschlagen wurde von den Sachverständigen deshalb die Schaffung eines zwingenden Nichtöffentlichkeitstatbestands in Jugendschutzsachen entweder für die gesamte Dauer der Verhandlung oder für die Dauer der Vernehmung des Opfers. Der Gesetzgeber hat mit Absatz 2 eine differenzierte Reglung getroffen. Danach soll 7 gem. Satz 1 die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, soweit in Verfahren wegen Straftaten nach den §§ 174 bis 184g, 211 bis 222, 225 oder 232 bis 233a StGB ein Zeuge unter 18 Jahren vernommen werden soll. Aus der Formulierung „soweit ein Zeuge vernommen werden soll“ ergibt sich, dass im Gegensatz zur Ausschlussregelung des § 172 Nr. 4, wo eine Ausschließung für die gesamte Dauer der Verhandlung zulässig sein kann,12 der Ausschluss der Öffentlichkeit nach Absatz 2 auf die Dauer der Vernehmung des Zeugen beschränkt ist. Der Ausschluss der Öffentlichkeit außerhalb der Vernehmung des Opferzeugen richtet sich nach der Ermessensentscheidung des Absatzes 1 oder nach § 172 Nr. 4. Diese Differenzierung ist sachgerecht. Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung ist nach wie vor ein hohes rechtsstaatliches Gut.13 Der generelle Ausschluss der Öffentlichkeit während der gesamten Hauptverhandlung in Jugendstrafverfahren gem. § 48 JGG trägt der besonderen Belastungssituation des jugendlichen Angeklagten Rechnung. Diese ist auf die Situation des Opferzeugen jedenfalls außerhalb dessen Vernehmung nicht unmittelbar übertragbar. Der Bedeutung des Schutzes der Persönlichkeitssphäre des Opfers als Ausfluss der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG wird durch die Möglichkeit des Ausschlusses der Öffentlichkeit gem. § 171b Abs. 1, § 172 Nr. 4 ausreichend Rechnung getragen. Die Ausschlussregelung gilt nur in Strafverfahren wegen der in Absatz 2 genannten 8 den Verletzten besonders belastenden schweren Straftaten. Die Regelung knüpft an § 255a Abs. 2 StPO an, wonach in Verfahren wegen dieser Straftaten die Vernehmung eines Zeugen unter 18 Jahren durch die Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung seiner früheren richterlichen Vernehmung ersetzt werden kann, wenn der Angeklagte und sein Verteidiger Gelegenheit hatten, an dieser mitzuwirken. Liegen die Voraussetzungen der Ersetzung der Vernehmung nach § 255a Abs. 2 StPO nicht vor oder wird aus sonstigen Gründen davon kein Gebrauch gemacht, soll wenigstens die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass die Erinnerung an das Geschehen und die Konfrontation mit dem Täter für das jugendliche Opfer – zumal oft vor zahlreichen Zuhörern – gerade bei den in Abatz 2 aufgezählten schwerwiegenden Straftaten besonders belastend ist und erneut traumatisierend wirken kann.14 Durch den Ausschluss kann auf die besondere psychische Situation des jungen Zeugen Rücksicht genommen werden. Hinzu kommt, dass das Opfer als Hauptbelastungszeuge zur Zielscheibe von Angriffen der Verteidigung auf seine Glaubwürdigkeit werden kann, etwa durch Fragen nach dem
10 11 12
BTDrucks. 17 12735 S. 8. Protokoll des BTRAussch. Nr. 64 v. 26.10.2011. Vgl. Meyer-Goßner § 172, 15 GVG.
13 14
Vgl. Marxen GA 2013 99, 107 f.; Odersky FS Pfeiffer, S. 325 ff. Zur sekundären Viktimisierung vgl. Heger JA 2007 244.
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sexuellen Vorleben. Da das Opfer als Zeuge entsprechende Fragen wahrheitsgemäß beantworten muss – nur ungeeignete oder nicht zur Sache gehörende Fragen kann der Vorsitzende zurückweisen (§ 241 Abs. 2 StPO) –, ist es sachgerecht, die Öffentlichkeit in solchen Fällen grundsätzlich auszuschließen. Letztlich dient der Ausschluss auch der besseren Sachaufklärung. Insbesondere in Verfahren mit großer Öffentlichkeitsaufmerksamkeit, aber auch in Verfahren, in denen Freunde und Angehörige des Opfers oder des Angeklagten im Zuhörerraum anwesend sind, kann es zu Beeinflussungen des jungen Zeugen und zur Beeinträchtigung der Fähigkeit und Bereitschaft, die Wahrheit zu sagen, kommen. Der Ausschluss der Öffentlichkeit nach Absatz 2 gilt nur für die Vernehmung von 9 Zeugen unter 18 Jahren. Dabei handelt es sich offensichtlich um ein Redaktionsversehen. Wie aus der Begründung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses hervorgeht, wollte der Gesetzgeber durch die Verweisung in Absatz 2 Satz 2 den Ausschluss der Öffentlichkeit nach Absatz 2 Satz 1 auch während der Vernehmung volljähriger Zeugen, die als Kinder oder Jugendliche durch die Straftat verletzt worden sind, vorsehen.15 Dies hätte auch der gesetzlichen Systematik sowohl in Absatz 1 als auch in § 255a Abs. 2 StPO entsprochen, wo hinsichtlich des Schutzbedürftigkeit der Zeugen kein Unterschied zwischen der Vernehmung von Kindern und Jugendlichen auf der einen und volljährigen Personen auf der anderen Seite gemacht wird, soweit letztere als Kinder oder Jugendliche durch die Straftat verletzt worden sind. Angesichts des eindeutigen Wortlauts von Absatz 2 Satz 1, der auf das jugendliche Alter des Zeugen zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung abstellt, und der (wohl irrtümlichen) Verweisung auf § 171b Abs. 1 Satz 3 statt auf § 171b Abs. 1 Satz 4 kommt ein Ausschluss der Öffentlichkeit während der Vernehmung von volljährigen Zeugen, die als Kinder oder Jugendliche durch die Straftat verletzt wurden, bis zu einer eventuellen Korrektur durch den Gesetzgeber nur nach Absatz 1 in Betracht.16 Die Vorschrift ist als Sollvorschrift ausgestaltet. Dies bedeutet, dass bei Vorliegen der 10 Voraussetzungen des Absatzes 2 der Ausschluss der Öffentlichkeit regelmäßig durchgeführt werden muss und nur in begründeten Ausnahmefällen davon Abstand genommen werden kann. Der Ausschluss der Öffentlichkeit für die Dauer der Vernehmung umfasst alle Verfah11 rensvorgänge, die mit der Vernehmung in enger Verbindung stehen oder sich aus ihnen entwickeln und deshalb zu diesem Verfahrensabschnitt gehören.17 Die Ausschließung für die Dauer der Vernehmung erstreckt sich deshalb grundsätzlich auch auf alle Erklärungen, Anträge der Verfahrensbeteiligten und alle Entscheidungen des Gerichts, die sich aus der Zeugenvernehmung unmittelbar ergeben und mit ihr in unmittelbarem Zusammenhang stehen,18 die Beeidigung,19 die Beschlussfassung nach § 247 Satz 1 StPO,20 den sich aus der Zeugenaussage ergebenden Hinweis auf die Veränderung eines tatsächlichen Gesichtspunkts,21 nicht aber auf den Hinweis auf die Veränderung eines rechtlichen Gesichtspunkts nach § 265 StPO.22 Die Ausschließung erstreckt sich auch auf die Verlesung der im Zusammenhang mit der Zeugenvernehmung stehenden Urkunden,23 die Befragung des gesetzlichen Vertreters nach § 52 Abs. 2 StPO, die Abgabe von Erklärun15 16 17 18
BTDrucks. 17 12735 S. 17. A.A. Meyer-Goßner § 171b, 7 GVG ohne Begründung. Vgl. Kissel/Mayer § 172, 54. BGH GA 1972 184; bei Dalllinger MDR 1975 198.
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19 20 21 22 23
Vgl. BGH NJW 1996 2663; 2003 2761. Vgl. BGH bei Pfeiffer/Miebach NStZ 1985 206. BGH NStZ 1999 3710. BGH NStZ 1996 49; StV 2003 271. BGH StV 1985 402 m. krit. Anm. Fezer.
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gen nach § 257 StPO, eine Augenscheinseinnahme, die im Zusammenhang mit der Zeugenvernehmung steht,24 kurze Äußerungen anderer Zeugen, die durch die Vernehmung veranlasst werden,25 Beweisanträge, die durch die vorangegangene Beweiserhebung veranlasst sind,26 und der auf einen solchen Antrag ergehende Beschluss des Gerichts27 sowie die Entscheidung über die Entlassung des Zeugen. Der Beschluss gilt für die gesamte Vernehmung des Zeugen, auch wenn eine Vernehmung unterbrochen und an einem anderen Verhandlungstag fortgesetzt wird.28 Wird jedoch ein Zeuge nach seiner Entlassung in einem späteren Termin erneut vernommen, muss über den Ausschluss der Öffentlichkeit durch Gerichtsbeschluss erneut entschieden werden, es sei denn, die Entlassung wird sofort zurückgenommen und die für den Ausschluss maßgebenden Gründe bestehen fort, so dass sich vorangegangene und zusätzliche Vernehmung noch als einheitlich darstellen.29 3. Zwingender Ausschluss der Öffentlichkeit bei Antrag und für die Schlussvorträge (Absatz 3) Liegen die Voraussetzungen des Absatzes 1 oder 2 vor, dann muss das Gericht die 12 Öffentlichkeit ausschließen, wenn die Person, deren Lebensbereich betroffen ist, dies beantragt (Absatz 3 Satz 1). Diese Regelung entspricht § 171b Abs. 2 a.F., wobei zusätzlich auf den neu eingefügten Absatz 2 Bezug genommen wird (s. § 171b, 18 HW). Absatz 3 Satz 2 trifft eine Sonderregelung für die Schlussvorträge. Danach ist die 13 Öffentlichkeit auch ohne Antrag auszuschließen, wenn das Verfahren eine in Absatz 2 genannte Straftat zum Gegenstand hat und die Hauptverhandlung gem. § 171b Abs. 1 oder 2 oder gem. § 172 Nr. 4 ganz oder zum Teil ausgeschlossen war. Damit soll verhindert werden, dass Umstände, für deren Erörterung die Öffentlichkeit in der Verhandlung ausgeschlossen war, später im Rahmen der Schlussplädoyers gleichwohl öffentlich zur Sprache kommen. Der Öffentlichkeitsausschluss gilt für die gesamte Dauer der Schlussvorträge. Von einer Beschränkung des Öffentlichkeitsausschlusses auf diejenigen Abschnitte der Plädoyers, die sich mit dem nicht öffentlichen Teil der Verhandlung befassen, hat der Gesetzgeber aus Praktikabilitätsgründen bewusst abgesehen.30 Die Verkündung des Urteils ist gem. § 173 Abs. 1 öffentlich; eine Ausnahme be- 14 stimmt § 48 Abs. 1 JGG. Unter den Voraussetzungen des § 173 Abs. 2 kann für die Verkündung der Entscheidungsgründe die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. 4. Ausschluss der Öffentlichkeit bei Widerspruch (Absatz 4) In Absatz 4 wird die bisherige Regelung des § 171b Abs. 1 Satz 2 übernommen und 15 um den neu eingefügten Absatz 2 ergänzt (s. § 171b, 17, 22 HW). 5. Unanfechtbarkeit (Absatz 5) Absatz 5 entspricht der bisherigen Regelung des § 171 Abs. 3, ergänzt um den neu 16 eingefügten Absatz 2 (s. § 171b, 25 HW). 24 25 26 27 28
BGH NStZ 1988 190. Vgl. BGH NStZ 1981 311. BGH NStZ 1999 371. Vgl. RG HRR 1939 449. BGH NStZ 1992 447; 2004 220; StV 2012 140.
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BGH NStZ 1992 447; 2008 476; NStZ-RR 2009 213; StV 2012 140; NStZ-RR 2013 221. BTDrucks. 17 12735 S. 18.
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§ 173 GVG Nachtr.
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§ 173 (1) Die Verkündung des Urteils sowie der Endentscheidung in Ehesachen und Familienstreitsachen erfolgt in jedem Falle öffentlich. (2) Durch einen besonderen Beschluß des Gerichts kann unter den Voraussetzungen der §§ 171b und 172 auch für die Verkündung der Entscheidungsgründe oder eines Teiles davon die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden.
Änderung. Durch Art. 3 des Gesetzes zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess und zur Änderung anderer Vorschriften vom 5.12.2012 (BGBl. I 2418) wurde in Absatz 1 nach dem Wort „Urteils“ die Wörter „sowie der Endentscheidung in Ehesachen und Familienstreitsachen“ eingefügt und in Absatz 2 das Wort „Urteilsgründe“ durch das Wort „Entscheidungsgründe“ ersetzt. Es handelt sich um eine notwendige Klarstellung, nachdem durch die FGG-Reform Entscheidungen in Ehesachen und Familienstreitigkeiten nicht mehr als Urteile, sondern als Beschlüsse getroffen werden, die vom Wortlaut des § 173 a.F. nicht erfasst waren.1 Das FamFG v. 17.12.2008 (BGBl. I S. 2586) kennt für Endentscheidungen nur noch den Beschluss als einheitliche Entscheidungsform (§ 38 FamFG). Dieser tritt auch in den Ehe- (§ 121 FamFG) und Familienstreitsachen (§ 112 FamFG) an die Stelle des Urteils (§ 113 Abs. 1 Satz 1 FamFG).2 Hinsichtlich des maßgeblichen Verfahrensrechts für Eheund Familienstreitsachen ordnet § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG die entsprechende Anwendung der Allgemeinen Vorschriften der ZPO und der Vorschriften der ZPO über das Verfahren vor den Landgerichten an und damit auch die Anwendung von § 329 Abs. 1 ZPO. Danach müssen die auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergehenden Beschlüsse des Gerichts verkündet werden. Die Neufassung des § 173 Abs. 1 stellt nunmehr klar, dass auch die Verkündung der Endentscheidungen in Ehesachen und Familienstreitsachen stets öffentlich zu erfolgen hat. Insoweit sollte durch die FGG-Reform keine Änderung herbeigeführt werden. Wegen der weiteren Einzelheiten s. § 173 HW.
1 2
BTDrucks. 17 10490 S. 15. Keidel/Sternal Einl. 33 FamFG; Keidel/MeyerHolz § 38, 1 ff. FamFG.
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FÜNFZEHNTER TITEL Gerichtssprache § 185 (1) … (1a) 1Das Gericht kann gestatten, dass sich der Dolmetscher während der Verhandlung, Anhörung oder Vernehmung an einem anderen Ort aufhält. 2Die Verhandlung, Anhörung oder Vernehmung wird zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen. (2) … (3) … Schrifttum Böttiger Der Einsatz von Videokonferenztechnik in der mündlichen Verhandlung und dem Erörterungstermin im sozialgerichtlichen Verfahren, WzS 2013 263; Sensburg Videokonferenztechnik: Einsatz verbessert und beschleunigt Verfahren, DRiZ 2013 126.
I. Änderungen § 185 Abs. 1a wurde eingefügt durch Art. 1 des am 1.11.2013 in Kraft getretenen 1 Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren (VideokonfIntensG) v. 25.4.2013 (BGBl. I S. 935).1 Das Gesetz geht zurück auf einen Gesetzentwurf des Bundesrates vom 12.2.2010,2 mit dem die Länderkammer die Möglichkeiten der Nutzung von Videokonferenztechnik in den einzelnen Verfahrensordnungen für die unterschiedlichen Beteiligten erweitern wollte. Ziel des verstärkten Einsatzes von Videokonferenztechnik ist es vor allem, Reisekosten von Prozessbeteiligten, auf deren persönliche Anwesenheit es nicht ankommt, einzusparen und dadurch die Prozesskosten zu reduzieren und den Prozess zu beschleunigen.3 Außerdem wollte der Gesetzgeber der fortschreitenden Entwicklung der Videoübertragungstechnik Rechnung tragen und den Beteiligten am gerichtlichen Verfahren die Möglichkeit der Bild- und Tonübertragung, die dem versierten Internetnutzer schon seit langem zugänglich ist, in geeigneten Fällen eröffnen.4 Die am 21.2.2013 vom Bundestag verabschiedete Gesetzesfassung5 entspricht der Beschlussempfehlung des Bundestagsrechtsausschusses vom 20.2.2013.6 Während § 185 Abs. 1a den Einsatz von Dolmetschern in gerichtlichen Verfahren mittels Bild- und Tonübertragung im Wege einer generellen Regelung für sämtliche Verfahrensordnungen übergreifend zulässt, findet die erweiterte Möglichkeit der 1 2
Prütting AnwBl. 2013 330. BTDrucks. 17 1224. Vgl. auch den identischen Gesetzentwurf des Bundesrates vom 30.1.2008 (BTDrucks. 16 7956), der seinerzeit nicht zu Ende beraten wurde.
3 4 5 6
BTDrucks. 17 1224 S. 11. Vgl. BTDrucks. 17 1224 S. 10; s.a. Schaumburg ZRP 2002 313. BTProt. 17/222 S. 27663D. BTDrucks. 17 12418.
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§ 185 GVG Nachtr.
Gerichtsverfassungsgesetz
Nutzung von Videokonferenztechnik hinsichtlich der sonstigen Prozessbeteiligten in zivil-, finanz-, verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahren (Parteien, Beteiligte, Bevollmächtigte, Beistände, Zeugen, Sachverständige) ihre gesetzliche Grundlage in dem geänderten § 128a ZPO und den neu eingefügten oder geänderten Bestimmungen der jeweiligen Fachgerichtsordnungen (vgl. § 91a FGO, § 102a VwGO, § 110a SGG). Im Strafprozess fällt die rechtliche Zulässigkeit des Einsatzes von Videokonferenztech2 nik durch das VideokonfIntensG zurückhaltender aus als in anderen Verfahrensordnungen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass es im strafgerichtlichen Erkenntnisverfahren für die Wahrheitsfindung regelmäßig auch auf den unmittelbaren persönlichen Eindruck des Vernehmenden oder Anhörenden von der Person des Vernommenen oder Angehörten ankommt, der durch den Einsatz von Videokonferenztechnik nicht in dem Maße gewährleistet werden kann wie eine persönliche Vernehmung oder Anhörung.7 Der Einsatz der Videotechnik in Verfahren nach der Strafprozessordnung wird nunmehr ausdrücklich geregelt für Zeugenvernehmungen außerhalb der Hauptverhandlung (§ 58b StPO), für polizeiliche Zeugenvernehmungen (§ 163 Abs. 3 StPO), für Beschuldigtenvernehmungen im Ermittlungsverfahren (§ 163a Abs. 1 StPO), bei Haftprüfungen (§ 118a Abs. 2 StPO), für die Anhörung des Vorstands der Rechtsanwaltskammer in der mündlichen Verhandlung über die Ausschließung eines Verteidigers (138d Abs. 4 StPO), für die Vernehmung des Angeklagten außerhalb der Hauptverhandlung in Fällen, in denen nach geltendem Recht auf die Anwesenheit des Angeklagten verzichtet werden kann (§ 233 Abs. 2 StPO), für die Vernehmung von Sachverständigen, außer wenn es zur Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung kommen kann (§ 247a Abs. 2 StPO) und für fakultative mündliche Anhörungen bei nach § 450a Abs. 3 Satz 1 StPO oder nach § 458 bis § 461 StPO zu treffenden vollstreckungsgerichtlichen Entscheidungen (§ 462 Abs. 2 StPO). Durch die Einfügung von § 115 Abs. 1a StVollzG wird klargestellt, dass in Verfahren nach § 109 StVollzG fakultative videogestützte Anhörungen ohne Rücksicht auf das Einverständnis des Gefangenen angeordnet werden können.
II. Einsatz von Videokonferenztechnik bei der Zuziehung von Dolmetschern 1. Geltungsbereich
3
§ 185 Abs. 1a schafft die rechtliche Grundlage für den Einsatz von Videokonferenztechnik bei der Zuziehung eines Dolmetschers in gerichtlichen Verfahren im Wege einer generellen Regelung für sämtliche Verfahrensordnungen. Zwar gilt das GVG und damit § 185 nur für die ordentliche Gerichtsbarkeit (§ 2 EGGVG), also für alle Zivil- und Strafsachen (§ 13 GVG). Zu den Zivilsachen gehören als eigenständige Teilbereiche die Familiensachen (§ 111 FamFG) und die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (§ 23a Abs. 2 GVG) sowie das Insolvenzverfahren. § 185 ist jedoch für andere Gerichtsbarkeiten und Verfahrensarten aufgrund unterschiedlicher Verweisungen für anwendbar erklärt (vgl. § 55 VwGO, § 61 SGG, § 52 FGO, § 9 Abs. 2 ArbGG, § 46 OWiG, § 153 StBerG, § 127 WiPrO, § 99 Abs. 1 PatG, § 21 Abs. 1 GebrMG, § 82 Abs. 1 MarkenG, § 91 Abs. 1 WDO, §§ 112c Abs. 1 und 116 Abs. 1 BRAO, § 98 Abs. 1 PAO, § 3 BDG, § 63 Abs. 1 DRiG, §§ 96 Abs. 1 und 111b BNotO, § 83 Abs. 2 BPersVG).
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BTDrucks 17 12418 S. 15; s.a. Esser NStZ 2003 464.
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Fünfzehnter Titel. Gerichtssprache
Nachtr. § 185 GVG
2. Gerichtliche Verhandlung Die Aufgabe des Dolmetschers i.S.v. § 185 GVG besteht darin, den Prozessverkehr 4 zwischen dem Gericht und den der deutschen Sprache nicht mächtigen Beteiligten zu vermitteln (BGHSt 1 4, 7). § 185 gilt nur für gerichtliche Verhandlungen; erfasst sind alle gerichtlichen Termine, an dem der sprachunkundige Beteiligte teilnahmeberechtigt ist und teilnimmt. Dazu gehören neben Hauptverhandlungen auch Haftbefehlsverkündungen und Haftprüfungen oder Vernehmungen durch beauftragte oder ersuchte Richter im In- und Ausland.8 Die Möglichkeit des Einsatzes von Videokonferenztechnik in diesen Fällen stellt eine Ausnahme vom Grundsatz der Anwesenheit eines Dolmetschers in (straf-)gerichtlichen Verhandlungen dar. Für das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren gilt § 185 nicht; Staatsanwaltschaft und die Polizei konnten einen Dolmetscher per Videokonferenz bereits nach der alten Rechtslage einschalten. 3. Ermessen Die Entscheidung, einen Dolmetscher per Videokonferenz in gerichtlichen Verhandlun- 5 gen zuzuschalten, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Der Zustimmung der Verfahrensbeteiligten bedarf es nicht.9 Maßgebliche Gesichtspunkte, die bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen sind, sind der ordnungsgemäße Ablauf der mündlichen Verhandlung, die Sicherheit der Datenübertragung und die prozessualen Rechte der Verfahrensbeteiligten. Da Dolmetscher für die gängigen Sprachen an den Gerichtsstandorten in der Regel in ausreichendem Maße verfügbar sind, dürften die Höhe der Reisekosten für Dolmetscher und der Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung bei der Ermessensentscheidung meist nicht besonders ins Gewicht fallen. Etwas anders kann sich aber bei Dolmetschern für seltene Sprachen ergeben, die weit entfernt vom Gerichtsstandort ihren Sitz haben. Zu berücksichtigen ist weiterhin, dass die audiovisuelle Übertragung lediglich eine zweidimensionale Betrachtung ohne Beziehungsebene vermittelt und die Interaktion mitunter defizitär bleibt. Die Tätigkeit des Dolmetschers beschränkt sich aber in der Regel nicht auf eine mechanische Übersetzungsleistung; sie spielt sich vielmehr in einem spezifischen kommunikativen und kulturellen Rahmen ab, der durch eine Videokonferenz in Einzelfällen nicht gewährleistet sein kann. Hinzu kommt bei der Zuschaltung eines Dolmetschers für den Angeklagten oder einen Nebenkläger in der strafgerichtlichen Hauptverhandlung, dass der Dolmetscher häufig auch eine vertrauliche Kommunikation zwischen dem Angeklagten und seinem Verteidiger oder zwischen dem Nebenkläger und seinem Vertreter entweder in der Verhandlung oder unmittelbar davor oder danach dolmetschen muss,10 ohne dass es hierdurch zu häufigen und längeren Unterbrechungen der Hauptverhandlung kommen sollte.11 Schließlich dürfte oftmals auch die Notwendigkeit, kurzfristig vorgelegte Schriftstücke übersetzen zu lassen, einem Verzicht auf die Anwesenheit eines (ggf. als Sachverständigen tätigen) Dolmetschers entgegenstehen. Bei der Entscheidung über die Gestattung der Zuziehung eines Dolmetschers per Video- 5a konferenz handelt es sich um eine prozessleitende Ermessensentscheidung, die vom Vorsit8 9
HW § 185, 4; Kissel/Mayer § 185, 2. Ein Änderungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Rechtsausschuss, der den Einsatz der Videokonferenztechnik bei Dolmetschern von der Zustimmung aller Verfahrensbeteiligten abhängig machen wollte, wurde im Rechtsausschuss abgelehnt; BTDrucks. 17 12418 S. 11 ff.
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Zum Anspruch des Angeklagten auf einen Dolmetscher für vertrauliche Gespräche mit dem Verteidiger gem. Art 6 Abs. 3 lit. c und e EMRK vgl. BGHSt 46 178 ff. BTDrucks. 17 12418 S. 14; s.a. Kranjcic NStZ 2011 657, 661.
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§ 187 GVG Nachtr.
Gerichtsverfassungsgesetz
zenden getroffen wird (a.A. Böttiger WzS 2013 263, 270). Ein Zeitpunkt, bis zu dem das Gericht die Gestattung spätestens aussprechen muss, ist im Gesetz nicht bestimmt. Sie kann auch während der Hauptverhandlung erteilt werden. In der Gestattung ist der andere Ort, wo sich der Dolmetscher während der Verhandlung aufhalten soll, konkret festzulegen. Anforderungen an diesen Ort sind im Gesetz nicht genannt. Es muss nur gewährleistet sein, dass von diesem Ort wechselseitig mit dem Ort der mündlichen Verhandlung eine gleichzeitige Bild- und Tonübertragung möglich ist. Dabei muss es sich nicht um einen Gerichtssaal oder einen Raum einer öffentlichen Behörde handeln. Zulässig ist eine Videokonferenz grundsätzlich auch aus privaten Räumen, wenn es sich um geeignete Übertragungsräume handelt. 4. „Opt-out“-Verordnungsermächtigung
6
Das VideokonfIntensG ist 1.11.2013 in Kraft getreten. Nach Art. 9 VideokonfIntensG können die Landesregierungen für ihren Bereich durch Rechtsverordnung aber bestimmen, dass die durch das Gesetz neu eingefügten oder geänderten Regelungen über Bildund Tonübertragungen in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren ganz oder teilweise bis längstens zum 31.12.2017 keine Anwendung finden (sogenannte „Optout“-Verordnungsermächtigung). Dadurch soll den Ländern die Möglichkeit eröffnet werden, das Inkrafttreten aller oder einzelner Vorschriften des VideokonfIntensG durch Rechtsverordnung zurückzustellen, um die erforderlichen technischen Voraussetzungen für den Einsatz der Videokonferenztechnik bis spätestens 31.12.2017 zu schaffen.12 Art. 9 Abs. 1 Satz 2 VideokonfIntensG gestattet den Landesregierungen, die Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf die Landesjustizverwaltungen zu übertragen.
§ 187 (1) 1Das Gericht zieht für den Beschuldigten oder Verurteilten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist oder der hör- oder sprachbehindert ist, einen Dolmetscher oder Übersetzer heran, soweit dies zur Ausübung seiner strafprozessualen Rechte erforderlich ist. 2Das Gericht weist den Beschuldigten in einer ihm verständlichen Sprache darauf hin, dass er insoweit für das gesamte Strafverfahren die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers beanspruchen kann. (2) 1Erforderlich zur Ausübung der strafprozessualen Rechte des Beschuldigten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, ist in der Regel die schriftliche Übersetzung von freiheitsentziehenden Anordnungen sowie von Anklageschriften, Strafbefehlen und nicht rechtskräftigen Urteilen. 2Eine auszugsweise schriftliche Übersetzung ist ausreichend, wenn hierdurch die strafprozessualen Rechte des Beschuldigten gewahrt werden. 3Die schriftliche Übersetzung ist dem Beschuldigten unverzüglich zur Verfügung zu stellen. 4An die Stelle der schriftlichen Übersetzung kann eine mündliche Übersetzung der Unterlagen oder eine mündliche Zusammenfassung des Inhalts der Unterlagen treten, wenn hierdurch die strafprozessualen Rechte des Beschuldigten gewahrt werden. 5Dies ist in der Regel dann anzunehmen, wenn der Beschuldigte einen Verteidiger hat. (3) 1Der Beschuldigte kann auf eine schriftliche Übersetzung nur wirksam verzichten, wenn er zuvor über sein Recht auf eine schriftliche Übersetzung nach den Absätzen 1 und 2 und über die Folgen eines Verzichts auf eine schriftliche Übersetzung belehrt worden ist. 2Die Belehrung nach Satz 1 und der Verzicht des Beschuldigten sind zu dokumentieren. 12
BTDrucks. 17 12418 S. 17.
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Fünfzehnter Titel. Gerichtssprache
Nachtr. § 187 GVG
(4) Absatz 1 gilt entsprechend für Personen, die nach § 395 der Strafprozessordnung berechtigt sind, sich der öffentlichen Klage mit der Nebenklage anzuschließen. Schrifttum Deutscher Neue Regelungen zum Opferschutz und zur Stärkung der Beschuldigtenrechte im Strafverfahren, StRR 2013 324; Eisenberg Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte Beschuldigter im Strafverfahren – Bedeutung und Unzuträglichkeiten, JR 2013 442; Esser Initiativen der Europäischen Union zur Harmonisierung der Beschuldigtenrechte, FS Wolter (2013) S. 1329; Gatzweiler Die neuen EU-Richtlinien zur Stärkung der Verfahrensrechte (Mindestmaß) des Beschuldigten oder Angeklagten in Strafsachen, StraFo 2011 293; Kotz Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen zur Überwindung von Sprachbarrieren im Strafverfahren, StRR 2012 124; Yalçin Das Stigma des Finanzierungsvorbehalts – Stärkung der Beschuldigtenrechte im Strafverfahren, ZRP 2013 104.
I. Änderungen im Überblick § 187 wurde geändert durch Artikel 1 Nummer 1 des am 6.7.2013 in Kraft getretenen 1 Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren (StVR StärkG) vom 2.7.2013 (BGBl. I S. 1938).1 Die Gesetzesänderung dient der Umsetzung sowohl der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.10. 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. L 280 v. 26.10.2010 S. 1), die der Schaffung von Mindeststandards im Bereich der Dolmetschung und Übersetzung in Strafverfahren dient, als auch der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.5.2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. L 142 v. 1.6.2012 S. 1). Die beiden Richtlinien sind die ersten beiden Rechtsakte auf dem Weg zu einheitlichen EU-weiten Mindestverfahrensrechten, wie sie der Rat in seiner Entschließung vom 30.11.2009 über einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten im Strafverfahren (ABl. C 295 vom 4.12.2009 S. 1) als Maßnahmen A und B vorgesehen hat.2 Die Richtlinie 2010/64/EU über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen 2 in Strafverfahren, deren Anwendungsbereich mit der förmlichen Inkenntnissetzung der beschuldigten Personen von dem Tatverdacht beginnt und bis zum Abschluss eines etwaigen Rechtsmittelverfahrens dauert (Artikel 1 Abs. 2), regelt in Artikel 2 das Recht des Beschuldigten oder Angeklagten auf Dolmetschleistungen. Artikel 3 stellt konkrete Verpflichtungen hinsichtlich der Übersetzung wesentlicher Unterlagen auf. Artikel 5 der Richtlinie dient der Sicherung der Qualität der Dolmetschleistung und Übersetzungen. In Artikel 7 werden Dokumentationspflichten festgelegt. Während das geltende Recht dem Beschuldigten oder Verurteilten in § 187 Abs. 1 bereits vor der Neuregelung einen umfassenden Anspruch auf unentgeltliche Übersetzungs- und Dolmetschleistungen in dem von der Richtlinie 2010/64/EU in Bezug genommenen Bereich des Strafverfahrens gewährte, fehlte bis auf eine Teilregelung im Fall der Festnahme (§ 114a StPO) eine ausdrückliche Normierung der schriftlichen Übersetzung von Anklageschriften, Strafbefehlen und Urteilen im geltenden Recht. Dieser Anspruch auf Übersetzung wird nunmehr in § 187 Abs. 2 inhaltlich konkretisiert. Dabei stellt der Gesetzgeber unter Berufung auf die Ausnahme1
Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 21.12.2012, BRDrucks. 816/12 = BTDrucks. 17 12578; Beschlussempfehlung des BTRAussch., BTDrucks. 17 13528; BTProt. 17/240 v. 16.5.2103.
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Gatzweiler StraFo 2011 293; Kotz StRR 2012 124; Yalçin ZRP 2013 104; Esser FS Wolter 1329, 1337.
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tatbestände des Artikels 3 Abs. 7 der Richtlinie 2010/64/EU eine Einschränkung der generellen Übersetzungspflicht vor allem in Fällen des verteidigten Angeklagten in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts. § 187 Abs. 3 regelt in Umsetzung von Artikel 3 Abs. 8 der Richtlinie 2010/64/EU die zuvor nicht normierten Voraussetzungen, unter denen die berechtigte Person auf entsprechende Übersetzungsleistungen verzichten kann. Zur Klarstellung des grundlegenden Anspruchs auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen auch bei staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Vernehmungen, wie er bereits aus Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK folgt, wurden die für das gerichtliche Handeln maßgeblichen Vorschriften des § 187 Abs. 1 bis 3 in die Verweisungsnorm des § 163a StPO aufgenommen. Die in Artikel 5 Abs. 3 der Richtlinie 2010/64/EU geregelte Verpflichtung zur Verschwiegenheit aller von Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten herangezogener Dolmetscher und Übersetzer findet sich im deutschen Recht nunmehr in der Ordnungsvorschrift des § 189 Abs. 4, wonach alle als Dolmetscher und Übersetzer hinzugezogenen Personen, die nicht bereits zur Verschwiegenheit verpflichtet sind, Verschwiegenheit bewahren sollen und hierauf auch vom Gericht hingewiesen werden. Den von der Richtlinie geforderten Dokumentationspflichten wird im Bereich richterlicher Vernehmungen bereits durch die Protokollierungspflicht der §§ 168, 168a StPO und im Bereich staatsanwaltlicher Vernehmungen durch die Protokollierungspflicht des § 168b StPO entsprochen. Um die in der Praxis bei polizeilichen Vernehmungen bereits übliche Dokumentation auch gesetzlich zu regeln, wurden in § 168b Abs. 1 StPO die Wörter „staatsanwaltschaftliche Untersuchungshandlungen“ durch die Wörter „der Untersuchungshandlungen der Ermittlungsbehörden“ ersetzt. Die Richtlinie 2012/13/EU über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Straf3 verfahren legt für den Zeitraum ab förmlicher Mitteilung der Beschuldigung bis zum Abschluss des Rechtsmittelverfahrens umfangreiche Belehrungspflichten im Umgang mit beschuldigten Personen fest. Während das deutsche Verfahrensrecht bereits eine Vielzahl der auch in der Richlinie 2012/13/EU enthaltenen Belehrungspflichten vorsieht, ist die in Artikel 3 Abs. 1 Buchstabe d der Richtlinie vorgesehene Belehrung über das Recht auf Dolmetschleistungen bislang nicht ausdrücklich normiert. Eine entsprechende Verpflichtung zur Belehrung ist nunmehr in § 187 Abs. 1 Satz 2 geregelt.
II. Die Neuregelung im Einzelnen 1. Zuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers (Absatz 1 Satz 1)
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§ 187 Abs. 1 Satz 1 entspricht bis auf eine geringfügige sprachliche Änderung der alten Fassung. Er gibt dem Beschuldigten oder Verurteilten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist oder der hör- oder sprachbehindert ist, nach den Vorgaben von Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK3 sowie der Rechtsprechung des BVerfG4 und des BGH5 einen umfassenden Anspruch auf unentgeltliche Beiordnung eines Dolmetschers oder Übersetzers, soweit dies zur Ausübung seiner strafprozessualen Rechte erforderlich ist.6 § 187 gilt für das Ermittlungs- und Strafverfahren und ergänzt die Regelung des § 185, indem sie das Recht auf Zuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers auch auf prozessuale Vorgänge außerhalb gerichtlicher Verhandlungen erstreckt.7 Dies betrifft insbesondere die 3
4 5
Vgl. EGMR NJW 1979 1091; SK/Paeffgen Art. 6, 169 ff. EMRK; Graf/Valerius Art. 6, 53 ff. EMRK. BVerfG NJW 2004 50, 51. BGHSt 46 178, 183.
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Vgl. OLG Celle NStZ 2011 718; HW § 187, 2; Meyer-Goßner § 187, 1; Kissel/Mayer § 187, 4; SK/Frister § 187, 2 ff. BTDrucks. 17 12578 S. 10; OLG Celle NStZ 2011 718; Kissel/Mayer § 187, 1.
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Kommunikation mit dem Verteidiger in jeder Verfahrenslage unabhängig davon, ob die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig ist,8 die Abgabe verfahrensrelevanter schriftlicher und mündlicher Erklärungen außerhalb mündlicher Verhandlungen, den Schriftverkehr mit dem Gericht und die Übersetzung von schriftlichem Beweismaterial. Der Anspruch besteht vom Zeitpunkt der Begründung der Beschuldigteneigenschaft bis zum Abschluss eines etwaigen Rechtsmittelverfahrens. § 163a Abs. 5 StPO stellt durch den Verweis auf § 187 Abs. 1 Satz 1 klar, dass dem sprachunkundigen bzw. hör- oder sprachbehinderten Beschuldigten die Unterstützung durch einen Dolmetscher bzw. Übersetzer auch bei sämtlichen nichtrichterlichen Vernehmungen zur Verfügung steht. Über § 46 OWiG gilt die Norm grundsätzlich auch im Bußgeldverfahren. In Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls findet der Anspruch auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen über § 77 IRG Anwendung, was „im Einzelfall“ über die Übersetzung des Europäischen Haftbefehls hinaus zu einer Übersetzungspflicht weiterer Verfahrensakte im Auslieferungsverfahren führen kann (BTDrucks. 17 12578 S. 10). Die Kosten der Übersetzung von Telefonüberwachungsprotokollen sind keine Kosten, von denen ein fremdsprachiger Angeklagter freizustellen ist (OLG Düsseldorf BeckRS 2013 11935). Das Recht auf unentgeltliche Dolmetsch- und Übersetzungsleistung auch außerhalb 5 der gerichtlichen Verhandlungen ist begrenzt auf das zur Wahrnehmung der strafprozessualen Rechte des Beschuldigten erforderliche Maß. Die Bestimmung von Art und Umfang der zur Wahrnehmung der strafprozessualen Rechte des Beschuldigten als erforderlich anzunehmenden Dolmetscher- und Übersetzungsleistung obliegt dem für die Beiordnung zuständigen Gericht unter besonderer Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls.9 Erforderlichenfalls ist der Beschuldigte vor der Entscheidung einzubeziehen und sind dessen Sprachkenntnisse zu ermitteln. Die Bestellung eines Dolmetschers oder Übersetzers hat von Amts wegen zu erfolgen; eines förmlichen Antrags des Beschuldigten oder Verurteilten bedarf es nicht. Gleichwohl kann er eine Beiordnung beantragen. Im Ermittlungsverfahren ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, einen entsprechenden Antrag zu stellen, wenn sie die Voraussetzungen von Absatz 1 Satz 1 bejaht. Wegen der Einzelheiten hinsichtlich der Feststellung der Sprachunkundigkeit, des Umfangs des Anspruchs und des Verfahrens der Bestellung wird auf die Kommentierung zu § 187 HW verwiesen. 2. Belehrung über das Recht auf Zuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers 6 (Absatz 1 Satz 2). § 187 Abs. 1 Satz 2 statuiert die Pflicht des Gerichts, die beschuldigte oder verurteilte Person, die der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig oder höroder sprachbehindert ist, auf ihr Recht hinzuweisen, Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen unentgeltlich für das gesamte Strafverfahren in Anspruch zu nehmen. Diese Verpflichtung wird aus dem Recht auf ein faires Verfahren abgeleitet.10 Jedem sprachunkundigen Beschuldigten soll insbesondere vor einer Vernehmung sein Recht auf unentgeltliche Zuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers ins Bewusstsein gerufen werden, damit er seine Rechte durch effektiven Einfluss auf Gang und Ergebnis des Strafverfahrens wahrnehmen kann.11 Damit wird die in Artikel 3 Abs. 1 Buchstabe d der Richtlinie 2012/13/EU vorgesehene Belehrungspflicht umgesetzt. 8
Vgl. BVerfG NJW 2004 50, 51; BGHSt 46 178, 183; OLG Celle NStZ 2011 718; OLG München StraFo 2008 88; zum Anspruch auf Zuziehung eines Dolmetschers für den Verkehr mit mehr als einem Verteidiger vgl. OLG Oldenburg NStZ 2011 719; OLG Karlsruhe StraFo 2009 527.
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Vgl. HW § 187, 7 ff.; SK/Frister § 187, 9. Vgl. BTDrucks. 17 12578 S.10. Vgl. BTDrucks. 17 12578 S. 10; Richtlinie 2012/13/EU Erwägungsgrund 19 und 25 und Dolmetscher-Richtlinie 2010/64/EU.
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Adressat der Belehrungspflicht nach § 187 Abs. 1 Satz 2 ist das Gericht. Die Belehrungspflicht gilt deshalb zunächst bei richterlichen Untersuchungshandlungen. Wird der Beschuldigte aufgrund eines Haft- oder Unterbringungsbefehls festgenommen, vorläufig festgenommen oder zum Zwecke der Identitätsfeststellung festgehalten, ergibt sich eine entsprechende Belehrungspflicht für Polizeibeamte und die Staatsanwaltschaft aus §§ 114b Abs. 2 Satz 3, 126a Abs. 2 Satz 1, 127 Abs. 4, 127b Abs. 1 Satz 2, 163c Abs. 1 Satz 3, 453c Abs. 2 Satz 2 StPO. Die Verweisung in § 163a Abs. 5 StPO auf § 187 Abs. 1 Satz 2 GVG stellt klar, dass der Beschuldigte auch bei einer staatsanwaltlichen oder polizeilichen Vernehmung über sein Recht, während des Ermittlungsverfahrens einen Dolmetscher oder Übersetzer zu beanspruchen, informiert werden muss. Dies gilt gemäß § 404 AO auch für Vernehmungen durch die Zollfahndungsämter und die mit der Steuerfahndung betrauten Dienststellen der Landesfinanzbehörden im Strafverfahren wegen Steuerstraftaten. In Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gilt die Belehrungspflicht gem. § 77 IRG. Eine Belehrungspflicht bei sonstigen offenen Ermittlungsmaßnahmen der Polizei oder der Staatsanwaltschaft gegenüber sprachunkundigen Beschuldigten (Durchsuchungen, Beschlagnahmen, körperliche Untersuchungen usw.) sieht das Gesetz nicht vor. Die Belehrung kann mündlich oder schriftlich erfolgen (vgl. Art. 3 Abs. 2 Richtlinie 8 2012/13/EU) und ist in einfacher und verständlicher Sprache zu erteilen. Etwaige besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Beschuldigter sollen berücksichtigt werden. Die Belehrung sollte klarmachen, dass die Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers nur für verfahrensbezogene Gespräche oder Übersetzungen, etwa für Vernehmungen oder Informationsgespräche mit dem Verteidiger verlangt werden kann. Während Artikel 3 Abs. 1 Richtlinie 2012/13/EU eine „umgehende“ Belehrung vorschreibt, sieht § 187 Abs. 1 Satz 2 keine zeitlichen Grenzen für die Belehrung vor. Als Ausfluss des Rechts des Beschuldigten auf ein faires Verfahren ist die Belehrung jedoch so rechtzeitig vorzunehmen, dass der Beschuldigte sich gegen die ihn erhobenen Vorwürfe effektiv verteidigen kann. Deshalb sollte die Belehrung spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung des Beschuldigten durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde erfolgen.12 Soweit Artikel 8 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU eine Dokumentationspflicht auch über die Belehrung über das Recht auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen statuiert, hat der Gesetzgeber eine ausdrückliche Umsetzung für richterliche Untersuchungshandlungen nicht für erforderlich erachtet, weil nach § 168 Satz 1 StPO über jede richterliche Untersuchungshandlung ein Protokoll anzufertigen ist, das die in § 168a StPO näher spezifizierten wesentlichen Förmlichkeiten aufzuführen hat. Dazu zählt auch die Belehrung nach § 187 Abs. 1 Satz 2.13 Entsprechendes gilt nunmehr auch für staatsanwaltschaftliche und polizeiliche Vernehmungen des Beschuldigten (vgl. § 168b StPO). 3. Übersetzung von schriftlichen Unterlagen (Absatz 2)
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§ 187 Abs. 2 konkretisiert den Anspruch des Beschuldigten auf Übersetzung von schriftlichen Unterlagen während des Ermittlungs- und Strafverfahrens gem. Artikel 3 der Richtlinie 2010/64/EU. Zuvor gab es nur für die schriftliche Übersetzung des Haftbefehls und anderer freiheitsentziehender Maßnahmen gem. § 114a Abs. 1 StPO inhaltliche Regelungen zur Übersetzung von schriftlichen Unterlagen. Nummer 181 Abs. 2 RiStBV, wonach Ladungen, Haftbefehle, Strafbefehle, Anklageschriften und sonstige gerichtliche Sachentscheidungen mit einer Übersetzung bekanntzugeben sind, kann als Verwaltungs12
In diesem Sinne auch Richtlinie 2012/13/EU Erwägungsgrund 19.
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Vgl. BTDrucks. 17 12578 S. 8.
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vorschrift weder die Rechtsprechung der Gerichte binden noch Verfahrensrechte des Beschuldigen selbstständig begründen. Nach Artikel 3 Abs. 1 der Richtlinie 2010/64/EU hat der nationale Gesetzgeber 10 sicherzustellen, dass beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht verstehen, innerhalb einer angemessenen Frist eine schriftliche Übersetzung aller Unterlagen erhalten, die wesentlich sind, um ein faires Verfahren und die Wahrnehmung der Verteidigungsrechte zu gewährleisten. Zu den wesentlichen Unterlagen zählt Artikel 3 Abs. 2 der Richtlinie jegliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil. Ob weitere Unterlagen wesentlich sind, haben die zuständigen Behörden im konkreten Fall zu entscheiden (Artikel 3 Abs. 3 der Richtlinie). Nach Artikel 3 Abs. 4 der Richtlinie ist es nicht erforderlich, Passagen wesentlicher Dokumente, die nicht dafür maßgeblich sind, dass die beschuldigten Personen wissen, was ihnen zur Last gelegt wird, zu übersetzen. Als weitere Einschränkung erlaubt Artikel 3 Abs. 7 der Richtlinie eine mündliche Übersetzung oder mündliche Zusammenfassung der wesentlichen Unterlagen anstelle einer schriftlichen Übersetzung, sofern eine solche mündliche Übersetzung oder mündliche Zusammenfassung einem fairen Verfahren nicht entgegensteht. In Umsetzung dieser Vorgaben hat der Gesetzgeber unter Berücksichtigung der Recht- 11 sprechungspraxis in Deutschland in § 187 Abs. 2 ein abgestuftes System der zu übersetzenden Unterlagen vorgesehen, das insbesondere für den verteidigten Beschuldigen eine Ausnahme von der Übersetzungspflicht vorsieht. Damit wollte der Gesetzgeber die Übersetzungsvorgabe praxisgerecht ausgestalten und die Praxis nicht mit einer starren und mit erheblichen Kosten verbundenen umfassenden Übersetzungspflicht belasten. Außerdem sollte mit der differenzierenden Regelung dem Beschleunigungsgrundsatz Rechnung getragen werden, indem die mitunter zeitaufwändige Übersetzung auf Fälle beschränkt wird, in denen eine vollständige schriftliche Übersetzung zur Wahrung der Verteidigungsrechte tatsächlich erforderlich ist.14 Absatz 2 Satz 1 knüpft an Absatz 1 Satz 1 an, wonach eine Übersetzung nur dann zu 12 erfolgen hat, wenn sie zur Ausübung der prozessualen Rechte des Beschuldigten erforderlich ist. Die Entscheidung über Art und Umfang der Übersetzung im Einzelfall obliegt dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts.15 Sie hat sich danach auszurichten, ob entsprechend der in Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK geregelten Gewährleistung der sprachunkundige Beschuldigte auf die Übersetzung der Schriftstücke angewiesen ist, um ein faires Verfahren zu haben.16 Nach Absatz 2 Satz 1 ist dabei „in der Regel“ davon auszugehen, dass die vollständige schriftliche Übersetzung von freiheitsentziehenden Anordnungen sowie von Anklageschriften, Strafbefehlen und nicht rechtskräftigen Urteilen zur Ausübung der strafprozessualen Rechte des sprachunkundigen Beschuldigten erforderlich ist. Die schriftliche Übersetzung des Haftbefehls und anderer freiheitsentziehender Maßnahmen und deren sofortige Aushändigung sieht bereits § 114a Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 126a Abs. 2; § 127 Abs. 4; § 127b Abs. 1 Satz 2; § 163c Abs. 1 Satz 3 und § 453c Abs. 2 StPO vor, die als speziellere Regelungen dem § 187 Abs. 2 Satz 1 vorgehen. Hinsichtlich der Anklageschrift hat die Rechtsprechung schon vor der Neuregelung eine Verpflichtung aus Art. 6 Abs. 3 lit. a) EMRK abgeleitet, diese mit einer Übersetzung bekanntzugeben.17 Die 14
BTDrucks. 17 12578 S. 12; krit. Yalçin ZRP 2013 104, 106, der die Regelung für richtlinienwidrig hält, weil das Regel-Ausnahmeprinzip durchbrochen werde; Eisenberg JR 2013 442, 445.
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BTDrucks. 17 12578 S. 11. Vgl. EGMR NJW 1979 1091 Nr. 48; EGMR-E 4 450 ff. Vgl. nur BVerfGE 64 135 = NJW 1983 2762, 2763; OLG Düsseldorf StV 2010 512;
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grundsätzliche Pflicht zur Übersetzung des Urteils meint das schriftliche Urteil einschließlich der Urteilsgründe i.S.v. § 275 Abs. 1 StPO und nicht die im Rahmen der Verkündung des Urteils gem. § 268 Abs. 2 StPO dargelegten Ausführungen des Gerichts, auch wenn die bereits vorher abgefassten Urteilsgründe verlesen werden.18 Der sprachunkundige Angeklagte soll nicht durch Übergabe einer übersetzten Fassung der Urteilsgründe am Ende der Hauptverhandlung besser gestellt werden als ein der deutschen Sprache mächtiger Angeklagter, der die schriftlichen Urteilsgründe erst zu einem späteren Zeitpunkt erhält. Die schriftliche Übersetzung eines Urteils ist dann nicht erforderlich, wenn kein Rechtsmittel dagegen eingelegt wurde. Entscheidungen im Vollstreckungsverfahren werden von § 187 Abs. 2 Satz 1 im Hinblick auf den eingeschränkten Anwendungsbereich der Richtlinie 2010/64 und von Art. 6 EMRK nicht erfasst.18a Da die Aufzählung in Satz 1 nicht abschließend ist, kann im Einzelfall die schriftliche Übersetzung weiterer Unterlagen erforderlich sein, damit der Beschuldigte imstande ist, seine Verteidigungsrechte wahrzunehmen. In Betracht kommen etwa Strafanzeigen, Ladungen oder Rechtsmittel- und Rechtsbehelfsbelehrungen.19 Für den Bereich staatsanwaltlicher und polizeilicher Vernehmungen stellt § 163a Abs. 5 StPO durch die Bezugnahme auf die den Umfang einer notwendigen Übersetzung konkretisierende Vorschrift in § 187 Abs. 2 klar, dass es auch insoweit zur Wahrung der Verteidigungsrechte des Beschuldigten erforderlich sein kann, bestimmte Unterlagen zu übersetzen, etwa wenn dem Beschuldigten der Inhalt bestimmter Schriftstücke oder Urkunden vorgehalten werden soll.20 § 187 Abs. 2 Satz 2 gestattet die auszugsweise schriftliche Übersetzung, wenn hier13 durch die strafprozessualen Rechte des Angeklagten gewahrt werden. Eine nur teilweise Übersetzung kann etwa in Betracht kommen, wenn das Urteil nur teilweise mit einem Rechtsmittel angegriffen wird oder es mehrere Angeklagte betrifft und die nicht übersetzten Teile für die Verteidigung nicht wichtig sind. Eine lediglich mündliche Übersetzung oder eine mündliche Zusammenfassung des 14 wesentlichen Inhalts der Unterlagen reicht nach Maßgabe der Sätze 4 und 5 dann aus, wenn hierdurch die strafprozessualen Rechte des Beschuldigten gewahrt werden. Als Regelbeispiel für die fehlende Notwendigkeit einer schriftlichen Übersetzung nennt Satz 5 den Fall des verteidigten Angeklagten. Diese Regelung entspricht der Rechtsprechung des BVerfG, wonach eine gesonderte schriftliche Übersetzung des Urteils nicht grundsätzlich notwendig ist, wenn die Urteilsformel und die mündlichen Urteilsgründe in der Hauptverhandlung von einem Dolmetscher übersetzt wurden und dem Angeklagten ein Verteidiger zur Seite steht.21 Von der schriftlichen Übersetzung des Urteils kann unabhängig davon abgesehen werden, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung i.S.v. § 140 StPO vorliegt oder ob der Angeklagte auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des § 140 StPO einen Wahlverteidiger beauftragt hat.22 Einer effektiven Verteidigung des Angeklagten auch in der Rechtsmittelinstanz wird regelmäßig dadurch ausreichend Rechnung getragen, dass der für die Rechtsmitteleinlegung verantwortliche Rechtsanwalt das schriftliche Urteil kennt und dem Angeklagten für die Gespräche mit seinem Verteidiger etwa zur Begründung des Rechtsmittels ein Dolmetscher zur Verfügung steht, der das
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OLG Karlsruhe StV 2005 655; KG StV 1994 90. BTDrucks. 17 12578. OLG Köln BeckRS 2013 17037. Vgl. für Ladungen mit Belehrung über die Folgen eines unentschuldigten Ausbleibens LG Heilbronn StV 2011 91; einschränkend OLG Nürnberg NStZ-RR 2010 286.
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BTDrucks. 17 12578 16 f. BVerfGE 64 135; vgl. auch EGMR-E 4 450; a.A. Yalçin ZRP 2013 104, 106; Eisenberg JR 2013 442, 445. BTDrucks. 17 12578 S. 12.
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schriftliche Urteil ganz oder teilweise übersetzen kann.23 Etwas anderes kann sich ergeben, wenn der Angeklagte – etwa aufgrund eigener Fachkundigkeit – ein berechtigtes Interesse hat, das Urteil in einer ihm verständlichen Sprache selbst zu lesen. In einem solchen Fall kann die Regelwirkung des Absatz 2 Satz 5 entfallen und ist das Urteil ganz oder teilweise schriftlich zu übersetzen. Die Neuregelung zur Urteilsübersetzung gilt auch für die ein Bußgeldverfahren ohne Hauptverhandlung beendenden Beschlüsse nach § 72 OWiG. Da die Entscheidung hier aber in Abwesenheit des Beschuldigten ergeht, ist sie in der Regel vollständig zu übersetzen. Nach § 187 Abs. 2 Satz 3 ist die vollständige oder auszugsweise schriftliche Überset- 15 zung dem Beschuldigten unverzüglich, d.h. ohne unnötige Verzögerung, zur Verfügung zu stellen. Ist das Urteil zu übersetzen, ist das Urteil zusammen mit der Übersetzung zuzustellen (§ 37 Abs. 3 StPO). Im Falle der Verhaftung ist eine Übersetzung des Haftbefehls gem. § 114a StPO grundsätzlich bei der Verhaftung auszuhändigen. Ist dies nicht möglich, ist die Aushändigung der Übersetzung unverzüglich nachzuholen. 4. Verzicht auf schriftliche Übersetzung (Absatz 3) Absatz 3 regelt in Umsetzung von Artikel 3 Abs. 8 der Richtlinie 2010/64/EU die 16 Voraussetzungen eines Verzichts auf eine schriftliche Übersetzung. Ein Absehen auch von der mündlichen Übertragung verfahrenswichtiger Schriftstücke nach Verzicht des Beschuldigten sieht die Regelung nicht vor. Voraussetzung eines wirksamen Verzichts auf eine schriftliche Übersetzung ist die vorherige Belehrung des Beschuldigten über sein Recht auf eine schriftliche Übersetzung nach den Absätzen 1 und 2 und über die Folgen eines Verzichts. Die Belehrung muss der Beschuldigte vollständig verstanden haben. Sowohl die Belehrung als auch der Verzicht des Beschuldigten sind zu dokumentieren – während der Hauptverhandlung durch Aufnahme in das Protokoll gem. § 273 Abs. 1 StPO. 5. Nebenklageberechtigte (Absatz 4) § 187 Abs. 4 entspricht dem bisherigen § 187 Abs. 2. Der Verweis auf Absatz 1 Satz 1 17 stellt sicher, dass – wie bisher – auch für nebenklageberechtigte Personen ein Anspruch auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen während des gesamten Strafverfahrens, also bereits vor Erhebung der öffentlichen Klage und der Anschlusserklärung nach § 396 StPO besteht.24 Mit dem Verweis auf Absatz 1 Satz 2 wird der Opferschutz erweitert, indem eine ausdrückliche Hinweispflicht des Gerichts auch gegenüber dem Nebenklageberechtigten eingeführt wird.25 Die Regelung des Absatzes 2 zur Übersetzung von schriftlichen Unterlagen ist sinngemäß auf den Nebenklageberechtigten anzuwenden. Hier kann die anwaltliche Vertretung des Nebenklägers zu einer deutlichen Einschränkung des Übersetzungsanspruchs führen.
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BTDrucks. 17 12578; vgl. auch OLG Köln NStZ 2012 471; krit. SK/Frister § 187, 5. Zum Umfang der Dolmetscherhilfe vgl. OLG Hamburg NJW 2005 1135. Vgl. insoweit auch die Hinweispflicht gem. Art. 4 Buchstabe f der Richtlinie 2012/29/EU
des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI.
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§ 189 (1) … (2) … (3) … (4) 1Der Dolmetscher oder Übersetzer soll über Umstände, die ihm bei seiner Tätigkeit zur Kenntnis gelangen, Verschwiegenheit wahren. 2Hierauf weist ihn das Gericht hin.
Änderung. § 189 Abs. 4 wurde eingefügt durch Artikel 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren vom 2.7.2013 (BGBl. I S. 1938), das am 6.7.2013 in Kraft getreten ist. Die Ergänzung entspricht dem Gesetzentwurf der Bundesregierung1 in der Fassung der Beschlussempfehlung des Bundestagsrechtsausschusses.2 Die Gesetzesänderung dient der Umsetzung des Artikels 5 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.10.2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. L 280 v. 26.10.2010 S. 1), der Regelungen zur Sicherung der inhaltlichen Qualität der Dolmetschund Übersetzungsleistungen enthält. Nach Artikel 5 Abs. 3 der Richtlinie haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Dolmetscher und Übersetzer betreffend der Dolmetscherleistungen und Übersetzungen die Vertraulichkeit zu wahren haben. Diese Verpflichtung zur Verschwiegenheit findet sich zwar schon in den meisten Dolmetschergesetzen der Länder und – in der Form einer berufsrechtlichen Regel der Dolmetscher und Übersetzer – auch in § 5 der Berufs- und Ehrenordnung vom 12. Mai 1973. Um Artikel 5 Abs. 3 der Richtlinie 2010/64/EU vollständig, insbesondere auch in den Fällen der Heranziehung nicht berufsmäßig tätiger Dolmetscher, Rechnung zu tragen, enthält § 189 Abs. 4 zur Klarstellung eine entsprechende Verschwiegenheitspflicht für die als Dolmetscher oder Übersetzer herangezogenen Personen.3 Verschwiegenheitspflichten aufgrund anderer Rechtsvorschriften bleiben unberührt.4 Die generelle Belehrungspflicht des Gerichts nach Absatz 4 Satz 2 dient der Sicherstellung der Einheitlichkeit der Qualität der Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen.5 Dem Vorschlag des Bundesrats, die Neuregelung in dem nur für Strafverfahren gel2 tenden § 187 zu verorten,6 hat der Gesetzgeber nicht entsprochen, weil die Vorschrift über das strafgerichtliche Verfahren hinaus im Interesse der Verfahrensbeteiligten einheitlich für alle Verfahren der ordentlichen Gerichtsbarkeit gelten soll.7 Aufgrund der Verweisung in § 163a Abs. 5 StPO auf § 189 Abs. 4 wird sichergestellt, dass auch bei Vernehmungen durch die Polizei oder die Staatsanwaltschaft jede als Dolmetscher oder Übersetzer eingesetzte Person die Verschwiegenheit wahren soll und hierauf auch hingewiesen wird. Hinsichtlich des Zeitpunkts der Belehrung gelten die zur Ableistung des Dolmetscher3 eids gem. § 189 Abs. 1 in der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze entsprechend.8 Eine nochmalige Vereidigung gem. § 189 Abs. 1 nach dem Inkrafttreten des § 189 Abs. 4 – mit dem Hinweis nach § 189 Abs. 4 – ist nicht erforderlich.
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Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 21.12.2012, BRDrucks. 816/12 = BTDrucks. 17 12578. BTDrucks. 17 13528. BTDrucks. 17 12578 S. 14.
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BTDrucks. 17 13528 S. 4. BTDrucks. 17 13528 S. 4. Anlage 3 zu BTDrucks. 17 12578. BTDrucks. 17 13528 S. 4. Vgl. HW § 189, 3 f.; Kissel/Mayer § 189, 3 f.
Matthias Krauß
Fünfzehnter Titel. Gerichtssprache
Nachtr. § 191a GVG
Bei § 189 Abs. 4 handelt es sich um ein reine Ordnungsvorschrift.9 Mit ihr ist weder 4 die Einräumung einer Rechtsstellung als Berufsgeheimnisträger noch eines Zeugnisverweigerungsrechts verbunden.
§ 191a (1) 1Eine blinde oder sehbehinderte Person kann Schriftsätze und andere Dokumente in einer für sie wahrnehmbaren Form bei Gericht einreichen. 2Sie kann nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach Absatz 2 verlangen, dass ihr Schriftsätze und andere Dokumente eines gerichtlichen Verfahrens barrierefrei zugänglich gemacht werden. 3Ist der blinden oder sehbehinderten Person Akteneinsicht zu gewähren, kann sie verlangen, dass ihr die Akteneinsicht nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach Absatz 2 barrierefrei gewährt wird. 4Ein Anspruch im Sinne der Sätze 1 bis 3 steht auch einer blinden oder sehbehinderten Person zu, die von einer anderen Person mit der Wahrnehmung ihrer Rechte beauftragt oder hierfür bestellt worden ist. 5Auslagen für die barrierefreie Zugänglichmachung nach diesen Vorschriften werden nicht erhoben. (2) … (3) 1Elektronische Dokumente sind für blinde oder sehbehinderte Personen barrierefrei zu gestalten, soweit sie in Schriftzeichen wiedergegeben werden. 2Erfolgt die Übermittlung eines elektronischen Dokuments auf einem sicheren Übermittlungsweg, ist dieser barrierefrei auszugestalten. 3Sind elektronische Formulare eingeführt (§ 130c der Zivilprozessordnung, § 14a des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, § 46f des Arbeitsgerichtsgesetzes, § 65c des Sozialgerichtsgesetzes, § 55c der Verwaltungsgerichtsordnung, § 52c der Finanzgerichtsordnung), sind diese blinden oder sehbehinderten Personen barrierefrei zugänglich zu machen. 4Dabei sind die Standards von § 3 der Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung – BITV) vom 12. September 2011 (BGBl. I S. 1843) in der jeweils geltenden Fassung maßgebend. Schrifttum Meyer-Seitz Förderung des Elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten, AnwBl 2013 89; Weller/Serbu Der elektronische Rechtsverkehr mit den Gerichten rückt näher, DRiZ 2013 290.
I. Änderungen Durch Art. 19 des Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den 1 Gerichten vom 10.10.2013 (BGBl. I S. 3786) wurde § 191a in Absatz 1 geändert und Absatz 3 eingefügt.1 Die Änderung von Absatz 1 entspricht dem Gesetzentwurf der Bundesregierung,2 die Einfügung von Absatz 3 geht auf die Beschlussempfehlung des Bun9
BTDrucks. 17 12578 S. 14.
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Das Gesetz wurde am 13.6.2013 in zweiter und dritter Lesung im Bundestag verabschiedet (BTPlenarprotokoll 17 246 S. 31452C– 31454B). Der Bundesrat hat am 5.7.2013
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beschlossen, den Vermittlungsausschuss nicht anzurufen (BRPlenarprotokoll 912 vom 5.7.2013 S. 401C). Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 21.12.2012, BRDrucks. 818/12 = BTDrucks. 17 12634.
Matthias Krauß
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§ 191a GVG Nachtr.
Gerichtsverfassungsgesetz
destagsrechtsausschusses zurück.3 § 191a Abs. 1 und Abs. 3 Sätze 3 und 4 treten am 1.7.2014 in Kraft; § 191a Abs. 3 Sätze 1 und 2 treten am 1.1.2018 in Kraft (Art. 26 Abs. 1, 4 des Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten).
II. Barrierefreier Zugang (Absatz 1) 2
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Die Änderungen von Absatz 1 passen die Vorschriften über die Barrierefreiheit von Dokumenten für blinde oder sehbehinderte Personen im Zusammenhang mit gerichtlichen Verfahren den Erfordernissen der UN-Behindertenrechtskonvention an und harmonisieren die Begrifflichkeiten mit dieser Konvention.4 Die UN-Behindertenrechtskonvention ist für die Bundesrepublik Deutschland am 26.3.2009 in Kraft getreten. Am 15.6.2011 hat die Bundesregierung den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention beschlossen und sich mit einem umfangreichen Maßnahmenpaket explizit zur Barrierefreiheit bekannt. Durch Satz 1, der bestimmt, dass eine blinde oder sehbehinderte Person Dokumente in einer für sie wahrnehmbaren Form bei Gericht einreichen kann, wird der Anwendungsbereich des § 191a erweitert und den Erfordernissen der Barrierefreiheit für behinderte Menschen Rechnung getragen. Als barrierefrei sind hierbei solche Kommunikationseinrichtungen und -wege anzusehen, die für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind (vgl. § 4 des Behindertengleichstellungsgesetzes [BGG]). Damit können blinde oder sehbehinderte Personen Verfahrenshandlungen gegenüber dem Gericht, z.B. die Klageschrift und weitere bestimmende Schriftsätze wie Beweisantritte und Anträge, in einer Form einreichen, die für die blinde oder sehbehinderte Person wahrnehmbar ist.5 Satz 2 knüpft an § 191a Abs. 1 Satz 1 a.F. an und bestimmt darüber hinaus, dass die blinde oder sehbehinderte Person im laufenden Verfahren in gleicher Weise wie eine nicht blinde oder sehbehinderte Person Anspruch auf Einsichtnahme in alle für das laufende Verfahren relevanten Unterlagen hat. Die weiteren Einzelheiten des Zugangs blinder oder sehbehinderter Personen regelt bereits nach geltendem Recht die Zugänglichmachungsverordnung (ZMV) vom 26.2.2007 (BGBl. I S. 125). § 3 Abs. 3 ZMV umfasst hierbei ausdrücklich die Möglichkeit der elektronischen Zugänglichkeitsmachung. Näheres zu den technischen Anforderungen bestimmt die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung vom 12.9.2011 (BGBl. I 1843). Diese Regelungen finden unverändert auch künftig in allen Gerichtsverfahren Anwendung.6 Der Anspruch gilt nicht nur gegenüber den Gerichten, sondern auch gegenüber der Staatsanwaltschaft im Ermittlungs- und Vollstreckungsverfahren. Nach Satz 3 besteht der Anspruch auf barrierefreien Zugang für die blinde oder sehbehinderte Person auch, soweit in der Sache ein Anspruch auf Einsichtnahme in die Akten gegeben ist. Dies gilt auch für den Akteneinsichtsanspruch nach Abschluss des Verfahrens.7 Entsprechend dem Grundsatz der Barrierefreiheit gem. § 4 BGG hat nach Satz 4 auch die von einer Person mit der Wahrnehmung ihrer Rechte beauftragte oder hierfür be-
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BTDrucks. 17 13948. BTDrucks. 17 12634 S. 40. BTDrucks. 17 12634 S. 40.
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BTDrucks. 17 12634 S. 22. BTDrucks. 17 12634 S. 40.
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Fünfzehnter Titel. Gerichtssprache
Nachtr. § 191a GVG
stellte blinde oder sehbehinderte Person einen eigenständigen Anspruch auf die Zugänglichmachung von Dokumenten in einer für sie wahrnehmbaren Form. Erfasst sind alle blinden oder sehbehinderten Bevollmächtigten oder Verteidiger, insbesondere Rechtsanwälte und Strafverteidiger, des Weiteren auch Rechtsbeistände sowie andere Personen, die Dienstleistungen gemäß den §§ 6 ff. Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) oder den §§ 10 ff. RDG erbringen.8 Satz 5 entspricht inhaltlich dem § 191a Abs. 1 Satz 2 a.F. und bestimmt, dass Aus- 7 lagen für die barrierefreie Zugänglichmachung von der blinden oder sehbehinderten Person nicht erhoben werden.
III. Barrierefreiheit bei der elektronischen Kommunikation (Absatz 3) Der neu eingefügte Absatz 3 dient der Gewährleistung der verfahrensübergreifenden 8 Barrierefreiheit bei der elektronischen Kommunikation mit dem Gericht. Damit wird der Vorgabe der von Deutschland ratizifierten UN-Behindertenkonvention (UN-BRK) entsprochen, angemessene Vorkehrungen zu treffen, um die Zugänglichkeit von Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen für Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten (Art. 9 i.V.m. Art. 2 UN-BRK). Der in Satz 1 unabhängig von der individuellen Geltendmachung begründete Anspruch für blinde oder sehbehinderte Personen auf barrierefrei zu gestaltende elektronische Dokumente umfasst Schriftsätze und gerichtliche Dokumente gem. §§ 130a, 130b ZPO. In den anderen Verfahrensordnungen kommen diese Vorschriften durch Verweisungen oder entsprechende Regelungen zur Anwendung. Entsprechend den technischen Möglichkeiten bei der automatischen Erfassung elektronischer Dokumente sind Inhalte von Dokumenten, die nicht in Schriftzeichen wiedergegeben werden, etwa durch bildliche oder grafische Darstellungen, wie beispielsweise Bilder oder Skizzen, von dem Anspruch nicht erfasst. Grafiken, die Textelemente enthalten, stellen keine Schriftzeichen im Sinne der Vorschrift dar.9 Nach Satz 2 sind bei der Kommunikation mit dem Gericht alle sicheren Übermitt- 9 lungswege barrierefrei auszugestalten. Sichere Übermittlungswege im Sinne der Norm sind § 130a Abs. 4 ZPO, § 46a Abs. 4 ArbGG, § 65a Abs. 4 SGG, § 55a Abs. 4 VwGO, § 52a Abs. 4 FGO. Soweit zukünftig aufgrund Rechtsverordnung des Bundesministeriums der Justiz elek- 10 tronische Formulare eingeführt werden (vgl. § 130c ZPO, § 14a FamFG, § 46f ArbGG, § 65c SGG, § 55c VwGO, § 52c FGO), sind diese barrierefrei zugänglich zu machen (Satz 3). Mit der Verweisung auf die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV) vom 12.9.2011 (BGBl. I S. 1843) in der jeweils geltenden Fassung wird bestimmt, welche technischen Kriterien einzuhalten sind, damit das jeweilige Angebot als barrierefrei gilt. § 3 BITV regelt dabei in Anlage 1 (Teil 1) im Detail die aktuellen technischen Standards, die einzuhalten sind.
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BTDrucks. 17 12634 S. 40.
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BTDrucks. 17 13948 S. 55.
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SIEBZEHNTER TITEL Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren § 198 (1) 1Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt. 2Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. (2) 1Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. 2Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß Absatz 4 ausreichend ist. 3Die Entschädigung gemäß Satz 2 beträgt 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung. 4Ist der Betrag gemäß Satz 3 nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen. (3) 1Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter nur, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge). 2Die Verzögerungsrüge kann erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird; eine Wiederholung der Verzögerungsrüge ist frühestens nach sechs Monaten möglich, außer wenn ausnahmsweise eine kürzere Frist geboten ist. 3Kommt es für die Verfahrensförderung auf Umstände an, die noch nicht in das Verfahren eingeführt worden sind, muss die Rüge hierauf hinweisen. 4Anderenfalls werden sie von dem Gericht, das über die Entschädigung zu entscheiden hat (Entschädigungsgericht), bei der Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer nicht berücksichtigt. 5Verzögert sich das Verfahren bei einem anderen Gericht weiter, bedarf es einer erneuten Verzögerungsrüge. (4) 1Wiedergutmachung auf andere Weise ist insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. 2Die Feststellung setzt keinen Antrag voraus. 3Sie kann in schwerwiegenden Fällen neben der Entschädigung ausgesprochen werden, ebenso kann sie ausgesprochen werden, wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des Absatzes 3 nicht erfüllt sind. (5) 1Eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs nach Absatz 1 kann frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden. 2Die Klage muss spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens erhoben werden. 3Bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage ist der Anspruch nicht übertragbar. (6) Im Sinne dieser Vorschrift ist 1. ein Gerichtsverfahren jedes Verfahren von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss einschließlich eines Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und zur Bewilligung von Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe; ausgenommen ist das
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Siebzehnter Titel. Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren
Nachtr. § 198 GVG
Insolvenzverfahren nach dessen Eröffnung; im eröffneten Insolvenzverfahren gilt die Herbeiführung einer Entscheidung als Gerichtsverfahren; 2. ein Verfahrensbeteiligter jede Partei und jeder Beteiligte eines Gerichtsverfahrens mit Ausnahme der Verfassungsorgane, der Träger öffentlicher Verwaltung und sonstiger öffentlicher Stellen, soweit diese nicht in Wahrnehmung eines Selbstverwaltungsrechts an einem Verfahren beteiligt sind. Schrifttum Althammer Schmerzensgeld wegen überlanger Dauer von Zivilverfahren – Bemerkungen zum künftigen deutschen Entschädigungsmodell, JZ 2011 446; Althammer/Schäuble Effektiver Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer – Das neue Gesetz aus zivilrechtlicher Perspektive, NJW 2012 1; Bäcker Rechtsschutz gegen gerichtliche Verfahrensfehler als grundrechtliches Gebot, EuGRZ 2011 222; Böcker Neuer Rechtsschutz gegen die überlange Dauer finanzgerichtlicher Verfahren, DStR 2011 2173; Breitkreuz Effektiver Rechtsschutz zur Erlangung effektiven Rechtsschutzes, ASR 2012 2; Britz/Pfeifer Rechtsbehelf gegen unangemessene Verfahrensdauer im Verwaltungsprozeß – Rechtsschutzerfordernisse bei Verletzung von Prozeßgrundrechten nach der jüngsten Rechtsprechung von EGMR und BVerfG, DÖV 2004 245; Brockmöller/Weichbrodt Rechtsschutz bei überlanger Dauer gerichtlicher Verfahren, NdsVBl 2010 225; Brummund Das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, JA 2012 213; Burhoff Entschädigung für überlange Straf- und Bußgeldverfahren – die Neuregelungen im GVG, ZAP Fach 22, 591; Düwell Gesetzentwurf zum Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, FA 2010 202; Esser/Gaede/Tsambikakis Übersicht zur Rechtsprechung des EGMR in den Jahren 2008 bis Mitte 2010 – Teil II, NStZ 2011 140; Geipel Das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren aus zivilrechtlicher Sicht, ZAP Fach 13, 1767; Gercke/Heinisch Auswirkungen der Verzögerungsrüge auf das Strafverfahren, NStZ 2012 300; Gimbel Einführung einer allgemeinen Untätigkeitsbeschwerde im Strafprozess durch Gesetz, ZRP 2004 35; Graf Das neue Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren – Beschleunigungsimpuls für die Praxis oder neuer Anreiz für Verständigungen im Strafverfahren, NZWiSt 2012 121; Guckelberger Der neue staatshaftungsrechtliche Entschädigungsanspruch bei überlangen Gerichtsverfahren, DÖV 2012 289; Hagedorn Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Geburtshelfer eines Entschädigungsanspruchs bei überlanger Verfahrensdauer, SchlHA 2011 360; Heine Überlange Gerichtsverfahren – Die Entschädigungsklage nach § 198 GVG, MDR 2012 327; Huerkamp/Wielpütz Gerichtliche Untätigkeit – Aktuelle Probleme der Untätigkeitsverfassungsbeschwerde, JZ 2011 139; Jahn Stürmt Karlsruhe die Bastille? – Das Bundesverfassungsgericht und die überlange Untersuchungshaft, NJW 2006 652; Jakob Zulässigkeit und Zukunft der Untätigkeitsbeschwerde im Zivilprozess, ZZP 119 (2006) 303; Kämpfer Der neue Rechtsschutz bei überlangen Verfahren – Ein Vademecum für die schleswig-holsteinische Justiz, SchlHA 2011 389; Kemper Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz als „Frage der Zeit“, NJ 2003 393; Kettinger Ein Plädoyer gegen die „Beerdigung“ von außerordentlichen Rechtsbehelfen, DVBl 2006 1151; Kirchhof Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Verfahrensdauer und für die Rechtsmittel, FS Doehring, S. 439; Knauer Untersuchungshaft und Beschleunigungsgrundsatz, StraFo 2007 309; Köhler Rechtsschutz bei überlangen (sozial)gerichtlichen Verfahren, SdL 2010 179; Kotz Verzögerungsrüge als Fallbeil für die Untätigkeitsbeschwerde? StRR 2012 207; Krehl Das Gebot der Verfahrensbeschleunigung – zur Bedeutung von Verfahrensverzögerungen bei erfolgreichem Rechtsmittel und bei Einlegung einer Verfassungsbeschwerde, ZIS 2006 168; Krehl/Eidam Die überlange Dauer von Strafverfahren, NStZ 2006 1; Kroppenberg Rechtsschutz gegen den untätigen Zivilrichter, ZZP 119 (2006) 177; Lau Überlange Dauer eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, NVwZ 2010 358; Laue Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum strafrechtlichen Beschleunigungsgebot, Jura 2005 89; Link/van Dorp Überlange Gerichtsverfahren, AuA 2011 20; dies. Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren (2012); Mack/Wollweber Neues Gesetz zur Entschädigung bei überlangen Gerichts- und Steuerstrafverfahren, Stbg 2012 7; Magnus Das neue Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, ZZP 125 (2012) 75; Maier/Percic Aus der Rechtsprechung zur Verletzung des
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§ 198 GVG Nachtr.
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Beschleunigungsgebots aus Art. 6 I 1 EMRK 1. und 2. Teil, NStZ-RR 2009 297, 329; Mansdörfer Das Recht des Beschuldigten auf ein unverzögertes Ermittlungsverfahren, GA 2010 153; Marx/ Roderfeld Rechtsschutz bei überlangen Gerichts- und Ermittlungsverfahren (2013); Matusche-Beckmann/Kumpf Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren – nach langem Weg ins Ziel? ZZP 124 (2011) 173; Meyer-Ladewig Rechtsbehelfe gegen Verzögerungen im gerichtlichen Verfahren – zum Urteil des EGMR Kudla/Polen, NJW 2001 2679; ders. Dauer von Gerichtsverfahren in Deutschland als strukturelles Problem, NJW 2010 3358; Möhrenschlager Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, wistra 1/2012 IX; Ossenbühl Staatshaftung bei überlangen Gerichtsverfahren, DVBl 2012 857; Pieroth/Hartmann Das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot in Haftsachen, StV 2008 276; Remus Amtshaftung bei verzögerter Amtstätigkeit des Richters, NJW 2012 1403; Roller Der Gesetzentwurf eines Untätigkeitsbeschwerdegesetzes, DRiZ 2007 82; ders. Möglichkeiten des Gesetzgebers zu einer Beschleunigung gerichtlicher Verfahren, ZRP 2008 122; ders. Richterliche Möglichkeiten zur Beschleunigung des sozialgerichtlichen Verfahrens, SGb 2010 636; ders. Unangemessene Dauer von Gerichtsverfahren und richterliche Unabhängigkeit, DRiZ 2012 Beilage zu Heft 6; I. Roxin Die Entwicklung der Rechtsprechung zum überlangen Strafverfahren, FS Volk, S. 617 ff.; dies. Ambivalente Wirkungen des Beschleunigungsgebotes, GA 2010 426; Scheffer Der Anspruch auf ein zügiges Verfahren – Gedanken zur Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte Brandenburg und Sachsen, NJ 2010 265; Schenke Rechtsschutz bei überlanger Dauer verwaltunggerichtlicher Verfahren, NVwZ 2012 257; Schmahl Piloturteile des EGMR als Mittel der Verfahrensbeschleunigung, EuGRZ 2008 369; Scholz Rechtsschutz gegen überlange Gerichts- und Ermittlungsverfahren – Der neue Referentenentwurf des BMJ vom 15.03.2010, DRiZ 2010 182; ders. Rechtsschutz gegen überlange Verfahrensdauer, SGb 2012 19; Söhngen Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer in der Sozialgerichtsbarkeit, NZS 2012 493; Sommer Die Verzögerungsrüge: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ – Die neuen §§ 198–201 GVG i.d.F. des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, StV 2012 107; Steinbeiß-Winkelmann Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren – Zum neuen Gesetzentwurf der Bundesregierung, ZRP 2010 205; dies. Überlange Gerichtsverfahren – der Ruf nach dem Gesetzgeber, ZRP 2007 177; dies. Die Verfassungsbeschwerde als Untätigkeitsbeschwerde, NJW 2008 1783; Steinbeiß-Winkelmann/Ott Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren (2013); Tepperwien Beschleunigung über alles? Das Beschleunigungsgebot im Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren, NStZ 2009 1; Tiedemann Das neue Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, ArbRB 2011 382; Tiwisina Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer nach nationalem Recht und der EMRK (2010); Trurnit/ Schroth Das Beschleunigungsgebot und die Konsequenzen einer überlangen Verfahrensdauer im Strafprozess, StraFo 2005 358; Vorwerk Kudla gegen Polen – Was kommt danach? JZ 2004 553; Voßkuhle Bruch mit einem Dogma: Die Verfassung garantiert Rechtsschutz gegen den Richter, NJW 2003 2193; Wagner Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, FA 2012 70; Wenner Anspruch auf Entschädigung bei überlangen Gerichtsverfahren, SozSich 2012 32; Wittling-Vogel/Ulich Kriterien für die Bewertung der Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK, DRiZ 2008 87; Wolff Der Verzögerungsentschädigungsanspruch im öffentlichen Recht, VR 2012 289; Zimmer Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren – Auswirkungen auf die Insolvenzpraxis, ZInsO 2011 2302; Zimmermann Der neue Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, FamRZ 2011 1905; Zuck Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren vor dem BVerfG, NVwZ 2012 265; ders. Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes im Zivilprozess, NJW 2013 1132.
Entstehungsgeschichte.1 §§ 198–201 GVG wurden eingeführt durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜVerfBesG) vom 24.11.2011 (BGBl. I 2302), das am 3.12.2011 in Kraft getreten
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Zur Entstehungsgeschichte ausführlich Steinbeiß-Winkelmann/Ott Einführung 62 ff.
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Nachtr. § 198 GVG
ist. Damit hat der Gesetzgeber einen vorläufigen Schlusspunkt unter eine knapp zehnjährige Diskussion über die Verfahrensdauer vor deutschen Gerichten und dagegen statthafte Rechtsmittel gesetzt. Nach der Entscheidung des EGMR in der Sache Kudla gegen Polen vom 26.10.2000 (NJW 2001 2694), wonach bei Verletzung des Rechts auf gerichtliche Entscheidung in angemessener Verfahrensdauer ein wirksamer Rechtsbehelf im nationalen Recht verankert sein muss, hatte das Bundesministerium der Justiz geprüft, ob das damals geltende Prozessrecht diesen Anforderungen genügte und Stellungnahmen zum gesetzgeberischen Handlungsbedarf zum Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren bei den obersten Bundesgerichten im Geschäftsbereich des BMJ, dem Generalbundesanwalt, den Landesjustizverwaltungen, dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales und den Justizverbänden eingeholt.2 Nach der Plenarentscheidung des BVerfG zum Rechtsschutz bei Verletzung von Verfahrensgrundrechten vom 30.4.2003 (BVerfGE 107 395 ff.) legte das Bundesministerium der Justiz im August 2005 einen Referentenentwurf für ein Untätigkeitsbeschwerdegesetz vor, wonach ein spezieller präventiver Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren eingeführt werden sollte.3 Danach war vorgesehen, dass nach einer Beschwerde beim Ausgangsgericht bei Nicht-Abhilfe das nächsthöhere Gericht entscheiden und gegebenenfalls eine Beschleunigungsverpflichtung aussprechen soll. Obwohl der EGMR in der Sürmeli-Entscheidung vom 8.6.2006 (NJW 2006 2389) die in Deutschland vorhandenen Möglichkeiten zur Rüge einer überlangen Verfahrensdauer als unzureichend qualifiziert und das im Referentenentwurf des BMJ vorgesehene Modell des vorbeugenden Rechtsbehelfs gegenüber einer Entschädigungslösung als bessere Lösung bezeichnet hatte, weil es auf die Ursache des Problems der Verfahrensdauer ziele und ein vorbeugender Rechtsbehelf am besten mit dem Geist des von der Konvention geschaffenen Systems im Einklang stehe,4 wurde dieser Gesetzentwurf nach Kritik vor allem der Richterverbände, eines Teils der Landesjustizverwaltungen und der Koalitionsfraktionen sowie der ablehnenden Stellungnahme der Mehrheit der Teilnehmer eines vom BMJ durchgeführten Symposiums am 8.10.20075 nicht weiterverfolgt.6 Am 15.03. 2010 legte das Bundesministerium der Justiz einen neuen Referentenentwurf vor, der auf eine Entschädigungslösung kombiniert mit einer präventiv wirkenden Verzögerungsrüge im Ausgangsverfahren setzte.7 Der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 3.9.20108
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Steinbeiß-Winkelmann/Ott Einführung 66 ff. Entwurf eines Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Rechts auf ein zügiges gerichtliches Verfahren (Untätigkeitsbeschwerdegesetz) vom 22.8.2005, abgedruckt bei Steinbeiß-Winkelmann/Ott Anhang 4; vgl. hierzu Steinbeiß-Winkelmann/ Ott Einführung 122 ff.; Kroppenberg ZZP 119 (2006) 177 f.; Jakob ZZP 119 (2006) 303 f.; Roller DRiZ 2007 82; ZRP 2008 122; Steinbeiß-Winkelmann ZRP 2007 177, 180; 2010 205, 206; Matusche-Beckmann/Kumpf ZRP 124 (2011) 173, 183; vgl. auch Gimbel ZRP 2004 35. EGMR NJW 2006 2389, 2394; 2007 1259, 1263. Vgl. Stellungnahme des Deutschen Richterbundes vom Oktober 2005 (Nr. 20/05), abzurufen unter www.drb.de und Stellungnahme
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zum Entwurf eines Gesetzes zum Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren vom 21.3.2011, S. 2 – juris; Steinbeiß-Winkelmann/Ott Einführung 142 ff.; Roller DRiZ 2007 82; ZRP 2008 122 f.; Schenke NVwZ 2012 257, 264; Steinbeiß-Winkelmann NJW 2008 1783. Vgl. Antwort der BReg auf die kleine Anfrage der FDP vom 28.12.2007, BTDrucks. 16 7655. Abgedruckt bei Steinbeiß-Winkelmann/Ott Anhang 5; vgl. hierzu auch Steinbeiß-Winkelmann/Ott Einführung 218 ff.; Steinbeiß-Winkelmann ZRP 2010 205; Scholz DRiZ 2010 182. BRDrucks. 540/10 = BTDrucks. 17 3802. Zu den Änderungen gegenüber dem Referentenentwurf s. Steinbeiß-Winkelmann/Ott Einführung 313 ff.
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§ 198 GVG Nachtr.
Gerichtsverfassungsgesetz
wurde nach einigen Änderungen im Gesetzgebungsverfahren9 am 29.9.2011 vom Bundestag in zweiter und dritter Lesung beschlossen.10 Der Bundesrat stimmte am 14.10. 2011 zu.11 Der Rechtsausschuss des Bundesrates hatte im Vorfeld der Sitzung des Bundesrats die Anrufung des Vermittlungsausschusses empfohlen und einige Änderungen vorgeschlagen.12 Die Einberufung des Vermittlungsausschusses konnte nur verhindert werden durch die in Form einer Protokollerklärung des Parlamentarischen Staatssekretärs im BMJ erfolgte Zusage, weitere Änderungen im Sinne der Änderungswünsche zeitnah umzusetzen.13 Entsprechend der Ankündigung in der Protokollerklärung wurde das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren kurz nach seinem Inkrafttreten in drei Punkten geändert: Durch das Gesetz über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung und zur Änderung weiterer gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften vom 6.12.2011 (BGBl. I S. 2554), in Kraft getreten am 1.1.2012, wurde § 199 um Absatz 4 dahingehend ergänzt, dass ein Privatkläger nicht Verfahrensbeteiligter im Sinne von § 198 Abs. 6 Nr. 2 ist. Außerdem wurde § 201 in Absatz 1 dahin geändert, dass nicht mehr das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk die Regierung des beklagten Landes ihren Sitz hat, zuständig ist, sondern das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk das streitgegenständliche Verfahren durchgeführt wurde.14 Schließlich wurde die ursprüngliche Regelung, wonach die Präsidenten der Gerichte und ihre ständigen Vertreter bei Entscheidungen über einen Anspruch nach § 198 nicht mitwirken (§ 201 Abs. 1 Satz 4 a.F.), gestrichen.
Übersicht Rn. A. Anlass der Neuregelung . . . . . . . . . I. Die Problematik . . . . . . . . . . . . . 1. Anspruch auf angemessene Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . 2. Notwendigkeit einer Rechtsschutzmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtszustand vor dem ÜVerfBesG b) Rechtlicher Bedarf für eine Rechtsschutzmöglichkeit . . . . . . . . . II. Der Ansatz des ÜVerfBesG . . . . . . .
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B. Regelungsbereich . . . . . . . . . . . . . I. Gerichtsverfahren (Abs. 6 Nr. 1) . . . . .
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9
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1. Erfasste Gerichtsbarkeiten . . . . 2. Begriff des Gerichtsverfahrens . . II. Verfahrensbeteiligter (Abs. 6 Nr. 2) . III. Unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens (Abs. 1) . . . . . . . . . . 1. Maßgeblichkeit der Umstände des Einzelfalls . . . . . . . . . . . . . 2. Schwierigkeit des Verfahrens . . . 3. Bedeutung des Verfahrens . . . . . 4. Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung . . . . . . . . 5. Das Verhalten Verfahrensbeteiligter und dritter Personen . . . . . . .
2 5 6
Vgl. Stellungnahme des Bundesrats vom 15.10.2010 (BRDrucks. 540/10 [Beschluss] = BTDrucks. 17 3802, Anlage 3, S. 33 ff.); Gegenäußerung der Bundesregierung (BTDrucks. 17 3802 S. 40 ff.); Beschlussempfehlung und Bericht des BTRAussch. vom 28.9.2011 (BTDrucks. 17 7217); siehe hierzu auch Steinbeiß-Winkelmann/Ott Einführung 341 ff. BTPlenarprotokoll 17/130 vom 29.9.2011 S. 15348; vgl. auch Beschluss des Deutschen Bundestages, wonach die Erfahrungen mit der Anwendung des Gesetzes nach Ablauf
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Rn.
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von zwei Jahren nach dem Inkrafttreten zu evaluieren und dem Bundestag Bericht zu erstatten ist (BRDrucks. 587/11); Möhrenschlager wistra 1/2012, IX. BRPlenarprotokoll 888 vom 14.10.2011, S. 485; Beschluss des Bundesrates vom 14.10.2011 (BRDrucks. 587/11 [Beschluss]). BRDrucks 587/1/11-Empfehlungen. BRPlenarprotokoll 888 vom 14.10.2011, Anlage 4, S. 497 f. Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des BTRAussch., BTDrucks. 17 7669.
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Siebzehnter Titel. Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren
Nachtr. § 198 GVG
Rn. IV. Verzögerungsrüge (Abs. 3) . . . . . . . . 1. Voraussetzung einer Entschädigungszahlung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Form . . . . . . . . . . . . . . .40 3. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zeitpunkt der Erhebung . . . . . . . V. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entschädigung bei materiellen Nachteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entschädigung bei immateriellen Nachteilen . . . . . . . . . . . . . . VI. Wiedergutmachung auf andere Weise (Abs. 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Feststellung der überlangen Verfahrensdauer durch das Entschädigungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . .
Rn.
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VII.
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VIII. IX. X.
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XI. 54
2. Weitere Arten der Wiedergutmachung auf andere Weise . . . . . . . . . . Fristen zur Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs (Abs. 5) . . . . . 1. Wartefrist (Abs. 5 Satz 1) . . . . . . 2. Klagefrist (Abs. 5 Satz 2) . . . . . . Ausschluss der Übertragbarkeit . . . . Übergangsrecht . . . . . . . . . . . . . Verhältnis zu anderen Rechtsschutzmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . 1. Untätigkeitsbeschwerde . . . . . . . 2. Amtshaftung . . . . . . . . . . . . 3. Verfassungsbeschwerde . . . . . . . 4. Individualbeschwerde zum EGMR . Regressansprüche gegen Staatsanwälte und Richter . . . . . . . . . . . . . .
56 58 59 63 65 66 69 69 70 71 72 73
A. Anlass der Neuregelung Mit dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und straf- 1 rechtlichen Ermittlungsverfahren wurde ein eigener staatshaftungsrechtlicher Entschädigungsanspruch sui generis wegen überlanger Dauer eines gerichtlichen Verfahrens oder eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens eingeführt. Damit wollte der Gesetzgeber eine Lücke im bisherigen Rechtsschutzsystem schließen und Vorgaben des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) entsprechen. Im 17. Titel regelt das GVG nunmehr übergreifend für der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuzurechnenden Verfahren – bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, Familiensachen, Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit und Strafsachen – die Folgen einer unangemessenen Verfahrensdauer. Für die anderen Gerichtsbarkeiten und berufsgerichtliche Verfahren gelten die Vorschriften des 17. Titels des GVG kraft entsprechender Verweisungen (s. Rn. 17).
I. Die Problematik 1. Anspruch auf angemessene Verfahrensdauer a) Die Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes ist ein wesentlicher Bestandteil des 2 Rechtsstaates. Das Grundgesetz garantiert Rechtsschutz vor den Gerichten nicht nur gemäß Art. 19 Abs. 4 GG (also gegen Akte der öffentlichen Gewalt), sondern darüber hinaus im Rahmen des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs.15 Dieser ist Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips in Verbindung mit den Grundrechten, insbesondere Art. 2 Abs. 1 GG. Die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes bildet einen Ausgleich für das staatliche Gewaltmonopol, das Selbsthilfeverbot zu Lasten des Bürgers und seine prinzipielle Friedenspflicht.16 Unbestritten kann die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes auch durch die lange Dauer der Verfahren bedroht werden.17 Die durchschnitt-
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BVerfGE 54 277, 291; 82 126, 155; 85 337, 345; 93 99, 107; 97 169, 185; 107 395, 401. BVerfGE 54 277, 292; 81 347, 356; Redeker
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NJW 2000 2796; Papier DRiZ 2006 261, 262; Althammer JZ 2011 446. Vgl. nur Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann Art. 19 Abs. 4, 262 ff. GG; v. Mangoldt/
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lichen Verfahrensdauern in Gerichtsverfahren in Deutschland variieren nach den unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten. Nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes betrug die durchschnittliche Verfahrensdauer 2009 in erstinstanzlichen Verfahren bei Zivilgerichten (Zivilprozesssachen) knapp über fünf Monate, bei Familiengerichten (Eheverfahren) zehn Monate, bei Strafgerichten vier Monate, bei Arbeitsgerichten (Klagen) drei Monate, bei Verwaltungsgerichten (Hauptverfahren) elf Monate, bei Sozialgerichten 14 Monate und bei Finanzgerichten 18 Monate.18 Verfahren, die durch Urteil erledigt werden, dauern zum Teil aber wesentlich länger,19 ebenso Rechtsmittelverfahren.20 Diese Zahlen stellen zwar im internationalen Vergleich keine schlechten Werte dar.21 Wie die im Jahr 2010 vom EGMR ausgesprochenen 23 Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland wegen überlanger Verfahrensdauer zeigen, kommt es aber immer wieder zu Verfahren, in denen die durchschnittlichen Verfahrensdauern weit überschritten werden.22 Heute besteht Einigkeit darüber, dass effektiver Rechtsschutz im Sinne des Grund3 gesetzes nur solcher sein kann, der in angemessener Frist gewährt wird.23 In zahlreichen Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht die Notwendigkeit einer rechtzeitigen gerichtlichen Entscheidung als Element der Justizgewährung immer wieder betont,24
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Klein/Starck/Huber Art. 19 Abs. 4, 479 GG; BK/Schenke Art. 19 Abs. 4, 691 GG; Dreier/Schulze-Fielitz Art. 19 Abs. 4, 111; Lansnicker/Schwirtzek NJW 2001 1969. Statistisches Bundesamt, Justiz auf einen Blick, Ausgabe 2011, S. 36; zur Verfahrensdauer bei erstinstanzlichen und Rechtsmittelverfahren der einzelnen Gerichtsbarkeiten vgl. auch Statistisches Bundesamt Rechtspflege Fachserie 10 Reihe 1 (2011): danach wurden im Jahr 2010 85 % der erstinstanzlichen Strafverfahren beim Amtsgericht innerhalb von 6 Monaten, 96 % innerhalb von 12 Monaten erledigt. Bei erstinstanzlichen Verfahren vor dem Landgericht waren 73 % der Verfahren innerhalb von 6 Monaten, 89 % innerhalb von 12 Monaten abgeschlossen. Bei den Oberlandesgerichten war die Hälfte der erstinstanzlichen Verfahren innerhalb von 6 Monaten, 58 % innerhalb von 12 Monaten erledigt; zur Verfahrensdauer in einzelnen Gerichtsbarkeiten vgl. auch Gercke/Heinisch NStZ 2012 300; Steinbeiß-Winkelmann ZRP 2007 177; Scholz SGb 2012 19, 20; Brummund JA 2012 213; Scheffer NJ 2010 265; Matusche-Beckmann/ Kumpf ZZP 124 (2011) 173, 174. Vgl. z.B. Statistisches Bundesamt, Rechtspflege Fachserie 10 Reihe 2.7, S. 30, für die Sozialgerichtsbarkeit. Für Strafverfahren vgl. Statistisches Bundesamt Rechtspflege Fachserie 10 Reihe 1 (2011), S. 52: 50 % Erledigung von Berufungen bei Landgerichten innerhalb von 12 Monaten ab Eingang bei der Staatsan-
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waltschaft, 86 % innerhalb von 24 Monaten; 19 % Erledigung von Revisionen bei den Oberlandesgerichten innerhalb von 12 Monaten, 70 % innerhalb von 24 Monaten; dagegen 73 % Erledigungen von Revisionen beim Bundesgerichtshof innerhalb von 6 Monaten ab Verkündung des angefochtenen Urteils, 98 % innerhalb von 12 Monaten. Vgl. Magnus ZZP 125 (2012) 75. Vgl. EGMR NJW 2010 3355, 3357; Scholz SGb 2012 19, 20; Magnus ZZP 125 (2012) 75, 76; Maier/Percic NStZ-RR 2009 297 ff., 329 ff.; vgl. auch Bericht des Bundesministeriums der Justiz über die Rechtsprechung des EGMR und die Umsetzung seiner Urteile in Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2011 vom 1.6.2012, S. 15 ff. Vgl. nur BVerfGE 40 237, 257; 55 349, 369; BVerfG EuGRZ 2009 695, 699; NJW-RR 2010 207, 208; NVwZ-RR 2011 625, 626; SozR 4-1100 Art. 19 Nr. 10; NVwZ 2011 486, 492; JZ 2013 145 m. Anm. Huerkamp/ Huerkamp; BK/Schenke Art. 19 Abs. 4, 691 GG; Tiwisina Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer nach nationalem Recht und der EMRK (2010) 61 f. BVerfGE 35 382, 405; 40 237, 257; 55 349, 369; 60 253, 269; 93 1, 13; BVerfG NJW 2001 214, 215, 2707; 2008 503 m. Anm. Steinbeiß-Winkelmann NJW 2008 1783; JZ 2013 145; EuGRZ 2009 695, 699; BeckRS 2010 51311; NJW-RR 2010 207, 208; NVwZ-RR 2011 625, 626; NVwZ 2011 486, 492; BTDrucks. 17 3802 S. 15.
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Siebzehnter Titel. Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren
Nachtr. § 198 GVG
wobei die Verpflichtung der Fachgerichte, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zu einem Abschluss zu bringen, in verwaltungs-, sozial- und finanzgerichtlichen Verfahren meist aus Art. 19 Abs. 4 GG, in zivil- und arbeitsrechtlichen Verfahren meist aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) hergeleitet wird.25 Das Recht auf gerichtliche Entscheidung in angemessener Frist soll die physischen und psychischen sowie die oft finanziellen Belastungen eines gerichtlichen Verfahrens in Grenzen halten. Eine zügige Verfahrenserledigung ist darüber hinaus unerlässlich für die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege sowie für deren Ansehen und Glaubwürdigkeit.26 Insbesondere in strafrechtlichen Ermittlungs- und Strafverfahren mit ihren oft gravierenden sozialen, familiären, beruflichen oder finanziellen Belastungen und der damit einhergehenden besonderen Eingriffstiefe in grundrechtlich geschützte Bereiche verletzt ein überlanges Verfahren den Beschuldigten nicht nur in seinem verfassungsmäßigen Recht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG sowie – wenn sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet – in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Ein Strafverfahren von überlanger Dauer gerät auch mit zunehmender Verzögerung des Verfahrens in Widerstreit zu dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz, dass die Strafe verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen muss.27 b) Einen Anspruch auf Verhandlung und Entscheidung des Streitgegenstandes inner- 4 halb angemessener Frist verbrieft auf der Ebene eines einfachen Bundesgesetzes Art. 6 Abs. 1 EMRK.28 Zugleich verpflichtet die EMRK die Vertragsstaaten, ihre nationale Rechtsordnung so auszugestalten, dass sie geeignet ist, Rechtsschutz binnen angemessener Zeit zu gewähren.29 Über Jahre hinweg hat der EGMR die Konventionsstaaten wegen überlanger Dauer gerichtlicher Verfahren immer wieder verurteilt und sie zugleich zur Zahlung einer Entschädigung an den Beschwerdeführer verpflichtet.30 2. Notwendigkeit einer Rechtsschutzmöglichkeit. Ungeachtet des anerkannten An- 5 spruchs auf gerichtliche Entscheidung in angemessener Zeit wurde lange kontrovers diskutiert, ob und gegebenenfalls wie sich ein Verfahrensbeteiligter gegen eine überlange Dauer gerichtlicher Verfahren zur Wehr setzen kann, insbesondere ob und in welcher Form ihm die isolierte Durchsetzung des Beschleunigungsgebots durch ein eigenes Rechtsmittel zu ermöglichen ist. a) Rechtszustand vor dem ÜVerfBesG. Die Prozessordnungen der ordentlichen Ge- 6 richtsbarkeit und der Fachgerichtsbarkeiten sahen einen ausdrücklichen Rechtsbehelf zur Rüge überlanger Verfahrensdauer nicht vor.31 Im Zivil- und Verwaltungsprozess ließ die
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Zur verfassungsrechtlichen Verortung vgl. im Einzelnen Tiwisina Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer nach nationalem Recht und der EMRK (2010) 61 f. Vgl. LR/Esser Art. 6, 309 EMRK; Magnus ZZP 125 (2012) 75, 76. BVerfG NJW 1992 2472, 2473; 1993 3254, 3255; 1995 1277 f.; 2003 2225, 2897; 2005 3485; NStZ 2006 680, 681 = JR 2007 251 m. Anm. Gaede; Graf NZWiSt 2012 121, 122. Zur Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf
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öffentlich-rechtliche Streitigkeiten vgl. Guckelberger DÖV 2012 289, 290. Vgl. EGMR (GK) Frydlender/F, 27.6.2000, Nr. 30979/96, Z. 45. Vgl. nur EGMR NJW 2001 213 f.; 2010 3355, 3357; Althammer JZ 2011 446; Meyer-Ladewig NJW 2001 2679; Vorwerk JZ 2004 553. Vgl. auch Schreiben des Bundesjustizministeriums vom 27.5.2002 mit Kurzgutachten zum gegenwärtigen Rechtszustand, Vorwerk JZ 2004 553, 554.
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Rechtsprechung unter bestimmten Voraussetzungen im Falle zögerlicher oder überlanger Verfahrensweise als Rüge der Untätigkeit die außerordentliche Beschwerde zu.32 Die Praxis hierzu war jedoch uneinheitlich und unübersichtlich. Im Strafprozess ist eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ein selbstständig 7 neben der „allgemeinen“ Verzögerung zu würdigender Umstand, der regelmäßig eine Verpflichtung zu angemessener Kompensation begründet.33 Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG und des BGH ist eine ausdrückliche Feststellung der Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes, ihres Ausmaßes sowie von Art und Maß der kompensatorischen Berücksichtigung erforderlich.34 Nach früherer Rechtsprechung des BGH musste sich eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung, sofern ihre Feststellung als Ausgleich nicht ausreichte, regelmäßig bei der Strafzumessung auswirken; das Gericht hatte das Maß der vorgenommenen Kompensation durch einen Vergleich der tatsächlich verhängten Strafe mit der an sich für die Tat verwirkten Strafe ausdrücklich und konkret zu bestimmen (Strafabschlagslösung).35 Der Große Senat für Strafsachen des BGH hat diese Rechtsprechung aufgegeben; die Kompensation ist nunmehr durch den Ausspruch im Urteilstenor vorzunehmen, dass ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt (Vollstreckungslösung).36 In ganz außergewöhnlichen Sonderfällen hat der BGH ein vom Tatrichter zu beachtendes und vom Revisionsgericht von Amts wegen zu berücksichtigendes Verfahrenshindernis bejaht, wenn auf der Grundlage einer umfassenden Gesamtwürdigung eine Kompensation des Verstoßes im Rahmen einer Sachentscheidung nicht mehr in Betracht komme.37 Weitere Kompensationsmöglichkeiten sind eine Verfahrenseinstellung nach § 153 StPO38 oder § 154 StPO,39 eine Sachbehandlung nach § 59 StGB40 oder eine Anwendung von § 60 StGB.41 Keine Kompensation fand dagegen bislang in Verfahren statt, in denen der Angeklagte freigesprochen wurde,42 der anzurechnende Teil die zu verhängende Strafe überstieg, das Verfahren aus anderen Gründen als der Verfahrensverzögerung eingestellt wurde, es überhaupt nicht zur Anklage kam oder die Eröffnung des Verfahrens abgelehnt wurde. Dieser Rechtszustand entsprach mit Ausnahme von Strafverfahren, in denen eine 8 rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung kompensiert wurde,43 weder verfassungs32
Zum Zivilprozess vgl. OLG Köln Beschluss vom 25.8.2009 – 4 WF 101/09; NJW-RR 1999 290; OLG Düsseldorf OLGR 2009 401; OLG Schleswig NJW-RR 2010 798; OLG Brandenburg FamRZ 2008 288; OLG München FamRZ 2008 704; Saarländisches OLG MDR 1997 1062; OLG Hamburg NJW-RR 1989 1022; OLG Karlsruhe NJW 1984 985; vgl. aber auch BGHZ 150 133 ff., wonach bei greifbarem gesetzwidrigen Handeln lediglich ein Recht zur Gegenvorstellung besteht, die beim judex a quo zu erheben ist; vgl. auch Althammer JZ 2011 446, 447. Zum Verwaltungsprozess vgl. OVG Bremen NordÖR 2010 370; OVG Münster NJW 2009 2615; Kopp/Schenke § 146, 22 VwGO; a.A. BVerwG NVwZ 2003 689; 2005 232. Von der Unzulässigkeit der Untätigkeitsbeschwerde gehen aus: BFH NV 2010 46; BSG SozR 4-1500 § 60 Nr. 7. Zur uneinheitlichen Rechtsprechung vgl.
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auch Steinbeiß-Winkelmann/Ott Einführung 114 ff.; Steinbeiß-Winkelmann NJW 2008 1783, 1784; ZRP 2007 177, 179; SGb 2008 314, 315; Rixe FamRZ 2007 1453, 1454. Zu Einzelheiten vgl. Fischer § 46, 61a StGB. BVerfG NJW 1993 3254; 1995 1277; NStZ 1997 591; BGHSt 45 308 f.; 46 159; 52 124, 133; BGH StV 2008 298. BGH NJW 1999 1198, 1999; NStZ 2001 52. BGHSt 52 124; Fischer § 46, 131 f. StGB. Vgl. BGHSt 46 159, 171 ff. m. Anm. Kempf StV 2001 134; I. Roxin StraFo 2001 51; vgl. auch BVerfG StV 2003 383, 385; NStZ 2004 335, 337; Krehl/Eidam NStZ 2006 1, 9 f. BGH NJW 1990 1000; 1996 2739, 2740. BGHSt 35 137, 142. Vgl. BVerfG NStZ 2004 335 ff. BGH wistra 2004 337. Vgl. hierzu EGMR StV 2009 519. Der EGMR (NJW 2007 1259, 1263) hat die Berücksichtigung der Verfahrensverzögerung
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rechtlichen Vorgaben noch der Rechtsprechung des EGMR, der den gesetzgeberischen Handlungsbedarf in Deutschland mehrfach angemahnt hat.44 b) Rechtlicher Bedarf für eine Rechtsschutzmöglichkeit. Die Notwendigkeit einer 9 Rechtsschutzmöglichkeit bei der Verletzung des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf angemessene Verfahrensdauer ergibt sich zunächst unmittelbar aus dem Grundgesetz. Unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung hat das BVerfG im Plenarbeschluss vom 30.4.2003 für den Fall einer behaupteten Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch ein Gericht (Art. 103 Abs. 1 GG) ausdrücklich festgestellt, dass der allgemeine Justizgewährungsanspruch Rechtsschutz hinsichtlich der gerichtlichen Verfahrensdurchführung ermögliche, soweit durch sie die Verfahrensgrundrechte verletzt sein können.45 Das Fehlen einer gesetzlichen Rechtsschutzmöglichkeit verletze in diesen Fällen den im Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Grundrechten verankerten Justizgewährungsanspruch. Dabei sei ungeachtet der bestehenden Möglichkeit der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde Schutz vor Verletzungen in erster Linie durch die Fachgerichtsbarkeit zu gewähren. Es sei Aufgabe des Gesetzgebers, die Verfahrensordnungen so auszugestalten, dass effektiver Rechtsschutz für den einzelnen Rechtsuchenden bestehe, aber auch Rechtssicherheit hergestellt werde. Die in der Vergangenheit wegen der Verletzung des rechtlichen Gehörs geschaffenen außerordentlichen Rechtsbehelfe genügten den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit nicht. Vielmehr müssten die Rechtsbehelfe in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für den Bürger erkennbar sein.46 Diese verfassungsrechtliche Argumentation zu Art. 103 GG gilt im Grundsatz auch für andere Verfahrensgrundrechte wie zum Beispiel das Beschleunigungsgebot.47 Ein verbindliches Postulat der Gewährung effektiven Rechtsschutzes in Fällen über- 10 langer Verfahrensdauer ergibt sich auch aus der Rechtsprechung des EGMR. Nachdem die Zahl der Beschwerden über die Dauer innerstaatlicher Verfahren beim EGMR ständig gestiegen war, hat das Gericht erstmals in der Entscheidung Kudla gegen Polen vom 26.10.2000 bei einer unangemessenen Verfahrensverzögerung nicht nur einen Konventionsverstoß gegen das Beschleunigungsgebot des Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt, sondern außerdem herausgearbeitet, dass Art. 13 EMRK bei Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch überlange Gerichtsverfahren das Recht gewährleistet, über eine innerstaatliche Beschwerde die Rechte und Freiheiten der Konvention durchzusetzen.48 Art. 13
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bei der Strafzumessung ausdrücklich als Kompensationsmöglichkeit anerkannt. Die Vereinbarkeit der Vollstreckungslösung mit Grundgesetz und Menschenrechtskonvention wird im Schrifttum z.T. in Frage gestellt (Ziegert StraFo 2008 321, 326 f.; Ignor/Bertheau NJW 2008 2209, 2212; I. Roxin StV 2008 14, 17 und FS Volk 617, 629 ff.); a.A. wohl EGMR StV 2009 561 Z. 87; Tiwisina Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer nach nationalem Recht und der EMRK (2010), 116 f. Vgl. zuletzt EGMR FamRZ 2011 533 Z. 92. BVerfGE 107 395 ff.; Steinbeiß-Winkelmann/ Ott Einführung 101 ff.; vgl. auch die Betonung rechtsstaatlicher Defizite außerordent-
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licher Rechtsbehelfe in BVerfGE 122 190, 200. Vgl. auch BVerfGE 122 190, 201. Voßkuhle NJW 2003 2193, 2197; Britz/ Pfeifer DÖV 2004 245, 246; Pache/Knauff BayVerwBl. 2004 385, 387; Steinbeiß-Winkelmann ZRP 2007 177; NJW 2008 1783, 1784; Matusche-Beckmann/Kumpf ZZP 124 (2011) 173, 176 f. Zu den gesetzgeberischen Auswirkungen der Plenarentscheidung des BVerfG s. Steinbeiß-Winkelmann/Ott Einführung 104 ff. EGMR NJW 2001 2694; Meyer-Ladewig NJW 2001 2679; Althammer JZ 2011 446; Vorwerk JZ 2004 553 ff.; Gimbel ZRP 2004 35.
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EMRK verlangt, dass die Staaten in ihrer Rechtsordnung einen wirksamen Rechtsbehelf zur Verfügung stellen, mit dem über eine auf die Konvention gestützte „vertretbare Beschwerde“ entschieden und angemessene Abhilfe erlangt werden kann. Wirksam ist der Rechtsbehelf nach der Rechtsprechung des EGMR in Fällen überlanger Verfahrensdauer, wenn der Beschwerdeführer mit ihm entweder die Entscheidung des zuständigen Gerichts beschleunigen oder angemessene Wiedergutmachung für schon eingetretene Verzögerungen erhalten kann.49 Das Fehlen eines solchen Rechtsbehelfs, mit dem Abhilfe bei überlangen zivilgerichtlichen Verfahren erlangt werden könne, hat der EGMR in der Entscheidung Sürmeli gegen Deutschland vom 8.6.2006 ausdrücklich beanstandet und deshalb Art. 13 EMRK für verletzt angesehen.50 Die Möglichkeit der Rüge einer Verfahrensverzögerung mit der Verfassungsbeschwerde hat der EGMR mit den Anforderungen von Art. 13 EMRK nicht für vereinbar erachtet, weil das Bundesverfassungsgericht im Wesentlichen nur feststellen könne, dass eine Verfahrensverzögerung verfassungswidrig sei, dem zuständigen Gericht aber keine Frist setzen oder andere konkrete Beschleunigungsmaßnahmen anordnen und auch keine Wiedergutmachtung gewähren könne.51 Ebensowenig genüge eine außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde, weil es für sie keine gesetzliche Grundlage gebe, sie nur von einigen Gerichten anerkannt werde und die Kriterien für die Zulässigkeit unterschiedlich seien. Schließlich seien weder die Dienstaufsichtsbeschwerde noch die Möglichkeit eines Amtshaftungsanspruchs gemäß § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG geeignet, den Anforderungen der EMRK zu entsprechen.52 Mangels sichtbaren Fortschritts der deutschen Gesetzgebungsaktivitäten seit 2005 11 fällte der EGMR am 2.9.2010 erstmals ein so genanntes „Pilot-Urteil“ gegen Deutschland, in dem das Fehlen eines wirksamen Rechtsschutzes als strukturelles Problem eingestuft und der deutsche Gesetzgeber verpflichtet wurde, spätestens innerhalb eines Jahres einen Rechtsbehelf zu schaffen, der dem aus Art. 6 Abs. 1 EMRK abzuleitenden Erfordernis eines zeitgerechten Rechtsschutzes Rechnung trägt.53
II. Der Ansatz des ÜVerfBesG 12
Mit dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 hat der Gesetzgeber die Rechtsschutzlücke geschlossen, die sowohl verfassungsrechtlichen Vorgaben nach dem Grundgesetz als auch Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) widersprach.54 Das neue Gesetz strebt eine „praktische Konkordanz“ zwischen effektivem Rechts13 schutz, richterlicher Unabhängigkeit und Schutz der Justiz vor unnötigen Belastungen an.55 Es sieht einen Entschädigungsanspruch für den Fall vor, dass aufgrund unangemessener Dauer der Verhandlung ein Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Dieser
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EGMR NJW 2007 1259, 1263. Vgl. EGMR NJW 2006 2389; NVwZ 2008 289 Z. 63–68. EGMR NJW 2006 2389, 2391 Z. 105 ff.; NVwZ 2008 289 Z. 63; Steinbeiß-Winkelmann NJW 2008 1783; vgl. auch Huerkamp/ Wielpütz JZ 2011 139, 143, die die Möglichkeiten des BVerfG allerdings positiver bewerten.
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EGMR NJW 2006 2389, 2392 Z. 109 ff. EGMR NJW 2010 3355 m. Anm. MeyerLadewig NJW 2010 3359. GesE BTDrucks. 17 3802 S. 1. Steinbeiß-Winkelmann ZRP 2010 205; Scholz DRiZ 2010 182.
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kann den Ausgleich sowohl des materiellen als auch des immateriellen Schadens zum Gegenstand haben. Damit hat der Gesetzgeber von der Einführung eines eigenständigen präventiven Rechtsbehelfs im Sinne einer Untätigkeitsbeschwerde – wie noch im Referentenentwurf 2005 vorgesehen (vgl. oben Entstehungsgeschichte) – Abstand genommen, insbesondere um eine unangemessene Belastung für die Gerichte zu vermeiden.56 Nicht verwirklicht wurde auch eine früher intensiv erörterte Fristenlösung, die der Vielgestaltigkeit prozessualer Situationen nicht gerecht wird und die Gefahr begründet, dass nach Überschreiten der jeweiligen Regelzeit automatisch Entschädigungsklage erhoben wird.57 Der EGMR erkennt einen Entschädigungsanspruch als Rechtsbehelf i.S.d. Art. 6 Abs. 1, 13 EMRK grundsätzlich an,58 auch wenn er das Modell des vorbeugenden Rechtsbehelfs als bessere Lösung bezeichnet hat.59 Das neue Gesetz verfolgt neben dem kompensatorischen Element auch eine präventive 14 Zielrichtung. Eine generell-präventive Funktion der Neuregelung sieht der Gesetzgeber darin, dass schon die Möglichkeit von Entschädigungsansprüchen verhaltenssteuernd wirken dürfte und zwar sowohl für die Gerichte, die den Vorwurf überlanger Verfahrensdauer im Rahmen eines späteren Entschädigungsprozesses in aller Regel vermeiden wollten, als auch für die für Geschäftsverteilung und Organisation Verantwortlichen.60 Eine konkret-präventive Beschleunigungswirkung des Gesetzes liegt in der Verzögerungsrüge, die als Voraussetzung für den Entschädigungsanspruch vorgesehen ist.61 Ein von überlanger Verfahrensdauer Betroffener kann und muss zunächst beim Ausgangsgericht die Dauer des Verfahrens rügen, bevor er beim Entschädigungsgericht einen Anspruch geltend machen kann. Diese Obliegenheit, die keine Pflicht zur förmlichen Entscheidung entstehen lässt, soll dem Ausgangsgericht Anlass zur Prüfung geben und eine Abhilfemöglichkeit schaffen.62 Eine solche kommt allerdings nur in Fällen in Betracht, in denen vorwerfbare Säumnis des Gerichts Ursache der überlangen Verfahrensdauer ist. Verursachen strukturelle Probleme, auf die der Bearbeiter keinen Einfluss hat, die Verfahrensverzögerung, kann die Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen allenfalls als Indikator für Problemlagen wirken und die Behebung struktureller Mängel durch die dafür Verantwortlichen voranbringen.63 Der Anspruch aus § 198 ist ein staatshaftungsrechtlicher Anspruch sui generis, der 15 kein Verschulden des Richters oder Staatsanwalts voraussetzt. Ersetzt werden materielle und immaterielle Nachteile. § 198 gewährt dem Betroffenen aber keinen deliktischen Schadenersatzanspruch, der auf die Wiederherstellung der Vermögenslage, die ohne das schädigende Ereignis bestehen würde, ausgerichtet ist. Vielmehr besteht nur ein Anspruch auf eine angemessene Entschädigung, die auf einen verschuldensunabhängigen Ausgleich für ein Sonderopfer infolge eines hoheitlichen Eingriffs abzielt und sich an den entzogenen Vermögenswerten ohne Berücksichtigung einer hypothetischen Vermögensentwicklung orientiert.64 56 57
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BTDrucks. 17 3802 S. 16. Vgl. Steinbeiß-Winkelmann ZRP 2010 205, 207; Althammer JZ 2011 446, 449; Althammer/Schäuble NJW 2012 1, 2; Gercke/Heinisch NStZ 2012 300, 301; krit. Sommer StV 2012 107, 108. EGMR NJW 2007 1259, 1263. EGMR NJW 2006 2389, 2394; 2007 1259, 1263. BTDrucks. 17 3802 S. 16; Steinbeiß-Winkelmann ZRP 2010 205, 206.
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BTDrucks. 17 3802 S. 16; Gercke/Heinisch NStZ 2012 300; krit. Althammer JZ 2011 446, 452 im Hinblick darauf, dass die Verzögerungsrüge nicht förmlich beschieden werden muss; Sommer StV 2012 107, 109 f.; Zimmermann FamRZ 2011 1905; Thomas/ Putzo/Hüßtege § 198, 1. BTDrucks. 17 3802 S. 16. BTDrucks. 17 3802 S. 16. Vgl. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 2.
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Die Neuregelung wird überwiegend begrüßt,65 zum Teil aber auch heftig kritisiert.66 Eine zukünftige Verkürzung der Verfahrensdauer wird im Hinblick auf die niedrige Entschädigung bei immateriellen Schäden und die Problematik bei der Bestimmung des korrekten Rügezeitpunkts (vgl. unten Rn. 43) in Frage gestellt.67 Kritisiert wird vor allem, dass das neue Gesetz es dem Beteiligten gerade nicht ermögliche, den Ausgangsprozess verbindlich zu beschleunigen68 und der Verzögerungsrüge als lediglich einseitige Mitteilung an das Gericht im Hinblick auf das Präventionsgebot nur eine eingeschränkte Funktion zukomme.69 Deswegen wird – zumindest in Fällen, in denen das konkrete Verfahren noch andauert – eine echte Kombinationslösung befürwortet und alternativ die Zulässigkeit der Untätigkeitsbeschwerde insbesondere in nicht vermögensrechtlichen Angelegenheiten gefordert.70 Kritisch gesehen wird zum Teil auch die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts wegen höherer Gerichts- und Anwaltskosten.71 Ob das Gesetz tatsächlich geeignet ist, überlange Verfahrensdauern in Zukunft zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren, bleibt abzuwarten. Die häufig tiefer liegenden Ursachen überlanger Verfahrensdauern werden durch das Gesetz nicht beseitigt. Es macht weder Einsparungen in den Justizhaushalten rückgängig noch die zunehmende Verkomplizierung im materiellen Recht.72
B. Regelungsbereich I. Gerichtsverfahren (Abs. 6 Nr. 1) 17
1. Erfasste Gerichtsbarkeiten. § 198 gilt unmittelbar für Verfahren der ordentlichen Gerichtsbarkeit (vgl. § 2 EGGVG), also Zivilverfahren und Strafverfahren. Zu den Zivilsachen gehören die Familiensachen (§ 111 FamFG) und die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (§ 23a Abs. 2 GVG). Bei Strafverfahren erstreckt sich die Regelung gem. § 199 Abs. 1 und 2 GVG, § 386 Abs. 2 AO auch auf strafrechtliche Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft sowie auf Ermittlungsverfahren der Finanzämter bei Steuerstrafsachen.73 Über § 46 Abs. 1 OWiG gilt das Gesetz auch für Bußgeldverfahren, soweit Staatsanwaltschaft und Gerichte tätig werden, nicht aber in dem mit geringerer Eingriffsintensität verbundenen Verfahren vor der Verwaltungsbehörde (s. § 199, 1). Für
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Steinbeiß-Winkelmann ZRP 2010 205, 209; Schenke NVwZ 2012 257, 265; Scholz SGb 2012 19, 24; Söhngen NZS 2012 493, 498; Magnus ZZP 125 (2012) 75, 90; MatuscheBeckmann/Kumpf ZZP 124 (2011) 173, 185; Kämpfer SchlHA 2011 389, 392. Sommer StV 2012 107, 112: Alibi-Regelung, die alle Bemühungen der letzten Dekade, ein theoretisches Verfahrensgrundrecht praktisch wirksam werden zu lassen, entschleunigt; Kotz StRR 2012 207: Etikettenschwindel; Kissel/Mayer § 198, 4: Regelungsmonster. Gercke/Heinrich NStZ 2012 300, 305. Vgl. Huerkamp/Wielpütz JZ 2011 139, 140; s.a. Zuck NVwZ 2012 225, 226. Althammer/Schäuble NJW 2012 1, 7; Zim-
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mermann FamRZ 2011 1905; Magnus ZZP 125 (2012) 75, 89; Brummund JA 2012 213, 216. Althammer JZ 2011 446, 452; vgl. auch Magnus ZZP 125 (2012) 75, 89. Zimmermann FamRZ 2011 1905. Vgl. auch Roller DRiZ 2007 82, 87; Scholz SGb 2012 19, 24; Söhngen NZS 2012 493, 498 f. Zu Verzögerungen in einem durch die Bußgeld- und Strafsachenstelle der Bundesagentur für Arbeit gem. § 386 AO geführten Ermittlungsverfahren vgl. OLG Hamm Beschluss vom 26.4.2013 – 11 EK 12/13, BeckRS 2013 08983.
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die Verfahren der Fachgerichtsbarkeiten einschließlich der obersten Gerichtshöfe gilt die Entschädigungsregelung aufgrund entsprechender Verweisungen gem. Art. 3 ff. ÜVerfBesG (vgl. § 9 Abs. 2 Satz 2 ArbGG, § 173 Satz 2 VwGO, § 202 Satz 2 SGG; § 155 Satz 2 FGO). In Disziplinarverfahren sind §§ 198 ff. gem. § 63 Abs. 1 DRiG, § 3 BDG i.V.m. § 173 Satz 2 VwGO,74 in Verfahren nach WBO gem. § 23a WBO, in Verfahren nach WDO gem. § 91 Abs. 1 WDO anwendbar. In berufsgerichtlichen Verfahren gelten die § 198 ff. gem. § 112g, § 116 BRAO, § 96 Abs. 5, § 111h BNotO, §§ 94 f., 98 PatAnwO, § 153 StBerG, § 127 WiPrO. Weitere Verweisungen finden sich in §§ 73, 75 GWB, §§ 85, 87 EnWG, § 128b PatG, § 21 Abs. 1 GebrMG, § 96a MarkenG, § 23 GeschmMG, § 11 HalblSchG, § 22 VSchDG, § 36 SortSchG, § 83 Abs. 2 BPersVG. Für Verfahren vor dem BVerfG gelten §§ 97a ff. BVerfGG.75 2. Begriff des Gerichtsverfahrens. Zu dem Begriff des gerichtlichen Verfahrens zählen 18 gem. § 198 Abs. 6 Nr. 1 nicht nur Hauptsacheverfahren, sondern auch Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und Verfahren zur Bewilligung von Prozessoder Verfahrenskostenhilfe. Die Überlänge eines Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes oder zur Bewilligung von Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe führt unabhängig von einem in der Sache selber geführten Verfahren zu einem eigenständigen Entschädigungsanspruch. Grundsätzlich ausgenommen von der Entschädigungsregel ist das Insolvenzverfahren nach seiner Eröffnung, weil die wesentlichen wirtschaftlichen Entscheidungen nach Eröffnung durch die Insolvenzgläubiger im Rahmen der Gläubigerautonomie getroffen werden.76 Etwas anderes gilt aber gemäß § 198 Abs. 6 Nr. 1 3. Halbsatz für den Verfahrensabschnitt, der zu einer von Amts wegen zu treffenden Entscheidung (z.B. Entlassung eines Mitglieds des Gläubigerausschusses) oder einer Entscheidung über einen Antrag (z.B. Antrag auf Aufhebung eines Beschlusses der Gläubigerversammlung oder auf Einberufung der Gläubigerversammlung) führen soll; dieser wird als Gerichtsverfahren qualifiziert.77 Gerichtsverfahren ist auch das Entschädigungsverfahren selbst. Nicht zum Gerichtsverfahren zählen Vorverfahren nach der VwGO, dem SGG und der FGO und das Verfahren nach § 16 WBO.78 Für Verfahren aus dem Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit, die oftmals auf Dauer 19 angelegt sind (Betreuungsverfahren und Vormundschaftssachen), ist der aus Art. 111 Abs. 2 des Gesetzes zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG-ReformG) folgende Rechtsgedanke zu beachten, wonach jedes gerichtliche Verfahren, das mit einer Endentscheidung abgeschlossen wird, ein selbstständiges Verfahren ist.79 Als ein Verfahren gilt nach Absatz 6 Nr. 1 der gesamte Zeitraum von der Einleitung 20 eines Verfahrens in der ersten Instanz bis zur endgültigen rechtskräftigen Entscheidung. „Einleitung“ meint dabei alle Formen, mit denen ein Verfahren in Gang gesetzt werden kann, unabhängig davon, ob dies durch Antrag oder Klageerhebung geschieht oder ein Verfahren von Amts wegen eingeleitet wird.80 Zum Beginn des strafrechtlichen Ermitt-
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Vgl. BVerwG Urteil vom 29.3.2012 – 2 A 11.10, BeckRS 2012 52890 = NVwZ 2012 1128 (Leitsatz). Zuck NVwZ 2012 265. BTDrucks. 17 3802 S. 23; vgl. hierzu Zimmer ZInsO 2011 2302, 2307, 2309; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 48. Vgl. Zimmer ZInsO 2011 2302, 2307 f.
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Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 37; insoweit kann Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO, § 88 SGG, § 46 FGO erhoben werden. BTDrucks. 17 3802 S. 23; Althammer/ Schäuble NJW 2012, 1, 2; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 50. BTDrucks. 17 3802 S. 22.
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lungsverfahrens vgl. § 199, 3. Der für eine Entschädigung zu berücksichtigende Zeitraum endet mit dem Eintritt der Rechtskraft der verfahrensbeendenden Entscheidung.81 Dem rechtskräftigen Abschluss steht eine Erledigung der Sache in anderer prozessualer Form gleich, z.B. durch Klagerücknahme, Vergleich, Erledigterklärung oder Einstellung. Der Zeitraum bis zu einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung gem. § 460 StPO bleibt dagegen unberücksichtigt.82 Wiederaufnahmeverfahren und Verfahren aufgrund von Anhörungsrügen sind eigene Gerichtsverfahren. Das Verfahren vor dem Vollstreckungsgericht ist unabhängig vom Erkenntnisverfahren und im Gegensatz zur Tätigkeit des Gerichtsvollziehers als eigenes Gerichtsverfahren zu qualifizieren.83 Die Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil ist zwar Teil des Gesamtverfahrens. Da sie aber kein Rechtsmittel ist und nicht zum Rechtsweg gehört, bleibt die Dauer eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens bei der Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer eines Zivil- oder Strafverfahrens unberücksichtigt;84 für Verzögerungen im Verfassungsbeschwerdeverfahren gilt die spezialgesetzliche Regelung des § 97a BVerfGG. Zur Anwendbarkeit der §§ 198 ff. für Verfahren, die bei Inkrafttreten des ÜVerfBesG bereits anhängig oder abgeschlossen waren, s. unten Rn. 66 ff. Verfahrensverzögerungen infolge einer unangemessenen Dauer eines Vorabentschei21 dungsverfahrens nach Art. 267 AEUV werden von § 198 nicht erfasst.85 Für Richtervorlagen nach Art. 100 GG gelten §§ 97a ff. BVerfGG.
II. Verfahrensbeteiligter (Abs. 6 Nr. 2) 22
§ 198 Abs. 6 Nr. 2 bestimmt den Kreis derer, die bei einem Verfahren in der ordentlichen Gerichtsbarkeit berechtigt sind, Entschädigung wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens geltend zu machen. Dazu zählen jede Partei und jeder Beteiligte eines Gerichtsverfahrens, soweit es nicht um Träger öffentlicher Verwaltung oder sonstige öffentliche Stellen (Staatsanwaltschaft, Jugendgerichtshilfe, Verwaltungsbehörde im Bußgeldverfahren, Vertreter des öffentlichen Interesses, Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht, Fiskus im Zivilrechtsstreit) handelt. Öffentliche Stellen sind ausgenommen, weil dem Staat kein Entschädigungsanspruch gegen sich selbst zustehen soll. Etwas anderes gilt nur für Träger öffentlicher Verwaltung und sonstige öffentliche Stellen, die in Wahrnehmung eines Selbstverwaltungsrechts – wie beispielsweise Kommunen in Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises oder Universitäten – an einem Verfahren beteiligt sind. Entsprechendes gilt für Religionsgemeinschaften, soweit es um ihre Angelegenheiten geht. Weitere selbstverwaltungsberechtigte Stellen sind zum Beispiel Ärzte- und Rechtsanwaltskammern, Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, aber auch Rundfunkanstalten.86 Der Ausschluss öffentlicher Stellen betrifft nicht privatrechtliche Organisationen, die vom Staat zur Wahrnehmung bestimmter Aufgaben errichtet worden sind.87 Die Benennung von Parteien und Beteiligten im Gesetz berücksichtigt den in den 23 verschiedenen Prozessordnungen unterschiedlichen Sprachgebrauch (z.B. Buch 1, Ab-
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Marx/Roderfeld § 199, 21. Marx/Roderfeld § 199, 23; a.A. EGMR-E 2 105, 127 f. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 43 f. A.A. Söhngen NZS 2012 493, 495. BTDrucks. 17 3802 S. 22 f.; Althammer/
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Schäuble NJW 2012 1, 2; a.A. Guckelberger DÖV 2012 289, 295 für offensichtlich missbräuchliche Vorlagen an den EuGH. Vgl. EGMR NVwZ 2011 479, 480; Guckelberger DÖV 2012 289, 295 f. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 233.
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schnitt 2 ZPO oder § 7 FamFG).88 Erfasst ist jede Person, die nach Maßgabe der jeweiligen Prozessordnung kraft eigenen Rechts gestaltend auf den Prozessgegenstand einwirken kann89 und deren Position deshalb durch die Untätigkeit des Gerichts beeinträchtigt wird.90 Entschädigungsberechtigt sind somit die Parteien im Zivilprozess, auch der Nebenintervenient91 und die Beteiligten in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit.92 Anspruchsberechtigt ist auch die Partei kraft Amtes (Testamentsvollstrecker, Insolvenzverwalter, Nachlassverwalter). Im Strafverfahren zählen zu den Verfahrensbeteiligten der Beschuldigte bzw. der Angeklagte, der Nebenkläger, der Adhäsionskläger und der Einziehungs- und Verfallsbeteiligte. Gemäß § 199 Abs. 4 GVG zählt der Privatkläger, der nicht zugleich Adhäsionskläger ist, nicht dazu.93 Der Verletzte ist berechtigt, einen Anspruch auf Entschädigung geltend zu machen, wenn er sich am Verfahren als Nebenkläger beteiligt oder einen Adhäsionsanspruch geltend macht, ansonsten besteht hierfür keine Notwendigkeit.94 Im Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz kommen insbesondere auch der Erziehungsberechtigte und der gesetzliche Vertreter oder Beistand in Betracht.95 Im Bußgeldverfahren gehören der Betroffene, der Einziehungsbeteiligte sowie jede beteiligte juristische Person oder Personenvereinigung zu den Anspruchsberechtigten. Im Verfahren auf Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz und in Verfahren zur Bewilligung von Prozess- und Verfahrenskostenhilfe gehören Antragsteller und Antragsgegner zu den Berechtigten. Im Verwaltungsprozess können Kläger, Beklagter und Beigeladene entschädigungsberechtigt sein.96 Keine Verfahrensbeteiligten i.S.v. § 198 sind andere in das Verfahren einbezogene Per- 24 sonen wie Zeugen, Sachverständige oder Prozessbevollmächtigte in eigenem Namen.97
III. Unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens (Abs. 1) Zentrale Tatbestandsvoraussetzung des Entschädigungsanspruchs ist die unangemes- 25 sene Dauer eines Gerichtsverfahrens. Nach § 198 Abs. 1 Satz 2 richtet sich die angemessene Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles. Das Gesetz benennt beispielhaft und ohne abschließenden Charakter98 die Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter als Umstände, die für die Beurteilung der Angemessenheit besonders bedeutsam sind. Damit hat der Gesetzgeber an die Maßstäbe angeknüpft, die sowohl das BVerfG99 als auch der EGMR100 88 89 90 91
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BTDrucks. 17 3802 S. 23. Vgl. BTDrucks. 17 3802 S. 22. Kissel/Mayer § 198, 10. Heine MDR 2012 327, 328; Kissel/Mayer § 198, 10; Marx/Roderfeld § 198, 191; a.A. Althammer/Schäuble NJW 2012 1; SteinbeißWinkelmann/Ott § 198, 229. Dazu zählen die Beteiligten i.S.v. § 7 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 FamFG, also Antragsteller und unmittelbar in einem Recht Betroffene, sowie die Muss-Beteiligten nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 FamFG und die Kann-Beteiligten nach § 7 Abs. 3 FamFG; s. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 230. BTDrucks. 17 7669 S. 8; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 8 f. BeckOK/Graf § 198, 29 GVG; KK/Barthe § 198, 7 GVG; Burhoff ZAP Fach 22 S. 591,
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593, Stellungnahme des Bundesrates, BTDrucks. 17 3802 S. 36, BRDrucks. 587/1/ 11 S. 3 entgegen BTDrucks. 17 3802 S. 23. BTDrucks. 17 3802 S. 23. Ablehnend bzgl. des Beistands wegen der verteidigerähnlichen Rechtstellung Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 10. Schenke NVwZ 2012 257, 263. Vgl. hierzu Zimmermann FamRZ 2011 1905, 1906; Marx/Roderfeld § 199, 6. BTDrucks. 17 3802 S. 18; krit. Sommer StV 2012 107, 110. Vgl. nur BVerfG EuGRZ 2009 695; NJWRR 2010 207, 208; NVwZ-RR 2011 625, 626; NVwZ 2011 486, 492. Vgl. EGMR NVwZ 2008 289, 291; 2010 177; NJW 2010 3355; 2011 1055; EuGRZ 2009 563; s.a. LR/Esser Art. 6, 313 ff.
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im Zusammenhang mit der Frage überlanger gerichtlicher Verfahren entwickelt haben101 und die auch die Justizpraxis in Strafverfahren in Deutschland bestimmen. An diesen weitgehend deckungsgleichen Kriterien hat sich die Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs der unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens, die in der Rechtsmittelinstanz uneingeschränkt überprüfbar ist, zu orientieren.102 Danach ist von folgenden Grundsätzen auszugehen:
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1. Maßgeblichkeit der Umstände des Einzelfalls. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist stets nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu bestimmen, die in einer umfassenden Gesamtwürdigung gegeneinander abgewogen werden müssen. Auf eine Pflichtwidrigkeit des mit der Sache befassten Gerichts kommt es dabei nicht an. Es gibt keine allgemeingültigen Zeitvorgaben dafür, wann von einer überlangen, die Rechtsgewährung verhindernden und damit unangemessenen Verfahrensdauer auszugehen ist. Dies ist angesichts der Unterschiedlichkeit der Verfahren nicht möglich, maßgeblich ist vielmehr eine Abwägung im Einzelfall.103 Genaue Zeitgrenzen, deren Überschreitung automatisch eine Verletzung darstellen würde, können weder der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entnommen werden.104 Soweit in der Literatur in Anknüpfung an die Rechtsprechung des EGMR Zeiträume von einem Jahr,105 eineinhalb bis zwei Jahren106 oder zwei Jahren107 als Höchstgrenze für die Verfahrensdauer pro Instanz angesehen werden, handelt es sich allenfalls um Leitlinien für die Bestimmung der Angemessenheit. Eine schematische Betrachtung lehnen sowohl EGMR als auch BVerfG ab, vielmehr stellen sie auf die wertende Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls unter besonderer Berücksichtigung der Gesamtdauer, der Natur des Verfahrens, der von den Justizorganen zu vertretenden Verfahrensverzögerungen, des Umfangs und der Schwierigkeit des Verfahrensgegenstandes, des Verhaltens der Beteiligten, der Bedeutung des Sache für den Beschwerdeführer und des Ausmaßes der Belastungen für den Betroffenen ab.108 Die
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EMRK; Frowein/Peukert Art. 6, 248 ff. EMRK. BTDrucks. 17 3802 S. 18; Steinbeiß-Winkelmann ZRP 2010 205, 206; Böcker DStR 2011 2173, 2174; Althammer/Schäuble 2012 1, 2; Magnus ZZP 125 (2012) 75, 80; KK/Barthe § 198, 2 GVG. Kissel/Mayer § 198, 13; Graf NZWiSt 2012 121, 123; zur Orientierungs- und Leitfunktion der Rspr. des EGMR s. BVerfG NJW 2011 1931 Z. 89, 94; NJW 1993 3254 Z. 28; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 74. BVerfGE 55 349, 369; BVerfG NJW 2008 503; EuGRZ 2009 699; NJW-RR 2010 207, 208; NVwZ-RR 2011 625, 626; SozR 4-1100 Art. 19 Nr. 10; JZ 2013 145; Steinbeiß-Winkelmann/Ott Einführung 236 und § 198, 68 f.; LR/Esser Art. 6, 314 EMRK; Mansdörfer GA 2010 153, 158; Gercke/Heinisch NStZ 2012 300, 301; Scholz SGb 2012 19, 21; Guckelberger DÖV 2012 289, 290; Söhngen NZS 2012 493, 494. Vgl. BVerfG NJW 1997 2811, 2812; NJW-
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RR 2010 207, 208; Steinbeiß-Winkelmann/ Ott § 198, 69; Frowein/Peukert Art. 6, 248 EMRK; Karpenstein/Mayer Art. 6, 76 EMRK. Böcker DStR 2011 2173, 2175 unter Hinweis auf EGMR 8.2.2005, Panchenko, Nr. 45100/98, Z. 117; 26.11.2009, Nazarov, Nr. 13591/05, Z. 126 und 9.10.2008, Moiseyser, Nr. 6236/00. Frowein/Peukert Art. 6, 249 EMRK. Meyer-Ladewig Art. 6, 199 EMRK; Remus NJW 2012 1403, 1404. Vgl. nur EGMR NJW 1999 3545, 3548; 2002 2856, 2857; 2011 1055; EuGRZ 2009 563; NVwZ 2010 177; BVerfG NJW 1993 3254, 3255; 2008 503; EuGRZ 2009 699, 700; NJW-RR 2010 207, 208; NVwZ-RR 2011 625, 626; NVwZ 2011 486, 492; SozR 4-1100 Art. 19 Nr. 10; vgl. auch BGHSt 46 159, 172 f.; im Einzelnen Frowein/Peukert Art. 6, 251 ff. EMRK; Karpenstein/Mayer Art. 6, 78 ff. EMRK.
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Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer erfordert regelmäßig eine auf den Einzelfall bezogene Analyse des Verfahrensablaufs. Dies gilt auch in Verfahren mit ungewöhnlich langer Verfahrensdauer; eine pauschale Bewertung verbietet sich auch hier.109 Diese Orientierung am Einzelfall schließt aber nicht aus, bei der Beurteilung der Angemessenheit der Bearbeitungszeit Bedeutung beizumessen, die für vergleichbare Verfahren üblich ist.110 Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist grundsätzlich auf die 27 Gesamtdauer des Verfahrens abzustellen.111 Das bedeutet aber nicht, dass nicht schon vor Verfahrensabschluss des Ausgangsverfahrens eine Kompensation für schon eingetretene Nachteile zugesprochen werden kann. Zu beachten ist, dass sich die Gerichte mit zunehmender Dauer nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens bemühen müssen.112 Mit Blick auf die Angemessenheit der Gesamtverfahrensdauer stellt sich die Frage, ob Verzögerungen während eines Verfahrensabschnitts durch die Gerichte im Wege der Verfahrensbeschleunigung in anderen Verfahrensabschnitten ausgeglichen werden können. Dieses Problem wird insbesondere beim Übergang der Verfahrenshoheit im Verlaufe des Verfahrens, z.B. von der Staatsanwaltschaft auf das Gericht oder vom Tatauf das Berufungs- oder Revisionsgericht, virulent. Die Rechtsprechung des BGH in Strafsachen hat einen Ausgleich zwischenzeitlich eingetretener Verzögerungen durch die Gerichte grundsätzlich für möglich erachtet, soweit nur die Dauer des Verfahrens insgesamt angemessen ist.113 Dem wird entgegengehalten, dass es eine aus rechtsstaatlicher Sicht noch hinreichende, konkret zu bemessende und nachvollziehbare Geamtverfahrensdauer nicht gebe und eine „Absegnung“ einer unangemessenen Verzögerung in einem Verfahrensabschnitt im Hinblick auf eine abstrakt noch tolerierbare Gesamtverfahrensdauer dem Schutzzweck des Beschleunigungsgebots zuwiderliefe.114 Das isolierte Abstellen auf einzelne Verfahrensabschnitte ohne Bezug zur Dauer des Gesamtverfahrens ist zu eng. Dem Erfordernis einer rechtzeitigen gerichtlichen Entscheidung als Element der Justizgewährung wird im Hinblick auf den Schutzzweck ausreichend Rechnung getragen, wenn die Dauer des Gesamtverfahrens noch angemessen ist. Es ist deshalb nicht von vornherein ausgeschlossen, eine einmalige gewisse Verfahrensverzögerung außer Acht zu lassen, wenn im Übrigen das Gesamtverfahren ständig beschleunigt betrieben wurde und sich eine Verzögerung in der Gesamtdauer letztlich nicht oder jedenfalls nicht spürbar ausgewirkt hat.115 Eine entsprechende Feststellung ist in der Regel erst mit Abschluss des 109
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Anders z.T. die Rspr. des EGMR, der bei ganz langen Verfahrensdauern, die de prima facie eine unangemessene Verfahrensdauer erkennen lassen würden, auf eine genaue Verfahrensanalyse verzichtet; vgl. Frowein/ Peukert Art. 6, 258 EMRK; LR/Esser Art. 6, 318 EMRK; Böcker DStR 2011 2173, 2175. Schenke NVwZ 2012 257, 258; SteinbeißWinkelmann/Ott § 198, 87. BTDrucks. 17 3802 S. 18; Kissel/Mayer § 198, 13; Graf NZWiSt 2012 121, 124; Scholz SGb 2012 19, 22; Marx/Roderfeld § 198, 6; s. auch BVerfG NVwZ 2011 486, 492; NVwZ-RR 2011 625, 626; SozR 4-1100 Art. 19 Nr. 10; a.A. Schenke NVwZ 2012 257: Dauer innerhalb der jeweiligen Instanz. Vgl. BVerfG NJW 2001 214, 215; 2006 672,
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673; 677, 680; 2008 503, 504; EuGRZ 2009 695 Z. 27; 699; NJW-RR 2010 207, 208; NVwZ-RR 2011 625, 626 Z. 27; NVwZ 2011 486, 492; Scholz SGb 2012 19, 22; Guckelberger DÖV 2012 289, 290. Vgl. BGH StraFo 2008 513, 514; 2009 245; NJW 2011 3314, 3315; NStZ-RR 2006 50, 51; wistra 2001 105, 106; 2004 339. Krehl/Eidam NStZ 2006 1, 4; vgl. auch BVerfG NJW 2006 672, 675 bzgl. des Beschleunigungsgebots in Haftsachen, weil eine intensive Form der Bearbeitung ohnehin in jeder Lage des Verfahrens geboten sei; vgl. auch OLG Hamm StV 2006 191, 195. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 79, 101; LR/Esser Art. 6, 315 EMRK; Karpenstein/ Mayer Art. 6, 81 EMRK; KK/Barthe § 198, 2 GVG; Graf NZWiSt 2012 121, 124.
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Verfahrens in erster Instanz möglich, es sei denn, es liegen derartig krasse Verfahrensverzögerungen vor, die keinesfalls mehr kompensiert werden können. Die Dauer des Gesamtverfahrens ist auch dann in den Blick zu nehmen, wenn sich der Anspruch aus § 198 gegen verschiedene Rechtsträger richtet (s. § 201, 1).
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2. Schwierigkeit des Verfahrens. Zu berücksichtigen bei der Gesamtbetrachtung sind Schwierigkeit, Umfang und Komplexität des Falles.116 Ein Verfahren kann entweder tatsächlich oder rechtlich schwierig sein. Tatsächliche Schwierigkeiten können sich beispielsweise ergeben aus der Vielzahl von Parteien, Angeklagten oder sonstigen Beteiligten (z.B. Beiladung vieler Gesellschafter bei einer Publikumsgesellschaft),117 grenzüberschreitenden Sachverhalten und der Notwendigkeit von Rechtshilfeersuchen oder der erforderlichen Einholung mehrerer Sachverständigengutachten.118 Besonders umfangreich und schwierig erweisen sich häufig komplexe Wirtschaftsstrafsachen,119 Korruptions- oder Umweltstrafsachen120 oder Verfahren, die die Aufklärung lange zurückliegender Taten erfordern. Rechtliche Schwierigkeiten können auf die Beantwortung grundsätzlicher Rechtsfragen zurückzuführen sein.121 Ist eine umstrittene Frage von grundsätzlicher Bedeutung zu klären, verlangt dies regelmäßig eine besonders intensive Vorbereitung der Entscheidung und eine eingehende Sichtung und Bewertung der vorliegenden Rechtsprechung und des Meinungsstandes in Literatur und Wissenschaft.122 Eine schwierige Rechtslage kann sich auch aus der häufigen Änderung der maßgeblichen Rechtsvorschriften ergeben.123
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3. Bedeutung des Verfahrens. Zu berücksichtigen ist weiterhin die Bedeutung des Rechtsstreits. Insoweit kommt es in erster Linie auf die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für den auf Entschädigung klagenden Verfahrensbeteiligten an.124 Von Belang ist dies vor allem dann, wenn die Verzögerung des Verfahrens für den Betroffenen schwere und nicht oder nur begrenzt reparable Nachteile zur Folge hat, z.B. wenn es um finanzielle Mittel geht, die für den Lebensunterhalt benötigt werden,125 wenn die Entscheidung die Wiederzulassung zu einem Beruf zum Gegenstand hat,126 es um das generelle Rehabilitationsinteresse bei einem schwerkranken Angeklagten geht127 oder wenn die wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel steht.128 In kindschaftsrechtlichen Verfahren, 116
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BVerfG NJW 2004 3320; EuGRZ 2009 695 Z. 24; NJW-RR 2010 207, 208 Z. 22; EGMR EuGRZ 1996 192, 194 Z. 68; NJW 2006 1645, 1646; StV 2009 561, 562 m. Anm. Krehl und Krawcyk, JR 2009 172 und Esser/Gaede/Tsambikakis NStZ 2011 140; NJW 2011 1055 Z. 28; BGH StV 2008 299, 300; LR/Esser Art. 6, 319 EMRK; Althammer/Schäuble NJW 2012 1, 2; Böcker DStR 2011 2173. BVerfG NJW 2004 3320 (Anhängigkeit von 2000 Verfahren); Böcker DStR 2011 2173, 2174; Zimmermann FamRZ 2011 1905, 1906. Vgl. EGMR NJW 2006 2389, 2393; 2011 1055; BVerfG BeckRS 2010 51311. Vgl. EGMR-E 1 54, 60; 2 105, 130 Z. 85. Vgl. EGMR NJW 2002 2856, 2857. Böcker DStR 2011 2173, 2174.
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BVerfG NVwZ-RR 2011 625, 627 Z. 36 bzgl. einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs als Revisionsgericht. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 105; Böcker DStR 2011 2173, 2174; a.A. LR/Esser Art. 6, 319 EMRK (fällt in den Verantwortungsbereich des Staates). Vgl. BVerfGE 46 17, 29; BVerfG EuGRZ 2009 695, 697; NJW-RR 2010 207, 208; NJW 1997 2811, 2812; 2001 961; EGMR NJW 2006 2389, 2393; 2010 3355, 3356 und 13.1.2011, Nr. 34236/06. Vgl. EGMR EuGRZ 1996 514, 520 Z. 61. Vgl. BVerfG NVwZ-RR 2011 625, 626 Z. 30. EGMR 7.2.2002, Beljanski Nr. 44070/98 Z. 40. EGMR NJ 2007 406 Z. 48; EuGRZ 2007 268 Z. 57; Böcker DStR 2011 2174.
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insbesondere in Verfahren, die das Sorge- und Umgangsrecht betreffen, ist bei der Beurteilung, welche Verfahrensdauer noch angemessen ist, vor allem bei kleineren Kindern im Hinblick auf das Beschleunigungsgebot ein strengerer Maßstab anzulegen, weil diese den Verlust einer Bezugsperson schneller und endgültiger als ältere Kinder oder gar Erwachsene empfinden.129 Besonderer Beschleunigung bedürfen regelmäßig auch Verfahren über den Personenstand und die Geschäftsfähigkeit oder Arbeitssachen.130 Im Zivilverfahren ist es zwar primär Aufgabe der Parteien, das Verfahren voranzutreiben; gleichwohl haben auch die Zivilgerichte die Parteien zur Wahrnehmung ihrer prozessualen Pflichten anzuhalten.131 In Strafprozessen erlangt das Beschleunigungsgebot wegen der regelmäßig vorliegenden Eingriffstiefe in grundrechtlich geschützte Positionen besondere Bedeutung.132 Dies gilt wegen des mit dem Strafverfolgungsinteresse kollidierenden Freiheitsanspruchs des Beschuldigten insbesondere in Haftsachen.133 Allerdings hindert das Beschleunigungsgebot die Strafgerichte nicht daran, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um Schuld oder Unschuld des Angeklagten festzustellen, auch wenn dies aufwändige und schwierige Ermittlungen erfordert.134 In Jugendsachen sind die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte wegen des das JGG beherrschenden Erziehungsgedankens gehalten, alles zu tun, um unnötige Verfahrensverzögerungen zu verhindern.135 In sozialgerichtlichen Verfahren sind insbesondere Verfahren, in denen es um unterhaltssichernde Sozialleistungen und um Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II oder SGB XII geht, besonders zu fördern.136 Besondere Bedeutung spielt das Zeitmoment in der Regel auch in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, zumal hier nur eine summarische Prüfung stattfindet.137 Maßgeblich für die Beurteilung der Bedeutung einer Sache ist die Sicht eines verständigen Verfahrensbeteiligten; rein subjektive Einschätzungen und Übertreibungen bleiben außer Betracht.138 In Einzelfällen kann auch die Bedeutung eines Falles für die Allgemeinheit von Belang 30 bei der Gesamtabwägung sein, etwa im Fall eines Musterprozesses, der für eine Vielzahl ähnlicher Verfahren richtungsweisende Bedeutung besitzt.139 4. Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung. Wie die Entscheidungspra- 31 xis des EGMR, aber auch des BVerfG zeigt, kommt es bei der Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer maßgeblich darauf an, in welchem Umfang im konkreten Fall bei den einzelnen Verfahrenshandlungen Verzögerungen eingetreten sind, die dem Staat zuzurechnen sind. Die Verletzung der Verfahrensförderungs- und Erledigungspflicht
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Vgl. BVerfG NJW 1997 2811, 2812; 2001 961; EGMR FamRZ 2010 1721 Z. 59; 2011 533; NJW 2006 2389, 2393; BTDrucks. 17 3802 S. 18. Vgl. EGMR NJW 2006 2389, 2393; FamRZ 2011 1557 Z. 29 ff.; vgl. auch Frowein/Peukert Art. 6, 262 EMRK m.w.N. Vgl. EGMR EuGRZ 2007 420 Z. 78; NJW 2011 1055, 1056; Frowein/Peukert Art. 6, 248, 254 EMRK; Karpenstein/Mayer Art. 6, 81 EMRK. Vgl. BVerfG NJW 2005 3488; Mansdörfer GA 2010 153. Vgl. BVerfG NJW 2006 668, 1336; NStZRR 2008 18; StV 2008 198, 199, 421; 2012, 291.
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EGMR-E 1 62, 70 Z. 21; EGMR Papathanasiou/GR, 62770/00, 5.2.2004, Z. 21; BVerfG 1993 3254, 3255; BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 12; LR/Esser Art. 6, 326 EMRK. BGH NStZ 2010 94. Vgl. Söhngen NZS 2012 493, 494. Schenke NVwZ 2012 257, 259. BTDrucks. 17 3802 S. 18. BTDrucks. 17 3802 S. 18; Althammer/ Schäuble NJW 2012 1, 2; Schenke NVwZ 2012 257, 259; BeckOK/Graf § 198, 8 GVG.
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kann auf objektive Überlastung, aber auch auf individuelles Fehlverhalten zurückzuführen sein. Auf ein Verschulden des mit der Sache befassten Staatsanwalts oder Richters kommt es für die Feststellung der überlangen Verfahrensdauer nicht an. Eine dem Staat zuzurechnende Verfahrensverzögerung ist anzunehmen, wenn die Staatsanwaltschaft oder das Gericht den Fortgang des Verfahrens eine gewisse Zeit überhaupt nicht gefördert haben140 oder wenn sie bei effizienter Verfahrensgestaltung eine Verfahrenshandlung früher hätten vornehmen können.141 In Betracht kommen etwa schleppende Terminierung, schleppende Ermittlungen oder Beweisaufnahme, sachlich nicht gerechtfertigte Terminsverlegungen oder Nichtwahrnehmung von Zwangs- und Beugemitteln gegenüber Sachverständigen und Zeugen. Maßgeblich für die Beurteilung der Angemessenheit ist, ob unter Berücksichtigung der Schwierigkeit des Falls, der besonderen Bedeutung für den Betroffenen und des Verhaltens der Verfahrensbeteiligten die Verfahrensdauer, die für die sachgerechte Erledigung des jeweiligen Verfahrens bei ordnungsgemäßer Sachbearbeitung im normalen Verfahrensbetrieb notwendig ist, unverhältnismäßig überschritten ist. Zeiträume, die bei zeitlich angemessener Verfahrensgestaltung beansprucht werden durften, bleiben bei der Feststellung der Überlänge außer Betracht.142 Bei der Bewertung verbietet sich eine einseitig an betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten orientierte Verfahrensweise. Nicht allein, weil es theoretisch schneller ginge, ist die Verzögerung unangemessen. Die zügige Durchführung des Verfahrens darf nicht auf Kosten der Qualität der Entscheidung gehen.143 Geringe Verzögerungen können insgesamt unberücksichtigt bleiben; Voraussetzung für einen Eingriff in die Verfahrensposition des Verfahrensbeteiligten ist nur eine das Maß des Zumutbaren überschreitende Verzögerung.144 Bei zunehmender Dauer des Verfahrens verdichtet sich aber die Förderungs- und Erledigungspflicht. Außerdem ist der aus der richterlichen Unabhängigkeit folgende Freiraum bei der Beurteilung mit einzubeziehen.145 Dem Richter steht für die Bearbeitung anhängiger Verfahren grundsätzlich ein Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen er auf Grund eigener Gewichtung der Bedeutung der Sache, der Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten, der Schwierigkeit des Falles und des Verhaltens der Beteiligten Prioritäten in Abweichung von der Reihenfolge des Eingangs setzen kann.146 Erst wenn sich maßgebliche Lücken im Verfahrensgang auftun, die sachlich nicht mehr begründet wer140 141
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Vgl. BVerfG SozR 4-1100 Art. 19 Nr. 10. Vgl. EGMR NJW 1984 2749, 2750; 1989 650 ff., 652 ff.; 2002 2856; 2011 1055, 1056; BVerfG NJW 2003 2897, 2898; NVwZ-RR 2011 625, 626 Z. 29 f.; NJWRR 2010 207, 208 Z. 27; BGHSt 35 137 ff.; wistra 1998 101; 2007 257; LR/Esser Art. 6, 320 EMRK; Karpenstein/Mayer Art. 6, 81 EMRK jeweils m.w.N.; Gercke/ Heinisch NStZ 2012 300, 301; Böcker DStR 2011 2173, 2175. Vgl. BGH NStZ 2008 478; OLG Frankfurt a.M. BeckRS 2013 12550; Marx/Roderfeld § 198, 25. Vgl. BTDrucks. 17 3802 S. 18; Schenke NVwZ 2012 257, 259. Vgl. BVerfG SozR 4-1100 Art. 19 Nr. 10; StV 2005 220, 222; Mansdörfer GA 2010 153, 158. OLG Frankfurt a.M. BeckRS 2013 12550;
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Heine MDR 2012 327, 329; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 128; Roller DRiZ 2012 Beilage zu Heft 6; vgl. auch Remus NJW 2012 1403, 1405, 1409, der – wie bei der Amtshaftung – nur eine Vertretbarkeitsprüfung zulassen will; zur Frage, wann dem Richter amtspflichtwidrige Verzögerungen anzulasten sind vgl. auch BGH NJW 2011 1072, 1073 zu § 839 BGB. Vgl. BVerfGE 55 349, 369; BVerfGK 2 239 ff.; BVerfG NJW 2005 3488, 3489; NVwZ 2011 486, 492; zur Bearbeitung von komplexen Wirtschaftsstrafsachen vgl. auch BGH NJW 2008 2451, 2453; Heine MDR 2012 327, 329, wonach sich im Spannungsverhältnis zwischen richterlicher Unabhängigkeit und optimaler Verfahrensbeschleunigung kaum generelle Gebote für die richterliche Sachbearbeitung aufstellen lassen.
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den können, ist von einer unangemessenen Verfahrensverzögerung auszugehen. Nicht jeder Engpass im Verhandlungskalender und eine damit verbundene geringe Verzögerung führt deshalb automatisch zu einer unangemessenen Dauer eines Verfahrens. Anders verhält es sich aber, wenn es sich nicht um einen vorübergehenden Engpass handelt, sondern der Zustand andauert und strukturellen Charakter hat.147 Unter bestimmten Umständen kann es auch angemessen sein, den Ausgang parallel laufender Verfahren abzuwarten, wenn dies im Hinblick auf die besonderen Umstände der Rechtssache verhältnismäßig ist.148 Während eines Prozesskostenhilfebeschwerdeverfahrens kann es erforderlich sein, das bereits anhängige Hauptsacheverfahren weiter zu betreiben.149 Gegebenenfalls sind bei notwendigen Aktenversendungen Zweitakten anzulegen.150 Zu Verfahrensverzögerungen im Ermittlungs- und Strafverfahren vgl. im Einzelnen § 199, 4 ff. Eine Zurechnung der Verzögerung zur hoheitlichen Sphäre hat auch dann zu erfol- 32 gen, wenn sich das Verfahren auf Grund struktureller Mängel und Probleme bei einer Staatsanwaltschaft, Polizeibehörde oder einem Gericht verzögert hat; denn die Verantwortung für Justizorganisation und -ausstattung liegt beim Staat.151 Dieser ist verpflichtet, gegebenenfalls kurzfristig und flexibel Abhilfe zu schaffen und ein Justizsystem einzurichten, das die Einhaltung des Beschleunigungsgebots garantiert. Auf eine Pflichtwidrigkeit des zuständigen Spruchkörpers oder Staatsanwalts kommt es insoweit nicht an; maßgeblich ist allein, ob die Verzögerung dem Staat zuzurechnen ist.152 Personalnot und chronische Arbeitsüberlastung der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte hat deshalb der Staat ebenso zu vertreten153 wie eine erhebliche Verfahrensverzögerung durch einen Richterwechsel.154 Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Arbeitsüberlastung voraussehbar war und durch eine andere Geschäftsverteilung oder durch Bewilligung zusätzlicher Personal- und Sachmittel seitens des Haushaltsgesetzgebers hätte vermieden werden können. Handelt es sich dagegen um eine unvorhersehbare Überlastung, bei der zeitnah Abhilfemaßnahmen ergriffen werden, kommt eine Zurechnung zur hoheitlichen Sphäre nicht in Betracht.155 Die Inanspruchnahme des Instanzenzugs begründet als solche keine dem Staat zuzu- 33 rechnende Verzögerung; sie ist Ausfluss einer rechtsstaatlichen Ausgestaltung des Rechts147 148 149 150 151
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EGMR EuGRZ 1983 482, 483 Z. 29. Vgl. EGMR DVBl 2007 1161; EuGRZ 2007 420. Vgl. BVerfG NJW-RR 2010 207, 209. Vgl. BVerfG Beschl. v. 27.9.2011 – 1 BvR 232/11. BVerfG NJW 2005 3488, 3489; NJW-RR 2010 207, 209 Z. 27; StV 2009 561 Z. 64; JZ 2013 145, 146; EGMR EuGRZ 1983 482, 483 Z. 29; 1996 514, 519; NJW 2001 211, 212; 2002 2856, 2857 Z. 42; StV 2009 561; BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Verfahrensverzögerung 6, 24; BGH wistra 2006 226; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 92; Marx/Roderfeld § 199, 37; LR/Esser Art. 6, 324 EMRK; Steinbeiß-Winkelmann ZRP 2010 205, 206. BTDrucks. 17 3802 S. 18; BVerfG StV 2003 30; NJW 2005 3488, 3489; BGH wistra 2006 226; Tepperwien NStZ 2009 1, 2; Graf NZWiSt 2012 121, 124; Scholz SGb
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2012 19, 22; Magnus ZZP 125 (2012) 75, 82. Vgl. EGMR NJW 1984 2749, 2750; StV 2009 519; Kressin 22.12.2009, Nr. 21061/06 Z. 26; BVerfG NJW 2005 3488; 3489; NJW-RR 2010 207, 209 Z. 27; JZ 2013 145, 146; Schenke NVwZ 2012 257, 259; Böcker DStR 2011 2174; vgl. aber auch BGH NJW 2008 2451: kein gänzliches Ausblenden anderweitiger Verpflichtungen der Strafkammer in Wirtschaftsstrafsachen. BVerfG NJW-RR 2010 207, 209; EGMR H. E./Österreich, 11.7.2002, ÖJZ 2003 433; LR/Esser Art. 6, 325 EMRK. Vgl. BVerfGE 36 264, 275 zu § 121 StPO; BVerfG NJW 2005 3488, 3489; VerfG Bbg NVwZ 2010 378, 379; EGMR EuGRZ 1983 482; BGH wistra 2005 34; 2006 226; LR/Esser Art. 6, 325 EMRK; Frowein/Peukert Art. 6, 256 EMRK; Lau NVwZ 2010 358; Magnus ZZP 125 (2012) 75, 82.
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mittelsystems. Die infolge der Durchführung eines Revisionsverfahrens verstrichene Zeit ist deshalb nicht der ermittelten Überlänge eines Verfahrens hinzuzurechnen.156 Eine Ausnahme hiervon ist aber geboten, wenn das Revisionsverfahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden schweren Verfahrenfehlers gedient hat.157 5. Das Verhalten Verfahrensbeteiligter und dritter Personen
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a) Maßgebliches Kriterium bei der Angemessenheitsprüfung ist auch das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten, insbesondere Verfahrensverzögerungen durch sie. Grundsätzlich ist – unter dem Aspekt einer Mitverursachung – eigenes Verfahrens- oder Prozessverhalten der Parteien oder des Angeklagten als objektives Kriterium bei der Bemessung der angemessenen Frist mit zu berücksichtigen.158 Als rechtsstaatswidrig können nur solche Verfahrensverzögerungen angesehen werden, die ihre Ursache im Bereich der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte haben und nicht dem Betroffenen – unter Beachtung seiner Verfahrensrechte – zuzurechnen sind.159 Keine Berücksichtigung finden deshalb Verfahrensverzögerungen, die der Beteiligte selbst verursacht hat, sei es auch durch zulässiges Prozessverhalten. Schöpft der Verfahrensbeteiligte alle gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten der Verfahrensgestaltung aus, etwa durch eine Vielzahl von Fristverlängerungs- oder Beweisanträgen, zahlreiche Stellungnahmen oder mehrfachen Anwaltswechsel, kann dies zwar nicht – solange es nicht dem Boykott des Gesamtverfahrens gleichkommt – dem Verfahrensbeteiligten vorgeworfen werden, eine solche Verfahrensverzögerung ist aber auch nicht vom Staat zu verantworten.160 Etwas anderes gilt aber, wenn die Justizbehörden es unterlassen haben, alles in ihrer Macht Stehende zu
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BVerfGK 2 239 f.; BVerfG NJW 2003 2228, 2897, 2898; 2005 3485, 3487; BGH NStZ 2009 104; NStZ-RR 2010 40; Fischer StGB § 46, 125; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 132; Marx/Roderfeld § 199, 27; Frowein/ Peukert Art. 6, 257 EMRK; krit. Tepperwien NStZ 2009 1, 2. Vgl. BVerfG NJW 2003 2897, 2898; 2005 3485, 3487; EGMR NJW 2002 2856, 2857; BGH NJW 2006 1529; NStZ 2009 104; 472; Fischer § 46, 125 StGB; LR/Esser Art. 6, 325 EMRK; Maier/Percis NStZ-RR 2009 297, 300; a.A. BVerfG NStZ 2005 456, 457, wonach eine dem Staat zuzurechnende Verfahrensverzögerung schon deshalb vorliegt, weil das ergangene Urteil fehlerhaft war; Krehl ZIS 2006 168, 171 ff.; StV 2006 408, 409 f. Vgl. BVerfG NJW-RR 2010 207, 208; EGMR NJW 2006 2389, 2393 (Fristverlängerungsanträge, Befangenheitsanträge gegen Richter und Sachverständige, Widerruf des Einverständnisses, Akten beizuziehen); DVBl 2007 1161 (Einreichung komplizierter und verworrener Schriftsätze); StV 2009 561 (verspätete Schriftsätze); EuGRZ 2009 563 (neuer Anhörungstermin nach Wechsel des
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Rechtsanwalts); NVwZ 2010 177 (Antrag auf Terminierung nicht vor Ablauf eines halben Jahres und weitere Terminverlegungsanträge); FamRZ 2011 533 (verspätete Zustellung wegen Adressänderung). OLG Frankfurt a.M. BeckRS 2013 12550; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 114 ff. Vgl. BVerfGE 122 248, 279 f.; BVerfGK 2 239 ff.; BVerfG NStZ-RR 2005 346, 347; StV 2009 673, 674; NJW-RR 2010 207, 208 Z. 23; EGMR EGMR-E 2 105, 129; NJW 2006 2389, 2393; BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 S. 1 Verfahrensverzögerung 37; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 117; Marx/ Roderfeld § 199, 26; BeckOK/Graf § 198, 7 GVG; KK/Barthe § 198, 2 GVG; MeyerGoßner Art. 6, 7a EMRK; Frowein/Peukert Art. 6, 260 EMRK; Karpenstein/Mayer Art. 6, 80 EMRK; LR/Esser Art. 6, 332 EMRK; Tepperwien NStZ 2009 1, 2; Zimmermann FamRZ 2011 1905, 1906; Althammer/Schäuble NJW 2012 1, 2; Graf NZWiSt 2012 121, 123; Heine MDR 2012 327, 329; Schenke NVwZ 2012 257, 259 f.; Böcker DStR 2012 2174; Scholz SGb 2012 19, 22; Magnus ZZP 125 (2012) 75, 80; vgl. auch Senge, FS Nehm, S. 339, 348 ff.
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tun, um das Verfahren trotzdem in angemessener Zeit weiter zu betreiben und zu beenden.161 Eine Zurechnung der Verzögerung zur Sphäre des Staates kann auch dann ausscheiden, wenn die Beteiligten das Verfahren im Hinblick auf außergerichtliche laufende Vergleichsverhandlungen selbst nicht energisch vorantreiben.162 Die Zurechnung zur Sphäre des Verfahrensbeteiligten ist nicht davon abhängig, dass das Verhalten des Beteiligten schuldhaft ist. Auch wenn der Beteiligte durch eine Erkrankung an der notwendigen Mitwirkung am Verfahren gehindert oder wegen angegriffener Gesundheit nur beschränkt verhandlungsfähig ist, kann dafür nicht der Staat verantwortlich gemacht werden.163 b) Ist die Verzögerung auf die Tätigkeit Dritter zurückzuführen, kommt es darauf an, 35 inwieweit dies dem Gericht zugerechnet werden kann. Die Unangemessenheit der Verfahrensdauer kann nicht mit dem Verhalten Dritter begründet werden, auf das das Gericht keinen Einfluss hat, wie zum Beispiel die Tätigkeit der Sachverständigen.164 Etwas anderes gilt aber, wenn das Gericht Möglichkeiten, auf eine zügige Gutachtenerstattung hinzuwirken, ungenutzt gelassen hat, etwa nicht auf die Eilbedürftigkeit hingewiesen oder während der Bearbeitung durch zeitnahe Überwachung und das Setzen von Bearbeitungsfristen auf eine raschere Fertigstellung der Gutachten hingewirkt hat.165 Gegebenenfalls ist trotz des damit verbundenen organisatorischen Aufwands das Anlegen einer Zweitakte geboten.166 Zum Tragen kommen kann auch, ob es im konkreten Fall Handlungsalternativen hinsichtlich Gutachterauswahl und -wechsel gegeben hat.167 Je länger das Verfahren dauert, desto nachhaltiger muss sich das Gericht um Beschleunigung des Verfahrens und seine Beendigung bemühen.168 Sind Träger öffentlicher Verwaltung oder sonstige öffentliche Stellen in einen Prozess einbezogen, muss sich der Staat ihr Verhalten grundsätzlich zurechnen lassen, weil die Verantwortung des Staates nicht auf die Gerichte begrenzt ist.169 Etwas anderes gilt aber in Rechtshilfeangelegenheiten; hier findet keine Zurechnung von Verzögerungen im ersuchten Staat zum ersuchenden Staat statt, weil solche Verzögerungen nicht im Verantwortungsbereich des ersuchenden Staates liegen.170
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Vgl. etwa BVerfG StV 2009 307 Z. 30; EGMR NJW 2006 2389, 2393; NVwZ 2008 289 Z. 79; NJW 2010 3355, 3356; BGH StraFo 2009 245; LR/Esser Art. 6, 332 EMRK; Frowein/Peukert Art. 6, 260 EMRK; Magnus ZZP 125 (2012) 75, 81. BVerfG SozR 4-1100 Art. 19 Nr. 10. Tepperwien NStZ 2009 1, 2; Scholz SGb 2012 19, 22; Zimmermann FamRZ 2012 1905, 1907. BVerfG NJW 2001 214, 215; NJW-RR 2010 207, 209; BTDrucks. 17 3802 S. 18. BVerfG NJW 2008 503, 504; EuGRZ 2009 695, 698; BeckRS 2010 51311; EGMR NJW 2006 2389, 2393; 2008 503; 2011 1055, 1056 m. Anm. Schneider/Schmaltz; BGH NStZ 2007 539; Frowein/Peukert Art. 6, 256 EMRK; Althammer/Schäuble NJW
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2012 1, 2; Graf NZWiSt 2012 121, 124; Söhngen NZS 2012 493, 495; BTDrucks. 17 3802 S. 18. BVerfG NJW 2001 214, 215; 2008 503, 504; StV 2011 41 Z. 30; EuGRZ 2009 695, 698. BVerfG NJW 2008 503, 504. BVerfG EuGRZ 2009 699; NJW 2001 214, 215. Vgl. BGH NStZ 2010 230 (Meldebehörde); Frowein/Peukert Art. 6, 253 EMRK m.w.N.; Mansdörfer GA 2010 153, 160; Böcker DStR 2011 2173, 2174; a.A. SteinbeißWinkelmann/Ott § 198, 121. EGMR Ikanga/F, 2.8.2000, Nr. 32675/96 Z. 20; BGHSt 57 1, 2; LR/Esser Art. 6, 325 EMRK.
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IV. Verzögerungsrüge (Abs. 3) 36
1. Voraussetzung für eine Entschädigungszahlung. § 198 Abs. 3 Satz 1 normiert als zwingende Voraussetzung für die Gewährung von Entschädigung, dass der Betroffene in dem Verfahren, für dessen Dauer er entschädigt werden möchte, eine Verzögerungsrüge erhoben hat. Die Verzögerungsrüge ist kein eigenständiger Rechtsbehelf, sondern eine Obliegenheit des Betroffenen.171 Sie löst keine Pflicht des Gerichts, bei dem das Verfahren anhängig ist, zur förmlichen Entscheidung aus. Das Ausgangsgericht ist auch nicht verpflichtet, formlos Mitteilung über das Ergebnis seiner Prüfung zu machen. Die Verzögerungsrüge ist eine Prozesshandlung und als solche bedingungsfeindlich.172 Eine unzureichende Verzögerungsrüge löst keine Hinweispflicht nach § 139 Abs. 2 und 3 ZPO aus.173 Nach der Gesetzesbegründung soll die Verzögerungsrüge eine präventive Funktion 37 erfüllen und der Missbrauchsabwehr dienen.174 Sie soll dem bearbeitenden Richter und Staatsanwalt die Möglichkeit einer beschleunigten Verfahrensförderung eröffnen und ihm als Vorwarnung dienen, ohne ein eigenständiges Verfahren einzuleiten oder eine Pflicht zur förmlichen Entscheidung auszulösen. Diese Zielsetzung dürfte aber nur zum Tragen kommen, wenn der Grund für die Verzögerung nicht in der unzureichenden Ausstattung oder Organisation des Gerichts bzw. der Staatsanwaltschaft liegt.175 Daneben soll die Verzögerungsrüge ausschließen, dass der Betroffene nach dem Motto „Dulde und Liquidiere“ verfährt. Verletzt der Verfahrensbeteiligte die Rügeobliegenheit, weil er die Verzögerungsrüge gar nicht oder zu früh erhebt, ist ein Anspruch auf Entschädigung in Geld ausgeschlossen. Das Fehlen der Verzögerungsrüge ist vom Entschädigungsgericht von Amts wegen zu berücksichtigen.176 Darlegungs- und beweispflichtig für das Vorliegen der Voraussetzungen einer wirksamen Verzögerungsrüge ist der Kläger.177 Nach z.T. vertretener Auffassung soll ein Entschädigungsanspruch ausnahmsweise 38 auch ohne vorangegangene Verzögerungsrüge in Betracht kommen, wenn selbst die alsbaldige Erhebung einer Verzögerungsrüge nicht geeignet gewesen wäre, den aus einer unangemessenen Dauer des gerichtlichen Verfahrens resultierenden Schaden eines Verfahrensbeteiligten zu vermeiden bzw. zu vermindern.178 Dies dürfte im Hinblick auf den eindeutigen Wortlaut des § 198 Abs. 3 und die schwierige Feststellung des hypothetischen Verfahrensablaufs für den Fall, dass die Rüge erhoben worden wäre, nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen, in denen die Verzögerungsrüge die ihr zugedachte präventive Funktion unter keinen Umständen hätte erfüllen können.179 Als tatbestandliche Voraussetzung ist die Verzögerungsrüge nur für den Anspruch auf 39 Entschädigung ausgestaltet. Die Wiedergutmachung einer Verfahrensverzögerung durch
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Kissel/Mayer § 198, 16; Marx/Roderfeld § 198, 105; krit. hierzu Sommer StV 2012 107, 109. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 176; Schenke NVwZ 2012 257, 260; Söhngen NZS 2012 493, 496; offengelassen von Althammer/Schäuble NJW 2012 1, 3. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 177. BTDrucks. 17 3802 S. 20; Steinbeiß-Winkelmann ZRP 2010 205, 206; krit. Sommer StV 2012 107, 109, Magnus ZZP 125 (2012) 75, 88 f.
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Althammer/Schäuble NJW 2012 1, 2; vgl. auch Gercke/Heinisch NStZ 2012 300, 301; Steinbeiß-Winkelmann ZRP 2010 207. BTDrucks. 17 3802 S. 20; KK/Barthe § 198, 4 GVG; Zimmermann FamRZ 2011 1905, 1908. BTDrucks. 17 3802 S. 21; Heine MDR 2012 327, 331. Schenke NVwZ 2012 257, 261; Kissel/ Mayer § 198, 18. Vgl. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198,180; Schenke NVwZ 2012 257, 261.
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die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, setzt keine Verzögerungsrüge voraus (§ 198 Abs. 4 Satz 3 2. Halbsatz). Ist sie im Ausgangsverfahren nicht erhoben, hat der Verfahrensbeteiligte allerdings nur einen Anspruch auf eine Entscheidung nach billigem Ermessen. Die Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer trotz fehlender Rüge dürfte vor allem in Fällen in Betracht kommen, in denen eine Verzögerung von Gewicht vorliegt oder der Beteiligte im Ausgangsverfahren anwaltlich nicht vertreten war.180 2. Form. Die Verzögerungsrüge muss bei dem Gericht erhoben werden, bei dem das 40 Verfahren anhängig ist. Im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ist die Rüge an die Staatsanwaltschaft bzw. die Finanzbehörde zu richten. Sie kann in schriftlicher oder mündlicher Form erhoben werden.181 Im Gegensatz zu § 97b Abs. 1 Satz 3 BVerfGG ist in § 198 Abs. 3 eine Schriftform nicht vorgeschrieben. Da ihre (rechtzeitige) Erhebung im späteren Entschädigungsprozess von anderen Richtern geprüft wird, ist die Erhebung in schriftlicher Form zu Nachweiszwecken aber anzuraten.182 Im Anwaltsprozess kann sie nur durch den bevollmächtigten Anwalt erhoben werden.183 3. Inhalt. Der Betroffene muss in der Verzögerungsrüge lediglich zum Ausdruck brin- 41 gen, dass er mit der Verfahrensdauer nicht einverstanden ist. Er muss nicht begründen, aus welchen Umständen sich die Unangemessenheit der Verfahrensdauer ergibt und welche Alternativen zur Verfahrensgestaltung in Betracht kommen.184 Ob eine Verzögerungsrüge i.S.v. § 198 Abs. 3 vorliegt, ist im Wege der Auslegung unter Berücksichtigung des mit der Erklärung verfolgten Ziels zu ermitteln. Im Hinblick darauf, dass es sich bei der Verzögerungsrüge nicht um einen eigenständigen Rechtsbehelf handelt, sondern „nur“ um eine Obliegenheit als Voraussetzung für den Entschädigungsanspruch, ist bei der Beurteilung, ob eine Verzögerungsrüge erhoben wurde, jedenfalls bei anwaltlich nicht vertretenen Verfahrensbeteiligten ein großzügiger Maßstab anzulegen.185 Grundsätzlich ist zugunsten des Verfahrensbeteiligten davon auszugehen, dass er diejenige Erklärung abgeben wollte, die der wohlverstandenen Interessenlage entspricht und die erforderlich ist, um den erkennbar angestrebten Erfolg zu erreichen.186 Deshalb kann bei einem anwaltlich nicht vertretenen Betroffenen auch die bloße Bitte um Beschleunigung als Verzögerungsrüge i.S. des § 198 Abs. 3 auszulegen sein.187 Aus der präventiven Warnfunktion der Rüge folgt für die Verfahrensbeteiligten aber 42 die Obliegenheit, auf solche Umstände hinzuweisen, die für das Maß der gebotenen Zügigkeit wichtig, aber noch nicht in das Verfahren eingeführt sind (§ 198 Abs. 3 Satz 3).
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BTDrucks. 17 3802 S. 22. BTDrucks. 17 3802 S. 22; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 213 und Einführung 228; Kissel/Mayer § 198, 23; Thomas/Putzo/Hüßtege § 198, 6; Graf NZWiSt 2012 121, 125; Guckelberger DÖV 2012 289, 290; a.A. Zimmermann FamRZ 2011 1905, 1908; Marx/Roderfeld § 198, 111; Schenke NVwZ 2012 257, 260 hinsichtlich der Verzögerungsrüge, die außerhalb der Hauptverhandlung erhoben wird. Vgl. Guckelberger DÖV 2012 289, 293. BTDrucks. 17 3802 S. 20; Marx/Roderfeld § 198, 110.
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BTDrucks. 17 3802 S. 21; Althammer/ Schäuble NJW 2012 1, 3; Guckelberger DÖV 2012 289, 293; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 209; vgl. im Gegensatz hierzu § 97b Abs. 1 Satz 3 BVerfGG. OLG Frankfurt a.M. BeckRS 2013 12550; vgl. auch Schenke NVwZ 2012 257, 260; Guckelberger DÖV 2012 289, 293; Söhngen NZS 2012 493, 496; Steinbeiß-Winkelmann/ Ott Einführung 226; Marx/Roderfeld § 198, 119. Vgl. Marx/Roderfeld § 198, 119. Einschränkend Althammer/Schäuble NJW 2012 1, 3.
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Dabei kann es sich um besondere Nachteile handeln wie drohender Wohnungsverlust oder bevorstehende Insolvenz.188 Diese Umstände müssen lediglich benannt werden; eine Glaubhaftmachung dieser Tatsachen im Ausgangsverfahren ist nicht erforderlich. Eine Verletzung der Obliegenheit aus § 198 Abs. 3 Satz 3 wirkt sich im Entschädigungsverfahren dahingehend aus, dass das Entschädigungsgericht solche Umstände unberücksichtigt lässt, die für das Maß der gebotenen Verfahrensförderung von Bedeutung, aber in das Ausgangsverfahren nicht eingeführt waren (§ 198 Abs. 3 Satz 4). Im Entschädigungsprozess trägt der Kläger die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass er die entsprechenden Hinweise gegeben hat und die behaupteten Tatsachen vorgelegen haben.189
43
4. Zeitpunkt der Erhebung. Die Verzögerungsrüge kann nach § 198 Abs. 3 Satz 2 erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, das Verfahren werde nicht in angemessener Zeit abgeschlossen. Dies soll der Gefahr entgegenwirken, dass Verzögerungsrügen formal schon im Anfangsstadium eines Prozesses eingelegt werden. Voraussetzung für die wirksame Erhebung der Rüge ist, dass ein Betroffener erstmals konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass das Verfahren keinen angemessenen zügigen Fortgang nimmt, also die konkrete Möglichkeit einer Verzögerung besteht, etwa weil das Gericht es unterlässt, bestimmte ihm zur Verfügung stehende verfahrensfördernde Schritte zu ergreifen.190 Maßgeblich ist insoweit nicht allein das subjektive Gefühl des Beteiligten, vielmehr bedarf es hinreichend objektiver Gründe, um berechtigte Zweifel an der Beendigung des Verfahrens innerhalb angemessener Zeit hervorzurufen.191 Nicht erforderlich ist aber, dass sich im Verfahren die Möglichkeit der Verzögerung schon zur Gewissheit verdichtet hat und die Unmöglichkeit des Verfahrensabschlusses in angemessener Zeit bereits feststeht.192 Die Verzögerungsrüge kann deshalb auch schon vor dem Eintritt der Verzögerung erhoben werden. Wird die Rüge vor dem in Satz 2 bestimmten Zeitpunkt, beispielsweise höchst vorsorglich mit der Klageerhebung erhoben, ist sie zur Begründung eines Entschädigungsanspruchs nicht geeignet, sondern geht ins Leere, weil sie ihre Warnfunktion nicht erfüllen kann.193 In diesem Fall kommt allenfalls eine Feststellung der unangemessenen Verfahrensverzögerung durch das Entschädigungsgericht nach Absatz 4 Satz 3 in Betracht. Für das Vorliegen der Voraussetzungen von Absatz 3 Satz 2 ist der Kläger im Entschädigungsprozess darlegungs- und beweispflichtig.194 Wird die Rüge nicht zum in § 198 Abs. 3 Satz 2 genannten Zeitpunkt, sondern später 44 erhoben, ist dies grundsätzlich unschädlich.195 Absatz 3 Satz 2 regelt lediglich den frühestmöglichen Zeitpunkt der Rüge. Dem Verfahrensbeteiligten soll Geduld nicht zum Nachteil gereichen.196 Die Rüge kann deshalb grundsätzlich wirksam erhoben werden, solange das Verfahren bei dem Gericht anhängig ist, dessen Verzögerung beanstandet wird. Entschädigung kann dann auch für die Zeit vor Erhebung der Rüge verlangt wer-
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BTDrucks. 17 3802 S. 21; vgl. auch Marx/ Roderfeld § 198, 117. Kissel/Mayer § 198, 22. Vgl. auch Scholz SGb 2012 19, 24; Marx/ Roderfeld § 198, 129 f. Guckelberger DÖV 2012 289, 293; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 188; Söhngen NZS 2012 493, 496 f. BTDrucks. 17 3802 S. 20; Kissel/Mayer § 198, 19; Gercke/Heinisch NStZ 2012 300, 302; Althammer/Schäuble NJW 2012 1, 3.
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BTDrucks. 17 3802 S. 20; Kissel/Mayer § 198, 19; Steinbeiß-Winkelmann ZRP 2010 207; Althammer/Schäuble NJW 2012 1, 3; Marx/Roderfeld § 198, 134. Kissel/Mayer § 198, 19; Thomas/Putzo/ Hüßtege § 198, 6. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198,194. BTDrucks. 17 3802 S. 21; Schenke NVwZ 2012 257, 262; Guckelberger DÖV 2012 289, 294; Althammer/Schäuble NJW 2012 1, 3.
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den.197 Wird die Verzögerungsrüge aber bewusst weit hinausgezögert und stellt das Verhalten des Betroffenen bei Würdigung der Gesamtumstände ein „Dulde und Liquidiere“ dar, verliert die Verzögerungsrüge ihre präventive Warnfunktion und kann eine bereits eingetretene Überlänge nicht mehr verhindern. In einem solchen Fall kann das Entschädigungsgericht dies sowohl bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer gem. § 198 Abs. 1 berücksichtigen als auch bei der Frage, ob Wiedergutmachung auf andere Weise durch Feststellung der Überlänge gemäß Absatz 4 ausreicht.198 Außerdem kann der volle Pauschbetrag für die Entschädigung wegen immaterieller Nachteile nach § 198 Abs. 2 Satz 4 verringert werden. Innerhalb einer Instanz muss die Rüge grundsätzlich nur einmal erhoben werden, weil 45 damit die Warnfunktion gegenüber dem Gericht erfüllt ist. Dies gilt auch, wenn später weitere Verzögerungen drohen, die zum Zeitpunkt der ersten Rüge noch nicht ersichtlich waren. Der Betroffene kann aber die Verzögerungsrüge gegenüber demselben Gericht auch mehrfach erheben; eine Wiederholung ist allerdings grundsätzlich erst nach sechs Monaten möglich (§ 198 Abs. 3 Satz 2). Dies soll die Gerichte vor „Kettenrügen“ in kurzen Abständen schützen.199 Ausnahmsweise braucht die Sechs-Monatsfrist nicht eingehalten werden, wenn eine kürzere Frist „geboten“ ist. Dadurch sollen unbillige Ergebnisse vermieden werden.200 Dies ist etwa anzunehmen, wenn sich angesichts des Verfahrensgangs eine weitere Rüge aufdrängt, z.B. weil aufgrund eines bestimmten Ereignisses (Richterwechsel) wiederum Anlass zur Sorge besteht, das Verfahren werde nicht in angemessener Zeit abgeschlossen.201 Eine nochmalige Rüge vor Ablauf der Sechs-Monatsfrist kommt auch dann in Betracht, wenn Unklarheiten bestehen, ob die erste Rüge möglicherweise verfrüht erhoben worden ist, was insbesondere bei ohne Anwalt agierenden Beteiligten der Fall sein kann.202 Die Rüge kann im Hinblick auf ihre präventive Funktion nur solange erhoben werden, wie das Verfahren bei dem Gericht anhängig ist, dessen Verzögerung gerügt wird.203 Wird die Sache bei einem anderen Gericht anhängig und kommt es dort nochmals zu 46 einer weiteren unangemessenen Verzögerung, muss die Verzögerungsrüge wegen ihrer Warnfunktion bei dem neuen Gericht erneut erhoben werden (Absatz 3 Satz 5). Anderes Gericht im Sinne der Vorschrift ist etwa ein anderes Gericht oder ein anderer Spruchkörper nach Abgabe oder Verweisung des Verfahrens, ein höheres Gericht im Instanzenzug oder ein anderer Spruchkörper des Ausgangsgerichts nach Zurückverweisung.204 Einer erneuten Rüge bedarf es schließlich auch, wenn sich das bei der Staatsanwaltschaft verzögerte Verfahren nach Anklageerhebung erneut verzögert. War das Verfahren bei Inkraftreten der §§ 198 ff. am 3.12.2011 bereits anhängig und 47 verzögert, aber noch nicht abgeschlossen, gilt § 198 Abs. 3 mit der Maßgabe, dass die Verzögerungsrüge unverzüglich nach Inkrafttreten des Gesetzes erhoben werden muss
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Marx/Roderfeld § 198, 135; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 194; a.A. Zimmermann FamRZ 2011 1905, 1908: Entschädigungspflichtige Verzögerungszeit beginnt frühestens mit Eingang der Verzögerungsrüge. BTDrucks. 17 3802 S. 21. BTDrucks. 17 3802 S. 21. BTDrucks. 17 3802 S. 21. Vgl. BTDrucks. 17 3802 S. 21. Vgl. Guckelberger DÖV 2012 289, 294; Kissel/Mayer § 198, 24; einschränkend Alt-
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hammer/Schäuble NJW 2012 1, 3; Scholz SGb 2012 19, 24, Marx/Roderfeld § 198, 140; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 307, wonach die Sechs-Monatsfrist grundsätzlich auch dann gilt, wenn die erste Rüge verfrüht erhoben wurde und deshalb unwirksam war, weil ansonsten der Anfangstermin unterlaufen würde. Schenke NVwZ 2012 257, 261. Kissel/Mayer § 198, 24.
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§ 198 GVG Nachtr.
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(Art. 23 Satz 2 ÜVerfBesG). Das bedeutet, dass die Rüge zwar nicht sofort, aber innerhalb einer den Umständen des Einzelfalls angepassten Prüfungs- und Überlegungsfrist zu erheben ist.205 Ist bei einem anhängigen Verfahren die Verzögerung in einer schon am 3.12.2011 abgeschlossenen Instanz erfolgt, bedarf es keiner Verzögerungsrüge (Art. 23 Satz 4 ÜVerfBesG).
V. Rechtsfolgen 48
Bei der Ausgestaltung der Kompensation hat der Gesetzgeber eine Regelung gefunden, die sich zum Teil von der deutschen Schadenersatzdogmatik löst. Dies ist den Anforderungen der Rechtsprechung des EGMR geschuldet, die nicht den Kategorien des deutschen Haftungs- und Schadenersatzrechts folgt. § 198 knüpft entsprechend der staatshaftungsrechtlichen Terminologie nicht an den Begriff des Schadens, sondern an den Begriff des Nachteils an, der angemessen zu entschädigen ist. Der Nachteil muss nicht auf der Verletzung von bestimmten Rechtsgütern beruhen.
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1. Entschädigung bei materiellen Nachteilen. § 198 Abs. 1 Satz 1 gewährt dem Verfahrensbeteiligten zunächst eine angemessene Entschädigung für die durch die Verzögerung entstandenen materiellen Nachteile. Der nach Satz 1 zu ersetzende materielle Nachteil muss durch die Verfahrensdauer im Verantwortungsbereich des in Anspruch genommenen Rechtsträgers verursacht worden sein, d.h. die Verfahrensverzögerung darf nicht hinweggedacht werden können, ohne dass der Nachteil entfiele. Außerdem muss die Verfahrensverzögerung im Sinne der Adäquanztheorie im Allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet gewesen sein, den Nachteil herbeizuführen. Schließlich muss der Nachteil vom Schutzzweck der Entschädigungsregelung umfasst sein.206 Der Kläger kann sich deshalb nicht mit Erfolg darauf berufen, dass sich wegen der Überlänge die Besetzung des Gerichts oder die höchstrichterliche Rechtsprechung geändert habe und deshalb ein Nachteil entstanden sei.207 Ersetzt werden auch Nachteile, die vor Erhebung der Verzögerungsrüge entstanden sind.208 Nachteil und Ursächlichkeit hat der Geschädigte im Entschädigungsprozess nachzuweisen, wobei für die (adäquate) Kausalität die Grundsätze des Anscheinsbeweises gelten.209 Während der Regierungsentwurf noch eine vollständige Kompensation sämtlicher 50 durch die Verzögerung verursachter materieller Nachteile nach den Grundsätzen der §§ 249 ff. BGB vorsah,210 beschränkt die jetzige Gesetzesfassung den Ersatzanspruch – zurückgehend auf einen Vorschlag des Bundesrates211 – in Anlehnung an § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB auf eine „angemessene Entschädigung“.212 Damit sollte im Hinblick darauf, dass der Entschädigungsanspruch im Gegensatz zum amtshaftungsrechtlichen Ersatzan-
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Gercke/Heinisch NStZ 2012 300, 302; differenzierend danach, ob der Betroffene anwaltlich vertreten ist, Steinbeiß-Winkelmann/Ott Art. 23, 4 ÜGRG. Vgl. Palandt/Grüneberg Vorb. vor § 249, 29. Vgl. Marx/Roderfeld § 198, 54. Kissel/Mayer § 198, 26; Marx/Roderfeld § 198, 135; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 194; a.A. Zimmermann FamRZ 2011
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1905, 1908: Entschädigungspflichtige Verzögerungszeit beginnt frühestens mit Eingang der Verzögerungsrüge. BTDrucks. 17 7217 S. 3; Kissel/Mayer § 198, 26. Steinbeiß-Winkelmann ZRP 2010 205, 206; BTDrucks. 17 3802 S. 19. BTDrucks. 17 3802 S. 34. Vgl. BTDrucks. 17 7217 S. 3 und 27.
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spruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG kein Verschulden voraussetzt und deshalb keinen die Anwendung der §§ 249 ff. BGB rechtfertigenden Schadenersatzanspruch darstellt, insbesondere ein Ersatz des entgangenen Gewinns (§ 252 BGB) ausgeschlossen werden.213 Es handelt sich mithin nicht um einen Anspruch auf Ersatz des vollen Schadens, der aus der Verzögerung herrührt, vielmehr richtet sich die Entschädigung nach den Grundsätzen der Entschädigung bei Enteignung, enteignungsgleichem Eingriff und Aufopferung,214 die auf einen vom Verschulden unabhängigen Ausgleich für Sonderopfer infolge hoheitlicher Eingriffe abzielt. Auszugleichen sind deshalb grundsätzlich Einbußen am vorhandenen Vermögen ohne Berücksichtigung einer hypothetischen Vermögensentwicklung.215 Die Beschränkung auf eine angemessene Entschädigung bringt eine billigkeitsrechtliche Komponente zum Ausdruck.216 Bei der Bemessung des Ausgleichs kann deshalb neben der Höhe des entstandenen Schadens berücksichtigt werden, wie schwerwiegend die Verzögerung war und ob die Schäden unmittelbar oder lediglich mittelbar durch die Verzögerung verursacht worden sind.217 Einzelne der Ausgleichung unterliegende Entschädigungspositionen sind lediglich unselbstständige Berechnungsposten des nach Billigkeitsgesichtspunkten zu bemessenden Ausgleichsanspruchs.218 In Betracht kommen insbesondere durch überlange Verfahrensdauer verursachte Wertminderungen, Rechtsverluste (Forderungsausfall infolge einer Insolvenz des Prozessgegners), Mehraufwendungen wie Kostenerhöhungen im Ausgangsverfahren aufgrund der Verzögerung, Kreditkosten wegen verspäteter Durchsetzung des Anspruchs und die notwendigen Anwaltskosten für die vorprozessuale Verfolgung des Entschädigungsanspruchs.219 Zinsverluste werden als entgangener Gewinn nicht erfasst.220 Es wird Aufgabe der Rechtsprechung sein, die mitunter schwierigen Abgrenzungsfragen zum entgangenen Gewinn zu beantworten und Konturen für die Bestimmung der Angemessenheit der Entschädigung herauszuarbeiten. Die Ausschlussregelung des § 198 Abs. 2 Satz 2 gilt nicht für den Ersatz von Vermögensschäden. 2. Entschädigung bei immateriellen Nachteilen. Der zu ersetzende Nachteil kann 51 auch ein immaterieller sein (§ 198 Abs. 2 Satz 1). Der Begriff des immateriellen Schadens ist weit zu verstehen. Wiedergutgemacht werden sollen insbesondere die psychologischen Wirkungen einer unangemessenen Verfahrensdauer wie Besorgnisse, Furcht, Unannehmlichkeiten und Ungewissheiten, die sich aus der überlangen Dauer eines Verfahrens ergeben können.221 Umfasst sind etwa Nachteile aufgrund seelischer und körperlicher Beeinträchtigungen, Rufschädigungen oder die Entfremdung eines Kindes von einem Elternteil aufgrund eines – unter Berücksichtigung des kindlichen Zeitempfindens – nicht in ange-
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BTDrucks. 17 3802 S. 34; Althammer/ Schäuble NJW 2012 1, 3; Schenke NVwZ 2012 257, 262; Althammer JZ 2011 446, 449. BTDrucks. 17 2717 S. 28, 39; Althammer/ Schäuble NJW 2012 1, 3 f.; Althammer JZ 2011 446, 450; Scholz SGb 2012 19, 23; vgl. auch Palandt/Bassenge § 906, 29 BGB; MK/Papier § 839, 51, 58 BGB; aus der Rspr: BGH NJW 2009 762, 765; BGHZ 142 66, 70; 147 45, 53; 170 260. Vgl. Steinbeiß-Winkelmann/Ott Einführung 247 und § 198, 222. Vgl. auch EGMR NJW 2006 2389, 2390:
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Angemessene Abhilfe für bereits eingetretene Verletzungen. BTDrucks. 17 3802 S. 34; Althammer/ Schäuble NJW 2012 1, 4; a.A. Marx/Roderfeld § 198, 67: Voller Ausgleich des adäquat-kausal verursachten Vermögensnachteils. Heine MDR 2012 327, 331; Scholz SGb 2012 19, 23. Vgl. Magnus ZZP 125 (2012) 75, 87; Althammer/Schäuble NJW 2012, 1, 3; Marx/ Roderfeld § 198, 51. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 146. Vgl. EGMR NJW 2006 2389, 2392.
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messener Zeit abgeschlossenen Sorgerechtsstreits.222 Da der Nachweis eines nicht auf das Vermögen bezogenen Nachteils oft schwer oder gar nicht zu führen ist, normiert Absatz 2 Satz 1 eine widerlegbare Vermutung, dass im Fall einer unangemessenen Verfahrensdauer von einem Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, ausgegangen werden muss.223 Damit greift der Gesetzgeber die einschlägige Rechtsprechung des EGMR auf, der eine „starke, aber widerlegbare Vermutung“ dafür annimmt, dass ein überlanges Gerichtsverfahren in aller Regel einen Nichtvermögensnachteil zur Folge hat.224 Die Forderung des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren, die Beweislastumkehr zu streichen, weil sie sich nicht in die Systematik des deutschen Schadenersatzrechts einfüge,225 ist nicht umgesetzt worden. Damit erübrigt sich hier eine Ursächlichkeitsprüfung. Es handelt sich um eine Tatsachenvermutung nach § 292 ZPO.226 Der Beweis des Gegenteils ist zulässig; er ist nur geführt, wenn die Unwahrheit der vermuteten Tatsache voll bewiesen ist. Nach der Ausschlussregelung des § 198 Abs. 2 Satz 2 kann Entschädigung für imma52 terielle Nachteile aber nur verlangt werden, soweit nicht im Einzelfall Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist, etwa durch Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 4 oder die im Strafverfahren von der Rechtsprechung praktizierte Kompensationslösung (Rn. 56). Gem. § 198 Abs. 2 Satz 3 wird der immaterielle Nachteil für jedes Jahr der Verzögerung grundsätzlich mit 1200 Euro pauschalisiert; der Pauschalsatz orientiert sich an der Praxis des EGMR zu Art. 41 EMRK.227 Verzögerungen in verschiedenen Verfahrensabschnitten sind zusammenzurechnen und bilden insgesamt die Grundlage für die Berechnung der Entschädigungssumme. Für Verzögerungszeiträume unter einem Jahr erfolgt eine zeitanteilige Berechnung.228 Nach Absatz 2 Satz 4 kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Beitrag festsetzen, wenn die Pauschale unbillig erscheint, was nur in atypischen Fällen in Frage kommen dürfte.229
VI. Wiedergutmachung auf andere Weise (Abs. 4) 53
Nach § 198 Abs. 2 Satz 2 ist eine Entschädigung für immaterielle Nachteile ausgeschlossen, soweit nach den Einzelfallumständen eine Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist. Ob dies der Fall ist, ist unter Abwägung aller Belange im Einzelfall zu beurteilen. Die Tatsachen, die die Subsidiarität der Geldentschädigung begründen, sind vom Beklagten darzulegen und zu beweisen.230 Der Anspruch auf Ersatz eines Vermögensnachteils wird von dieser Ausschlussregel nicht berührt. 222 223
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BTDrucks. 17 3802 S. 19. Zur Kompatibilität mit der allgemeinen Systematik des deutschen Schadenersatzrechts vgl. Althammer/Schäuble NJW 2012 1, 4. EGMR NJW 2007 1259, 1265; EuGRZ 2007 420 Z. 66; vgl. auch Althammer/ Schäuble NJW 2012 1, 4. BTDrucks. 17 3802 S. 35; vgl. auch BRRAussch. BRDrucks. 540/1/10 S. 6; Althammer/Schäuble NJW 2012 1, 4. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann § 198, 19 f. GVG. Vgl. BTDrucks. 17 3802 S. 20; EGMR NJW
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2007 1259, 1265 f.; Steinbeiß-Winkelmann/ Ott Einführung 253. BTDrucks. 17 3802 S. 20; Kissel/Mayer § 198, 28. Vgl. OLG Celle Urteil vom 24.10.2012 – 23 SchH 3/12, BeckRS 2012 22632 = NJWSpezial 2013 26 (keine Heraufsetzung des Regelbetrags bei schuldhaften Verstößen gegen die StPO); Schenke NVwZ 2012 257, 262; a.A. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 227: Eine Beschränkung auf atypische Sonderfälle lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Marx/Roderfeld § 198, 92.
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1. Feststellung der überlangen Verfahrensdauer durch das Entschädigungsgericht. Die 54 Formen einer Wiedergutmachung auf andere Weise werden im Gesetz nicht abschließend beschrieben, sondern nur beispielhaft angesprochen. Ausdrücklich benannt ist zunächst – in Anlehnung an die Rechtsprechung des EGMR231 – die Möglichkeit einer Feststellung der überlangen Verfahrensdauer durch das Entschädigungsgericht. Dies ist abweichend vom Parteiantrag möglich und kommt etwa bei Verfahren in Betracht, die für die Beteiligten keine besondere Bedeutung haben oder in denen ein Verfahrensbeteiligter durch sein Verhalten erheblich zur Verzögerung beigetragen hat.232 Die schlichte Feststellung kann als Wiedergutmachung auch genügen, wenn ein Verfahrensbeteiligter keinen weitergehenden immateriellen Schaden erlitten hat und die Überlänge des Verfahrens den einzigen Nachteil darstellt; dies muss vom Beklagten im Entschädigungsprozess dargetan werden.233 Im Falle des Unterliegens im Ausgangsverfahren kann auch berücksichtigt werden, welche Erfolgsaussichten der Kläger mit seinem Begehren überhaupt hatte.234 Eine Feststellung kann gemäß Absatz 4 Satz 3 2. Halbsatz nach dem Ermessen des Entschädigungsgerichts schließlich auch getroffen werden, wenn Entschädigung nicht beansprucht werden kann, weil die Verzögerungsrüge zu früh oder gar nicht erhoben wurde oder weil der Entschädigungsanspruch auf Umstände gestützt wird, die gemäß Absatz 3 Satz 4 präkludiert sind, aus der Sicht des Entschädigungsgerichts aber gleichwohl feststeht, dass eine unangemessene Verfahrensverzögerung vorliegt. In schwerwiegenden Fällen kann die Feststellung der überlangen Verfahrensdauer auch zusätzlich zu einer Entschädigung erfolgen. Die Feststellung der Überlänge muss durch eine förmliche Entscheidung im Urteil 55 oder Beschluss erfolgen. Eine bloß beiläufige Erklärung in den Entscheidungsgründen entspricht nicht dem Wiedergutmachungssinn.235 Wird ein Entschädigungsbegehren vom Entschädigungsgericht abgelehnt, weil es die bloße Feststellung für ausreichend erachtet, ist bei der Urteilsabfassung neben § 313a ZPO und den entsprechenden Vorschriften in den übrigen Verfahrensordnungen zu berücksichtigen, dass sich insoweit eine Begründungspflicht auch aus konventionsrechtlichem Gesichtspunkt ergibt.236 2. Weitere Arten der Wiedergutmachung auf andere Weise a) Eine weitere Wiedergutmachungsform nennt § 199 Abs. 3 hinsichtlich der in 56 Ermittlungs- und Strafverfahren von der Staatsanwaltschaft und den Gerichten praktizierten Kompensation (s. § 199, 12 ff.), etwa aufgrund des Vollstreckungsmodells, wonach in der Urteilsformel auszusprechen ist, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.237 Liegt eine solche Kompensation im Ausgangsverfahren vor, kommt eine Geldentschädigung wegen immaterieller Nachteile oder die Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer durch das Entschädigungsgericht nicht mehr in Betracht.238
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EGMR EuGRZ 2007 420 Z. 90. BTDrucks. 17 3802 S. 20. BTDrucks. 17 3802 S. 20. Magnus ZZP 125 (2012) 75, 87 f.; Kissel/ Mayer § 198, 30. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann § 198, 25 GVG; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 165.
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EGMR, 29.3.2006, Nr. 62361/00 Z. 94; BTDrucks. 17 3802 S. 20. Vgl. BGHSt 52 124 ff. Kissel/Mayer § 198, 31: Entschädigungsanspruch ist durch Erfüllung zum Erlöschen gebracht.
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b) Aufgrund des Wortes „insbesondere“ in Absatz 4 Satz 1 wird klargestellt, dass die Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer durch das Entschädigungsgericht und die Kompensation in Ermittlungs- und Strafverfahren durch das Ausgangsgericht nicht die einzige Art der Wiedergutmachung auf andere Weise gem. Absatz 2 Satz 2 sind.239 Das Gesetz lässt offen, welche weiteren Möglichkeiten einer Wiedergutmachung auf andere Weise bestehen. Genannt werden z.B. die schriftliche oder mündliche Entschuldigung etwa von der Leitung des Ausgangsgerichts oder vom Dienstvorgesetzten, die Bevorzugung vor einem anderen Bewerber, solange sie nicht ihrerseits gesetzwidrig ist, oder eine Maßnahme, die den Ruf, das Ansehen, die berufliche oder gesellschaftliche Stellung des Benachteiligten zu heben geeignet ist.240 Ob solche Maßnahmen eine Wiedergutmachung auf andere Weise i.S.v. Absatz 2 und 4 darstellen können, ist mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 13 EMRK zu beurteilen, wonach der Rechtsbehelf wirksam sein muss, d.h. dem Benachteiligten zumindest eine angemessene Wiedergutmachung für eingetretene Verzögerungen ermöglichen muss (s. Rn. 10). Ob dies der Fall ist, hat das Gericht unter Abwägung aller Belange im Einzelfall darzustellen und kann vom Entschädigungsgericht überprüft werden.241 Zu beachten ist außerdem, dass eine dem Entschädigungsanspruch vorgehende Wiedergutmachtung auf andere Weise nur im Rahmen der jeweiligen formellen und materiell-rechtlichen Bestimmungen möglich ist. Ist beispielsweise in einem Disziplinarverfahren die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis geboten, so führen bei einem unangemessen langen Disziplinarverfahren weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch §§ 198 ff. dazu, dass wegen der Verfahrensdauer eine mildere Disziplinarmaßnahme auszusprechen ist, weil der durch das Fehlverhalten herbeigeführte endgültige Vertrauensverlust beim Dienstherrn oder der Allgemeinheit allein durch eine unangemessene Dauer des Disziplinarverfahrens nicht wiederhergestellt werden kann.242
VII. Fristen zur Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs (Abs. 5)243 58
Absatz 5 sieht einen frühesten und einen spätesten Zeitpunkt für die klageweise Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs vor.
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1. Wartefrist (Abs. 5 Satz 1). Der Anspruch kann frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge klageweise geltend gemacht werden. Damit soll dem Ausgangsgericht ausreichend Zeit gegeben werden, auf die Verzögerungsrüge zu reagieren und das Verfahren so zu fördern, dass es in angemessener Zeit beendet werden kann.244 Der Fristbeginn knüpft an den Eingang der Verzögerungsrüge beim Ausgangsgericht in schriftlicher Form oder durch Einlegung in mündlicher Form an. Die Frist bestimmt sich nach dem für die Entschädigungsklage maßgeblichen Verfahrensrecht, z.B. nach § 222 ZPO, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 BGB. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Einhaltung der Wartefrist ist die Erhebung der Klage. Sie erfolgt durch Zustellung der 239
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Einschränkend Kissel/Mayer § 198, 31: Andere Form der Wiedergutmachung auf andere Weise nur im Ausgangsverfahren möglich. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann § 198, 28 GVG; ablehnend Marx/Roderfeld § 198, 89. Vgl. Kissel/Mayer § 198, 32 (restriktive Interpretation).
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Vgl. BVerwG Urteil vom 28.3.2012 – 2 A 11.10, BeckRS 2012 52890 = NVwZ 2012 1128 (Leitsatz). Zur gerichtlichen Geltendmachung des Anspruchs s. § 201. BTDrucks. 17 3802 S. 22.
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Klageschrift an den Beklagten (§ 253 ZPO). Eine vor Fristablauf erhobene Klage wird nach Ablauf der Frist nicht zulässig, eine Heilung findet nicht statt.245 Eine erneute Klage ist aber möglich. Der gesetzlich festgelegte früheste Zeitpunkt der Geltendmachung des Entschädi- 60 gungsanspruchs bedeutet, dass die Entschädigungsklage bereits während des noch laufenden Ausgangsverfahrens erhoben werden kann. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass schon vor Verfahrensabschluss eine unangemessene und irreparable Verzögerung feststellbar sein und daher über die Kompensation für schon eingetretene Nachteile entschieden werden kann, obwohl das Ausgangsverfahren noch nicht beendet ist.246 Wird die Entschädigungsklage während des noch laufenden Ausgangsverfahrens erhoben, gibt § 201 Abs. 3 Satz 1 dem Entschädigungsgericht die Möglichkeit, das Entschädigungsverfahren bis zum Abschluss des Ausgangsverfahrens auszusetzen. Dies wird häufig geboten sein, weil es für die Frage der unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens grundsätzlich auf die Gesamtdauer des Verfahrens ankommt (siehe oben Rn. 27).247 In Strafsachen ist der Rechtsstreit zwingend auszusetzen (§ 201 Abs. 3 Satz 2). Die Wartefrist ist echte Zulässigkeitsvoraussetzung. Eine verfrüht erhobene Klage 61 muss deshalb als unzulässig abgewiesen werden.248 Fraglich ist, ob die Sechs-Monatsfrist auch dann einzuhalten ist, wenn das Verfahren, dessen Verfahrensdauer beanstandet wird, schon vor Ablauf der Sechs-Monatsfrist abgeschlossen ist. In diesen Fällen wird man die Klage bereits vom Moment des Verfahrensabschlusses in der Instanz, auf deren Dauer das Entschädigungsverlangen gestützt wird, für zulässig erachten können, da Sinn und Zweck der Sechs-Monatsfrist, dem Ausgangsgericht Zeit für die Förderung des Verfahrens zu geben, nicht mehr erfüllt werden kann.249 Der Entschädigungsanspruch kann selbstverständlich vor einer Klageerhebung gegen- 62 über dem jeweils haftenden Rechtsträger geltend gemacht und außergerichtlich befriedigt werden. Die außergerichtliche Geltendmachung ist jedoch keine Voraussetzung für eine zulässige Klage.250 Bei einer außergerichtlichen Einigung muss jedoch die sachliche Unabhängigkeit des Richters nach Art. 97 Abs. 1 GG gewahrt bleiben, weshalb die Justizverwaltung während eines laufenden Verfahrens keine vorrangige Bearbeitung, eine bestimmte Verfahrensdauer oder eine vorgezogene Entscheidung zusagen darf.251 2. Klagefrist (Abs. 5 Satz 2). Die Entschädigungsklage muss gem. § 198 Abs. 5 Satz 2 63 spätestens sechs Monate nach dem Eintritt der formellen Rechtskraft der das Ausgangsverfahren beendenden Entscheidung oder nach dem Eintritt einer anderen Art der Erledigung des Ausgangsverfahrens erhoben werden. Als anderweitige Erledigung kommen eine Klagerücknahme, eine Einstellung, ein Vergleich oder eine Erledigterklärung in Betracht. Es handelt sich wie bei § 12 StrEG um eine absolute Ausschlussfrist, deren Ablauf materiell den Wegfall des Anspruchs bewirkt.252 Die Frist soll dem Fiskus einen
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249
Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 250. Steinbeiß-Winkelmann ZRP 2010 205, 208; Kissel/Mayer § 198, 41. BeckOK/Graf § 198, 24 GVG. Heine MDR 2012 327; Kissel/Mayer § 198, 42; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 247; Marx/Roderfeld § 198, 152. Schenke NVwZ 2012 259, 263 (teleologische Reduktion); Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 246; Marx/Roderfeld § 198, 150;
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a.A. Heine MDR 2012 327: echte Zulässigkeitsvoraussetzung. Vgl. aber die Kostenregelung des § 93 ZPO. BTDrucks. 17 3802 S. 22; s.a. Marx/Roderfeld § 198, 155 f. BTDrucks. 17 3802 S. 22; Kissel/Mayer § 198, 42; Marx/Roderfeld § 198, 159; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 255; BeckOK/Graf § 198, 25 GVG (Verwirkung des Anspruchs).
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alsbaldigen Überblick über die Entschädigungspflichten ermöglichen.253 Fristbeginn und -ende bestimmen sich in Verfahren der ordentlichen Gerichtsbarkeit nach § 222 ZPO, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB. Die Frist beginnt unabhängig von der Kenntnis des Anspruchinhabers vom Fristbeginn.254 Erst die Erhebung der Klage wahrt die Frist. Erhebung ist nach § 253 Abs. 1 ZPO die Zustellung der Klageschrift an den Beklagten und nicht schon deren Einreichung beim Entschädigungsgericht.255 Da durch die Zustellung eine Frist gewahrt werden soll, tritt diese Wirkung bereits mit Eingang der Klage ein, wenn die Zustellung demnächst erfolgt (§ 167 ZPO).256 Stellt der Kläger zunächst einen Prozesskostenhilfeantrag und legt seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unter Beifügung der erforderlichen Belege innerhalb der Frist des § 198 Abs. 5 Satz 2 dar, wahrt die spätere Einreichung der Klageschrift nach § 167 ZPO die Frist, wenn sie unverzüglich nach der Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag zugestellt wird.257 Die Ausschlussfrist ist gewahrt, wenn die Klage vor Fristablauf bei einem örtlich oder sachlich unzuständigen Gericht erhoben und auf Antrag des Klägers an das ausschließlich zuständige Gericht verwiesen wird (§ 281 ZPO).258 Eine Wiedereinsetzung ist ausgeschlossen.259 Eine entsprechende Anwendung einzelner Verjährungsvorschriften auf die Ausschlussfrist, insbesondere der Hemmungsgründe aus §§ 206, 210 BGB, soll grundsätzlich in Betracht kommen,260 weshalb der Ablauf der Ausschlussfrist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG durch eine beim Landgericht erhobene, partiell auf dasselbe wirtschaftliche Interesse gerichtete Amtshaftungsklage gehemmt werden könnte.261 Das Entschädigungsgericht muss die Fristeinhaltung von Amts wegen beachten. Die 64 nicht rechtzeitige Klage ist durch Prozessurteil als unzulässig abzuweisen.262
VIII. Ausschluss der Übertragbarkeit 65
§ 198 Abs. 5 Satz 3 bestimmt, dass bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Entschädigungsklage der Entschädigungsanspruch nicht übertragbar und damit gem. § 851 Abs. 1 ZPO nicht pfändbar ist. Damit wollte der Gesetzgeber einen der Rechtspflege abträglichen Handel mit dem Anspruch verhindern.263
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BTDrucks. 17 3802 S. 22. BTDrucks. 17 3802 S. 22; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 257. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann § 198, 46 GVG. Marx/Roderfeld § 198, 171. Marx/Roderfeld § 198, 173; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 258; vgl. BGHZ 170 108, 115 zur Frist des § 13 Abs. 1 Satz 2 StrEG . Vgl. BGHZ 97 155 Z. 24; Marx/Roderfeld § 198, 175; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 258. Schenke NVwZ 2012 257, 263; Marx/ Roderfeld § 198, 178; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 255.
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BTDrucks. 17 3802 S. 22; Marx/Roderfeld § 198, 180; vgl. BGHZ 43 235, 237. Vgl. hierzu Althammer/Schäuble NJW 2012 1, 6; Marx/Roderfeld § 198, 180 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 261. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 256; Heine MDR 2012 327, 328; Kissel/Mayer § 198, 43; Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann § 198, 46 GVG; a.A. (Sachurteil, mit dem die Klage als unbegründet abgewiesen wird): Marx/Roderfeld § 198, 160 f.; BeckOK/Graf § 198, 25 GVG; Gegenäußerung der Bundesregierung, BTDrucks. 17 3802 S. 41. BTDrucks. 17 3802 S. 36.
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IX. Übergangsrecht §§ 198–201 sind am 3.12.2011 in Kraft getreten (Art. 24 ÜVerfBesG). Art. 23 ÜVerf- 66 BesG enthält folgende Übergangsvorschrift: Dieses Gesetz gilt auch für Verfahren, die bei seinem Inkrafttreten bereits anhängig waren, sowie für abgeschlossene Verfahren, deren Dauer bei seinem Inkrafttreten Gegenstand von anhängigen Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist oder noch werden kann. Für anhängige Verfahren, die bei seinem Inkrafttreten schon verzögert sind, gilt § 198 Absatz 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes mit der Maßgabe, dass die Verzögerungsrüge unverzüglich nach Inkrafttreten erhoben werden muss. In diesem Fall wahrt die Verzögerungsrüge einen Anspruch nach § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes auch für den vorausgehenden Zeitraum. Ist bei einem anhängigen Verfahren die Verzögerung in einer schon abgeschlossenen Instanz erfolgt, bedarf es keiner Verzögerungsrüge. Auf abgeschlossene Verfahren gemäß Satz 1 ist § 198 Absatz 3 und 5 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht anzuwenden. Die Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs nach § 198 Absatz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes kann bei abgeschlossenen Verfahren sofort erhoben werden und muss spätestens am 3. Juni 2012 erhoben werden.
Danach gilt das Gesetz zunächst für Verfahren, die bei seinem Inkrafttreten am 3.12. 67 2011 bereits anhängig, aber noch nicht abgeschlossen waren. Für die Erhebung der Verzögerungsrüge in solchen Fällen gelten die in Rn. 47 angeführten Besonderheiten. War das Verfahren am 3.12.2011 schon abgeschlossen (Rn. 20), musste die Klage spä- 68 testens am 3.6.2012 erhoben worden sein (Art. 23 Satz 6 ÜVerfBesG).264 Diese Ausschlussfrist findet auch in Fällen Anwendung, in denen der Kläger vor Ablauf der Frist ein Verfahren vor dem EGMR anhängig gemacht hat.265 Ist diese Auschlussfrist eingehalten worden, gilt für die bereits anhängigen Klagen Folgendes: Die Entschädigungsklage ist zulässig, wenn das abgeschlossene Verfahren nach dem innerstaatlichen Abschluss vor dem EGMR zu einer Beschwerde wegen der Verfahrensdauer geführt hat oder noch führen konnte (Art. 23 Satz 1 ÜVerfBesG), d.h. die Beschwerdefrist des Art. 35 Abs. 1 EMRK von sechs Monaten eingehalten werden konnte, der Verfahrensabschluss also nicht länger als sechs Monate zurücklag.266 Maßgeblicher Zeitpunkt für den Fristbeginn ist die das nationale Verfahren abschließende fachgerichtliche Entscheidung; auf die Abweisung einer auf nationaler Ebene erhobenen Amtshaftungsklage kommt es nicht an.267 Eine anhängige Beschwerde beim EGMR eröffnet aber nur dann den Anwendungsbereich der §§ 198 ff., wenn sie unter Beachtung der Frist des Art. 35 Abs. 1 EMRK erhoben worden ist.268 Sind die Voraussetzungen des Art. 23 Satz 1 ÜVerfBesG erfüllt, gilt weder die Wartefrist des § 198 Abs. 5 Satz 1 noch die Klagefrist des § 198 Abs. 5 Satz 2; außerdem hängt der Anspruch nicht von der Erhebung einer Verzögerungsrüge ab (Art. 23 Satz 5 ÜVerfBesG).
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OLG Celle Urteil vom 20.12.2012 – 23 SchH 15/12, BeckRS 2013 00415; Heine MDR 2012 327. OLG Celle Urteil vom 20.12.2012 – 23 SchH 15/12, BeckRS 2013 00415. BTDrucks. 17 3802 S. 31; OLG Celle Urteil vom 24.10.2012 – 23 SchH 10/12, BeckRS 2012 22631; NdsRpfl 2012 306; OLG Frankfurt a.M. Urteil vom 7.11.2012 – 4 EntV 5/12, BeckRS 2013 09021.
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OLG Celle NdsRpfl 2012 306; zur Frage, ob eine Verfassungsbeschwerde als Rechtsbehelf einzuordnen ist, dessen Einlegung für die Rechtswegerschöpfung im Sinne des Art. 35 Abs. 1 EMRK erforderlich war, siehe OLG Frankfurt a.M. BeckRS 2013 09021. Vgl. OLG Celle Urteil vom 24.10.2012 – 23 SchH 10/12, BeckRS 2012 22631.
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X. Verhältnis zu anderen Rechtsschutzmöglichkeiten 69
1. Untätigkeitsbeschwerde. Mit dem neuen Entschädigungsanspruch werden die verschiedenen von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsbehelfskonstruktionen (Untätigkeitsbeschwerden) gegen eine überlange Verfahrensdauer (siehe oben Rn. 6) grundsätzlich hinfällig, weil die Entschädigungsregelung das Rechtsschutzproblem bei überlanger Verfahrensdauer abschließend lösen will.269 Damit besteht keine Regelungslücke als Voraussetzung für eine Analogie mehr. Etwas anderes gilt aber, wenn förmliche gerichtliche Prozesshandlungen wie die Aussetzung des Verfahrens oder die Anordnung des Ruhens des Verfahrens, aus denen sich eine überlange Dauer gerichtlicher Verfahren ergeben kann, durch ausdrücklich geregelte Rechtsbehelfe (vgl. etwa § 146 VwGO) angreifbar sind.270
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2. Amtshaftung. Der Entschädigungsanspruch gem. § 198 Abs. 1 schließt Amtshaftungsansprüche nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG nicht aus; es besteht Anspruchskonkurrenz.271 Amtshaftungsansprüche sind auf den vollen Ersatz des materiellen Schadens gerichtet und umfassen auch den entgangenen Gewinn, setzen jedoch ein schuldhaftes Verhalten voraus. Im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit kommt ein Amtshaftungsanspruch wegen richterlicher Verzögerung des Verfahrens allerdings nur in Betracht, wenn die Verzögerung unvertretbar erscheint.272 Beruht die Verfahrensverzögerung auf strukturellen Mängeln der Gerichtsorganisation, scheitert der Amtshaftungsanspruch meist im Hinblick auf das Erfordernis der Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht.273 Die Anspruchskonkurrenz zwischen Amtshaftungsanspruch und Entschädigungsanspruch darf nicht zur Überkompensation führen. Soweit durch die Ansprüche diesselben Nachteile ausgeglichen werden sollen, muss eine Anrechnung nach dem Grundsatz der Vorteilsausgleichung stattfinden.274
269
270
OLG Frankfurt a.M. Beschluss vom 10.4.2013 – 3 Ws 245/13, BeckRS 2013 06866 = NStZ-RR 2013 264; OLG Brandenburg MDR 2012 305; OLG Jena FamRZ 2012 728; OLG Düsseldorf NJW 2012 1455 f.; OLG Hamburg StraFo 2012 160; OLG Rostock Beschluss vom 25.7.2012 – I Ws 176/12, BeckRS 2012 17470; OLG Karlsruhe Beschluss vom 14.11.2012 – 2 Ws 424/12, BeckRS 2013 00659; OLG München Beschluss vom 20.9.2012 – 4 VAs 038/12, BeckRS 2012 21816; Beschluss vom 21.3.2013 4 VAs 005/13, BeckRS 2013 05529; KG Beschluss vom 15.3.12 – 8 W 17/12; Marx/Roderfeld § 198, 108; Steinbeiß-Winkelmann/Ott Einführung 377; Althammer/Schäuble NJW 2012 1, 5; KK/Barthe § 198, 1 GVG; BTDrucks. 17 3802 S. 16; a.A. Ossenbühl DVBl 2012 857, 859 f.; Kotz StRR 2012 207. Schenke NVwZ 2012 257, 258; vgl. auch Althammer/Schäuble NJW 2012 1, 5.
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273
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Remus NJW 2012 1403, 1408; Althammer/ Schäuble NJW 2012 1, 5; Heine MDR 2012 327, 331; Scholz SGb 2012 19, 20; Zimmermann FamRZ 2011 1905; Guckelberger DÖV 2012 289, 297; Steinbeiß-Winkelmann/Ott Einführung 384. BGH NJW 2011 1072, 1073 f.; 2003 3052; Althammer/Schäuble NJW 2012 1, 5; Schenke NVwZ 2012 257, 262; Althammer JZ 2011 446, 447; Remus NJW 2012, 1403, 1406. Vgl. Schenke NVwZ 2012 257, 262; Althammer JZ 2011 446, 448; Guckelberger DÖV 2012 289, 291; zur Ausweitung der Amtshaftung auf Organisationsmängel der verwaltenden Judikative siehe aber BGHZ 170 260, 267 ff.; Remus NJW 2012 1403, 1406. Steinbeiß-Winkelmann/Ott Einführung 386.
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Siebzehnter Titel. Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren
Nachtr. § 199 GVG
3. Verfassungsbeschwerde. Die Möglichkeit, gegen eine überlange Verfahrensdauer 71 mit der Verfassungsbeschwerde vorzugehen, bleibt unberührt. §§ 198 ff. stellen aber einen anderen Rechtsweg i.S.d. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG dar.275 4. Individualbeschwerde zum EGMR. Eine Individualbeschwerde zum EGMR wegen 72 eines überlangen Ermittlungs- oder Gerichtsverfahrens ist erst zulässig, wenn ein Entschädigungsprozess nach § 198 abgeschlossen ist.276
XI. Regressansprüche gegen Staatsanwälte und Richter Regressansprüche des Staates wegen überlanger Verfahren sind im Gesetz zum 73 Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren nicht geregelt. Es gelten die allgemeinen Vorschriften (vgl. auf Bundesebene § 75 Abs. 1 BBG, § 46 DRiG), die einen Rückgriff nur bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung von Dienstpflichten erlauben.277
§ 199 (1) Für das Strafverfahren einschließlich des Verfahrens auf Vorbereitung der öffentlichen Klage ist § 198 nach Maßgabe der Absätze 2 bis 4 anzuwenden. (2) Während des Verfahrens auf Vorbereitung der öffentlichen Klage tritt die Staatsanwaltschaft und in Fällen des § 386 Absatz 2 der Abgabenordnung die Finanzbehörde an die Stelle des Gerichts; für das Verfahren nach Erhebung der öffentlichen Klage gilt § 198 Absatz 3 Satz 5 entsprechend. (3) 1Hat ein Strafgericht oder die Staatsanwaltschaft die unangemessene Dauer des Verfahrens zugunsten des Beschuldigten berücksichtigt, ist dies eine ausreichende Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Absatz 2 Satz 2; insoweit findet § 198 Abs. 4 keine Anwendung. 2Begehrt der Beschuldigte eines Strafverfahrens Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer, ist das Entschädigungsgericht hinsichtlich der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer an eine Entscheidung des Strafgerichts gebunden. (4) Ein Privatkläger ist nicht Verfahrensbeteiligter im Sinne von § 198 Absatz 6 Nummer 2.
275
Schenke NVwZ 2012 257, 258; Althammer/ Schäuble NJW 2012 1, 5; Steinbeiß-Winkelmann/Ott Einführung 378 ff.; vgl. auch BVerfG JZ 2013 145: Im Hinblick auf den fachgerichtlichen Rechtsbehelf gem. §§ 198 ff. kein Rechtsschutzbedürfnis für das Ziel, eine überlange Verfahrensdauer durch das BVerfG feststellen zu lassen, wenn das fachgerichtliche Verfahren inzwischen abgeschlossen ist; VerfGBbg BeckRS 2012
276 277
58703 und 58707; a.A. Huerkamp/Wielpütz JZ 2011 139, 142; Huerkamp/Huerkamp JZ 2013 146, die die monetäre Kompensation nach § 198 nicht für ausreichend erachten, die Grundrechtsverletzung entfallen zu lassen. Steinbeiß-Winkelmann/Ott Einführung 383. Zur Amtspflichtverletzung eines Richters vgl. BGHZ 155 306; 176 162; 187 286.
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§ 199 GVG Nachtr.
Gerichtsverfassungsgesetz
Entstehungsgeschichte. Die Vorschrift wurde durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜVerfBesG) vom 24.11.2011 (BGBl. I 2302) eingeführt und ist am 3.12.2011 in Kraft getreten (vgl. § 198). Absatz 4 wurde durch das Gesetz über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung und zur Änderung weiterer gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften vom 6.12.2011 (BGBl. I S. 2554) eingefügt.
Übersicht Rn. I. Geltung des § 198 für das Ermittlungsund Strafverfahren . . . . . . . . . . 1. Verfahrensbeteiligter . . . . . . . 2. Beginn des zu prüfenden Zeitraums 3. Unangemessenheit der Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . II. Verzögerungsrüge
. . . . . .
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4
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III. Subsidiarität des Entschädigungsanspruchs wegen immaterieller Nachteile . . 1. Grundsätze . . . . . . . . . . . . . .
Rn.
12 12
2. Auswirkungen der Neuregelung auf die Kompensation im Strafverfahren . a) Zwingende strafverfahrensinterne Kompensation . . . . . . . . . . . b) Verzögerungsrüge . . . . . . . . .
17 19
IV. Bindung des Entschädigungsgerichts an eine Entscheidung des Strafgerichts (Abs. 3 Satz 2) . . . . . . . . . . . . . .
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V. Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung und Verständigung im Strafverfahren
21
17
I. Geltung des § 198 für das Ermittlungs- und Strafverfahren 1
§ 199 Abs. 1 bestimmt, dass die grundsätzlich für alle gerichtlichen Verfahren der ordentlichen Gerichtsbarkeit geltenden Regelungen des § 198 für das Strafverfahren den in den Absätzen 2 bis 4 der Vorschrift genannten Modifikationen unterliegen. Außerdem erweitert Absatz 1 den Anwendungsbereich des § 198 auf das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, sodass auch bei einer überlangen Verfahrensdauer eines Ermittlungsverfahrens ein Entschädigungsanspruch geltend gemacht werden kann, selbst wenn es noch nicht zur Anklageerhebung oder Einstellung des Verfahrens gekommen ist. Erfasst wird auch eine unangemessene Dauer eines Vollstreckungsverfahrens.1 Über § 46 Abs. 1 OWiG gilt der Rechtsschutz bei überlangen Ermittlungs- und Strafverfahren auch für das Bußgeldverfahren, soweit Staatsanwaltschaft und Gerichte tätig werden. Erfasst sind damit – im Gegensatz zum vorangehenden Verfahren vor der Verwaltungsbehörde, das im Vergleich zu einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren nicht dieselbe Eingriffsintensität aufweist,2 – das Zwischenverfahren nach Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid gemäß § 69 Abs. 4 OWiG und das anschließende gerichtliche Bußgeldverfahren.
2
1. Verfahrensbeteiligter. Zu dem Kreis der Berechtigten, die einen Anspruch auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer eines Ermittlungs- oder Strafverfahrens geltend machen können, s. § 198, 22.
3
2. Beginn des zu prüfenden Zeitraums. Der maßgebende Zeitpunkt für die Prüfung der unangemessenen Dauer eines Ermittlungsverfahrens beginnt mit der Bekanntgabe gegenüber dem Beschuldigten, dass gegen ihn ermittelt wird, oder wenn die Rechtsposition des Beschuldigten durch Ermittlungsmaßnahmen ernsthaft beeinträchtigt ist.3 Wann 1 2
Vgl. OLG München Beschluss vom 21.9.2012 – 4 VAs 039/12. BTDrucks. 17 3802 S. 23.
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BTDrucks. 17 3802 S. 24; vgl. Kissel/Mayer § 198, 13; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 199, 6; Meyer-Goßner § 199, 2 GVG.
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Siebzehnter Titel. Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren
Nachtr. § 199 GVG
letzteres der Fall ist, ist durch Auslegung zu ermitteln. Nach Art. 6 EMRK beginnt die angemessene Frist, innerhalb der die Rechtssache zu erledigen ist, mit der „Anklage“. Darunter ist nach der Rechtsprechung des EGMR – abweichend vom deutschen Sprachgebrauch – eine amtliche Mitteilung der zuständigen Behörde an den Beschuldigten zu verstehen, dass ihm vorgeworfen werde, eine strafbare Handlung begangen zu haben. „Anklage“ meint aber auch sonstige Maßnahmen, die einen solchen Vorwurf enthalten und wesentliche Auswirkungen auf die Lage des Beschuldigten haben.4 Beispielhaft nennt der EGMR eine Festnahme, die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens oder die Vernehmung von Zeugen.5 Ausgehend von Sinn und Zweck des Beschleunigungsgebots zu verhindern, dass der Beschuldigte durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen zusätzlichen fühlbaren Belastungen ausgesetzt wird, hat das BVerfG – einschränkend – darauf abgestellt, wann eine solche Belastung des Beschuldigten tatsächlich eingetreten ist.6 Maßgebend für den Beginn der Frist ist grundsätzlich nicht bereits die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens oder die bloße Anordnung von Ermittlungsmaßnahmen. Solche „internen“ Vorgänge von Polizei oder Staatsanwaltschaft belasten den Beschuldigten mangels Kenntnis in der Regel noch nicht, so dass eine unangemessene Verfahrensverzögerung insoweit noch nicht in Betracht kommt.7 Entscheidend ist vielmehr, wann der Beschuldigte von solchen Maßnahmen tatsächlich Kenntnis erlangt. Dies wird spätestens mit der Durchführung offener Ermittlungsmaßnahmen der Fall sein, so etwa bei einer Wohnungsdurchsuchung, der Beschlagnahme von Gegenständen, der Sicherstellung eines Führerscheins oder der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis.8 Es besteht auch kein Anspruch des Beschuldigten auf schnelle Einleitung eines Ermittlungsverfahrens.9 Der maßgebliche Zeitpunkt für den Beginn der Frist kann aber auch vor dem Zeitpunkt der förmlichen Einleitung eines Ermittlungsverfahrens liegen, sofern der Betroffene aufgrund der äußeren Umstände davon ausgehen musste, dass er als Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren geführt wird.10 3. Unangemessenheit der Verfahrensdauer. Für die Feststellung der unangemessenen 4 Verfahrensdauer in Ermittlungs- und Strafverfahren gelten die Grundsätze des § 198 Abs. 1 (s. dort Rn. 25 ff.). Aufgrund der in Strafverfahren seit Jahrzehnten vorgenommenen Kompensation von rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen aufgrund der Strafabschlags- bzw. der Strafvollstreckungslösung hat sich zu den Voraussetzungen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung eine weitgehend gefestigte Rechtsprechung des BVerfG, des BGH und zahlreicher Oberlandesgerichte herausgebildet.11 Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens“ kann sich außerdem an der Rechtsprechung zum Beschleunigungsgebot in Haftsachen orientieren,12 wobei allerdings zu beachten ist, dass insoweit strengere Maßstäbe gelten.13 4
5 6 7 8 9 10
Vgl. EGMR EuGRZ 1983 371, 379; 1985 585, 587; NJW 1986 647, 648; 2006 1645, 1646. S. Fn. 4. BVerfG NJW 1993 3254, 3256 Z. 44. BeckOK/Graf § 199, 5 GVG; vgl. auch BVerfG NJW 2003 2897, 2889. Vgl. auch Marx/Roderfeld § 199, 20; Laue Jura 2005 89, 92. Vgl. BGH NStZ 2007 635; vgl. aber Mansdörfer GA 2010 153. Vgl. OLG Celle BeckRS 2012 22632 = NJWSpezial 2013 26 (richterliche Vernehmung
11
12 13
zur Erzwingung einer wahrheitsgemäßen Aussage mit anschließender Vereidigung, in der die vermeintlich unwahren Angaben in einer früheren Aussage vorgehalten werden). Vgl. Fischer § 46, 122 ff. StGB m.w.N.; Laue Jura 2005 89 ff.; Tepperwien NStZ 2009 1 ff.; Maier/Percic NStZ-RR 2009 297 ff., 329 ff. Vgl. LR/Hilger § 120, 16 ff. StPO; BeckOK/ Krauß § 120, 5 ff. StPO. BGH Beschluss vom 5.12.2012 – 1 StR 531/12, BeckRS 2013 00981.
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Im Ermittlungsverfahren haben Polizei und Staatsanwaltschaft aktiv darauf hinzuwirken, dass der Sachverhalt zügig aufgeklärt und die erforderlichen Beweismittel be- und entlastender Art herbeigeschafft werden. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass die Ermittlungsbehörden regelmäßig nicht allein auf die Förderung eines einzigen Verfahrens konzentriert sein können, sondern vielmehr gehalten sind, nebeneinander zahlreiche Verfahren zu bearbeiten. Das kann zur Folge haben, dass sich weitere Maßnahmen zur Förderung des Verfahrens nicht unmittelbar an vorangegangene anschließen, ohne dass hieraus automatisch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung abgeleitet werden kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Ermittlungsbehörden nicht völlig untätig waren und der Vorwurf dahin geht, sie hätten möglicherweise noch intensiver ermitteln können.14 Die Grenze ist allerdings erreicht, wenn Organe der Strafjustiz über längere Zeit hinweg untätig bleiben und die gebotene Förderung eines Verfahrens nachhaltig vermissen lassen, etwa durch staatsanwaltschaftliche Verfügungen, mit denen ohne sachlichen Grund nur die Wiedervorlage der Akte zu einem späteren Zeitpunkt angeordnet wird.15 Bei Einholung eines Gutachtens ist es zur gebotenen Förderung des Verfahrens erforderlich, auf eine zeitnahe Erstellung des Gutachtens hinzuwirken und mit dem Gutachter Absprachen zu treffen, in welcher Frist ein Gutachten zu erstatten ist. Des weiteren ist die zügige Gutachtenerstattung zu kontrollieren; erforderlichenfalls sind Ordnungsmittel gegen den Sachverständigen anzudrohen und festzusetzen.16 Betrifft das Ermittlungsverfahren eine große Anzahl von Einzelfällen, ist gegebenenfalls von Einstellungsvorschriften, etwa § 154 StPO, sinnvoller Gebrauch zu machen.17 Im Hinblick auf das Gebot zureichender Sachaufklärung ist es nicht zu beanstanden, wenn Ermittlungsorgane – auch bei Inhaftierung des Beschuldigten – mit dem Abschluss des Verfahrens zuwarten, bis angekündigte Einlassungen abgegeben sind, solange dies sich im strafprozessual vorgesehenen Rahmen hält. Führen die Finanzbehörden im Rahmen ihrer eigenen Ermittlungskompetenz Ermittlungen wegen Steuerdelikten, haben sie die Staatsanwaltschaft frühzeitig einzubinden.18 Nach Anklageerhebung kommt das Beschleunigungsgebot maßgeblich bei der Eröff6 nung der Hauptverfahrens und der Terminierung der Hauptverhandlung zum Tragen. Hier werden insbesondere in Haftsachen strenge Anforderungen an den Zeitpunkt der Eröffnung des Hauptverfahrens und den Beginn der Hauptverhandlung gestellt.19 In Haftsachen geht das BVerfG in der Regel von einer 3-Monatsgrenze zwischen Eröffnung und Beginn der Hauptverhandlung aus.20 Ein Zeitraum von neunzehn Monaten zwischen Eingang der Einlassungsschrift und Eröffnungsbeschluss ist auch in Wirtschaftsstrafsachen in der Regel objektiv zu lange und stellt eine konventionswidrige Verzögerung dar.21 Bei der Bemessung der angemessenen Frist ist aber zu berücksichtigen, dass 14 15 16
17 18 19
Vgl. BGHSt 54 135. Vgl. BVerfG StV 2003 383, 386. Vgl. BVerfG StV 2003 383, 386; BGH Beschluss vom 14.5.2008 – 3 StR 75/08; OLG Stuttgart Beschluss vom 22.2.2010 – 2 HEs 16/10, BeckRS 2010 23365; OLG Hamm Beschluss vom 17.5.2011 – III-1 Ws 218/11, BeckRS 2011 18051. Vgl. EGMR-E 2 105, 130 = EuGRZ 1983 371; Krehl/Eidam NStZ 2006 1, 6. Vgl. BGHSt 54 9 ff. Vgl. BVerfG Beschluss vom 4.5.2011 – 2 BvR 2781/10, BeckRS 2011 50361; BGH NJW 2008 2451, 2453: 19 Monate zwischen Ein-
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20 21
gang der Einlassungsschrift und dem Eröffnungsbeschluss; OLG Nürnberg StraFo 2008 469; StV 2009 367; 2011 39; OLG Hamm Beschluss vom 1.3.2012 – III-3 Ws 37/12, BeckRS 2012 7386; OLG Celle BeckRS 2012 22632 = NJW-Spezial 2013 26: 1 Jahr Untätigkeit nach Ablauf der Einlassungsfrist. Vgl. BVerfG StV 2006 73, 78; 87, 90; StV 2007 366, 367, 369. BGH NJW 2008 2451, 2453; vgl. auch StV 2008 298: mehr als zwei Jahre und acht Monate zwischen Eingang der Anklageschrift und dem Beginn der Hauptverhandlung.
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eine zeitaufwändige Vorbereitung der Sache seitens des Gerichts Voraussetzung für eine konzentrierte Hauptverhandlung und für Gespräche über Möglichkeiten zur Verfahrensabkürzung ist; dies gilt insbesondere in großen Wirtschaftsstrafsachen.22 Sofern der Arbeitsanfall die alsbaldige Bearbeitung und Terminierung sämtlicher zur Entscheidung anstehender Fälle nicht zulässt, muss das Gericht hierfür eine zeitliche Reihenfolge festlegen,23 die nicht zwangsläufig mit der Reihenfolge des Eingangs übereinstimmen muss.24 Dies ist in begrenztem Umfang hinzunehmen, darf jedoch nicht zu extremen Verzögerungen führen.25 Bei der Beurteilung, ob der Zeitraum zwischen Anklageerhebung und Hauptverhandlungsbeginn als konventionswidrig anzusehen ist, dürfen prozessual vorgesehene Handlungen und Fristen – z.B. Mitteilung der Anklageschrift mit Erklärungsfrist (§ 201 StPO), Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 203 StPO), die der eingehenden Vorbereitung bedarf, Terminierung in Abstimmung möglichst mit dem Verteidiger unter Einhaltung der Ladungsfrist (§§ 217, 218 StPO) – nicht berücksichtigt werden.26 Bei der Anwendung des § 202 StPO ist dem Beschleunigungsgebot insofern Rechnung zu tragen, als nur solche Beweiserhebungen in Betracht kommen, die für die Eröffnungsentscheidung bedeutsam sind. Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung kann sich auch aus einer nicht mehr 7 sachgerechten, zu lang gestreckten Terminierung der Hauptverhandlung ergeben. Bei absehbar umfangreichen Verfahren ist eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Verhandlungplanung mit mehr als einem Verhandlungstag pro Woche erforderlich.27 Auch wenn trotz des Beschleunigungsgebots dem Recht des Angeklagten, sich eines Verteidigers seines Vertrauens zu bedienen, grundsätzlich Rechnung zu tragen ist, darf das Gericht nicht ausnahmslos auf Terminkollisionen der Verteidiger Rücksicht nehmen, sondern muss gegebenenfalls prüfen, ob andere Pflichtverteidiger zu bestellen sind oder inwieweit die Verteidiger mit Blick auf das Beschleunigungsgebot verpflichtet werden können, andere – weniger dringliche – Termine zu verschieben.28 Bei einer Entscheidung über die mögliche Verbindung zweier Verfahren muss der Richter erwägen, ob der Beschleunigungsgrundsatz der Verfahrensverbindung entgegen steht. Soll ein durchschnittliches Wirtschaftsstrafverfahren mit einem unübersichtlich gewordenen, nur zögernd voranschreitenden Großverfahren verbunden werden, kann das Recht des Beschuldigten auf zügigen Abschluss des Strafverfahrens im Einzelfall das öffentliche Interesse an einer Verfahrensverbindung aus Gründen der Prozessökonomie überwiegen.29 Im Einzelfall sind auch Verfahren parallel zu führen.30 Wird die Hauptverhandlung infolge eines erfolgreichen Befangenheitsantrags ausgesetzt, darf mit dem Beginn der neuen Hauptverhandlung nicht ein Jahr zugewartet werden, ohne dass außerhalb des Verantwortungsbereichs der Justiz liegende Gründe gegeben sind.31 Zur Frage, ob und 22 23 24 25
26
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Vgl. auch Krehl/Eidam NStZ 2006 1, 6. Vgl. BVerfGE 55, 349, 369; BVerfG NJW-RR 2010 207. Vgl. BVerfG NJW 2005 3488, 3489. Vgl. BVerfG StV 2003 383, 386; BGH NJW 2008 2451 Z. 30; Tepperwien NStZ 2009 1, 2. Vgl. BVerfG StV 2009 307, 308; BGH wistra 2008 302; 2009 121; Marx/Roderfeld § 199, 25. Vgl. BVerfG StV 2006 73, 80; 81, 85; 87, 89; StV 2008 198, 199; BGH NJW 2006 3077, 3078; NStZ-RR 2007 61; OLG Hamm
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BeckRS 2012 02850 = NStZ-RR 2012 125; OLG Düsseldorf StV 2007 92; OLG Oldenburg StV 2008 200; Pieroth/Hartmann StV 2008 276, 279. Vgl. BVerfG StV 2007 366, 368; 2008, 198, 199; BGH NJW 2006 3077, 3078; 2008 2451, 2453; Tepperwien NStZ 2009 1, 5; krit. LR/Esser Art. 6, 334 EMRK; Roxin GA 2010 425; Kühne GA 2008 361, 367. BVerfG StV 2002 578, 580. Vgl. BVerfG NJW-RR 2010 207 Z. 31; EuGRZ 2009 695 Z. 34. Vgl. BGH StraFo 2009 245.
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wann eine Verlegung des Hauptverhandlungstermins wegen langer Anreise von Zeugen im Hinblick auf deren berufliche Interessen eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung begründen kann vgl. OLG Hamm BeckRS 2013 08321. Nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils können Verzögerungen bei der Urteilsabset8 zung, durch verspätete Urteilszustellungen oder bei der Erstellung und Zustellung des Hauptverhandlungsprotokolls zu einer unangemessenen Verfahrensdauer führen.32 Da eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung in allen Abschnitten eines Strafverfahrens – vom Ermittlungsverfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss – eintreten kann, unterliegen auch Rechtsmittelverfahren dem Beschleunigungsgebot.33 Zur Inanspruchnahme des Instanzenzugs als dem Staat zuzurechnende Verzögerung vgl. § 198, 32. Umstritten ist, ob bei der umfassenden Gesamtwürdigung der Einzelfallumstände zur 9 Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer auch die Schwere und Art des Tatvorwurfs in die Abwägung miteinfließen kann. Die Schwere des Tatvorwurfs wird von der Rechtsprechung als in die Gesamtwürdigung einzustellender Faktor neben Umfang und Schwierigkeit des Verfahrens, Art und Weise der Ermittlungen, dem eigenen Verhalten des Beschuldigten sowie dem Ausmaß der mit dem Andauern des Verfahrens verbundenen Belastungen für den Beschuldigten regelmäßig angeführt.34 Insoweit ist jedoch zu differenzieren. Grundsätzlich dürfen Staatsorgane gegen Mörder, Mitglieder der organisierten Kriminalität oder terroristischer Vereinigungen nicht zögerlicher ermitteln und verhandeln als gegen Gelegenheitskriminelle. Schlägt sich Art und Schwere des Tatvorwurfs in der Schwierigkeit der Ermittlungen nieder, kann dies bei der Beurteilung einer unangemessenen Dauer eines Verfahrens zu berücksichtigen sein. Allein das Gewicht der Tat, die Schwere der Schuld und die daraus sich ergebende Strafhöhe vermag aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon langen Verfahrensdauer dienen.35 Die Schwere der vorgeworfenen Tat kann deshalb allenfalls kleinere Verzögerungen rechtfertigen.36
32
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Vgl. BGH NStZ 2008 118 (Zustellung des Urteils in Form einer mit dem Original nicht übereinstimmenden „beglaubigten“ Leseabschrift); StV 2012 83 und OLG Oldenburg StV 2008 200 (Urteilszustellung); OLG Naumburg StV 2008 201, 202 (Urteilsabsetzung); Krehl/Eidam NStZ 2006 1, 7. Vgl. BVerfGE 46 194, 195; BVerfG EuGRZ 2008 621, 623 f.; StV 2003 383, 387 (54 Monate zwischen Abgabe der Akten nach erstinstanzlichem Urteil an das Berufungsgericht und Berufungshauptverhandlung); 2005 220, 222 f. (Zustellung der Revisionsbegründung, Bearbeitung durch GBA, Terminsbestimmung durch BGH); 2009 479, 481; wistra 2009 347 (Rekonstruktion der in Verlust geratenen Originalakte nach drei Jahren); BGHR StPO § 354 Abs. 1a S. 2 Herabsetzung 2 und BGH 3 StR 36/08 (Verzögerung bei der Übersendung der Akten an das
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Revisionsgericht); EGMR NJW 2001 2694; 2697 Z. 122. Vgl. nur BVerfGK 2 239 ff.; BVerfG StV 2003 383, 385; NJW 2009 1469, 1476; wistra 2009 307 Z. 14; BGH wistra 2004 298, 299; 2009 271; vgl. auch Marx/Roderfeld § 199, 32. BGHSt 54 135; vgl. für das Beschleunigungsgebot in Haftsachen BVerfG StV 2005 220, 224; 615; 2006 248, 250; 703, 704; 2009 479, 481; s. auch BVerfG StV 2007 366, 369 und 369, 371 für die Frage der Fortdauer der Untersuchungshaft gem. § 121 StPO. Vgl. Pieroth/Hartmann StV 2008 276, 277. Gegen eine Berücksichtigung der Tatschuld auch Krehl ZIS 2006 168, 178; StV 2006 408, 412; Kempf StV 2001 134, 135; I. Roxin StV 2001 490, 491; Trurnit/Schroth StraFo 2005 358, 363 f.
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Nachtr. § 199 GVG
II. Verzögerungsrüge § 198 Abs. 3 Satz 1 macht die Entschädigung des Verfahrensbeteiligten davon abhän- 10 gig, dass er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (vgl. § 198, 36 ff.). Durch § 199 Abs. 2 wird diese gegenüber dem Gericht bestehende Rügeobliegenheit ausgedehnt: Verzögerungen im Ermittlungsverfahren sind bereits gegenüber der Staatsanwaltschaft beziehungsweise in den Fällen, in denen die Finanzbehörde gemäß § 386 Abs. 2 AO selbstständig die Ermittlungen durchführt, gegenüber der Finanzbehörde geltend zu machen.37 Dadurch soll dem bearbeitenden Staatsanwalt oder Finanzbeamten die Möglichkeit zu einer beschleunigten Verfahrensförderung eröffnet und damit der präventiven Funktion der Verfahrensrüge Rechnung getragen werden. Fehlt es an einer solchen Verzögerungsrüge im Ermittlungsverfahren, werden dadurch Entschädigungsansprüche wegen unangemessener Dauer eines Ermittlungsverfahrens aufgrund der Verletzung der Rügeobliegenheit ausgeschlossen, was im Entschädigungsverfahren von Amts wegen zu berücksichtigen ist.38 Die Verzögerungsrüge kann wirksam erst erhoben werden, wenn der Beschuldigte konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass das Verfahren keinen angemessenen zügigen Fortgang nimmt; eine zuvor erhobene Verzögerungsrüge geht ins Leere (s. § 198, 43). Insoweit ist aber zu berücksichtigen, dass dem Beschuldigten der genaue Gang des Ermittlungsverfahrens und die Ursachen für seine Dauer z.B. wegen nicht gewährter Akteneinsicht (§ 147 Abs. 2 StPO) bis zum Abschluss der Ermittlungen häufig nicht transparent sind, weshalb die Anforderungen an die Kenntnis des Beschuldigten vom Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für eine Verfahrensverzögerung nicht zu hoch anzusetzen sind. Außerdem kann dem Beschuldigten nicht zum Nachteil gereichen, wenn er aufgrund später Akteneinsicht erst zu einem späten Zeitpunkt im Ermittlungsverfahren die Gründe für eine Verzögerung erfährt und erst dann die Verzögerungsrüge erhebt (zu den Auswirkungen des Vorgehens nach dem Motto „Dulde und Liquidiere“ vgl. § 198, 44).39 Verzögert sich das Verfahren nach einer Rüge gegenüber der Staatsanwaltschaft bei 11 Gericht weiter, ist die Rüge gegenüber dem Gericht erneut zu erheben (§ 199 Abs. 2 zweiter Halbsatz).
III. Subsidiarität des Entschädigungsanspruchs wegen immaterieller Nachteile 1. Grundsätze. § 199 Abs. 3 bestimmt, dass in Fällen, in denen ein Strafgericht oder 12 die Staatsanwaltschaft selbst und unmittelbar eine Verfahrensverzögerung kompensieren, ein Anspruch auf Entschädigung nach § 198 wegen immaterieller Nachteile ausgeschlossen ist (vgl. § 198, 53 ff.). Ebensowenig kommt in diesen Fällen als Ausgleich für Nichtvermögensschäden eine Feststellung der Verfahrensverzögerung durch das Entschädigungsgericht gemäß § 198 Abs. 4 in Betracht, was § 199 Abs. 1 2. Halbsatz ausdrücklich regelt. Dieser Vorrang der strafrechtlichen Kompensation betrifft nicht den Ersatz von Vermögensschäden, die durch überlange Ermittlungs- oder Strafverfahren verursacht worden sind. 37
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Vgl. hierzu OLG Hamm Beschluss vom 26.4.2013 – 11 EK 12/13, BeckRS 2013 08983. KK/Barthe § 199, 3 GVG; BeckOK/Graf 199, 6 GVG.
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Vgl. auch BeckOK/Graf § 199, 6 GVG; Graf NZWiSt 2012 121, 128.
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Eine Kompensation durch Staatsanwaltschaft oder Gericht kann auf verschiedene Art und Weise erfolgen. Nachdem die Strafgerichte bei einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zunächst eine Kompensation auf der Grundlage einer „Strafabschlagslösung“ vorgenommen hatten,40 hat der Große Senat für Strafsachen die „Strafabschlagslösung“ durch das „Vollstreckungsmodell“ ersetzt.41 Danach werden unangemessene Verfahrensverzögerungen im Falle einer Verurteilung nicht mehr – wie bei der Strafabschlagslösung – im Rahmen der Strafzumessung nach § 46 StGB strafmildernd berücksichtigt, sondern dadurch in Ansatz gebracht, dass in der Urteilformel ausgesprochen wird, dass ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt. Grund hierfür war, dass im Gegensatz zur Strafabschlagslösung die bei der Strafzumessung zu bewertenden Fragen des Unrechts und der Schuld nicht mehr mit den Aspekten der Kompensation staatlich bedingter Verfahrensverzögerungen vermengt werden und das Vollstreckungsmodell besser dem Anliegen des Gesetzgebers entspricht, Folgeentscheidungen wie Anordnung der Sicherungsverwahrung oder ausländerrechtliche Entscheidungen von der Höhe der schuldangemessenen Strafe abhängig zu machen.42 Der Ausgleich für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ist neben der Strafzumessung eine rein am Entschädigungsgedanken orientierte eigene Rechtsfolge.43 Maßstab für die Kompensationsentscheidung ist der Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie die Auswirkungen all dessen auf den einzelnen Angeklagten.44 In geeigneten Fällen kann als Wiedergutmachung für eine unangemessene Verfahrensverzögerung auch die Anwendung der §§ 59, 60 StGB (Verwarnung mit Strafvorbehalt und Absehen von Strafe) oder eine Verfahrenseinstellung nach den §§ 153, 153a, 154, 154a StPO in Betracht kommen.45 In ganz außergewöhnlichen Sonderfällen hat der BGH ein vom Tatrichter zu beachtendes und vom Revisionsgericht von Amts wegen zu berücksichtigendes Verfahrenshindernis bejaht, wenn auf der Grundlage einer umfassenden Gesamtwürdigung eine Kompensation des Verstoßes im Rahmen einer Sachentscheidung nicht mehr in Betracht kommt.46 Schließlich kann nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere wenn durch die Verzögerung keine ersichtlichen materiellen Nachteile entstanden sind oder nur eine die normale Verfahrensdauer geringfügig übersteigende Dauer vorliegt, auch die bloße Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer durch das Strafgericht die Verzögerung ausreichend kompensieren.47 Ist eine der genannten Kompensationen erfolgt, bleibt für einen Entschädigungsanspruch nach § 198 wegen immaterieller Nachteile kein Raum mehr.48 Nach dem Wortlaut des § 199 Abs. 3 Satz 1 liegt eine ausreichende Wiedergutma14 chung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 2 Satz 2 nur vor, wenn das Strafgericht oder die Staatsanwaltschaft die unangemessene Dauer des Verfahrens zugunsten des Beschuldigten tatsächlich berücksichtigt hat, was sich auch aus den Gründen der Entscheidung ergeben kann. Verhält sich das Ausgangsgericht im Urteil zur Verfahrensverzögerung überhaupt nicht und liegen auch sonst keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich das
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BGHSt 24 239 ff. BGHSt 52 124 ff. BGHSt 52 124 ff. BGH NStZ 2012 316. BGH StV 2012 596. BGHSt 52 124, 145 f., OLG Frankfurt Beschluss vom 7.11.2012 – 4 EntV 4/12, BeckRS 2012 25286; s.a. BVerfG NJW 1993 3254, 3255; 1995 1277 f.
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Vgl. BGHSt 46 159, 171 ff. m. Anm. Kempf StV 2001 134; I. Roxin StraFo 2001 51; vgl. auch BVerfG StV 2003 383, 385; NStZ 2004 335, 337; Krehl/Eidam NStZ 2006 1, 9 f. BGH NStZ 2012 653. OLG Frankfurt Beschluss vom 7.11.2012 – 4 EntV 4/12, BeckRS 2012 25286.
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Nachtr. § 199 GVG
Gericht mit der Angemessenheit der Verfahrensdauer auseinandergesetzt hat, tritt die Vorrangwirkung der Kompensation im Strafverfahren nicht ein, weil eine ausreichende Wiedergutmachung auf andere Weise nicht stattgefunden hat (s. auch Rn. 20). Dies gilt auch, wenn der Angeklagte das Strafurteil nicht mit einem Rechtsmittel angreift oder zwar Revision eingelegt, die fehlende Kompensation aber nicht mit einer den Voraussetzungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Verfahrensrüge beanstandet hat.49 Einen entsprechenden Subsidiaritätsgrundsatz, wonach die unangemessene Dauer eines Verfahrens schon im fachgerichtlichen Verfahren zwingend beseitigt werden muss, sieht das Gesetz nicht vor.50 In Fällen der Einstellung des Verfahrens aus Opportunitätsgesichtspunkten ist eine ausreichende Wiedergutmachung auf andere Weise nur dann zu bejahen, wenn in der Begründung der Entscheidung ausreichend bestimmt zum Ausdruck kommt, dass die Einstellung (auch) wegen der Verletzung des Rechts auf Entscheidung in angemessener Zeit vorgenommen wurde.51 Keine ausreichende Kompensation i.S.v. § 198 Abs. 2 Satz 2 ist die allgemeine Berücksichtigung der Verfahrensdauer als Strafmilderungsgrund, weil der zwischen Tat und Urteil liegende lange Zeitraum sich unabhängig davon auf das Strafbedürfnis auswirkt, ob er unangemessen ist.52 Der Anspruch aus § 198 auf Entschädigung wegen immaterieller Nachteile bleibt dem 15 Beschuldigten erhalten, wenn die Verfahrensverzögerung durch das Strafgericht oder die Staatsanwaltschaft nicht kompensiert werden kann. Dies ist beispielsweise bei einem Freispruch oder der Verhängung einer Jugendstrafe der Fall, die aufgrund des Erziehungsgedankens nicht vollstreckt wird.53 Macht der Beschuldigte in diesen Fällen einen Entschädigungsanspruch nach § 198 geltend, gelten die gesetzlichen Anforderungen; Entschädigung kann deshalb nur beansprucht werden, wenn der Beschuldigte im Ermittlungs- oder Strafverfahren die Verzögerungsrüge gem. § 198 Abs. 3 erhoben hat.54 Ansprüche eines Beschuldigten auf Entschädigung wegen Vermögensnachteilen blei- 16 ben von § 199 Abs. 3 unberührt; insoweit gilt § 198 ohne Modifikationen.
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Zu den Anforderungen an die Verfahrensrüge der Nichtberücksichtigung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung im Revisionsverfahren vgl. BGH NStZ 2004 504; JR 2005 208; StV 2006 241 f.; NStZRR 2006 56, 57; wistra 2008 194, 195; 2009 121; vgl. auch BVerfG 2 BvR 1377/06 vom 27.9.2006; wistra 2009 307; Fischer § 46, 127 StGB. Vgl. Kissel/Mayer § 198, 33; a.A. SteinbeißWinkelmann/Ott § 199, 29, 33. Zum Subsidiaritätsgrundsatz bei der Verfassungsbeschwerde vgl. BVerfG wistra 2009 307 Z. 13. A.A. Kissel/Mayer § 198, 32, 48, wonach eine Verfahrenseinstellung nach Opportunitätsgrundsätzen wegen der überlangen Verfahrensdauer keine Wiedergutmachtung auf andere Weise gem. § 198 Abs. 2 Satz 2 darstellt. Sehr weitgehend dagegen OLG Frankfurt Beschluss vom 7.11.2012 – 4 EntV 4/12, BeckRS 2012 25286, wonach es schon ausreicht, wenn die Verfahrenseinstellung zwar nicht begründet, die Berücksichtigung der
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unangemessenen Verfahrensdauer aber konkludent erfolgt ist und das Entschädigungsgericht dies aufgrund der vorliegenden Indizien feststellen kann. Kissel/Mayer § 198, 48. Die Übertragung des Strafvollstreckungsmodells auf das Jugendstrafverfahren wird nicht einheitlich beurteilt. Sie wird z.T. für zulässig erachtet, sofern Jugendstrafe allein wegen der Schwere der Schuld verhängt worden ist (BGH StV 2011 588; NJW 2011 3314, 3315). Nach a.A. scheidet eine Kompensation nach Maßgabe des Vollstreckungsmodells aus, wenn schädliche Neigungen die Verhängung einer Jugendstrafe erforderlich machen und erzieherische Überlegungen die Höhe der Jugendstrafe ausschließlich bestimmen (BGH NStZ-RR 2007 61). Zur Anwendbarkeit des Vollstreckungsmodells auf die Jugendstrafe vgl. Eisenberg JGG § 18, 15 f. BTDrucks. 17 3802 S. 24; Graf NZWiSt 2012 121, 127.
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2. Auswirkungen der Neuregelung auf die Kompensation im Strafverfahren
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a) Zwingende strafverfahrensinterne Kompensation. Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass die bisherige von den Strafgerichten geübte Praxis des Ausgleichs für das erlittene Verfahrensunrecht von der Neuregelung der §§ 198 ff. unberührt bleiben sollte, der Tatrichter also weiterhin verpflichtet ist, einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK etwa auf der Grundlage des Vollstreckungsmodells oder durch Feststellung der Konventionsverletzung zu kompensieren.55 Dies ergibt sich schon aus der Regelung des § 201 Abs. 3 Satz 2, wonach das Entschädigungsgericht das Verfahren wegen Entschädigungsansprüchen, die wegen unangemessener Dauer von Ermittlungs- und Strafverfahren geltend gemacht werden, im Hinblick auf die dort vorzunehmende Kompensation zwingend auszusetzen hat, während die Aussetzung in anderen Verfahren in das Ermessen des Entschädigungsgerichts gestellt ist. Weder die StPO noch das StGB enthalten aber außerhalb der Strafzumessung i.e.S. Regelungen dazu, welche Rechtsfolgen es nach sich zieht, wenn ein Strafverfahren aus Gründen verzögert wird, die im Verantwortungsbereich des Staates liegen. Auch die EMRK bestimmt nicht, nach welchen Kriterien, in welcher Weise und in welchem Umfang eine Verletzung des Anspruchs auf zügige Verfahrenserledigung aus Art. 6 Abs. 1 EMRK zu kompensieren ist, um dem Betroffenen seine Opferstellung im Sinne des Art. 34 EMRK zu nehmen und damit den jeweiligen Vertragsstaat vor einer Verurteilung zu bewahren; dies ist vielmehr den nationalen Fachgerichten nach Maßgabe der jeweiligen Rechtsordnung zur Entscheidung überlassen.56 Der Rückgriff der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf das Instrumentarium des Straf- und Strafverfahrensrechts als verfassungsrechtliche Konsequenz einer von den Justizbehörden zu verantwortenden erheblichen Verzögerung des Strafverfahrens erfolgte letztlich vor dem Hintergrund, dass es bislang an einer gesetzlichen Kompensationsregelung fehlte.57 Mit der Ausfüllung der Gesetzeslücke durch die §§ 198 ff. könnte deshalb die Notwendigkeit, die Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung mit den Mitteln des Straf- und Strafverfahrensrechts vorzunehmen, entfallen sein.58 So geht der Gesetzgeber selbst davon aus, dass mit dem neuen Entschädigungsanspruch die verschiedenen von der Rechtsprechung im Zivil- und Verwaltungsprozess entwickelten Rechtsbehelfskonstruktionen gegen eine überlange Verfahrensdauer (Untätigkeitsbeschwerde) hinfällig sind, weil die Entschädigungsregelung das Rechtsschutzproblem bei überlanger Verfahrensdauer abschließend lösen will.59 Ungeachtet dessen führt die neue Entschädigungsregelung nicht dazu, dass der Tat18 richter die rechtsstaatswidrige Verletzung des strafrechtlichen Beschleunigungsgebots bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs außer Acht lassen und die Kompensation auf das zivilrechtliche Entschädigungsverfahren verlagern darf. Dies würde im Vergleich zum bisherigen Rechtszustand zu einer vom Gesetzgeber nicht gewollten erheblichen Schlechterstellung des Angeklagten führen, der eine Kompensation in einem gesonderten Verfahren geltend machen müsste. Da die Unangemessenheit der Verfahrensdauer aufgrund einer wertenden Betrachtung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu beurteilen ist, ist deren Feststellung und Bewertung durch den sachnäheren Tatrichter regelmäßig prozessökonomischer als die Feststellung und Bewertung der Einzelumstände 55 56
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Steinbeiß-Winkelmann/Ott Einführung 265. Vgl. EGMR EuGRZ 1983 371, 382; NJW 2001 2694, 2700, Z. 157 ff.; Trurnit/Schroth StraFo 2005 358, 361. Vgl. BVerfG NJW 1984 967; BGHSt 52 124, 133.
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So Kissel/Mayer § 198, 49. BTDrucks. 17 3802 S. 16; vgl. auch OLG Düsseldorf NJW 2012 1455 f.; Althammer/ Schäuble NJW 2012 1, 5; KK/Barthe § 198, 1 GVG.
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durch das Entschädigungsgericht.60 Schließlich sprechen auch verfassungsrechtliche Gründe für die Beibehaltung der bisherigen Kompensation mit Mitteln des Straf- und Strafprozessrechts. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verletzt eine von den Justizbehörden zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens den Beschuldigten auch in seinem verfassungsmäßigen Recht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG sowie – wenn sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet – in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Mit zunehmender Verzögerung des Verfahrens gerät eine gegen den Beschuldigten zu verhängende Sanktion in Widerstreit zu dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz, dass die Strafe verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen muss.61 Das Übermaßverbot verpflichtet deshalb das Tatgericht im Falle eines mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht in Einklang stehenden überlangen Verfahrens zur Prüfung, ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann.62 Diesem verfassungsrechtlichen Erfordernis wird wirksam aber nur dadurch Rechnung getragen, dass die Kompensation im Strafverfahren bei der Strafzumessung i.w.S. erfolgt. Dies wird besonders deutlich in Fällen, in denen die sachlich nicht gerechtfertigte überlange Belastung des Beschuldigten ein Ausmaß erreicht, das die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs ganz in Frage stellt.63 Diesem Ergebnis steht die Auffassung des Großen Senats für Strafsachen in BGHSt 52 124, 138, wonach das Vollsteckungsmodell den Ausgleich für das erlittene Verfahrensunrecht von vornherein von Fragen des Unrechts, der Schuld und der Strafhöhe abkoppelt, nicht entgegen, weil es sich bei der Bemessung des als vollstreckt geltenden Strafteils tatsächlich um einen Akt der Strafzumessung im weiteren Sinne handelt.64 Letztlich stünde ein Verzicht auf eine Kompensation im Strafverfahren im Widerspruch zum Grundgedanken der Regelung des § 201 Abs. 3 Satz 2, der für den Bereich des Straf- und Ermittlungsverfahrens eine Aussetzungspflicht des Entschädigungsgerichts gerade deshalb anordnet, weil die Verfahrensverzögerung im Ausgangsverfahren von der Staatsanwaltschaft und dem Strafgericht bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen ist. b) Verzögerungsrüge. Die Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzö- 19 gerung im Strafverfahren setzt auch nach dem Inkrafttreten des neuen Entschädigungsrechts nicht voraus, dass der Beschuldigte eine Verzögerungsrüge gem. § 198 Abs. 3 erhoben hat.65 Vielmehr ist eine Kompensation – etwa aufgrund der Vollstreckungslösung – auch dann zu gewähren, wenn die Verzögerung nicht vorher wirksam gerügt worden ist. § 198 sieht als Kompensationsleistung eine Entschädigung in Geld gem. § 198 Abs. 1 und 2 oder eine Wiedergutmachung auf andere Weise gem. § 198 Abs. 4 vor. Gemäß § 198 Abs. 3 ist die wirksame Erhebung einer Verzögerungsrüge nur Voraussetzung für einen Entschädigungsanspruch, nicht aber für eine Wiedergutmachung auf
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Vgl. auch BGHSt 52 124, 140, wonach die Kompensation nach dem Vollstreckungsmodell nicht den Strafvollstreckungsbehörden überlassen werden kann, sondern bereits im Erkenntnisverfahren vorzunehmen ist. BVerfG NJW 1993 3254, 3255; 1995 1277 f.; NStZ 2006 680, 681. Vgl. BVerfG NJW 2003 2897; StV 2003 383, 385. Vgl. etwa BVerfGK 2 239 ff. Z. 44; BGHSt 46 159, 171 ff.
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So auch Fischer § 46, 142a StGB und Graf NZWiSt 2012 121, 128 unten. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 199, 14; Marx/ Roderfeld § 199, 10; KK/Barthe § 199, 4 GVG; BeckOK/Graf § 199, 11 ff. GVG; Graf NZWiSt 2012 121, 126; Gercke/Heinisch NStZ 2012 300, 304; a.A. Sommer StV 2012 107, 110; offen gelassen von BGH v. 5.12.2012 – 1 StR 531/12, BeckRS 2013 00981.
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andere Weise. Folgerichtig bestimmt § 198 Abs. 4 Satz 3 2. Halbsatz, dass die Erhebung der Verzögerungsrüge keine Voraussetzung für die Wiedergutmachung auf andere Weise in Form der Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer durch das Entschädigungsgericht ist. Nichts anderes kann für die Wiedergutmachung auf andere Weise im Form der Berücksichtigung der unangemessenen Dauer des Verfahrens durch die Strafgerichte oder Staatsanwaltschaften gem. § 199 Abs. 3 gelten. Für diese Lösung spricht auch der Wille des Gesetzgebers. Dieser wollte mit der Einführung des neuen Entschädigungsanspruchs keine Änderung der bisherigen ständigen Rechtsprechung des BVerfG und des BGH, wonach eingetretene Verfahrensverzögerungen im Strafverfahren von Amts wegen ohne Rücksicht auf eine Rügeobliegenheit des Beschuldigten zu berücksichtigen sind,66 herbeiführen. Dafür ergeben sich aus den Gesetzmaterialien keinerlei Anhaltspunkte. Ziel des neuen Gesetzes war es vielmehr, den Beteiligten eine neue und bislang nicht gegebene Wiedergutmachung zu eröffnen, nicht aber die Voraussetzungen für eine Kompensation nach der bisherigen Praxis der Strafgerichte zu verschärfen.67 Dementsprechend wird die Rüge der unangemessenen Verfahrensdauer im Gesetzentwurf der Bundesregierung als zwingende Voraussetzung (nur) für die Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen, nicht aber für Wiedergutmachungsmöglichkeiten im Strafverfahren genannt.68
IV. Bindung des Entschädigungsgerichts an eine Entscheidung des Strafgerichts (Abs. 3 Satz 2) 20
§ 198 Abs. 3 Satz 2 regelt die Bindung des Entschädigungsgerichts an die Feststellung des für Ermittlungs- und Strafverfahren sachnäheren Strafgerichts hinsichtlich einer Angemessenheit der Verfahrensdauer, um ein Auseinanderfallen der Beurteilungen von Straf- und Entschädigungsgerichten zu vermeiden. Die Bindungswirkung gilt sowohl in Fällen, in denen das Strafgericht eine Feststellung hinsichtlich des Vorliegens einer unangemessenen Verfahrensdauer trifft und gegebenenfalls zusätzlich eine Kompensation vornimmt, als auch in Fällen, in denen das Strafgericht feststellt, dass die Verfahrensdauer noch angemessen war.69 Ausreichend ist insoweit, dass sich die Beurteilung des Strafgerichts aus den Gründen der Entscheidung ergibt.70 Verhält sich das Strafurteil überhaupt nicht zur Verfahrensdauer, kommt eine Feststellungswirkung nicht in Betracht.71 Eine Bindungswirkung einer Entscheidung der Staatsanwaltschaft hinsichtlich der Angemessenheit der Verfahrensdauer sieht das Gesetz nicht vor. Sie folgt auch nicht aus der Gleichsetzung von Staatsanwaltschaft und Gericht in § 199 Abs. 2 Halbsatz 1.72 Keine Bindungswirkung entsteht auch, wenn andere Verfahrensbeteiligte wie Nebenkläger, Adhäsionskläger oder Einziehungsbeteiligte einen Entschädigungsanspruch geltend machen.
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Vgl. BVerfG NJW 2003 2225; BGHSt 46 159, 171 ff.; BGHSt 52, 124 ff. BTDrucks. 17 3802 S. 2; BeckOK/Graf § 199, 11 GVG, KK/Barthe § 199, 4 GVG. BTDrucks. 17 3802 S. 2. BTDrucks. 17 3802 S. 25; Kissel/Mayer § 198, 40; BeckOK/Graf § 199, 15 GVG.
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Kissel/Mayer § 198, 40; vgl. auch OLG Frankfurt a.M. NJW 2013 480, 481. A.A. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 199, 33. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 199, 32.
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Nachtr. § 200 GVG
V. Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung und Verständigung im Strafverfahren Ob die Vornahme einer Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzö- 21 gerung im Rahmen einer Verständigung gem. § 257c StPO vereinbart werden kann, ist umstritten.73 Liegen keine Anhaltspunkte für eine unangemessene Verfahrensverzögerung vor, ist es unzulässig, im Wege der Vereinbarung von einer solchen auszugehen.74 Ist das Verfahren tatsächlich unangemessen verzögert worden, ist eine Verständigung über diesen Punkt nicht ausgeschlossen, da die Kompensation weder den einer Verständigung entzogenen Schuldspruch noch Maßregeln der Sicherung und Besserung betrifft.
§ 200 1Für Nachteile, die auf Grund von Verzögerungen bei Gerichten eines Landes eingetreten sind, haftet das Land. 2Für Nachteile, die auf Grund von Verzögerungen bei Gerichten des Bundes eingetreten sind, haftet der Bund. 3Für Staatsanwaltschaften und Finanzbehörden in Fällen des § 386 Absatz 2 der Abgabenordnung gelten die Sätze 1 und 2 entsprechend.
Entstehungsgeschichte. Die Vorschrift wurde durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜVerfBesG) vom 24.11.2011 (BGBl. I 2302) eingeführt und ist am 3.12.2011 in Kraft getreten (vgl. § 198).
§ 200 regelt, gegen wen ein Anspruch auf Entschädigung wegen überlanger Verfah- 1 rensdauer zu richten ist. Die Passivlegitimation bestimmt sich danach, ob das Verfahren bei einem Gericht eines Landes (AG, LG, OLG, ArbG, LAG, FG, SG, LSG, VG, OVG, VGH und die bei solchen Gerichten eingerichteten Standes- oder Berufsgerichte) oder bei einem Gerichtshof des Bundes (BGH, BAG, BFH, BSG, BVerwG und deren Standes- oder Berufsgerichte) unangemessen lange gedauert hat. Im ersten Fall haftet das Land, zu dem das betreffende Gericht gehört, im zweiten Fall haftet der Bund. Das Land haftet auch in Fällen, in denen ein Oberlandesgericht in Staatsschutzsachen gem. § 120 Abs. 1 und 2 GVG erstinstanzlich zuständig ist und insoweit im Wege der Organleihe als Bundesgericht tätig wird (§ 120 Abs. 6 GVG, Art. 96 Abs. 5 GG). Dies ergibt sich aus der Regelung der Entschädigungslast in § 120 Abs. 7 StPO, wonach die Länder vom Bund, soweit sie Bundesgerichtsbarkeit ausüben, Erstattung der zunächst aus der Landeskasse zu tragenden Entschädigungsleistungen verlangen können.1 Für Verzögerungen im Verantwortungsbereich der Staatsanwaltschaft oder der Finanzbehörden in den Fällen des § 386 Abs. 2 AO haftet die Körperschaft, der die jeweilige Behörde angehört (Satz 3). Gemäß
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Bejahend BeckOK/Eschelbach § 257c, 11 StPO; Graf NZWiSt 2012 121, 128; verneinend Meyer-Goßner § 257c, 10 StPO; offen gelassen von BGH StV 2011 74. BGH StV 2011 74.
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Kissel/Mayer § 200, 3 und § 120, 30; vgl. auch Meyer § 15, 2 StrEG; a.A. Graf NZWiSt 2012 121, 126; BeckOK/Graf § 200, 1 GVG.
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§ 201 GVG Nachtr.
Gerichtsverfassungsgesetz
§ 386 AO ist die Familienkasse Finanzbehörde i.S.v. § 386 Abs. 2 AO. Wird das Ermittlungsverfahren von der Bußgeld- und Strafsachenstelle der Bundesagentur für Arbeit geführt, wird sie als Finanzbehörde des Bundes tätig, weshalb für dortige Verfahrensverzögerungen der Bund haftet.2 Auf die Rechtsträgerschaft der von der Staatsanwaltschaft mit den Ermittlungen beauftragten Ermittlungspersonen kommt es nicht an. Diese Haftungsaufteilung hat zur Folge, dass in Fällen, in denen die Verfahrensverzö2 gerung sowohl bei einem Gericht/einer Staatsanwaltschaft eines Landes als auch bei einem Gericht des Bundes oder dem Generalbundesanwalt eingetreten ist, mehrere Ansprüche gegen unterschiedliche Schuldner geltend gemacht werden müssen.3 Eine Haftung als Gesamtschuldner mit einer anteiligen Ausgleichspflicht im Innenverhältnis, wie sie im Referentenentwurf noch vorgesehen war,4 ist nicht Gesetz geworden (siehe § 201, 2).5 Entsprechendes gilt, wenn die Verfahrensverzögerung bei Gerichten/Staatsanwaltschaften verschiedener Länder eingetreten sind. Bei einer Verfahrensverzögerung bei einem Gericht oder einem Senat, die für mehrere Länder eingerichtet wurden,6 kommt es für die Organträgerschaft nicht auf den Gerichtssitz an, sondern auf die Herkunft des entschiedenen Falles, weil Rechtsprechungsgewalt jeweils nur für eines der Länder ausgeübt wird.7
§ 201 (1) 1Zuständig für die Klage auf Entschädigung gegen ein Land ist das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk das streitgegenständliche Verfahren durchgeführt wurde. 2Zuständig für die Klage auf Entschädigung gegen den Bund ist der Bundesgerichtshof. 3Diese Zuständigkeiten sind ausschließliche. (2) 1Die Vorschriften der Zivilprozessordnung über das Verfahren vor den Landgerichten im ersten Rechtszug sind entsprechend anzuwenden. 2Eine Entscheidung durch den Einzelrichter ist ausgeschlossen. 3Gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts findet die Revision nach Maßgabe des § 543 der Zivilprozessordnung statt; § 544 der Zivilprozessordnung ist entsprechend anzuwenden. (3) 1Das Entschädigungsgericht kann das Verfahren aussetzen, wenn das Gerichtsverfahren, von dessen Dauer ein Anspruch nach § 198 abhängt, noch andauert. 2In Strafverfahren, einschließlich des Verfahrens auf Vorbereitung der öffentlichen Klage, hat das 2 3
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OLG Hamm Beschluss vom 26.4.2013 – 11 EK 12/13, BeckRS 2013 08983. OLG Hamm Beschluss vom 26.4.2013 – 11 EK 12/13, BeckRS 2013 08983; SteinbeißWinkelmann/Ott § 200, 2; Marx/Roderfeld § 200, 3; a.A. Kissel/Mayer § 201, 4; Magnus ZZP 2012 75, 83. § 200 Referentenentwurf: „Sind an dem Gerichtsverfahren Gerichte verschiedener Rechtsträger beteiligt, gelten die Vorschriften der §§ 421 bis 426 des Bürgerlichen Gesetzbuchs entsprechend. Für den Ausgleich im Innenverhältnis sind die Anteile der beteiligten Gerichte an der Verfahrensdauer maßgeblich. Hat ein Gericht die Verfahrensverzöge-
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rung nicht mit verursacht, bleibt sein Anteil für den Ausgleich unberücksichtigt.“ Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 200, 2. Vgl. gemeinsames LSG Berlin und Brandenburg, § 28 Abs. 2 SGG; gemeinsames FG Berlin-Brandenburg, § 3 Abs. 2 FGO; gemeinsames OVG Berlin-Brandenburg, § 3 Nr. 2 VwGO; gemeinsamer Staatsschutzsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg für Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern; gemeinsamer Staatsschutzsenat des KG Berlin für Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Vgl. VerfGH Berlin Beschl. v. 19.12.2006 – 45/06; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 200, 5.
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Entschädigungsgericht das Verfahren auszusetzen, solange das Strafverfahren noch nicht abgeschlossen ist. (4) Besteht ein Entschädigungsanspruch nicht oder nicht in der geltend gemachten Höhe, wird aber eine unangemessene Verfahrensdauer festgestellt, entscheidet das Gericht über die Kosten nach billigem Ermessen.
Entstehungsgeschichte. Die Vorschrift wurde durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜVerfBesG) vom 24.11.2011 (BGBl. I 2302) eingeführt und ist am 3.12.2011 in Kraft getreten (vgl. § 198). Sie wurde durch das Gesetz über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung und zur Änderung weiterer gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften sowie des Bundesdisziplinargesetzes vom 6.12.2011 (BGBl. I 2554), in Kraft getreten am 1.1.2012, dahin geändert, dass gem. Absatz 1 nicht mehr das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk die Regierung des beklagten Landes ihren Sitz hat, zuständig ist, sondern das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk das streitgegenständliche Verfahren durchgeführt wurde (dekonzentrierte Gerichtszuständigkeit). Außerdem wurde die ursprüngliche Regelung, wonach die Präsidenten der Gerichte und ihre ständigen Vertreter bei Entscheidungen über einen Anspruch nach § 198 nicht mitwirken (§ 201 Abs. 1 Satz 4), gestrichen.
Übersicht Rn. I. Zuständiges Gericht (Abs. 1) . . . . . . 1. Sachliche Zuständigkeit . . . . . . . 2. Örtliche Zuständigkeit . . . . . . . 3. Ausschließliche Zuständigkeit . . .
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Rn. II. Verfahren (Abs. 2)
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III. Aussetzung des Entschädigungsverfahrens (Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Kostenentscheidung (Abs. 4) . . . . . . .
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I. Zuständiges Gericht (Abs. 1) 1. Sachliche Zuständigkeit. Anknüpfend an die in § 200 festgelegte Haftungsauftei- 1 lung zwischen Bund und Ländern regelt § 201 Abs. 1 die Zuständigkeit der Gerichte für die Entscheidung über Entschädigungsansprüche wegen unangemessener Verfahrensdauer in Verfahren der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Abweichend von der ausschließlichen Zuständigkeit der Landgerichte für Amtshaftungsansprüche (§ 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG) ist erstinstanzlich zuständig für eine Entschädigungsklage nach § 198, die auf Verfahrensverzögerungen auf der Länderebene gestützt wird, das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk das streitgegenständliche Verfahren bei Gericht, der Staatsanwaltschaft oder der Finanzbehörde durchgeführt wurde (Satz 1). Dieses entscheidet auch, wenn das Verfahren eine Staatsschutzsache betrifft und erstinstanzlich vor dem Oberlandesgericht gem. § 120 Abs. 1 und 2, § 142a GVG verhandelt wurde (s. § 200, 1). Wird ein beim Landgericht vor Inkrafttreten der §§ 198 ff. anhängiges Verfahren auf die zwischenzeitlich Gesetz gewordene Anspruchsgrundlage des § 198 gestützt, ist das Verfahren an das zuständige Oberlandesgericht zu verweisen.1 Über Verfahrensverzögerungen auf Bundesebene entscheidet der Bundesgerichtshof. 1
Vgl. OLG Celle NdsRpfl 2012 306.
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Fraglich ist, ob in Fällen, in denen Verzögerungen wegen länderübergreifender Abgabe des Verfahrens bei Gerichten verschiedener Länder oder im Instanzenzug bei einem Gericht eines Landes und beim Bundesgericht entstanden sind, die beteiligten Körperschaften als Gesamtschuldner in entsprechender Anwendung der §§ 421 ff. BGB haften.2 Der Kläger hätte in diesem Fall die Wahl, welches der zuständigen Gerichte er anruft. In der Tat wäre es gerade im Hinblick auf das Erfordernis, bei der Beurteilung der unangemessenen Dauer eines Verfahrens grundsätzlich auf das Gesamtverfahren abzustellen (s. § 198, 26), wenig überzeugend, vom Kläger zu verlangen, zwei Entschädigungsklagen zu erheben. Da der Gesetzgeber die im Referentenentwurf noch vorgesehene gesamtschuldnerische Haftung aber nicht umgesetzt hat, kommt eine solche im Hinblick auf den klaren gesetzgeberischen Willen nicht in Betracht, zumal durch sie die ausschließliche Zuständigkeitsregelung des § 201 unterlaufen würde.3 Ein Wahlrecht nach § 35 ZPO steht dem Kläger nicht zu, da sich die dort geregelte prozessuale Dispositionsfreiheit nur auf die örtliche Zuständigkeit erstreckt.4 Der Kläger muss wegen der unterschiedlichen sachlichen Zuständigkeiten zwei Entschädigungsklagen entweder bei den OLG zweier Bundesländer oder beim zuständigen OLG und beim BGH erheben.5 Die beteiligten Körperschaften haften anteilig nach der Dauer der jeweiligen Verzögerung. Dies gilt auch in Fällen, in denen die beim Gericht eines Landes und beim Gericht des Bundes jeweils eingetretenen Verfahrensverzögerungen für sich betrachtet die Erheblichkeitsschwelle für das Vorliegen einer unangemessenen Verfahrensverzögerung noch nicht erreichen, mit Blick auf das Gesamtverfahren aber eine entschädigungspflichtige Verzögerung zu bejahen ist. Die Zuständigkeit bei unangemessenen Verzögerungen in Verfahren der übrigen Ge3 richtsbarkeiten richtet sich nach den jeweiligen Prozessordnungen. Aufgrund der dortigen Verweisungen auf die Vorschriften des Siebzehnten Titels des Gerichtsverfassungsgesetzes wird die Grundregel des § 201 Abs. 1 auf die übrigen Verfahrensordnungen sinngemäß übertragen (vgl. § 9 Abs. 2 Satz 2 ArbGG, § 173 Satz 2 VwGO; § 202 Satz 2 SGG).6 In finanzgerichtlichen Verfahren entscheidet in allen Fällen der Bundesfinanzhof (§ 155 Satz 2 FGO). Durch die Entscheidungszuständigkeit der jeweils betroffenen Gerichtsbarkeit soll sichergestellt werden, dass über das Tatbestandsmerkmal der „Angemessenheit“ der Verfahrensdauer sachkundig geurteilt wird.7
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2. Örtliche Zuständigkeit. Örtlich zuständig ist das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk das streitgegenständliche Verfahren durchgeführt wurde.8 Wird der Rechtsstreit innerhalb eines Landes an ein Gericht eines anderen OLG-Bezirks abgegeben, sind mehrere Oberlandesgerichte zuständig. Hier hat der Kläger nach § 35 ZPO die Wahl, welches der zuständigen Oberlandesgerichte er anruft.9 Werden ausnahmsweise mehrere Länder 2
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So Kissel/Mayer § 201, 4; Magnus ZZP 125 (2012) 75, 83; a.A. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 201, 2; Marx/Roderfeld § 201, 6. OLG Hamm Beschluss vom 26.4.2013 – 11 EK 12/13, BeckRS 2013 08983; SteinbeißWinkelmann/Ott § 201, 2; Marx/Roderfeld § 201, 6. Marx/Roderfeld § 201, 7. Nach Marx/Roderfeld § 201, 7 können die beiden Rechtsträger Bund und Land nach § 59 Alt. 2 ZPO als Streitgenossen verklagt werden, weshalb der Kläger einen Antrag auf
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Bestimmung der Zuständigkeit entsprechend § 36 Nr. 3 ZPO stellen kann, über den der BGH entscheidet. Zur Verzögerungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht vgl. § 97a bis § 97e BVerfGG; Zuck NVwZ 2012 265. BTDrucks. 17 3802 S. 25. Zur dekonzentrierten Gerichtszuständigkeit vgl. BTDrucks. 17 3802 S. 37 Nr. 13; Empfehlung des BRRAussch., BRDrucks. 587/ 1/11; BTDrucks. 17 7669 S. 8 Nr. 36. Vgl. BTDrucks. 17 3802 S. 25.
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in Anspruch genommen, weil der Ausgangsrechtsstreit länderübergreifend abgegeben wurde, soll der Kläger nach der Begründung des Regierungsentwurfs die Wahl haben, welches der zuständigen Oberlandesgerichte er anruft.10 Dies ändert aber nichts daran, dass jedes Bundesland nur für die Verzögerungen einzustehen hat, die seine Gerichte verursacht haben (s. Rn. 2).11 3. Ausschließliche Zuständigkeit. Gemäß Absatz 1 Satz 3 handelt es sich um aus- 5 schließliche Zuständigkeiten, so dass eine Prorogation nach § 38 ZPO und eine Zuständigkeitsbegründung kraft rügeloser Einlassung nach § 39 ZPO ausgeschlossen sind (§ 40 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 ZPO).12 Wird wegen überlanger Verfahrensdauer gleichzeitig ein Amtshaftungsprozess vor dem Landgericht geführt, kommt im Hinblick auf die unterschiedlichen Streitgegenstände und den Ausschließlichkeitscharakter der Zuständigkeitsnorm ein Gerichtsstand des Sachzusammenhangs nicht in Betracht.13
II. Verfahren (Abs. 2) Auf das Verfahren der Entschädigungsklage aus dem Bereich der ordentlichen Ge- 6 richtsbarkeit finden gem. § 201 Abs. 2 die Vorschriften der Zivilprozessordnung über das Verfahren vor den Landgerichten (§ 253 bis § 494a ZPO und die Allgemeinen Vorschriften der ZPO) entsprechende Anwendung.14 Die Entschädigungsklage ist eine auf Zahlung gerichtete Leistungsklage.15 Gem. § 78 Abs. 1 Satz 1 ZPO besteht Anwaltszwang; in Entschädigungsverfahren vor dem Bundesgerichtshof müssen sich die Parteien von einem beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen (§ 78 Abs. 1 Satz 3 ZPO). Zum Inhalt der Klageschrift gem. § 253 Abs. 2 ZPO gehört u.a. die richtige Parteibezeichnung auf Beklagtenseite, wobei die Angabe der korrekten Vertretungsbehörde nicht zu den zwingenden Erfordernissen einer ordnungsgemäßen Klageerhebung gehört.16 Die Vertretung der Länder richtet sich nach der jeweils maßgeblichen Vertretungsordnung.17 Der materielle Schaden ist beziffert einzuklagen, während es beim immateriellen Schaden, der eine Art Schmerzensgeld darstellt, zulässig ist, seine Höhe in das Ermessen des Gerichts zu stellen.18
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Vgl. BTDrucks. 17 3802 S. 25. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 201, 3. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 201, 4. Vgl. BGHZ 111 158, 166 f. zum Verhältnis des Anspruchs auf Schadenersatz aus unerlaubter Handlung und auf Ausgleich analog § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB; OLG Celle NdsRpfl 2012 306; Kissel/Mayer § 201, 3; Althammer/Schäuble NJW 2012 1, 6; Schenke NVwZ 2012 257, 263; vgl. auch Zimmermann FamRZ 2011 1905, 1906; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 201, 7 f.; Marx/ Roderfeld § 201, 2; a.A. LG Hannover BeckRS 2012 14851 (Zuständigkeit des OLG für Entschädigungsanspruch aus § 198 und für Amtshaftungsanspruch wegen desselben Streitgegenstands). Aufgrund des Verweises in § 201 Abs. 2
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Satz 1 auf die Vorschriften der ZPO über das Verfahren vor den Landgerichten im ersten Rechtszug gelten auch die Grundregeln des Allgemeinen Teils der ZPO, Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann § 201, 6; Althammer/Schäuble NJW 2012 1, 6. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann § 198, 14. Zöller/Greger § 253, 8 ZPO; Heine MDR 2012 327; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 235. Vgl. etwa Vertretungsordnung JM NRW vom 27.7.2011 (JMBl. NRW 2011, S. 232): Vertretung durch den Generalstaatsanwalt; Heine MDR 2012 327. Zimmermann FamRZ 2011 1905, 1909; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 255.
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Es gilt der Beibringungsgrundsatz. Der Kläger muss vortragen und im Bestreitensfall beweisen, dass er im Ausgangsverfahren eine Verzögerungsrüge erhoben hat, die den Voraussetzungen des § 198 Abs. 3 genügt. Außerdem muss er die Tatsachen, die eine unangemessene Dauer des Ausgangsverfahrens begründen, substantiiert vortragen und gegebenenfalls beweisen. Allein der Hinweis des Klägers auf die Gesamtdauer eines Verfahrens reicht für einen schlüssigen Klagevortrag nicht aus, weil es allgemeingültige Zeitvorgaben, wie lange ein Verfahren zu dauern hat, nicht gibt.19 Ebenso wenig genügt hierfür die bloße Bezugnahme auf die Akten des Ausgangsverfahrens.20 Soweit es aber auf Umstände ankommt, die in den alleinigen Herrschaftsbereich der Justiz fallen und deshalb dem Einblick des Klägers entzogen sind, gelten die allgemeinen zivilprozessualen Grundsätze zum Umfang der Darlegungslast.21 In diesen Fällen obliegt es dem beklagten Land oder Bund aufgrund seiner sekundären Darlegungslast, die in Betracht kommenden Verfahrensverzögerungen zu rechtfertigen.22 Andere Grundsätze gelten allerdings, wenn das Strafgericht als Ausgangsgericht über die Unangemessenheit der Verfahrensdauer bereits entschieden hat; dann ist das Entschädigungsgericht an die Beurteilung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer tatbestandlich gebunden (s. § 199, 20). Schließlich hat der Kläger – von der gesetzlichen Vermutung bei immateriellen Nachteilen in § 198 Abs. 2 Satz 1 abgesehen – den ihm entstandenen Nachteil und die Ursächlichkeit der Verfahrensverzögerung hierfür darzutun und gegebenenfalls zu beweisen (§ 198, 43).23 Die Beklagtenseite hat gegebenenfalls darzulegen, dass die Überlänge des Verfahrens den einzigen Nachteil darstellt und der Kläger keinen immateriellen Schaden erlitten hat, der nicht über eine Wiedergutmachung auf andere Weise ausgeglichen werden kann. Ihr obliegt es außerdem, darzutun, dass das Verfahren keine besondere Bedeutung für den Kläger hatte oder dass der Kläger durch ein bestimmtes Verhalten erheblich zur Verzögerung beigetragen hat.24 Entschieden wird durch Urteil. Der Beklagte wird zur Zahlung einer bestimmten Ent8 schädigung verurteilt oder die Klage wird ganz oder teilweise abgewiesen. Eine Klageabweisung erfolgt auch, wenn nach § 198 Abs. 4 anstelle der Entschädigung von Amts wegen eine überlange Verfahrensdauer festgestellt wird, sofern nicht der Sonderfall einer kumulativen Feststellung nach § 198 Abs. 4 Satz 3 Halbsatz 1 vorliegt.25 Es gelten die Vorschriften zum Urteil (§ 300 bis 329 ZPO), auch zum Versäumnisurteil (§ 330 ff. ZPO). Aus konventionsrechtlichen Grundsätzen kann sich eine § 313a Abs. 1 bis 3 ZPO vorgehende Begründungspflicht ergeben.26 Der Senat entscheidet stets in voller Besetzung. Eine Einzelrichterentscheidung ist ausgeschlossen (§ 201 Abs. 2 Satz 2), weil es
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OLG Celle Urteil vom 24.10.2012 - 23 SchH 3/12, BeckRS 2012 22632; Marx/Roderfeld § 201, 16. Heine MDR 2012 327, 331; SteinbeißWinkelmann/Ott § 198, 244. BTDrucks. 17 3802 S. 25; KK/Barthe § 201, 3 GVG; Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 201, 16 und § 198, 142; siehe hierzu allgemein BGHZ 163 209, 214; NJW 2012 2644 Z. 23; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann Einl. III, 23 und Anh. § 286 ZPO; Zöller/ Greger vor § 128, 10 ff. und § 138, 8 ff. ZPO. Sehr weitgehend OLG Celle v. 24.10.2012 – 23 SchH 3/12, BeckRS 2012 22632, wonach
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das Entschädigungsgericht auch ohne ausdrückliches Vorbringen des Klägers zu einzelnen Verfahrensabschnitten und -handlungen die in Bezug genommenen und beigezogenen Verfahrensakten auf Zeiten unangemessen langer Dauer überprüft. BTDrucks. 17 3802 S. 19. BTDrucks. 17 3802 S. 20; Marx/Roderfeld § 201, 17. Steinbeiß-Winkelmann/Ott § 198, 165, 242. BTDrucks. 17 3802 S. 20 unter Hinweis auf EGMR v. 29.3.2006 – 62361/00 Z. 94; Heine MDR 2012 327, 332; Marx/Roderfeld § 201, 29.
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nach Auffassung des Gesetzgebers in diesen Sachen der qualitätssichernden Wirkung der Kollegialspruchkörper in besonderem Maße bedarf.27 Gemäß dem neu eingefügten § 41 Nr. 7 ZPO ist im Entschädigungsverfahren ein Richter, der im Ausgangsverfahren mitgewirkt hat, kraft Gesetzes ausgeschlossen. Damit soll dem Anschein mangelnder Unvoreingenommenheit und zu erwartenden Befangenheitsanträgen vorgebeugt werden.28 Der wegen der Gefahr der Verflechtung mit Aufgaben der Dienstaufsicht im Gesetz vom 24.11.2011 noch geregelte Ausschluss der Präsidenten der Gerichte und ihrer ständigen Vertreter bei Entscheidungen über einen Anspruch nach § 198 (§ 201 Abs. 1 Satz 4 a.F.)29 wurde durch Gesetz vom 6.12.2011 (BGBl. I S. 2554, 2555) wieder aufgehoben, weil es für den Entschädigungsanspruch auf eine Pflichtverletzung des mit der Sache befassten Richters nicht ankommt und der Entschädigungsanspruch neben und unabhängig von der Dienstaufsicht des Gerichtspräsidenten über die seinem Gericht zugeordneten Richter besteht.30 Soweit ein Oberlandesgericht über die Entschädigungssache entschieden hat, findet 9 die Zulassungsrevision zum Bundesgerichtshof statt (§ 201 Abs. 2 Satz 3 1. Halbsatz i.V.m. § 543 ZPO). Das Oberlandesgericht hat die Revision zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsordnung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 ZPO). Gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Oberlandesgericht ist in entsprechender Anwendung von § 544 ZPO die Nichtzulassungsbeschwerde statthaft (§ 201 Abs. 2 Satz 3 2. Halbsatz). Diese muss innerhalb einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber bis zum Ablauf von sechs Monaten nach der Verkündung des Urteils bei dem Revisionsgericht eingelegt werden (§ 544 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Zu beachten ist § 26 Nr. 8 EGZPO, wonach bis zum 31.12.2014 die Nichtzulassungsbeschwerde nur bei einem Beschwerdewert von mehr als 20.000 € zulässig ist.31 Gegen die Zurückweisung eines Prozesskostenhilfegesuchs in Entschädigungssachen nach §§ 198 ff. durch das OLG ist nicht die sofortige Beschwerde, sondern nur – nach Maßgabe des § 574 Abs. 1 ZPO – die Rechtsbeschwerde statthaft.32 Für die sonstigen Gerichtsbarkeiten wendet das Obergericht seine jeweilige Verfah- 10 rensordnung an. Für das Verfahren sind die Besonderheiten der dort geltenden Regelungen zu berücksichtigen.
III. Aussetzung des Entschädigungsverfahrens (Abs. 3) Absatz 3 Satz 1 gibt dem Entschädigungsgericht die Möglichkeit, nach seinem pflicht- 11 gemäßen Ermessen das Entschädigungsverfahren auszusetzen, bis das Ausgangsverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass eingetretene Verzögerungen in ihrem konkreten Ausmaß häufig erst im Vergleich mit der Dauer des Gesamtverfahrens nach dessen Abschluss beurteilt werden können. Absatz 3 Satz 2 ordnet für den Bereich des Straf- und Ermittlungsverfahrens eine Aussetzungspflicht des Ent-
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BTDrucks. 17 3802 S. 25. BTDrucks 17 7217 S. 49 und 17 3802 S. 37. BGBl. I S. 2303; BTDrucks. 17 3802 S. 25, 42. Vgl. Stellungnahme des Bundesrates, BTDrucks. 17 3802 S. 36 f.
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Vgl. § 26 Nr. 8 EGZPO i.d.F. des Art. 3 Nr. 1 des Gesetzes zur Änderung des § 522 ZPO vom 21.10.2011 (BGBl. I S. 2082). BGH NJW 2012 2449.
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schädigungsgerichts an, weil die Verfahrensverzögerung im Ausgangsverfahren von dem Strafgericht bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen und diese Entscheidung gegenüber der Entscheidung des Entschädigungsgerichts vorgreiflich ist (§ 199 Abs. 3 Satz 2).
IV. Kostenentscheidung (Abs. 4) 12
Die Kostengrundentscheidung richtet sich nach §§ 91 ff. ZPO. Dabei ist aber die Besonderheit des § 201 Abs. 4 zu beachten. Danach entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen, wenn das Gericht zwar eine unangemessene Verfahrensdauer feststellt, gleichwohl aber zum Ergebnis kommt, dass – aus welchem Grund auch immer – der geltend gemachte Entschädigungsanspruch nicht oder nicht in der geltend gemachten Höhe besteht. Dadurch soll vermieden werden, dass die beklagte Partei bei unverhältnismäßig hohen Entschädigungsforderungen und entsprechend hohem Streitwert mit unangemessen hohen Kosten belastet wird.33 Die Regelung ermöglicht auch eine angemessene Kostenentscheidung, wenn ein Kläger seine Rügeobliegenheit aus § 198 Abs. 3 nicht ordnungsgemäß erfüllt hat, das Entschädigungsgericht aber gleichwohl eine überlange Verfahrensdauer nach § 198 Abs. 4 Satz 3 2. Halbsatz feststellt.34
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BTDrucks. 17 3802 S. 26; Marx/Roderfeld § 201, 30.
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BTDrucks. 17 3802 S. 26.
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Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz DRITTER ABSCHNITT Anfechtung von Justizverwaltungsakten
§ 26 (1) … (2) 1War der Antragsteller ohne Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. 2Ein Fehlen des Verschuldens wird vermutet, wenn in dem Bescheid oder, soweit ein Beschwerdeverfahren (§ 24 Absatz 2) vorausgegangen ist, in dem Beschwerdebescheid eine Belehrung über die Zulässigkeit des Antrags auf gerichtliche Entscheidung sowie über das Gericht, bei dem er zu stellen ist, dessen Sitz und die einzuhaltende Form und Frist unterblieben oder unrichtig erteilt ist. (3) … (4) …
Schrifttum Geisler Zur Erteilung von Rechtsmittelbelehrungen in Entscheidungen der Gerichte der freiwilligen Gerichtsbarkeit, StAZ 1996 79; Keller Anmerkung zur Rechtsprechung des BGH zum Erfordernis einer Rechtsmittelbelehrung bei Zuschlagsbeschlüssen im Zwangsversteigerungsverfahren, Zeitschrift für Immobilienrecht 2009 525; Kunz Rechtsmittelbelehrung im Zivilverfahren, FRP 1997 189; ders. Rechtsmittelbelehrung durch die Zivilgerichte (2000); Limberger Rechtsbehelfsbelehrung in der Zwangsvollstreckung, Deutsche Gerichtsvollzieherzeitung 1997 165; Müther Die Beschwerdeeinlegung beim unzuständigen Gericht nach dem FamFG, FamRZ 2010 1952; Rensen Rechtsbehelfsbelehrungen und Wiedereinsetzung im Zivilprozess, MDR 2011 201.
I. Änderung Durch Art. 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im 1 Zivilprozess und zur Änderung anderer Vorschriften1 wurde in Absatz 2 ein Satz 2 eingefügt. Die Regelung tritt nach Art. 21 Satz 1 des bezeichneten Artikelgesetzes zum 1.1.2014 in Kraft. 1. Zweck der Änderung. Die Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im gesamten 2 Regelungsbereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit soll ausweislich der Begründung des Regierungsentwurfs den Bürgern die Orientierung im gerichtlichen Instanzenzug erleich1
Gesetz v. 5.12.2012 zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess und
zur Änderung anderer Vorschriften (BGBl. I 2418).
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tern und der Vermeidung unzulässiger Rechtsmittel dienen.2 Absatz 2 Satz 2 gilt für sämtliche Rechtsbehelfe nach § 23, also ungeachtet der zivilprozessrechtlichen Einkleidung des ändernden Artikelgesetzes (Rn. 1) auch für Rechtsschutz gegen Justizverwaltungsakte auf dem Gebiet der Strafrechtspflege. Damit wird die Befristung des Rechtsschutzes gegen strafprozessrechtliche Justizverwaltungsakte der Regelung nach §§ 35a, 44 Satz 2 StPO angenähert und insoweit eine Regelungslücke geschlossen, die im Hinblick auf die besonderen Unsicherheiten betreffend den Rechtsschutz im grundrechtlich sensiblen Regelungsbereich des § 233 auch sub specie Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich prekär war (vgl. auch Rn. 5).
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2. Regelungskontext. Hintergrund der Neuregelung ist die Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung in § 232 ZPO, die jeder anfechtbaren Entscheidung beizufügen ist, sofern kein Anwaltszwang besteht oder eine besondere Belehrungspflicht greift.4 Für familiengerichtliche Verfahren und Verfahren der Freiwilligen Gerichtsbarkeit sieht bereits seit September 2009 § 39 FamFG eine Rechtsbehelfsbelehrung vor.5 Diese Ausnahme ließ sich bislang vor allem damit rechtfertigen, dass es sich bei den Verfahren nach FamFG um materielles Verwaltungsrecht handelt, weshalb schon im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG eine qualifizierte – über den allgemeinen Justizgewährleistungsauftrag hinausgehende – Verantwortung des Staates besteht, durch Ausgestaltung des Prozessrechts den Bürgern praktisch wirksamen Rechtsschutz zu eröffnen. Die 81. Justizministerkonferenz im Juni 2010 hat sich daher für die Einführung einer allgemeinen Rechtsbehelfsbelehrungspflicht auch im Zivilprozessrecht ausgesprochen, was im Mai 2012 zu einer entsprechenden Bundesratsinitiative führte.6 Rechtspolitisch ist die Neuregelung positiv zu bewerten, weil auch in den sehr inho4 mogenen Anwendungsbereich der Rechtsschutzbestimmungen von ZPO und GVG zum einen Verfahren fallen, die öffentlich-rechtliche Streitigkeiten betreffen,7 zum anderen in privatrechtlichen Streitigkeiten nicht selten strukturell asymmetrische Informationslagen bestehen, die – als Konsequenz verfassungsrechtlich gebotener Rechtsschutzgleichheit8 – durch eine bürgerfreundliche Rechtsbehelfsbelehrung partiell ausgeglichen werden. Aus diesem Grund sah auch das Landesrecht schon bislang – in zulässiger Ergänzung des insoweit nach Art. 72 Abs. 1 GG nicht abschließenden Bundesrechts9 – die Pflicht vor, 2 3
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BTDrucks. 17 10490 S. 11. Etwa die Bestimmung, was Justizbehörde ist, sowie die Abgrenzung zu präventivem Handeln im Bereich der Polizei. Stellvertretend hierzu Haack in: Gärditz (Hrsg.), VwGO (2013) § 40, 144 ff.; Sodan in: Sodan/Ziekow (Hrsg.), VwGO § 40, 595 ff. Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes v. 5.12.2012 zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess und zur Änderung anderer Vorschriften (BGBl. I 2418). Zum Umfang Zimmermann Das neue FamFG (2009) 103; vertiefend auch Müther FamRZ 2010 1952 ff. BRDrucks. 308 2012, S. 1. Dies gilt namentlich für die nach § 40 Abs. 2 Satz 1 VwGO den ordentlichen Gerichten zugewiesenen Streitigkeiten im Bereich des Rechts der öffentlichen Ersatzleistungen. Die
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mit der Rechtswegzuweisung verbundene unmodifizierte Anwendbarkeit der ZPO – Stein/Itzel/Schwall Praxishandbuch des Amtsund Staatshaftungsrechts (2004) 255; Tremmel/Karger/Luber Der Amtshaftungsprozess 595 ff. – führt zu verschiedenen prozessualen Nachteilen für den Bürger. Vgl. Gärditz Die Verwaltung 43 (2010) 309, 316; Schoch in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III (2009) § 50, 96. Huber in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG Art. 19, 462. Unzulässig wäre es gewesen, mit einer fehlenden Belehrung Rechtsfolgen (z.B. einen Wiedereinsetzungsgrund) zu verbinden, weil das Bundesrecht insoweit mit § 26 EGGVG eine abschließende (also nicht ergänzungsfähige) Regelung enthält.
Klaus Ferdinand Gärditz
Dritter Abschnitt. Anfechtung von Justizverwaltungsakten
Nachtr. § 26 EGGVG
nach § 23 EGGVG Justizverwaltungsakten eine Rechtsbehelfsbelehrung beizufügen (so § 117 JustG NW). 3. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen. Art. 103 Abs. 1 GG verlangt nicht 5 generell eine Rechtsbehelfsbelehrung.10 Namentlich das Fehlen einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozessrecht wurde vom BVerfG gemessen am rechtsstaatlichen Justizgewährleistungsanspruch im Hinblick auf die Ausgestaltungsspielräume des Gesetzgebers im Prozessrecht grundsätzlich für (noch) verfassungskonform erachtet, sofern eine Rechtsbehelfsbelehrung nicht erforderlich ist, um unzumutbare Schwierigkeiten des Rechtsschutzes auszugleichen.11 Dies bedeutet indes zugleich, dass eine Rechtsbehelfsbelehrung durchaus – zumal im Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 4 GG – verfassungsrechtlich erforderlich sein kann.12 Der BGH hat daher (im Ansatz zutreffend) die Notwendigkeit einer Rechtsbehelfsbelehrung im Rahmen des Zwangsvollstreckungsrechts (konkret: §§ 869, 793 ZPO) für unmittelbar verfassungsrechtlich geboten erachtet.13 Das Fehlen einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung kann zudem bei verfassungskonformer Auslegung im Lichte von Art. 19 Abs. 4 GG ein Verschulden im Rahmen eines Wiedereinsetzungsantrags ausschließen.14
II. Regelungsmechanismus Nach § 26 Abs. 1 muss der Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 23) innerhalb 6 eines Monats nach Zustellung oder schriftlicher Bekanntgabe des Bescheides oder, soweit ein Beschwerdeverfahren (§ 24 Abs. 2) vorausgegangen ist, nach Zustellung des Beschwerdebescheides schriftlich oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle des OLGs oder eines Amtsgerichts gestellt werden. § 26 Abs. 2 Satz 1 eröffnet bei unverschuldeter Versäumung der Frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. 1. Vermutungswirkung. Hieran knüpft Absatz 2 Satz 2 an. Mit der Ergänzung wird 7 nunmehr die Rechtsbehelfsbelehrung über eine Vermutungskonstruktion eingeführt: Bei unterbliebener Rechtsbehelfsbelehrung wird ein Fehler des Verschuldens vermutet. Unterbleibt also eine Rechtsbehelfsbelehrung, ist prinzipiell ein Wiedereinsetzungsgrund anzunehmen. Dies entspricht dem Mechanismus der §§ 232, 233 Satz 2 ZPO n.F.,15 weicht aber von der graduell bürgerfreundlicheren Lösung des Verwaltungsprozessrechts ab, wonach das Fehlen einer Rechtsbehelfsbelehrung die Rechtsmittelfrist automatisch auf ein Jahr verlängert (§ 58 Abs. 2 VwGO). Der Gesetzgeber hat im Hinblick auf die Vielgestaltigkeit der Entscheidungsformen 8 und Entscheidungsgegenstände auf eine einheitliche gesetzliche Pflicht verzichtet, eine Rechtsbehelfsbelehrung zu erteilen (vgl. aber § 29 Abs. 4). Lediglich an das Fehlen der Belehrung, die nicht zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung führt, werden – insoweit ver-
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Pieroth in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG Art. 103, 24; Schmidt-Aßmann in: Maunz/ Dürig (Begr.), GG Art. 103, 97. BVerfGE 93 99, 107 f.; hierzu Geisler StAZ 1996 79 ff. BVerfG-K, Beschl. v. 24. 8. 2012, 2 VAs 5/12, 14. Für einen vor allem gleichheitsgrundrechtlichen Ansatz Rensen MDR 2011 201 ff.
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BGHZ 180 199 ff. (mit Anmerkung Keller Zeitschrift für Immobilienrecht 2009 525); zuvor bereits Limberger Deutsche Gerichtsvollzieherzeitung 1997 165 f. BVerfG-K, NJW 1996 1811; Jarass in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG Art. 19, 62. Siehe BTDrucks. 17 10490 S. 15.
Klaus Ferdinand Gärditz
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§ 26 EGGVG Nachtr.
Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz
gleichbar mit § 58 VwGO16 – Rechtsfolgen zu Gunsten des Bürgers geknüpft.17 Dies ist bereits deshalb sachgerecht, weil die nach § 23 anfechtbaren Justizverwaltungsakte nicht zwingend gerichtliche Entscheidungen zu sein brauchen18 und der Formalisierungsgrad daher variiert. Etwa repressive Maßnahmen der Polizei werden häufig in Situationen getroffen, in denen eine förmliche Belehrung schlichtweg unpraktikabel ist.
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2. Widerlegbarkeit. Die Vermutung mangelnden Verschuldens ist – anders als nach § 44 Satz 2 StPO19 – widerlegbar. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn ein Ursachenzusammenhang zwischen Belehrungsmangel und Fristversäumnis fehlt,20 etwa weil der Betroffene die zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe positiv kannte oder weil ihn andere Gründe (z.B. längere Abwesenheit ohne Empfangsvorkehrungen) ohnehin an einer fristgemäßen Einlegung gehindert hätten. Anwaltliche Vertretung schließt für sich gesehen einen Wiedereinsetzungsgrund nach Absatz 2 Satz 2 nicht aus (Umkehrschluss aus § 232 Satz 2 Halbs. 1 ZPO); vielmehr kommt es auf eine Gesamtwürdigung der Umstände an.21
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3. Ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung. Die Vermutungswirkung nach Absatz 2 Satz 2 wird nur durch eine ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung vermieden, die den Adressaten über den zur Verfügung stehenden Rechtsschutz auch zutreffend und vollständig informiert. Mindestanforderungen an eine Rechtsbehelfsbelehrung sind nach dem Gesetz der Hinweis auf den richtigen Rechtsbehelf (Antrag auf gerichtliche Entscheidung) sowie eine Belehrung über das Gericht, bei dem der Antrag zu stellen ist, dessen Sitz und die einzuhaltende Form sowie Frist (siehe § 26). Die Bestimmung der Frist muss die gesetzliche Monatsfrist wiedergeben, darf also z.B. nicht unzutreffend auf Tage oder Wochen Bezug nehmen. Im Rahmen der Belehrung gilt ein prozessuales Transparenzgebot. Allgemein ist eine 11 Rechtsbehelfsbelehrung, auch wenn sie keine objektiven Falschangaben enthält, unrichtig (und damit nicht im Sinne von Absatz 2 Satz 2 ordnungsgemäß erteilt), sofern sie geeignet ist, bei dem Adressaten einen Irrtum über die formellen oder materiellen Voraussetzungen des in Betracht kommenden Rechtsbehelfs hervorzurufen und ihn dadurch abzuhalten, den Rechtsbehelf überhaupt, rechtzeitig oder in der richtigen Form einzulegen.22 Gegenüber einem der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Adressaten ist es – entsprechend § 44 StPO – jedenfalls bei Justizverwaltungsakten auf dem Gebiet der Strafrechtspflege im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK zudem erforderlich, die Rechtsbehelfsbelehrung mit einer Übersetzung (vgl. auch § 181 Abs. 2 RiStBV) zu versehen.23 Absatz 2 Satz 2 enthält eine abschließende Benennung der die gesetzliche Vermutung 12 auslösenden Belehrungspflichten. Nicht erforderlich sind insbesondere Belehrungen über
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Vgl. etwa Krausnick in: Gärditz (Hrsg.), VwGO (2013) § 58, 11; Meissner in: Schoch/ Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO § 58, 7–9. BTDrucks. 17 10490 S. 15. Siehe im Einzelnen LR/Böttcher § 23, 2–26 EGGVG; Meyer-Goßner § 23, 2 EGGVG. Vgl. LR/Graalmann-Scheerer § 44, 64. BTDrucks. 17 10490 S. 14. So bereits die Begründung des Regierungsentwurfs, BTDrucks. 17 10490 S. 14 f.
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BVerwGE 57 188, 190; BVerwG DVBl. 2002 1553 f. LR/Graalmann-Scheerer § 44, 68. Der BGH geht davon aus, dass in der Regel ein Wiedereinsetzungsgrund vorliegt, so BGHSt 30 182, 185. Vgl. auch BGH NJW 1982 532 (533): Rechtbehelfsbelehrung muss Hinweis enthalten, dass Rechtsmittel im Hinblick auf § 184 GVG nur in deutscher Sprache einzulegen ist.
Klaus Ferdinand Gärditz
Dritter Abschnitt. Anfechtung von Justizverwaltungsakten
Nachtr. § 29 EGGVG
einen möglichen Wiedereinsetzungsantrag (§ 26 Abs. 2–4), der kein eigenständiger Rechtsbehelf ist, über die Postanschrift (oder Faxnummer) des Gerichts, über einzelne Sachentscheidungsvoraussetzungen (namentlich über das Erfordernis einer Antragsbefugnis nach § 24 Abs. 1), über einen richtigerweise im Rahmen strafprozessualen Rechtsschutzes gegen Justizverwaltungsakte (bei Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde) ebenfalls statthaften Antrag nach § 33a StPO24 oder über die Möglichkeit, als außerordentlichen Rechtsbehelf Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 19 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) einzulegen.
§ 28 (1) … (2) … (3) … (4) Hat das Gericht die Rechtsbeschwerde gegen seine Entscheidung zugelassen (§ 29), ist dem Beschluss eine Belehrung über das Rechtsmittel sowie über das Gericht, bei dem es einzulegen ist, dessen Sitz und über die einzuhaltende Form und Frist beizufügen.
Änderung. Absatz 4 wurde durch das Gesetz v. 5.12.2012 zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess und zur Änderung anderer Vorschriften (BGBl. I S. 2418) neu eingefügt. In Abweichung von § 26 Abs. 2 Satz 2 ist hiernach eine Rechtsbehelfsbelehrung zwingend vorzusehen, soweit das Beschwerdegericht die Rechtsbeschwerde zum OLG zulässt. Insoweit soll – entsprechend § 39 FamFG, § 232 ZPO – eine einheitliche Pflicht zur Rechtsbehelfsbelehrung bei Rechtsmitteln gegen gerichtliche Entscheidungen hergestellt werden.1
§ 29 (1) … (2) … (3) Auf das weitere Verfahren sind § 17 sowie die §§ 71 bis 74a des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit entsprechend anzuwenden. (4) …
Änderung. Durch das Gesetz v. 5.12.2012 zur Einführung einer Rechtsbehelfsbeleh- 1 rung im Zivilprozess und zur Änderung anderer Vorschriften (BGBl. I S. 2418) wurde nach „sind“ die Bezugnahme auf § 17 FamFG eingefügt.
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Vgl. Meyer-Goßner § 29, 2 EGGVG: analoge Anwendung.
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BTDrucks. 17 10490 S. 15.
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§ 30a EGGVG Nachtr.
Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz
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Zweck der Änderung. Hierdurch wird klargestellt, dass die Regelung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 17 FamFG auch im Verfahren über die Rechtsbeschwerde gilt. § 17 Abs. 2 FamFG enthält eine § 26 Abs. 2 Satz 2 EGGVG n.F. entsprechende Vermutungsregel bei unterbliebener Rechtsbehelfsbelehrung, die nach § 28 Abs. 4 nunmehr zwingend zu erteilen ist. Die zugelassene Rechtsbeschwerde kann auch von der öffentlichen Hand (namentlich 3 durch die zuständige Staatsanwaltschaft eines Landes oder des Bundes) eingelegt werden. Staatlichen Justizbehörden wird aber das Wissen über statthafte Rechtsbehelfe institutionell zugerechnet, sodass auch bei Fehlen einer Rechtsbehelfsbelehrung die Vermutungsregel grundsätzlich nicht anwendbar ist, also eine Fristversäumnis verschuldet ist.
§ 30a (1) … (2) 1Über den Antrag entscheidet das Amtsgericht, in dessen Bezirk die für die Einziehung oder Befriedigung des Anspruchs zuständige Kasse ihren Sitz hat. 2In dem Verfahren ist die Staatskasse zu hören. 3Die §§ 1b, 14 Absatz 3 bis 9 und § 157a der Kostenordnung gelten entsprechend. (3) … (4) …
Änderung. Durch das Gesetz v. 5.12.2012 zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess und zur Änderung anderer Vorschriften (BGBl. I S. 2418) wurde in Absatz 2 Satz 3 neu gefasst und die Bezugnahme auf § 1b KostO aufgenommen. Zweck der Änderung. Mit dieser Verweisung auf die ebenfalls neu eingefügte Bestimmung des § 1b KostO soll für den gesondert geregelten Bereich der Justizkostenverwaltungsakte sichergestellt werden, dass die Entscheidung des Amtsgerichts nach § 30a Abs. 2 EGGVG eine Belehrung über das in entsprechender Anwendung des § 14 Abs. 3, 4 KostO statthafte Rechtsmittel der Beschwerde enthält. Entsprechendes soll für die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts gelten, die gegebenenfalls eine Belehrung über eine zugelassene weitere Beschwerde nach § 14 Abs. 5 KostO i. V. mit § 30a Abs. 2 Satz 3 EGGVG enthalten muss. Keine Vermutungsregel. Einer Rechtsfolgenbestimmung entsprechend den neu eingeführten Vermutungsregeln (§ 233 Satz 2 ZPO, § 26 Abs. 2 Satz 2 EGGVG) bedurfte es nicht, weil die Rechtsmittel der KostO nicht fristgebunden sind.1
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BTDrucks. 17 10490 S. 15.
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SECHSTER ABSCHNITT
Übergangsvorschriften § 41 (1) Für Verfahren, die vor dem 1. Januar 2012 beim Landgericht anhängig geworden sind, sind die §§ 74, 74c und 76 des Gerichtsverfassungsgesetzes in der bis zum 31. Dezember 2011 geltenden Fassung anzuwenden. (2) Hat die Staatsanwaltschaft in Verfahren, in denen über die im Urteil vorbehaltene oder die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu entscheiden ist, die Akten dem Vorsitzenden des zuständigen Gerichts vor dem 1. Januar 2012 übergeben, ist § 74f des Gerichtsverfassungsgesetzes in der bis zum 31. Dezember 2011 geltenden Fassung entsprechend anzuwenden.
Entstehungsgeschichte § 41 wurde durch Art. 2 des Gesetzes über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung und zur Änderung weiterer gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften sowie des Bundesdisziplinargesetzes vom 6. Dezember 2011 (BGBl. I S. 2554) mit Wirkung zum 1. Januar 2012 (Art. 5) neu geschaffen.
1. Funktion der Vorschrift. Praktische Bedeutung besitzt die Norm insbesondere als 1 Überleitungsregelung für die zum 1. Januar 2012 erfolgte gesetzliche Reform der Besetzung der großen Strafkammern in § 76 GVG. Daneben bestimmt sie die jeweils anwendbare Fassung der zugleich geänderten Zuständigkeits-, Geschäftsverteilungs- und Besetzungsvorschriften der §§ 74, 74c und 74f GVG. Die Einfügung der Norm in das Stammgesetz des EGGVG unterstreicht den Anspruch der Reform, eine endgültige Regelung der Besetzungsreduktion für die großen Strafkammern zu schaffen (nun § 76 Abs. 2–5 GVG). Diese war 1993 durch Art. 3 Nr. 8 RPflEntlG vom 11. Januar 1993 (BGBl. I S. 50) als vorübergehende Behelfsmaßnahme geschaffen und ab 1998 durch Änderungen der in Art. 15 Abs. 2 RPflEntlG normierten Befristung insgesamt sechsmal bis zuletzt zum 31. Dezember 2011 verlängert worden.1 § 41 Abs. 1 regelt die Überleitung auf die nunmehr geschaffene unbefristete Fassung des § 76 GVG, während das RPflEntlG außer Kraft getreten ist. Für das Jugendstrafverfahren wurde in § 121 Abs. 2 und 3 JGG eine gesonderte, inhaltlich parallele Überleitungsregelung für die Besetzungsreduktion der Jugendkammer (§ 33b Abs. 2–6 JGG) sowie die Fälle des § 74f GVG2 geschaffen,
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Näher LR/Gittermann § 76 GVG Nachtr., Entstehungsgeschichte. Verfahren nach §§ 7 Abs. 2 und 3 sowie § 106 Abs. 3, 5 und 6 JGG a.F. i.V.m. §§ 81a,
109 Abs. 1 Satz 1 JGG, näher BTDrucks. 17 6905 S. 13, 14. Seit der zum 1. Juni 2013 in Kraft getretenen bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der
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569
§ 41 EGGVG Nachtr.
Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz
während bzgl. §§ 74, 74c GVG auch dort § 41 EGGVG gilt. Dass § 121 Abs. 2 JGG im Wortlaut nur § 33b Abs. 2 JGG nennt und anders als § 41 Abs. 1 EGGVG bzgl. § 76 GVG die übrige Änderung des § 33b JGG (Einfügung der auf Absatz 2 aufbauenden neuen Absätze 3 bis 6) nicht ausdrücklich mit einbezieht, bedeutet keinen sachlichen Unterschied. Die Notwendigkeit einer Überleitungsregelung folgt daraus, dass Änderungen des 2 Prozessrechts nach einhelliger Auffassung vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an auch für anhängige Verfahren gelten, sofern hierzu keine abweichende Regelung erfolgt.3 Bei einer Modifikation von Zuständigkeits- und Besetzungsvorschriften wäre dies selbst in Ansehung der §§ 6a S. 2, 269 StPO wenig praktikabel. Für die Einführung der Besetzungsreduktion hatte der Gesetzgeber im RPflEntlG 1993 trotzdem auf eine Übergangsregelung verzichtet. Dies war möglich, weil die damals geschaffene Fassung des § 76 Abs. 2 GVG eine einmalige Entscheidung über die Besetzung zu einem fest bestimmten Zeitpunkt vorsah („Bei der Eröffnung des Hauptverfahrens“). Eine Beschlussfassung zu späterem Zeitpunkt sollte nicht möglich sein.4 Hieraus konnte geschlossen werden, dass auch in einem zum Zeitpunkt des Inkraftretens bereits eröffneten Verfahren eine Besetzungsentscheidung nicht nachzuholen war.5 Nach der seit 1. Januar 2012 geltenden Neuregelung in § 76 Abs. 4 GVG hat das Gericht dagegen eine getroffene Besetzungsentscheidung im Zeitraum bis zum Beginn der Hauptverhandlung zu korrigieren, wenn neue Umstände dies erfordern. Ohne Überleitungsregelung bliebe zumindest unklar6, ob auch das Inkrafttreten der Reform als solches ein „neuer Umstand“ i.S.d. § 76 Abs. 4 GVG sein kann, der bei Verfahren, die sich zu diesem Zeitpunkt in der durch § 76 Abs. 4 GVG umschriebenen Phase befinden, „nach Maßgabe der [neuen] Absätze 2 und 3“ die dort vorgesehene Rückkehr zur Dreierbesetzung gebietet.7
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2. Überleitungsregelung für §§ 74, 74c und 76 GVG (Absatz 1). Die maßgebliche Fassung der Normen bestimmt Absatz 1 anhand des Zeitpunkts, in dem das einzelne Verfahren beim Landgericht anhängig geworden ist. Nur wenn dieser nach dem 1. Januar 2012 und damit nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung liegt, finden die §§ 74, 74c und 76 GVG in ihrer geänderten Fassung Anwendung. Mit der „Anhängigkeit“ hat der Gesetzgeber einen Begriff gewählt, der in verschiedenen Normen der StPO Verwendung findet, dort aber keine einheitliche Bedeutung besitzt. So bezieht er in § 154e
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Sicherungsverwahrung (BGBl. 2012 I, S. 2425) handelt es sich um Verfahren nach §§ 7 Abs. 2 und 4 sowie § 106 Abs. 3, 4 und 7 JGG. BVerfGE 11 139, 146; 24 33, 55; Maunz/ Dürig/Maunz Art. 101, 24 GG. BTDrucks. 12 1217 S. 48; das RPflEntlG sah die Möglichkeit erneuter Entscheidung nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht – jetzt § 76 Abs. 5 GVG – nicht vor; sie wurde erst im Jahr 2000 geschaffen (BGBl. I S. 1756). Zudem hat die Rechtsprechung inzwischen für bestimmte Konstellationen nachträgliche Korrekturen zugelassen (BGHSt 44, 328; 53, 169). LR/Siolek § 76, 6 GVG m.w.N.; LR/Gittermann § 76, 24 GVG Nachtr.; Rieß AnwBl
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1993 51, 54 Fn. 62; Schlothauer StV 1993 147, 150. Vgl. zu den aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG folgenden Bestimmtheitsanforderungen gegenüber dem Gesetzgeber z.B. von Mangoldt/ Klein/Starck/Classen Art. 101, 18 ff. GG; Maunz/Dürig/Maunz Art. 101, 25 GG; zur Relevanz auch der Besetzungsvorschriften für die Bestimmung des gesetzlichen Richters BVerfGE 95 322; BVerfG StV 2012 513. Vgl. zu der zum Begriff der neuen „Tatsachen“ in § 66b StGB a.F. in diesem Sinne geführten Diskussion BGH NJW 2006 3154, 3155; LK/Rissing-van Saan/Peglau § 66b, 124 ff. StGB; Veh NStZ 2005 307; wobei die Überleitungsregelung des Absatz 1 hier ebenfalls auslegungsbedürftig ist, s. Rn. 4.
Raik Werner
Sechster Abschnitt. Übergangsvorschriften
Nachtr. § 41 EGGVG
Abs. 1 StPO auch das strafrechtliche Ermittlungsverfahren ein.8 In § 206b S. 1 StPO wurde er teils auf den Verfahrensabschnitt ab Klageerhebung bezogen; nach heute h.M. bezeichnet er dort aber nur ein bereits eröffnetes Verfahren.9 Auch für § 237 StPO stehen sich entsprechende Ansichten gegenüber.10 Im Schrifttum wird der Begriff teilweise sogar vermieden zugunsten eines einheitlichen Terminus der „Rechtshängigkeit“, in den auch das Zwischenverfahren einbezogen wird.11 Soweit er aber Verwendung findet, wird der Begriff der „Anhängigkeit“ in der Literatur immerhin einheitlich in dem Sinne verstanden, dass er die Phase ab Klageerhebung bezeichnet.12 Das wird auch daran deutlich, dass seine Verwendung in § 206b S. 1 StPO als „Redaktionsversehen“ bezeichnet wird.13 In §§ 13 Abs. 2, 138c Abs. 2 S. 1, 141 Abs. 4, 146a Abs. 1 S. 3 StPO besitzt der Begriff wohl ebenfalls unstreitig diese Bedeutung. Die Bedeutung des Terminus kann für jede Norm letztlich nur anhand ihrer Funktion 4 bestimmt werden. Für Absatz 1 ist ein Verfahren danach in Übereinstimmung mit dem in der Literatur üblichen Begriffsverständnis ab der Erhebung der Klage als anhängig anzusehen. Dies liegt insbesondere mit Blick auf die Bedeutung der Norm für § 76 GVG nahe: § 76 Abs. 2 S. 1 GVG sieht in der seit 1. Januar 2012 geltenden Fassung für den Regelfall noch immer eine Besetzungsentscheidung „bei der Eröffnung des Hauptverfahrens“ vor. Eine auf denselben Zeitpunkt abstellende Überleitungsregelung würde ihren Zweck in Frage stellen. Für bei Inkrafttreten bereits eröffnete Verfahren vor Beginn der Hauptverhandlung bliebe ferner unklar, ob die schon erfolgte Besetzungsentscheidung über § 76 Abs. 4 GVG ggf. allein deshalb korrigiert werden muss, weil sie anhand der neuen Regelungen zur Besetzungsreduktion anders hätte getroffen werden müssen (Rn. 2). Zudem würde eine solche Norm es dem Gericht gestatten, innerhalb der Grenzen des Beschleunigungsgebots durch die Wahl des Zeitpunkts des Eröffnungsbeschlusses das auf seine Besetzung anzuwendende Recht selbst zu bestimmen. Anknüpfungspunkt des Absatz 1 ist damit regelmäßig die Erhebung der Klage, d.h. 5 der Zeitpunkt der Einreichung der Anklageschrift bei Gericht (§ 170 Abs. 1 StPO), im Fall des Sicherungsverfahrens die Einreichung eines entsprechenden Antrags (§ 414 Abs. 2 S. 1 StPO). Offen lässt der Wortlaut des Absatz 1 allerdings teilweise, auf welches Gericht und welchen Zeitpunkt abzustellen ist, wenn eine Erhebung der Klage zunächst misslingt oder bei einem unzuständigen Gericht erfolgt. Anhand der Formulierung „beim Landgericht“ wird immerhin deutlich, dass eine Erhebung bei einem sachlich unzuständigen Gericht (AG oder OLG) nicht maßgeblich ist. Entscheidend ist in einem solchen Fall vielmehr der Zeitpunkt, zu dem das Verfahren nach § 209 Abs. 1 StPO vor dem Landgericht eröffnet wird oder es diesem nach § 209 Abs. 2 durch Vermittlung der Staatsanwaltschaft vorgelegt wird. Bei einer Vorlage nach § 225a Abs. 1 StPO tritt die
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LR/Beulke § 154a, 7 StPO. LR/Stuckenberg § 206b, 6 StPO mit Nachweisen zur gegenteiligen Ansicht; KK/Schneider § 206b, 2 StPO; Meyer-Goßner § 206b, 3 StPO. Für Einbeziehung auch des Zwischenverfahrens BGHSt 20 219, 221; 21 247, 248, für Begrenzung auf bereits eröffnete Verfahren KK/Gmel § 238, 4 StPO; Meyer-Goßner § 237, 4 StPO. AK/Schöch § 151, 5 StPO; Roxin/Schüne-
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mann § 40, 10; KK/Pfeiffer/Hannich Einleitung, 42. LR/Erb § 13, 12 StPO; LR/Beulke § 151, 12 StPO; LR/Stuckenberg § 206b, 6 StPO; SK/Weßlau § 151, 5, 12 StPO; KK/Schoreit § 151, 6 StPO; Meyer-Goßner Einl. 60b; auch AK/Schöch § 151, 5 StPO geht von diesem Verständnis aus und lehnt lediglich die Verwendung des Begriffs ab. KK/Schneider § 206b, 2 StPO; Meyer-Goßner § 206b, 3 StPO.
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§ 41 EGGVG Nachtr.
Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz
Anhängigkeit mit dem Übernahmebeschluss des Landgerichts nach § 225a Abs. 1 S. 2 StPO14 ein, bei einem Vorgehen nach § 270 Abs. 1 S. 1 StPO mit dem zugleich die Eröffnung bewirkenden (§ 270 Abs. 3 StPO) Verweisungsbeschluss.15 Angesichts der wesentlichen Funktion des Absatz 1 als Überleitungsregel für die primär „bei Eröffnung des Hauptverfahrens“ zu treffende Entscheidung über die Besetzungsreduktion nach § 76 Abs. 2 GVG liegt es nahe, auch in anderen Fällen eine Klageerhebung nur dann als maßgeblich anzusehen, wenn sie das Gericht tatsächlich in die Lage versetzt, über die Eröffnung zu entscheiden. Für Absatz 1 nicht relevant ist demnach die Anklageerhebung bei einem örtlich unzuständigen Landgericht, weil dieses nach h.M. nur seine Unzuständigkeit feststellen, jedenfalls aber das Verfahren nicht eröffnen kann.16 Nicht maßgeblich ist ferner die Einreichung einer Anklageschrift, die inhaltlich ihrer Umgrenzungsfunktion nicht gerecht wird, weil in diesem Fall das Verfahren nicht bzw. erst aufgrund einer Nachbesserung durch die Staatsanwaltschaft fortgeführt werden kann.17 Ist das Verfahren nach diesen Maßgaben vor dem 1. Januar 2012 anhängig geworden, 6 so ist § 76 GVG in seiner bis zum 31. Dezember 2011 geltenden Fassung maßgeblich, was eine Anwendung der Neuregelung in vollem Umfang ausschließt.18 Das gilt nach dem eindeutigen Wortlaut19 auch gegenüber solchen Bestimmungen der seit 1. Januar 2012 geltenden Fassung, die über das bisherige Recht hinausgehend eine Abänderung einer bereits getroffenen Besetzungsentscheidung erlauben, also insbesondere für § 76 Abs. 4 GVG n.F. sowie den Fall einer Aussetzung der Hauptverhandlung (§ 76 Abs. 5 2. Alt. GVG n.F.).20 Eine neue Entscheidung nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht (§ 76 Abs. 5 1. Alt. GVG n.F.) erlaubte dagegen bereits § 76 Abs. 2 S. 2 GVG a.F.
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3. Überleitungsregelung für § 74f GVG (Absatz 2). Die gesonderte Regelung des Absatz 2 normiert für die Überleitung zur Änderung des § 74f GVG einen gegenüber Absatz 1 abweichenden Anknüpfungspunkt. Sie bezieht sich auf Verfahren nach § 275a StPO und trägt wie diese Norm dem Umstand Rechnung, dass das Verfahren zur Anordnung einer nach § 66a StGB vorbehaltenen Sicherungsverwahrung als solches keine eigenständige Anhängigkeit kennt. Es handelt sich vielmehr um einen noch anhängigen Teil des Verfahrens, in dem der Vorbehalt ausgesprochen wurde, womit eine „Spaltung“ der Hauptverhandlung eintrat.21 Das Gericht hat daher von Amts wegen über Anordnung oder Ablehnung der Unterbringung zu entscheiden, ohne dass es hierzu eines Antrags der Staatsanwaltschaft bedarf.22 Allein die Anordnung einer nachträglichen
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KK/Gmel § 225, 17 StPO; bis zum Übernahmebeschluss bleibt das Verfahren beim vorlegenden Gericht anhängig, a.a.O. Rn. 11. Mit dem Übernahmebeschluss tritt zugleich Rechtshängigkeit ein, BGHSt 44, 121. KK/Engelhardt § 270, 23 StPO. Meyer-Goßner § 16, 4 StPO; KK/Fischer § 16, 4 StPO m.w.N. LR/Stuckenberg § 200, 80 StPO; KK/Schneider § 200, 31 StPO; Meyer-Goßner § 200, 26 StPO. LR/Gittermann § 76, 24 GVG Nachtr. Vgl. Rn. 1 zur abweichenden Formulierung in § 121 Abs. 2 JGG.
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20
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Für diesen Fall hat BGH NStZ-RR 2005 47 offen gelassen, ob bereits das alte Recht eine erneute Besetzungsentscheidung zuließ. Zur Neuregelung näher LR/Gittermann § 76, 13 GVG Nachtr. LR/Gollwitzer25 § 275a, 1 StPO Nachtr.; Meyer-Goßner § 275a, 3, 12 StPO. Rissing-van Saan Vorbehaltene und nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung als Bewährungsproben des Rechtsstaats FS Nehm (2006) 200; LK/Rissing-van Saan/ Peglau § 66a, 77 StGB; SK/Frister § 275a, 26 StPO; KMR/Voll § 275a, 9 StPO.
Raik Werner
Sechster Abschnitt. Übergangsvorschriften
Nachtr. § 41 EGGVG
Sicherungsverwahrung nach § 66b StGB setzt einen solchen Antrag voraus.23 Die Überleitungsregelung des Absatz 2 stellt daher auf den Zeitpunkt der Übergabe der Akten24 durch die Staatsanwaltschaft an den Vorsitzenden des zuständigen Gerichts ab, welche das Verfahrensrecht gleichermaßen für die Anordnung der vorbehaltenen (§ 275a Abs. 1 S. 2 StPO) wie der nachträglichen (§ 275a Abs. 1 S. 5 StPO) Sicherungsverwahrung vorschreibt, so dass sie sich als gemeinsamer Anknüpfungspunkt eignet. Dabei ist die Übergabe mit dem Eingang bei Gericht gleichzusetzen.25 Als lex posterior besitzt Absatz 2 Vorrang gegenüber der weiteren Überleitungsvor- 8 schrift für § 74f GVG, die in Form des Art. 316e Abs. 1 S. 2 EGStGB existiert. Diese Norm wurde zum 1. Januar 2011 geschaffen durch Art. 4 Nr. 2 des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl. I S. 2300). Art. 316e Abs. 1 S. 2 EGStGB ordnet für Altfälle der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (bei ausschließlich vor dem 1. Januar 2011 begangenen Anlasstaten) die Geltung der „Vorschriften über die Sicherungsverwahrung“ in ihrer vor dem Änderungsgesetz bestehenden Fassung an. Dies bezieht sich nach dem Willen des Gesetzgebers auch auf die durch das Änderungsgesetz modifizierten Verfahrensvorschriften26 und damit auch auf § 74f GVG, der durch Art. 3 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes redaktionell angepasst wurde. Für die genannten Altfälle bewirkt Absatz 2, dass § 74f GVG entgegen Art. 316e Abs. 1 S. 2 EGStGB auch bei ihnen in der ab 1. Januar 2012 geltenden Fassung zur Anwendung kommt, wenn im Verfahren zur Anordnung der vorbehaltenen oder der nachträglichen Sicherungsverwahrung die Akten dem Vorsitzenden nach diesem Zeitpunkt übergeben worden sind. Mit der bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung zum 1. Juni 2013 (BGBl. 2012 I, S. 2425) ist keine erneute Anpassung des § 74f GVG erfolgt.27
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§ 275a Abs. 1 S. 5 StPO bzw. § 275a Abs. 1 S. 3 StPO a.F. für „Altfälle“ nach Art. 316e Abs. 1 S. 2 EGStGB (Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010, BGBl. I S. 2300). Zum Begriff der „Akten“ in diesem Zusammenhang KMR/Voll § 275a, 7 StPO.
25 26 27
Meyer-Goßner 3. BTDrucks. 17 6905 S. 12; BTDrucks. 17 3403 S. 49. Die mit den Plänen für eine nachträgliche Therapieunterbringung verbundenen Änderungsempfehlungen des Bundesrates (vgl. BTDrucks. 17 9874 S. 38, 41) sind nicht Gesetz geworden.
Raik Werner
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Verzeichnis aller Autoren des Löwe-Rosenberg (seit der ersten Auflage) Die nachfolgende Übersicht verzeichnet alle Autoren des LÖWE-ROSENBERG von der ersten, im Jahre 1878 erschienenen Auflage an. Die Autoren sind chronologisch in der Reihenfolge des Eintritts in die Kommentierung, bei gleichzeitigem Eintritt in alphabetischer Reihenfolge, aufgeführt. Die vom jeweiligen Autor bearbeiteten Teile der Kommentierung sind von der 19. Auflage an, an der erstmals mehrere Autoren mitgewirkt haben, angegeben. Dr. Ewald Löwe Senatspräsident am Reichsgericht in Leipzig 1. Auflage (1878) bis 7. Auflage (1892) Dr. August Hellwig Reichsgerichtsrat in Leipzig 8. Auflage (1893) bis 12. Auflage (1906) Dr. h.c. Werner Rosenberg Reichsgerichtsrat in Leipzig 13. Auflage (1912) bis 18. Auflage (1929) Hans Gündel Senatspräsident am Reichsgericht in Leipzig 19. Auflage (1934) StPO, §§ 151–212, 359–373, 464–474 Dr. h.c. Fritz Hartung Reichsgerichtsrat in Leipzig 19. Auflage (1934), EB (1936), Nachtr. (1940) StPO, §§ 48–136; GVG; EGGVG
Dr. Friedrich-Wilhelm Geier Senatspräsident beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe 20. Auflage (1953–1958) bis 21. Auflage (1963–1965) StPO, §§ 213–275 Dr. Heinrich Jagusch Senatspräsident beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe 20. Auflage (1953–1958) bis 21. Auflage (1963–1965) StPO, §§ 296–358 Dr. Max Kohlhaas Bundesanwalt in Karlsruhe 20. Auflage (1953–1958) bis 22. Auflage (1971–1973) StPO, §§ 48–71, 151–212b, 359–373a
Dr. Heinrich Lingemann Oberlandesgerichtspräsident in Hamm 19. Auflage (1934) StPO, §§ 1–47, 374–429, 434–463
Dr. h.c. Werner Sarstedt Senatspräsident beim Bundesgerichtshof in Berlin, Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin 20. Auflage (1953–1958) bis 22. Auflage (1971–1973) StPO, §§ 72–93, 133–136a, 374–406d
Dr. h.c. Emil Niethammer Reichsgerichtsrat in Leipzig, Professor in Tübingen 19. Auflage (1934), EB (1936), Nachtr. (1940), 20. Auflage (1953–1958) Einleitung; StPO §§ 1–47, 137–150, 213–358, 430–433; EGStPO
Dr. Karl Schäfer Senatspräsident beim Oberlandesgericht in Frankfurt 20. Auflage (1953–1958) bis 24. Auflage (1984–1996) Einleitung, StPO §§ 407–474; EGStPO, GVG, EGGVG, Anhang
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Verzeichnis aller Autoren des Löwe-Rosenberg
Dr. Wilhelm Tillmann Oberstaatsanwalt in Hamm 20. Auflage (1953–1958) StPO, §§ 48–136a Dr. Hanns Dünnebier Generalstaatsanwalt in Bremen 20. Auflage (1953–1958) bis 23. Auflage (1975–1978) StPO, §§ 1–47, 94–131, 137–150, 276–295 Dr. Else Koffka Bundesrichterin in Berlin 21. Auflage, EB (1967) StPO, §§ 213–275 Dr. Walter Gollwitzer Ministerialdirigent im Bayerischen Staatsministerium der Justiz in München 22. Auflage (1971–1973) bis 25. Auflage (1997–2005) StPO, §§ 213–332; MRK, IPBPR Dr. Karl Heinz Kunert Ministerialdirektor beim Bundesrat in Bonn, Honorarprofessor an der Universität Bochum 22. Auflage (1971–1973) StPO, §§ 374–406d Karlheinz Meyer Vorsitzender Richter am Kammergericht in Berlin 22. Auflage (1971–1973) bis 23. Auflage (1975–1978) StPO, §§ 48–111n, 132–136a, 333–373a Dr. Lutz Meyer-Goßner Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe 23. Auflage (1975–1978) StPO, §§ 151–212b Günter Wendisch Generalstaatsanwalt in Bremen 23. Auflage (1975–1978) bis 25. Auflage (1997–2005) StPO, §§ 1–47, 112–132, 374–406d, 449–463d
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Dr. Peter Rieß Ministerialdirektor im Bundesministerium der Justiz in Bonn, Honorarprofessor an der Universität Göttingen 23. Auflage, EB (1979) bis 25. Auflage (1997–2005) Einleitung; StPO, §§ 151–212b; Rechtspflegerecht des Einigungsvertrages Dr. Hans Dahs Rechtsanwalt in Bonn, Honorarprofessor an der Universität Bonn 24. Auflage (1984–1996) bis 25. Auflage (1997–2005) StPO, §§ 48–93 Dr. Karl Heinz Gössel Professor an der Universität ErlangenNürnberg, Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht München seit 24. Auflage (1984–1996) Einleitung; StPO, §§ 312–332, 359–373a, 407–448 Dr. Ernst-Walter Hanack Professor an der Universität Mainz 24. Auflage (1984–1996) bis 25. Auflage (1997–2005) StPO, §§ 132a–136a, 333–358 Dr. Hans Hilger Ministerialdirektor im Bundesministerium der Justiz in Bonn seit 24. Auflage (1984–1996) StPO, §§ 112–132, 374–406h, 464–495; EGStPO; Rechtspflegerecht des Einigungsvertrages Dr. Klaus Lüderssen Professor an der Universität Frankfurt seit 24. Auflage (1984–1996) Einleitung; StPO, §§ 137–150 Dr. Gerhard Schäfer Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe 24. Auflage (1984–1996) bis 25. Auflage (1997–2005) StPO, §§ 94–111n
Verzeichnis aller Autoren des Löwe-Rosenberg
Olaf Boll Präsident des Landgerichts in Konstanz 24. Auflage (1984–1996) bis 25. Auflage (1997–2005) GVG, §§ 141–168 Monika Harms Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof in Leipzig 24. Auflage (1984–1996) GVG, §§ 116–140a Thomas Wickern Leitender Oberstaatsanwalt in Düsseldorf seit 24. Auflage (1984–1996) GVG, §§ 169–202 Dr. Werner Beulke Professor an der Universität Passau 25. Auflage (1997–2005) StPO, §§ 151–157 Dr. Reinhard Böttcher Präsident des Oberlandesgerichts Bamberg, Honorarprofessor an der Universität München seit 25. Auflage (1997–2005) GVG, §§ 1–21; EGGVG; GVGVO Ottmar Breidling Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf seit 25. Auflage (1997–2005) GVG, §§ 21a–21i Dr. Ulrich Franke Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe seit 25. Auflage (1997–2005) StPO, §§ 333–358 GVG, §§ 115–168 Dr. Kirsten Graalmann-Scheerer Generalstaatsanwältin in Bremen, Honorarprofessorin an der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Bremen seit 25. Auflage (1997–2005) StPO, §§ 33–47, 170–177, 449–463d Dr. Daniel M. Krause, LL.M Rechtsanwalt in Berlin
seit 25. Auflage (1997–2005) StPO, §§ 72–93 Dr. Holger Matt Rechtsanwalt in Frankfurt a.M. seit 25. Auflage (1997–2005) StPO, §§ 304–311a Dr. Wolfgang Siolek Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Celle seit 25. Auflage (1997–2005) StPO, §§ 22–33 GVG, §§ 22–78b Jörg-Peter Becker Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe seit 26. Auflage (2006–2013) StPO, §§ 226–248 Camilla Bertheau Rechtsanwältin in Berlin seit 26. Auflage (2006–2013) StPO, §§ 48–71 Gabriele Cirener Richterin am Bundesgerichtshof in Karlsruhe seit 26. Auflage (2006–2013) StPO, §§ 250–252 Dr. Volker Erb Professor an der Johannes GutenbergUniversität in Mainz seit 26. Auflage (2006–2013) StPO, §§ 1–21, 158–169 Dr. Robert Esser Professor an der Universität Passau seit 26. Auflage (2006–2013) EMRK; IPBPR Dr. Dirk Gittermann Richter am Oberlandesgericht Celle seit 26. Auflage (2006–2013) GVG, §§ 28–58 Nachtrag (2013) GVG, §§ 22, 24, 26, 51, 74, 74c, 74f, 76, 120a
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Verzeichnis aller Autoren des Löwe-Rosenberg
Dr. Sabine Gleß Professorin an der Universität Basel seit 26. Auflage (2006–2013) StPO, §§ 132–136a Dr. Pierre Hauck Professor an der Universität Trier seit 26. Auflage (2006–2013) StPO, §§ 100a–101, 110a–111a Dr. Dr. Alexander Ignor Rechtsanwalt in Berlin, Apl. Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin seit 26. Auflage (2006–2013) StPO, §§ 48–71 Dr. Christian Jäger Professor an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg seit 26. Auflage (2006–2013) StPO, §§ 213–225a Dr. Matthias Jahn Professor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Richter am Oberlandesgericht Nürnberg seit 26. Auflage (2006–2013) Einleitung; StPO, §§ 137–150 Dr. Björn Jesse Staatsanwalt, Staatsanwaltschaft Berlin seit 26. Auflage (2006–2013) StPO, §§ 296–303 Pascal Johann Rechtsanwalt in Wiesbaden seit 26. Auflage (2006–2013) StPO, §§ 111b–111p Dr. Dr. h.c. Hans-Heiner Kühne Professor an der Universität Trier seit 26. Auflage (2006–2013) Einleitung Dr. Eva Menges Richterin am Bundesgerichtshof in Karlsruhe seit 26. Auflage (2006–2013) StPO, §§ 94–100
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Dr. Andreas Mosbacher Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe, Honorarprofessor an der Universität Leipzig seit 26. Auflage (2006–2013) StPO, §§ 249, 253–255a Dr. Günther M. Sander Richter am Bundesgerichtshof in Leipzig, Honorarprofessor an der HumboldtUniversität zu Berlin seit 26. Auflage (2006–2013) StPO, §§ 250–252, 261 Dr. Carl-Friedrich Stuckenberg Professor an der Universität Bonn seit 26. Auflage (2006–2013) StPO, §§ 198–211, 256–260, 262–295 Dr. Michael Tsambikakis Rechtsanwalt in Köln seit 26. Auflage (2006–2013) StPO, §§ 102–110 Dr. Karsten Gaede Professor an der Bucerius Law School in Hamburg seit 26. Auflage, Nachtrag (2013) StPO, § 443 Dr. Klaus Ferdinand Gärditz Professor an der Universität Bonn seit 26. Auflage, Nachtrag (2013) StPO, §§ 478, 481 EGGVG, §§ 26, 28, 29, 30a Kerstin Gärtner Richterin am Kammergericht Berlin seit 26. Auflage, Nachtrag (2013) StPO, §§ 119, 119a Dr. Matthias Krauß Oberstaatsanwalt am Bundesgerichtshof in Karlsruhe seit 26. Auflage, Nachtrag (2013) GVG, §§ 143, 171b, 173, 185, 187, 189, 191a, 198–201
Verzeichnis aller Autoren des Löwe-Rosenberg
Detlef Lind Richter am Kammergericht Berlin seit 26. Auflage, Nachtrag (2013) StPO, §§ 112a, 114a–115a, 116b, 117, 118a, 126–127, 127b Marc Wenske Richter am Landgericht Hamburg seit 26. Auflage, Nachtrag (2013) StPO, §§ 395, 397, 397a, 406d–406h
Dr. Raik Werner Richter am Landgericht München I seit 26. Auflage, Nachtrag (2013) EGGVG, § 41 Dr. Mark A. Zöller Professor an der Universität Trier seit 26. Auflage, Nachtrag (2013) StPO, §§ 153a, 154f
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