Lutherischer Glaube im Denken der Gegenwart [Reprint 2020 ed.] 9783112312544, 9783112301272


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German Pages 162 [172] Year 1953

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Inhaltsverzeichnis
I. Vorbemerkungen
II. Das Absolute
III. Zeit und Ewigkeit
IV. Das religiöse Erleben
V. Das dogmatische Denken
VI. Offenbarung
VII. Religion und Ethik
VIII. Das Böse
IX. Freiheit und Gebundenheit
X. Die Erlösung
XI. Gnadenmittel
XII. Rationaler und kontingenter Charakter des Christentums
XIII. Das Reich Gottes
XIV. Die letzten Dinge
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Lutherischer Glaube im Denken der Gegenwart [Reprint 2020 ed.]
 9783112312544, 9783112301272

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Lutherischer Glaube im Denken der Gegenwart von Lie. Erich Klamroth

A L F R E D T Ö P E L M A N N / B E R L I N W 35 1953

Alle Rechte einschl. der Rechte der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, von der Verlagshandlung vorbehalten Printed in Germany Satz: Walter de Gruyter & Co., Berlin W 3 5 Druck: Buchkunst, Berlin W 3 5

Meiner Frau

Ewigkeit, in die Zeit leuchte hell hinein, daß uns werde klein das Kleine und das Große groß erscheine, selge Ewigkeit!

Inhaltsverzeichnis I. Vorbemerkungen 1. Lutherische Grundeinstellung 2. Systematische Grundsätze II. Das Absolute 1. Das Unfaßbare 2. Das Absolute III. Zeit und Ewigkeit 1. Moderne Theorien über Zeit und Ewigkeit 2. Der Mensch in Zeit und Raum 3. Himmel und Ewigkeit 4. Lebenszeit IV. Das religiöse Erleben 1. Der Urgrund der Seele 2. Das Dogma 3. Das religiöse Datum 4. Religiöses Bedürfnis V. Das dogmatische Denken 1. Objektivierung 2. Ordnung der Objektivierungen 3. Endliche Objektivierungen 4. Die dogmatische Formel 5. Gefolgerte Dogmen 6. Historische Dogmen VI. Offenbarung 1. Offenbarungsträger 2. Natürliche und übernatürliche Offenbarung 3. Heilige Schrift VII. Religion und Ethik 1. Philosophische und theologische Ethik 2. Das Problem einer selbständigen Ethik 3. Abgrenzungsversuche zwischen Religion und Ethik 4. Identität von Religion und Ethik 5. Die Absolutheit des Christentums VIII. Das Böse 1. Moderne Erklärungen 2. Absolutes Sein und Nichtsein IX. Freiheit und Gebundenheit 1. Freiheit gegenüber materieller Gebundenheit

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X.

XI.

XII. XIII.

XIV.

2. Freiheit im Gegebenen 3. Sittliche Freiheit 4. Prädestination 5. Erbsünde 6. Freiheit im Reich Gottes Die Erlösung 1. Vergebung 2. Die Bedeutung des Kreuzes 3. Kreuz und Leben Jesu 4. Die Person Jesu Gnadenmittel 1. Sakramente 2. Die Taufe 3. Das Herrnmahl 4. Das Gebet Rationaler und kontingenter Charakter des Christentums Das Reich Gottes 1. Heiliger Geist 2. Die Persönlichkeit des Heiligen Geistes 3. Reich Gottes und Kirche Die letzten Dinge 1. Prä- und Postexistenz 2. Der Sinn der Schöpfung 3. Die neue Schöpfung 4. Die Verdammnis 6. Die ewige Seligkeit

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I. Vorbemerkungen 1. Lutherische Grundeinstellung Die nachstehenden Ausführungen wollen keine vollständige Glaubenslehre bieten, sondern die Art lutherischen Denkens darlegen. In welchem Maße für die vorgetragene Art des dogmatischen Denkens das Prädikat „lutherisch" mit Recht in Anspruch genommen werden kann, müssen die nachstehenden Ausführungen selbst erweisen. Die Unterschiede der christlichen Bekenntnisse in den einzelnen Glaubensfragen beruhen keineswegs auf einer willkürlichen, stimmungsmäßigen oder zufälligen Stellungnahme, sondern sind folgerichtig von der Grundeinstellung des betreffenden Bekenntnisses aus entwickelt worden; jedenfalls hat jedes Bekenntnis den guten Willen dazu. Es müßte also eigentlich die Kenntnis dieses Ausgangspunktes genügen, um daraus das ganze System der betreffenden Konfession ableiten zu können. Die Grundeinstellung eines Bekenntnisses wird an der Weise erkennbar, wie das Endliche zum Unendlichen in Beziehung gesetzt wird. Während reformierterseits ein Hineinragen des Unendlichen in das Endliche grundsätzlich geleugnet wird, findet Rom eine solche Einwohnung in bestimmten, abgegrenzten heiligen Inseln oder Bezirken mitten im Endlichen (Orte, Zeiten, Gegenstände, Personen, die an sich heilig sind1), während das Luthertum die Abgrenzung des Unendlichen vom Endlichen, die in beiden Anschauungen vorliegt, ablehnt2); das Unendliche bedient sich vielmehr zu seinem Aufleuchten endlicher Faktoren. Aus dieser Grundeinstellung ergeben sich für das theologische Denken des Luthertums folgende Hauptprinzipien: 1. Eine besondere Schau von Zeit und Ewigkeit. Ewiges Sein erscheint in der Strahlenbrechung der Zeit als Werden. 1 ) So lesen wir bei Bernhard Poschmann, Die katholische Frömmigkeit, Würzburg 1949, S. 299: „Die Sakramentalien schaffen in der Welt der Sünde einen sinnfälligen Bereich des Religiösen, in dem di3 Forderungen der Übernatur in einer ähnlichen Unmittelbarkeit und Handgreiflichkeit an den Christen herantreten wie die Forderungen des narürlichen Lebens." 2 ) „Das Endliche ist immer im Unendlichen", E.nanuel Hirsch, Die idealistische Philosophie und das Christentum, Gütersloh 1926, S. 10.

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K l a m r o t h , Lutherischer Glaube im Denken der Gegenwart

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Vorbemerkungen

2. Die Reinerhaltung des religiösen Wertes. Der einmal empfangene religiöse Wert darf nicht in der Behandlung durch die menschliche Vernunft irgend eine Beeinträchtigung erfahren. 3. Das menschliche Bewußtsein kann einen religiösen Wert nur in der Form der Vergegenständlichung erfassen. Das sie et non wird uns im religiösen Denken überall entgegentreten. Aber die Einsicht, daß der unvermeidliche Widerspruch nur in der irdischen Beschränktheit unseres Erfassens und nicht in der Sache selbst beruht, läßt uns mit dem Dennoch des Glaubens bei der Vergegenständlichung beharren, die allein den religiösen Wert konkret gestaltet. 2. Systematische Grundsätze Ein religiöser Gedanke ist stets wahr; hinter dem religiösen Empfinden steht immer eine Realität. Nur wenn die Echtheit desselben nicht ganz zweifellos ist, droht die Gefahr der Illusion. Die Wahrheit der dogmatischen Aussage erweist sich an ihrem religiösen Gehalt, ihre Richtigkeit an der widerspruchslosen Darstellung im Zusammenhang. Es gibt kein anderes Kriterium für die Wissenschaftlichkeit einer Darstellung religiösen Glaubens als ihre Übereinstimmung mit sich selbst, d. h. ihre innere Folgerichtigkeit. Das Ideal einer systematischen Darstellung ist Mitteilung religiöser Werte in lückenloser Geschlossenheit; sie muß überzeugen (wissenschaftlich) und eindrücklich (religiös) sein. Die Schwierigkeit liegt darin, beiden Erfordernissen in gleicher Weise gerecht zu werden. Die heutige Abneigung gegen jedes „System" ist als Reaktionserscheinung gegenüber der spekulativen Theologie der Vergangenheit zu verstehen und wird nicht allzu lange vorhalten. In Wirklichkeit kommt keine Glaubenslehre ohne einen zentralen Gedanken aus, auch wenn sie sich lediglich auf das Wort der Offenbarung stellen will, um nicht menschliche Gedanken zum Ausgangspunkt zu nehmen1). Denn wenn das Wort Gottes auch einen mannigfachen Niederschlag gefunden hat, so besteht es doch nicht aus einzelnen Wörtern, sondern wird von einem einheitlichen Gotteswillen getragen. Sofern nun der die Darstellung beherrschende Gedanke dem geoffenbarten Gotteswillen entnommen ist, dürften die Bedenken gegen ein möglichst geschlossenes dogmatisches System gegenstandslos werden. Ein System kommt der Wahrheit um so näher, je übergeordneter die Zentralidee ist, von der es ausgeht. Je tiefer diese Idee steht, desto mehr gleichwertige Systeme sind möglich. Verschiedenen Ausgangspunkten liegt die gleiche Idee zu Grunde, nur jeweils von einer anderen Seite aus betrachtet; verschiedenartige Ausgangspunkte haben jeder !) Karl Barth, Die kirchliche Dogmatik I, 2, Zürich 1945, S. 954ff.

Das Unfaßbare

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eine andere Idee. Ist der Zentralgedanke einer positiven Religion richtig erkannt, so fügen sich alle ihre Gegebenheiten harmonisch ein, wie die Mineralien in der rechten Lösung sich von selbst zum Kristall ordnen. Die Lücke im System unterbricht den religiösen, das Geheimnis nur den begrifflich faßbaren Zusammenhang. Als Brücke über das letztere tritt das religiöse Postulat ein. In jeder Darstellung muß sich der religiöse Glaube eine Metamorphose zum Begriff hin gefallen lassen. Es handelt sich um seelische Dinge, die in der Fixierung gefrieren und nicht in ihrer ursprünglichen Lebendigkeit weitergegeben werden können. Zum Verständnis einer systematischen Darlegung gehört daher nicht nur geschultes Denken, sondern auch die Fähigkeit, fixierte Religion lesen zu können.

II. Das Absolute 1. Das Unfaßbare Die Beziehung, die das Ich zum Unfaßbaren unterhält, nennen wir Religion. Das Universum ist nur im quantitativen Sinne unfaßbar. Das Unfaßbare kennt keine Grenze. An jeder Grenze würde es in einer Art faßbar sein. Obwohl alles erfüllend, wird es von uns doch nur hier und da bewußt empfunden. Es tritt uns nicht nur im unendlich Großen und im unendlich Kleinen entgegen, sondern kann auch aus dem einzelnen aufleuchten. Dabei ist es nicht von Belang, ob eine Beziehung zu dem Unfaßbaren in dem einzelnen Falle die adäquate begriffliche Ausdeutung findet. Die Ahnung des Unfaßbaren setzt bereits eine solche Beziehung. Vor undenkbaren Zeiten ist sie in der Menschenbrust dämmernd aufgestiegen. Dieses erste Ahnen, das sich in gewissem Sinne in jedem Menschen wiederholt, fand Aussprache, poetische Mitteilung, Tradition und Ausdeutung. Nun legte es im Laufe der Jahrtausende in immer schärferer begrifflicher Ausprägung den Weg zurück bis zu dem Absoluten der heutigen Theologie und Philosophie. Dabei bedeutet die begriffliche Ausprägung allein keine Mehrung des religiösen Wertes. Dem Primitiven sind seine unheimlichen Bereiche 1 ), Fetische, Dämonen und Göttergestalten der Inbegriff des Unfaßbaren. Der Unterschied zwischen ihm und dem Kultivierteren besteht darin, daß dieser seine Grenze gegen das Unbekannte weiter vorgeschoben hat. In der Anerkennung eines schlechterdings unfaßbaren Gebietes stimmt das religiöse Gefühl beider überein. „Mana", durchaus unpersönlich empfunden. 1*

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Das Absolute

Für den Primitiven ist die ihm bekannte, von ihm erforschte Welt recht klein, der Umkreis des Unfaßbaren (in Wirklichkeit vielfach des noch nicht Erfaßten) ungeheuer groß. Er neigt dazu, das gesamte Nicht-Ich dazu zu rechnen. Er fühlt instinktiv im Endlichen das Unendliche, ohne jedoch beides praktisch oder begrifflich sondern zu können. Er braucht eine geraume Zeit, bis er überhaupt sich selbst gegenüber der Außenwelt abgegrenzt, d. h. bis er den Begriff der Persönlichkeit gebildet hat. Der Kultivierte dagegen hat die Welt zum großen Teil bezwungen ; mit dem Anwachsen seines Herrengefühls tritt die primitive Verwechslung des Unbegriffenen mit dem Unbegreiflichen zurück. Eine religiöse Verarmung braucht deshalb nicht einzutreten, im Gegenteil, in dem Maße, in dem die Welt des Geheimnisvollen entkleidet wird, prägt sich die Idee dessen, das seinem Wesen nach jenseits des menschlichen Begriffsvermögens liegt, immer bewußter nach der Richtung des Absoluten aus1). 2. Das Absolute Wir haben das Unfaßbare im qualitativen Sinne als das Absolute und das Unfaßbare im quantitativen Sinne als die Totalität der Erscheinungen, als das Universum zu unterscheiden 2 ). Für beides sucht der Menschengeist begrifflichen Ausdruck3). Eine vergangene Denkweise schlug in der Terminologie für das Absolute immer wieder die gleichen Wege ein. Dabei kommen wir zu Bestimmungen, die einen Vergleich mit endlicher Gegenständlichkeit enthalten, aber nicht zu positiven, in sich ruhenden Begriffen. Solche stehen uns nur in recht geringer Zahl zur Verfügung. Es ist dies recht auffallend. Die theologische Gotteserkenntnis hat es mit einem in der Offenbarung (in weitester Form) Gegebenen zu tun und braucht sich nicht wie die philosophische mit reinen Denkoperationen zu begnügen. Und doch fehlen zum großen Teil selbst die naivesten Namen! x ) „Je mehr also die menschliche Vernunft dazu fortschreitet, in Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst ihr eigenes Herrschaftsgebiet zu überschauen, und die ganze diesseitige Welt sich zu unterwerfen, desto reiner kann der Begriff des Jenseitigen sich entwickeln." Rud. Bultmann, Die Bedeutung der Eschatologie für die Religion des NT. ZThK. 1917, S. 82. 2 ) So hat auch das chinesische Tao zwei Seiten; das eine Tao ist das ewige, transzendente, das nicht erkannt und daher auch nicht definiert werden kann; das andere ist das Universum. Dabei ist Tao der leere Raum, das Nichtsein, die Stille (Alfred Forke, Chinesische Mystik, Berlin 1922, S. 10, 1 6 - 1 8 ) . 3 ) Heinrich Rickert unterscheidet „das Un-endliche, Werdende und das Vollendliche, in sich Ruhende", System der Philosophie, Tübingen 1921, S. 38.

Moderne Theorien über Zeit und Ewigkeit

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Auch der Ausdruck „das Absolute" ist nicht gerade glücklich. Viele nahmen ihn in wörtlichem Sinne als „Abgelöstheit" und haben sich damit alles weitere Verständnis verbaut1). Ein Verzicht auf den Begriff, weil er aus der Philosophie und nicht aus der Bibel stammt, wäre untunlich. Da man im theologischen Denken doch mit ihm arbeiten muß, soll man ihn ehrlicher Weise nicht verleugnen. Er erhält ja auch sofort seine ganze Fülle von der Schrift her; so muß jeder Gedanke an „Beziehungslosigkeit" von vornherein fernbleiben. Daß die Relativitätstheorie gegen den Begriff des Absoluten keinen Einwand geltend machen kann, hat Heinrich Rickert besonders betont 2 ). „Das menschliche Bewußtsein kann nicht umhin, etwas absolut zu setzen, auch wenn es nicht will" 3 ).

III. Zeit und Ewigkeit 1. Moderne Theorien über Zeit und Ewigkeit In einer Umwelt, die von den Ergebnissen und Ausblicken mathematisch-naturwissenschaftlicher Forschung und Besinnung ihr Kolorit erhält, erwecken die Ausdrücke „Raum" und „Zeit" kaum noch eine wesentlich andere Vorstellung als die von Koordinaten in dem gleichen Ordnungssystem. Die philosophische Betrachtung ist demgegenüber ungebührlich in den Hintergrund getreten. Aber der religiöse Mensch hat für die Frage: Was ist eigentlich der Raum? und noch mehr: Was ist die Zeit ? stets ein vitales Interesse. Das Psalmwort etwa: „Meine Zeit stehet in deinen Händen" (31, 16), läßt deutlich erkennen, wie wenig es dem Beter auf formale Bestimmungen ankommt, wie das Wort „Meine Zeit" vielmehr tief inhaltlich zu verstehen ist. Für Einstein ist „Zeit" eine Maßangabe; für den Psalmisten gewinnt die Vorstellung: „Meine Zeit" erst auf dem Hintergrund der Ewigkeit Gottes Gehalt4). Dabei haben die modernen Erörterungen sowohl bei Philosophen wie Theologen den Allgemeinbegriff „Zeit" seiner Vieldeutigkeit wegen längst in eine Reihe von Unterbegriffen zerteilt. *) Vgl. Bruno Bauch, Grundzüge der Ethik, Stuttgart 1935, S. 62. ) Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 6. A. Tübingen 1929, S. X V I I (Vorwort z. 3. u. 4. A.). *) Karl Jaspers, Philosophie I, Philos. Weltorientierung, Berlin 1932, S. 260. Daselbst starke Gründe gegen den Positivismus, S. 213ff. 4 ) Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, Leipzig 1929—32, unterscheidet statische und dynamische Wirklichkeit, Dingzeit und Erlebniszeit, das Meßbare des Physikers und das Unmeßbare des Lebensphilosophen. 2

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Zeit und Ewigkeit

Auf der einen Seite steht der starre Ewigkeitsbegriff der Dialektiker, der den Zusammenhang mit der Geschichte aufhebt. Das religiöse Empfinden wird aber immer die Ewigkeit in irgendeiner Form als die Vollendung der Geschichte ansehen. Es wird sich die Gewißheit nicht nehmen lassen, daß in den gebrechlichen Formen der Zeit ein vollgültiger ewiger Inhalt erscheinen kann. In der Abwehr der Dialektiker hat man um einen völlig neuen Ewigkeitsbegriff gerungen und ist dabei nach der anderen Seite zu weit gegangen; man hat die Ewigkeit an die Zeit verloren. Es sieht fast so aus, als könnte man heutzutage den vollen Begriff der Ewigkeit überhaupt nicht mehr ertragen. Daß nach dem Tode eine weitere Entwicklung einsetzt, gilt als ausgemachte Sache; nach dem Tode setzt sich die Geschichte zwischen Gott und Mensch fort. Und dabei kann man doch Aussagen wie Vollendung, Ziel, Telos für die Ewigkeit nicht entbehren. Um den Dualismus zwischen Zeit und Ewigkeit zu mildern und unser Erdendasein mehr mit Ewigkeit zu durchfluten, versuchen einige Denker der Gegenwart, dem Augenblick unendliche Tiefe zu geben. Wenn sie dabei das Jetzt so stark betonen, daß es nahezu mit der Ewigkeit zusammenfällt (etwa Kierkegaard: der Augenblick ist kein Zeitatom 1 ), so fragt sich, ob sie dann noch von einem Handeln und einer Entwicklung sprechen dürfen. Eine ganz erstaunliche Fülle philosophisch wie religiös höchst wertvoller Gedanken, allerdings nicht in ausgereifter Form, bietet Franz von Baader. Es ist dringend zu wünschen, daß einmal von evangelischer Seite aus die Werte gesichtet und geborgen würden, die hier sozusagen noch brach liegen. Ebenso ist m. E. Kierkegaard noch lange nicht ausgeschöpft. In diesem Zusammenhang ist Henri Bergson zu nennen, dessen wichtigste Schriften jetzt auch in deutscher Übersetzung vorliegen. Die qualitativ gefaßte Dauer ist ihm die Lösung aller Probleme 2 ). Wirkliche Dauer hat nur der Fluß, die Kontinuität des Übergangs, die Veränderung selbst 3 ). Unsere Gedanken wollen aber immer ins Räumliche abgleiten 4 ). Die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit bestimmt allein unser lebendiges Interesse, d. h. sie ist von der Spannweite unserer dem Leben zugewandten Aufmerksamkeit abhängig. Unsere Gegenwart versinkt in der Vergangenheit, wenn wir aufhören, ihr ein lebendiges Interesse zuzuwenden. Unwillkürlich stelle ich mir den Abschied von einem tod*) Denn dem Absoluten gegenüber gibt es nur eine Zeit: die Gegenwart; „wer mit dem Absoluten nicht gleichzeitig ist, für den ist es gar nicht da", Einübung im Christentum, herausg. v. Walter Rast, Berlin und Altona 1951, S. 119. 2 ) Zeit und Freiheit, Meisenheim am Glan 1949, S. 195, Anm. 1. 3 ) Denken und schöpferisches Werden, daselbst 1948, S. 27. 4 ) Zeit und Freiheit, S. 191.

Moderne Theorien über Zeit und Ewigkeit

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kranken Angehörigen vor. Die letzten Stunden verrinnen, unaufhaltsam rückt der Uhrzeiger. Es würde uns doch schwer fallen, auch in dieser Lage mit Bergson zu sagen: unsere Gegenwart versinkt in die Vergangenheit, wenn wir aufhören, ihr ein lebendiges Interesse zuzuwenden. Nach H. W. Schmidt 1 ) tritt die vorformale Zeit in das nunc aeternum ein und erhält hier eine ihrem Inhalt entsprechende Form. Dieses ewige Jetzt ist also der Mutterboden für das Absolute und das Relative zugleich, für halbzeitliches und vollzeitliches Sein 2 ). Ein Neutrum ist übergeordnet und gabelt sich in Vollzeit und Endlichkeit, in gut und böse. Aber er spürt es selbst, daß seine Vollzeit keine Ewigkeit ist. Wir hören zu unserer Überraschung 3 ), daß es für uns keine Ewigkeit gebe, sondern nur eine der Zeit untergeordnete Vollendung. Keine Kreatur könne in die Ewigkeit eingehen; wirklich ewig sei nur der Schöpfer selbst. Ist nun der erhöhte Herr in der Ewigkeit oder nur in der Vollzeit ? Wenn der Vater seinem Kinde vergibt, will er es in das ewige Leben versetzen; denn die Sünde richtet nunmehr keine Schranken zwischen beiden auf. Bei Schmidt bleibt alles irgendwie Zeit, weiter laufende Geschichte. Es ist der glatte Verzicht auf die Ewigkeit. Die Bibel kennt durchweg, sowohl in der Eschatologie wie in der Logoslehre, nur ein Enthaltensein der Zeit in der Ewigkeit. Auf den Abschluß aller Zeit folgt keine weitere Entwicklung mehr, sondern Gott wird sein alles in allem in der Ruhe der Ewigkeit. Einen eigentümlichen Gedanken äußert Friedrich Gogarten 4 ), in der Form so nicht haltbar, aber doch von wertvoller Intuition. Zeit und Ewigkeit sind nicht zwei nebeneinander her laufende Linien, sondern diese Welt selbst ist eine einzige Linie. Und diese gesamte e i n e Linie ist Zeit und Ewigkeit, und zwar so, daß sie in der einen Richtung Zeit und in der anderen, entgegengesetzten Richtung Ewigkeit ist. Diese Welt ist weder ganz Zeit noch ganz Ewigkeit, sondern der tobende Kampf zwischen beiden. Soll aber die Zeit nicht an sich böse sein, so kann von einem tobenden Kampf zwischen Zeit und Ewigkeit nicht die Rede sein; ist doch Gott auch in der Zeit, in seiner Schöpfung gegenwärtig. Nach Eberhard Grisebach 5 ) erfährt der Mensch in der Gegenwart eine Begrenzung seiner Erinnerung durch den Widerspruch eines *) ) 3) 4) 3) 2

Zeit und Ewigkeit, Gütersloh 1927, S. 292ff. A. a. O. S. 312f. S. 302. Offenbarung und Zeit, Z T h K . 1922, S. 350. Gegenwart, Halle 1928.

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Zeit und Ewigkeit

Gegenüber. An Stelle der Erinnerung tritt die Erfahrung. Diese ist das Ereignis im Heute. Das Heute ist „kein Moment in der Kontinuität der Zeit, sondern die Störung jedes kontinuierlichen Maßes, der Halt jeder Wesensentfaltung in der Langenweile der unendlichen Zeit" 1 ). Was das Heute ist, ist unlösbar. Karl Jaspers setzt Denken gleich Sein, allerdings eigentlich nur das existenzielle Denken, in dem kein neuer Gegenstand erkannt wird2). Im Denken vollzieht sich Trennung und Verbindung, und dazu gehört Zeit. Die Gegenwart des Seins in ihm ist immer zugleich Wirkung und Erinnerung. Die phänomenologischen Untersuchungen scheinen zunächst alles zu relativieren. Der Jetztbegriff weist auf ein „Vergangen" hin, wie „vergangen" auf das „Jetzt", sagt Edmund Husserl 3 ). Im Zeitfluß fehlt jedes Objekt, das sich verändert; „und insofern in jedem Vorgang .etwas' vorgeht, handelt es sich hier um keinen Vorgang. Es ist nichts da, das sich verändert, und darum kann auch von etwas, das dauert, sinnvoll keine Rede sein. Die zeitkonstituierenden Phänomene sind also evidentermaßen prinzipiell andere Gegenständlichkeiten als die in der Zeit konstituierten . . . Dieser Fluß . . . ist nichts zeitlich .Objektives'. Es ist die absolute Subjektivität" 4 ). Martin Heidegger führt weiter. „Die .Substanz des Menschen ist nicht der Geist als die Synthese von Seele und Leib, sondern die Existenz" 5 ). Das Dasein ist räumlich; wie das Dasein, so ist auch der Raum in die Welt hineingestellt und nicht etwa umgekehrt die Welt in den Raum 6 ). Das Vorherrschen des Räumlichen ist Eigenschaft des Verfallens7). Das Dasein ist ein „Sein zum Tode". Das Dasein ist immer vorlaufend. Zeitlichkeit ist der Seinssinn der Sorge8), die ursprüngliche Struktur der Seinsganzheit des Daseins. Das vulgäre Zeitverständnis sieht das Grundphänomen der Zeit im Jetzt, Heidegger in der Zukunft. Seine Zeitlichkeit ist eine horizontale, ekstatische, d. h. sie ist außer sich, wie die Sorge schon immer vorweg ist. Aus der allgemeinen Daseinssorge fließt die Nichtumkehrbarkeit der Zeit. Denn die Geworfenheit unseres Daseins bringt die öffentliche Zeit hervor. 2

) 3 ) S. 423. 4 ) «) «) ') »)

A. a. O. S. 671. Philosophische Logik. I. Bd. von der Wahrheit, München 1947, S. 366. Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Halle 1928, A. a. O. S. 429. Sein und Zeit, 6. A„ Tübingen 1949, S. 117. A. a. O. S. 111. A. a. O. S. 369. S. 367 und 436.

Moderne Theorien über Zeit und Ewigkeit

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Indem das „stehende Jetzt" (nunc stans) für Heidegger zugunsten der Zukunft völlig zurücktritt, muß er auch den Ewigkeitsbegriff ablehnen, den viele moderne Denker mit dem „Jetzt" verbinden wollen. Es ist schwer zu sagen, was Heidegger unter Ewigkeit versteht. Dieser Begriff spielt jedenfalls bei ihm keine Rolle. Ewigkeit Gottes könnte nach ihm philosophisch nur als ursprünglichere und unendliche Zeitlichkeit verstanden werden1). Auch bei Oswald Spengler verursacht die Zeit Weltangst 2 ). Sehr beachtliche Gedanken über das Zeitproblem finden wir bei Theodor Litt, Denken und Sein3). Das Ich objektiviert die Zeit (Hegel: wirft sie aus sich heraus) und weist sich dann in dieser Zeit selbst einen Platz an. Die Frage nach objektiver oder subjektiver Zeit ist in dieser Form falsch gestellt; beides ist ineinander verschränkt. Indem ich mir einen Gegenstand vergegenwärtige, verdopple ich ihn nicht etwa nur, sondern nehme ihn selbst als aufbauendes Motiv auf. Zum Schluß noch ein Gipfel des Denkens über das Zeit-RaumProblem aus weiter zurückliegender Vergangenheit. Nachdem K a n t Raum und Zeit für Formen der menschlichen Anschauung erklärt hatte, konnte Hegel sein geniales System entwickeln. Raum und Zeit sind das Anderssein des reinen Gedankens, seine Durchgangsstufe, und also von ihm geschaffen. Der zuerst noch ungeordneten Natur entspricht der Raum in der Gleichgültigkeit des ruhigen Nebeneinandersein. Infolge der beginnenden Unterscheidung in der Sichselbstsetzung des einzelnen entsteht das Nacheinander und damit die Zeit. So geht der Raum in die Zeit über. Beide kommen also den Dingen selbst zu; denn es besteht ja Identität zwischen der Idee und der von ihr hervorgebrachten Sache. Die Zeit als der Ubergang vom Sein zum Nichts und aus dem Nichts zum Sein ist das angeschaute Werden4). Der christliche Glaube aber will den absoluten Geist unmißverständlich als das Gute angesprochen wissen und sieht in dem Prozeß, dem Gott nicht unterworfen ist, sondern den er bestimmt, nicht ein gedankliches, sondern ein sittliches Werden.

A. a. O. S. 427 Anm. 1. ) Vgl. Gent, Die Raum-Zeit-Philosophie des 19. Jh., Bonn 1930, S. 375. 3 ) Stuttgart 1948, S. 236ff. 4 ) Wer dem Hegeischen Gedanken Gerechtigkeit widerfahren läßt, wird Karl Barth nur zustimmen können, daß des Philosophen Selbstvertrauen zugleich ein demütiges Gottvertrauen sei. (Die protestantische Theologie im 19. Jh., Zürich 1947, S. 353f.) „Die eigentümliche Größe der Hegeischen Philosophie verkennen kann nur, wer sie nicht versteht." 2

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Zeit und Ewigkeit

2. D e r Mensch in Zeit und R a u m Das Wesen von Raum und Zeit ist die Ausdehnung. Damit ist die Entfernung, das Getrenntsein, gegeben; denn das Endliche geht auf Vereinzelung. Die Entfernung ist nicht aufzuheben. Die Undurchdringlichkeit der Körper zwingt in ein Nebeneinander, die Unumkehrbarkeit der Zeit in ein Nacheinander 1 ). Ein Ineinander gibt es in der Zeit ebenso wenig wie im Raum, eher gewissermaßen ein Nebeneinander in der Gleichzeitigkeit. Dann spricht man von zweidimensionaler Zeit 2 ). Oder entsprechen die drei Phasen der Zeit: Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, den drei Dimensionen des Raumes ? Raum sowohl wie Zeit enthalten einen Vergleich, da sie beide erst durch das Abschätzen der Entfernung entstehen. Aber während es sich beim Raum um den Vergleich eines Gegenstandes mit einem anderen handelt, vergleicht die Zeit einen Gegenstand mit sich selbst vor und nach eingetretener Veränderung. Dies ist der Grund für die Nichtumkehrbarkeit der Zeit. Das Zeitbewußtsein besteht in der Wahrnehmung von Veränderungen. Würde sich nichts ändern, erlebten wir keine Zeit. Es gibt keinen Raum ohne Zeit; es gibt keinen Raum, der in unveränderlicher Ruhe verharrte. Ebenso gibt es keine Zeit ohne Raum. Denken wir uns das Weltall völlig leer, so verginge keine Zeit. Denn da Veränderung das Wesen der Zeit ausmacht, muß etwas da sein, was sich ändert. Die Zeit bringt nicht materiell, sondern nur formal etwas Neues, Beziehungen, Verknüpfungen, Veränderungen von dem, was bereits vorhanden ist. Wir können uns eine Vorstellung von der Zeit immer nur durch dem Raum entnommene Bilder machen (Zifferblatt der Uhr, Sonnenzeiger, Sand- oder Wasseruhr, Jahreskreislauf, Lebenslinie, Strecke der Geschichte usw.). Ein Handeln ist ohne Zeit und Raum nicht denkbar. Am reinen Geist kann nicht gehandelt werden; das reine Sein ist ein Unzusammengesetztes und daher keiner Veränderung in sich fähig; es ist überzeitlich. Am endlichen Geist kann gehandelt werden; aber alle Einwirkung erreicht ihn nur auf dem Wege über seine leibliche Verhaftung (Sinne, Gehirn) 3 ). *) „Einbahnstraße" nach K a r l Heim, Der christl. Gottesglaube und die Naturwissenschaft (D. ev. Glaube u. d. Denken d. Gegenwart IV), Tübingen 1949, S. 63. 2

) So auch Aloys Wenzl (Unsterblichkeit, München 1951, S. 40). N a c h Heinz-

Horst Schrey

(Existenz und Offenbarung, Tübingen 1947) dagegen ist es lediglich

unserem Bewußtsein zuzuschreiben, wenn die Umspannungsweite der Zeit sie als zweidimensionales Gebilde erscheinen läßt; wir müßten sie vielmehr als dreidimensionales ansprechen. 3

) „Jedes Wirken von Geist auf Geist ist für beide Geistwesen leiblich vermittelt.

Wir kennen keinen Wirkensfall von Geist auf Geist, der sich als unvermitteltes Wirken von Geist auf Geist erwiesen h ä t t e " , Johannes Rehmke, Der Mensch, Leipzig 1928, S. 55.

Der Mensch in Zeit und Raum

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Raum und Zeit versetzen das betrachtende Subjekt stets in den Mittelpunkt 1 ). Der Zenit des Himmels ist immer über uns. Im Raum ordnet der jeweilige Blickpunkt rechts und links, vorn und hinten, oben und unten. Wo ich denke, ist der Scheitelpunkt der Zeitparabel, von dem aus die Schenkel in die Vergangenheit und in die Zukunft sich erstrecken. In dieser Zeit glauben wir dort, wo wir uns gerade befinden, die Gegenwart zu haben. Alle Spekulationen über den ewigen Augenblick und sein Wandern sind darum gegenstandslos, so sehr sie zunächst bestechen möchten. Auffallend ist nur, daß ich nicht wie im Raum meinen Standpunkt beliebig verlegen kann. Die öffentliche Zeit ist mir nun einmal als Schema aufgezwungen, und ich muß in der gleichen Richtung und in demselben Tempo ohne Pause vorwärts. Spengler hat doch irgendwie recht, daß das Leben der Zeit, der Tod (nicht das Sterben, sondern die Starre) dem Raum zugehört. Wo ich auch meinen Standpunkt im Raum oder Zeit nehmen mag, ich kann das Rechts nicht zugunsten des Links, das Vorher nicht zugunsten des Nachher verkleinern, m. a.W. wir werden nie daran denken können, am Anfang oder am Ende der Zeit oder des Raumes zu stehen. Ob Raum oder Zeit, wir sind mitten darin. E s erinnert daran, wie nach den Einsteinschen Theorien die Zeit (und auch der Raum) an die Masse gebunden erscheint (Weltmetrik); in ähnlicher Weise gruppiert sich Raum und Zeit um mich als Mittelpunkt. E s ist dies durchaus keine egozentrische Selbstgefälligkeit, sondern kann zu dem Gefühl einer gräßlichen Starrheit führen, deren Erweichung der Mensch geradezu als Erlösung ersehnt 2 ). Ich kann mir keinen Raum vorstellen, ohne mich selbst als Beobachter dazu zu denken. Und sofern ich mir eine bestimmte Zeit wirklich als Zeit vorstellen will, kann ich nicht anders, als sie zu meiner Zeit in Beziehung setzen. Dieser Abstand bleibt konstant; ich kann meine zeitliche Gegenwart nicht wie meinen räumlichen Standort beliebig verlegen. Ich kann über den Raum freier schalten als über die Zeit. Mein Ort in der Zeit ist unvertauschbar; und dieser Ort bewegt sich fort, ohne daß das Tempo irgendwie von mir beeinflußt werden könnte. Die Bewegung verläuft unentwegt und unerbittlich in einem bestimmten Sinne. Ebenso ist es ausgeschlossen, rückwärts zu gehen (Unumkehrbarkeit der Zeit) 3 ) oder die gleiche Spanne noch einmal zu durchleben (Unwiederholbarkeit der Zeit). Dabei sind alle unsere Mit. 1

) Zu Karl Heims perspektivischem Mittelpunkt vgl. seine Glaubensgewißheit,

4. A. Berlin 1949, S. 130, 187. 2 ) Vgl. Karlfried Graf v. Dürkheim-Montmartin, Kultur der Stille in Japan, München 1950, S. 45. s ) Entsprechend der Nichtumtauschbarkeit des Ich, vgl. Karl Heim, Glaube und Leben, Berlin 1926, S. 377.

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Zeit und Ewigkeit

menschen in derselben Lage; hinter uns, vor uns, parallel zu uns, streben sie vorwärts. Die Richtung ist bei allen die gleiche1). In der Zeit ist alles im Fluß; es gibt keinen Zustand, sondern nur ein Werden bzw. Vergehen; einen Zustand als wahres Sein kennt nur die Ewigkeit. Darum hat die Zeit keine Gegenwart. Wir sind heimatlos; in der Zukunft leben wir noch nicht, in der Vergangenheit nicht mehr, und die Gegenwart ist lediglich ein Grenzbegriff. Unser Verlangen, Gegenwart zu empfinden, wird bis auf ein Ahnen in wenigen gehobenen Momenten2) nie gestillt. Wir fühlen uns als rastlose Wanderer von Ort zu Ort, ohne irgendwie uns aufzuhalten, zum Augenblick sprechen zu dürfen: „Verweile doch, du bist so schön". Nun betreffen alle Veränderungen, deren Wahrnehmung das Zeitbewußtsein ausmacht, immer nur das Außer-Ich; das Ich hat die Fähigkeit, sich deutlich davon abzusetzen. Im Grunde sind wir es nicht, die da wandern; wir stehen still; was sich bewegt, das ist die Zeit. Der Boden rollt unter unsern Füßen fort ins Meer des zeitlich von uns Getrennten, das für uns ebenso unzugänglich ist wie die Gegenwart. Wo liegt denn nun der Zielpunkt ? Aus welchem Born quillt die Zukunft, und wo haben wir den Behälter für die Vergangenheit zu denken ? Entsprechend dem gekrümmten Raum könnte auch die Zeit gekrümmt sein und wieder in sich zurücklaufen. Da in Wirklichkeit alles, was wir erleben, bereits ewig vorhanden ist und nur in der uns aufgenötigten zeitlichen Betrachtungsweise zerlegt und vereinzelt wird, so werden wir uns die unter unsern Füßen abrollende Zeit nicht als eine Gerade vorstellen können. Näher liegt das Bild der Parabel, in deren Scheitel wir stehen und deren Schenkel in der Unendlichkeit sich zu einer geschlossenen Kurve zusammen finden. Dort berühren sich Vergangenheit und Zukunft. Der Gedanke einer Hyperbel würde diese Geschlossenheit ins Reich des Irrationalen verweisen, also an einer einheitlichen Weltanschauung verzweifeln. Umgekehrt verlegt die Lehre von der Wiederkehr aller Dinge die Berührung von Vergangenheit und Zukunft noch ins Diesseits, fordert also eine Ellipse statt einer Parabel. Halten wir an einer in der Unendlichkeit konvergierenden Kurve fest, so ist damit die Relativität der Richtung ausgesprochen. Es ist 1 ) Interessante Bemerkungen über den modernen Stand der Naturwissenschaft zu dem Problem des Anfangs und des „Größer-Werdens" von Raum und Zeit macht Bernhard Bavink (Weltschöpfung in Mythos und Religion, Philosophie und Naturwissenschaft, München-Basel 1950, S. 103ff., 107). Die Jordanschen Angaben über die Jugendstadien des Kosmos werfen ein beachtenswertes Licht auf die Frage der Einsinnigkeit der Zeit. 2 ) Bei einem starken Erleben schwindet wohl stets das Zeitbewußtsein, vgl. Werner Gruehn, Das Werterlebnis, Leipzig 1924, S. 124.

Der Mensch in Zeit und Raum

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tatsächlich gleichgültig, ob wie uns auf der Parabel in diesem oder in umgekehrtem Sinne fortbewegen. Die Zukunft ist von der Vergangenheit nicht wesensverschieden. Der Umstand, daß die von uns befolgte Zeitrichtung von der gesamten Menschheit geteilt zu werden scheint, ist kein Beweis für ihre tatsächliche Geltung. Denn falls ein anderer die umgekehrte Richtung innehätte, würden wir eine solche Abweichung von der Regel nicht wahrnehmen können, sondern auch die Bewegung des andern in unserem Sinne sehen. Andernfalls würden wir uns ja, wenigstens für Augenblicke, von unserem Zeitsinne frei machen können. Auch das Gesetz der Kausalität gibt keine eindeutige Bestimmung der Zeitrichtung 1 ). Statt daß wir von Ursache und Wirkung sprächen, würden sich für uns aus der Tatsache ihre Wurzeln erschließen. Es kommt lediglich auf die einmal eingeschlagene Zeitrichtung an, ob man in der Ursache die Wirkung oder in der Wirkung die Ursache als Folge Gesetz sein läßt. In ganz kleinen Raum-ZeitBereichen kann man selbst die Begriffe früher oder später nicht mehr richtig definieren, wodurch der Begriff der zeitlichen Reihenfolge problematisch wird. Womöglich laufen gewisse Prozesse scheinbar zeitlich umgekehrt ab, „als es ihrer kausalen Reihenfolge entspricht" 2 ). Darum ist es kein zutreffendes Bild, wenn wir unser Eilen durch die Zeit mit dem Blättern in einem Buche vergleichen, da hierbei eine Umkehrung des Richtungssinnes nicht in Frage kommt. Man kann ein Buch nicht Wort für Wort oder eigentlich Buchstaben für Buchstaben rückwärts lesen. Eher ist an das Betrachten eines Landschaftsbildes, an das Vorübergleiten eines endlosen Panoramas zu denken. Dabei ist es tatsächlich gleichgültig, ob der Beschauer von rechts oder von links anhebt. Vergangenheit und Zukunft liegen eben beide gleich abgeschlossen fertig da, verankert in der Ewigkeit. Beide fassen in sich eine Fülle zeitloser Realitäten, die sich zu einer wunderbaren Einheit zusammenfügen und lediglich durch unser zeitliches Schema in erratische Einzelheiten zersplittert sind. Bei der ethischen Beurteilung einer Tat bewegen wir uns tatsächlich im rückläufigen Sinne der Zeit, indem wir zu den Wurzeln vorzudringen versuchen, aus denen die Tat erwachsen ist. Nun sind wir einmal in eine bestimmte Zeitrichtung eingespannt. Wir können sie praktisch nicht relativieren. Wir würden sonst vom zeitlich vereinzelten Handeln zu dem Gedanken einer reinen Aktivität vorstoßen. Die Zeitrichtung ist einer Linie vergleichbar, die durch eine Fläche geht. Der wesentliche Inhalt der Fläche bleibt uns vorentx ) Die Zeit hat an sich mit einem Kausalitätsverhältnis nichts zu tun, vgl. B. Bavink, Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaft, 3. A., Leipzig 1924, S. 45ff. 2 ) Werner Heisenberg, Atomphysik und Kausalgesetz, Merkur VI, 1962, S. 710f.

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Zeit und Ewigkeit

halten; er entspricht der Fülle der Ewigkeit 1 ). Gott kann für uns jede Linie auf dieser Fläche ziehen und uns damit immer neue Möglichkeiten erschließen. Von hier aus fällt ein Licht auf Gericht, Gnade und Vergebung. 3. H i m m e l und E w i g k e i t Alles, was sich im Raum befindet, ist ausgedehnt, sei es objektiv als Körper, sei es mehr subjektiv als Leib. Alles, was sich im Himmel befindet, ist immateriell (obj.) oder geistig (subj.). Wo das eine ist, da sind auch alle anderen zugleich. Und doch behindert keines das andere; alles atmet vollste Freiheit. Die Vorstellung des Zusammengedrängtseins in einen Punkt, die infolge unserer irdisch-räumlichen Betrachtungsweise nahe liegt, ist fernzuhalten. Die Gedanken, im Raum durch Erdenschwere in ihrer Leichtigkeit und ihrem freien Fluß merklich gehemmt, sind irrtumslos. Es gibt keine Erkenntnisprobleme (obj.) und keine Mißverständnisse (subj.); denn ein jedes durchdringt das andere und erfaßt adäquat sein ganzes Wesen. Alle Entfernung ist aufgehoben. Der Himmel, christlich gesprochen, das Reich der Liebe, kennt nichts Trennendes. Ein „Dasein ohne Raum — für uns ein Nichtsein — wäre ein Leben ohne Störung von Stoß und Gegenstoß, reine Bewegung ohne Widerstand und ohne Beeinträchtigung, Seligkeit ohne Schmerz. Jedes wäre zugleich alles, Teil und Ganzes identisch" 2 ). Man muß sich darüber klar sein, was man unter Ewigkeit verstehen will. Günther Jacoby 3 ) sagt: „Der Sinn des Begriffes Ewigkeit ist unendliche Dauer in der Zeit. Dagegen ist der Sinn des Begriffes Zeitlosigkeit Bestand außerhalb der Zeit". Unser Ewigkeitsbegriff ist ein anderer; wir können in der Ewigkeit keine unendliche Ausdehnung der Zeit sehen. Gott schafft Zeit und Raum zugleich mit der Schöpfung, steht also selbst außerhalb beider. Gott schafft aber nicht die Ewigkeit, sondern ist selbst ewig. Darum ist Ewigkeit ein religiöser Begriff und hat mit der Schöpfung nichts zu tun. Es gibt in ihr keine Vergangenheit und keine Zukunft; es schlägt in ihr keine Uhr, es gibt Dazu wäre der Standpunkt von Karl Heim zu vergleichen: „Die Welt an sich ist eine Mannigfaltigkeit von Punkten, die erst dann bestimmte Zeitstrecken miteinander bilden und durch Zeitstrecken miteinander verbunden werden, wenn ein Bezugssystem gegeben ist. Die Wirklichkeit, wie sie abgesehen von allem bewußten Wesen an sich ist, ist also zeitlos. Sie ist etwas Ewiges, das erst Zeit wird, wenn bestimmte Systeme gegeben sind." Die Wandlung im naturwissenschaftlichen Weltbild (D. ev. Glaube u. d. Denken d. Gegenw. V), Hamburg 1951, S. 113f. 2 8

) Karl Jaspers, Philosophische Logik, S. 384. ) Allgemeine Ontologie der Wirklichkeit I. Bd., Halle 1925, S. 470.

Himmel und Ewigkeit

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keinÄlterwerden, überhaupt keine Veränderung. Alles ist Gegenwart1). Jedes Empfinden einer Dauer ist ausgeschlossen. Wir kennen alle die Tatsache, daß uns unangenehme Stunden oder auch Minuten quälend lange vorkommen, daß aber angenehm verbrachte Zeit im Umsehen verstreicht. Je tiefer und reicher ein solches Erleben ist, um so weniger haben wir den Eindruck ablaufender Zeit, d. h. umso mehr empfinden wir Gegenwart. Das Kind „spielt zwischen den Zäunen der Vergangenheit und Zukunft in überseliger Blindheit"; erst mit der Erkenntnis der Geschichte kommt Erinnerung, Reue, Sorge und dergl., sagt Friedrich Nietzsche2). „Zeitlichkeit ist der Seinssinn der Sorge", sagt Heidegger3). Ewige Gegenwart ist Ruhe, während das Gesicht der gegenwartslosen Zeit durch die Unruhe geprägt ist. Die Einwendungen gegen die Gleichsetzung von Ewigkeit mit Ruhe, mit Gegenwart wären gerechtfertigt, wenn nunmehr auf das erhebende Gefühl der Kraft, das das sittliche Handeln begleitet, Verzicht geleistet werden müßte. In Wirklichkeit leidet das religiöse Interesse durchaus keine Einbuße. Mit der Tätigkeit wird auch die Untätigkeit für die Ewigkeit verneint; es gibt in ihr weder Bewegung noch Ruhe im irdischen Sinne. Will man durchaus von einem Handeln in der Ewigkeit sprechen, so muß man es ohne Veränderung, d. h. ohne Nötigung und ohne Folgen als stets vollzogen denken4). Handeln in der Zeit ist Sein in der Ewigkeit. Eine merkwürdige Voreingenommenheit hält Sein und Leben für Gegensätze, weil man beim Sein an eine untätige, beziehungslose Dauer denkt 5 ) und es so gerade wieder in die Zeit hineinstellt. So meint Althaus, die volkstümliche Auffassung der Ewigkeit als einer endlosen Dauer führe nicht zum ewigen Leben, der philosophischeleatische Begriff des veränderungslosen Seins nicht zum ewigen Leben 6 ). Der Gegensatz vom Werden und Sein kennzeichne die Zeitform; daher gelte das Sein nicht von der Ewigkeit. Im Gegenteil: die Zeit kennt überhaupt kein wirkliches Sein. Karl Barth dagegen läßt Gott in sich sehr stark veränderlich sein7); seine „Reue" ist eine durchaus eigentliche. Die Ewigkeit ist 1

) Auch Luther sah in der Ewigkeit ein ewiges Heute (Th. Harnack, Luthers Theologie I, München 1927, S. 292, II 76). Nach Hegel ist die wahrhafte Gegenwart die Ewigkeit (Heidegger, a. a. O. S. 431). а ) Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, zitiert nach Gent, a. a. O. S. 337. 3 4 ) A. a. O. S. 19. ) Vgl. S. 13. б ) „Wer sich einbildet, daß die Zeitlosigkeit oder Ewigkeit das wahre Glück bringen werde, irrt; denn das Glück ist an das Erleben gebunden und damit an die Zeit", Werner Gent, Das Problern der Zeit, Frankfurt a. Main 1934, S. 178. •) Die letzten Dinge, 3. A., Gütersloh 1926, S. 345. ') Die kirchliche Dogmatik II, 1, Zürich 1946, S. 556ff.

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Zeit und Ewigkeit

eine durchaus eigentliche. Die Ewigkeit ist nicht nur Zeitlosigkeit, sondern die Lebendigkeit Gottes, die wirkliche Gotteszeit, die dem Raum Gottes entspricht. Wenn das Wort Fleisch ward (Joh. 114), so werde damit die Ewigkeit Zeit. Gott nimmt sich Zeit für uns1). Aber wird damit das Geringste an dem Charakter der Ewigkeit geändert ? Lediglich das Ewigkeitserleben des Menschen in der Offenbarung ist zeitlichen Formen unterworfen. Die Ewigkeit kennt keine Tätigkeit in unserem Sinne; Beeindrucktwerden, Erinnerung, Ahnen, Wollen und dergl. haben hier keine Stelle. Es werden keine Überlegungen angestellt; alle Gedanken sind Wirklichkeit. Die Sprache kann dem nicht gerecht werden. Das zeigt sich besonders da, wo vom endlichen Standpunkt her über die Korrespondenz des Ewigen mit einzelnen irdischen Vorgängen reflektiert wird, wie etwa Luc. 15 6 (vgl. 10): Im Himmel wird Freude sein über einen Sünder, der Buße tut. Wir können es sprachlich nicht vermeiden, von unserem Sein in der Ewigkeit im Futurum zu reden. Es hat dies auch seine Berechtigung, insofern das Ende unserer zeitlichen Gebundenheit in der Zukunft liegt. Nur dürfen zeitliche und ewige Betrachtungsweise nicht vermengt werden. Die Vorstellung ist fernzuhalten, als ob einmal mit unserem Eingang in die Ewigkeit die Vergangenheit hinter uns liege und ein neues Erleben beginne, das mit dem irdischen nichts gemein hat. Vergangenheit ist niemals eine Summierung gewesener Gegenwarten, so wenig wie wir durch Addieren von Punkten zu einer Linie kämen. Was daher als Vergangenheit hinter uns liegen wird, ist lediglich das Schema der Zeit. Die Summe der Lebensinhalte dagegen gehört ewiger Gegenwart an. In Wirklichkeit ist nichts Reales vergangen, und es liegt eine tiefe Wahrheit in dem Bildwort der Schrift, daß einst alle Bücher im Himmel aufgeschlagen werden sollen. Kein in der Zeit hervorgebrachter Wert wird verloren gehen. Da die Ewigkeit nicht als ein neuer Äon die Zeit ablöst, diese vielmehr in absoluter Ruhe in ihr verankert liegt, so bringt auch die Ewigkeit keine neuen Ereignisse herbei; vielmehr werden wir dessen, was wir jetzt zeitlich schauen, vermittelst einer ganz anderen Betrachtungsweise inne werden2). Die Ereignisse erscheinen uns nicht mehr als Geschichte, sondern als Wert, zusammengefaßt in einen unaussprechlichen Gesamtwert. Mit anderen Worten: Es ist bereits ewig vorhanden, was wir hier !) Daselbst S. 685ff.; S. 694. ) „Es hieße, in einen logischen Widerspruch verfallen, wollte man sagen, daß der Prozeß, der sich in der Zeit abspielt, die Ewigkeit bereichere, da die Ewigkeit die Zeit umschließt", Nikolai Berdjajew, Existentielle Dialektik des Göttlichen und Menschlichen, München 1961, S. 47. 2

Lebenszeit

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erleben. Wir zerlegen den ewigen Inhalt in eine bunte Folge von lauter Einzelheiten; der Sonnenstrahl der Ewigkeit wird wie durch ein Prisma in tausend Farben zerteilt in unsere Seele geworfen. Was wir hier in die Länge leben, leben wir in der Ewigkeit in die Tiefe. Da werden wir staunen über die monumentale, echt göttliche Einfachheit aller Dinge. Man könnte das musikalische Erleben zur Verdeutlichung heranziehen. Man hört ein Lied, eine Symphonie und man folgt den Einzelheiten der melodischen Entwicklung. Nun ist es zu Ende. Man schließt die Augen und empfindet noch einmal den ganzen Reichtum, nicht die einzelnen Phasen, sondern den Gesamtwert. So sind in der Ewigkeit alle erlebten Werte gegenwärtig wie in einem grandiosen Finale. Das Leben, das wir in der Welt leben, sagt Friedrich Gogarten 1 ), ist „nur etwas an uns, nicht wir selbst . . . das ewige Leben aber sind wir selbst; es ist unser Selbstsein, unser Sein vor Gott". Es möge niemand davor erschrecken, daß er durch die Betrachtung dieses armseligen Lebens einst wieder geplagt werden soll in alle Ewigkeit. Der Stachel des Lebens ist die Schuld; und diese ist hinweg getan. Was befriedigt einen gereiften Geist mehr: das ruhelose Blättern in einem Bilderbuch oder das andächtige Sichversenken in ein Kunstwerk? Wer da meint, Gott möge ihm einst lieber eine Folge anderer, neuer Bilder vorlegen und nicht wieder dieses Erdenleben, an das sich so viel schmerzliche Erinnerungen knüpfen, der wird aufs angenehmste enttäuscht sein; Gott wird ihm allerdings sein Leben zeigen, aber in einer Weise, daß er vergehen wird in seliger Anbetung 2 ). 4. Lebenszeit Die Zeit vereinzelt und läßt darum die Dinge kompliziert erscheinen. Wir begehen gewissermaßen die Außenseite einer großen Kugel und unser Blickfeld endet am Horizont, wobei nur das Nächstliegende deutlich erkennbar wird. In der Ewigkeit liegt der Augenpunkt im Kugelzentrum, und mühelos läßt sich von hier aus mit einem Blick überschauen, was wir Erdenkinder ächzend durchlaufen haben und was nun schon unsern Blicken und womöglich auch unserer Erinnerung entschwunden ist, was noch berghaft vor uns liegt, und ebenso das unbekannte Land, das unser Fuß nie betreten wird. Dabei mag uns der Gedanke niederdrücken, daß unser Leben einen Torso darstellt, daß wir also, um im Bilde zu bleiben, um die Kugel nie herumkommen sollen. Ob nicht doch jedes Menschenleben eine in sich geschlossene Linie darstellt ? Es wäre ja nicht erforderlich, Die Kirche in der Welt, Heidelberg 1948, S. 122. ) „Die Unsterblichkeit ist eine verwandelte und geklärte Erinnerung", N. Berdjajew, a. a. O. S. 154. 2

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Klamroth,

Lutherischer Glaube im D e n k e n der Gegenwart

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Zeit und Ewigkeit

daß uns diese Geschlossenheit bereits in der Zeit zum Bewußtsein kommt. Die Ewigkeit hat ganz andere Maße als wir Kinder der Zeit1). Man könnte sich bei allen schwierigen oder unlösbaren Fragen auf die Höllenfahrt Christi beziehen und so eine Unbekannte durch eine andere paralysieren. Eine solche Argumentation hat auch ihren guten Sinn, wenn sie in jenem Dogma den symbolischen Ausdruck dafür finden will, daß jeder Gedanke an eine mögliche Verlegenheit Gottes absurd wäre, und daß der Christ nicht gesonnen ist, des Kindersterbens und ähnlich dunkler Tatsachen wegen die Lehre von der Verantwortlichkeit jedes Menschenlebens aufzugeben. Eher wird man auf den Gedanken geführt, daß es für Gott nicht nötig sei, daß jede Menschenseele ihren Erdenlauf auch wirklich durchführt. Wir stehen hier vor der Frage der Präexistenz der Menschenseele. Ihre Geburt, die keinen Erdenlauf nach sich zog, ist dann kaum um dieser Seele selbst willen notwendig gewesen, sondern um anderer Menschen willen. Und warum dieses Leben nur Sekunden, Minuten, Stunden oder doch einige Tage dauerte, entzieht sich unserem Befinden und muß dem Schöpfer überlassen bleiben. Der Glaube an das liebevolle und weise Planen des Schöpfers mit jeder einzelnen Menschenseele wird jedenfalls durch all diese Dinge nicht erschüttert. Wir denken an junge Leute, die mitten in ihrer Entwicklung abgerufen werden; wir denken an Unglücksfälle und Schlachtentod. Wir denken an Männer, die aus einem großen Werk herausgerissen werden, das nun für immer unvollendet bleibt, an Geisteskranke, deren eigentliche Lebensbestimmung nie zur Durchführung gelangt 2 ). Auch ein jedes dieser Leben soll zu seinem Rechte kommen. Wir können nicht sagen, daß sie im Jenseits nachholen, was ihnen auf Erden versagt war, da die Ewigkeit nicht neue Ereignisse herbeiführt (vgl. S. 16). Das Leben muß bereits auf Erden die Erntereife erlangen, seine so verschiedenen und im einzelnen noch wenig ausgerichteten Willenstendenzen eine für das Urteil der Ewigkeit zureichende Komponente ergeben. Das gilt auch von Massenkatastrophen, so wenig unsere Intelligenz eine Deutung für die einzelnen betroffenen Menschenschicksale zu geben in der Lage ist. Auf die Zeitspanne kommt es dabei „Du lebst nur solange du etwas mitzuteilen hast", Feuerbach, Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, zitiert nach Joachim Wach, Das Problem des Todes in der Philosophie unserer Zeit, Tübingen 1934, S. 26. „Andererseits lehrt gerade die Begegnung mit dem Tod, daß der Mensch mit seinem Inderweltsein kaum in sich selbst eine letzte, absolute Position, etwa in der Weise einer Lebensphilosophie, zu finden vermag", Curt Oehme, Uber Altera und Tod. Sitzungsber. der Heidelb. Ak. d. Wiss., math.-naturw. Kl. 1944, S. 24. 2

) Zur Selbstzwecklichkeit der einzelnen menschlichen Lebensalter vgl. Paul Althaus a. a. O. S. 249, Anm. 1.

Der Urgrund der Seele

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nicht an. Ein Augenblick kann ewigkeitserfüllt sein, und manches lange Leben wird zugebracht wie ein Geschwätz. Nun wird allerdings nicht zu fordern sein, daß jedes Menschenleben einen größten Kreis auf der Kugel beschreibt. J e nach seiner Bestimmung haben wir uns den Kreis verschieden groß zu denken. Nähert er sich beim Kinde einem Punkte, der von den in der Geburt Verstorbenen tatsächlich erreicht wird, so wird beim Genie der Radius immer größer und rückt an den größten Kreis der Kugel heran, den Jesus trotz seines jähen Todes wirklich durchmaß.

IV. Das religiöse Erleben 1. D e r U r g r u n d d e r Seele Die bewußten Seelenfunktionen des Ich gehören dem Endlichen an. Unter dieser Oberfläche geht ein Ansatz in die Tiefe 1 ); er ist bei den einzelnen Menschen in verschiedener Vollkommenheit entwickelt. Die Tiefe des Ichs ist der Berührungspunkt mit dem Absoluten 2 ). Dieser Zusammenhang mit dem Unendlichen liegt nicht im klaren Bewußtsein, sondern geht ihm nur in einem Ahnen auf und differenziert sich dann in die einzelnen Seelenkräfte. Daher das Mißliche aller Definitionen der Religion; man braucht dazu einen Anknüpfungspunkt, während sich doch das religiöse Erlebnis nicht definieren läßt. Nach Schleiermacher vollzieht sich die Berührung mit dem Unendlichen „im Unbewußten, um in bewußten Anschauungen und Gefühlen sich auszubilden". Es ist ein mystischer Akt, „nicht ein einzelnes empirisches Faktum; es liegt immer schon hinter der empirischen Grenze und kann nur beim Grenzübergang gerade noch aufgezeigt werden" 3 ). Die von Schleiermacher so oft betonte „Ursprünglichkeit" — jeder erlebt eine ganz neue Anschauung des Universums und erhält damit seine eigene Religion — hat im Urgrund der Seele ihre Stelle. Der große Theologe spricht demjenigen, in dessen Innern nicht eigene Offenbarungen aufsteigen, die Religion ab 4 ). x ) „In der Tiefe der ursprünglichen Transzendenz leben Urgedanken, die Urfragen. Für die meisten vermag selbst der stärkste Sturm, der sich auf der Oberfläche des menschlichen Daseins austobt, das Urgründige nicht aufzuwühlen und zutage zu bringen", Ernesto Grassi, Verteidigung des individuellen Lebens. Studia humanitatis als philosophische Überlieferung, Bern 1946, S. 175.

) „Das Transzendente tritt an den Menschen nicht von außen heran, sondern aus dem Inneren, aus der Tiefe kommend: Gott wohnt in einer größeren Tiefe in mir als ich selbst", N. Berdjajew a. a. O. S. 44. 3 ) Georg Wehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, Gütersloh 1927, S. 132f. 4 ) „Ein Automat antwortet nicht; eine Tür kann im Unterschied zum Automaten wohl reagieren, aber nicht antworten" (Emil Brunner, Dogmatik II, Zürich 1950, S. 65). 2

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Das religiöse Erleben

Eduard Spranger meint, Ranke hätte seinem berühmten Ausspruch „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott" mit noch tieferem Recht die Form geben können: Jeder Mensch ist unmittelbar zu Gott1). Wir haben noch eine andere Instanz, von der wir angesprochen werden, und deren Stimme ebenso geheimnisvoll aus den Tiefen der Seele zu uns redet, das Gewissen. Leider hat man beide meist miteinander verwechselt oder identifiziert. Der Grundunterschied besteht darin, daß das Gewissen eine Stellungnahme zu vorliegenden Tatsachen bedeutet, während aus dem Urgrund neue Tatsachen, neue Werte, neue Verhältnisse als geoffenbart emporsteigen. Das Gewissen nimmt Stellung zu dem, was in mir vorgeht oder vorgegangen ist, drückt Billigung oder Mißbilligung, Sympathie oder Antipathie mit mir selbst aus2). Es mag verwandt sein mit der Stellungnahme in Billigung oder Mißbilligung, Sympathie oder Antipathie, die wir anderen Persönlichkeiten gegenüber einnehmen, und die sich gewiß auch nach Gründen richtet, aber uns erst ins Bewußtsein tritt, wenn sie längst vollzogen ist. Wieviel Seelenfunktionen mögen unterhalb der Bewußtseinsschwelle tätig sein !3) Werden sie aber alle auf den Generalnenner „Gewissen" gebracht, dann spricht Gott zu den Menschen, zu den Propheten, in seiner Offenbarung überhaupt lediglich im Gewissen, also irgendwie in der Selbstbesinnung des Menschen. Daß hier notwendigerweise eine Verkürzung der Religion ins Rationale oder Pelagianische eintritt, ist wohl einzusehen. „Das ist ja gerade das Erstaunliche am Gewissen, daß der Mensch hier in einer letzten grauenhaften Isolierung nur sich selbst vernimmt und darum meint, hier sich selbst in seiner eigentlich Selbstheit, in seinem tiefsten Wesen, als das Absolute, Ursprüngliche, als Gott zu hören"4). Auch Heidegger sagt: „Das Dasein ruft im Gewissen sich selbst" 6 ). Gegen den Wahn, daß der Seelengrund des Menschen göttlich sei, erhebt Karl Girgensohn seine Stimme; der Mensch erlebe sich als Kreatur und nicht als Gott6). Lebensformen. 8. A„ Tübingen 1950, S. 448. ) Bernhard Haering: Das Gewissen ist der Schrei der gefährdeten Existenz (Das Heilige und das Gute, München 1950 S. 81). 8 ) Nach Erich Rotthaus, Das Sittliche eine Kraft des menschlichen Unbewußten Stuttgart 1949, gibt Gott durch Träume den Menschen aus ihrem Unbewußtem heraus moralische Weisung und Halt. Mit unserem Gegenstande, dem Urgrund der Seele, haben solche psychoanalytischen Auffassungen und Methoden vermutlich nichts zu tun. Sehr scharf urteilt C. G. Jung, Psychologie u. Religion, Zürich 1947, S. 73: „Der Begriff des Unbewußten ist tatsächlich eine bloße Annahme zum Zwecke der Bequemlichkeit." 4 ) Grisebach a. a. O. S. 564. *) A. a. O. S. 275. •) Theologische Ethik, Leipzig 1926, S. 20, 21, Anm. 1 (gegen Hermann Schwarz, Das Ungegebene, Tübingen 1921). a

Das Dogma

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Die unerschöpfliche Tiefe des religiösen Menschen ist sein Ureigenstes, Köstlichstes1). Es sind die feinen Fasern, mit denen er im Unendlichen wurzelt; und diese Wurzelfasern entziehen sich jeglicher Beobachtung 2 ). Nicht einmal das eigene Ich kann ein forschendes Senklot auf den Grund hinunterlassen. Wohl treten allerlei Anregungen von dort ins Bewußtsein; umgekehrte Einwirkung findet dagegen nicht statt. Dabei ist anzunehmen, daß infolge der direkten Berührung des Urgrundes der Seele mit dem Unendlichen viel mehr Anregungen3) emporsteigen als tatsächlich die Schwelle unseres Bewußtseins überschreiten. Es müssen gewisse Hemmungsmomente vorliegen. Diese aber sind wenigstens zum Teil unserer Einwirkung ausgesetzt, so daß wir den Versuch machen können, an ihrer Beseitigung zu arbeiten. Umgekehrt ist der Mensch imstande, Hemmungen zu schaffen bis zur Verschüttung der Leitung. Aber der Urgrund der Seele selbst fällt nicht in den Aktionsbereich des zeitlichen Ich. Seine Funktionen unterliegen den Einwirkungen des Absoluten, und diese erfolgen spontan. Hier ist von der Wirksamkeit des Heiligen Geistes zu sprechen (vgl. cap. XII). Der Geist Gottes weht wo er will. Man wird aber annehmen dürfen, daß diese Spontaneität, dieses intermittierende Wirken des Geistes durch die unzulängliche Beschaffenheit der menschlichen Empfangsorgane bedingt ist. Je intakter diese Organe, je sauberer die Leitung, desto weniger sprunghaft die Aktivität des Geistes. Im vollkommenen Menschen (Jesus Christus) fließt der Strom ruhig und ununterbrochen, auch am Kreuz4). 2. Das Dogma Ein Dogma entsteht und wird notwendig, wo der Mensch eine Berührung des Ewigen mit dem Zeitlichen verspürt. In der reinen Welt des Ewigen gibt es ebenso wenig ein Dogma wie dort, wo man im *) Nach Brunner hat das Ich seinen Grund in der persönlichen Anrede Gottes durch sein Wort. Dieses ist der Realgrund des Ich (Religionsphilosophie evang. Theologie, München 1948, S. 43). 2 ) Vgl. Romano Guardini über die Wichtigkeit der Einsamkeit; sie ist des Menschen Mitte (Freiheit, Gnade, Schicksal, München 1948, S. 61f.). 3 ) Gegenüber Kant und Fichte, die in der Aktivität das Wahrzeichen des Geistes gegenüber der Inaktivität des Bloß-Sinnlichen sehen, hat Schleiermacher den Geist als höchste, auf das Universum bezogene Passivität zu werten gewußt (vgl. Georg Wehrung a. a. O. S. 121). Daß solche Anregungen sich auf die Fülle religiöser Werte und nicht etwa nur auf erkenntnismäßige „Lehren" erstrecken, braucht wohl nicht hervorgehoben zu werden. 4 ) Ich vermag im Beten des 22. Psalmes keinen Ausdruck der Verzweiflung zu sehen, zumal auch im Blick auf die anderen Worte am Kreuz. Vielleicht war dieser Psalm ein damals öfter gebrauchtes Sterbegebet.

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Das religiöse Erleben

Bereich des Zeitlichen bleiben will. Wir bezeichnen als den Ort, da der Mensch eine solche Berührung des Übersinnlichen mit dem Irdischen erfährt, den Urgrund der Seele. Man darf annehmen, daß die Einwirkung des Unfaßbaren auf den Seelengrund adäquat vor sich geht. Ob dieser aber das Empfangene an das Bewußtsein weiterzuleiten 1 ) in der Lage ist, hängt von bestimmten Bedingungen ab. Wo es geschieht, da entsteht ein Glaubensgebilde als primäre Vorstellung einer Beziehung zum Unfaßbaren. Nunmehr verarbeitet der Verstand begrifflich das Glaubensgebilde und schafft daraus die präzisierte dogmatische Formel. Was ihm durch die sinnliche Erfahrung zugetragen wird, bildet er zum Wissen, was ihm übersinnliche Erfahrung zuweist, sucht er einer möglichst einheitlichen Glaubensanschauung einzufügen. Während nun aber die Sinneserfahrung mancherlei Täuschungen unterliegt, entspricht dem, was aus dem Urgrund der Seele emporsteigt, stets eine Realität. Das schließt keinesfalls aus, daß bereits das ins Bewußtsein getretene Bild des überempirischen Vorgangs eine Verzeichnung darstellt ; und erst recht wird die begriffliche Verarbeitung zur dogmatischen Formel mannigfaltigen Fehlgriffen ausgesetzt sein. Denn das empirische Bewußtsein hat in der Regel nicht die Fähigkeit, oft auch nicht den Willen, die Mitteilung des Urgrundes recht aufzufassen; es trübt und verfälscht sie oder lehnt sie gar überhaupt ab. Auch schärfste Gedankenarbeit schafft keinen adäquaten Ausdruck für das Übersinnliche. Die Begriffe und Veranschaulichungen, mit denen wir arbeiten, sind samt und sonders endlicher Erfahrung entnommen und können in keiner Weise das Unendliche zu einigermaßen entsprechender Darstellung bringen. M. a. W. die Dogmatik trägt einen lediglich bildhaften Charakter. Im günstigsten Falle handelt es sich um skizzenhafte Umrisse der Projektionen des Unendlichen in die Welt der Endlichkeit. Projektionen sind Schattenrisse, bei denen bestimmte Dimensionen verkürzt, verlängert oder verschoben sind2). „Der Mensch ist Gott, so ihm dieser begegnet, nicht gleichzeitig"; er kann ihm immer nur nachschauen (Otto Dilschneider, Gegenwart Christi, Gütersloh 1948, S. 59). 2 ) „Daß hier wie überall in der Glaubenslehre die schwerste Aufgabe darin besteht, die lebendige Offenbarungstat Gottes und die gestaltende Tätigkeit des Bewußtseins in ihrer Verbindung miteinander zu begreifen", Horst Stephan, Glaubenslehre 2. A., Gießen 1928, S. 79. Das zeigt sich auch bei Luther, sobald er es unternimmt, die ihm schier unerschöpflich zuströmenden religiösen Werte begrifflich zu verarbeiten. Daher findet man überall und besonders bei Karl Barth und seinen Geistesverwandten eine starke Distanzierung Luthers von seinen Nachfahren, die sich ja vornehmlich dieser nicht gerade dankbaren Aufgabe zu unterziehen hatten.

Das Dogma

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Niemand wird nach der dogmatischen Formel: Jesus ist der Sohn Gottes, das göttliche Sohnesverhältnis dem irdischen analog denken wollen oder diese Vorstellung überhaupt erträglich finden. Das hypochondrische Sichbeengtfühlen durch dogmatische Aussagen zeugt von einer ungebührlichen Wertschätzung dieser Bilder infolge mangelnder Einsicht in ihr Wesen 1 ). Die Dogmatik ist eine Bildersprache, wie die Rede des Größten unter den Menschenkindern vorzugsweise Gleichnisrede war. Jesus ist der unübertroffene, unerschöpfliche Meister der religiösen Veranschaulichung. Je anschaulicher das Bild, um so treffender bringt es den religiösen Gedanken zum Ausdruck, um so uneigentlicher wird allerdings die dogmatische Aussage. Die Technik der dogmatischen Formulierung ist nun zwar in erster Linie Wissenschaft, hat jedoch insofern einen Zug mit der Kunst gemeinsam, als es sich um Einfühlung in ein Objekt und um seine Darstellung handelt, und jede Darstellung auch als Kunstleistung zu bewerten ist. Hier wie dort muß Beherrschung der Technik und geistige Auffassung wohl auseinandergehalten werden. Am religiösen Grundgedanken arbeitet nicht die Wissenschaft, und an der wissenschaftlichen Ausprägung nicht die Religion. Die Formel überlasse man willig wissenschaftlicher Kritik; über die Dogmen selbst aber hat nur eine religiöse Instanz zu befinden. Die Aufgabe der Theologie, in der Form immer größere Korrektheit anzustreben, wird stets nur relative Fortschritte aufweisen. Die unvermeidliche Inadäquatheit der Form sagt an und für sich nichts über den zugrunde liegenden religiösen Wert aus; dieser kommt lediglich dem Inhalt zu. Trotzdem sollte man die formelhafte Ausprägung nicht unterschätzen. Der Theologie ist die Verwaltung eines reichen religiösen Erbes anvertraut. Was davon reifen künstlerischen Wert beanspruchen darf wie etwa ausgesprochene Bilderreden und Gleichnisse, bleibt auch in seiner Formulierung unverändert für alle Zeiten bestehen 2 ). Die lehrhafte Ausprägung kann dem modernen frommen Gemüt derartige Schwierigkeiten bereiten, daß es Gefahr läuft, mit einer unbefriedigenden Form auch den Inhalt anfzugeben. Hier zu helfen ist die Aufgabe der Systematik. Eine glänzende wissenschaftliche Darstellung frommt nicht, wenn sie sich nicht als getreuer Haushalter erweist, sondern anver„Sollte der Heilige Geist sich so in spanische Stiefel einführen lassen, wenn er das Befreiungswerk an unseren Seelen treibt?" (Martin Rade, Glaubenslehre II, Gotha 1927, S. 158). 2 ) Damit soll nicht gesagt sein, daß lediglich die Verwendung biblischer Begriffe die Anerkennung der Christlichkeit der Darstellung verdient. — Der Christ darf wohl mit neuen Begriffen operieren; neue Werte stehen ihm allerdings nicht zur Verfügung.

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Das religiöse Erleben

trautes Gut dem Modeschnitt zuliebe verschleudert. Unter keinen Umständen Form auf Kosten des Inhalts! Luther ertrug lieber ungelöste Spannungen, als daß er eine religiöse Wahrheit irgendwie zurecht bog. 3. Das religiöse Datum Jedes echte religiöse Moment trägt den Beweis der Wahrheit in sich. Alles, was je wirklich religiös empfunden worden ist, hat ewigen Wert und darf nicht rigoros nach der dogmatischen Ausprägung beurteilt werden, die es einmal gefunden hat. Daher ist die Religion in sich einheitlich, d. h. ihre verschiedenen Gegebenheiten können nie einander ausschließen, so daß man zu einem EntwederOder genötigt wäre. Das hat auch Schleiermacher betont; und bei dem Aquinaten findet sich das schöne Wort des Ambrosius zu I. Kor. 12 3: Omne verum, a quocunque dicatur, a Spiritu sancto est (II 1 109, l) 1 ). Um kein religiöses Datum verkümmern zu lassen, hat die Theologie die gesamte Religionsgeschichte zu durchforschen. Wo etwas Wesentliches in Vergessenheit geriet oder niemals gerechte Würdigung gefunden hat, soll sie diesen Schatz heben und dem geltenden Vätererbe hinzugesellen. So fordert es bereits wiederholt Augustin. Eine Überfülle von Gegebenheiten ist dabei kaum zu befürchten 2 ). Nur wenn die Theologie die Fähigkeit besitzt, sich in den auch absonderlicher Form zugrunde liegenden religiösen Wert hineinzufühlen, ist sie dieser Aufgabe gewachsen. Kein System bringt vollständig den Inhalt einer positiven Religion. Das sieht man an den vergeblichen Anstrengungen, den vollen Gehalt des Christentums zur Darstellung zu bringen. Es kann ein religiöser Wert dem Auge des Systematikers entgangen sein, der der betreffenden Religion durchaus eigen ist. Andererseits kann ein Systematiker Werte bringen, die im derzeitigen Gemeindeglauben nicht oder nicht mehr lebendig sind. Denn das Christentum steht und fällt mit seinem Anspruch, die absolute Religion zu sein, und nimmt daher sämtliche religiösen Werte a priori für sich in Anspruch („Ich bin die Wahrheit"). Für keine andere Religion ist der Absolutheitsanspruch wesentlich. Alle schöpfungsmäßigen Werte sind dem Christen zur Durchdringung und Aneignung dargeboten, damit sie dem Reiche Gottes Nicht ganz vollständig zitiert bei Karl Barth, die Lehre vom Wort Gottes München 1927, S. 136. Ähnlich Friedrich Brunstädt, Allgemeine Offenbarung, Halle 1936, S. 41: „Wer immer die Wahrheit redet, redet aus dem Heiligen Geist." *) Die Menschheit hat tatsächlich nicht allzu viel Gedanken gehabt, vgl. Walter Köhler, Ernst Troeltsch, Tübingen 1941, S. 93.

Religiöses Bedürfnis

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dienstbar gemacht werden. Solange dies nicht geschehen ist, bleiben sie für das derzeitige Christentum eine ständige Mahnung und Anklage. Dies ist der tiefere Sinn des Schöpfungswortes: „Herrschet über sie". Dietrich Bonhoeffer bemerkt in seiner Ethik 1 ): „Die Welt ist nicht zwischen Christus und dem Teufel ausgeteilt, sondern sie ist ganz und gar die Welt Christi, ob sie es erkennt oder nicht." Und: „Der Radikale kann Gott seine Schöpfung nicht verzeihen." Schöpferisch ist die Systematik nur in bezug auf die Darstellung, nicht in bezug auf die religiösen Werte, denen sie zum Ausdruck verhelfen möchte und um deren Auffindung und Verknüpfung es sich eben handelt. 4. Religiöses Bedürfnis Die gesamten Erscheinungen des religiösen Lebens gliedern sich in religiöses Bedürfnis, religiöses Angebot und religiöse Befriedigung. Leider hat sich die Systematik zu einseitig mit dem religiösen Angebot beschäftigt und das religiöse Bedürfnis mehr der Religionspsychologie überlassen. Nun aber haben wir an der Erforschung des Bedürfnisses ein direktes dogmatisches Interesse; und dieses kommt in der rein psychologischen Behandlung nicht zu seinem Recht. Gewiß will die gesamte Glaubenslehre Angebot sein mit dem Zweck, einem vorhandenen Bedürfnis zur Befriedigung zu verhelfen. Aber muß sie da nicht erst recht dieses Bedürfnis studieren ? Darf sie die Aufgabe einer anderen Disziplin überlassen? Man denke sich in der Medizin eine Therapeutik ohne Diagnostik! Das Bedürfnis ist ebenso gut ein religiöses Datum wie das Angebot, wenn dieses auch in heiligen Schriften, Kirchenlehre, Kultus, ethischen Grundsätzen, erbaulicher und missionarischer Rede leichter faßlich uns entgegentritt. Gegenüber der Mannigfaltigkeit des Angebots ist das Bedürfnis einfach primär und als solches an sich nicht übertragbar. Es repräsentiert einen religiösen Wert von eminenter Bedeutung. Rein religiöse Bedürfnisse können sich niemals gegenseitig im Wege stehen, so wenig als reine Religion jemals ein Zuviel kennen wird. Wir sind noch weit davon entfernt, eine Harmonielehre der religiösen Bedürfnisse aufstellen zu können. Allenfalls ließe sich ein Grundbedürfnis eruieren; das Christentum findet dasselbe in dem Verlangen nach Gottesgemeinschaft. Wahrscheinlich hat das religiöse Genie Bedürfnisse empfunden, von denen wir nicht wissen und deren eventuelle Mitteilung nicht hat aufgefaßt werden können. Zahl und !) Herausg. von Eberhard Bethge, München 1949, S. 67, 82.

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Das religiöse Erleben

Intensität der religiösen Bedürfnisse ist der eigentliche Gradmesser für das religiöse Leben. Das religiöse Leben wird geheimnisvoll in der Tiefe des Urgrundes der Seele geboren. Es ist an sich irrtumslos; aber in der Art und Weise, wie es sich Befriedigung sucht, in der Auswahl des Angebots, kann leicht ein Mißgriff eintreten. Denn wenn auch diese Auswahl nicht immer im Lichte des klaren Bewußtseins vor sich geht, sondern oft schon instinktartig erfolgt, so vollzieht sie sich doch auf keinen Fall mehr in der Tiefe des Urgrundes. Verschiedene befremdende Erscheinungen in der Religionsgeschichte gehen tatsächlich auf ein echtes Bedürfnis zurück; nur ist in der Befriedigung ein verkehrter Weg eingeschlagen worden. Ein und dasselbe Bedürfnis kann bei verschiedenen Menschen, in den verschiedenen positiven Religionen eine ganz verschiedene Befriedigung suchen. Außerdem werden uns die Bedürfnisse selten eindeutig und klar bewußt; in ihrer Verbindung mit anderen zu Bedürfnisgruppen verschwimmen sie untereinander und kommen in einem dunklen Drange zum Ausdruck. Unter Umständen erheben sich gegen die Echtheit eines Bedürfnisses begründete Zweifel. Es könnte z. B. auf bloßer Suggestion beruhen, etwa in ungesunder religiöser Atmosphäre treibhausmäßig gezüchtet oder auch mehr oder weniger bewußt erheuchelt sein. Wie oft mag sich jemand in der Not zu einer Buße getrieben fühlen in der Meinung, es sei dies ein von anderen oft mit Erfolg angewandtes Mittel, Gott günstig zu stimmen. Solche Bedürfnisse kommen nicht aus dem Urgrund der Seele; sie haben weder Wert noch Bestand. Wie aber, wenn jemand keine religiösen Bedürfnisse empfindet oder doch nur in einem völlig unzureichenden Maße ? Eine solche Verkümmerung ist als religiöses Krankheitssymptom anzusehen. Religiöse Wegführer haben daher nicht nur vorhandene Bedürfnisse befriedigt, sondern auch nicht vorhandene überhaupt erst geweckt. Religiöse Bedürfnisse können tatsächlich vermehrt werden. Das Angebot besteht auch bei mangelndem Bedürfnis zu recht. Es hat dann die Aufgabe, ein solches hervorzurufen. Der christliche Bibelleser und Kirchgänger sucht nicht nur Befriedigung seiner gewohnten Bedürfnisse, sondern will auch auf religiöse Werte aufmerksam gemacht werden, an denen er vielleicht bisher vorüberging. Auf keinen Fall darf der empirische Bestand des religiösen Bedürfnisses zur Norm für das religiöse Leben gemacht werden. Es kann nicht genug auf die tatsächliche Verkümmerung der Bedürfnisse und auf die Notwendigkeit ihrer Erweckung verwiesen werden. Der Verzicht darauf wäre gleichbedeutend mit der Sanktionierung der religiösen Gleichgültigkeit. Ein Angebot wird sinnlos, wenn es versäumt, zunächst einmal das entsprechende Bedürfnis wachzurufen,

Obj ekti vierung

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falls es dies nicht voraussetzen darf. Das gilt besonders von einer gewissen Gnadenpredigt bei längst erstorbenem Sündengefühl in der Gemeinde. Man braucht nicht zu befürchten, Spannungen zu erzeugen, bevor die Garantie ihrer Auslösung gegeben ist. Ohne vorangegangene Spannung ist für uns kein Verhältnis zum Absoluten möglich. Durch den Eintritt einer bis dahin noch nicht vorhanden gewesenen Spannung wird für uns eine neue Berührungsfläche mit dem Absoluten geschaffen. Einander entsprechendes Bedürfnis und Angebot ergeben zusammen die Befriedigung. Indem ich von dem religiösen Bedürfnis eines Menschen Kunde erhalte, kann mir dasselbe ein Anreiz sein, ebenso zu empfinden, d. h. es wirkt auf mich als religiöses Angebot. Die bewußte Pflege bestimmter Bedürfnisse gehört zu den wichtigsten Lebensäußerungen einer gesunden Gemeinde. Unter Umständen kann eine ganze Reihe von einander immer mehr vertiefenden Bedürfnissen schließlich auf ein Angebot hinführen. Das Angebot braucht noch nicht das letzte Wort zu sprechen; oft mag es in sich eine weitere ungelöste Frage enthalten, also unter anderem Gesichtspunkt gesehen selbst als Bedürfnis erscheinen. Der gleiche religiöse Wert kann im Verhältnis zu dem übergeordnetem Gliede Bedürfnis, zum untergeordneten Angebot sein.

V. Das dogmatische Denken 1. Objektivierung Im Urgrund der Seele vollzieht sich die Berührung mit dem Absoluten unmittelbar und uneingeschränkt. Je mehr die empfangenen Eindrücke im Bewußtsein verarbeitet werden, desto reflektierter wird das religiöse Erleben. Aus den Tiefen der Seele dringt der Abglanz eines ewigen Gotterlebens; aber denken können wir das Ewige nur in den Formen der Endlichkeit. Wir sind schlechterdings nicht in der Lage, das Absolute begrifflich adäquat auszudrücken. Jeder positive Begriff ist eine Art Definition, zu deutsch Begrenzung. Aber wir bleiben uns dessen bewußt, daß der endliche Begriff lediglich als Symbol für die unfaßbare Fülle dienen soll1). „Obwohl eine Entstellung des Geistigen, ist die Vergegenständlichung ein Prozeß der . . . für den Fortschritt zum Reich des Geistes notwendig ist. Aber diesen Prozeß muß die Anprangerung der Irrtümer und Entstellungen begleiten, die sich als Folge der Objektivierung einstellen", N. Berdjajew a. a. O. S. 13.

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Das dogmatische Denken

Darum gibt jedes Bild, das der Urgrund der Seele von dem Unfaßbaren in unser Bewußtsein wirft, nur eine begrenzte Seite desselben wieder. Unfähig, die ganze Fülle des Unendlichen zu fassen, heben wir diese eine Projektion heraus und vergegenständlichen sie in unserem Bewußtsein 1 ). Wir nennen eine solche Vergegenständlichung Objektivierung. Sie besteht, plastisch ausgedrückt, in einer Herausnahme kleiner Stücke aus dem Unendlichen, um diese einzeln bewältigen zu können. Freilich entsteht nun die unvermeidliche Schwierigkeit, daß bei der Heraushebung eines bestimmten Momentes im Göttlichen dessen Gegenteil für das Göttliche negiert, zum mindesten als wesenlos hingestellt oder aber ein innergöttlicher Gegensatz begründet wird. Diese paradoxe Gegensätzlichkeit ist für unser gesamtes religiöses Denken charakteristisch 2 ). Auch der Christ weiß sehr wohl, daß Gott größer ist als unser Denken und Verstehen. Trotzdem bleibt es eine durchaus gesunde Funktion des religiösen Lebens, ihn nach Art der endlichen Persönlichkeit, eben dem Höchsten, was die zeitlichen Erscheinungen aufzuweisen haben, sich zu vergegenständlichen, ihm in naiver Weise Denken, Fühlen und Wollen beizulegen und seine einzelnen Eigenschaften zum Gegenstand andächtiger Betrachtung zu machen. Ja wir werden vielleicht trotz aller Erinnerung an den Grundsatz, daß Gott Geist ist und als solcher im Geist und in der Wahrheit angebetet sein will, eine gewisse Lokalisierung Gottes, etwa irgendwo über uns „im Himmel", der noch so geistig gedacht werden mag, nicht ganz vermeiden können; wie vermögen eben nicht, schlechthin geistig zu denken. Je geistiger wir sein wollen, desto reflektierter, gezwungener und schließlich inhaltloser werden wir nur 3 ). Die dauernde intensive Berührung mit dem Unendlichen ist nur im Urgrund möglich und geht als bewußte über den menschlichen Rahmen hinaus. Wir kennzeichnen Orte, Zeiten und Gegenstände als heilig, als geweiht im Gegensatz „Nur dadurch, daß ein Glied einer Mannigfaltigkeit von Erfahrungselementen im Ich verhüllt, also ungegenständlich ist, können alle übrigen Glieder gegenständlich werden", Karl Heim, Glaubensgewißheit, S. 186. Wir sagen lieber: Dadurch, daß ein Glied vergegenständlicht wird, treten alle anderen zurück. *) „Man darf die Behauptung wagen, daß in der Bibel, auf das Ganze gesehen, alles in Polaritäten vorkommt", schreibt Karl Jaspers, Der philosophische Glaube (München 1948, S. 76). Es folgt dann eine Reihe von Belegen. Auf den unvermeidlichen Anthropomorphismus in der Sprache macht bereits Franz von Baader aufmerksam (Seele und Welt, Franz Baaders Jugendtagebücher 1786—1792, herausg. v. D. Baumgardt, Berlin 1928, S. 68f.). ') „Die Gottheit erhielt — horribile dictu — ein halb philosophisch, halb theologisch professorales Gesicht." Eberhard Grisebach, Was ist Wahrheit in Wirklichkeit ? Leipzig, Bern 1941, S. 13.

Objektivierung

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zum Profanen, wiewohl wir sehr gut wissen, daß sie es nur jure humano sind, ja daß an sich, soweit nicht historische Gründe mitsprechen, das Verhältnis jederzeit umgekehrt werden könnte (was ist heiliger an sich, die Arbeit oder die Feier ?). Es bedarf eben die These, um bestehen zu können, der Antithese und würde mit deren Aufhebung selbst negiert. „Daß das Ewige des Geistes, das wir glauben, nur innerhalb der Endlichkeit geschichtlichen Lebens zu den Menschen kommen kann, ist im Grunde die Paradoxie jeder Religion"1). Damit sind wir dicht bei Luther angelangt. Er will von einem allgemeinen, abstrakten Gott nichts wissen; Gott kann ihm nicht konkret genug sein. Gott wird konkret durch sein Eingehen in die Geschichte; und er wird abermals konkret dadurch, daß mir die Aktualität dieser Geschichte f ü r m i c h im Glauben bewußt wird. Man könnte fortfahren, daß Gottes Inkarnation den letzten Schleier des bloß Ideellen abstreift, wenn ich gläubig zum Tisch des Herrn gehe. Nun wird mir aus der Fülle des göttlichen Wesens diejenige Eigenschaft wirksam, die mir der Glaube gerade heraushebt 2 ). Dabei ist der Gefahr eines Absinkens in bloßen Illusionismus durch die Bestimmung gewehrt, daß Gott nicht deshalb derjenige ist, als welchen ihn der Glaube vorstellt, weil er uns so erscheint, sondern weil er uns selbst in sein Wesen und seine Gesinnung hineinzieht3). Gott bindet sich selbst durch sein Wort an den Ort, da er sich finden lassen will. Das Wort ist dasselbe, mit dem er einst die Schöpfung vollbrachte; es ist wohl imstande, irdische Dinge zu Trägern der göttlichen Gnade zu machen. Da ohne das Wort kein Ding entstehen kann, wird auch der Glaube durch seine Schöpferkraft hervorgerufen, deren Allmacht allerdings am menschlichen „Nein" ihre Grenze findet. Damit, daß man das fromme Gemüt auf die Widersprüche verweist, in die es sich notwendigerweise verwickelt, ist also nichts getan. Luther sagt „man muß so geistlich Ding in Windelein legen"4). Auch Aussagen, die möglichst wenig positiv sein wollen, um in zutreffender Weise das Universum zu erfassen, kommen um bestimmte Behauptungen nicht herum, und diese beruhen alle auf Objektivierungen. Wenn der Pantheist von der allumfassenden göttlichen Liebe, wenn der Monist von der alldurchdringenden Kraft redet, so objektiviert er bereits. Ebenso nimmt Schleiermachers schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl aus dem Universum eine Seite heraus, an die es sich wendet. ') ) 3 ) *) 2

Karl Bornhausen, Der Erlöser, Leipzig 1927, S. 218. Vgl. Erich Seeberg, Luthers Theologie I, Göttingen 1929, S. 100. Daselbst S. 113,171. W. A. 46, 308,13.

Das dogmatische Denken

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Wir bleiben immer in Objektivierungen verhaftet und nähern uns der Betrachtungsweise sub specie aeternitatis auf einem Gebiet nur dadurch, daß wir dafür auf einer anderen Seite um so stärker objektivieren. Durch die Vergegenständlichung des Absoluten in der Objektivierung rücken wir es uns näher, rücken es in unsere Sphäre, um zu ihm in Beziehung zu treten. Werfen wir zur Erläuterung einen Blick auf die Grundobjektivierungen der Religionsgeschichte. Der Grieche objektiviert den Gedanken der Schönheit, der seligen Harmonie Gottes, der Römer den Gedanken der gesetzlichen Ordnung, der Germane den der Männlichkeit. Es braucht nicht betont zu werden, daß es sich dabei um die ideale Blüte dieser Religionen handelt; in ihren Anfängen herrscht — wie wohl allgemein — der Gedanke der naturhaft lebenspendenden Kraft vor. Das Pantheon, soweit es nicht politischen Gründen seine Entstehung verdankt, ist aus verschiedenen Objektivierungen der Gottheit entstanden und bildet eine primitive Summenformel dafür. Einen ganz reinen Stil hat wahrscheinlich keine der historischen Religionen mehr aufzuweisen. Der Muhammedaner objektiviert die herrenhafte Macht, Altisrael die Erhabenheit Gottes (qds), der Prophetismus seine sittliche Heiligkeit. Die Lehre Jesu kennzeichnet sich schon durch ihre tiefe Fülle, ja Unerschöpflichkeit als Offenbarung im höchsten Sinne. Hier ist es am schwersten, von einer Grundobjektivierung zu reden, die doch immer einseitig ist. Das Christentum als Gesamterscheinung objektiviert die Liebe Gottes. Bei Paulus tritt mehr die Gnade, bei Johannes die Idee des Lebens in den Vordergrund. Die römische Kirche betont die Übersinnlichkeit Gottes, der Protestantismus seine geistesschöpferische Kraft, die freies Gewissen setzt (Theonomie — Autonomie). Es brauchen diese Ideen nur ausgesprochen zu werden, um ihre Unentbehrlichkeit darzutun. Sie wecken sofort ein religiöses Bedürfnis, das gebieterisch Befriedigung erheischt, weil es den Mangel nicht ertragen könnte 1 ). Ein solches Nachobjektivieren kann von verschiedener Tiefe sein. Steigt es aus dem Urgrund empor, so handelt es sich um eine echte Objektivierung und demgemäß um ein Urbedürfnis. Jeder Objektivierung entspricht ein solches und zwar wahrscheinlich nur eins; eine Mehrzahl wird auf eine Objektivierungsgruppe oder auf sekundäre Onjektivierungen zurückgehen. Das Bedürfnis allein, also ohne ein entsprechendes Angebot, stellt bereits ein religiöses Erleben dar; denn es setzt eine Realität voraus. Tritt nun bei zureichendem Angebot die religiöse Befriedigung ein, so bleibt das Bedürfnis insofern weiter bestehen, als die Befriedigung !) Vgl. S. 26.

Ordnung der Objektivierungen

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festgehalten oder immer wieder aufs neue erreicht werden muß. Die Befriedigung löst also die Spannung, ohne die zugrundeliegende Objektivierung aufzuheben. Das Bedürfnis sieht diese Beziehung zwischen Individuum und Absolutem als Spannung, die Befriedigung dagegen als Entgegenkommen, Güte als vom jenseitigen Ufer aus geschlagene Brücke. Ein und dieselbe Objektivierung kann im Laufe der Zeit eine immer feinere dogmatische Ausprägung erfahren. Der Grad der Frömmigkeit wird dadurch an sich noch nicht gesteigert. Er hängt allein von der Objektivierung selbst ab. Je intensiver die Objektivierung, desto inniger und tiefer die Frömmigkeit. 2. Ordnung der Objektivierungen Zunächst liegt eine größere Anzahl von Objektivierungen unvermittelt und unausgeglichen in jedem frommen Gemüt vor. An sich wäre nun eine Art Schema denkbar, das uns anzeigte, mit wieviel Objektivierungen die Gottheit sich umspannen ließe. Es würde dann an Stelle der Intuition eine gedankliche Zusammenschau eintreten, so wie man die Außenwände eines Gebäudes zwar nicht gleichzeitig überblicken, wohl aber unter Garantie, alles gesehen zu haben, nach einander abschreiten kann. Aber die verschiedenen Objektivierungen sind keine konstituierenden Teile des Ganzen, die addiert lückenlos dieses Ganze ergeben würden. Sie sind vielmehr Querschnitte, die beliebig vermehrt werden können und sich in keiner Weise zum Ganzen zusammenzählen lassen. Dennoch muß eine gewisse Vollständigkeit wenigstens in der Tendenz erstrebt werden. Es ist Aufgabe der systematischen Theologie, aus den vielen Vergegenständlichungen der Gottheit und unserer Beziehungen zu ihr größere Einheiten, ja wenn möglich ein Gesamtbild zusammenzusetzen. Je mehr Beobachtungspunkte, desto genauer die Messung! Offenbarung oder Leitung durch den Heiligen Geist ist dabei die Gewißheit, daß es doch der lebendige Gott ist, dessen Rätselbild in einem Spiegel jetzt unser stückwerkartiges Wissen und Weissagen erschaut. Unser Denken wird oft Schwierigkeiten haben, die Niederschläge der einzelnen Objektivierungen miteinander in Einklang zu bringen. Das Material, mit dem wir arbeiten müssen, ist der endlichen Anschauung entnommen und birgt daher eine reiche Fehlerquelle. Wo ihre logische Durchdenkung auf Widersprüche führt, sind nicht die Objektivierungen schuld, sondern das dogmatische Denken ist dafür verantwortlich zu machen. Die Objektivierungen sind photographische Platten, welche Lichtstrahlen aus der Unendlichkeit aufgenommen haben; am dogmatischen Denken ist es nun, diese Platten zu ge-

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Das dogmatische Denken

brauchsfähiger, d. h. bewußter Klarheit zu entwickeln. Aber wie oft wird eine gute Aufnahme durch falsche Behandlung verdorben! Sittlich minderwertige Objektivierungen sind an sich überhaupt nicht möglich. Die Schuld an allerlei kultischen Ausschweifungen u. dgl. trägt nicht die der betreffenden Gottesidee zu Grunde liegende Objektivierung, sondern vielmehr die daraus gezogene falsche Folgerung. Stellt das Fehlen von höher stehenden Objektivierungen allerdings einen Mangel dar, so wird doch dadurch in keiner Weise der Wert der vorhandenen berührt. Das in uns gelegte Verlangen, aus dem Material der einzelnen Vergegenständlichungen ein der Wahrheit immer näher kommendes Gottesbild zu gewinnen, nötigt uns, die aus den Objektivierungen resultierenden Glaubensbilder zu sichten, zu einander in Beziehung zu bringen und nach Möglichkeit zu reduzieren, so wie zwei aus verschiedenen Richtungen kommende Bahngleise die letzte Strecke nach dem gemeinsamen Ziel hin ineinander einmünden. Unsere Tätigkeit ist demzufolge eine doppelte. Auf der einen Seite hängt die religiöse Lebendigkeit an möglichst zahlreichen und intensiven Objektivierungen; auf der andern Seite dürfen diese Objektivierungen kein Chaos bilden, sondern sollen dazu dienen, von der Gottheit und ihrem Willen ein immer deutlicheres Bild zu gewinnen. Nur langsam und gleichmäßig auf der ganzen Linie kann die Arbeit vor sich gehen. Das wahre Bild der Gottheit liegt innerhalb der Objektivierungen. Immer reiner tritt unter dem Meißel besonnener Theologie aus diesem Marmorblock ihr Antlitz hervor. 3. Endliche Objektivierungen Die Berührungen des Menschen mit dem Absoluten vollziehen sich unmittelbar nur in dem Urgrund der Seele; davon abgesehen wird man bei aufmerksamer Betrachtung stets irgend ein Medium finden, selbst im innigen Gebet, in dem Gefühl des Getragenseins von Gott u. a. m. Irgendwie macht sich unsere zeitlich-irdische Begrenztheit geltend. In der Regel sind wir für unsere Gottesverehrung sogar auf allerlei konkrete Dinge angewiesen, als da sind Gebäude, Bücher, Sakramente, Kultakte; auch besondere Zeiten und Orte gehören hierher. Das angemessene Medium zwischen dem Absoluten und dem Vereinzelten ist die Totalität des Endlichen; jede Auswahl ist eine willkürliche und als solche unstatthaft. Dem Absoluten gegenüber ist keinerlei Beschränkung bzw. Bevorzugung gerechtfertigt; das Absolute hat keine Sonderbeziehungen zu diesem oder jenem Gegenstande. Wir würden also streng genommen genötigt sein, auf die Totalität Bezug zu nehmei>, d. h. alle Zeiten, alle Orte, alle Gegenstände usw.

Die dogmatische Formel

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als heilige mit zu begreifen. Praktisch ist dies nicht möglich; es würde unsere Spannkraft übersteigen. Wir müssen wieder herausgreifen, eine Art Objektivierung eintreten lassen. Wer diesen Schritt ablehnt, weil er an sich nicht zu rechtfertigen ist, kommt deshalb doch noch nicht zu einem Gottesdienst im Geist und in der Wahrheit. Eine derartige vermeintliche Frömmigkeit höheren Grades verflüchtigt sich mehr und mehr ins Wesenslose und würde in ihrer Konsequenz zu völliger Gottlosigkeit führen. Es ist die Krankheitserscheinung einer religiösen Hysterie. Die meisten praktischen Schwierigkeiten, die von Menschen erhoben werden, gehen tatsächlich auf diese Wurzel zurück. Selbstverständlich muß man sich aber die mit diesen endlichen Objektivierungen — so wollen wir sie nennen — begangene Inkonsequenz stets vor Augen halten. Die vielen quälenden und ärgerlichen Fragen des praktischen religiösen Lebens, die verdrießlichen Kompromisse im Kirchentum lassen sich nicht nach der pathetischen Formel „alles oder nichts" lösen. Es gehört dies alles zu dem Seufzen der Kreatur unter der Vergänglichkeit (Endlichkeit). Im Unterschied von den echten Objektivierungen vollziehen sich die endlichen abhängig von unserem Willen im vollen Licht des Bewußtseins. Freilich werden sie in der Mehrzahl der Fälle ihren spontanen Ursprung kaum mehr erkennen lassen; gewöhnlich liegt ein Angebot vor, das teils auf uraltem Menschheitsbrauch (Gebetshandlung, Tempel u. dgl.), teils auf geschichtlicher Einsetzung der betreffenden positiven Religion (Heilige Schriften, Sakramente u. dgl.), teils auf Erziehung und Umgebung beruht. Ein solches Angebot wird dann meist ohne innere Nachschöpfung einfach übernommen. Das Ergebnis einer echten Objektivierung des Absoluten ist immer noch nichts Endliches, sondern eine Idee, die auch selbst wieder Gegenstand neuer abgeleiteter Objektivierungen werden kann; eine endliche Objektivierung betrifft dagegen ein Vereinzeltes. 4. Die dogmatische Formel Die Objektivierung bedeutet eigenes Erleben. Wie sie geheimnisvoll aus den Tiefen der Ewigkeit aufrauscht, so versinkt sie auch wieder; sie läßt sich in kein irdisches Gefäß pressen. Wir haben weder den Zeitpunkt ihres Eintretens noch den ihres Erlöschens in der Gewalt. Sie quillt aus der Tiefe empor, und unser Bewußtsein bemüht sich, die Schätze, die sie heraufspült, zu bergen und in dogmatischen Formeln zu konservieren. Nur auf diese Weise erhebt sich die Religion über einen dunklen Drang zu bewußter Klarheit; nur auf diese Weise ist Gemeinschaft möglich. Die dogmatische Formel ist das Festhalten der Idee in der Erinnerung. 5

K l a m r o t h , Lutherischer Glaube i m D e n k e n der G e g e n w a r t

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Das dogmatische Denken

Wie soll man nun die erstarrte Formel beurteilen, wenn die ursprüngliche Kraft, die zu ihrer Bildung führte, erloschen ist ? Gewiß bildet solche Form eine Gefahr, da sie leicht für das echte Leben genommen wird; trotzdem behält sie auch getrennt von ihrer Quelle ihren Wert. Wir sahen, daß sich der religiöse Vorgang in der Richtung aus der Ewigkeit in die Zeit abspielt; wie oft sind wir aber genötigt, mühsam zu versuchen, den umgekehrten Weg zu gehen, bis wir beschwörend an dem Born der Tiefe stehen! Zur ernsten Einstellung gehört die Versenkung in den Gedankeninhalt der Objektivierung; sie ist um so leichter möglich, je klarer dieser Inhalt geworden ist. Sodann handelt es sich bei unserem eigenen Erleben fast immer um ein Nachempfinden von dem, was in der Gemeinschaft lebendig ist, und was ein religiöses Genie einst gewonnen hat (revelatio immediata et mediata). Wenn nur tatsächlich nachobjektiviert wird, ist es auch kein Schade. Auch wo ein Bibelwort lebendig wird, handelt es sich um Nachempfindung und damit um Vermittlung durch die Formelsprache. Es müßte denn sein, daß das Wort für den Leser einen besonderen, ursprünglich gar nicht damit verbundenen Sinn annimmt. Jeglicher religiöse Gedankenaustausch, also alle religiöse Anregung kann sich nur in der Formelsprache vollziehen; eine Idee läßt sich nur in solcher Verpackung weitergeben. Gewiß ist diese Anregung um so wirksamer, je deutlicher man dem Vermittler das eigene Erleben anmerkt; aber wer wollte wohl behaupten, daß sie sonst völlig wirkungslos sei! Wirklich originale Objektivierungen sind beim Durchschnittsmenschen sehr selten; am ehesten werden sie bei überwältigenden Eindrücken oder Gebetserfahrungen eintreten. 5. Gefolgerte Dogmen Ein Blick auf die komplizierte Glaubenslehre der christlichen Kirche läßt die einzelnen dogmatischen Aussagen in verschiedener Dignität erscheinen. Articuli fundamentales werden bereits von den Vätern hervorgehoben. Das mutet uns befremdlich an; denn zu welchen Konsequenzen sollte eine Unterscheidung von wichtigen und weniger wichtigen Glaubenssätzen führen ? Unwichtige, unwesentliche Glaubenssätze gibt es nicht. Was zu glauben irrelevant ist, kann nicht Dogma sein. Die wissenschaftliche Glaubenslehre kann nur behaupten oder ablehnen; aber niemals aus weniger wichtigen Sätzen ein System errichten. Ein unterschiedlicher Wert kommt lediglich der Sicherheit des eigenen Urteils zu. Anders ist es um die logische Klassifizierung der dogmatischen Formeln hinsichtlich ihres Zusammenhanges bestellt. Diese berührt ihren Wahrheitswert in keiner Weise; und eine kausale Verknüpfung liegt zweifellos vor. Viele christliche Glaubenssätze lassen sich un-

Gefolgerte Dogmen

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schwer als Folgerungen anderer erkennen. So handelt es sich z. B. bei der Lehre von der Jungfrauengeburt Jesu um den übergeordneten Gedanken seiner Übermenschlichkeit und Reinheit, der durch das historische Faktum sichergestellt werden soll. Die Aufnahme der dogmatischen Formel in das Bekenntnis zeigt, daß man sie zur Durchführung jenes Gedankens für unentbehrlich hielt. An sich wäre es denkbar — ob faktisch möglich, ist eine andere Frage —, daß das christliche Interesse sich auch auf einem anderen Wege sicherstellen ließe. Die gefolgerten Glaubenssätze stehen miteinander vorwärts und rückwärts in Zusammenhang. Wie der Satz von der Jungfrauengeburt die Lehre von der unbefleckten Empfängnis der Maria nach sich gezogen hat, wobei das Ende der Reihe bekanntlich noch nicht erreicht ist, so wäre andererseits zu fragen, ob nicht der Gedanke der Übermenschlichkeit und Reinheit Jesu seinerseits wieder nur Folgerung eines primären Dogmas sei. Es wäre lehrreich, einen Dogmenstammbaum aufzustellen und womöglich zu einem Urdogma, von dem alle anderen ausgehen, vorzudringen. Jedenfalls wird bei einer dogmatischen Aussage zu prüfen sein, ob sie sich vielleicht einer anderen logisch unterordnen läßt. Ein gesundes Empfinden wird die Tendenz verfolgen, den Dogmenkomplex möglichst zu vereinfachen. Eine Reduzierung kann und muß überall da eintreten, wo der einem Dogma zugrunde liegende Gedanke sich in anderer Weise einfacher zum Ausdruck bringen läßt. Auch ein von der Kritik durchaus anerkanntes historisches Faktum kann als Glaubenssatz entbehrlich sein. Was Glaubenssatz ist, muß den Anspruch auf Wahrheit erheben; aber es muß nicht umgekehrt alles, was diesen Anspruch erhebt, Glaubenssatz sein. Nur was einem zwingenden religiösen Bedürfnis entspricht, hat Raum im Bekenntnis der Kirche. Ein Überhandnehmen der gefolgerten Dogmen zersplittert und verdunkelt das primäre Dogma. Ganz vermeiden läßt sich diese Zersplitterung freilich nicht. Wenn nach unserer Definition ein Dogma überall da entsteht und notwendig wird, wo der Mensch eine Berührung des Ewigen mit dem Zeitlichen erfährt, (S. 21), so kann man leicht ermessen, wieviele solcher Berührungspunkte, also Dogmen, für den Offenbarungsgläubigen eine Heilsgeschichte ergibt. Naheliegende Analogien mit ähnlichen Vorgängen im Menschenleben oder in der Geschichte machen die Abwehr falscher Schlüsse durch dogmatische Aufstellungen nötig oder schärfen den Blick für noch bestehende Lücken im System. Dann tritt ein gefolgertes Dogma vor die Bresche, um sozusagen das Vorgelände zu sichern. Unter Umständen will dann aber auch dieses wieder durch Vorposten gesichert werden. Man denke sich einmal dieses Verfahren mit restloser Konsequenz durchgeführt! Da sämtliche Daten der Welt miteinander in Beziehung

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Das dogmatische Denken

stehen, würde ein lückenloses System sie schließlich alle berücksichtigen müssen. Eine Dogmatik von einem höheren Geist geschrieben würde demnach die Gesamtheit der irdischen und überirdischen Gegebenheiten umfassen und die Notwendigkeit ihrer Zusammenhänge erweisen. Die systematische Bearbeitung des Dogmenstammbaumes kann sich in zwei Richtungen bewegen: Reduktion oder Vervollständigung. Beide Wege würden, bis zu Ende begangen, eine grandiose Einheit ergeben. Leider aber sind sie nur für eine kurze Strecke für uns gangbar. Der Tendenz nach Reduktion bietet bald der Grundsatz Einhalt, daß kein religiöser Wert verloren gehen darf. Unser Abstraktionsvermögen hat seine Grenzen; auch kann sich unser Gefühl von der Wertung des einzelnen an sich nicht ganz frei machen. Auf der anderen Seite gestattet es das religiöse Interesse nicht, den Stammbaum allzuweit abwärts zu verfolgen, weil es in jedem abgeleiteten Gliede immer mittelbarer zum Ausdruck kommt. In den Ausläufern würden wir die religiösen Zusammenhänge nicht mehr auffassen. Beide Verfahren sind an sich sowohl in wissenschaftlicher wie religiöser Hinsicht gleichberechtigt und notwendig; man darf sie beide nicht außer acht lassen. Es sind Kurven, die zunächst auseinander gehen, in der Unendlichkeit aber ineinander einmünden. Dabei ist zu bedenken, daß wir die Wahrheit wohl zu entdecken, aber nicht selbst zu schaffen haben. Das gefolgerte Dogma wird durch Auffindung des übergeordneten Gliedes nicht aufgehoben. Die Sprossen einer Leiter bleiben stehen, auch wenn wir unsern Fuß bereits weiter gesetzt haben; ein anderer wird sie vielleicht in umgekehrter Richtung brauchen. Steht man unten, so sieht man die lange Reihe der Sprossen vor sich; von oben gesehen rückt die erste Sprosse mit allen anderen in eine Linie. Die Strecke, die wir beherrschen können, hängt von unserem wissenschaftlichen und mehr noch von unserem religiösen Fassungsvermögen ab. Bei dem primären Dogma ist der Verstand nur bei der technischen Ausprägung zur dogmatischen Formel in Tätigkeit getreten; das gefolgerte Dogma dagegen ist ausschließlich durch Verstandesoperation zu Wege gebracht worden; und da ist die Möglichkeit eines Irrtums bis in den Ursprung gegeben. Das religiöse Greifvermögen ist verschieden groß. Wer die Verbindlichkeit eines abgeleiteten Dogmas nicht mehr zu fassen vermag, wird dasselbe als solches unbeschadet seines religiösen Besitzstandes ablehnen können. Wer dagegen Einsicht in seinen Zusammenhang gewonnen hat und dennoch ihm die Anerkennung verweigert, wird auch das übergeordnete Dogma nicht völlig sein eigen nennen können.

Historische D o g m e n

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6. Historische Dogmen Besondere Beachtung erheischen die historischen Dogmen, d. h. diejenigen, die im Verlauf der Entstehungsgeschichte einer Offenbarungsreligion sich gebildet haben. Dadurch, daß man einem historischen Vorgang ewige Bedeutung beilegt, wird er zum Dogma erhoben. Das historische Dogma verkörpert eine Idee, wie sie sonst durch echte Objektivierung geboren wird. Als Idee kann es daher nachobjektiviert werden. Das ist auch seitens der ersten gläubigen Zeugen jedesmal geschehen, indem sie entweder von dem Ereignis selbst innerlich gefaßt wurden oder die Deutung ihres Meisters unter dem Eindruck seiner Persönlichkeit annahmen. Die Irrtumslosigkeit einer Objektivierung gilt dabei natürlich nur der Wahrheit der Idee, nicht ihrer Verknüpfung mit dem entsprechenden zeitlichen Vorgang. Dadurch, daß ein solcher Vorgang zu einem bereits bestehenden Bedürfnis das entsprechende Angebot bringt oder aber, daß er ein neues tiefes Bedürfnis weckt, gewinnt er Macht über die Gemüter. Je sporadischer bedeutsame Ereignisse auftreten, desto schwerer gelangen sie zur Anerkennung, desto nachdrücklicher wird diese dann aber auch sein. Andererseits, je mehr anerkannt bedeutsame Fakta sich um einen gemeinsamen Mittelpunkt — eine heilige Stätte, die Geschichte eines Volkes oder besonders einer Einzelperson — gruppiert haben, desto geneigter wird man der Aufnahme eines neuen in diesem Kreise gegenüberstehen. Während das historische Erkennen das Ereignis als neuen Anfang einer religiösen Reihe wertet, weist ihm die dogmatische Betrachtung logisch einen Platz an den Anfängen allen Geschehens an, d. h. sie begreift dasselbe als ewig notwendig. Umgekehrt, alles was als notwendig im großen Zusammenhange begriffen wird, ist damit grundsätzlich in das dogmatische System aufgenommen. Dabei ist noch zu unterscheiden, ob das Ereignis in seiner Sonderart oder nur nach seiner inneren Bedeutung als notwendig behauptet werden soll. Bei dem Satz „gelitten unter Pontio Pilato" richtet sich das Interesse nur auf die Tatsache des Leidens durch Menschenhand; der Name Pilatus soll besagen, daß es eine historische Persönlichkeit gewesen ist, und zwar eine solche, deren zeitliche Stelle uns genau bekannt ist. An sich hätte sie auch einen andern Namen tragen können. Immerhin verraten die speziellen Angaben eine Neigung, die Historisierung des Ewigen soweit wie möglich durchzuführen. Und daß das Ewige Geschichte wird, ist das Herzstück lutherischen Glaubens. In einem höheren Sinne ist natürlich kein Ereignis zufällig und jeglicher dogmatischen Bedeutung bar; denn die Heilsgeschichte ist ja unlöslich in den irdischen Zusammenhang eingebettet. Abermals stehen wir vor zwei Wegen; sollen wir die dogmatische Wertung der

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Historie ausbauen oder reduzieren ? Der erste ist der Weg Roms, der zweite der des Protestantismus. Was uns von einem übertriebenen Ausbau des historischen Dogmennetzes fernhält, ist weniger (wie bei den gefolgerten Dogmen vgl. S. 36.) das erlahmende religiöse Interesse als vielmehr die Furcht vor der mit jedem weiteren Gliede potenzweise steigenden Gefahr des Irrtums. Andererseits verweist das Profanisieren der Offenbarungsgeschichte das Absolute in unerreichbare Ferne. In dieser Richtung muß schließlich das religiöse Interesse gefährdet werden wie das wissenschaftliche in jener; bei den gefolgerten Dogmen war es gerade umgekehrt. Daß überhaupt einem zeitlichen Vorgang oder einem Einzelgegenstande (Person) ewige Bedeutung beigelegt werden kann, beruht auf einer endlichen Objektivierung, indem aus der Fülle der Gegebenheiten eine herausgegriffen wird. Wo aber ein Dogma nicht auf Grund der Deutung einer Tatsächlichkeit, sondern durch freie Konstruktion entsteht, liegt ein gefolgertes Dogma vor, auch wenn es sich um eine historische Aussage handelt. U. a. gehört jede Ergänzung heiliger Geschichte nach Maßgabe vorliegender Weissagungen hierher.

VI. Offenbarung 1. Offenbarungsträger Unter Offenbarung versteht man den Gewinn eines religiösen Wertes infolge einer Manifestation der unsichtbaren Welt. Von einer eigentlichen, d. h. ursprünglichen Offenbarung darf man nur sprechen, wenn es sich dabei um einen neuen Wert handelt. Das Absolute wird vom Endlichen nicht in reiner Gestalt, sondern durch ein Medium vernommen. Dinge oder Ereignisse, die eine Offenbarung vermitteln, gewinnen dadurch größere Bedeutung, als ihnen für gewöhnlich zukommt. Sie werden nicht mehr für sich angeschaut, sondern sind in einen umfassenderen Zusammenhang gestellt. Freilich handelt es sich um eine Objektivierung; es bleibt jedem unbenommen, ihren Standort im endlichen Zusammenhang, der ohnehin daneben bestehen bleibt1), in keiner Weise zu überhöhen. Die Objektivierung läßt das Medium als etwas Besonderes aus seiner Umgebung hervortreten; denn wäre alles Offenbarung, so würde damit die Empirie als solche bezeichnet, m. a. W. die Offenbarung wäre aufgehoben. Jeder beliebige Gegenstand kann zum Mittler einer Offenbarung werden. Ein und dasselbe Mittel wird in ganz verschiedenem Sinne *) „Auch vom Wunder der Offenbarung gilt, daß es die unteren Seinsbereiche nicht aufhebt, sondern einschließt", Emil Brunner, Offenbarung und Vernunft, Zürich 1941, S. 299.

Offenbarungsträger

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gebraucht oder gewertet, sogar innerhalb der gleichen Glaubensgemeinschaft. Wie unterschiedlich ist beispielsweise die Würdigung des Traumes in der Heiligen Schrift! Von welcher Art nun auch das Medium sein mag, es ist natürlich selbst in seiner sublimsten Form als Gleichnis oder Bildwort seinem Gegenstande niemals adäquat. Doch hängt die Höhenlage der Religion nicht von seiner Dignität ab, sondern von der beherrschenden Idee, die alle Offenbarungen in ihrem Bereich zusammenfaßt. So schenkt die Natur in den einzelnen Religionen an Offenbarungen das, was der leitenden Idee derselben entspricht. Man gewinnt aus ihr vertieft und gewissermaßen illustriert wieder, was man zuvor unbewußt in sie hineingelegt hat. In gleicher Weise bilden Geschichte, Gewissen und zur Sitte entwickelte Sittlichkeit einen forttönenden Resonanzboden früherer, übergeordneter Offenbarungen. Auch in höher stehenden Religionen kann sich, etwa bei endlichen Objektivierungen, das letzte Glied der Kette die einfachsten Gegenstände als Medien dienstbar machen. Ursprung und Wesen der niederen Religionsformen sind uns nicht mehr verständlich und innerlich zugänglich. Wir können nicht mehr zu der Idee ihrer primären Objektivierung vorstoßen. Gewiß hat eine solche anfangs bestanden und ist vielleicht tiefer empfunden worden, als wir heute ahnen. Dann aber ist sie immer mehr zurückgetreten und mag schließlich ganz vergessen sein. Wie menschliche Ungeduld den Willen der überirdischen Macht durch Zauber zu beeinflussen und zu lenken suchte, so strebte sie die Ausbildung einer Technik der Offenbarung an, um auch auf diesem Gebiet die Initiative auf die Seite des Menschen zu bringen. Das Orakelwesen wird von rein irdischer Fragestellung beherrscht. Der Fortschritt der Religion besteht darin, daß die Kette der Objektivierungen nach oben hin verlängert wird, indem die bis dahin primäre Objektivierung durch Objektivation einer noch höheren Idee sich zu einer sekundären abwandelt. Hingegen bleibt die Fortsetzung der Kette nach unten hin durch weiteren Ausbau außer Betracht» weil die Höhenlage der Religion dadurch nicht tangiert wird. In der Regel vollzieht sich der Fortschritt nur in allmählicher Klärung in kaum merkbarer, jahrhundertelanger Geistesarbeit. Gewöhnlich muß noch lange Zeit auf die Aufarbeitung des Rückschritts verwandt werden, der nach dem Tode des Stifters unter den Späteren einzutreten pflegt, weil man die dargereichten religiösen Werte nicht in vollem Umfange nachzuobjektivieren imstande ist. Von Offenbarung im Vollsinne sprechen wir dort, wo einer genialen religiösen Persönlichkeit ein sprunghaftes Vorwärtsschieben der primären Objektivierung geschenkt wird. Die von ihr geprägte dogmatische Formel ist für alle Späteren ein religiöses Angebot zum

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Nachobjektivieren. Ob es ihnen möglich ist oder nicht, gilt ihnen als Prüfstein der Echtheit der Offenbarung. Wir unterscheiden Offenbarungen, die lediglich für eine Einzelperson bestimmt sind und für uns höchstens paradigmatisches Interesse haben, von solchen, die die Gesamtheit angehen; ihnen kommt religionsfördernde Bedeutung zu. In der Mitte stehen die Offenbarungen des A. T., die sich auf das Schicksal des Volkes Israel beziehen. Für die damalige Zeit, deren Gesichtskreis im Wesentlichen über die eigene Nation nicht hinaus ging, würden sie den allgemeingültigen, von unserem Standpunkte aus mehr den Einzeloffenbarungen zuzurechnen sein. Die individuelle Offenbarung vermittelt Weisungen für bestimmte Fälle, ohne die prinzipielle Erkenntnis zu berühren. Die Realität solcher Offenbarungen zu bestreiten, liegt weder Grund noch überhaupt Möglichkeit vor, wofern sie nur zur Hebung des religiös-sittlichen Niveaus ihres Empfängers beitragen. Die allgemeingültige Offenbarung verlängert die Kette der religiösen Erkenntnis nach vorn (über das Wirken des H. Geistes in diesem Zusammenhange vgl. cap. XII). Ist der Ertrag lediglich ein gefolgertes Dogma, so kann der Anspruch auf eine Offenbarung im vollen Sinne nicht mehr erhoben werden. Die gesunde fromme Empfindung bleibt demgegenüber kühl; wir sind nicht in der Lage, sogleich nachzuobjektivieren. Eine besondere Stellung nehmen die Berufungsoffenbarungen der Propheten ein. Es gehört hierzu auch das Sendungsbewußtsein religiöser Wegführer wie etwa eines Luther. Es werden hier nicht nur individuelle Weisungen erteilt, sondern es fühlt sich die Gesamtheit angesprochen. Wir lassen die Berufung des Betreffenden auch für uns als eine Offenbarung gelten, weniger um ihrer selbst willen als unter dem Eindruck dessen, was jene Persönlichkeit für unser religiöses Leben bedeutet. Nun sollte man eine Fülle derartiger Offenbarungen erst recht bei Jesus erwarten; auffallenderweise fehlen sie gänzlich. Die sogenannte Berufungsvision gelegentlich der Taufe trägt wie die Donnerstimme bei Johannes (12 38) und ähnlich auch die Verklärungsgeschichte lediglich signifikatorisches Gepräge. Während andere Offenbarungsempfänger das ihnen zuteil Gewordene für sich selbst zu verwerten hatten, kam für Jesus eine Bereicherung seines religiösen Lebens durch die Offenbarung nicht in Frage. Seine Offenbarung erging an andere. Darin liegt der Unterschied zwischen ihm und den Propheten. Seine Schau war reicher, als er sie uns mitgeteilt hat. Aufklärung über einzelne himmlische Dinge lehnte er ab (Joh. 3 12), weil sie unser Verständnis übersteigen würde, d. h. weil wir sie nicht nachobjektivieren könnten. Ein Stück Ewigkeit wandelte durch die Zeit. Die Berührung mit dem Unendlichen im Urgrund seiner Seele vollzog sich

Natürliche und übernatürliche Offenbarung

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unter anderen Bedingungen als bei uns. Man darf annehmen, daß seine Gotteserkenntnis im Wesentlichen eine adäquate war, also nicht unter der Nötigung zum Objektivieren stand. In der Ewigkeit gibt es keine Objektivierung (Heraushebung) und keine Offenbarung mehr1). 2. Natürliche und übernatürliche Offenbarung Innerhalb der Offenbarung scheidet der Christ grundsätzlich zwischen natürlicher und übernatürlicher Offenbarung, wobei unter letzterer die biblische Heilsgeschichte sowie das in der Bibel verkündete Wort Gottes verstanden wird (Offenbarung im eigentlichen Sinne). Die heutige Theologie neigt dazu, der natürlichen Offenbarung jeden Wert abzusprechen, ja sie überhaupt nicht mehr als Offenbarung anzuerkennen. Nach einer langen Zeit der Auslieferung der Theologie an das säkulare Denken ist diese Reaktion verständlich, aber in ihrem Extrem2) nicht zu billigen. Natürliche und übernatürliche Offenbarung stehen sich nicht als ein Entweder — Oder gegenüber. Die natürliche Offenbarung läßt sich auch nicht als eine heilsnotwendige Vorstufe des Christentums verstehen und werten; sie führt allenfalls zu einer Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, aber niemals zum christlichen Glauben. Damit ist nicht gesagt, daß ihr überhaupt jeder religiöse Wert abzusprechen wäre. Ihre Erkenntnisse sind durchaus nicht areligiös oder irreligiös, sondern enthalten religiöse Werte, die im Christentum nicht fehlen dürfen. Wenn diese hier auch auf andere Weise und erschöpfend gewonnen worden sind, so muß doch immer wieder an der Hand des reichen Materials, das die natürliche Offenbarung liefert, nachgeprüft werden, ob kein religiöser Wert übersehen ist. „Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel", sagt der Herr zu Petrus (Matth. 16 n). Er rechnet also mit beiden Offenbarungsarten, wenn er auch über ihren himmelweiten Unterschied keinen Zweifel läßt3). Selbstverständlich lehnt der Christ jeden Versuch ab, die natürliche Offenbarung gewissermaßen als Fundament zu benutzen, um darauf dem Oberbau der übernatürlichen Weissagung ist unter zeitlichem Aspekt Ankündigung von etwas unter gewissen Bedingungen (Wahrsagung hat keine solchen Voraussetzungen) Eintretendem, in der ewigen Schau dagegen Enthüllung von bereits Vorhandenem, vgl. S. 16f. *) „Weiter muß man sich darüber im klaren sein, daß das Reden von Gott in Paradoxien, wie es in der Nachfolge Kierkegaards viele neuere Theologen fordern, auch menschlich bedingtes Reden bleibt und um kein Haar breit die menschliche Möglichkeit überschreitet", Georg Wünsch, Wirklichkeitschristentum. Uber die Möglichkeit einer Theologie des Wirklichen, Tübingen 1932, S. 32 Anm. 8 ) Vgl. den Aufsatz von Georg Wünsch: Über Offenbarung, in Glaube und Ethos, Festschr. f. Prof. D. Wehrung, Stuttgart 1940, S. 107ff.

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Offenbarung seinen Platz anzuweisen. Ebenso wird er seinen Glauben nicht philosophisch unterbauen oder begründen, aber auf eine Auseinandersetzung mit der Philosophie nicht verzichten wollen1). Von der römischen Seite hören wir: „Der eine und wahre Gott . . . kann . . . mittelst der geschaffenen Dinge durch das natürliche Licht der menschlichen Vernunft mit Sicherheit erkannt werden" 2 ). „Die Kirche lehrt also, daß auch der gefallene Mensch mit seinen natürlichen Kräften ohne übernatürliche Gnade Gottes Dasein erkennen und sittlich Gutes tun kann" 3 ). Es ist für den Christen von vitalem Interesse zu verfolgen, wie weit der Mensch von sich aus, auf Grund natürlicher Offenbarung komme, schon um daran die übernatürliche Offenbarung als solche zu erkennen und ihre Wesensart möglichst klar herauszustellen. Barth dagegen erklärt das völlige Desinteressement der deutschen Theologie an der Auseinandersetzung mit anderen Überzeugungen4). Ganz anders Bultmann: „Ich meine, man sollte lieber darüber erschrecken, daß die Philosophie von sich aus schon sieht, was das Neue Testament sagt" 5 ). Das Gewissen ist kein Privileg des Christen, sondern ist wie der Urgrund der Seele allen Menschen gemein. Das wird deutlich genug Rom. 1 isff.; 2 Iii. ausgesprochen. Es bedrückt zu sehen, wie die neuere Theologie dem klaren Wortlaut entgegen in verkrampften Ausdeutungen ihre Position aufrecht zu halten sucht. Man lese nur die Ausführungen von M. H. Soe6) und vergleiche damit die gründliche Exegese von Bultmann 7 ), von dem wir uns gern sagen lassen: aber der Mensch bleibt nicht dabei! und vor allem die sorgfältigen exegetischen Darlegungen von Max Lackmann 8 ). „Die ganze Schöpfung ist gleichsam eine Objektivation Gottes, in der man ihn mit Händen fassen und mit Augen sehen kann" 9 ). Luther faßt das ganze Heilswerk auf als ein exire Gottes10). Er wickelt seine göttliche Herrlichkeit in die Niedrigkeit endlicher Gege1 ) Über Vernunft und Offenbarung in katholischer Sicht vgl. Bernhard Poschmann, a. a. O. S. 86ff. „Gewiß setzt die Gnade die Natur voraus, sie ersetzt die Natur nicht, sondern verklärt sie", Dietrich von Hildebrand, Liturgie und Persönlichkeit, Salzburg 1933, S. 33. 2 ) Michael Schmaus, Kath. Dogmatik I, 3. A , München 1948, S. 159. 3 ) Derselbe, Kath. Dogmatik III, 3. A., München 1951, S. 273. 4 ) Die kirchliche Dogmatik I 1; Die Lehre vom Wort Gottes, München 1932, S. 193f. 6 ) NT. und Mythologie, München 1941, S. 50. •) Christliche Ethik, München 1949, deutsch von Thiemann, S. 24ff., 55f. ') Offenbarung und Heilsgeschehen, München 1941, S. 23f. ') Vom Geheimnis der Schöpfung, Stuttgart 1952. •) Helmuth Thielicke, Tod und Leben, 2. A„ Tübingen 1946, S. 173 zur Stelle. 10 ) Erich Seeberg, Luthers Theologie, S. 155,190, 215.

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benheiten, um auch die Vernunft unter das Kreuz zu stellen. „Hie sieh her, Thoma und Philippe (vgl. Joh. 14 s, 8), hebe unten an und nicht oben"1). Lutherischer Glaube findet seinen vorzüglichen Ausdruck in dem johanneischen: das Wort ward Fleisch. Gerade in dieser Herablassung Gottes wird das Wunder des Evangeliums, die Inkarnation erkannt; in dieser Leutseligkeit wird die wahrhaft göttliche Ehre und Herrlichkeit angebetet und nicht in der kalten, abstrakten Majestät. Das Evangelium überstrahlt alle Rechenkünste der Vernunft, daß das Endliche nicht Träger des Unendlichen, daß die kontingente Geschichte nicht Träger der Offenbarung sein könne, und beendet allen Zweifel im seligen Osterfrieden. 3. Heilige Schrift „Das Studium der Bibel war in der Tat eine der Grundlagen fast aller abendländischen Philosophie bis heute" 2 ). „Es ist in der Tat so: ohne Bibel gleiten wir ins Nichts" 3 ). Wenn die evangelische Kirche allein auf die Heilige Schrift gegründet sein will, so spricht sie damit die Überzeugung aus, daß in der Bibel alles für den Bestand der christlichen Kirche Wesentliche enthalten ist. Piene et sufficienter continet omnia, quae ad fidem et vitam christianam, atque adeo ad aeternae salutis consecutionem scitu sunt necessaria (Quenstedt). Damit wird allen außerbiblischen Überlieferungen und Lehren kirchenbestimmender Einfluß versagt, Um so peinlicher empfinden wir den Mangel einer anerkannten Lehre von der Autorität der Schrift. Nach der Erweichung des altprotestantischen Dogmas von der Verbalinspiration hat keine Theorie sich durchsetzen und für die Gemeinde Bedeutung gewinnen können. Wenn schließlich nur noch eine allgemeine Ehrfurcht vor den kanonischen Schriften übrig bleibt, so läßt sich das für die evangelische Kirche lebenswichtige Formalprinzip nicht mehr aufrecht erhalten. Darum hält allen zugestandenen theoretischen Bedenken zum Trotz die kirchliche und private Frömmigkeit praktisch doch an der Inspirationslehre fest. Sie kann nicht von der göttlichen Autorität des geschriebenen Wortes lassen und begegnet mit instinktiver Scheu allen modernen Theorien, hinter denen sie sich nicht selbst wiedererkennt. Der heute so beliebte Ausdruck „Urkunde der Offenbarung" sagt gar nichts; denn entweder sagt er zu viel, falls er nämlich rein religiös verstanden werden will; soll es sich dagegen um Urkunden im histo!) Scholia in librum genesis 1620, W. A. IX, 406. a ) Karl Jaspers, Der philosophische Glaube, S. 34. 3 ) Derselbe, Rechenschaft und Ausblick, München 1952, S. 260.

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rischen Sinne handeln, sagt der Ausdruck für das Bedürfnis der Gemeinde zu wenig. Wenn der Christ die Bibel als das Wort Gottes bezeichnet, so will er damit bezeugen, daß er in den alten Texten sich jetzt persönlich von Gott angeredet weiß. Bei den alten Propheten steigerte sich die Klarheit des Vernehmens bis zur direkten Rede, die wörtlich weitergegeben werden konnte und auch so weitergegeben werden wollte. Wir aber objektiveren daraus ein Urteil, eine Forderung, ein Quietiv, was es auch sein mag. Heilige Schrift, die Gottes Wort sein soll, tritt mir mit dem Anspruch entgegen, daß ich die in ihr enthaltenen Angebote nachobjektiviere. In dem Maße, in dem mir dies möglich ist, werde ich in ihr Gottes Anrede vernehmen. Würde es sich nur um die beiden Faktoren Heilige Schrift und Einzelseele handeln, wäre der Zirkelschluß unvermeidlich: ich glaube an die Autorität der Bibel, weil ihr Inhalt mit meinem eigenen sittlichreligiösen Empfinden übereinstimmt; und ich halte dieses mein Tun und Denken bestimmende Empfinden für normal, weil es der Bibel entspricht; d. h. Heilige Schrift und persönliche Erfahrung würden sich gegenseitig bedingen. Nun aber ist noch eine dritte Instanz vorhanden, und das ist die Gemeinschaft. Wenn ich dasjenige, was ich in der Heiligen Schrift nicht sogleich nachzuobjektivieren in der Lage bin, nicht einfach als für mich wertlos zurückweise, sondern als mir gestellte religiöse Aufgabe stehen lasse und in Ehren halte, so tue ich dies auf die Autorität der Gemeinschaft hin. Auf dem subjektiven Wege persönlicher Erfahrung kommt niemals Heilige Schrift zustande. Im Grunde dankt der einzelne Christ sein religiöses Leben nicht direkt seiner persönlichen Erfahrung mit der Bibel, sondern der Gemeinschaft, die ihm die Bibel darbietet, oder genauer dem Heiligen Geist, der sowohl den einzelnen erleuchtet als die Gemeinschaft erhält und in alle Wahrheit leitet. Wort Gottes spricht den Menschen an, um nachobjektiviert zu werden. Heilige Schrift als ein dauerndes Wort wartet auf dieses Geschehen; und ist es vollzogen, will sie immer wieder aufs neue nachobjektiviert werden. Heilige Schrift ist daher eine Sammlung von Angeboten; und wenn die evangelische Gemeinde die Bibel als die alleinige Richtschnur des Glaubens betrachtet, so sieht sie in ihr s ä m t l i c h e f ü r die c h r i s t l i c h e G e m e i n d e w e r t v o l l e n A n g e b o t e e n t h a l t e n . Mit dieser Bestimmung ist ihre einzigartige Würde gewährleistet, während für eine freie Fassung der Inspiration voller Spielraum bleibt1). Es fragt sich aber, ob die Behauptung ohne Einschränkung aufrecht erhalten werden kann. Viele Probleme des heutigen GlaubensEine ähnliche Auffassung vertritt Karl Barth, Das christliche Verständnis der Offenbarung, München 1948.

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und Sittenlebens sind in der Bibel entweder gar nicht oder nur ungenügend behandelt. Andererseits haben wieder gerade Einzelfragen aus jener Zeit, die für uns nicht mehr in Betracht kommen, ihre abschließende Erörterung gefunden. Es ist daher in der Bibel die allgemeine Wahrheit und die seelsorgerliche Beratung der Zeitgenossen zu unterscheiden, die uns als Lehrbeispiel dient, wie die allgemeinen Regeln auf den Einzelfall anzuwenden sind. Leider fehlen uns geistgesalbte Persönlichkeiten, die ihre Anwendung auf die Probleme der Jetztzeit überzeugend dartun. Wenn wir also beachten, daß es sich in der Bibel nicht um Kasuistik, sondern um Prinzipien handelt, ist der obige Satz wohl zu halten, zumal eine reine Objektivierung stets nur eine Idee enthält. Damit wird zugleich eine zweite Schwierigkeit berührt. Kaum zwei Menschen werden in ihrer religiösen Wertung übereinstimmen, und ein jeder macht in der Bibel auf Grund seiner persönlichen Erfahrungen Unterschiede. Stellen, die dem einen besonders viel sagen, treten für den anderen mehr zurück. Haben doch auch die Apostel ganz verschiedene Strahlen von der Herrlichkeit des Sohnes aufgefangen, ein jeder nach seiner Auffassungsgabe. Ja sogar ein und dasselbe Wort wird zu verschiedenen Zeiten für mich einen ganz verschiedenen Wert haben; in der Regel wird der Wert wachsen, indem alle früher mit dieser Stelle gemachten Erfahrungen stets aufs neue mit hineinklingen. Es ist aber auch durchaus möglich, daß eine Stelle oder gar ein ganzes Bibelbuch zu Gunsten anderer aus einstiger Bevorzugung wieder zurücktritt. Auch in den verschiedenen Zeitaltern der Kirche ist ein Abwechseln des religiösen Interesses für einzelne Bibelteile zwar nicht grundsätzlich, aber immerhin doch praktisch festzustellen. Wo aber Abschnitte der Bibel dem eigenen sittlich-religiösen Empfinden geradezu widerstreiten und damit auch zu anderen biblischen Grundgedanken in Widerspruch treten, haben wir es mit Vorstufen der endgültigen Offenbarung zu tun, die nunmehr zurückzutreten haben 1 ). Vor allen Dingen ist ein qualitativer Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament festzustellen; denn eine gleiche Wertung beider verträgt sich nicht mit der Absolutheit des Christentums. Es wäre Torheit, bestreiten zu wollen, daß das Wort Gottes auch außerhalb der Bibel in Erscheinung tritt. Niemand wird behaupten Über Luthers Stellung zur H. Schrift gibt Girgensohn eine vorzügliche Informierung (Die Inspiration der H. Schrift, 2. A., Dresden 1926, S. 41f.). Luther übte an einzelnen Stellen freimütige Kritik und hat sich dann doch wieder trotzig auf den Buchstaben versteift. Der pneumatische Sinn der Schrift konnte nur ein einheitlicher sein, und in den einzelnen Teilen der Schrift und an ihren einzelnen Stellen kam er in verschiedener Stärke zum Durchbruch.

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wollen, daß die biblischen Schriftsteller, besonders die Apostel und die alttestamentlichen Propheten es nur beim Schreiben empfangen hätten. Es gilt von allen der christlichen Kirche geschenkten Gnadenmitteln, daß der Herr sich nur insofern an sie gebunden hat, als er hier seine Gnadenwirkung bestimmt zugesagt hat; seiner Allmacht bleibt es aber vorbehalten, unabhängig davon mit dem einzelnen seine besonderen Wege zu gehen. Er nimmt auch ohne Taufe in seine Nachfolge auf, er macht auch ohne H. Abendmahl selig; denn er ist souverän. W i r aber sind an die Gnadenmittel gebunden, wenn wir ihn finden wollen. Es hängt nicht von uns ab, ob uns ein Erlebnis, irgendein gesprochenes Wort zu einem unmittelbaren Gotteswort wird. Alles außerbiblische Gotteswort enthält nur Weisungen für den konkreten Fall und nicht neue Ideen. Und was die natürliche Offenbarung (Schöpfung) an Ideen beschert, ist auch in der Bibel bereits geschaut und ausgesprochen worden. Ebenso wird mit Fug und Recht behauptet werden müssen, daß in dem schriftlichen Zeugnis der Männer der Bibel kein ihnen geschenkter religiöser Wert zu kurz kommt, sofern er für die christliche Gemeinde von Bedeutung ist. Demnach bestätigt sich die oben gewonnene Erkenntnis: Der Kanon ist die Sammlung der für die Gemeinschaft notwendigen Angebote. Die Folgerung ist schwerwiegend: außerhalb des Kanons werden keine für die christliche Gemeinde wertvollen Angebote angetroffen; damit steht und fällt die Autorität der Bibel. Was sonst im Laufe der Zeit etwa als Ergänzung oder gar Vertiefung geboten worden ist, stellt sich regelmäßig, nachdem der erste Rausch verflogen ist, als entweder den biblischen Gedanken nicht gleichwertig oder als erst aus der Bibel geschöpft heraus; nichts dieser Art hat für die Gemeinschaft Bedeutung gewonnen. Auch die Kirchenlieder enthalten keine prinzipiell neuen Gedanken, wenn auch ihre Art und Sprache unter Umständen mehr erbaut als Teile des Kanons. Auch in der entferntesten Zeit wird man nie auf den Gedanken kommen, unser Gesangbuch in den biblischen Kanon aufzunehmen, wie man es einst mit dem Psalter getan hat. Die Psalmen enthalten eben religiös ursprüngliche Gedanken, die Choräle nicht. So ist tatsächlich die Bibel die Mutter aller christlichen Literatur; Gesangbuch, Andachtsbücher, evangelische Schriften und was man sonst noch nennen mag, sie alle danken ihr ihren religiösen Gehalt. Schleiermachers bekanntes Urteil über Heilige Schrift in seinen Reden kann nur von einem Versuch gelten, eine neue Religion zu stiften. Die christliche Gemeinde darf in ihren Kanon nur Schriften aufnehmen, die Neues von Christus bringen. Die neutestamentlichen Schriften bekamen autoritativen Charakter erst dann, als die lebendige Tradition erloschen war und nun tatsächlich ihr Inhalt als etwas Neues, d. h. in diesem Sinne als etwas Ursprüngliches empfunden

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wurde. Das Erfordernis apostolischer Herkunft ist in diesem Sinne zu verstehen. Hätten wir Aufzeichnungen von der Hand Jesu selbst, so würde niemand daran gedacht haben, die neutestamentlichen Schriften zu kanonischer Würde zu erheben. Man würde sie dann von der älteren patirstischen Literatur kaum wesentlich unterscheiden. Keiner der Späteren ist in der Lage, dem apostolischen Zeugnis etwas hinzuzufügen. Das Bekenntnis zur Normativität des Kanons seitens der Gemeinschaft ist gleichbedeutend mit dem Willensentschluß, fernere Offenbarungen nicht mehr anzuerkennen 1 ). Enthusiastische Richtungen von den Montanisten bis zu den Quäkern und modernen Schwarmgeistern verfolgen daher stets eine dem Kanon feindliche Tendenz, da sie in ihm mit Recht eine qualitative Entwertung ihrer eigenen Prophetie erblicken. Die Gemeinschaft bekleidet mit normativer Autorität die ihr letzt erreichbare Quelle. Sie ist älter als ihr Kanon; das biblische Schrifttum setzt sie bereits überall voraus. Wir haben keine direkt an Heiden gerichtete Schrift. Dabei lassen wir uns gern von Eiert sagen, daß die Kirche entweder unter den lebendigen Aposteln oder nach deren Tode unter ihren Schriften stand, aber nie ohne sie, so daß sie das apostolische Zeugnis erst hätte festsetzen müssen; die kirchlichen Kanonsentscheidungen betrafen immer nur die Antilegomena2). Die Bibel ist Gottes Wort als die für die Zeit der Kirche autoritative Offenbarung. Dabei ist der Kanonsbegriff keine echte, sondern eine endliche Objektivierung mit allen Mängeln einer solchen, aber durch nichts zu ersetzen. Er ist ein Grenzbegriff nach außen hin. Im Innern aber leuchtet nicht in bestimmten Worten oder Buchstaben, sondern in fluktuierender Weise hier und dort ein göttliches Angebot auf und weckt und befriedigt alle christlichen Bedürfnisse. Die fließende, spontane Art der Offenbarung in der Schrift entspricht der spontanen Funktion des Urgrundes der Seele; es ist das Geheimnis, wie eine endliche Form unendlichen Inhalt bergen mag. Damit ist das evangelische Formalprinzip aller römischen Eigenmächtigkeit gegenüber in vollem Maße gewahrt. Während das Materialprinzip die Notwendigkeit persönlichen Glaubens, d. h. selbständigen Objektivierens betont, trifft das Formalprinzip die ergänzende Bestimmung, daß die christliche Gemeinde nur in solchen Objektivierungen den ihr eigentümlichen Geist wiederzuerkennen vermag, die ein in der H. Schrift enthaltenes Angebot verursacht hat. l

) „Alle Verkündigung der Gemeinde" bedeutet „keinen Fortschritt oder Zuwachs der in der Schrift enthaltenen Offenbarung", Carl Stange, Dogmatik I, Gütersloh 1927, S. 197. Vgl. dazu die hämische Bemerkung von Georg Koepgen: „Nach Ansicht protestantischer Theologen hat Gott seit 2000 Jahren Publikationsverbot", Lösungen und Erlösung, Krefeld 1948, S. 169. ») Der christliche Glaube. 2. A., Berlin 1942, S. 29ff.

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Religion und Ethik

VII. Religion und Ethik 1. Philosophische und theologische Ethik Es ist eine merkwürdige Erscheinung, daß wir zwei ethische Wissenschaften haben, eine philosophische und eine theologische. Angesichts dieser Tatsache drängt sich die Frage auf: Was ist denn eigentlich Ethik und wie lauten die verschiedenen Antworten, die Theologie und Philosophie darauf geben? 1 ) Die theologische Ethik findet den Adelsbrief des Menschen in Gen. 1 27 und entnimmt der Lehre von der Gottesebenbildlichkeit gleichzeitig Würde und Grenze des Menschen (nur in Gott kann er seine Bestimmung erfüllen). Die philosophische Ethik dagegen muß von vornherein zwischen zwei drohenden Gefahren hindurchsteuern: der Vergottung des Menschen auf der einen Seite (Der Mensch das Maß aller Dinge) und seiner Gleichstellung mit dem Tier auf der andern Seite2). Besteht der Nerv aller theologischen Ethik in ihrer Absolutheit, so ist es nur einem Teil der philosophischen Ethiker möglich gewesen, bis zu einer absoluten ethischen Forderung durchzustoßen. Für die theologische Ethik hat die absolute Verbindlichkeit eine positive und eine negative Seite. Die positive bezieht sich auf ein geistiges Reich, die negative weiß von dem Bösen. Die philosophische Ethik wird es sich gefallen lassen müssen, von theologischer Seite immer wieder an diesen Kriterien gemessen zu werden. Dabei wird die theologische Ethik die gewissenhafte Arbeit der anderen Seite nur mit Gewinn und Dank verfolgen können. Aber es soll sich auch der Philosoph die Auseinandersetzung nicht zu leicht machen (z. B.: Theonomie ist Heteronomie und darum von vornherein abzulehnen 3 ), während doch Gehorsam durchaus auf autonomem Wollen beruhen kann 4 ) oder bei einer Darstellung der Antinomien zwischen Religion und Ethik die Belange der Religion völlig verzeichnen, damit sich dann die Wage von selbst nach der anderen Seite neigt 5 ). Die Ableitung und Einteilung der Ethik bei den Philosophen ist eine mannigfache. Eine zuverlässige Führung durch die „Ethik der Neuzeit" erhalten wir in Th. Litts gleichnamiger Schrift 6 ). Dazu eine eigentümliche theologische Stimme; Dietrich Bonhoeffer erklärt am Eingang seiner Ethik (S. 11): „Die akademische Frage eines ethischen Systems erscheint als die überflüssigste aller Fragen." ») Dazu die Kritik bei Th. Litt, Mensch und Welt, München 1948, S. 2 8 7 - 3 0 4 . 3 ) So etwa Harald Höffding, Ethik, 3. A. der deutschen Ausgabe, Leipzig 1922, S. 12 ff. 4 ) Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik 3. A„ Halle 1927, S. 520. *) Nicolai Hartmann, Ethik, Berlin und Leipzig 1926, S. 810ff. •) München-Berlin 1927.

Philosophische und theologische Ethik

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Heute steht die Ethik der Werte im Vordergrund; aber es ist nahezu unmöglich, eine klare Übersicht zu gewinnen. Man ging nach dem Vorbild Lotzes1) davon aus, daß Gelten etwas völlig anderes sei als die Existenz. Was aber Geltung sei, vermag das Denken nicht aufzuzeigen. Das hat in gründlicher Darlegung Rickert nachgewiesen2). Die Werte sind zwar etwas Objektives, ohne daß sie doch ein reales Sein hätten; alle Weltanschauungen beruhen auf ihnen 3 ); in einer gegen Werte indifferenten Wirklichkeit würde auch jede Erkenntnis ihren Sinn verlieren4). Nach Hugo Münsterberg5) haben wir die letzten Grundlagen nicht in einem metaphysischen Sein, sondern in Willensbestimmungen zu suchen. Es ist weder möglich, die sittlichen Werte zu erschöpfen8) noch sie in ein System zu bringen. Auch über den höchsten Wert gehen die Meinungen auseinander. N. Hartmann bleibt bei einem „Pluralismus der Werte" stehen; ein oberstes Prinzip läßt sich nicht erfassen; das Gute ist von Fall zu Fall ein anderes7). Der Inhalt des Guten läßt sich in keiner Weise allgemein angeben. Entweder wird ein speziellerer Wert substituiert oder das Prinzip wird bloß postuliert, ohne es näher zu bestimmen; man hat wie Piaton einen leeren Begriff gebildet 8 ). Der Zwiespalt zwischen der objektiven Geltung der Werte und der Spontaneität des sich entwickelnden Lebens tritt besonders bei M. Wundt hervor; nur die Phänomenalisten erleichtern der Ethik diesen Druck. Friedrich Nietzsche erklärt ewige Werte für eine haltlose Hypothese; allein in der Nähe Heraklits wird ihm wohl. „Wir konservieren nichts" 9 ). Auf die Frage nach dem höchsten Wert kann es für den religiösen Menschen nur eine Antwort geben. Spranger betont mit Recht, daß die Frage nach der Bestimmung des Menschen durch den Hinweis auf die Mitarbeit am Aufbau einer sittlichen Kultur nicht beantwortet wird. Denn sofort erhebt sich die weitere Frage: und welche Bestimmung hat die Kultur? Dieser Frage gegenüber herrscht Rat1 ) Über die Begründer der Werttheorie vgl. Gerhard H e i n z e l m a n n , D i e erkenntnistheoretische Begründung der Religion, Antrittsvorles., Basel 1915, S. 43. 2

) S y s t e m d. Phil., S. 112ff.

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) D a s e l b s t S. 145, 154. 4 ) Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, S. 730. 5

) Philosophie der Werte, Leipzig 1908.

•) M a x Scheler, D e r Formalismus in der Ethik, S. 514. ') E t h i k , S. 286, 390, 752. 8 ) Derselbe, D e r A u f b a u der realen Welt, 2. A., Meisenheim a. Glan 1949, S. 58. „Die f u n d a m e n t a l e Frage: ,Was ist das Sittlich-Gute?' h a t die traditionelle Ethik eher in ihrer Schärfe zu m e i d e n gesucht, als sie zum Gegenstand thematischen Fragens zu machen", Marcel Reding, Methaphysik der sittlichen Werte, Düsseldorf 1949, S. 20. 4

•) N a c h Alfred v o n Martin, Nietzsche und Burckhardt, 2. A., München 1942, S.58. Kl am r o t h . Lutherischer Glaube im Denken der Gegenwart

Religion and Ethik

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losigkeit1). Der Sinn der Welt ist das Wertbezogene; religiöses Sein ist Bezogenheit auf die Werttotalität, die in einem höchsten Werte gipfelt. „Der Kern der Religiosität muß daher in dem Suchen nach dem höchsten Wert des geistigen Daseins gesehen werden" 2 ). Alle Güter, die eine Religion darbieten kann, sind aus ihrem Gottesbegriff abzuleiten 3 ). Es ist die Eigentümlichkeit des religiösen Wertes, daß der Christ, einmal auf ihn aufmerksam geworden, seinen Mangel nicht ertragen kann, sondern als Schuld ansieht. Während die Kulturethiker den Einzelmenschen gegenüber dem gemeinsam zu erstrebenden Ziel zurücktreten lassen, wird im allgemeinen immer noch die Durchsetzung der Persönlichkeit mit Vorliebe betont. „Die Entwertung des Individuellen ist eine heillose Wertverirrung des Menschen", sagt N. Hartmann 4 ). Am weitesten geht Rickert: „Das höchste ethische Gut oder die denkbar vollkommenste Realisierung des Ethischen finden wir in einer von Pflichtbewußtsein beherrschten freien, autonomen Persönlichkeit" 5 ). Allerdings kann man Personen werte nicht wollen, da eine Person niemals gegenständlich wird6). Die Wertung der Persönlichkeit hat in neuerer Zeit ein neues Reis getrieben, den Holismus. Von dem ehemaligen Präsidenten der südafrikanischen Union Jan Christiaan Smuts7) liegt ein gleichnamiges Werk vor. Ganz neu ist diese Richtung ja eigentlich nicht. Kein Geringerer als Goethe war ihr geistesmächtiger Vertreter und Prophet um die vorige Jahrhundertwende 8 ). Die Problematik der Persönlichkeitswertung liegt in dem Verhältnis des Individuums zur Gesamtheit. Der christliche Glaube stellt den einzelnen weder über noch unter die Gemeinschaft, sondern als lebendiges Glied in sie hinein. Außerhalb des Christentums will das nicht gelingen. In der philosophischen Ethik vereinsamt 9 ) das Jch. Es hat kein im Reichsgedanken begründetes Verhältnis zum Du; der Komplex von Menschen, mit dem es zu tun hat, die Ge1

) Kulturpathologie ? Reden der Universität, Tübingen 1947, S. 26. ) Spranger, Lebensformen, S. 238. 3 ) Karl Girgensohn, Die Religion, ihre psychischen Formen u. ihre Zentralidee, 2. A., Leipzig-Erlangen 1926, S. 194. *) Ethik, S. 686. •) System der Philosophie, S. 342. •) Max Scheeler a. a. O. S. 527. ') Die holistische Welt, deutsche Ausgabe, Berlin 1938. •) Über Rousseau und Schiller in diesem Zusammenhange vgl. Bauchs Ethik, S. 102. •) Über die Individualreligion des vereinsamten Menschen bei Cohen vgl. Karl Bornhausen a. a. O. S. 61 ff. 2

Philosophische und theologische Ethik

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sellschaft oder wie er genannt werden mag, ist keine Gemeinschaft 1 ). Um die eigene sittliche Qualifizierung nicht einzubüßen, bleibt dem Jch. nur der Rückzug auf das Prinzip der Selbstachtung übrig. Soll aber ein solches Prinzip mehr als eine billige Phrase sein, hat es für die Forderungen, die ich an mich selbst zu stellen habe, die Maßstäbe und maßgebenden Werte zu enthalten. Und gerade diese bringt es nicht aus sich selbst hervor, sondern überläßt sie völlig willkürlicher Entlehnung von außen her. Eine Regel wie die: Handle so, daß du vor dir selbst bestehen kannst, besagt nur eine Selbstverständlichkeit: handle richtig. Die entscheidende Frage, ob es eine Norm für mein Gewissen gibt und welche, wird gar nicht berührt. Ein Mensch mit verkümmertem Gewissen ist sehr leicht mit sich zufrieden. Die Selbstachtung ohne inhaltliche Bestimmung bleibt rein formal und kann als ethisches Prinzip nicht gelten. Einen, allerdings vergeblichen Versuch, den einzelnen auf die Gesellschaft sittlich abzustimmen, macht Hans Reiner2). Indem ich meine persönliche Stellungnahme bzw. den sich daraus ergebenden Entschluß anderen „zumute", begebe ich mich jedes inneren Rechtes, nein zu sagen, wenn nun umgekehrt die Gesellschaft die gleiche Zumutung an mich richtet. Meine Zumutung an den anderen ist indessen jeweils eine individuelle und erfolgt nicht aus der Vollmacht erschöpfender Kenntnis der Persönlichkeit des anderen und ihrer Gegebenheiten. Auch kann man nur bei sehr oberflächlichen Ansprüchen die Gesellschaft als eine von sittlichen Bindungen bestimmte ansehen. Die allgemeinen sittlichen Anschauungen sind, soweit sie nicht letztlich vom Christentum herstammen, ganz erheblich verschieden, so daß man gerade heute von sittlicher Ratlosigkeit sprechen muß. Man wird im Gegenteil nur ein solches Handeln sittlich nennen können, das ganz abgesehen von äußerer Zumutung aus dem eigenen Innern heraus erfolgt. Prophetische Persönlichkeiten standen mit ihrer sittlichen Überzeugung und mit ihrem sittlichen Handeln oft ganz allein und ließen sich nicht beirren3). Über die „Gesamtperson" bei M. Scheler vgl. Th. Litt, Ethik der Neuzeit S. 179. 4 ) Der Grund der sittlichen Bindung und das sittlich Gute, Halle 1932, S. öff, 16f. 3 ) Auch Marcel Redings Definitionen eind zu verschwommen, als daß sie zu letzter Klarheit verhelfen könnten: „sittlichgut sind alle jene Akte, die dem Sinn des menschlichen Seins in seiner Gesamtheit entsprechen und diesen Sinn erfüllen; sittlichböse sind jene Akte, die diesem Sinn zuwider laufen, menschliches Dasein zerstören und entwürdigen." Wir möchten ja gerade wissen: was ist denn der Sinn des menschlichen Seins ? Ist das Dasein wirklich das höchste Gut ? Und wonach wird Menschenwürde bestimmt ?

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Religion und Ethik

Wo kein letzter Zweck erkennbar ist, wird alles relativ, und der Nachweis der Verbindlichkeit der ethischen Forderung will nicht gelingen 1 ). Werden die Bestimmungen oder Normen für die Ethik dem Bereich des Endlichen entnommen, so büßt sie zweifellos ihre absolute Verbindlichkeit ein. Mensch und Mitmensch werden bloßes Mittel für einen Zweck, der die Zeitlichkeit nicht überragt. In jedem Falle, ob man die Moral mehr auf soziale oder mehr auf ästhetische Beweggründe aufbaut, liegt das sittliche Ideal noch innerhalb der Endlichkeit. Die inhaltliche Bestimmung, die der Absolutheit der Ethik Rechnung trägt, kann nicht vom Einzelmenschen genommen werden, sondern nur von der Gemeinschaft im idealen Sinne, d. h. vom Reiche Gottes. „Das Suchen (der idealistischen Philosophie) nach einer Materialethik erweist sich als ebenso unvermeidlich wie vergeblich" 2 ). Driesch klagt, daß seit Kant die kritische Ethik sich in ihrem Formalismus immer nur im Kreise dreht 3 ). Johannes Rehmke stellt aller Klugheitsethik, die von erstrebenswerten Gütern redet, die Pflichtethik als die einzig selbstlose gegenüber; nur hier ist das Handeln ein um seiner selbst willen gewolltes. Es ist gewissermaßen ein stellvertretendes Wollen, da es sich in das Bewußtsein des anderen hineinversetzt, sich mit dem anderen eins weiß, d. h. Liebe ist 4 ). Wieder fragen wir vergeblich, wie wir zu dieser Liebe kommen 5 ). Auch für einen Philosophen wie Lao-Tse ist die göttliche Liebe nichts weiter als ein Anthropomorphismus; „Himmel und Erde haben keine menschlichen Gefühle der Liebe. Ihnen sind alle Wesen nur wie stroherne Opferhunde" 6 ). Im übrigen ist „Selbstlosigkeit" ein denkbar unglücklicher Ausdruck; wir wollen in der Liebe nicht entselbsten, sondern Gemeinschaft haben. Daher der Verzicht Grisebachs, die Philosophie könne die ethische Wirklichkeit als Erfahrungswelt nicht begründen, sondern nur als Problem zu erklären versuchen. Alle philosophischen Ethiker *) „Die Ethik de» neuen diesseitigen Menschen, des nur in der irdischen Zeit lebenden, darf nicht zu E n d e denken, damit sie nicht schmilzt und erlahmt und zur Illusion wird", Aloys Wenzl a. a. O. S. 122. 2)

E . Brunner, Religions-Philosophie ev. Theologie, S. 120.

3)

Die sittliche T a t , Leipzig 1927, S. 29.

4)

Ethik als Wissenschaft, Greifswald 1925, S. 10, 26, 29. 5 ) Vgl. dazu die ganze Schwere und Unbegreiflichkeit der göttlichen Vergebung bei Karl Heim, Jesus der Weltvollender. (D. ev. Glaube u. d. Denken d. Gegenwart III,) 3. A „ Hamburg 1952, S. 66. •) Richard Wilhelm, Lao-Tse und der Taoisinus, 2. A., Stuttgart 1948, S. 29.

Philosophische und theologische Ethik

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seien zu Theologen geworden, indem sie ihre Gründe auf mannigfache Weise zu dem Absoluten in Beziehung zu setzen suchten. Es sei keine konkrete Ethik möglich, die dem einzelnen nach der Verzweiflung am Selbst Halt geben könnte; es bliebe nur die eine Aufgabe, alle systematischen Lösungen abzuwehren und das ethische Feld soweit als möglich zu erkunden1). Angesichts solcher trüben Resignation haben sich zu allen Zeiten Stimmen gefunden, die eine Wendung zur Innerlichkeit fordern. „Der Notschrei der heutigen Welt verlangt nicht nach neuen Köpfen, sondern nach neuen Herzen", lesen wir bei Paul Brunton, Der Weg nach innen2), und können uns wohl denken, daß mancher Leser durch die Schilderung ostasiatischer Übung, stille Angel zu werden, mag auch die Tür darin sich bewegen (nach einem Bilde Meister Eckeharts), beeindruckt wird. Schon bei Piaton machte sich das Ethische mit solcher Intensität geltend, daß er vor der letzten, ewigen Wirklichkeit des Daseins zu stehen meinte3). Unter den Vertretern der neueren Existenzphilosophie ist Jaspers derjenige, der bewußt die Immanenz durchbricht und zur Transzendenz vorstößt. Allerdings hat das Transzendente bei ihm noch sehr unbestimmte Konturen. Selbst ein Cohen, der früher alle Religion radikal in der Sittlichkeit hatte aufgehen lassen, kann, um der Ethik Sinn und Zweck zu erhalten, auf den Gottesgedanken nicht mehr verzichten, wenn er bei ihm auch mehr eine regulative Idee, ein gedankliches Postulat bleibt4). Wenden wir uns nunmehr der formalen Ethik zu. Brunner dürfte, wenigstens im allgemeinen, recht behalten, wenn er sagt: Jede philosophische materiale Ethik verhaftet den Menschen an ein Was und degradiert ihn damit vom Selbstzweck zu einem Mittel; die formale dagegen kann nicht angeben, was denn der Mensch eigentlich tun soll5). Der einsame Gipfel in der philosophischen Ethik ist und bleibt der kategorische Imperativ von Immanuel Kant. Fast alle haben an ihm auszusetzen, fast alle streben von ihm fort; aber seine Größe beherrscht die ganze Ebene und sein Schatten holt immer wieder den Wanderer ein. !) Gegenwart, S. 126,199, 206. 2 ) München 1950, S. 189. 3 ) Nach Soe a. a. O. S. 32. *) Vgl. Karl Bornhausen, Das Problem der Wirklichkeit Gottes, ZThK. 1917 S.69. ') Rel.-Phil. ev. Theol. S. 32. Man vergleiche damit den Standpunkt von Jaspers: Die unbedingte Forderung wird einem unmittelbar gewiß und würde durch jeden Nachweis oder jede Erklärung nur vergegenständlicht, Einführung in die Philosophie, Zürich 1960, S. 52ff.

Religion und Ethik

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Nach Scheler kann der Königsberger Philosoph für den ethischen Wert der Liebe kein Verständnis aufbringen, da sich Liebe nicht gebieten läßt 1 ). Werner Gent spricht von einer trostlosen Öde 2 ); und auch Th. Litts Polemik gegen den kategorischen Imperativ 3 ) will nicht überzeugen, ebensowenig die Kritik von Joh. Rehmke4) oder die geistvollen Ausführungen von Albert Schweitzer5). Helmuth Thielicke wirft Kant vor, sein Imperativ gebe keinen Anknüpfungspunkt für Gottes Gebot, weil er erst durch ein Werk des Menschen zustande kommen müsse; da er autonom sein wolle, schirme er den Menschen nicht nur nach unten (Sinnlichkeit), sondern auch nach oben, gegen Gott, ab; denn der Mensch wolle Gottes Gebot erst seiner eigenen Zensur unterwerfen 8 ). Heinrich Vogel lehnt den moralischen Gottesbeweis ab, da er nur als Postulat der praktischen Vernunft erscheine (ist er damit wirklich wertlos geworden ?) und die Grenzen unseres autonomen Denkens bezeichne7). M. Reding macht Kants Formalismus (Kriterium der Allgemeingültigkeit) den Vorwurf, er reiche nicht aus, um eine Mehrzahl von Ethiken zu verhindern; er lasse z. B. Kultur-Ethik und Persönlichkeits-Ethik beide als möglich erscheinen, obwohl sie doch gegensätzlicher Natur sind8). Hier dürfte eine Unscharfe vorliegen. Es ist gerade die Ethik in der „Ethik" Kants, daß sie mehrere „Ethiken" zuläßt; denn es geht ihr nicht um Spielart, Methode und Ausgestaltung, sondern um die Erfassung des eigentlich Ethischen in allen diesen Systemen. Den Kern der Sache trifft m. E. Emil Brunner, wenn er die Frage aufwirft und nach sorgfältiger Prüfung verneint, ob man Kants „Reich der Zwecke" als eine wirkliche Gemeinschaft anzusprechen habe 9 ). Indem man hier zu einem anderen Ergebnis kommt, hat man der Kantischen Position bereits die beherrschende Stellung eingeräumt. Es ist doch durchaus beachtenswert, was Heinrich Rickert über das Verhältnis des einzelnen zur Gesamtheit zu sagen hat: Der allgemein gültige Imperativ schließt das Recht der individuellen Persönlichkeit nicht aus. „Du sollst, wenn du gut handeln willst, durch deine Individualität, an der du stehst, das ausführen, was nur du ausführen kannst, da kein anderer in der überall indi*) -) 3) *) 6 ) •) ') 8 ) »)

Der Formalismus in der Ethik, S. 218. Der sittliche Mensch, Meisenheim 1960, S. 42. Einleitung in die Philosophie, 3. A„ Stuttgart 1949, S. 232ff. Ethik als Wissenschaft, S. 20. Kulturphilosophie II. Kultur u. Ethik, 3. A., München 1929, S. 105,110. Theologische Ethik, Tübingen 1961, S. 542f. Gott in Christo, Berlin 1951, S. 307. A. a. O. S. 42. Der Mensch im Widerspruch, 3. A., Zürich 1941, S. 303 Anm. 1.

Philosophische und theologische Ethik

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viduellen Welt genau dieselbe Aufgabe hat wie du . . . so wird die Ethik .individuell', nicht obwohl, sondern gerade weil sie allgemein gültig sein will" 1 ). Gewöhnlich ist die Grundtatsache aus den Augen gelassen worden, daß die Menschheit keine ungebrochene rationale Größe darstellt, sondern daß ein Riß durch die ganze Welt wie durch den einzelnen Menschen hindurchgeht; die Tatsache des Bösen ist außer Ansatz geblieben. Weder Mythos noch Wissenschaft kann man als Grundlage einer Erneuerung der ethischen Wirklichkeit ansehen, sagt Grisebach; die Ethiker haben immer von dem Guten im Menschen gesprochen; nie war zuerst vom Bösen die Rede. Aber die Natur des Menschen ist nicht gut, sie ist böse2). Kant mit seinem kategorischen Imperativ und seiner Lehre vom radikalen Bösen ist derjenige Philosoph, der dem christlichen Interesse der Absolutheit der ethischen Forderung, und zwar nach der positiven wie negativen Seite hin (vgl. S. 48), am weitesten gerecht wird. So wird man Eduard Spranger nur beipflichten können, der nach der Formel: „suche in dir den höchsten Wert a priori, dessen du dir bewußt werden kannst!" Kant auf den reinen Willen, das gottnahe Gewissen, das reine Herz hinauskommen läßt. Gewiß ist es Kants Meinung, daß im kategorischen Imperativ der Mensch nicht eine übernatürliche Stimme vernimmt, sondern daß die ihm verliehene Vernunft zu ihm spricht 3 ); aber er sieht hierin nicht ein Entweder-Oder, vielmehr eines im andern. „Religion ist Gewissenhaftigkeit"; „Der marternde Vorwurf des Gewissens ist die Stimme Gottes in der praktischen Vernunft" 4 ). Man darf sagen, daß Kant die sogenannte goldene Regel Christi in philosophische Form gebracht hat. Nach Richard Wilhelm5) finden wir sie sowohl in ihrer positiven wie in ihrer negativen Form bereits bei Konfuzius. Der Christ wird sich dessen nur freuen und den großen chinesischen Weisen mit allen edlen Heiden gern in größere Nähe zu Christus bringen im Gedenken an sein Wort: sie sind nicht fern vom Reiche Gottes. 1

) Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, S. 711 f. So wird auch Kant von dem Vorwurf des Formalen nicht getroffen, weil das Formale gerade der Stachel zur Revolution der Denkungsart im Innern meines Wollens sein soll (Karl Jaspers, Rechenschaft und Ausblick, S. 112). 2 ) Gegenwart, S. 123, 467, 469. 3 ) „Der categorische Imperativ setzt nicht eine zu oberst gebietende Substanz voraus, die außer mir wäre, sondern ist ein Gebot oder Verbot meiner eigenen Vernunft", opus post. II, S. 61. *) Opus post. I, S. 81,149. 5 ) Kung-Tse, Leben und Werk, 2. A., Stuttgart 1960, S. 94.

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Religion und Ethik

Anhangsweise sei eine Schrift von Erich Neumann erwähnt. Tiefenpsychologie und neue Ethik 1 ), in der die Ergebnisse der Arbeiten von Freud, Adler, Jung usw. ausgewertet werden sollen. Die alte Ethik kämpft gegen das Böse durch Unterdrückung und Verdrängung; das Böse bleibt dabei im Unterbewußtsein gefährlich bestehen. So entsteht der unbewußte „Schatten" und die „Scheinpersönlichkeit". Da das Böse sich doch nicht liquidieren läßt, ist es besser, man zieht es in die Planung des Ich mit hinein, als daß man es unkontrolliert in den verbotenen Bereich verbannt. Wie soll aber eine Gemeinschaft bestehen, wenn das Böse bei ihren Gliedern in gewissem Maße nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten ist ? In dem Maße, in dem die Philosophie die erstrebte Absolutheit für ihre Ethik im ewigen Zusammenhange sucht, wird sie religiös. Darum wächst die Möglichkeit und Zahl ethischer Systeme mit der Entfernung von einer religiösen Begründung; sie wird geringer, je mehr man sich einer solchen nähert2). In Wahrheit gibt es nur eine Ethik, und das ist die Religion selbst. Denn nur sie gibt uns eine Sinndeutung unserer Existenz, wie wir sie von einer autoritativen Ethik verlangen müssen3). 2. Das Problem einer selbständigen Ethik Wo eine völlig selbständige Ethik vertreten werden soll, wird gewöhnlich eine Abwertung der Religion versucht. Die Ethik erscheint dann als der Zweck der Religion, als der Kern, der sich aus der Schale entwickelt, die nunmehr überflüssig wird. Der wirklich ethische Mensch kann der Religion entraten. Man hat darauf aufmerksam gemacht, daß nicht die Religion, sondern stets die Ethik der Faktor des Fortschritts gewesen sei. Nicht das veränderte Gottesbild habe die Ethik, sondern die verfeinerte Ethik die Gestaltung des Gottesbildes beeinflußt4). Ebenso gut kann nun aber darauf hingewiesen werden, daß die schwerfällige konservative Sitte und damit im Zusammenhange auch die Sittlichkeit in Spannung mit der Verfeinerung des Empfindens gerät. Das letztere als das Unmittelbare verdient allein als religiös bezeichnet 1) Zürich 1949. *) Kurt Stavenhagen (Absolute Stellungnahmen, Erlangen 1925, S. 191) erklärt: „Ethischer Wert und Unwert und religiöser Wert und Unwert haben an sich nichts miteinander zu schaffen." Bezeichnenderweise fährt er fort: „Aber unter bestimmten Umständen" seien Verbindungen zwischen den beiden Wertsphären möglich, wenn die ethischen Gebote als Gottesgebote und die Welt als Gottesschöpfung betrachtet würden. Der Christ fragt sich allerdings, wie man beides anders betrachten sollte. ») E . Brunner, Glaube und Forschung, Zürich 1943, S. 9 , 1 2 . 4 ) Oesterreich, Einführung in die Religionspsycliologie 1917.

Das Problem einer selbständigen Ethik

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zu werden. Es ist die gemeinsame Wurzel sowohl für die dogmatische Ausgestaltung des Gottesbildes als auch für die Ausprägung der jeweiligen Sittlichkeit1). Das sittliche Handeln umfaßt die gesamte religiöse Betätigung. Ihre ersten Fasern liegen im Glauben, wo die Objektivierungen bewußt verarbeitet werden, und ihre Zweige erstrecken sich in die ethische Gewöhnung und finden erst am reflexionslosen Tun ihre Grenze. Umgekehrt wird immer wieder der Versuch gemacht, für die Religion ein selbständiges Gebiet abzugrenzen. Die Beweggründe können gerade entgegengesetzt sein; entweder meint man nur auf diesem Wege ihre Würde behaupten zu können, oder man bemüht sich umgekehrt, sie als einen Fremdkörper von der Ethik auszuscheiden. So ist darauf hingewiesen worden, daß die Religion der Primitiven aus dunklen Anfängen hervorgegangen und zunächst noch jeglicher ethischen Bezogenheit bar gewesen sei2). Damit wäre zwar die Unabhängigkeit der Religion von der Ethik erwiesen, andererseits aber auch die Möglichkeit gegeben, nunmehr eine Ethik unabhängig von religiöser Bevormundung aufzubauen. Allein in dem Maße, als bei dem Primitiven wahre Religion vorhanden ist, enthält sie auch ethische Werte, die natürlich nicht nach einem artfremden Maßstab gemessen werden dürfen. Die Schärfe des Gegensatzes der einzelnen Religionen beruht tatsächlich nicht auf der verschiedenen historisch motivierten Dogmatik, sondern auf den programmatisch verschiedenen Wesensarten ihrer Gottheiten, d. h. die Kluft ist eine ethische. Wie tolerant waren z. B. die Gottheiten des altorientalischen Kulturkreises untereinander, weil sie sich kaum mehr als dem Namen nach von einander unterschieden ! Man kann natürlich über das, was man als religiös begreifen will, ebenso verschiedener Meinung sein wie über das, was man unter Sittlichkeit versteht; in beiden Fällen sind scharfe Grenzen schwer zu ziehen. Willy Hellpach vertritt z. B. die Ansicht, daß es Götter ohne eigentliche Religion geben könne. Dazu rechnet er u. a. die homerische Götterwelt. Erst das Ethos schaffe wirkliche Religion3). „Kein Numen ist an sich schon Religion, und kein Ethos ist an sich 1 ) ,,Es muß angenommen werden, daß schon in der Seele des primitivsten Menschen, wenn er ein Verhalten mit dem Akzent des Sittlichen auszeichnete, dabei das Bewußtsein einer transzendenten Bindung mitschwang", E. Spranger, Kulturpathologie, S. 33. 2 ) Vgl. Waitz-Gerland, Anthropologie der Naturvölker I, S. 323, vgl. dagegen Fr. Brunstäd, Die Idee der Religion, Halle 1922, S. 23, 26 über die starken ethischen Instinkte im Ahnenkult. ') Grundriß der Religionspsychologie, Stuttgart 1951, S. 44ff.

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Religion und Ethik

je Religion." „Erst wo Numen mit Ethos oder Ethos mit Numen sich sättigt, dort erfüllt sich das Wesentliche aller Religion; und diese Synthesis gilt für jede Religion, die wir auf Erden kennen" 1 ). „Zum Wesen der Religion gehört das Ethos aber ohne Frage nicht", behauptet dagegen Gustav Mensching2). Das primitive Handeln als Antwort auf die Begegnung mit dem Heiligen sei primär kein ethisches, sondern ein kultisch-magisches. Nun definiert Mensching Ethik als das Erfassen von Werten, die mit dem Anspruch absoluter Geltung auftreten, und das geschieht hier tatsächlich, allerdings nach einem Maßstab, der der Höhenlage der Religion entspricht. Es ist eben unter keinen Umständen angängig, eine primitive Religionsstufe mit gereifter Ethik zu konfrontieren. Man darf nicht sagen, daß das für die Religion so wesentliche Erlebnis auf ethischem Gebiet keine Parallele findet, da hier der Mensch höchstens an sich selbst Erfahrungen machen könne; denn das Urphänomen des Sittlichen ist ebenfalls durchaus nicht rational 3 ). Was bedeuten selbst die Erlebnisse der reinen Anbetung, des Überwältigtseins von dem Eindruck der Unendlichkeit, der mystischen Schau, des Geborgenseins im göttlichen Trost und dgl. anderes als das Innewerden der eigenen Zugehörigkeit zu einem großen Zusammenhange, m. a. W. eine neugewonnene oder tiefer fundamentierte ethische Orientierung ? Die Behauptung, Gebet und Kultus, Glaube und Offenbarung, hätten keinen sittlichen Bezug4), führt, wenn man sie ganz ernst nimmt, zu untragbaren Konsequenzen. Alle diese Bereiche hängen aufs engste mit dem Reich Gottes zusammen; will man für sie die ethische Bezogenheit leugnen, muß man dies auch für das Reich Gottes tun, d. h. die Ethik gehört ins Diesseits und nicht in die Ewigkeit. Am eindrucksvollsten hat Rudolf Otto die Ursprünglichkeit des rein religiösen Empfinden vor jeder Verbindung mit ethischen Imperativen vertreten 5 ). Es fragt sich jedoch, ob die reine Empfindung des Numinosen bereits als eine religiöse anzusprechen sei. Mit guten Gründen hat Hellpach gegen Otto geltend gemacht, daß das Schauervolle durchaus nicht nur numinös zu deuten sei; bereits das Gespensterhafte ruft es ebensogut hervor 6 ). Religion setzt, wie schon der Name besagt, eine Beziehung voraus. Gerade diese soll aber nach Otto noch nicht gewesen sein. Wir stehen also unmittel!) a ) 3 ) *) «) *)

Derselbe, Numen und Ethos, Stuttgart 1948, S. 48. Gut und Böse im Glauben der Völker, 2. A„ Stuttgart 1960, S. 24. Vgl. Wobbermin, Wesen der Religion, 2. A., Leipzig 1925, S. 238). So Bernhard Haering, a. a. O. S. 46. Das Heilige, 28. A„ München 1948. Numen u. Ethos. S. 18.

Abgrenzungsversuche zwischen Religion und Ethik

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bar vor der Grenze der Religion. In dem Augenblick, da wir sie überschreiten, da nun von Religion gesprochen werden darf, ist auch das ethische Moment gegeben. Bereits das mysterium tremendum läßt es mitschwingen. Gewöhnlich wächst der Mensch unmerklich durch Erziehung in den religiös-sittlichen Zusammenhang hinein. Der Eindruck des Numinosen ist ein Sonderfall, da der Anbruch einer neuen religiösen Entwicklung infolge einer zeitlichen Gemütsbewegung spürbar wird. Es braucht sich durchaus nicht um den ersten Anfang des religiösen Lebens überhaupt zu handeln; wiederholte Steigerungen im späteren Verlauf können, wo sie abrupt einsetzen, durch den Einbruch des Numinosen ausgelöst sein. Das mysterium tremendum ist das Aufmerksamwerden; ein Schreck durchzuckt mich: hier ist etwas, das du noch nicht oder nicht ausreichend in deine Lebensrechnung eingestellt hast; wie kann ich ein Verhältnis dazu gewinnen ? Das mysterium fascinosum läßt bereits einen gewissen Zusammenhang, ein Einbezogensein oder Einbezogenwerden in die Sphäre des Göttlichen erahnen und leitet damit zu einem bewußten Grenzübertritt über. Auch Schleiermacher betont in den Reden sehr stark die Selbständigkeit der Religion gegenüber Metaphysik und Ethik, weil er sich sonst immer nur eine Abhängigkeit der Religion von der Ethik denken kann, entweder direkt als ihre Folge oder als eine Entwicklungsvorstufe. Er fixiert wie Otto einen Grenzzustand; Religion will erst werden, und ist sie da, schließt sie bereits Ethik in sich ein. 3. Abgrenzungsversuche zwischen Religion und Ethik In früheren Zeiten hat man, abgesehen von einzelnen ethischen Monographien, die sittlichen Fragen im Zusammenhang der Glaubenslehre behandelt, so Thomas von Aquino, der große Ethiker, in seiner Summa, so Melanchthon in seinen Locis. Georg Calixt war es, der, obwohl noch im Anschluß an die Dogmatik, eine selbständige Behandlung der Ethik, zugleich in Sonderung von der philosophischen Moral, in seiner Epitome theologiae moralis, Helmstädt 1634 inaugurierte (unvollendet). Hier mag man den letzten Grund für E.Brunners Klage finden, seit der Reformationszeit sei keine einzige Ethik vom Zentrum evangelischen Glaubens aus entworfen 1 ). Gewöhnlich sieht man in der Religion ein Gefühl und in der Ethik ein Handeln 2 ), so daß sich beide zueinander verhielten wie l

) Gebot und Ordnungen, Tübingen 1932, Vorwort VI. •) „Christliche Ethik ist die Wissenschaft von dem durch das göttliche Handeln bestimmten menschlichen Handeln", E. Brunner, Gebot und Ordnungen, S. 73.

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Religion und Ethik

Theorie und Praxis. Es steht natürlich frei, das auf das Absolute gerichtete Gefühl Religion und das im Blick auf das Absolute bestimmte Handeln Ethik zu nennen; nur muß man dann konsequent aus der Religion alles Handeln verbannen und dementsprechend die Ethik im Tatvollzug sehen und alles Grundsätzliche der Religion zuweisen. Aber weder das eine noch das andere läßt sich ernstlich durchführen. Bei der Ethik wird dies ganz deutlich in Fällen, da der Mensch an jeder äußeren Aktivität gehindert ist und dennoch in seiner Gesinnung der ethischen Beurteilung unterliegt, wie denn in der Tat das Menschenleben, soweit es ein bewußtes ist, keinen Augenblick der ethischen Beurteilung sich entziehen kann. Andererseits enthält jede Gesinnung als solche bereits eine gewisse Aktivität. Wollte man aber in der Ethik eine reine Gesinnung von einer aktiven unterscheiden, so müßte man dies auch bei der Religion tun; und was sollte wohl eine religiöse Gesinnung neben einer ethischen und eine religiöse Aktivität neben einer ethischen Aktivität! Mit der Beziehung des Menschen zum Unendlichen ist eine Spannung gesetzt, aus der die Aktivität resultiert. Man müßte sonst den Gipfel aller Religion in der Kontemplation erblicken, die in dem vollständigen Aufgehen des Frommen in der Gottheit nicht nur alle Beziehungen zur Welt, sondern auch zu Gott aufhebt. Der Glaube ist aber eine Tat im eminenten Sinne, ja die gewaltigste Tat, zu der ein Mensch fähig ist (ein „lebendig geschäftig tätig mächtig Ding", Luther, Vorrede zum Römerbrief). Erschöpfte sich die Ethik im äußeren Tun 1 ), würde sich die Religion auf das Ewige und die Ethik auf das Zeitliche (angewandte Religion) richten und mit dem Eintritt in die Ewigkeit aufhören. Damit würde die Ethik ihres Ewigkeitsgehaltes und Ewigkeitswertes entkleidet und Gott könnte nicht der sittlich Gute sein. Ebenso abwegig ist die Abgrenzung von Religion und Ethik als Verhältnis des Menschen zu Gott und zum Mitmenschen 2 ). Die Unhaltbarkeit einer Position leuchtet ein, der zufolge mein Denken, Fühlen und Wollen erst dann der sittlichen Beurteilung unterliegt, wenn ich auf einen Mitmenschen treffe. Erst recht läßt sich die Beziehung des Christen zu seinem Nächsten anders als vom Glauben x ) In seiner Religionsphilosophie (II. Bd. System der Religionsphilosophie, Essen und Freiburg i. Br. 1948, S. 47) behauptet Joh. Hessen, Sittlichkeit und Religion könnten deshalb nicht identisch sein, weil das Gute als idealer Wert erst verwirklicht werden soll, Gott aber an sich besteht. Offenbar liegt hier ein Trugschluß vor. Ebensowenig wie Gott erst durch unsere religiöse Betätigung zustande kommt, kommt das sittliche Ideal erst durch unsere ethische Betätigung zustande. Beide Betätigungen unsererseits, sowohl die religiöse wie die sittliche, sind in gleicher Weise unvollkommen. ') So auch Carl Stange in seiner Dogmatik.

Abgrenzungsversuche zwischen Religion und Ethik

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her gestaltet nicht denken. Zu den beiden Faktoren: Gott und die Seele tritt stets als dritter: der Nächste bzw. die Gemeinschaft. Gewiß gründet sich die Liebe zu den Menschen auf die Liebe zu Gott und nicht umgekehrt diese auf jene 1 ); aber es wäre eine petitio principii, wollte man dabei voraussetzen, daß die Liebe zu Gott mit ethischen Werten nichts zu schaffen habe. Nach dem Neuen Testament gibt es jetzt keine Gottesliebe mehr am Menschen vorbei, und keine Menschenliebe an Gott vorbei 2 ). Die Philosophie „glaubt keine Liebe zu Gott, die nicht als Liebe zu einzelnen Menschen sich ausdrückt, keine Versenkung ins Jenseits, die nicht als Gestaltung der eigenen Welt sich erfüllt" 3 ). Wesentlich tiefer schürft die Teilung: Verhältnis Gottes zum Menschen und Verhältnis des Menschen zu Gott; doch auch sie löst die Schwierigkeit nicht. Denn das Grundmoment der Religion ist das religiöse Bedürfnis des Menschen, das Charakteristikum der christlichen Ethik die Einwohnung Gottes im Menschen. Eher könnte man Religion und Ethik als Kraftschöpfen und Kraftbewähren wie Nahrungsaufnahme und Arbeit gegenüberstellen; indessen würde dann jeder Glaubensheroismus unter die Ethik fallen und die Stärkung, die eine siegreich bestandene Versuchung verleiht, unter die Religion. Das Schema: Handeln Gottes und Handeln des Menschen stellt vor eine prekäre und im Grunde unlösbare Aufgabe; denn wie könnte die Grenze zwischen einem endlichen und dem unendlichen Faktor bestimmt werden! Die christliche Ethik weiß nun einmal von einem Handeln Gottes durch seinen Geist; und der christliche Glaube wird sich niemals auf die fides quae creditur beschränken lassen. In der Schleiermacherschen Unterscheidung der „Glaubenslehre, die das christliche Selbstbewußtsein in seiner relativen Ruhe" und der „Sittenlehre, die es in seiner relativen Bewegung auffaßt", soll das Wörtchen „relativ" die innere Unmöglichkeit eines grundsätzlichen Unterschiedes notdürftig verhüllen. So gewiß Glaube und Ethik niemals aussetzende Bestimmtheiten des christlichen Gemüts sind, kommt ihnen beiden sowohl Bewegung als auch Ruhe zu. Die berühmten Fragen „Was muß sein, weil die religiöse Form des Selbstbewußtseins, der religiöse Gemütszustand ist?" und „Was muß werden, weil das religiöse Selbstbewußtsein ist?" lassen sich schon deswegen nicht als Scheidungsmaßstab durchführen, weil zur Dogmatik das Lehrstück von den letzten Dingen gehört, die noch werden sollen, und weil ferner die Tätigkeit des Heiligen Geistes als Glaubensx

) Wobbermin über das Doppelgebot der Liebe in: Wesen des Christentums, Leipzig 1926, S. 247. 2 ) E. Brunner, Gebot und Ordnungen S. 42, ähnlich Wilhelm Wundt, Ethik III, Stuttgart 1912, S. 154f. 3 ) Karl Jaspers, Philosophie S. 298.

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Religion und Ethik

artikel nicht einfach der Ethik zu überweisen ist, wie andererseits die Ethik die Anthropologie als etwas bereits Gewordenes zu behandeln hat. Die Auffassung der Glaubenslehre als einer Darstellung lediglich schon geschehener Dinge bedroht die Lebendigkeit der christlichen Religion und gestaltet sie zu einem trockenen Historismus. Die Auffassung der Ethik als einer Darstellung lediglich noch zu geschehender Dinge erschwert den Einblick in den inneren Grund aller Sittlichkeit und ist in Gefahr, sie in trockenen Moralismus aufzulösen. So führt denn auch der Trennungsstrich, den Paul Althaus in seinem Grundriß der Ethik 1 ) zieht: die Dogmatik handelt „von dem Christenstande, sofern er uns gegeben, die Ethik, sofern er uns aufgegeben ist", nicht über Schleiermacher hinaus. Das gleiche gilt von Vogels Charakterisierung von Dogmatik und Ethik als Indikativen und Imperativen, obwohl er doch beide selbst als Gehorsam wertet 2 ). 4. Identität von Religion und Ethik Wie wir sahen, läßt sich Aktivität weder von der Religion noch von der Ethik trennen. Das gleiche gilt von der Gesinnung. Nicht die äußere Tat an sich, sondern die ihr zu Grunde liegende Gesinnung macht nach evangelischer Erkenntnis das Handeln zu einem ethischen. Paulus erklärt alles, was nicht aus dem Glauben kommt, d. h. alles, was nicht dem religiösen Gesichtspunkt unterliegt, für Sünde. Umgekehrt ist „Unglaube" nicht Bezweiflung oder Ablehnung irgendeiner Lehre von Gott, sondern selbstgewollte Auflehnung wider die Einwirkung Gottes3). Erst im Glauben, d. h. durch das Hineinrücken in die religiöse Betrachtungsweise wird die Sünde als das Böse überhaupt sichtbar; ohne Religion gibt es demnach keine wahre Ethik und Verständnis von gut und böse. Die Glaubensüberzeugung ist das Herz der Ethik; wir haben nicht ethische Kenntnisse, sondern ethische Überzeugungen. Darum läßt sich eine bestimmte Ethik dem Menschen nicht andemonstrieren, sondern sie ist Glaubenssache genau wie die Religion. Sittlich sein heißt Gott schauen. Sittlichkeit ist Gottesdienst; es gibt keinen anderen und auch keine andere Sittlichkeit. Mithin wird die Verhältnisbestimmung zur Religion immer schwieriger; beides ist Gesinnung. Ethisch handeln bedeutet nicht willkürlich, sondern nach einem gegebenen, verpflichtenden Zweckgedanken handeln. Wer sittlich handelt, ordnet sich damit einem großen zweckvollen Zusammenhange ein4). J e höher dieser steht, 2 ) Gott in Christo, S. 94f. !) Erlangen 1931, S. 9. ) Reinhold Seeberg, Christliche Dogmatik 1924/26, S. 494f. ') Vgl. die ethische Würdigung Friedrich d. Gr. durch E. Spranger, Die Magie der Seele, 2. A., Tübingen 1949, S. 19. s

Identität von Religion und Ethik

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désto höher steht die Ethik. Wahre Sittlichkeit ist Theonomie. Reine Autonomie würde aus dem Gesamtzweck entfallen und als Vereinzelung böse sein. In der Zeit, die alles vereinzelt, erweist sich das Ethische als Sammlung, als Arbeit in und an der Gemeinschaft, das Nichtethische als Zerstreuung, d. h. Zwecklosigkeit. Die allgemeine Reaktion des Gewissens, von der wir S. 58 sprachen, hat zum mindesten einen höheren Zusammenhang aller Anständigen im Auge, wenn das Reich Gottes auch noch nicht im Blickfeld liegt. Das Gewissen mahnt, in dem jeweils als höchst erkannten Zusammenhang zu bleiben; das christliche Gewissen mahnt zum Bleiben im Reiche Gottes. Das ist der Sinn des häufigen und so innigen j ohanneischen ,, Bleibet ! ". Religion und Ethik nehmen unter den geistigen Gegebenheiten eine gesonderte Stellung ein. Sie allein sind'jedem Menschen, soweit er geistig gesund und zu persönlichem Selbstbewußtsein erwacht ist, ohne Unterschied des Alters, des Geschlechts, der Rasse und der Kultur ohne weitere Vorbedingung zugänglich. Fehlen sie, so wird die Menschenwürde in Frage gestellt. Einzigartiger Anspruch und einzigartige Möglichkeit geben ihnen ihre eigentümliche Würde. Sie allein sind absolut. Im Grunde genommen kann daher keines von ihnen auch nur zeitweise auf die völlige Inanspruchnahme des Menschen verzichten, wenn es diesem auch nicht immer zum Bewußtsein kommt. Es war ein Grundfehler, für eines von ihnen oder für beide einen bestimmten Bezirk abzugrenzen; sie beanspruchen den ganzen Menschen, und sie beanspruchen ihn ohne Unterbrechung. Wo man ethische Adiaphora gelten läßt, macht man freilich mit der Absolutheit der Ethik nicht ernst. Wie alles im Leben religiös beurteilt werden will, so kann es auch nichts geben, das nicht dem ethischen Gesichtspunkt unterliegt. „Pausen" auf sittlichem Gebiet (Schleiermacher1) gibt es nicht, so wenig wie es Urlaub von der sittlichen Verpflichtung gibt 2 ). Es ist allzu billig, diese Auffassung durch den angeblichen Augenschein zu widerlegen. Wenn es bei manchen, für unseren Gesichtskreis gar zu geringfügigen Dingen schwer fällt, den sittlichen Aspekt durchzuführen 3 ), so liegt es an unserer mangelhaften Spannkraft, das Hineinragen des Ewigen bis in die feinsten Verästelungen des Endlichen zu verfolgen. x

) Begründung des Erlaubten, 1826. ) Dietrich Bonhoeffer bezeichnet eine Lehre von prinzipiellen Adiaphora als antinomistisch (Ethik S. 273). 3 ) „Ob ihr esset oder trinket oder was ihr tut, alles tut zur Ehre Gottes. Mit der fatalen modernen Phrase, das ganze Leben bis auf Essen und Trinken müsse und könne ein Gottesdienst sein, hat das natürlich nichts zu tun", Karl Barth, Die Auferstehung der Toten, München 1924, S. 28. 2

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Religion und Ethik

Nur wenn man mit der Absolutheit (Ewigkeit) der Lebensaufgabe ernst macht, läßt sich die persönliche Freiheit des Menschen gegenüber dem Evolutionismus behaupten. Nun kann man nicht den Zweck des Lebens in einen absoluten ethischen und in einen absoluten religiösen zerlegen. Religion und Ethik in ihrer reinen, absoluten Form sind also identisch. Zieht man die Ethik von der Religion oder die Religion von der Ethik ab, so bleibt schlechterdings nichts übrig; der angebliche Rest in ersterem Falle ist nicht Religion, sondern Aberglaube, im zweiten Falle nicht Ethik, sondern verkappte Selbstsucht. Einem Erlebnis, dem die ethische Bezogenheit fehlte, müßte auch die Religiosität aberkannt werden. Die Matth. 7 22 erwähnten Personen berufen sich auf allerlei religiöse Erlebnisse; da diese jedoch keine ethischen Früchte zur Folge hatten (vgl. V. 21), spricht Jesus ihnen die religiöse Bezogenheit ab. „Du wirst ebensowenig etwas Menschliches ohne Beziehung auf das Göttliche, als umgekehrt, glücklich zustande bringen" (Mark Aurel)1). Das Auseinanderreißen von Religion und Ethik verunreinigt beide, sagt Karl Heim2). „Religion und Sittlichkeit aber sind identisch, wo der Gott der heiligen Liebe als Grund alles Seins und sein Wille als Norm aller Sittlichkeit erkannt wird" 3 ). „Im Christentum ist man weder als sittlicher Mensch religiös noch als religiöser Mensch sittlich, sondern in christlicher Weise ein neuer Mensch"4). Es tut wohl, wenn Horst Stephan in seiner Glaubenslehre (3. A. S. 19f.) die Trennung der Ethik von der Glaubenslehre nicht aus sachlichen, sondern lediglich aus praktischen Gründen vornimmt. „So weit Religiosität nicht bloß Kontemplation und Spekulation ist, muß sie stets auch Ethik sein. . . . Ethiklose Nur-Religion ist ein Widerspruch in sich. Religiöses Sollen ist stets auch ethisches Sollen", heißt es bei Leopold von Wiese5). Horst Schülke betont in der Einleitung seiner Einführung in die christliche Ethik 6 ) die enge Verbundenheit von Ethik und Dogmatik7). Die gewöhnliche Auffassung dagegen, !) Selbstbetrachtungen III, 13, S. 22. 2 ) Leitfaden der Dogmatik I, 3. A., Halle 1923, S. 61. ») Derselbe II, S. 81ff. 4 ) Hans-Otto Wölber, Dogma und Ethos, Gütersloh 1950, S. 61. 5 ) Ethik in der Schauweise der Wissenschaften vom Menschen und von der 8 Gesellschaft, Bern 1947, S. 100. ) Minden 1952. ') Bei Rudolf Bultmann, Jesus, Berlin 1926, S. 100 lesen wir, daß Jesus keine Tugend-, Güter- und Pflichtenlehre entwickelt habe; Ethik sei nach ihm, in der Entscheidung Gottes stehen. In der Theologie des NT. I, Tübingen 1948, S. 12 heißt es: „Dabei versteht es sich für Jesus von selbst, daß Gott vom Menschen das Tun des Guten fordert, daß die sittliche Forderung die Forderung Gottes ist; insofern bilden auch für ihn Religion und Sittlichkeit eine Einheit."

Identität von Religion und Ethik

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Ethik und Religion zwar als mehr oder weniger verwandt, aber keineswegs als identisch anzusehen, vertritt römischerseits Heinrich Fries 1 ). Israel ahnte wohl diese Identität, besonders in seinen hervorragenden Vertretern, den Propheten. Allein da der beide Seiten umfassende Begriff der Liebe nicht mit voller Klarheit herausgestellt und zur Grundlage gemacht worden war, erfuhr weder die Ethik noch der Gottesbegriff seine Vollendung. Das Bewußtsein eines Mangels, wenn auch nicht direkt ausgesprochen, gehört zu dem Größten bei den Propheten. E s ist gewiß kein Zufall, daß „die Zeit erfüllet war", als die Auseinanderzerrung von Religion und Sittlichkeit in der Geschichte ihren höchstmöglichen Grad erreicht hatte, nämlich im werdenden Talmud. Gott gab die Gebote nicht aus Willkür, sondern um dem Menschen zu dienen, wie ein Vater seine Kinder erzieht. Im Pharisäertum dagegen haben die einzelnen Satzungen keinen sittlichen Eigenwert; sie sind, um mit Kant zu sprechen, „statutarisch"; es hätten an ihrer Stelle ebenso gut ganz andere Festsetzungen getroffen sein können. Jesus vereinigte das widernatürlich und widergöttlich Getrennte durch seine Predigt vom Reich Gottes, in dem die Liebe einziges Gesetz ist. Niemand wird die Frage aufwerfen dürfen, ob dieses Reich der Liebe ein religiöser oder ein ethischer Begriff sei. Beides ist in idealer Weise vereinigt. Glaube kann nicht ohne sittliches Handeln und dieses nicht ohne Glauben sein; sittliches Handeln ist ohne Liebe genau so undenkbar wie Liebe ohne sittliches Handeln. Im Begriff der Liebe liegt bereits etwas ungemein Persönliches, das auf eine letzte persönliche Spitze in Zeit und Ewigkeit hinweist. „Gott ist Liebe" spricht im Grunde ein analytisches Urteil aus; die höchste Liebe und das ewige Sein fällt in eins zusammen. Die johanneische Theologie hat dies am tiefsten verstanden. Licht, Wahrheit 2 ), Leben, Ewigkeit und Gott sind Parallelbegriffe. Bei dem größten Jünger Jesu ist die Identität von Religion und Ethik eine völlige. Wenn auch alle Bestrebungen, Religion und Ethik zu unterscheiden, vergeblich sind, so bleibt doch noch zu erklären, wie überhaupt eine Verschiedenheit dabei ins Auge gefaßt werden konnte. In der Praxis sind sowohl Religion wie Sittlichkeit gewöhnlich mit heterogenen Elementen vermischt und treten daher nach den verschiedensten Seiten auseinander; erst in ihrer reinen Gestalt fallen sie wirklich x ) Die katholische Religionsphilosophie der Gegenwart, Heidelberg • ») Rudolf Bultmann, Theologie des NT. II, 1951, S. 365: Bei .Wahrheit' nicht bloß einen formalen Sinn. Sie ist nicht die durch Jesus Lehre über Gott, sondern die in ihm sich offenbarende, geschehende Gottes selbst."

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K l a m r o t h , Lutherischer Glaube im Denken der Gegenwart

1949, S. 96ffJohannes hat „übermittelte Wirklichkeit

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Religion und Ethik

zusammen. Auf der höchsten Stufe wird auch nach Rudolf Otto die Sünde zum Schlechten und das Schlechte zur Sünde1). Auf geringerer Höhe steht der Christ in einem gewissen Abstand dem Worte Gottes — dem Gesetz sowohl wie dem Evangelium — gegenüber. Da kann man nicht recht von Eingeordnetsein ins Reich Gottes oder Absolutheit der Ethik sprechen. Die Höchststufe erlebt der Christ, wenn er in lebendigem Glauben vor Jesu Christo, der Volloffenbarung Gottes, steht. Hier ist seine Haltung Glaubenshaltung und zugleich wahre Ethik. Vor Jesu ungemeiner Aggressivität kann sich niemand in sittlich unbestimmte mystische Versenkung flüchten. Die Absolutheit der Ethik nötigt den Frommen, die Folgen seines Verhaltens in die Ewigkeit zu projizieren, indem er das gesamte sittliche Handeln als Arbeit am Reiche Gottes wertet, sich vor Gott bis ins einzelste verantwortlich fühlt und mit einem ewigen Gericht rechnet. In der Tat hängen Ethik und Eschatologie aufs engste miteinander zusammen, da dem sittlichen Handeln nur ein religiöser Zweckgedanke zugrunde liegen kann, und andererseits „die letzten Dinge" keinen Weltprozeß beenden, sondern den Abschluß einer vorangegangenen sittlich-religiösen Entwicklung bilden. Um so organischer verbindet sich die Eschatologie mit der Ethik, je höher das sittliche Ideal herausgearbeitet ist. Wo eine Ethik nicht ihre Verwertung bzw. Begründung in organischer Zwecksetzung findet, ist sie von vornherein zur Versandung verurteilt. Die absolute Ethik ist nicht an die Zeit gebunden und endigt nicht mit dem Tode. Ethik-Religion ist eine Tochter der Ewigkeit, ist das einzige, was den Menschen mit ihr verbindet. Sittlichreligiös sein heißt, die Dinge in ihrem ewigen Zusammenhange erfassen, in und aus der Ewigkeit leben. Wo im Protestantismus Ethik und Dogmatik noch nicht konsequent ineinander geordnet sind, muß auch das Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung schwierig werden. Zustimmend zitiert Otto Dilschneider2) Albert Schweitzer3): „In der Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben verhalten sich die Erlösung und die Ethik zu einander wie zwei Straßen, von denen die eine bis zu einer Schlucht und die andere von dieser Schlucht an weiter führt. Es fehlt aber die Brücke, um von der einen auf die andere zu gelangen" . . . „Die Schwierigkeit, mit einer Erlösungslehre, die nicht auf Ethik angelegt ist, Ethik zu verbinden, hat der Protestantismus der Reformatoren und ihrer Epigonen in ihrer ganzen Schwere erfahren." x

) Aufsätze, das Numinose betreifend Nr. 21, Gotha 1923. So läßt auch Max Wundt auf der höchsten Stufe das Gute und die Wahrheit zusammenfallen, während sie in der Endlichkeit noch getrennt sind (Ewigkeit und Endlichkeit, Stuttgart 1937, S. 171). 2 ) Die evangelische Tat, Gütersloh 1940, S. 68. 9) Mystik des Apostels Paulus 1930, S. 216, 287, 382.

Die Absolutheit des Christentums

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5. Die Absolutheit des Christentums Die Identität von Religion und Ethik ist der einzige aber vollgültige Beweis für die Absolutheit des Christentums. Dieser Beweis ist durch den Vergleich mit anderen Religionen nicht zu erbringen1). Man ist dabei trotz des besten Willens zur Objektivität Richter in eigener Sache und muß immer wieder erfahren, daß die anderen unsere Darstellungen ihrer Religionen nicht gelten lassen. Außerdem würde man im besten Falle nur zu einer relativen Überlegenheit des Christentums kommen, während zum Erweis der absoluten Religion dargetan werden muß, daß auch in alle Zukunft eine Höherentwicklung undenkbar ist. Es ist in der dialektischen Schule behauptet worden, daß ein Mensch weder eine andere Religion noch seinen Glaubensstand beurteilen könne. E r brauche nämlich dazu ein Kriterium, einen Maßstab, der unabhängig davon schlechterdings gegeben sei. Wir dürften nichts anderes tun als Zeugnis ablegen. Nun weiß jeder Christ, daß er seit seinen jungen Jahren gereift ist und abgetan hat, was kindisch war. Hier wird offenbar ein Vergleich zwischen zwei religiösen Zuständen gezogen, dem religiösen Befund der Kindheit und dem religiösen Befund jetzt. Selbstverständlich ist das nicht ohne Maßstab möglich. Nun gibt es tatsächlich einen objektiven Maßstab zur Beurteilung der Religion. Dieser Maßstab ist der Grad, in welchem Religion und Sittlichkeit einander zugeordnet werden. Es ist das Kennzeichen der absoluten Religion, daß sie den ganzen Menschen erfaßt. Bleiben Gebiete der Weltanschauung unberührt, so daß sie als neutral anzusehen sind, und bleiben Gebiete der praktischen Lebensführung unbeeinflußt, so kann von absoluter Religion nicht gesprochen werden. Wir haben für das Christentum dargetan, daß es das gesamte Menschenleben in eine einheitliche Zielsetzung bringt, die keine Pausen und Dispensationen gestattet. Eine rein innerweltliche Zielsetzung kann das nicht leisten. Eine Religion steht um so höher, je mehr die Vorstellungen und die sittlichen Impulse ineinander übergehen, bis sie in der absoluten Religion zu einer einheitlichen religiös-sittlichen Überzeugung zusammenfließen. Eine Höherentwicklung darüber hinaus ist nicht denkbar. So erweist sich tatsächlich das Christentum als die absolute Religion. „In keiner anderen Religion ist die Verbindung des religiösen Gedankens mit dem sittlichen Gedanken so durchgeführt wie im Christentum. Es ist ein und derselbe Vorgang, in dem wir die Grundlage aller religiösen Aussagen und zugleich die Maßstäbe aller Lebensgestaltung finden" 2 ). l) a) 5*

Vgl. Walther Köhler, Ernst Troeltsch, S. 86ff. Karl Stange, Die Absolutheit des Christentums, Zschr. syst. Theol. 1923 S. 67.

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Das Böse

VIII. Das Böse 1. Moderne Erklärungen Piaton hatte in dem Bösen eine menschliche Inkonsequenz gesehen und es daher als ein Leiden bezeichnet, da niemand freiwillig sündige1). Demgegenüber bedeutet für den deutschen Idealismus das Böse den notwendigen Gegenpol des Guten (so besonders der realistische Monismus Goethes2) oder geradezu eine Durchgangsstufe zum Fortschritt (Schelling). Auch bei Hegel ist die Sünde im absoluten Prozeß unentbehrlich; aus dem Sündenfall resultiert nicht der Tod, sondern die Unsterblichkeit; denn das Leben ist gleichbedeutend mit Erkenntnis. Der Gesamtaspekt des Idealismus ist durchaus optimistisch; was an Sünde zugegeben werden muß, sucht man in der Leiblichkeit, um den Geist davon unbelastet zu erhalten. Auch bei Leibnitz ist Sünde Unvollkommenheit. Schleiermacher sieht in der Sünde zwar ein Hemmungsmoment der Entwicklung 3 ), aber es bedingt doch andererseits wieder deren Lebendigkeit. Wenn er die Schöpfung der menschlichen Natur erst in der Erlösung sich vollenden läßt, so gibt er damit den Blick auf eine gewaltige aufsteigende Entwicklungslinie frei, wird aber dem Ernst der Sünde schwerlich gerecht. Nach Harald Höffding besteht für den Philosophen die Sünde „darin, daß eines der eigenen Elemente des Lebens sich aus dem Zusammenhange des Lebens lostrennt"; im Folgenden wird dann das Böse als Harmlosigkeit geschildert4). Im großen und ganzen wird Thielicke recht behalten: in der Philosophie gewinnt das Böse eine schöpferische Bedeutung und das Gute hat keinen unbedingten Sinn mehr. Gut und Böse werden entschärft 5 ). Nach W. Guns gehört auch das Böse zum Reich Gottes. Die ganze Botschaft Jesu scheint nur den Zweck zu haben, uns von der Ethik zu erlösen6). Immerhin sagt Kant: „Ein Bettag ist ein ganz überflüssig Ding, welches alle Sonntag abgekanzelt wird und nichts bewirkt. Aber ein Bußtag kraftvoll und seeleneindringend vorgetragen ist ein wahrer Julius Müller, Die christl. Lehre von der Sünde, G. A., Stuttgart 1877, S. 266. ) Über Goethes Einstellung spricht aufschlußreich Karl Jaspers, Rechenschaft und Ausblick, S. 58ff.: „Das Böse ist aufgehoben durch Gottes Willen, weil es in einem Höheren gar nicht mehr böse ist." Goethe sagt zu Mephisto: ich habe deinesgleichen nie gehaßt. „Schon das Wort .radikal böse' konnte Abscheu erwecken bei Goethe" (S. 90). s ) So auch Troeltsch. *) Ethik, S. 113,116ff. 5 ) Theologische Ethik, S. 86. «) Der Gang der Welt, Bern 1949. 2

Moderne Erklärungen

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Heiligentag" 1 ). Der Weg vom radikalen Bösen zum guten Willen wird nicht durch allmähliche Reformen gefunden, sondern „durch eine einzige unwandelbare Entschließung", die Kant mit der christlichen Wiedergeburt vergleicht. Ich kann immer nur die Legalität meiner Handlungen wissen, nie, ob ich wirklich selbst gut bin. „Wenn wir tun, was wir können, werden wir uns für den unerforschlichen höheren Beistand empfänglich machen" 2 ). Die Deutung des Bösen als Unwissenheit widerspricht der Absolutheit der Ethik, da es ein Wissen nur von endlichen Dingen gibt. Die Deutung als Schwäche sagt entweder gar nichts oder verweist den gesamten ethischen Prozeß ins Physische. Die Behauptung, Sünde sei die Folge einer schnelleren Entwicklung der sinnlichen Kräfte im Menschen gegenüber den geistigen (Schleiermacher) oder das Verharren in einer bereits überwundenen Kulturstufe (bei Fichte ist das Böse Trägheit), gibt bestenfalls eine Beschreibung, aber keine Erklärung. Der christliche Glaube will auf der einen Seite unter allen Umständen dem Ernst des Bösen gerecht werden, auf der anderen Seite jedoch dem Dualismus entgehen, der das Böse als ewiges Prinzip neben das Gute stellt. Darum führt er gern das Böse auf einen persönlichen Teufel zurück, der als abgefallener Engel nicht Gott gleich gedacht wird. Damit hat man es allerdings über die Zeitlichkeit hinaus und doch noch nicht in die Ewigkeit hineingetragen. Man postuliert eben zwischen Zeit und Ewigkeit ein Drittes, ein anderes geschaffenes Geisterreich. Luther selbst hat sehr vorsichtig und bedacht über den Teufel geurteilt. Ja die Schwierigkeiten mehren sich nur. Denn es bleibt nicht bei der Hilfskonstruktion eines undefinierbaren Zwischenreichs3); man muß auch für die Erklärung des Bösen im Teufel ein Mittelding zwischen Einzelsünde und Prinzip annehmen. Gott als der Gute ist Person und Idee zugleich; das Gute ist nicht seine Schöpfung, sondern mit ihm selbst identisch. Vom Teufel darf man das Entsprechende nicht sagen; wird doch gerade, um den Dualismus zu vermeiden, sein „Fall" betont. Auch kann er nicht erst durch die Sünde seines Abfalls zum bösen Prinzip geworden sein, da die Sünde nicht als Ursache, sondern nur als Folge des bösen Prinzips gedacht werden kann. Es sieht so aus, als ob heutzutage der Teufel wieder langsam Sympathien gewinnt. Und in der Tat wird sich niemand dem Eindruck op. post. S. 150. *) Karl Jaspers, Rechenschaft und Ausblick, Abschnitt: Das radikale Böse bei Kant (ausgezeichnete Erklärung) S. 90ff., besonders S. 100. 3 ) Die Scholastiker kennen ein Aevum als ein Mittelding zwischen Zeit und Ewigkeit, eine aeternitas-creata.

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Das Böse

eines überindividuellen bösen Willens entziehen können. Wir werden im satanischen Du des Bösen existenziell angesprochen1). Unübersehbar sind die Definitionen und Erklärungsversuche des Bösen2). Man hat schließlich an der Möglichkeit einer Lösung überhaupt gezweifelt und sich auf das Irrationale zurückgezogen. Deshalb könne uns die Philosophie niemals befriedigende Auskunft über sein Wesen geben, sagt Brunner 3 ). Vom unbegreiflichen Ursprung des Bösen spricht eindrucksvoll Karl Jaspers 4 ). Überhaupt hat es den Anschein, als ob der idealistische Optimismus weithin entschwunden ist und einer düsteren Daseinswertung Platz gemacht hat. „Unheimlichkeit ist die obzwar alltäglich verdeckte Grundart des In-der-Weltseins"5). Mit Recht kann man den Irrationalismus nur als die letzte Phase des Rationalismus bezeichnen6). Besser ist es schon, wenn man die Sünde dem Bereich des Dämonischen zuweist (Tillich); allerdings liegt auch darin der Verzicht auf eine eigentliche Erklärung. Der Versuch, wirklich zu sagen, was Sünde ist, kann leicht dazu führen, den Begriff des Bösen zu verharmlosen oder gar aufzuheben. „Jede Erklärung der Sünde würde die Sünde in irgendeinem Maße entschuldigen" 7 ). Nach Karl Barth ist das Wesen der Sünde ebensowenig verstandesmäßig zu begreifen wie das Wesen des Heiligen Geistes; man müsse daher auf jeden Erklärungsversuch verzichten 8 ). „Deshalb nimmt das Christentum auch ganz konsequent an, daß weder das Heidentum noch der natürliche Mensch weiß was Sünde ist; ja, es nimmt an, daß eine Offenbarung von Gott nötig ist, um offenbar zu machen was Sünde ist" sagt Kierkegaard 9 ). Nach H. Thielicke verbietet sich die Frage nach dem Ursprung des Bösen deshalb, weil dieses aus der Personenhaftigkeit kommt und das Personenhafte nicht ableitbar ist; andernfalls komme man ins Gegenständliche10); wie alles Persönliche ist das Böse nur in der Begegnung zu erfassen und hier allenfalls zu „verstehen" 11 ). „Die Unterscheidung zwischen der Persönlichkeit und der Natur im Menschen gestattet uns, die Sphäre der Sünde auf die Natur des Werner Eiert, Der christl. Glaube S. 327; vgl. auch Karl Heim, Leitfaden der Dogmatik, S. 61, und Paul Althaus, Grundriß der Dogmatik, 4. A., Berlin 1952, § 17, S. 170f. H a ) Besonders sorgfältig besprochen in Julius Müllers erstem Buch von der Sünde. 3 ) Offenbarung und Vernunft, S. 323. 4 ) Philosophische Logik, S. 539. 5 ) Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 277. a ) Wilhelm Koepp, Panagape I, Gütersloh 1927, S. 153. ') Karl Heim, Leitfaden der Dogmatik II, 3. A., Halle 1925, S. 43. 8 ) Die prot. Theol. S. 541 f. •) Die Krankheit zum Tode, 2. A. Jena 1924, S. 84. 10 ) Theol. Ethik, S. 457 f. 11 ) Fragen des Christentums an die moderne Welt, Tübingen 1948, S. 179f.

Moderne Erklärungen

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Menschen zu beziehen, ohne das Moment der Persönlichkeit zu berühren" 1 ). Die griechische Kirche hält von ihren Voraussetzungen aus die pessimistische Beurteilung des Menschen in der reformatorischen Theologie für eine Verzeichnung. Auf evangelischer Seite hat man immer wieder jede Verlagerung der Sünde in untergeordnete Seelenkräfte als eine Abschwächung zurückgewiesen. Sünde ist nicht Schwachheit, sondern böser Wille, sagt Julius Müller2). Dem stimmen weithin auch die Philosophen zu. Der Wille selbst ist der Ursprung alles Bösen, der wahre Satan, und es gehört zum Wesen des Ichs, sich unbegrenzt zu entfalten 3 ). Die Seele hat nicht Willen, sondern sie ist Willen, sagt Johannes Rehmke4). Und Hans Driesch erinnert an das Wort von Kant: Gut sei „nichts in der Welt als allein ein guter Wille"5). Thielicke hat eindringlich darauf hingewiesen, daß alle Auffassungen, die sich unterhalb der biblischen Offenbarungslinie bewegen, durch irgendeine Art von Ich-Teilung die Last der menschlichen Verantwortung zu erleichtern versuchen. Die Bibel aber versteht den Menschen nun einmal als ein unteilbares Ganzes; darum sitzt der Tod nicht irgendwo in der Peripherie, sondern im Zentrum 6 ). Kierkegaard hat die berühmte Definition aufgestellt; „Sünde ist, daß man vor Gott (oder mit der Vorstellung von Gott) verzweifelt nicht man selbst oder verzweifelt man selbst sein will. Sünde ist also die potenzierte Schwachheit oder der potenzierte Trotz". Er hat dann diese Definition noch durch die Bestimmung erweitert, daß sie gelten solle, wenn die Verzweiflung eintrete, nachdem der Mensch durch eine Offenbarung Gottes über das Wesen der Sünde aufgeklärt wor den sei7). Damit kommt überein, wenn Paulus als die eigentliche Sünde die superbia ansieht8). Eine zunächst bestechende Lösung des Sündenproblems bietet die Gleichsetzung des Bösen mit der Endlichkeit überhaupt. Besonders Franz von Baader hat tiefe Gedanken über den Fall der Kreatur in die Zeitlichkeit geäußert. Von hier geht die Linie über Kierkegaard zu Barth und den Diakletikern 9 ). „Die Welt der Kreaturen ist ihrem ') Basilius Zenkowsky (Prof. am Russ. ortliod. Institut in Paris), Das Bild vom Menschen in der Ostkirche, Stuttgart 1951 (deutsche Übersetzung), S. 25. 2 3 ) Lehre v. d. Sünde, S. 376f. ) Grisebach, Gegenwart, S. 468f. ') Die Seele des Menschen, 5. A., Leipzig-Berlin 1920, S. 118. Das Problem der Freiheit, Berlin 1917, S. 27. •) Tod und Leben, S. 38. ') Die Krankheit zum Tode, S. 72, 91. 8 ) Rudolf Bultmann, Christus des Gesetzss Ende, München 1940, S. 12. •) Ausführliche Belege bei Paul Althaus, Die christl. Wahrheit II, 2. A., Gütersloh 19-19, S. 190f. Über Kierkegaards Verwerfung d. Ehe (Das sündige Geschlecht solle nicht fortgepflanzt werden), siehe Künneth, Die Lehre von der Sünde, Gütersloh 1927, S. 217.

Das Böse

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ursprünglichen Wesen nach rein immateriell. Die Materie, die Weltausbreitung und -Zersplitterung im Raum und Zeit ist Folge eines intelligiblen Sündenfalls der Kreatur. Daß unsere Wirklichkeit und Existenz nicht die wahre ist, erhellt vor allem am Wesen der Zeit, in der wir uns finden, die nicht (wie die wahre Zeit) Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist, sondern ein immer Zerfallendes ohne wirkliche Gegenwart, das in ihr Existierende mit Notwendigkeit der Negation, dem Tode entgegenführend" 1 ). .,Das Dasein ist als solches schuldig", meint auch Heidegger2), wiewohl er von einer ganz anderen Seite aus zu dieser Überzeugung kommt. Nun hat unsere Erde bereits eine Geschichte von Jahrmillionen durchlaufen, bevor der Mensch auftrat; also kann dieser durch seine Bosheit die Endlichkeit nicht verursacht haben 3 ). Gab es denn vor dem Sündenfall keinen Tod in der Tierwelt ? Thielicke will die Frage verbieten, da sie in eine falsche Richtung gehe; und wieder muß der Hinweis auf die Gefahr der Vergegenständlichung das Recht des Verbotes begründen 4 ). Es fragt aber nicht der Vorwitzige, es fragt der Christ, es fragt die Gemeinde, und sie haben ein Recht auf Auskunft. Die Frage ist aber durch die Tatsache des allgemeinen Tiersterbens in den ungemessenen Zeiträumen vor dem Auftreten des Menschen mit aller wünschenswerten Deutlichkeit beantwortet worden, und man kann nicht mit K. Heim5) sagen, daß die Sünde auch in der Tierwelt an den grausamen Formen der gegenseitigen Vernichtung schuld sei. Die Theologie hat lediglich die Konsequenzen daraus zu ziehen. Man wird mit aller Behutsamkeit nur sagen können, daß die Schöpfung an sich durchaus für Gott aufgeschlossen ist. Wäre der Mensch gut geblieben, hätte er die Natur mit ganz anderen Augen angesehen. Der Mensch verdient die Natur, die ihn umgibt; proportional der eigenen Bosheit erblickt er fortschreitende Verendlichung. Die ursprüngliche Zeit ist durch den Sündenfall dahin; jetzt ist Zeit Gegenstand der Gnade6). Heutzutage wird gewiß gesagt werden, alle Mühe, das Wesen der Sünde zu bestimmen, ist so lange zur Erfolglosigkeit verurteilt, als diese Bestimmung nicht von der Vergebung, vom Kreuz, mit einem Wort, von Christus aus unternommen wird. Nun, die Worte allein können sehr leicht täuschen. „Daß man statt von Gottesbewußtsein Heinz Heimsoeth, Metaphysik der Neuzeit, München-Berlin 1929, S. 176. ) Sein und Zeit, S. 275. 3 ) Vgl. zu dem Problem der Priorität des Todes vor dem Sündenfall E. Brunner, Der Mittler, 3. A., Zürich 1937, S. 516 Anm. 1. ') Tod und Leben. S. 148. 5 ) Weltschöpfung und Weltende (D. ev. Glaube u. d. Denken d. Gegenwart VI), Hamburg 1962, S. 146; vgl. auch S. 126. «) Karl Barth, Die kirchl. Dogmatik I, 2, S. 52f. 2

Absolutes Sein und Nichtsein

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von Offenbarung und Wort Gottes s p r i c h t , ist keine Gewähr dafür, daß das Gesprochene wirklich Gottes Wort ist" 1 ). In der Lehre vom Reiche Gottes muß es sich schließlich zeigen, ob alles vom Kreuz aus gesehen wird oder nicht. 2. Absolutes Sein und Nichtsein Bedeutende Denker, von Augustin2) an, haben nach platonischem Vorbild Gott als das wahrhaftige Sein definiert, von dem sich das Böse als das Nichts abhebt 3 ). Diese Deutung weist auf den rechten Weg, weil sie eine Selbständigkeit des Bösen neben dem Guten nicht zuläßt; sie kommt ihm ebenso wenig zu wie den negativen Zahlen gegenüber denen über Null. Der Fehler setzt aber dann ein, wenn man das absolute Sein und Nichtsein, um das es sich hier handelt, mit dem zeitlichen Sein und Nichtsein zusammenwirft. Es müßte dann das Böse in seiner Steigerung immer schwächer werden. Das Bild wird sofort ein anderes, sobald wir Sein und Nichtsein konsequent im absoluten Sinne nehmen. Das wahre Sein, das Sein im absoluten, ewigen Sinne ist das Gute, das absolute Nichtsein ist das Böse. So allein gewinnt die Ethik ihren absoluten, ihren christlichen Charakter. Ist doch auch die Ewigkeit ein sittlich-religiöser Begriff. Darum kann die Philosophie nichts rechtes damit anfangen. Das Sein in der Ewigkeit ist das Werden in der Zeit, und zwar das wahrhafte, bewußt aufbauende Werden, m. a. W. das gute Handeln. Das böse Handeln ist in der Zeit das Vergehen, in der Ewigkeit das Nichtsein. Das Reich Gottes ist in der Zeit ein werdendes, in der Ewigkeit ein zuständliches4). Das Böse bringt keinen Wert hervor, wie beschaffen es auch sein möchte. Denn es hat keine Selbständigkeit, keinen eigenen Gedanken. Ist das Wesen des Guten das Sammeln, die Gemeinschaft, die Liebe, so das des Bösen das Trennen, das Zerstreuen, der Haß. Das Gute will ein Reich und arbeitet daran, nach bestimmten Zwecken und Zielen aufbauend; das Böse dagegen bringt es nicht zu einem in sich geschlossenen Gegenreich; es kann nur niederreißen und zerstören und würde mit dem Augenblick, da es nichts mehr zu zerstören gäbe, sich selbst zerstört haben. Bildlich ausgedrückt: der Teufel würde nach einem totalen Siege in Verlegenheit sein, was er nun beginnen solle. Georg Wünsch, Wirklichkeitschristentum, S. 20. *) Es sei auf die Augustinstudien von Wilhelm Kamiah verwiesen in seinem Christentum und Geschichtlichkeit, 2. A., Stuttgart und Köln 1951, bes. S. 231 ff. 3 ) Eine wesentliche Vertiefung des Begriffs „Nichts" verdanken wir Heidegger (Was ist Metaphysik?, 5. A„ Frankfurt 1949, S. 32, 41). 4 ) „Für das reine Sein in seiner Ewigkeit ist das Böse darum in der Tat Nichts", Max Wundt, Ewigkeit und Endlichkeit, S. 181.

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Das Böse

So ist Satan tatsächlich der Geist, der stets verneint, aber niemals positiv etwas schaffen kann. Das Böse ist demnach nicht das Negative, sondern die Negation. Als das Zerstreuende kann das Böse sich nur in der Zeit entfalten. Es ist auf die Zeit, das Gute auf die Ewigkeit gerichtet, auf Zuständlichkeit. Das Gute ist bestrebt, die Endlichkeit zu überwinden, das Böse, sie immer weiter zu steigern bis zur völligen Atomisierung des Lebens. Es ist der direkte Widerspruch gegen die Ewigkeit, der ins Gigantische gesteigerte Wahlspruch: divide et impera. Mit der Vereinzelung ist die gegenseitige Abgrenzung der einzelnen und der Kampf ums Dasein gegeben. Daher empfindet der Mensch die Welt um sich als böse und sich in ihr von lauter Schwierigkeiten und Feindseligkeiten umgeben. Gutsein heißt, die verzeitlichende, verzettelnde Tendenz verlangsamen, nach Zuständlichkeit verlangen1). Ein von Ewigkeitswerten erfüllter Mensch schaut die Dinge mehr und mehr in der Ruhe. Ja in besonders gehobenen Augenblicken scheint die Zeit geradezu stillzustehen und man verspürt den Herzschlag der Ewigkeit. Daß wir nicht stets so empfinden, liegt weniger an unserer endlichen Beschränktheit als daran, daß wir böse sind, daß wir m. a. W. die Zeit wollen. Der Jesus der Evangelien, besonders des Johannes-Evangeliums, empfindet offenbar mitten in der Zeit zeitlos. Gewiß kennt nur der Glaube die Sünde in ihrem furchtbaren Ernst; aber er kennt sie keineswegs lediglich als eine vergebene und überwundene 2 ). Vielmehr muß er immer wieder demütig auf die Vergebung warten und steht in dauernder Furcht vor neuer Sünde; daher die Bitte: Führe uns nicht in Versuchung!3) Erst in der Ewigkeit ist die Sünde irreal geworden. Es ist eine müßige Frage, ob am Ende in der Weltentwicklung noch andere Zwecke verborgen seien4). Der religiöse Sinn kennt als absoluten Zweck jedenfalls keinen anderen als die Durchsetzung des Reiches Gottes, den Inbegriff des Guten. Wir vermögen nicht, neben dem Guten noch ein absolutes, ewiges Sein anzunehmen, und wir vermögen nicht, neben dem absoluten, ewigen Sein noch das Gute zu denken. Ebenso wenig gibt es neben Gott das Gute oder neben dem Guten Gott. Ewiges Sein, das Gute und Gott sind ein und dasselbe. x ) „Gut ist der Mensch, wenn ihm die Überwindung der Vereinzelung geschenkt ist", Emanuel Hirsch, Die idealistische Philosophie, S. 13. 2 ) Wilhelm Koepp, Panagape II, S. 260. 3 ) Über die Verfeinerung des Sündenbegriffs bei Luther über Paulus hinaus vgl. Paul Althaus, Paulus und Luther über den Menschen, 2. A., Gütersloh 1951, S. 74ff. 4 ) So z. B. Althaus, Die letzten Dinge, S. 254; Bernhard Bavink, Die Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion, Oberursel 1947, S. 131.

Freiheit gegenüber materieller Gebundenheit

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Die Auffassung des Bösen als ein Sichlösen vom Liebeszusammenhang des Reiches, von der Urquelle des Lebens (Gleichnis vom Weinstock) und darum als Tod schlechthin, als ewiges Nichtsein ist die bündige Rechtfertigung der Identifikation von Religion und Ethik.

IX. Freiheit und Gebundenheit 1. Freiheit g e g e n ü b e r materieller Gebundenheit Die Frage nach menschlicher Freiheit oder Unfreiheit ist eine der klassischen, immer wieder ventilierten Fragen des Denkens. Wieviel Gutes und Wahres ist de libero, wie viel Gutes und Wahres de servo arbitrio1) geschrieben worden! Viele Glaubensschwierigkeiten gehen im Grunde auf Unklarheiten in der Frage nach der Willensfreiheit zurück. Das Problem ist darum so kompliziert, weil es eine Reihe von Begr ffen in sich schließt, die selbst durchaus problematischer Natur sind wie Ich, Wille, Freiheit, Verantwortung und Schuldgefühl. Das Merkwürdige ist, daß der Mensch, sobald er nur in den Strudel dieses Problems hineingerät, zunächst selbst nicht recht weiß, wo er eigentlich Stellung nehmen soll oder sollte. Zunächst möchte man unbedingt auf die Seite der Freiheit treten; dann bekommt man zu bedenken, daß die großen Väter der Kirche gerade die Gebundenheit vertreten haben. Freiheit und Gebundenheit lassen sich nicht einfach auf das philosophische und religiöse Interesse verteilen2); denn beide Interessen sind in sich widerspruchsvoll. Auf religiösem Gebiet richtet die agressive Predigt einen starken Appell an die Freiwilligkeit; demgegenüber steht die Lehre von der allmächtigen Vorsehung Gottes und von der Erbsünde auf Seiten der Gebundenheit. In der Philosophie läßt die materialistische Richtung der Freiheit keinen Raum; mit ihr liegt der Idealismus in Widerstreit. Spinosa spricht es wiederholt aus, daß die Willensfreiheit für ihn ein unlösbares Problem bedeutet; man denke an seine drastischen Auslassungen über die UnVeränderlichkeit Gottes3). Wenn der christliche Glaube im ersten Impuls sich gegen den Determinismus sträubt, so will er sich gegen eine materialistische Vgl. zu Luthers Schwierigkgeiten die schönen Ausführungen von Wilhelm Hermann, Der Widerspruch im religiösen Denken und seine Bedeutung für das Leben der Religion, ZThK 1911, S. l f f . *) Gerhard Heinzelmann a. a. O. S. 35: „Auf dem Gebiet der Vernunft ist unsere Abhängigkeit nur ein Stück unserer Freiheit. Und auf dem Gebiete der Religion ist unsere Freiheit nur ein Stück unserer Abhängigkeit." a ) Vgl. Anhang zu Descartes Prinzipien der Philosophie I 3, übersetzt von Kirchner, Berlin 1871, S. 111.

Freiheit und Gebundensein

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Gleichsetzung höchster Seelenvorgänge mit einfachen Naturprozessen wehren; denn er weiß, daß damit das Todesurteil für alles religiössittliche Leben ausgesprochen ist. Die idealistische Begeisterung für die Idee der Freiheit wird darum immer wieder auf seine Sympathie rechnen dürfen, und er wird die erste Phase der Auseinandersetzung über die Willensfreiheit etwa überschreiben: Wahrung der Menschenwürde gegenüber der materialistischen Versteinerung. Vom deterministischen Standpunkt aus ist es nur konsequent, wenn Höffding erklärt, der Wunsch in der Reue, man möchte anders gehandelt haben, beruht auf einer Illusion1). Heinrich Rickert fragt: Ist der Mensch bei einer Entscheidung für den Determinismus frei oder nicht ? Leugnet der Determinist die Verantwortung, weil er selbst kausal dazu gezwungen ist, so wird auch der Indeterminismus zu seiner Stellung kausal gezwungen sein. Der Determinismus läßt sich nie zu Ende denken 2 ). Die von der Biologie herkommenden Philosophen des Neovitalismus sind dafür eingetreten, daß die die Natur beherrschenden, richtunggebenden Zwecke nie und nimmer durch materielle Kräfte erklärbar sind. Diese „Entelechieen", wie Hans Driesch sie nennt, handeln nicht gegen oder unter Ausschaltung der sog. Naturgesetze, sondern sie wissen sich ihrer sinnvoll zu bedienen3). Wir lesen gern Bergsons Einwendungen gegen den physischen und psychologischen Determinismus (wenn Bewegung, sc. der Atome, Bewußtsein erzeugt, warum nicht auch umgekehrt? 4 ). Der Virtuos, der an der Orgel sitzt, ist durchaus von den technischen Gesetzen abhängig, nach denen das Werk aufgebaut ist. Eine Störung im Betriebe der Drähte schaltet eine Reihe von Tönen aus oder läßt gar das ganze Spiel verstummen. Trotzdem wird niemand den schöpferischen Geist des Organisten oder Komponisten bestreiten und die Bach'sche Fuge oder die Improvisation einfach dem Mechanismus der Apparatur zuschreiben. Mit der Abwehr solcher primitiven Angriffe ist der Determinismus natürlich noch nicht überwunden. Eine wirklich befriedigende Aufhellung des deterministischen Fragenkomplexes verdanken wir der exakten Untersuchung des unlängst verstorbenen Göttinger Philosophen Nicolai Hartmann 5 ). Das Freiheitsproblem ,,ist unlösbar und 2 Ethik, S. 104. ) System der Philosophie, S. 302, 304. ) Über die Widerlegung der Beweise von Driesch durch die neueste Entwicklung der Vererbungswissenschaft vgl. Max Hartmann, Atomphysik, Biologie und Religion Stuttgart 1947, S. 23. Eine lesenswerte kleine Schrift ist neuerdings von Dr. med. Karl Braeunig erschienen: Willensfreiheit und Naturgesetz, München-Basel 1951. Ferner sei auf Alwin Mittasch, Entelechie, München-Basel 1952, bes. S. 38ff., verwiesen. *) Zeit und Freiheit, S. 128ff. «) Der Aufbau der realen Welt, S. 557, 559, 564. 3

Freiheit gegenüber materieller Gebundenheit

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unsinnig, solange man nicht durchschaut, daß in der realen Welt das Determiniertsein ein nach Schichten verschiedenes und den kategorialen Dezendenzgesetzen unterliegendes ist". „Der höhere Nexus ist ihr (der niederen Determination) gegenüber ein kategoriales Novum. Als Novum aber ist er ihr gegenüber .frei'. Die höhere Form des Nexus ist hierbei nirgends Aufhebung oder auch nur Durchbrechung der niederen, sondern durchaus nur Überformung". In seinem gleichzeitigen Werke: „Neue Wege der Ontologie"1) bietet er eine parallele Darstellung seiner Lösung unseres Problems. Abschließend heißt es: „Freiheit ist die kategoriale Form der Selbständigkeit höherer Determination über einer niederen, sofern erstere von letzterer zugleich ,der Materie nach' abhängig ist. Sie besteht also im Verhältnis von Indifferenz des niederen Nexus gegen seine Überformung und inhaltlicher Formautonomie des höheren" 2 ). Mit aller Vorsicht und unter ausdrücklicher Warnung vor übereilten Schlüssen werfen wir noch einen Blick auf die Naturwissenschaft. Die Quanten-Theorie, die Lehre vom Unbestimmten in der Atomphysik haben eine gewisse Begrenzung des Kausalgesetzes wenigstens wieder diskutabel gemacht. „Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die statistische Physik augenblicklich die Oberhand gewonnen hat; die Atomphysik ist vom Indeterminismus affiziert. Man kann Elementarvorgänge nicht kausal darstellen oder beschreiben" 3 ). Die heutige Physik hat die bisher selbstverständliche Voraussetzung der Stetigkeit aller Abläufe aufgegeben und sieht jetzt in der Wahrscheinlichkeitsrechnung die ihr gemäße Methode. Die Welt besteht nur noch aus lauter einzelnen Wirkungsquanten, also aus einer diskontinuierlichen Mannigfaltigkeit 4 ). Je größer die Verwickeltheit der „Gestalt", um so unwahrscheinlicher die Wiederholbarkeit der Abläufe, um so geringer ihre Vorausberechenbarkeit. Wir sind nicht befugt, in der Kontroverse der Physiker über die Grenzen des Kausalitätsgesetzes Stellung zu nehmen, und betrachten mit Skepsis alle vorschnell gezogenen Folgerungen. „Mehrere hervorragende Physiker, wie Planck, Einstein und von Laue" halten „an der strengen Geltung des Kausalitätsgesetzes auch im atomaren Gebiet" fest, sagt Max Hartmann 5 ) und erhebt Bedenken6) gegen P. Jordan, der gegenüber der makrophysikalischen Kausalität für die eigentlichen Zentren des Lebens mikrophysikalische Freiheit in Anspruch nehmen zu können glaubt. Jordan selbst geht noch weiter: „Es gibt 2

) 3 ) 4 ) ») •)

3. A. Stuttgart 1949. Aufbau der realen Welt, S. 671. Werner Gent, Das Problem der Zeit, S. 99. Bernhard Bavink, Die Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion, S. 73. A. a. O. S. 17. Daselbst S. 26 ff.

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Freiheit und Gebundensein

aber auch im Großgeschehen noch Möglichkeiten, freien Einzelentscheidungen bestimmende Auswirkungen zu gewähren; diese Möglichkeiten können angedeutet werden durch die Worte Lawine und Hierarchie" 1 ). Wir müssen es uns versagen, auf diese hochinteressanten Darlegungen einzugehen. Man muß aber im Auge behalten, daß, wenn auch die Möglichkeit der Kleinstbeobachtung ihre Grenze findet, weil bereits das einfallende Licht erhebliche Störungen verursacht, deshalb noch nicht ohne weiteres unbeobachtbar mit indeterminiert gleichgesetzt werden darf 2 ). Die Experimentalpsychologie hat in ihren Versuchen den Faktor eines eigenständigen Willens neben dem Assoziationsmechanismus ergeben; „in diesem Sinne ist die Willensfreiheit eine beobachtbare Tatsache" 3 ). Mit alledem ist nur eine Vorentscheidung getroffen. In der Auseinandersetzung mit dem materialistischen Determinismus, der jede selbständige Willensregung des Menschen auslöschen wollte, ist das Recht erkämpft worden, das Problem der Willensfreiheit überhaupt aufzuwerfen. Wir haben also ein gutes Recht dazu, den dinglichmechanischen Faktoren gegenüber das Vorhandensein einer geistigen Willenspotenz zu behaupten. Welche Bedingungen determinieren diesen Willen, und in welchem Ausmaß tun sie es? 2. Freiheit im Gegebenen Da eine menschliche Willenshandlung nicht völlig frei, schwebend, absolut, zu denken ist, so kommen manche Denker zu einer gewissen Rahmen-Freiheit, nämlich Freiheit im Rahmen einer notwendigen Gebundenheit. „Freiheit des Menschen ist immer Tätigkeit im Rahmen von Gebundenheit" 4 ). Ähnlich sagt Karl Heim: „Der freie Willensakt kann also nur dann im Jetztpunkt zustande kommen, wenn die perspektivische Umgebung, in der er sich vorfindet, eine schicksalhaft festgelegte Ordnung ist, in die die Tat an einer ganz bestimmten Stelle eingefügt werden muß"; sonst gleiche ich dem Schachspieler, dessen Schachbrett immer wieder erschüttert wird5). Pascual Jordan, Die Stellung der Naturwissenschaft zur religiösen Frage. Universitas II, 1, Jan. 47, S. 7. 2 ) Herko Groot, Raum und Zeit, Frankfurt a/M 1946 S. 229 ff. Man vgl. im übrigen die Bedenken gegen den Kausalismus bei Heinrich Maier, Philosophie der Wirklichkeit I, 1 (Die Realität der physischen Welt) 1933, S. 247 ff. 3 ) Karl Girgensohn, Grundriß der Dogmatik, Leipzig 1924, S. 99. 4 ) Heinz Heimsoeth, Geschichtsphilosophie, Bonn 1948, S. 604. l ) Glaubensgewißheit, S. 188. Bei Karl Holzamer, Grundriß einer prakt. Philosophie (Frankfurt a. M. 1961, S. 133f.) lesen wir: „Der freie Wille ist die von äußeren Ursachen oder anderen Motiven unabhängige .Weichenstellung', die unser Ich spontan

Freiheit im Gegebenen

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Leider müssen wir es uns versagen, auf Brundstäds Lehre von der schöpferischen Synthese1) oder Bergsons eigentümliche Lösung2) oder die Gedanken von Theodor Litt 3 ) einzugehen. Driesch unterscheidet zwei Freiheitsbegriffe; der erste, strenge geht auf ein Geschehen, das durch keinen Grund bestimmt ist. Solche Freiheit ist sinnlos und wertlos. Der zweite, relative Freiheitsbegriff verlangt ein Bestimmtsein nur durch innere, aber nicht durch äußere Gründe (kann man hier überhaupt eine scharfe Grenze ziehen?). Es ist der Freiheitsbegriff des Gewissens; der Mensch handelt seinem Wesen gemäß4). Schließlich wird ihm die Freiheit doch zu einer Illusion, wie er selbst sagt5). Es ist ganz eigenartig, wie oft Denker, die auf den Schultern Kants stehen, in die Vaihingersche Als-Ob-Philosophie einmünden 6 ). Karl Jaspers hatte 1932 in der Transzendenz den Grund für die Freiheit der Existenz gesehen. Man muß aber beachten, was er unter Transzendenz versteht. „Transzendenz ist das Sein, das im Dasein die Ganzheiten der Idee möglich macht, ohne daß die Idee des einen Ganzen sichtbar oder denkbar bestände." „Denke ich die Transzendenz als frei, so verendliche ich sie, indem ich sie in Situationen unter Bedingungen denke" 7 ). Im philosophischen Glauben heißt es dann: ,Freiheit ist ein Sichgegebenwerden aus der Transzendenz. Diese Freiheit ist nicht Zweckmäßigkeit, nicht Gehorsam gegen ein errechnetes Sollen, nicht gezwungenes Tun, sondern ein von allem Zwang losgelöstes Wollen, das transzendentes Müssen ist" 8 ). 1949 lesen wir in „Ursprung und Ziel der Geschichte", daß die Freiheit kein Gegenstand sei; „sie hat nicht ein Dasein, das in der Welt vorkommend erforschbar wäre". „Bin ich frei, so will ich nicht, weil ich so will, sondern weil ich mich vom Rechten überzeugt habe . . . daher der Anspruch, aus eigenem Ursprung zu wollen durch Werfen des Ankers im Ursprung aller Dinge" 9 ). Endlich heißt es 1950 in der 2. Auflage der Einführung zwischen den mehreren Schienen (Motiven) vornimmt. Die Geleise sind gelegt (determiniert); in welches der Geleise eingefahren wird, ist .interdeterminiert', d. h. nur von der Willkür des Ichs abhängig. Es kann nicht völlig beliebig .gefahren' werden, sondern nur innerhalb des angebotenen Motivnetzes." !) Idee der Religion, S. l l l f f . , 243. 2 ) Zeit u. Freiheit, S. 164ff., 197. 3 ) Die Sonderstellung des Menschen im Reiche des Lebendigen, Wiesbaden 1948, S. 11 f. Die allseitige Abgestimmtheit der Teilabläufe im menschlichen Organismus weist auf das Walten eines Prinzips hin, das selbst unräumlich sein muß. 4 ) Das Problem der Freiheit, S. 6, 29. 5 ) Die sittliche Tat, S. 11. •) Ähnlich steht es mit der Gottesidee bei H. Cohen. Gottes Sein — aber durchaus kein Dasein ! — als regulative Idee oder Postulat ist noch viel unbestimmter als bei Kant. ') Philosophie III, Metaphysik, S. 65, 68. 8 8 ) S. 114. ) S. 195,199.

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in die Philosophie: „Wo ich eigentlich ich selbst bin, bin ich gewiß, daß ich es nicht durch mich selbst bin. Die höchste Freiheit weiß sich in der Freiheit von der Welt zugleich als tiefste Gebundenheit an Transzendenz" 1 ). Wir wollen in diesem Zusammenhange Heideggers Freiheitsbegriff nicht übergehen, wiewohl er für unsere religiös-ethische Abzweckung wenig Anknüpfungspunkte gibt. In dem Büchlein „Vom Wesen der Wahrheit" 2 ) heißt es, nachdem die negative Freiheit als Ungebundenheit und die positive als Bereitschaft für ein Gefordertes unterschieden sind, „die Freiheit ist alledem (der .negativen' und .positiven' Freiheit) zuvor die Eingelassenheit in die Entbergung des Seienden als eines solchen". Denn Freiheit ist „Das Sein-lassen des Seienden". „Das Wesen der Wahrheit enthüllt sich als Freiheit". Hat also der Wille eine gewisse Freiheit, so wird er sich nach Gründen, nach einem Maßstab umsehen, um eine zweckmäßige Entscheidung zu fällen. Gründe setzen irgendwelche Bewertung voraus; und diese dürfte der Mensch ebensowenig rein aus sich selbst heraus geschöpft haben, als er frei schweben kann; immer braucht er eine Stütze für seinen Körper. Immer steht der Mensch, auch wenn er es nicht ahnt oder spürt, unter irgendwelchen Einflüssen. Schon ein Ratschlag enthält gewisse Imponderabilien, die eine unbewußte Wirkung ausüben. Jedes Motiv schränkt irgendwie die Fragestellung ein. Er ist eben nicht Schöpfer, sondern Kreatur. Wollte er völlig grundlos, also völlig willkürlich handeln, um dadurch seine Freiheit darzutun, so würde diese nur umsomehr angezweifelt werden müssen, da ein menschlicher Wille, solange er diesen Namen verdient, nicht sinnlos handeln kann 3 ). Einen Zustand des Willens, der noch nicht Bestimmtes will, nennt Ludwig Klages Eigensinn4). Muß es der Mensch dem absoluten Geist überlassen, schöpferisch Werte und Gründe zu setzen und somit absolut frei zu sein, so sieht er sich stets bereits Gegebenem gegenüber, unter dem er seine Entscheidungen zu fällen hat. Man wird ihm einen um so höheren Grad der Freiheit zusprechen, um so höher der Wert liegt, von dem er sich als Begründung dieses seines Handelns bestimmen läßt. Der Mensch ist um so freier, je mehr er seine untergeordneten Teilziele bewußt und energisch einem beherrschenden höheren Gesamtziel unterstellt. S. 43. ) 2. A. Frankfurt a. M. 1949, S. 1 5 - 1 8 . 3 ) Gelegentlich sinnloses Handeln unter der Devise: dulce est desipere in loco hat eben doch seinen Sinn, wie es schon durch „ in loco" angedeutet wird, nämlich die Entspannung. 4 ) A. a. O. S. 528. 2

Sittliche Feiheit

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Freiheit bedeutet die Fähigkeit, ein ureigenes Willensziel aufzustellen und sich in der Richtung daraufhin zu bewegen1). Was ist nun unter einem ureigenen Willensziel zu verstehen ? Es ist klar, daß nicht alles, was jemand im Augenblick erstrebt, als sein wahrer Wille anzunehmen ist. Wie oft gleicht ein Mensch dem Kinde, das überhaupt noch nicht weiß, was es eigentlich will, und unentschlossen von einem Gegenstand zum andern flattert. Fragen wir ihn nach dem Grunde irgendeiner seiner Handlungen und dann wieder nach der Motivation dieses Grundes usf., so wird es dem Durchschnittsmenschen schwer fallen, eine letzte Begründung für seinen Willen anzugeben2). Wo sich der Wille ins Zusammenhanglose, Vereinzelte, zersplittert, sinkt er zur Laune ab. Der Mensch verliert die große Gesamtschau und wird in seiner Eigensucht selbst zu einem Vereinzelten; er entfällt der Gemeinschaft. Dies kann aber ein ureigenes Willensziel nicht sein. Auch wenn er einzelne Teilziele erreicht, findet er keine Befriedigung, da er nie an das Ding an sich herankommt, sondern es sozusagen unter den Händen weiter vereinzelt. „Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten". Von einer Freiheit dieses, in lauter Teilziele sich vereinzelnden Willens kann nicht die Rede sein. 3. Sittliche Freiheit Man wird jedenfalls zwei Erkenntnisse festhalten dürfen, einmal: Der menschliche Wille findet stets gewisse Gegebenheiten vor, mögen diese nun äußerer Art sein oder zur eigenen Veranlagung gehören, und sodann: Das Gewiesensein an diese Gegebenheiten ist an sich keine Beeinträchtigung der Freiheit. So hören wir denn von Wundt: „Das Freiheitsbewußtsein sagt uns, daß wir ohne Zwang, es sagt uns niemals, daß wir ohne Ursache handeln" 3 ). Die Situation ändert sich stetig, sobald wir das Betätigungsfeld der Freiheit ins Auge fassen. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ich von Freiheit gegenüber der Natur, gegenüber anderen Menschen, gegenüber mir selbst oder gegenüber Gott spreche; es wäre besser, wenn man für diese völlig verschiedenen Freiheitsbegriffe auch verschiedene Bezeichnungen einführte. Damit würde eine wesentliche Vorbedingung der Klarheit geschaffen. Wir spüren sofort, daß die Freiheit um so fragwürdiger wird, je mehr das sittliche Moment hineinspielt. Daß der Sieg über sich selbst (völlige Selbstbeherrschung) *) Sittlichkeit ist sich selbst setzen in Freiheit, Troeltsch, Glaubenslehre, München u. Leipzig 1926. a ) Rehmke unterscheidet einfachen Zweck, Reihenzweck und am Schluß den Endzweck (Die Seele des Menschen), S. 119. 3) Ethik, S. 463. 6 K l a m r o t h , Lutherischer Glaube im Denken der Gegenwart

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Freiheit und Gebundensein

der schwerste Sieg überhaupt ist, sagt uns bereits alte Weisheit. Tatsächlich ist er bis zu einem gewissen Grade zweifellos zu erringen und wird tatsächlich immer wieder errungen. Aber schon hier kann man sich dem Gedanken nicht verschließen, daß es auf Erden nichts Vollkommenes, also auch keine vollkommene Freiheit in der Selbstbeherrschung geben kann. Überall sind Widerstände zu überwinden, und das gelingt doch immer nur in endlich begrenztem Maße. Wieweit beherrsche ich meinen Körper? Jeder Sportsmann, jeder Artist kennt seine Grenzen. Wieweit bin ich Herr meiner Stimmungen, wieweit kann ich meine Gedanken konzentrieren? Wieweit kann ich mich vor häßlichen, unheiligen, ja selbst lästerlichen Gedanken schützen ? Jeder ehrliche Mensch weiß, wie bitter schwer es hält, sich gegen die niederen Triebe, ja gegen das Untermenschliche in sich zu behaupten! Statt von Freiheit würde man hier besser von einer gewissen, aber begrenzten Kraft sprechen. Das Ringen gegen einen Widerstand gehört geradezu zur Freiheit. Karl Jaspers bezeichnet die Ungeschlossenheit, ja die Unvollendbarkeit des Menschen als ein signum seiner Freiheit 1 ). Und wieder sehen wir, daß ein gewisses Maß an Freiheit in den niederen Dingen noch gar nichts über das Maß unserer Freiheit in den höchsten Dingen besagen will. Eher ließe sich das Umgekehrte behaupten. Nun ist es tatsächlich unmöglich, in der endlichen Welt ein allumfassendes Willensziel zu finden. Es gibt überhaupt nur ein solches, und das ist die Richtung auf die Ewigkeit. Wirklich frei würde der Wille erst sein, wenn er den höchsten Zweckgedanken in sich aufgenommen hat. Nur der gute Wille ist frei, weil er allein sein ewiges Sein bejaht, d. h. weil er allein in sich widerspruchslos, also wirklich Wille ist. Die Begriffe gut und frei rücken bis zum Zusammenfallen aneinander heran; gut bezeichnet mehr die materiale, frei mehr die formale Seite. Die religiösen Güter sind allgemein, der gute Wille ist mit jedem anderen gleichgerichteten Willen zusammen zu denken. Dadurch, daß er sein Ziel erreicht, nimmt er es keinem anderen. „Der Mensch, der sich seiner Freiheit bewußt wird, kann nur Freiheit ertragen. Er will, indem er selbst frei wird, daß alles um ihn frei sei" 2 ). Die philosophische Ethik treffen wir hier in einer gewissen Verlegenheit an. Sobald sie das Reich Gottes in ihr Blickfeld rückt als das allen Teilzielen übergeordnete Hochziel, steht sie der Notwendigkeit gegenüber, ihr ganzes System bis ins Fundament hinein umzubauen. So tritt hier und da eine deutliche Aversion gegen ein übergeordnetes Prinzip überhaupt auf. N. Hartmann sieht in der Autonomie des Prinzips ein Hemmnis der Freiheit, das die Person heteronom mache3). !) Der phil. Glaube, S. 64. 2 ) Karl Jaspers, Philosophische Logik, S. 536. 3 ) Ethik, S. 759.

Prädestination

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Wir können diese Überschätzung der Autonomie und ihre völlige Gleichsetzung mit der Freiheit nich t mitmachen. Ebenso sieht Th. Litt in der absoluten Freiheit des Über-Ich eine Beschränkung des endlichen Ich 1 ). Damit dürfte tatsächlich Unendliches und Endliches in eine Ebene gerückt sein. 4. Prädestination In eine ganz neue Beleuchtung rückt das Problem der Willensfreiheit in der religiösen Betrachtung. Denn hier erhebt sich die Frage, wie das Verhältnis der endlichen menschlichen Freiheit zu der absoluten Freiheit Gottes zu denken sei. Kann im Blick auf die göttliche Allmacht überhaupt noch von irgendeinem Tun des Menschen in einer gewissen Selbständigkeit gesprochen werden ? Der Christ rechnet mit Gott als der gewissesten Tatsache; und Gott ist für ihn nicht nur ein bedeutsamer Faktor in der Rechnung, sondern die allgewaltige Größe, die gerade wegen ihrer Allgewalt die Rechnung selbst in Frage stellt. Welchen Sinn soll es denn noch haben, mit endlichen Zahlen zu operieren, wenn in der Rechnung Größen erscheinen, die über jede angebbare Zahl hinausgehen ? In diesem Punkt gibt uns die H. Schrift keine Lösung. Aussagen, die uns in Ansehung unserer Frage widerspruchsvoll erscheinen müssen, stehen unausgeglichen nebeneinander, eine Bestätigung dafür, daß sowohl das J a wie das Nein ein religiöses Interesse für sich hat. Antinomien entstehen meistens dadurch, daß man das Urteil bald vom ewigen, bald vom zeitlichen Aspekt aus fällt, oder daß sich verschiedene Objektivierungen schneiden. Das AT objektiviert stärker den zielbewußten heiligen Willen in Gott als seine Liebe (Hosea). Der Herr sieht zwar auch auf die sittliche Entwicklung der Heiden, aber ungleich mehr auf die des Eigentumvolkes. Unbedenklich heißt es, daß er des Pharao Herz verstockt. Im NT ist es der Teufel, der dem Menschen die bösen Gedanken eingibt. Das Problem der Urheberschaft einer Versuchung wird nicht klar beantwortet. Im AT werden böse, gewalttätige Leute von Gott als Werkzeug gebraucht, als Zuchtrute, ohne weiter über ihre Verantwortlichkeit zu reflektieren (z. B. die Räuber Hiob 1). Im NT wird das Problem gesehen; aber es wird sowohl die Bosheit des Menschen wie seine Schickung durch Gott nebeneinander behauptet (es muß also geschehen; aber wehe dem Menschen, durch den es geschieht), ein klassisches Beispiel für echte, aber unausgeglichene Objektivierungen. Althaus meint, Gnadenwille und Wirklichkeit der Verstockung durch Gott seien zusammen zu behaupten, allerdings so, daß letztere nicht die ewige Verwerfung Mensch und Welt, S. 167. 6'

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bedeuten könne1). Der Nerv der Frage, die den Christen beunruhigt, liegt aber darin, daß Gott souverän über die religiöse Empfänglichkeit des Menschen zu verfügen scheint. Karl Barth unterstreicht sogar das beunruhigende Moment und erhebt es nahezu zum Lehrsatz; nicht ich entscheide über meinen Glauben oder Unglauben, sondern Gott: „Kraft göttlicher Entscheidung bin ich in meiner eigenen Entscheidung ein Glaubender oder ein Nichtglaubender" 2 ). Demgegenüber lesen wir mit erfrischender Offenherzigkeit bei Emil Brunner: Wohl steht in der Bibel, daß Gott die Menschen verstocke, aber nie, daß er sie von Ewigkeit zur Verstockung bestimmt habe. „In dieser Sache ist Paulus und ist die ganze Bibel konsequent unlogisch"3). Davon ausgehend, daß die absolute Geltung des Erlösungswerkes Christi in keiner Weise geschmälert werden darf, wendet sich Luther leidenschaftlich gegen die Annahme irgendeiner Mitwirkung des Menschen zu seinem Heil. Da, wo es sich um das höchste Gut handelt, ist unser Wille völlig unfrei und ohnmächtig. Luther bezeichnet Erasmus in seiner Diatribe als den einzigen unter seinen Gegnern, der wirklich das Kernproblem angreife. Seine ganze Theologie steht und fällt mit dem gebundenen Willen. Die Erlösung des Menschen durch Christus ist eine völlige; so ist auch seine Verlorenheit eine völlige. Luther will gerade die letzten Reste menschlicher Selbstherrlichkeit bekämpfen; und dazu gehört ebenso gut wie der Wille auch die Vernunft, die Gott beurteilen und gar mit ihm rechten will. Eine Erörterung der Gerechtigkeit Gottes greift frevelnd nach seiner verborgenen Majestät, deren Enthüllung er doch der Ewigkeit vorbehalten hat 4 ). Aber der Christ darf und soll im Glauben gewiß sein, daß diese verborgene Majestät Gottes die unumschränkte persönliche Güte ist. Luther bietet keine systematische Lösung; seine Absicht ist lediglich, das christliche Interesse scharf herauszustellen. Angesichts der göttlichen Allmacht und Allwissenheit will es prekär erscheinen, von göttlicher Zulassung oder göttlichem Vorauswissen zu reden. !) Die Christi. Wahrheit, II, S. 439. 2 ) Kirchl. Dogmatik I, 1, S. 167. 8 ) Bibelhilfe n. t. R. 6. S. 130. 4 ) „Aber da wolt er nicht hynan, das Gott, wie wohl er die sunde nicht will, so verhenget er doch, daß sie geschihet, und solch verhengnis geschieht ja nicht on seynen willen. Denn wer zwingt yhn, das er sie verhenget ? Ja wie künd ers verhengen, wenn ers nicht wollte verhengen ? Hie fuhr er mit seinem kopff hynauff, und wollt begreyffen, wie Gott sunde nicht wollt, und doch durch verhengen wollt, und meynet, den Abgrund Göttlicher majestet, wie diese zween willen möchten miteynander bestehen, auszuschöpffen." Sendschreiben an die Christen zu Antwerpen 1525, W. A. XVII S. 549 z 31-38.

Erbsünde

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Im allgemeinen werden von theologischer Seite zu unserem Thema Sätze aufgestellt, die mehr das Problem formulieren, als daß sie eine Lösung böten. Wenn ich von der Freiheit des menschlichen Willens rede, stehen mir Abläufe zeitlich-irdischen Geschehens vor Augen; rede ich dagegen von göttlicher Allmacht oder Allwissenheit, betrachte ich die Dinge sub specie aeternitatis. Der Grund dafür, daß häufig hierauf nicht geachtet wird, dürfte darin liegen, daß das Eingreifen Gottes in die Zeit zunächst die Aufmerksamkeit auf sich zieht und nicht die ewige Vollendung seines Tuns. Immer aber werden unsere Aussagen schief, sobald wir zwei total verschiedene Betrachtungsweisen miteinander vermischen. Nehmen wir einen unendlichen Faktor in unsere endliche Rechnung mit hinein, hört unsere endliche Rechnung überhaupt auf, weil sie sinnlos wird. Das gilt von allen Gebieten, nicht bloß von der Willensfreiheit. Will man beides überhaupt zu einander in Beziehung setzen, kann man es nur so tun, daß man sich das Untergeordnete in die höheren Dimensionen aufgenommen denkt. Gott sieht voraus oder Gott bestimmt voraus oder Gott wirket alles in allem, weil in Ewigkeit bereits alles vorhanden oder geschehen ist. So findet der menschliche Wille in dem göttlichen Raum; der freie Wille in der Zeit ist als solcher von Ewigkeit her gesetzt. Deswegen vermag Gott Gebete zu erhören, ohne seinen eigenen Willen aufzugeben. Von dieser Erkenntnis her kann man auch Komplikationen des Problems Herr werden, etwa des Bedenkens, wie Gottes Fügung mich in Vorgänge hineinstellen kann, die doch durch die freie Tat eines anderen verursacht wurden. 5. Erbsünde Je mehr der Mensch das sittliche Gut als ein religiöses erkennt, um so deutlicher, wenn auch unbegreiflicher, wird die allgemein menschliche Unfähigkeit zum Verwirklichen des höchsten Gutes, des Reiches Gottes. Keine menschliche Freiheit reicht dazu aus, den Grundwillen auf das Reich Gottes zu richten. In keinem Augenblick seines Lebens würde der Mensch, von den Strahlen des ewigen Gerichtes durchleuchtet, für gut befunden werden. Hier ist der Punkt, da das schöne Bild einer stetig sich aufwärts bewegenden Entwicklung, eines bis zum höchsten Ziel vorgedrungenen, in seiner köstlichen Freiheit seligen Willens verschwimmt. Ja so sollte es sein; aber so ist es nicht! Wir bejahen das Ziel aus voller Überzeugung, wir ersehnen es für uns selbst; aber unser Wille wird stumpf wie eine unbrauchbar gewordene Waffe. Und es geht uns nicht allein so; in der ganzen Menschheit ist keiner, dessen Wille in

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Bezug auf das letzte Ziel beständig wäre, also wirklich frei genannt werden könnte. Wir wollen und wollen auch wieder nicht; unser Wille ist nicht nur gebrochen, er ist unfrei. Durch die Welt geht ein Riß, die Sünde. Dadurch, daß auch die Philosophie uns das letzte Ziel als einzig vernünftig, also greifbar nahe vor Augen malt, liefert sie den Beweis, daß es sich nicht etwa um eine christliche Utopie handelt, die man im Grunde des Herzens doch nicht recht ernst nimmt, sondern daß eine Beschränkung oder gar Aufhebung unserer Freiheit vorliegt, die uns zunächst unfaßbar erscheinen will. Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; aber das Böse, das ich nicht will, das tue ich, sagt Paulus 1 ). Und der größte der Philosophen spricht vom radikalen Bösen, der Verkehrung aller Maximen. Der Idealismus möchte den Riß nicht sehen. Wegen der Allgemeingültigkeit des Vernunftideals kann z. B. Cohen eine durchgängige Zerrüttung der sittlichen Grundsätze im radikalen Bösen nicht zugeben. Weil eben die Welt nicht alles als Sünde erkennt und bezeichnet, was tatsächlich nichts anderes ist, deswegen sieht sie noch Freiheit, wo der Christ keine mehr sieht. Hier erst tut sich das Problem der Willensfreiheit in seiner ganzen Schwere auf, wo Gott selbst, nicht in seiner Allmacht, sondern in seinem heiligen, guten Willen zu dem Felsen wird, an dem die menschliche Freiheit zerscheitert. Darum kann uns die Philosophie nicht mehr als eine Vorarbeit leisten; ebenso wie Ewigkeit ist auch Freiheit ein rein religiöser Begriff. Das Streben nach dem Vereinzelten verstrickt immer mehr in die Vereinzelung. Das in der Sünde Begehrte ist niemals ureigenes Willensziel; ein freier Wille kann nicht die Aufhebung der eigenen Freiheit zum Gegenstand haben. Mit gesteigerter Sünde geht es immer rascher abwärts, wie ein Stein den Berg hinabrollt, bis kein Aufhalten mehr ist und die Freiheit im Laster verkommt und erlischt. Mit der Einsicht in menschliche Unfähigkeit zum Guten ist das religiöse Interesse noch nicht befriedigt. Es will die Tatsache begreifen, daß alle Menschen der Sünde verhaftet sind. Diese Tatsache erscheint deshalb von so fundamentaler Wichtigkeit, weil sie nicht nur durch die allgemeine Erfahrung gegeben, sondern auch von einer ganz anderen Seite her gefordert wird. Denn mit ihr steht und fällt die Bedeutung der Person Jesu als des Heilandes. Wenn zu keiner Zeit ein Mensch sich der Macht der Sünde hat entziehen können, dann muß diese Macht bereits am Anfang des Menschengeschlechtes zur Auswirkung gekommen sein. Die dogmatische Sprache kann diesen Gedanken nur in die Form eines zeitl

) Das häßliche Mißverstehen des Apostels bei Litt (Mensch und Welt S. 139), als wollte er nur die Verantwortung von sich abschieben, muß man schmerzlich bedauern.

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liehen Ereignisses kleiden. Dafür drängt sich die Schilderang des ersten Sündenfalls in der Bibel geradezu auf. Wäre der biblische Bericht nicht gegeben, so hätte etwas Entsprechendes postuliert werden müssen. Daher hat die christliche Kirche die Lehre von der Erbsünde entwickelt. Wir haben es also mit einem Schulbeispiel für ein gefolgertes Dogma zu tun. Der Fall Adams steht mit dem Fall Satans in Verbindung. Das Böse hat der Mensch nicht aus sich heraus entwickelt; es ist vielmehr von außen an ihn herangetragen worden. Durch den Fall des Teufels ist das Böse überhaupt Wirklichkeit geworden, durch den Fall Adams ist es in die Menschheit eingetreten. Gleichartig sind bei beiden die Folgen: Satan mit seinen ihm dienenden Geistern kann nun nicht mehr anders als böse sein; ebenso kann Adam mit allen seinen Nachkommen nicht mehr anders als sündigen. Und doch besteht ein fundamentaler Unterschied. Satan erreicht sofort den äußersten Stand des Bösen; es ist seine Substanz geworden, so daß er sich vom bösen Prinzip nicht mehr unterscheidet, sondern mit ihm zusammenfällt. Er sündigt nicht mehr, sondern ist die Sünde selbst. Darum kommt für ihn eine Erlösung nicht in Frage; und der Christ wird gar nicht auf den Gedanken kommen, für ihn Fürbitte zu tun 1 ). Der Mensch dagegen wird zwar bis zur Unfähigkeit zum Guten verdorben, aber das Böse wird nicht sein Eigenes; er bleibt erlösungsfähig. Das unaufgebbare religiöse Interesse fordert die Allgemeinheit der Sünde nicht bloß in historischer Beziehung, sondern auch nach der Seite hin, daß kein Mensch sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft sich der Macht der Sünde entziehen kann. An der Art und Weise, wie dieser Gedanke sichergestellt wird, haftet das religiöse Interesse nicht mehr. Es steht dem Dilemma der Erbsündenlehre, in das sich der Verstand verwickelt sieht, an sich kühl gegenüber; es ist ja lediglich ein gefolgertes Dogma. Das Dilemma besteht darin, daß die Herrschaft der Sünde durch die gesamte Zeit aus Vererbung erwiesen werden soll, daß aber gerade, wenn so der zwangsweise geschlossene Zusammenhang der Sünde sichergestellt wird, die Sünde als persönliche Schuld des einzelnen wieder aufgehoben wird. Fragen wir nach dem biblischen Befund, so kennt Gen. 3 keine zwangsläufige Bindung des Menschengeschlechts, wohl aber soll das erste Menschenpaar als für alle Menschen vorbildlich oder urbildlich hingestellt werden2). Und im NT kommt Ethelbert Stauffer zu dem !) Vgl. H. Xhielicke, Theologie in der Anfechtung, Tübingen 1949, S. 177. In der griechischen Kirche dagegen liegt die Fürbitte für böse Geister durchaus im Bereich der Möglichkeit, vgl. Basilius Zenkowsky a. a. O. S. 60. «) Martin Doerne, Der Mensch im Urteil der Bibel, Berlin 1949, S. 38.

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Ergebnis, daß der Begriff der Erbsünde noch nicht bekannt sei, wenn auch bereits alles darauf hin tendiere1). Während Kierkegaard in dem Fall Adams durchaus ein geschichtliches Ereignis sieht, faßt die neue Theologie die Erzählung vom Sündenfall Gen. 3 mehr als symbolischen Ausdruck für übergeschichtliche Vorgänge. „Urständ und Fall sind nicht zwei einander folgende historische oder prähistorische Epochen. Sie bezeichnen den Ursprung, von dem wir in unserem historischen Sein und Tun immer schon herkommen"2). Der Charakter ist bestimmt „durch Urentscheidung, die ja schon gefallen ist" 3 ). „Es liegt etwas im Vorbewußten, das unsere menschliche Existenz als eine gefallene, eine vor Gott geflohene erst ermöglicht, das unser ängstlich zwischen uns selbst und der Welt Hin- und Herlaufen als Angst vor Gott begründet"4). Damit wird genau der Tatbestand beschrieben, für den die alte Lehre von der Erbsünde nun eine Erklärung suchte. Es liegt nahe, die Begriffe Individuum und Gattung an das Problem heranzubringen und vielleicht durch solche Unterscheidung eine Aufhellung zu erreichen. Aber Walter Künneths Versuche in dieser Richtung befriedigen nicht5). Wir werden bei Kierkegaards Standpunkt verbleiben müssen, daß der Mensch immer zugleich der einzelne wie die Gattung ist. Damit knüpfen wir an Gedanken an, die in der griechischen Kirche schon immer lebendig gewesen sind. Der alte Kirchenvater Athanasius schreibt: „Wir sind mit allen wesenseins . . ., indem wir einander gleich und miteinander .identisch' sind". Der Gedanke vom Verwobensein der Menschen in eine lebendige Einheit durchdringt die ganze Auffassung der heiligen Väter; „die Kirche wird von ihnen so gesehen, daß sie in ihrem gnadenreichen Leben den göttlichen Plan von der Einheit der Menschheit offenbart. Denn der Mensch nimmt, da er das Wesen Adams besitzt, auch an seinem Fall teil" 6 ). Jeder ist für seinen Nächsten verantwortlich, und damit trägt schließlich jeder mit Schuld an allem, was Böses in der Welt geschieht. Das erscheint uns zunächst sinnlos und ist es auch in einer Welt, in der Eigennutz und Ausschließlichkeit herrschen. In dieser Welt wird auch keinerlei Vorstellung von einer Erbsünde oder Erbschuld !) ) 3) S. 124. 4) ') •) 2

Die Theologie des NT. 4. (5.) A„ Stuttgart 1948, S. 52f. Althaus, Christliche Wahrheit II, S. 147. E . Brunner, Der Mensch im Widerspruch, S. 314; H. Thielicke, Tod u. Leben, Gerardus van der Leeuw, Der Mensch und die Religion, Basel 1941, S. 104. A. a. O. S. 263ff. Nach Basilius Zenkowsky a. a. O. S. 45.

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Wurzel schlagen. Und dennoch hat die griechische Auffassung etwas Ergreifendes und läßt eine Ahnung aufkommen, daß wohl im Reich Gottes, dem Reich der Liebe, der Zusammenschluß der Seelen ein so inniger sein mag, daß einer für den anderen eintritt, einer sie alle zu schädigen vermag, entsprechend der Rettung, die der Eine, ganz Starke und Reine allen verschafft hat. Wie Ewigkeit und Willensfreiheit gehört auch die Lehre von der Erbsünde ausschließlich der religiösen Sphäre an. Jede Entfernung von Gott ist ein Absinken aus der Freiheit. „Darum ist . . . das Maximum seiner (des Menschen) Abhängigkeit von Gott zugleich das Maximum seiner Freiheit und nimmt seine Freiheit ab mit der Entfernung von seinem Ursprungsort, von Gott" 1 ). Wir dürfen dabei nie aus dem Auge verlieren, daß wir jetzt von der höchsten Freiheit, der Freiheit zum Reiche Gottes sprechen. Es charakterisiert Kants inneres Empfinden, wenn er die Freiheit in einem der Norm entsprechenden Handeln verkörpert findet. Wenn Th. Litt dagegen einwendet, auch das normwidrige Tun geschehe in Freiheit 2 ), so hat er zwar an sich durchaus recht; aber es ist eine Freiheit geringeren Grades, die hier in Anspruch genommen wird. Otto Dilschneider macht der philosophischen Ethik den Vorwurf, es gebe in ihr „keine echte Rede von Schuld, weil es keinen wirklichen Gläubiger der ethischen Forderung gibt" 3 ). Ebenso sagt K. Heim: Gibt es nichts Absolutes, sondern ist alles relativ, wird das Reden von Schuld sinnlos4). Oder wir denken an das Wort von Jaspers: „Ohne Gottesglauben versinkt der Glaube an den Menschen in die Verachtung des Menschen"5). Es sieht so aus, als würde damit das Problem der Erbsünde vereinfacht; allein das Wesen dieses Problems bleibt die Schuldfrage. Der Gedanke der Schuld ist eine Objektivierung, für die wir nie eine zutreffende Formulierung finden werden. Es hängt damit zusammen, daß das böse Gewissen kein Pendant auf einem anderen Geistesgebiet hat 8 ). Gegeben ist allein das Schuldgefühl; und dieses nimmt mit der Annäherung an Gott zu. Es ist natürlich, daß mit der wachsenden Freiheit das Bewußtsein der Verantwortung (auch dem Mitmenschen gegenüber, der durch uns schuldig wird) sich steigert und umgekehrt. Je sündhafter der Mensch, desto weniger will er von Schuld wissen. Solange noch ein Schuldbewußtsein vorhanden, ist die Trennung von Gott nicht völlig vollzogen. „Wem die Sünde selbstverständlich 2

) 3 ) *) 5 ) •) Begriff

E. Brunner, Der Mensch im Widerspruch S. 267. Mensch und Welt, S. 138. Gegenwart Christi, S. 99. Der christl. Gottesglaube — und die Naturwissenschaft — S. 264ff. Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949, S. 274. Walter Künneths Unterscheidung: Sünde ist ein religiöser, Schuld ein ethischer (a. a. O. S. 66) läßt sich nicht aufrechterhalten.

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gewiß ist, dem ist auch Gott selbstverständlich gewiß"1). Allerdings ist die Schuld viel größer und reicht viel weiter als das Schuldbewußtsein. Schuld setzt Verantwortlichkeit und also Freiheit voraus. Nimmt nun mit der gesteigerten Sünde die Freiheit ab, so scheint sich entsprechend auch die Schuld zu mindern, bis im Laster überhaupt nicht mehr von ihr die Rede sein kann. Die allererste, noch spielerische Entscheidung ohne jede ethische Reife im Morgengrauen frühester Kindheit würde die folgenschwerste Verantwortung zu tragen haben. Es würde sich so im einzelnen Menschenleben wiederholen, was in der Erbsünde für das ganze Menschengeschlecht schicksalhaft geworden sein soll. Karl Jaspers unterscheidet 1. kriminelle Schuld, 2. politische Schuld, 3. moralische Schuld, 4. metaphysische Schuld. „Würden wir Menschen von jener metaphysischen Schuld uns befreien können, wir wären Engel und alle drei anderen Schuldbegriffe würden gegenstandslos" 2 ). Allein die theologischen Aporieen über das Böse (Verdammnis-Apokatastasis, Allmacht-Schuld) beweisen die Unlösbarkeit des Problems3). So wird Karl Heim recht behalten 4 ): Die Reformatoren kommen der Wahrheit am nächsten, wenn sie in paradoxer Weise die absolute Unvermeidlichkeit und die absolute Unentschuldbarkeit der Sünde gleich stark behaupten. Man kann nun das Erbsündenproblem überraschend einfach durch Identifikation von Zeitlichkeit und Sündhaftigkeit lösen. In der Welt der Erscheinungen gibt es keine Freiheit; alles ist durch den Kausalzusammenhang miteinander verbunden, und durch die Generationskette wird der Mensch in ihn hineingestellt. Sein Eintritt in die Zeit ist durch die natürlichen Eltern und weiterhin durch den ersten Menschen vermittelt. Darum erscheint irdischen Augen die Sünde als eine von Adam her ererbte, die bis an das Ende der Tage keinen Dispens gestattet. Zuletzt hat die dialektische Schule mit kleinen Nuancen im einzelnen diese Auffassung eifrig vertreten. Es liegt nahe, den Eintritt in die sündhafte Welt an einen intelligiblen Fall der einzelnen Menschenseele zu knüpfen. Im Grunde haben wir es dann nur mit einer einzigen Sünde zu tun, und für diese trägt der Mensch selbst die volle Verantwortung; d. h. der (freiwillige) Eintritt in die Zeit ist an sich böse. Die Seele spricht: ich will nicht die Gemeinschaft des Reiches Gottes, ich will vielmehr die Vereinzelung, ich will die Zeit. Die Konsequenz ist die Bildung gnostischer Theorien: die Welt ist vom Teufel geschaffen. Georg Wünsch, Wirklichkeitschristentura, S. 146. ) Die Schuldfrage, Heidelberg 1946, S. 31 ff. 3 ) Philosoph. Logik, S. 538. 4 ) Leitfaden der Dogmatik II, S. 55. 2

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Aber so einfach liegen die Dinge doch nicht. Besonders scheinen drei Schwierigkeiten unauflöslich zu sein. Das Erdenleben wird entwertet und mit ihm auch die Bedeutung der historischen Gestalt Jesu von Nazareth. Liegt die eigentliche Sünde des Menschen jenseits seines Erdenlebens, so wird man auch Erlösung und Bekehrung ins Jenseits zu verweisen haben. Dann aber erfolgen die einzelnen Urfälle der (präexistenten) Menschenseelen durchaus freiwillig, d. h. sie stehen in keinem Zusammenhang untereinander. Die Erbsündenlehre als solche ist damit aufgegeben. Endlich widerstreitet die in Frage stehende Anschauung der christlichen Lehre von der Schöpfung. Gott hat weder den Satan als solchen noch die zeitliche Welt als Welt der Sünde geschaffen. Denn man kann nicht die Vertreibung aus dem Paradies mit dem Eintritt der Menschenseele in die Zeit gleichsetzen1). Die Theorie, die Zeitlichkeit sei an sich böse, findet eine eigentümliche Stütze an Martin Heidegger. In Abgrenzung gegen Hegel, der den Geist in die bereits vorhandene Zeit „fallen "läßt — was dieses Fallen ontologisch bedeutet, bleibt dunkel —, heißt es: ,,Der Geist fällt nicht erst in die Zeit, sondern existiert als ursprüngliche Zeitigung der Zeitlichkeit". Die faktische Existenz „fällt" als verfallende aus der ursprünglichen, eigentlichen Zeitlichkeit. Die Geworfenheit des Daseins, sein Charakter als eines ständig Verfallenden offenbart seine ganze Unheimlichkeit. „Das Sein . . . ist vor allem, was es entwerfen kann . . ., als Entwerfen schon nichtig". „Das Dasein ist als solches schuldig". „Durch die Moralität kann das ursprüngliche Schuldigsein nicht bestimmt werden, weil sie es für sich selbst schon voraussetzt" 2 ). Das Hineingestelltwerden in die Zeit versetzt allerdings die Seele in eine eigentümliche Lage. Die Zeit vereinzelt alles; die Eindrücke der Sinne übertönen, was aus dem Urgrund der Seele emporsteigt. Darum erfährt er die Schau in die Zeit als dauernde Spannung Gott gegenüber und empfindet alles, was auf die Seite des Menschen gehört, als vollständig von der Macht der Sünde beherrscht. Aber an und für sich brauchte es nicht so zu sein (FC: nicht Substanz, sondern Akzidens!); den Beweis hat Jesus erbracht; auch in dem zeitlichen Querschnitt seines Seins, in seiner Erdenexistenz hat er sich nie gegen Gott abgegrenzt. Seine Speise war es stets, den Willen des Vaters zu tun. Ich erlebe das Verhaftetsein an die Erbsünde nicht in einzelnen schlechten Taten, sondern in der ganzen Richtung meines Willens, „Die Austreibung aus dem Paradiese ist identisch mit dem Entstehen des Ich", sagt Ludwig Klages, Die Grundlagen der Charakterkunde, 4. A., 1926, S. 153, zitiert nach Gerardius van der Leeuw, Der Mensch und die Religion, S. 103. 2 ) Sein und Zeit, S. 435f., 285f.

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der von Gott fortstrebt zu vermeintlicher Selbständigkeit und Selbstherrlichkeit. Den Ursprung dieser Tendenz kann ich nicht mehr feststellen; er verliert sich im Morgendämmern meiner Erdenexistenz. Da ich die völlig gleiche Tendenz bei meinen Eltern und Voreltern finde, verlege ich sie an den Anfang des Menschengeschlechts; ich objektiviere die maßgebende Kurslegung meines Daseins in dem Urfall Adams. Was aber bedeutet der Ausdruck: Knechtschaft der Sünde ? Ist er eine bildliche Redewendung, oder soll man ihn im eigentlichen Sinne verstehen ? Bin ich mir selbst, etwa einem Unter-Ich, oder einem Ding oder einem fremden Willen verknechtet P1) Wieder drängt sich der Gedanke an den Teufel auf als eine überragende Intelligenz, die uns in ihren Bann geschlagen hat. Es liegt in der Natur der Sache, daß eine menschliche Intelligenz nie zu einem abschließenden Urteil darüber kommen kann, ob ein solcher böser Geist existiert und inwieweit ihm die Verantwortung an dem Fall der gesamten Menschheit zuzuschieben ist. Denn könnten wir darüber befinden, wären wir jenem Geist ja nicht verknechtet. Jedenfalls wäre hier Ereignis geworden, was wir für den vernünftigen Menschen ablehnen zu sollen glaubten (vgl. S. 80), daß nämlich eine überragende Intelligenz ein in voller Klarheit als sinnlos erkanntes Ziel verfolgt. Und das steht ebenso fest, daß kein fremder Wille dem Menschen Verantwortung und Schuld für seine Sünde abnimmt. Werfen wir noch einmal einen Blick auf die Schichtentheorie von N. Hartmann2). Es ist durchaus nichts Unerhörtes, wenn die Freiheit einer gewissen Schicht nicht recht zur Entfaltung kommen will, sondern verkümmert. Denken wir nun das menschliche Seelenleben als aus verschiedenen, übereinanderliegenden Schichten erbaut, so ist damit für die Freiheiten der völlig verschiedenen Ebenen oder Grade, die sich beim Menschen feststellen lassen, eine Lagebestimmung gegeben. Es gehört zum menschlichen Personenbilde, daß diese Freiheiten in recht variablem Maße zur Entfaltung gekommen sind. Es liegt nun nahe, die menschliche Entwicklungsmöglichkeit als eine begrenzte anzusehen und der für den gesunden, unverbildeten Menschen erreichbaren obersten Schicht apodiktisch die Fähigkeit abzusprechen, nun noch darüber hinaus eine weitere höhere Schicht zu bilden. Eine solche wäre dann die Zugehöriglkeit zum Reiche Gottes. Der Mensch kann sich aus eigener Kraft nicht dazu erheben; hier muß der heilige Gottesgeist helfend eingreifen. Es steht dann nichts im Wege, die retardierenden Kräfte, die jede Weiterbildung verhindern, bildlich oder auch real mit der Erbsünde gleichzusetzen. In der Sünde gerät der Mensch unter die Herrschaft des „Man" und glaubt, frei zu handeln, Friedr. Gogarten, Weltanschauung und Glaube, Berlin 1937, S. 85. s

) Vgl. S. 239 f.

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Man kann auch noch einen Schritt weitergehen und die Gesamtheit der natürlichen Schichten als einen Torso betrachten, der über sich selbst hinaus weist. Denn die Endlichkeit vermag dem menschlichen Willen immer nur Teilziele zu bieten, aber niemals das Hochziel, das alle diese Teilziele in sich oder unter sich subsummiert. Es liegt vielmehr im Reich Gottes, auf welches der Mensch eben angelegt ist. Daß dieses Hochziel nur durch Offenbarung enthüllt und daß die Freiheit dazu von oben geschenkt wird, erweist sich auch aus der Tatsache, daß selbst nach erfolgter Offenbarung die Philosophie, d. h. die natürliche menschliche Vernunft, daran vorübergeht. Damit besteht eine beachtenswerte Freiheit für mannigfache moralische und andere hohe Werte auf der obersten natürlichen Schicht durchaus zusammen, nur daß eben diese mannigfachen hohen WTerte durch kein Hochziel zusammengefaßt und ausgerichtet sind. Aber die Theorie ist zu leicht, zu glatt, man möchte sagen, zu harmlos, als daß sie dem Ernst der Sünde gerecht werden könnte. Denn Sünde ist nicht nur eine Unvollkommenheit der menschlichen Natur, sondern ein Nein-Sagen, eine Abkehr, ein Sinken und Vergehen. Der Mensch fühlt die Unentbehrlichkeit eines Hochziels; und da der Weg und der Blick nach oben verbaut ist, sucht er in anderer Richtung und läßt sich durch ein falsches Hochziel blenden. Man kann auch sagen, der Teufel dirigiert ihn durch Vorspiegelung eines solchen Zieles in die verkehrte, Gott abgewandte Richtung, was man — je nach Meinung — mehr buchstäblich oder mehr real, vielleicht auch im Sinne einer permanenten Massenpsychose fassen mag. Zudem kommt eine andere Beobachtung. Es gehört zum Wesen des Lebens, daß ein Organismus nicht in dem erreichten Zustande beharrt; er entwickelt sich oder er vergeht. Auf der obersten Stufe sollte der Mensch die Empfänglichkeit erreicht haben, sich durch Gottes Geist zu einer noch höheren Schicht weiter bilden zu lassen. Wird dieser Prozeß, etwa durch eigene Schuld, gehindert, so bleibt nicht der Status quo erhalten, sondern es tritt ein Absinken, Welken, Vergehen ein. Es ist nicht erforderlich, eine besondere Strafe Gottes anzunehmen; das Vergehen selbst ist diese Strafe. Werden und Vergehen in der Zeit erreichen nie den Endpunkt. Absolutes Sein bzw. Nichtsein ist in der Zeit nie gegeben. Ein absolut guter (freier) Mensch hätte ebenso wie ein absolut böser sein Dasein erfüllt und im Erdenleben keine Statt mehr. Sünde ist Absonderung von Gott. Erbsünde besteht darin, daß wir bereits mit der Tendenz der Selbständigkeit gegenüber Gott geboren werden. Nur noch unvollkommen arbeitet das edelste Organ in uns, der Urgrund der Seele. Aber noch birgt sich in ihm eine letzte Empfänglichkeit für die Offenbarung des freien und zur Freiheit berufenden Gottes.

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6. Freiheit im Reich Gottes „Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht", lautet das ernste Wort des Herrn; und wenn er fortfährt: „Wen aber der Sohn frei macht, der ist recht frei", so läßt er damit erkennen, daß es keine wahre Freiheit gibt außer der, die als ein religiöses Gnadengeschenk verliehen wird. Gott nimmt den Menschen ernst; er ist für ihn kein Spielzeug schöpferischer Herrenlaune. Gewiß hätte der allmächtige und gütige Gott den Menschen von allem Bösen und allem Übel frei schaffen können. Aber seiner Herrlichkeit war das mechanische J a der Kreatur nicht genug; er wollte ein freies, liebevolles Ja, wie es das Kind zu seinem Vater spricht. Ein etwas anderer aber doch verwandter Gedanke wird im Hiobprolog ausgesprochen. Satans Anzweifelung der Frömmigkeit Hiobs ist als eine Abwertung Gottes zu verstehen; Du armer Gott bildest dir wirklich ein, der Mensch könnte dich um deiner selbst willen lieb haben? Er denkt nicht daran; alle seine Frömmigkeit ist Berechnung. Du bezahlst ihn ja dafür mit deinen Gaben! Aber verzichte einmal darauf, die Liebe des Menschen durch deine Wohltaten zu erkaufen, so wirst du sehen, was die dir dargebrachte Verehrung wert ist! Das läßt Gottes Würde sich nicht sagen. In der mit dem Satan abgeschlossenen Wette begibt sich Gott aller äußeren Vorteile und erwartet trotzdem, vom Menschen aus freien Stücken geliebt zu werden. Gott will also den Menschen wenigstens insofern frei haben, als er zu seiner Liebe ja oder nein sagen kann. Das bedeutet aber, daß der absolute Wille einen unendlich kleinen Willen neben sich will, m. a. W. Gott beschränkt seine Allmacht, um die Möglichkeit zu schaffen, daß seine Kreatur aus freiem Entschluß zu seiner Vaterliebe ja sagt. Dabei geht er das große Wagnis ein, einen erheblichen Teil seiner Geschöpfe, wenigstens zunächst, zu verlieren. Sein Wille ist immer königlich auf das Schwerste gerichtet. Er will ein Reich, in dem die Liebe herrscht. Dazu kann er keine Puppen oder Schachfiguren gebrauchen, sondern nur Wesen, die frei seine Liebe erwidern, ohne durch seine Allmacht dirigiert zu werden. Das klingt freilich anthropomorph wie jede Objektivierung ; aber wie dürften wir die Behauptung wagen, seine Allmacht sei nicht allmächtig genug, um Raum für die Liebe seines Kindes zu schaffen. Handelt er doch nicht aus starrer Notwendigkeit heraus, sondern als die persönliche Liebe. Wir sprachen bereits davon (S. 82), daß wahre Freiheit auch die Freiheit des anderen will; wie viel mehr gilt dies von dem absoluten, d. h. unbedingt freien Gott dem Menschen gegenüber! Wahre Ursächlichkeit ist der Wirkung gegenüber transzendent. Deswegen kann sie derselben auch ihr eigenes Sein lassen1). !) August Brunner, Der Stufenbau der Welt, München 1950, S. 353.

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„Nicht ihr habt mich erwählet, sondern ich habe euch erwählet" und „er hat uns zuerst geliebt". Diese Worte machen deutlich, daß wir keine Freiheit haben, in das Reich Gottes einzutreten, sondern daß wir aufgenommen werden. Wir ahnen bereits, daß dies durch Vergebung geschieht. Wir werden in das Reich Gottes aufgenommen, bedeutet: Nun können auch wir lieben, d. h. nun sind wir frei. Wie geschieht das? Will Gott für den Menschen die Freiheit des ewigen Lebens, so hat er ihn auch darauf angelegt. Es handelt sich um eine rein rezeptive Fähigkeit, die nichts anderes tun kann, als sich von Kräften der oberen Welt überwältigen zu lassen. Wir kennen bereits ein Organ im Menschen, das einzig dafür in Frage kommt, es ist der Urgrund der Seele. Er vermittelt Anregungen aus der Ewigkeit an den Menschen; dieser kann zwar nichts dazu tun, wohl aber sich diesen Anregungen gegenüber versagen (vgl. IV, 1). öffnet sich der Mensch den Kräften der oberen Welt, so kann der H. Geist sein Befreiungswerk beginnen. Es geschieht etwas völlig Umwandelndes: Gott schafft einen neuen Menschen, und zwar mit einem ganz anderen, nämlich durch den H. Geist bzw. den Geist Christi bestimmten seelischen Habitus. Daher sprechen wir von einer neuen Geburt oder Wiedergeburt. Man darf nicht einwenden, daß eine Geburt jeden Rückfall in eine frühere Daseinsform ausschließt, während das durch die Wiedergeburt inaugierte neue Leben einen Rückfall in den alten Adam an den anderen reiht. Die natürliche Geburt kann als ein zeitliches Ereignis nur ein zeitliches Dasein einleiten; das neue Leben ist nicht von dieser Erde und unterliegt anderen Gesetzen. Zeitliche Unterbrechungen berühren in keiner Weise seinen Bestand; ist doch ewiges Sein ein Werden in der Zeit. Darum sagt Bauch mit Recht in seiner Ethik, Freiheit ist keine Eigenschaft, sondern bedeutet immer ein Werden 1 ). Im wiedergeborenen Menschen ist die Erbsünde nicht aufgehoben, aber er hat das Hilfsangebot aus dem Reich der Freiheit, das er im Urgrund der Seele vernahm, angenommen. Der heilige Gottesgeist hat das Ruder umgelegt; aber das niedere Schiffspersonal ist ständig bestrebt, den alten Kurs wieder herzustellen. Es steht unter dem Zwang der Erbsünde wie einer rebellischen Verschwörung. Die Navigation darf niemals in seine Hände gelangen; sie ist nur so lange als die rechte gewährleistet, als der heilige Lotse selbst am Ruder steht. In Christo sein ist das Lebensprinzip der neuen Kreatur. Bezeichnenderweise kann der Satz ohne Bedeutungswandel auch umgekehrt werden: Christus wohnt in mir. Ich werde durch Christi Geist, den H. Geist der Gemeinschaft, bestimmt; Christus wirkt in mir person!) S'. 248.

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bildend. Die Frage nach der Abgrenzung der Wirkung Christi in uns und unserer eigenen Funktion ist nicht etwa als unfromm und vorwitzig verboten, sondern in sich unsachlich. So wenig wie sich die beiden Naturen in Christo scharf gegeneinander abgrenzen lassen, ist dies bei dem endlichen und unendlichen Faktor im Seelenleben des Wiedergeborenen möglich. Die F.C. läßt zwar den Menschen im neuen Stande nur durch die Wirksamkeit des H. Geistes tätig sein, lehnt aber ausdrücklich ein Nebeneinander beider Faktoren, „wie zwei Pferde miteinander einen Wagen ziehen", ab (Sol. Deel. II, 66). In dem Maße, als der endliche Wille für den unendlichen Willen transparent wird, bestätigt er sein Bürgertum im Reiche der Freiheit. Läßt sich ein Mensch völlig durch einen anderen Menschen bestimmen, so liegt Hörigkeit vor; geschieht es durch unheimliche Mächte, so sprechen wir von Besessenheit; geschieht es durch den Geist Gottes, so ist es Freiheit. Die Einwohnung Christi oder des H. Geistes ist keine Besessenheit, keine Vergewaltigung der endlichen Persönlichkeit. Diese soll nicht beiseite geschoben werden, sondern über sich selbst hinauswachsen. Im Reich der Liebe gibt es kein hartes Nebeneinander, keine starre Ausschließlichkeit. Ausschließlich wirkt dagegen die Naturkausalität. Das zeitliche Leben ist eine Strahlenbrechung des ewigen. Der Grundwille ist in ein großes, unübersichtliches Netz einzelner Willensakte zerfasert, die durch viele Ursachen bedingt und für das Höchste unfrei sind; in der geistgewirkten Glaubensgewißheit der Berufung und Rechtfertigung aber kündet sich immer stärker und seliger die ewige Freiheit an.

X. Die Erlösung 1. Vergebung Im christlichen Glauben handelt es sich nicht um ein Gemengsei verschiedener Lehren, sondern um eine Grundwahrheit. Die christliche Anthropologie ist ebenso Glaubensgegenstand wie die Christologie; beide gehen auf ein und dieselbe Grundobjektivierung zurück. Sie können daher nur in ihrer Wechselwirkung entwickelt werden. Der Heilserkenntnis entspricht die Sündenerkenntnis und umgekehrt. Eine Änderung meiner Stellung zur Sünde berührt auch meine Stellung zum Heiland. Die Frage, ob der Christusglaube das Sündengefühl vertieft oder ob vielmehr umgekehrt das Sündengefühl den Glauben an Christus erst verinnerlicht, ist falsch gestellt. Das Christentum als Erlösungsreligion unterscheidet sich von den anderen Erlösungsreligionen dadurch, daß es am klarsten und am entschiedensten die Sünde als das Übel, von welchem erlöst

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werden soll, in den Mittelpunkt gestellt hat. Es erweist sich damit als die absolute Ethik. Alles dreht sich in ihm um die beiden Begriffe Sünde und Gnade. All unser Erfassen orientiert sich an Gegensätzen; so kann auch der Glaube weder über Gott noch über den Menschen schlechthin etwas aussagen, sondern lediglich über das Verhältnis beider zueinander. Dieses Verhältnis erhält aber vom Menschen aus seine Bestimmung durch die Sünde. Darum ist die Vergebung (Gnade) der Zentralbegriff des christlichen Glaubens. Verschiedenartige Systeme des christlichen Glaubens haben ihren Differenzpunkt stets in der Lehre von der Sünde. Es ist von großer Wichtigkeit, das Moment der Kraftmitteilung in der Vergebung nicht zu übersehen. Beschränkt man die Vergebung auf ein Nichtanrechnen von tatsächlich Geschehenem, so nimmt sie die Züge bloßer Nachgiebigkeit an, die das Gerechtigkeitsgefühl des Menschen als eine gutmütige Inkonsequenz empfinden würde. Es kann in Gott keine Spannung zwischen Heiligkeit und Liebe eintreten; es gibt in ihm nur heilige Liebe1). Gott ist das Gute und Gott ist Liebe, sind zwei völlig synonyme Aussagen. Die Einbeziehung des Sünders in das Reich des Guten oder in das Reich der Liebe ist die Mitteilung der Freiheit. Und das geschieht in der Vergebung. Man kann das neue Leben im Stande der Vergebung unter dem Gesichtspunkt der Dankbarkeit anschauen, wie es die reformierte Kirche tut; deutlicher und vielleicht auch angemessener spricht man von der Begnadung mit der Freiheit im Reiche Gottes. Daß die Vergebung ohne Kraftmitteilung nicht denkbar ist, zeigt die mit ihr als selbstverständliche Folge gegebene Vergebungsbereitschaft andern Personen gegenüber. In der Erzählung vom Schalksknecht erfordert es die Gleichnisform, daß der König durch eine neue Entscheidung die dem Schalksknecht bereits gewährte Vergebung wegen seiner Hartherzigkeit widerruft. Ohne Gleichnis gesprochen stößt sich der Schalksknecht damit, daß er selbst nicht verzeihen mag, automatisch aus dem Liebeszusammenhang des Reiches Gottes aus. Wer in diesem Zusammenhange steht, leitet die empfangene Vergebung sofort weiter, so wie wir elektrische Ströme dadurch weiterleiten, daß wir einander die Hände reichen und eine Kette bilden. In dem Augenblick, da ich meinem Nachbarn den Strom nicht vermitteln will und meine Hand aus der seinigen löse, empfange ich auch selbst keinen Strom mehr. Wahrhaft Verzeihung ersehnen ist identisch mit Sinnesänderung, metanoia, d. h. es wird die entgegengesetzte, also gute Gesinnungsrichtung eingeschlagen. Wo Vergebung ist, da ist wahres Sein (Luther: da ist auch Leben und Seligkeit). Umgekehrt, wo Umstellung vor sich Werner Eiert, Der christliche Glaube, S. 427. 7

K l a m r o t h , L u t h e r i s c h e r Glaube i m D e n k e n der G e g e n w a r t

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geht, da ist auch Vergebung eingetreten (Gleichnis von den beiden ungleichen Söhnen). Die Frage, ob die Vergebung der Umstellung (zeitlich oder logisch) vorangehe oder umgekehrt, ist genau so falsch gestellt wie die Frage nach der Priorität des Sünden- oder des Heilandsgefühls 1 ). Daß wir nun aber überhaupt die Bewegung in der verkehrten Richtung als Schuld empfinden und die Umstellung als göttliche Rettungstat, beruht auf einer Objektivierung. Als geschaffene Geisteswesen vermögen wir unser Verhältnis zu Gott nur von unserem endlichen Ausschließlichkeitsstandpunkt aus aufzunehmen, und empfinden es daher als Spannung. Daß wir die Spannung überhaupt wahrnehmen, d. h. daß wir objektivieren, verrät unsere ewige Berufung. Der Unselige objektiviert nicht. Ohne die Objektivierung kommen wir nicht aus. Wer der religiösen Bildersprache der Objektivierung entraten zu können meint und sich nur auf dem Boden rationaler und philosophischer Erörterungen bewegen will, dem verflüchtigen sich die Begriffe unter den Händen, und die blutleeren Schemen haben mit religiösethischen Werten nichts gemein2). Logisch läßt sich der Akt der Vergebung also in die beiden Momente gliedern: Fortnahme vorliegender Schuld und Mitteilung von Kraft zur Vermeidung von neuer Schuld. Eine menschliche Verzeihung enthält weder das eine noch das andere in vollem Sinne; rechtes Vergeben ist allein eine Funktion Gottes. Göttliche Vergebung hat in einem menschlichen Freispruch keine Analogie 3 ). Durch ein Vergehen an meinem Nächsten werde ich nicht nur an ihm, sondern in erster Linie Gott gegenüber schuldig. Mag auch das sterbende Opfer seinem Mörder noch verzeihen, so ist damit keineswegs gesagt, daß Gott dem Mörder verzeiht. Menschliches Verzeihen entspricht der Fürbitte, göttliches Vergeben ist ein metaphysischer Akt von gewaltiger Tragweite. Wir werden nicht bloß im Sturz aufgehalten, sondern erfahren eine Mitteilung neuer Energien. Die Vergebung erhellt nicht nur Paul Althaus erklärt als Luthers Meinung: „Das Tun im Glauben ist Leben im Heil. Nicht Vorbedingung des Heils, aber auch nicht nur Folge, sondern das Heil selber" (Die lutherische Rechtfertigungslehre und ihre heutigen Kritiker, Berlin 1961, S. 27). 2) „Wohl ist der Gedanke der Liebe Gottes zum Menschen eins jener in die Tiefe des Herzens führenden Symbole, die zum Menschsein erziehen. Aber als ein Sein gedacht, wird in solchen gleichsam dinghaft sich verfestigenden Symbolen, die dabei ihren Symbolcharakter verlieren, Gott zum Menschen. Der Gottheit wird dann die Bewegung, der Mangel und das Drängen zugemutet, das den Grundcharakter des Menschseins ausmacht." Jaspers, Phil. Logik, S. 1012. 3)

Heinrich Vogel, Gott in Christo, S. 921.

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dem im Dunkeln Wandernden seinen gefährlichen Standort und zeigt ihm den Weg zur Umkehr, sondern bringt ihn sogar wieder an den Punkt zurück, da er abirrte. Es wird mir nicht allein die Schuld vergeben und mein Versprechen, mich zu bessern, gnädig angenommen, sondern ich werde aus meinem beklagenswerten Zustande erlöst 1 ). Es ist wieder alles ins Reine gebracht worden; ich habe durch die Sünde nichts eingebüßt, sondern stehe wieder an dem gleichen Ort wie vordem. Ja womöglich bin ich durch die Gnade der Vergebung noch weiter gekommen; wem viel vergeben ist, der liebt viel. Der himmlische König erläßt seinem sündigen Knecht nicht nur die Schuldhaft, sondern die Schuld erläßt er ihm auch. Wie ist das möglich? Etwas Unfaßliches ist geschehen. Ich habe gewissermaßen eine Strecke zeitlos zurückgelegt; es ist Arbeit geleistet worden ohne Verbrauch irdischer Energie. Ein überirdischer Vorgang, ein Mysterium, hat sich abgespielt. Versuchen wir einmal, dieses Überspringen einer Wegstrecke uns sub specie aeternitatis klarzumachen. Wir erinnern uns dabei an das VIII 2 über das Böse Ausgeführte. Das Böse ist weder an sich ewig noch etwa gar irgend wie ewig geworden; es hat kein wahres Sein. Sei Herrschaftsgebiet ist die Zeit. Sind die zeitlichen Vorgänge an sich nicht real, so auch nicht das durch die Sünde angerichtete Unglück. Vergebung ist die göttliche Vergewisserung, daß dem Schuldzustand, der Entfernung von Gott, keine reale Bedeutung zukomme; du bleibst in meiner Liebe, du bleibst im Sein. Wir dürfen die Sünde als ein rein zeitliches Ereignis sehen und sind selig dankbar, daß es für uns nicht ewig real werden soll. Die Vergebung nimmt mich wieder in die große Gemeinschaft auf. Dieses gesamte Geschehen steht uns im H. Abendmahl vor Augen. Das Sakrament bringt die metaphysische Seite der Sache zu sinnfälligem Ausdruck. Dasjenige, was vergeben werden soll, die Schuld, hat irgend ein bestimmtes Ausmaß. Es ist die Strecke, die wir in der von Gott abgewandten Richtung zurückgelegt haben. Wo nicht von Vergebung, sondern von Selbsterlösung die Rede ist, würde es sich darum handeln, auf der eingeschlagenen Bahn innezuhalten, umzuwenden und die eben zurückgelegte Strecke wiederum in umgekehrtem Sinne zu durchlaufen. Dabei muß der Mensch versagen. Allerdings kann der Kampf gegen die Sünde auch schon vor der Erfahrung der Vergebung geführt werden; doch handelt es sich dann nur um Gradunterschiede innerhalb der Sünde selbst. Sündigen heißt Abnehmen, Vergehen; und Kampf wider die Sünde bedeutet die Verlangsamung *) Selbstverständlich k o m m t dabei nur meine sittliche Verfassung in F r a g e und nicht ohne weiteres a u c h alle natürlichen Folgen, die sich an die Sünde knüpfen. V

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dieses Prozesses, Vergebung dagegen das Umlegen in die andere Richtung. Dies kann natürlich nur bei Einwilligung, j a auf Verlangen des Sünders hin geschehen; die Absolution kann niemandem aufgenötigt werden. W i r müssen überall im Evangelium, wo sie, ohne vorher ausdrücklich begehrt zu sein, ausgesprochen wird (z. B . Matth. 9 2), eine entsprechende Herzensverfassung voraussetzen 1 ). E s ist kein Wunder, wenn überall da, wo Selbsterlösung gepredigt wird, die sittlich religiösen Werte gering sind. J e dürftiger das Verständnis der Sünde, desto dürftiger das Bewußtsein der Schuld, desto geringer auch die Vergebung, desto geringer aber auch der Fortschritt zur Besserung. Der Sünder hat sich von der Gemeinschaft ausgeschlossen; er kann nun nicht einfach von sich aus wieder eintreten; er muß angenommen werden. Selbst Vergebung ist Selbsttäuschung. „Ich vergebe mir selbst" heißt, ich nehme mich in meine eigene Gemeinschaft auf, in die Ausschließlichkeit, m. a. W . ich bleibe böse. Theodor Litt sieht in der Selbsteinkehr des Menschen nicht eine Entdeckung des Ich, sondern eine Veränderung, eine T a t sowohl wie ein Erleiden 2 ). Da uns Christus eine Gesinnungsethik und nicht eine Tatethik gegeben hat, so kommen für die Vergebung im christlichen Vollsinne nicht einzelne Fälle, sondern sündige Gesinnungszustände in Frage. Nun bitten wir j a allerdings Gott auch für einzelne Vergehen um Verzeihung; aber im Grunde meinen wir die darin zum Ausdruck kommende Grundrichtung des Herzens. Die einzelnen Sünden sind gewissermaßen die Anzeichen derselben. Wenn der Herr von uns fordert, daß wir nicht 7mal, sondern 70mal 7mal vergeben, so erinnert eine solche unerschöpfliche Vergebungsbereitschaft an die grundsätzliche Gesamtvergebung Gottes. Jeder einzelne Vergebungsakt dem Bruder gegenüber will sagen: wir wollen uns nicht irre machen lassen; wir leben beide nur von der Vergebung unseres Herrn. Darum sollst du immerdar für mich der Bruder sein, der im Stande der Vergebung lebt, d. h. ich will daran festhalten, daß auch meine Vergebung dir gegenüber eine grundsätzliche ist. Jede Vergebung verändert unsern Stand auf der Skala des sittlichen Werdens; je intensiver die Vergebung, um so deutlicher die neue Richtung. Umgekehrt ist die Sünde das sichere Anzeichen dafür, daß in dem betreffenden Augenblick die Richtung wieder eine verkehrte ist. Ungewiß bleibt dabei, ob es sich um eine grundsätzHans Windisch, Das Erlebnis des Sünders in den Evangelien, Ztschr. Xheol. u. K . 1917, S. 292ff., weist darauf hin, wie knapp die Bekehrungsgeschichten in den Evangelien ausgeführt sind. *) Die Selbsterkenntnis des Menschen, Hamburg 1948, S. 22.

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liehe Kursänderung oder nur um eine flüchtige Reaktion (Wellenlinie) handelt; erst die Vergebung gibt uns die Gewißheit, daß es in der rechten Richtung vorwärts geht. Heilsgewißheit ist Vergebungsgewißheit. Eine möglichst häufige Bitte um Vergebung ist daher dem Christen Bedürfnis. Vom Standpunkt der Ewigkeit aus gibt es nur eine einzige Vergebung1) (daher ersetzt der christliche Glaube die vielen Einzelopfer durch das ewig gültige Sühnopfer Christi); in der Zeit aber wird sie dem Menschen nicht mit einem Male fertig appliziert, sondern in eine über das ganze Leben hin verstreute Reihe von Vergebungsakten zergliedert, entsprechend dem zeitlichen Bewußtwerden einzelner Sünden. Daher wird der Gedanke an sie das ganze Leben beherrschen; die Sünde als der Gegenpol des Guten ist virtuell jeden Augenblick gegenwärtig. In der Ewigkeit, die ja keine Veränderung kennt, bedeutet die Vergebung kein Geschehen, sondern einen Zustand; es ist das Bewußtsein der rettenden, d. h. im Sein erhaltenden Liebe Gottes. Auch wenn wir einst von der zeitlichen Schranke frei sein werden, wird uns Gott nie anders als der Rettende erscheinen, als der, dem wir unser Sein verdanken. Jede einzelne Sündenvergebung ist ein Erinnern, ein Bestätigen der ewigen. Kein anderes Ziel hat absoluten Wert. Wissenschaft und Kunst nehmen unsere Kräfte, falls sie nicht letztlich doch im Dienst der Religion stehen, für relative und daher schließlich wesenlose Ziele in Anspruch. In der christlichen Vergebung dagegen wird ein wirklicher Selbstzweck, ein absoluter Wert gegeben. Da möchte man zum Augenblicke sagen: „Verweile doch, du bist so schön." Man atmet Ewigkeit. Entsprechend wird unsere ständige sittliche Unzulänglichkeit nicht nur als augenblickliche Störung, sondern als positiver Unwert empfunden. Alle anderen Übel haben nur relative Bedeutung; wer aus schlimmer Lage kommt, dem erscheint ein geringeres Übel sogar als ein Gut. Aber die Sünde ist der Unwert an sich. So ist die Vergebung das Bestimmende im Christentum. 2. Die Bedeutung des Kreuzes Der religiöse Wert, der im Christentum aller Zeiten, und zwar nicht nur in Urkunden und Lehren, sondern unmittelbar im frommen Empfinden den ersten Rang einnimmt, ist die Vergebung der Sünden. Fragt man nach dem dogmatischen Angebot, durch welches sie zustandekommt, so wird man mit überwältigender Einmütigkeit Vgl. Th. Harnack, Luthers Theologie I, S. 292f.

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auf das Kreuz Christi verwiesen. Als das Mittel der Vergebung steht das Kreuz im Zentrum der christlichen Frömmigkeit. Überall da, wo die Verbindung mit der Sündenvergebung aufgegeben wird, tritt sofort auch das Kreuz aus seiner beherrschenden Stellung zurück. Die Gemeinde würdigt das Kreuz als das einzige Mittel der Vergebung, indem sie unter dasselbe die beiden Worte „für mich" schreibt. Er hat etwas geleistet, was wir eigentlich hätten leisten sollen und nicht leisten konnten; er hat getilgt, was wir getan haben und was sonst unweigerlich uns ins Verderben gezogen hätte. Es ist selbstverständlich ausgeschlossen, die metaphysische Ursache der Vergebung rational darzustellen. Man kann nur Grenzen abtasten und Richtlinien ziehen. Praktisch läßt sich sagen, daß der Christ seine Schuldenlast unter das Kreuz schleppt und in der Gewißheit, daß hier Unsagbares aus unfaßbarem Erbarmen heraus für ihn geschehen sei, der Vergebung inne wird. Alles weitere ist Spekulation und gründet sich nicht mehr auf unmittelbares religiöses Gefühl. Die psychologische Umschreibung, daß unedle Triebe nur dadurch entmächtigt werden, daß edlere an ihre Stelle treten, mag wohl alles registrieren, was sich von den inneren Vorgängen beobachten läßt; das Wesen der Sache liegt jedoch viel tiefer. Es ist uns unter dem Kreuz, als dürften wir einen Blick in den metaphysischen Kern des Daseins tun, schauen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und dieses Wesenhafte ist der Zug zum Aufbauen, die Liebe. Die beiden Prinzipien, Liebe und Ausschließlichkeit, werden uns hier mit solcher Eindrücklichkeit vor Augen gestellt, daß wir intuitiv begreifen. Der alte Mensch ist zerbrochen; die Vergebung, die Umlegung, das große Wunder ist geschehen. Sollen die inneren Erfahrungen gelten, so muß etwas da sein, was erfahren wird, und seine Wahrheit muß ewig, d. h. metaphysisch begründet sein. Die Metaphysik des Kreuzes spiegelt sich in den seelischen Vorgängen. Der am Kreuz objektiv gegebene Wert wird im Glauben angeeignet. Jedwede Vorstellung eines Karfreitag angesammelten Schatzes, der nun einfach unter uns verteilt wird, ist grundsätzlich abzulehnen. Denn letztlich haben wir es unter dem Kreuz mit Gott zu tun. Jesus ist der Weg zu Gott, aber nicht so, daß er uns gewissermaßen einen gefälschten Paß in die Hand drückt. Es soll uns vielmehr der Anschluß an eine große Kraftquelle ermöglicht werden, und das geschieht in der Vergebung, der Vereinigung mit Gott. Jesus hat durch sein Kreuz ein Festland der Liebe in das Meer der Vereinzelung geschoben, auf dem wir Fuß fassen und von dem aus wir wieder beginnen können. Auch ein vom Anfang bis zum Ende verpfuschtes Leben wird durch die Vergebung wieder wertvoll gemacht.

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Die göttliche Liebe zieht die in sich Vereinzelten in den großen Zusammenhang des Reiches Gottes hinein. Wer Vergebung erfährt, kann nicht einen eigenen Kontinent für sich bilden; es gibt nur e i n e n Zusammenhang des Guten. Die Aufnahme bewirkt das Kreuz. Das Vereinzelungsprinzip der Reichsferne macht auch vor der Seele keinen Halt, sondern atomisiert sie in sich. Jesus bringt den Menschen wieder in sich zusammen, erlöst ihn von den quälenden Disharmonien und verleiht ihm Lebensziel und -wert. Wo das Ewige sich in der Zeit manifestiert, ist immer eine neue Schöpfung. Gott setzt wieder einen Anfang; denn er ist unbedingt der Herr über die Zeit. So reichhaltig die Schrift die Wirkung des Kreuzes beschreibt, so schweigsam wird sie, wenn wir nach der metaphysischen Deutung fragen. Die von Jesus vollbrachte Leistung wird Markus 10 45 als Lösegeld für viele bezeichnet. Das ist immerhin zu beachten, wenn auch der Ausdruck nicht exklusiv, sondern inklusiv1) zu verstehen ist. Das Lösegeld ist ein bildlicher Ausdruck dafür, daß Jesus sein Leben hat hingeben müssen, um den Menschen eine bis dahin nicht vorhandene Möglichkeit zu schaffen 2 ). Neben das Bild vom Lösegeld tritt das andere, ebenso gewaltige vom stellvertretenden Strafleiden im Anschluß an Jes. 53. Aber ein Bild bleibt es deshalb doch, so wie das Wort vom Lösegeld. Man könnte den Ausspruch von Heinrich Vogel3), Jesus mache sich dadurch, daß er an unsere Stelle trete, uns gleichzeitig, auch umkehren: dadurch, daß er sich uns gleichzeitig macht, tritt er an unsere Stelle. Tatsächlich bleibt die Anselmische Satisfaktionstheorie auch heute noch die gewaltigste Deutung des Geschehens auf Golgatha4). Aber Anselm faßt das stellvertretende Strafleiden nicht als Bild und Gleichnis, sondern ganz eigentlich als einen Rechtsvorgang. Er weiß uns gewissermaßen etwas zu viel in seiner naiven Entschleierung des Ewigen, und seine starke Unterstreichung der Ehre Gottes mag mehr auf reformierter Seite Befriedigung auslösen. Die Ehrfurcht vor dem zentralen Wert des Kreuzes verbietet spekulativen Hochflug ebenso wie rationalisierende Verflachung. Wir müssen in unseren Aussagen bescheiden sein, ohne dann aber zu vergessen, daß wir uns absichtlich zurückhalten und am Rande einer unendlichen Tiefe stehen bleiben. 1

) Joachim Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, 2. A., Zürich 1949, S. 91 ff. ) Vgl. auch den Abschnitt: Die Assoziationen von Lytron bei Rudolf Otto, Reich Gottes und Menschensohn, 2. A„ München 1940, S. 203ff. 3 ) Christologie I, München 1949, S. 374. *) Vgl. die ansprechende Würdigung bei Rudolf Hermann, Anselms Lehre vom Werke Christi in ihrer bleibenden Bedeutung, Ztschr. syst. Theol. 1923. Dagegen wird Karl Heim (Jesus dar Weltvollender, S. 100) dem Bischof von Canterbury nicht gerecht. 2

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Wir sehen den metaphysischen Hintergrund des Kreuzes darin, daß in die dem Haß unterworfene Zeit die Liebe eintritt und sich behauptet. Jesu Passion ist der große Kampf zwischen Liebe und Haß. Die Liebe kann dem Bösen gegenüber nur leiden. Wenn sie die ihr entgegengebrachte Feindschaft erwidern oder auch nur abwehren wollte, würde sie damit das Prinzip des Gegners bejahen und sich selbst aufgeben. Das Böse hat es stets auf den Tod der Liebe abgesehen; die Liebe aber stirbt erst dann, wenn sie sich in Haß wandelt. Leidend behauptet sie sich und geht als Siegerin hervor, indem sie den Haß innerlich überwindet und ihn in Liebe w a n d e l t . Sie hat dem bösen Prinzip ihr Leben als Lösegeld für den anderen hingegeben. Weil sie treu war bis in den Tod, ohne ihr Wesen zu verleugnen, wird sie auferstehen. Die Geschichte der Liebe gab zu der Klugheitsregel Anlaß, ja keine Märtyrer zu schaffen. Der Verfolgte darf gewiß sein, unsichtbare aber unbedingt fruchtbare Samenkörner ausgestreut zu haben. Durch ihre Passion vervielfältigt reine Liebe ihre Wirkung. Leidlose Liebe wird dies nie erreichen 2 ). Die höchste Liebe muß am meisten leiden. An einem leidlosen Jesus würde man wohl das Außerordentliche bewundern, aber nicht das eigentlich Herzbezwingende empfinden. Er würde womöglich als das genaue Gegenteil dessen erscheinen, was er sein wollte, nämlich als Vertreter edelster Selbstbehauptung. Allein gerade die Überwindung aller Selbstbehauptung, die Herüberziehung zur Liebe, war seine Lebensaufgabe. Die Liebe allein trägt die Kraft in sich, zu vergeben und die Umstellung im Menschen zu bewirken, weil sie die höchste Realität ist, das wahre Sein. Gott selbst ist die Liebe. Die Herrlichkeit Gottes ist die Majestät der heiligen Liebe. Wir denken bei dem Wort Herrlichkeit unwillkürlich an etwas Prunkvolles, Prächtiges; es fällt uns nicht leicht, rein geistige Majestät uns vorzustellen, für die aller äußerer Schmuck im Grunde nur eine Herabsetzung bedeuten müßte. Göttliche Herrlichkeit besteht in dem Sichherabneigen zu den Bedürftigen, im Dienen. Der natürliche Mensch dient der Gottheit und beugt sich ihrer souveränen Macht. Im Christentum geht die Gottheit liebend dem Menschen nach und wird sein Diener; sie setzt seinem Trotz keinen ,,In der Kraft seiner Liebe arbeitet er den Haß von innen her und aus der Tiefe heraus auf", M. Schmaus, Kath. Dogmatik II, 3. A., München 1949, S. 764. 2 ) Goethes vielbesprochene Leidensflucht und Ablehnung der Passion und des Kreuzes lehrt uns Eduard Spranger doch etwas anders verstehen. Goethe kennt wohl den Wert des Leidens; es ist ihm sogar Gegenstand der Ehrfurcht. Aber seiner ganzen Natur entspricht es, „das Tragische in der Stille zu überwinden"; es widerspricht ihm, die Tiefe des Leidens dem täglichen, abstumpfenden Eindruck ausgesetzt zu wissen (Goethes Weltanschauung, Inselverlag 1949, S. 50f.).

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Widerstand entgegen und bringt das Opfer von Golgatha. Irdische Liebe wird leicht bis zu einem gewissen Grade den Eindruck der Schwäche machen; es liegt dies an der seelischen Unausgeglichenheit des Menschen. Die göttliche Liebe erinnert auch nicht im entferntesten daran; ihr Gewand ist die Majestät der Ewigkeit. Die Liebe allein kann Gemeinschaft begründen. Darum hat das Kreuz wie nichts anderes gemeindebildende Kraft. Die Liebe ist die Wärme, die die Atome zusammenhält; die Kälte läßt alles in der Vereinzelung erstarren. Liebe erhält in der Gemeinschaft des H. Geistes. Heldenverehrung stiftet noch keine Gemeinschaft; Verkündigung in dieser Richtung sammelt wohl ein Publikum aber keine Gemeinde. Wechselbeziehungen knüpfen sich allenfalls zwischen dem Redner und seinen Zuhörern, aber nicht zwischen den Hörern untereinander 1 ). Gemeinde entsteht durch das Zusammenwirken dreier Faktoren: eine begründende historische Tatsache, ein sakramentales Bindemittel für die Gegenwart und die ethisch-eschatologische Ausrichtung. Israel fußte in seinem religiösen Empfinden auf dem Durchzugswunder durch das Rote Meer; es wurde durch den Kultus zu einer Gemeinde geprägt, und es erhielt seine Ausrichtung durch die Drohungen und Verheißungen des Bundes. Die Versittlichung der Religion ist noch nicht bis zu Ende durchgeführt; die Wichtigkeit statutarischer Bestimmungen korrespondiert mit der mangelhaften sittlichen Zielsetzung (Eschatologie), die sich in der Zeitlichkeit erschöpft. Im Christentum werden die drei konstitutiven Faktoren dadurch gebildet, daß die Liebe für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vergegenständlicht wird. Die allgemeine Offenbarung der Liebe Gottes in der Person Jesu erfährt die höchste Konkretheit in der Kreuzigung des Herrn. Sie ist die Grundtatsache, auf der sich die neue Gemeinde aufbaut. Die Zugehörigkeit zu dieser neuen Gemeinschaft wird mit der Vergebung der Sünden versiegelt, da ohne dieselbe eine Gemeinschaft mit Gott und darum schließlich auch mit den Brüdern nicht gedacht werden kann. So kennzeichnet sich das Herrnmahl mit dem gebrochenen Leib und dem vergossenen Blut deutlich als das Gemeinschaf tsmittel für die Gegenwart, das vor dem Herabsinken zu einem bloßen Zweckverband bewahrt. Entsprechendes gilt von der Taufe. Der dritte Faktor gibt dem Ganzen Ziel und Ausrüstung; der Nerv der Ethik ist die Eschatologie. Von Kirche und Theologie arg „Soweit ich sehe", schreibt Herman Nohl (Die sittl. Grunderfahrungen, Eine Einführung in die Ethik, 3. A., Frankfurt 1949, S. 64), „ist es erst das Christentum gewesen, das einen echten Begriff der Liebe hat und ihn zum austragenden sittlichen Fundament des sittlichen Lebens machte."

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vernachlässigt ist sie leider zur Domäne der Sekten geworden. Hier liegt der Grund für den beklagenswerten Mangel an Gemeinschaftsgefühl in der evangelischen Kirche. Wir haben einen geschichtlichen Christus, und, wenn es hoch kommt, auch einen gegenwärtigen; aber der zukünftige fehlt. Eine moderne Eschatologie braucht weniger die alten Bilder als eine Metaphysik der sittlichen Kräfte. Bezeichnenderweise sind die sogenannten freien Richtungen an eschatologischen Gedanken besonders arm. Die christliche Gemeinschaft ist die Gemeinschaft derer, welche Vergebung der Sünden empfangen haben d. h. die sich in eine neue Bewegung versetzt sehen. Dein Reich komme! Daher ist ihre Liebe von starkem Missionseifer beseelt, verbunden mit deutlicher Exklusivität im Innern (Reinerhaltung, Kirchenzucht). So erweist sich der gekreuzigte Christus im stärksten Maße als gemeinschaftsbildend: in seinem Tode am Kreuz, seiner Gegenwart im H. Abendmahl und seiner Wiederkehr zur Vollendung. Jedes der drei Momente enthält ein Hineinleuchten des Ewigen in den menschlichen Bereich: die göttliche Liebe wird historisches Ereignis, die Gläubigen haben sakramentale Gemeinschaft mit dem erhöhten Haupt, die irdische Gemeinde harrt der Verklärung. Ebenso ist überall die Beziehung auf die Sünde gegeben: sie wird grundsätzlich überwunden, praktisch vergeben und endlich ganz aufgehoben. Das Kreuz ist der von Gott gesetzte Pol, um den sich die Welt bewegen läßt. Denn der Weg zum Kreuz ist für jeden Menschen gleich weit; niemand ist bevorzugt oder benachteiligt. Die natürlichen Anlagen, Klugheit, Temperament usw. spielen dabei keine Rolle. Das Kreuz von Golgatha vereint in sich die stärksten Motive und seligsten Quietive, deren ein Mensch überhaupt fähig ist. 3. Kreuz und Leben Jesu Man hat in dem Betonen des Kreuzes eine Einseitigkeit gesehen, die das gesamte übrige Leben Jesu entwertet. Man kann solches Bedenken nur erheben, wenn man Leben und Sterben des Herrn isoliert anschaut und gegeneinander abgrenzt. Es geht nicht darum, daß irgend jemand, sondern daß Jesus von Nazareth für uns gestorben ist, sein Tod bringt seinen gesamten Lebensinhalt zu aktueller Wirkung Er hat uns nicht verschiedene religiöse Werte geboten, sondern ein einheitliches Werk vollbracht; er öffnet uns das Reich Gottes. Das eigentliche Problem liegt in der Frage, ob nicht jede Offenbarung der Liebe Gottes die Vergebung der Sünden in sich schließt, ganz unabhängig vom Tode Jesu. Zweifellos kann Vergebung auch im vorchristlichen Raum erfahren werden. Das Alte Testament legt ein beredtes Zeugnis dafür ab. Daß jede ernste Bekehrung die

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gnädige Annahme des Sünders zur Folge habe, werden die Propheten zu verkündigen nicht müde; und die Gnadensprüche des A. T. sind von unübertroffener Schönheit. Doch der Grad der Befreiung ist im Neuen Testament ein höherer als im Alten. Darin beruht die absolute Bedeutung des Todes Jesu, daß er allein die Aufnahme in die Gemeinschaft des Guten (des Heiligen Geistes), in das Reich Gottes vermittelt. Luther will Gottes Vergebung in der vorchristlichen Zeit nach Hebr. 13 8 beurteilt wissen. Zwischen den Gläubigen des alten und des neuen Bundes sei insofern kein Unterschied, als „in Gottes Wesen das als etwas Geschehenes anzusehen ist, was der Zeit nach erst geschehen soll". „Bei und vor Gott sei weder Vergangenes noch Zukünftiges, sondern außerhalb der Zeit und in Ewigkeit sei alles gegenwärtig da." Darum ist von Anfang der Welt und „zu allen Zeiten einerlei Vergebung der Sünden um Christi willen" gewesen1). Die Sündenvergebung erfolgt nicht durch die Lehre. In der Predigt Jesu liegt sie durchaus nicht ohne weiteres eingeschlossen. Die Verkündigung einer Generalamnestie würde dem sittlichen Ernst nicht gerecht und stände zu den feierlichen Einzelabsolutionen, die er aussprach, in krassem Widerspruch. Man kann kaum die Lehre Jesu verhängnisvoller mißverstehen, als wenn man in dieser Richtung das Neue und Originale seiner Predigt sucht. Eine Vergebung ohne Buße ist eitel. Selbstverständlich ist mit seiner Erklärung: Dir sind deine Sünden vergeben! die Vergebung ohne jeden Vorbehalt vollzogen, auch wenn der Betreffende später keinerlei Kunde von dem Ausgang Jesu erhalten hätte. Uns zeitlich Getrennten aber vermittelt ein Bericht über das Leben Jesu ebensowenig die Vergebung wie jenen begnadeten Zeitgenossen allein die Versenkung in seinem Anblick. Es bedarf dazu einer ausdrücklichen Erklärung des Herrn. Außerdem waren jene Gnadenakte einmalige Handlungen, die keine dauernde Gemeinschaft begründen konnten, sondern eine stete Wiederholung nötig machten, sobald sie unter der räumlichen und zeitlichen Trennung zu verblassen begannen. Und nehmen wir selbst an, daß jene Beglückten auch untereinander in Gemeinschaft standen (der Blick auf die Jünger zur Erdenzeit des Herrn läßt dies sehr zweifelhaft erscheinen), so wären sie doch nicht in der Lage gewesen, ihrerseits nun wieder andere dieser Gemeinschaft zuzuführen. Erst das Kreuz hat die von den Schranken des Raumes und der Zeit unabhängige Gemeinschaft der Geister begründet, deren Wesen im Unterschied von jeder anderen Vereinigung der Heilige Geist ist. Das so oft angezogene Gleichnis vom verlorenen Sohn soll indessen angeblich unwiderleglich dartun, daß das Kreuz zur Ver"

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) Th. Harnack a. a. O. S. 292 und S. 76.

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gebung nicht nötig sei. Ganz im Gegenteil: das Gleichnis ist nur eine Bestätigung der Tatsache, daß wir einer besonderen Applikation der Vergebung bedürfen. Auch wir könnten des Gekreuzigten entraten, wenn Gott Vater uns leibhaftig in seine Arme schlösse. Jesu Lehre vom Himmelreich ergreift und erschüttert in ihrer Tiefe und ihrer Vollmacht die Herzen und erweckt das Verlangen, ein Bürger dieses Reiches zu werden. Je ernster und ehrlicher es der Hörer meint, um so schmerzlicher spürt er die eigene Unzulänglichkeit. Mit der Frage: Herr, wer kann da selig werden ? steht der Jünger vor der Tür der Erkenntnis, daß es sich nicht nur um die Predigt eines neuen „Weges" handeln kann, sondern daß der Herold des Himmelreiches in irgendeiner Art selbst der Weg dazu sei. Das Wie hat dann das Kreuz gezeigt. Ohne das Kreuz hätte die Predigt Jesu das Himmelreich gerade durch die unerhört vertiefte Erkenntnis zugleich nahe gebracht und in unerreichbare Ferne gerückt; gibt doch das Kreuz erst einen Begriff von der unermeßlichen Tiefe des Erbarmens Gottes, von dessen Vaterliebe bereits die Himmelreichspredigt sprach. Ein für die Allgemeinheit ewig notwendiges Werk darf nicht als zufällige Begebenheit im Leben seines Trägers aufgefaßt werden, sondern muß in seinem überzeitlichen Wesen begründet liegen. Darum spüren wir bei keinem der Großen in der Geschichte sonst einen inneren Zusammenhang seiner Leistung mit unserer Person. Nur Unverstand könnte bezweifeln, daß die großen Ereignisse im Leben Jesu, Geburt, Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt einander gleich geordnet sind. Ein jedes von ihnen ist für den Gesamtwert des Lebens Jesu unerläßlich. Aber das Kreuz begreift, wenigstens für unser Erfassen, am verständlichsten alle anderen in sich. Sind Person und Werk in rechter Weise einander zugeordnet, macht es nichts aus, ob man auf die Begründung (Weihnachten) oder auf das Resultat (Karfreitag) schaut. Man muß vom Kreuz zur Krippe und wieder von der Krippe zum Kreuz gegangen sein, um beides zu verstehen. Und ebenso kann Heinrich Vogel sagen: „Das Geheimnis der Fleischwerdung wird im Kreuz, das Kreuz aber in der Auferstehung offenbar'' 1 ). Karfreitag und Ostern gehören aufs engste zusammen. Christus ist um unserer Sünde willen gestorben und um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt. Die Gemeinde schaut Tod und Auferstehen ihres Herrn immer in eins. Verschiedenheiten in der Behandlung erklären sich daraus, daß jener ein empirisches, dieses ein überempirisches Geschehen ist. Das Kreuz hat der Christenheit das Symbol gegeben; i) Christologie I S. 102.

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für die Auferstehung läßt sich schwer ein Symbol von gleicher klassischer Form finden (Fahne). Das Sakrament der Taufe hat deutlich eine Beziehung auf beides: Unter- und Emportauchen. Vom Herrnmahl gilt das Entsprechende; in den geheimnisvollen Beziehungen der Elemente zum verklärten Leibe Christi leuchtet das Morgenrot des Auferstehungstages auf. Die Auferstehung will die neue Gemeinschaft auf der Grundlage, die das Kreuz geschaffen hat 1 ). Himmelfahrt ohne Kreuzigung führt zwar zu Allgegenwart und Ewigkeit; aber zur Applikation der Vergebung könnte sie nicht dienen. Wir hätten heute eine ähnliche Empfindung wie die Menge derer, die ihm zuhörten, ohne daß sie einen persönlichen Sondererweis der Gnade erlangten. Nun aber ist der G e k r e u z i g t e auferstanden und gen Himmel gefahren, also als der Gekreuzigte allgegenwärtig und ewig; das Kreuz ist dadurch zeitlos geworden. Der Vorwurf läßt sich also nicht aufrecht erhalten, daß dem Kreuz gegenüber das Leben Jesu wertlos werde, der Herr nur auf die Erde zu kommen brauchte um zu sterben. Leben, Leiden und Herrlichkeit Jesu entspricht Erkenntnis der Sünde, Vergebung und Leitung. Das Kreuz leistet genau dasselbe, was die persönliche private Absolution durch den Herrn bewirkt hat; es bringt die historische Offenbarung der Liebe Gottes in der Person Jesu in alle Gegenwart. Man mag der Gemeinde aus dem Leben Jesu vorhalten, was man will, sie fragt nach dem Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt. Die unermeßliche Bedeutung, die die Gemeinde dem Tode Jesu beilegt, sprengt den Rahmen eines einzelnen historischen Faktums und steigert dieses zu einem zeitlosen Geschehen, ohne damit seine Geschichtlichkeit aufzuheben. Wir alle tragen an seinem Tode mit Schuld. Solange es eine ringende Kirche gibt, solange währt auch die Passion Christi: die Sünden seiner Jünger schlagen den Herrn immer wieder an das Kreuz. Unserer Logik fehlt das Rüstzeug, ein einzelnes Gegebenes als schlechthin notwendig, d . h . als ewig zu begreifen 2 ). Das gilt von der Offenbarung überhaupt, das gilt besonders von der Kontingenz des Kreuzes Christi. Hier ist der perspektivische Mittelpunkt im Leben des Glaubens. Mit seiner Ineinsschau von Kreuz und Auferstehung hat Bultmann im Grunde durchaus recht. 2 ) Das erscheint auch Jaspers unmöglich. D e m religiösen Glauben sei Gehorsam selbstverständlich; er schrecke auch nicht zurück „vor der Absurdität, daß eine endliche historische Tatsache Bedingung der Seligkeit für alle Menschen sein solle" (Philosophie I, S. 297). Ganz anders klingt, was Jaspers 1950 in Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit (München, S. 38) schreibt: „Das Ewige wird Gegenwart nur in geschichtlicher Gestalt. Geschichtlichkeit ist existentiell die Einheit von Zeitlichkeit und Ewigkeit, dieses, daß, was ewig ist, als Erscheinung in der Zeit entschieden wird."

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4. Die Person Jesu Jesus ist der Bringer des Heils und das Heil selbst. Seine Erlösungstat ist der Gipfel aller religiösen Werte. Würde sie je überboten, hörte das Sittliche auf, die primäre Objektivierung zu sein. Ist aber das Werk absolut, muß die Person einzigartig sein. Die Gemeinde hat dem dadurch Rechnung getragen, daß sie Jesu das Prädikat der Gottheit zuerkannte. Dabei ist zu beachten, daß seine Person nach der von ihr ausgehenden Wirkung gewertet, nicht umgekehrt von der Einschätzung der Person her das Werk konstruiert wurde. Man hat Jesum erst erfahren und dann angebetet. Das rechte Nachsinnen über die Person Christi ist nicht müßige Spekulation, sondern der Niederschlag des sittlichen Ringens. Das unveräußerliche christliche Interesse sowohl an der Gottheit wie an der Menschheit des Herrn hat die Kirche nur in der Form der Zweinaturenlehre sicherstellen zu können geglaubt. Mit dieser Lehre wird genau genommen kein fertiger Glaubenssatz, sondern das Material für einen solchen geboten, indem die Interessen fixiert werden, die darin zur Geltung kommen sollen. Das Göttliche in Jesus bildet nicht den Gegensatz zum Menschlichen, sondern dessen unendliche Potenzierung. Von genialer religiöser Tiefe zeugt die Auffassung Luthers, der überall in dem Menschlichen die Offenbarungsform des Göttlichen sah. Der Eindruck der Gottheit Jesu ist kein anderer als der seiner sittlichen Erhabenheit, wie sie sich besonders in der Manifestation seiner allumfassenden suchenden Liebe widerspiegelt. Es gibt kein vollkommeneres Medium für die Offenbarung als die sittliche Persönlichkeit. Die Einwohnung Gottes äußert sich beim religiösen Menschen in einer gewissen, bei Jesus in einer permanenten sittlichen Stärke. Der Erlöser, den der Christ braucht, muß einerseits dasselbe sein wie er und andererseits qualitativ höher stehen. Ist Christi Vollkommenheit göttliches Erbe aus der Ewigkeit, so hat sie praktisch für uns keinen Wert; ist sie aber erst in der Zeit erworben, so trägt sie das Gepräge des Zufälligen und Relativen an sich. Die Lösung des Problems liegt in der Erkenntnis, daß das der Alternative zugrundeliegende Zeitschema falsch ist. Die Zeit ist nicht der Ewigkeit gegenüber, sondern in sie hineinzustellen. Die Sittlichkeit erscheint in der Zeit als werdende, ringende, in der Ewigkeit als vollendete. Das Göttliche in Jesus sub specie temporis ist das Sittliche, das Sittliche sub specie aeternitatis ist das Göttliche 1 ). Während wir es sonst stets mit Objektivierungen zu tun haben, ist Jesus die Offenbarung Gottes im Vollsinne. In ihm schneiden sich sämtliche religiösen Linien ohne Ausnahme. Wie herrlich muß Das wird in der modernen Abwertung der Logoslehre übersehen.

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der Urgrund der Seele, das Bindeglied zwischen dem Menschen und dem Absoluten, bei ihm entwickelt gewesen sein! Welche Perspektiven eröffnen sich hier zum Verständnis seiner Person, je mehr wir die Kluft zwischen diesem Urgrund und den bewußten Seelenkräften beseitigt denken! Er stand in ununterbrochener Verbindung mit dem Vater. Daß Jesus der Welt gegenüber eine weitgehende Vollmacht besaß, liegt auf der Hand. Aber eine bestimmte Theorie über die Grenzen seiner Irrtumslosigkeit und seiner Wunderkraft liegt nicht innerhalb der wissenschaftlichen Kompetenz. Seine Speise war es, in Gelassenheit den Willen des Vaters zu tun. Inwieweit dabei für ihn die ewigen Zusammenhänge restlos klar lagen, richtet sich nach der Leichtigkeit, mit der er in den Urgrund der eigenen Seele zu schauen imstande war. Es gehört dies zu dem Geheimnis seines Sohnesbewußtseins, das kein irdischer Geist je wird ergründen können. Sein Eintritt in die Welt erfolgt im Gegensatz zu dem der anderen Menschen als ein Akt höchster Freiwilligkeit und ist darum jedem sündigen Zusammenhange entnommen. Er geht als der Erlöser, ohne je selbst ins Wanken zu geraten, auf die Gedanken der anderen ein, um sie innerlich zu gewinnen. Er tritt seinen Brüdern als ein innerlich anderer aus einer anderen Welt entgegen und darf doch die Gewißheit haben, daß diese seine Welt gleichzeitig die ureigenste Heimat auch der Abtrünnigen ist. Auch bei zunehmender Versittlichung wird der Abstand zwischen Jesus und uns nicht eingeholt. Es ist nicht so, daß er, wenn er den Menschen zu Gott führt, nun seine Schuldigkeit getan hätte und abtreten könnte. Er wird nicht überflüssig; denn unser Gottfinden begründet keinen dauernden Zustand. Mit dem Zurücktreten Jesu würde auch der Vater für uns zurücktreten. Für den Ewigkeitsmenschen Jesus fällt Präexistenz, Geburt, Wirksamkeit, Leiden, Auferstehung, Himmelfahrt und Postexistenz in einen einzigen Wertinhalt zusammen; er bleibt in alle Ewigkeit „des Menschen Sohn", das Bindemittel zwischen Gott und den Menschen, „das Wort". Damit wird auch eine weitere Schwierigkeit bereinigt, die für den Glauben ärgerlich und beunruhigend war. Der Christ kann einer Entscheidung nicht ausweichen, ob Christus als der Herr lediglich über Menschenseelen oder über das gesamte Universum anzusehen sei. Beschränkt man sein Herrsein auf das heilsgeschichtliche Gebiet, so gäbe es Welten, die ihm vom Vater nicht unterstellt sind. Entscheidet man sich aber für seine kosmische Bedeutung, so scheint seine Wirksamkeit und damit auch die sittliche Gemeinschaft des Reiches Gottes ins Physische abzusinken. Die Lösung des Problems

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Gnadenmittel

liegt in der Erkenntnis, daß es sich wieder um eine falsche Alternative handelt. Wahres Sein hat allein das sittlich Gute; in der Ewigkeit bestehen keine Welten, die nicht dem Reiche Gottes eingegliedert sind. Alles andere ist irreal.

XI. Gnadenmittel 1. Die Sakramente E s ist gewiß kein Zufall, daß mit der religiösen Lauheit die Geringachtung der Sakramente Hand in Hand geht, während Sekten und Konventikel gerade dem Sakrament eine besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Nehmen wir die unbestreitbare Tatsache hinzu, daß die nicht bloß äußerlich imponierende, sondern auch innerlich ansprechende Würde der katholischen Kirche auf ihrem Verständnis für das Wesen des Sakramentalen beruht, so werden wir zu dem Schluß gedrängt, daß die Einbuße an religiöser Kraft innerhalb der reformatorischen Kirchen zu einem großen Teil auf die schwindende Wertschätzung der Sakramente zurückgeführt werden muß. Wir hatten bei der Aufstellung der konstitutiven Faktoren der Gemeinschaft ( X , 2 S. 105) die Sakramente als das in der Gegenwart wirkende Gemeinschaftsmittel bezeichnet, dem in der Vergangenheit das Gründungsfaktum und in der Zukunft das Gemeinschaftsziel entsprechen. Alles andere, was man nennen könnte, sind keine eigentlichen Gemeinschaftsmittel. Der Gottesdienst dient dazu, die Gemeinschaft sichtbar zu machen; aber er ruft sie nicht erst hervor. Selbstverständlich fließen aus der Darstellung der Gemeinschaft starke Kräfte auf diese selbst zurück. Doch handelt es sich dabei um ein Sichbesinnen aus dem gemeinsamen sakramentalen Besitz. Auch Choral, Gebet, Bekenntnis usw. sind Gemeinschaftsbesitz, nicht Gemeinschaftsmittel. Als religiöses Angebot dienen sie dazu, den einzelnen zum Eintritt und immer festeren Anschluß an die Gemeinschaft anzureizen. Auch die Bibel als das Wort Gottes ruft erst zur Gemeinschaft auf, stellt aber selbst noch nicht in die Gemeinschaft hinein. Der Eintritt in diese Gemeinschaft geschieht nicht durch Bibellesen, Singen, Beten und Bekennen, sondern will sakramental fundiert sein. Darin liegt die Sonderstellung der Sakramente begründet, daß sie nicht als Gemeinschaftsbesitz angesprochen werden können, sondern der Gemeinschaft vorausgehen. Als Gemeinschaftsmittel hat das Sakrament die Aufgabe, Gemeinschaft herzustellen. An und für sich ist die Gemeinschaft eine ideelle Größe; da wir aber die Gemeinschaft in der Zeitlichkeit zu betätigen

Die Sakramente

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haben, so muß sie auch in endlicher Form ihren Ausdruck finden, d. h. es tritt, da dies in adäquater Weise nicht geschehen kann, eine Objektivierung ein. In der Ewigkeit findet keine Objektivierung statt; darum haben dort auch die Sakramente keine Stelle mehr. Als Herstellungsmittel der Gemeinschaft in der Zeit ist das Sakrament das klassische Beispiel einer endlichen Objektivierung. Es soll sowohl räumlich wie zeitlich das Göttliche vom Ungöttlichen abgegrenzt werden. Wir haben räumlich die Scheidung einer heiligen und unheiligen Menschheit und ebenso heiliger und profaner Elemente, zeitlich die Scheidung eines heiligen und unheiligen Lebensabschnittes und ebenso eines profanen und geheiligten Gebrauches derselben Gegenstände. Die gleiche unvermeidliche Willkür zeigt sich auch in der Festsetzung der Form des Sakraments. Sie ist durch einen bestimmten Willensakt ausgewählt worden und hätte an sich natürlich auch ganz anders ausfallen können; die Notwendigkeit der nun einmal gegebenen Form läßt sich in keiner Weise eruieren. Aber eine etwaige Abänderung würde gegen die Gemeinschaft verstoßen. Selbst wenn die Zustimmung der gesamten gegenwärtigen Christenheit herbeigeführt werden könnte, ließe sich der Bruch mit der Vergangenheit nicht überbrücken. Der Herr ist nicht an das Sakrament gebunden; aber er bindet sich selbst daran. So ist seine Gegenwart im H. Abendmahl Gnadengegenwart, wie etwa der auch für den Frommen des A. T. allgegenwärtige Gott eine Stätte erwählte, um sich dort finden zu lassen. Es liegt in dem Wesen des Sakramentes als einer Objektivierung begründet, daß der Sinn der in ihm zum Ausdruck kommenden Handlung einer Deutung bedarf. Das Sakrament ist ein dem Nichteingeweihten unverständliches Symbol. Der natürliche Sinn der Handlung ist unwesentlich; der geistliche Sinn aber folgt aus der Handlung an und für sich durchaus noch nicht, sondern wird ihr erst eingetragen. Um den geistlichen Zweck deutlich zur Geltung kommen zu lassen, wird der natürliche möglichst ausgeschaltet; Bad und Speisung sind nur noch angedeutet. Aus der Duplizität der Handlung im Sakrament folgt, daß am Ende der Feier das Natürliche wieder ausschließlich zu seinem Rechte kommt, und daß alle übrig bleibenden Elemente nunmehr lediglich nach dem Gesichtspunkt der natürlichen Handlung zu beurteilen sind. Die Allgemeingültigkeit des Sakraments im räumlichen wie im zeitlichen Sinne muß von der gesamten Christenheit zu allen Zeiten anerkannt und praktisch geübt worden sein. Damit wird die Forderung der Einsetzung durch den Stifter der Gemeinschaft erhoben. Es folgt daraus einerseits, daß es keine allgemein religiösen, sondern nur christliche Sakramente geben kann. Andererseits, daß 8

K l a m r o t h , L u t h e r i s c h e r Glaube im D e n k e n der G e g e n w a r t

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auch eine christliche feierliche Handlung, sofern sie sich nicht auf Jesus zurückführen läßt, von den Sakramenten im Vollsinn wohl zu unterscheiden ist. Auch der größte Reformator hätte nicht die Vollmacht, ein allgemein gültiges Sakrament einzusetzen; gelänge es ihm räumlich, so fehlte immer noch die zeitliche Kontinuität, d. h. er würde nur zum Stifter einer neuen Gemeinschaft. Wie aber, wenn unsere Sakramente gar nicht bis auf Jesus zurückgingen, sondern späteren hellenistischen Einflüssen ihren Ursprung verdankten, oder wenn ihrer Urform bei Jesus ein ganz anderer Sinn beigewohnt hätte ? Genau genommen ist diese Frage gleichbedeutend mit der anderen, ob Jesus überhaupt beabsichtigte, eine Gemeinschaft durch den Anschluß an seine Person zu stiften. Wollte er die Liebe, so mußte er auch die Gemeinschaft wollen. Diesem Zweck dienen also auch die Worte und Handlungen, die von der Urgemeinde wahrscheinlich mit historischem, gewiß aber mit innerem Recht als Sakramentseinsetzungen ge wert et wurden. Selbst wenn ein Paulus viel tiefere Atemzüge in der Atmosphäre der Mysterienkulte getan hätte, als es die geschichtliche Wahrscheinlichkeit für sich hat, so ist er doch einfach in die Traditionen der Urgemeinde eingetreten 1 ). Dabei soll durchaus nicht ausgeschlossen bleiben, daß auch der Hellenismus befruchtend auf Gestaltung und Gemütswert des Sakraments eingewirkt hat. Es kann keine Feier, es kann kein religiöser Wert durch den Wandel der Zeiten hindurchgehen, ohne von dem Timbre des jeweiligen Kulturkreises einiges aufzunehmen und in sich zu verarbeiten. Israel, das Hellenentum und Romanentum sind dadurch, daß sie ihre wertvollsten Kräfte in den Dienst des Reiches der göttlichen Liebe stellten, auch für uns zu Offenbarungsträgern geworden, so wie ebenfalls unser Volk es für ein ferneres Geschlecht sein wird, dem das Christentum durch Vermittlung des Germanentums und also durch Luthers Seele hindurch zugekommen ist. Nichts wäre verkehrter und auch undankbarer, als von vornherein jedwede Art solcher zeitgeschichtlichen „Einflüsse" für Trübungen des ursprünglichen Christentums zu halten und ängstlich auf ihre Ausscheidung bedacht zu sein. Im Gegenteil stellt die absolute Religion die nur approximativ zu lösende Aufgabe, ihren universalen Inhalt immer vollständiger zu erfassen und darzustellen. Wir feiern heute gewiß nicht in genau der gleichen Weise das Herrnmahl wie die Urgemeinde, und von den- Versuchen buchstäblicher Nachbildung in gewissen Sektenkreisen gilt dies vielleicht noch weniger; und dennoch dürfen wir uns im Geiste getrost mit den Aposteln zu Tische *) Vgl. dazu Willi Marxsen, Die Einsetzungsberichte zum Abendmahl, Mikrokopie Berlin 1951, S. 76ff.

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setzen. E s wird ja nicht etwas prinzipiell Neues hinzugefügt, sondern nur immer mehr zur Entfaltung gebracht, was bei der Stiftung bereits keimhaft vorhanden war. Die Zahl der Sakramente ergibt sich aus dem historischen Zusammenhang und läßt sich außerdem auch durch die innere Notwendigkeit begründen. Legte man auf beide Momente kein Gewicht, so könnte man nach dem Gesetz der fortschreitenden Objektivierung noch über die römische Praxis hinausgehen und immer untergeordnetere Begebenheiten objektivieren, etwa jede Mahlzeit, Wochen- oder Tagesbeginn und -schluß sakramental begehen. Aber einmal fehlte dann die Weihe der Allgemeingültigkeit, die sich in der historischen Einsetzung durch den Stifter ausspricht, und andererseits fände ein solches Vorgehen seine natürliche Grenze an der menschlich-psychologischen Aufnahmefähigkeit; die Fülle der Sakramente würde ihren Wert herabsetzen. Eine Zersplitterung und Verteilung der religiösen Güter auf lauter Einzelsakramente schwächt die Kraft derselben und schafft sie im Grunde alle ab, indem keines mehr eine selbständige, in sich abgeschlossene Bedeutung behält. Sakramente als sichtbare Objektivierungen könnten sich voneinander unterscheiden durch die Mittel, mit welchen etwas objektiviert werden soll, sodann bezüglich des Inhalts, der zu objektivieren ist. Offenbar würde eine Verschiedenheit der Mittel bei gleichem Inhalt eine Mehrzahl von Sakramenten nicht begründen können. J a , es müßte der Eindruck entstehen, daß keins dieser Sakramente an sich für den in Aussicht gestellten Zweck zureichend sei. Eine Verschiedenheit des Inhalts bei gleichen Ausdrucksmitteln ist innerlich unmöglich, da uns ein unendlicher Inhalt niemals losgelöst von einer endlichen Form gegeben wird. E s folgt, daß verschiedene Sakramente sowohl eigentümliche Formen als eigentümlichen Inhalt aufweisen müssen; ein und derselbe Wert kann nicht durch zwei verschiedene Sakramente zum Ausdruck gebracht werden. Da es sich um Gemeinschaftsmittel handelt, soll durch das Sakrament das Verhältnis des Empfängers zur Gemeinschaft irgendwie gefördert werden. Ein Sakrament wird darum nie exklusiv, d. h. für jemanden von Natur aus unzugänglich sein. Die feierliche Abordnung in einem bestimmten Auftrage bedeutet keine Steigerung des Verhältnisses zur Gemeinschaft und kann daher nicht als Sakrament angesprochen werden. So kommen logischerweise überhaupt nur drei Sakramente in Frage: der Eintritt in die Gemeinschaft, die Kräftigung und die Vollendung derselben. Für die erste Kategorie steht die Taufe zur Verfügung (Kap. XI. 2). Nur dort, wo von einem unevangelischen Standpunkt aus innerhalb der Gemeinschaft einzelne Kasten von verschiedener Dignität unterschieden werden sollen, würde an sich die Darstellung der Erreichung 8*

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solcher Grade als Sakrament zu rechtfertigen sein. Da einzelne Stufen des Eintritts nicht auseinander gehalten werden können, so läßt sich neben der Taufe kein anderes Sakrament derselben Gruppe denken. Salbung und Handauflegung als Geistesmitteilung zum selbständigen Sakrament gemacht und neben die Taufe gestellt — und zwar als einmalige Handlungen! — wären als fortschreitende Objektivierungen anzusprechen. Innerhalb der zweiten Kategorie könnte neben, evtl. vor dem Herrnmahl (cap. XI, 3) noch die Fixierung einer bestimmten Entwicklungsstufe der religiösen Reife sakramental gewertet werden (Firmelung oder Konfirmation). Allein ein Sakrament will nicht das Erreichen eines bestimmten Reifestandes deklarieren, sondern den Empfang neuer religiöser Werte vermitteln. Und welche Herabdrückung würde die Kindertaufe als Vorstufe zu dieser Vorstufe erfahren! Jedes Sakrament schließt als Gemeinschaftsmittel die Mitteilung des Heiligen Geistes und die Vergebung der Sünden ein, da beides mit der Annäherung an Gott gegeben und geradezu gleichbedeutend damit ist. Besteht aber die eigentümliche Gabe der Taufe in der Aufnahme in die Gemeinschaft und die des Heiligen Abendmahls in der Wiederherstellung oder Kräftigung der Gemeinschaft, so tritt für unser Empfinden bei der Taufe der Geistesempfang und beim Heiligen Abendmahl die Vergebung in den Vordergrund. Beichte und Abendmahl stehen daher in einem ähnlichen Verhältnis zueinander wie Handauflegung und Heilige Taufe. Sakramente der dritten Kategorie (letzte Oelung) würden entweder nur einen natürlichen Entwicklungspunkt, nämlich die Aufgabe der zeitlichen Existenz, sakramental umkleiden oder sie müßten als echte Sakramente das Heilige Abendmahl logischer Weise überbieten. Die Seligkeit der triumphierenden Gemeinde ist qualitativ keine andere als die der streitenden: Gemeinschaft mit dem Herrn. Es wird daher bei den beiden Sakramenten der Aufnahme in die Gemeinschaft (H. Taufe) und der Kräftigung der Gemeinschaft (H. Abendmahl) sein Bewenden haben (sacramentum initiationis und conf irmationis). 2. Die Taufe Neuerdings hat Markus Barth in einer umfangreichen (554 S.) Monographie über die Taufe 1 ) den Vollzug der Taufe als das menschliche Werk einer Wassertaufe von der davon völlig unabhängigen Geistestaufe, deren Realisierung sich Gott selbst vorbehalten hat, unterschieden. Für die eigentliche Taufe bleibt dann nichts weiter *) Die Taufe — ein Sakrament ? Zürich 1951.

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übrig, als daß man sie als einen Akt demütiger Bereitstellung, als Gebet und Bekenntnis auffaßt. „Die Wassertaufe ist ein menschliches Werk: eine Bitte. Die Geistestaufe ist Gottesgabe: eine Erfüllung" 1 ). Die in breiter Ausführlichkeit dargebotene Exegese aller nur irgend in Frage kommenden Stellen des NT vermag indessen nicht zu überzeugen. Denn der durchgängig angewandte Grundsatz: Der neutestamentliche Schriftsteller kann der Taufe keinen Eigenwert zuerkennen, weil der heilige Gottesgeist seine Gabe nicht an ein menschliches Werk abzutreten willig ist, stellt vor eine Alternative, die auf reiner Willkür beruht. Als erstes Resultat ergibt sich für Markus Barth: „Die Johannes-Taufe und die christliche Taufe sind in ihrem Wesen gleich, einig und eins"2). In allen Differenzpunkten wird man der gründlichen Arbeit von Cullmann unbedingt den Vorzug geben3). Die Taufe enthält ein doppeltes Moment: von Seiten des Täuflings den Eintritt als den Ausdruck eines zur Reife gekommenen Willens, von Seiten der Gemeinschaft als des Leibes Christi die Aufnahme in den räumlich (Gemeinde) und zeitlich (Heilsgeschichte) ausgedehnten Gnadenzusammenhang der Kirche. Mit dem individuellen Willensentschluß ist es nicht getan; der Täufling hat gewisse Bedingungen zu erfüllen, deren Prüfung ihm nicht selbst zusteht. Die beiden Willen, die hier zusammenkommen müssen, der des einzelnen und der der Kirche, enthalten unverkürzt das subjektive und das objektive Moment der Taufe 4 ). Nicht eigentlich die Gemeinde oder Kirche als solche handelt an mir im Sakrament, sondern sie reicht mir das Sakrament auf den strikten Befehl des Herrn und hat nur darauf zu sehen, daß bei mir kein anderer Wille als der, mich beschenken zu lassen, offenbar wird. Gewiß sind die Sakramente auch Bekenntnishandlungen von eminenter Bedeutung. Ich bekunde unmißverständlich und feierlich vor der Gemeinde meinen Willen, mich beschenken zu lassen und mit den anderen Beschenkten ein lebendiges Glied am Leibe Christi zu sein. Aber das Handeln Gottes mit mir ist das erste. Menschlicher Glaube macht nicht die Taufe, sondern empfängt die Taufe, sagt Luther. Ich weiß mich durch die Geburt in den Zusammenhang der unter Sünde und Tod stehenden Menschheit gestellt und weiß mich durch die Taufe in den Zusammenhang der befreiten Menschheit und in den Wirkungsbereich des H. Geistes gestellt. 2 S. 154. ) S. 175. ) Oskar Cullmann, Die Taufielire des NT., Zürich 1948; vgl. dazu von demselben Verfasser „Urchristentum und Gottedienst", 2. A., Zürich 1960, S. 62f. 4 ) Karl Barth hat in seiner 1943 erschienenen Schrift „Die christliche Lehre von der Taufe" die Bedeutung der Taufe auf die bloße cognitio des Heils beschränken wollen. Aber nirgends im NT. wird damit das Wesen der Taufe bestimmt, vgl. Cullmann, Die Tauflehre des NT., S. 26, 29. 3

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Daher werde ich mich in schweren Anfechtungen nicht meines Glaubens und meiner Bekehrung, sondern meiner Taufe getrösten. Der massive Luthertrost gegenüber einer angefochtenen Magd: „Bist du denn nicht getauft ?" hat sein volles Recht. Und Paulus würde schwerlich die hartgescholtenen Christen seiner Gemeinden als Heilige ansprechen, wenn sie nicht die in der Taufe gegebenen Zusagen für sich hätten. Der regressus zur Taufe steht immer offen. Auch das Schwanken des menschlichen Glaubens macht die Taufe nicht ungewiß. Gott hält seine Zusage. Daher kann die Taufe nicht wiederholt werden, so wenig wie das ein für alle Mal gültige Opfer Christi (Hebräerbrief). „Darum sage ich, hast du nicht geglaubt, so glaube noch" (Luther). Mit der Aufnahme in den Leib Christi ist die Mitteilung aller der Qualitäten verbunden, die einem Gliede desselben eigentümlich sind. Das ist die unsichtbare Wirkung der Taufe. Wird ein Unwürdiger getauft, so bleibt sie eine feierliche Zusage, an die sich die Gemeinschaft der Liebe unter allen Umständen für gebunden hält; nur ihre Wirkung setzt solange aus, bis der Betreffende sie sich innerlich aneignet. Die kirchliche Instanz kann getäuscht werden und muß stets mit der Möglichkeit eines Irrtums rechnen; mit Bewußtsein darf sie nie einen Unwürdigen taufen. Aber sie verzichtet grundsätzlich auf eine Nichtigkeitserklärung solcher Taufe; alle ihre Strafen (Exkommunikation, Bann und dergl.) ziehen niemals die Wiederholung der Taufe nach sich. Wie bei jeder religiösen Wirkung läßt sich auch bei der Taufe logisch ein negatives und ein positives Moment unterscheiden. Wenn Luther als Taufwirkung Vergebung der Sünden und ewige Seligkeit nennt, so ist damit die Annullierung der gesamten eigenen Vergangenheit, soweit sie sündig, und die Versetzung in einen neuen Daseinszustand zum Ausdruck gebracht. Es ist das selige Gefühl: ich habe gefunden, was meine Seele suchte; von nun an kann ich beruhigt sterben ; selbst wenn ich sofort abgerufen würde, ohne mich noch in dem neuen Gnadenstande festigen zu können, so wäre mein Leben doch in die Ewigkeit eingemündet. Die geringe Wertung der Taufe in der Gegenwart hängt mit dem Zurücktreten des negativen Momentes im religiösen Bewußtsein zusammen. Verliert aber das Positive seinen Gegensatz, so wird es als selbstverständlich empfunden und büßt an Wertschätzung ein. Viel eindrucksvoller gestaltete sich die Taufhandlung während der ersten Jahrhunderte wie auch heute noch auf allen christlichen Missionsfeldern, da sie die Scheidung von einer unheimlichen, durchaus als real empfundenen dämonischen Welt bedeutete. Auch griff sie in ihren Folgen zum Teil einschneidend ins praktische Leben ein. In der Taufe gibt mir Gott grundsätzlich, was ich im Heiligen Abendmahl tatsächlich empfange. Die Taufe als Aufnahme in die Gemeinschaft ist die grundsätzliche Erschließung des Reiches des

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Geistes. Sofern daher die Handauflegung bzw. Salbung nicht mit der Taufe selbst zu einer Handlung verbunden wird, kann sie nur fürbittenden Charakter tragen. Als besonderes Sakrament würde sie der Taufe die Geistesmitteilung entziehen und sie damit entwerten. Die Mitteilung des Heiligen Geistes stellt den Täufling in den Wirkungsbereich des Geistes des Reiches Gottes. Es ist damit nicht gesagt, wie bald, in welcher Stärke und in welcher Art dieser Geist nun an dem Getauften spürbar wird. Durch den Vollzug der Objektivierung versuchen wir, uns auf den Standpunkt der Ewigkeit zu versetzen, dem das Fazit des zeitlichen unablässigen Ringens und Kämpfens in abgeklärter Ruhe vorliegt. Die Taufe erklärt kategorisch das Böse, Nichtseinsollende für nicht mehr seiend, wie es in der Tat von der Ewigkeit aus gesehen nicht mehr ist. Bekehrt sich ein Ungetaufter auf dem Sterbebett, so wird man ihm beide Sakramente applizieren; ist nur noch Zeit für eines, so hat die Taufe den Vorzug. Die Kindertaufe läßt sich im Neuen Testament nicht mit Gewißheit nachweisen, wohl aber als im hohen Grade wahrscheinlich annehmen (Althaus: Col. 2 11 „Beschneidung Christi"; Cullmann: es gibt im NT keine Spur einer Erwachsenentaufe von solchen, die als christliche Kinder ungetauft geblieben wären 1 ). Sie rechtfertigt sich aus dem einzigen, aber durchschlagenden Grunde, daß die Kinder, die Jesus so hoch stellt, aus der Kirche nicht ausgeschlossen bleiben dürfen. Sie sollen von Anfang an in der christlichen Atmosphäre nicht nur aufwachsen, sondern sich auch heimisch fühlen und als Erben des Reiches wissen2). Das Kind findet ein Vermächtnis vor; ehe es zu seinem Bewußtsein kam, ist etwas geschehen, das ihm keine Menschenmacht jemals entreißen kann. Auch der Erwachsene kann ja bei aller Bekenntnishaltung, die seine Taufe verlangt, sie nur in der Gesinnung des Kindes empfangen, das sich von der Güte des Vaters tragen läßt. „Wer das Reich Gottes nicht empfängt als ein Kindlein, der wird nicht hineinkommen". Die Taufe weist auf eine Realität außer uns, vor der alle andere Wirklichkeit zurücktritt. Die Mitteilung des H. Geistes erfolgt entsprechend dem allmählichen, bewußten, freudigen Ergreifen seitens des Kindes. Jede weitere Objektivierung dieses Vorganges in einen bestimmten Zeitpunkt tastet die vollgültige sakramentale Bedeutung der Taufe an. *) Karl B a r t h bestreitet das Recht der Kindertaufe. 2

) Die Kinder der Übertretenden wurden von Anfang an getauft, vom J a h r e

6 0 — 7 0 an auch die in der Gemeinde geborenen Kinder, und zwar als Säuglinge, vgl. Joachim Jeremias, H a t die älteste Christenheit die Kindertaufe geübt ? Göttingen 1938, S. 29.

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3. Das Herrnmahl Man darf als Gewißheit annehmen, daß Jesus an seinem letzten Abend am Schluß der Mahlzeit eine eminent feierliche Handlung vornahm, und daß bereits die Urgemeinde diese Feier als einen feststehenden Brauch begangen hat. Es ist ein Vermächtnis Jesu; und das Vermächtnis eines Führers an die Seinen pflegt sein ganzes Lebenswerk zu enthalten. Mit unwesentlichen Dingen gibt sich ein Sterbender nicht ab. Das Sakrament, das der Herr in der Abschiedsstunde mit den Seinen einsetzt, ist nichts anderes als die Stiftung der christlichen Kirche, mag sie auch erst Pfingsten Gestalt gewonnen haben. Mit der gleichen souveränen Vollmacht, mit der er in der Bergpredigt dem alttestamentlichen Gebot sein „ich aber sage euch" entgegensetzte, stellt er dem alten Bunde, der im Passamahl 1 ) immer wieder bekräftigt wurde, den neuen Bund gegenüber. „Das ist mein Blut des neuen Bundes" nimmt die Worte auf von E x . 24 8 „das ist das Blut des Bundes" 2 ). Als er den dritten Becher des Passamahls zelebrierte, weihte er ihn mit den Einsetzungsworten zum Abendmahlskelch in der dem Passamahl entsprechenden Feier der neuen Gemeinde. „Das tut zu meinem Gedächtnis", entsprechend der starken Betonung des Gedenkens in der jüdischen Passafeier 3 ). Selbst wenn uns die Einsetzungsworte nicht überliefert wären, würden wir die Feier zum Karfreitag in Beziehung bringen, entsprechend der Deutung der Taufhandlung, bei der uns keine authentische Erklärung tradiert ist. Das ganze Sakrament ist völlig von Karfreitagsgedanken erfüllt; an ihm teilhaben heißt, Jesu Tod verkündigen (1. Kor. 1126). Die Gemeinde versammelt sich, um das Testament ihres Stifters zu eröffnen und den Besitz der ihr zugedachten Güter anzutreten. 1 ) Ohne in die exegetische Kontroverse eingreifen zu wollen, sei doch ausgesprochen, daß aus inneren Gründen die Auffassung des letzten Mahles des Herrn als Passamahl naheliegt; evtl. müßte man an eine Vorwegnahme denken; dagegen allerdings W. Marxsen a. a. O. S. 16. Zu der Frage ist zu vgl. Georg Walther, Jesus, das Passalamm des neuen Bundes, Gütersloh 1950, über das Fehlen des Passalamms Otto Procksch, Passa und Abendmahl, in Hermann Sasse, Vom Sakrament des Altars, Lutherische Beiträge zur Frage des H. Abendmahls, Leipzig 1941, S. 23f. Für die Deutung als Passamahl M. Barth, Das Abendmahl, Passamahl, Bundesmahl und Messiasmahl, Zürich 1950, S. 6ff., W. Marxsen a. a. O. S. 26 (Passafeier, eschatolog. Wort u. Wiederholungsbefehl bedingen und fordern sich gegenseitig); dagegen Karl Bornhäuser, Die Leidens- und Auferstehungsgeschichte Jesu, Gütersloh 1947, S. 49ff.

) Wilhelm Rau, Das H. Abendmahl in luth. und ref. Sicht, Stuttgart 1949, S. 7. ) Das hebräische Zeitverständnis untersucht W. Marxsen a. a. O. S. 126f. Das „Gedenken" nimmt die Vergangenheit in die Gegenwart hinein. Dazu Werner Vollborn, Studien zum Zeitverständnis des AT., Mikrokopie Göttingen 1951. 2

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Das Heilige Mahl hat also den Zweck, Lebensgemeinschaft mit dem Herrn als dem Repräsentanten der christlichen Liebesgemeinschaft zu begründen. Solche Gemeinschaft ist das absolute Gegenstück zur Sünde als der Vereinzelung; mithin involviert das Ingemeinschafttreten mit dem Herrn eine allgemeine Vergebung der Sünden, mag nun eine Absolution in der Beichte bereits vorangegangen sein oder nicht. Dabei handelt es sich nicht nur um die Vergebung einzelner Fakta, sondern der gesamten verkehrten Gesinnung. J e mehr wir uns der völligen endgültigen Vergebung nähern, um so mehr nähern wir uns der völligen Irrealität der Sünde in der Ewigkeit. Die Gemeinschaft tritt dem zu begnadigenden Sünder als eine objektive Größe, als ein Glaubensgegenstand entgegen, darin er selbst noch nicht oder kaum noch eingeschlossen ist. Die beiden Momente im H.Abendmahl: Gemeinschaft mit Gott und mit den Brüdern, beleuchten die neue Erkenntnis unserer zeitlichen und ewigen Beziehungen1) . In der Verachtung dieses Mysteriums tut sich eine böse Gesinnung kund. Wer verachtet, scheidet sich damit von der Gemeinschaft und spricht sich das Gericht. Daher fordert die Teilnahme den heiligen Ernst der Selbstprüfung in der Vorbereitung. Und das starke Gefühl für das Unwürdige gerade bei diesem Sakrament ist andererseits ein sicheres Kriterium dafür, daß es sich bei dem Essen und Trinken um mehr handelt als um eine bloße liturgische Gedächtnisfeier. Ich kann auch an einem Predigt-Gottesdienst als Unwürdiger teilnehmen; so bitter die Vorwürfe sein mögen, die ich mir hernach darüber mache, so reichen sie doch nicht im entferntesten an den Ernst des dem Heiligen Abendmahl eigentümlichen Begriffes der Unwürdigkeit heran. Das Abendmahl ist eben etwas qualitativ anderes als ein PredigtGottesdienst. Es ist Sakrament. Die Unwürdigkeit bei der Taufe fällt deswegen nicht so stark ins Gewicht, weil der Eintritt in den neuen Stand erst vollzogen werden soll. Beim Abendmahl dagegen würde dieser Stand, statt eine Steigerung zu erfahren, selbst in Frage gestellt. Die modernen Theorien über das H. Abendmahl kommen meist nicht zu einer vollen Würdigung der Tiefe der lutherischen Auffassung. Viele haben sich auf die Formel festgefahren, das Sakrament könne und dürfe nichts anderes enthalten als das Wort. Woher wissen sie das eigentlich so genau ? Angenommen, es wäre so: Besteht denn das Wort Gottes nur aus geschriebenen oder gesprochenen Wörtern ? Hat Gott nicht mancherlei Weise, zum Menschen zu reden ? Ist nicht Christus selbst das lebendige Wort Gottes, und hat der, der bei uns sein Über die gemeinschaftbegründende Kraft des H. Abendmahls vgl. Fritz Bammel, Das H. Mahl im Glauben der Völker, Gütersloh 1950, bes. Kap. II, Das H. Mahl und die soziologische Existenz, S. 75ff.

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will alle Tage bis an der Welt Ende, wirklich nur ein einziges Ausdrucksmittel für sein Nahesem1) ? Es geht im Abendmahl um eine mystische Vereinigung mit dem Herrn. Wie real diese Gemeinschaft im Urchristentum empfunden wurde, zeigt 1. Kor. 10 14—22, wo Paulus der sakramentalen Gemeinschaft mit dem Herrn die ebenso tatsächliche Gemeinschaft mit den Dämonen gegenüberstellt, welche die Teilnahme an heidnischen Opfermahlzeiten zur Folge hat. Die nähere Einsicht in das antike Mysterienwesen läßt ein rein symbolisches Verständnis der Einsetzungsworte für die damalige Zeit als ausgeschlossen erscheinen. Der im Abendmahl gegenwärtige Leib Christi ist sowohl der irdische wie der auferstandene und verklärte; jeglicher Streit über diese Frage dürfte gegenstandslos sein 2 ). Auch der lutherischen Lehre hat man den Einwand gemacht, der Herr habe seinen Jüngern nicht seinen Leib spenden können, da er doch in leiblicher Unversehrtheit vor ihnen saß. Aber der lutherische Christ weiß beim Abendmahlsempfang den Herrn unbeschadet der Realpräsenz in den Elementen allgegenwärtig und ewig zur Rechten des Vaters; ihm macht daher der obige Einwand nicht die geringsten Schwierigkeiten. Wir Christen sollten uns eigentlich bewußt sein, den Leib des Herrn mit jeder Nahrung in uns aufzunehmen, bei jeder Mahlzeit ein H. Abendmahl zu feiern. Doch geht diese Vorstellung über die menschliche Fassungskraft hinaus; nur höhere Geister könnten sie vollziehen. So objektivieren wir den Empfang des heiligen Leibes in der besonderen sakramentalen Feier und stellen unsern Glauben darauf ein. Zweifellos darf Luther die Realpräsenz des Herrnleibes in die Linie seiner Menschwerdung stellen. Jesus will seine Zusage einlösen, bei uns zu bleiben bis an der Welt Ende. Der Welt Ende wird er mit seinem Wiederkommen herbeiführen. Das Abendmahl des Herrn feiern heißt, im Advent stehen. Darum soll die Abendmahlsgemeinde den Tod des Herrn verkündigen, bis daß er kommt. In diesem kurzen Satz liegen die Beziehungen des Herrnmahls zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschlossen. „Aber der, der nun erscheint in der versammelten Gemeinde, erscheint eben doch nicht als .gekreuzigt Werdender' und Auferstehender, ebenso wenig als zur eschatologischen Parusie Wiederkehrender, sondern als zur Rechten Gottes Sitzender, der gekreuzigt worden ist und auferstanden ist und der wiederkehren wird" 3 ). Gegen die lneinssetzung von Wort und Sakrament, der Gegenwart Christi in und außer dem H. Abendmahl vgl. A. Fr. Chr. Vilmar, Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik, Berlin 1947 (Chr. Ztschr. Verlag), S 117f. 2 3

) Vgl. Peter Brunner, Aus der Kraft des Werkes Christi, München 1950, S. 49f. ) O. Cullmann, Christus und die Zeit, 2. A„ Zürich 1948, S. 149.

Das Herrnmahl

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Mit der Weihe der Elemente sprechen wir aus, daß nunmehr der an und für sich stets und überall gegenwärtige Leib für uns während der Feier in diesen Elementen mit Bewußtsein als gegenwärtig aufgenommen wird, und daß wir unser Verhalten danach einrichten wollen. Das Endliche wird transparent für das Unendliche. Mit Beendigung der Feier hört die Objektivierung wieder auf. Die Elemente gleichen dem Draht, in welchem der elektrische Strom nur solange kreist, als die Verbindung mit dem Kraftwerk besteht. Somit empfängt der Christ beides, das Brot u n d den Leib, den Wein u n d das Blut. Auch der Ungläubige empfängt den wahren Leib, insofern er wußte, um was es sich bei dieser heiligsten Gemeindefeier handelte, und sich doch durch irgendwelche äußeren Erwägungen zur Teilnahme bestimmen ließ. Darin liegt eine Geringschätzung des Sakraments. Der schwache Glaube dagegen ist ganz anders zu bewerten. Entsprechend der in ihm enthaltenen Sehnsucht und nach Maßgabe der Ehrlichkeit wird er nicht ungesegnet bleiben. Denn das Sakrament verlangt nicht eine Kraftleistung des Glaubens, sondern will beschenken. Wo dagegen Unfähigkeit vorliegt, die zum realen Empfang nötige Objektivierung zu vollziehen oder nachzuempfinden, also nicht Unglauben, sondern Unwissen, hat der Betreffende am Sakrament überhaupt keinen Teil. In der Gegenwart des Leibes und Blutes steht die felsenfeste, unerschütterliche Objektivität der Gotteswirklichkeit vor uns. Alles Psychologisierende ist hier ferngehalten. Das Abendmahl kommt lediglich auf Grund der Wirkung Christi und nicht irgendwelcher seelischer Vorbedingungen unsererseits zustande 1 ). Daher empfängt auch der Ungläubige und Unwürdige das Sakrament. Der würdige Genuß des Sakraments enthält einen religiösen Wert, der nicht mehr überboten werden kann, die Durchstreichung aller Schuld, die Gemeinschaft mit dem Haupt und allen Reichsgenossen und eine friedvolle Kraft zu neuem Leben. Die völlige Harmonie der Motive und Quietive schließen selbstsicheren Perfektionismus ebenso aus wie jede Art untätigen, bequemen Glaubens. Jede Abschwächung des Sakramentes trägt in dasselbe ein Moment des menschlichen Handelns und damit ein Moment der Unruhe hinein. Das gerade ist die Gnade des Sakramentes, daß wir einmal rein passiv nur empfangen sollen. Nicht wir sind die Handelnden, sondern der Herr handelt allein an uns. Alle menschliche Betriebsamkeit ist ausgeschaltet; die majestätische göttliche Gabe hängt nicht von unserer ängstlichen Anstrengung ab oder von unseren Sorgen und Mühen. N a c h L u t h e r e r h e b t sich nicht der A b e n d m a h l s g a s t in G e d a n k e n zu Christo empor, sondern Christus erniedrigt sich zum M e n s c h e n ; vgl. W . A. X V I I I , S. 203f.

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Ohne jegliches Zutun deinerseits sollst du dich einfach beschenken lassen. Die Feier des H. Abendmahls ist das köstliche Kleinod der lutherischen Kirche und ihre wunderbare Kraftquelle. Nirgends ist das Kreuz und die Auferstehung, das gesamte Evangelium und der ganze Christus so gegenwärtig wie hier.

4. Das Gebet Das Gebet gehört nur insofern in unseren Zusammenhang, als es das einzige Handeln des Menschen an der Gottheit ist. Sonst wissen wir nur von einer Einwirkung der Gottheit auf den Menschen zu sagen, wie es durch den Urgrund der Seele vermittelt wird. Da dieser Weg unserem Handeln verschlossen ist, versuchen wir, von unseren Geiteskräften aus an Gott heranzukommen; und das ist der Weg des Gebets. Verstand, Gefühl, Phantasie und Wille sind dabei in gleicher Weise beteiligt. Es ist von vornherein selbstverständlich, daß der moderne naturwissenschaftlich orientierte Mensch die Möglichkeit eines Handelns des Endlichen am Unendlichen unter keiner Bedingung einzusehen vermag. Auf der anderen Seite gilt das Gebet von den Tagen des Paulus an (A.G. 9 n ) bis heute mit Recht als das vorzügliche Kennzeichen eines lebendigen Christen. Das christliche Gebet setzt sich vom heidnischen dadurch ab, daß ihm jede Berechnung fehlt, und daß es um so tiefer ist, je kindlicher es ist. Darum lassen sich schlechterdings keine Anweisungen und Regeln geben; es gibt keine Technik des Gebets. Heidnisch ist alle Magie, mit der man Gott zwingen will, alles Umstimmen Gottes, als müßte man den unverständigen Gott zur Vernunft bringen; heidnisch ist die ausschlaggebende Bedeutung von Gebetsmasse, Formel, Ort und Zeit. Das Gebet hat Gott keine aufklärenden Mitteilungen zu machen, noch seine Aufmerksamkeit auf bestimmte Gegenstände zu richten oder seinem Gedächtnis aufzuhelfen. Die allgemeinen Kirchengebete in ihrem Bestreben nach möglichster Vollständigkeit entgehen nicht immer dieser Gefahr. Man kann nicht sagen, daß das Gebet erst durch das Wort Gottes veranlaßt wurde. Es müßte dann ohne dasselbe nicht zustande kommen. Wohl aber läßt sich der Christ durch das Wort Gottes in seinem Gebetsleben schulen. Insofern kommt im christlichen Gebet das Wort Gottes wieder zu ihm zurück, und zwar nicht leer (Jes. 55 n ) . Es ist vom Geist durchweht und kann immer mehr als Gabe des Heiligen Geistes bezeichnet werden. Hat es eine gewisse Innigkeit erreicht, so bricht wieder der Brunnen aus der Tiefe auf, und wir fühlen uns in Vollzug des Gebetes vom Geist geleitet und getragen. Solche Gebetsstunden sind ein Geschenk und lassen sich nicht machen. Wir

Das Gebet

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sollten solche Gnadenstunden nutzen, da sie vielleicht in unserem Leben seltener werden. Je konkreter das Gebet sich gestaltet, um so mehr steigern sich die Schwierigkeiten, von der reinen Anbetung bis hin zum eigentlichen Bittgebet. Dem Einwand, daß Gott auch ohne ausgesprochenes Gebet wisse, was im Menschen vorgehe, kann nicht mit dem Hinweis darauf begegnet werden, daß der Mensch ohne dieses ausgesprochene Gebet nicht zum klaren Bewußtsein seiner inneren Vorgänge komme. Denn der eigentliche Zweck des Gebets ist ein anderer als die Arbeit an sich selbst. Der Beter will kein Selbstgespräch halten; Gebet will ein Zwiegespräch sein, möchte die eigenen Anliegen mit Gott besprechen, seinen Willen erforschen, möchte versuchen, die Dinge mit Gottes Augen zu sehen. Wir bezeichnen es als ein Handeln des Menschen an Gott, weil die Initiative auf Seiten des Menschen liegt. Es ist der Versuch, die Verbindung mit Gott herzustellen. Gott läßt sich zwar nicht zu einer Antwort zwingen; man kann ihm weder die Art und Weise seiner Erwiderung vorschreiben noch den Zeitpunkt; aber der Beter verpflichtet sich, mit offenem Ohr zu lauschen und nach Möglichkeit die Hindernisse in sich zu beseitigen, die dem Empfang entgegenstehen können. Ich soll eben warten, und ich kann auch warten; Herr, gib mir die Kraft dazu! Gerade der rechte Beter wird nicht beim Allgemeinen verweilen, sondern in seinen Bitten konkret werden. Man soll sich die Mühe geben, darüber Klarheit zu gewinnen, was man Gott eigentlich sagen will. Unser Gesichtskreis kann nur ein beschränkter sein; eine künstliche Ausweitung ins Allgemeine steht uns Menschen nicht zu und straft sich mit Einbuße an religiöser Innigkeit. Wir sind uns völlig darüber klar, daß Gottes Schau eine ewige und umfassende ist; aber wir ehren ihn über einen rein philosophischen Gottesbegriff hinaus als Vater, indem wir von ihm ein Eingehen auf unsere beschränkten Interessen erbitten 1 ). Die Philosophie bezeichnet „Gott als ein Wesen, das seiner innersten Struktur nach verdammt ist, das menschliche Flehen keineswegs zu beachten, als ob er, der theoretisch allumfassend ist, tatsächlich blind für unser Leiden und taub für unser Gebet sei"2). Gewiß will ich nicht etwas erbitten, was dem Willen Gottes stracks zuwiderläuft. Aber die Einzelbitte schließt die vertrauende und zutrauende Bitte des Kindes an den unumschränkt freien Gott ein, das So stellt auch Friedrich Heiler (Das Gebet) das naivere prophetische Beten höher als das mystische. 2 ) Henri Bergson, Denken und schöpferisches Werden, S. 63; vgl. als Beispiel Max Scheler, Stellung des Menschen im Kosmos, München 1947, S. 85.

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Geschehen in der vorgestellten Art zu gestalten; hat er doch wohl Raum, die Bitte seines Kindes in seinen Willen aufzunehmen. Wir dürfen Gott ruhig sagen, daß wir uns vor einer anderen Regelung fürchten und noch nicht wissen, wie wir ihr begegnen sollten. Gegenüber der törichten Redensart: Das Gebet ändert doch nichts, muß man sich vor Augen halten, daß von allem und jedem Strahlen ausgehen; wie viel mehr von der ungeheuren Kraft des Gebets, die in Gottes Willen und Wort gefaßt ist! Wir werden wahrlich staunen, wenn wir einmal in der Ewigkeit alle Wirkungen des Gebets übersehen können. Der reiche Gott verfügt über Auferstehen und Ewigkeit. Wer nur mit diesem Leben rechnet, dessen Rechnung kann gar nicht aufgehen. Gewiß ist die Grenzlinie zwischen kindlichem Vertrauen und kindlichem Egoismus sehr fein; aber die wesentliche und nicht etwa nur anhangsweise Zugehörigkeit der Fürbitte zum Gebet ist ein starker Schutz gegen egoistische Vereinzelung. Wie schmerzlich wird man sich dabei der Unmöglichkeit bewußt, alle Personen vor Gott zu bringen, deren man eigentlich gedenken möchte oder sollte! Andererseits wird der, der von Gottes Angesicht kommt, nicht mehr so leicht vor Menschen verstummen. Endlich fehlt dem rechten Gebet nicht der eschatologische Ton; es ist ein Wachen, nach vorn Spähen: Komm, Herr Jesu!

XII. Rationaler und kontingenter Charakter des Christentums Ist das Christentum eine rationale oder kontingente Größe ? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Duns Scotus und Thomas, geoffenbarte und natürliche Religion, biblisch gebundenes und freies Christentum, ja vielleicht jedes ernste dogmatische Problem kommt auf diesen Gegensatz hinaus. Es liegt zunächst nahe, in beiden Auffassungen gleichberechtigte Ausprägungen desselben Gedankens zu sehen, gewissermaßen Antinomieen der christlichen Vernunft. Oder man könnte die letzte Wahrheit auf der Seite des Allgemeinen vermuten und dem Besonderen nur ein vorläufiges psychologisches Recht zusprechen, so daß der Fortschritt von diesem zu jenem von dem Grade unseres Begreifens abhinge. In dieser formalen Gestalt hat der Gedanke zweifellos auch seine Richtigkeit; nur kommt alles auf das Verständnis des Allgemeinen an. Wir müssen ein Fragezeichen machen, wenn der innerlich gebrochene Mensch das objektive Geistesleben als ungebrochene Einheit

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ansprechen und sich demgemäß darin bewegen will1). Ist es doch kein Ding an sich, kein metaphysisches Universale, sondern ein Erzeugnis der allzumal innerlich gebrochenen, d. h. sündigen Geister2). Der innere Bruch ist irrational, das objektive Geistesleben will rational sein; infolgedessen findet jener hier keine Berücksichtigung. Damit hängt es zusammen, daß hochgebildete Personen, die im Reiche des Geistes überall Beziehungen haben, in den allerpersönlichsten Fragen sich doch recht einsam fühlen können. Zwar gibt es Depressionen, die rationaler Behandlung fähig sind, für die man also auch im objektiven Geistesleben Verständnis finden kann; die sittliche Depression ist dagegen immer irrational und kann daher dort nicht einmal begrifflich gewertet werden. Es ist gewiß verständlich, wenn man auch auf sittlichem Gebiet einen Monismus erreichen möchte, wie ihn die naturwissenschaftliche Welterklärung anstrebt. Freilich reicht in die Ewigkeit kein sittlicher Dualismus hinein; ihn aber auch für die Endlichkeit leugnen zu wollen, hieße, auf eine Objektivierung allerersten Ranges verzichten. Als unausbleibliche Folge würde sich ergeben, daß Ethik und Naturprozeß nicht mehr zu scheiden sind, und zwar in einem ganz anderen als dem Schleiermacherschen Sinne. Vergeblich fragt man nach einem Ziel der Entwicklung. Sie hat ja keinen Widersacher, und für etwas Selbstverständliches entfällt jeder Maßstab. Redet man aber von sittlicher Schwäche, sittlichen Rückfällen oder sittlicher Minderwertigkeit, so ist damit bereits der Monismus verlassen und ein fremdes Prinzip eingeführt. Auch der Einwand verfängt nicht, daß gleichfalls das Schöne keinen absoluten Gegensatz habe und dennoch deutlich von uns empfunden werde. Der tiefste Grund des Schönen ist ja gerade das Sittlich-Religiöse mit seinem Ringen3). Gefühlswerte wie Sehnsucht, Überwindung, Freiheit und Reinheit schwingen mehr oder weniger stark im Unterton mit. Man erwartet, daß es nichts Häßliches mehr geben könne, wenn alles Böse abgetan ist. Unharmonische Formen am Menschen wirken häßlich, weil sie uns an böse Charaktereigenschaften erinnern, Disharmonisches in der Natur, weil wir es als etwas Boshaftes und Feindliches unwillkürlich personifizieren und uns instinktiv in Abwehrzustand versetzen. Das Häßliche verursacht eine gewisse Arnold Gehlen (Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Anthropologie, Merkur VI, Stuttgart 1952, S. 533ff.) meint, statt Rousseaus ,.Zurück zur Natur" solle man besser die Losung ausgeben ,.Zurück zur Kultur". 2 ) Nach Eduard Spranger (Weltfrömmigkeit, Leipzig 1941, S. 26ff.) besteht dieser Riß abgesehen von der Sünde in 1. dem Tod, 2. der Verzweiflung, 3. dem Fremdheitsgefühl in der Welt. 3 ) Es sei auch auf die schönen Ausführungen bei Erich Frank, Philosophische Erkenntnis und religiöse Wahrheit, Stuttgart 1950, S. 75f., verwiesen.

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Besorgnis, weil es uns als eine übellaunige Störung erscheint, die das Streben nach Güte oder nach Vollkommenheit beeinträchtigt. Das Wesen der Sittlichkeit läßt sich nun einmal nicht rational umspannen. Ist aber der innere Bruch eine Tatsache, so ist er auch eine der wichtigsten Tatsachen überhaupt, zumal für eine Religion der absoluten Sittlichkeit. Der christliche Glaube steht und fällt mit der Frage nach Wesen und Bedeutung der Sünde. Gerade wenn man die Ethik als den Nerv der Religion ansieht — für viele ein Zeichen besonders , .freier" Auffassung —, ist man gehalten, den inneren Bruch und seine Heilung in den Mittelpunkt zu stellen. Daß wir damit nur die Gedanken Jesu aussprechen, zeigt das Vaterunser. Die drei Bitten, die geistige Güter für den Beter persönlich erflehen, handeln ausnahmslos von dem Bösen, und zwar von dem geschehenen, dem gegenwärtigen und dem zukünftigen. Ein lediglich rationales Empfinden kann hier gar nicht auf seine Rechnung kommen, würde es doch Bitten erwarten wie: laß uns Großes erleben, schenke uns eine starke Seele, gib uns eine harmonische Entwicklung. Dem Herrn liegen solche Gedanken fern; sie haben kein Ziel und keinen Inhalt und daher auch keinen Ewigkeitswert. Wo das sittliche Moment nicht voll zur Geltung kommt, enthüllt sich alles moderne Kraftmeiertum als gedankenlose Verschwommenheit. Selbst Nietzsche, der ein außerordentliches Feingefühl für ethische Psychologie besaß, kann man diesen Vorwurf nicht ersparen. Sein ethisches Prinzip ist die Größe; aber der Philosoph bleibt die Antwort schuldig, wenn wir fragen, was denn Größe eigentlich sei. Welcher Maßstab soll entscheiden, wenn in der Aufopferung für den Nächsten dieser eine von göttlichem Geist getragene Höchstleistung, jener nur ein Zeichen schwächlicher Sentimentalität erblickt ? Verschiedene Auffassungen vom Wesen des Christentums entspricht jedesmal eine verschiedene Ethik. In der Eigenart ihrer Ethik macht die Gemeinde eine mittelbare Aussage über den Opfertod Christi; denn wenn die Ethik die Wirkung und Golgatha die Ursache ist, kann man auch rückwärts von jener auf diese schließen. Auf einen Außenstehenden muß die christliche Ethik zunächst den Eindruck ausgesprochener Sonderart machen. Es ist meist alles ganz anders, als man es nach allgemeinem Räsonnement erwarten sollte. Diese Eigentümlichkeit geht zweifellos auf den Stifter selbst zurück. Wer mit einer Antipathie an die Person Jesu herantritt, könnte aus dem Evangelium den Eindruck gewinnen, als gefalle sich Jesus darin, durch allerlei Oxymora die Menschen in Verlegenheit zu bringen. Allein von Willkür ist keine Rede; alles Lehren und Handeln geht von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus. Bis dahin erhielt der Tugendbegriff seine inhaltliche Färbung nach einem der Empirie entnommenen Gut, und Tugend reihte sich an

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Tugend, ohne daß der innere Zusammenhang deutlich wurde. Auch in den positiven Religionen tat die Gottheit ihren Willen in einer Reihe oft recht disparater Gebote kund. Erst Christus formuliert ein Zentralgebot, die Liebe. Es läßt sich sowohl als ein „neues Gebot" (Joh. 13 34) wie als Extrakt der alttestamentlichen Gesetzgebung (Mt. 22 36 ff.) auffassen. Sein Sinn ist die Aufnahme des gebrochenen Menschen (des Sünders) durch die Vergebung in die Gemeinschaft des Reiches Gottes. Ein Überbieten ist nicht mehr denkbar. Der christliche Glaube nahm weder von der Natur noch von der Kunst, weder von der Kultur noch der Philosophie der Griechen seinen Ausgang, sondern von dem historischen Jesus von Nazareth. Darin liegt bereits ein irrationales Sondermoment. Er brachte eine Umwertung aller Werte, indem er infolge seiner harten Kontingenz als Ärgernis und Torheit auftrat, und schied in einem Kampf auf Leben und Tod die Bestrebungen allgemeiner rationaler Ableitung (Gnosis) von sich aus. Erst als die Aufnahme der geschichtlichen Persönlichkeit seines Stifters in das religiöse System endgültig gesichert war, wurde eine christliche Theologie im Zusammenhang überhaupt möglich. Wie wir aber die Dinge nicht im Allgemeinen, sondern im Rahmen besonderer Gegebenheiten, Zeit, Raum, Farbe usw. anschauen, so erhält die christliche Gemeinschaft ihr eigentümliches Gepräge durch die liebevolle Rücksicht auf die einzelnen, mit der inneren Gebrochenheit ringenden Menschenseelen. Von daher kommt der scheinbar irrationale Zug in die christliche Ethik. Die Gemeinde Jesu besteht durchweg aus solchen, denen viel geschenkt wurde und die also viel lieben. Darum sucht sie zu entschuldigen, wo andere bereit sind zu verdammen; wo dagegen menschlicher Leistung überschwenglicher Beifall gespendet wird, lautet ihr Urteil nüchtern und eher ablehnend, weil sie in der Selbstgefälligkeit das Haupthindernis für den wahren inneren Frieden sieht. Daher durchzieht der Gegensatz: demütig und selbstgerecht, schwach und stark, krank und gesund, blind und sehend wie ein roter Faden das Neue Testament. Weil alle der Vergebung und Kraftmitteilung bedürfen, werden die menschlichen Unterschiede relativ, ihre allzu starke Betonung zum Hindernis. Wer kommt, muß um seine Armut wissen, sonst fehlt ihm die rechte Empfänglichkeit. Erfahrungsgemäß sieht sich der Reiche und Kluge damit vor eine besonders ernste Entscheidung gestellt. Über einen bußfertigen Sünder ist mehr Freude im Himmel als über 99 Gerechte. Da der erreichte Stand auf der Skala des Werdens nicht von den einzelnen guten Taten, sondern von der Intensität der Richtung abhängt, wird die Summe des Geleisteten gleichgültig, wird gleichgültig auch die Zeit, die jemand bereits im Guten steht. Es kann D Klara roth, Lutherischer Glaube im Denken der Gegenwart

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sogar von jemandem, dessen sittliches Verhalten der Norm gar nicht zu entsprechen scheint, gesagt werden, er sei nicht fern vom Reiche Gottes, sobald sich in ihm demütig-dankbare Empfänglichkeit ankündigen will. Darum sind wir besonders stark, wenn wir uns schwach fühlen, weil wir dann für die Kraftmitteilung Christi am empfänglichsten sind. So wird das Kind zum Vorbild, nicht seiner vermeintlichen Unschuld, sondern seiner gläubigen Empfänglichkeit wegen. Auch das gehört zur Paradoxie des Glaubens, daß wir nicht Kinder bleiben, sondern werden, d. h. durch Kampf in eine unverkrampfte Haltung gelangen sollen. Entsprechend der verschiedenen ethischen Orientierung ist die Stellungnahme zu den Kulturgütern der Erde eine andere. Kultur (im weitesten Sinne) und sittlich-religiösen Weltzweck wird derjenige scharf unterscheiden, der im Christentum das Besondere sieht; wer aber in ihm nur eine positive Darstellung der allgemeinen ratio erblickt, wird in der Kultur den religiösen Zweck mitenthalten sein lassen. Das klassische Problem Weltbejahung oder Weltverneinung tut sich hier auf, Faustgestalt oder Anachoretenwesen. Grundsätzliche Weltverneinung wird eine gesunde evangelische Frömmigkeit schon um des ersten Artikels willen niemals vertreten können 1 ); das blieb einer dekadenten Philosophie vorbehalten. Die übergroße Angst vor der Welt wird zu einem Kennzeichen kleiner Geister, die die königliche Weite des Evangeliums noch nicht erfaßt haben. Man kann auch einen Kultus mit der eigenen Erbärmlichkeit treiben. Im Hintergrunde einer überbetonten Askese steht die Überschätzung der diesseitigen Güter, die sich auch das Reich Gottes nur in äußerer Herrlichkeit denken kann. Selbst ein Johannes der Täufer ist von solcher Neigung noch nicht frei. Umgekehrt fragt es sich, ob nicht der innere Bruch, der durch die Welt geht, eine Lage geschaffen hat, da wir zeitweise die Welt nur dadurch behaupten können, daß wir sie verneinen. Rechte Askese ist niemals etwas Negatives2), sondern als Abwehrkampf gegen das Böse Aufbauarbeit am Reiche Gottes. Die Welt ist ja keine Größe mit Eigenwert, sondern eine von Gott zur Durchführung seiner Reichszwecke uns bestimmte Arbeitsstätte. *) „Wenn einer seines Lebens in der schönen Welt Gottes nicht iroh werden kann, so ist es ein sicheres Zeichen, daß sein Auge nicht rein ist und daß sein eigenes Eingebundensein in das „Buch der Natur" zur Gegenwärtigkeit Gottes in diesem Buche in Widerspruch steht", sagt Werner Eiert, zwar sehr pointiert, aber doch zum Nachdenken anregend. Das christliche Ethos, Tübingen 1949, S. 412. a ) „Ethik drängt zum Handeln, und wo sie nicht in ihr Widerspiel, die Verneinung des Handelns, umschlägt, muß sie die Tendenz zur Kulturethik haben", Rudolf Bultmann, Die Bedeutung der Eschatologie für die Religion des NT., S. 84.

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Ohne rechte Askese bleiben wir nicht arbeitstüchtig. Diese Tatsache schafft kein geistreiches Apercu aus der Welt. So heißt es etwa, es gelte nicht zu verzichten, sondern zu überwinden. Beides braucht aber durchaus nicht in Gegensatz zu stehen; vielmehr wird die Überwindung oftmals erst im Verzicht zu einer vollendeten Tatsache. Überwinden heißt vorwärtskommen; und dies ist wie bei jedem Entschluß nur durch Beschränkung auf eine unter mehreren Möglichkeiten zu erreichen. Die praktische Entscheidung im Einzelfall stellt an das religiöse Taktgefühl hohe Anforderungen. Darf das Kämpfen und Überwinden (Offenb. 3 5) durch Augenblicke der Ruhe unterbrochen werden, ohne daß dadurch ein Adiaphoron statuiert wird? Bin ich auch noch in Stimmungen wohligen Behagens ein Kreuzträger, auf den das Wort zutrifft: und seine Jünger folgten ihm nach? 1 ) Ein Blick auf die Kunst kann in mancher Beziehung Klarheit bringen. Daß in ihr das Ernste tieferen Gehalt hat als das Heitere, steht außer Frage. Das Heitere stellt eine gelöste, das Ernste eine noch ungelöste Spannung dar. Absoluten Wert hat allein die Freude; denn sie ist die Stimmung des vollendeten Reiches Gottes. Weltliche Freude scheint ohne das Reich Gottes auskommen zu wollen; deshalb wirkt sie oberflächlich; sie gibt einen Zustand der Befriedigung wieder, dessen leichtes Zustandekommen befremdet. Im Weltlich-Ernsten klingt dagegen ein Unbefriedigtsein, ein dunkles Sehnen hindurch, das am Ende doch auf eine religiöse Lösung hindrängt. Den größtmöglichen Grad religiöser Freude in der Musik schenkt uns Johann Sebastian Bach in einem großen Teil seiner Schöpfungen. Schwermütige religiöse Kunst würde die Versöhnung vermissen lassen und daher nicht zum Frieden verhelfen. Eine besondere Stellung nehmen die Motive der Passion Jesu ein, da sein Tod auch von begnadeten Gotteskindern niemals restlos begrifflich oder gemütlich verarbeitet werden kann. Hier allerdings ist das Sehnen und das Ungelöste das Gegebene. Einige Melodieen unserer Passionslieder gehören zu den schönsten Tonschöpfungen überhaupt. Wo der Jünger seine Aufgabe nur in der Selbstverleugnung lösen kann, erinnert ein leiser historisierender Hauch dabei an das Bild Jesu. Die Selbsthingabe hat einen eigentümlichen Wert. Selig ist, wer Schmähungen und Verfolgungen um Christi willen auf sich nimmt. Umgekehrt wird es den Christen bedenklich stimmen, wenn es ihm gar zu wohl geht und er niemals gewürdigt wird, an dem Leiden seines Herrn ein wenig teilzunehmen. So bleibt denn das Wort vom Kreuz dem einen ein Ärgernis, weil es die menschliche Leistung nur relativ wertet, dem andern eine Über den Zusammenhang von Humor und Moral wäre auch Bergsons Studie „Das Lachen" zu vergleichen. Meisenheim am Glan 1948, S. 71.

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Torheit, weil es das Wohlbehagen an der durch Wissenschaft und Recht, Kunst und Technik bestimmten Kultur nur in bedingter Weise gelten läßt. Rationaler oder kontingenter Charakter des Christentums ? Wir erkennen in der Alternative die Polarität der beiden Wege ins Allgemeine und ins Einzelne wieder. Auf beiden Wegen kann der religiöse Sinn nicht unbedingte Gefolgschaft leisten. Auf der einen Seite führt das Übermaß zur Verkümmerung, zum vergrabenen Pfund oder zum Fanatismus, wobei unter Fanatismus das Aufrichten der Grenze noch innerhalb des eigenen Gebiets zu verstehen ist, also Ausschließlichkeit statt Liebe. Der andere Weg läßt in seinem Verlauf den christlichen Gedanken zu einem blutleeren Schemen verblassen. Es ist der Verzicht auf die Objektivierung, durch welche das Besondere für uns zum Glaubensgut wird. Liegt aber die Wahrheit zunächst auf der Seite des Besonderen, so wird im Licht der Ewigkeit das Besondere als das eigentlich Allgemeine sich erweisen, während umgekehrt das heutige angeblich Allgemeine als seltsame Verirrung erkannt wird. Denn bei ernster Prüfung dessen, was uns von den verschiedensten Seiten als allgemeine ratio geboten wird, werden wir in dem Chor der einzelnen Stimmen überraschender Weise gerade das nicht heraushören, worauf es doch ankommt, nämlich die Einheitlichkeit. Das Orchester bringt es zu keiner Harmonie; jedes Instrument spielt eine besondere Komposition; das Dirigentenpult ist unbesetzt. Im Wesen Jesu liegt dagegen trotz historischer Kontingenz die tiefste Allgemeinheit. Die ewige Liebe wurde historisch-konkret, um das Vereinzelte wieder dem großen Organismus des Reiches Gottes anzuschließen. Wenn seine Stellung zu den Kulturgütern der Erde auch eine gebrochene bleiben wird, so weiß doch der Christ, daß im Grunde das Kreuz die höchste Weisheit darstellt; das irrationale Moment im Christentum wird sich einstmals als höchste ratio enthüllen. Dann wird sich auch die Lösung der erwähnten christlichen Antinomieen ergeben, deren Berücksichtigung und Verarbeitung der Theologie erst das specifisch christliche Gepräge gibt.

XIII. Das Reich Gottes 1. Heiliger Geist Die Frage nach dem Heiligen Geist ist nichts anderes als die Frage nach dem Reich Gottes. Überall da, wo das Reich Gottes nicht in lebendiger Konkretheit empfunden wird, bleibt der Heilige Geist eine ehrwürdige Vokabel, die man von den Vätern übernommen hat und die aufzugeben man nicht recht wagt. Man ist in einiger Verlegenheit,

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wie man ihm in dem so schön geordneten Weltbild noch einen Raum zuweisen kann. Ist aber das Reich Gottes für den Frommen eine Wirklichkeit, so vermag er nicht nur, fruchtbar über den Heiligen Geist nachzusinnen, sondern spürt selbst etwas von seinem Wehen. Reich Gottes ist das Reich des Guten, der aufbauenden Liebe, da die vereinzelnde Ausschließlichkeit überwunden ist1). In dem Maße büßt jemand an Menschenwürde ein, als er die sittliche Gemeinschaft der Liebe für sich ablehnt. Denn nur in seiner Beziehung zum andern, als Teil eines übergeordneten Ganzen, erfaßt sich der Mensch als Menschen. Wo die Reichsgesinnung angetroffen wird, da weht der Geist der Gemeinschaft, der Heilige Geist. Gemeinde gibt es nur auf sittlich-religiösem Gebiet. Darum ist das Reich Gottes nur eines. Darum läßt das apostolische Glaubensbekenntnis im dritten Artikel auf die Nennung des Heiligen Geistes unmittelbar das Moment der Einheit gewissermaßen als Erläuterung folgen2). Über dieses Reich ist Christus von Gott zum Herrn eingesetzt worden. Der H. Geist wirbt nicht für sich selbst, sondern ist Wegführer zu Christus. Reich, Gemeinschaft, H. Geist, Liebe,Christus — sie alle sind gleich gerichtet. Wo es an einem ermangelt, gebricht es auch an den anderen. Man könnte einwenden, daß doch das Zustandekommen einer Gemeinschaft von dem Tatbestand einer Mehrheit von Personen abhänge und daher nicht in der Hand des einzelnen liege. Tatsächlich wird häufig die Auffassung vertreten, daß ein Robinson der sittlichen Beurteilung überhaupt entzogen sei. Nun aber empfindet der Christ seinen Herrn in eigentümlicher Weise als gegenwärtig. Er ist infolge seiner Einheit mit Gott der Inbegriff der Liebe, der Inbegriff der sittlichen Gemeinschaft oder ihr Repräsentant, ihr Haupt. Daher betrachtet der Christ sein ganzes Leben als einen ihm persönlich geweihten Dienst. Sittlichkeit ist ohne persönliche Beziehung zu Jesus überhaupt nicht mehr denkbar; sündigen bedeutet so viel wie: die Gemeinschaft mit Jesus ablehnen3). Das kann auch von einem Robinson auf einer einsamen Insel geschehen. Indem ich mich als Beauftragten Christi ') Schleiermacher, Der christliche Glaube § 1 2 3 , 1 . Lehrsatz: Der H. Geist ist die Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in der Form des das Gesamtleben der Gläubigen beseelenden Gemeingeistes. 2 ) Schleiermacher hat insofern recht, wenn er a. a. O. das Bewußtsein der Einheit analog dem Geist der Volkstümlichkeit im Charakter des einzelnen Volksgenossen schließlich in das allgemeine Gattungsbewußtsein der Menschheit einmünden läßt, wobei er ausdrücklich auf die übernatürliche, also sittlich-religiöse Bestimmtheit desselben aufmerksam macht. 3

) Vgl. dazu Herbert Preisker, Das Ethos des Urchristentums. Gütersloh 1949, S. 164f. •

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weiß, habe ich auch Pflichten gegen mich selbst. Mit der sittlichen Gemeinschaft habe ich es immer zu tun; nur wird sie mir das eine Mal mehr durch den Leib (die Brüder), das andere Mal mehr durch das Haupt (den Meister) repräsentiert. Wir müssen im Gegenteil die Frage aufwerfen, wie die Kontinuität und damit die Absolutheit der Ethik gewahrt bleiben kann ohne die mystische Beziehung zu einem idealen Repräsentanten der Gemeinschaft. Dieser Geist der Gemeinschaft in und mit Gott ist kein mythologisches Gebilde, sondern das Lebensprinzip des Reiches. Nur das Vorhandensein H. Geistes löst den Fragenkomplex, der sich an die Begriffe: individuelle oder soziale Sünde knüpft. Wir stehen vor dem Dilemma, daß die Betonung der individuellen Sünde zur Zusammenhangslosigkeit und damit zur Verharmlosung führt. Von Erbsünde und ihrem tiefen Ernst kann da nicht mehr gesprochen werden. Legt man aber den Akzent auf die soziale Sünde, so wird die persönliche Schuld problematisch. Der H. Geist dagegen verbindet in einziger Weise das Eigenleben des Individuums mit der Gemeinschaft des Reiches Gottes. Man läßt dann auch das Kopfzerbrechen darüber, ob das Ziel des Heilswillens Gottes die Vollendung des Reichs oder die Seligkeit der einzelnen Seele ist. Der Geist des Reichs hebt über die Vereinzelung (Selbstsucht) hinaus zum Allgemeinen und adelt den, den er erfüllt, mit einer auch für die anderen spürbaren Weihe. Wie sich über dem Anorganischen das Organische, über dem Tierischen das Menschliche erhebt, so erhebt sich der Christ mittels des H. Geistes in übermenschliche Zusammenhänge, und zwar, wie wir sahen, auch der Einsame. Eine besondere Schwierigkeit scheint in der Geschichte zu liegen, die das Wissen um den H. Geist durchgemacht hat. Das A. T. spricht in anderer Weise vom Geiste Gottes, als wir es im N. T. gewohnt sind1). Daß der H. Geist ein specifisch christlicher Geist sei, ist eine These, die mit der Absolutheit des Christentums steht und fällt. Umgekehrt wird man jede Regung wahrer Sittlichkeit auch außerhalb des bewußten Christentums mit dem H. Geist zusammenzubringen haben. Immer wird die Angleichung dort am größten sein, wo ein frommes Gemüt in strenger Sittlichkeit oder in Verfolg universalistischer Gedanken oder messianischer Ahnungen einen Frühlingshauch des Christentums verspürte. Man kann die Gemeinschaft ansehen als den im Raum angeschauten Geist2), die Geschichte als den in der Zeit angeschauten Geist. In der Tat gehören Gemeinschaft und Geschichte innerlich zusammen. Dazu die klaren Ausführungen von B. Brunner, Die Lehre vom H. Geiste, Zürich 1946, S. 9f. 2 ) Entsprechend der Inkarnation Jesu als des fleischgewordenen Geistes, Reinhold Seeberg a. a. O. S. 154.

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Der reine Individualismus wird mit beiden nicht fertig. Der H. Geist aber, auf Gemeinschaft und Geschichte bezogen, wirkt in jener als Liebe, in dieser als Offenbarung. Man spricht daher von dem Geist der Offenbarung, der in alle Wahrheit leitet, oder von dem Geist des Reiches Gottes. Da es sich dabei um die letzten Realitäten überhaupt handelt, so nennt der Christ den Geist, der sein sittliches Werden bestimmt, zusammenfassend den H. Geist. Die Dynamik des H. Geistes ist kein Plus aus einer anderen Welt, das mit irdischen Maßen irgendwie meßbar wäre. Sie ist vielmehr eine andere Ausrichtung und Beleuchtung zu neuer Sinngebung. Auch der menschliche Geist bedarf zur Darstellung seiner Ideen nur einer besonderen Anordnung der Materie. Aus Tinte und Papier schafft der Genius seine Meisterwerke. Jede Alternative der Art: der H. Geist oder ich, ist unbedacht. Ich handle; aber daß ich handle, ist nicht mein Verdienst, sondern Gnade. Der H. Geist schreibt meine Seelenkräfte gewissermaßen um. Der Ansatzpunkt für die Wirkung des H. Geistes im einzelnen Menschen kann nur der Urgrund der Seele sein. Wir hatten ihn als das Medium zwischen dem Menschen und der Welt der Ewigkeit bezeichnet, das gewisse Einwirkungen von hier nach dort vermittelt. Wenn von einer Wirksamkeit des H. Geistes überhaupt die Rede sein soll, so muß sie vor allem hier ihre Stelle haben. Sie leitet zielbewußt das Reifen der Seele vom ersten religiösen Ahnen bis zum eigentlich christlichen Empfinden, so daß der tätige Geist immer deutlicher als der Paraklet des Herrn erkannt werden kann. Vom Urgrund aus beginnt der Geist seine spezielle Arbeit, allmählich die gesamte Persönlichkeit zu „heiligen". Der Geist macht alles, was er beseelt, zum Geist, auch das menschliche Fleisch; umgekehrt ist alles, was nicht in der Kraft des göttlichen Geistes lebt, Fleisch, auch der menschliche Geist, sagt Luther 1 ). Es gibt keinen lebendigen Glauben, der nicht vom Geist Gottes gewirkt wäre. Denn der Glaube ist auf das Wort bezogen, und das Wort ist Ausdruck der Offenbarung, nämlich der Wirksamkeit des Geistes in der Geschichte (vgl. S. 134). Durch diesen geheimnisvollen Vorgang wird das Endliche für das Unendliche und seine Werte aufnahmefähig oder dafür transparent („durch seine Gaben erleuchtet"). Daß hierbei tatsächlich H. Geist und nicht des Menschen Geist tätig ist, rückt das menschliche Unvermögen, einen Dauerzustand zu schaffen oder Festgehaltenes vor Veräußerlichung zu schützen, eindrücklich genug ins Bewußtsein. Der religiös tote Mensch gleicht einer schweigenden Orgel. Der H. Geist ist der Wind, der die Pfeifen zum Erklingen bringt. Er ist der ') Erich Seeberg, Luthers Theologie, S. 217.

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rechte Meister, der nach einer Reihe von Dilettanten sich auf die Orgelbank setzt und nun nie gehörte, wunderbare Weisen dem Instrument zu entlocken weiß. Niemand kann über die in ihn gelegten Möglichkeiten endgültig etwas aussagen, und niemand darf an sich verzweifeln, ehe der große Virtuose auf ihm zu spielen begonnen hat. Wo dies je geschieht, wird die Wirkung ein Wunder sein. Der Egoist will niemand anders als sich selbst spielen lassen; der Unselbständige ist stets geneigt, seine Klaviatur selbstbewußteren Händen zu überlassen. Aber es kommt dabei über Mißklänge kaum hinaus; denn das Vereinzelte gibt keinen Akkord. Die ewigen Harmonien der Freiheit spielt nur der überirdische Geist. Bei aller Mannigfaltigkeit der Gaben und Wirkungen in der Gemeinschaft befolgt der H. Geist eine deutlich spürbare einheitliche Linie. So weisen die verschiedenen Objektivierungen einen unverkennbar einheitlichen Zug auf. Bei der Schrankenlosigkeit von Objektivierungsmöglichkeiten sollte man ein wirres Durcheinander vermuten, das eine einheitliche religiöse Gedankenwelt nicht aufkommen läßt. Daß eine solche in der Tat besteht, trotz aller Antinomien, Rätsel und Lücken, wird niemand in Abrede stellen wollen. Unsere religiöse Gedankenwelt gleicht wohl einer bunten Ausstellung, aber keineswegs einem Jahrmarkt. Von der Einheitlichkeit der Objektivierungen läßt sich deutlich eine gewisse Einzieligkeit unterscheiden. Die resultierenden Dogmen bilden nicht nur einen organischen Zusammenhang, sondern tendieren weiter nach höherer Einheit hin. Bei der Betrachtung des Dogmengebäudes der Tradition bedarf es nicht einmal eines religiösen Empfindens, es genügt vielmehr ein bescheidener Sinn für Ästhetik, um die Größe zu spüren. Dabei ist der imponierende Bau keineswegs von vornherein angestrebt worden. Jedenfalls hat die Summe des Aquinaten den ersten theologischen Registrierungen der urchristlichen Erregung ganz fern gelegen. Man hat mit Recht die schnelle Einmütigkeit hervorgehoben, mit der lebendige Christen jeden Alters und Geschlechts, jeder Rasse und Kulturstufe sich zusammenfinden, sobald sie sich im Glauben eins wissen; eine bloß natürliche Gemeinschaft oder eine Idee hat Ähnliches noch nie zustande bringen können. Ebenfalls aus irdischen Voraussetzungen heraus unerklärlich ist die Kontinuität des religiösen Empfindens in der Geschichte. Daß das religiöse Leben nicht zu irgendeinem Zeitpunkt abbricht, daß eine Stetigkeit in der Entwicklung sich beobachten läßt statt zusammenhangloser Sprünge, daß stets neuer Glaube sich entzündet (das Wort nicht leer bleibt), mit einem Wort, daß die Kirche nie untergehen wird, ist von jeher als Werk des H. Geistes angesehen worden. Es entspricht der christlichen Gewißheit, daß der Kirche immerdar die Kraft zu

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etwa nötigen Reformen geschenkt wird, daß sie also jederzeit den Grad der Übereinstimmung mit dem Willen des Stifters feststellen kann. In demselben Geist wie die Urgemeinde findet sich über die Jahrtausende herüber noch heute stets eine Abendmahlsgemeinde zusammen. Die heutigen Tischgäste des Herrn fügen sich als Glieder einer Kette ein, die ohne Unterbrechung bis zur ersten Gründonnerstagsfeier zurückführt. Man kann den H. Geist als das überempirische Ich der Kirche bezeichnen, so wie das menschliche Ich die einzelnen geistigen und körperlichen Faktoren zusammenfaßt. Die Einordnung in den großen Reichszusammenhang verleiht sowohl das Gefühl des Entnommenseins und Geborgenseins wie der Berufung für den Dienst Christi. Das ist Friede und Freude im H. Geist. Die Arbeit des H. Geistes am einzelnen hat das Ziel, ihn ein organisches Glied der Gemeinschaft werden zu lassen. So schafft er sich die Bausteine für sein Werk, den ewigen Tempel Gottes, aus Menschenseelen errichtet. Das Fundament entzieht sich unserem historischen Blick und die Spitzen ragen in die Ewigkeit. Jede dieser unzähligen Menschenseelen hat ihren fest bestimmten, unvertauschbaren Platz. Der H. Geist baut nicht mit eintönigen Ziegelsteinen; seine Mauern sind herrliche Mosaike, deren Muster wir jetzt noch nicht übersehen, einst aber mit höchstem Entzücken bewundern werden. Gott hat seinen Tempel in der freien Natur, er hat ihn im ragenden Kirchendom. Er hat ihn im einzelnen Menschenherzen und er hat ihn am herrlichsten im corpus mysticum der Universalgemeinde. 2. Die Persönlichkeit des Heiligen Geistes Wir haben den H. Geist als den Geist der Gemeinschaft bezeichnet, als das überempirische Ich der Kirche. Dabei haben wir uns nicht von der Nötigung bestimmen lassen, einen überkommenen Begriff mit Inhalt zu füllen, sondern haben das umgekehrte Verfahren eingeschlagen, eine Reihe besonderer und sonst unerklärlicher Erscheinungen unter einen übergeordneten Begriff zu subsummieren1). Die Frage nach der Persönlichkeit des H. Geistes hat demgegenüber minderes Gewicht, weil sie nunmehr zu einer rein logischen geworden ist und kein eigentlich religiöses Problem darstellt. Man befindet sich dabei in der prekären Lage, untersuchen zu wollen, ob wir einer unendlichen Größe, die als solche hoch über unserm Eine annähernde

Vollständigkeit ist dabei ausgeschlossen.

Auch eine so

schöne Arbeit wie die von Théo Preiss, Das innere Zeugnis des H . Geistes, Theol. Stud. 21, Zürich 1947, bringt das Wesen des H. Geistes in keiner Weise zu erschöpfender Darstellung.

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Begreifen steht, ein Prädikat zusprechen sollen, von dem wir ebenfalls keine Vorstellung gewinnen können, weil es für diesen Zweck überhaupt erst geschaffen werden muß. Wir tun am besten, zunächst einige Abgrenzungen vorzunehmen. Eine gewisse Emporhebung über den allgemeinen menschlichen Rahmen hinaus, wie wir sie im Genie wahrnehmen, hat mit dem H. Geist nichts zu tun. Das Genie verliert sich immer weiter in die Einsamkeit, bis die Entfernung vom menschlichen Durchschnitt etwas Grauenvolles annimmt; H. Geist dagegen führt stets zur Gemeinschaft. Verwandt ist jedoch der Zug, daß der Anteil sowohl am H. Geist wie an der Genialität dem Willensentschluß des Menschen entnommen ist. Mancherlei kann angelernt werden; allein die Meisterschaft wird von oben gegeben. Aber während die Genialität dem gewöhnlichen Menschen ein für alle Mal versagt bleibt, ist es nach christlichem Zeugnis die Eigentümlichkeit des H. Geistes, sich zwar nicht erlernen, wohl aber erbitten zu lassen, so daß niemand von vornherein von dieser Gabe ausgeschlossen ist. In solchem Gebet führt Treue und Beharrlichkeit zum Ziel; leider wird es selten geübt. Die auf den ersten Blick frappierende Lösung, den H. Geist mit dem Geiste Christi oder gar mit dem erhöhten Herrn selbst zu identifizieren, hält genauerer Prüfung nicht stand. Wohl heißt es: der Herr ist der Geist (2. Kor. 3 17); aber die umgekehrte Aussage: der Geist ist der Herr, würde niemand wagen. Nirgends wird Christi Geist von Christo selbst unterschieden. Wo von ihm gesprochen wird, geschieht es in bildlicher Weise ohne den geringsten Nebengedanken an eine besondere Hypostase. Auch die Gleichsetzung des H. Geistes mit dem Erhöhten erweist sich als ein philiströser Rationalisierungsversuch. Die Bibel weiß nichts davon; nicht bloß bei Johannes, sondern auch bei den Synoptikern wird Jesus so deutlich wie möglich von dem H. Geist unterschieden und unterscheidet sich selbst ausdrücklich von ihm. Von den Tagen der Apostel an sehnt sich der gläubige Christ danach, in das Bild Christi umgestaltet zu werden; aber noch niemandem ist das gleiche Streben in Bezug auf den H. Geist in den Sinn gekommen. Leichter läßt sich das Besondere für das Allgemeine einsetzen als umgekehrt. Dem erhöhten Herrn als der persönlichen Spitze der von ihm gestifteten Gemeinschaft wird stets das Historisch-Plastische eignen; in dem H. Geiste dagegen objektivieren wir den Sinn aller Heilsveranstaltungen Gottes, wie er sich in Gemeinschaft und Geschichte auswirkt. Zweifellos hat der Fromme kein persönlich vertrautes Verhältnis zum H. Geist. Soweit ein Gebet zu ihm überhaupt vorkommt, beruht es nicht auf religiösem Bedürfnis, sondern auf Reflexion oder es ist poetisch gehalten und gehört der feierlichen Kirchensprache an. Wer

Reich Gottes und Kirche

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nicht zu Christo in gleicher Weise wie zu dem Vater betet, den wird der Christ stets noch diesseits der Erweckung vermuten; aber es beanstandet niemand, wenn nicht zum H. Geist gebetet wird. Hat sich die künstlerische Phantasie selbst Gottvater, den Absoluten, darzustellen unterfangen, so wußte sie für den H. Geist nichts anderes als ein Symbol zu setzen, und zwar je plastischer desto unbefriedigender (Taube), und wieder je entsprechender desto verschwommener (Flamme, auch wohl Sonnenstrahl). Andererseits darf nicht übersehen werden, daß gewisse Momente in der Praxis das Rechnen mit dem Persönlichkeitsgedanken erschweren. Um so unabweisbarer ist er also gewesen. Unsere Unfähigkeit, eine Persönlichkeit ohne die Schranken der Individualität zu denken, fällt bei dem H. Geiste, der als Gegenteil aller Selbstsucht und doch von Gott unterschieden vorgestellt werden soll, besonders in die Wagschale. Das trinitarische Problem bildet jedenfalls das geringste Argument gegen die Persönlichkeit des H. Geistes. Daß 3 x 1 = 3 ist und nicht = 1, ist keine moderne Erkenntnis; die alten Väter haben es auch schon gewußt. Sie wollten mit dieser paradoxen Formel den symbolischen Ausdruck für ein Geheimnis der Ewigkeit schaffen. Als endliche Wesen addieren und vergegenständlichen wir und übersehen, daß im Reich des Geistes das Prinzip der Ausschließlichkeit nicht gilt, übersehen, daß auch im Irdischen die Wirksamkeit des Geistes nichts Gespenstisches an sich hat, sondern nur das Vorhandene anders ausrichtet, so daß das Endliche zum Träger des Unendlichen wird1). 3. Reich Gottes und Kirche Ethik-Religion hat es mit einem Reich aller Guten, einem großen Zusammenhang zu tun. Kants kategorischer Imperativ bestimmt das Gute als einen gesellschaftlichen Zusammenhang; sittliches Handeln muß Gemeinschaft ermöglichen. Sehr fein sagt Hans Driesch, Handlungen sind gut, wenn sie auf einen gebilligten künftigen Gesamtzüstand der Menschen hinzielen 2 ); „verständlich in seinem Dasein ist das sittliche Bewußtsein nur dann, wenn angenommen wird, es sei der x

) „Indem Gott von Ewigkeit in sich selbst Vater ist, bringt er von Ewigkeit sich selber hervor als den Sohn. Indem er von Ewigkeit der Sohn ist, geht er von Ewigkeit hervor aus sich selber als dem. Vater! Eben in diesem ewigen Sichselberhervorbringen und Aussichselberhervorgehen setzt er sich selber ein drittes Mal: als der Heilige Geist, d. h. als die ihn in sich selbst einigende Liebe", schreibt Karl Barth in seiner Kirchlichen Dogmatik I, 1, S. 507. So geht es nun wirklich nicht! Das ist nicht christlicher Glaube. 2 ) Die sittliche Tat, S. 9.

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Ausdruck davon, daß der einzelne Mensch als sein Träger in eine überpersönliche Gemeinschaft eingereiht ist" 1 ). Selbst der Philosoph gelangt zur Ahnung eines corpus mysticum des Geist-Reiches; „dieses Reich ist ihm das des eigentlichen Sein, ohne daß er weiß, daß und was es ist" 2 ). Die Liebe ist die höchste Idee; sie ist das Zentralgebot Jesu. Sie setzt ein solches Reich voraus. Die menschliche Würde besteht im Anteilhaben an der sittlichen Gemeinschaft der Liebe (vgl. S. 63). Diese Gemeinschaft kann nur eine sein; sie umfaßt alle, die ehrlich und guten Willens sind. Die Gemeinschaft ist als eine unsichtbare Größe Gegenstand des Glaubens (Reich Gottes). Das Reich Gottes umfaßt verschiedene Stufen, vom „nicht fern sein vom Reiche Gottes" an, alles aufrechte, sittlich strebsame Noch-nicht-Christliche, das Edle im Alten Testament, bis zum vollendeten Reich Gottes. Im Neuen Testament ist Reich Gottes sowohl ein gegenwärtiges (axiologische) als ein zukünftiges (teleologische Betrachtung), d. h. es ist in der Zeit ein werdendes (alle Stufen der sittlichen Gemeinschaft umfassend), in der Ewigkeit ein vollendetes (Himmelreich). Nur Gott selbst kann der Inbegriff der Gemeinschaft sein. „Denn es wird deutlich, daß alle Gemeinschaft untereinander nur Bestand hat, wenn sie von einem Höheren, Übergreifenden, zusammengehalten ist" 3 ). Es handelt sich nicht um ein Reich guter Menschen, sondern um das Reich Gottes. Reich Gottes besteht in der Gemeinschaft mit Gott. Ist irgendwo sittliche Gemeinschaft, so ist sie auch in irgendeiner Form Gemeinschaft mit Gott. Wird irgendwo Gemeinschaft gebrochen, da wird sie auch mit Gott gebrochen. Jeder Bruch der Gemeinschaft ist Sünde. Sich in der Gemeinschaft erhalten und darin wachsen, ist daher nur in unausgesetztem Kampfe mit der Sünde möglich und braucht dauernd Vergebung. Vergebung ist Wiederaufnahme und Befestigung in der Gemeinschaft. Die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft durch die Vergebung ist der Sinn des Zentralgebotes Jesu. Christus und seinem Leibe gegenüber ballt sich das Böse in seiner Kulmination zusammen. Aber es bringt keinen positiven Wert hervor. Ein Leib Satans als Gegenstück gegen den Leib Christi existiert nicht. Wenn es aber auch keine böse Gemeinschaft gibt, so gibt es doch eine unfreie Verhaftung der natürlichen Menschen untereinander, die vom Bösen beherrscht wird, eine unerlöste Gemeinschaft. Ich kann mich dem anderen nicht entziehen; er ist mir als eine Urtatsache gegeben, wie meine eigene Existenz. Ich bin auf den andeDas Problem der Freiheit, S. 25. ) Karl Jaspers, Philosophie I, S. 302ff. *) Ernst Sommerlath in Abendmahlsgespräch, Berlin 1952, S. 51. 2

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ren angewiesen, bin zum großen Teil nur durch den anderen da, bin durch ihn geformt. Meine Existenz ist durch die Eltern vermittelt und von der Volksgemeinschaft getragen, und diese wieder durch die Menschheit im allgemeinen. Keiner steht allein für sich. Das allgemeine Geistesleben bildet und formt auch den selbständigsten Charakter, auch wo er Widerspruch erhebt ; denn die Negation ist von der Position abhängig, schon durch die Fragestellung. Die erlöste wie die unerlöste Gemeinschaft stellen uns zwangsläufig, d. h. ohne unser Zutun, in ein gutes bzw. böses Erbe (Erbsünde). Der einheitliche Geist, der die Glieder des Leibes Christi beseelt, ist der H. Geist. Er vermittelt das Einleben in die Gemeinschaft, er adelt die einzelne Seele und hebt sie in überirdische Zusammenhänge, so daß in besonderen Fällen auch der vom H. Geist erfüllte einzelne die Gemeinschaft vertreten kann. Von der Kirche Christi als seinem Leibe unterscheiden wir die positiven Bekenntniskirchen. Sie kristallisieren sich um das Bekenntnis als die Zusammenfassung dessen, was ihnen von der Offenbarung zentral geworden ist. Die Bekenntniskirche ist die Objektivierung der Kirche Christi. Von der Bekenntniskirche ist die organisierte Kirche oder die einzelne Landeskirche als eine endliche Objektivierung zu unterscheiden. In der Ewigkeit gibt es keinen Unterschied zwischen Reich Gottes und Kirche mehr. Die konzentrischen Kreise des Reiches Gottes fallen in einen zusammen. In der Ewigkeit schauen alle reinen Geister den Herrn.

XIV. Die letzten Dinge 1. Prä- und Postexistenz Die religiös-ethische Haltung setzt zwischen Zeit und Ewigkeit eine eigentümliche Beziehung. Die religiöse Sprache, die sich nun einmal vom zeitlichen Schema nicht freimachen kann, redet von einem Leben nach dem Tode und unterscheidet damit zwei zeitlich getrennte Daseinsformen. Eigentlich konsequent läßt nur die Christologie dem zeitlichen Leben und der auf dieses folgenden Postexistenz eine Präexistenz vorhergehen. In der Bibel ist der Gedanke der Präexistenz des Menschen unbekannt. Er findet sich andeutungsweise bei einigen Philosophen wie etwa Leibniz und Herder1). Im Zeitverständnis HeiWir müssen es uns leider versagen, auf die Erörterung der Präexistenz der Menschenseele in der altchristlichen Theologie einzugehen. Augustin h a t z. B. seine anfänglich positiven Äußerungen später wieder zurückgenommen. Vgl. dazu Heinrich Karpp, Probleme altchristlicher Anthropologie, Gütersloh 1950, S. 97, 192ff., 243ff. Ebenso müssen wir die scholastische Philosophie über die Präexistenz des Kontingenten von Johannes Bauer übergehen (Kausalität und Schöpfung, München 1947).

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deggers ist das zukünftige Dasein das eigenste, wie es je schon war; es kommt auf mich zu, indem es zurückkommt1). Nach Karl Jaspers muß der Mensch alle vorzeitige und vorläufige Grundlage seiner Herkunft (in Familie, Volk, Menschheit, Leben, Welt) als seine absolute und letzte Herkunft verwerfen (es ist die Herkunft eine Materie seiner Erscheinung); „es kommt für die Wahrheit des Seinsbewußtseins •darauf an, die Welt und die Einteilung des Weltseins so zu fassen, daß der Mensch aus einem ,vor der Welt' in die Welt tritt" 2 ). „Die Präexistenz ist, wie das auchLeibniz annahm, in dem Wesen der Monaden begründet, die sämtlich von der Schöpfung an bestehen" 3 ). Der Grund für die Sonderstellung Christi liegt darin, daß die Menschen als Schöpfungen Gottes einen Anfang haben, während für Christus die ewige Zeugung behauptet wird. Diese Unterscheidung hat zweifellos religiösen Wert, der nicht verloren gehen darf, wenn auch das Schema an sich auf unhaltbaren Vorstellungen beruht. Das Nacheinander von Prä- und Postexistenz statuiert zwei zeitlich getrennte Phasen in der Ewigkeit; und das ist ebenso absurd wie eine Postexistenz ohne Präexistenz. In der Ewigkeit gibt es keine Veränderung, keinen Wechsel; Post- und Präexistenz fallen zusammen4). Alle Züge der Präexistenz sind auf die Postexistenz zu übertragen und umgekehrt. Hier halten wir einen Augenblick inne. Ist das nicht doch ein verkrampfter Aspekt, oder liegt die Schwierigkeit allein in unserer Unfähigkeit, uns vom zeitlichen Denken zu lösen ? War Jesus bereits in der Präexistenz der Gekreuzigte? Man wird die Frage bejahen müssen, will man der heiligen Geschichte das Gepräge des Zufälligen Sein und Zeit, S. 326. ) Philosophische Logik, S. 216f. 3 ) Karl Groos, Über das Wesen des Seelengrundes, Blätter f. dtsch. Philosophielö, 1942, S. 368. 4 ) Karl Barths Nebeneinanderstellung von Gottes Vorzeitlichkeit, Überzeitlichkeit und Nachzeitlichkeit (Die kirchl. Dogmatik II, 1, S. 698ff.) hängt mit seinem. Ewigkeitsbegriff zusammen; Gottes Existenz geht der unsrigen auch physisch voraus (S. 700): „Es wird gerade dann, wenn wir uns darüber klar sind, daß die Ewigkeit der lebendige Gott selber ist, nicht möglich sein, die Ewigkeit vor, über und nach der Zeit als ein einförmig graues Meer zu verstehen, die Unterschiede zwischen vorher, jetzt und nachher einzuebnen und des besonderen Charakters, den sie nun einmal gerade als Vorher, Jetzt und Nachher haben, zu entkleiden. . . . Ewigkeit ist real Anfang, real Mitte, real Ende, weil sie real der lebendige Gott ist. In ihr ist also real eine Richtung, und zwar eine unumkehrbare Richtung" (S. 721). Hier können wir einfach nicht mit. Hier sind endlich-zeitliche Begriffe auf die Ewigkeit übertragen. Es macht sich immer wieder die andersartige reformierte Grundeinstellung in der Verhältnisbestimmung des Unendlichen zum Endlichen (Ewigkeit zur Zeit) geltend, von der wir S. 1 sprachen, vgl. bei Barth die Wendung: „Die Verschiedenheit und Abgrenzung der beiden Bereiche" (S. 698). 2

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und Willkürlichen nehmen. Es kann die Zeit nichts in die Ewigkeit hineinbringen, was nicht schon zuvor darin war. Man soll nun nicht fragen, wozu denn überhaupt noch die Zeit da sei, wenn in der Präexistenz bereits alle Werte und Wertungen gegeben sind. Die Zeit ist ja nicht etwas, was höchst überflüssiger Weise noch dazu kommt, eine Episode, die die Ewigkeit unterbricht; als Ganzes ist sie zeitlos in der Ewigkeit enthalten, auch die Zeit unseres Erdenlebens. Die Zeit ist nichts weiter als eine Art Querschnitt und Präwie Postexistenz die ewige Sicht der Zeit. Seinem Ewigkeitsgehalt entsprechend betätigt sich der Mensch in der Zeit, die einem Prisma gleich die ewige Tatsächlichkeit in eine bunte Folge zerlegt. Der Gesamtwert des nacheinander in der Zeit Erreichten ist in einem Ineinander Gehalt der Ewigkeit1). Alles, was zum Wesen des irdischen Jesus gehört, ist auch für den himmlischen Christus, den prä- wie den postexistenten, charakteristisch. Ist für uns die Kreuzigung wesentlich für die dogmatische Wertung der Person Jesu, so muß sie auch als eine zeitlose, ewige gedacht werden. Auch der himmlische Christus ist der Gekreuzigte. Bezeichnender Weise trägt im christlichen Gemeindeglauben der erhöhte Herr die Nägelmale und die Seitenwunde. Wer es als einen Widersinn empfindet, dem präexistenten Christus diese Wundmale beizulegen, sollte bedenken, daß die Glaubensvorstellungen nicht materielle Dinge, sondern Wesenseigenschaften symbolisieren wollen. Was von der Person Jesu gilt, ist in entsprechender Weise auf den Menschen schlechthin anzuwenden. Mit der Erkenntnis, daß die Ewigkeit nicht ein ontologischer, sondern ein ethischer Begriff ist, wird für jeden ethischen Menschen das Heimatrecht in der Ewigkeit ausgesprochen. Wir stehen mit unserem diesseitigen Leben bereits mitten in der Ewigkeit, und je religiöser wir sind, desto mehr kommt uns diese Lage zum Bewußtsein (vgl. Joh. 6 40: Wer den Sohn siehet, der hat das ewige Leben). Religionsphilosophische Erwägung allein trägt diesen religiösen Wert noch nicht in sich. Ich kann wissen, daß ich mich auf geweihtem Boden befinde, ohne daß sich die andächtige Stimmung einstellen will. Die dogmatische Bildersprache hat dafür die Vorstellung von einem Leben nach dem Tode. Dabei ist der Ausdruck „nach dem Tode" cum grano salis zu verstehen. Für den noch im Diesseits verharrenden Mitmenschen beginnt allerdings das ewige Leben des anderen zeitlich nach dessen Tode, absolut genommen dagegen bedeutet die ganze Spanne Erdenzeit des Menschen nur eine AuseinanderBin ich nach dem Tode in der Ewigkeit, treffe ich dort alle Seelen an, die je gelebt haben oder leben werden; es wäre eine absurde Vorstellung, ich müßte dort auf sie warten. Es gibt kein Warten, kein Zeitverstreichen in der Ewigkeit. Damit ist die Präexistenz der Menschenseelen gegeben.

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faltung oder andere Schreibweise seines ewigen oder ideellen Lebensinhaltes. Durch das unselige Auseinanderreißen des zeitlichen und des ewigen Lebens sind dem Glauben viele, in dieser Form unüberwindliche Schwierigkeiten erwachsen. Um auf dem kurzen Erdenleben eines Menschen seine Ewigkeit aufzubauen, ist die Basis viel zu schmal; ein solches Gewicht kann sie nicht tragen. Der Gedanke an eine gewisse Willkür, um nicht zu sagen Grausamkeit Gottes drängt sich auf. Religiöse Folgerichtigkeit hat sich deshalb nach einer breiteren Basis für den Aufbau des ewigen Lebens umgesehen. Man baut zum Erdenleben an; und das kann sowohl vorwärts wie rückwärts geschehen. In außerchristlichen Religionen begegnet uns hier die Lehre von der Seelenwanderung, d. h. ein Erdenleben reiht sich an das andere und jedes bedingt nach seinem Wert das folgende. Es sieht so aus, als brauchte man dabei die Ewigkeit überhaupt nicht. Deshalb übt diese Lehre auf unsere diesseitsselige Zeit einen fascinierenden Reiz aus. Der Entwicklungsgedanke scheint mit der Idee der sittlichen Gerechtigkeit eine äußerst glückliche Verbindung einzugehen, ohne daß irgendwelche Jenseitsvorstellungen in Anspruch genommen werden. In Wahrheit aber ist eine aufsteigende Entwicklung in keiner Weise garantiert. Wir erblicken bestenfalls ruhelos auf- und absteigende Wellenlinien ohne Ziel und Zweckmäßigkeit, ein Bild des ödesten Pessimismus. Übrigens wird die Seelenwanderungslehre trotz allem dennoch vom Rätsel der Ewigkeit umbrandet. Mit welcher Daseinsform habe ich begonnen und was war ich vor meiner ersten Phase? Wer hieß mich wandern und welche Realität steht hinter dem Gesetz, das mein Verhalten richtet? Wie steht es um den Maßstab, nach dem mein Verhalten gemessen und mein Steigen oder Sinken entschieden wird ? Es ist unmöglich, sich aus einem schlechthinnigen, also ewigkeitslosen Diesseits in die Ewigkeit hinein zu entwickeln, und ginge es durch noch so endlose Prozesse hindurch. Ja, meine ganze Existenz wird zu einer Illusion, wenn ihre Verankerung in der Ewigkeit bestritten wird. Die Verlegenheit der zu geringen Basis wird auch auf christlicher Seite empfunden. Auch hier sah man sich zu Versuchen genötigt, sie sowohl nach vorn wie nach hinten zu erweitern1). Reicht das Erdenleben nicht aus, um den Ernst des Endgerichts zu rechtfertigen, so gibt man eben dem Menschen Entwicklungsmöglichkeiten nach seine Tode. Hin und wieder fühlt man die Unmöglichkeit, eine allmähliche Entwicklung (Läuterung) in die Ewigkeit hineinzutragen, eine UnVgl. Paul Althaus, Die letzten Dinge, S. 43 Anm. 1, oder die christliche Wahrheit II, S. 492 „Jeder Mensch wird jenseits seines Sterbens Christus noch einmal begegnen".

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möglichkeit, die auch dann bestehen bleibt, wenn diese Entwicklung als in einem Augenblick vollzogen gedacht wird1). Man übersieht dabei, daß das Schwergewicht der Entscheidung immer mehr aus dem Erdenleben in die Zeit nach dem Tode rückt trotz aller gut gemeinten Mahnungen. Die Absicht, das Erdenleben zu stützen, verkehrt sich gerade ins Gegenteil. Man entwertet das Erdenleben und nimmt ihm den Ernst der Entscheidung. Dazu gehört die römische Lehre vom Fegefeuer2), die jetzt auch von einigen evangelischen Theologen goutiert wird3). Das Vordringen von allerlei Forderungen der natürlichen Vernunft, oder, was vielfach gleichbedeutend ist, der römischen Lehre, ist ein Zeichen für die abnehmende religiöse Kraft. Die lutherischen Väter haben keinen Schritt über die Schrift hinaus in Richtung auf einen Zwischenzustand getan. Jeder Zwischenzustand entschärft sowohl den Ernst des Todes wie das Wunder der Auferstehung. Die Präexistenz hat Julius Müller zum Anbau in Anspruch genommen, indem er den Ernst der Sünde nur durch einen intelligiblen Fall jedes einzelnen Menschen sicherstellen zu können meinte. Damit hat er allerdings die Würde der Ethik gewahrt; aber dem intelligiblen Fall würde dann auch eine intelligible Bekehrung entsprechen. Es bleibt dabei, stellt man Erdenleben und Jenseits in gewisser Selbständigkeit einander gegenüber, so wird jedesmal das Erdenleben vom Jenseits erdrückt; und das wird besonders deutlich, wenn man dem Erdenleben durch Anleihe beim Jenseits mehr Gewicht geben möchte. Manche Theorien über Paradieseszustand und Tausendjähriges Reich gehören hierher. Aber die Frage nach dem Verhältnis dieser Gesamtzeit zur Ewigkeit muß dann erst recht gestellt werden. Fassen wir zusammen: der Mensch ist ewig, sofern er ethischreligiös ist. Sein Erdenleben ist nur die Entfaltung seines ewigen Gehaltes. Der prä- und postexistente Mensch ist identisch, und der irdisch-zeitliche ist nichts als ein Querschnitt durch den ewigen oder eine Strahlenbrechung desselben. Die Werte, die der Mensch im Laufe seines Erdenlebens entwickelt, sind bereits in der Ewigkeit zeitlos vorhanden. Nur so bleibt die ethische Kontinuität zwischen Diesseits und Jenseits bewahrt, nur so ein Auseinanderfallen von Religion und Sittlichkeit verhindert. *) Daselbst S. 229. „Der alte Mensch stirbt zuletzt mit einem Male" (Grundriß der Ethik, S. 49). 2 ) Zum Einwurf von katholischer Weite, daß ohne Fegfeuer nur die Annahme einer magischen Verwandlung des ethischen Zustandes der Menschen übrig bleibe, vgl. Althaus, Die letzten Dinge, S. 232, 234. 3 ) Purgatorium der Gnade bei Reinhold Seeberg. Auch Schmidt vertritt einen Zwischenzustand (a. a. O. S. 346). Über Richard Rothe, der auch eine Art Reinigung im Totenreich kennt, vgl. Karl Barth, Die protest. Theologie im 19. Jahrh., S. 552. 10

K l a m r o t h , Lutherischer Glaube im Denken der Gegenwart

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2. Der Sinn der Schöpfung Mit dieser unserer Schau scheint sich die Lehre von der Schöpfung nicht vereinbaren zu lassen. Philosophisches Denken hat sich ohnehin von jeher niemals mit der creatio ex nihilo befreunden können. Sie hat dafür entweder das ewige Bestehen oder die Emanation. Für Jaspers ist die Vorstellung einer Schöpfung aus dem Nichts absurd 1 ). Mit der gleichen apodiktischen Gewißheit könnten wir eine gegenteilige Behauptung als absurd bezeichnen, die Vorstellung einer Schöpfung aus Etwas! Der Grund des Anstoßes ist die freie Tat Gottes; man möchte die Existenz der Welt als eine notwendige begreifen. Tatsächlich ist die Lehre von der Schöpfung aus nichts nur ein anderer Ausdruck für die Absolutheit Gottes und gleichzeitig als Begründung der inneren Freiheit des Menschen von der Bedrohung durch irdische Gewalten ein köstlicher Trost. In neuer Form erscheint die creatio ex nihilo in der sola gratia geschehenden Rechtfertigung 2 ). Gegen die christliche Lehre von der Schöpfung erhebt Heidegger den Vorwurf, sie übersehe die „Schwierigkeit, daß, wenn Gott aus dem Nichts schafft, gerade er sich zum Nichts muß verhalten können. Wenn aber Gott Gott ist, kann er das Nichts nicht kennen, wenn anders das Absolute alle Nichtigkeit von sich ausschließt" 3 ). In dieser Überspitzung werden wieder zwei Ebenen miteinander vermengt. Nie hat die christliche Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts behaupten wollen, daß neben Gott von Ewigkeit her ein „Nichts" existierte, zu dem Gott in irgend einem Verhältnis stünde und dessen er sich dann als Material für seine Schöpfung bediente. Es könnte sonst schließlich einer kommen und behaupten, Gott habe zunächst das Nichts geschaffen und dann aus diesem Nichts die Welt. Der Gegenstand der Schöpfung ist die Welt. Dazu gehören Raum und Zeit. Kants Antinomie: Die Welt hat einen Anfang und sie hat keinen Anfang, findet so ihre Auflösung. Die Ewigkeit ist nicht Gegenstand der Schöpfung; sonst wäre Gott nicht ewig. Ewigkeit ist ein religiöser Begriff; darum reicht auch keine Philosophie an die Ewigkeit heran. Der Mensch hat durch seine Sünde nicht erst die Welt der Zeitlichkeit geschaffen. Die Welt ist Schöpfung Gottes und älter als die Menschheit, älter als Sündenfall und Sünde. Gen. 1 schildert keine mythische, sondern unsere Welt. Diese Welt der Schöpfung war von Anfang an für den Menschen bestimmt. Der Christ wird niemals das Schriftwort: Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut, in das Gegenteil verkeh1

) Philosophische Logik, S. 690. ) H. Thielicke, Theol. Ethik, S. 259. ') M. Heidegger, Was ist Metaphysik, S. 36. 2

Der Sinn der Schöpfung

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ren können. Man darf auch nicht sagen, daß durch den Sündenfall die Natur böse geworden sei, wenn auch der Acker von nun an Dornen und Disteln tragen soll. Gewiß haben sich mit der Sünde die Existenzbedingungen für den Menschen verschlechtert; aber Goethe hat durchaus recht: seine Werke sind herrlich wie am ersten Tag. Mag auch durch die Natur ein Riß gehen in ihren tausenderlei Schmerzen und Kämpfen. Böse ist sie nicht, sondern sie seufzt und sehnt sich, um mit Paulus zu reden, nach der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Wer die Majestät des Firmaments anschaut oder die Wunderwelt im Kleinsten, wer einen Blick für die Schönheit der Natur auch in ihren einfachsten Formen besitzt, wer die brüllende See im Orkan gesehen hat oder die Kette der weißen Bergriesen, wie sollte der nicht mit Geliert singen: Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht . . .! Und nehme man dazu den Ernst, die Tiefe und Schönheit in den Werken des geschaffenen Geistes! Gott segnet das Leibliche, er segnet das tägliche Brot, sagt Werner Eiert 1 ). Die christlichen Märtyrer schmähen nicht die Weltwirklichkeit, sondern finden die Schöpfung „sehr gut"; der Gnostiker dagegen entzieht sich dem Blutzeugnis und spricht von der Schöpfung und den natürlichen Dingen schlecht2). Wie die Welt der Schöpfung dereinst aus dem Nichts hervorgegangen ist, wird sie auch wieder dahin zurückkehren. Schöpfung hat keine Ewigkeit, keine Prä- und Postexistenz. Zur Schöpfung gehört die Schöpfung des Menschen. Hier besteht weder Kreatianismus noch Traduzianismus. Schöpfung ist vielmehr der Eintritt jenes präexistenten Wesens in die Zeitlichkeit, durch den es zum Menschen wird. Und zwar ist dieser Eintritt kein freiwilliger, sondern eben Schöpfung Gottes. Wir sind von Gott in die Welt geschickt worden. Der freiwillige Eintritt Jesu in die Welt widerspricht nicht etwa der „Sendung" des Sohnes, da dieser Eintritt nach dem Willen des Vaters geschah und höchste Freiheit den Einklang des eigenen und des göttlichen Willens bezeichnet. Warum aber hat Gott die Menschen aus der Ewigkeit in die Zeit beordert, warum hat er die Welt geschaffen ? Wozu dieser ganze Querschnitt durch die Ewigkeit ? Die Frage erscheint vermessen; und doch wird der Menschengeist immer wieder eine Antwort auf das letzte Warum suchen. Nur soll man es mit heiliger Scheu tun und sich dabei bewußt bleiben, daß man höchstens einige Ahnungen aussprechen kann. Vor allem ist daran festzuhalten, daß die Initiative zu jeder Menschwerdung auf Seiten Gottes liegt. Wir sind nicht etwa Gott Der Christi. Glaube, S. 472. Joseph Pieper, Über das Ende der Zeit, München i960, S. 171 nach Erik Peterson. 2)

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aus der Ewigkeit davon gelaufen; er hatte vielmehr bei unserer Geburt seine bestimmten Absichten mit uns. Da der Eintritt des Menschen in die Zeit ihn in eine Welt der Spannungen versetzt, soll er offenbar diesen Spannungen gegenüber gewisse Aufgaben erfüllen. Er kann nicht dauernd in der Schwebe bleiben; das Leben nötigt ihn zu konkreten Entscheidungen. So führt ihn Gott zu der letzten Spannung mit Gott selbst. Hier ist der Brennpunkt, um dessentwillen Gott die Zeit geschaffen hat. Hier soll etwas geleistet werden, etwas geschehen, was sonst nicht Ereignis werden konnte. Gott will sich an dem freien Ja erfreuen, das sein Kind zu ihm spricht. Wohl geschieht dies in der Freiheit der Ewigkeit. Aber da es keine Veränderung, kein Handeln gibt, entfällt auch jede Entscheidung, jede Wahl; eine Möglichkeit zum Bösen besteht nicht, daher auch keine Möglichkeit, zu Gott nein zu sagen; es gibt keine Versuchung. Die selige Freiheit der Gotteskinder wäre an sich nicht erprobt. So wirft Gott die Möglichkeit des Nein als einen bloßen Gedanken in die Ewigkeit hinein, d. h. er schafft die Zeit mit ihren polaren Tendenzen, den „Querschnitt" durch die Ewigkeit, durch das wahre Sein. Natürlich liegt die Zeit zeitlos in der Ewigkeit1); die am Kreuz offenbar gewordene Gottesliebe hält und trägt die Seligen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Daß der christliche Glaube die Kraft besitzt, sich zu der Ahnung der Zeitlosigkeit aufzuschwingen, zeigt die Lehre von der Höllenfahrt Christi. Wir sprachen S. 18 davon, daß wir hier Hilfe in den schwierigen Fragen nach den menschlichen Existenzen suchen, die auf Erden nicht zu einer völligen Durchsetzung ihrer Persönlichkeit gekommen sind2). Es denkt der Glaube an den Auferstandenen, Lebendigen, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden und über alle Bereiche; und es macht ihm nicht die geringsten Schwierigkeiten, die Höllenfahrt im Bekenntnis zwischen Begräbnis und Auferstehung zu stellen. Ebenso läßt er unbedenklich auch in unseren Tagen alle Menschenwesen der genannten Art an jener Begegnung teilnehmen. Ihr Statthaben ist also völlig außerhalb von Raum und Zeit gedacht. Der Herr tritt aus der Ewigkeit von irgendeiner Seite an diejenigen heran, bei denen aus natürlichen Gründen jeder Zugang während ihres Erdenebens verschlossen war.

*) Auch Jaspers kommt darüber nicht hinaus: Gott schuf die Zeit, ist selbst ein zeitlicher Akt, in Der Weltschöpfungsgedanke, Merkur VI, 1952, S. 405. Überhaupt machen seine Gedanken hier einen unbefriedigenden, konstruktiven Eindruck. •) Vgl. dazu H. Vogel, Gott in Christo, S. 741.

Die neue Schöpfung

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3. Die neue Schöpfung Das Gericht ist die Rückgängigmachung der Schöpfung. Bis dahin erhält Gott das Geschaffene im Dasein und im Gericht nimmt er es wieder ins Nichts zurück, m. a. W. er hebt Raum und Zeit auf. Wir gehen von dem Grundsatz aus, daß in die Ewigkeit nichts hineingelangen kann, was nicht bereits in ihr ist. Das jüngste Gericht ist nicht als Herbeiführung von etwas Neuem, sondern als die klärende Erkenntnis von bereits Bestehendem zu denken. Von der Zeit aus betrachtet wird diese Erkenntnis eine so unerwartete und erschütternde sein, daß sie als Erblicken ganz neuer Daseinsarten gekennzeichnet werden kann. Darum wird das Gericht stets als ein zeitlicher Akt vorgestellt, als ein Handeln, das einschneidende Veränderungen hervorruft. Dem natürlichen Denken liegt das Rechnen mit der Ewigkeit nicht; es sträubt sich von Grund aus gegen ihren Ernst. Es möchte alles immer wieder verzeitlichen, alles in eine ständige Weiterentwicklung auflösen und von einer allmählichen Verklärung der Welt träumen. Der Glaube an das jüngste Gericht will dagegen gerade die Endgültigkeit der Entscheidung betonen. An und für sich könnte das Gericht vom endlichen Standort aus ebenso gut in die Vergangenheit wie in die Zukunft verlegt werden. In der Tat ist die strenge Prädestinationslehre auf dem besten Wege dazu. Kants Postulat eines künftigen Lebens als eines gerechten Ausgleichs könnte an sich auch ein vergangenes betreffen, dessen Folgen wir genießen oder zu tragen haben 1 ); damit würde auch das radikale Böse verständlich. Jedoch überwiegt die Lokalisierung des Gerichts am Ende der Zeit, weil der Eindruck, als sei aus ewig Geordnetem eine wirre und dann ja auch völlig ziellose Diffusion entstanden, unbefriedigender ist als der andere, daß ein wirres Durcheinander einmal seine ewige Ordnung erhalten soll. Wir projizieren das Fazit unseres Lebens auf das Ende der Zeit. In Wirklichkeit ist das Gericht ewig gegenwärtig2); es macht die tiefsten Tendenzen unseres Lebens offenbar. Wer in seinem Leben ethisch-religiöse Werte reifen läßt, trägt ewiges Sein in sich; sein Leben ist ein stetes Werden. Wer böse ist, dessen Leben bedeutet ein stetes Zurückgehen, ein Vergehen; das Fazit daraus würde ewiges Nichtsein ergeben. Der Grieche hatte den Gedanken der Ewigkeit der Menschenseele in der Form der Unsterblichkeit, der Hebräer in der Form der Auferstehung ausgebildet, wobei wir auf die historische Genesis nicht eingehen wollen. Beide Gedanken sind möglich, aber beide sind ein2

Eiert, Kampf um das Christentum 1921, S. 143. ) ,,Wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet", Joh. 3 18.

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seitig. Der Nachteil des ersteren besteht darin, daß er für die Endlichkeit kein rechtes Ziel zu finden weiß und die Bindung an die Gemeinschaft zurücktreten läßt, der Nachteil des anderen, daß er um eine Art Seelenschlaf nicht herum kommt. Denn wenn das N.T., zumindest Paulus1), mit einem völligen Auslöschen der Existenz zu rechnen scheint, so muß doch irgend etwas „schlafen", was die Identität der Persönlichkeit vermittelt. Beide Vorstellungsreihen haben in die christliche Kirche Aufnahme gefunden und sind hier miteinander verschmolzen worden, so gut es eben ging. Beide finden sich bereits in der neutestamentlichen Literatur. „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein" 2 ), lautet ein Herrnwort, dem der andere Ausspruch gegenüber steht, nach welchem alle die in den Gräbern sind, die Stimme des Sohnes Gottes hören werden3). Und manche Aussagen des Apostel Paulus lassen erkennen, daß er mit dem Augenblick des Todes bei Christo zu sein hofft. In beiden Reihen spricht ein echtes religiöses Verlangen; darum sind beide wahr. Der griechisch Denkende betrachtet den gleichen Vorgang von der Ewigkeit, der andere von der Zeit aus. Der Mensch gelangt mit dem Tode sofort zum vollen Erleben der Ewigkeit; für seine noch lebenden Mitmenschen sieht es jedoch so aus, als müßte seine Seele noch lange auf die endgültige Entscheidung warten. Geht für uns nach dem Tode die Ewigkeit auf, so schauen wir auch die übrigen Menschen in vollkommener ewiger Erkenntnis. Für den im irdischen Dasein Befindlichen dagegen kann diese Schau erst am Ende der Zeit wirklich werden4). Die Vorstellung des Auslöschens der Existenz bis zur Wiederauferweckung entspricht lediglich der zeitlichen Betrachtung. Jeder Mensch ist ein Gedanke Gottes; und ein Gedanke Gottes wird nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt geboren und später wieder einmal vergessen. Von Gott gedacht werden bedeutet, sich im Sein befinden. In dem Maße, als man von einem Gegenstande der Natur ebenfalls sagen darf, er werde von Gott gedacht, wird er auch sein Recht ) Karl Heim, Die Gemeinde des Auferstandenen, München 1949, S. 248. ) Nach jüdischer Vorstellung weilt der abgeschiedene Geist des Menschen bis zur Auferstehung im Paradiese, Karl Bornhäuser a. a. O. S. 119 ff. x

2

3

) Luc. 23 43; Joh. 6 25,28.

) Welche merkwürdige Vorstellung finden wir dagegen bei W. Schmidt (a.a.O. S. 349): „Der Einzelmensch tritt mit dem Tode nur in eine höhere Form der Geschichte ein. E r wartet nicht als unbeteiligter Zuschauer außerhalb der Zeit, um dann im richtigen Augenblick wieder in dem dramatischen Spiel der Geschichte als Mitwirkender aufzutreten, sondern er bleibt immer Glied eines Geschehens und Objekt des Wunderwirkens Gottes. Es bildet sich ein Flußbett, das neben dem alten Lauf des allgemeinen Geschichtsstromes einherfließt und zusammen mit ihm in das Meer der Vollendung einmündet." 4

Die neue Schöpfung

151

in der neuen Schöpfung haben. Irgendwelche Aussagen sind uns deshalb nicht möglich, weil es nicht gelingt, das der Persönlichkeit des Menschen entsprechende Korrelat in der Natur aufzuweisen. Und ein solches müßte wohl Gegenstand des göttlichen Denkens oder Gedenkens sein. Mancher spricht lieber von einer Auferstehung des Leibes als von einer solchen des Fleisches. Das mag angehen, wenn man den Leib mehr formal als eine Art Wellenbewegung ständig wechselnder Stoffe auffaßt. Besser bleibt man bei dem alten Wortlaut des Bekenntnisses stehen und nimmt „Fleisch" im Sinne des A. T. als Bezeichnung der Kreatur im Hinblick auf ihre Vergänglichkeit. Der Sinn wäre also: „Auferstehung der kurzlebigen Menschheit". Die Auferstehung setzt eine neue Leiblichkeit voraus; der christliche Glaube bezeichnet sie nach dem Vorgang des Apostel Paulus als eine verklärte. Eine schöne Deutung des Ausdrucks „verklärt" hat uns Rade gegeben: Klar ist, was in allen seinen Bestandteilen das Licht durchläßt1). Der verklärte Leib der Seligen tritt im christlichen Bewußtsein hinter der Seele völlig zurück, aus dem richtigen Gefühl heraus, daß er kein Betätigungsfeld hat; die Seligen erleben keine Geschichte. Gehört die Nötigung der Seele, ein Instrument, ein Ausdrucksmittel zu haben, nicht der Zeit an ? Es ist tatsächlich zwecklos, über den „verklärten Leib" systematische Aussagen machen zu wollen. Nur einige Kautelen lassen sich festlegen. Der verklärte Leib bringt nicht eine neue Note in die Ewigkeit; mit allen seinen Eigenschaften ist er präexistent. Der „Himmel" ist unräumlich und gerade deshalb auch wieder keineswegs etwa als ein Punkt zu denken (vgl. III, 3). Jedenfalls sind wir mit der Aufhebung des Raumes im „Himmel". „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen" (Joh. 14 2). Dabei muß es sein Bewenden haben, obschon man bei der neueren Theologie eine zunehmende Erwärmung für dieses Gebiet beobachten kann. Paulus spricht von der Sehnsucht der Kreatur nach Erlösung von der Vergänglichkeit, gibt uns damit aber keine tragfähige Grundlage für weitere Aussagen. Nur dürfen wir gewiß sein, daß der Mensch nicht mitfühlender und barmherziger sein wird als der Vater der Schöpfung, der lebendige Gott. Die weitere Entfaltung des Gedankens führt zu einem Grenzgebiet des sittlich-religiösen Bereichs, den wir als solchen dann nicht mehr aufnehmen. !) Glaubenslehre I, Gotha 1926, S. 351 Anm. 1.

152

Die letzten Dinge

4. Die Verdammnis Es ist natürlich, daß die Lehre von der ewigen Verdammnis sich keiner Beliebtheit erfreut. Findet sich noch bei Leibniz und Lessing eine eigentümliche Begründung aus dem Kausalgesetz, da nichts, auch die Sünde nicht, ohne Folgen bleiben kann 1 ), so will man doch besonders heute von einer Strafe überhaupt nichts wissen. „Die Liebe straft nicht. Sie ist verletzt und versöhnt sich wieder" 2 ). Es reicht nicht aus, einen dogmatischen Gedanken einseitig vorzutragen, und wenn es auch mit großer Wärme geschieht; es müssen die gesamten religiösen Interessen sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Die Lehre von der ewigen Verdammnis ist zweifellos mehrfach stark belastet. Ihr eigentlicher Vater ist das Bedürfnis des alttestamentlichen Frommen, seinen Gottesglauben durch die Bestrafung des Feindes in der vollständigen Vernichtung gerechtfertigt zu finden. Man darf einer solchen Haltung keinen Vorwurf machen; war doch der Eine noch nicht über die Erde gegangen, der nicht in der Vergeltung, sondern in der Feindesliebe den Geist Gottes fand. Jedenfalls darf aber die christliche Lehre von dieser Seite her keine Erbschaft übernehmen. Wie viel Mühe ist in einzelnen Religionen darauf verwandt worden, Ewigkeitsstrafen zu schildern und doch den Bestraften dadurch nicht vernichtet werden zu lassen! Weiter ist die Lehre belastet durch den willkommenen Gebrauch, den die römische Praxis in der Seelenlenkung und -beherrschung von ihr gemacht hat. Endlich hat die Ausmalung der Höllenstrafen, wie und wo sie auch geschehen ist, den Menschen nicht erhoben; eher wirkte sie abstoßend oder verfiel der Lächerlichkeit. Es mag sein, daß hier und da jemand aus Furcht vor der Hölle von einer bösen Tat abgeschreckt wurde; innerlich gebessert wurde er kaum. Für andere mag wieder der Anstoß, den sie an der ganzen Vorstellung nahmen, die Loslösung vom christlichen Glauben überhaupt erleichtert haben. Alle diese Belastungen der Lehre mahnen zu besonderer Vorsicht, wenn sie auch noch kein Recht geben, sie einfach zu verwerfen. Jesus sprach mit großem Ernst von der ewigen Verdammnis. Und mag er auch weitgehend die Anschauungen seiner Zeit haben zu Wort kommen lassen, so hätte er doch niemals eine Lehre verkündet, die sich mit seiner eigenen sittlich-religiösen Grundeinstellung nicht vereinigen ließ. Auch das sonstige N.T. spricht einhellig von der ewigen Verdammnis, der Auferstehung zum Gericht 3 ). H e l m u t Groos a. a. O. S. 375. ) H e r m a n n Nohl a. a. O. S. 116. 3 ) Vgl. Karl Heim zu I. Kor. 15 22 (Die Gemeinde des Auferstandenen). 2

Die Verdammnis

153

Schon der Begriff der ewigen Verdammnis scheint ein Widerspruch in sich zu sein, da Ewigkeit als sittlicher Begriff von der Seligkeit nicht zu trennen ist. Welchen Sinn sollte das Fortbestehen einer Verdammnis haben, wenn doch eine Besserung nicht erreicht wird, auch gar nicht erreicht werden soll1) ? Nach Luther ist der Zorn Gottes nur eine Abwandlung seiner Liebe. Soll man bei den Verdammten einen anderen Zorn Gottes anerkennen oder wäre dieser andere Zorn eine absolute Gleichgültigkeit, die schlimmer ist als Zorn ? Kann Gott überhaupt seinem Geschöpf gegenüber gleichgültig sein2) ? Es wäre dann dies gerade die Strafe der Verdammten, daß sie in alle Ewigkeit nicht erfahren, daß es Gott wirklich gibt. Man könnte schwanken, welches Los härter ist, vom Gottesgedanken überhaupt nicht berührt zu sein oder zu wissen, daß man Gott für immer verloren hat. Im letzteren Falle wäre doch eine gewisse Sehnsucht nach Gott als ein zweifellos positives Wertmoment gegeben. Die Verdammnis kann nicht auf äußerer Gewalt (Strafe) beruhen, sondern ist in sich notwendig. Gott straft den Menschen an der eigenen Sünde. Die Hölle ist wie der Himmel eine innere Konsequenz. Ein Machtspruch, ob selig oder unselig, würde stets verschiedenen Imponderabilien im Menschen Unrecht tun. Es darf nicht der leiseste Zweifel an der göttlichen Gerechtigkeit aufkommen; was der Mensch säet, das wird er ernten. Irdische Intelligenz wäre freilich nicht imstande, eine gerechte Grenzlinie zu ziehen.3). Wenn der Mensch mit seiner eigenen Sünde gestraft wird, so ist damit gesagt, daß er die Folgen seines Tuns uneingeschränkt zu kosten bekommt. Man darf annehmen, daß dies infolge des gütigen Zuwartens Gottes während seines Erdenlebens noch nicht im vollen Maße der Fall ist. Ist die Seligkeit nichts anderes als Gemeinschaft mit Gott, so kann die Unseligkeit nur das Gegenteil sein. Der sittliche Gott kann dem Bösen nicht vergelten, sondern ihn nur der Nichtvergebung überlassen, sagt Scheler4). Durch den Urgrund der Seele ist der Mensch mit der Ewigkeit verbunden; hier vollzieht sich seine unmittelbare Berührung mit dem Absoluten. In der Verdammnis als dem restlosen Ausgeliefertsein an „ E s ist schlechterdings nicht zu sagen, was a u s dem an das Heil sich nicht Hingebenden wird", W a l t e r Köhler, E r n s t Troeltsch, S. 171. 2 ) Vilmar bezeichnet es als das Schreckliche des Schrecklichen, wenn Gott aufhören sollte zu strafen (Theol. d. Tatsachen, S. 70). 3 ) „Die einfache Zweiheit: Gute und Böse, verstockte Sünder und der Gnade würdige Bußfertige, ist doch allzu roh und summarisch, als daß sie vor reiflicher Überlegung bestehen könnte", Alwin Mittasch, Unvergänglichkeit ? Naturforschergedanken über Unsterblichkeit, Heidelberg 1937, S. 29. 4 ) Der Formalismus in der E t h i k . S. 383.

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Die letzten Dinge

die Zeit1) geht ihm dies edelste Organ verloren; jede Berührung mit dem Absoluten hört auf. Die Verdammten kommen nie zum Erleben der Ewigkeit; wie sollten sie auch, da sie doch in ihrem Erdendasein dieser Empfindung keinen Raum gegeben haben. In der Tat liegt auch die Hölle in der Ewigkeit; nur ihre Bewohner wissen nichts davon. Gerade die Endlosigkeit der Zeit ist das Qualvolle für die Verdammten und eine gerechte Strafe, da doch das Böse in der Bejahung der Zeit besteht, wie umgekehrt jedes Ewigkeitsempfinden an sich schon höchste Seligkeit ist. Schwierig ist die Frage nach dem Auferstehungsleib der Unseligen. Von einem verklärten Leibe kann keine Rede sein, da dieser der Ewigkeit angehört. Und doch müssen sie einen Leib haben, da sie eine, wenn auch ziellose und darum verzweifelte Geschichte durchlaufen. Handelt es sich bei ihrer Auferstehung einfach um eine neue Schöpfung in die Zeit mit aller Unvollkommenheit ? Ist aber ein Leib unvollkommen, der nicht stirbt ? Unsere Unfähigkeit, über die Form dieser Existenzweise etwas auszusagen, ist kein Grund, die Gedankenreihe aufzugeben. Wenn Paulus mit Bezug auf den verklärten Leib der Seligen auf die unerschöpflichen Möglichkeiten Gottes hinweist, so ist auch für die Gegenseite unser auf Erfahrung beruhendes Anschauungsvermögen kein Maßstab. Auch von der Existenzweise Satans haben wir keine Vorstellung; nur das eine läßt sich mit Gewißheit sagen, daß sie nicht der Ewigkeit angehört. Aber niemand gibt deswegen seinen Glauben an das Vorhandensein des Teufels auf, weil er nicht anzugeben vermag, unter welchen Bedingungen er existiert. Ein Gericht besteht; das fordert der Ernst der Ethik. Mehr können wir nicht wissen und vielleicht sollen wir auch nicht mehr wissen. Wir würden daher jeden weiter tastenden Versuch als vorwitzige Spekulation ablehnen, wenn lediglich Neugierde unsere Triebfeder wäre. Nun aber handelt es sich um unsere Brüder2), und eine große Unruhe steigt in uns auf. Wenn es der Zweck der Schöpfung war, den Seligen die Möglichkeit zu geben, ein vollbewußtes J a zum lebendigen Gott zu sprechen, mußte eine sündige Welt vor ihren Augen stehen. Nur so konnten sie es recht würdigen, was es bedeutet, von der ewigen Liebe über solchen Abgründen getragen zu werden. Den Bereich der Unseligen können wir nur als einen zeitlichen denken, und im jüngsten Gericht wird die Zeit aufgehoben. Die Dauer *) „Die Hölle . . . ist das Unvermögen, Ewigkeit einzugehen", N. Berdjajew a. a. O. 2 ) Es ist auffallend, daß niemand, der im Ernst mit der Möglichkeit rechnet, selbst

aus der Zeit herauszutreten, um in die S. 169. über das Schicksal der Unseligen redet, dazu zu gehören.

Die Verdammnis

155

der Verdammnis ist endlos und doch nicht ewig. Unter dem irdischen Gesichtswinkel hört sie niemals auf. Das Gericht ist zeitlich nicht zu bestimmen und hat auch keine Dauer; es ist ein ewiges. So macht denn der Gedanke, der sich folgerichtig hier ergibt, keine Schwierigkeit: Die Verdammnis liegt weder hinter dem Gericht; denn dann gibt es keine Zeit mehr; noch liegt sie vor dem Gericht; denn sie ist ja erst durch dieses gesetzt; sie liegt vielmehr unbeschadet ihrer Endlosigkeit im Gericht. Die Höllenstrafen in ihrer unerbittlichen Endlosigkeit haben nicht den Zweck bewußter Quälerei; sie sind kein Äquivalent für die in der Erdenzeit begangenen Sünden; denn die Erdenzeit kann solches Gewicht nicht tragen. Wieviel Schwachheit, Leichtsinn und Dummheit war dabei und wie verhältnismäßig wenig titanenhaftes Nein gegen Gott. Auch die Ablehnung des Reiches Gottes rührt doch zum großen Teil von der falschen Brille her, die der Mensch sich oder die andere ihm aufgesetzt haben. Dafür kann der Mensch nicht in raffinierter Weise in alle Zeit gequält werden. Die Höllenstrafen müssen einen positiven Sinn haben. Der Mensch soll zur Besinnung kommen. In Liebe ist es nicht gegangen; nun soll er der kalten Welt seines Egoismus überlassen bleiben. Es wird noch ganz anders als in der Erdenzeit einer dem anderen Leid bereiten. Und auch in diesem Dasein unter völlig veränderten und wesentlich erschwerten Bedingungen wird er von Gott dem Schöpfer über dem Nichts gehalten. Wer wollte sagen, daß Gott dies nur zum Zweck einer endlosen Strafe täte! Niemand kann darüber Auskunft geben, welche Möglichkeiten dieser letzten strengen Erziehungsabsicht Gottes zu Gebote stehen. Die Unseligen müssen jedenfalls den Kelch der Verzweiflung bis zur Neige leeren. Und sie häufen Erfahrung auf Erfahrung, während der kurzlebige Mensch kaum Zeit ha±, seine Erfahrungen zu befestigen und wirklich die Konsequenzen daraus zu ziehen; seine Einschätzung ist noch viel zu sprunghaft und oft oder meist verkehrt. In der Verdammnis soll die Erkenntnis reifen: so geht es nicht. Nun löst sich auch eine Schwierigkeit, mit welcher der Christ bisher nicht fertig wurde. Ein Nebeneinanderbestehen zweier ewiger Zustände, der Seligkeit und der Verdammnis, führt nicht nur zu logischen Bedenken, sondern setzt auch Liebe und Seligkeit zu einander in direkten Widerspruch. Was ein Mensch je an Ewigkeitswerten empfunden hat, ist unzerstörbar; nichts geht verloren, was an einem Menschen noch liebenswert sein könnte. Alles Liebevolle ist präexistent, gehört der Ewigkeit an; alles andere nicht. Die Frage nach dem Schicksal der Unseligen hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Frage nach dem Schicksal meines alten Ichs. Bedeutungsvoll wird das jüngste Gericht dem Heiland Jesus Christus übertragen, und seine Frage lautet: hast du mich lieb ?

156

Die letzten Dinge

So endlos aber auch die Zeit in der Unseligkeit sein möge, von der Ewigkeit aus gesehen ist auch die Verdammnis irreal1). 5. Die ewige Seligkeit Die Seligkeit ist die Zusammenschau eines von den großen wahren Zwecken erfüllten Lebens. Unser zeitlich ausgedehntes Dasein wird uns dann nach seinem wahren Gehalt in einem Augenblick gegenwärtig sein. Diese Reichhaltigkeit geht über alles Vorstellen. Sie vereinigt alle je empfundenen Werte, von denen uns die Zeit, deren Wesen ja die Vereinzelung ist, immer wieder geschieden hat. Die alte Bezeichnung der Seligkeit als Gottschauen bringt am glücklichsten zum Ausdruck, daß Gott die Summe aller Werte und selbst den absoluten Wert darstellt. Einige Gedanken zur Veranschaulichung. Wir können in der Zeit nicht zwei Dinge zugleich haben; entweder verlieren wir uns in Träume oder wir raffen uns zu zielbewußtem Entschluß auf. Jeder Entschluß bedeutet aber eine Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Er bringt uns wohl einen Schritt vorwärts, macht aber andererseits unser Leben um die verworfenen Möglichkeiten ärmer 2 ). Im Grunde genommen ist jeder Augenblick eine solche Wahl, d. h. ein Verzicht auf viele andere bunte Möglichkeiten. Wer wollte die Lebenswege alle ausmalen, die für uns auch hätten Wirklichkeit werden können; ließen sich doch aus jedem Augenblick, den wir durchleben, eine Fülle von Wegen abzweigen! Wie oft mag ein solcher Entschluß-Verzicht mit blutendem Herzen durchgeführt worden sein! Die Ewigkeit wird auch alle verworfenen Möglichkeiten, soweit sie nicht böse sind, uns voll zu genießender Empfindung bringen. Und ein Weiteres. Was in der Endlichkeit sich in hartem Entweder-Oder gegenübersteht, kann in der Ewigkeit in seliger Harmonie miteinander verbunden sein. Wieviel zerknickte Hoffnungen, wieviel zermürbte Kräfte werden hier frisch und herrlich gehen, wieviel verkümmerte Talente zu voller Entfaltung kommen, wieviel vergessene Gedanken in ungeahnter Tiefe lebendig sein! Alle Momente, die wir in unserem religiösen Leben zeitlich erfahren als Reue, Vergebung, Heiligung, Hoffnung, Liebe, Glaubenstat usw. sind in der Harmonie *) Da man von einer Präexistenz der Verdammten nicht sprechen kann, würde die Lehre von einer Prädestination zur Verwerfung bedeuten, daß Gott außer den Präexistenten noch andere Persönlichkeiten in völliger Neuschöpfung in die Zeit hätte eingehen lassen, etwa zum abschreckenden Beispiel für die anderen, und diese Auffassung (vgl. Wilhelm-Albert Hauck, Die Erwählten. Prädestination u. Heilsgewißheit nach Calvin, Gütersloh 1950, S. 50ff. der Verwerfung Ratschluß) ist für uns unmöglich. 2 ) Ich finde den gleichen Gedanken fast wörtlich bei Marcel Reding (a. a. O S. 138); er fügt hinzu, daß von da her ein Zug tiefer Tragik in unser Dasein komme.

Die ewige Seligkeit

157

der Ewigkeit gegenwärtig. Wir leben völlig und ungehindert wie aus dem Urgrund der Seele heraus. Die Gesamterfahrung des Bösen liegt überwunden unter unserem Fuß; es ist das Nichtseiende, von dem die Ewigkeit Gottes sich abhebt. Die Stimmung wird ergreifend sein, da die persönlichsten Erlebnistöne mitschwingen. Wie muß es sein, den Bruder geschmückt mit der Krone des Lebens zu schauen! Die himmlische Genugtuung zu spüren, wenn Gott allen Jammer gestillt, die Tränen von allen Angesichtern abgewischt hat! In des Vaters Hause mit seinen vielen Wohnungen bei der unerschöpflichen Reichhaltigkeit der Charaktere den edelsten. Tau aus jeder Menschenseele zu trinken! Das ist alles sozusagen noch Vorhof; wir werden persönlich bei Christo sein! Wir dürfen in Gottes Herz schauen und fassungslos vor der Größe und Tiefe seiner Liebe stehen. „Wir sehen jetzt spiegelhaft in dunklen Umrissen, dann aber von Angesicht zu Angesicht; jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleich wie ich erkannt bin."

Literatur Die Zahlen nennen die Seiten der erstmaligen Erwähnung Paul Althaus Die letzten Dinge 15 Grundriß der Ethik 62 Die christliche Wahrheit 71 Was ist die Taufe ? 119 Paulus und Luther über den Menschen 74 Die lutherische Rechtfertigungslehre 98 Grundriß der Dogmatik 70 Mark Aurel Selbstbetrachtungen 64 Franz von Baader Seele und Welt 28 Fritz Bammel Das H. Abendmahl im Glauben der Völker 121 Karl Barth Die christliche Lehre von der Taufe 117 Die kirchliche Dogmatik 42, 2, 15 Die protestantische Theologie 9 Die Lehre vom Wort Gottes 4 Das christliche Verständnis der Offenbarung 44 Die Auferstehung der Toten 63 Markus Barth Das Abendmahl 120 . Die Taufe — ein Sakrament 116 Bruno Bauch Grundzüge der Ethik 5 Johannes Bauer Kausalität und Schöpfung 141 Bernhard Bavink Weltschöpfung 12 Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaft 13 Die Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion 74 Nikolai Berdjajew Existentielle Dialektik 16 Henry Bergson Zeit und Freiheit 6

Denken und schöpferisches Werden 6 Das Lachen 131 Dietrich Bonhoeffer Ethik 25 Karl Bornhäuser Die Leidens- und Auferstehungsgeschichte Jesu 120 Karl Bornhausen Der Erlöser 29 Problem der Wirklichkeit Gottes 63 Karl Braeunig Willensfreiheit und Naturgesetz 76 August Brunner Der Stufenbau der Welt 94 Emil Brunner Offenbarung und Vernunft 38 Der Mensch im Widerspruch 54 Glaube und Forschung 56 Die Lehre vom H. Geiste 134 Der Mittler 72 Der Römerbrief 87 Religionsphil. ev. Theol. 21 Dogmatik 19 Gebot und Ordnungen 59 Peter Brunner Aus der Kraft des Werkes Christi 122 Friedrich Brunstäd Die Idee der Religion 57 Allgemeine Offenbarung 24 Paul Brunton Der Weg nach innen 63 Rudolf Bultmann Die Bedeutung der Eschatologie 4 NT. und Mythologie 42 Offenbarung und Heilsgeschehen 42 Christus des Gesetzes Ende 71 Theologie des NT. I u. II 64, 66 Jesus 64 Oscar Cullmann Urchristentum u. Gottesdienst 117 Tauflehre des NT. 117 Christus und die Zeit 122

Literatur Otto Dilschneider Die evangelische Tat 66 Gegenwart Christi 22 Martin Dorne Der Mensch im Urteil der Bibel 87 Hans Driesch Das Problem der Freiheit 71 Die sittliche Tat 53 K. P. von Dürkheim Kultur der Stille in Japan 11 Werner Eiert Der Kampf um das Christentum 149 Der christliche Glaube 47 Das christliche Ethos 130 Alfred Forke Chinesische Mystik 4 Erich Frank Philosoph. Erkenntnis 127 Heinrich Fries Die kath. Religionsphilosophie 65 Arnold Gehlen Das Bild des Menschen 127 Werner Gent Das Problem der Zeit 15 Die Raum-Zeit-Philosophie 9 Der sittliche Mensch 54 Karl Girgensohn Grundriß der Dogmatik 78 Die Religion, ihre psychischen Formen und ihre Zentralidee 50 Die Inspiration der H. Schrift 45 Theologische Ethik 20 Friedrich Gogarten Offenbarung und Zeit 7 Weltanschauung und Glaube 92 Die Kirche in der Welt 17 Ernesti Grassi Verteidigung des indiv. Lebens 19 Eberhard Grisebach Gegenwart, Eine kritische Ethik 7 Was ist Wahrheit in Wirklichkeit ? 28 Karl Groos Das Wesen des Seelengrundes 142 Herko Groot Raum und Zeit 78 Werner Gruehn Das Werterlebnis 12

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Romano Guardini Freiheit, Gnade, Schicksal 21 W. Guns Der Gang der Welt 68 Bernhard Haering Das Heilige und das Gute 20 Theodor Harnack Luthers Theologie 15 Max Hartmann Atomphysik, Biologie u. Religion 76 Nicolai Hartmann Ethik 48 Der Aufbau der realen Welt 49 Neue Wege der Ontologie 77 Wilhelm-Albert Hauck Die Erwählten 156 Martin Heidegger Sein und Zeit 8 Was ist Metaphysik ? 73 Vom Wesen der Wahrheit 80 Karl Heim Leitfaden der Dogmatik 64, 70 Glaubensgewißheit 11 Die Gemeinde des Auferstandenen 150 Glaube und Leben 11 Glaube und Denken III 52 Glaube und Denken IV 10 Glaube und Denken V 14 Glaube und Denken VI 72 Heinz Heimsoeth Metaphysik der Neuzeit 72 Geschichtsphilosophie 78 Gerhard Heinzelmann Die erkenntnistheor. Begründung der Religion 49 Werner Heisenberg Atomphysik und Kausalgesetz 13 Willy Hellpach Grundriß der Religionspsychologie 57 Numen und Ethos 58 Rudolf Hermann Anselms Lehre vom Werke Christi 103 Wilhelm Herrmann Der Widerspruch im religiösen Denken 75 Joh. Hessen Religionsphilosophie 60

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Literatur

Dietrich von Hildebrand Liturgie und Persönlichkeit 42 Emanuel Hirsch Die ideal. Phil, und Christentum 1 Harald Höffding Ethik 48 Karl Holzamer Grundriß einer praktischen Philosophie 78 Edmund Husserl Vorlesungen zur Phänomenologie 8 Günter Jacoby Allgemeine Ontologie d. Wirklichkeit 14 Karl Jaspers Die Schuldfrage 90 Der phil. Glaube 28 Philosophie 5 Ursprung u. Ziel der Geschichte 89 Philosoph. Logik 8 Vernunft und Widervernunft 109 Einführung in die Philosophie 53 Rechenschaft und Ausblick 43 Der Weltschöpfungsgedanke 148 Joachim Jeremias Hat die älteste Christenheit die Kindertaufe geübt ? 119 Die Abendmahlsworte Jesu 103 Pascual Jordan Die Stellung der Naturwissenschaft zur religiösen Frage 78 Karl Gustav Jung Psychologie und Religion 20 Wilhelm Kamiah Christentum u. Geschichtlichkeit 73 Immanuel Kant opus Postumum 56 Heinrich Karpp Probleme der altchristl. Anthropologie 141 Sören Kierkegaard Die Krankheit zum Tode 70 Einübung im Christentum 6 Ludwig Klages Der Geist als Widersacher 6 Grundlagen der Charakterkunde 91 Walter Köhler Ernst Troeltsch 24

Karl Koepgen Lösungen und Erlösung 47 Wilhelm Koepp Panagape 70 Walter Künneth Lehre von der Sünde 71 Max Lackmann Vom Geheimnis der Schöpfung 42 Gerardus van der Leeuw Der Mensch und die Religion 88 Theodor Litt Denken und Sein 9 Einleitung in die Philosophie 54 Mensch und Welt 48 Ethik der Neuzeit 48 Die Sonderstellung des Menschen 79 Die Selbsterkenntnis des Menschen 100 Heinrich Maier Philosophie der Wirklichkeit 78 Alfred von Martin Nietzsche und Burckhardt

49

Willi Marxsen Einsetzungsberichte zum Abendmahl 114 Gustav Mensching Gut und Böse im Glauben der Völker 58 Alwin Mittasch Unvergänglichkeit ? 153 Entelechie 76 Julius Müller Die christliche Lehre von der Sünde 68 Hugo Münsterberg Philosophie der Werte 49 Erich Neumann Tiefenpsychologie und neue Ethik 56 Hermann Nohl Die sittlichen Grunderfahrungen 105 Kurt Oehme Uber Altern und Tod 18 Oesterreich Einführung in die Religionspsychologie 56 Rudolf Otto Das Heilige 58 Aufsätze, das Numinose betreffend 66 Reich Gottes und Menschensohn 103

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Literatur Joseph Pieper Uber das Ende der Zeit 147 Bernhard Poschmann Die katholische Frömmigkeit 1 Herbert Preisker Das Ethos des Urchristentums 133 Théo Preiss Das innere Zeugnis d. H. Geistes 137 Otto Procksch Passa und Abendmahl 120 Martin Kade Glaubenslehre 161,23 Wilhelm Rau Das H. Abendmahl in luth, und ref. Sicht 120 Marcel Reding Metaphysik der sittlichen Werte 49 Johannes Rehmke Der Mensch 10 Ethik als Wissenschaft 62 Die Seele des Menschen 71 Hans Reiner Der Grund der sittlichen Bindung 61 Heinrich Rickert System der Philosophie 4 Die Grenzen der naturw. Begriffsbildung 6 Erich Rotthaus Das Sittliche, eine Kraft des menschlichen Unbewußten 20 Max Scheler Der Formalismus in der Ethik 48 Die Stellung des Menschen im Kosmos 125 Friedrich Schleiermacher Begründung des Erlaubten 63 Der christliche Glaube 133 Michael Schmaus Kath. Dogmatik I 42 Kath. Dogmatik I I 104 Kath. Dogmatik I I I 42 H. W. Schmidt Zeit und Ewigkeit 7 Heinz Horst Schrey Existenz und Offenbarung 10 Horst Schälke Einführung in die christliche Ethik 64 Klamroth.

Lutherischer Glaube im De

Hermann Schwarz Das Ungegebene 20 Albert Schweitzer Kulturphilosophie I I 54 Mystik des Apostels Paulus 66 Erich Seeberg Luthers Theologie 29 Reinhold Seeberg Christi. Dogmatik 62 M. H. Soe Christliche Ethik 42 J . Chr. Smuts Die holistische Welt 60 Ernst Sommerlath Abendmahlsgespräch 140 Eduard Spranger Weltfrömmigkeit 127 Kulturpathologie ? 60 Die Magie der Seele 62 Goethes Weltanschauung 104 Lebensformen 20 Karl Stange Dogmatik 47 Die Absolutheit des Christentums 67 Ethelbert Stauffer Die Theologie des NT. 88 Kurt Stavenhagen Absolute Stellungnahmen 66 Horst Stephan Glaubenslehre 22 Helmut Thielicke Tod und Leben 42 Fragen des Christentums 70 Theologie der Anfechtung 87 Theol. Ethik 64 Ernst Troeltsch Glaubenslehre 81 A. Fr. Chr. Vilmar Die Theologie der Tatsachen 121 Heinrich Vogel Christologie 103 Gott in Christo 54 Werner Vollborn Studien zum Zeit Verständnis des AT. 120 Joachim Wach Das Problem des Todes 18 Waitz-Gerland Anthropologie der Naturvölker 67 en der Gegenwart

162 Georg Walther Jesus, das Passalamm 120 Georg Wehrung Schleiermacher in der Zeit seines Werdens 19 Alois Wenzl Unsterblichkeit 10 Leopold von Wiese Ethik 64 Richard Wilhelm Kung-tse 65 Lao-tse 62 Hans Windisch Das Erlebnis des Sünders 100

Literatur Georg Wobbermin Wesen der Religion 58 Wesen des Christentums 61 Hans Otto Wölber Dogma und Ethos 64 Georg Wünsch Über Offenbarung 41 Wirklichkeitschristentum 41 Max Wundt Ewigkeit und Endlichkeit 66 Wilhelm Wundt Ethik 61 Basilius Zenkowsky Das Bild vorn Menschen 71

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