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German Pages [344] Year 2003
Luftmenschen und rebellische Töchter
Lebenswelten osteuropäischer Juden Erinnerung an die Lebenswelten osteuropäischer Juden, an ihre Geschichte und Kultur, ist eine Erfahrung des Leidens, aber auch des Selbstbewußtseins und der Kraft. Mit den Arbeiten dieser Reihe - wissenschaftlichen Forschungen, Neuausgaben bedeutender älterer Beiträge und Quelleneditionen - sollen Lebensverhältnisse und Alltag, Werte, Normen und Einstellungen, Denken, Fühlen und Verhalten der Juden ebenso wieder gegenwärtig werden wie das Zusammenleben mit der nichtjüdischen Umwelt und das Einwirken politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen. In der Auseinandersetzung mit diesen Welten gewinnen wir sie als Teil unserer eigenen Geschichte zurück.
Herausgegeben von Heiko Haumann Band 7
Jankiel Adler: Meine Eltern, 1921 (Kunstmuseum
Lodz)
Luftmenschen und rebellische Töchter Zum Wandel ostjüdischer Lebenswelten im 19· Jahrhundert
Herausgegeben von Heiko Haumann
§
2003
Böhlau Verlag Köln Weimar Wien
Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Irene Bollag-Herzheimer.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Jankiel Adler: Meine Eltern, 1921 Kunstmuseum Lodz © 2003 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Tel. (0221) 91390-0, Fax (0221) 91390-11 [email protected] Alle Rechte vorbehalten Satz: Thomas Adolph Druck und Bindung: MVR GmbH, Brühl Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 3-412-06699-0
Inhalt Vorwort
9
M O N I C A RÜTHERS UND DESANKA SCHWARA
Regionen im Porträt
11
Landschaften, Sprachen, Menschen
11
Die ostjiddische Sprachlandschaft
13
Ostjüdische Vielfalt in einer multikulturellen Umgebung
17
Polen: Juden unter wechselnder Herrschaft
19
Polnisches Judentum im Wandel
21
Warschau
23
Lodz
29
Kielce
31
Lublin
34
Litauen und Weißrussland: Juden im Zarenreich Wilna Galizien und Bukowina: Juden in der Habsburgermonarchie
38 44 51
Polen, Ruthenen und Juden
53
Lemberg
55
Krakau
59
Juden im galizischen Konfliktfeld
62
Bukowina
64
Regionale Besonderheiten
68
DESANKA SCHWARA
Luftmenschen - Ein Leben in Armut
71
Berührungspunkte
71
Lebensbedingungen
75
Soziale Wirklichkeit
75
Ausmaße der Armut
87
Luftmenschen
91
Überlebensmöglichkeiten Vergehen gegen geltendes Recht
96 110
Erziehung und Unterweisung
124
Religiöse Gebote
135
Wanderung und Zuflucht
138
6
Inhalt Beziehungsgeflechte Ein Mensch sein, nicht Luft Verwüstung und Vertreibung
144 146 149
Armut und Mitleid Geschichte der Armut Verschiedene Arme Solidarität im Wandel
152 152 159 162
Alte und neue Wege aus dem Elend Lippenbekenntnisse aus existenzieller Not Politisches Erwachen Die Suche nach neuen Lebensmöglichkeiten
192 192 194 200
Umgang mit der Not
214
MONICA RÜTHERS
Frauenleben verändern sich
223
Frauen - Bildung und Erziehung War die Bildung männlich? Weibliche Bildungswege Der Wandel des Bildungsideals Konflikte mit dem traditionellen Rollenbild der Jüdin Regionale Unterschiede in der Mädchenbildung
223 223 225 228 233 237
Heirat, Ehe, Familienleben Eheanbahnung Liebe auf den ersten Blick Das Hochzeitsfest Mitgift und Brautschatz Der Status der Ehefrau und der Ehealltag Neue eheliche Rollenmuster: Jiddische Briefsteller als Normenkataloge Geschlechterbeziehungen Zusammenfassung
239 239 240 245 249 253
Der Niedergang des »jüdischen Familienlebens« Frauenleben außerhalb der Ehe Geschiedene Frauen Die »Gebundene« (aguna) Familienzusammenhalt Lohnarbeit und Prostitution Zusammenfassung
255 265 266 267 267 268 271 272 279
Inhalt
7
Jüdische Frauen, jüdische Religion und die weiblichen Pflichten
280
Das jüdische Bad und die mikve
282
Der koschere Haushalt - Die Ordnung der Töpfe
284
Symbolische Besitztümer: Schönheit, Mode, Lebensstil und der Bruch in der weiblichen Religiosität
290
Die Magie der Namen: Henriette, Helenie, Clara
295
Zusammenfassung
295
Der Wandel weiblicher Handlungsräume. Ein Perspektivenwechsel
296
Religion und Geschlecht
296
Erziehung, Bildung, Lektüre
297
Heirat und Eheleben
298
Wohltätigkeit
300
Erwerbsarbeit
304
Haus und Familie
305
Religiosität und Frömmigkeit
306
HEIKO HAUMANN
Auf dem Weg zu neuen Selbstverständnissen: Ostjuden im 19. Jahrhundert
309
Vorwort
Dieses Buch hat eine lange Geschichte. Hervorgegangen ist es aus einem Forschungsprojekt über den Wandel ostjüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert, das Peter Bollag, Monica Rüthers und Desanka Schwara unter meiner Betreuung vom 1. Oktober 1993 bis zum 30. September 1996 an der Universität Basel durchführten. Finanziert wurde es in großzügiger Weise vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung sowie vom Fonds zur Förderung der Lehre und Forschung an der Universität Basel. Beiden Institutionen sei auch an dieser Stelle für die Unterstützung noch einmal herzlich gedankt. Aus jenem Forschungsprojekt gingen mehrere Einzelveröffentlichungen und Dissertationen hervor. Geplant war von Anfang an auch ein gemeinsames Buch, das seine Ergebnisse vorstellen sollte. 1997 lagen die Manuskripte vor. Peter Bollag konnte allerdings aufgrund neuer beruflicher Verpflichtungen seinen Beitrag nicht fertig stellen. Uneigennützig stellte er seinen Entwurf sowie seine Materialien für die weitere Auswertung zur Verfügung. Dafür sind wir ihm alle sehr dankbar. Eine Verkettung unglücklicher Umstände bewirkte Verzögerungen bei der Drucklegung, die allein der Herausgeber zu verantworten hat. 2002 erfolgte noch einmal eine Durchsicht der Manuskripte, die zu geringfügigen Änderungen und zu minimalen Ergänzungen der bibliographischen Angaben führten. Die Erträge der Forschungsarbeit rechtfertigen nach meiner Überzeugung auch nach so langer Zeit deren Publizierung. Der Stiftung Irene Bollag-Herzheimer in Basel danke ich sehr für die finanzielle Zuwendung, ohne die der Druck nicht möglich gewesen wäre, dem Böhlau Verlag - namentlich Frau Dorothee Rheker-Wunsch - für die sorgfältige Betreuung des Bandes, Thomas Adolph für die zuverlässige Satzherstellung sowie Monica Rüthers und Desanka Schwara für die schöne Zusammenarbeit. Basel, im April 2003
Heiko Haumann
M O N I C A RÜTHERS UND DESANKA SCHWARA
Regionen im Porträt
Landschaften, Sprachen, Menschen Als um 1900 viele Ostjuden ihre Heimatregionen aus wirtschaftlicher Not und wegen gewalttätiger Verfolgungen verließen, erschienen sie ihren assimilierten Glaubensgenossen im Westen als homogene, beängstigende dunkle Masse.1 Sie selbst empfanden sich in der neuen Umgebung als einander zugehörig, ihre internen Differenzen verloren an Gewicht. Schon bald bildeten sich »Landsmannschaften«, in denen sich die Juden eines Schtetls oder einer kleinen Region zusammenfanden und ihre Traditionen pflegten. Besonders zahlreich waren solche »Landsmannschaften« in New York, wo die Vielfalt des jüdischen Lebens ungehindert fortbestehen konnte. Die lokale Verbundenheit, die sich in solchen Landmannschaften ausdrückte, bestand schon vorher im »alten Heim«, wie die osteuropäische Heimat genannt wurde. Das Zugehörigkeitsgefiühl des Einzelnen bezog sich auf die eigene Gemeinde, das eigene Schtetl. Dazu zählte für die Männer auch die spezielle religiöse Ausrichtung, die Gebetsgemeinschaft, zu der man gehörte, oder die Gruppe von Anhängern eines bestimmten chassidischen Rebben. Eine wichti-
1
Steven E. Aschheim: Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800-1923. Madison, Wise. 1982; Sander Gilman: Jüdischer Selbsthass und die verborgene Sprache der Juden. Frankfurt a. M. 1993; Trude Maurer: Die Wahrnehmung der Ostjuden in Deutschland 1910-1933. In: LBI Information Nr. 7, 1997; Leslie Morris: Arnold Zweigs »Das ostjüdische Antlitz«. In: Arnold Zweig: Berlin-Haifa-Berlin. Perspektiven des Gesamtwerks. Hg. von Arthur T. Alt. Bern usw. 1995, S. 1 6 8 - 1 7 6 ; vergleichsweise wenig geforscht wurde bislang über die Wahrnehmung der »Westjuden« durch die »Ostjuden«; Israel Bartal: The Image of Germany and German Jewry in East European Jewish Society During the 19th Century. In: Danzig, Between East and West. Aspects of Modem Jewish History. Hg. von Isadore TVersky. Cambridge, Mass. 1985, S. 3 - 1 5 .
Monica Rüthers und Desanka Schwara
12
ge Rolle spielten für das Zugehörigkeitsgefühl auch der vertraute, heimische Dialekt des Jiddischen, spezielle Geschmacksvarianten der traditionellen jüdischen Gerichte, die regionale Variante der jüdischen Art, sich zu kleiden, Bart und Haare zu tragen, oder die Kopfbedeckung. Die Frauen waren in Nachbarschaft und Familienzusammenhang eingebunden. Dialekte und regionale modische Besonderheiten waren auch für sie von Bedeutung. Die Historiographie hat die Tendenz, die regionalen Unterschiede zugunsten der Vorstellung von einer zumindest ostjüdischen Einheit zu vernachlässigen. Möglicherweise sind sie deshalb wenig erforscht, obwohl sie gerade bei alltagsgeschichtlichen Fragestellungen sofort ins Blickfeld geraten. Dieselbe Tendenz findet sich auch in der Geschichtsschreibung, die sich mit der Geschichte Russlands befasst. Hier wird sie gestützt auf die klimatische, geographische und ethnische Homogenität Zentralrusslands und die zentralistische Regierungsform. Gerade innerhalb des Ansiedlungsrayons bestand aber eine große Vielfalt. 2 In den folgenden Regionenportraits geht es um die Eigenheiten der ostjüdischen Kulturregionen, um generelle Voraussetzungen für historische Entwicklungen, um Unterschiede in der staatlichen Zugehörigkeit und deshalb auch der Judengesetzgebung, vor allem aber um die Varianz innerhalb des ostjüdischen Kulturkreises. 3 Zeitlich und räumlich müssen insbesondere die religiösen Ausrichtungen der Juden auseinandergehalten werden. Hier gab es einerseits großräumige regionale Differenzen. Andererseits trafen besonders in den städtischen Zentren und deren jüdischen Gemeinden Angehörige unterschiedlicher religiöser Überzeugungen aufeinander, Strenggläubige und Reformer, also chasidim,
misnagdim
und masküimf·
Hinzu
traten säkularisierte Juden, die sich an der polnischen, russischen oder deutschen Kultur orientierten, Zionisten und Bundisten. Die Begrifflichkeiten für
2
3
4
Steven Zipperstein·. The Jews of Odessa. A Cultural History, 1794-1881. Stanford, Cal. 1985, S. 14 f. Zur Einführung in die ostjüdischen Lebenswelten und deren Wandel vgl. Heiko Haumann: Geschichte der Ostjuden. 5. Aufl. München 1999; Fran?ois Guesnet: Polnische Juden im 19· Jahrhundert. Lebensbedingungen, Rechtsnormen und Organisation im Wandel. Köln usw. 1998. Desanka Schwara: »Ojfn weg schtejt a bojm.« Jüdische Kindheit und Jugend in Galizien, Kongreßpolen, Litauen und Rußland 1881-1939. Köln usw. 1999, Kapitel »Geschichte«, S. 38-56; Kapitel »Tradition«, S. 58-85 (teilweise sind im Folgenden daraus Formulierungen übernommen). Chasidim (im Folgenden dieses Kapitels, da im Deutschen eingebürgert: Chassidim) bezeichnet die Anhänger einer im 18. Jahrhundert entstandenen Bewegung der »Frommen«, misnagdim (mitnagedim) ihre »Gegner«, die bei der traditionel-
Regionen im Porträt
13
die Bezeichnung solcher Zugehörigkeiten wechseln innerhalb der verschiedenen Kontexte. Die ostjiddische
Sprachlandschaft
Das jüdische Siedlungsgebiet in Osteuropa teilte sich in drei große und zwei kleinere kulturelle und zugleich sprachliche Regionen: das litauisch-weißrussische, das polnische und das galizische Judentum. Die Hauptgrenze verlief dabei zwischen Litauen und Polen, zwischen Nord- und Südjiddisch bzw. O-Dialekt und U-Dialekt. Innerhalb dieser gab es wiederum regionale Differenzen. Etabliert ist vor allem die Unterscheidung im Südjiddischen zwischen Polnisch-Jiddisch (Central Yiddish) und Ukrainisch-Jiddisch (South-Eastern Yiddish). Aber auch im Nordjiddischen (North-Eastern Yiddish) wird eine, wenn auch untergeordnete, Unterscheidung zwischen litauischem und weißrussischem Jiddisch getroffen.5 Hinzu kommt die jüdische Gruppe der neuen Siedlungsgebiete in den südwestlichen Provinzen des Zarenreiches mit Zentrum in Odessa, wo sich Zuwanderer aus allen drei kulturellen Regionen und ihre Dialekte mischten. Schließlich gab es noch eine Übergangsregion zwischen West- und Ostjudentum in Böhmen, die kulturell allerdings eher zum westeuropäischen Judentum zu rechnen ist. Die Juden in diesen Regionen unterschieden sich in der religiösen Ausrichtung voneinander, in ihren Bräuchen, in ihren Speisen und in ihrer Mundart. Die regionalen Dialekte hatten sich aus einer dem Mittelhochdeutschen nahestehenden Urform des Jiddischen entwickelt, die die im Hoch- und Spätmittelalter aus Deutschland eingewanderten Juden mitgebracht hatten. In den verschiedenen osteuropäischen Siedlungsgebieten entwickelten sich die Lautformen des Jiddischen weiter, so dass sich die jeweiligen regionalen Dialekte vor allem in den Vokalen voneinander abhoben. Aus dem ursprünglichen ä wurde in Litauen und Weißrussland ein kurzes o, in Polen und der Ukraine verdumpfte sich der Laut weiter zu u, daher die Bezeichnung der
len rabbinischen Orthodoxie verblieben, und masküim sind die »Denkenden«, die Sympathisanten der Aufklärung. Vgl. Haumann: Geschichte, S. 5 3 - 5 7 , 7 4 - 7 7 , 5
111-113. Uriel Weinreich: The Geographie Makeup of Belorussian Yiddish. In: The Field of Yiddish, 3rd Collection. Studies in Language, Folklore, and Literature. Hg. von Marvin I. Herzog, Wita Ravid und Uriel Weinreich. London usw. 1969, S. 8 2 - 1 0 1 .
Monica Rüthers und Desanka Schwara
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Das jiddische Stammgebiet nach «Jen politischen von 1 9 3 ·
NORDOSTJIODISCH
Gren*·« MITTELN DDISCH SÜDWESTJIDOISCH
OttRL.- UNTERL. GRENZLINIE OMi.- WMJ. GRENZE OGAL.- WG AL. GRENZE STAATSGRENZEN PROVINZIALGRENZEN
,»€*UN
Karte aus Jechiel Bin-Nun: Jiddisch und die deutschen Mundarten unter besonderer Berücksichtigung des ostgalizischen Jiddisch. Mit einer Sprachkarte. Tübingen 1973
AR Β BAL BEK BER BIAL BJEL BOB BOR BR (Russl.) BR (Galizien) BRES BREST
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Arad Beiz Balta Bekresch Berditschew Bialystok Bielocerkew Bobruisk Borrisow Bransk Brody Breslau Brest Litowsk
BRN CH CHAR CHER CZER (Bukow.) CZER (Russl.) CZER (Dnjepr) DEB DN DOR DUB Ε ERL
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Brunn Chelm Charkow Cherson Tschernowitz Tschernigow Tscherkassy Debreczen Dniepropetrowsk Dorpat Dubno Eisenstadt Erlau
15
Regionen im Porträt GOL GROD GRW HAT HOM HÖR JAS J.BER KAM KAS KIS KLS KOL KÖN KOW(Lit.) KOW (Wolhyn.) KREM (Wolhyn.) KREM (Dnjepr) KRAK L LEM LIB LOM LUB LUG MAR MEM MIS MIT MOG MOZ MUN NIK NOW OD OR ORS
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Goldingen Grodno Groß-Wardein Hatszeg
Ρ PER PO POL
Hömel Horodenka
POS
Jassy Jasz-Bereny Kamenez Pod. Kaschau Kischinew Klausenberg Kolomea Königsberg Kowno Kowel Kremenz
PRES PROS PRZ PSK R ROH ROS ROW RR RZSZ SAN SMOL
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Poprad Pernau Polozk Poltawa Posen Preßburg Proskurow Przemysl Pskow Rosenau Rohatyn Rostow Rowno Rowa Ruska Rzeszow Sanok Smolensk
SN STAN
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Kremen tschug Krakau Luzk
SUW
=
St. Nikolaus Stanislau Suwalki
=
Lemberg
SZ
=
Szatmar
Libau Lomza Lublin Lugos Marmarosch
SZEG SZEP TAR (O.-Galiz.) TAR (W.-Galiz.) TEM TH TUL WIL WIN WL WIT
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Memel Miskolcz Mitau Mohilew Mosyr Munkac Nikolajew Nowgorod Odessa Orel Orscha
WOR Ζ ZAP ZK ZYT
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Szegedin Schepetowka Tarnopol Tarnow Temesvar Thorn Hiltschin WUna Winnica Wladimir Witebsk Woronez Zaslaw Zaporoze Zakopane Zytomir
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Monica Rüthers und Desanka Schwara
Mundarten. Im Süden wurde zudem ü, u zu i abgeschwächt. Die Lautentwicklung hatte sich hier am weitesten vom ursprünglichen Zustand entfernt. Das könnte eine Folge der größeren Armut und des niedrigeren Bildungsniveaus nach den Kosakenaufständen im 17. Jahrhundert sein. In der litauischweißrussischen O-Mundart wurde aus den mittelhochdeutschen Diphtongen ei, öu, ou ein ei. In der U-Mundart wurde in Polen daraus ein ai und in der Ukraine ein äi. Das mittelhochdeutsche ou, das im ursprünglichen Jiddisch zu ö wurde, entwickelte sich im Nordjiddischen zu ei, im Südjiddischen zu oi. Die Sprachgrenze wird am Beispielsatz großer Garten nachgezeichnet: im Norden heißt es grejser gortn, im Süden grojser gurtn. Während das Nordjiddische nur kurze Vokale kennt, hat das Südjiddische die Unterschiede zwischen langen und kurzen Vokalen bewahrt.6 Heißt es für da, Bruder, geben im Nordjiddischen do, brud3r,gebm, sagt man im Südjiddischen dü, brid3r,geibm. Vogel, Auge, Baum lauten Nordjiddisch feigl, eig beim und Südjiddisch foigl, oig boim? Die Grenzen der einzelnen Unterscheidungsmerkmale (o-u und ei-ot) verliefen nicht ganz gleich, und in Nordost-Polen sowie der Nordukraine gab es Übergangsgebiete, Mischzonen durch den Sprachkontakt.8 Die Unterschiede wurden aber recht stark empfunden. Das musste Henye Bercinsky bitter erfahren, als sie aus dem polnisch orientierten Brest nach der Hochzeit in die Familie ihres Mannes ins weißrussische Pinsk kam: »When she came home as Mayshe's wife his people did not know what to make of her. (...) Then there was her curious way of speaking Yiddish in the Brisker dialect, in which ei is ai, au is oi. More curious still were her habits, her manners and her way of thinking.«9 Offenbar wurden die phonologischen Unterschiede der Vokale am stärksten als fremd empfunden, stärker als die ebenfalls vorhandenen lexikalischen und syntaktischen Differenzen.10
6 7 8
9 10
Franz J. Beranek: Jiddisch. In: Deutsche Philologie im Aufriß, Bd. 1. Berlin u. a. 1952, Sp. 1 5 5 1 - 1 5 9 0 . Beranek: Jiddisch, Sp. 1576. Marvin I. Herzog: Yiddish in the Ukraine: isoglosses and historical interferences. In: The Field of Yiddish, 3rd Collection. Studies in Language, Folklore, and Literature. Hg. von Marvin I. Herzog, Wita Ravid und Uriel Weinreich. London usw. 1969, S. 5 8 - 8 1 . Miriam Shomer Zunser: Yesterday. A Memoir of a Russian Jewish Family. New York 1978 [Nachdruck der 1. Auflage 1939], S. 64. Weinreich: Geographic Makeup, S. 82 argumentiert bei seiner Unterscheidung von weißrussischem und litauischem Jiddisch vor allem mit lexikalischen Unterschieden.
Regionen im Porträt
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An Henyes Beispiel wird besonders deutlich, dass die Sprache allein nur Teil eines anderen Lebensstils war. Henye beschäftigte sich mit Handarbeiten, während ihre Schwägerinnen dies als ihrem sozialen Status unangemessen betrachteten. Sie hatte andere Vorstellungen von körperlicher Hygiene: In den Augen ihrer neuen Umgebung wusch sie sich ständig. Außerdem bereitete sie sich nachts in der Küche ihre fremdartigen Speisen zu.
Ostjüdische Vielfalt in einer multikulturellen Umgebung Das ostjüdische Siedlungsgebiet war insgesamt gesehen multikulturell, vielsprachig und ethnisch gemischt. Die Ostjuden lebten im 19. Jahrhundert inmitten von Völkern, die sich in Sprache, Religion und Kultur unterschieden und von denen viele begannen, um Unabhängigkeit und politischen Einfluss zu kämpfen. Dort, wo die Juden inmitten rivalisierender Nationalitäten lebten, gerieten sie häufig ungewollt in den Konflikt. Die Juden selbst orientierten sich in der Regel nicht an den bäuerlichen, sondern an den städtischen Kulturen, erst an der deutschen, später zunehmend auch an der polnischen und der russischen. Sie selbst repräsentierten vielerorts die städtische Schicht schlechthin, sie waren »das Bürgertum« im Schtetl. Die erste »weltliche« Sprache, die sich die frühen Aufklärer zu Beginn des 19· Jahrhunderts aneigneten, war die deutsche. Das Jiddische galt ohnehin als deutscher Dialekt und die jiddische Sprache »hatte im Deutschen als literarische Sprache der Juden ihre vermeintlich natürliche Entsprechung«.11 Dieser Umstand beeinflusste auch die eher zur Akkulturation neigenden jüdischen Kaufleute. Wegen ihrer überregionalen, »bürgerlichen« Orientierung, die nicht selten auf die herrschende Ethnie in einem kolonisierten Gebiet zielte, gerieten sie in ihren Akkulturationsbestrebungen manchmal in Konflikte mit den Interessen der sie unmittelbar umgebenden ethnischen Gruppen. Zwischen 1848 und 1870 waren die assimilierten Juden im westlichen Galizien beispielsweise an der deutsch-bürgerlichen Kultur Wiens orientiert, während sie unter einer überwiegend polnischen Bevölkerung lebten. In den folgenden Jahrzehnten machte sich ein stärkerer Hang zur polnischen Kultur bemerkbar, was dazu führte, dass in manchen Lemberger Familien die Eltern untereinander noch deutsch, die Kinder aber bereits pol-
11
Jerzy Holzer: »Vom Orient die Fantasie, und in der Brust der Slawen Feuer...« Jüdisches Leben und Akkulturation im Lemberg des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Lemberg - Lwow - Lviv. Eine Stadt im Schnittpunkt europäischer Kulturen. Hg. von Thomas Held und Dirk Sawitzki. Köln usw. 1993, S. 7 5 - 8 8 , hier S. 80.
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Monica Rüthers und Desanka Schwara
nisch sprachen.12 Die Juden im östlichen Galizien waren dagegen von ruthenischen Bauern umgeben und neigten eher zur polnischen Kultur hin.13 Jene unter russischer Herrschaft wählten, sofern sie assimilationistischen Tendenzen folgten, die großrussische Kultur und vor allem Literatur zum Vorbild, nicht die sie umgebenden bäuerlichen Kulturen der Ukrainer, Weißrussen oder Litauer.14 Im ethnisch und kulturell einheitlicheren Kongresspolen wurde die polnische Nationalkultur zum Ziel der Anpassung. Nur die gegen Ende des Jahrhunderts zuwandernden russischen Juden hielten an der russischen Sprache fest.15 In den Grenzgebieten zu Preußen, beispielsweise in Kovno, dominierte zuweilen bereits die deutsche Kultur unter den Juden.16 Neben den drei Hauptregionen, die im 19· Jahrhundert unter verschiedene Herrschaftsverhältnisse fielen, gab es auch Differenzen innerhalb eines Herrschaftsbereichs. Die kulturellen Grenzen stimmten nicht mit den Staatsgrenzen überein. Eine Hauptursache für die beobachteten kulturellen Unterschiede allein innerhalb des russischen Ansiedlungsrayons ist die unterschiedliche Dichte der jüdischen Bevölkerung in den verschiedenen Provinzen. In Gegenden mit wenig Juden war der Einfluss der umgebenden Gesellschaft auf die jüdische Bevölkerung größer: »Da es in Konotop keine vornehmen jüdischen Familien gab, so bildete sich allmählich der Verkehr mit Nichtjuden aus, der sich bald recht freundschaftlich und rege gestaltete. (...) Durch diesen Ver-
12 13
Holzer: »Vom Orient...«, S. 79Vgl. auch Jerzy Holzer: Zur Frage der Akkulturation der Juden in Galizien im 19. und 20. Jahrhundert. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 37(1989) S. 2 1 7 227, hier S. 218: »Charakteristisch für die jüdische Bevölkerung des HabsburgerReichs war ein spezifisches kulturelles Profil und eine relativ zahlreiche Elite. Deren Angehörige assimilierten sich, meist an Deutsche, Polen oder Ungarn, blieben aber in allen Fällen der Wiener deutschen Kultur verbunden. Man sprach und las deutsch, man studierte an den deutsch-österreichichen Universitäten, vorwiegend in Wien, und unterhielt verwandtschaftliche Beziehungen dorthin.« 14 Shmarya Levin·. Jugend in Aufruhr. Berlin 1938, S. 106 f., schreibt über das weißrussische Minsk in den 1880er Jahren: »Dennoch war die Geistesrichtung in den oberen jüdischen Klassen ausgesprochen russisch. Die junge Generation erhielt eine russische Erziehung, die russische Literatur stand an erster Stelle, die russische Sprache war in den oberen jüdischen Schichten tief eingedrungen, die russischen Bücher begannen die hebräischen von den Regalen zu verdrängen.« 15 Lucy S. Dawidowicz: The Golden Tradition. Jewish Life and Thought in Eastern Europe. Northvale, N.J. 1989 [1967], S. 70. 16 Pauline Wengeroff: Memoiren einer Großmutter. Bilder aus der Kulturgeschichte der Juden Rußlands im 19. Jahrhundert. 2 Bde. in 1, Berlin 1913, hier II, S. 136.
Regionen im Porträt
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kehr schlichen sich unvermerkt auch >christliche< Sitten ins Schwiegerelternhaus ein. Es entstand ein Gemisch aus echt jüdischer Religiosität und nichtjüdischen Gebräuchen.«17 Die schnellere Akkulturation in diesen Gegenden beruhte nicht wie im Westen auf einem Gefühl kultureller Unterlegenheit, sondern auf dem praktischen Wert, den etwa die Kenntnis der russischen Sprache besaß.18
Polen juden unter wechselnder Herrschaft Die Juden verfügten seit dem Mittelalter über wertvolle Privilegien des polnischen Königs. Mit der Machtverschiebung vom König hin zum Adel verloren sie allmählich den Schutz im Handel, der ihnen erhebliche Zoll- und Steuervorteile gesichert hatte. Die jüdische Händlerschicht verarmte zusehends und musste sich mühsam ihren Lebensunterhalt sichern. Die Juden waren nun auf den Schutz der Grundherren statt des Königs angewiesen. Nach und nach gerieten sie in eine wirtschaftliche Mittlerstellung als Pächter von Adelsgütern und Priviligien der Adligen, wie zum Beispiel Brenn- und Schankrechten. Die jüdischen Gemeinden behielten aber ihre administrative Selbständigkeit. »Im Rahmen der intakten ständestaatlichen und agrargesellschaftlichen Ordnung ist diese von rechtlich-administrativer Ausgrenzung, sozialer Isolation und ökonomischer Mittlerfunktion geprägte Existenz der Juden bei allen, stets auch religiös begründeten Konflikten nicht prinzipiell zum Problem geworden.«19 1772,1793 und 1795 wurde das Großreich Polen-Litauen Stück für Stück unter Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt, bis es aufhörte zu bestehen. Polnische Politiker versuchten, die Interessen dieser Mächte und des aufstrebenden Frankreich gegeneinander auszuspielen, um wieder einen selbständigen Staat zu erhalten. Auf diesem Weg gelang 1807 die Gründung des - von Frankreich abhängigen - Herzogtums Warschau im Rahmen des
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Wengeroff: Memoiren II, S. 85. 1897 waren im Rayon 24,6% der Juden russisch alphabetisiert, dagegen nur 21,1 % der nichtjüd. Bev. In Cernigov betrug die Rate unter den jüdischen Männern zwischen 20 und 29 Jahren sogar 70,2%, in Grodno 53,1%, in Mogilev 59,3 % (Zipperstein: Jews of Odessa, S. 15).
19
Manfred Hildermeier: Die rechtliche Lage der jüdischen Bevölkerung im Zarenreich und in Polen: Einige vergleichende Aspekte. In: Juden in Ostmitteleuropa, S. 181-196,hier S. 184.
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Monica Rüthers und Desanka Schwara
Tilsiter Friedens, das aus dem größten Teil der preußischen Teilungserwerbungen bestand.20 Dieses übernahm 1807 den Code Napoleon, während in den russischen Gebieten das »Statut für die Juden« von 1804 galt. Wegen zunehmend restaurativer Tendenzen in Polen blieben die praktischen Maßnahmen fast gleich wie im zaristischen Russland, weil Polen auch das französische »decret infame« von 1808 übernahm: Den Juden sollte wegen »Unreife« die bereits wirksame rechtliche Gleichstellung auf 10 Jahre vorenthalten bleiben. Daraus folgte ein Dauerzustand von 50 Jahren mit immer mehr Beschränkungen.21 In Polen wurde hauptsächlich Getreide für den Export angebaut. Zu Beginn des 19- Jahrhunderts kam es wiederholt zu Preiseinbrüchen auf dem europäischen Getreidemarkt, weil wegen der hohen Weizenpreise in den Ausfuhrgebieten mehr angebaut und höher spekuliert worden war. Krieg und Kontinentalsperre führten 1806 zu einer Absatz- und Finanzkrise, ebenso die englischen Schutzzölle nach 1819· Die preußische Zollerhöhung für die Einfuhr von Getreide ließ den polnischen Getreideexport 1823 um die Hälfte sinken. Die Adelsgüter suchten Auswege aus dem drohenden Bankrott und stiegen auf die Alkoholproduktion um. Die Juden hatten oft schon ihre Posten als Gutspächter durch den Niedergang des Getreidehandels verloren. Jetzt setzte der Verdrängungswettbewerb im Branntweinsektor ein. Immer mehr Juden wurden aus den Dörfern vertrieben. 1808 verbot man ihnen, Land zu erwerben. 1812 wurde ihnen untersagt, Branntwein herzustellen und zu verkaufen. Dieses Verbot ließ sich nur schrittweise und nie ganz vollständig durchsetzen. Die Einschränkungen der Verdienstmöglichkeiten der Juden waren dennoch beträchtlich und gingen weiter als diejenigen des Statuts von 1804. Am Wiener Kongress 1815 wurde das sogenannte »Kongresspolen« als halbautonomes Königreich Polen der russischen Regierung zur Verwaltung unterstellt. Staatsoberhaupt war der russische Zar, der einen Statthalter entsandte. Die Judenpolitik in Polen hatte zum Ziel, die Juden zu »nützlichen« Bürgern zu erziehen und aus ihrer wirtschaftlichen und sozialen Sonderstellung sowie kulturellen Abgeschiedenheit herauszuholen. Dazu sollten weitere gesetzliche Beschränkungen beitragen. 1816 wurde der Alkoholverkauf an Bauern erschwert, 1844 ganz verboten. Schon 1830 waren lediglich zwölf Prozent der 1813 im Schankgewerbe tätigen Juden Übriggeblieben. Nur
20 21
Gotthold Rhode: Geschichte Polens. Ein Überblick. Darmstadt 1966, S. 333. Hildermeier: Die rechtliche Lage, S. 188f.
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noch sieben Prozent von ihnen lebten in Dörfern. Der Verdrängungswettbewerb hatte eine traditionelle Verbindung der polnischen Juden mit der dörflichen Gesellschaft gelöst.22 Hinzu kam die Beschneidung der Wohn- und Erwerbsmöglichkeiten in den Städten. 1818 wurden Judenviertel eingerichtet. Die Gemeindeorganisation, den Kahal, Symbol jüdischer Autonomie, schaffte man 1822 ab. Ebenso wurden die chevrot, die für soziale Belange zuständigen Gemeinschaften, verboten, vorab die »Heilige Gemeinschaft«, die für die Beerdigungen zuständige chevra kadisa. Allerdings fanden die Juden Möglichkeiten, dennoch ihre autonomen Selbstverwaltungsorgane am Leben zu erhalten, wenn auch illegal.23 Die rechtliche Gleichstellung der Juden erfolgte auf Anweisung der zaristischen Regierung im Jahre 1862: Sie hatte die Erlaubnis zum Landbesitz in Dörfern zur Folge, das Recht auf Niederlassung in Städten, Handels- und Gewerbefreiheit und die Gleichstellung vor Gericht. Polen hatte damit unter russischer Herrschaft eine weit fortschrittlichere Judengesetzgebung als Russland selbst, bis dann 1882 die diskriminierende Gesetzgebung wieder auf den gesamten zarischen Herrschaftsbereich ausgedehnt wurde.24 Polnisches Judentum im Wandel »Das Stück Erde, auf dem ich geboren wurde, zeichnet sich nicht durch besonderen landschaftlichen Reiz aus. Es ist einförmige Ebene, doch arbeitsam wie das Rind seiner Äcker, die im Winter hoch mit wärmendem Schnee, im Sommer dicht mit den lichtgelben Ähren reifen Brotgetreides bedeckt sind. Das Land ist arm an Wald, noch ärmer an Wasser. Und doch trage ich das einförmige Bild dieses flachen Landes ebenso in mir wie das ehrliche Gesicht meines Vaters; und ich muß es von Zeit zu Zeit besuchen wie meine alte Mutter, muß seine Luft einatmen. Doch ein Blick darauf genügt mir. Dieses Stück Erde liegt in Masovien in Polen.«25 Schalom Asch kam 1880 im polnischen Kutno zur Welt. Durch heimliche Lektüre deutscher Klassiker wurde er zum maskil. Die Lektüre und Kontakte
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Haumann: Geschichte der Ostjuden, S. 97. Guesnet: Polnische Juden; Haumann: Geschichte der Ostjuden, S. 84; Hildermeier: Die rechtliche Lage, S. 189. Hildermeier: Die rechtliche Lage, S. 192 f. Schalom Asch: Rückblick. In: ders.: Von den Vätern. Hg. von Siegfried Schmitz. Berlin usw. 1931, S. 295-334, hier S. 295.
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mit jüdischen Schriftstellern ermutigten ihn, selbst zu schreiben. Seine ersten Geschichten über das Leben im Schtetl waren düster. Mit der Zeit und aus der Distanz verklärten sich seine Darstellungen immer mehr. Bei seiner Landschaftsbeschreibung arbeitet er mit ähnlichen Metaphern wie Rose Ausländer. Das Zitat verrät eine Neigung zu Naturromantik und zum Symbolismus. Die Landschaft ist zugleich das Gesicht des Vaters und spendet Trost und Kraft wie die Mutter. Das Land ist arm, die Menschen sind ehrlich, doch ein Blick genügt. Hier hat er seine Wurzel, von der er sich wegentwickelt hat. Wirtschaftlich war Zentralpolen eine der wichtigsten Regionen Ostmitteleuropas und ethnisch und kulturell gesehen die Mitte des ehemaligen polnischen Großreiches. Im 19· Jahrhundert entwickelten sich Warschau und Lodz zu wichtigen Zentren der Industrialisierung. Die rasch wachsenden Städte in Polen boten der jüdischen Bevölkerung, die aus den Dörfern vertrieben wurde und deren traditionelle Berufszweige in eine Krise gerieten, neue wirtschaftliche Möglichkeiten. Dennoch verschärfte sich die soziale Polarisierung zwischen wenigen reichen Unternehmerfamilien und der Mehrheit der verarmenden Unterschichten. Der Hauptgrund für die im Vergleich zu Russland etwas vorteilhaftere Judengesetzgebung lag in der Befürchtung, die Juden könnten sich mit den Polen gegen die zaristische Obrigkeit zusammenschließen. Im Gegensatz zu Galizien und der Bukowina, aber auch zu Litauen und Weißrussland, waren die ethnischen Gegensätze in Polen weniger ausgeprägt. Seit den Kämpfen gegen die Teilungen überwog das Gefühl der nationalen Einheit, insbesondere unter der Fremdherrschaft. Hier gab es eine Tradition der jüdischen Identifikation mit polnischen Nationalinteressen, die auf den Kosciuszko-Aufstand 1794 zurückging und die am dreißigsten Jahrestag des Aufstandes von 1831 und beim Aufstand von 1863 noch einmal aufflammte.26 Wo die Lemberger Assimilierten das Vorbild ihres Lebensstils im fernen Wien sahen, waren die Warschauer »fortschrittlichen« Juden polnisch-national orientiert.27 Dahinter stand die Auffassung, die restriktive Judengesetzgebung und die Judenfeindlichkeit mancher Polen seien die Folge der russischen Unterdrückung und würden mit der Befreiung verschwinden. Die neuen geistigen Strömungen innerhalb des Judentums machten sich in Polen später bemerkbar als in Litauen, obwohl es näher an Deutschland lag. Die Haskala als Wegbereiterin politischer Ideen gewann hier viel gerin-
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Dawidowicz: Golden Tradition, S. 35. Dawidowicz: Golden Tradition, S. 34.
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geren Einfluss als in Litauen mit seiner langen Gelehrtentradition und in Galizien, wo sich die städtischen Eliten an der deutsch-bürgerlichen Kultur orientierten. Warschau wurde nie zu einem Zentrum der Aufklärung wie Wilna oder Lemberg. Die hiesige jüdische Führungsschicht neigte zur Assimilation an die polnische städtische Oberschicht, die in Wilna und Lemberg fehlte. Dadurch war die Kluft zwischen der assimilierten jüdischen Oberschicht und der nicht assimilierten Mehrheit der jüdischen Bevölkerung größer als der Abstand zwischen der religiös orientierten Führungsschicht und der übrigen jüdischen Einwohnerschaft in Litauen und Galizien. Insofern blieben auch die Zionisten und die Anhänger des Bundes in Polen von den Befürwortern der Assimilation in der Oberschicht getrennt. Warschau »Die Straße war voller Bewegung, voll von atmendem Leben. Sorglose Spaziergänger drängten sich auf dem Bürgersteig. Während die älteren Leute in aller Ruhe bummelten, benutzten junge Paare in Eile ihre Ellenbogen. Da waren Mädchen mit ihren Freunden, und Mädchen ohne Jungen, Mädchen mit jungen Männern, die den traditionellen Gabardin trugen, aber mit neumodischen, hübschen kleinen Käppchen und hohen glänzenden Stiefeln. Mädchen mt jungen Männern, die Straßenanzüge trugen - jeder hätte meinen können, sie wären Nichtjuden, und andere Mädchen mit jungen Männern, die wie Mischlinge aussahen, denn sie trugen Mäntel, die wie eine Kreuzung aus Gabardin und Gehrock waren, und hatten steife Kragen und steife Manschetten, von denen außer den Trägern keiner wußte, daß sie aus Pappmache waren. (...) Unter den drängenden Menschen waren auch viele sündige junge Leute, die dabei waren, den Schabbes zu brechen; sie eilten in fremde Viertel, wo sie heimlich die Straßenbahn bestiegen, die sie zu den entfernten Bagatell-Gärten brachten. Die Nicht-Orthodoxen eilten zu den herrlichen Sächsischen Gärten, wo ein Schild >Kein Zutritt für Juden, die Gabardin tragen, und HundeSeher von Lublin< betete und den größten Teil des Tages zubrachte (...) Heute ist der Czwartek - ähnlich wie alle umherliegenden Gassen - ausschließlich von Juden bewohnt und zieht sich bis zur Lubartowska hin, der längsten Straße des Lubliner neuen Ghetto. Diese Lubartowskagasse macht einen gar sonderbaren Eindruck. Neben kleinen Buden stehen hier vierstöckige Häuser mit modernen Fassaden und geben dem Viertel den Anschein einer Großstadt. Hier wohnen auch die reicheren orthodoxen Juden, die Kaufleute, die ihre Engrosgeschäfte und Magazine in derselben Gasse haben. Die Straße ist voll mit Menschen, alles handelt hier, denn hier ist die Börse für allerhand Waren wie auch für Rubel und Kronen, die in der Okkupationszeit ein beliebtes Spekulationsobjekt bildeten. Träger,
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1915. In: 2ydzi w Maiopolsce. Studia ζ dziejow osadnictwa i zycia spolecznego. Przemysl 1991, S. 191-206; Urbafiski, S. 41 f. Szabat: Szkolnictwo zydowskie, S. 201. Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem (im Folgenden CAHJP),JCA72 (8).
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mit Stricken umgürtet, stehen bei den Läden und warten auf Arbeit. Es sind starke jüdische Männer mit gesunden Händen, ein Gegenstück zu den engbrüstigen Talmudgelehrten, die wir in den Klausen und Lehrstuben der Szeroka antrafen. In einem Winkel neben einer Straßenbiegung steht ein Menschenbündel und spitzt die Ohren. Handelsangestellte, die für eine Weile das Geschäft verlassen, Mägde mit Körben und Kinder mit den Schultaschen umgeben einen blinden Mann, der mit einer wehmütigen Stimme altbekannte Lieder vorsingt und damit sich sein Brot verdient.«70 Majer Balaban schildert Lublin und die Geschichte seiner Juden um 1916. Die Beschreibung hat den Charakter eines Berichtes. Bataban, geboren 1877 in Lemberg, hatte dort Jura studiert und diente während des Ersten Weltkrieges als Feldrabbiner in Lublin. Zugleich war er Sachverständiger für die Juden betreffenden Fragen für die k.u.k. Besatzungsmacht im österreichischungarischen Militärgeneralgouvernement Polen.71 Sein Blick war der eines aufgeklärten, westlich gebildeten Juden. Er kritisierte in einem zwanzigseitigen Bericht an die Kultus- und Unterrichtsbehörde im Okkupationsgebiet vor allem das traditionelle jüdische Schulsystem, das er in Lublin noch ungebrochen antraf. Die jüdische Siedlung in Lublin, das Sitz eines wojewoda war, geht bis ins 15. Jahrhundert zurück.72 Im 16. Jahrhundert nahm die jüdische Bevölkerung stark zu.73 1602 lebten 2.000 Juden in Lublin. Die meisten Einnahmen kamen aus dem Handel und den Schenken der Umgebung. Aber Lublin war auch ein Hort der Gelehrsamkeit. Der berühmte Salomo Luria (1510-1573) leitete hier eine bedeutende jeStva, eine Talmud-Hochschule. Zu Beginn des
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Majer Bataban: Die Judenstadt von Lublin. Mit Zeichnungen von Richard Henker. Berlin 1919, S. 91 f., 99. Vgl. zu Lublin: Henryk Gawarecki: Ο dawnym Lublinie. Lublin 1974.
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Frank Michael Schuster: »Besser in einem halben Polen ganze Arbeit zu leisten, als in einem ganzen Polen halbe oder gar keine.« Anmerkungen zu einem Bericht Dr. Majer Batabans über eine Reise zu den jüdischen Gemeinden Polens während des Ersten Weltkriegs. Dt. unveröff. Manuskr., polnisch mit Dokumenten erschienen in: Kwartalnik Historii Zydow (ehem. Biuletyn 2IH) 1 (197), 2001, S. 2 7 - 7 2 . Zydzi w Lublinie. Materialy do dziejöw spofecznosci Zydowskiej Lublina. Hg. von Tadeusz Radzik. Lublin 1995.2ydzi Lubelscy. Materialy ζ sesji poswi?conej Zydom Lubelskim. Lublin, 1 4 - 1 6 grudzien 1994 r. Hg. von Wojcech Hawryluk und Grzegorz Linkowski. Lublin 1996; Zydzi w Lublinie. Tom II. Materialy do dziejöw spoiecznosci Zydowskiej Lublina. Hg. von Tadeusz Radzik. Lublin 1998.
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Baiaban: Lublin, S. 7.
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17. Jahrhunderts entstand eine Talmud-Akademie, deren jeweiliger Leiter vom König den Titel eines Rektors und die Unabhängigkeit vom Lubliner Rabbinat erhielt. Auch eine hebräische Druckerei wurde damals in Lublin eröffnet. Zur Entwicklung der jüdischen Gemeinde trugen die großen Märkte in Lublin im 16. und 17. Jahrhundert bei, auf denen Kaufleute aus ganz Europa erschienen und »Manufakturwaren aus Deutschland, Italien und Frankreich, Leinwand aus der Rheingegend, aus Flandern und Frankreich, Seiden und Samtwaren aus Italien und Frankreich, Teppiche aus Persien und der Türkei, Gewürze und Farben aus dem Orient, Pelze aus Litauen, Wein aus Ungarn, aus der Moldau und von der Insel Zypern, Salz aus Reußen und aus Wieliczka« feilboten.74 Die reichen jüdischen Kaufleute mieteten immer häufiger in den Klosterhäusern und Adelspalästen der Innenstadt Wohnungen, was den Unwillen der christlichen Konkurrenten erregte und zu TUmulten führte. Der Kosakenaufstand 1648 brachte auch über die Stadt Lublin und besonders die Juden viel Unglück. 1656 wurde Lublin von den Schweden erobert und das Judenviertel, das etwas außerhalb auf dem Schlossberg lag, in Brand gesteckt. Die Überlebenden zogen vorübergehend in die Stadt, wollten sie dann aber nicht mehr verlassen. Ein Streit über die Niederlassung der Juden brach los und wurde erst 1761 entschieden: Die Juden mussten Lublin verlassen. Sie ließen sich wieder in der Nähe des Schlosses nieder. Die Österreicher, die 1795 Lublin einnahmen, vertrieben die noch verbliebenen Juden aus der inneren Stadt. 1815 kam Lublin zu Russisch-Polen, aber bis zu den Reformen des Grafen Wielopolski 1862 durften Juden dort nicht mehr wohnen. Nach den Reformen kehrten sie in die Stadt zurück und kauften hier die meisten Häuser, so dass fast die ganze Altstadt zum Ghetto wurde. Für die jüdische Autonomie in Polen spielte Lublin eine wichtige Rolle. Der »Judenreichstag« tagte in der Zeit von 1580 bis 1623 in Lublin einmal, später zweimal im Jahr in Lublin und Jarostaw. Es kamen Gesandte aus fünf, manchmal aus vier oder drei Provinzen, daher die Bezeichnung: Vaad chames, arba oder salos aracot. Die Spannungen verstärkten sich jeweils, wenn das polnische Krontribunal, das seit seiner Gründung 1578 in Lublin tagte, zusammenkam. Hier wurden alle die Juden betreffenden Ritualmordund Hostienschändungsprozesse in höchster Instanz entschieden. Die Ältesten der Judengemeinde mussten in den meisten Fällen bei den Richtern intervenieren, und wenn dies nichts half, mussten sie der Hinrichtung ihrer Glaubensgenossen beiwohnen. Die meisten Exekutionen wurden am
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Bataban: Lublin, S. 7.
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Schabbat vor der jesiva vollstreckt. Häufig folgte nach solchen Prozessen ein Pogrom, bei dem Juden verletzt, umgebracht oder bestohlen wurden.75 In Lublin waren die Chassidim die stärkste religiöse Gruppierung. Überregionales Aufsehen erregte der Zaddik Jakob Isaak, genannt »der Seher von Lublin«, als er 1815 zusammen mit zwei weiteren Zaddikim durch vereinte Gebete Gott veranlassen wollte, sofort den Messias zu senden.76 Seine Lehren wirkten noch lange nach. Für die jüdische Bevölkerung war unbestritten, dass ihre Kinder eine traditionelle Erziehung in cheder und jesiva erhalten mussten. Das änderte sich auch nicht wesentlich, als in der zweiten Hälfte des 19· Jahrhunderts moderne jüdische Schulen mit Unterricht in Russisch oder Polnisch gegründet wurden. 1897 entstand die erste hebräische Schule.77 Im Jahre 1904 waren in den privaten jüdischen Grundschulen mit allgemeinen Fächern 193 Schülerinnen und 19 Schüler eingeschrieben sowie in der öffentlichen jüdischen zweiklassigen Grundschule für Jungen 193 Schüler. Dagegen besuchten 1702 Kinder den cheder, davon 302 Mädchen.78 Im 19. Jahrhundert wurde Lublin erneut zu einem bedeutenden Handelszentrum, weil von hier aus der große russische Markt bedient werden konnte. Besonders der Großhandel blühte dank jüdischer Kaufleute. Die industrielle Entwicklung setzte erst mit der gesetzlichen Liberalisierung in den sechziger Jahren ein.79 In den siebziger Jahren entwickelte sich die Maschinen- und Landmaschinenindustrie und die erste Waagenfabrik entstand. Sie produzierten für den russischen Markt. Zwischen 1887 und 1900 expandierte die Industrie, und neue Branchen kamen hinzu: Zement, Dampfkessel und Süßwaren. Am bedeudendsten war die Entwicklung der Lebensmittelindustrie in der zweiten Hälfte des 19- Jahrhunderts. Den zweiten Platz hielt die Metallindustrie. Hinzu kamen noch die chemische und die Mineralölindustrie. Die Juden spielten bei einem Bevölkerungsanteil von rund der Hälfte eine wichtige Rolle in der Lubliner Wirtschaft. Sie waren in der Lebensmittelindustrie, der Gerberei, Seifen- und Kerzenherstellung und der Steinzeugherstellung tätig. Nach der Aufhebung des Tabakmonopols I 8 6 0 wurde die Tabakfabrik des Jakob Kronenberg mit 100 Angestellten gegründet, 1866
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Balaban: Lublin, S. 30. Vgl. dazu den Beitrag von Heiko Haumann in diesem Band. Ryszard Kucha: Ζ dziejow szkolnictwa zydowskiego w Lublinie w latach 1 8 6 4 1915. In: Zydziw Lublinie, S. 9 5 - 1 1 2 ; EJ Bd. 11, Sp. 543. Kucha: Ζ dziejow szkolnictwa zydowskiego, S. 102 und 108 f. Bronisaw Mikulec: Udzial zydöw w rozwoju Przemysu Lublina w latach 1 8 6 4 1914. In: Zydzi w Lublinie, S. 8 1 - 9 4 .
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und 1869 folgten weitere Gründungen jüdischer Unternehmer. Drei der vier ortsansässigen Gerbereien gehörten Juden. 1867 ging das Recht zur Herstellung alkoholischer Getränke von den evangelischen Inhabern in jüdische Hände über. In den sechziger Jahren gehörten drei, 1882 noch zwei der fünf Brauereien jüdischen Unternehmern.80 Dennoch: geprägt wurde das jüdische Leben von den ärmeren Schichten, zunehmend dabei von der Arbeiterschaft mit ihren Gewerkschaften und dem sozialistischen »Bund«.81
Litauen und Weißrussland: Juden im Zarenreich Nach den Teilungen des Großreiches Polen-Litauen fielen Litauen und die weißrussischen Gebiete als »westliche Gouvernements« unter russische Herrschaft. Während es im alten Polen bei der gelehrten Diskussion um die Emanzipation der Juden blieb, erhielten sie im Zarenreich zunächst die faktische Gleichstellung. Katharina die Große traf alle Maßnahmen zur Integration der Juden in die angestrebte Ständegesellschaft. Sie wurden 1783 und 1785 dem neu konstituierten Bürgertum zugeordnet und konnten an der städtischen Selbstverwaltung mitwirken, gegen den Protest der christlichen Kaufmannschaft in Weißrussland. Ein letztinstanzlicher Senatsentscheid des Jahres 1786 erklärte sie zu gleichberechtigten Bürgern.82 Diese Regelung war grundsätzlich fortschrittlicher als das österreichische Toleranzpatent von 1782. Für die Juden brachte sie aber eher Nachteile: Der Verlust des dauerhaften Wohnrechtes auf dem Land - als Bürger hatten sie in den Städten zu wohnen - überwog die Vorteile der rechtlichen Gleichstellung. Die Zwangsumsiedlung raubte vielen Juden die Existenzgrundlage. Von ihrer Absicht her handelte es sich aber nicht um eine gegen die Juden gerichtete Maßnahme, sondern um einen Integrationsversuch. Der russische »Ansiedlungsrayon« (certa osecüosti evreev) für die jüdische Bevölkerung bestand seit 1791. Den Juden war es untersagt, sich außerhalb ihrer bisherigen, durch die Teilungen an Russland gefallenen Siedlungsgebiete im Reich niederzulassen. Zweck war der Schutz der Moskauer Kaufleute vor der jüdischen Konkurrenz. Nicht nur für die Juden, sondern auch für andere Untertanen gab es keine volle Freizügigkeit.
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Mikulec: Udzial zydow, S. 83 ff. EJBd. 11, Sp. 542. Hildermeier: Die rechtliche Lage, S. 186.
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Weitere Maßnahmen der zarischen Regierung hatten die Assimilation der jüdischen Bevölkerung durch Erziehung zum Ziel. Dabei standen Verbote und Anreize im Vordergrund. Inden Statuten von 1804 und 1835 orientierte man sich am josephinischen Toleranzpatent für Galizien von 1789· Man schuf Anreize für den Besuch öffentlicher Schulen, erlaubte den Juden Handwerk und Handel, verbot aber die Schankpacht. Im frühen 19. Jahrhundert gab es mehrere landwirtschaftliche Kolonisationsprojekte in den neuen, südlichen Provinzen Russlands. Der Ansiedlungsrayon blieb jedoch bestehen; die Gleichberechtigung wurde an die Bedingung der Assimilation geknüpft. Die ständische Integration scheiterte. Die große Mehrheit der Juden schickte ihre Kinder weiterhin in religiöse Schulen. Der Kahal, die jüdische Gemeindeorganisation, bestand im Grunde auch nach seiner 1844 auf das ganze Reich ausgedehnten Abschaffung weiter: Seine Funktionen wurden im Zuge einer »innergemeindlichen Autoritätsverschiebung«83 von den Begräbnisgemeinschaften übernommen. Diese fielen 1882 ebenfalls unter das Verbot, existierten aber heimlich fort. Nach dem Ende des Krimkrieges 1856 wuchs mit dem schockartigen Bewusstwerden der eigenen technischen, wirtschaftlichen und sozialen »Rückständigkeit« der Druck auf den Zaren, einschneidende Maßnahmen gegen das jüdische Elend in den Städten des Rayons zu ergreifen. Es gab allerdings nur Ausnahmeregelungen für Privilegierte, Kaufleute erster Gilde, Akademiker, Handwerker und ab 1879 für alle Absolventen höherer Bildungsanstalten. Sie durften sich außerhalb des Ansiedlungsrayons niederlassen. Die Dorfjuden erhielten 1864 die Erlaubnis, Land zu pachten und außer Manufakturen auch Mühlen, Brennereien und Schenken zu betreiben. Das führte zu einer gewissen Erleichterung, nicht aber zur Gleichstellung. Die Reformen Alexanders II. leiteten in Russland im Vergleich zu Polen verspätet den Besuch öffentlicher Schulen und damit auch einen innerjüdischen geistigen Umbruch ein. Der wirtschaftliche Wandel begünstigte auch in Russland Unternehmer im Bereich Banken, Eisenbahnen, Fabriken.84 Die Pogrome, die auf die Ermordung des Reformzaren Alexander II. 1881 folgten, hatten Signalcharakter für die Juden im Russischen Reich. Sie ließen die Mehrzahl der Juden an der Möglichkeit der Assimilation zweifeln. Ab 1882 erließ die Regierung neue Gesetze zur Einschränkung der Juden, die sie wieder stärker an den Ansiedlungsrayon banden und zugleich ihre Vertreibung
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Guesnet: Juden in Polen, S. 226. Hildermeier: Die rechtliche Lage, S. 193·
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vom Dorf förderten, weil man jüdische Schankwirte als Ausbeuter der Bauern ansah. Ab 1887 galt ein Quotensystem in mittleren und höheren Bildungsanstalten, und der Zugang zur Advokatur war den Juden versperrt. In einer Nacht- und Nebelaktion wurden 1891 die Juden aus Moskau vertrieben.85 »Ich wurde in Mstislawl am zweiten Tage des Rosch-Haschanah 5621(10. September I860) geboren. Meine Geburtsstadt war die schönste Stadt im ganzen Gouvernement Mohilew. Mitten zwischen Fichten- und Birkenwäldern gelegen, sechzig Kilometer von der Eisenbahn entfernt, bot dieses stille Provinzstädtchen noch dasselbe Bild, wie ein Jahrhundert früher. Am Rande der Stadt floss die Wechra zwischen dichten Wäldern und breiten Wiesen. Dort, wo der Horizont diese Landschaft abschloß, schien mir in meiner Kindheit auch das Ende der Welt zu sein. Und noch in späteren Lebensjahren suchte ich in dem Frieden meiner Heimat häufig Zuflucht vor den Stürmen des Lebens.«86 Simon Dubnow, ein maskü und einer der Begründer der jüdischen Geschichtsschreibung, stammte aus Weißrussland Er beschreibt ein entlegenes Kindheitsidyll, dessen Begrenztheit durchaus auch metaphorisch zu verstehen ist. Die Stürme des Lebens sind in Abwandlung eines Schiller-Motivs typisch für einen maskil. Chaim Weizmann drückt die Distanz dadurch aus, dass er nicht weiß, ob es sein Heimatstädtchen Motol noch gibt: »Das Städtchen meiner Geburt, Motol, stand - und vielleicht steht es heute noch - am Ufer eines kleinen Flusses inmitten der weiten sumpfigen Ebene, die den größten Teil der Provinz Minsk und der angrenzenden weißrussischen Provinzen einnimmt. Diese Landschaft ist flach und offen, schwermütig und einförmig und doch mit ihren Flüssen, Seen und Wäldern nicht ganz ohne malerischen Reiz.«87 Die Landschaft hat immerhin eine menschliche Eigenschaft, sie ist schwermütig. Magische Qualitäten haben in diesen Landschaftsbeschreibungen nichts zu suchen, dennoch spielen sie für beide Autoren eine sinnstiftende Rolle. Den litauischen Juden wird ganz allgemein ein eigener Charakter nachgesagt, als »Litwaken« tauchen sie in Erinnerungen, in der jüdischen Literatur
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Hildermeier: Die rechtliche Lage, S. 195. Simon Dubnow: Mein Leben. Hg. von Elias Hurwicz. Berlin 1937, S. 13 f. Chaim Weizmann: Memoiren. Zürich 1953, S. 9 f.
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und im Witz auf.88 Diese Bezeichnung galt für jene eigentlich mehrheitlich weißrussischen Juden, die in der Folge der Missernten von 1867 und 1868 sowie der Pogrome und der zaristischen »Maigesetze« von 1882 über Litauen nach Polen einwanderten.89 Sie ließen sich überwiegend in den größeren Zentren wie Warschau und Lodz nieder und beschäftigten sich vor allem mit dem Handel zwischen Polen und Russland. Da die Zuwanderung dieser Juden nach Polen gleichzeitig mit den Russiflzierungsbemühungen zunahm, gerieten die Litwaken in den Verdacht, Werkzeuge der Russen zu sein. Sie behielten ihren Dialekt bei, in polnischen Ohren hatten sie eine »harte« Aussprache des Jiddischen, und gründeten eigene Bethäuser. Die Litwaken bilden etwa in Isaac Β. Singers Texten einen festen Typus. »Jascha lächelte über die kurzen Gewänder und steifen Hüte der Betenden (...) in Lublin sah man selten einen litauischen Juden, aber hier in Warschau gab es viele. Sie kleideten sich anders, sprachen anders, beteten anders. (...) Jascha hatte die litauischen Juden von früher Kindheit an als Halbjuden, als eine fremde Sekte betrachtet. Er konnte ihr Jiddisch kaum verstehen. Er sah glattrasierte Gesichter unter den Betern und dachte: Zu was sich den Bart scheren und dann beten? (...) auf der anderen Seite waren es gerade diese Juden im kurzen Rock und mit geschorenem Bart, die Polen russifizieren wollten oder zur Revolution aufriefen. (...) Das waren alles Radikale, Freimaurer, Atheisten, Internationalisten (...).«90 An anderer Stelle erzählt Isaac Singer von jüdischen Buchhaltern, die eigens aus Litauen nach Polen geholt worden waren, weil man russischsprachige Fachkräfte brauchte. »Diese Fremden, die bartlos waren und wie Christen gekleidet gingen, hielten sich selbst für aufgeklärt, in der Stadt aber galten sie als Ketzer. Einer von ihnen, David Sorkess, der das Rabbinerseminar in Schitomir besucht hatte, zitierte den Talmud ohne Respekt, rauchte am Schabbat und schrieb Gedichte auf hebräisch. Die Frau von Schallt, einem anderen Angestellten, der aus Wilna gekommen war, ging barhäuptig, das orthodoxe Ritual mißachtend.«91
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Zum litauischen Judentum vgl. Nancy Schoenburg, Stuart Schoenburg: Lithuanian Jewish Communities. New York 1991; Masha Greenbaum: The Jews of Lithuania. A history of a remarkable community 1 3 1 6 - 1 9 4 5 . Jerusalem 1995. Zum »Litwaken-Mythos« vgl. Guesnet: Juden in Polen, S. 61 ff.
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Vgl. hierzu auch Fuks: Zydzi w Warszawie, S. 2 57 f. Isaac Β. Singer: Der Zauberer von Lublin. Reinbek 1979, S. 1 4 7 - 1 4 9 . Isaac Β. Singer: Das Landgut. 9. Aufl., München 1993, S. 58.
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Die litauisch-weißrussischen Juden unterschieden sich von den übrigen aschkenasischen Juden in ihrer Sprache, im kulinarischen Geschmack und der Zubereitung der Gerichte, sie sprachen den Segen über den Wein am Schabbat im Sitzen und standen beim Beten still, anstatt sich zu wiegen.92 Neben diesen äußerlichen Merkmalen schrieben ihnen die polnischen Juden bestimmte Charaktereigenschaften zu. Das Stereotyp des »Litwaken« war wohl das stärkste innerostjüdische Stereotyp überhaupt. Es übertrug sich sogar auf russische Juden, die gar nicht aus Litauen selbst kamen. So wurden die 1891 aus Moskau vertriebenen Juden in Lodz offenbar ebenfalls als »Litwaken« bezeichnet. »Anstoß nahm man an ihrer unjüdischen Lebensart. Russisch-jüdische Jungen und Mädchen stolzierten in ihren Schuluniformen durch jüdische Wohnviertel. Sie unterhielten sich in der fremden Sprache der Polizei und der Bürokratie. Die Animosität der polnischen Juden war allerdings nicht ganz frei von Neid. (...) Aber auch die älteren Litwaks, die Jiddisch sprachen und in die Synagoge gingen, wurden von den Einheimischen nicht akzeptiert. Ihr Jiddisch war sonderbar und - wenn sie schnell redeten - völlig unverständlich. Beim Beten und Lernen fehlte ihnen das charakteristisch Jüdische. (...) Traditionsbewußte Lodzer Juden waren empört: Die älteren Litwaks trugen kurze Kaftane, >Melonen< oder weiche Filzhüte. Die jüngeren waren glattrasiert. Beim Beten wiegten sie den Oberkörper nicht.«93 Sowohl wirtschaftliche wie historische Faktoren waren der Hintergrund für den besonderen Charakter des litauischen Judentums. Litauen war ein armes Land mit überwiegend bäuerlicher Bevölkerung. Die Juden bildeten auch in Litauen die Schicht der Pächter, Händler, Ladenbesitzer, Handwerker und Schankwirte. Im Vergleich zu den südlich gelegenen Regionen waren sie weniger von den Folgen der verheerenden Massaker im 17. Jahrhundert betroffen gewesen, auch nicht von den Haidamaken-Aufständen im 18. Jahrhundert. Sogar von den Pogromen am Ende des 19· Jahrhunderts blieb Litauen mit wenigen Ausnahmen verschont. All das gab den litauischen Juden ein Gefühl einer relativen Sicherheit und Stabilität, und deswegen sahen sie auch wenig Anlass, die Sprache und Kultur ihrer Umgebung anzunehmen. Sie behielten ihre traditionelle Lebensweise bei. Das Torastudium und die Einhaltung der jüdischen Gesetze hatten höchsten Wert in allen sozialen Schichten. Die Juden in den an Litauen grenzenden Gebieten, die »Polen« im
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Schoenburg: Lithuanian Jewish Communities, S. 3.
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Israel J. Singer: Aschkenasi, S. 214. Vgl. den Abschitt über Lodz.
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Westen und die »Wolhynier« im Süden, schrieben ihnen bestimmte Eigenschaften zu: Eine gewisse Gefühlskälte, da ihr Intellekt immer die Oberhand über die Gefühle behielt, Geistesgegenwart und Schärfe des Verstandes. Zur Eigenart des jüdischen Litauen gehört auch, dass der Chassidismus im nördlichen Litauen kaum Verbreitung fand, während sich in den weißrussischen Provinzen eine eigene Ausrichtung, der Chabad-Chassidismus mit Zentrum in Lubavic entwickelte.94 Diese Richtung unterschied sich vom polnischen und galizischen Chassidismus durch Ablehnung des Zaddik-Kultes und höhere Bewertung des Talmud-Studiums und der Gelehrten. Die Tradition der Talmudgelehrsamkeit in Litauen fand ihre prägende Persönlichkeit im Gaon 95 Elia ben Salomon Salman (1720-1797). Er lebte in Wilna und begründete eine eigene Studienmethode. Er war für streng rationalistisch-analytische Auslegung der heiligen Schriften, im Gegensatz zur weit verbreiteten kasuistischen Methode. Dazu förderte er das Studium der Wissenschaften, etwa der Grammatik, der Mathematik und Astronomie, immer im Dienste eines besseren Verständnisses der Schriften. Der Chassidismus, aber auch die ersten Anzeichen der jüdischen Aufklärung, der Haskala, erschienen dem Gaon und seinen Schülern als revolutionäre Bedrohung. Das Studium der Tora sahen sie als Fundament für das Fortbestehen des Judentums im Exil. Im Gegenzug schritten sie zur Verbreitung ihrer rationalistischen Studienmethoden in einer Reihe neu gegründeter Talmudakademien. Sie erweiterten das religiöse Studium zu einer Völksbewegung, dem die jungen Männer in kleineren Orten auch in Studiengruppen und im Selbststudium nachgehen konnten. Die großen Akademien übernahmen eine führende Rolle, die erste und berühmteste davon war die 1803 gegründetete jesiva von Volozin. Im Laufe des 19. Jahrhunderts folgten weitere in Telz, Slobodka und anderen Orten. Die Anziehungskraft dieser Anstalten reichte weit über Litauen hinaus. Offenbar gelang es, breite Schichten in dieses System des Studiums und damit der Teilhabe an jüdischen Werten und an sozialem Status einzubeziehen. Darin dürfte der Grund dafür liegen, dass der Chassidismus, der besonders auf die Bedürfnisse wenig gebildeter und sozial schlecht gestellter Schichten zugeschnitten war, in Litauen nicht Fuß fassen konnte. Die chabad-Richtung legte ebenfalls hohen Wert auf das Talmudstudium, passte den Chassidismus also den litauischen Gepflogen-
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Das Wort chabad ist aus den hebräischen Anfangsbuchstaben der Wörter Weisheit, Vernunft, Erkenntnis zusammengesetzt. Gaon: Ehrwürdiger Gelehrter, Excellenz, (geistige) Majestät.
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heiten an. Das änderte nichts daran, dass dieser Chassidismus vom Wilnaer Gaon und seinen Schülern erbittert bekämpft wurde. 96 Eine wichtige Rolle im kulturellen Leben der litauischen Juden spielte die hebräische Presse, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mehr und mehr an Bedeutung gewann. Im 19· Jahrhundert wurde Wilna zum Zentrum des jüdischen Buchdrucks und Verlagswesens. Der Einfluss der »Litwaken« machte sich auch außerhalb Litauens bemerkbar. Litauische Rabbiner und melamdim
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Lehrer - waren im ganzen aschkenasischen Kulturkreis als kompetent und gut ausgebildet angesehen. Die litauischen Talmud-Hochschulen hatten überregionale Anziehungskraft. Die Bücher, sowohl religiösen wie weltlichen Inhalts, die in Wilna gedruckt wurden, waren in der ganzen Diaspora verbreitet. 97 Wilna »Es soll damit nicht gesagt sein, daß in Minsk Thora und Awoda [Gesetzesstudien und Gottesdienst] weniger gelten als in anderen russischen Städten - in Wilna jedoch sind diese beiden Grundbestandtheile jüdischer Frömmigkeit so sehr in den Vordergrund gestellt, daß man daselbst trotz des lebhaftesten weltlichen Treibens den Eindruck empfängt, das Geistliche sei die Axe, um welche das Lebensrad kreise, und als sei der Schulhof der Centraipunkt der ganzen Stadt. (...) Dieser Schulhof ist ein ganzer Stadttheil, durchschnitten von verschiedenen unregelmäßigen, kreuz und quer laufenden, schlechtgepflasterten, enger und nicht eben sehr reinlicher Straßen mit einem ganz unbeschreiblichen Häusergewirr meist uralter, massiver, wie alle nordischen Gebäude aus Backstein errichteter Häuser. (...) In allen diesen Häusern befinden sich allerdings auch viele Wohnungen, Wohnungen bis tief unter der Erde, ohne Luft und Licht. Zumeist jedoch umschließen diese langgestreckten, aller Architektur spottenden Häuser die verschiedenen Schulen, Klausen, Bet- und Lehrhäuser. Mehr als 30 Gotteshäuser befinden sich auf diesem Hofe.« 98
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Simon Dubnow: Geschichte des Chassidismus. 2 Bde., 2. Aufl. Berlin 1982, Bd. I, S. 177 f.; Haumann: Geschichte, S. 73. Vgl. hierzu Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Hg. im Auftrag des Leo Baeck Instituts von Michael Α Meyer unter Mitwirkung von Michael Brenner. Bd 1: Mordechai Breuer, Michael Graetz: 1600-1780. München 1996, S. 204 f. Auch: Susanne Marten-Finnis, Heather Valencia: Sprachinseln. Jiddische Publizistik in London, Wilna und Berlin 1880-1930. Köln usw. 1999. Isaac Rülf: Drei Tage in Jüdisch-Russland. Ein Cultur- und Sittenbild. Frankfurt a. M. 1882, S. 104,4.
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Der Rabbiner Isaac Rülf aus Memel verfasste seinen Reisebericht nach einer dreitägigen Fahrt im Jahre 1881 durch Litauen und Weißrussland. Seine Haltung war zionistisch, er war aufgeklärt und strich die Bildungs- und Assimilationsbestrebungen der Juden im Zarenreich hervor. Wilna beschrieb er in seinem »Cultur- und Sittenbild« als religiöses Zentrum. Früher Hauptstadt des Großfürstentums Litauen, wurde Wilna zu einem der bedeutendsten Zentren des jüdischen kulturellen und religiösen Lebens in Osteuropa.99 Juden ließen sich hier im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts nieder, nach Angaben einiger Geschichtsschreiber sogar schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts. In Litauen, seit 1386 in Personalunion mit Polen verbunden, herrschten damals besonders günstige Bedingungen für Juden, namentlich im wirtschaftlichen Bereich. 1527 verlieh allerdings König Sigismund I. von Polen den christlichen Bürgern von Wilna ein Privileg, das den Juden verbot, in Wilna zu wohnen und Handel zu treiben. Dies hemmte aber die jüdische Einwanderung nicht. Nachdem es 1573 jedem Adligen gestattet wurde, auf seinem Grundbesitz Kirchen oder Synagogen zu bauen, begannen die Juden mit dem Bau der Großen Synagoge sowie jüdischer Läden und Häuser. 1593 gewährte Sigismund III. den Juden das Recht, nicht nur auf dem Grundbesitz der Adligen und in deren Häusern zu wohnen, sondern auch bei ihnen Häuser zu kaufen oder zu pachten. 1633 wurden die Rechte der Juden in Wilna festgesetzt. Danach war es ihnen gestattet, mit Edelmetallen, Manufakturwaren, Vieh und Fleisch Handel zu treiben, sich mit Handwerken zu beschäftigen, wenn auch nur mit solchen, für die es in Wilna keine christlichen Zünfte gab. Im übrigen hatten sich die Juden auf bestimmte Straßen zu beschränken. Die Fenster der Wohnungen durften nicht zur Straße weisen. Weiter war ihnen verboten, für Christen Kleider zu nähen oder ihre Badeanstalten für Christen zur Verfügung zu stellen. 1635 fand auch in Wilna ein Pogrom statt. Um solchen Vorfällen vorzubeugen, wurde unter anderem beschlossen, Tore an beiden Enden der Straßen, in denen Juden wohnten, zu bauen. Als sich 1655 die Kosaken unter Chmel'nic'kyj zusammen mit russischen Truppen des Zaren Aleksej Michajlovic Wilna näherten, floh fast die ganze jüdische Bevölkerung. Die christlichen
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Zu Wilna vgL Israel Cohen: Wilna. Philadelphia 1943 ö e w i s h Communities Series 7); EJ Bd. 16, Sp. 138 ff.; Schoenburg, Schoenburg: Lithuanian Jewish Communities, S. 3 4 8 - 3 6 1 ; Henri Minczeles: Vilna, Vilnius. La Jerusalem de Lituanie. Paris 1993; Ein Ghetto im Osten - Wilna. 65 Bilder von M. Vorobeichic. Hg. von Emil Schaffner. Berlin 1984 (Reprint der Ausgabe von 1931).
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Bürger wandten sich an den Zaren mit der Bitte, alle Juden auszuweisen, da sie den christlichen Handwerkern und Kaufleuten schädlich seien. Der Zar befahl darauf 1658 die Vertreibung der Juden. Doch nach der Rückeroberung der Stadt durch die Polen im Jahre 1661 wurden den Juden ihre Rechte wieder eingeräumt. Während des Nordischen Krieges von 1700 bis 1721 litt Wilna stark unter der Besetzung von Russen und Schweden, unter Feuersbrunst und Hunger. Allein in einem Jahr starben 34.000 Menschen an Hunger, darunter 4.000 Juden. Obwohl König August II. im Jahre 1720 die Rechte der Juden erneut bestätigte, zwang sie 1742 der Magistrat - der an sich bereits durch ein Versprechen gebunden war, sie vor Gewalttaten zu bewahren - , sich vertraglich zu Schutzgeldzahlungen zu verpflichten. Jede Art von Werbung war ihnen untersagt: Sie durften keine offenen Läden halten, außerhalb des Hauses keine Waren feilbieten und nur innerhalb des Judenviertels wohnen. Eine Verfügung des Königs räumte ihnen 1747 wieder die früheren Rechte ein. Als bei der zweiten Teilung Polens Wilna an Russland fiel, verfügte der russische Statthalter, General Repnin, den Juden ihre Rechte zu belassen. Die Wohnrechtsbeschränkungen entfielen allerdings erst 1861, parallel zur Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland. Auf der Grundlage der rationalistischen Denktradition fand auch die Haskala in Litauen ihre glühendsten Anhänger. Wilna hieß gemeinhin das »litauische Jerusalem«. Hier hatte im 18. Jahrhundert der berühmte Gaon Elia gelebt, hier gruppierten sich um den berühmten »Schulhof« Dutzende von kleinen und großen Bethäusern, hier gab es große Druckereien. Wilna wurde zur Hochburg der jüdischen Aufklärung in Osteuropa. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts unterstützten die maskilim die Bildungsreformen der zarischen Regierung. Die ersten Lehrer am 1847 gegründeten Rabbinerseminar waren berühmte Vertreter der jüdischen Aufklärung. Ihr Ziel war weniger die Akkulturation an die russische als vielmehr die Renaissance jüdischer Kultur. Es waren bezeichnenderweise nicht die Kinder der traditionellen geistigreligösen jüdischen Oberschichten, die die öffentlichen Schulen, besonders aber das Rabbinerseminar in Wilna besuchten, sondern neben den Söhnen der maskilim selbst die Söhne der kaufmännischen Mittelschichten, die der Tradition offener und pragmatischer gegenüberstanden und hier für ihre Kinder eine lohnende Möglichkeit erblickten, in der nichtjüdischen Gesellschaft Ansehen und berufliche Chancen zu erhalten.100 Denn jüdische Absolventen
100 Inge Blank: Haskalah und Emanzipation. Die nissisch-jüdische Intelligenz und
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höherer Bildunganstalten waren privilegiert, sie konnten sich beispielsweise außerhalb des Ansiedlungsrayons niederlassen, und es standen ihnen einige Laufbahnen im öffentlichen Dienst offen. Besondere Anziehungskraft besaßen diese Schulen deshalb auch für Söhne aus armen Familien, soweit sie religiös weniger gebunden waren. Ihre Ausbildung führte zu einer russischen Sozialisation, ihnen war die russische Literatur vertraut. Als in den späten fünfziger Jahren mehrere Absolventen des Rabbinerseminars dort selbst Lehrerstellen erhielten, kam es zu einem Generationenkonflikt. Sie gerieten in einen Gegensatz zu den germanophilen masküim der früheren Generation, die dem jüdischen Gelehrtenmilieu entstammten und sich autodidaktisch an Mendelssohns deutscher Bibelübersetzung, an Schiller und Kant gebildet hatten.101 Die jungen Lehrer waren russisch geprägt und trugen statt der traditionellen jüdischen Tracht die Uniform des russischen Unterrichtsministeriums.102 In den sechziger Jahren war der Generationenwechsel vollzogen. Jetzt ergaben sich Konflikte aus divergierenden Interessen der Lehrer, der Administration und der Schüler sowie aus der Position des Rabbinerseminars an der Schnittstelle zwischen jüdischer und russischer Gesellschaft, die einen Rechtfertigungsdruck nach beiden Seiten erzeugte.103 Im Vergleich zu Warschau blieben die assimilatorischen Tendenzen jedoch weit schwächer. Viel wichtiger wurden die politischen Interessen der Schüler des Rabbinerseminars, unter denen sich die ersten Anhänger des Sozialismus befanden. Denn je mehr das Rabbinerseminar den »Charakter eines russischen Gymnasiums mit besonderem, jüdischen Profil annahm, desto größer wurde der Einfluß russischer gesellschaftlicher Tendenzen, d.h. Anfang der siebziger Jahre der Einfluß der russischen Sozialrevolutionären Bewegung. (...) 1873 wurde das Rabbinerseminar geschlossen. Doch es wirkte weiter, denn es war ein Brennpunkt und Multiplikator der Modernisierung und der Säkularisierung jüdischer Tradition im Russischen Reich gewesen.«104
101 102
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die »jüdische Frage« am Vorabend der Epoche der »Großen Reformen«. In: Juden in Ostmitteleuropa. Hg. von Gotthold Rhode, Marburg a. d. Lahn 1989, S. 197231, hier S. 213 f. Blank: Haskalah und Emanzipation, S. 211 f. Verena Dohm: Das Rabbinerseminar in Wilna (1847-1873)· Zur Geschichte der ersten staatlichen höheren Schule für Juden im Russischen Reich. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 45 (1997) S. 379-399, hier S. 395. Dohm: Rabbinerseminar in Wilna, S. 396 f., 398. Dohm: Rabbinerseminar in Wilna, S. 399.
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In den achtziger Jahren hatte die neue jüdische intelligencija beträchtliches Gewicht im geistigen Leben der litauischen Juden. Im Gegensatz zu den assimilationsgeneigten Oberschichten in Warschau und Lemberg legte sie größeren Wert auf die jüdische Eigenart. Die Sprache der maskilim war das Hebräische, das sie erst wieder zu neuem Leben erwecken mussten. Das taten sie in aufklärerischen Zeitschriftenartikeln, in Gedichten, Erzählungen und privaten Briefen. Aber auch die jiddische Literatur wurde von ihnen gefördert, wenn auch anfangs aus rein praktischen Überlegungen: Mit ihren hebräischen Artikeln und Poemen konnten sie die aufklärerischen Ideen nur untereinander austauschen, denn die unteren Schichten verstanden die Sprache nicht gut genug, um solches zu lesen, und die religiös-gelehrte Oberschicht betrachtete die hebräische Sprache als heilig und las keine Texte weltlichen Inhalts, die sie »entweihten«. Die Schüler des Rabbinerseminars »setzten dem Erinnerungsgebot der traditionellen jüdischen Lehre ein Geschichtsbewußtsein entgegen« und gaben ihr Wissen als Lehrer, Rabbiner, Publizisten, Schriftsteller, Wissenschaftler, Sozialrevolutionäre und Zionisten weiter. »Die Seminaristen wurden die Begründer der neuen russisch-jüdischen Kultur.«105 Wie die Chassidim, so hatten sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auch Schüler des Gaon von Wilna in Palästina niedergelassen. Die jüdischen Siedlungen in Palästina wurden zur Grundlage für die Bewegung »Chibbat Zion« (»Zionsliebe«), die in Litauen zahlreiche Anhänger fand. Leitende Anhänger der zionistischen Bewegung stammten aus Litauen.106 Zentrum der zionistischen Bewegung in Litauen war erst Biaiystok, dann Minsk, wo 1902 die zweite Versammlung der russischen Zionisten stattfand, von 1905 bis 1912 schließlich Wilna. Die Zionisten führten die Bemühungen zur Wiederbelebung der hebräischen Sprache als Nationalsprache an. Sie verfassten aber nicht nur hebräische Texte wie die Aufklärer, sondern gründeten jüdisch-weltliche Schulen, Refoim-chadarim,
in denen das Hebräische Unter-
richtssprache war.107 In Litauen lag weiterhin der Ursprung der jüdischen sozialistischen Bewegung. Der Grund für die innovative Rolle der litauischen Juden ist in der geistig regen Atmosphäre zu suchen, die im Umfeld des Rabbinerseminars von Wilna herrschte. Es gab einen Überhang an ausgebildeten jüdischen Intel-
105 Dohm: Rabbinerseminar in Wilna, S. 399. 106 Geschichte des jüdischen Volkes. Hg. von Haim Hillel Ben-Sasson. Bd. 3, Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Zürich 1980, S. 211 f. 107 Geschichte des jüdischen Volkes, S. 257.
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lektuellen ohne angemessenes Tätigkeitsfeld.108 Die traditionelle Rolle des »Lerners« kam für sie nicht mehr in Frage, aber die lange geistige Tradition des Rationalismus erleichterte den kritischen Zugriff und die Auseinandersetzung mit der aktuellen Lage. Ehemalige Schüler des Rabbinerseminars und Studenten der Realschule waren Mitglieder der ersten radikalen Zirkel und der jüdischen sozialdemokratischen Gruppe in Wilna.109 Hinzu kamen die zahlreichen weiteren jüdischen Studenten, die wegen ihrer politischen Aktivitäten von russischen Universitäten gewiesen worden waren und in Wilna, das keine Universität besaß, unter Polizeiaufsicht standen. Sie lasen die Schriften der russischen revolutionären Intelligenz und hatten Kontakt mit verhafteten Revolutionären, die hier in Verbannung lebten.110 Neben dieser Schicht regte sich auch eine größere Gruppe der weniger Gebildeten, der jüdischen Arbeiter und Handwerker, die sich mit den Intellektuellen verbanden. 1897 wurde schließlich in Wilna der »Allgemeine Jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Rußland« - kurz der »Bund« - gegründet.111 In den achtziger Jahren des 19- Jahrhunderts war die Lebensgrundlage in vielen Schtetln für die Juden zusammengebrochen. Besonders die Städte in den nordwestlichen Provinzen des Ansiedlungsrayons - Wilna, Grodno, Minsk, Vitebsk, Kovno und Mogilev - waren nach dem Verbot der jüdischen Erwerbstätigkeit auf dem Land 1882 und der Vertreibung der Juden aus Moskau 1891 von jüdischen Zuwanderern auf der Suche nach einem Auskommen übervölkert. Während die südlichen Provinzen des Ansiedlungsrayons - Bessarabien, Cherson, Ekaterinoslav und Taurien - mit 26,3 Prozent jüdischer Stadtbevölkerung am dünnsten besiedelt waren, gefolgt von den südwestlichen Provinzen Wolhynien, Podolien, Kiev, Cernigov und Poltava mit 38,1 Prozent, betrug der jüdische Bevölkerungsanteil in den Städten der nordwestlichen Provinzen 57,9 Prozent.112 Von allen Regionen im Ansied-
108 Nora Levin: While Messiah Tarried Jewish Socialist Movements, 1 8 7 1 - 1 9 1 7 . London usw. 1978, S. 231 f.; Dawidowicz: Golden Tradition, S. 4 3 f; Henry J. Tobias: The Jewish Bund in Russia. From Its Origins to 1905. Stanford, Cal. 1972, S. 8. 109 Levin: While Messiah Tarried, S. 231; Dawidowicz: Golden Tradition, S. 43 f. 110 Gottfried Schramm: Wilna und die Entstehung eines ostjüdischen Sozialismus 1 8 7 0 - 1 9 0 0 . In: Deutsche Juden und die Moderne. Hg. von Shulamit Volkov unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner. München 1994, S. 1 2 9 - 1 4 0 , hier S. 134. 111 Levin: While Messiah Tarried, S. 223 f.; Schramm: Wilna, S. 131. Vgl. Gertrud Pickhan: »Gegen den Strom.« Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund »Bund« in Polen 1 9 1 8 - 1 9 3 9 . Stuttgart, München 2001. 112 Tobias: Jewish Bund, S. 8.
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lungsrayon hatten diese Provinzen die geringsten natürlichen Ressourcen und waren industriell am wenigsten entwickelt.113 Litauen blieb überwiegend landwirtschaftlich orientiert und geriet damit auch im Zeitalter der Industrialisierung an die Peripherie der wirtschaftlichen Dynamik. Auf der anderen Seite brachten die neuen Verhältnisse wegen der verbesserten hygienischen Bedingungen und Nahrungsmittelversorgung eine hohe Bevölkerungszunahme unter der bäuerlichen Bevölkerung mit sich. Dadurch sowie als Folge der Abschaffung der Leibeigenschaft und der Erbteilung entstand ein Überschuss an schlechtbezahlten, landlosen Bauern und Tagelöhnern. Aus Mangel an Arbeitsplätzen wanderte ein Teil in die Städte.114 In den litauischen Städten herrschte die Kleinindustrie vor, am Ende des 19- Jahrhunderts waren nur 47,4 Prozent der 31.000 Arbeiter in Litauen in der Großindustrie tätig. Nach der Vertreibung der Juden aus den Dörfern und dem Verbot landwirtschaftlicher Tätigkeit 1882 verschärfte sich die Konkurrenzsituation in den Städten. 1897 waren 42,1 Prozent der Arbeiter Juden, 27,6 Prozent Litauer, 15,3 Prozent Polen, 6,3 Prozent Russen, 3 Prozent Weißrussen und 6,8 Prozent andere.115 Abschreckend niedrige Löhne wurden in den kleinen Betrieben gezahlt, die für den Lebensunterhalt nicht ausreichten. Die große Armut, besonders als Folge der Missernten von 1867 und 1868, sorgte für einen ständigen Strom von nicht nur jüdischen Auswanderern, deren Ziele zunächst Polen und die südlichen Provinzen des russischen Ansiedlungsrayons waren, später auch Westeuropa und Amerika. Es war also kein Zufall, dass die jüdische Arbeiterbewegung in Litauen entstand und Wilna über Jahre hin das Zentrum bildete. Der »Bund« wuchs schneller in Gebieten, in denen der Chassidismus nie richtig Fuß gefasst hatte. Möglicherweise lag das daran, dass hier die Arbeiterbewegung die erste Strömung war, die die Rechte und die Würde des einfachen Volkes vertrat.116 Im Gegensatz zu den Zionisten propagierte die diese Kreise unterstützende radikale intettigencija - nach einigem Schwanken - die jiddische Sprache und gründete 1895 in Wilna das »Jargon Komitee zur Verbreitung von guter Literatur unter jüdischen Arbeitern«.117 Die Arbeiter verspürten offenbar auch un-
113 Levin: While Messiah Tarried, S. 223. 114 Norbert Penkaitis: Agrarentwicklung in ütauen, 1 9 1 8 - 1 9 9 2 . Berlin 1994, S. 25 ff. Al'fonsos Ejdintas: Litovskaja önigracija ν strany severnoj i juznoj ameriki ν 1 8 6 8 - 1 9 4 0 . Vilnius 1989, S. 28 ff. 115 Ejdintas: Litovskaja e.migracija, S. 34. 116 Dawidowicz: Golden Tradition, S. 61. 117 Geschichte des jüdischen Volkes, S. 261; Mendelsohn, S. 118.
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abhängig von den Intellektuellen den Drang, ihre Lage zu verbessern, sonst wären die Streiks von 1895 und 1896 in Litauen nicht so zahlreich und erfolgreich verlaufen.118 Hinzu kam als Unterschied zu den anderen Regionen, dass die Bevölkerung in Litauen in der Regel mehr Bildung besaß als in Polen und Galizien und deshalb neuem Gedankengut gegenüber aufgeschlossener war.
Galizien und Bukowina juden in der Habsburgermonarchie Die Region Galizien befand sich seit 1772 überwiegend unter österreichischer Herrschaft. Zwischen 1815 und 1846 war Krakau Freie Stadt. 1772 lebten in Galizien 224.980 Juden, 9,6 Prozent der Gesamtbevölkerung, die sich sonst in Westgalizien mehrheitlich aus Polen und in Ostgalizien aus Ruthenen (Ukrainern) zusammensetzte. Die jüdische Bevölkerung verteilte sich auf 187 Städte, 93 Kleinstädte und 5.467 Dörfer.119 Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung verringerte sich nach 1772, weil nun die Möglichkeit bestand, nach Wien oder weiter nach Westen zu gehen. 1776 lebten noch insgesamt 144.200 Juden in Galizien, die in Westgalizien 3,1 Prozent, in Ostgalizien 8,7 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Die Städte Brody, Beiz, Rogatyn, Przemyslany, Deljatin und Sokal waren überwiegend jüdisch, neun andere Städte hatten eine jüdische Bevölkerungsmehrheit, und in sieben weiteren Städten, einschließlich Lemberg, waren ein Drittel oder mehr der Einwohner jüdisch. In den folgenden Jahren wuchs die jüdische Bevölkerung wieder, auf453.134 Personen im Jahr 1886 und auf 871.906 im Jahr 1910.120 Bis 1848 verfolgte die österreichische Judenpolitik drei Hauptziele: Die Verminderung der Anzahl jüdischer Untertanen durch Taufe, Germanisierung und Assimilation, die »Produktivierung« der Juden durch Verbot »unproduktiver« Berufszweige wie Pacht und Handel sowie weitere Maßnahmen, die der ethnischen Angleichung dienen sollten, wie rechtliche Gleichbehandlung mit anderen Minderheiten, Sondersteuern und Militärdienst.121 Das
118 Schramm: Wilna, S. 131 119 Diese und die folgenden Zahlen, sofern nicht anders vermerkt, gemäß Ν. M. Gelber: Galicia. In: Encyclopaedia Judaica. 16 Bde. Jerusalem 1 9 7 1 - 1 9 7 2 , Bd. 16, Supplements, Sp. 1 3 2 5 - 1 3 3 2 (im Folgenden EJ). 120 Mieczyslaw Jerzy Adamczyk: La Jeunesse Juive das des ecoles secondaires en Galicie autrichienne 1 8 4 8 - 1 9 1 4 . In: Revue des etudes juives 156 (1997) S. 1 7 3 189, hier S. 174. 121 Adamczyk: Jeunesse Juive, S. 175.
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österreichische Gesetz zur Regulierung der Juden von 1776 ließ den jüdischen Gemeinden zunächst ihre Autonomie. Dem neuen zwölfköpfigen Judenrat stand der Oberrabiner der Region vor. Sondersteuern wurden auf Schutz und Toleranz, auf Vermögen und Einkommen sowie auf Eheschließungen erhoben. Alle jüdischen Bettler mussten Galizien verlassen. Die galizischen Juden wurden von Kaiser Joseph II. in die Statuten zur Verbesserung der Lage der Juden von 1785 bis 1789 eingeschlossen. Die absolutistische österreichische Monarchie funktionierte auf der Grundlage von Standesprivilegien. Ausnahmen vom Ausschluss der Juden aus dem Staatsdienst betrafen Ämter im Bereich Handel, Banken und freie Berufe.122 Ziel war die Assimilation der Juden. Das Toleranzpatent von 1789 nannte 141 jüdische Gemeinden, die von je drei pamasim, wohlhabenden und angesehenen Juden, geleitet wurden, in Lemberg und Brody von deren sieben. Die Gemeindeautonomie, das Rabbinatsgericht und die Handwerkervereine waren nun abgeschafft. 1786 wurde der Judenrat aufgelöst, und die Vertreibung der Juden aus den Dörfern begann. Man verbot ihnen die Ausübung verschiedener Berufszweige wie Hausieren und die Arende,123 während man landwirtschaftliche Tätigkeit förderte. Ein Drittel der Juden verlor durch diese Bestimmungen seine Existenzgrundlage. Seit 1789 mussten sie Militärdienst leisten und sich deutsche Familiennamen zulegen. Auf koscherem Fleisch und Kerzen lag eine Steuer, die zur Grundlage des Zensuswahlrechts in den Gemeinden diente. Der Besuch der von der Regierung finanzierten öffentlichen Schulen für die Juden wurde obligatorisch. In 104 jüdischen Regierungsschulen unterrichteten jüdische Lehrer aus Böhmen und Deutschland, Anhänger der Assimilation. Die einheimische Bevölkerung mied diese Schulen so weit wie möglich. 1806 wurden sie alle geschlossen. Zu diesem Zeitpunkt besuchten sie 3.550 Schülerinnen und Schüler. Auch der Plan, aus den Juden Bauern zu machen, scheiterte: 1822 gab es nur 836 jüdische Bauern. Dagegen waren jüdische Ärzte gleichberechtigt, und die höheren Schulen und Universitäten standen den Juden offen. 1827 zählte man dennoch nur 158 jüdische Studenten. Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte, als sich in den Städten eine aufgeklärte und zur Assimilation an das deutschsprachige Bildungsbürgertum neigende jüdische Schicht bildete, kam es zum Umbruch.124
122 Raphael Mahler: The Social and Political Aspects of Haskalah in Galicia. In: Jewish Social Studies 1 (1946) S. 64-85, hier S. 67. 123 Pacht von Adelsgütern, Zöllen, Mühlen, Weihern, Schankrechten oder ähnlichem. 124 Adamczyk: Jeunesse Juive, S. 179 f.
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Polen, Ruthenen
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undJuden
»Ostgalizische Erde ist verschwenderisch und reich. Sie hat fettes öl, gelben Tabak, bleischweres Getreide, alte verträumte Wälder und Flüsse und Seen und vor allem schöne, gesunde Menschen: Ukrainer, Polen, Juden. Alle drei sehen sich ähnlich, trotz verschiedener Sitten und Gebräuche. Der ostgalizische Mensch ist schwerfällig, gutmütig, ein bisschen faul und fruchtbar wie seine Erde.«125 So schildert Alexander Granach seine Heimat. Er wurde 1890 in Wierzbowce in Galizien geboren. Granach verliess Galizien Richtung Westen, sein autobiographischer Roman »Da geht ein Mensch« steht in der Tradition der Maskil-Autobiographien von Karl Philipp Moritz über Salomon Maimon zu Jakob Fromer. Deren Protagonisten lassen die Welt der Kindheit und des Schtetls hinter sich, um ihr Glück im »fortschrittlicheren« Westen zu suchen, in Wien oder Berlin. Es sind Bildungsromane im wahrsten Sinne. Ihr Blick zurück fällt kritisch und verklärend zugleich aus. Granach hebt das Ursprüngliche, Sinnliche der Landschaft hervor, die Fruchtbarkeit und Naivität der bäuerlichen Bevölkerung, die im Gegensatz zu Intellektualität und bürgerlicher Kultur steht. Von der Landschaft oder der Erde zieht er eine direkte Verbindung zu den Menschen und ihren Eigenschaften. Aus dem Vielvölkermythos konstruiert er »den ostgalizischen Menschen«, der gewissermaßen aus derselben Erde wächst. Entsprachen die Juden diesem Bild? Die chasidut - der Chassidismus - , jene auf innere Umkehr und Lebensfreude setzende mystisch-religiöse Bewegung, breitete sich im 19· Jahrhundert trotz des Widerstandes der Rabbiner in allen Schichten der Bevölkerung weiter aus. Das lag an der besonderen sozialen Konstellation im galizischen Judentum: In den Handelszentren gab es eine kleine Schicht wohlhabender Kaufleute mit Bildungsmöglichkeiten und internationalen Kontakten, die zu Anhängern der jüdischen Aufklärung wurde. Ihnen stand die große Mehrheit der ärmeren und ganz armen Juden in den ländlichen Gebieten gegenüber, die ins Diesseits keine großen Hoffnungen mehr setzten. Ihnen bot der Chassidismus einen Ausweg und die Möglichkeit, im gemeinsamen Gebet und Feiern wenigstens einen Vorgeschmack jenseitiger Freuden zu gewinnen. Besonders in kleineren Städten mussten sich die Rabbiner mit dem Einfluss der örtlichen Zaddikim abfinden, deren Anhänger den Hauptteil ihrer
125 Alexander Granach: Da geht ein Mensch. Roman eines Lebens. München 1990, S. 7.
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Gemeinde bildeten. Besonders bedeutend war die Dynastie von Beiz, die 1816 von Schalom Rokeach begründet wurde. 1830 errichtete Chaim Halberstam den Hof in Sqc, und Israel Friedmann aus Ruzin ließ sich in Sadagora nieder, wo nach seinem Tod 1850 sein Sohn Abraham Jacob zum Nachfolger wurde. Sein zweiter Sohn residierte in Czortkow.126 Die Haskala, die jüdische Aufklärung, kam über das internationale Handelszentrum Brody nach Galizien und erlebte zwischen 1815 und 1850 ihre Hochblüte. Das soziale Leben war zuerst vom Kampf zwischen Chassidim und misnagdim bestimmt, später vom Widerstand beider Richtungen gegen die Haskala. Alle religiösen Kräfte kämpften vereint gegen Aufklärung und Assimilation. Die Aufklärer benutzten nicht nur Bildungsinstitutionen und Propaganda, sondern die Autorität der Regierungsinstitutionen und scheuten selbst vor Denunziationen nicht zurück. In den siebziger Jahren des 19- Jahrhunderts begannen die Beizer Chassidim, politisch aktiv zu werden. Der Rebbe von Beiz war der erste, der »moderne« Strategien im Kampf gegen die Modernisierung einsetzte. Er und seine Gefolgschaft nutzten die bürgerliche Gleichstellung der Juden, um die Orthodoxie zu stärken: Sie wählten einen strenggläubigen Rabbiner in den Reichsrat.127 Die Haskala war besonders in den größeren Städten einflussreich, in Brody, Lemberg, Tarnopol. Getragen wurde sie von den wohlhabenden und weitgereisten Kaufleuten, aber auch von deren Angestellten, von Steuerpächtern, Ärzten und Regierungsbeamten. Sprachenkenntnis und europäische Bildung erwiesen sich als wichtig für die Kaufleute im internationalen Handel, dessen Drehscheibe vor allem Brody war. Bildung genoss gegenüber der nichtjüdischen Bourgeoisie ein ebenso hohes Ansehen wie die europäische Kleidung. Die wohlhabenden Kaufleute unterstützten die maskilim, die
126 Zur Ökonomie und Lebensweise der chassidischen »Höfe« in Galizien vgl. David Assaf: Der königliche Hof und seine Mitglieder. Ein kleiner Staat im Staate. In: Zwischen Ost und West. Galizische Juden und Wien. Hg. von Gabriele KohlbauerFritz im Auftrag des Jüdischen Museums Wien. Wien 2000, S. 3 8 - 5 6 ; vom heutigen Zustand des »jüdischen >Adelsschlosses< in Sadagora« gibt der Reisebericht von Ernst Hofbauer mit Fotos von Lisa Weidmann einen Eindruck. Allerdings ist dieser sehr subjektive Bericht stark wertend und polarisierend, Quellen werden unkritisch zitiert und Mythen nicht hinterfragt, zahlreiche Namen und jiddische Ausdrücke sind entstellt wiedergegeben. Ernst Hofbauer, Lisa Weidmann: Verwehte Spuren. Von Lemberg bis Czernowitz: Ein Trümmerfeld der Erinnerungen. Wien 1999, S. 1 2 7 - 1 3 4 . 127 Dawidowicz: Golden Tradition, S. 34.
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intellektuellen Vertreter der Aufklärung, finanziell.128 Zu diesen gehörten zahlreiche Lehrer. Bei jener Rollenverteilung deutet sich ein sozialer Konflikt an. Die Aufklärer waren gegenüber der habsburgischen Obrigkeit politisch loyal und an ihrer Gleichberechtigung und Assimilation interessiert, zumal sie von der nachteiligen Judengesetzgebung nicht berührt wurden. Sie rechtfertigten ihre Haltung mit der frühkapitalistischen Argumentation, ihr Reichtum sei der verdiente Lohn harter Arbeit, während Armut durch Faulheit letztlich selbst verschuldet sei.129 Die meisten galizischen maskilim lebten in den drei Städten Brody, Tarnopol und Lemberg.130 Hier entstanden auch verschiedene Reformsynagogen. Als Brody seine herausragende Stellung als Freistadt verlor, begannen bereits um die Mitte des 19- Jahrhunderts die reichen Kaufleute abzuwandern, nach Lemberg und vor allem in das aufstrebende Odessa. Die Folge war der sichtliche Verfall Brodys.131
Lemberg »Diese Stadt heißt Lwow, Löwenberg und Lemberg, Berg des Leo, nach dem Sohn eines Ruthenenherzogs Danillo. Der lebte im dreizehnten Jahrhundert. Tatarische Plünderungen gingen über das Land. Nach hundert Jahren nahm der große Polenkönig Kasimir die Feste, zerstörte sie und baute in der Nähe das Lemberg von heute. Die Stadt wurde ganz polnisch. Sie wurde ein Völkerzentrum. Wer durch die Straßen geht, sieht es. Es gibt am großen Ringplatz eine russische Straße, eine Armenierstraße. An dem schönen Platz selbst, in dessen Mitte ein prächtiges Rathaus steht, stoße ich unter den alten feinen Häusern auf das eines venezianischen Gesandten. Die Stadt war zwischen Osten und Westen Stapelplatz und Umschlagsort. Spagnolische Juden, Sephardim, kamen herauf von Süden und ließen sich nieder. Dann deutsche Kolonisten und andere Völker, den Waren
128 Mahler: The Social and Political Aspects, S. 67 f. 129 Mahler: The Social and Political Aspects, S. 81. 130 Zipperstein: Jews of Odessa, S. 16; Michael John, Albert Lichtblau: Mythos »deutsche Kultur«. Jüdische Gemeinden in Galizien und der Bukowina. Zur unterschiedlichen Ausformung kultureller Identität. In: Studien zur Geschichte der Juden in Österreich. Hg. von Martha Keil und Eleonore Lappin. Bodenheim 1997 (Handbuch zur Geschichte der Juden in Österreich, Reihe B, Band 3), S. 8 1 - 1 2 2 . 131 Klaus Hödl: Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien usw. 1994, S. 14,16.
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und dem Gewinn folgend. Eine walachische Kirche schließt die Russenstraße ab.«132 Alfred Döblin besuchte Lemberg im Herbst 1924. Döblin, 1878 in Stettin geboren, war Arzt und Schriftsteller jüdischer Herkunft, der Judesein nur als Ausgrenzung erlebt hatte und »Lauheit, Bequemlichkeit und bürgerlichen Muff« der wohlhabenden, assimilierten deutschen Juden verabscheute. 1923 kam es im Berliner Scheunenviertel zu Pogromen. Döblin, aufgerüttelt, wollte »einmal feststellen, wer das eigentlich ist, die Juden« und unternahm eine »Reise in das Land meiner Väter«.'33 Seine Beschreibung von Lemberg legt Gewicht auf den kosmopolitischen Charakter der Stadt, auf das Exotische in der Nähe, die faszinierende Verbindung von östlicher und westlicher Kultur. Die Formulierungen anderer Autoren zeigen, dass es sich um Topoi handelt: um den Habsburgermythos, die Exotik der Seidenstraße und den kulturellen Brückenschlag. Eine jüdische Bevölkerung gab es in Lemberg seit der ruthenischen Fürstenzeit. Die ältesten polnischen Fürstenpriviliegien stammen aus den Jahren 1356 und 1364. Die Judengasse in Lemberg wird in einer Quelle aus dem Jahre 1387 genannt. Es gab zwei jüdische Gemeinden, eine in der Stadt selber, die andere außerhalb. Die Juden waren, ähnlich wie die Griechen und Armenier, im Handelszentrum Lemberg Vermittler zwischen Orient und Okzident. Unter polnischer Herrschaft waren die Könige Schutzherren der Juden.134 Während der Kosakenaufstände unter Chmel'nic'kyj zwischen 1648 und 1656 flüchteten alle Juden in die innere Stadt. Chmel'nic'kyj verlangte ihre Auslieferung, der Magistrat lehnte aber diese Forderung ab und zahlte, gemeinsam mit den Juden, ein großes Lösegeld an die Kosaken. Obwohl zunächst wohlwollend aufgenommen, stießen die Juden auch hier auf kaufmännische Konkurrenz, und es entwickelte sich ein Existenzkampf. Die Streitigkeiten endeten in gewalttätigen Ausschreitungen gegen die jüdische
132 Alfred Döblin: Reise in Polen. Ölten 1968, S. 190 f. Ausführlich zu Lemberg: Evrei vo L'vove. XIH-pervaja polovina XX veka. Sobytija, obScestvo, ljudi. Hg. von Sovmestnoe ukrainsko-amerikanskoe predprijatie Tekop. L'vov 1994; Lemberg Lwöw - Lviv, sowie die im folgenden zitierten Titel. 133 Alfred Döblin: Schriften zu Leben und Werk. Hg. von Erich Kleinschmidt. Ölten usw. 1986, S. 65,66. 134 Gabriele Kohlbauer-Fritz: Zur Geschichte der Juden in Lemberg. In: Lemberg/ L'viv 1 7 7 2 - 1 9 1 8 . Wiederbegegnung mit einer Landeshauptstadt der Donaumonarchie. Historisches Museum der Stadt Wien. Wien 1993, S. 1 7 - 2 1 , hier S. 17.
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Bevölkerung - 1664 kamen bei einem solchen Pogrom 102 Juden ums Leben, die meisten Häuser und Synagogen wurden in Brand gesteckt oder niedergerissen. 1759 erreichte in Lemberg die Debatte um die angeblichen Ritualmorde, die seit Jahrhundertbeginn in Polen aufgeflammt war, einen Höhepunkt. Papst Benedikt XIV. hatte eine Untersuchung angeordnet, die im wesentlichen in Lemberg, dem Sitz des Erzbischofs, durchgeführt wurde.135 Als die beiden beschuldigenden Bischöfe gegenüber den Juden ins Hintertreffen gerieten, bedienten sie sich der jüdisch-messianistischen Bewegung der Frankisten, die sich an ihren rabbinischen Gegnern rächen wollten, und »überführten« die Juden in einem abgekarteten Spiel des »Durstes nach Christenblut«.136 Dieses »Streitgespräch« fand in Lemberg statt und erregte großes Aufsehen. Trotz des Verrates der Frankisten verurteilte Papst Clemens XIII. die Blutbeschuldigung 1763. Allerdings beriefen sich deren Anhänger noch lange auf die Frankisten. Bei der ersten Teilung Polens kam Lemberg 1772 an Österreich. Die Stadt wies zu diesem Zeitpunkt die größte jüdische Bevölkerungsgruppe sämtlicher Städte der Donaumonarchie auf.137 Die österreichische Regierung bestimmte, dass die Juden von nun an nur mehr im Ghetto wohnen dürften. Diese Regelung galt bis 1867. Erst mit der Gleichberechtigung waren sie frei, sich überall niederzulassen. 1825 lebten in Lemberg 4.262 jüdische Familien, das waren 37% aller ansässigen Familien überhaupt.138 In der polnischen Zeit war Lemberg Sitz des Landesrabbiners wie auch einer jesiva, einer Talmudhochschule, in der Gelehrte von großem Namen wirkten. In der österreichischen Zeit begann die Haskala an Einfluss zu gewinnen. »Verallgemeinernd kann man behaupten, dass die Akkulturation in Lemberg im großen und ganzen ähnliche Tendenzen wie in Galizien überhaupt aufwies.«139 Zwanzig Jahre früher als in Krakau, nämlich bereits 1840, wurde ein fortschrittlicher »Deutsch-Jüdischer Betverein« gegründet. Das lag unter anderem an der Unterstützung der weltlichen Obrigkeit für die fortschrittlichen jüdischen Kräfte, weil in Ostgalizien der Chassidismus sehr
135 Heiko Haumann: Der »wahre Jakob«. Frankistischer Messianismus und religiöse Toleranz in Polen. In: Querdenken. Dissens und Toleranz im Wandel der Geschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Hans R. Guggisberg. Hg. von Michael Erbe u.a. Mannheim 1996, S. 441-460, hier S. 446-449. 136 Haumann: Der »wahre Jakob«, S. 448. 137 Holzer: »Vom Orient...«, S. 75. 138 Holzer: »Vom Orient...«, S. 75. 139 Holzer: »Vom Orient...«, S. 77.
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verbreitet war.140 Das Nebeneinander von aufgeklärten Juden, vor allem Kaufleuten, und Chassidim bestimmte das gesamte innerjüdische Leben in Galizien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Noch 1816 hatte der Rabbiner Jacob Meschullam Orenstein die Lemberger maskilim exkommuniziert, sein Verdikt aber unter dem Druck der Obrigkeit zurückziehen müssen. Die Habsburger waren an Aufklärung, vor allem aber Assimilation der jüdischen Untertanen interessiert und sahen die Chassidim als der jüdischen Jugend potenziell gefährliche »Sekte« an.141 Lemberg hatte als Zentrum der österreichisch-galizischen Verwaltung eine spezifische Sozialstruktur. Militärs und Beamte gesellten sich in großer Zahl zu dem aus der Handelstradition entstandenen christlichen Bürgerstand. Im Unterschied zu Krakau, das stark vom Adel geprägt wurde, dominierte hier die bürgerliche Schicht. Auch die Juden in Lemberg waren vom deutschsprachigen Bildungsbürgertum beeinflusst. Die Reformer gingen hier besonders radikal vor. Sie neigten zur deutschen Kultur und orientierten sich politisch und vor allem auch sozial an Wien und den Liberalen. Von 1842 bis 1846 wurde eine Reformsynagoge gebaut, »Deutsch-Israelitisches Bethaus« genannt. 1844 wählte man den Reformrabbiner Abraham Kohn aus Hohenems in Vorarlberg, der deutsch predigte. Dies stieß auf den Widerstand der traditionell orientierten Juden, die das Hebräische im Gottesdienst bevorzugten.142 Sie gingen aus Protest während des Gottesdienstes in der Synagoge umher und unterhielten sich besonders laut. Die Strenggläubigen organisierten ein Anti-Kohn-Komitee, um die Anstellung dieses »Deutschen, Ignoranten und trejhjak« zu verhindern. Aber wegen der Unterstützung der Reformer durch die Obrigkeit nützte das alles nichts. 1848 erreichte dann der Konflikt einen tragischen Höhepunkt: Abraham Kohn wurde mitsamt seiner Familie vergiftet. Der Fall konnte nie aufgeklärt werden.143 Bei der Entscheidung, sich an der deutschen oder an der polnischen Kultur zu orientieren, ging es immer auch darum, regionale Interessen in Wien durchzusetzen - um politische Allianzen und für die Juden um politische
140 Hanna Kozinska-Witt: Die Krakauer Jüdische Reformgemeinde Frankfurt a.M. usw. 1999, S. 191-193.
1864-1874.
141 Archiv Lemberg, 1 4 6 - 4 - 6 2 5 und 1 4 6 - 4 - 6 2 6 Über die Konfiszierung chassidischer Bücher 1 8 1 4 - 1 8 2 9 , 1 4 6 - 7 - 7 0 1 Über den Einfluss der chassidischen Sekte auf die jüdische Jugend, 1815-1816. 142 Holzer: »Vom Orient...«, S. 81 f. 143 Kozinska-Witt: Krakauer jüdische Reformgemeinde, S. 1 9 4 - 1 9 5 (auch zum Folgenden). »Trefnjak« kommt von treffe, unrein, dem Gegenbegriff zu koler.
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Partizipation überhaupt.144 Im Unterschied zu Krakau gab es in Lemberg seit 1867/1868 einen assimilatorischen politischen Verein, »Schomer Israel« (Wächter Israels), der proösterreichisch und antiföderalistisch ausgerichtet war. Nach 1870 machte sich ein stärkerer Hang zur polnischen Kultur bemerkbar.145 1883 wurde der propolnische Gegenverein »Agudat Achim« (Vereinigung der Brüder gegründet. Ausschlaggebend für diese Tendenz war die Tatsache, dass seit der Autonomie Galiziens in Schulen und Verwaltung die polnische Sprache dominierte und deshalb an politischer Bedeutung gewann. Integration in die nichtjüdische Gesellschaft schien besonders in dieser Sprache möglich. Auch die Reformsynagoge legte ihren Namen »Deutsch-israelitisches Bethaus« zu Beginn des 20. Jahrhunderts ab und nannte sich - in polnischer Sprache - »Fortschrittliche Synagoge«.146 Krakau »Hinter Lemberg beginnt Rußland, eine andere Welt. Das weit westlichere Krakau ist weniger österreichisch. Es blieb immer ein nationales Museum.«147 In der Wahrnehmung Joseph Roths wird der Bruch betont, nicht wie bei Alfred Döblin die Brückenfunktion. Krakau als »nationales Museum« entspricht der besonderen Stadtentwicklung im 19· Jahrhundert, von der noch die Rede sein wird. Die Krakauer jüdische Gemeinde ist eine der ältesten im heutigen Polen.148 Erstmals erwähnt wird die Judengasse schon 1304. Sie befand sich in der Nähe des Marktplatzes. Seit dem H.Jahrhundert spielte die jüdische Bevölkerung nachweislich eine wichtige Rolle: Jüdische Kaufleute und Bankiers waren am Wohlergehen des polnischen Königreiches wesentlich
144 Einen guten Überblick über die neuere Forschung bietet Focusing on Galicia: Jews, Poles, and Ukrainians 1 7 7 2 - 1 9 1 8 . Hg. von Israel Bartal u. a., London 1999 (= Polin 12). 145 Teresa Andlauer: Die jüdische Bevölkerung im Modernisierungsprozess Galiziens ( 1 8 6 7 - 1 9 1 4 ) . Frankfurt a. M. usw. 2001. 146 Hölzer: »Vom Orient...«, S. 84 f. 147 Joseph Roth: Lemberg die Stadt. Zitiert nach: Dein aschenes Haar Sulamith. Ostjüdische Geschichten. Hg. von Ulf Diederichs. München 1988, S. 337. 148 Zu Krakau vgl. Majer Bataban: Historja Zydow w Krakowie i na Kazimierzu 1 3 0 4 1868. Krakow 1991 (Reprint der Ausg. 1 9 3 1 - 1 9 3 6 ) ; Jehuda L Stein j u d e n in Krakau. Ein historischer Überblick 1 1 7 3 - 1 9 3 9 . Hg. von Erhard Roy Wiehn. Konstanz 1997; Andrzej Zbikowski: Zydzi Krakowscy i ich gmina w latach 1 8 6 9 - 1 9 1 9 . Warszawa 1994.
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beteiligt. Levko Ben Jordan, um nur den bekanntesten zu nennen, war Hofbankier von König Kasimir dem Großen. Als im Jahre 1400 die Krakauer Akademie gegründet und in der Judengasse untergebracht wurde, in zwei Häusern, die eine getaufte Jüdin der Stadt Krakau geschenkt hatte, war das Schicksal der Judengasse an dieser zentralen Lage besiegelt: Nach und nach wurden die jüdischen Häuser von der Stadt »gekauft«, bis die jüdische Gemeinde schließlich 1469 beide Synagogen und alle Wohlfahrtsinstitutionen der Jagiellonischen Akademie überlassen und sich in einem benachbarten Stadtviertel niederlassen musste. Man vermutet, dass der große Bibliotheksraum einst der Betraum der Synagoge war. Christliche Kaufleute, die aus Deutschland eingewandert waren, verlangten Maßnahmen gegen die Juden. Dabei wurden sie von den katholischen Synoden unterstützt. Sie wollten die Juden aus der Stadt vertreiben und so die jüdische Konkurrenz ausschalten. 1494 ging die neue Judengasse während des großen Feuers in Flammen auf. Die christliche Bürgerschaft nutzte die Gunst der Stunde. Sie bat König Johann Albert (Jan Olbracht), die Juden endgültig aus Krakau auszuweisen. Er teilte diesen Siedlungsflächen in der Vorstadt Kazimierz zu.149 Obwohl auch weiterhin Juden in Krakau lebten, war doch eine neue Zeit angebrochen. Kazimierz stand auch anderen jüdischen Flüchtlingen offen und wuchs in den folgenden Jahrzenten stark. Aus Böhmen und Schlesien, aus Wien und Italien kamen Vertriebene hierher. Als erste jüdische Gemeinde erlangte sie die Autonomie. Ihr Statut aus dem Jahre 1595, das alle wesentlichen Fragen des öffentlichen und privaten Lebens regelte, war wegweisend für andere Gemeinden in Polen und Litauen und hatte Geltung bis 1818.150 Nach langen Verhandlungen war es gelungen, Handelsverträge mit den christlichen Kaufleuten abzuschließen, in denen die Grenzen des jüdischen Handels festgelegt wurden. Im 17. Jahrhundert wuchsen aber wieder Intoleranz und Streitigkeiten. In diese Zeit fiel 1648 der Chmel'nic'kyj-Aufstand. Krakau wurde außerdem von den Schweden erobert und auf mehrere Jahre
149 Bozena Wyrozumska: Did King Jan Olbracht Banish the Jews from Cracow? In: The Jews in Poland. Vol. 1. Hg. von Andrzej K. Paluch. Cracow 1992, S. 2 7 - 3 7 ; Heidemarie Petersen: Die Rechtsstellung der Judengemeinden von Krakau und Prag um 1500. Beispiele jüdischer Existenz in Ostmitteleuropa. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 4 6 (1997) S. 6 3 - 7 7 (auch zum Folgenden). 150 Heidemarie Petersen: Jüdisches Selbstverständnis im städtischen Kontext. Die Gemeindeordnung der Krakauer Juden aus dem Jahr 1595. In: Krakau, Prag und Wien. Funktionen von Metropolen im frühmodernen Staat. Hg. von Marina Dmitrieva und Karen Lambrecht. Stuttgart 2000, S. 1 3 1 - 1 4 1 .
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besetzt. Nach deren Abmarsch flammte erneut der Konkurrenzkampf zwischen christlichen und jüdischen Kaufleuten auf, begleitet von Unruhen und Pogromen. Die schlimmsten fanden in den Jahren 1664 und 1682 statt. Beide Seiten suchten beim König und beim hohen Adel zu ihrem Recht zu kommen. Delegierte fuhren nach Warschau, königliche Komissionen kamen nach Krakau, bemüht, den ewigen Streit zu schlichten. Nach der ersten Teilung Polens 1772 blieb Krakau bei der Republik, Kazimierz wurde Österreich zugewiesen. Von ihrem Handelsort Krakau abgeschnitten zu sein, bedeutete für die Juden von Kazimierz den Ruin. Glücklicherweise hatten sie Erfolg mit ihren Gesuchen an Maria Theresia und Stanislaw August: 1776 wurde Kazimierz an Polen zurückgegeben. Nach der dritten Teilung 1795 fiel Kazimierz endgültig an Österreich, während Krakau eine scheinautonome Existenz als Freie Stadt führte und erst 1846 unter galizische Verwaltung kam. Der Anschluss an Österreich fiel in eine wirtschaftliche Krisenzeit. Innerhalb der Habsburgermonarchie, wo der Industrialisierungsprozess im Vergleich mit Deutschland oder Kongresspolen ohnehin verlangsamt verlief, bildete wiederum Galizien das Schlusslicht. Die Region verpasste um die Mitte des 19- Jahrhunderts den Anschluss und schaffte in der alles beherrschenden Landwirtschaft den Schritt von der Fronwirtschaft zur Lohnwirtschaft nicht. Die Bevölkerungsstruktur blieb quasi-feudal, auch in der Stadt Krakau.151 Strukturell war Krakau im 19· Jahrhundert ein Sonderfall, eine protoidustrielle Insel in einem sich industrialisierenden Umfeld. Grund für die besondere Sozialstruktur Krakaus war das überkommene sozio-ökonomische System, das sich nach dem Industriegesetz von 1859 nicht so schnell ändern ließ. Krakau zog als beliebter Kurort vor allem adlige Grundbesitzer an. Es wurde zur Dienstleistungsstadt mit Hotels, Krankenhäusern und zahlreichen Bediensteten.152 Schon seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in Krakau eine zur polnischen Kultur neigende jüdische Schicht von Kaufleuten. Bereits 1830 entstand eine jüdisch-polnische Schule, und am Ende der vierziger Jahre gab es eine Industrie- und Handelsschule für jüdische Studierende mit 300 bis 400 Schülern. Ein weiterer Hinweis auf eine polnisch orientierte jüdische Schicht ist die Teilnahme von jüdischen Kämpfern aus Krakau an den Aufständen von 1830 und 1846.
151 Jacek Purchla: Krakau unter österreichischer Herrschaft 1 8 4 6 - 1 9 1 8 . Wien usw. 1993, S. 31 ff. 152 Purchla: Krakau, S. 73.
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Die religiösen Reformen bewegten sich im allgemeinen galizischen Rhythmus. 1844 bildete sich in Krakau der erste Verein von Reformwilligen, von 1858 bis 1861 entstand eine neue Synagoge.153 Die Sozialstruktur der jüdischen Gemeinde von Krakau wies in ihrer Spaltung in Konservative und assimilatorisch geneigte Reformer große Ähnlichkeit mit der von Lemberg auf. Auch hier gab es ein aufgeklärtes Bildungsbürgertum, das nach praktikablen Formen der Integration in die galizische Gesellschaft suchte. An beiden Orten nutzten die Reformer die Unterstützung der weltlichen Obrigkeit und stellten die Chassidim als gefährliche Feinde der Integration und des Fortschritts dar. Die Gründung der Krakauer Tempelgemeinde im Jahre 1864 kann als Symptom für die Existenz einer solchen Elite gelten, die aus Ärzten, Kaufleuten und Intellektuellen bestand. Die Gründung eines Vereins war die zeitgemäße Form, nach außen hin als eigenständige Gruppe mit politischen Interessen aufzutreten und am politischen Geschehen des Landes teilzuhaben.154 Nach 1866 unterstützte der liberale Stadtpräsident die propolnische Orientierung der Juden in Krakau durch die Förderung der Schulen. Jene Tendenz nährte sich nicht zuletzt aus der großen Bedeutung, die Krakau in der polnischen Geschichte und Kultur hatte, und verstärkte sich noch nach der Autonomie Galiziens. Die Juden gingen bei der Aufstellung des Reichsratkandidaten 1873 sogar ein politisches Bündnis mit dem Adel ein.155 Juden im galizischen Konfliktfeld Die wirtschaftliche und politische Entwicklung in Galizien begünstigte in den siebziger Jahren die Entstehung einer neuen Elite europäisch-universitär gebildeter masküim und Befürwortern der Assimilation, die die Führung innerhalb der jüdischen Gemeinden übernahmen. Die Zahl der jüdischen Schüler auf den galizischen Mittelschulen stieg von 301 im Jahr 1856 auf 701 im Jahr 1867.156 Daneben wurden neue jüdische Bildungsanstalten gegründet.157 Somit entstanden zwei scharf voneinander getrennte jüdische Grup-
153 Kozinska-Witt: Krakauer jüdische Reformgemeinde, S. 6 7 - 7 2 154 Vgl. Kozinska-Witt: Krakauer jüdische Reformgemeinde, hier bes. die Interpretative Zusammenfassung, S. 289-298. 155 Kozinska-Witt: Krakauer jüdische Reformgemeinde, S. 165-183. 156 Weitere Zahlen bei Adamczyk: Jeunesse Juive, S. 184 ff. 157 Zur Akkulturation vgl. Jerzy Holzer: Akkulturation; ders: »Vom Orient...«; Teresa Andlauer: Hindernisse des Wandels. Juden in Österreichisch-Galizien und im Russischen Reich am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Auf-
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pen, denn Galizien mit der Bukowina war zugleich Hochburg des Chassidismus mit besonders vielen Anhängern in den wirtschaftlich vernachlässigten und wenig entwickelten ländlichen Gebieten. Kennzeichnend für die politische Zugehörigkeit zur Donaumonarchie war der hohe Grad an politischem Bewusstsein und politischer Aktivität beider Gruppen.158 Zur selben Zeit spielten ukrainische, polnische und die jüdische Nationalbewegungen eine immer wichtigere Rolle. Die polnischen Adligen hatten ihre Güter von jüdischen Verwaltern bewirtschaften lassen, während die ukrainische bäuerliche Bevölkerung die Landarbeit verrichtete. Diese Struktur blieb auch nach der Aufteilung Polens im habsburgischen Galizien bestehen.159 Die Juden fanden sich in der aufkommenden Geldökonomie und mit den Bedingungen nach der Abschaffung der Leibeigenschaft besser zurecht als die polnischen Adligen. Die Wanderung der jüdischen Bevölkerung vom Land in die Stadt, die im 18. und frühen 19- Jahrhundert überwogen hatte, kehrte sich nach der erlangten Gleichberechtigung im Habsburgerreich um, und viele Juden strebten als Pächter und Händler zurück aufs Land. In Galizien gab es gegen Ende des 19· Jahrhunderts weit mehr Juden auf dem Land und in den Dörfern als anderswo.160 Hier lebten sie inmitten der bäuerlichen ruthenischen Bevölkerung. Im konstitutionellen Habsburg verschärfte sich der Konflikt zwischen Ukrainern und Polen um politischen Einfluss. Von den polnischen Gutbesitzern wurden die Juden dazu benutzt, die ukrainischen bäuerlichen Wahlmänner zu bestechen oder unter wirtschaftlichen Druck zu setzen.161 Das machte sie bei den Bauern verhasster als die Polen selber. Das Bündnis der jüdischen mit der polnischen Bevölkerung zerbrach gegen Ende des Jahrhunderts. Während früher Polen und Ukrainer die Juden für ihre jeweils eigenen politischen Interessen einzunehmen versucht hatten, gerieten die Juden jetzt zwischen die Fronten dieses Konfliktes.
bruch der Gesellschaft im verordneten Staat. Rußland in der Spätphase des Zarenreichs. Hg. von Heiko Haumann und Stefan Plaggenborg. Frankfurt a. M. usw. 1994 (Menschen und Strukturen. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien 6), S. 4 3 - 7 0 ; dies.: Die jüdische Bevölkerung; Tomasz G^sowski: Miezdy gettem a swiatem. Dylematy ideöwe zydöw Galicyjskich na przelomie XIX i XX wieku. Krakau 1996; Piotr Wröbel: The Jews of Galicia under Austrian-Polish Rule, 1 8 6 9 1918. In: Austrian History Yearbook 25 (1994), S. 9 7 - 1 4 0 . 158 Wröbel: Jews, S. 139. 159 John-Paul Himka: Galician Villagers and the Ukrainian National Movement in the Nineteenth Century. Alberta 1988, S. 154. 160 Himka: Galician Villagers, S. 155. 161 Himka: Galician Villagers, S. 153.
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Den Juden war die Aussichtslosigkeit ihrer Lage bewusst. 1884 stellte die Zeitung der polnisch-assimilationistischen Bewegung ihr Erscheinen mit der Bemerkung ein, Juden könnten nur auswandern oder konvertieren. 1875 war in Przemysl die erste Vereinigung in Galizien für die Ansiedlung von Juden in Palästina gegründet worden. In den achtziger Jahren gewannen die »Chowewe Zion« (Freunde Zions) in Galizien an Einfluss. Erste zionistische Organisationen entstanden, welche die hebräische Sprache pflegten. Die eigenständige jüdisch-sozialistische Bewegung bot daneben für die vergleichsweise ungebildeten jüdischen Schichten eine weitere Möglichkeit einer nicht religiösen Neuorientierung. Sie knüpfte direkt an die Volkskultur an.162 Trotz des wachsenden jüdischen Selbstbewusstseins blieben polnisch orientierte Assimilationisten in leitenden Funktionen in den jüdischen Gemeinden und sorgten gemeinsam mit den Polen dafür, dass ihre Kandidaten bei den Parlamentswahlen erfolgreich waren. Bukowina
Nicht nur Alexander Granach schrieb dem Zauber der Landschaft prägende Kräfte zu. Im Westen an Galizien angrenzend und bis 1818 unter galizischer Verwaltung lag die »Grüne Mutter Bukowina Schmetterlinge im Haar Trink sagt die Sonne rote Melonenmilch weiße Kukuruzmilch ich machte sie süß Violette Föhrenzapfen Luftflügel Vögel und Laub Der Karpatenrücken väterlich
162 Holzer: »Vom Orient...«, S. 86.
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lädt dich ein dich zu tragen Vier Sprachen Viersprachenlieder Menschen
die sich verstehn.Luftmenschen< bei den Cafes herum, um einen Rubel zu verdienen und ihre Familie zu ernähren, aber es gibt nichts zu verdienen, und warum soll man auch einem nutzlosen Menschen, einem >LuftmenschenLuftmenschen< durch.«60 Gegen Ende des 19· Jahrhunderts bestanden in vielen Gemeinden »bis zu 40 Prozent der gesamten jüdischen Bevölkerung aus Familien sogenannter >LuftmenschenLuftmenschenvon der Luft< leben. In Wilno leben fast 95 % der Juden im Elend, in Berdyczew bestehen 75 % aus solchen, die keinen bestimmten Erwerbsberufhaben, und ebenso ist es in Warschau, Minsk, Kischinieff, Lublin, Lodz u.s.w. In den kleinen Städten und Flecken geht es den Juden noch schlimmer. Man kann sich leicht die Lage dieser armen Juden vorstellen, die in den kleinen Orten 50-80 % der Gesamtbevölkerung ausmachen.« 64
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Max Nordau: Zionistische Schriften. Köln usw. 1909, S. 118. Vgl. P.M. Baldwin: Liberalism, Nationalism, and Degeneration: The Case of Max Nordau. In: Central European History 13 (1980) S. 99-120. Während dieser Begriff in den meisten gängigen Nachschlagewerken fehlt (ζ. B. Georg Herlitz, Bruno Kirschner: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden. 2. Auflage. Nachdruck der 1. Auflage, Berlin 1927. Frankfurt a.M. 1987; Encyclopaedia Judaica. 16 Bde. Jerusalem 1971), kann man andernorts folgendes nachlesen: »Luftmensch (Ger. >man of the air< i.e., rootless person): Expression coined by Max Nordau to describe the large class of Jews of contemporary Ε Europe without stable or productive occupations who lived on peddling and petty speculation.« (The New Standard Jewish Encyclopedia. Ed.: Geoffrey Wigoder. 7. Auflage. New York, Oxford 1992, S. 609.) Ebenso geben nur wenige Wörterbücher eine Erklärung, um wen es sich bei den »Luftmenschen« handelt, (der Begriff fehlt ζ. B. in: Ronald Lötzsch: Jiddisches Wörterbuch. 2. Auflage. Mannheim etc. 1992; Salcia Landmann: Jiddisch. Das Abenteuer einer Sprache. Frankfurt a.M., Berlin 1988), in anderen erhalten wir über diese Bevölkerungsschicht folgende Auskunft: »der luftmentsh (G), a man without a means of support« (Arry Coldoff: A Yiddish Dictionary in Transliteration. Toronto 1988, S. 141) oder »luft-mens, nondescript, adam Seejn lo esek (Geschäft, DS) kavua (fest, bestehend, dauernd, DS); idler, batlan (Müßiggänger, unpraktischer Mensch, DS)« (Alexander Harkavy: Yiddish-English-Hebrew Dictionary. Reprint: 2nd edition New York 1928. New York 1988, S. 273). Die aussichtslosen Bemühungen der Luftmenschen um eine Lebensgrundlage kann man nicht zuletzt auch im slavischen Sprachgebrauch nachvollziehen: Polnisch bedeutet »do luftu«
Luftmenschen. Ein Leben in Armut
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weiter zurückverfolgt werden. Mendele Mojcher Sforim beschreibt die Einwohner des stetl, von dem er erzählen will: »Sie sind keine besonders tüchtigen Leute, sie leisten in der Welt nichts Weises. Kläglich genug, wie sie leben und sich mit Luft begnügen.« Die elende wirtschaftliche Lage wurde ebenfalls früh erkannt und literarisch verarbeitet: »In Schnorringen selber gibt es keinen Erwerb für sie, es wäre dann, daß sie einander mit dem Bettelsack besuchten. Will einer irgend ein Geschäft versuchen, zum Beispiel einen Laden eröffnen, so machen's ihm die übrigen Leute gleich nach, und es gibt dann so viel Läden wie Juden, Krämer wie Mist und nicht einen Kunden.« Ihre ganze Nahrung bezogen sie aus der nächstgrößeren Ortschaft, »eine Wunderhilfe« für Schnorringen. »Schnorringen entsendet gewöhnlich allerlei Arten von Personen dahin: Verschiedene Lehrer, Belfer, Makler, Luftmenschen, altbackene Schwiegersöhne und auch nagelneue, die erst die Kest verlassen haben. Leute von allen Arten, soviel das Herz nur verlangen mag: Leute mit Dokumenten, mit Krankheiten, feine Leute, Hämorrhoidarier, Vorbeter, Schoifer-Bläser, Frauen von allen Sorten: Vorsagerinnen, Klagefrauen, Besprecherinnen - die keine Kinder mehr kriegen; Weiber mit Eiern, mit Gänseschmalz, Federnschleißerinnen - die noch mitten im Kinderkriegen sind; dann ein Wirrwarr von jungen Männern, von Dienstmädchen, Mädeln >mit verhülltem KopfSchwankungLondonBaisse< in Papieren« - und man bekam »Promessen«, leere Versprechungen, halb umsonst zu kaufen. Ohne handfeste Möglichkeiten versuchten viele Arbeitslose mit »Wind-, Luft- und Papiergeschäften«® zu etwas Geld zu kommen. Während Mendel den stei/-Juden verkörpert, der in die Welt aufgebrochen ist, fest zu einem Wandel entschlossen, offen für alles Neue, bildet seine Frau den Kontrast zu ihm. Sie ist im Stetl geblieben, durchschaut die Unsichtbarkeit und Unsicherheit seiner »Geschäfte« und stellt sie der schlechtesten Ware und den niedrigsten Geschäften und Berufen gleich, die sie kennt: Lumpen. Sie assoziiert wiederholt
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Alejchem: Mendel, S. 16, 24, 35, 37,47,48.
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»alte Fetzen« und Lumpensammler mit Mendels »Geschäften«, - aber immerhin noch zu fassen und mehr schlecht als recht zu verkaufen. »Zweitens teile ich Dir mit, mein teurer Gemahl, daß Du, wie ich glaube, schon total verrückt bist; Du wirst bald anfangen, in den Gassen herumzurennen wie unser Stadtnarr. Es genügt dem Manne nicht, daß man ihn in Odessa kennt, in Jehupez und Bobrisk; er muß es noch fertig bringen, daß man in Warschau auch weiß, daß es auf der Welt einen Menachem Mendel gibt, welcher mit Narrenware handelt; zuerst hat er mit >London< gehandelt und jetzt handelt er mit alten Fetzen und allem möglichen Narrenwerk: mit >PapierenPorteflöhenWagenLiliputanernLumpenhändler< heißt ein Kleinhändler, der je nach dem Bedarfe der Bauernhöfe mit Waren aller Art, die er selbst auf dem Markte oder in kleinen Läden kauft, in den Dörfern herumzieht und diese Waren gegen Produkte der bäuerlichen Wirtschaft umtauscht.« Er wählte seinen Beruf nicht aus wirtschaftlicher Überlegung, sondern infolge seines Elends. »Seine ganze fixe Kapitalanlage besteht in einem einfachen Holzwagen und einem kleinen Pferdchen, mit welchen er in den Dörfern herumzieht. Auch dieses Kapital ist er gewöhnlich einem fürsorgenden Wucherer schuldig. Das zirkulierende Kapital beträgt gewöhnlich 3 - 1 0 Rubel, die in einem Tage umgeschlagen werden. Die Tätigkeit des Wochers beginnt früh Morgens. Da pflegt er seine Ware auf dem Markte einzukaufen: Eisenwerkzeuge, billige Kleidungsstücke, Tabak, Häringe u.s.w. Ein Teil dieser Waren wird oft in Kramläden verkauft, die ihrerseits als Arbeitgeber für kleine Alleinmeister auftreten.
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Rabinowitsch: Organisationen, S. 32 f.
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Mit dieser Bagage besteigt nun der >Lumpenhändler< seinen Wagen und zieht allein oder in Begleitung seiner Frau oder seines erwachsenen Sohnes in den benachbarten Dörfern herum. (...) Gewöhnlich funktioniert daher der >Lumpenhändler< nur im Sommer, zur Zeit der Feldarbeiten; im Winter braucht der Bauer Geld und bringt seine Produkte selbst auf den Markt. Nachdem der Tausch vollzogen ist, kehrt der >Lumpenhändler< spät abends nach Hause zurück, wo er oft von jüdischen Krämern, Hausierern und Hausierfrauen seines Stadtviertels erwartet wird, die ihm seine eingetauschten Waren (Federn, Geflügel, Eier u.s.w.) abnehmen. (...) Vom Laden und vom Hausierer wandert die Ware weiter. Die Krämer verkaufen sie in den peripherischen Stadtvierteln, wo dieses ganze jüdische Proletariat wohnt; während die Hausierer sie auf dem Markte, in Häusern der Konsumenten oder auf den Straßen verkaufen; ihr Arbeitstag ist nur durch die Dauer des Absatzes ihrer Waren bestimmt.«77 Nur wenige hatten einen bestimmten Kundenkreis. Die meisten mussten den Konsumenten förmlich nachspüren und waren auf seine mitleidige Gunst angewiesen. »Obst, Kartoffeln, das sie von Bauern auf dem Markt ankaufen oder Gebäck und billige Leckereien werden von ihnen vom Markte weg auf den Straßen in Körbchen herumgeschleppt.«78 Eben als dieses »Lasten schleppende« Bindeglied wurde der Lumpenhändler durch die modernen Transportmittel verdrängt. »Es ist zu erwarten, daß nach dem bevorstehenden Bau eines Eisenbahnzweiges nach Mohileff und der wahrscheinlich damit verbundenen Industrialisierung dieser Stadt diese Elemente durch den wachsenden Verkehr völlig aufgesogen sein werden, und niemand wird die Tätigkeit dieser armseligen Existenzen vermissen.«79 Spezifisch »jüdische« Erwerbszweige waren innerhalb des Ansiedlungsrayons zwei- bis viermal so stark besetzt wie außerhalb, und die Berufe waren rasch überfüllt. Als Folge davon fanden sich gerade in der certa zahlreiche Juden, die keinen festen Beruf hatten, »die heute als Makler, morgen als Schreiber, übermorgen als Lehrer tätig waren und die Max Nordau treffend als Luftmenschen bezeichnet hat.«80
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78 79 80
Rabinowitsch: Organisationen, S. 37 f. »Von den ca. 1.000 jüdischen Familien, die ich befragt habe, waren beschäftigt: als >Lumpenhändler< 20, Als Hausierer 107, davon Frauen 100, darunter Witwen 25, darunter Mädchen 5, als Kleinkrämer mit dem Absätze auf derselben Straße 72, davon Frauen 35, darunter Witwen 7.« (Rabinowitsch: Organisationen, S. 39). Rabinowitsch: Organisationen, S. 39. Rabinowitsch: Organisationen, S. 40. Ruppin: Soziologie, Band 1, S. 321.
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Lag traditionell das Ideal ostjüdischen Lebens für den Mann in lebenslangem Lernen,81 konnte davon zumindest in der zweiten Hälfte des 19- Jahrhunderts keine Rede mehr sein. Männer, Frauen und Kinder waren täglich auf der Suche nach Überlebensmöglichkeiten. Sie waren Handwerker, Heimarbeiter, Fabrikarbeiter, Hausierer, Lastträger, Schankwirte, Kutscher, Ärzte, Anwälte, Schnorrer, Bettler, Lumpensammler, melamdim und klezmorim. Die meisten hielten sich mit Handel oder mit Vermittlung von »Geschäften« über Wasser. Daneben waren sie in Berufen beschäftigt, die mit jüdischer Religion zusammenhängen: der Rabbiner, der sames und der sochet. Viele übten gleich mehrere Berufe aus, da durch die vielen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Schwankungen, denen die Juden ausgesetzt waren, e i η Beruf zur Sicherung der Existenz nicht ausreichte. »Viele Anstreicher, die gewöhnlich nur im Sommer Beschäftigung in ihrem Hauptberufe finden, beschäftigen sich im Winter mit Schneiderei, Galoschengießerei, Krämer waren oft daneben Schneider, Schuster, Taglöhner u.s.w.«82 Die Luftmenschen waren nicht Arme, sondern Verarmte. »Besonders hervorgehoben muß die unglaubliche Verbreitung der Berufslosigkeit bei den Juden werden. Zehn von Hundert der im Jahre 1911 in Wien verstorbenen Juden waren berufslose Luftmenschen. (...) Das jüdische Elend ist nicht anders als das nichtjüdische. Seine Darstellung erfolgt nicht, weil es ärger ist oder verbreiteter als jedes andere, sondern einfach, weil es da ist und dennoch absichtlich nicht zur Kenntnis genommen wird.«83 »Die Juden« bildeten keine »Wirtschaftsgruppe«, so gern dies auch immer wieder von der nichtjüdischen Umwelt angenommen wurde. »Sie mögen noch so sehr in jeder anderen Beziehung eine sichere Einheit darstellen, in ihren ökonomischen Verhältnissen sind sie ebensosehr untereinander geschichtet, wie die übrige Bevölkerung. (...) Die typischen Batlenjuden, Provisionsagenten, die jüdischen Protestler, Wanderschnorrer und das Heer der die kapitalistische Produktion nicht in hervorragender Weise fördernden jüdischen Luftproletarier.«84 Schnorrer nannte man Menschen, die sich oft auf Wanderschaft befanden. Jüdische Musikanten, die klezmorim, Bänkelsänger, die badchanim und
81 82 83 84
Blank: Haskalah, S. 221. Die Verwirklichung dieses Ideals dürfte ohnehin nur einem Teil der Juden möglich gewesen sein. Rabinowitsch: Organisationen, S. 41. Bruno Frei: Jüdisches Elend in Wien. Bilder und Daten. Wien, Berlin 1920, S. 23. Es handelt sich hauptsächlich um eingewanderte Ostjuden. Frei: Elend, S. 22.
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die Wanderprediger, die baldarser, gehörten zu dieser Berufsgruppe. Sie wanderten große Landbezirke ab, um alle jüdischen Gemeinden der Reihe nach aufzusuchen und sich in ihnen einige Tage aufzuhalten. Sie waren eine wichtige Quelle für allerlei Neuigkeiten, für politische Nachrichten, Entdekkungen und Erfindungen. Vielfach betätigten sie sich auch als Sadchanim, Heiratsvermittler. Schließlich waren sie die wichtigsten Träger von Volksanekdoten, Witzen und humoristischen Erzählungen. Von diesem beliebtesten Teil ihrer Tätigkeit, dem Erzählen von Schnurren - Jiddisch: snoren wurden sie snorer genannt. Als die Zeitung aufkam und moderne Verkehrsmittel mit der Zeitung zusammen die Grundlagen ihres früher wichtigen Berufs untergruben, wurden die »Schnorrer« zu Wanderbettlern. Seitdem bedeutet »schnorren« betteln. In der jiddischen Literatur und in Anekdoten fällt ihr selbstbewusstes Auftreten auf, was nicht sonderlich überrascht, da im Judentum der Reiche verpflichtet ist, den Armen zu unterstützen und der Arme ein Recht auf diese Unterstützung hat. Einheimische Bettler und auswärtige Schnorrer waren Konkurrenten. Die einen glaubten, Vorrechte zu haben, da sie immerhin hier zu Hause waren, allen bekannt, und es sich bei ihrer Bettelei schon um Gewohnheitsrecht handelte. Die anderen hingegen wähnten sich im Glauben, mit den Gaben für ihre Dienste als kluge und humorvolle Unterhalter entschädigt worden zu sein, die durch ihre zahlreichen Reiseerlebnisse ein reiches Repertoire an Geschichten hatten. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Bettler ihre Almosen abholten, fallt immer wieder auf und hat ebenfalls mit den religiösen Pflichten im Judentum zu tun.85 Viele Berichte bestätigen, dass das Geben und Nehmen eingespielt war. »Meanwhile the beggars make the rounds of houses and stores, for in most places Friday is the beggars' day. Each beggar has his regular beat and each household has its pile of coins ready, probably presided over by one of the children. Each beggar is known, and in turn knows the amount he may expect from each household. If he is given two kopeks where three are the rule, there will be no end to his rage and complaints. Sometimes food will be given instead of money, and a privileged beggar may be given both.«86 Die Rollenverteilung war klar bestimmt, und jeder hatte seinen Teil zu leisten. Armut wurde vor der Verbrei-
85 86
Desanka Schwara: Humor und Toleranz. 2. Auflage Köln usw. 2001, Kapitel »Hunger und Elend«, S. 9 9 - 1 0 3 . Mark Zborowski, Elizabeth Herzog: Life Is With People. The Culture of the Shtetl. New York 1967, S. 40.
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tung der jüdischen haskala nie mit Dummheit oder Faulheit gleichgesetzt; sie war Schicksal. Wer das Glück hatte, nicht davon betroffen zu sein, war verpflichtet, den weniger Glücklichen beizustehen. Erst mit aufklärerischem Gedankengut kam die Idee auf, es führten Wege aus der Armut heraus: Die Gesellschaft müsse diese Möglichkeiten anbieten und der Einzelne sie nutzen. Trotz des Gebots zu Mildtätigkeit und dem selbstbewussten Auftreten der Bettler und Schnorrer war die Abhängigkeit der Mittellosen von den wohlhabenderen Bevölkerungsschichten groß; sie waren ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Das laute Gepolter der Bettler und Schnorrer war ein Zeichen ihrer Ohnmacht. Wer auf Almosen angewiesen war, überlebte nur dank seinem jüdischen Nächsten. Während also die weltlich gebildete Schicht, durch ihren Zugang zu fremdem Gedankengut in Versuchung kam, sich anzupassen, verharrten ärmere, ungebildete Bevölkerungsteile in ihren herkömmlichen Lebensgewohnheiten. Aber die neuen Bettler, die aus dem Verarmungsprozess gewachsenen Bettler, hatten grundsätzlich eine andere Einstellung zum Leben und andere Erwartungen an das Dasein. Sie sehnten sich nach der gewohnten Umgebung, die sie unfreiwillig hinter sich gelassen hatten. Sforims Fischke etwa war in ein soziales Netz eingebunden gewesen und sehnte sich danach zurück, obwohl sein damaliger Beruf - er musste im Bad auf die Kleider der Badenden aufpassen - an der Schwelle von Beruf zu Bettelei stand. Aber er hatte eine Funktion und war allen bekannt. Erst durch die Wanderschaft wurde er zum Luftmenschen, ja zum Bettler. Was ihn von den eigentlichen, den anderen Bettlern, mit denen er herumzog, unterschied, war eben die Tatsache, dass er kein eigentlicher Bettler war. Erst durch das Verlassen seiner Heimatstadt war er mittellos geworden und musste zusehen, wie er sich den neuen Gegebenheiten anpassen konnte. Er hatte eine andere Einstellung zur Bettelei, besser gesagt, noch gar keine; während sich die übrigen Bettler, mit denen er herumzog, ihres Status bewusst waren, von ihrem Beruf zu leben verstanden, gelegentlich sogar darauf beharrten. Der »rote Berl« etwa war empört, als er von den Versuchen der Reichen hörte, die Bettler zu sozialisieren und in Fabriken arbeiten zu lassen. Warum sollen ausgerechnet die Armen plötzlich arbeiten müssen? Arbeiten denn die Reichen?87 In Galizien soll es 60-65.000 jüdische Bettler gegeben haben, die um Almosen von Stadt zu Stadt zogen. Andere Schätzungen geben die Zahl gar mit
87
Sforim: Fischke, S. 88 f.
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200.000 an.88 Sie lebten und bewegten sich in einer jüdischen Welt. Das Selbstverständnis der Bettler wurde durch den Modernisierungsprozess und durch den Wechsel vom Land in die Stadt erschüttert. Sforims Fischke kam mit den einschneidenden Neuerungen zunächst nicht zurecht. »Bei uns, in den jüdischen Städten gibt es richtige, niedere Häuser ohne Kunststücke, mit Türen, die auf die Straße gehen. Wenn du die Türe aufstößt, kommst du gleich in die Stube, brauchst keine langen Zeremonien zu machen und siehst die ganze Wirtschaft, alles, was man zu Essen und zum Schlafen braucht, vor dir. Brauchst du Wasser, so steht es gleich da, suchst du den Mülleimer, kannst du auch ihn sofort finden. Wasch dir die Hände und verrichte den Segensspruch, so viel du willst. Da ist der Hausherr, die Hausfrau und die ganze Familie. Sag: >Gott helf!Das ist ein jüdisches Haus!< (...) In Odessa sind aber die Häuser ganz verrückt eingerichtet und ungeheuer groß. Man kommt zuerst durch ein Tor in einen Hof. Hier muß man eine Treppe hinaufsteigen und eine Türe suchen. Und wenn man die Türe gefunden hat, so ist sie versperrt, dafür ist an ihr eine Klingel angebracht mit allerlei Kunststücken. Du stehst wie erschlagen vor der Tür, fühlst, daß du arm und niedrig bist und nach nichts aussiehst; dann faßt du dir ein Herz, und ergreifst mit großem Respekt den Klingelzug. Deine Hand zittert dabei, du ziehst die Klingel ganz leise und erschrickst sofort, wie wenn du ein grobes Wort gesagt hättest; und du gehst gleich wieder weg ,..«89 Die Armut und die aufgebrochenen sozialen Strukturen der jüdischen Gemeinden führten Männer und Frauen in Berufszweige, die ihnen zuvor weitgehend unbekannt waren.90 Hatten sie erst einmal den sozial sicheren Rahmen der Heimatgemeinde mit der Hoffnung auf Erwerbsmöglichkeiten anderswo verlassen, mussten sie sich in der Fremde den dortigen Gegebenheiten anpassen. Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts sollen in Lemberg 27 Prozent der Prostituierten jüdisch gewesen sein, in Krakau 29 Prozent.91 In Russland werden die Zahlen jüdischer Prostituierter 1892 mit
88
Klaus Hödl: Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien usw. 1994, S. 39.
89 90
Sforim, Fischke, S. 13 5. Vgl. auch Schwara: Kindheit und Jugend, S. 3 3 8 - 3 5 8 (teilweise sind im Folgenden daraus Formulierungen übernommen). Hödl: Bettler, S. 68.
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6,8 Prozent angegeben, dagegen waren 67,6 Prozent der Mädchen russischorthodox, 13,6 Prozent katholisch und 5,9 Prozent protestantisch. Diese Zahlen sind, besonders in Russland, obwohl hier die Angaben am niedrigsten sind, vorsichtig zu interpretieren:»(...) une jeune fille venue ä Moscou pour apprendre la Stenographie n'a trouve moyen de pouvoir y rester que de s'inscrire comme fille publique, attendu que la prostitution etait le seul metier accessible aux femmes de sa race. La malheureuse fut expulsee au moment ou la police apprit qu'elle n'exer?ait pas effectivement sa >professionPlutarchBuchstaben< dieser Worte versenken, die ihn anlächeln. Er soll mit Kawana, mit einer reinen >AbsichtHitzköpfige< Synagoge, denn hier beten fanatische, halbverrückte chassidische Sekten, tiefgläubige Männer wie etwa die Kotsker und Karliner, die mit Händen und Füßen wild um sich schlagen, die auf und ab laufen und ihre innere religiöse Glut mit den eigenen Schreien abkühlen.« Der »Hitzköpfigen« Synagoge gegenüber lag die »Kalte«. »Das ist ein Bauwerk, das einem selbst im Sommer das Mark in den Knochen gefrieren läßt.« Die Gläubigen, die hier beteten, waren »kalt«, die Gelehrten »vertrocknet und gefühllos«, sie waren aus Litauen eingewandert, die litväken. Doch alle diese verschiedenen Gruppen fanden wieder zusammen in ihrer gemeinsamen Liebe zur »alten« Synagoge. »Sie ist die älteste von allen. Wenn man sich ihr nähert, fällt einem auf, daß ganze Generationen vergessener Unglücklicher den Weg zu ihrem Eingang ausgetreten haben. Wenn man eintritt, spürt man, daß die Jahrhunderte dort ihren zornigen und verheerenden Atem zurückgelassen haben.« Den Zugang zur Vergangenheit ha-
223 Kahanowitsch: Maschber, S. 24.
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ben nur wenige - man ist auf sie angewiesen, als Bindeglied zur eigenen, durch den Wandel, dem man unterworfen war, nicht mehr vertrauten Welt. »Der lange Schlüssel, der mehrere Pfund wiegt, ist von einem früheren Meister kunstvoll gearbeitet worden. Man muß ihm mehrmals im Schlüsselloch drehen, und außer dem für die Synagoge verantwortlichen Synagogendiener ist niemand imstande, den Schlüssel in die richtige Position zu bringen.«224 Die gemeinsame Vergangenheit war es, die Erinnerung an sie, die die Menschen wieder vereinte. »Von der Höhe dieses Vorlesepults aus wurde früher der Bann über jene verhängt, die ihn verdient hatten. Von hier ertönte auch bei bestimmten Gelegenheiten der Klang des Widderhorns, mit dem ein himmlisches Gebot oder ein allgemeines Unglück verkündet wurde. Hier wurden große Männer nach ihrem Tod betrauert, und hier wurden auch neue Dekrete und Gebote der Gemeinde und seiner Kaiserlichen Majestät verlesen.« Bei Katastrophen war sie der Ort, an dem man zuerst Hilfe suchte, »wie zum Beispiel bei der Einberufung zur Armee, beim Auftauchen von Schergen oder wenn die Stadt von einem Unheil betroffen wurde, einer Heimsuchung - von der Cholera etwa oder einer Feuersbrunst. (...) Die Thora wird dort nicht studiert. Aus guten Gründen darf man dort auch nicht die Nacht verbringen. (...) Ein Heiliger hatte darin einmal für die Gemeinde gelitten und dabei großen Mut und Seelengröße bewiesen. Das verleiht dem Ort seine Würde und umgibt ihn mit einer legendären Aura. Aus diesem Grund haben die Stadtbewohner an Wochentagen die Tür seit jeher verschlossen gehalten und den Tempel leer gelassen, um ihn an besonders großen Feiertagen für jedermann zu öffnen. Nochmals: Aus diesem Grund bleibt die Synagoge tagsüber leer, während sich nachts, wie man glaubt, dort die Seelen der Toten versammeln. Und aus diesem Grund bemüht man sich auch, sie am Tag zu meiden und sogar einen Umweg um sie zu machen. (...) Er ist hoch, der Tempel, das höchste Gebäude der Stadt. Ein ungeschriebenes Gesetz verlangt, daß kein Gebäude errichtet werden darf, das ihn an Höhe übertrifft.«225 Daneben gab es Synagogen der verschiedenen Berufsgruppen, der verschiedenen Handelszweige, die der wohltätigen Gesellschaften und frommen Institutionen, »Synagogen der Schuhmacher, Schneider, Schmiede, Stellmacher und Schlachter; Synagogen der Getreide- und Obsthändler, der Leute vom Don, das sind jene, die den Don >bereisenReich und arm ist von Gott eingerichtet, wegen des ausgleichenden Wohlwollens< sagt ein alter Midrasch. Gemilath Chasadim ist die werktätige Liebe des Juden zum Juden: Krankenbesuch, Totenbestattung, Trost für Leidtragende, Gastfreundschaft, Außtattung armer Bräute, kurz alles, was in der patriarchalischen Vergangenheit der kleinen Probleme mit einem christlichen Ausdruck Caritas bezeichnet wurde. (...) Die soziale Fürsorge im alten Israel war nicht Sache des Staates, sondern Sache des Her-
Geld- und Naturalspenden an ansässige und fremde Bedürftige. Die Armenherberge stand unter ihrer Aufsicht, ihnen oblag die Spendenverteilung im Krankenhaus, und sie waren zuständig für die Ausgabe von Freitischen: Jedes Gemeindemitglied war verpflichtet, wöchentlich zwei »Billette« zu erwerben, das heißt, jemanden zu verköstigen. Es gab ein Gemeindekrankenhaus, soziale und religiöse Vereinigungen, die strukturell ihren Vorläufern in den mittelalterlichen Gemeinden entsprachen, eine chevra kadisa, eine Beerdigungsgemeinschaft, bikur cholim, eine Gesellschaft der Krankenbesucher, Frauenvereine für Krankenpflege und -besuch, in Aufbau und Zielsetzung der chevra bikur cholim gleich, die sich aber hauptsächlich der Pflege weiblicher Kranker widmete. Es gab einen Verein für Armenversorgung, einen ochel jesurim, einen Miete-Unterstützungsverein, haspokat ebjonim, einen Verein zur Versorgung Armer mit Brot und Holz, einen Wöchnerinnenhilfsverein, eine Gesellschaft zur Ausstattung der Bräute, einen malbiS arumim, einen Bekleidungsverein, einen Unterstützungsverein für Studierende und einen Verein für Frühgottesdienst und Unterstützung der Leidtragenden. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegründet, übernahm dieser Verein die Sicherung des minjan und kümmerte sich um die seelische und materielle Hilfe für Leidtragende, besonders während der siebentägigen Trauerzeit. Vgl. Brigitte Scheiger: Juden in Berlin. In: Von Zuwanderern zu Einheimischen. Hugenottenjuden, Böhmen, Polen in Berlin. Hg. von Stefi Jersch-Wenzel und Barbarajohn. Berlin 1990, S. 1 5 3 - 4 8 8 , hier 265 f.
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zens. Sie wurde nicht der Gemeinde oder irgend einer Organisation übertragen, sondern jedem Einzelnen ans Herz gelegt und war eine wirkliche Liebestätigkeit.«264 In Polen griff Ende des 15. Jahrhunderts die Gesetzgebung ins Armenwesen ein, das zuvor ganz der Privatinitiative überlassen war, nicht, um es zu unterstützen, sondern um der »Plage des Bettelwesens« entgegen zu arbeiten. In ganz Europa wurde die »Armenpolizei« eingesetzt.265 Jede Gemeinde solle eine gewisse Anzahl »wahrhaftiger« Armer als solche anerkennen. Die so zum Betteln befugten Armen sollten Abzeichen tragen, eine auf einer dünnen Holzplatte aufgeklebte Karte mit der Aufschrift »Der Arme aus dem Dorfe N. und der Pfarrei N. hat das Recht zu betteln«,266 damit ihre BettlerRechte äußerlich sichtbar würden. Man solle sie von »Müßiggängern« unterscheiden können, denen die schärfsten Strafen drohten, wenn sie um Almosen bettelten. »Die gefangenen Müßiggänger sollten bei schweren Schanzarbeiten von Festungen, die gegen die Türken errichtet wurden, verwendet werden.«267 Kinder von Bettlern konnten zur Zwangsarbeit an Handwerker gegeben werden, auch gegen den Willen ihrer Eltern. Das älteste Spital in Polen geht auf das Jahr 1170 zurück. Es war als Zufluchtsstätte für arme Greise gedacht. Über Jahrhunderte sollten die Spitäler Zufluchtsorte, Herbergen und Schutzstätten bleiben. Erst allmählich wurden auch Räume für Kranke zur Verfügung gestellt. Die Aufgabe des Spitalverwalters bestand unter anderem darin, Müßiggänger und Landstreicher zu vertreiben. Erst Mitte des 17. Jahrhunderts kam der Gedanke auf, die Spitäler dürften nicht länger nur Zufluchtsstätten sein, sondern man müsse auch versuchen, Kranke zu heilen. Man war vor allem bemüht, Kranke und Gesunde räumlich voneinander zu trennen. Erst 1728 wurde in Warschau ein Spital gegründet, das ausschließlich für Kranke bestimmt war.268 Auch in Lublin, wo ebenfalls ein Spital schon im 14. Jahrhundert nachgewiesen werden kann, handelte es sich zunächst lediglich um einen Aufnahmeort für arme Kranke, zugleich diente es als Armenhaus. Erst im 17. Jahrhundert trat allmählich die Pflege von Kranken in den Vordergrund.269 Mitte des 18. Jahr-
264 265 266 267 268
Frei: Elend, S. 34. Zelisiaw Grotowski: Geschichte der Armenpflege in Warschau. Warschau 1907, S. 8. Grotowski: Armenpflege, S. 82. Grotowski: Armenpflege, S. 9· Grotowski: Armenpflege, S. 29.
269 Gawarecki: Lublin, S. 4 6 f.
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hunderte wurden bereits Frauen und Männer mit unterschiedlichsten Krankheiten ärztlich behandelt, nur Geschlechts- und Geisteskranke wurden nicht aufgenommen. Für sie gab es ein besonderes Spital.270 Bis 1840 kannte man keine Spitäler im heutigen Sinne des Wortes. Kranke wurden zu Hause gepflegt, so gut es eben ging.271 Waren zunächst Kirche bzw. der kahal und christliche Bruderschaften bzw. jüdische chevrot um die Wohltätigkeit besorgt, kam im 19- Jahrhundert der Staat ins Spiel. »Denn die Notwendigkeit, daß die Armen ihren Unterhalt bei den Reichen suchen und erbetteln sollten, ist eine zweifelhafte Lage, die einer aufgeklärten Regierung unwürdig ist, welche für die Armen in wichtiger Weise besorgt ist.« Viele, die sich zur Wohltätigkeit äußern, schlagen einen neuen Ton an: »Erst dann ist es möglich, das Bettelwesen zu untersagen, wenn die Anzahl der Hilfsbedürftigen nicht größer ist, als diejenige der in den Fabriken nötigen Arbeiter.« Einen Augenblick lang mag der Gedanke aufkommen, man habe die wahren Ursachen des Elends erkannt und sich bemüht, diese zu beseitigen. Bald aber wird der eigentliche Charakter dieser Überlegungen offengelegt: »In einem Lande, in welchem es jedermann gestattet ist zu betteln, kann die Fabrikindustrie und das Gewerbe nie aufblühen, diese bedürfen nämlich zum Zwecke ihrer Erhaltung einer genügenden Anzahl billiger Arbeitskräfte. Wird sich aber das gemeine Volk der fortwährend andauernden Fabrikarbeit unterziehen, wenn es aus der täglichen Erfahrung weiß, dass es durch Betteln in sicherer, leichter und vorteilhafter Weise einen Lebensunterhalt gewinnen kann?« Neben Fabriken wurden auch Arbeitshäuser errichtet. Geschah die Arbeit in Fabriken freiwillig, dazu genötigt wurde man allenfalls durch die Lebensumstände, so wurde die Arbeit in den Arbeitshäusern erzwungen; sie waren Gefängnissen gleich.272 Diese Entwicklung zielte im 18. Jahrhundert auf Erziehung zu Arbeit und Kostensenkung. So wurden die Armen zur Reinigung der Stadt verwendet.273 Es galt, glaubte man, über den Bedürftigkeitsgrad jedes einzelnen zu entscheiden: Die Absichten der Philanthropen waren erzieherischer Natur.274 Wiederholt hörte man den Vorwurf, wohltätige Institutionen vermehrten
270 Grotowski: Armenpflege, S. 93 f. 271 Isaac Levitats: The Jewish community in Russia, 1844-1917. Jerusalem 1981, S. 174 f. 272 Grotowski: Armenpflege, S. 57 f. 273 Grotowski: Armenpflege, S. 29. 274 Grotowski: Armenpflege, S. 51.
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die Zahl der Bettler und Müßiggänger.275 Während die Industrialisierung, abgesehen von kapitalistischen Interessen, Arbeitsplätze schaffen und somit die Not lindern sollte, die Not der christlichen Bevölkerung, vergrößerte sie gleichzeitig aber das jüdische Elend. Die mechanisierten Betriebe wurden nicht für jüdische Arbeiter ins Leben gerufen, sie standen ihnen nicht offen, zudem bedeuteten sie den Ruin für die kleinen jüdischen Familienbetriebe, die zuvor zwar eine bescheidene, aber doch eine Existenzgrundlage boten.276 Obwohl es alter jüdischer Tradition entspricht, Armen gegenüber großherzig zu sein, und es eine mtcve ist, Bedürftige zu unterstützen, hat sich die jüdische Fürsorge ansatzweise auch nach der nichtjüdischen Umgebung ausgerichtet. Besonders der Wandel in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ist stark von der Umwelt, besonders von westeuropäischen Impulsen geprägt. Die assimilierten Kreise orientierten sich an nicht unbedingt jüdischen Formen der Wohltätigkeit: Die individuelle Hilfe Einzelner an Einzelne wurde verdrängt und von organisierter Wohltätigkeit abgelöst. Die Gebenden und die Nehmenden standen einander nicht mehr direkt gegenüber, sondern waren nur noch durch »Vermittler«, die wohltätigen Organisationen, verbunden.
Verschiedene Arme Die »Luftmenschen« wurden in den Unterlagen dieser verschiedenen wohltätigen Vereine natürlich nicht als solche geführt. Da aber 70 bis teilweise sogar 90 Prozent aller Erwerbstätigen in Wirtschaftszweigen tätig waren, die durch die neuen Bedingungen Ende des 19. Jahrhunderts Luftmenschen »produzierten«, können wir davon ausgehen, dass ein großer Teil jener, die auf Wohltätigkeit angewiesen waren, zu dieser Gruppe gehörte. Dies macht die eingehende Auseinandersetzung mit Armut notwendig. Aus einzelnen Bittschriften können wir ersehen, dass Menschen, die vor kurzem offensichtlich noch ein Auskommen hatten, aufgrund eines geschäftlichen Ruins um die eine oder andere Form der Hilfe ersuchen mussten. Ein Jude bat 1870 die jüdische Gemeinde in Krakau, seinen Gemeindebeitrag herabzusetzen. Er sei in den letzten 4 Jahren, »wie allgemein bekannt«, so sehr mitgenommen worden, dass er jeden Geschäftsverkehr, den er die letzten 40 Jahre be-
275 Grotowski: Armenpflege, S. 56. 276 Vgl. Kapitel »Lebensbedingungen, Soziale Wirklichkeit«.
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trieben hatte, aufgeben musste. »Die spärlichen Hauseinnahmen, die meine Frau bezieht, reichen nicht aus.«277 Im allgemeinen aber können wir nur ersehen, mit welcher Art von Schwierigkeiten man ohne Einkommen konfrontiert war und welche Arten von Hilfeleistungen gewährt wurden. Die Zahl der Bedürftigen kann nur geschätzt werden, da viele wohltätige Vereine darüber nicht Buch führten,278 erst recht lässt sich dies bei privater, spontaner Hilfe nicht rekonstruieren. In historischen Quellen tauchen die Gruppen der Armen nur als anonyme Massen auf. Die Existenz dieser Bevölkerungsgruppen wird schon im frühen Mittelalter in zahlreichen Quellen bezeugt, sie spielen gelegentlich sogar eine entscheidende Rolle, etwa bei tumultartigen Bewegungen.279 Aber sie werden kaum näher beschrieben oder in sich differenziert dargestellt, obwohl sie keineswegs eine homogene Einheit bildeten. Von den armen jüdischen Bevölkerungsschichten geben die russischen Polizeiakten ein anderes Zeugnis ab. Es entsteht ein Bild ruhiger, bescheidener, gelegentlich gewitzter und kluger Menschen,280 die den Behörden mehr als alle anderen ausgeliefert waren, da sie sich nicht loskaufen konnten, geschweige denn durch Bestechungsgelder bürokratische Scherereien schon von vornherein hätten vermeiden können. Innerhalb der jüdischen Gemeinden spielten sie aber doch eine gewichtige Rolle281 und verbreiteten gelegentlich durch ihr entschiedenes Auftreten sogar Angst und Schrecken.282 Über die Unterschiede zwischen den ostjüdischen Armen lassen sich einige Aussagen machen. Es gab bereits im Elend Geborene, durch individuelle Schicksalsschläge oder Krankheit Verarmte, Neuarme durch politischen und ökonomischen Wandel - die Industrialisierung etwa vernichtete das kleine jüdische Handwerk zu einem erheblichen Teil -, 2 8 3 wieder andere waren durch Pogrome, Hunger-, Umweltkatastrophen und die zahlreichen Brände von heute auf morgen auf Hilfe angewiesen. Um zeitlich begrenzte Armut handelte es sich bei talmud-Studentcn, die aber auf eine Verbesserung ihrer
277 2lH Warschau, 122,1870, ohne Paginierung (Deutsch). 278 Frei: Elend, S. 39 f. 279 Frantisek Graus: Au bas Moyen Age: Pauvres des villes et pauvres des campagnes. In: Annales ESC. Paris 1961, bes. S. 1 0 5 3 , 1 0 5 4 , 1 0 5 8 ; Davis: Poor Relief. 280 Siehe Erklärungen bei Verstößen gegen die Kleiderordnung in Schwara: Kindheit und Jugend, Kapitel »Schutz des Körpers und der Seele«, S. 2 7 6 - 2 8 7 . 281 Schwara: Humor, Kapitel »Hunger und Elend«. 282 Siehe Fußnote 284. 283 Vgl. Kapitel »Soziale Wirklichkeit«.
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Lage hoffen durften, ebenso auch Studentinnen und Studenten, die sich weltlicheren Dingen wie etwa dem Studium der Medizin oder der Rechtswissenschaften zugewandt hatten. Hinzu kamen die Außenseiter der Gesellschaft, Prostituierte etwa oder Menschen, die außerhalb des Gesetzes standen. Ebenso handelte es sich bei Emigranten meist um Angehörige verarmter Bevölkerungsschichten, die auf eine Verbesserung der Lebensumstände hofften und dabei auf Hilfe zur Selbsthilfe setzten (andere Motive als die Armut für eine Auswanderung traten vor allem mit dem Aufkommen des Zionismus in den Vordergrund, obwohl es auch den Zionisten zunächst in erster Linie um Gerechtigkeit für Arme und Bedrohte ging). Ebenfalls dem Elend nur auf Zeit ausgesetzt waren Gefangene, sofern ihre oder eine andere jüdische Gemeinde sie freikaufte. Spricht man von »Luftmenschen«, hat man nicht eine bestimmte Art des Verarmungsprozesses vor Augen, auch nicht seinen weiteren Verlauf, es ist nicht die Bezeichnung einer besonderen sozialen Schicht, deutet nicht auf Beruf oder Geschlecht - es ist der Hinweis auf die augenblickliche verzweifelte wirtschaftliche Lebenssituation eines Menschen jüdischen Glaubens und zugleich auf seine Art, damit umzugehen. Der mit der Industrialisierung einhergehende Verarmungsprozess hatte so viele Menschen in diese trostlose Lage versetzt, dass sie als homogene Masse verstanden mit diesem Begriff bezeichnet wurden. Ein näheres Hinsehen aber zeigt, dass die Schicksale dieser Menschen doch sehr unterschiedlich verliefen. Für verarmte Christen wird dieser Ausdruck meines Wissens nicht gebraucht. Verschiedene Mittellose zogen verschiedene Formen der Wohltätigkeit nach sich. Die einen Armen waren lokal verwurzelt, während andere umherzogen und sich auf die Gastfreundschaft fremder jüdischer Gemeinden angewiesen sahen. Was diese unterschiedlichen Menschen gelegentlich verband, war nur ihre Armut oder ihr Ausgeliefertsein an die gleichen sozialen Umstände; hier sei an die revoltierenden russischen Emigranten und Emigrantinnen im Jahre 1906 in einer Leopoldstädter Synagoge erinnert.284 Schon im Mittelalter galt die Armut als einziges Bindeglied unterschiedlichster Menschen. Ein Zusammenhalt ließ sich nur in der Rebellion gegen die Reichen nachweisen, überdies waren auch solche Zusammenschlüsse stets von kurzer Dauer.285 Doch im Judentum lassen sich Ansätze der Auflehnung gegen die Wohlhabenderen und Regierenden erst Ende des 19- Jahrhunderts mit den
284 CAHJP Jerusalem, JCA 200b, 1900 (Deutsch). 285 Vgl. Graus: Moyen Age, S. 1058.
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aufkommenden sozialistischen und anarchistischen Vereinigungen jüdischer Jugend feststellen. Diese politischen Bewegungen wurden erst allmählich von einer breiteren Schicht der Armen getragen; zunächst meist von diesen nicht einmal verstanden, da die Pamphlete gewöhnlich nicht in Jiddisch abgefasst waren, und auch die jiddischen oft in einer propagandistisch verbrämten Intellektuellen-Sprache.286 Zwar kann man schon die chasidut als eine Bewegung gegen dietob«/-01igarchieverstehen, doch in erster Linie war sie die Suche nach neuen Wegen, Gott zu dienen. Im Vordergrund stand weder politischer Kampf mit dem Ziel, materielle Güter umzuverteilen, noch die Forderung nach gleichen Rechten für alle. Der gemeinsame Nenner Mittelloser bestand lediglich in ihrer Abhängigkeit vom wohltätigen Willen anderer. Die gebildete jüdische Jugend erkannte einen Zusammenhang zwischen Armut und Reichtum und suchte nach Möglichkeiten, die zu Gleichheit und Gerechtigkeit führen mochten. Die einen, sich der Ungerechtigkeiten bewusst, die die jüdische Bevölkerung zusätzlich zum sozialen Elend zu erdulden hatte, suchten einen Ausweg im Zionismus, andere glaubten, es gelte hauptsächlich, die Armut zu beseitigen; die anderen Nöte würden sich mit der Armut gemeinsam auflösen, wäre erst einmal diese verschwunden: Sie schlossen sich sozialistischen Bewegungen an. Fehlte die Bildung, die Voraussetzung für die Schaffung konkreter politischer Ziele ist, blieb man in Träumen und wagen Vorstellungen von einer besseren Zukunft verhangen.287 Nur die geringe Zahl der politisch Aktiven kam zum Schluss, dass Armut und Reichtum eng verknüpft waren, der Wohlstand der einen die Misere der anderen nach sich zog. Doch an diesen politischen Bewegungen waren die Luftmenschen nur passiv beteiligt. Durch ihre bloße Existenz spornten sie andere dazu an, politische Ziele zu formulieren, die die Armut dieser Massen beseitigen wollten. Selbst aber verloren sie sich im täglichen Daseinskampf und in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Solidarität im Wandel Das traditionelle soziale Netz genügte nicht mehr, um die vielen Verarmten aufzufangen. Zudem leitete die in der 2. Hälfte des 19· Jahrhunderts zunehmende Säkularisierung und Assimilation an westeuropäische Muster neue
286 AP Lublin, Zandarmeria 124, S. 16-37. 287 Auch hierzu finden sich Parallelen im Mittelalter: Graus: Moyen Age, S. 1065.
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Formen der Wohltätigkeit ein. Parallel zu westeuropäischen Entwicklungen der Armenpflege kamen auch die maskilim, jüdische Aufklärer, von diesen beeinflusst, schon Anfang des 19- Jahrhunderts zum Schluss, die traditionelle Armenpflege verbaue den Armen den Weg zu einer produktiven Tätigkeit. Sie folgten mit ihrer Einstellung einer allgemeinen Umbildung der Armenpflege während des 18. Jahrhunderts in Westeuropa, wo man die Armenhäuser in Arbeitshäuser umgewandelt hatte. Dies geschah in Russland nicht, auch nicht unter den russischen Juden, obwohl die zarische Regierung für sie solches geplant hatte. Im Ziel der »Produktivierung« der jüdischen Massen trafen sich aber die jüdischen Aufklärer und der zarische Absolutismus. Die Ansiedlung der Juden in der Landwirtschaft wurde bereits durch das Gesetz über die Juden von 1804 gefördert. Im Jahre 1835 verlangte der Staat per Gesetz von der jüdischen Gemeinde, neben der traditionellen Wohltätigkeit Institutionen zu schaffen, in denen die armen Juden Arbeit und Unterhalt finden konnten. Jüdische Institutionen und lokale Initiativen bemühten sich, einen Übergang von reiner Wohltätigkeit zu dem zu finden, was die Zeitgenossen »Sozialpolitik« nannten, trafen dabei aber oft auf Widerstand innerhalb der jüdischen Gemeinden.288 Auf westjüdische Initiative sind zahlreiche Hilfeleistungen zur Selbsthilfe zurückzuführen, so etwa die JCA oder die ORT. Die um sich greifende Verarmung konnten sie nur bedingt aufhalten,289 ebenso wie die traditionelle Wohltätigkeit nur punktuell die Not zu lindern vermochte. Als wirksamste Hilfe erwiesen sich nach wie vor die alten chevrot, während die neueren sozialen Einrichtungen eher auf Argwohn stießen. »Es ist vielleicht kein Zufall, dass die englischen Arbeitervereine meistens aus politischen Verbänden, die französischen aus Unterstützungskassen, die deutschen aus Bildungsvereinen und die jüdischen aus religiösen Organisationen entstehen. Entspricht es doch dem praktischen Charakter des Engländers, den kleinbürgerlichen Neigungen der Franzosen, dem idealistischen Schwünge des deutschen und der mystisch-träumerischen Veranlagung des jüdischen Volkes.«290 Die maskilim und die jüdische Intelligenz blieben zu schwach und konnten sich gegen die traditionellen Strukturen nicht durchsetzen.291
288 Löwe: Mildtätigkeit, S. 98. 289 Zahlreiche Briefe, Bitten, die abgelehnt werden mussten, zeugen von den beschränkten Möglichkeiten der Hilfe. 290 Rabinowitsch: Organisationen, S. 90. 291 Ausführlich zum Organisationsgefüge der jüdischen Bevölkerung im Königreich Polen im 19. Jahrhundert siehe Frangois Guesnet: Minderer Status, Organisation
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»Die Repressionen unter Nikolaus I. versteiften nur den passiven Widerstand gegen die staatlichen Versuche der >Rekonstruktion< und ließen die maskilim, die sich teilweise mit der Regierung verbanden, als gottlose Reformer erscheinen.«292 Ähnlich den jüdischen chevrot entstanden in der polnischen Wohltätigkeitspflege gemeinnützige religiöse Vereine, bractwo genannt, die Bruderschaft.293 Sie bestanden aus Personen jeden Standes und beiderlei Geschlechts.294 Allerdings hatten die Frauen bei den Sitzungen kein Stimmrecht,295 ihr Geld und ihre Arbeitskraft aber waren willkommen. Unter Alexander II. versuchte die jüdische Intelligenz, vermehrt Einfluss in den Gemeinden zu gewinnen, und schreckte nicht davor zurück, die russischen Behörden zu diesem Zweck einzuschalten. »(...) Vertreter der jüdischen Intelligencija lenkten - mit einiger Berechtigung, aber nicht uneigennützig - die Aufmerksamkeit der Behörden darauf, dass die meisten Wöhltätigkeits-Institutionen irregulär und ohne geordnete Buchführung geleitet wurden.«296 Die Regierung versuchte, einen geregelten Geschäfts-
und Autonomie. Der Weg der Juden in Polen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1914. Diss. 1996. Guesnet geht insbesondere auf Organisationen ein, die sich von der Gemeinde als religiösem Kern der jüdischen Bevölkerung unabhängig entwickelten. Er kommt aber zum Schluss, dass auch diese Organisationen, zum Beispiel die »Tagelöhner«- und Gesellen-abeirof, obwohl die gegenseitige Hilfe immer ein Element beruflicher Selbstorganisation gewesen war, »ihrem Wesen nach nicht nur oder vor allem genossenschaftlich orientiert« waren. »In deren Bemühen um wohltätige und religiöse Stiftungen ist zuerst das Interesse zu erkennen, einen Ort in der kulturell und religiös definierten Gemeinschaft zu finden.« Trotz der beruflichen Umschichtungsprozesse des 19. Jahrhunderts und des sozialen und materiellen Abstiegs »veränderten sich bei der großen Mehrheit der jüdischen Bevölkerung die Vorstellungen bezüglich sozialer Organisationen nur wenig, neue Ansätze wie die der genossenschaftlichen Organisation fanden selbst in jenen Kreisen Widerspruch, die sich als Pioniere des Fortschritts verstanden.« (Guesnet: Status, S. 372 f.). Mit herzlichem Dank für die Überlassung des Manuskripts. Die Dissertation ist inzwischen veröffentlicht: Frangois Guesnet: Polnische Juden im 19. Jahrhundert. Lebensbedingungen, Rechtsnormen und Organisation im Wandel. Köln usw. 1998. Vgl. auch: Anselm Hillmann: Jüdisches Genossenschaftswesen in Rußland. München 1911; Abraham Lachower: Jewish Burial Associations in Moldavia in the 18 th and the Beginning of the 19th Centuries. In: YIVO Annual of Jewish Social Science 10 (1955) S. 3 0 0 - 3 1 9 . 292 Löwe: Mildtätigkeit, S. 102. 293 294 295 296
Vgl. Grotowski: Armenpflege, S. 38 f. Grotowski: Armenpflege, S. 11 f. Grotowski: Armenpflege, Fußnote 3, S. 42. Löwe: Mildtätigkeit, S. 102.
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gang zu erzwingen, indem sie anfing, die Statuten einzelner jüdischer Beerdigungsgesellschaften zu bestätigen. »Dies gab der Intelligenz zum erstenmal die Möglichkeit, hier eine Rolle zu spielen. Als daraufhin aber die chewrot kadisbas (die Beerdigungsgemeinschaften, DS) aus Protest reihenweise beantragten, auch ihre Statuten zu bestätigen, schreckten die Behörden zurück, weil sie die Konsequenzen nicht glaubten übersehen zu können. Noch viel mehr sah sich die Regierung außerstande, die jüdischen Wohltätigkeits-Institutionen durch allgemeine zu ersetzen, was sie am liebsten getan hätte. Daher gestattete sie zum erstenmal der jüdischen Intelligenz, die man wohl als Träger einer erwünschten Russifizierung sah, zwei gesamtrussische Organisationen der reformierten Philanthropie< zu eröffnen, die >Gesellschaft für die Verbreitung der Aufklärung unter den Juden< (ORPE) und die Gesellschaft zur Unterstützung der manuellen Arbeit und der Landwirtschaft (ORT).«297 Doch vor dieser modernen Wohltätigkeit, deren Ziel nicht nur Linderung der Not war, sondern ihre endgültige Beseitigung, war neben der privaten Wohltätigkeit und Armenpflege traditionell die kehila für derlei Aufgaben zuständig.298 Besonders während Ernährungskrisen kam ihr eine bedeutende Rolle zu. Im Jahre 1806 etwa verfügte die jüdische Gemeinde von Minsk, dass Getreide nur auf dem Marktplatz verkauft werden durfte. Sie setzte die Preise fest, beschränkte die Mengen für An- und Verkauf und verbot ausdrücklich den Handel um des Profits willen. Die Gemeinde erließ oft eine zusätzliche Steuer für den Ankauf von Getreide, den die Wohlhabenden vorfinanzieren und garantieren mussten.299 »Eine >Große Wohlfahrtskasse(...) und ich hoffe Sie damit einverstanden, nachdem die beiden Mädchen ihren Obligenheiten gewissenhaft nachkommen.« 363 Überhaupt war er mit der Arbeit in Krakau sehr zufrieden,364 obwohl er für gewöhnlich eher streng urteilte. »Die Mitglieder der Direktion bekunden ihr Interesse an der Genossenschaft, indem sie recht häufig in den Lokalitäten derselben anwesend sind und die gesamte Gebahrung genau überwachen.« Man arbeitete mit Bnei Brith zusammen und bemühte sich, den Anschluss an die Zukunft nicht zu verpassen: »Gemeinsam mit der B.B. Loge wurde ein Telephon angeschafft, welches es ermöglicht, die meisten der Direktionsmitglieder sofort herbeizurufen, wenn ihre Anwesenheit nöthig erscheint, was häufig der Fall ist; auf die C.G. (Creditgesellschaft, DS) entfällt jährlich ein Betrag von Κ 50.— für die Telephonbenützung; doch ist diese Ausgabe sehr gut angewendet. Der Geschäftsgang ist ein relativ befriedigender, und es ist eine stete Zunahme der Mitglieder zu verzeichnen.«365
361 »Der Kaufwerth des Geldes ist in einer so großen Stadt wie Krakau ein wesentlich geringerer als in den kleinen Städtchen und die Wohnungsmiethen sind verhältnismäßig theuerer als in Wien.« (CAHJP Jerusalem, JCA 201 a: Rotter an JCA Paris 6.9.1909). »In einer großen Stadt wie Krakau sind naturgemäß die Spesen größer, als in den kleineren Orten; dieselben können sich in Hinkunft nur vergrößern und man muß darauf bedacht sein, daß dieselben auch ihre Bedeckung finden; auch würde ich nur ungern die Direktorin in Krakau, welche mit besonderer Hingabe arbeitet, durch Erhöhung des Einlagenzinsfußes in Mißstimmung bringen.« (CAHJP Jerusalem, JCA 201 b: Rotter an JCA Paris 20.12.1908). 362 »Ziffernmäßig erscheinen die Gehalte spezifiziert: auf die einzelnen Personen vertheilt, bezieht Fräulein Schön gut Κ 80.—, Fräulein Schnitzer Κ 50 — und der Diener Κ 10.—; ich veranlasse, daß Ihrem Wunsche gemäß die Detailierung mit Namensangabe erfolgt.« (CAHJP Jerusalem, JCA 201 a: Rotter an JCA Paris 8.10.1909). 363 CAHJP Jerusalem, JCA 201 a 1909/10: D. Rotter, Wien an Paris. 364 Die Krakauer Kreditgesellschaft zählte 797 Mitglieder. »Bei dieser Gelegenheit wurde auch die gesammte (sie, DS) Cassagebahrung genau geprüft und seitens der Direktion alles in bester Ordnung befunden.« (CAHJP Jerusalem, JCA 201 a: Rotter an JCA Paris 5.10.1909). 365 CAHJP Jerusalem, JCA 201 a: Rotter an JCA Paris 28.5.1909.
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Der wohltätige Charakter dieser Einrichtungen wird aber immer wieder deutlich, auch wenn die Geschäftsführung nach streng kaufmännischen Regeln erfolgte. »Wenn es sich um die Schaffung einer Existenz handelt, darf es bei unseren Creditgenossenschaften keine Rolle spielen, ob ein Darlehen um Κ 100 - größer oder kleiner ist, größere Institute (DS: der Einwand aus Paris war, es gäbe doch noch genügend andere Creditgesellschaften) werden der Kathegorie unserer Darlehensnehmer keine Credite gewähren, namentlich nicht, wenn dieselben in Wochenraten zurückbezahlt werden sollen; gerade aber dieser RückZahlungsmodus ist es durch den unsere Creditgesellschaften so segensreich und nützlich wirken. Schließlich muß ich noch beifügen, daß die Direktionsmitglieder der verschiedenen Creditgenossenschaften durch gewisse Einschränkungen an Arbeitsfreude einbüßen, was ich gerne vermieden sehen möchte; ich bitte Sie bei Ihren Weisungen auf diesen Umstand Rücksicht zu nehmen, denn es ist ohnehin nicht leicht, die geeigneten Persönlichkeiten für die Leitung der Creditgenossenschaften zu finden und deren Interesse für dieselben zu erregen und rege zu erhalten.«366 Mit den Kreditanstalten wollte man helfen, die allgemeine wirtschaftliche Misere ein wenig aufzufangen. »Bereits in unserem vorjährigen Berichte erwähnten wir, welche unheilvolle Wirkung die allgemeine Geldknappheit in Galizien ausübte; im Jahre 1907 hat sich die Situation nicht nur nicht gebessert, sondern noch sehr empfindlich verschärft; unter den geradezu würgenden Creditentziehungen hatten gerade die kleinen Leute am meisten zu leiden, und unsere Creditgenossenschaften waren in der Lage, in zahlreichen Fällen hilfreich und rettend einzugreifen.«367 Neben den Kreditgenossenschaften, der Schaffung von jüdischen Kolonien in Süd- und Nordamerika und der allgemeinen Förderung der Emigration und Unterstützung der Auswanderer, war die JCA vor allem um die Kolonisation und die Hilfe vor Ort bemüht, wie etwa billigen Wohnungsbau. Man versuchte wirtschaftlich sinnvolle Hilfe zu leisten und die Marktlükken zu schließen. Da die »innere Kolonisation«, mehr oder minder große landwirtschaftliche Betriebe, hohe finanzielle Investitionen verlangten, fand man einen Ausweg, indem man sich auf »Handelsgärtnereien« beschränkte. Wenn möglich, erwarb man Boden in der Nähe der Eisenbahn, um so den Transport der Ware zu sichern. »Der kulturelle Tiefstand der christlichen Agrarbevölkerung zeitigte in diesem Agrarlande die eigentümli-
366 CAHJP Jerusalem, JCA 201 a: Rotter an JCA Paris 6.10.1909. 367 CAHJP Jerusalem, JCA 201 b: Rotter an JCA Paris 28.3.1908.
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che Erscheinung, daß Gemüse für die städtische Bevölkerung auch der kleinsten sowie der größten Städte des Landes, trotzdem Klima und Boden für dessen Züchtigung sehr geeignet wären, aus Ungarn und den westlichen Provinzen der Monarchie bezogen werden müssen und wie sich denken läßt, in ungeheuren Mengen eingeführt werden. Der Ertrag eines Ackers, der mit Gemüsesorten bebaut wird, ist um ein 6 bis 8faches des Ertrages jenes nach bisheriger konservativer Weise meist mit Brotfrüchten bestellten. Demgemäß reicht für die Erhaltung einer Gärtnerfamilie ein Areal von 2 bis 3 Joch vollkommen aus und das (sic, DS) teuere Inwentur (sic, DS) reduziert sich ebenfalls sehr bedeutend.« Man bemühte sich um einen Absatz im Lande selbst und in den angrenzenden Industriebezirken Deutschlands. »Großartige Resultate« verzeichnete man in der Umgebung von Brody, »wo heute die ganzen Städtchen von Hopfenbau leben, der erst seit zirka 15 Jahren von einem Juden eingeführt wurde und heute schon Hunderte und Hunderte jüdische Hände beschäftigt, ohne den Christen irgendwelchen Anlaß zum Neide zu geben. Ja die christliche Bauernbevölkerung denkt gar nicht daran, den Hopfenbau bei sich einzuführen, da der Bauer zu indolent ist, um diese mühevolle Pflanzung nachzuahmen.« Die Abkommen zwischen der JCA und den jüdischen Gärtnern sahen, trotz wohltätiger Grundhaltung der JCA, sehr durchdacht aus und waren darauf ausgerichtet, dass die Betriebe über kurz oder lang in der Lage sein sollten, selbsttragend zu wirtschaften. Die JCA erklärte sich zum Beispiel bereit, ein Darlehen von 40.000 Rubel für den Kauf des Bodens zur Verfügung zu stellen. Die Darlehensempfanger verpflichteten sich im Gegenzug, dieses Darlehen in dreißig- bis vierzigjährigen Raten und billigen Zinsen zurückzuzahlen, auf dem erworbenen Boden eine Genossenschaftsgärtnerei zu errichten, einen »sachlich gebildeten Gärtner« zu beschäftigen und ihm »Wohnung, Beheizung und zwei Joch Feld kostenfrei zur Verfügung zu stellen«. Die JCA war bereit, seinen Barlohn zu zahlen. Weiter musste man sich verpflichten, vier Gärtnergehilfen anzustellen, »mit Kost, Wohnung etc.« sowie sechzehn »kräftige Burschen« ebenfalls mit Wohnung und Verpflegung zu versorgen. Der Ertrag aus der Gärtnerei war in erster Linie für Kost und Unterkunft vorgesehen, vom Rest sollten die Antragsteller die Hälfte als »Grundrente« erhalten, die andere Hälfte war zu je zehn Prozent für die Gehilfen vorgesehen, der Rest für die Lehrlinge. (Eine kleine Handnotiz des JCA-Gutachters weist darauf hin, dass man die Kleidung vergessen hatte). Nach drei Jahren solle der Grund und Boden der Genossenschaft überschrieben werden, weitere zwanzig Joch wollte man zusätzlich bebauen. Nach drei Jahren sollten auch diese wiederum der Genossenschaft zugeschlagen werden. »Falls etwas von diesen Versprechungen
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nicht eingehalten werden sollte, hat JCA das Recht, das Darlehen sofort zurückzufordern, zusätzlich 5.000 Rubel Strafe.«368 Obwohl sich gelegentlich Kritik fand, so seien die jüdischen Weinbauern in Jaruga bei einer Missernte rasch zu Handel übergegangen, was »nicht Sinn der Sache« sei,369 verzeichnete man doch Erfolge und freute sich über positive Presse, besonders wenn die anerkennenden Berichte von Journalisten stammten, die sonst für ihren Antisemitismus bekannt waren.370 Der »Hilfsverein für die notleidende jüdische Bevölkerung in Galizien« hatte sich zudem zur Aufgabe gemacht, die jüdische Heimarbeit einzuführen und zu unterstützen: Hauptsächlich organinsierte er die Spitzenindustrie und die Produktion von Haarnetzen. In 50 Ortschaften Galiziens wurden insgesamt 1970 jüdische Arbeiterinnen beschäftigt, die sich mit der Produktion von Haarnetzen beschäftigen. Insgesamt waren 1908 etwa 3.550 jüdische Arbeiterinnen mit einem Jahreslohn von 297.165 Kronen beschäftigt (in der Produktion von Haarnetzen, Spitzenarbeiten aller Art, Kleiderkonfektion, Weißstickerei).371 Innerhalb der zentralen Organisationen, ORPME, ORT und EKO (Evrejskoe kolonizacionnoe obscestvo) verlangte und erreichte die Intelligenz in den Jahren 1906/07 eine »Rationalisierung der Wohltätigkeit«. Vor allem im Bildungsbereich mussten die unterschiedlichen Tendenzen innerhalb der jüdischen Bevölkerung aufeinanderprallen. In den meisten Gemeinden entstand ein Konflikt um die Frage, welche Schule - die traditionell religiöse oder die säkularisierte mit Fächern wie Arithmetik und Grammatik - zu unterstützen sei. In größeren Städten scheint sich, in Polen jedenfalls, in der Schulfrage manchmal ein modus vivendi herausgebildet zu haben. In Warschau etwa wurde die Gemeinde von einer Koalition von chasidim und progressiven Juden, die die Assimilation befürworteten, geleitet, die unter sich eine Trennung verschiedener Bereiche vereinbart hatten. Die chasidim zeichneten verantwortlich für die religiösen Angelegenheiten und für die meisten Schulen, die weltlich ausgerichteten Juden für die Wohltätigkeitsorganisationen und für eigene Schulen, darunter ein jüdisches Gymnasium. Wo Wohltätigkeit, Religion und Bildung auf einander trafen, in den talmud-
368 CAHJP Jerusalem, JCA 200 c, 1906. Der Sekretär des »Allgemeinen Verbandes«, Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften in Lemberg berichtete der JCA in Paris. 369 CAHJP Jerusalem, JCA 4b 1.6.1899370 CAHJP Jerusalem, JCA 20 b 1908; JCA 7 2 / 8 17.11.1912. 371 Rosenfeld: Judenfrage, S. 116.
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tora-Schulen für die Armen und Waisen, entschloss man sich zu Zusammenarbeit und führte sie gemeinsam. Typischer aber war die Trennung. In den meisten Orten gab es von allen jüdischen Institutionen zwei: zwei Rabbiner, zwei Synagogen, zwei mikvot, einmal für die charedim und einmal für die chasidim. Man schloss sich aber zusammen, wenn es galt, progressive Kräfte im stetl zu bekämpfen und eine Modernisierung zu verhindern.372 Auf der anderen Seite vereinigten sich die jüdischen Handwerker vermehrt zu Selbsthilfe-Organisationen, die chevrot gewannen an Bedeutung. Neue Formen der Wohltätigkeit führten zu einer neuen Problematik: Früher stellte sich nicht die Frage, ob etwas koser war oder nicht, sondern ob es überhaupt etwas zu essen gab. Gab es aber etwas zu essen, war es gewiss koSer, da durch die Abgeschlossenheit der jüdischen Gemeinden Bedürftige kaum in die schwierige Lage gebracht wurden, sich zwischen Hunger und unerlaubten Speisen entscheiden zu müssen. Durch den Wandel der Lebenswelten und die zunehmende Säkularisierung entstanden neue Formen der Sozialfürsorge und dadurch zuvor unbekannte Probleme. Arme israelitische Kranke enthielten sich oft der Kost, da sie nicht koser war. Welchen Wert hat das Versprechen, den Bedürftigen solle »ohne Ansehen der Religion«373 geholfen werden, wenn auf jüdische Bedürfnisse keine Rücksicht genommen wird? Mittellose wehrten sich offensichtlich gegen Assimilation, sogar wenn sie hungern mussten oder sich ihr Leben in Gefahr befand, was auf ihre Einstellung zur Einhaltung religiöser Pflichten schließen lässt. Doch man erkannte diese neuen Schwierigkeiten bald und schloss sich in Vereinen zusammen, die hier Abhilfe schaffen wollten. Der Verein zur Unterstützung armer kranker Israeliten in Wien stellte sich zur Aufgabe: »Arme kranke Israeliten, welche in den hiesigen öffentlichen Krankenhäusern, insbesondere im allgemeinen Krankenhause sich befinden, über deren Ersuchen mit streng rituell zubereiteter "ßb (koser, DS) Kost zu versehen. Da die Absicht des Vereines nur darauf gerichtet ist, dass frommgläubige Kranke, welche aus rituellen Bedenken die im Spitale zubereitete Kost verschmähen, durch diese Enthaltung nicht ihre Genesung verzögern oder gar unmöglich machen, so wird die Vereinsleitung insbesondere darüber zu wachen haben, dass die den Kranken zu verabreichende Kost sich von der im Spitale selbst bereiteten nur durch die streng rituelle Zubereitung unterscheide.« Die anderen Hilfeleistungen entsprachen den üblichen Zielen solcher Zusammen-
372 Löwe: Mildtätigkeit, S. 1 0 7 - 1 0 8 . 373 ZlH Warschau, 240: Lotteriefonds.
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schlüsse: »den Besuch fremder Kranker zu veranlassen, die Verbindung mit deren Angehörigen zu bewerkstelligen, denselben über Verlangen religiösen Beistand zu leisten; insoweit die Mittel des Vereines dies gestatten, die Kranken nach deren Entlassung zu unterstützen,« ein weiterer neuer Aspekt allerdings entstand im Zuge der Einwanderung: »eventuell den Zugereisten auch die Heimreise zu ermöglichen.«374 Ein Übergang von »Wohltätigkeit« zu »Hilfe zur Selbsthilfe«, lässt sich Ende des 19. Jahrhunderts bei vielen Organisationen feststellen. Doch sei hier ausdrücklich vor einer Verallgemeinerung gewarnt, ist es doch ein Merkmal gerade dieser neuen Wohlfahrt, dass ihre Verfechter die neuen Ideen gern zu Papier brachten, während die traditionellen Formen der Hilfe von mündlicher Tradition lebten und längst Gewohnheitsrecht bildeten. Grundlegende gesellschaftliche Wandlungen, der Versuch der jüdischen intelligencija, sich diesen Veränderungen anzupassen, mögen diesen Wandel teilweise vorangetrieben haben.375 Es galt, glaubten sie, die jüdische Gesellschaft so umzuformen, dass man sich ihrer nicht mehr zu schämen brauchte. In bestimmten Gesellschaftsschichten vollzog sich ein klarer Wandel in der Motivation. Während die traditionelle jüdische Wohltätigkeit religiös begründet war, wichen ethisch-religiöse Werte allmählich weltlichen. Die aufgeklärten Philanthropen erwarteten Resultate in dieser Welt, nicht nur das Schwinden des Elends, sondern konkrete Auswirkungen auf das eigene Wohlbefinden. Weniger Elend bedeutete weniger Verbrechen, man versprach sich einen besseren Ruf für die Juden, also auch für sich selbst. Ebenso machte sich ein Wandel in der Begründung für die Not bemerkbar. Jahrzehnte zuvor war man davon überzeugt, die schlechte wirtschaftliche Lage und das daraus entstandene Elend habe man sich selbst und seinen Sünden zuzuschreiben.
374 2IH Warschau, 280: Statuten des Vereines zur Unterstützung armer kranker Israeliten in Wien. (1878), § 2. 375 Guesnet: Status, Kapitel »Die zentralen Bereiche jüdischer Selbstorganisation in Kongreßpolen und ihre Einrichtungen: Wohlfahrtspflege in der jüdischen Tradition«, S. 341 f.; »Die zentralen Bereiche jüdischer Selbstorganisation in Kongreßpolen und ihre Einrichtungen: Konzepte einer reformierten Wohlfahrtspflege«, S. 347 f.; »Die zentralen Bereiche jüdischer Selbstorganisation in Kongreßpolen und ihre Einrichtungen: Jüdisch-nichtjüdische Kooperation im Bereich der Wohlfahrtspflege«, S. 347; »Die zentralen Bereiche jüdischer Selbstorganisation in Kongreßpolen und ihre Einrichtungen: Anti-Bettelei-Vereinigungen, Benefize, Lotterien«, S. 350 f.; »Die zentralen Bereiche jüdischer Selbstorganisation in Kongreßpolen und ihre Einrichtungen: Entwicklungen in der Wohlfahrtspflege 1862-1905«, S. 363 f.
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Man war gewillt, die Armut als Strafe Gottes zu sehen, die sowohl Arme als auch Reiche traf, da die Reichen den Armen durch religiöse Gebote verpflichtet waren: »Schon einige Jahre verfolgt uns für unsere Sünden eine schreckliche Teuerung, alle Erwerbsquellen sind versiegt, auch für die tägliche Ausgabe (Brot, DS) bleiben keine Einkünfte mehr. Die Mehrzahl der Juden ist verarmt, und auch die Wohlhabenden sind des Joches der Armenunterstützung müde. (...) Daher wanderten aus unserer Gemeinde 155 Männer und 116 Frauen, im ganzen 271 Mitglieder nach Neurußland aus. Die Vorstände unseres Kahals und die reichen Vertreter der Gesellschaft erwiesen dabei jede Art von Hilfe.«376 Die Motivation der jüdischen Intelligenz, sich wohltätig zu engagieren, bestand aber nicht nur im Wunsch nach Assimilation. Gleichzeitig bot Hilfe an verarmte Glaubensgenossen die Möglichkeit, sich in die jüdische Gemeinschaft zu reintegrieren. Für die jüdische Gesellschaft in Russland suchte man eine für aufgeschlossene Orthodoxe und für Progressive gleichermaßen annehmbare Definition dessen, was Jude zu sein bedeutete. »Nicht mehr die Glaubenszugehörigkeit, wie der zarische Gesetzgeber und jüdische Orthodoxe es wollten, sollte dies bestimmen, sondern das Nationale. Zu Kompromissen war man besonders dann bereit, wenn die Aussicht bestand, alle Juden eines Ortes - und wenn möglich, alle Juden des Zarenreiches - zusammenzufassen. Wie wichtig das Netz der jüdischen Selbsthilfeorganisationen war, lässt sich daraus ersehen, dass die 1909 von reformwilligen, nach unseren Vorstellungen orthodoxen Rabbis sowie Progressisten und Liberalen vorgeschlagene Kompromissformel lautete, dass derjenige als Jude gelten solle, der entweder bei einer Synagoge registriert sei oder aber einer jüdischen (Selbsthilfe-)Organisation angehörte.«377 Dennoch, alte jüdische Werte wie die cedaka oder rachmones standen bei der modernen Wohltätigkeit nicht im Vordergrund. Rationalität war angesagt. Man arbeitete vor allem um die Jahrhundertwende mit dem erklärten Ziel, die Zustände zu verbessern und dadurch nicht zuletzt sich selbst und dem eigenen Ansehen zu nützen, indem man versuchte, durch die Aufhebung der Not das Bild der Juden und dadurch ihre Stellung und Akzeptanz in der Welt zu erhöhen, insofern nicht zuletzt dem Antisemitismus entgegenzuwirken.378
376 Pinkos der jüdischen Gemeinde von Mstislav, einem Städtchen im Gouvernement Mohilev, 1808, zitiert bei Rabinowitsch: Organisationen, S. 29. 377 Löwe: Mildtätigkeit, S. 112. 378 Vgl. zum Interesse der Humanisten im 16. Jh. an der Reform des Armenwesens Davis: Poor Relief, S. 61 f.
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»Die Kluft zwischen jüdischen Wohltätern und Empfängern nahm merklich zu. So waren z.B. bei einem Sommerfest in Warschau, dessen Erlös zur Finanzierung von wohltätigen Aktivitäten bestimmt war, Juden in langen Kaftanen ausgeschlossen.«379 Mit der zunehmenden Säkularisierung der kleinen wohlhabenden jüdischen Schicht passte man sich auch äußerlich der christlichen Umgebung an. Jüdische Kleidung war in diesen Kreisen nicht mehr gern gesehen, während sich aber gerade die arme Bevölkerung, trotz Verbot,380 weiterhin jüdisch traditionell kleidete. Die Gegensätze waren längst nicht mehr nur wirtschaftlich bestimmt, sondern sie wurden äußerlich sichtbar und deuteten gleichzeitig auf die inzwischen unterschiedliche Geisteshaltung. Das 19· Jahrhundert war das Jahrhundert der großen Philanthropie. Während des Aufstiegs des Kapitalismus und der damit einher gehenden Verelendung mussten neue Wege der Hilfe gefunden werden. Die chevrot verbündeten sich mit philanthropischen Gruppen und internationalen Gesellschaften wie der JCA, Bnai Brith, TOZ (OZE) und ORT. In Lodz war die organisierte Wohltätigkeit stark entwickelt. Außer mehreren Waisenhäusern und Vereinen für medizinische Hilfe besaß Lodz ein großes jüdisches Krankenhaus, das 1900 von dem Fabrikanten Poznanski erbaut wurde. In Lodz wurde 1881 die bikur cholim chevra gegründet, die Zahl der Mitglieder stieg in nur einem Jahr von 18 auf 600. Sie hatte 18 Niederlassungen in der Stadt und 13 fest angestellte Ärzte. 1891 wurde »Linat bacedek« gegründet, eine Gesellschaft, die sich darum bemühte, Besucher für die Kranken im Spital zu organisieren. Chasidim eröffneten ein zweites Spital. 1893 wurde von assimilierten wohlhabenden Juden »Dobroczynnosc«, eine Wohltätigkeitsgesellschaft, gegründet. Sie finanzierten eine billige Küche, förderten bessere Wohngelegenheiten, organisierten zinslose Darlehenskassen, verteilten kostenlos Holz und Kohle und boten medizinische Hilfe an.381
379 Jacob Shatzky: Institutional Aspects of Jewish Life in Warsaw in the Second Half of the 19th Century. In: YIVO. Annual of Jewish Social Science (1955), hier S. 29; zitiert bei Elisabeth Sperling: Der Wandel des jüdischen Sozialwesens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Rußland und Russisch-Polen; In: Juden in Ostmitteleuropa. Von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg, S. 2 3 3 - 2 3 9 . Hg. von Gotthold Rhode. Marburg a. L 1989, S. 235. Diesen Wandel in der jüdischen Wohltätigkeit und die wachsende Kluft zwischen den Wohltätern und den Hilfeempfängern stellte auch Landau fest: Unter jüdischen Proletariern, S. 62 f. 380 Schwara: Kindheit und Jugend, Kapitel »Schutz des Körpers und der Seele«, S. 2 7 6 - 2 8 7 . 381 Levitats: Jewish community, S. 170.
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Die Akten, die das traurigste Kapitel jüdischer Geschichte in Polen dokumentieren, zeigen das Ausmaß jüdischer Solidarität - gleichzeitig das der Armut. Bevor die deutsche Besatzungsmacht während des 2. Weltkrieges alles jüdische zerstören konnte, musste sie die Ziele ihrer Vernichtungspläne abstecken. Ausgerechnet ihre Akten decken das ganze Ausmaß der jüdischen Wohltätigkeit auf. Spätestens hier hätte das Bild des »Juden«, wie es von Nazi-Deutschland erschaffen worden ist, in sich zusammenbrechen müssen. Erfolgte die Inventar-Aufnahme dieser Wohltätigkeitsinstitutionen auch erst 1940 - und aus Unmenschlichkeit - , dokumentiert sie aber hundert Jahre jüdischer Nächstenliebe. Die Verantwortlichen für das jüdische Waisenhaus in Krakau ζ. B. lieferten pflichtgemäß - und im Vertrauen auf Menschlichkeit - ihren Bericht ab: »Der noch im Jahre 1847 gegründete Verein ist mit der Aufgabe ins Leben gerufen worden, verlassenen jüdischen Waisenkindern beiderlei Geschlechts aus den ärmsten Kreisen der Bevölkerung Unterkunft, Bekleidung und Verpflegung zu bieten und ihnen auch eine entsprechende Erziehung angedeihen zu lassen, damit diese Kinder der sonst preisgegebenen Verwahrlosung entzogen werden und somit der Gesellschaft und dem Staate nicht zur Last fallen, sondern zu gesunden, produktiven und nützlichen Menschen der Arbeit heranwachsen. (...) Im Laufe der vielen Jahre seines Bestandes hat der Verein diese Aufgaben zur Genüge erfüllt und erfreut sich seit jeher bei allen kommunalen und staatlichen Behörden des besten Rufes sowohl als musterhaftes Erziehungsinstitut als auch als notwendiges Wohltätigkeitsunternehmen.«382 Gerade das erklärte Ziel, jede Andeutung jüdischen Lebens zu zerstören, verkehrte sich in sein Gegenteil: Es entsteht ein Bild jüdischer Werte, die sogar diese Barbarei überlebt haben, obwohl nur ein kleiner Teil der in Osteuropa ansässigen Juden der Vernichtung entkommen konnte. Es gab mehrere Waisenhäuser, Jüdische Soziale Selbsthilfe, eine Tagesheimstätte für arme jüdische Kinder und die »Ochronka dla najbiedniejszych dzieci zydowskich w Krakowie«, ein Heim für die allerärmsten jüdischen Kinder383 sowie einen Verein für die Beschuhung amer jüdischer Kinder für den Winter. Im Formular der Besatzungsmacht »Anmeldung von Vereinsvermögen« erfahren wir: »Der Verein verfügte über kein eigenes Lokal und Büroeinrichtung. Die Agenden des Vereines wurden im Lokal der ehemaligen Jüdischen Gemeinde in Podgörze,
382 AP Krakau, SMKR 433. 383 AP Krakau, SMKR 433.
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Jozefinskastr. 5 geführt. Zu Kriegsbeginn wurden die vorhandenen Schuhe an bedürftige Kinder verteilt.«384 Bei »moderner« Wohltätigkeit fällt vor allem die wachsende Bürokratie auf, während früher die meisten Gaben persönlich überreicht wurden. Auf die Gefühle der Bedürftigen wird kaum Rücksicht genommen, bei den Wohltätern lässt sich weitgehend Emotionslosigkeit und eine pragmatische Grundhaltung feststellen. Durch die Anonymität wuchs allerdings auch die Bereitschaft, von den sich bietenden Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Eine Wechselwirkung entsteht: keine Rücksichtnahme auf Schamgefühle hat das Schwinden derselben zur Folge. Vorher bestand zwischen den Gebern und Nehmern direkter Kontakt oder der kahal diente als Vermittler, dessen Mitglieder man aber meist auch kannte. Der Leistungsbegriff, mit dem diese neuen Formen der Wohltätigkeit, die Hilfe zur Selbsthilfe, verbunden waren, führte zu einer zusätzlichen Schwierigkeit. Es entstand eine Gruppe von Menschen, die durch dieses auf Ertrag und Erfolg ausgerichtete soziale Netz hindurchfielen, und zwar ausgerechnet jene Gruppe, die zuvor, als man aus religiösen Motiven handelte und sich seinem Nächsten aus ethisch-moralischen Gründen verpflichtet fühlte, die ersten waren, denen man half. Was bedeutete dieser Wandel für Menschen, die nicht in der Lage waren, zu leisten, die die Hilfe zur Selbsthilfe nicht nutzen konnten, weil sie krank, behindert oder zu alt waren? Die Haltung gegenüber der Armut hatte sich im Laufe der Zeit in Europa stark verändert. In ostjüdischen Gemeinden ist der Einfluss dieser neuen Einstellung, die auf Leistung und Verbesserung der Zustände abzielte, erst Ende des 19· Jahrhunderts sichtbar und auch dies nur in aufgeklärten Kreisen. Die meisten sahen die Armut nach wie vor als gottgegeben und die Aufgabe der Reichen darin, diese so gut als möglich aufzufangen. Es gab keine »gute« oder »schlechte« Armut. Der Gedanke, man müsse die Armut beseitigen, war im Zuge der Aufklärung entstanden. Man fing an, über selbst- oder fremdverschuldete Armut nachzudenken, zu richten und auch die Gaben entsprechend zu verteilen. Die vielen Armutszeugnisse, die - neben der zu bescheinigenden Armut und somit Bedürftigkeit - immer auch auf den tadellosen Lebenswandel und moralisch einwandfreie Gesinnung hinweisen, bezeugen diesen Wandel. Die Abhängigkeit von diesen entscheidenden In-
384 AP Krakau SMKR434, Bl. 17, Punkt 11, »Hausrat etc.«
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stanzen wächst zusehends. Es sind nicht mehr Nehmer und Geber Gott verpflichtet, sondern nur noch die Nehmer - und auch nicht mehr Gott, sondern den über sie urteilenden, mit weltlichen Gütern besser bedachten Mitmenschen. Im Verlauf des 19- Jahrhunderts entstanden aber mit den Luftmenschen so viele Mittellose, dass weder die alten noch die neuen Formen der Wohltätigkeit eine spürbare Linderung der Not bringen konnten.
Alte und neue Wege aus dem Elend385 Eine bekannte Möglichkeit, all den Beschränkungen, die jüdisches Leben bestimmten, zu entkommen, war die Bekehrung zur Religion der Machthaber. Die Auswanderung in Gebiete, die bessere Lebensbedingungen versprachen, war ebenfalls nicht neu, doch wurde sie, abgesehen von den Vertreibungen aus Portugal und Spanien, nie in einem solchen Ausmaß gewählt, wie Ende des 19-Jahrhunderts aus Ost- nach Westeuropa, Nord- und Südamerika sowie Palästina. Eine ganz neue Maßnahme gegen politische und wirtschaftliche Benachteiligung aber war der politische Kampf. Sozialismus, Anarchismus und der Zionismus bekamen durch das neue jüdische Selbstbewusstsein einen Boden in der jungen, gebildeten Schicht der Ostjuden. Lippenbekenntnisse aus existenziellerNot Seit jeher waren christliche Organisationen und die Kirche bemüht, Juden zu bekehren. So gab es auch Ende des 19· Jahrhunderts westeuropäische Missionare, die eigens zur Bekehrung der Juden nach Russland reisten.386 Zahlreiche Unterlagen dokumentieren Austritte aus dem Judentum.387 Allerdings machten von der Taufe gewöhnlich nur Angehörige der bürgerlichen
385 Diese Kapitel fußt auf Schwara: Kindheit und Jugend, Kapitel »Wahl«, S. 3 9 8 - 3 9 6 , und Schwara: »Zinismus, auch ein Geschäft!« Palästina aus ostjüdischer Sicht. In: Der Traum von Israel. Die Ursprünge des modernen Zionismus. Hg. von Heiko Haumann. Weinheim 1998, S. 1 4 0 - 1 6 9 . 386 AP Kielce, RGK, WAP Ref. IX 2151: Cirkuljary ο misslonerach" dlja obrasienija evreev" v" christlanstvo, 1878. 387 AP Lublin, RGL AIV 1867:161: Ob okreäienli evreja Janklja Vojnblat', 1867; RGLA IV 1876:12: Ob" obrascenli evreev" v" christlanstvo, 1876; RGL AIV1885:17; RGLA IV 1888: 30; RGL A IV 1893: 60: Po proSenlju rawina Izrailja Kristalinskago ob" iskljucenli ego iz" spiska duchovnych" lie" evrejskago ispovgdanlja, po slucaju prinjatija christjanskoj vgry, 1893; RGL AIV 1899:42; AP Kielce, RGK, WAP Ref. IX
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jüdischen Klassen Gebrauch.388 Manche wollten die Konversion rückgängig machen. 1885 bat ein Jude, der zwanzig Jahre für Russland gedient hatte und nun in sein Dorf zurückgekehrt war, wieder jüdisch werden zu dürfen. Dies wurde ihm zwar gewährt - allerdings solle er in den »entferntesten Winkel Russlands« verschickt werden, da er sonst einen schlechten Einfluss auf die christliche Umgebung ausüben könne.389 Nach 1905 schließlich tauchen viele Gesuche auf, die auf die eigentlichen Gründe deuten, die viele Juden zur Annahme des Christentums bewegt hatten: die Auswegslosigkeit. Sobald die politische Lage es erlaubte, man dies wenigstens annahm, baten einige »bekehrte« Juden, ihren alten Glauben wieder annehmen zu dürfen.390 Nur vereinzelt nahmen Christen den jüdischen Glauben an. Dies erfolgte nicht aus politisch-wirtschaftlichen Gründen, versteht sich, doch stand auch hier nicht religiöse Überzeugung dahinter. Ein junger Mann wollte sich der jüdischen Religion zuwenden, um eine Jüdin heiraten zu können.391 Welches Verhältnis die Juden zur Taufe hatten und zu konvertierten Glaubensgenossen, wird vor allem in ostjüdischen Witzen und Anekdoten deutlich. Sie waren sich der Beweggründe - wirtschaftliche Not und Verfolgung - bewusst und spotteten über sich und die Unabänderlichkeit grundsätzlicher Gegebenheiten: die Jüdischkeit.392 Die Assimilation, selbst wenn man dazu bereit war, brachte Schwierigkeiten mit sich, musste man doch das, woran man sich anpassen wollte, kennen. Das christlich-jüdische Verhältnis aber war weitgehend von gegenseitiger Unkenntnis geprägt. Auch wenn Juden und Nichtjuden über Jahrhunderte Seite an Seite lebten, kam es doch an den meisten Orten nie zu einem freundschaftlichen Miteinander, der Alltag war von gegenseitiger
2086: Ob" evrejach" zelajuätich" prinjat' christljanskuju veru, 1877; LVIA Wilna, f. 421, op 2: Kanceljarija Vilenskogo policmejstera, 1 8 0 9 - 1 9 1 3 . 388 Rabinowitsch: Organisationen, S. 23. 389 AP Lublin, RGLAIV 1885:127. 390 AP Lublin, RGL A IV 1906: 190: Ein Jude, der ein Jahr lang Christ war, möchte zurückkonvertieren, ebenso RGL A IV 1906:141: Po prosenlju zitelja sei. Ruda, gminy SvSrze, Cholmskago u6zda, Stanislava Gormana ο razrcsenli emu obratnogo perechoda iz" katolicizma v" ludejstvo, 1906, gleich mehrere waren es 1907, RGL A IV 1907:182: Ob obratnom" perechodfi evreev" iz" christlanstva v" ludejstvo, 1907. Dass man nach dem politischen Machtwechsel 1905 offiziell das Recht hatte, den herkömmlichen Glauben wieder anzunehmen, bestätigen auch Berichte der JCA. (CAHJP Jerusalem J C A 72 (8), 1912). 391 AP Lublin, RGL AIV 1869:109, S. 2 - 3 . 392 Vgl. Schwara: Humor, Kapitel »Taufe« und Kapitel »Assimilation«.
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Isolation geprägt.393 Mischehen gab es kaum, und wenn, sah sich das Paar zur Abwanderung veranlasst, meist zog es nach Wilna und ließ sich dort trauen.394 Erst mit dem neuen politischen Bewusstsein, mit der Gewissheit, dass auch Juden Rechte beanspruchen dürften und nicht mehr und nicht minder Grund hätten, auf ihre Jüdischkeit stolz zu sein, als andere Völker auf ihre Nationalitäten und ihre Religionen auch, kam es sogar zu öffentlichen Protesten gegen Abtrünnige. »Les jeunes gens Israelites tiennent de plus en plus ä montrer leur indignation au sujet des nombreuses conversions des Israelites et ä exprimer leur bläme ä l'adresse de ceux qui quittent les rangs des combattants. Suivant l'exemple de la jeunesse d'Ekaterinoslav, celle de Minsk et celle de Poltava joignent leur protestation energique contre ce fait indigne.«395 Wollte man sich der christlichen Umwelt anpassen, ohne den jüdischen Glauben aufzugeben, gab es zahlreiche Bestimmungen, die dies verhinderten. Mit einem Erlass wurde den Juden 1913 verboten, christliche Namen anzunehmen, da dies irreführend sei und glauben lassen könne, es handle sich um Christen. Christliche Namen seien mit dem Christentum eng verbunden.396 Assimilation und Taufe vermochten wenig gegen Benachteiligungen auszurichten. Die Bekehrten wurden »christliche Juden« genannt.397 Politisches Erwachen398 Obwohl sich die jüdische Bevölkerung zu einem großen Teil politisch abseits hielt, wuchs die Bereitschaft zu einem aktiven Eingreifen gegen Ende des Jahrhunderts. Die Berührungspunkte mit Nichtjuden brachten neue politi-
393 Vgl. Regina Renz: Zycie codzienne w miasteczkach wojewodztwa kieleckiego 1918-1939. Kielce 1994, S. 87 f. 394 Renz: Zycie, S. 92 f. 395 CAHJP Jerusalem, JCA72 (8), 1912. 396 CAHJP Jerusalem, JCA 72 (8). An dieser Stelle soll nicht weiter auf die Tatsache eingegangen werden, das es seit Jahrhunderten christlicher Tradition entspricht, Kinder auf gute alte jüdische Namen taufen zu lassen. 397 Jacob S. Raisin: The Haskalah Movement in Russia. Philadelphia 1913, S. 128 f; J. Kreppel: Juden und Judentum heute. Ein Handbuch. Zürich usw. 1925, S. 7. 398 Vgl. John Bunzl: Klassenkampf in der Diaspora. Zur Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung. Wien 1975-, Philip Desind: Jewish and Russian Revolutionaries Exiled to Siberia 1901-1917. Lewiston, N.Y. 1991; Henri Minczeles: Vilna, Wilno, Vilnius. La Jerusalem de Lituanie. Paris 1993, Kapitel »Vilna: lieu de naissance du socialisme juif«, S. 84-92; Polin 9 (1996): Poles, Jews, Socialists. The Failure of an Ideal. Hg. von Antony Polonsky u.a.
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sehe Ideen auch in jüdische Kreise. »Die jüdischen Arbeiter in Polen stehen immerhin sozial viel höher als ihre Genossen in Galizien, sie sind auch klassenbewusster und ein vom Standpunkte der Organisierungsfähigkeit viel besseres Element, worauf schon die von Erfolg gekrönten Versuche, Gewerkschaften ins Leben zu rufen, hinweisen. Die jüdische Arbeiterklasse Polens ist - dies mag den speziellen Verhältnissen zuzuschreiben sein - revolutionär und wissensdurstig, kritischer als die meisten Genossen in Galizien, wo die jüdischen Arbeiter, namentlich vor dem Auftreten der jüdischen sozialistischen Arbeiterparteien, ganz der roten polnischen Assimilation verfallen waren.«399 In Galizien gab es, mit Ausnahme des Verbandes für Handlungsgehilfen, keine speziellen jüdischen Gewerkschaftsorganisationen. Doch auch die Handlungsgehilfen fanden es nicht nötig, sich politisch zu organisieren, da sie sich als künftige Selbständige sahen. Arbeiter anderer Berufsgruppen waren zwar in den zentralen sozialdemokratischer Gewerkschaften organisiert, die ihnen jedoch innerhalb der Gewerkschaften keinerlei Zugeständnisse machen wollten, etwa in Form von Zeitungen oder Broschüren in Jiddisch.400 Bedeutend radikaler, beeinflusst von russischem revolutionären Gedankengut, waren die Juden im Zarenreich, hatten sie sich erst einmal zum Kampf entschlossen. Vor allem die gebildete jüdische Jugend sah Möglichkeiten zur Veränderung durch politische Arbeit. »The revolutionary spirit seized on men and women alike. Women left their husbands, girls their devoted parents, and threw themselves into the swirl of nihilism with a vigor and self-sacrifice almost incredible.«401 Im »Bund« bildeten sich zwei Strömungen heraus: während die einen Assimilation befürworteten, sprachen sich die anderen für die Beibehaltung jüdischer Kultur aus. »The assimilationist trend within the Bund was never fully developed theoretically. (...) Among the younger members who took a strongly nationalist position was the romantic idealist and talented writer Esther Frumkin, who by 1906 began to become known merely as Esther. She made flaming speeches on Yiddish and Jewish education, trying to spark national consciousness among the Jewish intelligentsia and masses. In 1909 she proclaimed that >the task of the conscious proletariat is to show the people the way to the struggle for the rights of the Yiddish language, of the Jewish school. Yiddish
399 Rosenfeld: Judenfrage, S. 107. 4 0 0 Rosenfeid: Judenfrage, S. 124. 401 Raisin: Haskalah, S. 257.
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must be used in special Jewish schools for the Jewish child as a link to the past and to the Jewish nation. He must receive a new, concentrated proletarian-national education< (...) Interestingly, there seems to have been no thought of expelling her from the Bund for her national-religious >deviationUns ist schlecht, wir wollen besser leben, wir arbeiten jaLuftmenschen< gegenüber. Was ist das? Das sind jene, welche kein Gewerbe und keinen Handel betreiben, die heute nachts nicht wissen, wovon sie morgen früh leben, und des Morgens, wovon sie ihre Familien zu Mittag ernähren werden. Sie sind bald Makler, bald lernen sie Mischna, wenn jemand stirbt, bald sind sie als >Cursoren< Concurrenten der Post, indem sie für zwei Kreuzer einen Brief und für 5 - 1 0 Kreuzer ein Paket in die nächstliegenden Ortschaften befördern. Ihre physische Kraft ist ja wertlos, denn sie findet keinen Abnehmer. Je kleiner die Ortschaft, umso geringer die Arbeitsgelegenheit, umso größer das Elend.«406 Die russischen Behörden setzten sozialistische Bewegungen den zionistischen gleich und verfolgten alle politischen Gruppierungen erbarmungslos. Jedem Hinweis, meist anonym, ging man nach. Briefe und Zettel wurden beschlagnahmt und sorgfältig ins Russische übersetzt. 1903 wurden jüdische Frauen und Männer bei einer Versammlung im Wald verhaftet.407 Die Akten zeugen von reger Propagandatätigkeit der verschiedenen politischen jüdischen Gruppen. Es finden sich Aufrufe von PoalejCion, der »Arbeiter Zions«, an die jüdische Bevölkerung, nach Palästina auszuwandern oder wenigstens in den Fonds, für die Kolonisation vorgesehen, einzuzahlen und, wer das nicht vermag, für ihn zu arbeiten408 Die Korrespondenz, die die Verfolgungen der Organisationen dokumentiert, galt als sekretno oder soversenno sekretno, geheim und streng geheim, und zeugt von geographisch groß angelegten Aktionen und bürokratischer Genauigkeit. Ein zionistischer Aktivist, 17 Jahre alt, wurde 1906 in Vladova aufgegriffen, seine Flugblätter, mit denen man »Der najer veg« abonnieren konnte, beschlagnahmt, er selbst endlos verhört. Er blieb standfest: Die zwei Männer und zwei Frauen - in freundschaftlicher Eintracht mit ihm zusammen auf einer Fotografie zu sehen, die der russischen Polizei in die Hände gefallen war - habe er noch nie in seinem Leben gesehen. In Ruzana, die er als Heimatstadt angab, kannte
405 406 407 408
Landau: Unter jüdischen Proletariern, S. 12. Landau: Unter jüdischen Proletariern, S. 13. LVIA Wilna, f. 421, op. 3/122: Kanceljarija Vilenskogo policmejstera, 1 8 0 9 - 1 9 1 3 . AP Lublin, Zand. Pow. Bialsk. 124, S. 1 - 3 (Russisch).
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ihn gemäß polizeilichen Ermittlungen niemand.409 1910 verschickte der polkovnik, Oberst, der Stadt Warschau an alle Organe, die sich mit »politischen Untersuchungen« beschäftigten wie auch an alle Grenzposten ein Zirkular, in dem er sie auffordert, eine Marija Abeleva Tenenbaum festzunehmen. Sie solle der Organisation »Pojalej-Sion« angehören, allerdings sei nicht bekannt, wo sie sich versteckt halte. »Von der genannten Marija Tenenbaum ist bekannt, daß sie 23 Jahre alt ist, Jüdin, mittelgroß, brünett, die Haare trägt sie über die Schläfen gekämmt, mit einem Mittelscheitel, sie hat ein längliches Gesicht und stammt aus einer Kleinbürgerfamilie, Stadt Bendin, wo sie bei ihrem Vater Abel Ioskov Gol'dstejn lebte und Unterricht erteilte.« Sollte sie gefunden werden, sei sie zu durchsuchen, festzunehmen und an den nacalnik, Vorsteher, des Bezirks Bendin zu überführen.410 Vor allem Propagandamaterial von Poalej Cion und verschiedenen sozialistischen Gruppen wurde wo immer möglich beschlagnahmt, die Verfasser und Verteiler von Broschüren und Aufrufen verfolgt, die Unterlagen zu den Polizeiakten gelegt. Die Habsburgermonarchie war den ostjüdischen Zionisten nicht freundlicher gesinnt als das Zarenreich. Wo sich noch Akten aus Galizien finden, wurde politisch aktiven Jüdinnen und Juden - gleichgültig, ob sie des Zionismus, des Sozialismus oder des Anarchismus bezichtigt wurden - vor allem Spionagetätigkeit unterstellt oder man befürchtete mögliche Attentate.411 Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden die Zionisten zudem beschuldigt, Entente-freundlich gesinnt zu sein.412 Der Zionismus wollte das Selbstbewusstsein der Judenheit auch in der Diaspora neu aufbauen und stärken. Hier vor allem setzte die Kritik des russischen Innenministers Pleve ein und wurde gleichzeitig zu seiner Rechtfer-
4 0 9 Ebd. 183, S. 1 - 1 8 (Russisch, Hebräisch, Jiddisch). 4 1 0 Ebd. 124, S. 1 5 , 1 6 (Russisch). 411 Der Direktor der Krakauer Polizei wurde von der Lemberger Polizei informiert, dass ihm die Wiener Polizei mitgeteilt habe, die in Amerika lebende Anarchistin Emma Goldmann würde demnächst in Europa erwartet. »Die besagte Jüdin versucht auch Beziehungen mit anderen Anarchisten anzuknüpfen, mit dem Ziel, sie zu anarchistischen Attentaten zu bewegen.« (Brief vom 23. November 1892). Schon Monate zuvor hatte man offensichtlich von der geplanten Reise erfahren: Die Anarchistin werde im Dezember 1892 oder Januar 1893 erwartet (Brief vom 7. Januar 1892). Archiwum Panstwowe w Krakowie, Oddz. II. Zespol: CK. Starostwo w Chrzanowie 1 8 6 8 - 1 9 1 8 . Nadzor nad stowarzyszenianii 1 9 0 4 - 1 9 0 6 , 1 9 1 2 - 1 9 1 8 , 1 3 5 1 p r . / 9 2 (Polnisch). 412 Central'nij derzavnij istoriCnij archiv, Lemberg, fond 146/4. Berichte des österreichischen Geheimdienstes (Deutsch).
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tigung des Verbots und der gnadenlosen Verfolgung der Zionisten: Er befürworte den Zionismus, solange dieser Ziele verfolge, die die jüdische Bevölkerung zur Auswanderung aus Russland bewegten. Der ideologische Zionismus baue aber auf das nationale Gefühl der jüdischen Bevölkerung überall, wo sie sich aufhalte. Eine solche Entwicklung widerspräche den Interessen Russlands.413 Aufrufe zu politischer Entschlossenheit innerhalb des Zarenreiches waren streng verboten.414 In geheimen Unterlagen der russischen Polizei finden sich unzählige Flugblätter, so etwa ein Aufruf der sozialdemokratischen Arbeiterjugend Buduscnosf, Zukunft. Es handelt sich um einen feurigen Aufruf an die Jugend, sie solle sich dem Proletariat anschließen: »(...) schreitet kühn einher, die Zukunft gehört uns! Es lebe die Revolution! Es lebe der Sozialismus! Komitee der sozialdemokratischen Arbeiterjugend Buduscnost', 1. Juni 1911 .« 415 1913 erfolgt wieder ein streng geheimes Zirkular an alle Vorsteher der Polizeiverwaltungen des Gouvernementes, es sei erneut eine Konferenz von Poalej Cion geplant, diesmal in Krakau. In allen Städten Russlands sei bereits eine Geldsammlung organisiert.416 Ein Dorn im Auge waren dem russischen Geheimdienst deutlich die Stellen, wo Massenkundgebungen oder politische Bildung und Erziehung des Volkes angestrebt wurden: Diese Stellen sind in den Akten jeweils unterstrichen, ebenso alle erwähnten Namen.417 »So bildete sich ein Zauberkreis: die vom alten Regime am schwersten unterdrückten Juden mussten sich notgedrungen in die Freiheitsbewegung stürzen, wofür sich das schwarze Rußland an ihnen durch Pogrome rächte, die jedoch die jüdische Bevölkerung nur noch mehr revolutionierten.«418 Nach der Revolution 1905 hatte Ministerpräsident Witte die schwere wirtschaftliche Lage der jüdischen Bevölkerung erkannt und machte sie für die große Radikalisierungsbereitschaft unter den Juden verantwortlich. Er erklärte, dass »das regierungsfeindliche Verhalten, das
4 1 3 Dubnow: Weltgeschichte. Band 10, S. 335. Hier reflektierte Pleve die Haltung vieler osteuropäischer Zionisten im Unterschied zu westeuropäischen, nicht nur die Heimstätte in Palästina zu fordern, sondern auch die nationale Gleichberechtigung der Juden in ihren derzeitigen Wohngebieten. 4 1 4 AP Lublin, Zand. Pow. Bialsk. 124, S. 16 (Russisch). 4 1 5 Ebd. 124, S. 19, 20 (Russisch). 4 1 6 Ebd. 124, S. 37 (Russisch). 417 Ebd. 124, S. 5 0 - 5 2 (Russisch); vgl. 150 (Russisch), 120 (Russisch), 121 (Russisch), 125 Russisch und 126 (Russisch, Jiddisch) sowie Zandarmeria Powiatöw Zamojskiego usw. 116 (Russisch). 4 1 8 Dubnow: Weltgeschichte. Band 10, S. 392.
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sich heute unter der jüdischen Bevölkerung bemerkbar macht, eine Rückwirkung der schweren materiellen Verhältnisse ist, unter denen die von den Ausnahmegesetzen betroffene Mehrheit der russischen Juden ihr Dasein fristet; die gegen die Regierung gerichteten Umtriebe der Juden (...) werden schwer zu bekämpfen sein, solange die angekündigte Verbesserung des Loses der Fremdstämmigen nicht Wirklichkeit geworden ist.«419 Der sozialistische »Bund« war mit seinen politischen Zielen nur für Teile der gebildeten jüdischen Jugend attraktiv, hauptsächlich in Wilna, da er schon früh mit einer zionistisch-sozialistischen Konkurrenz leben musste, die vor allem in Polen und Galizien mehr Menschen für sich gewinnen konnte. Zum einen war ihr Propaganda-Material wirklichkeitsnaher und verständlicher gestaltet, (obwohl auch der »Bund« seine Ziele ins Jiddische übersetzte, doch handelte es sich wirklich um bloße Übersetzung der abstrakt gehaltenen sozial-demokratischen Sprache um die Jahrhundertwende, in der die regionalen Eigenheiten der Arbeiter, die die Sozialdemokraten weltweit für die Sache der Arbeiter gewinnen wollten, nicht berücksichtigte), zum anderen konnten zionistische Organisationen auf jüdischer Tradition und Geschichte aufbauen, auf dem ewigen Wunsch der Juden, nach Palästina zurückzukehren, auch wenn sie ihre Welt im Grunde gar nicht verlassen wollten. Die Suche nach neuen Lebensmöglichkeiten420 Wer weder konvertieren wollte noch sich assimilieren, den politischen Kampf nicht als möglichen Weg ansah, aber auch nicht gewillt war, die erdrückenden Lebensbedingungen weiterhin wortlos in Kauf zu nehmen, entschloss sich zur Auswanderung. Ohne Aussicht auf eine Besserung der Lage in der Heimat wählten immer mehr Juden den Weg der Auswanderung, vor
4 1 9 Dubnow: Weltgeschichte. Band 10, S. 386. 4 2 0 Ausführlich zur Auswanderung der Ostjuden siehe Al'fonsas Ejdintas: Litovskaja emigracija ν strany Severnoj i Juznoj Ameriki ν 1 8 6 8 - 1 9 4 0 gg. Vil'njus 1989; Gay: People; Wladimir Wolf Kaplan-Kogan: Die jüdischen Wanderbewegungen in der neuesten Zeit ( 1 8 8 0 - 1 9 1 4 ) , Bonn 1919; Maria Klanska: Aus dem Schtetl in die Welt 1772 bis 1938). Ostjüdische Autobiographien in deutscher Sprache. (Literatur und Leben. Band 45). Wien usw. 1994, Kapitel »Die Eingewanderten in Österreich«, S. 3 1 2 - 3 5 9 ; Dieter Schonebohm: Ostjuden in London. Der Jewish Chronicle und die Arbeiterbewegung der jüdischen Immigranten im Londoner East End, 1 8 8 1 - 1 9 0 0 . Frankfurt a.M. usw. 1987; Klaus Hödl: »Vom Shtetl an die Lower East Side«. Galizische Juden in New York. Wien usw. 1991; Klaus Hödl: Als Bettler in die Leopoldsstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien usw. 1994.
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allem nach 1881, der Ermordung von Alexander II. und den folgenden Pogromen. Sicher gab es auch Kolonisationsbestrebungen in Osteuropa,421 und es stellte sich sogar ein gewisser Erfolg ein. Doch wenn man schon bereit war, sich auf eine ganz neue Lebensweise einzustellen, war es verständlich, dass fremde Länder, besonders das »freie« Amerika oder die alte Heimat Palästina verlockender waren als ein Gemüsegarten ein paar Ortschaften entfernt. Die meisten dieser Auswanderer waren Handwerker, Händler und Luftmenschen. »Es war kein repräsentativer Querschnitt durch die jüdische Bevölkerung Osteuropas, der vor dem Ersten Weltkrieg nach Amerika emigrierte, sondern vielmehr ein Großteil der Unterschicht.« Die Statistiken zeigen, dass es fast ausschließlich die Armen und Ungebildeten ins Neue Land zog. »Die amerikanisch-jüdische Geschichte ist somit nachweislich die Geschichte der Einwanderung von Menschen mit der geringsten Qualifikation.«422 Obwohl sich die Situation in Osteuropa für alle sozialen Schichten verschlechterte, sprachen sich aber die Rabbiner nicht etwa für eine Auswanderung aus. Der chasidische rebe Elazar Sapira schrieb in seinem Buch »Divrei Tora«, »Die Worte der tora«, es gebe drei Tore zur Hölle: »Die Ungläubigkeit mancher Elemente der europäischen Judenheit, die absolute Unterwerfung unter das Geld in Amerika und der in Jerusalem um sich greifende weltliche Zionismus!«423 Die meisten Einwanderer, die sich für Amerika entschieden hatten, stammten aus Russland. »Auf den Trümmern Rußlands entstand Amerika. (...) Wenn die notleidenden Massen in Amerika vor allem Verdienstmöglichkeit und Schutz vor Gewalttaten suchten, so schwebte den mitauswandernden Intellektuellen ein höheres Ziel vor. Während der Krise von 1881-1882 stand nämlich in Rußland innerhalb der jüdischen Gebildetenschicht den von der uralten messianischen Sehnsucht übermannten >Palästinensem< die Richtung der nach politischer Freiheit lechzenden >Amerikaner< gegenüber.«424 Dass es sich bei den Auswanderungswilligen um die Ärmsten der Armen handelte, zeigen auch die Zwischenberichte der Organisationen, die ihnen, so gut es bei der großen Zahl von Flüchtlingen eben ging, beizustehen versuchten. »Während des heutigen Vormittagsgottesdienstes kam es um etwa halb 11 Uhr im Leopoldstädter Tempel zu einem aufregenden Zwischenfall.
421 Vgl. Kapitel »Solidarität im Wandel«. 422 Arthur Hertzberg: Shalom, Amerika! Die Geschichte der Juden in der Neuen Welt. München 1992, S. 83,93,94. 423 Hertzberg: Shalom, S. 88. 424 Dubnow: Weltgeschichte, Band 10, S. 276.
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Eine Schar russischer Emigranten begann plötzlich laute Rufe auszustoßen und zu schreien: >Gebt uns Brot, gebt uns zu essen!< Auf der Frauengalerie entstand hierüber große Unruhe, da die Frauen glaubten, daß etwas geschehen sei. Als dann auf dieser Galerie weibliche russische Flüchtlinge gleichfalls zu schreien begannen, flüchteten die übrigen Frauen erschreckt dem Ausgange zu. Oberrabbiner Schmidl beruhigte aber die Tempelbesucher und es gelang ihm, die Furcht zu bannen und die Frauen zu beschwichtigen. Unter den Anwesenden wurde für die russischen Flüchtlinge, welche sich beschwerten, daß sie hier keine Unterstützung finden und dem Elend und Hunger preisgegeben sind, eine Sammlung eingeleitet. Die Emigranten wurden aber aus dem Tempel gewiesen und lärmten noch auf der Gasse weiter, bis dann Wache einschritt und sie zum Verlassen des Platzes veranlaßte.« Das Elend der Flüchtlinge wird wiederholt bestätigt: »In Krakau, Lemberg, Brody, Tarnopol und Czernowitz sind eine größere Anzahl Emigranten, mit denen man dort nichts anzufangen weiß. (...). Die meisten der Emigranten sind ohne jegliche Mittel und fallen der öffentlichen und privaten Mildtätigkeit zur Last.« Jede Gemeinde sei bemüht, die Flüchtlinge so rasch als möglich los zu werden. Ihre Zahl und ihr Elend ließen sie zur Ware werden. Am 26. Februar 1906 erfolgte folgendes Tfelegramm Herrn Rotters, JCA Wien, an die JCA Paris: ERSUCHE ERMAECHTIGUNG MORGEN EMIGRATIONSFAEHIGE RUSSEN VON HIER ZU EXPEDIREN - EVACUIRUNG DRINGEND NOTHWENDIG DRAHTANTWORT = ROTTER Und zwei Tage später: ERSUCHE 150 ARGENTINIEN UEBER HAMBURG 30 NORDAMERIKA TRIEST 20 KANADA ZU BEFOERDERN = ROTTER In einer Krakauer Synagoge veranstalteten russische Emigranten ebenfalls einen »TUmult« und verlangten Brot. Der JCA-Delegierte handelte rasch und informierte Paris, zunächst aus Krakau, GESTERN LISTE NEUNZIG BESTSORTIRTER EMIGRANTEN ABGESANDT BESTIMMUNG HAVRE ARGENTINIEN BRAUCHE NOCH HUNDERTFUENFZIG PLAETZE HAVRE FUENFZEHNTEN KRAKAU NOCH 7 0 0 FLUECHTLINGE DRATANTWORT ROYAL - ROTTER dann aus Wien: SCHAETZE ANZAHL FLUECHTLINGE ACHTZEHNHUNDERT BIS ZWEITAUSEND BERICHT FOLGT - ROTTER - 425
4 2 5 CAHJP Jerusalem, JCA 200b, 1906 (Deutsch).
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»Bestsortierte Emigranten« wollte man nach Argentinien schicken, als handle es sich um Tomaten. Doch macht man sich bewusst, welche Arbeit die Organisationen zu leisten hatten, wird verständlich, dass sie all dem Elend, das über ihnen zusammenbrach, einfach nicht gewachsen waren. Die wirtschaftliche Not war Ursache für unzählige Krankheiten. »Im Jahre 1907 mußten wir in 4 1 9 Fällen von Augenkrankheiten, in 25 Fällen von Kopfhautkrankheiten, zusammen ca. 1200 Personen Hilfe leisten. In 566 Fällen mußten wir Pässe besorgen, in 6 1 8 Fällen gegen Agenten einschreiten, in 4 6 Fällen rückreisenden Emigranten helfen &.s.w. Fast alle bei den genannten Fällen in Frage kommende Personen würden ohne das Comite zu ruinierten Existenzen geworden sein und nur durch die Hilfe des Comite sind sie in das richtige Geleise gebracht worden. (...) Wir hatten vor unseren Augen täglich Fälle, wo mit einigen Rbl. einer Mutter die Augen kuriert und sie dadurch zu ihren Kindern in Amerika gebracht werden konnte. Nur durch unser Einspringen konnten täglich Pässe besorgt und dadurch Kinder ihren Eltern, Frauen ihren Männern zugeführt werden; von 2327 Fällen reisten in 567 Fällen Frauen mit Kindern zum Mann und in 7 9 4 Kinder zu Eltern. Oder es kommt eine Familie die vollständig reisefertig ist und bei der plötzlich ein Kind erkrankt, so daß die Familie auf 1 - 2 Wochen zurückbleiben muß. Was soll nun mit dieser Familie geschehen? Doch außer diesen wegen ihrer Alltäglichkeit von uns angeführten Fällen kommen noch ganz unerwartete Calamitäten und gerade diese sind in letzter Zeit sehr häufig geworden. Unerwartete Verschärfungen der Einlaßbedingungen in den Immigrationsländern (z.B. Argentinien hinsichtlich Augenkrankheiten), irgend eine Veränderung der Passordnung, Preiserhöhung der Überfahrt und alle übrigen Hindernisse, denen der hilfloseste aller Emigranten, der russisch-jüdische Auswanderer, ausgesetzt ist.«426 Auch aus den Berichten über ostjüdische Emigranten in Wien erfahren wir von zahlreichen Krankheiten, die die Armut begleiteten. Kinder litten an Hiberkulose, volkstümlich »Schwindsucht« genannt, die vor allem in wirtschaftlich unterentwickelten Gebieten auftaucht. Eine Infektionskrankheit, die durch Anhusten übertragen wird, war natürlich gerade in mit Menschen überfüllten Räumen eine große Gefahr. Enuresis, Bettnässen, war ebenso verbreitet wie Rachitis, eine Vitamin-D-Mangelkrankheit, die zu Störungen des Calcium- und Phosphatstoffwechsels im Säuglings- und Kleinkindesalter führt. Krankheitszeichen bei Rachitis sind Schwitzen am ganzen Körper,
4 2 6 CAHJP Jerusalem, JCA 71 (11), 1908.
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besonders am Hinterkopf, Verschlechterung von Stimmung und Appetit sowie zunehmende Blässe. Die Verkalkung des Knochens verzögert sich, es bildet sich minderwertige Knochensubstanz, die sich zuerst an den dünnen Schädelknochen zeigt. Erfolgt keine Behandlung, so treten Erweiterungen des Brustkorbs auf, »Froschbauch« bei Säuglingen sowie Verdickungen an Armen und Beinen. Skrophulose, die Hauttuberkulose des Kindes, schwere Anämie, Blutarmut, die oft die Folge anderer Leiden ist, Lungenspitzenkattarrh, Neuropathie, Nervenkrankheiten waren unter den Auswandererkindern zu finden, am häufigstenparech, Krätze.427 Während die einen das Werk der JCA noch im Januar 1896 lobten, erhielt sie bereits im März Berichte, wonach viele Flüchtlinge wieder in ihre Heimatländer zurückkehren wollten. Doch auch wer positive Worte für die JCAArbeit in Argentinien gefunden hatte, machte auf die Mängel aufmerksam: Die Juden in der argentinischen Kolonie seien froh, wenn sie einen sochet bekommen könnten.428 Offensichtlich hätte man gern jüdische Traditionen weitergeführt, war aber durch die Umstände daran gehindert. Die Sorgen der Auswanderer waren groß. Ein junger Jude wollte um jeden Preis nach Argentinien, konnte aber wegen seiner Militärdienstpflicht nicht schon mit seinem Vater auswandern. Eine junge Witwe, deren Mann in Argentinien von einem Schuss tödlich getroffen worden war, hatte zusammen mit ihren drei Kindern von ihrem Recht auf Rückkehr Gebrauch gemacht und befand sich seit mehreren Monaten in Odessa in einer verzweifelten Lage.429 Auch ein Jahr später scheint sich die Lage noch nicht gebessert zu haben. Die JCA erhielt einen Bericht, dass die Juden nicht gewusst hätten, wie schrecklich die Bedingungen in Argentinien waren. Das Ministerium des Innern, Polizei Departement, lässt die JCA in St. Petersburg wissen, dass eine Rückkehr der Flüchtlinge ausgeschlossen sei. Diese schickte eine Übersetzung des Briefs an die JCA Paris und verlangte einen Bericht über die Lage in Argentinien, darüber, ob die Missstände, die die Kolonisten zur erneuten Wanderung zwangen, inzwischen behoben seien sowie eine Namensliste derer, die Argentinien bereits verlassen hatten.430 Viele Auswanderer, 15 bis 20 Prozent, sollen nach der Jahrhundertwende wieder zurückgekommen sein.431
427 428 429 430
Frei: Elend, S. 58. CAHJP Jerusalem, JCA 3b (Januar 1896). CAHJP Jerusalem, JCA 3b (Januar 1897). CAHJP Jerusalem J C A 3b (Februar 1897).
431 Haumann: Ostjuden, S. 105.
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In jiddischen Zeitungen in Amerika wurde vor betrügerischen Agenten gewarnt. Wer Amerika bereits erreicht hatte, wurde gebeten, jene in der Heimat zu unterrichten, die noch folgen wollten. »Nous avons dejä fait inserer dans les journaux americains, il y a 4 - 5 ans d'ici des publications analogues ayant pour but de faire comprendre aux immigrants Israelites desirant faire venir leurs parents de Russie l'utilite de diriger ces derniers vers nos comites, pour qu'ils ne tombent pas aux mains des agents qui ne cherchent qu'ä les exploiter. Cette fois-ci nous tenions ä rappeler la meme chose ä la population Israelite immigree. Du texte de la publication vous voyez qu'il n'y s'agit point d'autre chose que des informations et de la necessite de consulter les institutions competentes au lieu de s'adresser aux agents. Par migarde nous avons omis de prevenir les institutions americaines et de les pourvoir de brochures en question. Ces brochures leur ont ete envoyees plus tard. Nous vous retournons ci-inclus l'annonce publiee.« Der Informationsfluss aus der neuen Welt in die alte nahm tatsächlich seinen Lauf. »Gestern kam aus Myslowitz telegrafisch die Anzeige, daß dort fünfzehn russische Familien, über hundert Köpfe, eingetroffen seien, die als Regierungspassagiere gratis Beförderung nach Brasilien hier zu erhalten hätten. Diese Leute reisen nach der Kolonie Quatro Jrmaos. Die ersten von hier auf Ihre Veranlassung beförderten Emigranten scheinen von hier ihren Bekannten geschrieben zu haben, daß sie sich nur an Morawetz wenden möchten, der sehr anständig für die Leute sorgt und so kam es, daß von einer Anzahl Leuten bei der Firma Morawetz Logiszahlungen von Rubel 3 bezw. 6.- pro Person eingesandt wurden, worauf sie die Freischeine zugestellt erhielten.« Pragmatische Überlegungen veranlassten die JCA oft, Mittellosen beizustehen: Entschlösse man sich nicht rasch zum Eingreifen, würden die Kosten nur noch steigen. »In Myslowitz stellte es sich heraus, daß den Leuten das Geld für die Reise nach Hamburg fehlte. / Es kommen cirka Mark 10 pro Kopf in Betracht, incl. der Aufenthaltskosten in Hamburg und unter Berücksichtigung der bei Morawetz eingegangenen Rimessen / Da der Dampfer von hier am Dienstag abgeht und wir infolge Sonnabends auch nicht eine sofortige telegrafische Antwort erwarten konnten, der Entschluß aber sofort gefaßt werden mußte, um einerseits die Rückbeförderung dieser zahlreichen Familien nach Rußland zu verhüten, andererseits durch das Versäumen des Dampfers bis zum nächsten abgehenden sehr wesentliche Mehrkosten entstehen würden, glauben wir sicher, in Ihrem Sinne gehandelt zu haben, wenn wir die Beförderung der Leute nach Hamburg veranlaßt haben.« Eine Frau bemerkte in letzter Sekunde, dass ihr zwölf Rubel für die Reise fehlten. »Malgre tous ses efforts eile n'en a pu trouver que 7 et c'est pour une somme
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aussi insignifiante que 5 roubles que la famille qui n'avait plus de coin ä eile aurait dü remettre son depart. Dans ces conditions notre comite n'a pas cru possible d'insister sur le principe adopte.« Die JCA kümmerte sich um die medizinische Versorgung der Emigranten, um die Dokumente für die Ausreise, sie versuchte Preisreduktionen für Eisenbahn und Schiff zu vereinbaren, verteilte Propaganda-Broschüren und war um Maßnahmen bemüht, die den Einwanderern in den neuen Ländern den Einstieg etwas erleichterten. Meistens aber musste die JCA einspringen, weil es den Emigranten an Geld für die Überfahrt mangelte. Man sorgte für ärztliche Betreuung und kümmerte sich darum, dass die »Amerikaner« etwas Englischunterricht erhielten.432 Mit der einsetzenden Emigration entstand eine neue Beschäftigungsmöglichkeit, in der Berufslose ihr Auskommen suchten: Sie standen den Auswanderungswilligen mit Rat und Tat zur Seite. Diesen »Auswanderungsagenten« wurde wiederholt vorgeworfen, sie wollten Flüchtlingsströme manipulieren, um daraus Gewinn zu erzielen. Sie schlügen die Gründung von Auswanderungsheimen vor, um sich zu bereichern. Gerade dies werde aber die Auswanderungswilligen zum Verweilen ermutigen und zusätzlich Menschen anziehen, die nie die Absicht gehabt hätten, das Land zu verlassen. »Tatsache ist es, dass die Emigranten auf sich selbst angewiesen, sich stets und überall ein provisorisches Unterkommen gefunden haben; für professionsmäßige Bettler ein Heim zu schaffen, kann Ihren Intentionen sicherlich nicht entsprechen; ich erinnere Sie nur daran, welche Mühe es kostete, daß Massenquartier in Czernowitz aufzuheben.«433 In Itzkany besuchte der JCAGesandte zwei Brüder, die sich für den Bau eines Emigrantenheims interessierten. Sie hatten angenommen, ein entsprechendes Haus gehöre der Kultusgemeinde oder dem Tempelverein. »Als ich aber bemerkte, daß die J.CA oder die >Allianz< als Eigenthümer figurieren sollten oder aber die Kultusgemeinde die vorgestreckten Beträge rückzahlen müßte, war der Eifer der Herren merklich abgekühlt. Ich glaube nicht fehl zu gehen, wenn ich annehme, daß es sich hauptsächlich darum handelte auf billige Art zu einem zionistischen Vereinshaus zu kommen und für jemand eine Stelle als Hausverwalter zu schaffen; nicht ausgeschlossen ist es, daß beabsichtigt war, den Auswandererstrom nach Itzkany zu lenken, um so einen Absatz von Schiffskarten zu ermöglichen.«434
432 CAHJP Jerusalem, JCA 38a 1913. 4 3 3 CAHJP Jerusalem, JCA 200a 1907. 4 3 4 CAHJP Jerusalem, JCA 200a 1907.
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Viele wollten auf der Suche nach einer neuen Heimat ihr bisheriges Leben und die Benachteiligungen, die die Juden trafen, ganz zurücklassen. In Amerika etwa wehrten sich jüdische Emigranten gegen ihre statistische Erfassung als »Juden«. Natürlich versprach man sich in Amerika neben einer wirtschaftlichen Besserstellung auch Freiheit und Gleichheit mit der übrigen Bevölkerung. Aber konnte man sicher sein, dass Antisemitismus hier tatsächlich unbekannt war? Diese Bemühungen von Teilen der jüdischen Bevölkerung um eine neue Identität führten zu bürokratischen Schwierigkeiten, da sich andererseits Polen und Tschechen beschwerten, wenn ihr Herkunftsland als ihr eigentlicher Ursprung genannt wurde. Eine Lösung wurde in der Sprache gefunden: Dies verwische zwar die Fakten etwas, da alle Juden, die nicht Jiddisch als ihre Sprache angaben, nicht mehr als jüdisch erkannt würden, aber es sei wichtiger, dass alle zufrieden seien.435 Die amerikanischen Juden waren über die schwere Lage, in der sich ihre osteuropäischen Glaubensgenossen befanden, gut informiert: zum einen durch die Auswanderer selbst, zum anderen aus eigener Ansicht,436 nicht zuletzt aber durch die Bittschriften, die sie aus Osteuropa erhielten.437 Besonders aufschlussreich ist die Korrespondenz der Krakauer Bnei Brith mit Gesinnungsgenossen in der ganzen Welt sowie die Korrespondenz mit den Hilfesuchenden.438 Aus letzterer geht hervor, in welchen Fällen Bnei Brith um Hilfe angegangen wurde und welche Art von Hilfeleistungen in den Zuständigkeitsbereich von Bnei Brith gehörte. Meistens waren die gu-
4 3 5 CAHJP Jerusalem, Magnes, P3 1797. 4 3 6 CAHJP Jerusalem, Ginzei Am Olam. Judah Leib Magnes Papers 1 8 9 0 - 1 9 4 8 , P3 834, Α Report on the Jews of Eastern Europe 1 9 1 4 - 1 5 ; P3 1 1 1 3 - 1 1 1 4 , Reports from Magnes on Eastern European Jewry and correspondence with Felix Warburg on transferring funds through the Jüdisches Hilfscommittee für Polen 1916; P3 1113, Report on Eastern Europe; P3 1114 und P3 1117, Reports on Vilna. 437 CAHJP Jerusalem, Ginzei Am Olam. Judah Leib Magnes Papers 1 8 9 0 - 1 9 4 8 , P3 1115-1116, Magnes' Notes on his Visit to Warsaw and letters of appeal to him
1916.
4 3 8 In Krakau geben verschiedene Statuten und Akten von Bnei Brith (Stowaszyszenia Humanitarnego Solidarnosc / B'nei B'rith w Krakowie) Aufschluss über die erklärten Ziele und die humanitäre Tätigkeit dieses wohltätigen Vereins. AP Krakau, BB 1, Statut 1892, Stowaszyszenia Humanitarnego Solidarnosc / B'nei B'rith w Krakowie (Polnisch); BB 2 Regulamin izraelickiego Stowarzyszenia humanitarnego »Solidarnosc'(B'ne-B'rit) Krakowie« o.J. (1892) (Polnisch); BB 3 Porz^dek Post^powania (Polnisch); BB 6 KsiQga protokolöw od 19 listopada 1895 do 2 stycznia 1900; BB 7 KsiQga protokolöw od 1 czerwca 1903 do 19 listopada 1907; BB 8 Ksi^ga protokolöw od 17grudnia 1907 do 29grudnia 1917.
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ten Beziehungen der Bnei Brith Krakau zu Amerika, vor allem zur Bnei Brith Stelle in Chicago, die einzige oder eine der wenigen Möglichkeiten für die jüdische Bevölkerung, mit emigrierten Verwandten in Kontakt zu treten. Sei es, um nähere Einzelheiten für die eigene Emigration zu besprechen oder die Suche nach vermissten Verwandten, das Ersuchen um einenge? oder die Abwicklung der Geldüberweisungen der Emigrierten an ihre zurückgebliebenen Verwandten in die Wege zu leiten. Nicht selten allerdings waren diese Dienstleistungen mit sehr konkreten Schwierigkeiten verbunden, meist organisatorischer Natur, gelegentlich wurden sie aber auch von den HilfeEmpfängern selbst verursacht. Eine Frau drohte mit Gericht, weil der Bnei Brith-Mitarbeiter die Dollars ihres Schwiegersohnes in Marken umgetauscht hatte und beschuldigte ihn persönlicher Bereicherung. Berücksichtigt man allerdings all die Versuche, mit denen sich der Bnei Brith-Beamte in unzähligen Fällen bemüht hatte, den Hilfesuchenden zu helfen, ist man geneigt, solche Vorwürfe zurückhaltend zu beurteilen. Eine andere Frau wiederum hatte keine Lust, mit ihrem Schwager wegen des Vermögens ihres in Chicago ermordeten Mannes herumzustreiten. In einem Fall versuchten Auswanderer in Chicago Geld an ihre Verwandten in Polen zu überweisen, was aber unmöglich war, da diese sich in Kriegsgebiet befanden.439 Diese Akten über die Arbeit der Bnei Brith illustrieren die ganze Pallette von Schwierigkeiten, die ein bis zwei Jahrzehnte zuvor kaum andere gewesen sein werden, aber gewichtiger und schwerer zu lösen, da das Hilfsnetz erst im Aufbau begriffen war und mit Sicherheit noch nicht so professionell arbeiten konnte wie Anfang des 20. Jahrhunderts. Im übrigen galt auch hier: Hilfe zur Selbsthilfe war angesagt.440
4 3 9 AP Krakau, BB 23, Mappe 1, Blatt 31, 3 5 , 8 9 , 9 1 , 1 9 1 9 - 1 9 2 0 ; Mappe 7, Blatt 147, 5 0 0 - 5 6 1 ; Mappe 3, Blatt 2 4 7 - 2 7 7 ( 1 9 2 0 - 2 1 ) . 4 4 0 AP Krakau, BB 23, S. 979: »Wir bemerken, daß wir nur solchen Brüdern Unterstützung gewährten, bei denen wir hoffen konnten, daß sie durch das Darlehen sich wieder eine Position schaffen können. Witwen nach Brüdern, die sich um die Solidarität verdient machten, gaben wir Unterstützung in den Fällen, in welchen es sich um die Beendigung der Studien ihrer Kindern handelte oder um die Ermöglichung eines Erwerbes z.B. durch Ankauf eines Klaviers zwecks Erteilung von Klavierunterricht.« Die angeführten Quellen stammen zwar von 1920, für die hier untersuchte Zeit sind sie somit nicht unmittelbar von Bedeutung; aber sie entsprechen in ihrer Aussage den gesteckten Zielen der Bnei Brith, wie sie in ihren Statuten Ende des 19· Jahrhunderts formuliert worden waren. S. 991: »Ich erlaube mir, diesem Auftrage gemäß, das betreffende Ansuchen der Lemberger Brüder mit der Bemerkung zu unterbreiten, daß es im Interesse des
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Die russich-jüdischen Handwerker mussten massenweise auswandern, da der russische Markt mit Handwerkern übersättigt war. Nicht, dass man sie nicht brauchte, vielmehr konnten sie sich die selbst Not leidenden russischen Bauern, 7 0 - 9 0 Prozent der russischen Bevölkerung, einfach nicht leisten.441 Die Emigration war auch eine Antwort auf Pogrome und die restriktive Politik des Zarenreiches, aber vor allem eine Reaktion auf die schlechte wirtschaftliche Lage, die zwar durch diese Politik begünstigt wurde, wesentlich aber mit den strukturellen Veränderungen im 19. Jahrhundert zusammenhing. Die Gründe für das Anschwellen der Auswanderung waren die seit 1881 einsetzenden Pogrome, die Politik der Unterdrückung und die von Jahr zu Jahr größer werdende Zahl der Juden, für welche sich bei der wirtschaftlichen Rückständigkeit dieser Länder keine genügenden Existenzquellen boten. Zu viele schon lebten als »Luftmenschen« ohne irgendeine sichere wirtschaftliche Basis. »Die Auswanderung war hier das Notventil für den übergroßen wirtschaftlichen Druck, der sonst die Juden dieser Länder völlig pauperisiert und demoralisiert hätte. Welch großen Umfang die Auswanderung annahm, zeigt Galizien, das im Jahrzehnt 1881 bis 1890 36.600 Juden, 1891-1900 114.000 und 1901 bis 1910 88.250 durch Auswanderung verlor.«442 Schon ein Jahrhundert zuvor hatte man die Auswanderung oft als einzigen Ausweg aus wirtschaftlicher Not gesehen. »So hat man es entschieden der Tätigkeit des Kahals zu verdanken, daß 1808 vor allem die Juden Weißrußlands der Aufforderung des Staates, das sogen. Neurußland (Jekaterinoslawer, Chersoner und Taurisches Gouvernement) zu kolonisieren, Folge leisteten.«443 Das Elend begleitete die Juden in ihre Auswanderungsländer. »Schon hat sich die türkische Regierung veranlasst gesehen, Maßregeln gegen die Einwanderung der russisch-jüdischen Armen in Palästina zu treffen. Das Londoner East-End ist von armen russisch-jüdischen Emigranten überfüllt, (...)
Verbandes, dessen Tätigkeit ja leider während der Kriegszeit notwendigerweise im Verhältnis zu den Opfern des Krieges beinahe vollständig ausgeschaltet war, gelegen ist, eine größer angelegte Wiederaufbauaktion einzuleiten. Eine solche Aktion wäre geeignet, das soziale Ansehen der polnischen Judenschaft zu stärken, und den B'nai B'rith Gedanken zu kräftigen.« 441 Vgl. Kapitel »Soziale Wirklichkeit«. 442 Ruppin: Soziologie, Band 1, S. 133. 443 Pinkos der jüdischen Gemeinde von Mstislav, einem Städtchen im Gouvernement Mohilev, zitiert bei Rabinowitsch: Organisationen, S. 29.
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schon überströmen russisch-jüdische Arbeiter und Handwerker die nordamerikanischen Städte, und Transvaal lernt den russisch-jüdischen Hausierer kennen.«444 In Westeuropa waren die Emigranten bald Anfeindungen ausgesetzt, sowohl von der nichtjüdischen Bevölkerung als auch von den dort ansässigen Juden, die zu Recht befürchteten, antiostjüdische Klischees würden automatisch auf sie übertragen.445 Zudem war es auch im Westen üblich, dass die jüdischen Gemeinden für ihre Armen aufkamen. Die Not der Ostjuden erschreckte sie.440 Nord- und Südamerika waren zunächst unbelasteter, da sie auf eine kurze Geschichte - abgesehen natürlich von der langen der Ureinwohner - zurückblicken konnten und in dieser Antisemitismen, ähnlich denen Westeuropas, fehlten. Aber die Lebensbedingungen, mit denen die Einwanderer zurecht kommen mussten, waren erdrückend. Auch fällt die Kluft auf, die die gebildeten, zugleich weitgehend assimilierten Juden vom ungebildeten, aber die eigentliche »Jüdischkeit« in Kultur und Tradition repräsentierende Volk trennte. In einer Sprache, die es nicht verstand, mit politischen Zielen, die einfachen Menschen fremd waren, versuchten junge politische Aktivisten, alle Bevölkerungsschichten für sich zu gewinnen. Unter dem Eindruck der Pogrome der Jahre 1881 und 1882 in Russland begann auch die bereits russifizierte jüdische Jugend, von den Assimilationsversuchen enttäuscht, den Weg zum Judentum zurückzufinden. In einzelnen Städten bildeten sich kleine Gruppen von Anhängern der Zionsidee. Sie nannten sich Chovevej-Cion, Freunde Zions, und ihre Bewegung Chibat Cion, Zuneigung zu Zion. Trotz vieler Bemühungen der russischen Zionisten um Aufklärung über Palästina entschieden sich die meisten auswanderungswilligen Ostjuden nach wie vor für Westeuropa sowie Nord- und Südamerika. Dies lag auch
444 Rabinowitsch: Organisationen, S. 23. 445 »Die Aufnahme war durchaus nicht immer freundlich. Die Fremdartigkeit der ostjüdischen Lebensweise wurde - gerade in Deutschland - dazu benutzt, um die Klischees vom schmutzigen und profitgierigen Juden, vom Sittenstrolch und Verbrecher zu veranschaulichen. Auch die eingesessenen Juden reagierten zunächst nicht begeistert, weil sie zu Recht befürchteten, dass das Negativbild der Ostjuden auf alle Juden übertragen werde und damit ihre Stellung in der Gesellschaft gefährdet sei« (Haumann: Ostjuden, S. 105/6); Patrick Kury: »Man akzeptierte uns nicht, man tolerierte uns!« Ostjudenemigration nach Basel 1890-1930. Basel, Frankfurt a. M. 1998. 446 Bruno Frei: Jüdisches Elend in Wien. Bilder und Daten. Wien, Berlin 1920.
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daran, dass die Zionisten um junge, gesunde und weltlich gebildete Juden warben und die meisten Ostjuden diesem Bild nicht entsprachen. So wanderten sie denn in andere Länder, in denen sie aber, besonders am Anfang, nicht minder schwere Lebensbedingungen erwarteten. Doch auch die Tatsache, dass der Weg nach Palästina politisch noch nicht geebnet war, mag sie vor dieser neuen Illegalität und den Verfolgungen, die damit einhergehen mochten, abgehalten haben. Eine wirtschaftliche Verbesserung versprach ein Leben in Palästina nicht, während man in den anderen Auswanderungsländern wenigstens davon träumen konnte, da man von hiesigem Reichtum schon vernommen hatte. Einen Einblick in das traurige Leben, das die Auswanderer in Jerusalem erwartete, geben uns die deutschen Templer: »In den letzten zwei Jahren haben arme Juden zur Unterkunft für sich und ihre Familien 50 bis 60 Holzbaracken errichtet aus alten Kisten und anderem Material, zum Teil bedeckt mit Dachziegeln, aber auch mit dem Blech alter Erdölbüchsen, mit Strohmatten und dergleichen. Diese geringen Hütten zeigen, in welcher Armut und armseligen Verhältnissen ein großer Teil der hiesigen Juden lebt; bei der größten Sparsamkeit können sie aus Mangel an Verdienst kaum ihr Leben durchschlagen; sie essen selten etwas Warmes, begnügen sich mit Brot und Zwiebeln und leben ebenso kärglich wie die Fellachen.« Sie hatten nicht damit gerechnet, dass sie für den »Bau« dieser Notbehausungen eine Erlaubnis hätten einholen müssen und waren von den Folgen überrascht und erschüttert: »Am 3. September kam nämlich vom Jaffator her eine Abteilung von etwa dreißig Soldaten, worunter zehn Offiziere, sie drangen durch die kleine Eingangspforte in das Grundstück ein und stellten sich auf, während eine Anzahl von Fellachen anfingen, von den vordersten Hütten einige mit Axthieben niederzuwerfen und in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Sogleich stürzten aus allen Hütten die Insassen heraus, 60 bis 80 Weiber und dreimal soviele Kinder sammelten sich in der Mitte der Reihe der Hütten und erhoben ein herzzerreißendes Geschrei, während die Männer in die Stadt eilten, um diesem Zerstörungsgeschäft womöglich ein Ende zu machen.«447 Wobei, angesichts des Elends, das die Juden auch in den generell reicheren Auswanderungsländern erwartete: von Wohlstand träumen hätte man in Palästina auch gekonnt. Erst mit dem Einzug von sozialistisch-zionistischem Gedankengut hatte die Kolonisation in Palästina eine Chance. Diese neuen Ideen der Zusam-
4 4 7 Alex Carmel: Palästina-Chronik. 2 Bde. Ulm 1978/83, Band 2, S. 135 (10.10.1889).
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menarbeit zum Wohl aller und die Abkehr vom privaten Glück in engstem Kreis ermöglichten einen Zusammenhalt und Organisationsformen, wie sie ein Überleben unter den gegebenen Umständen erforderte. In Jerusalem trafen die Ostjuden auf die gleichen Probleme, die sie zurückzulassen glaubten, mehr noch, zu einem großen Teil brachten sie sie selber mit. Die askenazim lebten von der chaluka oder vom Handel, andere waren Handwerker. »Dieselben haben aber, weil die Handwerke übersetzt sind, die größte Schwierigkeit, ihr tägliches Brot zu verdienen, namentlich diejenigen, welche sich mit Luxusartikeln abgeben.« 448 Ein großer Teil der Juden aber verstehe sich auf kein Gewerbe und befinde sich in einer wirklich trostlosen Lage: eben die Luftmenschen. Es ließen sich aber auch Studenten in Palästina nieder, die sich unter dem Eindruck der Pogrome 1882 in Russland zur Auswanderung entschlossen hatten: BILU, Beit Jaakov lechu venelecha - »Auf, Haus Jakobs, laßt uns gehen!« Sie gründeten die erste Siedlung, Rison-le-Cion, »der erste für Zion«.449 »Fünfundzwanzig junge Studenten der Universität Charkow bildeten die erste Bilugruppe. Die wildesten Gerüchte über Auswanderungsmöglichkeiten hatten schon im Herbst 1881 zahlreiche Familien (schätzungsweise 10.000 Menschen) veranlasst, über die Grenze zu fliehen. Sie wurden in Lemberg und Brody (damals Österreich) angehalten und kamen bald in eine schwere Notlage. Von der Alliance war Charles Netter herbeigeeilt, der beauftragt war, den Flüchtlingen zu eröffnen, daß diese Hilfsorganisaton bereit wäre, sie überallhin zu bringen, nur nicht nach Palästina, welches Land Netter aus eigener Anschauung für ungeeignet erklärte, eine größere Zahl von Familien aufzunehmen.« 450 Neben den miserablen Lebensbedingungen in Palästina waren es auch hier wieder politische Gründe, die die Alliance nach anderen, namentlich legalen, Möglichkeiten für die Flüchtlinge suchen ließ. Nur fünfzehn jungen Männern und einer jungen Frau gelang es, nach Palästina zu kommen. 451 Sie wohnten in notdürftigen Baracken und kämpften je nach Gegend gegen Sumpf oder Steine, Sand, Unkraut, Malaria und überall gegen Wassermangel und Hitze.
448 Carmel: Palästina. Band 2, S. 38 (1.5.1884). Über erwünschte und unerwünschte Einwanderer. Vgl. Schwara: »Zinismus«, hier bes. S. 148-153. 449 Central Zionist Archives, Jerusalem K13/19 (Biluim, Erinnerungen), Κ 13/138 (Biluim in Russland). 450 Adolf Böhm: Die zionistische Bewegung. 2 Bde. 2. Auflage. Tel Aviv 1935, Band 1, S. 105. 451 Böhm: Bewegung. Band 1, S. 107.
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Die jungen Leute der zweiten alija zwischen 1904 und 1914, ebenfalls Ostjuden, waren mehr noch als die der ersten mit dem festen Vorsatz nach Palästina gekommen, in der Landwirtschaft zu arbeiten.452 »Die Biluim hatten sich allmählich damit abgefunden, arabische Lohnarbeiter zu beschäftigen und sich selbst auf die Leitung ihrer Wirtschaft zu beschränken. Die jungen Leute der >Zweiten Alija< brachten aber aus der stark gewordenen sozialistischen revolutionären Bewegung in Rußland die Anschauung mit, daß die Beschäftigung von Lohnarbeitern eine unerlaubte Ausbeutung eines Menschen darstelle und daß die einwandernden Juden alle landwirtschaftlichen Arbeiten mit eigener Hand zu leisten hätten.«453 Bereits dieBiluim hatten sich zunächst genossenschaftlich organisiert. »Jeder Genösse (Chawer) über achtzehn Jahre war verpflichtet, drei Jahre in der Arbeitslegion für das Volk, und zwar in einer Bilu-Musterkolonie zu arbeiten, ferner sollte diese Kolonie auf >kollektive< Grundlage gestellt werden; sie war ganz der grossen und heiligen Idee gewidmet, denn >nicht für sich und seine persönlichen Zwecke arbeitet der Einzelne, sondern für Volk und LandLeckSchmeckLuftmenschen< und >Spazierstockjuden< - eine traurige Hinterlassenschaft der vergangenen Zeiten, da fast das ganze Volk mäkelte und pachtete; noch jetzt gibt es genug >fröhliche Arme< bei uns und >lustige BettlerProfession< ist; soziale Wesen, die >in der Luft schwebenlustigen Bettlerrespected parentsgebildetenLiebe auf den ersten Blick< diente auch dazu, die Bedeutung der Mitgift in den Hintergrund zu drängen, denn gerne wurde den Juden von ihrer Umgebung >Mitgiftjägerei< und Geldgier unterstellt - auch wenn die Mitgift unter Nichtjuden genauso üblich war.56
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Majer Bataban: Die Judenstadt von Lublin. Mit Zeichnungen von Richard Henker. Berlin 1919, S.96. George L Mosse: Nationalismus und Sexualität. Bürgerliche Moral und sexuelle Normen. München 1985, S. 189- Zu den innerjüdischen Streitigkeiten über Begräbnis- und Friedhofsgestaltung vgl. auch Guesnet: Polnische Juden, S. 3 0 3 - 3 2 6 , hier bes. S. 307 zur Übernahme der bürgerlichen Ästhetik. Vgl. Kaplan: For Love or Money.
Frauenleben verändern sich
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Die Lektüre spielte eine wichtige Rolle bei der Verbreitung romantischer Liebesvorstellungen. Die Brautzeit gestaltete sich, entsprechend diesen Idealen, häufig mit einem Briefwechsel, der um die Jahrhundertmitte noch äußerst gewagt erschien, aber bald schon üblich und Prestigesache wurde. Es gibt keinen Briefsteller ohne »chossen-kalleh-brif«. Aber die Töchter begannen bald, sich selbständig zu verlieben. Dieses Thema variiert Scholem Alejchem in seinen Geschichten von Tewje, dem Milchmann. Rahel Lea Wolinska schreibt in einem ihrer Briefe um 1901 an ihre Tochter Sara in Amerika auch an den Sohn ihrer Kusine Hene Kaz, Abram: »An dich Abramel hab ich eine Frage: Du erwähnst Hinde und sie dich. Wir raten ihr gute Partien an, aber sie will nichts hören und sehen. Sie bleibt bei uns und sagt: Mein Bräutigam ist in Amerika, es ist Abram, Henes Sohn. Sagen wir, das ist ein Schwätzer, sagt sie, ich liebe ihn.«57 Hinde Wolinski liebt Abram Kaz in Amerika und will zum Kummer ihrer Eltern keinen andern heiraten. Ihre Mutter fordert Abram indirekt auf, sie entweder zu heiraten oder zu beeinflussen, dass sie eine der guten Partien annehmen soll. Weniger romantisch, aber sehr selbstbewusst beschreibt sich die 1885 in einem Schtetl bei Wilna geborene Lea Brody: »Also habe ich einen Burschen kennengelernt und mein Verstand hat mir gesagt, dass ich mit ihm Hand in Hand durchs Leben gehen kann wie mit dem besten Kameraden und so bin ich mit 22 Jahren eine Braut geworden. (...) mir hobin geheirat 1907.«58 Die Partnerwahl schildert sie als reinen Verstandesentscheid, den sie ohne Einfluss der Eltern selbst traf. Von Mitgift ist hier keine Rede. Dazu ist allerdings zu bemerken, dass sie, seit sie 15 Jahre alt war, ihren Lebensunterhalt als Schneiderin selber verdiente und dadurch unabhängig und selbständig war. Die Beziehung zu ihren Eltern wird als sehr gleichberechtigt dargestellt und folgt offenbar einem bestimmten Muster. Ihrer Ausdrucksweise nach zu schließen, war Lea Brody eine engagierte Gewerkschafterin. Auf der persönlichen Ebene entschied sich mit der Partnerwahl das weitere Leben der Frauen. Es wurde in der zweiten Jahrhunderthälfte immer wichtiger, ob der Bräutigam ein >Aufgeklärter< war oder ein Talmudstudent und ob die Braut westliche Sprachen beherrschte. Damit entschied sich der spätere Lebenswandel. Es gibt verschiedentlich Hinweise darauf, dass >Auf-
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YIVO RG 126 Family History, 27.6: Briefe Goldstein, Sarah Wolinsky. Letters from her mother in Poland 1902. Brief III, S. 2. YIVO RG 102 Box 12 folder 132. Lea Brody, geboren bei Vilnius 1885, eingew. in die USA 1930. S. 4 f.
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geklärte< auf die jungen Frauen attraktiver wirkten als >LernerMikve< (dem rituellen Bade) wollten kein Ende nehmen. Ich wurde gewaschen. Man putzte mir sorgfältig die Nägel und zum Schluß mußte ich nach der Vorschrift dreimal ganz im Bassin untertauchen. In stummer Ergebung erfüllte ich die Befehle der alten Weiber, die mich wie ein Opferlamm behandelten. Wie froh war ich, als ich sie endlich verlassen durfte!«186 Auch Hinde Bergner war in Galizien um 1890 in der mikve, teilt aber nur gerade mit, ihre Hochzeit sei »eine koschere« gewesen.187 Vielleicht ist dies ein Hinweis darauf, dass sie es nachher nicht mehr so genau nahm mit dem Bad. Aus Lublin und Kielce sind die Pachtverträge für die Betreiber des jüdischen Bades mit der mikve erhalten, die die Betriebsbedingungen festlegen. In beiden Städten wurde die Pacht der mikve auf drei Jahre an einer Versteigerung zugeschlagen. Die Verträge, aus Lublin für die Jahre 1861 bis 1864,188 aus Opatöw für die Jahre von 1903 bis 1906,189 unterscheiden sich nicht wesentlich. Das jüdische Bad von Lublin war von 1861 bis 1864 für 1300 Rubel 30 Kopeken jährlich an Moszko Mendel Sztokman verpachtet. Der Vertrag legt die Eintrittspreise im Detail fest. Das Inventar zeigt, dass es getrennte
185 Shepherd: Rebel, S. 223 f. 186 Wengeroff: Memoiren II, S. 70. 187 Bergner: Winternächte, S. 123. 188 AP Lublin, AmL 2254. 189 AP Kielce, Zarzqd Opatowski 43a.
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Männer- und Frauenbäder gab, in manchen Gemeinden war es nur ein Bad und bestimmte Zeiten für Männer oder Frauen.190 Die Preise sind nach »Klassen« gestaffelt. Während der Höchstpreis für die Männer 5 Kopeken beträgt, liegen die Preise im Frauenbad wesentlich höher, sie reichen von 20 Kopeken in der ersten Klasse zu 5 Kopeken in der 5. Klasse. Kinder bis 12 Jahre zahlen die Hälfte. Besonders teuer sind die Eintrittspreise unter der Rubrik »Frisch verheiratete Mädchen oder Frauen«. Sie liegen zwischen 90 und 15 Kopeken. Das Wasser für die mikve erhitzte man in einem Samowar, und von allen Frauen, die das Tauchbad benutzten, wurde »der volle Preis der 1. Klasse verlangt, ohne Rücksicht auf ihr Vermögen«. Unter §7 ist festgehalten, dass der Synagogenrat und der Rabbiner vier Frauen von bekannter guter Führung für die Dienstleistung in der mikve auswählten, die dann vom Betreiber bezahlt wurden. Das sind die »alten Weiber«, die Pauline Wengeroff erwähnt. Der Vertrag um die Jahrhundertwende aus Opatöw geht bei den Pflichten des Betreibers mehr ins Detail. Die Steigerung der Pacht beginnt bei 750 Rubel jährlich. Der »Arendator« wird verpflichtet, das Wasser der mikve mit einem Samowar zu erwärmen, und zwar drei Mal wöchentlich, am Montag, Donnerstag und Freitag. Das Wasser in jedem Becken muss frisch und mindestens 28° Reaumur warm sein. Hier wird ausdrücklich das obrigkeitliche Sanitärgesetz erwähnt. An den nicht beheizten Tagen muss der Betreiber kalte Bäder kostenlos gewähren. Die Männer zahlen während der geheizten Zeit 5 Kopeken, die Frauen gestaffelt nach Klasse 15,10,7,5 oder 3 Kopeken. Der Besuch der mikve galt nicht als Geheimnis, und wenn eine Frau länger dort nicht erschien, nahmen alle an, sie sei schwanger.191 Diese enge soziale Kontrolle war nur in kleinen Gemeinden möglich, nicht aber in größeren Städten. Es ist äußerst schwierig, aus den Quellen auf den Wandel der Einstellung der Frauen zu dieser religiösen Plicht zu schließen. Denjenigen Frauen, die keine Perücke mehr tragen wollten, wurde vielleicht auch der - sicherlich nicht nur von Pauline Wengeroff als peinlich empfundene Besuch des Tauchbades bald lästig. So, wie Hinde Bergner betont, ihre Hochzeit sei eine koschere gewesen, kann man annehmen, dass sie später aufhörte, ins Tauchbad zu gehen. Sarah Rothman, die während des Ersten Weltkrieges mit 25 Jahren in der Nähe von Kiev heiratete, berichtet: »I went once to mikveh, and then I rebelled.«192
190 Zborowski, Herzog: Schtetl, S. 225. 191 Zborowski, Herzog: Schtetl, S. 225. 192 Sydelle Kramer, Jenny Mazor: Jewish Grandmothers. Boston 1976, S. 23.
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Die Modernisierung brachte einen deutlichen Wandel im Hinblick auf bauliche und hygienische Vorschriften mit sich. Der unbefriedigende hygienische Zustand der jüdischen Bäder wurde vor allem mit den neuen Hygienevorstellungen um die Jahrhundertwende zum Thema. Nun häuften sich Beschwerden wie die folgende: »An seine Excellenz den Herrn Polizeimeister der Stadt Lodz. Anzeige: Wir zeigen Eurer Excellenz an, daß der Hausbesitzer in der Risgovska Straße Nr. 6 Fisel Druker in seinem Haus ohne jede Erlaubnis ein Bad oder eine sogenannte (jüdische Mikve) unterhält. Aber so, wie er dieses Bad ohne jede Ordnung und Reinlichkeit unterhält, verhält es sich so, daß es dort schmutzig ist und die Leute häufig krank werden und es daher sehr gefährlich ist, dort zu baden. Deshalb sehen wir uns veranlaßt, dies Eurer Excellenz anzuzeigen. Die Besichtigung dieser Mikve beantrage ich, genau am Freitag Nachmittag vorzunehmen, denn dann befindet sich das ganze Volk dort und badet. Hochachtungsvoll, NNN. 9- Februar 1900.« 193 Bei dieser Feststellung handelte es sich vermutlich um die Männer, die vor Sabbatbeginn badeten. Diese Gewohnheit hatte ihre Wurzeln im religiösen Rhythmus der jüdischen Woche, muss aber nicht direkt mit der Religiosität verbunden sein. Das Bad war auch ein sozialer Treffpunkt, und solange die meisten Wohnungen nicht über Badezimmer verfugten, war der wöchentliche Besuch eines öffentlichen Bades eine Notwendigkeit. Die Verschärfung des Sanitärgesetzes vermehrte die Anzeigen und produzierte so Hinweise auf die Situation in Städten wie Lodz, wo offensichtlich die Bäder ebenso wie die Betstuben häufig in Privatwohnungen unterhalten wurden. Die Mittel waren knapp und die Juden zahlreich.
Der koschere Haushalt - Die Ordnung der Töpfe Die jüdischen Frauen waren von den religiösen Pflichten der Männer, den täglichen Gebeten und dem Synagogenbesuch, befreit. Ihre religiösen Pflichten betrafen den aufwendigen koscheren Haushalt. Es gab besondere, getrennte Töpfe und besonderes Geschirr für Milchiges und Fleischiges. In den Haushaltspflichten spiegelte sich der jüdische Kalender. Am Donnerstag, spätestens aber am Freitag wurden im religiösen Haushalt alle Vorbereitungen für den Sabbat getroffen. Es wurde geputzt und gescheuert, das Sabbatbrot gebacken, und die Speisen mussten fertig vorbereitet und vor
193 AP Lodz, Policmajster miasta todzi 1623 (in russ. Sprache).
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Sabbatbeginn in den Ofen geschoben werden, denn am Sabbat selber war jede Arbeit verboten. Alle wichtigen jüdischen Feste sind mit bestimmten rituellen Mahlzeiten verbunden, die teilweise ebenfalls aufwendige Vorbereitung beanspruchten. Am arbeitsintensivsten für die Hausfrau war das Pessachfest. Vor Pessach mussten alle gesäuerten Speisen aus dem Haus entfernt werden, bis auf den letzten Krümel. Die Herstellung der Mazzen, des ungesäuerten Brotes, erforderte peinliche Sauberkeit. Das ganze Geschirr wurde weggepackt und ein besonderes Pessachgeschirr vom Dachboden geholt. Nicht umsonst ist in den Briefen von Rachel Lea Wolinska an ihre Tochter in Amerika vom Mazze backen die Rede, und woher man die Helferinnen nahm: »Jetzt liebe Tochter schreibe ich dir, dass wir 4 pud Mazze gebacken haben und Met habe ich gemacht mit 6 Pfund Zucker und einen Topf Wein haben wir genommen und wir haben gottseidank genug, um auch Gäste aufzunehmen.« Die Frauen mussten die Infrastruktur bereitstellen, die es den Männern ermöglichte, ihre jüdischen Pflichten zu erfüllen: Die festlichen Rituale zu begehen und an den Festtagen Gäste aufzunehmen. Die Herstellung der Mazzen für Pessach war mit viel Sorgfalt und Arbeit verbunden. Wer es sich leisten konnte, engagierte Helferinnen. Pauline Wengeroff berichtet, wie aufwendig in ihrem Elternhaus die Vorbereitungen waren.194 Weil Rachel Leas Töchter in Amerika waren, nahm sie Frauen aus dem Dorf. Die Schwester Chawe berichtet nach Amerika: »Meinen besten Gruß an meine liebe Schwester Sarah Wolinski leben. Liebe Schwester, ich schreibe dir, wie wir die Mazzen gebacken haben. Wir und Herr Adelson und der Großvater, er soll gesund sein, haben bei uns gebacken und als Helfer gefehlt haben, haben wir viel an dich gedacht, nur deine großen Kräfte hatten wir nicht. Weil wir mit Schicksen (Nichtjüdinnen) gebacken haben, haben wir ihnen weiße Westen mit schönen Schürzen angezogen, ich sage dir, das war viel koscherer als mit jüdischen. In der Regel hat sich die Mazze mit Vergnügen gebacken.«195 All dies brachte eine starke Ordnung in das Leben einer Jüdin. Ihr Leben, ihre Zeiteinteilung richtete sich nach dem Rhythmus der Festtagsvorbereitungen. Rachel Lea schrieb ihre Briefe beispielsweise vor Sabbatbeginn (erev sabat), »ich wolt dir asach mer sreibin nor es iz erev sabat un ich darf gein un zu ke bencin licht«, oder an den Wochentagen zwischen den Feiertagen (chcüemoied) an Pessach oder Sukkot: »Heint iz chalemoied hob ich ceit cu
194 Wengeroff: Memoiren I, S. 38 ff. 195 YTVO, RG 126, 27.6, Blatt 9a, linke Seite.
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sreibin wel ich dir sreibin ein brif.«196 Eine Jüdin, die ein koscheres Haus führte, wohltätig war und fromm, konnte ein starkes Selbstbewusstsein innerhalb ihrer Umgebung entwickeln. Wenn sie zusätzlich noch wesentlich zum Lebensunterhalt der Familie beitrug, hatte sie eine ausgesprochene Machtposition inne. Als aufklärerisches Gedankengut die jungen Männer zu beschäftigen begann, und als später auch die Säkularisierung manche Männer ihre religiösen Pflichten vernachlässigen ließ, setzten viele Frauen ihre Macht als Druckmittel ein. Sie warfen den Abtrünnigen ihre eigene Opferbereitschaft vor und wachten darüber, dass sie beteten und lernten. Pauline Wengeroff berichtet von einer ganzen Reihe peinlicher Szenen, wenn ihre Mutter das Studierzimmer ihrer Schwiegersöhne betrat und diese bei der Lektüre der Schillerschen Werke überraschte.197 Das Druckmittel waren normalerweise Schuldgefühle. Für diese Frauen bedeutete die Säkularisierung nicht nur einen totalen Sinnverlust, sondern auch den Verlust ihrer Macht. Fannie Shapiro, die in Weißrussland aufwuchs und 1906 in die USA auswanderte, berichtet, dass sie die Töpfe vermischte, als ihre Mutter einmal nicht da war, und alles durcheinander darin kochte. »When I got through I kind of felt funny. So I told my father. So my father says to me, »Wash all these pots. Put them right back where you took them, and never tell her anything.«198 Für die Mutter hätte diese Übertretung das Chaos bedeutet, die Auflösung einer sorgfältig gehüteten Ordnung. Die Allianz zwischen Vater und Tochter war kein Einzelfall. Eines Nachts in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts beobachtete Mary Antin ihren Vater in Polock, wie er, als er sich unbeobachtet glaubte, den Gasleuchter langsam herunterdrehte, obwohl es Schabbat war. »If his mother had seen him do it, it would have broken her heart (...) If my mother had seen it, it would have grieved her no less. (...) To see what remorse my mother suffered, or my father's mother, if by some accident she failed in any point of religious observance, was to know that she could never be brought to doubt the sacred importance of the thousand minutiae of ancient Jewish practice.«199 Viele Frauen fühlten sich mit dem Glauben auf eine geradezu körperliche Weise verbunden. Antin schreibt über ihre Mutter: »She bore lovingly the yoke of prescribed conduct. (...) Individual freedom (...) was confusion. My
196 YIVO, RG 126,27.6, Blattl 18a und 4. 197 Wengeroff: Memoiren I, S. 135 f. 198 Kramer, Mazor: Jewish Grandmothers, S. 6. 199 Antin: Promised Land, S. 130f.
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mother, therefore, gradually divested herself, at my father's bidding, of the mantle of orthodox observance; but the process cost her many a pang, because the fabric of that venerable garment was interwoven with the fabric of her soul.«200 Pauline Wengeroff formuliert ganz ähnlich, wenn sie sagt: »Bei den meisten jüdischen Frauen jener Zeit hatten Religion und Tradition derart ihr innerstes Wesen durchdrungen, daß sie ihre Verletzung fast wie einen physischen Schmerz empfanden. (...) Die Frau, die an an den Traditionen noch mit jeder Fiber ihres Wesens hing, wollte sie auch ihrem Kinde beibringen.«201 Für Pauline Wengeroff bedeutete die Aufgabe der koscheren Küche die Schwelle, die, einmal überschritten, kein Zurück mehr ermöglichte.202 Die treifene Küche stellte ihr ganzes bisheriges Leben in Frage, bedeutete den Bruch mit der alten Ordnung, den Eltern, ihrer bisherigen alltäglichen Lebenswelt. Alle Handgriffe und Vorkehrungen, die bisher im Haushalt eine Rolle gespielt hatten, wurden auf einen Schlag bedeutungslos und rückwirkend ihres Sinnes entleert. In diesen beiden Fällen drängten die Männer auf Säkularisierung. Die Frauen gaben dem Druck nach, bewahrten sich aber jeweils eine Insel des Rückzugs: Pauline Wengeroff bestand auf der traditionellen Feier des Pessach-Festes,203 Mary Antins Mutter Hannah Hayye beging alljährlich den Trauer- und Fasttag Jom Kippur, an dem das Widderhorn die Juden zu Einkehr und Versöhnung ruft.204 Die Haltung dieser beiden Frauen zur Religion hat mit ihrem ähnlichen familiären Hintergrund zu tun. Beide stammten aus Weißrussland oder Litauen, eine aus einer wohlhabenden, die andere aus einer reichen, beide aber aus religiösen Familien in einer orthodoxen Gemeinde mit strenger sozialer Kontrolle. In beiden Fällen war der Zwang zur Aufgabe der Tradition mit einer Machtübernahme des Mannes in der Familie verbunden. Dabei spielte auch der Austritt aus der religiös orientierten Umgebung eine wichtige Rolle. Die soziale Anpassung war für die Männer ein Hauptargument. Antins waren 1893 in die USA ausgewandert, und der Vater wollte sich möglichst vollständig assimilieren. Wengeroffs lebten in St. Petersburg, als die Küche aufgegeben wurde. Der Wechsel der Umgebung bedeutete jeweils auch, dass der Mann die Ernährerrolle übernahm. Hannah Hayye
200 Antin: Promised Land, S. 246. 201 Wengeroff: Memoiren II, S. 134 f. 202 Wengeroff: Memoiren II, S. 175 f. 203 Wengeroff: Memoiren II, S. 177. 204 Antin: Promised Land, S. 244.
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hatte in Polock den Laden geführt. Pauline Wengeroff hatte ihre Vorbilder von Mitarbeit der Frauen im Geschäft in der Familie vor Augen, ihr Mann wünschte aber keine weibliche »Einmischung«.205 Ausschlaggebend war also die religiöse oder kulturelle Ausrichtung der Männer. Die Frauen religiös orientierter Männer konnten im Geschäft mitarbeiten. Die westlich orientierten Männer wünschten ihre Familie des sozialen Prestiges wegen zu assimilieren, wollten modisch gekleidete Frauen ohne Perücke und koschere Küche. In diesen westlich-bürgerlich geprägten Kreisen waren die Handlungsräume der Frauen wesentlich eingeschränkter. Sie mussten einerseits ihren Haushalt und die eigene Erscheinung den neuen Regeln und den Wünschen ihres Mannes anpassen, hatten andererseits aber keinen Wirkungskreis außerhalb des Hauses mehr. Wohlhabende Frauen wie Pauline Wengeroff begannen daher, sich in den neu entstehenden Institutionen moderner »Armenpflege« zu engagieren. Wie erklärt sich die unterschiedliche Haltung von Männern und Frauen der Religion gegenüber? Viele ostjüdische Männer entwickelten sich im 19. Jahrhundert zu »Aufklärern« oder »Assimilationisten«. Meist begann diese Entwicklung mit der Lektüre weltlicher Literatur, mit Schiller, Lessing und Kant. Die jungen Leser stammten meist aus wohlhabenden und gelehrten Schichten und lasen die verbotenen Bücher heimlich, unter den Talmudfolianten versteckt oder auf dem geradezu sprichwörtlichen Dachboden. 206 Die Lektüre war ihnen verboten, weil sie religiös erzogen wurden und ihre Zeit religiösen Studien widmen sollten. Die heiligen Schriften wurden gemeinsam und laut gelesen und kommentiert, so war die soziale Kontrolle des Rezeptionsvorgangs gesichert. Die verbotenen Bücher las man still, und wer konnte wissen, was dabei in den Köpfen vorging? Die Lektüre der jungen Männer führte sie vom affirmativen zum zweifelnden Lesen. Der 1880 im polnischen Kutno geborene Schalom Asch berichtet: »Überdies mißfiel mir Heines ironischer Ton. Von Bibel und Talmud her war ich gewohnt, jedes gedruckte Wort als wahr, heilig und wegweisend anzusehen, und konnte die leichte scherzhafte Art nicht begreifen, mit der dieser Dichter über alles sprach.«207 Pauline Wengeroff berichtet von der Veränderung im Lesen ihres Mannes: »Mein Mann hatte keine Feude mehr daran, mit dem Rebben gemeinsam den Talmud zu studieren. Er holte die großen Folianten (Gemores)
205 Wengeroff: Memoiren II, S. 114. 206 Singer: Kindheit, S. 115; Zunser, S. 84; Wengeroff: Memoiren I, S. 135 f. 207 Asch: Rückblick, S. 309 f.
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zu sich in unsere Wohnung und lernte selbständig. Er sah es gern, wenn ich mit einem Buch oder einer Handarbeit neben ihm saß, und wenn er müde wurde, lasen wir dann zusammen in einem deutschen Werke. Dieses Talmudstudium verlor aber ganz den früheren religiösen Charakter und wurde bei meinem Manne mehr zum Philosophieren, zu einer kritischen Betrachtung und Prüfung.«208 Der Prozess war unumkehrbar: Die jüdischen jungen Männer begannen nun, auch die heiligen Schriften »kritisch« zu lesen und gerieten unweigerlich in Konflikt mit der Tradition. Diese Entwicklungslinie findet bei den jüdischen Frauen keine Parallele. Die Lektüre brachte ihnen wohl fremde Wertewelten nahe und förderte eine Individuation. Jüdische Mädchen wünschten sich als Folge ihrer Leseerlebnisse in erster Linie mehr Bildung und einen wenn nicht selbst gewählten, so doch geliebten Partner. Die angelesenen Wünsche, Werte und Moralvorstellungen gerieten aber nicht in Gegensatz zu ihren religiösen Pflichten. Sie mussten ihre Zeit nicht dem Studium der heiligen Schriften widmen. Und auch das Führen eines koscheren Haushaltes stand nicht in Widerspruch zur Lektüre westlicher Werke. Die neuen Gewohnheiten und Informationen ließen sich in den weiblichen Alltag offenbar zunächst mühelos integrieren, in den männlichen aber nicht. Bei den Männern wurde das »entweder-oder« zur Gefahr, bei den Frauen gelang ein »sowohl-als auch«, zumindest in den wohlhabenden Schichten. Auf die Gefahren, die eine nichtjüdische Schulung gerade für Töchter ärmerer Familien bedeuten konnte, die von Auflösungstendenzen eher bedroht waren, wird an anderer Stelle eingegangen.209 Rose Ausländer, die 1901 in Czernowitz geboren wurde, hat die Biographie ihres Vaters, der am Hof des Sadagorer Rebbe ausgebildet wurde, in wenige Worte gefasst: »Am Hof des Wunderrabbi von Sadagora lernte der Vater die schwierigen Geheimnisse. Seine Ohrlocken läuteten Legenden, in den Händen hielt er den hebräischen Wald. Bäume aus heiligen Buchstaben streckten Wurzeln von Sadagora bis Czernowitz. Der Jordan mündete damals in den Pruth - magische Melodien im Wasser. Der Vater sang sie, lernte und sang das Erbe der Ahnen, verwuchs mit Wald und Gewässern. Hinter den Weiden neben der Mühle stand die geträumte Leiter, an den Himmel gelehnt. Jakob nahm auf den Kampf mit den Engeln, immer siegte sein Wille. Von Sadagora nach Czernowitz und zurück zum Heiligen Hof gin-
208 Wengeroff: Memoiren II, S. 114. 209 Vgl. Kapitel Niedergang des jüdischen Familienlebens.
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gen die Wunder, nisteten sich ein im Gefühl. Der Knabe erlernte den Himmel, kannte die Ausmaße der Engel, ihre Distanzen und Zahl, war bewandert im Labyrinth der Kabbala. Einmal wollte der Siebzehnjährige die andere Seite sehn, ging in die weltliche Stadt, verliebte sich in sie, blieb an ihr haften.«210 Stark stilisiert, aber um so deutlicher wird hier die Gefahr, welche die Modernisierung für die Tradition bedeutete.
Symbolische Besitztümer: Schönheit, Mode, Lebensstil und der Bruch in der weiblichen Religiosität In den sechziger bis achtziger Jahren des 19- Jahrhunderts ging die Säkularisierung zumeist stufenlos vor sich. Kleidung und Schmuck waren seit jeher prestigeträchtig. Diese Besitztümer waren Moden unterworfen - ihr Wandel sagt etwas über den gesellschaftlichen Wandel aus. Die Frauen übernahmen Schönheitsideale und vor allem auch die prestigeträchtigen Moden von westlichen, Urbanen Vorbildern. Eine Aussage über den Grad der Religiosität der Trägerin machten aber weniger die Kleider, als vielmehr Haare und Kopfputz der Frauen. Das unterschied sie von den Männern. Diese vertauschten zunächst den Kaftan mit Rock und Weste, und wenn sie sich rasierten und die Pejes abschnitten, waren das Manifestationen der Einstellung. Die jungen Frauen hörten ihrerseits auf, sich die Haare zu rasieren und trugen die Perücke nur über dem eigenen Haar, und bald auch das nur noch zu bestimmten Anlässen. Das hatte vielleicht etwas weniger Manifestationscharakter als das männliche Verhalten, aber bei beiden Geschlechtern waren es auch eine gewisse Eitelkeit und der Wunsch nach modischer Anpassung, die solche Schritte lenkten. Westliche Moden wurden immer wichtiger. Pauline Wengeroff berichtet schon von ihren Schwestern, dass sie sich um 1840 in Brest modische Kleidungsstücke schneiderten. Ihre Schwester Kathy hatte sich mit Rohrreifen eine Krinoline nach der neuesten Mode gebastelt, die aber von der Mutter umgehend zum Anfeuern verwendet wurde.211 »Nicht viel besser erging es meiner Schwester Eva. Sie hatte sich nach der damaligen Mode eine Manischka, eine Art Jabot, aus weißem Musselin angefertigt und erschien also angetan am Freitag Abend am Esstisch. Meine Eltern waren aufs höchste entrüstet. Mein Vater sagte empört: >Du siehst wie eine Goje aus. Wie kann
210 Ausländer: Aschensommer, S. 20. Interpunktion MR. 211 Wengeroff: Memoiren II, S. 17.
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eine jüdische Tochter ein Kleid tragen, das an der Brust durchsichtig ist.«·212 Allerdings hatten sie nichts gegen die neue Mode der Unterröcke einzuwenden, die Teil von Paulines Aussteuer waren. Im Wandel der Aussteuer zeigt sich, dass der »Wäschekult«213 auf die osteuropäischen Juden übergriff. Gerade das Aufkommen nicht sichtbarer Wäschestücke markiert einen kulturellen Wendepunkt. Unterröcke zählen zu den »symbolischen Besitztümern«, sie gehen mit neuen hygienischen Vorstellungen und einem neuen Verhältnis zum eigenen Körper einher. Unterwäsche war sichtbar nur als Teil der Aussteuer und auf der Wäscheleine. Sie kam auf mit den feinen, industriell hergestellten Baumwollstoffen und konnte aufwendig in Handarbeit verziert werden - durch die bürgerlichen Töchter selbst, während früher die Weißnäherinnen für die Aussteuer zuständig gewesen waren. Es handelt sich um ein reines Statussymbol. Frauen aus den unteren Schichten ahmten neue Verhaltensweisen der mittleren und oberen Schichten nach, auch in den Dörfern und kleinen Städten galten die städtischen Neuerungen als Vorbild. Pauline Wengeroff berichtet: »Nach kurzer Zeit galt ich in Modesachen für tonangebend in ganz Konotop.«214 Listen von Aussteuern lassen sich in den Inventaren nachlesen, die in Kielce und Lublin erhalten sind. Auch hier finden sich - gerade bei den wohlhabenden Familien - zahlreiche Modeartikel.215 Scholem Alejchem spottet über die ländliche Imitation städtischer Moden. Golde, die Frau von Tewje, dem Milchmann, hat ganz genaue Vorstellungen davon, was zu einer Aussteuer »heutzutage« gehört: »>Nun braucht sie (...) ein seidenes Kleid für die Trauung und ein wollenes für den Sommer und noch eines für den Winter und noch einige andere Kleider. (...) Auch zwei Mäntel muß sie haben, den einen aus Katzenfell für die Wochentage und einen guten mit Schleifen für den Sabbat; dann braucht sie Schuhe mit Quasten, ein Korsett, Handschuhe, Taschentücher, einen Sonnenschirm und die übrigen Sachen, die ein Mädel heutzutage haben muß< - >Woher hast duliebe Golde, diese Kenntnisse?< - >Warum sollte ich keine haben?< sagt sie. >Kom-
212 Wengeroff: Memoiren II, S. 18. 213 Alain Corbin: Wunde Sinne. Über die Begierde, den Schrecken und die Ordnung der Zeit im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1993, S. 23. Vgl. die Beispiele von Pauline Wengeroff und Mary Antin im Kapitel über Heirat und Ehe. 214 Wengeroff: Memoiren II, S. 69. 215 AP Kielce, SPK 146 ff.; AP Lublin, AmL 1 8 0 9 - 1 8 7 4 , 1533 bis 1736; vgl. auch das Beispiel der Cyma Szpira (AmL 1690) im Kapitel »Heirat, Ehe, Familienleben«, Abschnitt »Mitgift und Brautschatz«.
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me ich denn nicht mit Menschen zusammen? Habe ich nicht hier bei uns in Masepowka gesehen, wie sich anständige Leute kleiden?«·216 Selbst Verhaltensweisen wie sommerliche Bäderreisen und eine schwache gesundheitliche Konstitution konnten symbolhaften Charakter annehmen. Bäderreisen waren nur den wohlhabenden Damen möglich. Bella Chagall erzählt von ihrer Auslandreise: »Meine Mutter fahrt jedes Jahr nach Marienbad und nimmt mich mit. Ich bin in Berlin gewesen und in Wien und brenne darauf, Thea eine Menge zu erzählen.«217 »Kränkeln« konnten auch Frauen aus ärmeren Schichten, wie die Mutter Jehudo Epsteins in Sluck: »So lange ich zurückdenken kann, fühlte sie sich immer kränklich. Ganze Stöße von Rezepten, Batterien von Fläschchen und viele schöne Schachterln mit Pulvern und Salben aus der Apotheke standen in der Wohnung herum. (...) An seiner Gesundheit herumzukurieren, galt übrigens damals für ein Zeichen der Vornehmheit, und die Mutter hielt viel auf solchen Schein.«218 Die Wohnungseinrichtung wurde zur symoblischen Bühne. Wer es sich leisten konnte, besaß einen »Salon«, in den eine »Möbelgarnitur« gehörte. Dazu gehörten die Rosenfelds in Vitebsk219 (Bella Chagalls Eltern, die ein Juweliergeschäft besaßen), die Rosenblatts (Hinde Bergners Eltern in Radymno), 220 und die Shaikevitschs (Zunsers Eltern in Odessa), deren Salon auch der typischen »Salongeselligkeit« diente,221 sowie Pauline Wengeroff, die von einem mehrjährigen Kuraufenthalt in Wien ganz neue Möbel mitbrachte.222 Die sehr wohlhabende Familie Cukerman in Kielce besaß um 1891 ein Vermögen von mehreren 10.000 Rubeln. Die Familie betrieb eine Brauerei, die zu den größten Produktionsbetrieben in Kielce gehörte.223 Der 1891 verstorbene Judka Cukierman hatte 1871 die erste Omnibuslinie in Kielce eröff-
216 Alejchem: Tewje, S. 57. 217 Chagall: Erste Begegnung, S. 7. 218 Epstein, S. 164. 219 Chagall: Lichter, S. 12. 220 Bergner: Winternächte, S. 59 ff. 221 Zunser: Yesterday, S. 124. Zur Salongeselligkeit vgl. Ute Frevert: Ausdrucksformen bürgerlicher Öffentlichkeit. Zwei Beispiele aus dem späten 18. Jarhhundert. In: Bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. Historische Einblicke, Fragen, Perspektiven. Hg. von Lutz Niethammer. Frankfurt a. M. 1990, S. 8 0 - 8 9 ; Peter Seibert: Der literarische Salon. Ein Forschungsüberblick. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 3. Sonderheft, Forschungsreferate 2. Folge. Tübingen 1993, S. 1 5 9 - 2 2 0 . 222 Wengeroff: Memoiren II, S. 201. 223 Krzysztof Urbanski: Kieleccy Zydzi. Kielce o.J. (1993), S. 40.
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net.224 Das Inventar der Wohnung weist erlesenes Mobiliar auf. Besonders wertvoll sind außer dem feuerfesten Safe (25 Rubel) ein Bücherschrank aus Eichenholz (15 Rubel), zwei Spiegel mit Walnussholzrahmen (20 Rubel) und eine »Möbelganitur«, bestehend aus einem Divan, 2 Sesseln und 10 Stühlen nach »französischer Fagon«, die Sessel mit rot geblümtem Stoff überzogen, sowie zum Divan gehörig ein Tisch aus Walnussholz. Der Wert der ganzen Garnitur betrug 50 Rubel.225 Während in den meisten Fällen die Möbel als Prunkstücke zu dienen scheinen, berichtet Pauline Wengeroff, sie habe im nahe der preußischen Grenze gelegenen Kovno an »jours-fix« teilgenommen.226 Zunser erzählt, dass ihre Mutter Dinneh in Odessa einen literarischen Salon führte.227 Die regionalen Besonderheiten Odessas als Zentrum des Fortschritts und die grenznahe Lage Kovnos zu Preußen passen zu dieser Erscheinung. Beim Kränkeln und bei den Bäderreisen handelt es sich um eine Geste der Anpassung an eine neue Rollenverteilung. Die Frau, kurz zuvor noch Ernährerin und auch körperlich »starkes Geschlecht« spielt jetzt die Schwache. Der »Salon« wurde wohl nur in Ausnahmefällen zum neuen Handlungsraum, in dem eine Frau ihren Einfluss geltend machen konnte. Das gilt in den vorliegenden Quellen nur für Dinneh, die gefürchtete »Madame Shaikevitsch«. Ansonsten dienten die Möbel der Zurschaustellung eines bestimmten Lebensstils. Bella Chagall berichtet, dass die Eltern die alten Wiener Stühle vor der Hochzeit des Bruders durch neue Polstersessel ersetzten.228 Eine wichtige Rolle spielen beim privaten Inventar des Salons in den Erinnerungen immer auch die Bücherschränke mit den wertvollen Folianten, die in den offiziellen Inventaren aus Kielce und Lublin nur selten vorkommen. Das lässt darauf schließen, dass der Besitz von Büchern wohlhabenden Schichten vorbehalten und deswegen prestigeträchtig war. Bücher suggerierten zugleich Bildung und Religiosität - meist werden die religiösen Bücher erwähnt, die dem männlichen Bereich zugeordnet sind. Während junge Frauen um die Jahrhundertwende bereits ihr eigenes Haar und Jagdhüte mit Federn trugen,229 behielten alte Frauen immer noch die herkömmliche Haube mit dem Satinband über der Stirn bei, das die eige-
224 Urbanski: Kieleccy 2ydzi S. 30; erwähnt auch S. 35 als Besitzer eines Getränkeladens »Sklad Drozdzy Wiedenskich« (Lager für Wiener Hefegetränke). 225 AP Kielce, SPK 173. 2 2 6 Wengeroff: Memoiren II, S. 144. 227 Zunser: Yesterday, S. 124. 228 Chagall: Uchter, S. 12. 229 Bergner, S. 10; Chagall: Begegnung, S. 15.
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nen Haare imitieren sollte. Um 1900 scheint es zu einem Bruch zwischen den Generationen gekommen zu sein. Das lassen die teilweise sehr abwertenden Äußerungen von Töchtern über die Religiosität ihrer Mütter vermuten. Fannie Shapiro berichtet: »My mother was a very primitive little woman, religious and naive like a child. (...) On Saturdays, she'd open up one of the religious books, and it was in Hebrew - she didn't unterstand Hebrew and she'd read it and she'd cry. (...) Did you ever see when they lit those candles on Friday night? My mother would want me to light one candle, a girl, and bentsch, pray over the candle, and I didn't want to. And she'd feel very bad, so I'd have to do it not to hurt her.«230 Die interviewte Frau gibt weniger ihre spätere Einschätzung aus der Sicht der Amerikanerin wieder als ihre damaligen Einstellungen und Empfindungen. Sie empfand ihre Mutter als zu einer anderen, untergehenden Welt gehörig, ein Gefühl, dass sie mit anderen Kindern ihrer Generation teilte. Hinde Bergner bezeichnet ihre Mutter als »sehr fromm und fanatisch«,231 ein Schlagwort vor allem der Assimilationisten. Nur der Mutter zuliebe trug Hinde beim ersten Synagogenbesuch nach ihrer Hochzeit eine Perücke über ihrem eigenen Haar. »Sie las mir die Leviten: Der Vater, ein Stanislawower, habe wohl die Festtagsmütze aufgesetzt! Und sie warf mir noch lange Zeit vor, ich sei aufgeklärt, der Vater aber ein frommer Jude.«232 Das Zusammenleben der Generationen war um die Jahrhundertwende wohl am kontrastreichsten. Hindes Tante Chaja Sore kleidete sich noch in der jüdischen Tracht mit edelsteinbesetztem Sterntichl,233 Atlasstirnband (um die Haare zu imitieren) und Haube, während Hinde bei ihrem Synagogenbesuch »den Jägerhut mit den drei langen, großen Straußenfedern auf der Haartour mit den geflochtenen Zöpfen und die wiederum auf meinen eigenen Haaren aufgesetzt hatte«.234 Als Hindes Sohn schon das Gymnasium besuchte (Galizien, um 1903), warf ihr die Tante vor: »Warum machst du ihn stante pede zu einem Goi? Schau, ich habe viele Söhne und alle haben einen Lebensunterhalt vom Handeln und können dabei gut lernen und sogar eine Familie ernähren.« Rachel Lea Wölinska berichtet ihren Töchtern in Amerika vom »mace bakin« und »lichter bencin«, sie führt ein koscheres jüdisches Haus. Aber sie fragt kein einziges Mal danach, ob und wie ihre Töchter in Amerika die reli-
230 Kramer, Mazon Jewish Grandmothers, S. 5. 231 232 233 234
Bergner: Winternächte, S. 29. Bergner: Winternächte, S. 120. Stirntüchlein, eine Art textiles, steifes, perlen- und edelsteinbesticktes Diadem. Bergner: Winternächte, S. 120 f.
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giöse Lebensweise aufrecht erhalten. Entweder sieht sie dies als selbstverständlich an, oder es ist ihr völlig klar, dass die Auswanderung auch den Abschied von der traditionellen Lebensform bedeutet, oder sie spart das Thema aus, um sich und ihren Töchtern schmerzliche Diskussionen zu ersparen.
Die Magie der Namen: Henriette, Helenie, Clara Besonders auffällig sind die modischen Namen, die sich vor allem die jüdischen Mädchen und Frauen zulegten. Pauline Wengeroff wurde als Pessele Epstein geboren, ihre Schwester Chawe nannte sich Eva, und ihre übrigen Schwestern Käthy, Cäcilie und Helene hießen bei ihrer Geburt auch nicht so. Hindsje Rosenblatt (Hinde Bergner) nannte sich in ihrer Jugend modebewusst »Henriette«: »Unsere Mutter war in ihrer Jugend - gemäß dem Geist ihrer Zeit - ein wenig snobistisch-assimilatorisch und nannte sich Henriette und nicht Hindsje, wie sie auf jiddisch hieß.«235 Sara Wolinskas Schwester Hinde zeichnete ihren Gruß nach Amerika mit »Helenie«.236 Chaje Rosenstein, die Bürgersfrau aus Lemberg, nannte sich »Clara«, die Stiftung erhielt den Namen »Isaak Aron und Clara Rosenstein-Stiftung«.237 Diese Namenwechsel scheinen eine von Frauen bevorzugte Spielerei gewesen zu sein, die Männer behielten meist ihre jüdischen Vornamen bei, wenn auch von einigen Lodzer Unternehmerfamilien bekannt ist, dass ihre Söhne sich deutsche Vornamen zulegten.238 Die Männer änderten eher ihre Kleidung und Haartracht entsprechend der »europäischen« Erscheinung als ihren Namen.
Zusammenfassung Der Wandel des religiösen Lebens betraf alle Regionen und vollzog sich zwischen den Generationen. Es fällt auf, wie weit plötzlich die Töchter von der Religiosität der Mütter entfernt sind - und darin zuweilen eine heimliche Komplizenschaft mit dem Vater pflegen. Sie äußern sich sehr abschätzig über das, was ihren Müttern teuer war, und bezeichnen sie mit stereotypisch wirkenden Schlagwörtern wie »fanatisch«, »naiv« oder »primitiv«. Das klingt nach unverdauter Rebellion. Zeitlich lässt sich dieser Bruch zwischen 1880 und 1900 festmachen.
235 236 237 238
Bergner: Winternächte, S. 16. YIVO, RG 126 Family History, 27.6, Blatt 4. Staatsarchiv Lemberg, 7 0 1 - 1 - 4 4 . Stefan Pytla&todzkaburzuazjaprzemyslowawlatach 1864-1914. Lodz 1994, S. 308.
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Der Wandel weiblicher Handlungsräume. Ein Perspektivenwechsel Im folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse der vorhergehenden Abschnitte nochmals aufgegriffen und in eine Zusammenschau des Wandels weiblicher Handlungsräume integriert. Bisher geschah die Annäherung an die weiblichen Lebenswelten über Lebensabschnitte und die Einbindung in die soziale Gruppe durch Erziehung, Ehe und Familie sowie die religiösen Pflichten. Hier geht es nun um die umgekehrte Sichtweise: Die Frauen als handelnde Subjekte, die sich im gegebenen Rahmen ihre Handlungsräume selber schufen und gestalteten. Religion und Geschlecht Jüdische Frauen hatten aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit eine ganz bestimmte gesellschaftliche Rolle. Ihre Geschlechtszugehörigkeit bestimmte ihren individuellen Lebensverlauf und ihre Handlungsräume. Beide Ebenen, die gesellschaftliche und die individuelle, waren ineinander verwoben, bedingten sich gegenseitig. Der Wandel umfasste beide Ebenen, er trat von innen und von außen an die Mädchen heran. Ihre eigenen Vorstellungen, Pläne und Wünsche veränderten sich, und ihre gesellschaftliche Rolle, die äußeren Ansprüche an sie, ebenfalls. Den Rahmen für die weiblichen Handlungsräume in der vormodernen ostjüdischen Kultur bildete ihre Rolle als Hausfrau und Mutter, die ein koscheres Haus führen, möglichst die Familie ernähren und dem Mann im Idealfall ein dauerndes Talmudstudium ermöglichen sollte. Das Leben der Geschlechter im Alltag verlief weitgehend getrennt. Den Männern waren das Bethaus und die Gemeindeangelegenheiten zugeordnet, den Frauen Haushalt und Kinder. Nur im Bereich derparnosse, des Lebensunterhalts, berührten sich die männlichen und weiblichen Sphären, denn daran waren beide Geschlechter beteiligt. Dieses klar geordnete System geriet mit dem wirtschaftlichen Niedergang und der engen Berührung mit anderen Wertewelten aus den Fugen. Die Handlungsräume verschoben sich, neue Ideale und Vorbilder verdrängten die alten Geschlechterrollen. Deutlich wird die zunehmende Vielfalt der Lebensweisen. Immer mehr Frauen begannen, es mit ihren religiösen Pflichten nicht mehr so genau zu nehmen. Der Grund dafür war zum Teil die Mode oder der Zeitgeist, wenn es als aufgeklärt oder »von Welt« galt, Männern die Hand zu geben oder sich die Kopfhaare nicht mehr zu rasieren. Der Besuch der mikve wurde offenbar als
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lästige Pflicht empfunden und mit der höheren Bewertung des Individuums, und damit der Intimsphäre, abgelehnt. Am längsten dürften sich Rituale wie das Segnen der Sabbatkerzen gehalten haben, aus nostalgischen Gründen. Der Bruch in den Lebensweisen kann etwa zwischen 1880 und 1900 angenommen werden. Um diese Zeit herrschten ganz unterschiedliche und vielfältige Formen, die sich vor allem nach Lebensalter und Stadtnähe unterschieden. Der Wandel der ostjüdischen Lebenswelten im 19. Jahrhundert wirkte sich auf die Frauen lebensgeschichtlich gesehen etwas anders aus als auf die Männer. Für die Männer betraf er neben dem Bereich der Bildung vor allem das Berufsleben. Religöse Gelehrsamkeit war nicht mehr das wichtigste Ziel im Leben eines Juden, sondern geschäftlicher Erfolg trat an deren Stelle. Auch in einfacheren Verhältnissen wurde die Sorge um den Lebensunterhalt wichtiger als die religiösen Studien. Für die Frauen konzentrierte sich die Veränderung auf Bildung, Partnerwahl und eheliche Rollenverteilung. Ihr Leben verlief stärker komplementär zu dem eines Mannes als umgekehrt. Eine Lebensvariante ohne Mann war im kulturellen Repertoire nicht vorgesehen, auch mit dem Wandel nicht. Lohnarbeit konnte Unabhängigkeit verschaffen und eine eigenständige Partnerwahl erleichtern, barg aber auch die Gefahr der Lösung traditioneller und familiärer Bindungen. Daneben bestand noch die Möglichkeit, auszuwandern, die jungen Frauen nicht weniger offenstand, als jungen Männern. Das zeigen die verschiedenen Briefwechsel.239 Dieser Weg stand aber wohl nur den jungen Frauen offen, die bereits Verwandte am Zielort hatten. Dann allerdings war das Programm nicht auf Heirat, sondern auf Arbeit und Geldverdienen ausgerichtet.240 Erziehung, Bildung, Lektüre Mädchenerziehung und -bildung war traditionell nicht institutionalisiert. Das erleichterte den Mädchen den Besuch öffentlicher Schulen, als solche entstanden, während ihre Brüder häufig noch streng religiös ausgebildet wurden. Die »Modernisierung« der Mädchenbildung betraf vor allem die mittleren und oberen Schichten. Die Form, die diese Bildung annahm, hing vom Grad der Säkularisierung der Familie und ihrer Umgebung ab. Traditionell orientierte Familien waren bereit, ihre Töchter auf öffentliche Schulen und sogar Gymnasien zu schicken. Das Ziel dieser Ausbildung entsprach je-
239 YIVÖ, RG 126,27.6; RG 111, Box 7. 240 YIVO, RG 126, 27.6, Blatt 18, rechte Seite.
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doch der traditionellen Frauenrolle als Ernährerin. Die Ausbildung sollte zur Mitarbeit im Geschäft befähigen, also standen Rechenkünste und Sprachkenntnisse an erster Stelle. Gab es keine öffentlichen Schulen, konnten Töchter wohlhabender Familien auch Privatunterricht erhalten. In Familien, die sich an Urbanen, »westlichen« Standards orientierten, stand die Vorstellung von »höheren Töchtern« im Vordergrund der Bildungsvorstellungen für Mädchen. Dazu gehörten »unpraktische« Sprachen wie Französisch und >schöngeistige< Fähigkeiten wie Pianospiel und Häkeln. Die Bildung erhielt in beiden Fällen den Charakter einer Mitgift, im ersten Fall konnte die Frau den Mann im Geschäft unterstützen und ihm Zeit für seien religiösen Studien ermöglichen, im zweiten Fall hob die »gebildete« Frau das soziale Ansehen ihres Mannes in »bürgerlichen« Kreisen. Für die Frau bedeutete dieser Fall aber den Verlust eines wichtigen außerhäuslichen Handlungsraumes und einer einflussreichen Position in der Familie. In ihrer Auswirkung auf die weiblichen Lebensentwürfe ähnelten sich die Ergebnisse beider Bildungskonzepte. Die Lektüre eröffnete den Frauen neue innere Erlebniswelten und weckte Bedürfnisse. Eine flüssige Beherrschung der Schrift gab ihnen neue Ausdrucksmöglichkeiten und Proberäume in der Form von Briefen und Tagebüchern. Diese neue Bedeutung der Schrift, die zuvor an sakrale Bedeutungen gebunden war, zeigt sich auch darin, dass sie zum Motiv der jiddischen Literatur wurde: Der »Briefroman« lehnte sich an eine aus den verbreiteten Briefstellern bekannte Form an und entwickelte sie weiter.241 Auf den Lebensverlauf wirkte sich neben den neuen Bildungsmöglichkeiten für Mädchen auch das spätere Heiratsalter aus. So entstand eine voreheliche »Jugend«-Phase mit Bildungsmöglichkeiten oder, in unteren Schichten, mit Erwerbstätigkeit. In der Folge waren die Frauen, nun älter und »erfahrener«, weniger fügsam in Bezug auf die traditionellen Rollenerwartungen. Rebellionsversuche nahmen zu. Die Frauen versuchten, sich vor und innerhalb der Ehe neue Handlungsräume zu erschließen. Nach wie vor blieb aber die Ehe selbstverständlich der Rahmen für die Verwirklichung solcher Entwürfe. Heirat und Eheleben Die Eheanbahnung veränderte sich: Die Frauen wünschten Mitspracherecht und hatten vorgeformte Ansprüche an ihre Partner, die sie nicht selten aus
241 Scholem Alejchen: Mein erster Roman; Scholem Alejchem: Menachem Mendel (in zwei Briefserien erstmals erschienen).
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der Literatur bezogen. Solchen romantischen Vorbildern lebten die Partner immer häufiger in Brautbriefen nach, für die die Briefsteller bald schon Vorlagen lieferten. Das eheliche Zusammenleben gestaltete sich ebenfalls nach neuen Vorbildern. Im galizischen Lemberg herrschten in den wohlhabenden Kreisen ganz eindeutig westlich-bürgerliche Ideale: Liebe, gegenseitige Hochschätzung und Achtung, ein guter Name, ein vorbildliches Familienleben. Auch Pauline Wengeroff, die schließlich als Bankdirektorsgattin in Minsk lebte, hätte wohl ihre Ehe nach außen hin so charakterisiert. Dass der Weg dorthin steinig und schmerzhaft war, verschweigt sie in ihren Memoiren dennoch nicht. Die Anpassung an neue Normen ging auf Kosten der Traditionen und früherer Bindungen und verlief für beide Partner nicht konfliktfrei. In einer jüngeren Generation war die Entscheidung für den Fortschritt oft bereits früher gefallen. Die Partner wünschten sich von Anfang an ein »aufgeklärtes« Gegenüber, das als attraktiver galt. Zum Konflikt kam es in solchen Fällen eher mit den Eltern als unter den Partnern. Auch in kleineren Städten und auf dem Land wurde Urbanen Leitbildern nachgelebt. Aussteuer und Hochzeitsfest passten sich den neuen Moden an: Neue, modische und unnütze Kleidungsstücke kamen hinzu. Ein Spaßmacher ritt an einer galizischen Hochzeit im Jahr 1877 auf einem Pferd ein und sang ein polnisches Lied dabei.242 Ein solcher Vorgang wäre in Litauen um diese Zeit sicher unvorstellbar gewesen, aber auch in Galizien fiel die Erzählerin vor Schreck von der Bank. Die Mitgift verlor bei allem Wandel nichts von ihrer Bedeutung. Allerdings scheint es üblich geworden zu sein, die Ansprüche der Ehefrau im Falle einer Scheidung oder Verwitwung vertraglich besser zu schützen. Die Mitgift selbst diente wie zuvor als Geschäftskapital - und sicherte der Frau Status und Einfluss in der Ehe. Die Vorstellungen von der ehelichen Rollenverteilungen entwickelten sich eindeutig auf die Ernährerrolle des Mannes hin, und zwar quer durch alle Schichten. In traditionellen Familien war eine Mitarbeit der Frau im Geschäft noch möglich, aber in wohlhabenden, städtischen, assimilatorisch orientierten Kreisen beanspruchten die Männer diesen prestigeträchtigen Bereich für sich. Auch die populären Briefsteller, eine Mischung aus Lehrbuch, Unterhaltungslektüre und Moralfibel, betrachteten weibliche Berufstätigkeit als schädlich für die Moral. Besonders scharf verurteilten die Textvorlagen die Praxis, ohne festes Auskommen eine Familie zu gründen.
242 Bergner: Winternächte, S. 98.
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Solche Agumentationen zeigen, wie bestimmte Wertvorstellungen übernommen und verbreitet wurden. In der Realität war die Mitarbeit der Frauen meistens notwendig, aber es gab auch noch die einflussreichen und tätigen Frauen eher weltfremder Männer, die umsichtig die Geschäfte leiteten und die Familienineressen auch nach außen, etwa vor Behörden, wirkungsvoll vertraten. Am wenigsten änderte sich zunächst an den Lebensbedingungen der Frauen der Unterschichten. Harte Arbeit im Haushalt, jährliche Schwangerschaften, Krankheiten und Tod begleiteten ihren Alltag. Die Verschlechterung der Einkommensmöglichkeiten zwang allerdings die Männer häufiger, ihre Familien zu verlassen, um zu betteln oder Arbeit zu suchen. Frauen dieser Schichten waren besonders vom Schicksal des Verlassenwerdens bedroht. Die familiären Bindungen lockerten sich, junge Leute wanderten in die Städte ab. Besonders Mädchen aus diesen Schichten fanden hier ein Auskommen als Prostituierte. Wohltätigkeit Eine traditionelle weibliche Aufgabe war die Wohltätigkeit. Spenden in die Büchsen verschiedener Hilfsvereine und bei Wohlhabenden regelmäßiges Almosengeben waren Frauensache. Hiermit konnten sich die Frauen einen Platz im Jenseits verdienen. Es galt als besonders ehrenvoll, wenn man von einer Frau erzählte, ihr Mann habe ihre Freigiebigkeit streng beschränken müssen, damit sie nicht alles weggab. Frauen halfen oft persönlich in Einzelfallen, entweder informell selbst oder indem sie für die Notleidenden sammelten.243 Die jüdische Gemeinschaft teilte sich gewissermaßen in die Gebenden und die Nehmenden.244 Wer es sich irgend leisten konnte, spendete, und auch wenn die Vereine von Männern geführt wurden, waren es im Alltag meist die Frauen, die den Akt des Helfens ausführten - es sei denn, es handelte sich um Spenden an Vereine und Organisationen. »Meine Mutter verteilte gewöhnlich an Rosch-Chodesch eine ansehnliche Summe Geld.«245 Isaac Rülf beschreibt die Wohltätigkeitsvereine in Wilna im Jahre 1881 und fügt hinzu: »Woran es bisher in Wilna gefehlt hat - ein characteristisches Zeichen übrigens für alle russischen Städte - das ist an den entsprechenden,
243 Zborowski, Herzog, S. 162 f. 244 Celia Stopnicka-Rosenthal: Social Stratification of the Jewish Community in a Small Polish Town. In: American Journal of Sociology 59 (1953) S. 1 - 1 0 . 245 Wengeroff: Memoiren I, S. 119.
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ausschließlich aus Frauen bestehenden Vereinen. Die Frauen haben sich nicht etwa der Mitwirkung bei wohltäthigen Zwecken und Anstalten entzogen. Gott bewahre! Sie sind es ja vorzugsweise, welche bei allen Veranstaltungen der >Zedoko< (Mildthätigkeit) und Gemilluns Chesed die Hand im Spiele haben; die eifrigsten und unermüdlichsten Sammlerinnen, Helferinnen und Beratherinnen. Ohne ihre wirksame Beihilfe wäre Entstehen und Bestehen der meisten Wohlthätigkeitsvereine ganz und gar undenkbar und unmöglich. Bisher wirkten sie bei allen Vereinsfirmen vorzugsweise als stille Theilnehmerinnen, jedoch vielleicht mit einem weit größeren Kapital an Eifer, Beflissenheit und echt selbstverleugnendem Wohlthätigkeitssinn, als die Männer. Dahier ein Beispiel, mit welcher Virtuosität und Raffinement in Wilna das Geschäft der Wohlthätigkeit von Frauen betrieben wird. Es giebt in Wilna ältere Frauen, die ohne irgend andere Beschäftigung, ohne Sorge für die eigne Existenz, sich lediglich damit befassen, das Elend aufzusuchen und Unterstützungen zu vermitteln. (...) Eigne, selbständige Vereine hatten die Frauen bis dahin nicht. Wir müssen es als einen großen Fortschritt betrachten, daß im gegenwärtigen Augenblicke eine Anzahl angesehner Frauen sich vereinigt haben, um einen großen Frauenverein zu bilden, welcher ein Grundstück zu erwerben die Absicht hat, um darauf ein Erziehungsinstitut, gleich der oben beschriebenen >Thalmud ThoraWie geht's Ihnen?< wird der kleine Lehrer Mendel Fass in Prag [der Ort kann wechseln] gefragt. >Nu, wie soll's mir gehen?< antwortet er trübselig. >Was macht Ihre Frau?< - >Nu, was soll sie machen?< - >Und Ihre Kinder? Gesund?< - >Wie sollen sie nicht gesund sein?< - Verdienen Sie jetzt wenigstens was?< - >Nu, was soll ich schon verdienen?< - >Jetzt sagen Sie mir aber eines, Herr Fass! Warum antworten die Juden, wenn sie befragt werden, immer wieder mit einer Frage?< - Mendel Fass denkt nach. Endlich spricht er: >Nu, warum sollen sie nicht antworten mit einer Frage?« Zitiert in: Schwara: Humor, S. 160. Ein schönes Beispiel für das dialogische Prinzip in der jiddischen Sprache (dazu: Marten-Finnis/Valencia: Sprachinseln) und für die Bedeutung von »Geschichten« in den Dialogen sind auch die »aisnbangeschichtess« von Scholem Alejchem: Eisenbahngeschichten. Hg. von Gernot Jonas, Frankfurt a. M. 1995; dazu Almut Bonhage: Jüdische Eigenart im osteuropäischen Schtetl: Scholem Alejchems »aisnbangeschichtess«. In: Zionistenkongress, S. 6 4 - 6 8 .
Gaby Coldewey, Anja Fiedler, Stefan G e h r k e u.a. Zwischen Prath und Jordan Lebenserinnerungen Czernowltzer Juden 2003. XIII, 176 Selten. 64 s/w-Abbildungen. Broschur. € 16,90/SFr 29,I S B N 3-412-07002-5
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Czernowitz, ehemals Hauptstadt der Bukowina, liegt weit hin-
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ter den Karpaten in der heutigen Ukraine. Im 18. Jahrhundert
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kam die Stadt zur habsburgischen Krone; mit ihr zogen auch Juden in die multiethnische Stadt am Pruth und prägten die Stadtentwicklung. Die Sprache des jüdischen Mittelstandes war Deutsch. Die Lyriker Paul Celan und Rose Ausländer wurden hier geboren. Von etwa 55.000 Juden überlebten etwa 18.000 die Verfolgungen während des 2. Weltkrieges. Danach wanderte ein Großteil von ihnen nach Israel aus. Die Autoren haben einige der Emigranten, die aus ganz unterschiedlichen sozialen Milieus stammen, dort aufgesucht und befragt. Aus ihren Erzählungen ist das Buch entstanden. Der Leser erhält einen lebendigen Einblick in den Alltag der Juden und das Zusammenleben in der Vielvölkerstadt Czernowitz der 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts. Die Kriegszeit - zumal Ghetto und Deportation - bildet einen Schwerpunkt der Erzählungen. Als ebenso einschneidende Erfahrung wird von der Auswanderung nach Israel und dem Aufbau der neuen Heimat berichtet. Kurzbiographien der Zeitzeugen und eine Auswahl privater Fotos runden den Band ab.
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