Ludwig Wittgenstein als Musikphilosoph 9783495860168, 9783495484494


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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Sagen und Zeigen
»Die Kenntnis des Wesens der Logik wird deshalb zur Kenntnis des Wesens der Musik führen.« – Musik im Tractatus
Der »Indifferenzpunkt« von Sagen und Zeigen – Vom Tractatus zu den Philosophischen Untersuchungen
II. Lebensform
Musik als »Stadtteil der Sprache«: Sprachgebrauch, Sprachspiele, Regeln
Pragmatik: Sprachgebrauch statt Wortbedeutung
Musik als »Stadtteil der Sprache«
Regeln folgen
Ästhetik?
Ästhetische Ausdrücke
Ästhetische Urteile
Verschwommenheit – Sprache als Gebärde
Emotion?
Psychologie und Antipsychologismus
Musik und Emotion
Aspekte sehen
Interpretation und Stil – biographische Fährten
III. Musik und Sprache
Ausdruck – Bedeutung – Selbstreferentialität – Formalismus?
IV. Performative Variationen: Philosophie der Musik – musikalische Philosophie
Morphologische Methode, Familienähnlichkeiten und Verweigerung der hinweisenden Begriffsdefinition
Zum Schluss: »Landschaftsalbum« und musikalische Philosophie
Verzeichnis der verwendeten Literatur
Ludwig Wittgenstein: zitierte Werke nach Siglen
Zitierte Wittgenstein-Briefwechsel
Verwendete Literatur zu Wittgenstein
Sonstige zitierte Quellen
Sonstige verwendete Literatur
Dank
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Ludwig Wittgenstein als Musikphilosoph
 9783495860168, 9783495484494

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A

musik M philosophie

Katrin Eggers

Ludwig Wittgenstein als Musikphilosoph

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495860168

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B

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495860168 .

Wittgenstein schrieb sein Leben lang über Musik und Musiker, die er schätzte oder auch ablehnte. Musik war ihm dabei nicht nur die liebste aller Künste, die detailliert mit Freunden und Verwandten besprochen wurde, sondern immer wieder auch Gegenstand philosophischen Nachdenkens. Dieses Buch widmet sich einer Herausarbeitung der in den Werken Ludwig Wittgensteins implizit vorhandenen Musikphilosophie. Dabei werden die zahlreichen und weit verstreuten Aphorismen zur Musik versammelt und in die Wittgensteinschen Denklinien der Sprachkritik sowie Aussagen zur Ästhetik und zur Logik eingeordnet. Immer wieder stellt sich dabei auch eine erstaunliche Nähe zu Überlegungen Arnold Schönbergs heraus. Angefangen bei der Rolle der Musik in den Jahren des Tractatus stellt sich diese Arbeit aus der kritischen Sicht Wittgensteins den Fragen von Musik als Sprache in der späteren Philosophie, der Möglichkeit einer Disziplin »Ästhetik«, dem Problem von Musik und Emotion, Musik im sozialen und historischen Kontext sowie der Auseinandersetzung mit den von Hanslick ausgegangenen Impulsen der Selbstbedeutung von Musik. Dabei spielen vor allem die Wittgensteinsche Überlegung der »Verhexung des Verstandes durch die Mittel der Sprache« sowie die Begriffe des »Aspekte-sehens«, der »Familienähnlichkeit« und der »Lebensform« eine tragende Rolle. Schließlich wird Wittgensteins Methode genauer untersucht, deren perfomative Verweigerung jedes hinweisenden Begriffssystems unter dem Aspekt von Wiederholung, Variation und Kontrastfeldern selbst als musikalisch beschrieben werden kann. Die Autorin: Dr. Katrin Eggers, geboren 1979, studierte Schulmusik, Philosophie, Germanistik und Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover sowie der Leibniz-Universität Hannover. Sie wurde mit der vorliegenden Arbeit 2010 promoviert, die mit einem Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes gefördert wurde. Eggers habilitiert sich zurzeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Historische Musikwissenschaft in Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Fragen der Musikästhetik und Musiksemiotik sowie Musik und musikalische Alltagsgeschichte der Frühen Neuzeit.

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Katrin Eggers Ludwig Wittgenstein als Musikphilosoph

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musik M philosophie Band 2

Herausgegeben von: Oliver Fürbeth (Frankfurt am Main) Lydia Goehr (Columbia, New York) Frank Hentschel (Gießen) Stefan Lorenz Sorgner (Erfurt) Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Dorschel (Graz) Bärbel Frischmann (Erfurt) Georg Mohr (Bremen) Albrecht Riethmüller (Berlin) Günter Zöller (München)

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Katrin Eggers

Ludwig Wittgenstein als Musikphilosoph

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860168 .

Gedruckt mit Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

2. Auflage 2014 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48449-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86016-8

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Sagen und Zeigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Die Kenntnis des Wesens der Logik wird deshalb zur Kenntnis des Wesens der Musik führen.« – Musik im Tractatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der »Indifferenzpunkt« von Sagen und Zeigen – Vom Tractatus zu den Philosophischen Untersuchungen .

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II. Lebensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

34 59

Musik als »Stadtteil der Sprache«: Sprachgebrauch, Sprachspiele, Regeln . . . . . . Pragmatik: Sprachgebrauch statt Wortbedeutung Musik als »Stadtteil der Sprache« . . . . . . . . Regeln folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ästhetik? . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetische Ausdrücke . . . . . . . . . . Ästhetische Urteile . . . . . . . . . . . . Verschwommenheit – Sprache als Gebärde

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. 98 . 98 . 105 . 109

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Emotion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologie und Antipsychologismus . . . . . . . . . . . Musik und Emotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

122 122 132

Aspekte sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interpretation und Stil – biographische Fährten . . . . . .

152 173

III. Musik und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausdruck – Bedeutung – Selbstreferentialität – Formalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

193 203

7 https://doi.org/10.5771/9783495860168 .

Inhaltsverzeichnis

IV. Performative Variationen: Philosophie der Musik – musikalische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Morphologische Methode, Familienähnlichkeiten und Verweigerung der hinweisenden Begriffsdefinition . . . . Zum Schluss: »Landschaftsalbum« und musikalische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der verwendeten Literatur

229 229 250

. . . . . . . . . . . . . 269

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495860168 .

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Ludwig Wittgenstein, BEE MS 154, entspricht VB S. 479 (1931).

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Einleitung

»Leidenschaftlich« Diese »Charakterbezeichnung« trägt das oben abgebildete Melodiefragment. Ludwig Wittgenstein notierte 1931 unter den Notenzeilen: Das wäre das Ende eines Themas, das ich nicht weiß. Es fiel mir heute ein, als ich über meine Arbeit in der Philosophie nachdachte und mir vorsagte: ›I destroy, I destroy, I destroy –‹. 1

Diese Zeilen sind vor allem deshalb bemerkenswert, weil es sich um die einzige »Komposition« Wittgensteins handelt, die wir kennen. 2 Man könnte diese nicht sonderlich komplexe Aufzeichnung leicht als reines Kuriosum abtun – wenn Wittgenstein nicht ein Jahr zuvor am 28. April 1930 in seinem Tagebuch festgehalten hätte: Ich denke oft das Höchste was ich erreichen möchte wäre eine Melodie zu komponieren. Oder es wundert mich daß mir bei dem Verlangen danach die eine eingefallen ist. Dann aber muß ich mir sagen daß es wohl unmöglich ist VB, S. 479; Zitate Wittgensteins werden entsprechend den Gepflogenheiten der Wittgenstein-Forschung in dieser Arbeit stets nach Siglen zitiert, die im Literaturverzeichnis aufgeschlüsselt sind. 2 Martin Alber druckt in seinem Buch eine Bearbeitung eines Themas von J. S. Bach ab, welches der Freund Rudolf Koder von Wittgenstein aus dem Gefangenenlager in Monte Cassino erhalten haben soll. Ich bezweifle allerdings, dass es sich dabei um Wittgensteins Handschrift handelt, Notenschlüssel und Notenköpfe sind in dem obigen Fragment deutlich ungelenker als in dem bei Alber abgebildeten, sehr sauber notierten Manuskript. (Vergl. Martin Alber (Hg.), Wittgenstein und die Musik. Briefwechsel Ludwig Wittgenstein Rudolf Koder, Innsbruck 2000). Der Titel des Buches führt in die Irre. Keineswegs wird hier das Thema »Wittgenstein und die Musik« inhaltlich oder methodisch zufriedenstellend abgehandelt. Neben der Herausgabe des Briefwechsels mit dem Volksschullehrer Rudolf Koder finden sich im Anhang noch zwei Aufsätze über die Beziehungen der Familie Wittgenstein zur Musik und zu verschiedenen Musikern, sowie einige Skizzen von Gedankenlinien im Zusammenhang mit Wittgensteins Philosophie. Der Titel ist auch insofern irreführend, als Koder keinesfalls der Einzige oder Einflussreichste war, mit dem Wittgenstein über Musik sprach oder mit dem er musizierte. 1

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Einleitung

daß mir je eine einfallen wird, weil mir eben dazu etwas wesentliches oder das Wesentliche fehlt. Darum schwebt es mir ja als ein so hohes Ideal vor weil ich dann mein Leben quasi zusammenfassen könnte; und es krystalliert hinstellen könnte. Und wenn es auch nur ein kleines schäbiges Krystall wäre, aber doch eins. 3

Musik war nicht nur integraler Bestandteil des Lebens von Ludwig Wittgenstein, sondern sie ist ein essentieller Ausgangspunkt auf dem Weg zum Verständnis vieler seiner Gedanken, ihrer Herkunft und ihrer Wirkung. Musik ist das Hintergrundbild, der »Krystall«, auf dem man die Hauptgedanken Wittgensteins lesen kann:»Wittgenstein selbst war wohl der Ansicht, daß niemand seine Philosophie verstehe, der sie nicht auf dem Hintergrund jenes in ihr Nicht-Gesagten versteht; einem Hintergrund, der für uns literarisch nur faßbar ist in den Gesprächen, den Bemerkungen zur Kunst und zur Religion, ja in seinen moralischen und ästhetischen Reflexen und daher in jenen seiner Äußerungen, die seiner Biographie ungleich näher sind als die eigentlich philosophischen Texte. Wo dieser Hintergrund nicht das Interesse von Wittgensteins Philosophie abzieht – was oft genug der Fall ist –, mag er ebensowohl die extremen Konturen dieser Philosophie erst hervortreten lassen. In diesem Sinne mag gelegentlich das biographischästhetische Interesse an Wittgenstein die Funktion einer philosophischen Propädeutik haben.« 4 D, Eintrag vom 28. April 1930, S. 21; Irene Suchy hat angesichts dieser Bemerkung darauf hingewiesen, dass Wittgensteins Wunsch nach der Fähigkeit zu komponieren nicht dem tatsächlichen Schaffen eines Musikstücks gegolten hätte, sondern dass es sich um ein vorgestelltes Ideal der Zusammenfassung seines Lebens und all seiner Ansichten zu einem »Krystall« handeln würde. (Irene Suchy, »Sein Werk – Die Musik des Produzenten-Musikers Paul Wittgenstein«, in: Dies., Allan Janik, Georg Predota (Hg.), Empty Sleeve. Der Musiker und Mäzen Paul Wittgenstein (= Edition Brenner-Forum Bd. 3) Innsbruck u. a. 2006, S. 13–36, hier S. 25). Diese These geht wahrscheinlich etwas zu weit. Zwar war Wittgensteins Denken in erster Linie auf philosophische Ziele gerichtet, aber Musik war für ihn durchaus nicht nur ein »Mittel zum Zweck« (ebd.), sondern nach einhelligen Berichten seiner Weggefährten und Schüler eine Herzensangelegenheit in vielerlei Hinsicht. Die Metapher des »Kristalls« wird im Schlusskapitel dieses Buches noch einmal aufgenommen werden. 4 Albrecht Wellmer, »Ludwig Wittgenstein. Über die Schwierigkeit einer Rezeption seiner Philosophie und ihre Stellung zur Philosophie Adornos«, in: »Der Löwe spricht und wir können ihn nicht verstehen«. Ein Symposium an der Universität Frankfurt anläßlich des hundertsten Geburtstags von Ludwig Wittgenstein. Brian McGuinness, Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel, Richard Rorty, Charles Taylor, Friedrich Kambartel, Albrecht Wellmer, hrsg. v. Brian McGuinness, Frankfurt a. M. 1991, S. 140 f. 3

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Einleitung

So soll die vorliegende Arbeit dazu dienen, die oft nur zart skizzierte, weit verstreute, tatsächlich aber permanent durchscheinende Hintergrundstruktur »Musik« für Wittgensteins Philosophie zu identifizieren und auszuleuchten. Wittgenstein war kein Musikphilosoph im »klassischen Sinne«, das ist hinreichend bekannt, aber Musik war ihm ein Spiegel der Welt. Sie gehörte in den Bereich des nicht-mehrSagbaren, aber zweifellos unendlich Wichtigen, das den Bereich dessen, was diskursiv erklärbar ist gleichsam »von innen heraus« begrenzen soll. An all den verstreuten Stellen, an denen Wittgenstein sich ganz unvermittelt musikalischer Beispiele bedient, markieren diese Beispiele immer eine Grenzregion, sie sind jeweils äußere Grenzpfosten dessen, was mittels philosophischer Untersuchungen überhaupt feststellbar ist (diesen Gedanken werde ich im folgenden Kapitel »Sagen und Zeigen« näher erläutern). Ein Buch wie das vorliegende hat daher zunächst zur Aufgabe, die weit über das gesamte Werk verteilten Bemerkungen aufzuspüren und damit gleichsam die Linie dieser Grenzmarkierungen sichtbar zu machen. Ein nicht geleiteter Leser kann sich in den nicht leicht auffindbaren und unzusammenhängend erscheinenden Bemerkungen Wittgensteins leicht verlieren, und die versteckten »musikalischen Grenzpfosten« übersehen. Es würde allerdings auch nicht ausreichen, solche solitären Bemerkungen einfach nur zusammenzuführen, denn für sich genommen erscheinen sie gelegentlich geradezu banal. Es gilt daher, ihren gedanklichen Ort vor dem Vordergrund Wittgensteinscher Philosophie zu klären und sie zudem biographisch und zeithistorisch zu kontextuieren. Beispielhaft dafür ist das abgebildete Melodiefragment. Alleine scheint es trivial und würde wohl kaum musikwissenschaftliche Aufmerksamkeit über seine Existenz als Rarität hinaus erwecken können. In einem Gespräch mit seinem Schüler und Freund Maurice O’Connor Drury äußerte Wittgenstein einmal über die Philosophischen Untersuchungen, an denen er gerade arbeitete: Ich finde es unmöglich, in meinem Buch auch nur ein einziges Wort zu sagen über alles das, was die Musik für mich in meinem Leben bedeutet hat. Wie kann ich darauf hoffen, daß man mich versteht? 5

5 Rush Rhees, Ludwig Wittgenstein: Portraits und Gespräche. Hermine Wittgenstein, Fania Pascal, F. R. Leavis, John King, M. O’C Drury, Frankfurt a. M. 1992, S. 220.

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Einleitung

Wittgenstein fordert damit seine Leser nachdrücklich dazu auf, seine Beziehung zur Musik ernst zu nehmen. Und so entstand auch diese einzige Melodie nicht etwa während eines Kammermusiknachmittages oder zusammen mit Freunden, sondern, so Wittgenstein, »als ich über meine Arbeit in der Philosophie nachdachte«. 6 Scheint das Fragment daher auch noch so einfach – in diesem komponierten »Krystall«, welches Leben und Denken »krystalliert hinstellen könnte« 7 , sind bereits wesentliche Facetten Wittgensteinscher Philosophie erkennbar, die ein Buch wie dieses auszuleuchten hat. Zunächst trägt es eine Satzbezeichnung: »Leidenschaftlich«. Es gibt wohl kein Wort, welches Leben und Werk Wittgensteins treffender kennzeichnen könnte, als »leidenschaftlich«. 8 Wittgenstein duldete in seiner Umgebung nichts und niemanden, der nicht mit intellektueller Redlichkeit auf ernsthafte Erkenntnissuche ging, schon gar nicht bei sich selbst – ob er sich nun beim Schneider eine neuen Anzug bestellte, musizierte bzw. Musik hörte oder Philosophie betrieb (vergl. hierzu das Kapitel »Interpretation und Stil«). Sein Denken ist konsequenterweise auch nicht durch feste Theorien und abschließende Antworten gekennzeichnet, sondern durch das Moment der Beunruhigung an unvorhersehbar auftauchenden und ständig wiederkehrenden Fragen. Als Bertrand Russell dem jungen Studenten in Cambridge begegnete, hielt er am 5. März 1912 in einem Brief fest: Wittgenstein gefällt mir immer besser. Seine Leidenschaft fürs Theoretische ist äußerst hochentwickelt. Diese Leidenschaft ist so selten, und man ist froh, wenn man ihr begegnet. Ihm geht es nicht darum, dies oder jenes zu beweisen, sondern er will das Wesen der Dinge erkennen. 9

Und elf Tage später:

VB, S. 479 (s. o.). D, Eintrag vom 27. April 1930, S. 21 (s. o.). 8 So erinnert sich der Freund und Architekt Paul Engelmann (mit dem Wittgenstein zusammen ein Haus entwarf und baute): »W. war der leidenschaftlichste Mensch, den ich gekannt habe.« (Ilse Somavilla (Hg.), Wittgenstein – Engelmann. Briefe, Begegnungen, Erinnerungen, unter der Mitarbeit von Brian McGuinness, Innsbruck 2006, S. 150). 9 Brief an Lady Ottoline, zit. n.: Brian McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, Frankfurt a. M. 1992, S. 169 f.; vergl. zum »Leidenschaftlichen« als Schlüssel zur Philosophie Wittgensteins auch: Brian McGuinness, »›Der Löwe spricht … und wir können ihn nicht verstehen‹. Zu Wittgensteins hundertstem Geburtstag«, in: Ders. (Hg.), »Der Löwe spricht«, S. 15 f. 6 7

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Einleitung

Seine Veranlagung ist die des Künstlers. Er sagt, jeden Morgen gehe er voller Hoffnung an die Arbeit und jeden Abend beende er sie voller Verzweiflung. 10

Will man einen Gewinn aus der Lektüre seiner Texte ziehen, muss man sich dieser »Leidenschaft« aussetzen. Wittgensteins Bemerkungen wollen gleich einer Landschaft durchwandert werden, wie am Schluss dieses Buches noch einmal deutlich werden soll. Während man in anderen philosophischen Systemen über schwer verständliche, komplexe (oder kompliziert formulierte) Theoreme stolpert und ein Weiterlesen erst nach ihrem Verstehen sinnvoll wird, ist Wittgenstein zunächst nicht schwer zu verstehen. Die Ästhetik seiner Sprache ist die der Alltagssprache. Im Gegenteil – so mancher Aphorismus erscheint beim ersten Lesen simpel und erschließt seine volle Strahlkraft erst nach der Lektüre vieler anderer Stellen mit ganz anderen Themen. Das ist kein Zufall: »›Le style c’est l’homme même‹ – der Stil, das ist der eigentliche Mensch. Das Schreiben war seine Aufgabe, und die Integrität [machte] sein höchstes Ideal aus […].« 11 Wittgenstein will seine Leser in ein Zwiegespräch verwickeln, er fordert sie zu eigenen Antworten heraus und wirft gerade gewonnene Fixpunkte des Denkens im nächsten Moment – mal humorvoll, mal höflich, mal belehrend – wieder um. Diesen Stil werde ich im letzten Kapitel dieses Buches als »musikalisch« charakterisieren. Die Ausgangsbasis dessen ist bereits in dem kleinen kompositorischen »Krystall« ablesbar: Es handelt sich um das Prinzip der Wiederholung und Variation. In dem Fragment erscheint die erste Phrase zweimal, beim zweiten Mal in Variation, über der letzten Phrase steht die Anweisung »4mal«. Das entspricht signifikant der Art und Weise, wie Wittgenstein das Denken des Lesers leitet: Ein Thema erscheint, kommt immer einmal wieder mit kleinsten Variationen, gerät in eine »Durchführung«, landet gleichsam in einer weit entfernten Tonart eines gänzlich anderen, zweiten Themas und gelangt – mal ruckartig, mal fließend (mal auch gar nicht) – in eine Art »Reprise«, in der plötzlich alle Variationen beider Themen ein ganz neues Bild von dem scheinbar banalen Sachverhalt ergeben. Das gilt für das Denken Witt-

10 Brief von Russell an Lady Ottoline vom 16. März 1912, zit. n.: McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, S. 170. 11 McGuinness, »,Der Löwe spricht … und wir können ihn nicht verstehen. Zu Wittgensteins hundertstem Geburtstag«, in: Ders. (Hg.), »Der Löwe spricht«, S. 18.

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Einleitung

gensteins im Allgemeinen, insbesondere aber für seine Bemerkungen zur Musik. Wittgenstein selbst beschrieb diese, seine »Methode« 1933: Es ist etwas Wahres an Schopenhauers Ansicht, die Philosophie sei ein Organismus – ein philosophisches Buch mit einem Anfang und einem Ende, daher eigentlich ein Widerspruch. Eine unserer Schwierigkeiten mit der Philosophie ist der mangelnde Überblick. Wir begegnen hier derselben Schwierigkeit wie bei der Geographie eines Landes, für das wir keine Karte besitzen oder doch nur Karten für einzelne separate Gebiete. […] Wir können uns in diesem Land ohne Schwierigkeiten bewegen, doch wenn wir eine Karte anfertigen müßten, würden wir fehlgehen. Eine Karte zeigt verschiedene Wege durch dasselbe Land, und wir können uns für jeden einzelnen davon entscheiden, jedoch nicht für mehrere zugleich, geradeso wie wir in der Philosophie die Probleme eines nach dem anderen aufnehmen müssen, obwohl doch jedes Problem zu einer Fülle weiterer führt. Wir müssen warten, bis wir wieder am Ausgangspunkt angelangt sind, bevor wir ein neues Gebiet betreten, d. h. bevor wir das zuerst angegangene Problem behandeln oder an ein neues herangehen können. In der Philosophie sind die Dinge nicht so einfach, daß wir sagen könnten: ›Verschaffen wir uns doch erst einen groben Überblick‹, denn wir kennen das Land solange nicht, bis wir nicht die Verbindungen zwischen den Straßen kennen. In diesem Sinne ist Wiederholung ein Mittel zur Erforschung dieser Verbindungen. 12

Wittgenstein wählt ausdrücklich »Wiederholung als Mittel der Erforschung von Zusammenhängen«: was daher bei flüchtigem Lesen als Redundanz erscheinen mag, ist Wittgensteins »Methode«. Konkret bedeutet das für den Leser der folgenden Erörterungen, dass sich viele Gedanken zunächst ähneln und mit ähnlichen Zitaten belegt sein werden, mehr noch, dass manchmal sogar nur andere Bestandteile desselben Zitats den Gedanken von unterschiedlicher Seite aus in neues Licht tauchen werden. Dazu kommt ein weiterer Hinweis dafür, wie »typisch« das Notenfragment für Wittgensteins Art zu denken ist: der Topos des »etc.«, der hier am Ende der zweiten Notenzeile notiert ist. Die Bemerkungen »etc.« oder »usw.« sind auch in den hier ausgewählten Zitaten zahlreich vorhanden und beschreiben einen ganz bestimmten Gestus, den Wittgenstein für das Vermitteln seiner Gedanken nutzt. Zum einen ist es ihm eine Art verkürzte Zeigegeste, deren Funktion aufgrund gelernVorlesungsmitschrift von Alice Ambrose, 1933, zit. n.: Michael Nedo/Michele Ranchetti (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Sein Leben in Bildern und Texten, Stuttgart 1983, S. 393.

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Einleitung

ter Handlungsweisen eindeutig ist (also z. B. für »1, 2, 3, etc.«). Es ist auch ein Verweis auf eine Regel, deren mögliche Anwendungsfälle nicht von Vornherein determiniert sind. Das »etc.« verweist darauf, dass es um eine Versammlung von Fällen geht, die beständige Reformulierung und komplexere Strukturen erforderlich machen. Die methodischen Konsequenzen aus Wittgensteins permanentem »etc.« bestehen in Verstehensstrukturen, die uns eher aus dem Verstehen einer musikalischen Phrase her als aus der Philosophie vertraut sind: An die Stelle absoluter Regulierbarkeit tritt eine Art Vertrautheit mit der »Physiognomie« eines Themas, einer Phrase oder eines musikalischen Gestus, deren unendliche Möglichkeiten von Exemplifikationen nicht mittels einer Regel erfasst werden können. 13 Wittgenstein entwickelt entsprechend auch keine Definitionen, keine Begriffe, in denen das Gedachte fixiert, verwahrt und operativ nutzbar wird, 14 seine Philosophie liefert keine »Ergebnisse«. Im Vorwort seines sogenannten »zweiten Hauptwerkes«, den Philosophischen Untersuchungen bereitet Wittgenstein 1945 seine Leser auf diese Art der »Denkbewegungen« vor: Die philosophischen Bemerkungen dieses Buches sind gleichsam eine Menge von Landschaftsskizzen, die auf diesen langen und verwickelten Fahrten entstanden sind. Die gleichen Punkte, oder beinahe die gleichen, wurden stets von neuem von verschiedenen Richtungen her berührt und immer neue Bilder entworfen. Eine Unzahl dieser waren verzeichnet, oder uncharakteristisch, mit allen Mängeln eines schwachen Zeichners behaftet. Und wenn man diese ausschied, blieb eine Anzahl halbwegser übrig, die nun so angeordnet, oftmals beschnitten, werden mußten, daß sie dem Betrachter ein Bild der Landschaft geben konnten. – So ist also dieses Buch eigentlich nur ein Album. 15

In den »Skizzen« eines so beschaffenen »Landschaftsalbums des Denkens« hängt alles zusammen, und mal hebt eine Zeichnung ein ganz 13 Wittgenstein setzt sich mit dem »etc.« bzw. »usw.« intensiv auseinander, z. B. in PU I, § 208. Vergl. dazu u. a. Mariele Nientied, Kierkegaard und Wittgenstein: »Hineintäuschen in das Wahre«, Berlin 2003, S. 258, sowie Gordon P. Baker/Peter Hacker, rules, grammar and necessity. An analytical commentary on the »Philosophical investigations« Bd. 2, Oxford 2000, S. 193. 14 Vergl. zu diesem Denkansatz auch Eugen Fink, »Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie«, in: Ders., Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, Freiburg u. a. 1976, S. 190–204. 15 PU, Vorwort S. 9.

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Einleitung

vordergründiges Detail hervor, eine andere in derselben Szenerie einen winzigen, bisher unbeachteten Gegenstand, wieder eine andere vielleicht nur das Wechselspiel der beiden Gegenstände. Und obwohl die Umgebung gleich bleibt, obwohl vielleicht das Thema dasselbe ist, schaut der Betrachter auf einmal mit einem ganz anderen Blick darauf: Jeder Satz, den ich schreibe, meint schon immer das Ganze, also immer wieder dasselbe und es sind gleichsam nur Ansichten eines Gegenstandes unter verschiedenen Winkeln betrachtet. 16

Wittgenstein war sich darüber im Klaren, dass seine Art, denkerische Gravitationspunkte zu schaffen, die er von immer neuen Seiten umkreiste, angesichts der deduktiven, thematischen Orientierung des westlichen Wissenschaftsbetriebes eine schwer verständliche Zumutung sein würde. So bemühte er sich immer wieder um eine Wiedergabe von Gedanken, die dem eigenen Anspruch an Klarheit gerechter werden sollte. Im Vorwort der Philosophischen Untersuchungen heißt es daher weiter: Nach manchen mißglückten Versuchen, meine Ergebnisse zu einem […] Ganzen zusammenzuschweißen, sah ich ein, daß mir dies nie gelingen würde. Daß das beste, was ich schreiben konnte, immer nur philosophische Bemerkungen bleiben würden. 17

Dieses Bekenntnis ist eher eine Bescheidenheitsnote Wittgensteinscher Prägung. Acht Jahre vor Erscheinen der Untersuchungen schrieb der Philosoph auf einen von zahlreichen Zetteln und Notizen, die heute als Vermischte Bemerkungen veröffentlicht sind: Wenn ich für mich denke, ohne ein Buch schreiben zu wollen, so springe ich um das Thema herum; das ist die einzige mir natürlich Denkweise. In einer Reihe gezwungen, fortzudenken, ist mir eine Qual. Soll ich es nun überhaupt probieren?? Ich verschwende unsägliche Mühe auf ein Anordnen der Gedanken, das vielleicht gar keinen Wert hat. 18

Für Wittgenstein hat das Anordnen der Gedanken »keinen Wert«, zumindest keinen an und für sich: Es ist kein Zufall, dass ihm seine einzige »Melodie« zu den Worten einfällt: »I destroy, I destroy, I destroy –«. 19 VB, S. 459. PU, Vorwort, S. 9. 18 VB, S. 489. 19 VB, S. 479 (s. o.); diese Art, Philosophie zu betreiben ist durchaus als Makel vor allem der Spätphilosophie Wittgensteins aufgefasst worden. So schreibt Russell in seiner Au16 17

18 https://doi.org/10.5771/9783495860168 .

Einleitung

Just in dem Moment, als Wittgenstein zur »Zerstörung« der herkömmlichen Philosophie ansetzt und die vertrauten, linearen Denkwege verlässt, just in dem Augenblick geht sein Denken in Musik über. Die innere Grenze ist gezogen, überschritten und wird von der anderen Seite aus betrachtet. Russell schüttelte den Kopf über diese Eigenart des noch jungen, aber vielversprechenden Wittgenstein und schreibt in einem weiteren Brief an eine Freundin 1912: Ich sagte ihm, er solle nicht einfach bloß behaupten, was er für wahr hält, sondern dafür argumentieren, doch er antwortete, durch Argumente würde die Schönheit des Gedankens beeinträchtigt, und dann hätte er das Gefühl, wie wenn man mit unreinen Händen eine Blume beschmutzt. […] Ich befürchte wirklich, daß niemand den Sinn seiner Äußerungen einsehen wird, denn er weigert sich, sie durch Argumente, die einem fremden Standpunkt zugänglich sind, schmackhaft zu machen. 20

Dass diese Art zu denken und zu schreiben nicht nur eine radikal andere Art des Denkens darstellt, sondern auch einer vollkommen anderen Methodik ihrer Darstellung bedarf, ist offensichtlich (Wittgensteins »Methode« wird insbesondere Thema des Kapitels »Morphologische Methode, Familienähnlichkeiten und Verweigerung der hinweisenden Begriffsdefinition« sein). Entgegen ihrem Gegenstand muss ein Buch über Wittgensteins Denken allerdings den »konventionellen« Weg einschlagen, »in einer Reihe […] fortzudenken« (s. o.). Dazu finden sich an vielen Stellen meines Buches Formulierungen wie »daraus folgt für Wittgenstein«, oder »Wittgenstein schließt daraus«. Dabei handelt es sich gewissermaßen um einen argumentativen »Kunstgriff« meinerseits: Bei genauer Betrachtung der solcherart verbundenen Zitate ist leicht festzustellen, dass sie gelegentlich aus ganz verschiedenen Bereichen des Wittgensteinschen »Textlabyrinths« stammen. Es tobiographie: »Its positive doctrines seem to me trivial and its negative doctrines unfounded […]. The later Wittgenstein […] seems to have grown tired of serious thinking and to have invented a doctrine which would make such an activity unnecessary.« (Bertrand Russell, My philosophical Developement (1959), New York 1997, S. 160). Ähnliches Befremden äußern auch andere Bewunderer des Tractatus, wie Friedrich Waismann: »Er [Wittgenstein] ist völlig ins Lager der Dunkelmänner übergegangen« (Heinrich Neider, »Persönliche Erinnerungen an den Wiener Kreis«, in: Conceptus 28/ 30 (1977), S. 33. 20 Russell an Lady Ottoline, 28. Mai 1912, zit. n.: McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, S. 175.

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Einleitung

handelt es sich an solchen Stellen daher um meinen Versuch, Wittgensteins Gedanken »in einer Reihe […] fortzudenken« und diese Folge darstellbar zu machen. Zudem müssen seine Gedanken, auch wenn sie eigentlich inhaltlich untrennbar sind, zumindest formal Kapiteln zugeteilt werden. Im Gegensatz zu Wittgenstein bin ich gezwungen, »durch Argumente […] die Schönheit des Gedankens [zu] beeinträchtig[en]« (s. o.). Was daher bei Wittgenstein als pointierter Aphorismus nach sorgsamem Feilen als Ergebnis einer durchdachten Problemstellung begegnet, bedarf hier der schrittweisen Einbindung in ein Netz argumentativer Erklärungen. Ein Gedanke muss erläutert werden, beiseite gestellt, ein anderer betrachtet, später vor dem Hintergrund dieses Neuen wieder aufgenommen und gleichsam von vorn durchdacht werden. Und so ist meine Darstellung zu einigen Opfern gezwungen, wie unvermeidbaren Überschneidungen, die bei schnellem Lesen wie Redundanzen aussehen mögen. Sie macht außerdem zahlreiche Vor- und Rückgriffe nötig, die jeweils durch einen Verweis auf das entsprechende Bezugskapitel gekennzeichnet sind. Dieses Buch ist in vier Hauptabteilungen unterteilt. Teil I, »Sagen und Zeigen«, konzentriert sich vorwiegend auf Wittgensteins sogenanntes »Frühwerk«, insbesondere den tractatus logico-philosophicus und sein Umfeld. Hier geht es um »musikalische Logik«, um gedankliche Parallelen zu Arnold Schönberg und nach dem berühmten letzten Satz des Tractatus darum, was man überhaupt sagen kann und worüber zu schweigen ist. Da sich die Gedanken Schönbergs und Wittgensteins in mehreren Bereichen berühren, werden diese Parallelen auch in anderen Kapiteln zur Sprache kommen, ohne dass es sich um eine Arbeit über »Schönberg und Wittgenstein« handeln soll. Teil II, »Lebensform«, argumentiert vorwiegend auf der Basis des sogenannten »Spätwerks« 21 und versucht aus mehreren Perspektiven Mehrheitlich hat man sich darauf geeinigt, bei Wittgenstein von einer »Philosophie I« und einer »Philosophie II« (Stegmüller) zu sprechen, deren Wendepunkt man auf etwa 1929 datiert. Dabei werden in der Forschung zwei unterschiedliche Positionen vertreten. Eike von Savigny z. B. stellt die absolute Getrenntheit der beiden Denkweisen in den Vordergrund und erläutert ihre Gegensätze (Eike von Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache, Frankfurt a. M. 1974, S. 13 ff.). Andere, wie z. B. Dieter Mersch vertreten eine gegenteilige Meinung: »Durch das Abenteuer seines [Wittgensteins] Lebens geht kein Riß«, das gehöre »zu den Mystifikationen« von Wittgensteins Biographie. (Dieter Mersch (Hg.), Gespräche über Wittgenstein, Wien 1991, S. 44). Diese Linie vertritt auch Chris Bezzel (Wittgenstein zur Einführung, Hamburg 2000, S. 104), der z. B. für den Gedanken von Sagen und Zeigen eine »Linie der subtilen Verbindung« im Ver-

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heraus, einer (Musik)ästhetik auf die Spur zu kommen. Nachdem dieser Teil auch Wittgensteins »Gebrauchstheorie« 22 der Sprache (und der Musik) erläutert, kann sich der III. Teil, »Musik und Sprache«, derjenigen Frage nähern, die mich überhaupt zu Wittgenstein geführt hat: Wie hängen Musik und Sprache miteinander zusammen? Als einer der wichtigsten Philosophen der Sprache im 20. Jahrhundert schlägt Wittgenstein hier überraschende und »unakademische« Wege ein. Zu diesem Problemfeld gehört auch die Frage, ob Musik »sich selbst bedeute«, was einen Vergleich entsprechender Bemerkungen Wittgensteins mit denen Eduard Hanslicks und Vertretern des sogenannten »Formalismus« nötig macht. Der IV. und letzte Teil, »Performative Variationen: Philosophie der Musik – musikalische Philosophie«, verfolgt schließlich den von Wittgenstein angestoßenen Weg weiter und betrachtet seine Methoden und die Implikationen eines solchen Denkens für Musiker und Musikwissenschaftler. Dabei kann und wird es nicht zu einem fixierbaren »Ergebnis« kommen, welches sich als zukünftiges »Werkzeug« eignete – das hieße, Wittgenstein falsch verstanden zu haben – sondern ist als Beitrag zu verstehen, eine Veränderung des Blickwinkels und Erweiterung des Sehens (und Hörens) anzuregen. Eine ähnlich ungewohnte Situation wie das »methodische« Vorgehen Wittgensteins liefert die philologische Basis. So merkwürdig dies bei einer mehrbändigen »Werkausgabe« erscheinen mag: Es gibt keinen »Text« im eigentlichen Sinne. Tatsächlich mutete Wittgenstein den Herausgebern seiner Schriften eine geradezu kriminalistische Aufgabe zu: Einzig der Tractatus wurde zu seinen Lebzeiten und unter eigener Aufsicht veröffentlicht, der erste Teil der Philosophischen Untersuchungen weitgehend abgeschlossen. Alle anderen, heute in Buchform vorliegenden Zeugnisse der Philosophie Wittgensteins, erhielten ihre Textgestalt – teils mehr, teils weniger stark – von der Herausgebehältnis von Früh- und Spätphilosophie bei Wittgenstein sieht. Zwischen diesen beiden extremen Positionen gibt es mehrere vermittelnde Ansätze. Wie es sich für Wittgensteins Werk im Ganzen tatsächlich verhält, kann ich nur eingeschränkt beurteilen, in seiner Musikbetrachtung lassen sich jedenfalls rote Fäden von Anfang an verfolgen. 22 Genaugenommen entwickelt Wittgenstein gerade keine Theorie, kein System und kein Konzept (verg. hierzu Kap. »Morphologische Methode«). Es handelt sich bei ihm vielmehr immer um ein Befragen und Neudenken bestehender Konzepte mit der Absicht, scheinbar Feststehendes zu dekonstruieren. Wenn ich im Laufe dieses Buches daher gelegentlich von einer »Gebrauchstheorie« Wittgensteins spreche, so geschieht dies eher als gedankliches Konstrukt im Dienste einer besseren Fasslichkeit.

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rin und den Herausgebern. 23 Wittgenstein starb 1951; was seither an Texten zugänglich wurde, stammt aus dem »Nachlass«. So bildet die Textgrundlage dieses Buches neben dem Tractatus (TLP) vor allem die beiden Teile der Philosophischen Untersuchungen (PU), die Philosophischen Bemerkungen (PB), die Philosophische Grammatik (PG), Über Gewißheit (ÜG), Zettel (Z), Vermischte Bemerkungen (VB), Schriften über die Philosophie der Psychologie (BPP), Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie (LSPP), Das Blaue Buch (BB), Eine Philosophische Betrachtung (Das Braune Buch) (EPB), Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften (VE) und die Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben (VÄ). Außerdem die Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik (BGM), die Bemerkungen über Farben (BF) und einige kleinere Schriften. Erst recht gilt das für die sogenannte »Wiener Ausgabe«, des The Big Typescript (TBT) und die Dokumentation der übrigen Manuskripte, Tagebucheinträge, Zettel, Typoskripte usw. die in der sogenannten Bergen Electronic Edition (BEE) in Faksimile greifbar sind, sowie für die verschiedenen Tagebücher (TB und D) und die verwendeten Briefwechsel und Gesprächsaufzeichnungen. Dazu kommt eine weitere Schwierigkeit: Wittgenstein pflegte einen ganz individuellen Schreibstil, der verschiedene Versionen von Texten nebeneinander entwickelte, vom Zettel bis hin zum Typoskript, immer in kleinen Abweichungen und Variationen, immer auf der Suche nach dem besten Ausdruck seiner Ideen. Zwischen die in Notizbücher eingetragenen Bemerkungen klebte er Zettel aus anderen Zusammenhängen ein oder legte sie lose zwischen die Seiten. Diese Notizbücher nutzte er beim Verfassen der Typoskripte, verwies im Text auf ganz ähnliche Notizen an anderer Stelle oder lieferte mehrere Formulierungen für denselben Aphorismus. Ich werde die Konsequenzen daraus ebenfalls im Schlusskapitel dieses Buches besprechen. Es entspricht der oben genannten Verweigerung des gewohnten Denkens, welche die besondere Herausforderung für den Herausgeber ausmacht: »Neben dem Umfang des Nachlasses, der sich erst nach ausgiebigen In seinem Testament vertraut Wittgenstein seine Schriften diesen Dreien an und verfügte: »I intend and desire that Mr. Rhees, Miss Anscombe, and Professor von Wright shall publish as many of my unpublished writings as they think fit«, zit. n.: Michael Nedo, Ludwig Wittgenstein. Wiener Ausgabe. Einführung, Wien u. a. 1993, S. 52.

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Forschungen übersehen läßt, verursachen vor allem der fragmentarische Charakter der meisten Manuskripte und die komplizierten Beziehungen der Manuskripte untereinander immer wieder Schwierigkeiten beim Edieren. Verantwortlich dafür ist Wittgensteins eigentümliche Art, philosophische Probleme zu betrachten.« 24 Ganz nebenbei: »Eigentümlich« ist gelegentlich auch Wittgensteins Orthographie (ähnliches gilt in gemilderter Form auch für Schönberg), in der sich sein Denken ganz unmittelbar – im wörtlichen Sinne »ohne Punkt und Komma« – niederschlägt und nicht selten einer schnellen Gesprächsaufzeichnung gleicht. Diese Schreibweise habe ich inklusive ihrer »Fehler« original übernommen, was manchmal ungewohnt aussehen mag, aber dem Leser eine Nähe zum offenen Prozess dieser besonderen Denkweise eröffnet. Den nur knapp 100 Druckseiten des Tractatus steht das nachgelassene Werk, ein Konvolut an Notizen und Dokumenten von ca. 30.000 25 Manuskriptseiten in etwa 140 Manuskripten und Typoskripten gegenüber. 26 Von einer »Textgrundlage« zu sprechen ist daher nicht im gewohnten Sinne möglich, dieser Terminus ist für Wittgensteins Werk als Ganzes, aber auch für die unter einem bestimmten Titel publizierten Aufzeichnungen problematisch. Der Herausgeber der neuen, sogenannten »Wiener Ausgabe«, Michael Nedo, spricht von »einer Art virtuellem Manuskript, das sich in Querverweisen zwischen Manuskripten, Typoskripten und anderen Überarbeitungsstufen manifestiert.« 27 In der Wittgenstein-Forschung haben sich drei Kriterien etabliert, die die verschiedenen Grade der Offenheit eines Textes beschreiben: Erstens (wo erkennbar), die Einschätzung Wittgensteins über den Text als eigenständigem Gebilde mit sachentsprechender Form; zweitens die Nedo, Wittgenstein. Wiener Ausgabe. Einführung, S. 52. Alois Pichler bezeichnet diese Zahl als »stark übertrieben« und gibt die Anzahl von 18.000 an (Alois Pichler, Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Vom Buch zum Album (= Studien zur Österreichischen Philosophie Bd. 36), Amsterdam 2004, S. 41). Wie viele Manuskripte es auch immer genau sind – es bleibt eine beeindruckend große Anzahl. 26 Ein Großteil der Originale befindet sich an der Trinity College Library in Cambridge, der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien, der Bodleian Library in Oxford, dem Brenner Archiv in Innsbruck sowie in den beiden Wittgenstein-Archiven in Bergen und in Cambridge, zum Teil im Original, zum Teil als Xerox oder Mikrofilmkopien. 27 Michael Nedo, Ludwig Wittgenstein. Wiener Ausgabe. Einführung, S. 82. Ebd. sind aufschlussreiche Musterseiten abgebildet (S. 105–121). 24 25

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Herstellung einer konsistenten Gedankenlinie mithilfe von Fragen, Argumenten, Beispielen etc. seitens des Lesers und schließlich drittens eine philologische Argumentationslinie über die stilistisch formale Durchgestaltung eines Textes, die ein Urteil über seine Abgeschlossenheit erlaubt. 28 Ich kann mich nur den ersten beiden Kriterien überlassen und für meine Fragestellung den Versuch unternehmen, aus den vorliegenden Mosaiksteinen ein Gedankenbild zu legen, auf dem etwas zu erkennen ist. Ich kann mich in meiner Auswahl von Zitaten, Fragmenten, Vorlesungsmitschriften von Studenten oder biographischen Angaben enger Freunde und Weggefährten auf keine sinnvoll einzugrenzende Textgrundlage stützen. Weder ist die zeitliche Einordnung vieler Bemerkungen gesichert, noch können Zusammenhänge zwischen den Aphorismen immer einwandfrei belegt werden, die zwar thematisch naheliegen, aber unter anderem Titel zusammengefasst wurden. Was sich schon für die relative Geschlossenheit des Tractatus als schwierig erweist, ist für die späteren Bemerkungen aufgrund der undurchschaubaren philologischen Lage ein besonderes Problem: »In gewisser Hinsicht bildet das gesamte Spätwerk mit den unterschiedlichen Bearbeitungsstufen der Manuskripte und Typoskripte ein immenses, in verschiedene Richtungen wucherndes Textlabyrinth, das in sich auf schwer durchschaubare Weise vernetzt ist.« 29 In einem »wuchernden Labyrinth« gibt es keinen einzig richtigen Weg zu seinem Verständnis. So kann ich nur einen eigenen Weg anbieten, den, der mir nach meiner Beschäftigung mit Wittgensteins Arbeiten, seinem Leben und der Literatur über ihn am klarsten erscheint. Verschiedentlich werden andere Interpreten vielleicht andere »Abzweigungen« bevorzugen und womöglich an Stellen vorbeigehen, die ich für zentrale Knotenpunkte des Weges halte, und umgekehrt. Ich kann nur versuchen, meine Entscheidungen so plausibel wie möglich zu machen und mich letztlich nach Wittgensteins eigener Methode auf das wiederholte Kreisen im Labyrinth des Denkens einlassen. Diese Studie ist selbstverständlich nicht als Einführung in die PhiJoachim Schulte, Wittgenstein. Eine Einführung, Stuttgart 1989, S. 52. Vergl. außerdem die Diskussion über den Status der einzelnen, vorliegenden Werke bei Pichler, Philosophische Untersuchungen, S. 49 ff. 29 Gabrielle Hiltmann, Aspekte sehen. Bemerkungen zum methodischen Vorgehen in Wittgensteins Spätwerk, Würzburg 1998, S. 11. 28

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losophie Wittgensteins gedacht. Aber da seine »Musikphilosophie« nur vor dem Hintergrund einiger Hauptgedanken sichtbar und sinnvoll wird, habe ich mich bemüht, diese Gedankenlinien so klar wie möglich auch denjenigen Leserinnen und Lesern nahe zu bringen, die keine Wittgenstein-Experten sind. Im Gegenzug dazu wird der musikologisch vorgebildete Leser vielleicht die eine oder andere musikwissenschaftliche Erklärung nicht benötigen. Eine solche Betrachtung kann und muss auch einige Bereiche des weit verzweigten Denkens Wittgensteins außer Acht lassen. Ich habe nur wenige »musikdienliche« Hinweise in Wittgensteins Bemerkungen zur Mathematik gefunden und kann die faszinierenden Ausführungen zur Logik nur dort streifen, wo sie zur Musik Stellung zu nehmen scheinen. Ich gehe nur sehr kurz auf die Bemerkungen über Farben, zur Psychoanalyse oder zum religiösen Glauben ein, so wie ich auch technische Experimente vernachlässige. Wittgensteins Leben und seine Kontakte sollen in Tagebüchern, Briefen und Berichten nur dort von Interesse sein, wo sie mit Musik und Wittgensteins Musikverständnis zu tun haben. Und schließlich ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich in dem riesigen Nachlass in Zukunft Bemerkungen zur Musik finden werden, denen ich nicht auf die Spur gekommen bin. Eine sinnvoll angelegte Arbeit zu Wittgensteins Überlegungen zur Musik muss schließlich in einen umfassenderen Rahmen eingebettet werden und erfordert das Ernstnehmen möglichst vieler Komponenten. Das ist bisher nicht in entsprechendem Ausmaß geschehen und soll daher hier nachgeholt werden. Nichts desto trotz verdanke ich – neben der sehr umfangreichen Sekundärliteratur zu Wittgenstein – einigen Aufsätzen, die sich explizit mit Wittgenstein und der Musik beschäftigen, interessante Ideen und wertvolle Vorarbeit. Dazu zählen neben den eingangs erwähnten Texten von Martin Alber vor allem die Arbeiten von Clemens Fanselau 30 , Dieter Birnbacher 31, Boris 30 Clemens Fanselau, »Die Musik bei Wittgenstein. Logik, Autonomieästhetik und musikalische Pragmatik«, in: Chris Bezzel (Hg.), Sagen und Zeigen. Wittgensteins »Tractatus«, Sprache und Kunst, Berlin 2005. 31 Dieter Birnbacher, »Musik und Musikalisches bei Wittgenstein«, in: Musik&Ästhetik 46, April 2008, S. 49–64); sowie die kurzen Bemerkungen »Wittgenstein und die Musik«, in: Wittgenstein und sein Einfluß auf die gegenwärtige Philosophie. Akten des 2. Internationalen Wittgenstein-Symposiums 1977. Wien 1978, S. 542–544; Birnbachers Text spricht einige zentrale Gedanken an, kann aber in Aufsatzlänge auf vieles nicht eingehen.

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Voigt 32 sowie Peter Faltins Überlegungen zu Wittgenstein und der Entwicklung einer musikalischen Pragmatik 33 und Manfred Bierwischs Ansätze einer semiotischen Weiterentwicklung Wittgensteinscher Ideen. 34 Vor allem für den ersten Teil dieser Untersuchung konnte ich zudem zum Teil auf das Buch von James K. Wright, Schoenberg, Wittgenstein and the Vienna Circle 35 zurückgreifen.

Boris Voigt, Musik und Musikverstehen bei Ludwig Wittgenstein. Miszelle, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, hrsg. v. Joseph Früchtl und Maria Moog-Grünewald, Heft 52/1 (2007), S. 119–131. 33 Peter Faltin bietet in seiner posthum erschienenen Studie Bedeutung ästhetischer Zeichen. Musik und Sprache (= Aachener Studien zur Semiotik und Kommunikationsforschung Bd. 1), Aachen 1985 erste Überlegungen zu einer musikalischen Pragmatik an, die zuvor – so weit ich das sehen kann – einzig in einem eher knappen und einfach gehaltenen Versuch von Hans-Peter Reinecke zu finden waren: »Die Sprachebenen über Musik als Hierarchie relationaler Systeme«, in: Hans Heinrich Eggebrecht, Zur Terminologie der Musik des 20. Jahrhunderts. Bericht über das zweite Colloquium der Walcker Stiftung 9.–10. März 1972 in Freiburg i. Br., Stuttgart 1974, S. 22.–32. Zu erwähnen ist auch eine finnische Dissertation zu Wittgensteins Musikauffassung von Hanne Appelquist, Wittgenstein and the conditions of musical communication (= Acta Philosophica Fennica Bd. 85), Helsinki 2008, die sich verstärkt auf das Problem der musikalischen Kommunikation bezieht und mit der ich mich im Laufe dieser Arbeit gelegentlich auseinandersetzen werde. Es existieren zudem einige kleinere englischsprachige Beiträge zum Thema, die ich im Rahmen des Kapitel »Emotion?« besprechen werde: Sarah E. Worth, »Wittgensteins Musical Understanding«, in: British Journal of Aesthetics, Vol. 37, No. 2, April 1997, S. 158–187; Peter B. Lewis, »Wittgenstein on Words an Music«, in: Ludwig Wittgenstein. Criticals Assessments, hrsg. v. Stuart G. Shanker, Bd. 4, London 1986, S. 382–391 (entspricht Ders., »Wittgenstein on words and music«, in: British Journal of Aesthetics 17 (1977), S. 111–121); sowie Oswald Hanfling, »Wittgenstein on Music and Language«, in: Wittgenstein, Aesthetics and Philosophy, hrsg. v. Peter B. Lewis, Aldershot 2004, S. 151–164; Ders., »›I heard a plaintive melody‹ : (Philosophical Investigations, p. 209)«, in: Wittgenstein Centenary Essays, hrsg. v. A. Phillips Griffith, Cambridge 1992, S. 117–133). Des Weiteren gibt es noch einen Beitrag von Helga De la Motte-Haber, »Ludwig Wittgenstein und die Musik« in: Ludwig Wittgenstein. Ingenieur – Philosoph – Künstler (= Wittgensteiniana Bd. 1), hrsg. v. Günter Abel, Matthias Kroß und Michael Nedo, S. 257–266, der kurz und allgemein gehalten ist. 34 Manfred Bierwisch, »Musik und Sprache. Überlegungen zu ihrer Struktur und Funktionsweise«, in: Jahrbuch Peters. Aufsätze zur Musik, hrsg. v. Eberhardt Klemm, Leipzig 1979. 35 Bern 2007. Ich werde auf dieses Buch im Kapitel »Musik im Tractatus« näher eingehen. 32

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I. Sagen und Zeigen Lange bevor ich Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus las, komponierte ich bereits die Musik dazu. Henry Miller, Wendekreis des Steinbocks

Der tractatus logico-philosophicus ist ein merkwürdiges und einzigartiges Buch, bestehend aus sieben »Hauptsätzen«, denen der logischen Gewichtung nach, in Dezimalnummerierung, erklärende Nebensätze untergeordnet sind. Mit seiner Kürze, Redundanzvermeidung 1 und seinem prägnanten Stil wurde er zu einem der einflussreichsten Texte des 20. Jahrhunderts. Sein Rätselcharakter verleitet bis heute zu immer neuen Auslegungen, bis hin zu der Behauptung, die Gliederung sei im Sinne einer musikalischen Partitur konstruiert und bilde einen »intuitiven Rhythmus« ab. 2 Geschrieben während seiner Militärzeit im ersten Weltkrieg, vollendete Wittgenstein seine Abhandlung 1918. 3 Nachdem er mit seinem Buch überwiegend auf Unverständnis gestoßen war, erklärte er ein Jahr später in einem Brief an den Verleger Ludwig von Ficker: Kurz, ich glaube: Alles das, was viele heute schwefeln, habe ich in meinem Buch festgelegt, indem ich darüber schweige. 4 Vergl. zu dem System der Dezimalnummerierung unter dem besonderen Aspekt der Redundanz-Vermeidung Ernst Michael Lange, Ludwig Wittgenstein – logisch-philosophische Abhandlung. Ein einführender Kommentar in den »Tractatus«, Paderborn u. a. 1996. Lange unterteilt den Text in 140 7er-Sequenzen. 2 Verena Mayer, »The Numbering System of the ›Tractatus‹«, in: Ratio 6/2 (1993), S. 108–120; Mayer argumentiert u.a auf der Basis des sogenannten »Prototractatus« (einer früheren Version des Tractatus) und beschreibt das System der Nummerierung als architektonisches Konstruktionsprinzip (ebd., S. 112). 3 Zur Entstehungsgeschichte des Tractatus vergl. u. a. Georg Henrik von Wright, »Die Entstehung des Tractatus«, in: Ders., Wittgenstein, Frankfurt a. M. 1986, S. 77–116; Casimir Lewy, »A Note on the Text of the Tractatus«, in: Mind 67 (1967), S. 416–423; Ludwig Wittgenstein, Letters to C. K. Ogden with Comments on the English translation of the Tractatus Logico-Philosophicus, hrsg. und mit einer Einleitung v. Georg Henrik von Wright mit einem Briefanhang von Frank Plumpton Ramsey, Oxford 1973 sowie Wilhelm Baum, Wittgenstein, Rilke und Ludwig von Ficker. Über die Schwierigkeiten, einen Verleger für den ›Tractatus logico-philosophicus‹ zu finden, Wien 1993. 4 Ludwig Wittgenstein, Briefe an Ludwig von Ficker, hrsg. v. Georg Henrik v. Wright unter Mitarbeit von Walter Methlagl, Salzburg 1969, S. 35. 1

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Das »Schwefeln« war für Wittgenstein viel mehr als eine Polemik gegen bestimmte Inhalte: Eine »schwefelnde« Art des Redens empfand er als unverantwortlich und daher unethisch, so etwas erzeuge nur Nebelwolken in den Gehirnen der Menschen und verhindere damit echte Erkenntnis. Philosophie muss klar und verständlich sein; dieser Anspruch zieht sich durch Wittgensteins gesamte Schriften und ist bereits im Vorwort des Tractatus als absolute Forderung in Wittgensteins wahrscheinlich bekanntester Bemerkung formuliert: Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. 5

Natürlich bezieht sich diese Forderung zunächst auf die ganz offensichtlichen Fälle des »Schwefelns«, des Vernebelns von Tatsachen oder Sachverhalten aus Gründen der intellektuellen Unredlichkeit – aus Unoder Halbwissen, aus Geltungsbedürfnis oder anderen, fragwürdigen Absichten, die nicht vornehmlich dem Erkenntnisgewinn dienen. Zwar werden diese Zusammenhänge im Laufe dieses Buches noch genauer Thema sein, aber es lohnt sich, hier schon einmal einen Blick auf den historischen Kontext der Entstehungszeit des Tractatus zu werfen: Wittgenstein schrieb sein erstes Buch in einer Zeit, in welcher Karl Kraus in der Fackel gegen den Sprachverfall der »Journaillie« wetterte, Adolf Loos in seinem Aufsatz Ornament als Verbrechen eine neue Ästhetik der Klarheit beschwor und Arnold Schönberg sich mit seiner Harmonielehre von überkommenen Strukturen, die nur noch um akademischer Tradition willen Bestand hatten, radikal verabschiedete. »Die kulturelle Bühne war gewissermaßen aufgeschlagen für eine philosophische Kritik der Sprache, die auf dem Abstraktionsniveau vollständiger begrifflicher Allgemeinheit den gesamten Problemhorizont ins Auge fassen konnte.« 6 Neben dieser sprachklärenden und »therapeutischen« 7 Forderung TLP, Vorwort, S. 9. Allan Janik/Stephen Toulmin, Wittgensteins Wien, aus dem Amerikanischen von Reinhard Merkel, Wien 1998, S. 143. 7 Man spricht in der Wittgensteinforschung von einer sogenannten »therapeutischen Lesart«, in welcher vor allem die sprachkritischen Äußerungen dekonstruktivistisch gelesen werden. Hier werden alle »verdächtig« erscheinenden, philosophischen Begriffe wieder »auf ihre normale Verwendung zurückgeführt« und innerhalb dieses Prozesses als Scheinprobleme entlarvt. (Vergl. hierzu das Kapitel »Lebensformen«). Ich werde mich dieser durchaus immer noch legitimen Lesart bedienen, wo sie klärend wirkt, wie z. B. für den Bereich der Ästhetik. Es wird sich aber herausstellen, dass sie nicht auf alle 5 6

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gibt es für Wittgenstein aber vor allem einen tiefen, philosophischen Grund, einen Bereich festzulegen, indem er »darüber schweigt«. In dem oben zitierten Brief an Ficker heißt es in dem Teil unmittelbar vor dem oben erwähnten Satz: [D]er Sinn des Buches ist ein Ethischer. Ich wollte einmal in das Vorwort einen Satz geben, der nun tatsächlich nicht darin steht, den ich Ihnen aber jetzt schreibe, weil er Ihnen vielleicht ein Schlüssel sein wird: Ich wollte nämlich schreiben, mein Werk bestehe aus zwei Teilen: aus dem, der hier vorliegt, und aus alledem, was ich nicht geschrieben habe. Und gerade dieser zweite Teil ist der Wichtige. Es wird nämlich das Ethische durch mein Buch gleichsam von Innen her begrenzt; und ich bin überzeugt, daß es streng nur so zu begrenzen ist. 8

Der Tractatus repräsentiert demnach in seiner vorliegenden Form nicht nur den Bereich über den man sprechen kann, sondern begrenzt auch ex negativo, »von Innen her« (s. o.) den Bereich, über den man nicht mehr sprechen kann. Und wie ich im Vorwort bereits angedeutet habe, dienen vor allem die Musik und die musikalischen Beispiele bei Wittgenstein dieser Funktion von »Grenzpfosten«. Die »ungeschriebene«, schweigende »andere Hälfte« des Tractatus kann nicht mehr mittels Sprache ausgedrückt werden, sie kann sich vielmehr nur handelnd erweisen. 9 Zu dieser schweigenden Hälfte gehört der Bereich der Ethik, wie in dem Brief an Ficker erklärt, und der Bereich der Ästhetik; denn, so Wittgenstein im Tractatus: Ethik und Ästhetik sind Eins. 10

Beide Bereiche sind für Wittgenstein transzendental und damit nicht mehr in Sätzen ausdrückbar, denn: »Sätze können nichts Höheres ausBereiche anwendbar ist. Vergl. zu dieser Problematik den Überblick bei Andrea Kern, »Wissen im Normalfall. Wittgenstein über Kriterien für innere Zustände«, Beitrag zum 4. internationalen Kongress der Gesellschaft für analytische Philosophie »Argument und Analyse«, Bielefeld, 26.–29. September 2000, S. 207–221 (Online-Ressource: www.gap-im-netz.de/gap4Konf/Proceedings4/pdf/6%2520 EK06%2520Kern.pdf+Wittgenstein+therapeutische+Lesart&hl=de&gl=de). 8 Wittgenstein, Briefe an Ludwig von Ficker, S. 35. 9 Vergl. hierzu auch Bezzel, Wittgenstein, S. 96 f. 10 TLP, § 6.421. Vergl. hierzu auch: Wilhelm Lütterfelds/Stefan Majetschak (Hg.), »Ethik und Ästhetik sind Eins«. Beiträge zu Wittgensteins Ästhetik und Kunstphilosophie (= Wittgenstein-Studien Bd. 15), Frankfurt a. M. 2007. Im Kapitel »Interpretation und Stil« der vorliegenden Arbeit wird diese Textstelle noch einmal ausführlicher aufgenommen, und vor dem Hintergrund ihrer historischen Situation betrachtet.

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drücken« 11 , dazu müsste man sich »mit dem Satze […] außerhalb der Welt« 12 aufstellen können. Es gilt für Wittgenstein, jedem »Ausdruck der Gedanken« 13 diese Grenze zu ziehen. (Anstelle des Begriffes »transzendental« nutzt Wittgenstein mit Vorliebe die Formulierung »sub specie aeternitatis« 14 ): Die gewöhnliche Betrachtungsweise sieht die Gegenstände gleichsam aus ihrer Mitte, die Betrachtung sub specie aeternitatis von außerhalb. So daß sie die ganze Welt als Hintergrund haben. 15

Wittgenstein behauptet damit zwei entgegengesetzte Zugangsweisen zur Realität – die von Sagen und Zeigen: Zum einen die Betrachtung »sub specie aeternitatis« mit der »ganzen Welt als Hintergrund«, das ist der Bereich von Ethik und Ästhetik: 16 TLP § 6.42, vergl. auch § 6.41 ff. TLP, § 4.12. 13 TLP, Vorwort, S. 9. 14 »Vom Standpunkt der Ewigkeit aus betrachtet«: Diese Formulierung geht auf Baruch de Spinoza zurück, Wittgenstein hat sie vermutlich bei Arthur Schopenhauer entdeckt. Schopenhauer beschäftigt sich im Kontext des Spinoza-Zitats in der Welt als Wille und Vorstellung mit der »Idee« (als Objektivität und Spiegel des Willens selber), der das »willenlose« Subjekt korrespondiert: »eben dadurch ist […] der in dieser Anschauung Begriffene nicht mehr Individuum […] sondern er ist reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis. […] Es war es auch, was dem Spinoza vorschwebte, als er niederschrieb: mens aeterna est, quatenus res sub aeternitatis specie concipit [Der Geist ist ewig, sofern er die Dinge unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit auffasst] (Eth. V, pr. 31, schol.). In solcher Kontemplation nun wird mit einem Schlage das einzelne Ding zur Idee seiner Gattung und das anschauende Individuum zum reinen Subjekt des Erkennens. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I (= Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand hrsg. v. Ludger Lütkehaus, Bd. 1.), Zürich 1988, § 34, S. 245). Wittgenstein verwirft dagegen die Vorstellung des willenlosen Subjekts (Vergl. TB, Eintrag vom 21. Juli 1916, S. 171), übernimmt allerdings eine ganz eigene Version der Vorstellung, dass die Art der Betrachtungsweise, die Möglichkeit einer Perspektive vom »Gesichtspunkt der Ewigkeit« unsere Anschauung der Welt verändert. (Vergl. in diesem Zusammenhang auch Benjamin R. Tilghman, Wittgenstein. Ethics and Aesthetics: The view from Eternity, Basingstoke 1991, insbes. S. 54). 15 TB, Eintrag vom 7. Oktober 1916, S. 178. 16 Wittgenstein bezeichnet diesen Bereich als das Staunen über die Existenz der Welt »bei dem man die Welt als Wunder sieht« (VE, S. 18) und gibt ihm den Titel das »Mystische«. Ich vermeide diesen Begriff in meiner Arbeit, da er dem nicht philosophisch versierten Leser hochmissverständlich ist, zumal ihn Wittgenstein auch nicht in jeder Phase seines Schaffens in gleicher Weise benutzt. Vergl. hierzu: Thomas Wachtendorf, Ethik als Mythologie. Sprache und Ethik bei Ludwig Wittgenstein, Berlin 2008; Ulrich Arnswald/Anja Weiberg (Hg.), Der Denker als Seiltänzer. Ludwig Wittgenstein über 11 12

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Das Kunstwerk ist der Gegenstand sub specie aeternitatis gesehen; und das gute Leben ist die Welt sub specie aeternitatis gesehen. Dies ist der Zusammenhang zwischen Kunst und Ethik. 17

Zum anderen die Zugangsweise – gleichsam aus der »Mitte der Gegenstände« (s. o.) heraus – die der Empirie, zu der die Sprache und die Festlegung von Sinn, Bedeutung und Bezugnahme gehören, mithin alles was man sagen kann. In beiden Zugangsweisen wird dieselbe Welt mit denselben Tatsachen erfahren, mit denselben Objekten, die durch Sprache beschreibbar sind, nur werden sie zeigend eben »sub specie aeternitatis« auf andere Art und Weise erlebt. Der solcherart erfahrene Sinn ist unverfügbarer Sinn, er lässt sich nicht sagen, weil er nicht in einem Akt der Deutung entsteht – wir sehen die Dinge auf einmal anders: Denken wir uns ein Theater, der Vorhang ginge auf und wir sähen einen Menschen allein in seinem Zimmer auf und ab gehen, sich eine Zigarette anzünden, sich niedersetzen, u. s. f., so, daß wir plötzlich von außen einen Menschen sähen, wie man sich sonst nie sehen kann; […] – das müßte unheimlich und wunderbar zugleich sein. Wunderbarer als irgend etwas, was ein Dichter auf der Bühne spielen oder sprechen lassen könnte, wir würden das Leben selbst sehen. – Aber das sehen wir ja alle Tage, und es macht uns nicht den geringsten Eindruck! Ja, aber wir sehen es nicht in der Perspektive. 18

Dieser Sinn zeigt sich an etwas, das längst da und bekannt ist. Er ist »nicht etwa ein ›bläulicher Dunst um die Dinge‹, der sie interessant erscheinen lässt«. 19 Diese Art Sinn ist für Wittgenstein etwas, was sich an ganz genau denselben, in sprachlichem Zusammenhang unscheinbaren Dingen der Welt, auf eine bestimmte Weise betrachtet, zeigt. Und dieses »sich zeigen« ist nicht in eine sprachliche Form zu bringen, so, wie in eine Teetasse eben nur eine Teetasse voll Wasser hineingeht, auch wenn ich’s literweise darübergösse 20

weil die Form der Sprache die Grenze dieser Welt bezeichnet. Religion, Mystik und Ethik, Düsseldorf 2001; Christian Paul Berger, Erstaunte Vorwegnahmen. Studien zum frühen Wittgenstein, mit einem Vorwort von Allan Janik, Wien u. a. 1992, sowie Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 250 f. Zu einer alternativen Deutung vergl. Leo Adler, Ludwig Wittgenstein. Eine existentielle Deutung, Basel 1976, insbes. S. 51 f. 17 TB, Eintrag vom 7. Oktober 1916, S. 178. 18 VB, S. 456. 19 Somavilla (Hg.), Wittgenstein – Engelmann, S. 110. 20 VE, S. 13.

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Sagen und Zeigen

Die Momente, in denen sich an den gewöhnlichen, uns umgebenden Dingen plötzlich »etwas zeigt«, sucht und findet Wittgenstein neben der Ethik vor allem in der Musik, zum Beispiel in der Musik Franz Schuberts (um die es im letzten Kapitel gehen wird), die er sein Leben lang schätzt: Denn hier sei »das Gewöhnliche […] sinnerfüllt« 21 . Wittgensteins Überlegungen zu »Sagen und Zeigen« sind somit, von dem Tagebucheintrag 1916 über das Kunstwerk als Gegenstand sub specie aeternitatis (s. o.) bis hin zu der Bemerkung über Schubert von 1946, zu allen Zeiten seines Schaffens Anzeichen einer kontinuierlichen Auffassung des »Ästhetischen«. 22 Die Fest-Stellung dieser beiden Bereiche – dessen, der sich sagen lässt (über den man sprechen kann) und dessen, der sich zeigt (über den man schweigen muss) –, hat für Wittgenstein immense Konsequenzen, hier fängt seine Arbeit als Philosoph an. Ein Künstler könne den Blick »sub specie aeternitatis« einnehmen, 23 der Philosoph müsse erst einmal seinen eigenen Hinterhof, seine Sprache, die Innenperspektive klären. Es gebe, sagt Wittgenstein, Sachverhalte und Situationen, in denen etwas gesagt wird. Über solche Sachverhalte kann man reden und es gilt, genau festzulegen, mittels welcher Begriffe das sinnvoll zu tun ist. Denn das »Hauptproblem« der Philosophie sei, schreibt Wittgenstein am 19. August 1919 an Bertrand Russell, die Theorie über das, was durch Sätze – d. h. durch Sprache – gesagt, (und, was auf dasselbe hinausläuft, gedacht) und was nicht durch Sätze ausgedrückt, sondern nur gezeigt werden kann. 24

Über Schuberts Lied Der Tod und das Mädchen, VB, S. 523. Zu Schubert und dem »sinnerfüllten Gewöhnlichen« vergl. Kapitel »›Landschaftsalbum‹ und musikalische Philosophie«. 22 Watzka, Finch, Haller und Monk halten ebenfalls »Die Lehre von Sagen und Zeigen« für eine »Klammer um die sonst recht disparaten Teile seines [Wittgensteins] philosophischen Lebenswerks« (Watzka, Sagen und Zeigen, S. 23 f.), ohne allerdings dessen frappierende Deutlichkeit im Bereich der Musikauffassung zu bemerken. (Henry Leroy Finch, Wittgenstein. The later Philosophy, Atlantic Highlands 1977, S. 242; Rudolf Haller, »Über Wittgenstein«, in: Ders., Wittgenstein – eine Neubewertung. Feier des 100. Geburtstages. Akten des 14. internationalen Wittgenstein Symposiums 13.–20. August 1989, Wien 1990, S. 13–20, hier S. 16 f.; Ray Monk, Wittgenstein. Das Handwerk des Genies, Stuttgart 1992, S. 323). 23 Vergl. VB, S. 456. 24 Brian F. McGuinness/Georg H. von Wright (Hg.), Wittgenstein. Briefwechsel, Frankfurt a. M. 1980, S. 88. 21

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Sagen und Zeigen

Das impliziert die Frage nach der Bedeutung der Begriffe, mittels derer wir über etwas sprechen, und der Handlungen, mittels derer wir uns mit dem »sich Zeigenden« auseinander setzen. Denn, dass man über etwas schweigt, bedeutet ja nicht, nichts zu tun: Mit dem »sich Zeigenden« kann man mittels verschiedener Formen des Schweigens interagieren, in Gesten, Gesichtsausdrücken, Blicken, etc. Und diese Formen des Zeigens und Schweigens zu untersuchen, so Wittgenstein, ist Aufgabe einer sprachkritisch reflektierten Ästhetik. Im Folgenden soll darum diese grundlegende Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen 25 im Kontext ihrer Voraussetzungen und Implikationen näher erläutert werden. Dabei wird es – mit Seitenblicken auf Schönberg – um (musikalische) Logik gehen, insbesondere um den »logischen Raum« bzw. die »logische Form«.

25 Der zentralen Unterscheidung von Sagen und Zeigen bei Wittgenstein sind einige eigenständige Untersuchungen gewidmet worden. So z. B. Chris Bezzel (Hg.), Sagen und Zeigen: Wittgensteins »Tractatus« Sprache und Kunst, Berlin 2005; Felix Gmür, Ästhetik bei Wittgenstein. Über Sagen und Zeigen, Freiburg i. Br. 2000 (hierin wird besonders auf den Aspekt des »Mystischen« in der Frühphilosophie in Verbindung mit den Topoi »Aspektwechsel« und »Farbensehen« der späteren Werke Wittgensteins eingegangen); Heinrich Watzka, Sagen und Zeigen. Die Verschränkung von Metaphysik und Sprachkritik beim frühen und beim späten Wittgenstein, Stuttgart 2000 (Dort wird besonders auf die Verschränkung von Sagen und Zeigen mit dem Paradoxen eingegangen); Peter Geach, Saying and Showing in Frege and Wittgenstein, in: Jaako Hintikka u. a. (Hg.), Essays on Wittgenstein in Honour of G. H. Von Wright (= Acta Philosophica Fennica 28), Amsterdam 1976, S. 54–70. Zu Wittgensteins Ästhetik vergl. Wilhelm Lütterfelds/Stefan Majetschak (Hg.), »Ethik und Ästhetik sind Eins«. Beiträge zu Wittgensteins Ästhetik und Kunstphilosophie (= Wittgenstein-Studien Bd. 15), Frankfurt a. M. u. a., 2007; Peter B. Lewis (Hg.), Wittgenstein, Aesthetics and Philosophy, Aldershot/Burlington 2004; Joachim Schulte, »Ästhetisch richtig«, in: Ders. Chor und Gesetz. Wittgenstein im Kontext, Frankfurt a. M. 1990; Jacques Bouveresse, Wittgenstein: La rime et la raison. Science, Éthique et Esthétique, Paris 1973 (dt. Ausgabe: Poesie und Prosa. Wittgenstein über Wissenschaft, Ethik und Ästhetik, Düsseldorf 1994); Benjamin R. Tilghman, Wittgenstein. Ethics and Aesthetics: The view from Eternity, Basingstoke 1991.

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Sagen und Zeigen

»Die Kenntnis des Wesens der Logik wird deshalb zur Kenntnis des Wesens der Musik führen.« – Musik im Tractatus Arnold Schönberg 26 kannte Ludwig Wittgenstein – wenn überhaupt – nur flüchtig, er war wohl einige Male Gast des großen Mäzens Karl Wittgensteins (Ludwigs Vater) im Familienpalais in der Alleegasse und wurde von diesem gelegentlich als einer von zahlreichen Künstlern finanziell unterstützt.27 Der damals noch junge Wittgenstein wird Schönberg zwar wahrgenommen haben, hatte aber auch später keinen Kontakt zu ihm und lehnte seine Musik höchstwahrscheinlich ab. Zwar Zum Verhältnis der Gedanken Wittgensteins zu denen Schönbergs und umgekehrt gibt es einige interessante Untersuchungen. Zunächst das bereits erwähnte Buch von Wright, Schoenberg, Wittgenstein and the Vienna Circle. Der Fokus dieses Buches liegt auf Schönberg im Kontext musiktheoretischer Fragen vor der Folie des Tractatus, während meine Anmerkungen zu diesem Thema genau umgekehrt, Wittgensteins Auffassungen vor Schönberg als Folie beleuchten. Wrights Anliegen ist eine bestimmte Lesart der Musiktheorie Schönbergs, die er »Ikarus-Principle« nennt, sowie »the Quest for Universals«, das neben Schönberg auch die gesamte Musiktheorie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigt habe. Wittgensteins spätere Philosophie klammert das Buch dagegen aus und beraubt sich damit weitgehend der Möglichkeit, über die Ansätze des Tractatus hinweg Übereinstimmungen der Ästhetik und Ethik beider zu finden. Auch meine Anmerkungen zum Tractatus und seinen Parallelen zu Schönberg sind etwas anders gelagert und basieren überwiegend auf anderen Textstellen als die für seine Zwecke sehr kluge Auswahl, die Wright in seinem Buch getroffen hat. Eine weitere interessante Untersuchung liefert Elisabeth Nemeth im Kapitel »›Ornamentlosigkeit ist ein Zeichen geistiger Kraft‹ – Zu Wittgensteins ›Tractatus‹ und Schönbergs Harmonielehre« in: Otto Neurath und der Wiener Kreis. Revolutionäre Wissenschaftlichkeit als Anspruch (= Campus Forschung Bd. 229), Frankfurt a. M. u. a. 1981, S. 61– 75; Nemeth erläutert prägnant einige gemeinsame Aspekte zwischen Wittgenstein und Schönberg auf der Basis des gemeinsamen Hintergrundes von Wittgenstein und Schönberg in der leidenschaftlichen Suche im Anschluss an Kraus und Loos. Franz Schupp bezieht sich in seinem Beitrag »Die Ethik der Form. Wiener Kultur und Gegenkultur zu Beginn des 19. Jahrhunderts«, in: Was du nicht hören kannst, Musik, hrsg. v. Werner Keil, Jürgen Arndt, Christian Zürner, S. 122–143 fast ausschließlich auf McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre und Allan Janik/Stephen Toulmin, Wittgensteins Wien, und stellt deren Ergebnisse neu zusammen. Vor allem in dem Buch von Toulmin und Janik gibt es einige einführende Passagen, die sich mit der Welt Schönbergs und Wittgensteins auseinander setzen. Auf diesem Buch basieren auch einige englischsprachige Aufsätze zum Thema, wie etwa Nicholas Cook, »Music theory and ›good comparison… A viennese perspective«, in: Journal of Music Theory, vol. 33, Nr. 1 (1989). 27 E. Fred Flindell, »Ursprung und Geschichte der Sammlung Wittgenstein im 19. Jahrhundert«, in: Die Musikforschung XII 1969, S. 298–314, hier S. 309. Diese Information entstammt laut Flindell einem Interview Leonard Kastles mit Paul Wittgenstein vom 23. Juni 1967. 26

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Musik im Tractatus

erwähnt er ihn nicht namentlich, jedoch äußert Wittgenstein sein Befremden über die »Moderne Musik« im Allgemeinen, was Schönberg wohl mit einschließt (vergl. Kapitel »Interpretation und Stil«). Schönberg wiederum hatte seine Harmonielehre bereits 1913 verfasst und konnte daher von Wittgensteins ästhetisch ähnlichen Überlegungen nichts gelesen haben, zudem fand sich auch in seiner nachgelassenen Bibliothek kein Buch Wittgensteins. (Wittgensteins Bibliothek ist dagegen nicht vollständig erhalten, bestand aber vor allem aus Literatur, die er sich im Laufe seines Lebens zulegte, zum Teil wieder verschenkte oder an verschiedenen Orten zurückließ.) Ich denke, dass Wittgenstein weder Schönberg gelesen hat, noch Hanslick (dazu später). Überhaupt verweigerte er sich weitgehend dem Lesen theoretischer Texte, was wesentlich zur Konstruktion seines »Mythos« gehört und insofern mit Vorsicht zu behandeln ist. Seine Verweigerung mag allerdings dahingehend glaubhaft sein, dass sein Lehrer Russell während Wittgensteins Studienzeit in Cambridge dessen philosophische Ungebildetheit kaum fassen konnte und ihm das Lesen verschiedener Philosophen verordnete, die Wittgenstein nach widerwilliger Lektüre auch prompt als »töricht und unaufrichtig« abtat. 28 »Vielleicht haben Schönberg und Wittgenstein voneinander mehr gewußt als geredet« 29 , so kann man vermuten. Sie könnten sich bei Adolf Loos getroffen haben oder über den Musiker Fritz Zweig begegnet sein, den Schönberg in den Berliner Tagebüchern einmal als Schüler erwähnt. 30 Zweig und der Architekt Loos zählten vor 1920 zu Wittgensteins engsten Freunden, so könnte Zweig zumindest indirekt als gedanklicher Vermittler zwischen beiden gedient haben, denn Belege für ein Treffen gibt es (bisher) nicht. 31 Für Wittgenstein und Schönberg war gleichermaßen die Berechtigung bestimmter Ordnung- und Organisationsstrukturen – jeweils der Musik und des Denkens – relativ geworden. Bestimmte Formen des Denkbaren und musikalisch Verfügbaren gründeten für sie in überlieferten Prinzipien, die keine absoluten Universalien (mehr) sein konnVergl. hierzu McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, S. 175. Reinhard Merkel, »Geistige Landschaft mit vereinzelter Figur im Vordergrund: Ludwig Wittgenstein«, in: Merkur 38 (1984), S. 671. 30 Merkel, »Geistige Landschaft«, S. 671. 31 Ich werde im Kapitel »Interpretation und Stil« vor allem den Einfluss von Adolf Loos und Karl Kraus für viele Gemeinsamkeiten des Denkens zwischen Wittgenstein und Schönberg verantwortlich machen. 28 29

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Sagen und Zeigen

ten, sondern nur einen Teil der Wirklichkeit ausmachten und damit nur eine Möglichkeit unter vielen darstellten. Denn, so Wittgenstein: Alles, was wir sehen, könnte auch anders sein. Alles, was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein. Es gibt keine Ordnung der Dinge a priori. 32

Wittgenstein wie Schönberg reagierten auf diese Situation mit dem absoluten Anspruch auf Klärung der Prinzipien künstlerischer, philosophischer und ethischer Grundlagen. 33 Dazu diente beiden zumindest anfänglich vor allem die Logik, in der damals z. B. im sogenannten »Wiener Kreis« um Moritz Schlick und Rudolf Carnap große Leistungen erbracht wurden. Das dort vorherrschende, positivistische Wissenschaftsbekenntnis war allerdings mit den Grundzügen der Wittgensteinschen Philosophie sowie mit Schönbergs Überzeugungen letztlich unvereinbar. 34 Doch schien Logik allein, im Gegensatz zu den umgestürzten, alten Prinzipien, dem Anspruch an eine zeit- und makellos vollkommene Grundlage für die künstlerische und gedankliche Arbeit genügen zu können. (Vielleicht sollte vorab einem möglichen Missverständnis vorgebeugt werden: Logik ist nicht Mathematik. Sie hat nichts oder nur wenig mit Zahlen und Berechnungen gemein. Wobei natürlich Schönberg in seinen Arbeiten verschiedentlich mit logischer Konstruktion zu tun hatte und Wittgenstein ungleich mehr in seinen Leistungen als Mathematiker und Ingenieur 35 ). Wittgenstein wird diesbezüglich bei TLP, § 5.634. Vergl. hierzu auch: Nemeth, Otto Neurath und der Wiener Kreis, S. 73. 34 Vergl. zu Wittgensteins Verhalten bei den Treffen des Wiener Kreises u. a. WWK, S. 15. Der vorrangige Einfluss dieser Philosophen auf Schönberg und Wittgenstein wurde in der älteren Schönberg-Forschung, beispielsweise bei Hans Heinz Stuckenschmidt, noch behauptet (Ders., Schöpfer der Neuen Musik. Portraits und Studien, Frankfurt a. M. 1958, S. 180). 35 Wittgensteins Überlegungen zur Mathematik wie auch seine Leistungen zur Entwicklung der Logik werden in diesem Buch – wie im Vorwort bereits erwähnt – nicht berücksichtigt. Sie bilden einen wichtigen Bestandteil seines Werkes, und es soll hier keinesfalls der Eindruck entstehen, Wittgensteins Bemerkungen zur Musik seien der wesentliche Kern seiner Arbeiten. Für Letzteres sind die mathematischen Bemerkungen allerdings nicht ausschlaggebend und können hier getrost vernachlässigt werden. Zu Wittgenstein als Mathematiker gibt es umfangreiche Literatur, jüngst erschien das Buch Matthias Kroß (Hg.), Wittgenstein und die Mathematik, Berlin 2008. Die darin enthaltenen Aufsätze setzen sich mit Wittgensteins Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik auseinander, seinen Anmerkungen zu Gödels Theoremen und der Stellung 32 33

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Musik im Tractatus

oberflächlichem Lesen schnell missverstanden, und Schönberg ereilte mit seinen dodekaphonen Kompositionen von Kritikern nicht selten dasselbe Urteil: das eines kalten, mathematischen Konstrukteurs. Das ist bei genauerem Hinsehen ganz offensichtlich bei beiden nicht der Fall, denn, so Wittgenstein: Die Logik ist keine Lehre, sondern ein Spiegelbild der Welt. Die Logik ist transzendental. 36

Für den frühen Wittgenstein ist die Logik der Weg, die vermittelnde Instanz, die einen Einblick in die Welt »sub specie aeternitatis«, mithin in die Welt der Ethik und der Ästhetik geben kann. Und nur in diesem Sinne, nicht im Sinne der Forderung eines mathematischen Kalküls oder einer logischen Idealsprache (das wird oft missverstanden), ist Wittgensteins Verweis auf das »logische Wesen« der Musik gemeint: Die Kenntnis des Wesens der Logik wird deshalb zur Kenntnis des Wesens der Musik führen. 37

Schönberg stellt sich in seiner unvollendeten Oper Moses und Aron demselben Problem: Wie lässt sich überhaupt etwas Höheres sagen? Wittgensteins in der Geschichte der Mathematik. Zu Wittgensteins Ingenieursleistungen vergl. z. B.: Jürgen Thorbeck/Florian Böhm, »Wittgenstein und die Aeronautik in Wien, Berlin und Manchester«, in: Ludwig Wittgenstein. Ingenieur – Philosoph – Künstler (= Wittgensteiniana Bd. 1), hrsg. v. Günter Abel, Matthias Kroß und Michael Nedo, Berlin 2007, S. 27–47. 36 TLP, § 6.13. 37 TB, Eintrag vom 7. Februar 1915, S. 130; Wittgenstein bezieht sich mit seinen Überlegungen zu einer musikalischen Logik augenscheinlich auf die moderne mathematische Logik und nicht auf den Terminus bei Hugo Riemann. Dieser hatte mit seinem Buch Musikalische Logik von 1873 einen Prozess in Gang gesetzt, nach dem in Kompositionen der sogenannten »absoluten Musik« im Idealfall die motivisch-thematische Entwicklung und die harmonische Folge einer logisch-rhetorischen Abhandlung entsprechen sollte. Die Entwicklung und Abfolge der Formteile sollten sich ihrer inneren Logik gemäß zu einem Ganzen zusammenschließen. Riemann lehnte sich in der Bildung musikalischer Termini wie »Vordersatz«, »Nachsatz«, »Hauptsatz«, »Seitensatz« an logisch-rhetorische Mittel an, es entsprach jedoch nicht seinem Interesse, bei der Beschreibung funktionaler Akkordfortschreitungen ein konsistentes System logischer Begriffe zu adaptieren. (Vergl. Ders., Musikalische Logik. Hauptzüge der physiologischen und psychologischen Begründung unseres Musiksystems, Leipzig 1873; vergl. auch Fanselau, »Die Musik bei Wittgenstein«, S. 106; sowie Eckhard Tramsen, »Musikalische Logik und Sprache. Zur Materialität der Zeichen«, in: Weimarer Beiträge: Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften Bd. 43, Nr. 1 (1997), S. 17–26.

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Zunächst reagiert er als Komponist mit einem einzigartigen, logischen Aufbau: Die ganze Oper basiert z. B. auf einer einzigen 12-Ton Reihe. Aber er macht das Problem darüber hinaus zum Thema der Oper: Moses hat einen göttlichen Auftrag und ringt mit den Grenzen der Sprache. Er hat die absolute, unaussprechliche Wahrheit geschaut und muss sie, um sie den Menschen zu vermitteln, in Worte fassen, die es nicht geben kann. Die Oper bricht in einer dramatischen Zuspitzung mit den bekannten Schlussworten Moses ab: Unvorstellbarer Gott! Unaussprechlicher, vieldeutiger Gedanke! Läßt du diese Auslegung zu? Darf Aron, mein Mund, dieses Bild machen? So habe ich mir ein Bild gemacht, falsch, wie ein Bild nur sein kann! So bin ich geschlagen! So war alles Wahnsinn, was ich gedacht habe, und kann und darf nicht gesagt werden! O Wort, du Wort, das mir fehlt! 38

Moses scheitert an dem richtigen Ausdruck, den er unablässig sucht und doch niemals finden kann, weil, (s. o.) »in eine Teetasse eben nur eine Teetasse voll Wasser hineingeht, auch wenn ich’s literweise darübergösse.« 39 Wittgenstein beschreibt – bezeichnenderweise in seinem Vortrag über Ethik – ebendieses Gefühl des Moses: Es drängte mich, gegen die Grenzen der Sprache anzurennen, und dies ist, glaube ich, der Trieb aller Menschen […]. Dieses Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs ist völlig und absolut aussichtslos. […] Doch ist es ein Zeugnis eines Drangs im menschlichen Bewußtsein, das ich für meinen Teil nicht anders als hochachten kann und um keinen Preis lächerlich machen würde. 40

Obwohl es aussichtslos ist, die »Wände unseres Käfigs« 41 überwinden zu können, ist es unsere Pflicht, den Innenraum des Käfigs immer wieder bis an seine Grenzen hin abzustecken, die Grenzen also »von innen her« immer besser kennen zu lernen. Dabei handelt es sich für Wittgenstein um nichts weniger, als um das Untersuchen dessen, was eine 38 Arnold Schönberg, Moses und Aron. Oper in drei Akten, Teil II (= Sämtliche Werke, Abteilung III: Bühnenwerke, Reihe A, Bd. 8, Teil 2, hrsg. v. Christian Martin Schmidt), Wien 1978, S. 499–502. 39 VE, S. 13. 40 VE, S. 18. 41 David Schalkwyk liefert eine poetische Alternative für das negative Bild des Gefängnisses: »Das ist Philosophie, nicht als Gefängnis der Sprache gedacht, sondern als Kloster des Schweigens.« (David Schalkwyk, »Wittgensteins ›unvollkommener Garten‹. Die Leitern und Labyrinthe von Philosophie als Dichtung«, in: Wittgenstein und die Literatur, hrsg. v. John Gibson und Wolfgang Huemer, übersetzt von Martin Suhr, Frankfurt a. M. 2006, S. 84–109, hier S. 88.

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Musik im Tractatus

Tatsache ist, welches Bild wir uns von ihr machen und auf welche Weise das geschieht, und wie wir in diesem Raum mittels Sprache interagieren. Wie Moses zweifelt Wittgenstein: wir haben uns ein Bild von den Dingen gemacht 42 , aber ist es auch das Richtige? Im Tractatus denkt Wittgenstein darüber nach, wie das Verhältnis einer Abbildung zu dem ist, was sie abbildet. Offensichtlicher als in sprachlichen »Abbildungen« scheint dieses Verhältnis anhand von Bildern untersuchbar:43 Das Bild [auch das Bild, das wir uns von der Welt und ihren Tatsachen machen] ist ein Modell der Wirklichkeit. 44

Jedes Bild besteht aus verschiedenen Elementen, die sich in einer bestimmten Weise zueinander verhalten, so wie sich auch Elemente in der Wirklichkeit in bestimmter Weise zueinander verhalten. Und: »In Bild und Abgebildetem muß etwas identisch sein, damit das eine überhaupt ein Bild des anderen sein kann.« 45 Denn: Was jedes Bild, welcher Form auch immer, mit der Wirklichkeit gemein haben muß, um sie überhaupt – richtig oder falsch – abbilden zu können, ist die logische Form, das ist, die Form der Wirklichkeit. 46

Was ist unter der »logische Form der Wirklichkeit« zu verstehen? Das Verhältnis eines Satzes zur in ihm dargestellten Wirklichkeit der Sinneswahrnehmung ist für Wittgenstein ein Verhältnis zweier Gegenstandskonfigurationen. Diese werden im Tractatus als Strukturen verstanden, als Art und Weise, wie die Gegenstände innerhalb des 42 Das jüdische Bilderverbot, auf das Schönberg abhebt, spielt auch bei Wittgenstein eine, wenn auch untergeordnete Rolle. Es ist zudem klar, dass Schönbergs Oper sich noch mit andern Inhalten auseinandersetzt. Vergl. z. B. Pamela C. White, Schoenberg and the God-Idea: The Opera Moses and Aron, Ann Arbor 1985; Michael Cherlin, »Schoenberg’s Representation of the Divine in Moses und Aron«, in: Journal of the Arnold Schoenberg Institue, 9/2 (November 1986), S. 210–217; Alan Philip Lessem, Music and Text in the works of Arnold Schoenberg: the Critical Years 1908–1922, Ann Arbor 1979. Zu Wittgensteins Verhältnis zur jüdischen Religion vergl. Tim Labron, Wittgenstein’s religious point of view, London 2006; Ranjit Chatterjee, Wittgenstein and Judaism. A triumph of concealment (= Studies in Judaism Bd. 1), New York u. a. 2005; Ulrich Arnswald, Der Denker als Seiltänzer. Ludwig Wittgenstein über Religion, Mystik und Ehtik, Düsseldorf 2001. 43 Vergl. zu der folgenden Ausführung zur Bildtheorie TLP, § 2.1–2.225. 44 TLP, § 2.12. 45 TLP, § 2.161. 46 TLP, § 2.18.

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Sagen und Zeigen

Gefüges der Welt zusammenhängen, wie sich die »Sachen« zueinander verhalten. Die Struktur der Welt ist demnach ein Gefüge von Sachverhalten. Diese Sachverhalte und die Bildelemente des Bildes der Wirklichkeit weisen bei Wittgenstein eine strukturgleiche Konfiguration auf: Das Bild wird an der Konfiguration der Sachverhalte der Wirklichkeit abgeglichen, indem den Bildbestandteilen jeweils Gegenstände in einer analogen Konstellation zugeordnet werden. Sachverhalte und Bilder sind dabei beide Bestandteile eines »logischen Raumes«. Es handelt sich also nicht um tatsächliche Dinge, sondern um Denkbilder, um Modelle zur Deutung logischer Zusammenhänge als Strukturzusammenhänge. 47 Die Tatsachen bilden gemeinsam den »logischen Raum«; die Form jedes einzelnen Sachverhaltes bestimmt die Konfiguration der Gesamtheit der Sachverhalte und damit im Allgemeinen die Möglichkeit aller Sachlagen 48 . Das »logische Bild« ist daher keinesfalls mimetischer Natur 49, wie die Landkarte oder das Diagramm keine mimetischen Abbilder sind, sondern es überträgt qua struktureller und im Voraus festgelegter Parameter Sachverhalte. 50 Die »logische Form« Wittgensteins ist die Strukturanalogie von Satz und Sachverhalt, der Satz enthält die »logische Form« der in ihm abgebildeten Gegenstände und Sachverhalte und ist damit Spiegel derselben logisch-mathematischen Mannigfaltigkeit der Gegenstandskonfigurationen im »logischen Raum«. 51 Wittgenstein nutzt zur Erklärung einen Vergleich aus dem Bereich der Musik: Die Grammophonplatte, der musikalische Gedanke, die Notenschrift, die Schallwellen, stehen in einer abbildenden internen Beziehung zu einander, die zwischen Sprache und Welt besteht. Ihnen allen ist der logische Bau gemeinsam […].« 52 »Daß es eine allgemeine Regel gibt, durch die der Musiker aus der Partitur die Symphonie entnehmen kann, durch welche man aus der Linie auf der Grammophonplatte die Symphonie und nach der ersten Regel Vergl. Kurt Wuchterl, Struktur und Sprachspiel bei Wittgenstein, Frankfurt a. M. 1969, S. 25 ff. 48 Vergl. TLP, § 2.0124. 49 Diese Auffassung hat nichts mit klassischen Mimesis-Theorien zu tun, vergl. hierzu auch Bernard Harrison, »Vorgestellte Welten und die wirkliche Welt. Platon, Wittgenstein und Mimesis«, in: Wittgenstein und die Literatur, hrsg. v. John Gibson und Wolfgang Huemer, Frankfurt a. M. 2006, S. 134–159. 50 Vergl. Bezzel, Wittgenstein, S. 76. 51 Vergl. zur Unterscheidung von »logischer Form«, »logischem Raum« und »logischem Bild« Glock, Wittgenstein Lexikon, S. 219–223 bzw. S. 227–230. 52 TLP, § 4.014. 47

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Musik im Tractatus

wieder die Partitur ableiten kann, darin besteht eben die innere Ähnlichkeit dieser scheinbar so ganz verschiedenen Gebilde. Und jene Regel ist das Gesetz der Projektion, welches die Symphonie in die Notensprache projiziert. Sie ist die Regel der Übersetzung der Notensprache in die Sprache der Grammophonplatte. 53

Bevor ich näher auf die Grammophonplatte eingehe, zunächst eine Bemerkung zum Begriff des »Gedankens« bzw. »musikalischen Gedankens«, einem Terminus, den Wittgenstein häufiger gebraucht 54 und den man auch mit Schönberg assoziiert. Die Herkunft dieses gemeinsamen Konzeptes des »Gedankens« ist unübersehbar bei beiden – wo sie über ein umgangssprachliches Konzept hinausreicht – von der Sprachkritik Karl Kraus’ inspiriert. Kraus wehrte sich gegen einen »Verfall« der Sprache, bei der immer mehr die im Material der Sprache verborgenen Ausdrucksmöglichkeiten des menschlichen Daseins zugunsten eines reinen, sophistischen Schmuckwerks verdrängt werden (Kraus’ Zorn richtete sich vor allem gegen die zeitgenössische Presse). Stattdessen sei in der »echten« Sprache vorfindliches Material verborgen: »Ich habe manchen Gedanken, den ich nicht habe und nicht in Worte fassen könnte, aus der Sprache geschöpft.« 55 Der »Sprachgedanke« ist ein zentraler Begriff der Krausschen Sprachkritik, 56 er ist die zweckfreie, intentionslose und absolute Bedeutungsebene der Sprache, vorfindlich im authentischen »Stil«. Das eigene Sprachempfinden objektiviert durch permanente Kritik am »Gebrauch« der Sprache und das Bewusstsein ihrer Möglichkeiten diesen »Sprachgedanken«. Darauf wird noch zurückzukommen sein: »Stil« und »Gedanke« sind sowohl für Wittgenstein als auch für Schönberg zentrale Begriffe derselben Herkunft, sind aber nicht immer identisch. Bei Wittgenstein handelt es sich bei dem »Gedanken« wie bei Kraus um ein abstraktes Gebilde, kein mentales, das deswegen allerdings nicht weniger objektiv 53 TLP, § 4.0141. Vergl. zu diesem Beispiel auch unter der Perspektive der Logik: Susan Sterret, »Pictures of Sound: Wittgenstein on Grammophone Records and the Logic of Depiction«, in: Studies in the History and Philosophy of Science, Teil A, Bd. 36 Nr. 2, S. 351–362. 54 Zum Gedanken als abstrakter, besonderer Form losgelöst vom Musikalischen vergl. Bezzel, Wittgenstein, S. 74 f. sowie den Eintrag »Gedanke/Denken« bei Glock, Wittgenstein Lexikon, S. 128 ff. 55 Karl Kraus, Die Sprache, Auswahl und Nachwort von Heinrich Fischer, Wiesbaden 1959, S. 6. 56 Werner Kraft, Karl Kraus. Beiträge zum Verständnis seines Werkes, Salzburg 1956, insbes. S. 175–199.

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ist. Der »Gedanke« eines Satzes beispielsweise ist nicht etwa eine von ihm separierbare Vorstellung, sondern »das logische Bild der Tatsachen« 57 , die sich selbst darstellende logische Struktur (was darzustellen das gleich näher zu erklärende Grammophonbeispiel zur Aufgabe hat). Mithin kommt er im Tractatus zu dem Schluss: »Der Gedanke ist der sinnvolle Satz« 58 . Das bedeutet nicht, dass der Satz a priori wahr sein muss, aber er enthält immer »die Möglichkeit der Sachlage«. 59 Zwar war Kraus nicht an Logik interessiert, und so geht Wittgenstein über Kraus’ Ansatz hinaus, der Ausgangspunkt des »Sprachgedanken« bleibt jedoch erkennbar. 60 Schönberg benutzt den Terminus »Gedanke« 61 (wie auch Wittgenstein) nicht immer konsequent in derselben Art und Weise. Generell gilt ihm: »Jedes Musikstück ist die Darstellung eines musikalischen Gedankens.« 62 Dieser besteht aus einer unteilbaren Einheit von »Melodie, Rhythmus und Harmonie.« 63 Für Schönberg ist der »Gedanke« mithin naturgemäß mehr ein musikalisch-kompositorischer als ein logisch-philosophischer Terminus. Schönberg hält ihn denn auch für zu »vieldeutig«, und, »wo es eine treffendere Bezeichnung giebt«, sei diese zu bevorzugen. 64 Zurück zur Grammophonplatte: Im Gegensatz zu dem nach strengen Regeln festgelegten und technisch eindeutig rekonstruierbaren Verfahren der Übertragung von Partitur und Platte handelt es sich im Normalfall des Sprechaktes um einen unreflektierten Prozess (insofern TLP, § 3. TLP, § 4. 59 TLP, § 3.02. 60 Vergl. u. a.: Werner Kraft, »Ludwig Wittgenstein und Karl Kraus: Direkt und indirekt«, in: Untersuchungen zum Brenner. Festschrift für Ignaz Zangerle zum 75. Geburtstag, hrsg. v. Walter Methlagl, Eberhard Sauermann und Sigard Paul Scheichl, Salzburg 1981, S. 451–459. 61 Vergl. zu Schönbergs Terminologie insbes. Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Hildesheim 2005, Bd. 1: Darstellung; sowie insbes. Zum »Gedanken«: Andreas Jacob, »Die Entwicklung des Konzepts des musikalischen Gedankens 1925–34«, in: Arnold Schönberg in Berlin. Bericht zum Symposium 28.–30. September 2000, hrsg. v. Christian Meyer, Wien 2001, S. 177–190. 62 Schönberg, Ms Nr. 6 (1931a), S. 1, in: The musical Idea and the Logic, Technique, and Art of its Presentation, hrsg., übersetzt und mit einem Kommentar v. Patricia Carpenter und Severine Neff, New York 1995, S. 370. 63 Schönberg, »Komposition mit zwölf Tönen«, in: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, (= Gesammelte Schriften 1), hrsg. v. Ivan Vojte˘ch, Frankfurt a. M. 1976, S. 77. 64 Schönberg, »Zur Terminologie der Formenlehre« (1923) unveröffentlichtes Manuskript Mus 66a–c, zit. n.: The Musical Idea, S. 371 f. 57 58

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Musik im Tractatus

ist die Grammophonmetapher auch irreführend). Die Umgangssprache des Alltags verkleide den Gedanken Wittgenstein zufolge so, dass man aus der Konfiguration der Zeichenelemente im Satz nicht mehr die Gegenstandskonfiguration der Sachverhalte ableiten kann – die Normalsprache ist laut Tractatus eine verkleidete Projektion der »logischen Form« auf einer neuen Ebene: Die Umgangssprache ist ein Teil des menschlichen Organismus und nicht weniger kompliziert als dieser. Es ist menschenunmöglich, die Sprachlogik aus ihr unmittelbar zu entnehmen. Die Sprache verkleidet den Gedanken. Und zwar so, daß man nach der äußeren Form des Kleides nicht auf die Form des bekleideten Gedankens schließen kann; weil die äußere Form des Kleides nach ganz anderen Zwecken gebildet ist als danach, die Form des Körpers erkennen zu lassen. 65

Genauso folgt auch die Musik immer einer logischen Grundstruktur, so Schönberg nach einigem Nachdenken über den inneren Zusammenhang der Wagnerschen Musikdramen: »Vielleicht vermögen wir es nicht zu entdecken, aber es ist da.« 66 Diese Projektion, die Überführung der »logischen Form« in die Struktur sprachlicher Lautmuster, erfolgt bei Wittgenstein in zwei Schritten: zunächst werden die Grundzeichen determiniert und zu einem variablen Vorrat an Zeichen zur Konstituierung einer vollständigen Proposition (einem wahrheitsfähigen Aussagesatz) hinzugefügt. Dann werden die formal-grammatischen Beziehungen zwischen den 65 TLP, § 4.002.; auch hier lässt sich eine Parallele zu Schönberg ziehen, der in ganz ähnlicher Weise, und auch unter dem Aspekt des Organismus’ den komplexen Abbildcharakter von Notenbild und »musikalischem Gedanken« reflektiert: »Immerhin darf man aber annehmen, daß das Notenbild ein glückliches Symbol für den musikalischen Gedanken abgibt, und daß somit – wie ja jeder wohlgebaute Organismus in seiner äußeren Erscheinung mit seiner inneren Einrichtung übereinstimmt, die mitgeborene äußere Erscheinung also nicht als Zufall anzusehen ist – die in den Noten sich bekundende Form und Gliederung dem inneren Wesen des Gedankens und seiner Bewegung ebenso entspricht, wie die Wölbungen und Vertiefungen an unserm Körper durch die Lage innerer Organe bedingt werden.« (Schönberg, Harmonielehre (1922/1949), Wien 2001, S. 349). Die Metapher des »Organismus« für Sprache wie Musik ist historisch sehr vielfältig verwendet worden. Die genaue Einordnung von Wittgenstein oder Schönberg in diesen Diskurs soll hier nicht weiter verfolgt werden. Zu Wittgensteins Verständnis des Organizitätsbegriffs vergl. u. a. Günther Grewendorf, »Sprache als Organ uns Sprache als Lebensform. Zu Chomskys Wittgenstein-Kritik«, in: Sprachspiel und Methode. Zum Stand der Wittgenstein-Diskussion, hrsg. v. Dieter Birnbacher und Armin Burkhardt, Berlin 1985, S. 89–129. 66 Schönberg, »Komposition mit zwölf Tönen«, in: Stil und Gedanke, S. 96.

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Teilen eines komplexen Zeichens (eines Satzes) entsprechend bestimmten, logischen Verbindungen zwischen den durch sie gelieferten Anteilen der Bedeutung des komplexen Zeichens definiert. 67 Das entstandene Bild kann der Gegenstandskonfiguration der Wirklichkeit mehr oder weniger angemessen sein, und ob es wahr oder falsch ist, sagt das Bild alleine nicht aus. Die »logische Form« ist die Möglichkeitsbedingung des Bildes, in ihr verschränken sich Wirklichkeit und Möglichkeit. Eine Ausnahme sind die logischen Sätze, die bei Wittgenstein eine Sondersituation des Sprechens bilden (Tautologien und Kontradiktionen). 68 Sie sind »sinnlos«, jedoch nicht unsinnig, weil an ihrer Form bereits erkennbar ist, ob sie wahr oder falsch sind. Sie sind kein Bild der Wirklichkeit und beinhalten daher auch keine Möglichkeitsform, sie sind ein »Spiegelbild der Welt« 69 . Im Tractatus nennt Wittgenstein die Melodie als Beispiel für solche »logischen Sätze«, sie sei »eine Art Tautologie, sie ist in sich selbst abgeschlossen; sie befriedigt sich selbst.« 70 Die Melodie als Kunstwerk bildet damit im Tractatus die Einheit von Frage und Antwort und tritt an die Stelle der wissenschaftlichen Beschreibung, indem sie ihren Sinn nur mehr zeigt. Schönberg spricht wie Wittgenstein von einem »logischen Raum«. Im Zuge einer Erklärung seiner Idee der 12-tönigen Grundreihe fordert er: »musikalische[] Gedanken müssen den Gesetzen der menschlichen Logik entsprechen« 71 , und diese Gedanken müssen in einem »zwei- oder mehrdimensionalen Raum […] dargestellt werden.« 72 Innerhalb dieses »logischen Raums« (der wie bei Wittgenstein ein abstraktes Konzept von Einheit gewährleistet), enthüllen sie [die Elemente dieser Gedanken] ihre wahre Bedeutung nur durch ihr Zusammenwirken, ebenso wie kein einzelnes Wort allein ohne Beziehung zu anderen Wörtern einen Gedanken ausdrücken kann. Alles, was an In Wittgensteins Fassung der abbildenden Beziehung im Tractatus ist bereits die spätere Gebrauchstheorie der Bedeutung vorbereitet, denn es gibt kein Bild an sich, Bilder entstehen erst durch Zuordnung und Verwendungskontexte. 68 Vergl. u. a. Günter Abel, Sagen und Zeigen, in: Werner Stegmaier (Hg.), Kultur der Zeichen (= Zeichen und Interpretation VI), Frankfurt a. M. 2000, S. 61–98, hier insbes. S. 71 ff. 69 TLP, § 6.13. 70 TB, Eintrag vom 4. März 1915, S. 130. 71 Schönberg, »Komposition mit zwölf Tönen«, in: Stil und Gedanke, S. 76. 72 Ebd., S. 77. 67

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irgendeinem Punkt dieses musikalischen Raumes geschieht, hat mehr als örtliche Bedeutung. Es hat nicht nur auf seiner eigenen Ebene eine Funktion, sondern in allen anderen Richtungen und Ebenen und ist selbst an entfernter gelegenen Punkten nicht ohne Einfluß. 73

Letztlich will Schönberg den Versuch unternehmen, »aus den Tatsachen der musikalischen Technik der Gedankendarstellung eine musikalische Logik zu extrahieren« 74 , was Wittgensteins Vorstellung musikalischer Logik im Tractatus entspricht. Wittgenstein gibt die Überlegungen zu einer musikalischen Logik, die sich zeigt, nie ganz auf. 75 In einem Manuskript vom 24. 2. 1930 untersucht er auf diese Überlegung hin die Eigenschaften der Tonleiter: Wenn man frägt ob die Tonleiter eine unendliche Möglichkeit der Fortsetzung in sich tr[ä]gt so ist die Antwort nicht dadurch gegeben daß man Luftschwingungen die eine gewisse Schwingungszahl überschreiten nicht mehr als Töne wahrnimmt denn es könnte ja die Möglichkeit bestehen höhere Tonempfindungen auf andere Art und Weise hervorzurufen. Die Endlichkeit der Tonleiter kann vielmehr nur aus ihren internen Eigenschaften hervorgehen. Etwa so indem man es einem Ton selber an[er]kennt daß er der Abschluß ist daß also dieser letzte Ton oder die letzten Töne innere Eigenschaften haben, die die mittleren nicht haben. 76

Das erinnert unübersehbar an Schönbergs Versuche, »natürliche« Eigenschaften von Tönen bzw. Tonfolgen z. B. mittels Untersuchungen zu ihren Obertonreihen (»Luftschwingungen«) für seine eigene Argumentation zu nutzen. Noch 17 Jahre später gibt es bei Wittgenstein eine Stelle in den sogenannten Bemerkungen zur Philosophie der Psychologie, in der man fast zu der Auffassung kommen könnte, Wittgenstein hätte sich mit Schönbergs Reihentechnik und Vorstellungen zur Ebd., S. 77. Schönberg, Der musikalische Gedanke, S. 90 (Aufzeichnung vom 24. 6. 1934), zit. n.: The musical Idea, S. 90. 75 Natürlich gibt es eine Wandlung vom Suchen zugrundeliegender Strukturen hin zu Untersuchungen von Formen des Hörverstehens, aber es handelt sich dabei um eine schlüssige Weiterentwicklung, nicht um einen Bruch. So blendet das Beispiel der Grammophonplatte z. B. die mögliche Interpretationsvielfalt des Notentextes und damit die Rezipientenebene aus, so dass Wittgenstein später die Abbildtheorie qua »Projektionsregel« in ihrer strengen Form aufgibt. Bezzel vertritt dagegen die Ansicht, man könne aus der durchgehenden Relevanz sprachlicher Bildhaftigkeit innerhalb der Spätphilosophie schließen, »wie wenig der späte Wittgenstein den Kern der Abbildtheorie aufgegeben hat« (Bezzel, Wittgenstein, S. 104). 76 BEE, MS 108, 24. 2. 1930. 73 74

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musikalischen Logik auseinandergesetzt. Das zu erläutern bedarf einer gedanklichen »Engführung« zwischen den diesbezüglichen Argumenten Schönbergs mit der Stelle in Wittgensteins Aufzeichnungen. Schönberg entwickelt bekanntlich das theoretische Fundament zu seiner eigenen Auffassung von Tonalität, indem er zuerst darstellt, was üblicherweise unter Derselben verstanden wird: Immer war es diese Bezogenheit aller Ereignisse auf ein Zentrum, auf den Grundton, auf diesen Ausgangspunkt der Tonalität […]. Alle in einem Stück vorkommenden Tonfolgen, Zusammenklänge und Zusammenklangsfolgen gewinnen einheitliche Bedeutung durch ihr festes Verhältnis zum tonalen Mittelpunkt und durch ihre gegenseitige Verbundenheit. 77

Die Tonalität entspricht daher zwar, so Schönberg, den Möglichkeiten der »Natur der Klänge« 78 , ist aber in ihrer uns bekannten Form eine historisch entwickelte Art und Weise, Töne untereinander zu verbinden. Dafür bedurfte es eines Sprunges »seitwärts«, so Schönberg, einem »Umweg über die Kirchentonarten« 79 . Diese zeigten »nämlich die merkwürdige Erscheinung, daß in ihnen die Tonalität der zu Grunde liegenden Tonreihe eine andere ist als die Tonart, in der das Stück in Wirklichkeit geht.« 80 Diesen Zusammenhang kennzeichnet Schönberg daraufhin als historisches Konstrukt 81 mit bereits bestehenden Gegenentwürfen, denn an keiner Stelle sei die Tonart »von selbst da. Sondern überall bedarf es starker Kunstmittel, um sie unzweideutig auszudrücken.« 82 Daraufhin entwickelt Schönberg seine eigene Vorstellung von Tonalität und begründet ausführlich deren Konstitution, um zu dem Schluss zu kommen, dass es sinnlos wäre, einen Unterschied anderer als gradueller Natur zu machen zwischen der Tonalität von gestern und der von heute. Im Grunde genommen ist tonal viel-

Schönberg, »Probleme der Harmonie«, in: Stil und Gedanke, S. 226. Ebd., S. 225. 79 Ebd. 80 Ebd.; Schönberg argumentiert mit der »Tonart, in der das Stück in Wirklichkeit geht« unhistorisch im Gegensatz zu Wittgenstein, wie sich im Folgenden zeigen wird (vergl. z. B. VB, S. 562). Aus den Äußerungen Schönbergs geht hervor, dass er die modalen Tonordnungen nicht als Eigenwert anerkennt, sondern in ihnen nur eine Vorstufe zur Dur-Moll-Tonalität sieht. 81 Vergl. zu Schönbergs Auffassung von Geschichte: Beat Föllmi, Tradition als hermeneutische Kategorie bei Arnold Schönberg, Bern u. a. 1996. 82 Schönberg, »Probleme der Harmonie«, in: Stil und Gedanke, S. 224. 77 78

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leicht nichts anderes als das, was man schon heute versteht, und atonal das, was man erst später verstehen wird. 83

Wittgenstein setzt sich in BPP I, § 639–647 84 mit diesen Argumenten auf sehr ähnliche Art und Weise auseinander, und ob er die Argumente aus der Harmonielehre oder aus Gesprächen direkt oder indirekt kannte, und ob er sie überhaupt Schönberg zuordnete oder lediglich über eine Richtung der zeitgenössischen Musik informiert war, scheint mir dabei nicht vorrangig wichtig; interessant ist, dass er es trotz seiner ablehnenden Haltung dieser Musik gegenüber tut. Wittgenstein beginnt: Denk dir Rot als Gipfel aller Farben angesehen. Die besondere Rolle des Dreiklangs in unserer Musik. Unser Unverständnis für alte Kirchentonarten. 85

»Die besondere Rolle des Dreiklangs« konstituiert die Tonalität und stellt das harmonische Zentrum eines Musikstückes her, bildet mithin sein Gravitationszentrum (jedenfalls von solcher Musik, die Wittgenstein sich angehört hätte). Wittgenstein unternimmt nun im Grunde denselben Gedankengang wie Schönberg: »Unser Unverständnis für alte Kirchentonarten« 86 rührt daher, dass zu dieser Zeit nicht auf ein tonales Gravitationszentrum hin gehört wurde und die Musik entsprechend anders konstruiert ist. Und jetzt der Übertrag: Wenn das System historischen Veränderungen unterliegt und nicht »Naturgesetzen« (Schönberg verwendet wie gesagt einigen Aufwand auf Beweise aus der Naturtonreihe), dann ist es relativ und kann – als gedankliches Experiment bei Wittgenstein – als Etablierung einer 12-Tonreihe bei Schönberg – ihre Gestalt verändern: »Denk dir Rot als Gipfel aller Farben angesehen« (s. o.). Wittgenstein spielt die Relativität der Tonalität

83 Ebd., S. 231. Schönberg argumentiert an dieser Stelle gegen den negativ besetzten Begriff der »Atonalität« und will dagegen den der »Pantonalität« etablieren (ebd.). 84 Eine ähnliche, breiter angelegte Gedankenlinie ohne das Musikbeispiel findet sich auch in Z, Nr. 316–387. 85 BPP I, § 639. Den naheliegenden Vergleich von Farben und Tönen macht sich Wittgenstein auch in seinen BF nutzbar, wo er das Gedankenexperiment einer »Harmonielehre der Farben« ins Auge fasst. (BF I, Nr. 74). 86 Kirchentonarten sind ein bevorzugtes Beispiel für Wittgenstein. Die absolute Andersheit dieser Musik hat ihn offenbar stark fasziniert, und im Gegensatz zu Schönbergs Überlegungen in Probleme der Harmonie reflektiert er den geänderten historischen Kontext dieser Musik differenziert (dazu folgen Beispiele im Kapitel »Ästhetik?« sowie im Kapitel »Aspekte sehen«).

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anhand einer Farbmetapher durch87 : »Unter welchen Umständen würde man sagen, diese Menschen fassen alle Farben als Grade einer Eigenschaft auf?« 88 Es wäre doch denkbar, so Wittgenstein, dass in irgendeiner Welt Blau und Rot als »äußerste Pole« 89 angesehen werden würden und alles dazwischen nur in »regenbogenartigen Übergängen« 90 . Rot wäre dann in diesem Gedankenexperiment das tonale Zentrum, der Basis-Dreiklang, und Blau die entfernteste Tonart, die noch im Zusammenhang dazu steht. Was jetzt also, wenn wir die Modulation von »Rot« nach »Blau« nicht schrittweise, sondern kontinuierlich (mit »regenbogenartigen Übergängen«) wahrnähmen? Schönberg verweist auf Bachs »Phantasien«, in denen sich Bach im »Unterschied von der Logik […] einer Freiheit und Ungebundenheit in der Ausdrucksweise bedient, wie sie derzeit nur im Traum zulässig ist« und »auf das Auffassungsvermögen zeitgenössischer Zuhörer keine Rücksicht nehmen muß« 91 . Unsere Wahrnehmung der Tonalität wie unsere Wahrnehmung der Farben ist also keineswegs zwangsläufig. Wittgenstein folgert weiter: Denke nicht, daß unsere Begriffe die einzig möglichen, oder vernünftigen sind; wenn du dir ganz andere Tatsachen, als die, die uns ständig umgeben, vorstellst, so werden dir andere Begriffe als die unsern natürlich erscheinen.92

»Angenommen«, spielt Wittgenstein sein Gedankenexperiment weiter durch, »wir kennten ein Volk, welches eine gänzlich andere Form der Farbaussagen hätte, als die unsere: wir nehmen dann meistens an, daß es ein Leichtes ist, diese Leute unsere Ausdrucksformen zu lehren.« 93 Angenommen, man würde Josquin des Prez davon überzeugen, dass das tonale Zentrum der absolute Gravitationspunkt zu sein hätte, dass »Rot der Gipfel aller Farben« zu sein hat. Warum sollte er das einsehen? »Ich will damit sagen: eine ganz andere Erziehung als die unse-

Zur besonderen Rolle der Farben bei Wittgenstein vergl. Jonathan Westphal, Colour. Some philosophical problems from Wittgenstein, Oxford 1987; sowie Günter Kollert, Weimar – Cambridge und zurück. Goethe, Wittgenstein und die Welt der Farben, Stuttgart 2008. 88 BPP II, § 640. 89 BPP II, § 641. 90 BPP II, § 642. 91 Schönberg, »Probleme der Harmonie«, in: Stil und Gedanke, S. 224. 92 BPP II, § 643. 93 BPP II, § 645. 87

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re könnte auch die Grundlage ganz anderer Begriffe sein.« 94 Und Wittgenstein denkt dasselbe in die Zukunft weiter: Wir sagen, in der Tonleiter kehre nach je 7 Tönen der gleiche Ton wieder. Was heißt es: ›Wir empfinden ihn als den gleichen‹ ? Ist, daß wir ihn den gleichen nennen, nur ein sprachlicher Zufall? 95

Es ist eine Konvention, die genauso gut anders lauten könnte, womöglich seriell, so Wittgenstein: Zählen, Rechnen, etc., in einem abgeschlossenen System, so wie eine Melodie abgeschlossen ist. Die Leute zählen etwa mit Hilfe der Töne einer besonderen Melodie; am Ende der Melodie kommt die Zahlenreihe zu einem Ende. – Soll ich sagen: Es gibt natürlich noch weitere Zahlen, nur erkennen diese Leute sie nicht? Oder soll ich sagen: Es gibt noch ein anderes Zählen – das, was wir tun – und das kennen (tun) jene Leute nicht. 96

Das Nachdenken über die Frage nach der Möglichkeit, Elemente zu einem geordneten Ganzen zusammenzufügen, so dass sie einen Sachverhalt darstellen, verbindet die Ansätze Schönbergs und Wittgensteins. Die Elemente, um deren Komposition es geht, bieten von sich aus keine »natürliche« Beschränkung ihrer Verbindung, nur eine »natürliche« Möglichkeit, überhaupt verbunden zu werden. Die Möglichkeiten ihrer Verbindungen, die wir kennen, sind historisch gewachsen, an bestimmte Zeiten gebunden und bedürfen einer bestimmten Art des erlernten Kontextes, um als sinnerfüllt wahrgenommen zu werden. Für Wittgenstein löst sich das Subjekt als transzendentaler Bezugspunkt zur Herstellung gedanklicher Einheit auf (»Das denkende, vorstellende, Subjekt gibt es nicht« 97 ) in »eine Welt von Tatsachen, deren abbildende Beziehung zueinander es möglich machen, daß sich ihr Sinn zeigt.« 98 Schönberg seinerseits lässt die Tonalität in verschiedenen Formen historischer Anstrengungen, Töne unter Ordnungen zusammenzufassen, aufgehen. Die »natürliche Möglichkeit«, überhaupt zu einem geordneten Ganzen verbunden zu werden, liegt daher sowohl in den sprachlichen Zeichen wie auch in den musikalischen Elementen. Diese Verbindung 94 Z, Nr. 387. (Etwa bis zu dieser Nummer der »Zettel« verläuft – wie erwähnt – die zu der Stelle in BPP parallele Argumentation, daher ist ein Seitenblick hierauf legitim). 95 BPP II, § 645. 96 BPP II, § 647. 97 TLP, § 5.631. 98 Nemeth, Otto Neurath und der Wiener Kreis, S. 70.

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ist in beiden Fällen nicht willkürlich. Wittgenstein: »Der Satz ist kein Wörtergemisch. – (Wie das musikalische Thema kein Gemisch von Tönen.)« 99 . Und in den Tagebüchern notiert er, ganz ähnlich: »Auch die Melodie ist kein Tongemisch, wie alle Unmusikalischen glauben.« 100 Was also zunächst aussieht wie eine komplizierte, aus dem logischen Denken heraus motivierte Theorie des Satzes beschreibt genauso das »nicht teilbare Spannungsgefüge« des komplexen musikalischen Zeichens. An anderer Stelle scheint es fast, als habe nun seinerseits Schönberg sich mit Wittgenstein auseinander gesetzt, wenn er 1927 über die Logik der Tonbeziehungen nachdenkt: Wenn wir nun untersuchen wollen, was das eigentlich ist: Beziehung von Tönen zueinander, so stelle ich als erstes die Frage: Worauf beruht die Möglichkeit, auf einen beginnenden ersten Ton einen zweiten folgen zu lassen. Wie ist das logischerweise möglich? Diese Frage ist wichtiger, als es auf den ersten Augenschein aussieht; trotzdem ist sie aber meines Wissens noch nicht gestellt worden. Noch nicht, obwohl man sich schon mit allen möglichen und weitgehenden Problemen befaßt hat, hat man gefragt: Wieso kann man überhaupt zwei Töne miteinander verbinden? Meine Antwort lautet: Eine solche Aneinanderreihung von Tönen, wenn dadurch eine Verbindung hergestellt werden soll […], ist nur darum möglich, weil zwischen den Tönen selbst eine Beziehung besteht. Man kann logisch nur verbinden, was Beziehung zu einander hat: unmittelbare oder mittelbare. In einem Musikstück aber kann ich mangels einer musikalischen Beziehung nicht einen Ton mit einem Radiergummi verbinden. 101

Ein Komponist kann nur deswegen Töne zu einem Musikstück zusammensetzen, weil sie bereits Beziehungen untereinander haben. Zunächst ist auch ein musikalisches Zeichen wie ein Satz kein ungeordnetes Durcheinander von Merkmalen, sondern ein durch Regeln oder individuell festgelegte Beziehungen geordnetes Zueinander von Merkmalen: Satztypen wie »Frage« oder »Imperativ« bilden die Anweisung, wie die Art der Bezugnahme auf den Sachverhalt umzusetzen ist. Selbst ein aleatorisches Rauschen folgt in gewissem Sinne einer Ordnung (und sei es nur der des Ortes »Konzert«), sonst wäre es nicht als Musik erkennbar, sondern wäre schlicht »Lärm«. Das bedeutet jedoch genau wie beim sprachlichen Zeichen gerade nicht, dass die Prozesse der Abbildung, dass die logische Form erkennbar wäre. Natürlich folgt TLP, § 3.141. TB, Eintrag vom 11. April 1915, S. 132. 101 Schönberg, »Probleme der Harmonie«, in: Stil und Gedanken, S. 220. 99

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die musikalische Phrase, 102 wie der Satz auch, bestimmten Regeln, die manchmal grammatisch oder syntaktisch festgelegt sind. Aber auch diese Regeln bestimmen nur zu einem kleinen Teil den Sinn des Satzes, wie sie auch nur zu einem kleinen Teil den »Sinn« der musikalischen Phrase bestimmen. Das Zeigen macht hier wie dort einen wesentlichen Anteil des Sinnes aus, sowohl, was seine nicht-hintergehbare »logische Form« und damit seinen Bezug zu Sachverhalten und Verhältnissen, als auch, was die verschiedenen Arten des Zeigens betrifft. Der Satz »zeigt« seinen Sinn, er gibt ein probeweises Modell dessen, wie sich die Dinge zueinander verhalten, wie die Sachverhalte beschaffen sind, wenn er zutrifft. 103 Das bedeutet nicht, dass die Ordnung des Satzes im Sinne der klassischen Stellvertreter-Logik einfach die Dinge der Wirklichkeit und deren Ordnung vertritt, mithin abbildartig auf sie verweist, sondern Satz und Wirklichkeit gehorchen beide bestimmten Regeln der Darstellung. Ein einfaches Beispiel: Das Bedeutungsfeld des Begriffs »Klavier« muss in irgendeiner Weise das Bedeutungsfeld »Musikinstrument« einschließen, das des Wortes »Amöbe« aber ausschließen, weil die Klasse der Musikinstrumente sich nicht mit der Klasse der Einzeller überschneidet. Es ist wichtig festzustellen, dass diese konstruktiv-strukturanalogische Abbildung nichts mit der klassischen Repräsentationstheorie zu tun hat, weil auch Musik nicht Dinge der Realität repräsentiert, wie gelegentlich vereinfachend angenommen wird. Der Satz kann das Modell von Sachverhalten bilden. Was er nicht kann, ist darstellen, aufgrund welcher Strukturen er dazu in der Lage ist: Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemein haben muß, um sie darstellen 102 Der Terminus »Phrase« fällt bei Wittgenstein sehr häufig, weniger benutzt er »Gestalt« oder »Motiv«. Dieser Begriff ist im Gegensatz zu den letztgenannten offener und hat weniger theoretisch-technischen Gehalt. Wie dieser Begriff bei Wittgenstein zu fassen ist, erklärt am besten eine Definition aus Schönbergs »Der Musikalische Gedanke«. Hier unterscheidet der Komponist in einem kurzen Abschnitt »Gestalt« und »Phrase«: »Von Gestalt würde ich (im Zweifelsfall) nur sprechen, wenn es sich um ein charakteristische[s] Gegliedertes (quasi gegliedert) handelt. – Von Phrase (im Zweifelsfall) wenn sie einem Redeteil gleicht, etwa im Erheben und Senken der Stimme etc. – Es muß weder die Motivverwandlung jedesmal zur Gestalten-, noch zur Phrasenbildung führen; doch ist das Fehlen der letzteren seltener.« (ebd., in: The Musical Idea, S. 170). 103 Vergl. TLP, § 4.022 und § 4.031.

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zu können – die logische Form. Um die logische Form darstellen zu können, müßten wir uns mit dem Satze außerhalb der Logik aufstellen können, das heißt außerhalb der Welt. 104

Sprechen ist immer performativ, der Vollzug des Sprechens selbst kann nicht wieder mitgeteilt werden. Sagen und Zeigen sind absolut voneinander unterschieden: Der Satz kann die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm. Was sich in der Sprache spiegelt, kann sie nicht darstellen. Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken. Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit. Er weist sie auf. 105

Was im Satz aufgewiesen wird, ist seine »logische Form«, die selbst wieder unaussprechlich ist. Sie lässt sich innerhalb der Grenzen der Logik nicht ausdrücken, weil sie selbst kein Gegenstand der semantischen Logik ist 106 , und: »Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden.« 107 Das können in »kann nicht gesagt werden« beschreibt ausdrücklich keine Unmöglichkeit im Sinne von »ich kann nicht fliegen«, sondern eine logische, oder strukturelle Unmöglichkeit. So wie man etwa keine größte Zahl nennen kann, weil die Reihe der Kardinalzahlen als unendlich definiert ist. Jemand, der meint, man müsse diese Zahl doch irgendwann nennen können, wendet die Definition von »unendlich« falsch an. Für Wittgenstein muss dieser Sachverhalt vollständig begriffen sein, weil es hier um die Grundlagen des Funktionierens oder Scheiterns philosophischen Denkens geht. Daher widmet er sich diesem Unterschied mehrfach mit besonderer Sorgfalt, wie z. B. im sogenannten Blauen Buch: Ebenso wenn man sagt: ›Man kann nicht durch die ganze Reihe von Kardinalzahlen hindurchzählen‹, so stellt man nicht eine Tatsache über menschliche Unzulänglichkeit fest, sondern eine Tatsache über eine Konvention, die wir getroffen haben. Unsere Aussage ist nicht mit einer Aussage wie ›Es ist unmöglich für einen Menschen, den Atlantik zu durchschwimmen‹ vergleichbar, obwohl sie dauernd fälschlicherweise damit verglichen wird; aber sie ist analog zu einer Aussage wie ›In einem Dauerlauf gibt es kein Ziel‹. […] In diesen Überlegungen taten wir das, was wir immer tun, wenn wir das Wort ›können‹ in einem metaphysischen Satz antreffen. Wir zeigen, daß dieser 104 105 106 107

TLP, § 4.12. TLP, § 4.121. Vergl. hierzu u. a. Bezzel, Wittgenstein, S. 80 ff.; Mersch, Was sich zeigt, S. 240 ff. TLP, § 4.1212.

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Satz eine grammatische Regel verbirgt. In anderen Worten, wir zerstören die äußere Ähnlichkeit zwischen einem metaphysischen Satz und einem Erfahrungssatz, und wir versuchen, die Ausdrucksform zu finden, die ein bestimmtes Streben des Metaphysikers erfüllt, das von unserer gewöhnlichen Sprache nicht erfüllt wird, und das metaphysische Verwirrung stiftet, solange es nicht erfüllt ist. 108

Verständigung und Erschließen von Zusammenhängen in der Welt können daher nicht nur durch propositionale Aussagen oder referierende Begriffe geschehen, sprachliche und nicht-sprachliche Zeichen müssen – um überhaupt Zeichen zu sein – in einem umfänglicheren Sinne funktionieren: Darstellungs- und Repräsentationsleistung müssen stets bereits als unteilbare Einheit begriffen werden. Und eben gerade weil die Performation des Zeichens nicht selbst im mitteilenden Zeichen ausgesagt werden kann, kann es auch nicht um eine Art intersubjektive Mitteilung von Sinn gehen 109 , auch dafür müsste man wieder das Zeigen als etwas Eigenes isolieren können. Auch Schönberg sieht diese beiden Konsequenzen, in geradezu erstaunlicher Übereinstimmung mit dem Tractatus (die Passage ist entsprechend von mir hervorgehoben), für die Musik: Das musikalische Denken unterliegt den Gesetzen und Bedingungen unseres sonstigen Denkens und hat dabei noch die sich aus dem Material ergebenden Bedingungen zu berücksichtigen. Alles Denken besteht im Wesentlichen darin, die Dinge (die Begriffe etc.) zueinander in Beziehung zu bringen. Ein Gedanke ist die Herstellung einer Beziehung zwischen Dingen, zwischen denen diese Beziehung nicht ohne die Herstellung existiert. Das Denken sucht also die Zusammenhänge zwischen den Dingen auf. Jeder Gedanke beruht also auf Zusammenhängen, ist aber nicht gedacht, wenn der Zusammenhang der betreffenden Dinge zur Darstellung einer Beziehung dieser Dinge benutzt wu¨rde. 110

Es gibt demnach einen leicht zu übersehenden aber elementaren Unterschied zwischen der Funktionalität des Zeigens und seiner Faktizität, BlB, S. 88 und S. 90. Vergl. hierzu Abel, »Sagen und Zeigen«, S. 66. 110 Schönberg, MS Nr. 6 (1931a), S. 1, in: The Musical Idea, S. 370. Diese Stelle ähnelt Wittgensteins Aussagen frappierend und erscheint mir ungewöhnlich für Schönbergs sonstige philosophische Anmerkungen (vor allem ungewöhnlich kompliziert in philosophischen Sinne). Die Idee stammt, wie man, so denke ich, an der Formulierung ablesen kann, jedenfalls mit Sicherheit aus dem Umfeld Wittgensteins, auf welchem Wege sie auch immer ihren Weg zu Schönberg gefunden hat. 108 109

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seiner sinnlichen Wahrnehmbarkeit sowohl in der Musik als auch in der Sprache. Das Zeigen manifestiert sich, indem es das, was es selbst ist, nicht mitbezeichnet. 111 Es ist eine Art »elusive Präsenz«, oder besser, eine Art »paradoxer Materialität«. 112 Eine solche »paradoxe Materialität« ist per definitionem kein Fall von Referenz, folglich auch nicht von Selbstreferenz (dazu vergl. Kapitel »Ausdruck – Bedeutung – Selbsreferentialität – Formalismus?«). Was die Materialität aufweist, geschieht nicht unmittelbar, sondern vollzieht sich mittels etwas anderem: der praktischen Erfüllung, dem Erfolg des Zeichens. Wenn Wittgenstein der Funktionalität den Vorrang vor der Struktur der Zeichen gibt, geht es ihm um Verwendung: Was in den Zeichen nicht zum Ausdruck kommt, das zeigt ihre Anwendung. Was die Zeichen verschlucken, das spricht ihre Anwendung aus. 113

Das Zeigen des Sagens ist ein nicht teilbares Spannungsgefüge von Sachverhalten und logischer Form, begründet in seiner immanenten Strukturalität und seinem Sichtbar-werden in performativem Vollzug. 114 Auf Prozesse des Zeigens kann daher ausschließlich performativ verwiesen werden. Die logische Form an sich ist unhintergehbar, sie ist ein gedankliches Konstrukt, kein Ding der Realität. Auf sie wird aber performativ, durch den Erfolg (die sichtbare Wirkung) des komplexen musikalischen Zeichens verwiesen. Mit seinem Jugendfreund Paul Engelmann tauscht sich Wittgenstein über Kunst, Literatur und seine Philosophie aus. Beide verbindet eine Liebe für das Alterswerk Goethes. Engelmann bietet in seinen Erinnerungen einen Spruch Goethes an, der den oben erläuterten Zu-

111 Susanne Langer, die sich mit dem Tractatus für ihre eigene Musikästhetik auseinander setzt, formuliert diese Tatsache prägnant: »We have to see in it the symbolic possibilities of ›form‹ in the larger sense, logical form. But logical form is not visible, it is conceptual. It is abstract; yet we do not abstract it from the work of art that embodies it. Somehow in perceiving the work, we see it not as having an expressive form, but as being one.« Langer, Problems of Art. Ten Philosophical Lectures, New York 1957, S. 30. 112 Vergl. u. a. Abel, »Sagen und Zeigen«, S. 65 f.; sowie Mersch, Was sich zeigt, 242 ff. 113 TLP, § 3.262. Es handelt sich hier noch nicht um die das spätere philosophische Denken Wittgensteins dominierende Gebrauchstheorie, wohl aber deren Anlage im Rahmen von Vollzügen als Bestandteil der Theorie des Satzes. »Das »Wie« der »Darstellungsweisen«, die »logische Form« wandelt sich zum Gebrauch, der Pluralität von Tätigkeiten, die das »Wie« einer Praxis anzeigt.« Mersch, Was sich zeigt, S. 243. 114 Vergl. Mersch, Was sich zeigt, S. 243.

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sammenhang des Schweigegebotes und der »paradoxen Materialität« in seiner Komplexität zu erhellen vermag: Bilde, Künstler! Rede nicht! Nur ein Hauch sei dein Gedicht. 115

Der Satz sagt nicht nur, was nach Wittgenstein verboten ist, nämlich zu reden, er stimmt auch mit dem überein, was er verbietet, und sagt gleichzeitig, was geboten ist, nämlich zu bilden. Goethe gebietet hier ein künstlerisch beredtes Schweigen, wie Wittgenstein auch. Engelmann legt den Zusammenhang mit Wittgenstein so aus: Was in meinem Innern, Jenseits und unterhalb der Sprachbildung, vorgeht, kann ebenso wenig ›abgebildet‹, dargestellt werden wie das, was bei der Abbildung der Wirklichkeit zwischen Abbild und Vorbild vor sich geht. Beides muß außerhalb des Aussprechbaren im Satz bleiben: ›Es geht nichts verloren‹ – es zeigt sich. Und dieses ›Sich zeigen‹ ist hier die Kunst. 116

Engelmann bezieht sich hier auf einen Brief von 1917, in dem Wittgenstein ihm über ein Gedicht von Uhland schreibt: Ich hatte ihm [Wittgenstein] ein Gedicht von Uhland geschickt, das ›so klar ist, daß es niemand versteht‹ (Karl Kraus) […] Er erwiderte: ›Das Uhlandsche Gedicht ist wirklich großartig. Und es ist so: Wenn man sich nicht bemüht, das Unaussprechliche auszusprechen, so geht nichts verloren. Sonden das Unaussprechliche ist, – unaussprechlich – in dem Ausgesprochenen enthalten!‹ Die bisher ganz unverstandene ›positive‹ Leistung Wittgensteins ist der Hinweis auf das, was sich an einem Satz zeigt. Und das, was sich am Satze zeigt, kann der Satz nicht auch noch aussprechen. Die Sätze der Dichtung z. B. wirken nicht durch das, was sie sagen, sondern, wie die Musik, die auch nichts sagt, durch das, was sich an ihnen zeigt. 117

Das »Unaussprechliche« kann in der »Arbeit des Künstlers«118 im Gedicht oder in der Musik enthalten sein und sich dort zeigen. Ganz in diesem Sinne ist auch die Suche Moses nach dem »Wort, das fehlt« am Schluss der Oper ein performativer Akt: In seinem Handeln erweist sich das Unaussprechliche wie in Goethes Spruch geschieht, was nicht

115 Aus Demut, unter Sprüche im Alterswerk, zit. n.: Somavilla (Hg.), Wittgenstein – Engelmann, S. 163, Fußnote 42. 116 Ebd. 117 Somavilla (Hg.), Wittgenstein – Engelmann, S. 100 (es handelt sich um einen Brief von Wittgenstein an Engelmann vom 9. April 1917). 118 VB, S. 456.

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Sagen und Zeigen

zu sagen ist. 119 Bei Schönbergs Mose schlägt die Suche nach dem fehlenden Wort letztlich in Schweigen um – die Oper bricht ab – ganz nach dem Wittgensteinschen Schweigegebot. Für Wittgenstein wird das »erlösende Wort« die intellektuelle Ruhelosigkeit beenden: Die Beruhigung in der Philosophie tritt ein, wenn das erlösende Wort gefunden ist. 120

Bei Wittgenstein schlägt die Suche nach dem richtigen Ausdruck in der Philosophie – zumindest einmal – in Musik um (wie das Fragment in der Einleitung belegt); eine gelungene Melodie wäre ihm der »Krystall« seines Denkens (vergl. »Einleitung«). 121 Die Zeichen der Logik, von denen Wittgenstein ausgeht, haben mit den Zeichen der Musik mehr gemein, als jene Zeichen, die Dinge repräsentieren. Im logischen Raum werden gleichsam probeweise Sachlagen zusammen gestellt, ihre Zusammenstellung geschieht in einem Moment und ist ganz und gar labil. Man kann sie sich vorstellen wie ein lebendes Bild, ein Tableau Vivant. Alle Darsteller der Szene müssen für einen Moment den Atem anhalten, damit die Zuschauer die Analogie der lebenden Darstellung mit dem gemalten Vorbild erkennen können. Und wenn der Vorhang unter dem Applaus der Zuschauer wieder fällt, verwandelt sich die Szenerie von der detailreichen Imitation wieder in ein buntes Durcheinander einzelner Elemente, deren Beziehung verloren ist. Die Sätze sind in gewissem Sinne solche lebenden Bilder. Sie sind »Veranstaltungen, in denen die Worte zu einer künstlichen Einheit gefügt werden und zum Erstaunen des Philosophen Sinn produzieren für den Moment, in dem sie einen Sachverhalt zu erkennen geben. Das Wesen der Sätze liegt in ihrer labilen und 119 Auch Wright verweist auf die gemeinsame Vorrangstellung des Handelns über der Theorie bei Schönberg und Wittgenstein, anhand der Faust-Stelle »Im Anfang war die Tat« (Wright, Schoenberg, S. 89 f.); und an anderer Stelle: »both, Schoenberg and Wittgenstein felt that ›action‹ and ›doing‹ – making values manifest in composition itself (for Schoenberg) and in life itself (for Wittgenstein) – were more legitimate modes of expressing value than erecting metaphysicalizing edifices of theory and philosophy.« (Ebd. S. 87). 120 BEE, MS 115, S. 30 (14. Dezember 1933); vergl. auch TB, Eintrag vom 20. Januar 1915, S. 129. 121 Und so ist die provokative Frage, ob die vielen Künstler, die sich vom Tractatus beeinflussen ließen »nur in Form eines produktiven Mißverständnisses« (Lütterfels/ Majetschak, Ethik und Ästhetik sind Eins, S. 7) an Wittgensteins Denken angeknüpft hätten, eindeutig zu verneinen.

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Musik im Tractatus

momentanhaften Sinnhaftigkeit, ihrem Leben – also: darin, daß sie Darstellungen sind, d. h. als solche gesehen werden.« 122 Und so ist der Tractatus ist auch in erster Linie kein Buch für Musikwissenschaftler oder Musiktheoretiker. Er ist ein sprachliches Kunstwerk und in seinen komplexen Bezügen nicht unbedingt praktische Handreichung zum Musikverständnis (dazu ist er auch nicht geschrieben worden). Bereits einer der ersten Tractatus-Interpreten hat auf die musikalische Grundstruktur des Werkes hingewiesen: Wenn man die Nummerierung [des Tractatus] als ein Gegenstück zu den Zeichen ansieht, mit denen in Notenschrift die Variation der Tonstärke bezeichnet wird, bekommt man eine Vorstellung von dem wogenden Rhythmus des Traktats und seiner Einteilung in Haupt- und Nebenthemen. 123

Ein besonders bemerkenswertes Moment an diesem Frühwerk Wittgensteins ist nämlich gerade, dass es so viele Musiker und zahlreiche andere Künstler inspirierte wie Barnett Newman, John Latham oder Derek Jarman. 124 Die »Vertonung« philosophischer Texte bzw. die direkte Inspiration durch den Klang ihrer Worte und die Phrasierung der Sätze ist eine große Seltenheit in der Musikgeschichte. (Nicht gemeint sind damit die durch die Lehren und Systeme bestimmter Philosophen beeinflussten Komponisten.) Es ist kaum vorstellbar, dass eine Komponistin oder ein Musikschaffender jemals auf die Idee kommen sollte, einen Text von Immanuel Kant zu vertonen. Über Wittgenstein dagegen sagt der britische Komponist Anthony Powers, dessen Arbeit A Picture of the World (für Countertenor, Klarinette und 16-stimmigen Chor, 2001) auf Texten des Philosophen basiert: »The phrasing, the form of words he uses, the way some sentences look as if they have

Nemeth, Otto Neurath und der Wiener Kreis, S. 64. Erik Stenius, Wittgensteins Traktat. Eine kritische Darlegung seiner Hauptgedanken, aus dem Englischen von Wilhelm Bader, Frankfurt a. M. 1969, S. 17; Stenius geht es vor allem um den Rhythmus: »[…] man kommt der Sache tatsächlich am nächsten, wenn man sagt, die Nummerierung zeige eine Art Rhythmus des Nachdrucks, der Betonung. Die Sätze 1,2,3,4,5,6,7 können als »forte«-Stellen angesehen werden, denen natürlicherweise Decrescendos folgen – aber denen auch Crescendos vorausgegangen sind.« (ebd.). 124 Zum Einfluss Wittgensteins auf verschiedene Schriftstellerinnen und Schriftsteller gibt Mathias Iven einen Überblick in: Ders., »Ein-flüsse und Aus-Flüsse. Wittgenstein als Thema«, in: Lütterfels/Majetschak, Ethik und Ästhetik sind Eins, S. 97–110. 122 123

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Sagen und Zeigen

meaning but actually go nowhere, are all amazingly musical, and it seems a perfectly natural thing to put it to music.« 125 Im Todesjahr des Philosophen komponierte Elisabeth Lutyens die Motette Excerpta Tractatus-logico-philosophicus (für unbegleiteten Chor, op. 27, 1951). Recht bekannt ist auch die Tractatus-Suite des finnischen Künstlers Mauri Antero Numminen aus ausgewählten Sätzen des Tractatus von 1966, bestehend aus sechs Liedern verschiedener Stile bzw. Gattungen wie Jazz, Rock oder Walzer, einem atonalen Lied sowie dem Marsch Wovon man nicht sprechen kann. 126 Bernd Alois Zimmermann übernahm Wittgenstein-Zitate in seine Textmontagen zu seinem Requiem für einen jungen Dichter (1967/69). In diesem Werk bekomme der Sprachspiel-Begriff eine programmatische Funktion: »Sprache wird […] vor allem in ihrem sprachpragmatischen Aspekt, in der Vielfalt ihrer funktionalen Verwendungsweisen eingearbeitet. […] Für Zimmermann ergibt sich dadurch die Möglichkeit, durch ein Auseinanderfallenlassen von semantisch-genetischem Gehalt der verwendeten Materialien und ihrer pragmatischen (Sprachspiel-)Funktion Spannungsverhältnisse zu komponieren, die politische, philosophische und religiöse Bedeutungsgehalte aufleuchten lassen.« 127 John Cage widmete sich Wittgenstein intensiv in seinen »Harvard-Lectures« (Charles Eliot Norton Lectures) 1988/89 und verwob seine philosophischen Ausführungen mit dem dort uraufgeführten Werk Mesostics I –VI (für einen Sprecher). 128 Steve Reich schloss sein Philosophiestudium mit einer Arbeit über Wittgensteins Spätwerk ab und nutzte später den Satz »How small a thought it takes to fill a whole life« für die Komposition Proverb (für Stimmen und Ensemble, 1995). Toru Takemitsu ließ sich 1969 für sein Werk Stanza I (für Gitarre, Klavier, Celesta, Harfe, Vibraphon und Sopran) von dem TractatusSatz 6.432 inspirieren: »Wie die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig.« Peter Ruzicka nutzte für sein 4. Streichquartett Zit. n. Simon Tait, »Mind over Music«, in: The Independent, 12. November 2003. Neueinspielung 1989 zum 100. Geburtstag Ludwig Wittgensteins. 127 Birnbacher, »Musik und Musikalisches bei Wittgenstein«, S. 49; Birnbacher bezieht sich in seiner Deutung auf Werner Pütz, »Musik und Sprache in der Kunst der Gegenwart. Ein Versuch in didaktischer Absicht«, in: Jochen Vogt (Hg.), Literaturdidaktik, Düsseldorf 1972, S. 18 f. 128 Vergl. hierzu u. a. Marjorie Perloff, »The music of verbal space: John Cage’s ›What you say‹«, abrufbar unter http://epc.buffalo.edu/authors/perloff/cage.html (Abruf vom 7. 9. 2010). 125 126

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Der »Indifferenzpunkt« von Sagen und Zeigen

»…sich verlierend« (für Streichquqartett und Sprecher, UA 1996) Textpassagen Wittgensteins für »das Protokoll eines musiksprachlichen Zerbrechens«. 129 Tibor Szemzö nahm 1995 die elektronische Komposition Tractatus auf. Laurie Anderson widmete Wittgenstein zwei Songs über seine Sätze »If You Can’t Talk About it, Point to it« und »Language is a Virus from Outer Space«, und Donnacha Dennehy komponierte 2000 Counting (für Streichquartett und Elektronik). Ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist Balduin Sulzers Tractatus logico-philosophicus (für Sopran solo und unterschiedliche Klanggeräte, 2007). Diese Aufzählung ist sicher nicht vollständig 130 , gibt aber einen Einblick in die Vielfalt der Musikerinnen und Musiker, denen der Tractatus offensichtlich Inspiration und der Text musikalisch genug war, um zu Musik zu werden. »Vielleicht gibt es noch einen anderen, bisher ungesehenen Zugang zu Wittgensteins Werk, dessen Entdeckung eher den Musikern als den Philosophen gelingen wird.« 131 Angesichts dieser Fülle an Kompositionen ist man fast geneigt zu sagen, dass diese Künstler den nicht geschriebenen, »schweigenden« Teil des Tractatus wahrgenommen und sein »Zeigen« für uns hörbar gemacht haben.

Der »Indifferenzpunkt« von Sagen und Zeigen – Vom Tractatus zu den Philosophischen Untersuchungen Dieses Kapitel dient dazu, einen Übergang zu beschreiben, wo Wittgenstein vordergründig keinen herstellt – nämlich zwischen dem Werkkommentar des Komponisten auf seiner Homepage. Hinzu kommen zahlreiche, durch Wittgenstein inspirierte Kompositionen ohne speziellen Tractatus-Bezug. Michael Torke orientierte sich 1985 in seiner Bright Blue Music (für Orchester) an Wittgensteinschen Ideen, 1999 benannte David Moss und Michael Rodach einen Titel ihres Albums »Fragmentary Blues« Wittgenstein Blues. 2000 widmete die Gruppe »Matmos« auf ihrem Konzeptalbum »The Rose has Teeth in the Mouth of a Beast« den Titel Roses and Teeth. Der Performance-Künstler Wolfgang Müller nahm 2003 die CD »Mit Wittgenstein in Krisuvik« auf und die Jazz-Sängerin Jacobien Vlasman beruft sich bei ihren begrifflosen Liedern auf eine intensive Wittgenstein-Lektüre. Vergl. weiterführend auch: Katrin Eggers, »›a perfectly natural thing to put it to music‹ – John Cage, Bernd Alois Zimmermann, Elisabeth Lutyens und Steve Reich komponieren Wittgenstein«, in: Kulturen und Werte. Wittgensteins KringelBuch als Initialtext, hrsg. v. Josef G. F. Rothhaupt und Wilhelm Vossenkuhl, Berlin 2013, S. 417–430. 131 Merkel, Geistige Landschaft, S. 671. 129 130

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Sagen und Zeigen

Tractatus und den Untersuchungen 132 – gleichzeitig aber der Hintergrund späterer Gedanken bereits voll präsent ist. Man kann in der Betrachtung einer Landschaft nur entweder den Vordergrund fokussieren oder den Hintergrund, es ist aber das eine ohne das andere überhaupt nicht zu verstehen (vergl. Kapitel »Morphologische Methode«). Ich kann daher hier vorerst nur den groben Bildraum beschreiben, um den Ausgangspunkt für die Problemfelder sichtbar zu machen, die in den folgenden Kapiteln ausgefaltet werden. An dieser Stelle ist die Frage gewissermaßen einfach die, warum Wittgenstein »es nicht beim Tractatus belassen konnte«; warum – um ein Motto von Karl Kraus zu paraphrasieren, welches durchaus auch für Wittgensteins Denken gelten könnte – warum ihm ein Wort, je näher er es ansieht, es gerade nach dem Tractatus »desto ferner zurücksieht«. Denn Wittgenstein hätte durchaus nach den Ausführungen im Tractatus den Unterschied zwischen Sprache und Musik insofern für ausreichend beschrieben halten können, als dass er ihn mit dem Unterschied zwischen Sagen und Zeigen gleichgesetzt hat. Zu dieser Schlussfolgerung kam Manfred Bierwisch nach seiner Lektüre des Tractatus 1978 und schlug einen Gegenbegriff zur »logischen Form« vor, der dem besseren Verständnis eines »musikalischen Codes« dienen sollte: Die »gestische Form«. 133 In seiner Hauptthese stellt Bierwisch fest, »daß die musikalische Codierung sich auf den Bereich der Emotionen bezieht, indem sie einen Aspekt fixiert, der als gestische Form zur Bedeutung musikalischer Zeichen wird – so wie die logische Form den sprachlich codierbaren Aspekt kognitiver Prozesse darstellt: Sie ist ein 132 Man bezeichnet nichtsdestotrotz ein gewisses Konvolut an Schriften als »Übergangsschriften«. (Vergl. hierzu Wolfgang Kienzler, Wittgensteins Wende zu seiner Spätphilosophie 1930–1932. Eine historische und systematische Darstellung, Frankfurt a. M. 1997.) So z. B. das sogenannte Big Typescript, in dem Wittgenstein seine Gedanken aus mehreren Notizbüchern von 1922–1933 zusammenfasst. Nur dass in diesem Typoskript bereits das gesamte Themenspektrum der »Spätphilosophie« präsent ist. Insofern sind die sonst an einer solchen Stelle schnell vorhandenen Begriffe »Bruch«, »Übergang«, »Weiterentwicklung« oder »Neuanfang« bei Wittgenstein immer mit einer gewissen Vorsicht anzuwenden. (Vergl. TBT, insbes. das Vorwort des Herausgebers Michael Nedo, sowie Fußnote 21, S. 20 dieses Buches zur Trennung von »Philosophie I« und »II«). 133 Dieser Exkurs basiert u. a. auf zwei wichtigen Texten von Manfred Bierwisch: Ders., »Musik und Sprache. Überlegungen zu ihrer Struktur und Funktionsweise«, in: Jahrbuch Peters. Aufsätze zur Musik, hrsg. v. Eberhardt Klemm, Leipzig 1979, S. 9–102, sowie dem Gespräch zwischen Christian Kaden und Manfred Bierwisch, »Musikwissenschaft und Linguistik. Eine Diskussion«, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 25 (1983), S. 196–237.

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Der »Indifferenzpunkt« von Sagen und Zeigen

ausgezeichneter Aspekt der vielschichtigen Gesamtheit emotionaler Prozesse und sie bildet die Bedeutung eines Typs von Zeichen, von denen die musikalischen die größte Differenzierung erlauben. Der Proposition als der zentralen Kategorie der logischen Form entspricht hier der Gestus als zentrale Kategorie der gestischen Form.« 134 Die »logische Form« ist, wie das vorhergehende Kapitel gezeigt hat, das gedankliche Konstrukt für das Bild eines Sachverhaltes, die komplizierte Anweisung für die Identifizierung eines Sachverhaltes. Dem stellt Bierwisch nun die »gestische Form« gegenüber, als gedankliches Konstrukt für das Bild einer Emotion, die komplizierte Anweisung, wie die fragliche Emotion zu identifizieren ist. Die Strukturidentität (wie im Bild der Grammophonplatte, s. o.) besteht hier zwischen der Konfiguration des emotionalen Raums und dem Gestus als Zeichen, wie dort zwischen dem logischen Raum und dem Satz als Zeichen. »Gestus« versteht Bierwisch als »Struktur eines kohärenten emotionalen Musters« oder genauer, als »der strukturell identifizierbare Aspekt« eines »Komplexes physiologischer Zustände oder Prozesse«. 135 Die Sprache ist demnach in der Lage, Tatsachen in einem abstrahierenden Sinne zu beschreiben, indem sie Sachverhalte in eine »logische Form« übersetzt. Komplexere Strukturen verlieren durch die abstrahierende Übertragung jedoch ihre unmittelbare, performative Komponente, da solche Muster nicht analog (unmittelbar abbildend) in Sprache aufgewiesen werden können: Man kann Emotionen beschreiben, über sie reden, sie benennen, aber nicht unmittelbar sprachlich darstellen. Zum Beispiel repräsentiert die Proposition »früher kannte ich mich hier einmal aus« einen zeitlich gebundenen, emotionalen Sachverhalt auf indirekte, abstrakte Weise durch die sprachliche Einheit »früher«. Dieses Wort ist arbiträr (wenn genügend Menschen statt »früher« in Zukunft nur noch »namplam« sagten, würde dieser Begriff den anderen ersetzen), und es ist diskret (es kann keinen kontinuierlichen Übergang darstellen, sondern ist ein fest umrissener Begriff). In Luigi Nonos Streichquartett von 1979/80 Fragmente – Stille, an Diotima, einem Stück, welches in keiner Weise und an keiner Stelle funktionsharmonisch tonal ist, entsteht bei Ziffer 28 ein g-Moll Dreiklang, der einige Zeit gehalten wird. Die Evokation einer instinktiven Vertrautheit dieser Stelle gegenüber dem Rest des Stückes ist auch für 134 135

Bierwisch, »Musik und Sprache«, S. 55. Ebd.

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den ungeübten Hörer spürbar. Dieses »früher«, dargestellt durch eine Reminiszenz an die vergangene Tonalität, verläuft aber unmittelbar als Emotion analog zum zeitlichen Verlauf des musikalischen Gestus ab. Der g-Moll Dreiklang ist nicht gleich der sprachlichen Einheit »früher«, er bedeutet sie auch nicht, sondern er ruft sie als »gestische Form« unmittelbar als Empfindung in der Zeit verlaufend, mithin zeigend, hervor. 136 Die Musik kann nicht beschreiben oder abstrahieren, da sie im eben beschriebenen Sinne bestimmte Zustände zeitlich und räumlich analog aufweist. Bierwischs Ausführungen münden schließlich in der These: »Sprachliche Äußerungen drücken Propositionen aus und sagen damit etwas über Sachverhalte, musikalische Äußerungen drücken Gesten aus und zeigen damit emotionale Muster. Und noch kürzer: Die Sprache sagt, die Musik zeigt, was sie mitteilt.« 137 Mit seiner linguistischen Begriffsschärfung für musikalische Zeichen ist dieser Text Bierwischs eine (noch zu wenig beachtete) wichtige Referenz in der Auseinandersetzung zu Musik und Sprache. Seine »gestische Form« ist eine mögliche »Anwendung« von Wittgensteins Konzept von Sagen und Zeigen auf Musik und ihre Analyse, indem die zugrundeliegenden Zeichenkategorien ermittelt, in Codierungsformen eingeteilt und verglichen werden. Aber Bierwisch verlässt in gewissem Sinne den von Wittgenstein eingeschlagenen Weg, indem er etwas tut, was Wittgenstein weder konnte oder wollte, noch überhaupt für sinnvoll erachtete: Bierwisch entwickelt ein von der Sprachwissenschaft herkommendes, in sich schlüssiges, semiotisches System mit bestimmten, ordnenden Zeichenkategorien und überwiegend definierbaren Geltungsbereichen. Ich habe bereits im Vorwort auf die Verweigerung einer hinweisenden Begriffsdefinition Wittgensteins hingewiesen, die folgenden Kapitel dieses Buches dienen nun auch dazu, diese Verwei136 Zu dem speziellen Verhältnis der Zeitlichkeit von Musik und ihrer Bedeutung vergl. in jüngeren Publikationen aus philosophischer Perspektive u. a. Andreas Luckner, »Musik – Sprache – Rhythmus. Bemerkungen zu Grundfragen der Musikphilosophie«, in: Ulrich Tadday (Hg.), Musikphilosophie (= Sonderband Musik-Konzepte 11/07), München 2007, S. 34–69; Patrick Primavesi, Simone Mahrenholz (Hg.), Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten, Schliengen 2005; Richard Klein, Eckhard Kiem, Wolfgang Ette (Hg.), Musik in der Zeit, Zeit in der Musik, Weilerswist 2000; HansHeinrich Eggebrecht, Musik als Zeit, hrsg. v. Albrecht von Massow, Matteo Nanni und Simon Obert, Wilhelmshaven 2001. 137 Manfred Bierwisch, »Musik und Sprache«, S. 60.

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gerung darzustellen, als zwar durchaus in der romantischen Musikphilosophie wurzelnde, aber nach dem strengen »Reinigungsprozess« Wittgensteins von ihrem »bläulichen Dunst«138 befreite, konsequent moderne Haltung. Die Entwicklung semiotischer Kategorien (so er sie denn überhaupt kannte 139 ) empfindet Wittgenstein nicht als »Problem«, sie sind gewissermaßen nicht das, worauf er hinaus will. Die Sprachwissenschaft – hier vertreten durch Bierwisch – interessiert sich naturgemäß für die Dinge, über die man »sprechen kann«, die zu ordnen, kategorisieren und benennen sind. In diesem Sinne kann man sowohl den Bereich des Sagens als auch den des Zeigens behandeln, und so überhaupt erst die Basis für wissenschaftliche Operationen schaffen. Man kann sich nun Wittgenstein vorstellen, wie er gewissermaßen ungeduldig diesen Bestrebungen zunickt und hinzufügt: Ja, aber – Die Tatsachen gehören alle nur zur Aufgabe, nicht zur Lösung. 140

Denn, so bekennt er gegen Ende seines Lebens: Wissenschaftliche Fragen können mich interessieren, aber nie wirklich fesseln. Das tun für mich nur begriffliche und ästhetische Fragen. Die Lösung wissenschaftlicher Probleme ist mir, im Grunde, gleichgültig; jener andern Fragen nicht. 141

Nur bedingt interessiert Wittgenstein sich für die definitorische Arbeit beiderseits der Grenze von Sagen und Zeigen, »fesseln« tut ihn vielmehr der unsagbare Bereich 142 dazwischen, der »Indifferenzpunkt« 143 zwiSomavilla (Hg.), Wittgenstein – Engelmann, S. 110. Vergl. Christian Richard Gülde, »Peirce und Wittgenstein«, in: Sagen und Zeigen. Wittgensteins ›Tractatus‹, Sprache und Kunst, hrsg. v. Chris Bezzel, Berlin 2005, S. 201– 220. 140 TLP, § 6.4321. Vergl. hierzu u. a. auch Peter M. S. Hacker, »Als das Pfeifen verstummen mußte«, in: Hans Julius Schneider, Matthias Kroß (Hg.), Mit Sprache spielen. Die Ordnungen und das Offene nach Wittgenstein, Berlin 1999, S. 95–117, hier S. 95 ff. 141 VB, S. 563. 142 Den Topos des »Unsagbaren« gibt Wittgenstein während seiner verschiedenen Denkphasen nie auf, was gelegentlich in Bezug auf die späteren Schriften sehr zurückhaltend zugegeben wird: »Während das Unsagbare als zentrales Element des Tractatus anerkannt wird, schreiben nur wenige Kommentatoren über das Unaussprechliche in den Philosophischen Untersuchungen.« (Schalkwyk, »Wittgensteins ›unvollkommener Garten‹«, in: Wittgenstein und die Literatur, S. 85). 143 »Indifferenzpunkt« ist ein Begriff, den Novalis für den Bereich benutzt, in dem Sprache in Poesie oder Musik übergeht. (»Wie man manche Gedichte in Musik setzt, 138 139

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schen Musik und Sprache, über den man eben gerade nicht sprechen kann. Alles, was also gesagt werden kann (die Tatsachen), ist nicht Bestandteil des »eigentlichen Problems«. Ein Philosoph muss zwar nach Wittgenstein zunächst empirische Sätze oder Propositionen betrachten, um dann denjenigen, die etwas darüber Hinausgehendes sagen wollen, zu beweisen, dass gewisse Zeichen in ihren Sätzen keine Bedeutung haben. 144 Denn: »Wenn sich eine Frage überhaupt stellen läßt, so kann sie auch beantwortet werden.« 145 Aber diese Art, nur mittels modaler Aussagen über das Verhältnis von Musik, Sprache und Wirklichkeit Philosophie zu betreiben, ist auf Dauer nicht Wittgensteins Ziel. Im Gegenteil, der vorletzte Paragraph des Tractatus lautet: Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wer durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. 146

Alle »Probleme«, die überhaupt artikuliert werden können, sind auch auf diskursiv-logischem Wege lösbar. In diesem Sinne behauptet Wittgenstein daher im Vorwort zum Tractatus: warum setzt man sie nicht in Poësie«, in: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hrsg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, Bd. 2. Das philosophisch-theoretische Werk, S. 596). Der »Indifferenzpunkt« wird als ein Ort verstanden, in dem die Differenz zwischen diesen menschlichen Ausdrucksformen in einer höheren Einheit aufgehoben ist. Ich habe den Begriff unter anderem auch gewählt, um die Herkunft einiger Gedanken Wittgensteins aus der romantischen Musikphilosophie zu betonen. Ein Verweis auf Schopenhauer wurde mittels des »sub speciae aeternitatis« bereits gegeben (vergl. Kapitel »Musik im Tractatus«). Gerade aber die Nähe der Philosophie des Tractatus und der philosophischen Fragmente von Novalis in Bezug auf die Musik (aber auch Wittgensteins sonstige Philosophie) erscheint mir besonders frappierend und sehr ergiebig für eine gesonderte Untersuchung. Nicht nur, dass Novalis in ganz ähnlicher Weise über musikalische Logik spricht, die sich abbildet; er bezeichnet Musik im Allgemeinen Brouillon (1798/99) auch als die »allgemeine n Sprache« überhaupt und die allgemeinste unter den Künsten (ebd. S. 516, auch S. 490). Ganz besonders auffällig scheint mir die Nähe des Tractatus zu Novalis’ Dialogen und Monolog (1798), der in sechs Schritten die Möglichkeiten der Sprache verhandelt und schließlich im siebten Schritt zu Schweigen gebietet. Das mag Zufall sein, unbedeutend ist es nicht. (Vergl. hierzu insbesondere den Abschnitt über Novalis in Barbara Naumann, »Musikalisches Idee-Instrument«. Das Musikalische in Poetik und Sprachtheorie der Frühromantik, Stuttgart 1990). 144 Vergl. TLP, § 6.53. 145 TLP, § 6.5. 146 TLP, § 6.54.

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Der »Indifferenzpunkt« von Sagen und Zeigen

Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen gelöst zu haben.

Nur, dass es dabei nicht bleiben kann, denn all dies gehört noch »zur Aufgabe, nicht zur Lösung« (s. o.). Und so besteht nun der Wert dieser Arbeit [des Tractatus] zweitens darin, daß sie zeigt, wie wenig damit getan ist, daß diese Probleme gelöst sind. 147

Selbst wenn wir in der Lage sein sollten, »alle möglichen wissenschaftlichen Fragen« 148 zu beantworten, fühlten wir doch, so Wittgenstein, dass »unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.« 149 Selbst wenn wir allen sicht- und hörbaren Geheimnissen eines Musikstücks auf den Grund gekommen wären, wäre seine besondere Bedeutung für uns nicht im Mindesten erklärt; oder, wie Arnold Schönberg in einem berühmt gewordenen Brief an seinen Schwager Rudolf Kolisch, den Primarius des Kolisch-Quartetts, schrieb: Die Reihe meines Streichquartetts [op. 30] hast Du richtig (bis auf eine Kleinigkeit […]) herausgefunden. Das muß eine sehr große Mühe gewesen sein, und ich glaube nicht, daß ich die Geduld dazu aufbrächte. Glaubst Du denn, daß man einen Nutzen davon hat, wenn man das weiß? Ich kann es mir nicht recht vorstellen. Nach meiner Überzeugung kann es ja für einen Komponisten, der sich in der Benützung der Reihen nicht gut auskennt, eine Anregung sein, wie er verfahren kann, ein rein handwerklicher Hinweis auf die Möglichkeit, aus den Reihen zu schöpfen. Aber die aesthetischen Qualitäten erschließen sich von da aus nicht, oder höchstens nebenbei. Ich kann nicht oft genug davor warnen, diese Analysen zu überschätzen, da sie ja doch nur zu dem führen, was ich immer bekämpft habe: zur Erkenntnis wie es gemacht ist; während ich immer erkennen geholfen habe: was es ist! 150

Dieses »was es ist«, kann sich allein zeigen. Und diese Art performativer Herstellung von »Sinn« ist nicht mehr Teil der Aufgabe, sondern Teil der Lösung, weil – im Sinne Wittgensteins – schon die Frage nach diesem »Sinn« gar nicht sprachlich gestellt werden kann (denn, noch

TLP, Vorwort, S. 10. TLP, § 6.52. 149 TLP, § 6.52. 150 Brief von Arnold Schönberg an Rudolf Kolisch vom 27. Juli 1932, in: Arnold Schönberg. Briefe, hrsg. und ausgewählt v. Erwin Stein, Mainz 1958, S. 178 f.; Schönberg erwartete von einer Analyse in erster Linie die Darstellung des »musikalischen Gedankens« (vergl. hierzu u. a. Manuel Gervink, Arnold Schönberg und seine Zeit, Laaber 2000, S. 254). 147 148

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einmal: »Wenn sich eine Frage überhaupt stellen läßt, so kann sie auch beantwortet werden.« 151 ). Was aufgrund der Natur der Darstellungsweise nicht diskursiv artikuliert werden kann, kann dagegen sehr wohl in relevanten Merkmalen desselben Systems gezeigt werden. Nach diesen seltenen Fällen analog seiner Seinsweise gezeigten Sinns ist Wittgenstein beständig auf der Suche, und er findet sie auf dem Grenzpunkt zwischen Musik und Sprache, wie eine Erinnerung Engelmanns beschreibt: Wittgensteins höchstes Entzücken war Mörikes unsterbliche Erzählung ›Mozart auf der Reise nach Prag‹ und hier noch besonders die Stellen, wo musikalische Wirkung in Worten wiedergegeben sind […]. Es ist sonst etwas Gewagtes, wenn versucht wird, das, was der Musik gelungen ist, in Worten anzudeuten. Aber wo es ausnahmsweise gelingt, ist es, wie hier, ein selten erreichter Gipfel der dichterischen Sprache und damit des sprachlichen Ausdrucks überhaupt. Hier war eine der großen Stellen der Dichtung, die Wittgensteins innerstes Sprachproblem berührte: das der Grenze zwischen dem Unaussprechbaren und dem doch möglichen Ausdruck. 152

Dieser Sinn ist zwar nicht »wissenschaftlich« greifbar, aber das ist in der uns umgebenden musikalischen Wirklichkeit nicht eigentlich ein »Problem«, so Wittgenstein (was seiner Meinung nach auch daran liegt, dass unser Verständnis von »Wissenschaftlichkeit« uns bei ästhetischen Problemen überwiegend in die Irre führt). Es ist aber nicht deshalb »kein Problem«, weil es unbedeutend wäre, sondern deshalb, weil es »In der Kunst […] schwer [ist] etwas zu sagen, was so gut ist wie: nichts zu sagen« 153 – was nicht heißt, nichts zu tun! Denn gerade das Sprechen über Kunst geschieht meist nur defizitär (vergl. Kapitel »Ästhetik?«), und Wittgenstein beobachtet, dass körperlich-gestische Ausdrucksmöglichkeiten oft ein angemessenerer Ausdruck zu sein scheinen: Viele Menschen haben das Gefühl: ›Ich kann eine Gebärde machen, aber das ist alles.‹ Ein Beispiel ist, über eine bestimmte Musikphrase zu sagen, daß in ihr eine Schlußfolgerung gezogen wird: ›Obwohl ich um mein Leben nicht sagen könnte, warum da ein ›darum‹ ist!‹ Du sagst in diesem Fall, daß es unbeschreibbar ist. 154

151 152 153 154

TLP, § 6.5. Somavilla (Hg.), Wittgenstein – Engelmann, S. 102 f. VB, S. 481. VÄ, S. 56.

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Der »Indifferenzpunkt« von Sagen und Zeigen

Mit anderen Worten: Wittgenstein fordert uns auf, viel genauer darüber nachzudenken, wie wir uns sprachlich der Musik nähern, sie beschreiben und mit ihr umgehen: Das ist die eigentliche Frage, der neue musikalische Blickwinkel der Philosophischen Untersuchungen und der übrigen späteren Schriften. Künstlerischer Ausdruck hat für Wittgenstein die Natur des Gestus155 und kann im oben genannten Sinne nur durch präsentative Formen nachvollzogen werden. Was für die Musik so einleuchtend und normal scheint, ist nach Wittgenstein ausgerechnet dort in großem Maße am Werk, wo wir es nicht vermuten, weil wir uns durch den täglichen Umgang bestens auszukennen wähnen: In der Sprache. Was wir für die Musik nicht bezweifeln, dass sie in erster Linie präsentativer Weise, mit Sachverhalten in der Welt interagiert, gelte im Alltag auch für die tatsächlich beobachtbaren Sprachhandlungen zwischen Menschen jenseits abstrakter Lehrbuchbeispiele, die ebenfalls nur zu einem Teil im Bereich der artikulierbaren Propositionen liegen: In der Wortsprache ist ein starkes musikalisches Element. (Ein Seufzer, der Tonfall der Frage, der Verkündigung, der Sehnsucht, alle die unzähligen Gesten des Tonfalls.) 156

Und wenn die Sprache ganz anders zu verstehen ist, als wir bisher dachten, dann müssen wir notwendigerweise, so Wittgenstein, auch unser Verständnis von Musik neu überdenken. So kommt er schließlich zu der zentralen Feststellung über die zu verändernde Sichtweise auf das Verstehen von Musik und Sprache, die er im Laufe seines Lebens mit immer neuen Formulierungen unter verschiedenen Blickwinkeln verfolgt (und die im Folgenden noch in einigen Variationen auftauchen wird): Das Verstehen eines Satzes der Sprache ist dem Verstehen eines Themas in der Musik viel verwandter als man etwa glaubt. Ich meine es aber so: daß das Verstehen des sprachlichen Satzes näher als man denkt, dem liegt, was man gewöhnlich Verstehen des musikalischen Themas nennt. 157

155 Vergl. z. B. VÄ, S. 57. Insofern entwickelt Bierwisch, um das noch einmal zu betonen, tatsächlich eine mögliche Ausweitung der Frühphilosophie unter semiotischen Gesichtspunkten. 156 Z, Nr. 161. 157 PU I, § 527.

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Sagen und Zeigen

Diese Feststellung hat gleich eine ganze Fülle von Konsequenzen, um die es in den folgenden Kapiteln gehen wird. So wie die Sprache sich in bestimmten Fällen dem »Indifferenzpunkt« der musikalischen Seite zuneigt, könne es auch auf Seiten der (nicht text- oder programmgebundenen) Musik zu einer Annäherung kommen: Aber das bedeutet nicht, daß du nicht eines Tages sagen kannst, dass etwas eine Beschreibung ist. Vielleicht findest du eines Tages das Wort oder du findest den Vers, der paßt. ›Es ist, als ob er sagt: ›…‹,‹ und du hast einen Vers. Und nun sagst du vielleicht: ›Und nun verstehe ich.‹ 158

Vergleiche, sprachliche Bilder und Metaphern können demnach das semantische Potenzial sprachlicher Bezugnahme auf ästhetische Eindrücke erweitern und vielleicht Möglichkeiten schaffen, die Grenzen des »Unsagbaren« immer genauer kennen zu lernen. Denn, so Wittgenstein: Nichts ist doch wichtiger, als die Bildung von fiktiven Begriffen, die uns die unseren erst verstehen lehren. 159

Solche zeigenden Exemplifikationen der Kunst schaffen neue, einzigartige und unverwechselbare Symbole und damit auch neue Strukturen, auf die unsere diskursive Wahrnehmung dann in einem zweiten Schritt aufbauen kann. Sie sind in der Lage, komplexere Bezugssysteme darzustellen als die in der Darstellung ihrer Relationen natürlicherweise beschränkte Sprache. (Wäre diese nicht in ihren Relationen beschränkt, wäre eine Verständigung im Alltag unmöglich.) 160 VÄ, S. 56. VB, S. 555. 160 Vergl. hierzu auch David Schalkwyk, »Fiction as ›Grammatical Investigation‹ : A Wittgensteinian View«, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 53 (1995), S. 287– 298; sowie Susanne Langers Argumentation zur Erweiterung des diskursiven Raumes mithilfe künstlerischer Expemplifikationen, vergl. z. B. Katrin Eggers, »›The Matrix of Mentality‹. Susanne K. Langers Symboltheorie in Abgrenzung zu Nelson Goodman«, in: Musik und Ästhetik, hrsg. v. Ludwig Holtmeier, Richard Klein und Claus-Steffen Mahnkopf, 14. Jg/Heft 53 (Januar 2010), S. 20–36; in der Musikwissenschaft gibt es seit den 90er Jahren eine starke Neigung zu der metapherntheoretischen Unterscheidung zwischen Abstraktion und Exemplifikation insbesondere in der Nachfolge Nelson Goodmans, dessen Kategorien sich (mit anderer Stoßrichtung) unverkennbar auf Wittgenstein zurückverfolgen lassen. (Vergl. Simone Mahrenholz, Musik und Erkenntnis. Eine Studie im Ausgang von Nelson Goodmans Symboltheorie, Stuttgart/Weimar 1998; Christian Thorau, »Metapher und Variation – Zur referenztheoretischen Grundlegung 158 159

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Der »Indifferenzpunkt« von Sagen und Zeigen

In seinen Tagebüchern notiert Wittgenstein, der sich ansonsten mit Ausdeutungen sehr zurückhält, ein relativ konkretes Beispiel für die oben angeführte Phrase »Es ist, als ob er sagt: ›…‹«: Von dem letzten Satz eines der letzten Beethovenschen Quartette den er [Ramsey] mehr als vielleicht alles andere liebte sagte er mir er fühle dabei die Himmel seien offen. Und das bedeutete etwas wenn er es sagte. 161

Hier scheint eine bedeutungstheoretische Anerkennung der Bildlichkeit bzw. der Metaphorik vorzuliegen, die auf den ersten Blick nicht so recht zu Wittgensteins sonstigen Bemerkungen passen will. Eigentlich kann ein Gefühl »offener Himmel« nicht »etwas« bedeuten, wenn diese Begriffe in alltäglichen Sprachspielen nicht in dieser Weise gebraucht werden (dazu im folgenden Kapitel mehr). Die Wörter »Gefühl«, »offen« und »Himmel« werden in der Umgangssprache, wenn auch nicht in der Weise von Ramseys Bild, so doch in anderen, alltäglicheren Kontexten verwendet. Sie bleiben daher bedeutungsvoll, wenn Ramsey sie in eine neue grammatische Umgebung stellt (d. h. wenn er mit der »Tiefengrammatik« der Ausdrücke spielt). Dazu kommt, dass der musikalische Ramsey in den Augen Wittgensteins ein »Kenner« war (zur »Tiefengrammatik« und »Kennerschaft« vergl. Kapitel »Ästhetische Urteile«). An dieser Stelle kann bereits vorläufig festgehalten werden, dass es gerade Wittgensteins Abrücken von einem repräsentationistischen Begriff des sprachlichen Zeichens ist, welches ihm die unverkrampfte Sicht auf den Sinn metaphorischen Sprechens ermöglicht. Denn, »sprachliche ›Eigentlichkeit‹ als Wortbedeutung läßt sich nun nicht mehr ernsthaft trennen von vermeintlich uneigentlicher Bildhaftigkeit.« 162 Sprachliche Bilder übertragen nach Wittgenstein keine Bedeutungen, sondern grammatische Strukturen, »ihr Modus ist das Präsentieren im Gegensatz zum Repräsentieren«. 163 Auch metaphorische musikalischer Metaphorizität«, in: Zeitschrift für Semiotik 25 (2003), S. 109–124; sowie Ders./Michael Polth/Oliver Schwab-Felisch (Hg.), Klang – Struktur – Metapher. Musikalische Analyse zwischen Phänomen und Begriff, Stuttgart 2000. 161 D, Eintrag vom 27. April 1930, S. 21. Der Philosoph und gute Freund Wittgensteins, Frank Ramsey, war im Januar 1930, also drei Monate vor diesem Tagebucheintrag, gestorben. Der transzendentale Kern dieser Metapher mag für Wittgenstein daher eine besondere, persönliche Bedeutung haben. 162 Bezzel, Wittgenstein, S. 104. 163 Jens Kertscher, »Von der Metapher zur Bildmetapher. Überlegungen im Anschluss an Davidson und Wittgenstein«, in: Wittgenstein und die Metapher, hrsg. v. Ulrich Arnswald, Jens Kertscher, Matthias Kroß, Berlin 2004, S. 194.

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Sagen und Zeigen

Sprechhandlungen fallen unter Wittgensteins Diktum, dass »die Sprache selbst […] das Vehikel des Denkens« ist; auch hier »schweben mir nicht neben dem sprachlichen Ausdruck noch ›Bedeutungen‹ vor«. 164 Mithin überwindet Wittgensteins Denken die Abbildtheorie der Sprache und die aristotelische Differenz von »eigentlicher« und »uneigentlicher« Wortbedeutung. Damit stellt er jenes Transportmodell der Sprache infrage, nach welchem der Sprecher sprachliche Bilder und Metaphern verwendet und/oder kreiert, um so vielleicht einen besonders abstrakten Gedanken mitzuteilen. Dieter Mersch stellt in seiner großen Studie zu »Sagen und Zeigen« das fein verästelte »Ereignis« performativer Sinnherstellung und -erweiterung mittels sprachlicher Bilder (und letztlich auch mittels Musik) in die Nachfolge Wittgensteins: »Es geht also darum, das Sichzeigende, Begegnende in seiner Singularität zugleich zu lassen und zu sagen. Gleichwohl wäre dies wiederum nur möglich in einem zeigenden Medium. Ein Diskurs, der wesentlich zeigt, wäre aber eo ipso ein metaphorischer Diskurs. Zwar verbleibt er in der Rede – er spricht; aber die Metapher erfüllt ihre Funktion weniger in Bezug auf das, was sie jeweils zur Sprache bringt, als darin, daß sie auf etwas hinlenkt, was primär kein Sagen ist. Entscheidend ist darum nicht die Wahl des Bildes, des Vergleichs; dies betrifft lediglich ihre rhetorische Struktur, ihre besondere Figuralität: entscheidend ist vielmehr ihr Vollzugscharakter, ihre performative Stellung im Diskurs. Metaphern sind Wege; sie beschreiben Annäherungen ans Ungesagte. Darum verbleiben sie stets im Vorläufigen. An ihnen stellt sich weder die Frage nach ihrer Richtigkeit noch nach ihrem Zutreffen, ihrer Adäquanz: Ihre Redeform ist das Weisen, die ›Zeige‹.« 165 Sprachliche Bilder dürfen bei Wittgenstein nicht mehr als Abbilder irgendwelcher Entitäten begriffen werden. Sie sind vielmehr Ausdruck von sprachlicher Kreativität durch den phantasievoll-spielerischen Umgang mit Konventionen auf der Basis analoger Strukturen. 166 Mithilfe anderer gestischer Formen kann die Annäherung der Musik (wenn

PU I, § 329. Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 40; Mersch weist ebd. den Begriff der »Zeige« als von Heidegger her kommend aus. 166 Vergl. auch Hans Julius Schneider, »Das Prinzip der Ausdrückbarkeit, die Grenzen des Sagbaren und die Rolle der Metapher«, in: Wittgenstein und die Metapher, hrsg. v. Ulrich Arnswald, Jens Kertscher, Matthias Kroß, Berlin 2004, S. 77. 164 165

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Der »Indifferenzpunkt« von Sagen und Zeigen

auch nicht aller Musik) an den »Indifferenzpunkt« zwischen Musik und Sprache gezeigt werden: Das Verstehen eines Satzes ist dem Verstehen eines Musikstücks verwandter als man glauben würde. Warum müssen diese Takte gerade so gespielt werden? Warum will ich das Zu- und Abnehmen der Stärke und des Tempos gerade auf dieses Bild bringen? – Ich möchte sagen: ›weil ich weiß, was das alles heißt‹. Aber was heißt es denn? – Ich wüßte es nicht zu sagen. Ich kann als Erklärung nur das musikalische Bild in das Bild eines anderen Vorgangs übersetzen; und dieses Bild jenes beleuchten lassen. 167

Eines der beliebtesten deutschen Gedichte ist wohl Goethes Wanderers Nachtlied. Das will auf den ersten Blick nicht unbedingt einleuchten, denn syntaktisch ist der kurze Text schnell analysiert und semantisch relativ klar. Selbst die (konventionell erlernte) Mehrdeutigkeit der »Ruhe« – der irdischen Nachtruhe wie der ewigen Ruhe im Jenseits – wäre nur Kennzeichen einer weiteren von zahlreichen »memento mori-Dichtungen«, wäre da nicht eine Komponente, die nur aus dem Zusammenspiel von formalen, semantischen und pragmatischen Elementen erklärbar wäre: Die außergewöhnlich performative Anordnung der Elemente. Das Sprech- und Hörgefühl der Lautung und Agogik mit seinem sich weitenden und wieder verengendem Vokalraum im Rachen korrespondieren in außergewöhnlichem Maße mit den körperlichen und geistigen Erfahrungen eines besonderen, herausgehobenen Zustands. 168 Und Wittgenstein wird nicht müde darauf hinzuweisen, wenn er fordert: Vergiß nicht, daß das Gedicht, wenn auch in der Sprache der Mitteilung abgefasst, nicht im Sprachspiel der Mitteilung verwendet wird. 169

Sprache, die nicht »im Sprachspiel der Mitteilung verwendet wird«, mithin nicht im Kontext einer reinen Informationsvermittlung, entfaltet ihre volle Bedeutung – wie Musik – erst im Erklingen. Das Nachtlied lebt durch seinen Klang, seine Aussprache, die ja notwendigerweise physikalisch–akustisch analog stattfindet. Der Klang gibt den Worten ihren gestischen Gehalt, obwohl sie sprachlich diskrete, absPG I, Nr. 4. Vergl. zu diesen Ausführungen Chris Bezzel, »Sprachkörper. Für eine phonologische Poetik«, in: Kodikas/Code 31 (2008), Nr. 1–2, S. 69–90. Bezzel erläutert in diesem Text seine Theorie der »oralen Gestik« in bestimmten Gedichten und verweist auf die semiotische Herkunft dieses Gedankens bei Wittgenstein. 169 Z, Nr. 160. 167 168

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Sagen und Zeigen

trakte Einheiten bleiben. Spräche man beispielsweise nur die Vokale, um ein rein klangliches Phänomen zu erzeugen, fehlte das Bild der Sachverhalte, die Stelle verlöre einen Teil ihrer Bedeutung. Dass Worte in gewissen Kontexten mehr sein können, als ihre lexikalische Konvention erlaubt, liegt an ihrer lautlichen und rhythmischen Gestalt, an ihrem »Gestus« wie man schließlich umgangssprachlich auch sagt. Insbesondere Lyrik kann daher zu einem Bindeglied zwischen Sprache und Musik, zwischen Sagen und Zeigen werden. In ihr verbinden sich Sachverhalte und emotionale Muster nicht statisch, sondern im Hinund Herfließen zwischen zwei Polen menschlicher Ausdrucksweisen bis hin zu ihrem »Indifferenzpunkt«. Letztlich ist für Wittgenstein eines klar: Über die Sprache lässt sich nicht sprechen, denn dazu müssten wir mit der Sprache über die Sprache hinaus, was unmöglich ist; allenfalls lässt sich von ihr sprechen. Die Sprache verweigert sich der Reflexion über sich, »sie nimmt sich in dem Maße im Sprechen zurück, wie sie sich durch es enthüllt. Wittgenstein sucht darum dem Sagen zu ent-sagen, um zum Zeigen zu gelangen.« 170 Das kann nur performativ geschehen: Gesprochenes kann man nur durch die Sprache erklären, drum kann man die Sprache selbst, in diesem Sinn, nicht erklären. Die Sprache muss für sich selbst sprechen. 171

Daraus folgt, dass es keine erschöpfende Philosophie der Sprache geben kann, die sich nicht selbst reduzierte, weil Sprache sich beständig ereignet – »eine Konsequenz, die Wittgenstein in seinem lediglich noch ›exemplifikatorisch‹ verfahrenden Philosophischen Untersuchungen dadurch gezogen hat, daß er nicht mehr ›über‹ das ›Wie‹ und das ›Daß‹ der Sprache, mithin auch nicht mehr ›über‹ die Differenz von Sagen und Zeigen spekulierte, sondern diese in die Methode der Beschreibung selbst eingehen ließ, indem er nurmehr partielle Sprachspiele als ›kritische Vergleichsmodelle‹ vorführte, die sich am Beispiel selber erläutern. Man könnte daher sagen: die Untersuchungen gehen nicht länger logisch vor, sondern aufweisend. Sprache, genauer: die Pluralität von Mersch, Was sich zeigt, S. 253. PG I, Nr. 2. Ich finde es bemerkenswert, dass gerade in diesem Zusammenhang eine Seite später von dem musikalischen Verständnis der Sprache die Rede ist (vergl. PG I, Nr. 2). Dieser Aphorismus wird später noch zitiert werden, hier soll nur einer der Kontexte heraus gehoben werden, in welchem er in dieser Version zu finden ist. 170 171

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Der »Indifferenzpunkt« von Sagen und Zeigen

Sprachspielen zeigt sich in ihrem Gebrauch; sie vollzieht sich gleichsam performativ, wohingegen das ›Daß‹ der Wirklichkeit nur erscheinen kann, wo die Sprache schweigt«. 172 Und so kommt es zu Wittgensteins Schlussfolgerung: Ich glaube meine Stellung zur Philosophie dadurch zusammengefaßt zu haben, indem ich sagte: Philosophie dürfe man eigentlich nur dichten. 173

172 173

Mersch, Was sich zeigt, S. 253 f. VB, S. 483.

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II. Lebensform Musik als »Stadtteil der Sprache«: Sprachgebrauch, Sprachspiele, Regeln

Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache. 1 Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat. 2

Pragmatik: Sprachgebrauch statt Wortbedeutung Wittgensteins frühe Überlegungen zur »Sprachkritik« wollten letztendlich die Funktionsweisen von Sätzen, Begriffen und Tatsachen offenlegen, indem sie nach dem Verhältnis einer logischen Abbild-Struktur zur Wirklichkeit suchten. Durch die exakte Eingrenzung des Geltungsbereichs einer idealen Sprache sollte das »Wesen allen Seins« 3 ergründet werden können, mithilfe dessen schließlich die »Kenntnis des Wesens der Logik […] zur Kenntnis des Wesens der Musik führen« sollte. 4 Doch die sprach-regulierenden Absichten des Tractatus konnten, wie Wittgenstein in den folgenden Jahren selbstkritisch feststellt, die sprach-praktische Wirklichkeit weder je erschöpfend erklären, noch adäquat beschreiben: Es ist interessant, die Mannigfaltigkeit der Werkzeuge der Sprache und ihrer Verwendungsweisen, die Mannigfaltigkeit der Wort- und Satzarten, mit dem zu vergleichen, was Logiker über den Bau der Sprache gesagt haben. (Und auch der Verfasser der Logisch-Philosophischen Abhandlung.) 5

1 2 3 4 5

PU I, § 109. PU I, § 119. TB, Eintrag vom 22. Januar 1915, S. 129. TB, Eintrag vom 7. Februar 1915, S. 130. PU I, § 23; Wittgenstein meint sich selbst und seinen Tractatus.

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Musik als »Stadtteil der Sprache«: Sprachgebrauch, Sprachspiele, Regeln

Für Wittgenstein ist es nicht nur im Bereich der Ästhetik, sondern auch bei allen anderen Begriffen sinnlos, nach ihrer tieferen Bedeutung jenseits ihrer alltäglichen Verwendungsmöglichkeiten zu fragen. Denn diese Fragen würden unvermeidlich in einen Zirkelschluss führen; die Annahme unabhängiger Bedeutungen konstituiert eine »Über-Sprache«, die wiederum das Bedürfnis erzeugt, nach ihr zu suchen: Wir sind in der Täuschung, das Besondere, Tiefe, das uns Wesentliche unserer Untersuchung liege darin, daß sie das unvergleichliche Wesen der Sprache zu begreifen trachtet. D. i., die Ordnung, die zwischen den Begriffen des Satzes, Wortes, Schließens, der Wahrheit, der Erfahrung, usw. besteht. Diese Ordnung ist eine Über-Ordnung zwischen – sozusagen – Über-Begriffen. Während doch die Worte ›Sprache‹, ›Erfahrung‹, ›Welt‹, wenn sie eine Verwendung haben, eine so niedrige haben müssen, wie die Worte ›Tisch‹, ›Lampe‹, ›Tür‹. 6

Wenn diese »Über-Begriffe« eine Berechtigung im Sprachgebrauch haben sollen, muss ihre Verwendung, so Wittgenstein, auf demselben Niveau bestehen können, wie die Worte des alltäglichen Gebrauchs. Das gilt nicht nur für rein philosophische Begriffe wie »Schönheit«, »Erhabenheit«, »Wahrheit«, »Freiheit« usw., sondern auch für die Begriffe »Musik«, »Phrase«, »Melodie«, »Ausdruck« etc. Werden letztere philosophisch gebraucht, sollen sie – mit anderen Worten – auf die Erkenntnis ihres »tieferen Wesens hin« seziert werden, zieht man sich nach Wittgenstein jene berühmten »Beulen« zu, »die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat«. 7 Eine Frage wie: »was ist der Satz« fragt nach etwas, was unter der Oberfläche liegt. Etwas, was im Innern liegt, was wir sehen, wenn wir die Sache durchschauen, und was eine Analyse hervorgraben soll. ›Das Wesen ist uns verborgen‹ : das ist die Form, die unser Problem nun annimmt. 8

Eine solche »metaphysische Wortverwendung« ist immer gewissermaßen sinnlos und verstellt lediglich den Blick auf die »alltägliche Verwendung« 9 . Wittgensteins Ziel in den späteren Werken ist, »etwas verPU I, § 97. PU I, § 119. 8 PU I, § 92. 9 PU I, § 116. Diese oft zitierte Bemerkung Wittgensteins ist mit gewisser Vorsicht zu behandeln, was aber die Argumentationslinie dieses Buchs nicht direkt beeinträchtigt. Entgegen der Gestalt der Formulierung, darauf hat Joseph Margolis in jüngerer Zeit 6 7

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Pragmatik: Sprachgebrauch statt Wortbedeutung

stehen, was schon offen vor unseren Augen liegt« 10 : Die vielfältigen und komplexen Formen sprachlicher Praxis nämlich, die »durch Ordnen übersichtlich« 11 gemacht werden können. Daher ist nun alles sinnvoll und gleichberechtigt zu beobachten, was in der alltäglichen Praxis des Sprechens und im Umgang mit Musik gebraucht und verwendet wird. Das essentialistische Denken 12 bekämpft Wittgenstein als »grammatische Fiktionen« (er spricht zwar im folgenden über den Satz, das Zitat wäre aber genauso denkbar, wenn anstelle des Begriffes »Satz« überall der der »Musik« und des »Musikalischen« stünde): ›Der Satz, ein merkwürdiges Ding!‹ : darin liegt schon die Sublimierung der ganzen Darstellung. Die Tendenz, ein reines Mittelwesen anzunehmen zwischen dem Satzzeichen und den Tatsachen. Oder auch, das Satzzeichen selber reinigen, sublimieren zu wollen. – Denn, daß es mit gewöhnlichen Dingen zugeht, das zu sehen, verhindern uns auf mannigfache Weise unsere Ausdrucksformen, indem sie uns auf die Jagd nach Chimären schicken. 13

hingewiesen, handelt es sich gerade nicht um eine stringente Methode: Das Bild dieser Handlung ist hilfreich für das Verständnis der Philosophie Wittgensteins, im strengen logisch-philosophischen Sinne stellt Wittgenstein hier allerdings ein Paradoxon auf, da es nicht zutreffe, dass Wittgenstein konsequent die »Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung« zurückführe (PU I, § 116), »erstens«, so Margolis, »weil die alltägliche Verwendung oft zutiefst von der einen oder anderen Form des Geist/Körper-Dualismus beeinflusst ist, gegen den er [Wittgenstein] […] opponiert; zweitens weil die scheinbare Korrektur eines solchen »Fehlers« selbst »metaphysisch« ist und also über das hinausgeht, was als »alltägliche Verwendung« gilt; drittens weil es, unter diesen Umständen nicht wahr sein kann (wie Wittgenstein ebenfalls sagt), dass »wo Sinn ist […] vollkommene Ordnung sein« muss (PU I, § 98); und viertens weil wir, wenn dies alles zugegeben wird, »Verhexung« dann nicht länger als einen von jeder philosophischen Tendenz unabhängigen Vorwurf verstehen können.« (Joseph Margolis, »Unwahrscheinliche Aussichten für die Anwendung von Wittgensteins ›Methode‹ auf die Ästhetik und die Philosophie der Kunst«, in: Wittgenstein und die Literatur, hrsg. v. John Gibson und Wolfgang Huemer, Frankfurt a. M. 2006, S. 471–507, hier S. 483 f.). 10 PU I, § 89. 11 PU I, § 92. 12 Wittgenstein wuchs in einer Zeit »hermeneutischer« Musikinterpretationen auf, die einen Sinn »hinter« dem Hörbaren in metaphysischem Dunkel suchten. So behauptete z. B. Hermann Kretzschmar zu Beginn des 20. Jahrhunderts: »die Instrumentalmusik verlangt ununterbrochen die Fähigkeit, hinter den Zeichen und Formen Ideen zu sehen.« (Hermann Kretzschmar, »Anregung zur Förderung musikalischer Hermeneutik und Neue Anregungen zur Förderung musikalischer Hermeneutik: Satzästhetik«, in: Ders., Gesammelte Aufsätze aus den Jahrbüchern der Musikbibliothek Peters, Leipzig 1911, S. 170). 13 PU I, § 94.

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Musik als »Stadtteil der Sprache«: Sprachgebrauch, Sprachspiele, Regeln

Hinter Begriffen und Sätzen verbirgt sich nicht mehr als in ihrem kulturell geformten Gebrauch zu beobachten ist: »Es ist ja nichts verborgen. […] Es ist ja nichts versteckt.« 14 Im Gegenteil: »Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen.« 15 Der Ausdruck »Grammatik« wird bei Wittgenstein zwar nicht immer in gleicher Weise gebraucht (vergl. auch Kapitel »Ästhetische Ausdrücke«), ist aber nie als Struktur-, sondern immer als Funktionskategorie zu denken, d. h. auf die Konventionen und Regeln des Gebrauchs hin: Die Fragen ›Was ist Länge?‹, ›Was ist Bedeutung?‹, ›Was ist die Zahl Eins?‹ etc. verursachen uns einen geistigen Krampf. Wir spüren, daß wir auf nichts zeigen können, um sie zu beantworten, und daß wir gleichwohl auf etwas zeigen sollten. (Wir haben es hier mit einer der großen Quellen philosophischer Verwirrung zu tun: ein Substantiv läßt uns nach einem Ding suchen, das ihm entspricht.) 16

Die Grammatik, also die grundlegende Struktur unserer Sprache lässt solche »Verwirrung« entstehen. Eine Frage, die mit »Was ist …« beginnt, kann demzufolge niemals mithilfe von Definitionen und Analysen beantwortet werden. 17 Weil eine solche Antwort nach Wittgenstein unmöglich bleiben muss, sollte stattdessen gefragt werden: Wann und in welchen Kontexten, bei welchen Gelegenheiten wird das fragliche Wort gebraucht? Also, anstelle von »Was ist Musik?« ist zu fragen »Wie, wann und wozu benutzen wir den Begriff »Musik«?« Eine Antwort im Sinne der ersten Frage wird niemals eine allgemeine und überzeitliche Wesensbestimmung ergeben, daher ist eine Antwort im Sinne der zweiten Frage zu bevorzugen, die einzig und allein in der Beschreibung von Ähnlichkeiten des Wortgebrauchs und seiner Kontexte bestehen kann. Solche ähnlichen Verhältnisse beschreibt Wittgenstein als »eine Familie von Bedeutungen« 18 , oder »Familienähnlichkeiten« 19 . Nach dieser

PU I, § 435. PU I, § 371. Zu einer »formalistischen« Interpretation des Musikdenkens von Wittgenstein vergl. die Diskussion im Kapitel »Ausdruck – Bedeutung – Selbstreferentialität – Formalismus?« 16 BlB, S. 15. 17 Vergl. hierzu auch Glock, Wittgenstein-Lexikon, S. 51. 18 PU I, § 77. 19 PU I, § 67. 14 15

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Pragmatik: Sprachgebrauch statt Wortbedeutung

Beobachtung ist für Wittgenstein zunächst alles sinnvoll und gleichberechtigt zu beobachten, was in der alltäglichen Praxis des Sprechens und im Umgang mit Musik gebraucht und verwendet wird. In den Vorarbeiten zu den Untersuchungen, im sogenannten Braunen Buch, machte Wittgenstein Mitte der 30er Jahre an einer ganz alltäglichen Situation eine folgenreiche Beobachtung: Ein Meister und sein Gehilfe benötigen für ihre Arbeit verschiedene Materialien. Wenn nun der Meister einen bestimmten Gegenstand für sein weiteres Arbeiten benötigt, ruft er dem Gehilfen ein bestimmtes Wort zu, worauf der Gehilfe ihm das Gewünschte bringt. 20 Nichts scheint banaler als das, aber es zeigt, dass es bei den Wörtern offensichtlich nicht um eine bestimmte Bedeutung geht, sondern ihr Zweck darin besteht, den Gehilfen eine bestimmte Handlung ausführen zu lassen. Auf das Wort »Hammer« hin, soll der Gehilfe schließlich nicht nur verständnisvoll in Richtung Hammer blicken, denn dann hätte er seinen Meister offensichtlich missverstanden. Von dieser einfachen Beobachtung ausgehend, scheint es Wittgenstein auf der Hand zu liegen, dass »Bedeutung« nicht wie ein Etikett an den Worten haftet, sondern in bestimmten konventionalisierten Situationen realisiert werden muss. Wittgenstein nennt diese Situationen »Sprachspiele«, und fasst sie als Form einer Tätigkeit auf: Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ›Bedeutung‹ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. 21

Die grundlegende Neuerung einer Auffassung von Sprache, mit der Wittgenstein den sogenannten linguistic turn einleitet, ist damit die Abkehr vom essentialistischen Denken hin zu einem funktionalen: die Ersetzung von »Wortbedeutung« durch »Sprachgebrauch«: Es ist wichtig festzustellen, daß das Wort ›Bedeutung‹ sprachwidrig gebraucht wird, wenn man damit das Ding bezeichnet, das dem Wort ›entspricht‹. Dies heißt, die Bedeutung eines Namens verwechseln mit dem Träger des Namens. 22

20 21 22

Vergl. EPhB I, Nr. 1, S. 117. PU I, § 43. PU I, § 40.

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Musik als »Stadtteil der Sprache«: Sprachgebrauch, Sprachspiele, Regeln

Um wirklich herauszufinden, was eigentlich ein Wort ist, was es gewissermaßen tut 23 – denn »Worte sind auch Taten« 24 – sei es unumgänglich, seine jeweilige Aufgabe, die Stellung des Wortes in dessen jeweiliger Umgebung zu untersuchen. Wittgenstein greift zur Erklärung zu dem Bild des Schachspiels: Die Frage ›was ist eigentlich ein Wort?‹ ist analog der ›Was ist eine Schachfigur?‹ 25

Das klingt zunächst etwas merkwürdig. Was ist denn eine Schachfigur? Die Figur des Bauern innerhalb eines Schachspiels bedeutet an sich zunächst nichts, sie ist nur ein Stück Holz oder Metall. Aber dieses spezielle Holzstückchen hat eine Funktion in der Gesamtheit der Regeln des Schachspiels. Der Bauer bildet die Regeln aber auch nicht etwa ab, er steht nicht als Zeichen für etwas, sondern er bekommt je eine seiner möglichen regelgeleiteten Funktionen durch den Spieler in einem bestimmten Spielzusammenhang zugewiesen. Das Zeichen (das Wort) vertritt nicht in irgendeiner Form einen Gegenstand, es bildet ihn nicht ab. Wie der Bauer im Schachspiel nicht Zeichen für etwas ist, also in seiner Bedeutung wahrgenommen wird, sondern in seiner Funktion, bekommt ein Wort auch erst »Bedeutung« durch die Gesamtheit der Regeln im Schachspiel: Die Bedeutung sprachlicher Zeichen ist mithin die Gesamtheit der Regeln, die für ihren Gebrauch gelten. Unter anderem von dieser Beobachtung ausgehend entwickelte sich seit den 30er Jahren die sprachwissenschaftliche und -philosophische Disziplin der Pragmatik, deren heutige Begriffsdefinition auf den Philosophen Charles Morris zurückgeht. In seinem Grundlagenwerk Foundation of the Theory of Signs von 1938 begann er, eine allgemeine Wissenschaft der Zeichen, oder auch »Semiotik«, zu umreißen. Innerhalb der Semiotik unterschied Morris drei verschiedene Forschungszweige: Die Syntaktik (oder Syntax) untersucht »die formale Relation der Zeichen zueinander«, die Semantik befasst sich mit der »Beziehung zwischen den Zeichen und den Gegenständen, auf die sie anwendbar

Nicht zufällig trägt eine der Gründungsschriften der linguistischen Pragmatik von John L. Austin im Original den programmatischen Titel: How to do things with Words. The William James Lectures delivered at Harvard University 1955, London 2 1976. 24 PU I, § 546. 25 PU I, § 108. 23

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Musik als »Stadtteil der Sprache«

sind« (ihren Designaten), und der dritte Zweig, die Pragmatik erforscht »die Beziehungen zwischen Zeichen und Interpret«. 26 Ohne auf die darauf folgenden Differenzierungsprozesse innerhalb der Linguistik einzugehen, werde ich den Begriff der Pragmatik in diesem grundlegenden Sinne der Wittgensteinschen Gebrauchstheorie nutzen, um die »Bedeutungsfrage« in der Musik als ein Phänomen zu charakterisieren, das alle Komponenten der Beziehung zwischen den Zeichen der Musik und ihren Interpreten betrifft. Im Folgenden werde ich versuchen, den spezifisch Wittgensteinschen Aspekt einer Pragmatik und darauf aufbauend, einer pragmatischen Interpretation der Musik herauszuarbeiten.

Musik als »Stadtteil der Sprache« Dem Gebrauch von Wörtern als »Spielfiguren« stellt Wittgenstein ein weiteres Bild zur Seite: Das einer »alten Stadt«: Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern. 27

Sprache hat eine lebendige, wechselvolle Geschichte. Es gibt in ihr Worte, deren Ursprung für die meisten Menschen längst im Dunkeln liegt, verwirrende Kombinationen, Regeln, denen man folgt, ohne sie systematisieren zu können, und Regeln, die ganz nachvollziehbar erscheinen. Es gibt Worte, Sätze, Phrasen, Sprichwörter, die man erklären kann, und solche, die nur noch Spezialisten entschlüsseln. Und es gibt »Gassen« und »Plätze« in dieser »Stadt«, die sich jedem Versuch der Systematisierung, der Begradigung entziehen: Mehrdeutigkeiten, Ironie, Lüge, Witz – mit anderen Worten: Sprache ist eine »Lebensform«, man lebt in ihr – wie in einer Stadt: Das Wort ›Sprachspiel‹ soll hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform. 28 26 Charles Morris, Grundlagen der Zeichentheorie, übersetzt von Roland Posner, unter der Mitarbeit von Jochen Rehbein mit einem Nachwort von Friedrich Knilli, Frankfurt a. M. 1972, S. 24 f. 27 PU I, § 18. 28 PU I, § 23.

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Musik als »Stadtteil der Sprache«: Sprachgebrauch, Sprachspiele, Regeln

Die Ersetzung der Wortbedeutung durch den Sprachgebrauch ergibt nur innerhalb eines solchen Sprachspiels Sinn; denkt man diese Bedingung nicht mit, bleibt der Schritt trivial. Bleibt es bei der simplen Ersetzung, ersetzt der »Gebrauch« die »Bedeutung« in der Weise, dass er zur neuen »Bedeutung« des Wortes wird. Für Wittgenstein hat ein Zeichen ohne seinen Zusammenhang keinen Sinn. Ohne ein System, indem es eine bestimmte Funktion einnimmt, einen bestimmten Gebrauch hat, ist es gewissermaßen tot. In diesem System hängt alles miteinander zusammen und bedingt sich: Die Unbeholfenheit, mit der das Zeichen, wie ein Stummer, durch allerlei suggestive Gebärden sich verständlich zu machen sucht – sie verschwindet, wenn wir erkennen, daß es auf das System ankommt, dem das Zeichen angehört. 29

Daraus folgt notwendigerweise eine neue Einstellung, einzelnen Worten und Sätzen gegenüber: Das, woran ich festhalte, ist nicht ein Satz, sondern ein Nest von Sätzen. 30

Eine solche alte Stadt, oder vielmehr ein »Stadtteil der Sprache«, mit labyrinthisch verwinkelten Gassen, heimlichen Plätzen und Wegweisern ist auch die Musik. Damit ist vor allem die praktische und unaufhörliche Beschäftigung mit Musik gefordert: Man muss sich in ihr, ihren Hinweisschildern, ihren verwinkelten Gassen »auskennen«, man muss lange genug »in ihr gelebt haben«. Dazu bedarf es des ganzen »Feldes unserer Sprachspiele« 31 , wie sich im Folgenden zeigen wird. Am Beginn der Philosophischen Untersuchungen skizziert Wittgenstein versuchsweise, was alles bezüglich der »Mannigfaltigkeit der Sprachspiele« zu untersuchen wäre in Form einer kleinen Liste. Was Musik als Sprachspiel alles sein kann, und was dementsprechend in eine pragmatische Untersuchung eingebunden werden muss, um die Vielschichtigkeit des kunstbezogenen bzw. ästhetisch orientierten Sprechens vor Augen zu führen, wäre – frei übertragen nach Wittgenstein 32 – z. B.: Z, Nr. 228. ÜG, Nr. 225, S. 164. 31 Z, Nr. 175. 32 Die Stelle bei Wittgenstein lautet: »Führe dir die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele an diesen Beispielen, und anderen, vor Augen: Befehlen und nach Befehlen handeln – Beschreiben eines Gegenstands nach dem Ansehen, oder nach Messungen – Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung (Zeichnung) – 29 30

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Musik als »Stadtteil der Sprache«

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Ein Instrument spielen, üben, gemeinsam musizieren etc.; Komponieren und Improvisieren; Spontanes Wohlgefallen (bzw. ästhetisches Unbehagen) sprachlich, gestisch und/oder mimisch artikulieren; Unzufriedenheit mit einer künstlerischen Leistung mit Sachurteilen oder intuitiv begründen; Ein ästhetisches Werturteil (Sachurteil) fällen; Musikanalyse; Den Klangcharakter charakterisieren; Eine musikalische Technik anleiten; Einen musikalischen Verlauf in einem Diagramm, einer Tanzchoreographie oder in bildhaften Sprachanalogien wiedergeben; Eine Kritik verfassen; Musikerwitze erzählen; Nach einer Theateraufführung »Bravo!« rufen; Sich über den Ablauf eines Konzertes oder die Anordnung seiner Stücke beschweren; Kompositionsunterricht erteilen oder nehmen; Eine künstlerische Produktions-, Distributions- oder Rezeptionspraxis beschreiben, rekonstruieren, imaginieren, etc.

Diese Liste ließe sich selbstverständlich ausgiebig fortsetzen. Die Familie 33 der hier angedeuteten Sprachspiele mag die Komplexität des pragmatisch-semantischen Feldes »Musik« veranschaulichen. Was sich in diesem kleinen Ausschnitt einer fast beliebig differenzierbaren Auswahl zeigt, sind sehr unterschiedliche und dennoch in Bezug auf den Umgang mit Musik verwandte Spiele sprachlicher Bezugnahme auf ästhetische Wahrnehmung. In den angedeuteten Beispielsituationen werden ästhetische Eindrücke in kommunikativen Situationen artikuliert. Sie können somit alle in verschiedenem Maße Hinweise geben Berichten eines Hergangs – Über einen Hergang Vermutungen anstellen – Eine Hypothese aufstellen und prüfen – Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme – Eine Geschichte erfinden; und lesen – Theater spielen – Reigen singen – Rätsel raten – Einen Witz machen; erzählen – Ein angewandtes Rechenexempel lösen – Aus einer Sprache in die andere übersetzen – Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten.« (PU I, § 23). 33 PU I, § 67.

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auf mögliche Verwendungsweisen von Wörtern, also z. B. von Ausdrücken wie »schön«, »herrlich«, »gelungen« oder aber auch von »verschwommenen« Begriffen wie »Kunst«, »musikalische Bedeutung« oder »Geschmack« in einem ästhetischen Kontext, diesem ungeheuer »komplizierte[n] Netz von Ähnlichkeiten« 34 . Ein solches Aufzeigen von Verwendungsgewohnheiten kann nach Wittgenstein durch keine allgemeine Erklärung einer vermeintlich »eigentlichen« Bedeutung, mithin durch keine abstrakte Definition sinnvoll ersetzt werden – sie bilden eine »Familie«. Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir ›Spiele‹ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: ›Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ›Spiele‹‹ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau! […] Und so können wir durch die vielen, vielen anderen Gruppen von Spielen gehen, Ähnlichkeiten auftauchen und verschwinden sehen. Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen. 35

Der Begriff der »Familienähnlichkeiten« wird in der Forschung als »Wittgensteins wichtigster Beitrag zur zeitgenössischen Ästhetik« bezeichnet. 36 Im Gegensatz zu den oft zirkulären und »allgemein erfolglosen« Untersuchungen der Ästhetik Anfang des 20. Jahrhunderts über die Frage »Was ist Kunst?« sei »Wittgensteins Idee der Familienähnlichkeit als eine Befreiung begrüßt worden« und habe »im großen und ganzen zur Aufgabe der Versuche geführt […] das Wesen der Kunst zu entdecken.« 37 In einem solchen »Nest von Sätzen«, in dieser »verwinkelten Stadt« stellt eine Stadtverwaltung nun »Hinweisschilder« auf, wie die PU I, § 66. PU I, § 66. 36 Z. B. in: Renford Bambrough, »Universal and Family Resemblances«, in: Wittgenstein. The Philosophical Investigations. A collection of Critical Essays, hrsg. v. George Pitcher, New York 1966, S. 187–230. 37 Glock, Wittgenstein-Lexikon, S. 51. Vergl. hierzu auch die Diskussion der verschiedenen Rezeptionsstandpunkte unter eher kritischer Perspektive in: Ralf Goeres, Die Entwicklung der Philosophie Ludwig Wittgensteins unter besonderer Berücksichtigung seiner Logikkonzeptionen, Würzburg 2000, insbes. S. 234 ff. 34 35

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Sprachwissenschaftler Regeln aufstellen. Ein Bewohner dieser Stadt muss ihnen folgen, um sich zurechtzufinden, denn weil die Stadt eben alt und verwinkelt ist, ist es nicht immer leicht, sich »auszukennen«. Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen. Du kommst von einer Seite und kennst dich aus; du kommst von einer andern zur selben Stelle, und kennst dich nicht mehr aus. 38

Eine solche Stelle ist zum Beispiel das scheinbar harmlose Wort »meinen«. Die grammatischen Subjekt-Prädikat-Strukturen »ich laufe«, »ich esse«, »ich denke«, ich meine«, »es regnet«, »es bedeutet«, suggerieren eine qualitativ einheitliche Klasse von Handlungen bzw. Tätigkeiten. Aber nur »Laufen« und »Essen« gehören einer solchen Klasse an. »Regnen« wird zwar wie eine Tätigkeit behandelt, erweist sich aber bei näherem Hinsehen als ein täuschendes Prädikat, da sein »es« nur ein grammatisches Schein-Subjekt ist. Während »Denken« vielleicht noch durch die Ergebnisse der Neurologie als Tätigkeit unter besonderen Umständen gerechnet werden könnte, sind »meinen« und »bedeuten« überhaupt keine solchen: Der Irrtum ist zu sagen, Meinen bestehe in etwas. 39

Wie wäre dies auch vorzustellen? Als das innere oder äußere Zeigen auf jemanden oder etwas? Als Mitteilung meiner Seelenvorgänge in Ergänzung zu der sprachlichen Äußerung? Was ginge denn dann z. B. bei: »Ich meinte, Du sollst herkommen!« in mir vor? Dann könnte jemand, der mit diesen Seelenvorgängen nicht vertraut ist, meine Aussagen nicht verstehen, nicht einmal »komm her!«. Ich kann außerdem offensichtlich etwas meinen, ohne daran zu denken oder darauf zu zeigen, also gleichsam darauf zu »zielen«. Als intentionales Verb bezeichnet »meinen« kein Phänomen (wie eine Handlung, Tätigkeit, Ereignis, Prozess oder Zustand). Wenn ich von meiner Familie rede, meine ich jedes einzelne Mitglied, ohne einzeln an sie zu denken oder mir ihr Bild vorzustellen. Das weist darauf hin, dass »Meinen« nur eine besondere Art des Gebrauchs bestimmter Worte bezeichnet, gleichsam »die Anwendung der Sätze regel[t]« 40 . Intentionale Verben gehören schon des-

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PU I, § 203. Z, Nr. 16. Z, Nr. 24.

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halb zu einer anderen logischen Klasse, weil sie keine »echte Dauer« haben 41 : Das zeigt dir, wie verschieden die Grammatik des Zeitworts ›meinen‹ von der des Zeitworts ›denken‹ ist. Und nichts Verkehrteres, als Meinen eine geistige Tätigkeit zu nennen! Wenn man nämlich nicht darauf ausgeht, Verwirrung zu erzeugen. (Man könnte auch von einer Tätigkeit der Butter reden, wenn sie im Preise steigt.) 42

Des Weiteren gibt es auch keine Gefühle, die eine intentionale Einstellung kennzeichnen würden und könnten. »Ich meinte, was ich damals sagte« ist nicht Ergebnis einer Selbstbeobachtung, sondern der regelgerechte Ausdruck der Entschlossenheit, zu dem damals Gesagten nach wie vor zu stehen. ›Meinen‹ bezeichnet nicht: eine Tätigkeit, die ganz oder teilweise in den ›Äußerungen‹ des Meinens besteht. 43

Ähnlich wie mit dem »Meinen« verhält es sich mit dem »Gedanken« 44 . Für Wittgenstein steht die Vorstellung von einem dem Satz zugrundeliegenden »Gedanken« dem täuschenden »Meinen« nahe: Der Gedanke kann nur etwas ganz hausbackenes, gewöhnliches sein. (Man pflegt sich ihn als etwas Ätherisches, Unerforschtes zu denken; als handle es sich um Etwas, dessen Außenseite bloß wir kennen, dessen Inneres noch nicht bekannt ist, etwa wie unser Gehirn.) Man möchte sagen: ›Der Gedanke, welch ein seltsames Wesen‹. Aber wenn ich sage, der Gedanke sei etwas ganz Hausbackenes, so meine ich, es gehe uns mit diesem Begriff wie mit dem etwa der Zahl Eins. Es scheint etwas geheimnisvolles an ihm zu sein, weil wir seine Grammatik mißverstehn und ein greifbares Ding vermissen was dem Dingwort entspricht. 45 Vergl. auch Glock, Wittgenstein-Lexikon, S. 66. PU I, § 693. 43 Z, Nr. 19. 44 Zum Konzept des »Gedankens« vergl. Kapitel »Musik im Tractatus«; eines der wenigen Vorbilder, die Wittgenstein dezidiert als solche anerkannte, war der Mathematiker und Logiker Gottlob Frege. Frege war einer der Pioniere in der begrifflichen Differenzierung verschiedener Bedeutungshierarchien von logischen Kalkülen. Auf ihn geht die bis heute anerkannte und wichtige Unterscheidung zwischen »Sinn« und »Bedeutung« zurück. Er bezeichnet den Sinn eines Satzes auch als »Gedanken«, als dem Beziehungsgeflecht dessen, was der Satz eigentlich bezeichnen will (im Gegensatz zu seiner Bedeutung, die unbedingt wahrheitsfähig sein muss); Gottlob Frege, »Über Sinn und Bedeutung«, in: Ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, hrsg. v. Günther Patzig, Göttingen 1980. 45 PG II, Nr. 66. 41 42

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Es handelt sich hierbei gleichsam um »optische Täuschungen« der Grammatik. Wie das »Meinen« regelt auch der »Gedanke« eines Satzes oder der »musikalische Gedanke« einer Passage nur den Gebrauch innerhalb des sprachlichen oder musikalischen Zusammenhangs, innerhalb des »Sprachspiels«. Das heißt: es gibt den musikalischen Gedanken, nur ist er keine ungreifbare Realität hinter den Klängen, sondern er besteht in einer Gebrauchsweise, mittels derer wir gewöhnt sind, über Musik zu sprechen. Was natürlich nicht bedeutet, dass ein Komponist sich etwas beim Komponieren gedacht haben mag (vergl. dazu Kapitel »Emotion?«). Die gleichförmige Struktur der Grammatik (später genauer: der Oberflächengrammatik) wird zur Quelle philosophischer Irrtümer: Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehn. – Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit. 46

»Meinen« und der »Gedanke« eines Satzes, das, was man »eigentlich« sagen wollte, sind Regelzüge innerhalb des Sprachspiels. Sie funktionieren wie Hinweisschilder in einer großen Stadt 47 . Das Hinweisschild selbst nimmt nicht Teil am Leben in der Stadt, sondern ist eine aufgestellte Regel für einen bestimmten Gebrauch. Sein normaler Gebrauch ist der, zuverlässig an einen Ort in der Stadt zu gelangen. Das Schild ist dabei ausschließlich für diese Anwendung dienlich, für alle anderen Belange weist es in die Irre. »Meinen« und »Gedanke« sind solche Wegweiser innerhalb eines bestimmten Sprachspiels. Außerhalb desselben verlieren sie ihre Funktion und schaffen Verwirrung. Ich verstehe die Frage »Was meinst du damit?« nicht etwa, weil »Meinen« irgendeine Tätigkeit etwa meiner Phantasie wäre, sondern weil ich die vollständige Frage als eine Art »Regelzug« innerhalb der alltäglichen Kommunikation, innerhalb meines Sprachspiels gelernt habe wie die Funktion eines Verkehrsschildes. »Meinen« kann bei seinem regelgerechten Gebrauch im Gespräch auf etwas verweisen. Die Fragen dagegen »Was meint diese Musik?« oder »Was meint diese Dichtung« sind ungültige Gebrauchsweisen von »Meinen«. Ungültig ist der Gebrauch, weil Musik und Dichtung je einem anderen Sprachspiel ange-

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PU I, § 122. Vergl. PU I, § 85.

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hören als der alltäglichen Kommunikation – entsprechend gelten in ihnen auch andere »Hinweisschilder«. 48 Wittgensteins Aufzeichnungen Über Gewißheit beginnt mit dem Satz: »Wenn du weißt, daß hier eine Hand ist, so geben wir dir alles übrige zu.« 49 Es ist nicht sinnvoll, an der Existenz der eigenen Hand und ihren Funktionen zu zweifeln, wir haben es so erfahren und erlernt. Bestimmte Grundbegriffe und Prinzipien bilden ein »Diskursuniversum«, in welchem Erfahrungen in je bestimmter Perspektive interpretiert werden. Derart unhintergehbare Axiome können innerhalb dieses Diskursraumes nicht bezweifelt werden, weil durch sie erst der entsprechende konzeptuelle Rahmen hergestellt wird. Der begriffliche Rahmen für unser Interagieren mit der Welt kann letztlich nicht begründet werden, so Wittgenstein. Und wie steht es erst um die Bereiche, die keine sinnliche Rückversicherung mehr haben – z. B. philosophische Fragestellungen über das Wesen der Sprache? »Die Sprache« ist eine abstrakte Konzeption, welche sich jeglicher Greifbarkeit entzieht. Dass wir uns vielfach mithilfe zeigender Strukturen, die nun einmal nichts sagen, in der Welt verhalten, bringt uns in die Verlegenheit, etwas zu finden auf das sie zeigen. Denn wir sind es gewöhnt, uns diskursiv, mit den Mitteln der sagenden Sprache Erkenntnisse anzueignen, und kommen so immer wieder in Versuchung, dieses Schema auch bei einer strukturell anderen Erkenntnisform zu suchen. Mit anderen Worten: wir verstehen Zeigen, als wäre es eine andere Art, zu Sagen; wir suchen nach einem Gegenstand oder einer Tatsache, einem »Etwas« auf das sich zeigen lässt: »Vergiß nicht, daß das Gedicht, wenn auch in der Sprache der Mitteilung abgefaßt, nicht im Sprachspiel der Mitteilung verwendet wird.« (Z, Nr. 160); ein bekanntes Beispiel für einen solchen verwirrenden, weil ungültigen Gebrauch liefert Theodor W. Adorno in seinem vielzitierten Fragment über Musik und Sprache, in welchem er behauptet, Sprache meine etwas, Musik hingegen nicht, und damit einen wesentlichen Unterschied zwischen Musik und Sprache für bezeichnet hält: »Gegenüber der meinenden Sprache ist Musik eine von ganz anderem Typus.« (Adorno, »Fragment über Musik und Sprache. Quasi una fantasia«, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 16 (= Musikalische Schriften I – III), Frankfurt a. M. 1963, S. 251–256, hier S. 252). Der Sinn dieser Bemerkung ist nicht etwa deshalb problematisch, weil Musik ein anderer »Typus« Sprache wäre, sondern er hakt schon am Angelpunkt des Vergleichs: Abgesehen davon, dass nicht die Sprache selbst, sondern wenn überhaupt, ein Sprecher meinen kann (eine Intention bedarf eines Akteurs) spielt das »Meinen« wie Wittgenstein zeigt, keine Rolle als bedeutungskonstituierendes Moment in der Sprache. 49 ÜG, Nr. 1, S. 119. 48

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Man kann sich beim Sprechen auf einen Gegenstand beziehen, indem man auf ihn zeigt. Das Zeigen ist hier ein Teil des Sprachspiels. Und nun kommt es uns vor, als spreche man von einer Empfindung dadurch, daß man seine Aufmerksamkeit beim Sprechen auf sie richtet. Aber wo ist die Analogie? Sie liegt offenbar darin, daß man durch Schauen und Horchen auf etwas zeigen kann. 50

Der Hörende kann nicht auf das in der Musik »Gemeinte« zeigen. Und das liegt nun wieder nicht daran, dass es sich um irgendein jenseitiges, metaphysisches Seiendes handelt, sondern weil das »Meinen der Musik« den Regeln eines anderen Sprachspiels folgt: das »Meinen der Musik« ist anders definiert als »ich meinte diese Person« im alltäglichen Umgang. Und worauf zeige ich denn durch die innere Tätigkeit des Horchens? Auf den Laut, der mir zu Ohren kommt, und auf die Stille, wenn ich nichts höre? Das Horchen sucht gleichsam einen Gehörseindruck und kann daher auf ihn nicht zeigen, sondern nur auf den Ort, wo es ihn sucht. 51

Der eigentliche Anlass des Denkens und Fragens übersteigt für Wittgenstein hier den Bereich des sinnvollen Sprechens und des Redens »über« ihn. Wittgenstein steht damit in einer Traditionslinie, die spätestens bei Kant beginnt: in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft gesteht Kant ein, dass »die Fragen niemals aufhören« 52 – weil es, so Wittgenstein, eben diejenigen Fragen sind, die uns wirklich interessiePU I, § 669. PU I, § 671. 52 Kant hatte bereits 1781 die Wittgensteinsche »Verhexung des Verstandes« in der Vorrede seiner Kritik der reinen Vernunft beschrieben: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft. In diese Verlegenheit gerät sie ohne Schuld. Sie fängt von Grundsätzen an, deren Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich und zugleich durch diese hinreichend bewährt ist. Mit diesen steigt sie (wie es auch ihre Natur mit sich bringt) immer höher, zu entfernteren Bindungen. Da sie aber gewahr wird, daß auf diese Art ihr Geschäft jederzeit unvollendet bleiben müsse, weil die Fragen niemals aufhören, so sieht sie sich genötigt, zu Grundsätzen ihre Zuflucht zu nehmen, die allen möglichen Erfahrungsgebrauch überschreiten und gleichwohl so unverdächtig erscheinen, daß auch die gemeine Menschenvernunft damit im Einverständnisse stehet. Dadurch aber stürzt sie sich in Dunkelheit und Widersprüche, aus welchen sie zwar abnehmen kann, daß irgendwo verborgene Irrtümer zum Grunde liegen müssen, die sie aber nicht entdecken kann, weil die Grundsätze, deren sie sich bedient, da sie über die Grenze aller Erfahrung hinausgehen, keinen Probierstein der Erfahrung mehr anerkennen.« (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1787), hrsg. v. Jens Timmermann, Ham50 51

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ren, nach denen aber nicht gefragt werden kann, da sie sich nur zeigend aufweisen: Die Probleme, die durch ein Mißdeuten unserer Sprachformen entstehen, haben den Charakter der Tiefe. Es sind tiefe Beunruhigungen; sie wurzeln so tief in uns wie die Formen unserer Sprache, und ihre Bedeutung ist so groß wie die Wichtigkeit unserer Sprache. 53

Innerhalb dieser »alten Stadt« Sprache – um noch einmal zu Wittgensteins Metapher zurückzukehren – gibt es unterschiedlich übersichtliche Stadtteile. Da gibt es »neue Vororte« mit geraden und regelmäßigen Straßen und einförmigen Häusern – wie z. B. das Sprachspiel der Mathematik, welches recht genau festgelegten, relativ einfach konstruierten und nachvollziehbaren Regeln folgt. 54 Die Regeln, also die Hinweisschilder in der verwinkelten »Altstadt« müssen anderen Umständen Rechnung tragen und sind Bestandteile anderer Sprachspiele.

Regeln folgen »Regelzüge« in einem Sprachspiel gleichen in gewissem Sinne dem Spielen von Kindern. Sie spielen ohne ein bestimmtes Ziel, in einem scheinbar freien Hin und Her. 55 Dem liegt bei näherem Hinsehen jedoch ein tiefer Ernst zu Grunde: Jedes Spiel hat seinen Ort, seine Zeit, seine Mitspieler, seine Regeln. Nicht überall kann dasselbe Spiel zu jeder Zeit mit jedem gespielt werden, und wer sich nicht an die Regeln hält, ist ein Spielverderber, es sei denn, er stellt neue Regeln auf, denen seine Mitspieler folgen. Das kann spontan oder in fließendem Übergang geschehen, in jedem Fall entsteht ein neues Spiel mit neuen Regeln.

burg 1998); Wittgenstein geht einen Schritt weiter und verlegt den Grund der »Verhexung« in die Sprache und den philosophischen Umgang mit ihr. 53 PU I, § 111. 54 Zur fundamentalen Bedeutung des Regelfolgens für Wittgensteins Sprachauffassung vergl. vor allem Saul A. Kripke, Wittgenstein über Regeln und Privatsprache, Frankfurt a. M. 1982, sowie die im Anschluss daran geführte Debatte (zusammengefasst bei Thomas Blume, Wittgensteins Schmerzen. Ein halbes Jahrhundert im Rückblick, Paderborn 2002). 55 Vergl. hierzu auch Hans-Georg Gadamer, »Die Aktualität des Schönen«, in: Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage (= Gesammelte Werke Bd. 8), Tübingen 1993, S. 113 ff.

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Regeln folgen

Sprache als Spiel zu verstehen, funktioniert nur mit einem entsprechenden Begriff von Spielregeln. Sie ist als solche nicht überall von Regeln begrenzt; aber es gibt ja auch keine Regeln dafür z. B., wie hoch man beim Tennis den Ball werfen darf oder wie stark, aber Tennis ist doch ein Spiel und es hat auch Regeln. 56

Und an anderer Stelle vermerkt Wittgenstein weiter: Wir sind unfähig, die Begriffe, die wir gebrauchen, klar zu umschreiben; nicht, weil wir ihre wirkliche Definition nicht wissen, sondern weil sie keine wirkliche ›Definition‹ haben. Die Annahme, daß sie eine solche Definition haben müssen, wäre die Annahme, daß ballspielende Kinder grundsätzlich nach strengen Regeln spielen. 57

Es gibt keine Definition für eine allgemeine Spielregel, jedes Spiel hat seine eigenen, mehr oder weniger festen Regeln. Kinder können keinen Begriff eines geregelten Sprachgebrauchs haben – was auch etwas anderes ist als ein ›regelmäßiger‹ Sprachgebrauch. (Autofahrer verhalten sich in einem sich bildenden Stau normalerweise ganz regelmäßig – dadurch entsteht ja erst der Stau –, man wird aber doch nicht sagen können, ihr Verhalten sei geregelt.) Der Begriff des Sprachspiels kann die gewaltige Dynamik der verschiedenen Bereiche der Sprache in sich aufnehmen. Die Metapher ist so greifbar, wie sie vielseitig ist. Wittgenstein überlegt z. B. an anderer Stelle, wie er einem Fremden, vielleicht jemandem aus dem Weltraum wohl erklären würde, was ein Spiel ist. Angenommen, er zeige ihm das Fußballspielen und das Schachspiel, welche Gemeinsamkeiten könnte der Fremdling erkennen? Wäre er danach in der Lage, ein Kartenspiel um Geld als Spiel zu erkennen? Die Vielseitigkeit der Spiele steht für die Vielseitigkeit der Sprachspiele. Jederzeit entstehen neue Variationen, neue Spiele und immer wieder geraten andere dafür in Vergessenheit: Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir ›Zeichen‹, ›Worte‹, ›Sätze‹, nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen. 58

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PU I, § 68. BlB, S. 49. PU I, § 23.

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Es könnte sich auch jemand selbst Regeln für das Sprachspiel erfinden oder gängige Regeln der Umgangssprache verändern, was wäre dann? Dann gibt es, wie beim Kinderspiel, mindestens zwei Möglichkeiten: entweder, er wird von dem Rest der Menschen nicht mehr verstanden, er hat gewissermaßen keine »Mitspieler« mehr, oder er trägt mit seinen neuen Regeln einen Teil zum Prozess des sich beständig transformierenden Sprachspiels bei. Die »Erweiterung des musikalischen Materials« der Musik im Sinne Adornos kann als ein solcher Fall der Sprachspielerweiterung angesehen werden. Eine Regel, der keiner mehr folgt, verliert allerdings nach und nach ihre Wirksamkeit in diesem Spiel, wie ein Blick in ein altes Lexikon, eine Grammatik, oder ein altes Konzertprogramm zeigen kann. Regeln befolgen und Regeln kreativ erweitern stellen zwei »entgegengesetzte[] Seiten des Kontinuums« 59 dar und bedingen sich wie Freiheit und Regeln in der musikalischen Improvisation. Beide haben ihre Wurzel in der Kreativität: »Die Kompetenz, Sinn von Unsinn zu unterscheiden, läßt sich nicht als eine formale, schematische Kompetenz rekonstruieren; die natürliche Sprache ist kein Kalkül, obwohl sie wichtige Aspekte hat, die sich angemessen so darstellen lassen.« 60 Diese Aspekte sind die des Regelfolgens, die hier beschrieben werden. »Die nicht-technische Fähigkeit zur spontanen, von Regeln nicht geleiteten Handlung, die […] mit dem Wort ›Phantasie‹ angedeutet ist, durchsetzt die Sprache vielmehr so, daß auch das Formale an ihrer strukturellen Seite nur dann richtig verstanden werden kann, wenn die Rolle der spontanen Handlung stets mitbedacht wird. Und zugleich gilt umgekehrt, daß man dem besonderen Charakter der sprachlichen Ausprägung der Phantasie nur gerecht werden kann, wenn man sie zur formalen, kalkülhaften Seite der Sprache in Beziehung setzt.« 61 Wittgenstein erläutert dieses Kontinuum am Bild des Kochens: Warum nenne ich die Regeln des Kochens nicht willkürlich, und warum bin ich versucht, die Regeln der Grammatik willkürlich zu nennen? Weil ›Kochen‹ durch seinen Zweck definiert ist, dagegen ›Sprechen‹ nicht. Darum ist der Gebrauch der Sprache in einem gewissen Sinne autonom, in dem das Kochen und Waschen es nicht ist. Wer sich beim Kochen nach andern als

Hans Julius Schneider, Phantasie und Kalkül. Über die Polarität von Handlung und Struktur in der Sprache, Frankfurt a. M. 1992, S. 342. 60 Schneider, Phantasie und Kalkül, S. 15. 61 Ebd. 59

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Regeln folgen

den richtigen Regeln richtet, kocht schlecht; aber wer sich nach andern Regeln als denen des Schachs richtet, spielt ein anderes Spiel; und wer sich nach andern grammatischen Regeln richtet, als den und den, spricht darum nichts Falsches, sondern von etwas Anderem. 62

Während dem vornehmlich phantasiegeleiteten Anteil der Sprache und seinen Implikationen für die Musik im Kapitel »Aspekte sehen« nachgespürt werden wird, soll hier untersucht werden, was Wittgenstein sich unter »einer Regel folgen« jenseits seiner metaphorischen Umschreibung vorstellt und wie diese Überlegungen Aufschluss über die Konstruktion von »Musik als Sprachspiel« geben können. In der Wittgensteinforschung werden drei Aspekte des Regelfolgens beschrieben: erstens der »praktische«, zweitens der »normative« und drittens der »soziale Aspekt«. 63 Der praktische Aspekt nimmt den kreativen Anteil des Regelfolgens in den Blick. Es geht hier vor allem darum, dass »einer Regel folgen« entgegen der vereinfachenden Annahme gerade nicht in einem hermeneutischen Akt besteht, also in einem Akt der Deutung der Regel. Einer Regel folgen bedeutet nach Wittgenstein lediglich »einen Ausdruck der Regel durch einen anderen ersetzen«. 64 Ob die Regel selbst theoretisch ableitbar wäre oder nicht, ist irrelevant für die Praxis: Der Sprecher ersetzt einen Ausdruck durch einen analogen anderen Ausdruck. Eine Regel ist damit kein klassifizierbares Element der Sprache sondern eine Operation, die nur jeweils in sprachlichen Situationen realisiert werden kann. Ein Regelausdruck kann seine Befolgung nicht a priori und unmissverständlich festlegen, denn: Jede Deutung hängt, mitsamt dem Gedeuteten in der Luft; sie kann ihm nicht als Stütze dienen. 65

Eine Stütze kann sie nur dem Anwender sein, der sie in einem speziellen Fall so oder so realisieren muss, um weiterhin verstanden zu werden oder im Alltag zurecht zu kommen. Die Anwendung der Regel selbst kann dagegen nicht geregelt sein, da die »Regelung der Regel« wiederum selbst einer Regel bedürfte, und so folgert Wittgenstein:

Z, Nr. 320. Vergl. Christian Stetter, Schrift und Sprache, Frankfurt a. M. 1997, insbes. S. 571– 575. 64 PU I, § 201. 65 PU I, § 198 (Vergl. auch § 380). 62 63

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Musik als »Stadtteil der Sprache«: Sprachgebrauch, Sprachspiele, Regeln

Das Befolgen einer Regel kann letztlich nicht selbst geregelt sein; andernfalls geriete man in einen infiniten Regress. 66

Mit der »Anwendung der Regel im besonderen Fall« ist man »ja doch ohne Führung«67 , da es keinen Regelausdruck gibt, der »keinen Zweifel eindringen« lässt, dem man »alle Löcher verstopfen« 68 kann. Die »Anwendung eines Wortes«, die Gesamtheit der Sprachspiele wie auch das einzelne konkrete Sprachspiel sind »nicht überall von Regeln begrenzt« 69 . Letztendlich entscheidet der Gebrauchskontext über ihre Anwendung, wir sprechen spontan, eben ohne »Führung«, denn »auch die erprobteste Regelanwendung fordert immer wieder einen Schritt der Phantasie.« 70 »Darum ist ›der Regel folgen‹ eine Praxis.« 71 Und so kommt Wittgenstein zu dem Schluss: Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen. Eine Sprache verstehen, heißt, eine Technik beherrschen.72

Die Grenzfälle von Projektion und Regelfolgen können als Pole phantasievoller Handlungen, als »Phantasie und Kalkül« und mithin als »Ineinanderschachtelung von Rechen- und Projektionsschritten« verstanden werden und sind nach Wittgenstein ein charakteristisches Merkmal natürlicher Sprachen 73 : »Das Einverständnis, das Gelingen im Handeln, erfordert in jedem Einzelschritt Übertragungsfähigkeit, ›Phantasie‹ ; es ermöglicht dann aber den Aufbau komplexer Handlungen, deren Muster auf neue Fälle schematisch angewendet werden können; es werden nach Regeln Strukturen erzeugt (›Kalkül‹). Sind sie vorhanden und beherrscht, laden sie zu Übertragungen, Projektionen, ›Mißbräuchen‹ ein, d. h. zu neuen, nicht schematisch erreichbaren Schritten.« 74 Stetter, Schrift und Sprache, S. 577. PU I, § 292. 68 PU I, § 84. 69 PU I, § 84 (Vergl. u. a. auch § 68). 70 Schneider, Phantasie und Kalkül, S. 342, Anm. 69. Dass jeder Regelbefolgung ein kreativer Aspekt innewohnt, steht nicht im Widerspruch zum normativen Aspekt, der von ihr ausgeht. Kontinuität und Transformation der Sprache bilden die Pole, zwischen denen Sprache und Sprechen sich ereignen, in einem beständigen Wechselspiel von Regelbefolgung und Regelveränderung. 71 PU I, § 202. 72 PU I, § 199. 73 Vergl. Schneider, Phantasie und Kalkül, S. 343. 74 Schneider, Phantasie und Kalkül, S. 343. 66 67

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Regeln folgen

Regeln und ihre Anwendung gehen auf den regelmäßigen und regelgemäßen Gebrauch ihrer konstituierenden Elemente zurück und aus ihnen immer neu hervor. Innovative Formen werden aus bestehenden Elementen gebildet und sind damit nie creatio ex nihilo, sondern unendliche Variationen etablierter Sprachspiele. Dieses Spannungsfeld zwischen Phantasie und Kalkül ist und war schon immer zentrales Element der Musik, weshalb Wittgenstein mit Vorliebe Beispiele aus ihrem Herrschaftsbereich zur Erläuterung der Prozesse in der Sprache heranzieht. Der normative Aspekt des Regelfolgens ist der des »abgerichtet Werdens«: ein Verstoß gegen eine Regel wird von anderen Mitgliedern der Sprach- und Lebensgemeinschaft mit Unverständnis oder Schlimmerem sanktioniert. Wittgenstein schreibt: Einer Regel folgen, das ist analog dem: einen Befehl befolgen. Man wird dazu abgerichtet und man reagiert auf ihn in bestimmter Weise. 75

Ein Kind erlernt die Regeln der Sprachspiele seiner Kultur handelnd, nicht nach einem Wörterbuch. Wörterbücher oder Grammatiken stellen nach Wittgenstein nur den deskriptiven und immer zur Unvollständigkeit verdammten Versuch dar, den nicht systematisierbaren Sprachgebrauch formal zu normieren. Eine auf diese Weise festgestellte Regel – sei diese noch so komplex aufgefasst – ist notwendigerweise ein Konstrukt und eine kontrafaktische Unterstellung, da die Regeln »in der Luft hängen« (s. o.). Dieses normierte Wissen um die Regeln existiert im Alltag als virtuelles Konstrukt für die verschiedenen Individuen einer Gemeinschaft. Der regelhafte Sprachgebrauch ist nicht nur internalisiert, sondern vor allem intern habitualisiert: Ein Sprecher handelt nach Regeln (oder vielleicht besser: bewegt sich in Regeln), ohne deren Angemessenheit, Richtigkeit oder Gültigkeit stets aufs Neue zu überprüfen. Nicht nur, daß wir nicht an die Regeln des Gebrauchs – an Definitionen etc. – denken, wenn wir die Sprache gebrauchen; in den meisten Fällen sind wir nicht einmal fähig, derartige Regeln anzugeben, wenn wir danach gefragt werden. 76

Für Wittgenstein bedeutet dies:

75 76

PU I, § 206. BlB, S. 49.

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Musik als »Stadtteil der Sprache«: Sprachgebrauch, Sprachspiele, Regeln

Wenn ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind. 77

Und das macht den sozialen Zug des Wittgensteinschen Regelbegriffs aus: Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. Es kann nicht ein einziges Mal nur eine Mitteilung gemacht, ein Befehl gegeben, oder verstanden worden sein, etc. – Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen). 78

Es ist das notwendige Charakteristikum einer Regel, dass sie in einer Gemeinschaft existiert und realisiert wird. Die Anwendung einer Regel muss in den regelmäßigen Gebrauch einer Gemeinschaft eingebunden sein und unterliegt damit nicht zuletzt auch immer historischen Bedingungen. (Wittgenstein setzt sich intensiv mit der Möglichkeit einer reinen »Privatsprache« 79 auseinander, in der eine Gemeinschaft für die Konstituierung und Anwendung einer Regel nicht nötig sein soll, und leugnet diese Möglichkeit generell.) Die Existenz einer Regel setzt eine kulturell gebundene Gemeinschaft voraus, deren Mitglieder sich in Sprachspielen, im sprachlichen wie nonverbalen Handeln wechselseitig auf regelmäßige Verhaltensweisen »abrichten« und im Fehlverhalten »sanktionieren«. Das Gebrauchsprinzip der Bedeutung entfaltet sich damit erst in seiner sozialen Dimension vollständig. Zwar besteht die Bedeutung der Wörter in ihrem Gebrauch, der reicht als alleiniges Bestimmungsmerkmal aber nicht aus, denn die bloße Verwendung von Wörtern bildet noch keine Sprache. Erst die Regelhaftigkeit im Gebrauch ermöglicht das Sprachspiel. 80 Diese Regelhaftigkeit kann nur in einem sozialen Zusammenhang entstehen. Mithin bezieht sich das Gebrauchsprinzip explizit nicht nur auf die produktive Seite der Bedeutungskonstitution, sondern ist ohne ihren sozialen und historischen Aspekt, nämlich die regelmäßige Handlungsweise der Mitglieder der Gemeinschaft in der Zeit, ihr kontinuierliches »Spiel«, nicht denkPU I, § 219. PU I, § 199. 79 Vergl. PU I, § 243–315. Vergl. dazu die grundlegende Untersuchung von Saul A. Kripke, Wittgenstein über Regeln und Privatsprache, Frankfurt a. M. 1982, sowie die etwas allgemeinere Arbeit von Severin Schroeder, Das Privatsprachenargument. Wittgenstein über Empfindung und Ausdruck, Paderborn u. a. 1998. 80 Vergl. Kurt Wuchterl, Struktur und Sprachspiel bei Wittgenstein, Frankfurt a. M. 1969, S. 131. 77 78

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Regeln folgen

bar: Eine Stadt und ihre unterschiedlichen Viertel müssen bewohnt sein, damit die Wegweiser in ihr einen Sinn haben. Nachdem diese drei für Wittgensteins Philosophie grundlegenden Begriffe des Gebrauchs, des Sprachspiels und der Regel erklärt sind, kann es im Folgenden darum gehen, den ungeheuer verwinkelten »Stadtteil Ästhetik« innerhalb unserer Sprachspiele eingehend zu »besichtigen«.

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Ästhetik?

Die Bedeutung eines Wortes oder Begriffs muss in einer bestimmten kulturell erlernten Situation realisiert werden und ist nicht unabhängig von ihr gegeben. Das Untersuchungsinteresse für ästhetische Fragen, die Wittgenstein »wirklich fesseln« 81 , gilt daher konsequenterweise nicht hergebrachten und ungelösten »Substanzproblemen« einer Disziplin »Ästhetik«, sondern den komplexen »Wortverwendungsgepflogenheiten« innerhalb eines besonderen Bereichs menschlicher Erfahrung. Inwiefern unterscheiden sich Ausdrücke, die in ästhetischen Kontexten – z. B. im Sprechen über Musik – verwendet werden von solchen in alltäglicheren Fragen? Was ist ein ästhetisches Urteil? Inwieweit geht es um »innere Erfahrung«, was kann das überhaupt sein und wie können wir uns darüber austauschen? Wie steht es mit der Frage der Gefühle, insbesondere in der Musik? Wittgenstein will mit seinen verstreuten Bemerkungen zur Ästhetik und Kultur exemplarische Verwendungskontexte für scheinbar bekannte und vertraute Begriffe durchspielen, denn: Was ich lehren will, ist: von einem nicht offenkundigen Unsinn zu einem offenkundigen übergehen. 82

Ästhetische Ausdrücke Ästhetische Ausdrücke bilden eine eigene »Art von Wörtern«, eine besondere »Wortart«. 83 (Dieser Terminus ist bei Wittgenstein nicht formal-grammatisch oder morphologisch besetzt und lässt sich besser Vergl. VB, S. 563. PU I, § 464. 83 PU I, § 17, 23; sowie VÄ I, § 3; (Wittgenstein selbst schlägt an dieser Stelle den Ausdruck »Sprachteile« als Synonym für »Wortarten« vor.). 81 82

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Ästhetische Ausdrücke

mit »Wortfunktion« übersetzen. 84 ) Jede dieser Wortarten hat eine »Oberflächengrammatik« sowie eine »Tiefengrammatik«. 85 Um durch die Metapher der »Tiefe« nicht in die Irre geführt zu werden 86 , kann man zwischen der »Geologie« eines Wortes, also seiner aktuellen, sofort erkennbaren Umwelt, die »man mit dem Ohr erfassen kann« 87 , und seiner »Gesamtgeographie«, also den unzähligen Formen des tatsächlichen Gebrauch eines Wortes unterschieden.88 Bezieht man nur die unmittelbar akustisch und visuell erkennbaren Züge von Wörtern auf Kosten der Gesamtheit ihrer Gebrauchsmöglichkeiten in die Betrachtung der aktuellen Funktion eines Wortes mit ein, kommt es zu offenbarem »Unsinn«, zu der »Verhexung des Verstandes« (s. o.) und zu Mißverständnisse[n], die den Gebrauch von Worten betreffen; hervorgerufen, unter anderem, durch gewisse Analogien zwischen den Ausdrucksformen in verschiedenen Gebieten unserer Sprache. – Manche von ihnen lassen sich beseitigen, indem man eine Ausdrucksform durch eine andere ersetzt; dies kann man ein ›Analysieren‹ unserer Ausdrucksformen nennen, denn der Vorgang hat manchmal Ähnlichkeit mit einem Zerlegen. 89

Mithilfe der Unterscheidung zwischen »Oberflächengrammatik« als der im engeren Sinne logisch-grammatischen »Verwendungsweise im Satzbau« 90 und der »Tiefengrammatik« als Funktion eines Wortes im Zuge seines Gebrauchs91 lässt sich die »Wortfunktion« der »ästhetischen Ausdrücke« näher bestimmen, um vor den Implikationen einer 84 Vergl. PU I, § 17. Dazu im Weiteren auch Schneider, Phantasie und Kalkül, insbes. S. 294. Schneider kritisiert Wittgensteins – aus sprachwissenschaftlicher Perspektive – unbefriedigende, rein pragmatische Verwendung des Ausdrucks »Wortart«, sowie den dazugehörigen Grammatikbegriff. 85 PU I, § 664. 86 Diese Metapher kann neben einer metaphysischen auch zu einer strukturalistisch missverstandenen werden, und zwar dergestalt, dass man annehmen könnte, eine solche Tiefengrammatik könnte langfristig durch logische oder sprachliche Analyse offengelegt werden. Daraus zieht Wittgenstein aber einen anderen Schluss als beispielsweise die Chomsky-Linguistik: Hier kristallisierte man aus der Vielfalt der Sprache das formalistische, generative Modell eines »device«, der eine bestimmte Menge an Möglichkeiten herstellt. (Vergl. Noam Chomsky, Syntactic Structures, Den Haag 1957, S. 11 ff.). 87 PU I, § 664. 88 Glock, Wittgenstein-Lexikon, S. 158. 89 PU I, § 90. 90 PU I, § 664. 91 Vergl. hierzu PU I, § 29, 182, 293, 304, 492 u. a.

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Ästhetik?

unsinnigen Verwendung und »Beulen im Verstand« (s. o.) geschützt zu sein. Die von Wittgenstein so bezeichneten »ästhetischen Ausdrücke« entsprechen einer tiefengrammatischen Kategorie von sprachlichen Funktionen für bestimmte Sprachspiele, insbesondere für solche, die den Bezug zu Kunstwerken betreffen, dort charakteristisch sind und eine bestimmte, kulturell geregelte Funktion einnehmen. Denn in solchen Kontexten geht es gerade nicht um den konkreten Ausdruck, sondern um den Kontext seiner Verwendung: Wir beschäftigen uns […] mit den ungeheuer komplizierten Situationen, in welchen der ästhetische Ausdruck einen Platz hat, in welchen der Ausdruck selbst aber beinahe nebensächlich ist. 92

Ein besonderes Problem bildet dabei eine unreflektierte Anerkennung von den in ästhetischen Kontexten gebrauchten Wörtern wie »schön« bzw. »hässlich« und »gut« bzw. »schlecht« sowie deren Äquivalente »wunderbar«, »hinreißend«, »großartig«, »herrlich«, »furchtbar«, »abstoßend«, etc. ›Schön‹ ist ein Adjektiv, und so könntest du versucht sein zu sagen: ›Dies hat eine bestimmte Qualität, nämlich die, schön zu sein‹. 93

Wittgenstein ärgert sich geradezu darüber, »welche dumme Rolle das Wort ›schön‹ in der Ästhetik spielt«: 94 Wenn Grillparzer sagt, Mozart habe in der Musik nur das ›Schöne‹ zugelassen, so heißt das, glaube ich, daß er nicht das Verzerrte, Gräßliche zugelassen habe, daß sich in seiner Musik nichts findet, was diesem entspricht. Ob das ganz wahr ist, will ich nicht sagen; aber angenommen, es ist so, so ist es ein Vorurteil Grillparzers, daß es von Rechts wegen nicht anders sein dürfe. Daß die Musik nach Mozart (besonders natürlich durch Beethoven) ihr Sprachgebiet erweitert hat, ist weder zu preisen, noch zu beklagen; sondern: so hat sie sich gewandelt. […] Hier hat auch der Begriff ›das Schöne‹ manchen Unfug angestellt. 95 VÄ I, § 5. VÄ I, § 1. 94 VB, S. 523. 95 VB, S. 528; Wittgenstein bezieht sich anscheinend auf eine Bemerkung Grillparzers aus dem Jahre 1837 über die Unterschiede zwischen Dichtung und Musik: »Wenn man den Grundunterschied der Musik und der Dichtkunst schlagend charakterisieren wollte, so müßte man darauf aufmerksam machen, wie die Wirkung der Musik vom Sinnenreiz, vom Nervenspiel beginnt und, nachdem das Gefühl angeregt worden, höchstens in letzter Instanz an das Geistige gelangt, indes die Dichtkunst zuerst den Begriff erweckt, 92 93

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Ästhetische Ausdrücke

Mit diesem Ärger steht er Schönberg in nichts nach: Die Form, in der sie [die Theoretiker] Ästhetik betreiben, ist ja äußerst primitiv. Sie bringen es zu nicht mehr als zu einigen hübschen Phrasen, haben aber von ihr hauptsächlich die Methode apodiktischer Behauptungen und Urteile entlehnt. Es wird zum Beispiel behauptet: ›Das klingt gut oder schlecht‹ (schön oder unschön wäre richtiger und aufrichtiger). Das ist erstens eine Anmaßung, zweitens aber doch ein ästhetisches Urteil. Wird das unbegründet hingestellt, warum sollte man es dann glauben? […] Diese Schön- und Unschönurteile sind ganz unmotivierte Ausflüge ins Ästhetische, die nichts mit der Anlage des Ganzen zu tun haben. […] Das Schönheitsgefühl? Was ist das? In welchem Zusammenhang steht das Schönheitsgefühl sonst mit diesem System? Mit diesem System, bitte!! 96

Schönberg und Wittgenstein waren mit ihrer Ablehnung des »Schönen« als Kriterium der Bewertung und dem Umgang mit Kunst wahrlich nicht alleine, sondern standen inmitten einer avantgardistischen Bewegung. Ich habe hier Schönberg nur deshalb zu Wort kommen lassen, weil sich an diesem Zitat interessante Parallelen, aber auch die neuralgischen Unterscheidungspunkte zwischen dem Problem des »Schönen« bei einem jungen Künstler des 20. Jahrhunderts und Wittgenstein als Philosophen zeigen lassen. Die Argumente, die Schönberg

nur durch ihn auf das Gefühl wirkt und als äußerste Stufe der Vollendung oder der Erniedrigung erst das Sinnliche teilnehmen läßt; der Weg beider ist daher gerade der umgekehrte. Die eine Vergeistigung des Körperlichen, die andere Verkörperung des Geistigen. Aus diesem theoretischen Unterschiede ergibt sich nun aber ein wichtiger praktischer, in Bezug auf den Gebrauch des Häßlichen nämlich. Die Poesie darf das Häßliche (Unschöne) schon einigermaßen freigebig anwenden. Denn da die Wirkung der Poesie nur durch das Medium der unmittelbar von ihr erweckten Begriffe an das Gefühl gelangt, so wird die Vorstellung der Zweckmäßigkeit den Eindruck des Häßlichen (Unschönen) von vornherein in soweit mildern, daß es als Reizmittel und Gegensatz sogar die höchste Wirkung hervorbringen kann. Der Eindruck der Musik aber wird unmittelbar vom Sinn empfangen und genossen, die Billigung des Verstandes kommt zu spät, um die Störungen des Mißfälligen wieder auszugleichen. Daher darf Shakespeare bis zum Gräßlichen gehen, Mozarts Grenze war das Schöne.« (Franz Grillparzer, Sämtliche Werke IX, hrsg. v. H. Laube und J. Weilen, Stuttgart 1872–88, S. 142); vergl. auch Hans Biesenbach, Anspielungen und Zitate in den Schriften Ludwig Wittgensteins, als PDF-Datei abrufbar auf der Website der Internationalen Wittgenstein Gesellschaft unter: http://www.ilwg.eu/files/Anspielungen%20u%20Zitate%20I.pdf (Abruf 23. 3. 09); Biesenbach hat zahlreiche hochinteressante Verweistextstellen aufgedeckt, leider kaum Stellen für die Musik. 96 Schönberg, Harmonielehre, S. 4 f.

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Ästhetik?

vorbringt, sind denen Wittgensteins zunächst sehr ähnlich: »Schön« oder »unschön« dienen der Normierung eines Diskurses und letztendlich der Begründung einer bestimmten klanglichen Weltordnung, die nicht ungestraft durchbrochen werden dürfe. Was von Schönbergs »Theoretikern« als objektives, am Material einer Komposition abgelesenes Urteil verkauft wird, sei in Wahrheit eine phantasielose Geschmacksbekundung. Um so etwas wie ein »Schönheitsgefühl« zu einem echten »ästhetischen Urteil« machen zu können, müsste dieses Bestandteil des uns umgebenden »Systems« sein, so Schönberg. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass Wittgenstein hier durchaus zustimmen würde und diese Beobachtungen vielfach mit Beispielen untermauert. Schönberg nimmt im Fortgang des obigen Zitats die »Theoretiker« weiter unter Beschuss: sie würden mit den Schönheitsurteilen nicht einmal eigene Erfahrung zum Ausdruck bringen, sondern nur, was sie gelernt hätten und nun in der Folge der Schönheitsempfindung aller Menschen zu entsprechen habe; aber: »Die Schönheit ist nicht Sache der Erfahrung aller, sondern höchstens der Erfahrung einzelner.« 97 Hier zeigt sich – leicht zu übersehen – der Unterschied beider Ansätze: Für Schönberg ging es um ein existenzielles Problem. Er wurde als Künstler in den Grundfesten seiner kreativen Überzeugungen angegriffen und seine Werke wurden als »hässlich« verschrien, was ihn bekanntlich sehr kränkte. Folglich war ihm daran gelegen, ein etwaiges Schönheitsempfinden nicht etwa zu leugnen, sondern vor allem die Vorherrschaft seiner Gegner darüber zu demontieren. Wittgenstein hatte dagegen allenfalls mit akademischem Unverständnis zu kämpfen 98 und konnte sich einen distanzierteren und damit in gewisser Hinsicht moderneren Blick auf ästhetische Ausdrücke erlauben: Das etwas »schön« ist, ist nach Wittgenstein weder die Erfahrung aller, noch die einzelner, sondern vielmehr ein in der umgebenden Kultur entwickeltes Sprachverhalten im Umgang mit Musik. Angenommen, Lewy hätte das, was man einen kultivierten Geschmack in bezug auf Malerei nennt. Das ist etwas völlig anderes als das, was im 15. Jahr-

Schönberg, Harmonielehre, S. 4. Auch Wittgensteins Ausflüge in die Architektur (der Bau des sogenannten »Wittgenstein-Hauses« in der Kundmanngasse für seine Schwester Margaret StonboroughWittgenstein) lösten kontroverse Diskussionen aus, mit den Wellen der Empörung und den anhaltenden Skandalen bei Aufführungen der Werke Schönbergs ist das allerdings nicht zu vergleichen. Dasselbe gilt für vereinzelte Polemiken gegen den Tractatus.

97 98

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Ästhetische Ausdrücke

hundert kultivierter Geschmack genannt wurde. […] Für ihn bedeutet er etwas völlig anderes als für einen Menschen damals. 99

Ein Ausdruck wie »schön« oder »unschön« sei kein ästhetisches Urteil über das Objekt, sondern Ausdruck der Kultur, in der es entsteht. In seinen Vorlesungen über Ästhetik (u. a.) untersucht Wittgenstein die Praxis der ästhetischen Urteilsbildung und befragt die Kontexte, in welchen ästhetische Ausdrücke auftauchen, daraufhin, was dort tatsächlich gesagt wird: Die Wörter, die wir Ausdrücke von ästhetischen Urteilen nennen, spielen eine sehr komplizierte, aber genau festgelegte Rolle in der Kultur einer Epoche. Um ihren Gebrauch zu beschreiben, oder um zu beschreiben, was mit kultiviertem Geschmack gemeint ist, muß man eine Kultur beschreiben. […] 100 Bei der Beschreibung des musikalischen Geschmacks mußt du beschreiben, ob Kinder Konzerte geben oder Frauen, oder ob nur Männer das tun etc. etc. [Anm. Rush Rhees: … daß Kinder durch Erwachsene unterrichtet werden, die Konzerte besuchen usw., daß die Schulen sind, wie sie sind usw. –] In den aristokratischen Kreisen Wiens hatten die Leute [diesen oder jenen] Geschmack, der ging dann in bürgerliche Kreise ein, und Frauen traten Chören bei etc. Dies ist ein Beispiel für die Tradition in der Musik. 101

An Beispielen wie diesen zeigt sich Wittgensteins erstaunlich genaue Beobachtung von kulturellen Kontexten und sein Bewusstsein für deren feine Unterschiede, unter anderem geschärft durch seine Studien mit Charles Samuel Myers (vergl. Kapitel »Psychologie und Antipsychologismus«). Die Kulturgebundenheit von »ästhetischen Ausdrücken« untersucht auch Peter Faltin in seiner Auseinandersetzung mit Wittgenstein. Diese zeige sich in bestimmten musikalischen Moden zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten. So sei der Beliebtheitsanstieg der Barockmusik im Deutschland der 1960er Jahre weder der Suche nach etwaigen Botschaften in der Musik Vivaldis geschuldet noch dem plötzlichen Bedarf an der »motorischen Rhythmik« dieser Musik, sondern sie habe die kulturelle Einheit »Flucht in die heile Welt der Vergangenheit« angesprochen, die zufällig in der Form barocker VÄ I, § 29. VÄ I, § 25. 101 VÄ I, § 26. Da es sich bei den Vorlesungen und Gesprächen über Ästhetik um eine Zusammenstellung von Vorlesungsmitschriften handelt, die Wittgenstein zu seinen Lebzeiten nicht autorisiert hatte, sind die Anmerkungen der drei aufzeichnenden Studenten Yorick Smythies, Rush Rhees und Cyril Barrett teilweise mit in den Text eingeflossen, und geben offenbar Teile der Diskussion wieder. 99

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Ästhetik?

Musik ihren Ausdruck gefunden habe. 102 Genaugenommen würde Wittgenstein anmahnen, anstelle der schwer fassbaren »kulturellen Einheiten« die Musikkultur dieser Zeit zu untersuchen, das neu gewonnene Wissen und die neuen Möglichkeiten des Umgangs mit alter Musik, sowie die Initiative von bestimmten Kulturträgern usw. hervorzuheben. Das wäre die pragmatische Betrachtung einer Kultur, die zu einer angemessenen Beschreibung der in ihr praktizierten Musik und deren zeitgenössischem Verstehen führen könnte. Nur wenn alle Faktoren bekannt wären, könnte man vielleicht erklären, was in den 1960ern in Deutschland jemand meinte, der ein Vivaldi-Konzert mit dem Wort »schön« bezeichnet hat. Denn: Wir gebrauchen das Wort ›Geschmack‹ nicht zur Bezeichnung einer Empfindung. […] Durch eine Darstellung des Gebrauchs unserer Worte in falscher Vereinfachung entstehen eine große Zahl der philosophischen Probleme. (Denke etwa an die Idee: die Eigenschaften eines Dings seien Ingredienzen, die in ihm enthalten sind. Die Schönheit sei im Schönen enthalten, wie der Alkohol im Alkoholischen.) 103

Wie ist das gemeint? Bei einem Satz wie »der Ball ist rund« wird ein Prädikat (die Eigenschaft »rund«) einem Subjekt (»Ball«) zugeordnet. Der Satz »Die Konzertetüde ist schön« weist einen identischen Bau, die selbe Struktur auf: Ein Prädikat wird einem Objekt zugeordnet. Im Gegensatz zu den »Sommersprossen« ist das Prädikat »schön« aber kein echter Bestandteil des Objektes, sondern eine Qualität oder »Beschaffenheit« (ein Prädikat als Bestandteil des Objektes wäre z. B. »die Konzertetüde ist virtuos«). Diese Verwechslung kann leicht zustande kommen, da sie nicht allein durch die Verwechslung von analytischen und synthetischen Urteilen (Kant) entsteht. Denn die subjektive Qualität »schön« ist nicht nur keine analytische Eigenschaft, sie ist überhaupt keine Eigenschaft des Objektes. Sie entsteht und besteht alleine im Akt der Bezeichnung, folglich in der Wechselwirkung zwischen Objekt und einem bezeichnenden Subjekt. 104 »Ästhetische Ausdrücke« müssen demnach grundlegend von den »Empfindungswörtern« unterschieden werden. Während nämlich mit einem Wort wie »Schmerz« prädikativ auf ein subjektives, inneres Ereignis Bezug genommen wird und es stellvertretend etwa für eine 102 103 104

Vergl. Faltin, Bedeutung ästhetischer Zeichen, S. 109. EPhB I, Nr. 133, S. 217. Vergl. auch Faltin, Bedeutung ästhetischer Zeichen, S. 140.

104 https://doi.org/10.5771/9783495860168 .

Ästhetische Urteile

Lautgebärde gebraucht wird, nimmt man mit dem Gebrauch eines Ausdrucks wie »schön« zunächst auf ein Objekt der äußeren Welt und nicht auf eines der inneren, privaten Welt wie der der Gefühle Bezug. Im alltäglichen Umgang interessant erscheint eine Äußerung wie die genannte, weil mit ihr keine (empirisch verifizierbare) Eigenschaft des betreffenden Objekts ausgedrückt wird, sondern, wie oben erläutert, eine immaterielle und äußerst komplexe Beziehung.

Ästhetische Urteile Von den mit gewisser Vorsicht zu behandelnden »ästhetischen Ausdrücken« unterscheidet Wittgenstein die »ästhetischen Urteile«: Wenn wir über einen Gegenstand ein ästhetisches Urteil fällen, starren wir ihn nicht einfach an und sagen: ›Oh, wie wunderbar!‹. 105

»Wunderbar« wäre ein ästhetischer Ausdruck. Ein ästhetisches Urteil ist dagegen komplexerer Natur als der Ausdruck spontanen Wohlgefallens. Ein Mensch, dem man in musikalischen Dingen Urteilsvermögen zutraut, sei nicht jemand, der »wunderbar!« bei vorhersehbaren Gelegenheiten sagt: Wir unterscheiden zwischen Leuten, die wissen, wovon sie sprechen, und solchen, die das nicht tun. […] Wir gebrauchen den Ausdruck ›Ein Mensch ist musikalisch‹ nicht so, daß wir jemanden musikalisch nennen würden, der ›Ah!‹ sagt, wenn ein Musikstück gespielt wird, genausowenig wie wir einen Hund musikalisch nennen, der mit dem Schwanz wedelt, wenn Musik gespielt wird. 106

Wittgenstein stellt immer wieder fest, dass für ästhetische Urteile kaum ästhetische Adjektive eine Rolle spielen: Werden ästhetische Adjektive in der Musikkritik benutzt? Man sagt ›Betrachte diesen Übergang‹ [Anm. Taylor: ›Der Übergang wurde richtig ausgeführt‹] oder [Rhees: ›Diese Passage ist inkohärent‹]. 107

Wörter, die im Zusammenhang mit ästhetischen Urteilen gebraucht werden, gehören eher in den Umkreis von Begriffen wie »richtig« oder 105 106 107

VÄ I, § 17. VÄ I, § 17. VÄ I, § 8.

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Ästhetik?

»korrekt« als zu »schön« oder »bezaubernd«. Um den Gebrauch ästhetischer Urteile beschreiben zu können (und damit den Bereich ihrer Geltung einzugrenzen), müsse man möglichst umfassend den Gebrauch innerhalb ihrer Kultur beobachten. Wie wird beispielsweise die häufig gebrauchte Wendung vom »ausdrucksvollen (Klavier-)Spiel« innerhalb der europäischen Musikkultur begründet? Gewiß nicht durch etwas, was das Spiel begleitet. – Was gehört also dazu? Eine Kultur, möchte man sagen. – Wer in einer bestimmten Kultur erzogen ist, – dann auf die Musik so und so reagiert, dem wird man den Gebrauch des Wortes ›ausdrucksvolles Spiel‹ beibringen können. 108

Das ästhetische Urteil gründet sich zunächst auf schlichtes Handwerk: Um ein englisches Sonett schätzen zu können, so Wittgenstein, muss man die englische Sprache beherrschen und etwas von Metrik verstehen, 109 folglich eine gewisse Regelkenntnis der betreffenden künstlerischen Praxis aufweisen. 110 Für ästhetische Urteile über Musik ist zumindest eine gewisse Kenntnis der Regeln von »Harmonielehre und Kontrapunkt« nötig. 111 Auch hier fehlt bei Wittgenstein nicht der kulturelle Kontext: Die Regeln musikalischer Logik müssen – ebenso wie die Regeln der syntaktischen Logik der Sprache – als Summe kollektiv verbindlicher Normen anerkannt und historisch gewachsen sein. Harmonieregeln sind aber keine objektiven, etwa durch empirische Beobachtung gewonnenen Naturgesetze (wie in gewissem Sinne die Gesetze der mathematischen Logik), sondern entstehen in einem historischen Prozess der Wechselwirkung zwischen den Vorstellungen von Subjekten und den Möglichkeiten des Materials. Dieser Wechselwirkung waren nach Wittgenstein auch »die größten Komponisten« unterworfen, sie »schrieben in Übereinstimmung mit den Regeln,« änder108 Z, Nr. 164. Hier ist Wittgenstein aus der Sicht moderner musikpsychologischer Untersuchungen insofern zu widersprechen, als dass sich der mimisch-gestische Ausdruck eines sichtbaren Interpreten womöglich stärker auf die Wahrnehmung des Hörers auswirkt als der gehörte musikalische Ausdruck. Bezogen auf Tonträger kann man diese Bemerkung jedoch sehr wohl gelten lassen. 109 VÄ I, § 17. 110 Vergl. hierzu auch Joachim Schulte, »Ästhetisch richtig«, in: Ders., Chor und Gesetz. Wittgenstein im Kontext, Frankfurt a. M. 1990, S. 77 ff. 111 Vergl. VÄ I, § 15 und 16. Die Vorlesungen über Ästhetik entstanden 1938, zum Verständnis zeitgenössischer Musik ist sicher die Kenntnis anderer Verfahren wichtiger als die des Kontrapunkts, die Intention des Beispiels ist aber unverkennbar nach wie vor gültig.

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Ästhetische Urteile

ten sie jedoch auch, wie er auf den Einwand eines Vorlesungsteilnehmers einräumt: Man kann sagen, daß jeder Komponist die Regeln geändert hat, aber diese Änderungen waren sehr gering, und nicht alle Regeln wurden geändert. Die Musik war noch immer nach sehr vielen der alten Regeln gut. 112

Im richtigen Gebrauch von Regelverwendung und ihrem kreativen Bruch wird man innerhalb einer Kultur »abgerichtet« 113 : Der Schneider lernt die Regeln, einen Anzug zu fertigen, wie jemand, der Kontrapunkt lernt. Man muss aber auch lernen, diese Regeln zu interpretieren und verschieden anzuwenden, denn, so Wittgenstein: Durch das Lernen der Regeln verfeinert sich dein Urteilsvermögen mehr und mehr. Tatsächlich ändert das Lernen der Regeln dein Urteil. 114

In einer Kultur und ihrer Geschichte werden solche Lernprozesse wiederum zu Gesetzen des musikalischen Denkens und Normen der musikalischen Logik 115 , und nur durch beständige Einübung bekommt das Sachurteil eine objektivierte Begründung über eine rein ästhetische Reaktion hinaus. Der Begriff des Verhaltens rückt damit ins Zentrum. Als Beispiel nennt Wittgenstein das Lesen von Gedichten: Ich hatte ein Erlebnis mit Klopstock. Ich fand heraus, daß man sein Versmaß anormal betonen muß, um ihn richtig zu lesen. Klopstock setzte seinen Gedichten _–_ etc, voran. Als ich seine Gedichte auf diese neue Art las, sagte ich mir: ›Aha, jetzt weiß ich, warum er das getan hat.‹ Was war geschehen? Ich hatte diese Art von Zeugs bereits gelesen und war milde gelangweilt gewesen. Aber als ich es jetzt intensiv auf diese eigentümliche Art las, lächelte ich und sagte: ›Das ist großartig‹, usw. Aber ich hätte auch nichts zu sagen brauchen. Wichtig ist, daß ich sie immer und immer wieder las. Als ich die Gedichte las, machte ich Gesten und Gesichtsausdrücke, die Gesten der Zustimmung genannt werden würden. Aber wichtig ist, daß ich die Gedichte ganz anders, viel intensiver las, und daß ich zu anderen sagte: ›Schaut! So müssen sie gelesen werden.‹ Ästhetische Adjektive spielten kaum eine Rolle. 116

Wittgensteins Biograph McGuinness stellt dieselbe Haltung auch im Umgang mit bestimmten Musikwerken fest. So hält er Wittgensteins 112 113 114 115 116

VÄ I, § 16. Vergl. VÄ I, § 15. VÄ I, § 15. Vergl. VÄ I, § 15 VÄ I, § 12; Hervorhebungen von mir.

107 https://doi.org/10.5771/9783495860168 .

Ästhetik?

Bemerkung, er habe in Berlin 30 Aufführungen der Meistersinger beigewohnt, für symptomatisch: Wittgenstein reagierte eben nicht, indem er sagte: ›Die Meistersinger sind ein großartiges Werk, ich muß mehr von Wagner kennenlernen‹ […], sondern ›Die Meistersinger sind ein großartiges Werk, ich muß es öfter hören‹. 117

Wittgenstein versucht sich im Laufe der Vorlesungen (auch in einigen anderen verstreuten Passagen) auf verschiedenen Wegen der Frage zu nähern, auf welche Weise es sich äußert, wenn man etwas mag. Geht es nun um das, was wir sagen, um unsere Ausrufe und Gesten, oder um die Gesichter, die wir machen? Offensichtlich, so das Fazit des obigen Zitats, kommt es vor allem darauf an, wie oft ich etwas lese oder höre. »Kennerschaft« wird durch die Art der Beschäftigung mit etwas ausgezeichnet: Daß er ein Kenner ist, zeigt sich nicht an seinen Ausrufen, sondern an der Art, wie er auswählt usw. Genauso in der Musik: ›Harmoniert das? Nein. Der Baß ist nicht laut genug. Hier möchte ich nur etwas anderes …‹ Das nennen wir Kennerschaft.118

Als Beispiel dient Wittgenstein die Mode. 119 Ein Schneider lernt, nach bestimmten Regeln, die er immer neu kreativ interpretiert, einen Anzug zu schneidern. Jemand, den man einen »Kenner« nennen würde, bestellt bei ihm einen solchen Anzug. Während der Anprobe fallen wahrscheinlich keine Worte des Entzückens, sondern es wird darüber gesprochen, an welcher Stelle der Stoff zu kurz, zu lang oder zu eng ist. Darauf folgt keine ästhetische Diskussion, sondern im Normalfall ändert der Schneider die entsprechenden Teile. Ist der Kunde zufrieden, äußert sich sein Wohlgefallen vor allem darin, dass er das Werk bezahlt und es dann häufiger trägt als andere Kleidungsstücke, die ihm weniger gefallen. Die Gründe für das Gefallen müssen dabei nicht unbedingt individuell beeinflussbaren, ästhetischen Urteilen entspringen: Unsere »ästhetischen Reaktionen«, sie sind vielleicht so etwas wie »eine Funktion der Überzeugungen, welche wir über ein Objekt haben. […] Nachdem wir wissen, daß [etwas] ein Kunstwerk ist«, vielleicht sogar eines, das anerkannten Kennern als »bedeutend« gilt, »können wir eine EinMcGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, S. 102. VÄ I, § 19. 119 Das Beispiel des Schneiders zieht sich durch den ganzen ersten Teil der Vorlesungen über Ästhetik, vergl. insbes. § 13 ff. 117 118

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stellung der Achtung und der Ehrfurcht vor ihm einnehmen«, die sich unabhängig von solchem Wissen kaum einstellte. 120 Das ästhetische Urteil, also die Form von »Kennerschaft«, muss immer wieder nachdrücklich auf die Lebensform der Menschen zurückgeführt werden, die es fällen, und auf das Verhalten, das sich daraus ergibt. Am Ende des ersten Teils der Vorlesungen bemerkt ein Zuhörer (Casimir Lewy), er würde nicht widersprechen, wenn seine Wirtin ein Bild hübsch fände, er hingegen hässlich. Rush Rhees wendet daraufhin ein, dass es durchaus einen Widerspruch gebe, wenn auch – dem eingeübten Sprachspiel der Höflichkeit halber – keinen in ästhetischen Ausdrücken, sondern im Verhalten: Die Wirtin würde das Bild regelmäßig abstauben und es vielleicht an eine gut sichtbare Stelle hängen, er wolle das Bild dagegen »ins Feuer werfen«, sollte die Gelegenheit günstig sein. 121 Solche Gespräche könnte man in Anlehnung an Wittgenstein »virtuelle ästhetische Sprachspiele« nennen, sie sind im Alltag häufiger als der Austausch über ästhetische Sachurteile und dienen zumindest größtenteils einem anderen Zweck als der Beurteilung eines ästhetischen Objektes. Solche Sprachpraxen handeln nicht von ästhetischen Objekten und ihrem ästhetischen Gehalt, sondern von ihrem historisch bzw. kulturell geformten Gehalt, von den Kontexten einer »Lebensform« und der möglichen nicht-ästhetischen Bedeutung, die der virtuelle Gegenstand in den Individuen dieser Lebensform hervorbringt.

Verschwommenheit – Sprache als Gebärde Unbestreitbar ist trotz allem, dass ästhetische Adjektive wie »schön« oder »gut« usw. einen festen Platz im Sprachverhalten in Bezug auf Kunst bzw. ästhetische Eindrücke innerhalb einer Kultur haben. Dort sind sie für Wittgenstein auch weitgehend unproblematisch, solange sie eben nicht im Rahmen eines philosophischen oder ästhetischen Dis120 Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt a. M. 1999, S. 155 f. Vergl. hierzu und zu dem Vorangegangenen auch: Stefan Majetschak, »Kunst und Kennerschaft. Wittgenstein über das Verhältnis und die Erklärung von Kunstwerken«, in: ›Ethik und Ästhetik sind Eins‹ (= Wittgenstein-Studien Bd. 15) hrsg. v. Wilhelm Lütterfelds und Stefan Majetschak, Frankfurt a. M. 2007, S. 49–68. 121 Vergl. VÄ I, § 36.

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kurses ausgewertet werden sollen. Mögen sie auch nicht im Zentrum einer »Ästhetik« stehen, so räumt Wittgenstein ein, dass die alltägliche sprachpraktische Funktion von Wörtern wie »schön« und die sie umgebenden Ausdruckshandlungen dennoch einen legitimen und vor allem vielgenutzten Bestandteil der Sprache bilden; das macht sie zu einem wichtigen Gegenstand sprachkritischer Untersuchung. Zwar operieren musikalische Formanalysen überwiegend nicht mit Begriffen wie »schön« oder »hinreißend«, aber ihr Gebrauch als spontane Beifallsbekundung oder Ausdruck von Wohlgefallen z. B. am Ende eines Konzertes anstelle eines Bravo-Rufs ist durchaus selbstverständlich. Und das immerhin dergestalt, dass vielleicht ein und dieselbe musikalische Phrase einem Menschen in einer Konzertsituation ein »herrlich« entlockt, zu Hause am Schreibtisch bei der Analyse jedoch möglicherweise andere Ergebnisse zeitigt. Im Sprechen über Musik benutzt man ästhetische Ausdrücke. Ästhetische Ausdrücke haben eher den Charakter von Ausrufen, Gebärden und Gesten, sie sind keine logisch verifizierbaren Sätze, gehören nichtsdestotrotz aber der Sprache an. Solche ästhetischen Ausdrücke werden – so Wittgenstein – als Interjektionen gelernt: Wenn du dich fragst, wie ein Kind Ausdrücke wie ›schön‹, ›gut‹ etc. lernt, wirst du feststellen, daß es sie, grob gesagt, als Ausrufe lernt. 122

Als Ausrufe für Hunger, für erste Gehversuche, für ein Lachen: Das Wort wird als Ersatz für einen Gesichtsausdruck oder eine Geste gelehrt. 123

Zunächst dienen Worte wie Gesten gleichermaßen dazu, »richtige« Züge in einem Sprachspiel zu spielen. »Richtig« ist eine Interjektion dann, wenn sie in der Spielergemeinschaft Erfolg hat, d. h., wenn das Gewünschte eintritt. Ästhetische Ausdrücke und Empfindungswörter haben demnach kein Denotat, sondern sie ersetzen oder artikulieren eine Gegebenheit durch einen konventionalisierten Sprachausdruck, wie der Wortausdruck des Schmerzes das Schreien ersetzt und es nicht beschreibt. 124 Der Satz »Ich habe Schmerzen« ersetzt den Ausdruck »au«, der seinerseits wieder den individuellen Schmerz nicht beschreibt, sondern anzeigt. Weder »au« noch »Ich habe Schmerzen« be122 123 124

VÄ I, § 5. Ebd. Vergl. PU I, § 244.

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schreiben den privaten Schmerz, und – wozu auch? fragt Wittgenstein. Ich verstehe, was Schmerzen im Fuß sind, auch wenn ich noch nie welche hatte und meine Schmerzen mit denen anderer Personen vielleicht gar nicht vergleichbar sind. Das liegt daran, dass wir den Gebrauch dieser Worte erlernt haben. Die Wortverwendungsgepflogenheiten sind intersubjektiv, nicht der Schmerz oder die Freude oder das Wohlgefallen oder die Erschütterung durch Musik. In bestimmten Kontexten bezeichnen Wörter etwas, und es gibt eine andere Klasse von Situationen, in denen die Wörter nichts als Ausrufe und Gesten sind und ihre Funktion das Zeigen ist. Die »grammatische Fiktion« ist nun, so Wittgenstein, dass wir für alle Wörter dieselbe Funktionsweise annehmen: Beschreib das Aroma des Kaffees! – Warum geht es nicht? Fehlen uns die Worte? Und wofür fehlen sie uns? – Woher aber der Gedanke, es müsse doch eine Beschreibung möglich sein? Ist dir so eine Beschreibung je abgegangen? Hast du versucht, das Aroma zu beschreiben, und es ist nicht gelungen? (Ich möchte sagen: ›Diese Töne sagen etwas Herrliches, aber ich weiß nicht was.‹ Diese Töne sind eine starke Geste, aber ich kann ihr nichts Erklärendes an die Seite stellen. […] ›Es fehlen die Worte‹. Warum führen wir sie dann nicht ein?) 125

Weil wir sie gar nicht brauchen. Auch die besten Wörter könnten das Aroma weder beschreiben noch ersetzen, weil das nicht die Funktionsweise von Worten ist. Man kann aber sagen »mhhh«, und wird problemlos verstanden. Würde es etwas ausmachen, wenn ich anstatt ›Das ist gut‹ einfach ›Ah!‹ sagte und lächelte, oder wenn ich meinen Bauch riebe? 126 125 PU I, § 610; Musik wird hier nicht einfach mit Kaffee verglichen, das Aroma erscheint als neutrales, weil nicht vorbelastetes Beispiel der Rezeption. Wittgenstein macht sich wiederholt lustig über das Pathos der kunstwerkorientierten philosophischwissenschaftlichen Disziplin »Ästhetik« seiner Zeitgenossen und benutzt in den Philosophischen Untersuchungen bewusst sehr alltägliche, prosaische Beispiele, die sich explizit nicht vordergründig mit Kunst(-Erfahrung) befassen. Auch hierin ähnelt seine Argumentation der Arnold Schönbergs, der in seiner Harmonielehre mehrmals vom Tischler spricht und seine Einleitung mit den Worten schließt: »Wenn es mir gelingen sollte, einem Schüler das handwerkliche unserer Kunst so restlos beizubringen, wie das ein Tischler immer kann, dann bin ich zufrieden. Und ich wäre stolz, wenn ich, ein bekanntes Wort variierend, sagen dürfte: ›Ich habe den Kompositionsschülern eine schlechte Ästhetik genommen, ihnen dafür aber eine gute Handwerkslehre gegeben‹.« Schönberg, Harmonielehre, S. 6. 126 VÄ I, § 7.

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Man könnte auch demjenigen, der das Aroma des Kaffees nicht kennt, schlichtweg den Kaffee vor die Nase stellen (und vielleicht sagen: »Riech!«). Das ist aber keine Beschreibung, sondern ein Sprachverhalten. Sprechen können wir z. B. darüber, wie der Kaffee angebaut, wie er verarbeitet werden muss, damit sein Aroma zu voller Entfaltung kommt, oder wie man sein Aroma konserviert, welche physischen Wirkungen es verursacht usw. Über einen feinen ästhetischen Unterschied läßt sich Vieles sagen – das ist wichtig. – Die erste Äußerung mag freilich sein: ›Dies Wort paßt, dies nicht‹ – oder dergleichen. Aber nun können noch alle weitverzweigten Zusammenhänge erörtert werden, die jedes der Wörter schlägt. Es ist eben nicht mit jenem ersten Urteil abgetan, denn es ist das Feld eines Wortes, was entscheidet. 127

Schönberg entwickelt in der Harmonielehre ein in gewisser Hinsicht vergleichbares Tableau: Wenn es überhaupt Sinn habe, Kunst zu verbreiten, sei »die Eindrucks- und Unterscheidungsfähigkeit des Laien unbedingte Voraussetzung dafür«, unabhängig von irgendwelchen »Schönheitsgesetzen«. Denn: Wer eine gute Frucht von einer schlechten mit dem Gaumen unterscheiden kann, muß nicht imstande sein, den Unterschied durch die chemische Formel auszudrücken und braucht sie nicht, um ihn zu erkennen. Soll aber einer Speisen beurteilen, der keinen Gaumen hat? Und nützt ihm dann die chemische Formel? Aber auch: verstünde er sie anzuwenden, und wenn ja: zu welchen Zwecken wendete er sie an? Hat der Schüler die Gesetze nötig, damit er wisse, wie weit er gehen dürfe? Ich habe es ja eben gesagt, wie weit er gehen kann: so weit ihn seine Natur treibt, die genau zu hören er sich bestreben muß, wenn er Künstler sein will! 128

»Diese Töne sagen etwas Herrliches, aber ich weiß nicht was.« 129 – Sprachlich kann dieses »Herrliche« ebenso wenig wie das Aroma mitgeteilt werden. Aber auch hier fehlen nicht etwa die passenden Worte, etwa, weil es bisher noch nicht gelang, solche zu erfinden: Sie mussten nicht erfunden werden, weil sie für die Verständigung im Alltag gar nicht benötigt werden. »Das Herrliche« einer Musik ist eben keine Eigenschaft, keine höhere Substanz, die sich als ein »Namenstäfel-

127 128 129

PU II xi, S. 351. Schönberg, Harmonielehre, S. 495 f. PU I, § 610.

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chen« an eine musikalische Struktur »anheften« 130 oder sich überhaupt mittels ästhetischer Ausdrücke identifizieren ließe. Wittgensteins »Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden« 131 wendet sich immer wieder vehement gegen die Substanzannahme, hinter den ästhetischen Ausdrücken sei mehr »versteckt« 132 als die Kultur und Lebenswelt dessen, der sie gebraucht: Um das Kaffeearoma schätzen zu können, muss man es gerochen haben und um über das »Schöne« eines Kunstwerks zu sprechen, muss es »als Schönes« erlebt worden sein. Sprechen über Kunst (und Geschmack) dient nicht der Abbildung oder Beschreibung von Dingen und wird im alltäglichen Sprachgebrauch auch nicht so verwendet. Solche Sprachpraxen handeln nicht von ästhetischen Objekten und ihren ästhetischen Qualitäten, sondern von ihrem historischen bzw. kulturellen Gehalt, von den Kontexten einer »Lebensform« und der möglichen, nicht-ästhetischen Bedeutung, die der virtuelle Gegenstand oder Sachverhalt in diesen hervorbringt: Das Wort »schön« bedeutet demnach sehr wohl etwas, aber nicht etwa, weil es sich auf etwas Identifizierbares bezieht, sondern weil genügend Angehörige einer Sprachgemeinschaft es auf eine ganz bestimmte Art und Weise und bei bestimmten Anlässen gebrauchen. 133 Für ästhetische Ausdrücke gelten mithin komplexe kulturelle Regeln, auch wenn diese nicht bewusst angewendet oder sprachlich fixiert werden können: ßeinrßWie finde ich das ›richtige‹ Wort? Wie wähle ich unter den Worten? Es ist wohl manchmal, als vergliche ich sie nach feinen Unterschieden ihres Geruchs: Dies ist zu sehr …, dies zu sehr …, – das ist das richtige. Aber ich muß nicht immer beurteilen, erklären; ich könnte oft nur sagen: ›Es stimmt einfach noch nicht.‹ Ich bin unbefriedigt, suche weiter. Endlich kommt ein Wort: ›Das ist es!‹ Manchmal kann ich sagen, warum. So schaut eben hier das Suchen aus, und so das Finden. 134 Ist das passende Wort gefunden, sei der Grund seines »Passendseins« nicht unbedingt erklärbar: Wenn dir plötzlich ein Thema, eine Wendung, etwas sagt, so brauchst du dir’s nicht erklären zu können. Es ist dir plötzlich auch diese Geste zugänglich. 135

130 131 132 133 134 135

Vergl. PU I, § 15 und 26. TLP, § 4.1212. Vergl. PU I, § 435. Vergl. dazu auch Faltin, Bedeutung ästhetischer Zeichen, S. 139. PU II xi, S. 350. BPP I, § 660 (identisch mit Z, Nr. 158).

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Der Vorgang des Suchens gleicht dabei vielleicht einer Art innerem »Durchspielen« des Begriffs, einem Ausprobieren und Nachhorchen der »[c]harakteristischen Begleiterscheinungen. Hauptsächlich: Gebärden, Mienen, Tonfall« 136 eines Wortes, so Wittgenstein. Die Suche besteht in dem Erforschen des »Wortfeldes« (s. o.), deshalb ist das gelungene Sprechen über Musik immer selbst kreativer Prozess und in gewissem Sinne die Übersetzung einer musikalischen Geste in eine sprachliche. Was das gefundene Wort dann ausdrückt, ist mithin keinesfalls ein Zeigen im Sinne einer sogenannten »hinweisenden Definition«, die Geste ersetzt nicht das Wort, ist nicht eine andere Art des Sagens, sondern gehört zum »Feld eines Wortes« und ist von seiner Bedeutung nicht zu trennen, da das Wort nicht ohne seinen impliziten gestischen Anteil verständlich ist: Ich kann für meine Zwecke statt der Empfindungen, von welchen man sagt, das Wort drücke sie aus, Tonfall und Gebärden setzen, mit welcher das Wort gebraucht wird. […] Aber ich könnte auch statt des Tonfalls und der begleitenden Gebärde, für meine Zwecke, das Wort selbst als Gebärde auffassen. 137

Ein Wort und insbesondere ein ästhetischer Ausdruck hat für Wittgenstein einen »gestischen Körper«, der es, obgleich nicht verbalisierbar, für den Umgang mit Kunst überhaupt erst qualifiziert: In der Wortsprache ist ein starkes musikalisches Element. (Ein Seufzer, der Tonfall der Frage, der Verkündigung, der Sehnsucht, alle die unzähligen Gesten des Tonfalls.) 138

Für Wittgenstein ist »der Ausdruck einer Emotion in der Musik, sagen wir, eine bestimmte Geste«. Daher lasse sich die Emotion auch kaum beschreiben, »außer, vielleicht, gerade durch diese Geste«. 139 MusikaPU II xi, S. 351. PG II, Nr. 30. 138 Z, Nr. 161. 139 VÄ, S. 57. Auch wenn zu diesem Themenkomplex meist die Musik als Beispiele dient, greift Wittgenstein gelegentlich zu Vergleichen aus der bildenden Kunst: Denkbar wäre z. B., dass ein Maler eine Geste malt, die jemand zu einer musikalischen Phrase macht: »Für ihn [den Maler] wäre es ein Ausdruck, diese Geste zu malen, oder ein dazugehöriges Gesicht, so wie für mich, diese Geste zu machen.« (VÄ, S. 57). An anderer Stelle geht es um Architektur als Geste: »Architektur ist eine Geste. Nicht jede zweckmäßige Bewegung des menschlichen Körpers ist eine Geste. Sowenig wie jedes zweckmäßige Gebäude Architektur.« (VB, S. 510). »Erinnere Dich an den Eindruck gu136 137

114 https://doi.org/10.5771/9783495860168 .

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lische Zeichen codieren demnach einen Gestus, dem bestimmte variable, aber nicht beliebige gestische Operationen analog sein können: Ich möchte sagen: ›Diese Töne sagen etwas Herrliches, aber ich weiß nicht was.‹ Diese Töne sind eine starke Geste, aber ich kann ihr nichts Erklärendes an die Seite stellen. 140

An Bemerkungen wie diesen wird deutlich, dass sich Sprechen über Kunst schon deshalb nicht selten in Gestalt von Gesten vollzieht, weil künstlerischer Ausdruck selbst Teil eines umfassenden Sprachspiels ist, als eine »von Menschen produzierte Zeichenform«. 141 Zusammenfassend kann man daher festhalten, dass der Musik ein gestischer Ausdruck innewohnt, dem man selbst wiederum mit einer Geste folgen, den man mit ihr ausdrücken kann. Dieses gestische Element ist in einem weiteren Sinne Bestandteil aller menschlichen Äußerungen und wirkt auf die Sprache zurück, indem es das Verständnis der (sprachlichen) Begriffe vertieft. Der kreative Prozess des über Musik Sprechens und Schreibens ist daher unbedingt notwendig, um den Bereich des »Sagbaren« möglichst bis an seine äußersten Grenzen zu erweitern. Nur muss sich der solcherart Interpretierende immer darüber im Klaren sein, so Wittgenstein, wann er ästhetische Urteile fällt und welche Rolle diese in den kulturell-historischen Prozessen spielen, innerhalb derer sie einzig begründbar sind (vergl. hierzu Kapitel »Aspektsehen«). Nutzt er ästhetische Begriffe, die darüber hinaus allgemeine Geltung zu beanspruchen scheinen, steht er in der Gefahr, sich selbst und andere in die Irre, und von der Musik selbst wegzuführen. »Indem Wittgenstein gestische, sprachliche, musikalische Sprachspiele in ihrer Verflochtenheit beschreibt, indem er das alltägliche semiotische Kontinuum aus Wörtern, Themen, Gedanken, Sätzen, Gesten sprachlich zur Erscheinung bringt ohne es auszusprechen, gewinnt sein philosophisches Werk […] jene unendliche Komplexität, die sich nur zeigen kann.« 142 Ästhetische Ausdrücke sind Kulturphänomene, sie lassen sich nur aus der Lebensform einer Kultur erklären, ihre Funktion ist eine andere als die exakter Sätze. Für den wissenschaftlichen Umgang mit ihnen ter Architektur, daß sie einen Gedanken ausdrückt. Man möchte ihr mit einer Geste folgen« (VB, S. 481). 140 PU I, § 610. 141 Bezzel, Wittgenstein, S. 105. 142 Bezzel, Wittgenstein, S. 107.

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scheint das ein Problem zu sein: ohne klare Definition bzw. schlimmer noch – ohne die Möglichkeit, überhaupt je klar definiert zu werden – wie kann eine wissenschaftlich ausgerichtete Ästhetik so bestehen, zumal, wenn die Ausdrücke, mit denen sie operiert, nicht einmal etwas bezeichnen, sondern nur den Charakter von Ausrufen und Gebärden haben? Wieder handelt es sich hier nur um ein »Scheinproblem«: Ästhetische Ausdrücke stehen nicht für exakt bestimmbare Sachverhalte, sondern für selbst äußerst indifferente und nicht selten verschwommene Phänomene, wie beispielsweise Gefühle. Was wäre daran hilfreich, diese Phänomene durch exakte Begriffe zu ersetzen? Damit beraubte man sie immer der Komplexität ihrer Bestandteile. Es wäre daher ein falsch verstandener Begriff von »Wissenschaftlichkeit«, Wörter, die jeder gebraucht und jeder versteht, näher präzisieren zu wollen, aus der irrigen Annahme heraus, Wörter müssen immer genau definiert werden: Unsere Neigung, den Gebrauch wichtiger ›Gelegenheitsarbeiter‹-Wörter so zu beschreiben, als ob sie Wörter mit regelmäßigen Funktionen wären, stiftet die meiste Verwirrung in der Philosophie. 143

Im Gegenteil: die Präzisierung würde eben gerade die Fähigkeit der ästhetischen Ausdrücke zerstören, auf ein komplexes Gebilde zu verweisen. Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen? 144

Sobald eine differenzierte Aussage über Musik gemacht werden soll, stehen mittels eines Gesichtsausdrucks, einer Handbewegung oder des »Nachpfeifens einer Phrase«, wie Wittgenstein sagen würde, unendlich feinere Ausdrucksmöglichkeiten als die eines Sachurteils zur Verfügung: Wörter wie ›bombastisch‹ und ›getragen‹ könnten durch Gesichter ausgedrückt werden. Damit wären unsere Beschreibungen viel flexibler und unterschiedlicher als sie es durch den Ausdruck von Adjektiven sind. […] Ich 143 BlB, S. 74. »Stell dir irgendeine Institution vor: die meisten Mitglieder haben bestimmte, regelmäßige Funktionen, – Funktionen, die etwa in den Statuten der Institution leicht beschrieben werden können. Andrerseits gibt es einige Mitglieder, die für Gelegenheitsarbeiten, die jedoch äußerst wichtig sein können, angestellt werden.« (Ebd.). 144 PU I, § 71.

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könnte auch Gesten benutzen oder […] Tanzschritte. In Wirklichkeit benutzen wir tatsächlich Gesten und Gesichtsausdrücke, wenn wir genau sein wollen. 145

Die unvergleichlich höhere Flexibilität der Beschreibung mittels einer Geste liegt an ihrer analogen Codierung. Sie unterliegt keiner diskreten Skala von Intensität oder Expressivität. (Wittgenstein benutzt den Ausdruck »Geste« sowohl im wörtlichen als auch im metaphorischen Sinne und unterscheidet nicht immer zwischen den Gebrauchsweisen. Unter »Geste« versteht er überwiegend Handbewegungen oder auch metaphorisch »innere Handbewegungen« sowie Tanzschritte. Die »Gebärde« meint meist ebenfalls die Handbewegung oder einen Gesichtsausdruck.) Ästhetische Ausdrücke werden trotz ihrer Verschwommenheit verstanden. (»›Du siehst es doch, wenn du ihn [den Satz/den Ausdruck] benützt‹. Es ist ja nichts verborgen. […] Es ist ja nichts versteckt.« 146 ) Gäbe es etwas Genaueres, was eine Gebärde bezeichnen würde, so gäbe es dafür auch ein entsprechendes Wort. Was nicht in Form von sagenden, semantisch entschlüsselbaren Sätzen ausgedrückt werden kann, zeigt sich. Es »zeigt« sich in den unterschiedlichsten satzähnlichen Sprachstrukturen, die keine logischen Sätze sind, sondern selbst wieder ein Stück Realität, Realität eines bestimmten Sprachspiels, wie ein Stück Musik. Eher als um Sätze handelt es sich um satzähnliche Gebilde oder Ausrufe, die die Fähigkeit, in Form von Sätzen semantisch etwas zu beschreiben, bloß vortäuschen und uns dadurch irreführen. Wittgenstein reagiert darauf mit seiner eigenen, performativ aufzeigenden »Methode«, die am Schluss dieses Buches erläutert werden soll. Zunächst jedoch liegt es ihm daran, ein Missverständnis aufzuklären: Exakte Sätze sind in der Ästhetik nur als Sachurteile möglich, die sich auf das ästhetische Objekt richten; nur Sachurteile können als logisch sinnvolle Sätze behandelt werden. Hier liegt ein klassischer Fall der »Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache« (s. o.) vor: Man gebraucht Sprachausdrücke oder Interjektionen wie Sätze, obwohl sie keine solchen sind; man geht mit ihnen um, als wären sie in der Lage, etwas zu beschreiben. Man erwartet von ihnen, dass sie die Funktion der Beschreibung erfüllen, während sie genau das gerade nicht tun. Sie funktionieren vielmehr so, dass sich in ihnen das nicht 145 146

VÄ I, § 10. PU I, § 435.

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Beschreibbare, etwa das Ästhetische, unmittelbar zeigt: »Solange das Wort ›schön‹ in der öffentlichen Sprache gebraucht wird, solange also seine ›Verschwommenheit‹ erträglich ist, wird es auch verstanden und kann keine gravierenden Mißverständnisse, wohl aber eine Bedeutungsoszillation verursachen, die eine Eigenart ästhetischer Ausdrücke ausmacht.« 147 Dass es nicht zu »gravierenden Mißverständnissen« kommt, liegt daran, dass jedes Wortfeld erlernte und erlebte Realität in verschiedenen Sprachspielen einer Kultur ist: Der Bezugsrahmen einer Sprechhandlung ist damit immer schon gegeben, ohne eine eingeschliffene und eingespielte Sprachpraxis wäre es vollkommen unmöglich, dass überhaupt irgendetwas zum bedeutungsvollen Zeichen werden kann: Die hinweisende Definition erklärt den Gebrauch – die Bedeutung – des Wortes, wenn es schon klar ist, welche Rolle das Wort in der Sprache überhaupt spielen soll. […] Man muß schon etwas wissen (oder können), um nach der Benennung fragen zu können. 148

Und obwohl ästhetische Ausdrücke verschwommen sind, muss auch bei ihnen die Rolle, »die das Wort in der Sprache überhaupt spielen soll« innerhalb einer Kultur im Voraus »gewusst« sein. Das, was man in Bezug auf ein Wort wie »schön« im Rahmen solcher Sprachspiele »können« muss, ist die Art, wie es in ihnen als Interjektion verwendet werden kann und welches »Feld« ihm dann je zukommt. Seine gestischen Anteile müssen mithin »gekonnt sein« (s. o.). Diese Art funktionaler Unbestimmtheit führt dazu, dass man sich über Kunst mit Hilfe gestischer Interjektionen und ihrer Wörter immer verständigen muss oder einfacher gesagt: dass es sich – Kants Diktum über die Streitbarkeit des Geschmacks hin oder her – über ästhetische Fragen eben sehr wohl vortrefflich streiten lässt! Es gibt Worte, deren gestischer Gehalt so gering ist, dass sie keinerlei Verständigung im Kommunikationsprozess bedürfen und normalerweise nicht zum Objekt einer ästhetischen Verhandlung werden. Dagegen provozieren Worte wie »schön«, erst recht in ihrer Form als emphatische Interjektion, in der sozialen Praxis geradezu Erläuterungen, Reaktionen und Erwide147 Faltin, Bedeutung ästhetischer Zeichen, S. 159; Faltin geht auf das Phänomen der »Verschwommenheit« zwar ein, kommt aber nicht zu einem schlüssigen Ergebnis über die Konsequenzen, weil er die entsprechenden Begriffe letztlich doch »wissenschaftlich diskutierbar« machen möchte. 148 PU I, § 30.

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rungen: »Dieses Streichquartett wird von vier Streichern ausgeführt« ist eine vollkommen uninteressante Aussage (sie ist im Normalfall immer richtig und bedarf keiner Diskussion). Eine andere Art Verständigung wäre dagegen folgendes Szenario: »Dieses Streichquartett ist erschütternd!« – »Was ist erschütternd?« – »Die Klangfarben, die hier verwendet werden, hör doch!« – »Erschütternd? Du findest dieses chaotische Zusammenfallen von Geräuschen erschütternd? Ich finde es ganz furchtbar, es beleidigt mein Ohr!« usw. Und obwohl es die Mittel der Grammatik dieses Beispieldialogs suggerieren, streiten die beiden Sprecher weder über die materialen Qualitäten des gehörten Stückes (die sind objektiv dieselben für beide Hörer), noch darüber, was sie »denken« oder »meinen«. In gewissem Sinne handelt ihr Gespräch einzig von unterschiedlichen Verwendungsgewohnheiten für ästhetische Ausdrücke und Interjektionen, die unter anderem von ihren Regelkenntnissen in Bezug auf Musik und ihrem kulturellen Habitus abhängen. Die Gesprächsteilnehmer haben schlicht unterschiedlich eingeschliffene bzw. sozialisierte (tiefen-) grammatische Sprach-Gewohnheiten in Bezug auf die Verwendung des Ausdrucks »erschütternd«. Jeder der beiden muss, um seinem Gegenüber seinen Standpunkt klarzumachen, seiner Interjektion eine Erklärung zur Seite stellen. Er erklärt jedoch dabei nicht das musikalische Material, sondern den eigenen Sprachgebrauch, er begründet mithin sein individuelles Regelwissen über den Begriff »erschütternd«. Dann geht es in der Tat darum, zu zeigen, was die »Erklärung der Bedeutung« erklärt. 149 Das kann und muss durch Anführung von geeigneten Beispielen, durch in Kontexte eingebettete Zeigehandlungen, durch sprachliche Bedeutungsparaphrasen 150 und vor allem durch die Ausleuchtung von »Aspekten« erfolgen (vergl. Kapitel »Aspektsehen«). Das macht das Agieren von »Kennern«, wie Wittgenstein sie nennt, also professionell schaffenden Musikern und Musikvermittelnden so notwendig. Nur eine eingehende Kenntnis über Kontexte der Verwendungsgepflogenheiten verschiedener Ausdrücke und der Kenntnis von Regeln und kulturell-historischen Zusammenhängen macht Musik überhaupt ästhetisch verhandelbar. PU I, § 560. Vergl. auch: Herbert Ernst Wiegand, »Mit Wittgenstein über die Wortbedeutung nachdenken. Gebrauch? Regel des Gebrauchs? Ein Etwas im Kopf?«, in: Ders., Kleine Schriften. Bd. 2: 1988 bis 1999, hrsg. von Matthias Kammerer und Werner Wolski, Berlin 2000, S. 1507–1552, hier S. 1533. 149 150

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Ästhetik?

Wichtig ist Wittgenstein in diesem Zusammenhang die genaue Unterscheidung des Gesprächskontextes. Die beiden Gesprächspartner unterhalten sich zwar mit Mitteln der Grammatik, aber – wie bereits zitiert: »Vergiß nicht, daß ein Gedicht, wenn auch in der Sprache der Mitteilung abgefaßt, nicht im Sprachspiel der Mitteilung verwendet wird.« 151 Das gilt vor allem für den Gebrauch ästhetischer Begriffe im Sprechen über Musik: Die Sprecher verwenden zwar bekannte Satzkonstellationen, aber die Formulierungen »das ist erschütternd« und »das ist rechteckig« sind trotz ihrer phänotypischen Ähnlichkeit in keinem Anwendungsfall Bestandteile desselben Sprachspiels. Deswegen gibt es für den am Anfang dieses Kapitels genannten Theoretiker, der im Konzert hingerissen »wunderbar« ausruft und zu Hause angekommen sich in völlig anderen Begriffen ergeht, gar keinen Widerspruch. Er kann tatsächlich völlig verschiedene Wortfelder auf ein und dieselbe Phrase anwenden, weil er sich jeweils in einem vollkommen anderen Sprachspiel mit anderen Regeln befindet. Deshalb können Malen, Musizieren, Dichten, Sprechen, Lachen und all die Lebensäußerungen des Menschen einander wechselseitig ergänzen und erklären. Sie sind nicht anders als im Zusammenhang miteinander, eben in »Wechselwirkung« zu erklären: Kann ich nicht sagen: der Schrei, das Lachen, seien voll von Bedeutung? Und das heißt ungefähr: Es ließe sich viel aus ihnen ablesen. 152

Dieser Zustand liegt aber nicht im Material des Lachens oder der Musik, sondern in den Lebensformen der Menschen begründet: Struktur und Gefühl in der Musik. Die Gefühle begleiten das Auffassen eines Musikstücks, wie sie die Vorgänge des Lebens begleiten. 153

Das Wort ist im Kontext bestimmter (die Kunst, Gefühle, Geschichte, etc. betreffender) Sprachspiele ebenso viel oder wenig Geste wie eine musikalische Phrase: Sie stehen in »Wechselwirkung«, sind aber nicht wechselseitig ersetzbar: Und doch ist da eben kein Paradigma außerhalb des Themas. Und doch ist da auch wieder ein Paradigma außerhalb des Themas: nämlich der Rhythmus unserer Sprache, unseres Denkens und Empfindens. Und das Thema ist auch

151 152 153

Z, Nr. 160. PU I, § 543. VB, S. 464.

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wieder ein neuer Teil unserer Sprache, es wird in sie einverleibt; wir lernen eine neue Gebärde. Das Thema ist in Wechselwirkung mit der Sprache. 154

Und diese Gesten des Tonfalls sind wiederum Ergebnis einer Kultur, Ausdruck einer Lebensform. Denn denk dir die Empfindungen hervorgerufen durch die Gebärden des Grauens: die Worte ›mir graut davor‹ sind ja auch so eine Gebärde; und wenn ich sie beim Aussprechen höre und fühle, gehört das zu jenen übrigen Empfindungen. Warum soll denn die ungesprochene Gebärde die gesprochene begründen? 155

Dieser Zusammenhang wird von Wittgenstein-Interpreten als maßgeblich für Wittgensteins Spätphilosophie herausgehoben: »Geste und Wort stehen also nicht in einem Begründungsverhältnis, vielmehr bilden sie, zusammen mit den anderen Zeichenformen, jenes dynamische, veränderliche alltäglich-praktische ›System‹, das wir ›Sprache‹ im weiten Sinne nennen und das als riesiges Sprachspielfeld die ›Lebensform‹ einer Kultur ist.« 156

VB, S. 523. PU II i, S. 278; Wittgenstein geht es hier auch um eine Argumentation gegen Sir James Frazers Buch The Golden Bough von 1890. Er widerspricht Frazer, indem er »in der Gebärdensprache gerade nicht den Ursprung der Wortsprache in einem evolutionistischen Sinn« (Bezzel, Wittgenstein, S. 103) sieht. Vergl. Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über Frazers »The Golden Bough« (1931 und später), in: VE; vergl. auch Rolf Wiggershaus (Hg.), Sprachanalyse und Soziologie. Die sozialwissenschaftliche Relevanz von Wittgensteins Sprachphilosophie, Frankfurt a. M. 1975, S. 37–57, insbes. S. 46. 156 Bezzel, Wittgenstein, S. 103. 154 155

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Emotion?

Psychologie und Antipsychologismus Die Leute sagen oft, die Ästhetik sei ein Zweig der Psychologie. Es besteht die Vorstellung, dass wir einmal alles – all die Mysterien der Kunst – durch psychologische Experimente verstehen werden, wenn wir etwas weiter fortgeschritten sind. So ausgesprochen dumm die Vorstellung auch ist, das ist ungefähr, was die Leute glauben. Ästhetische Fragen haben nichts mit psychologischen Experimenten zu tun, sondern werden auf ganz andere Weise beantwortet. 157

Es ist nicht etwa so, dass Wittgenstein – etwa aus Ignoranz – kein Interesse an psychologischen Experimenten gehabt hätte. Im Gegenteil kann man sogar mit einiger Berechtigung behaupten, dass Wittgenstein in gewisser Weise zu den ersten Forschern der experimentellen Musikpsychologie gehörte. Seit 1909 war Charles Samuel Myers der erste Professor für experimentelle Psychologie überhaupt in Cambridge. Wittgenstein hörte vermutlich im Februar 1912 zum ersten mal einen der Vorträge über ethnomusikologische Expeditionen, in denen Myers u. a. mitgebrachte Stücke vorsang. Mit seinen Sammelwerken und Einzelbeiträgen gab Myers neben der Musikpsychologie auch diesem Fach entscheidende Impulse. 1912 gründete Myers das »Cambridge Laboratory of Experimental Psychology«. Das Fach steckte zu dieser Zeit noch in seinen Anfängen, und Myers und sein Team waren relativ frei, in ihren Experimenten Fragen von theoretischem oder allgemein menschlichem Interesse nachzugehen, ohne sich um praktische Anwendungen oder schnelle Resultate kümmern zu müssen. 158 Neben (Sir) Frederic Charles Bartlett, Miss E. Smith (später Lady Bartlett) und Cecil Alec VÄ II, § 35 und 36. Vergl. dazu und zu den folgenden Ausführungen zu Myers: McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, S. 207 ff. 157 158

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Mace experimentierte auch Wittgenstein in dieser Atmosphäre mit Begeisterung zum Teil unter der Anleitung von Myers, zum Teil mit eigenen Ideen. Sein Freund David Pinsent notiert am 13. Mai 1912 in sein Tagebuch: At 2.30h I went chez: Wittgenstein and we went on to the Psychological Laboratory, where I had arranged to act as a ›subject‹ in some experiments he is trying: to ascertain the extend and importance of rhythm in music. Not bad fun. 159

Unter anderem diese Untersuchungen sollten Wittgensteins Haltung zur Ästhetik wo nicht beeinflussen, so doch untermauern. Man untersuchte die Entwicklung der Musik in den »primitiven Gesellschaften« genauso, wie man die »musikalischen Urteile der Einwohner von Cambridge oder Würzburg« 160 analysierte. »In den damaligen Jahrgängen des British Journal of Psychology wimmelte es von Artikeln über die Lokalisierung der Klänge, die Wahrnehmung von Tondifferenzen, Synästhesie, individuelle Unterschiede der Musikbeurteilung und dergleichen mehr.« 161 Obwohl Myers Untersuchungen nach heutigen Maßstäben nicht besonders differenziert waren und zudem nicht systematisch durchgeführt und vollständig publizistisch ausgewertet wurden, waren zumindest zwei Ergebnisse seiner Studien maßgeblich: Wo die Unterschiede der Tonhöhe in der Sprache einer Gesellschaft eine wichtigere Rolle spielt als im Englischen, kommt auch öfter die Fähigkeit eines absoluten Gehörs vor. Außerdem stellte er komplementär dazu fest, dass, wo der Rhythmus in ebensolchen Gesellschaften eine größere Rolle beim Sprechen spielte als im Englischen, sich die Fähigkeit herausbilde, »viele sukzessiv verschiedene Zeitintervalle als koordinierte Gesamtheit – als einheitliche Phrase – anzusehen.« 162 Vor allem beförderte Myers die Überzeugung, dass keine der (zum Teil sehr populären) vorliegenden Erklärungen den Ursprung 159 Tagebuch von David Pinsent, Eintrag vom 13. Mai 1912, zit. n.: Ludwig Wittgenstein. Sein Leben in Bildern und Texten, hrsg. v. Michael Nedo und Michele Ranchetti, Stuttgart 1983, S. 84 (die eigentümliche Orthographie ist übernommen). 160 McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, S. 207 f. 161 Ebd., S. 208. 162 ONFERS 5 (1945/48), S. 772; zit. n. McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, S. 208. Dass Wittgenstein diese Publikation vielleicht nicht mehr wahrgenommen hat, da ihn zu dieser Zeit bereits andere Dinge interessierten, ist in diesem Falle irrelevant, da die Grundideen von Myers bereits in Essays ab 1909 und früher beschrieben sind, mit Sicherheit aber in der täglichen Arbeit des Labors eine Rolle gespielt haben werden.

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Emotion?

der Musik in allen ihren Elementen erschöpfend erfasse. Und er argumentierte, dass es sich mit der Sprache wohl in gewissem Sinne ähnlich verhalte. Eher sollte man davon ausgehen, dass sowohl Sprache als auch Musik aus einem primitiven Kommunikationssystem hervorgegangen seien, welches mit rhythmischen Aspekten, Körperbewegungen und anderen physischen Tätigkeiten verknüpft wäre, letztlich aber ohne Erklärung bleiben müsse. (Dabei darf nicht übersehen werden, dass diese Überlegungen ganz am Anfang eines Faches Musikethnologie stehen und von soziologischen Einsichten noch weit entfernt sind.) Für Wittgenstein waren vor allem Myers Schlussfolgerungen aus den Untersuchungen zur »primitiven Musik« interessant, in denen Myers beschrieb, wie die Wahrnehmung und Empfindungsfähigkeit verschiedener Faktoren die Beurteilung von Musik beeinflusst. Vor allem wollte Wittgenstein mehr über die Wahrnehmung von Tonhöhe und Tonunterschieden, Rhythmus und »Musikgestaltqualität, also der Eigenschaften, durch die die Töne musikalische Bedeutung gewinnen und eine Phrase oder Melodie bilden« 163 , lernen. Wie sich in Myers Experimenten erwies, war diese letzte Qualität wesentlich für die Unterscheidung von Musik und bloßem Geräusch. An Personen, denen das musikalische Empfindungsvermögen verloren gegangen war, konnte Myers zeigen, dass zwar alle einzelnen musikalischen Parameter richtig unterschieden wurden, das Gehörte aber nicht mehr als Musik wahrgenommen wurde. 164 Das alles deckte sich mit Fragen, die sich Wittgenstein zu dieser Zeit zu stellen begann. In einem Brief erinnert sich Moore an Wittgensteins damalige Erkenntnisinteressen: Wittgenstein wollte offensichtlich durch Experimente mehr über Ästhetik lernen. Diesen Gedanken gab er offenbar spätestens nach seinen Arbeiten im Labor auf und verfolgte von da an bekanntlich eine ausgesprochen kritische Linie allen psychologischen und psychologistischen Erklärungsmustern gegenüber (wie sich weiter unten zeigen wird):

Zit. n.: McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, S. 209. Vergl. Charles S. Myers, »A Study of Rhythm in primitive Music«, in: British Journal of Psychology I, 1905, S. 397–406; ders. »The Beginning of Music«, in: Essays and studies presented to William Ridgeway: on his sixtieth birthday, 6 August, 1913, Cambridge 1913, sowie das Kapitel über Musik in Myers Buch In the Realm of Mind, Cambridge 1937. 163 164

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During this year (1912) Wittgenstein undertook, in collaboration with B. Muscio, a piece of psychological experiment at the Psychological Laboratory. He told me long afterwards, in the Lectures in 1933, that he undertook these experiments, which were on rhythm, in the hope that they would throw some light on questions of Aesthetics, but of course, they threw none; but they did, however, establish one point of some interest, namely that, in some circumstances, all the subjects of the experiment heard an accent on certain notes which were in fact not accented by the machine which was being used. 165

Die Verbindungen zwischen Myers Ideen und Wittgensteins Überlegungen liegen auf der Hand. 166 Auch McGuinness, dem für seine Biographie zahlreiche unveröffentlichte Dokumente und Briefe vorlagen, beschreibt die Experimente Wittgensteins, so weit sie sich rekonstruieren lassen: Bei diesen Experimenten ging es um Rhythmus, und die Resultate, zu denen man gelangte, betrafen die Bestimmung der Bedingungen, unter denen die Versuchsperson einen in Wirklichkeit nicht gegebenen Rhythmus [Wahrscheinlich gemeint: Metrum, Anm. K. E.] in eine Folge von Taktschlägen hineinliest beziehungsweise hineinhört. Ganz offenkundig ist das Phänomen der subjektiven Akzentuierung, wenn man ein normal funktionierendes Metronom Gruppen von Takteinheiten schlagen hört. Die Bedingungen lassen sich variieren, indem man das Metronom in eine Schachtel stellt und, ohne daß die Versuchsperson es merkt, den Deckel öffnet, worauf man die so betonten Taktschläge mit denen vergleicht, die der Betreffende als betont hört. […] Eine weitere Methode […] besteht darin, daß man die Aufhängung der Hämmer straffer zieht, um so lautere Töne zu erzeugen. 167

Wittgenstein experimentierte mindestens in den Jahren 1912/1913, und seine Experimente galten durchaus als professionell, wofür es mehrere Belege gibt. Zum einen hielt er vor einer Versammlung der British Psychological Society im Juli 1912 in Cambridge einen Vortrag, den er Russell gegenüber in einem Brief als »höchst absurden Aufsatz 165 G. E. Moore an E. A. Hayek, 8. März 1953, zit. n.: Nedo/Ranchetti, Wittgenstein, S. 84. 166 Anhand von Publikationen oder Aufzeichnungen Wittgensteins sind die Verbindungen einzelner Wittgensteinscher Ideen zu Myers im Einzelnen leider nicht mehr nachweisbar, da der Assistent von Myers, Bernard Muscio, dem viele Einsichten in die Experimentverläufe zu verdanken sind, bereits 1926 starb. Noch dazu sind die detaillierten Untersuchungen des Teams zur Musik – in deren Rahmen auch Wittgensteins eigene Experimente stehen – nie so weit gediehen, dass sie publiziert werden konnten. 167 McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, S. 210 f. sowie Fußnote 83.

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über Rhythmen« bezeichnete. 168 Im British Journal of Psychology wird dieser Vortrag angekündigt als »Experiment on Rhythm (Demonstration), L. Wittgenstein und B. Muscio (Introduced by C. S. Myers).« 169 Außerdem stellte er bei der feierlichen Eröffnung der neuen Räume des Instituts für Experimentelle Psychologie im Mai 1913 »einen Apparat zur psychologischen Erforschung des Rhythmus« vor. 170 Dass ihn das Verhältnis von Rhythmus, Metrum und Puls (bzw. »Rhythmusapparat«) lange über diese Experimente hinaus faszinierte, belegen zwei Bemerkungen Wittgensteins zu Beethovens 8. Sinfonie, insbesondere zu deren 2. Satz, Allegretto scherzando. Seit der ersten Auflage von Anton Felix Schindlers »Beethoven« aus dem Jahre 1840 waren diverse, zum Teil frei erfundene Anekdoten Schindlers über Beethovens Leben und Werk zum Allgemeingut des bürgerlichen Musikwissens geworden. (Nachweisen konnte man ihm diese »Fälschungen« erst nach graphologischen Gutachten ab 1977. 171 ) Schindler hatte den Kanon »Ta ta ta ta«, WoO 162 selber komponiert, den Beethoven angeblich zu Ehren Johann Mälzels und dessen Erfindung des Metronoms geschrieben haben sollte. Auf diesem Kanon beruhe nun der 2. Satz der Beethovenschen Sinfonie, so Schindler. Obwohl der Satz an Haydns Sinfonie Die Uhr erinnern mag, ist diese Geschichte erfunden. 172 Wittgenstein war sie aber offensichtlich bekannt, ob nun durch die Lektüre der Schindlerschen oder einer darauf basierenden Biographie (er war ein großer Bewunderer Beethovens, eine solche Lektüre wäre daher nicht unwahrscheinlich) oder einfach, weil solche Anekdoten populär waren (und sind). Die erste Bemerkung zu diesem Thema stammt aus dem Jahr 1948: Eine Sprache, in der im Takt geredet wird, so daß man auch nach dem Metronom reden kann. Es ist nicht selbstverständlich, daß Musik sich, wie die unsere, wenigstens beiläufig, metronomisieren läßt. (Das Thema aus der 8. Symphonie [Beethovens] genau nach dem Metronom zu spielen.) 173 McGuinness/von Wright (Hg.), Wittgenstein. Briefwechsel, S. 19. Zit. n.: McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, S. 211, Fußnote 84. 170 Brief von Russells an Ottoline Morrell vom 15. Juni 1913, zit. n.: McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, S. 211, Fußnote 85. 171 Vergl. z. B. Peter Stadlen, »Schindler’s Beethoven Forgeries«, The Musical Times, 118, Nr. 1613 (Juli 1977), S. 549–552. 172 Vergl. zu dieser Ausführung: Einleitung von Barry Cooper zu Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr. 8 in F-Dur, op. 93, hrsg. v. Jonathan Del Mar, Kassel u. a. 1999, S. IX. 173 VB, S. 556. 168 169

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Die zweite Bemerkung datiert ein Jahr später, 1949: Die Zeitlichkeit der Uhr und die Zeitlichkeit in der Musik. Sie sind durchaus nicht gleiche Begriffe. Streng im Takt gespielt, heißt nicht genau nach dem Metronom gespielt. Es wäre aber möglich, daß eine gewisse Art von Musik nach dem Metronom zu spielen wäre. (Ist das Anfangsthema [des zweiten Satzes] der 8. Symphonie von dieser Art?) 174

An dieser Stelle bietet sich ein kurzer Verweis auf Wittgensteins denkerische »Methode« an: Ein solcher Umgang mit zunächst scheinbar sehr ähnlichen Zitaten ist ganz typisch. Wittgenstein nimmt denselben Ausgangspunkt, hier den Satz der Sinfonie, und dieselbe Frage, aber kontextuiert und akzentuiert sie jeweils anders. Beide Bemerkungen sind in die letzte Version der Philosophischen Bemerkungen eingegangen, er hielt sie daher offensichtlich nicht für redundant: Wittgenstein beleuchtet so jeweils einen anderen »Aspekt« des Gedankens (vergl. Kapitel »Aspekte sehen« sowie Kapitel »Morphologische Methode«). Das erfordert jeweils ein genaues Hinsehen und das gleichwertige Betrachten beider Zitate, die bei schnellem Lesen und unter Missachtung der »Methode« leicht für eine einfache Wiederholung gehalten werden können. Das erste Zitat verweist auf Wittgensteins zumindest rudimentäre Kenntnisse außereuropäischer Rhythmisierungen von Musik. Ganz in der Nähe dieser Bemerkung im Typoskript hatte Wittgenstein über den Charakter von Tempi nachgedacht: Ich glaube, es ist eine wichtige und merkwürdige Tatsache, daß ein musikalisches Thema, wenn es in (sehr) verschiedenen Tempi gespielt wird, seinen Charakter ändert. Übergang von der Quantität zur Qualität. 175

Durch unterschiedliche Quantisierung könne demnach eine neue Qualität des Themas wahrgenommen werden, eine neue Facette des »Charakters« des Themas, durch schlichtes schneller oder langsamer Spielen, bzw. dadurch, das Thema des Beethoven-Satzes streng quantifiziert, nach dem Metronom zu spielen, oder ihm eben durch etwas freiere Interpretation nach qualitativen Merkmalen desselben, wie Akzenten, Crescendi usw. seinen »Witz« zu verleihen. Die »zweite Version« dieses Gedankens nimmt diese Spur auf und fragt sich, inwiefern die »Zeitlichkeit der Musik« im Gegensatz zu der der Uhr eine Fülle 174 175

VB, S. 564. VB, S. 554.

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von Ausdrucksqualitäten beinhaltet. Zum einen gehen hier die Ergebnisse seiner Untersuchungen ein (»Streng im Takt gespielt, heißt nicht genau nach dem Metronom gespielt«), zum anderen stellte Wittgenstein sich die Frage, wie eine Musik »zu Ehren des Metronoms« mit der Frage der Zeit umgeht. Wieder ganz in der Nähe findet sich eine aufschlussreiche Bemerkung dazu: In Beethovens Musik findet sich zum ersten Mal, was man den Ausdruck der Ironie nennen kann. 176

Womöglich machte ein Spielen nach Metronom die ironische Haltung des Satzes zu diesem Messinstrument für die Zuhörer noch deutlicher. (Es ist dabei nicht so wichtig, dass es sich gar nicht um Beethovens ursprüngliche Intention gehandelt hatte, Wittgenstein ging davon aus und interpretierte die Musik entsprechend.) Für die Zeit der Experimente bei Myers ist für Wittgenstein besonders seine Freundschaft zu dem damaligen Mathematikstudenten David Pinsent prägend. (Er widmete ihm nach dessen tödlichen Unfall 1918 sogar seinen Tractatus). Das ist in diesem Fall zu erwähnen, obwohl die näheren biographischen Hintergründe für diese Untersuchung nur eine bedingte Rolle spielen. 177 Der hochmusikalische und am Klavier gut ausgebildete Pinsent war eine der ersten Versuchspersonen für Wittgensteins Experimente. Sie lernten sich über die Musik Schuberts kennen, den Wittgenstein sein Leben lang verehrte (vergl. hierzu auch Kapitel »Landschaftsalbum«). Das Musikstück war ein leider nicht näher bezeichnetes »wunderbares Klaviertrio von Schubert« 178 während eines Gesellschaftsabends bei Betrand Russell. Pinsent spielte alles, was er in die Hände bekam an Kompositionen und Arrangements, auch vierhändig mit seiner Schwester. Wittgenstein und er entwickelten in den Jahren der psychologischen Experimente ein Ritual, sich im Cambridger Musikverein Noten auszuleihen und sie anschließend in Pinsents Wohnung genau durchzugehen. McGuinness berichtet, sie hätten eine »Methode« entwickelt, »Schubertlieder auszuführen, wobei Pinsent Klavier spielte, während Wittgenstein

176 VB S. 565; diese Bemerkung zielt im engeren Sinne auf die 9. Sinfonie von Beethoven ab. 177 Vergl. zu diesem Verhältnis insbes. Justus Noll, Ludwig Wittgenstein und David Pinsent. Die andere Liebe der Philosophen, Berlin 1998. 178 McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, S. 204.

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pfiff. […] In dieser Weise lernten sie in den Ferien etwa 40 oder 50 Lieder spielen.« 179 Vielleicht war es genau dieser Ausgleich zwischen musikpsychologischen Experimenten und dem intensiven Eintauchen in das musikalische Universum Schuberts, welches Wittgenstein dazu führte, Experimente zwar anzuerkennen, in ihnen aber nicht die Lösung der Probleme zu finden, die ihn im Umgang mit Musik tatsächlich beschäftigten. Seine Untersuchungen hatten ganz offenbar das Vertrauen in ein mechanistisches Fortschrittskonzept des Faches »Psychologie« nicht gestärkt. Wittgenstein bezweifelte trotz oder gerade wegen all dieser Experimente grundsätzlich, dass psychische Effekte die eigentlichen Ursachen für ästhetisches Sprachverhalten sind, also dafür, dass man sagt: »Oh wie schön.« Natürlich spielen gerade im ästhetischen Bereich der menschlichen Erfahrung Gefühle und Stimmungen eine wichtige Rolle, sie sind aber für Wittgenstein kein möglicher Gegenstand der Ästhetik. Und zwar erstens aus dem im vorangegangenen Kapitel dargestellten Grund, dass die Sprache nicht in der Lage ist (und es auch nicht sein muss), ein inneres Fühlen auszusprechen. In einem zweiten Schritt 180 zeigt Wittgenstein nun, dass die Gefühle auch für die Wirkung von Kunstwerken nicht ausschlaggebend sind. Es ist manchmal gesagt worden, daß Musik uns Gefühle der Freude, Traurigkeit, des Triumphes etc. vermittelt, 181

beginnt Wittgenstein im Braunen Buch zu überlegen und bestreitet diesen Teil der Aussage durchaus nicht. Diese Feststellung genügt dem Philosophen aber nicht, es stören ihn die Schlussfolgerungen, die bei naiv verstandener Auffassung derselben gezogen werden können: was uns an dieser Darstellung abstößt, ist, daß sie zu sagen scheint, Musik sei ein Instrument zu dem Zweck, in uns Folgen von Gefühlen hervorzubringen. Und daraus könnte man schließen, daß uns jedes andere Mittel anstelle von Musik recht wäre, um solche Gefühle hervorzubringen. 182

Ebd., S. 205. Der »zweite Schritt« ist nur im logischen Sinne gemeint, die Bemerkungen hierzu sind keinesfalls in einer klaren Reihenfolge sortiert, sondern, wie alle anderen Bemerkungen auch, aphoristisch verstreut. 181 EPhB II, Nr. 22, S. 272 f. 182 EPhB II, Nr. 22, S. 272 f. 179 180

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Natürlich ist nicht ausgeschlossen, dass viele Menschen gerade aus diesem Grunde Musik hören. Aber wenn das die Funktion von Musik sein soll, was tun mit dem weiten Spektrum an Stücken, die sich dazu nun gerade nicht eignen? Musik wäre dann keine kulturelle Errungenschaft, sondern diente ausschließlich dem sinnlichen Genuss. Und darüber hinaus wäre dann doch die Frage, warum man nicht gleich Spritzen erfindet, die den psychischen Effekt stärker, präziser und wiederholbar hervorrufen, während doch nicht jede Musik zu jeder Zeit auf dieselbe Art berührt? 183 Wittgenstein: Es wird immer mehr über die ›Wirkung von Kunstwerken‹ gesprochen – Gefühle, Vorstellungsbilder etc. Da ist es dann natürlich zu fragen: ›Warum hörst du dieses Menuett?‹, und es besteht die Neigung zu antworten: ›Um die und die Wirkung zu erzielen.‹ Bedeutet das Menuett selbst nichts? – das zu hören: hätte es ein anderes genausogut getan? Du kannst ein Menuett spielen und eine Menge dabei empfinden, und das gleiche Menuett ein anderes Mal gespielt bedeutet nichts. Aber daraus folgt nicht, daß das, was das Menuett für dich bedeutet, unabhängig vom Menuett ist. 184

Selbst wenn eine neurologische Untersuchung kausale Erklärungen für jene Wirkungen liefern könnte, die eine ästhetische Erfahrung in Gestalt von bestimmten Hirnaktivitäten auslöst und sie eines Tages reproduzieren könnte oder wenn psychologische Experimente statistische Aufschlüsse über unsere Reaktionen in diesen Fällen geben könnten, entspräche das auf diese Weise erzielte Ergebnis nicht der »Art von Erklärung […], nach der man sich sehnt, wenn man über einen ästhetischen Eindruck spricht« 185 , denn: Die Erklärung, nach der man sucht, wenn ein ästhetischer Eindruck verwirrt, ist keine kausale, keine die durch Erfahrung bekräftigt wird oder durch Statistik darüber, wie Leute sich verhalten. [Anmerkung Rhees: Du kannst nicht durch psychologische Experimente zu der Erklärung gelangen.]. 186

Wittgenstein untermauert diese These mit einem Gedankenexperiment: Gesetzt den Fall, man würde herausfinden, daß alle unsere Urteile von unserem Gehirn ausgehen. Wir entdeckten bestimmte Arten von Mechanismen

183 184 185 186

Vergl. VÄ IV, § 2, Anmerkung Smythies. VÄ IV, § 2. VÄ III, § 6. VÄ III, § 11.

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im Gehirn, formulierten allgemeine Gesetze etc. Einer könnte zeigen, daß diese Notensequenz diese bestimmte Reaktion erzeugt; sie bringt einen Menschen dazu zu lächeln und »Oh, wie wundervoll« zu sagen. […] Denke dir, das wäre geschehen, es könnte uns in die Lage versetzen, vorherzusagen, was einer bestimmten Person gefallen und was ihr nicht gefallen wird. Wir könnten das ausrechnen. Die Frage ist, ob es diese Art von Erklärung ist, die wir gerne hätten, wenn uns ästhetische Eindrücke verwirren. 187

Das Ziel eines Hörers eines bestimmten Stückes ist nicht so sehr, in einem bestimmten Gefühl zu schwelgen, die Frage ist eher von der Art: »Warum macht diese Melodie einen so eigenartigen Eindruck auf mich?« 188 Es gibt noch einen weiteren Grund, warum solche Beobachtungen nicht den Sinn der Entstehung von unterschiedlichen Kompositionen erklären können, denn im Umgang mit Werken der Kunst kommt es eben genau auf »das eine Menuett« (s. o.) an, nicht auf eine möglicherweise von ihm auslösbare Wirkung: Wenn ich ein Menuett bewundere, kann ich nicht sagen: ›Nimm ein anderes es erzielt den gleichen Effekt.‹ Was meinst du? Es ist nicht das gleiche. 189

Es geht genau um dieses Stück, weil wir mit ihm interagieren und zwar nicht hauptsächlich durch Gefühle. In gewisser Weise ist die Reaktion immer eine Handlung. Wenn das Erzielen persönlicher Gefühle auch nicht das Ziel der Rezeption von Kunst ist, scheinen solche Emotionen aber doch ganz offensichtlich da zu sein – man kann sie schließlich an Musikhörern sehen, die, wenn sie von den Klängen tief berührt werden, von der Intensität des Erlebnisses vielleicht Tränen in die Augen bekommen, wiederholt seufzen und schließlich ein leises »Wunderbar!« hervorbringen (oder sich ganz und gar ablehnend verhalten). All das suggeriert eine Beschreibung subjektiver Gefühle bzw. innerer psychischer Vorgänge. Doch tatsächlich ist die Beschreibung des Verhaltens keine Beschreibung von Emotionen, sondern gewissermaßen lediglich das Wahrnehmen von Symptomen. Wenn jemand ein glückliches Gesicht macht, mit dem Fuß wippt oder ihm Tränen über das Gesicht laufen, kann man daraus nur schließen, dass ihm die Musik gefällt oder er den Beobachter aus irgendeinem Grund glauben machen will, dass sie ihm gefällt. Der Beobachter kann in keinem Fall wissen, 187 188 189

VÄ III, § 8. VÄ III, § 8. VÄ IV, § 9.

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was der Hörer tatsächlich dabei fühlt. Was scheint wie eine weltfremde philosophische Spitzfindigkeit, dient tatsächlich dem Aufdecken einer der »grammatischen Fiktionen«, die Wittgenstein im ganzen Bereich der ästhetischen Sprache verfolgt und »von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück« 190 führen will. Nichts liegt ihm ferner, als zu behaupten, zwischen einer Empfindung und einer Nicht-Empfindung gäbe es keinen Unterschied: »Welcher Unterschied könnte größer sein!« 191 Das Beharren auf dem Paradox, dass eine Nicht-Empfindung genausowenig im Gegenüber mit Sicherheit zu identifizieren ist wie eine Empfindung, dient nur einer Erkenntnis: Das Paradox verschwindet nur dann, wenn wir radikal mit der Idee brechen, die Sprache funktioniere immer auf eine Weise, diene immer dem gleichen Zweck: Gedanken zu übertragen – seien diese nun Gedanken über Häuser, Schmerzen, Gut und Böse, oder was immer. 192

Musik und Emotion Die gängige Meinung über Wittgensteins Bemerkungen zur Musik im Kontext von Gefühl und Verstehen ist, dass es sich dabei lediglich um besonders geeignete Beispiele zur Erklärung von nicht-musikalischen Problemen handelt. 193 Diese Ansicht wird interessanterweise – vermutlich aus vorsichtiger Zurückhaltung – vor allem in (den wenigen) musikwissenschaftlichen Texten zu Wittgenstein vertreten. Die Menge und Intensität der besprochenen Musikbeispiele legt jedoch vielmehr nahe, »daß Wittgensteins Bemerkungen über die musikalische Phrase, das Gefühl, das sie gibt, und ihren Ausdruck nicht Beispiele sind, um seine Kritik an bestimmten Bedeutungstheorien sowie seine eigene Sprachauffassung deutlicher zu machen, sondern daß sie als Gegenstand von eigenem Interesse behandelt werden.« 194 PU I, § 116. PU I, § 304. 192 PU I, § 304. 193 Vergl. u. a. Faltin, Bedeutung ästhetischer Zeichen; Fanselau »Musik bei Wittgenstein«, Worth »Wittgenstein’s Musical understanding«; de la Motte-Haber, »Wittgenstein und die Musik«. 194 Steffi Hobuß, »Unbeschreibliche Gefühle«, in: Wittgenstein über die Seele, hrsg. v. Eike von Savigny und Oliver R. Scholz, Frankfurt a. M. 1995, S. 131–145, hier S. 132. Dieser Aufsatz geht allerdings auf die Musik nur als ein Beispiel unter mehreren ein. 190 191

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Musik und Emotion

Ich werde im Folgenden versuchen, Wittgensteins Überlegungen zum Begriff des Musik-Verstehens und die damit verbundene Frage: Ist Musik emotional und wenn ja, in welcher Form? zu erläutern. »Musik und Emotion« ist ein zentrales Thema aktueller musikologischer Auseinandersetzung, daher sollen hier auch neuere Thesen aus diesem Bereich zu Wort kommen. Es wird sich dabei zeigen, dass Wittgensteins Ergebnisse durchaus geradezu therapeutische Impulse in die Diskussion einzubringen imstande wären. Ein Geräusch oder Klang an sich ist nicht emotional – die Musik kann selbst nichts fühlen – dazu bedarf es eines Kontextes. (Um das Rauschen der Blätter im Wind als Ausdruck von etwas hören zu können, bedarf es zumindest eines hörenden Subjekts.) Angenommen, Musik wäre Ausdruck von Emotionen, deren Träger, Vermittler oder Auslöser, so muss zunächst sauber unterschieden werden, um wessen Emotion es sich handeln soll, wo ihr eigentlicher Sitz ist und wie die »Übertragung« gegebenenfalls funktioniert. Ohne diese Unterscheidung bliebe die Rede von Gefühlen in der Musik ein undifferenzierter ästhetischer Ausdruck; man sagt dann statt »großartig« z. B. »wie ergreifend« und offenbart damit zwar etwas über die musikalischen und gesellschaftlichen Konventionen seines kulturellen Umfeldes, aber nichts über das Objekt, das mit einem Prädikat wie »ergreifend« bezeichnet sein soll (vergl. dazu auch das Kapitel »Verschwommenheit«). Überwiegend werden Emotionstheorien zur Musik in drei Richtungen eingeteilt: Die erste besagt, der Inhalt der Musik sei die Emotion, welche im Hörer erweckt wird (arousal-theory). Die zweite Richtung spricht von der Emotion, die der Komponist im Schaffensprozess fühlte und in der Komposition verankerte (self-expression-theory), während die dritte, in jüngerer Zeit häufigste Überlegung, emotive Faktoren im Material der Musik verankert sieht (emotive-contenttheory). 195 Eine einfache Lösung der Suche nach dem »Sitz« der Emotion 195 Hanne Appelquist untersucht detailliert die verschiedenen Emotionstheorien in Bezug auf Wittgenstein, ich erlaube es mir daher, hier nur einen groben Überblick zu geben, um im Wesentlichen eigene Argumentationslinien nach Wittgenstein mit einer anderen Zielrichtung ins Feld zu führen. Vergl. Appelquist, Wittgenstein and the conditions of musical communication, S. 66 ff. Einen aktuellen Überblick über das Feld der Emotionstheorien geben u. a. Charles O. Nussbaum, The musical representation: meaning, ontology, and emotion, Cambridge, Mass. 2007, sowie Jenefer Robinson, Deeper than reason. Emotion and its role in literature, music and art, Oxford 2005.

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wäre der Hörer. Oft genug ist es der Fall, dass Menschen Musik anhören, um ungestört ihren eigenen Empfindungen nachgehen zu können im Sinne eines »undifferenzierte[n] sich-angesprochen fühlen[s]«. 196 Oder noch besser, um sich in eine bestimmte Stimmung zu bringen. In gewissem Sinne hat Kendall Walton jüngst diese Linie wieder etabliert. Für ihn versetzt Musik den Hörer in einen Zustand, in welchem er sich vorstellt, Gefühle vermittelt zu bekommen oder Erfahrungen zu machen: Unsere »actual introspective awareness of auditory sensations«, würde zu »an experience of being aware of our states of mind« 197 . So wird Musik zu einer »fiktionalen Welt«, in der Gefühle »stimuliert werden«. Wäre Waltons These zutreffend, könnte man getrost einen großen Teil der Musik und ihre Traditionen über den Haufen werfen und – wie bereits oben im Kapitel »Psychologie und Antipsychologismus« beschrieben – als Ersatz auf die Hormonspritze warten, die dereinst erfunden werden wird, um das gewünschte Gefühl präzise herzustellen. Dann wäre Musik tatsächlich reine »Ware« wie Adorno in seinen musikalischen Warenanalysen formulierte: »Musik erlaubt ihnen nur noch, endlich zu weinen. […] Die Hebelwirkung der Musik – das, was sie das Befreiende nennen – ist die Chance, überhaupt etwas zu fühlen«. 198 Diese Haltung des Musikhörens – in weniger polemischer Form als bei Adorno freilich – ist weit verbreitet und vermutlich noch dem ernsthaftesten Musikforscher bekannt. Unnachahmlich festgehalten hat sie der englische Romancier und Literaturtheoretiker Edward Morgan Forster, der zeitweise parallel mit Wittgenstein in Cambridge lehrte, in seinem kurzen Essay Not listenig to music. Gerne würde er, wie ein professionell »trainierter« Kritiker, intensiv den innermusika196 Bernfried Schlerath, »Musik als Sprache«, in: Sprache und Musik. Perspektiven einer Beziehung, hrsg. v. Albrecht Riethmüller, Laaber 1999, S. 15–26, hier S. 20. 197 Kendall Walton, »What is Abstract About the Art of Music?«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 46 (1988), S. 359. Dieser These wird unter anderem ausführlich widersprochen bei Malcolm Budd, Music and the Emotions. The Philosophical Theories, London 1992, S. 185 ff., sowie bei Jenefer Robinson, »The expression and Arousal of Emotion in Music«, in: Musical Worlds: New Directions in the philosophy of music (= Sonderband des Journal of aesthetics and art criticism, Bd. 52, Nr. 1 (1994)), hrsg. v. Philip Alperson, S. 13–22; beide Texte geben zudem ebenfalls einen Überblick über verschiedene Theorien. 198 Theodor W. Adorno, Musikalische Warenanalysen, in: Gesammelte Schriften Bd. 16 (= Musikalische Schriften I–III), hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1978, S. 284– 297, hier S. 295.

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lischen Verläufen der Musik lauschen, schweift aber bei jedem Versuch nach einiger Zeit unweigerlich ab: The first point to get clear in my own case is that during the greater part of every performance I do not attend. The nice sounds make me think of something else. I wool-gather most of the time, and am surprised that others don’t. Professional critics can listen to a piece as consistently and steadily as if they were reading a chapter in a novel. This seems to me an amazing feat, and probably they only achieve it through intellectual training; that is to say, they find in the music the equivalent of a plot; they are following the ground bass or expecting the theme to re-enter in the dominant, and so on, and this keeps them on the rails. But I fly off every minute: after a bar or two I think how musical I am, or of something smart I might have said in conversation; or I wonder what the composer – dead a couple of centuries – can be feeling as the flames on the altar still flicker up; or how soon an H. E. bomb would extinguish them. Not to mention more obvious distractions: the tilt of the soprano’s chin or chins; the antics of the conductor, that impassioned beetle […]; the affection of the pianist when he takes a top note with difficulty, as if he too were a soprano; the backs of the chairs; the bumps on the ceiling; the extreme physical ugliness of the audience. 199

Diese Art, Musik zu hören, kommt unbestreitbar häufig vor, kann aber die »Funktion« von Musik nicht erklären. Es würde sich dann unweigerlich erstens die Frage stellen, warum sich Musik überhaupt »entwickelt« hat – auch einstimmiger Gesang wäre vollkommen hinreichend dafür, dass ich mich selbst und meine Gedanken beim Hören genieße, und zweitens eignet sich – wenn überhaupt – nur ein kleiner Teil der bekannten Musik dazu, »endlich zu weinen« (Adorno, s. o.). Musik hat zwar unbezweifelbar stimulierende Kräfte, aber sie dient nicht vornehmlich der Herstellung von Gefühlszuständen. Nehmen wir eine »melancholische« Nocturne von Chopin als Beispiel. Vernünftigerweise kann man schlussfolgern, dass in ihr nur dann Emotionen enthalten sein können, wenn sie jemand auf irgendeine Weise dort »hineingelegt« hat. Naheliegend wäre dafür eine emotionale Befindlichkeit des Komponisten. Die bekannteste Ausführung dieser Ansicht lieferte Deryck Cooke 1962 in seinem Buch The Language of Music 200 . Cooke untersuchte Elemente musikalischen Ausdrucks in 199 Edward Morgan Forster, »Not Listening to Music«, in: Two Cheers for Democracy, Cambridge 1939, zit. n.: Howards End, hrsg. v. Paul B. Armstrong New York/London 1998, S. 303. 200 Deryck Cooke, The Language of Music, London 1962.

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westlicher, tonaler Musik seit 1400, um eine Art »Lexikon musikalischer Gefühlsvokabeln« herauszuarbeiten und zu etablieren. Eine solche Unternehmung konnte naturgemäß nur bedingt erfolgreich sein, da diesem »Lexikon« – so es denn überzeugend gewesen wäre – zu einer tatsächlichen Sprache die grundlegende zweite Instanz fehlt: eine epochen- und stilübergreifende Grammatik. 201 Die These der »self-expression« erscheint jedoch aufgrund zweier viel grundlegenderer Überlegungen Wittgensteins fragwürdig: Das Problem ist doch dies: Der Schrei, den man keine Beschreibung nennen kann, der primitiver ist als jede Beschreibung, tut gleichwohl den Dienst einer Beschreibung des Seelenlebens. 202

Im Moment des Schmerzes und der Trauer schlägt man vielleicht mit dem Kopf gegen die Wand oder schreit – das ist ein direkter Ausdruck des Gefühls. Im Unterschied dazu würde man doch jemandem, der sich im Moment des größten Schmerzes hinsetzt und eine Fuge schreibt, eher eine psychologische Behandlung vorschlagen. Während der Ausdruck persönlicher Gefühle sich mit halb-artikulierten Symbolen zufrieden gibt, die vielleicht das Symptom für einen inneren Druck sind, kann künstlerischer Ausdruck nicht nur als Ventil wahrgenommen werden. Musik ist schließlich auch nicht vornehmlich aus Gründen des psychologischen Einblicks interessant: ich höre doch eine Nocturne nicht, um herauszufinden, was der mir persönlich völlig fremde Chopin an irgendeinem Tag gefühlt hat. Und schon erst recht unsinnig ist es, zu sagen, der Künstler wünsche, daß, was er beim Schreiben, der Andre beim Lesen fühlen solle. Ich kann wohl glauben, ein Gedicht (z. B.) es so zu verstehen, wie sein Erzeuger es sich wünschen würde, – aber was er beim Schreiben gefühlt haben mag, das kümmert mich gar nicht. 203

Es ist vielleicht noch denkbar, dass Chopin seine Nocturne im Zustand nachdenklicher Melancholie niederschrieb, schwerer vorstellbar ist, dass Mozart die überschnappende Rachearie der Königin der Nacht in der Zauberflöte während eines Tobsuchtsanfalls notierte. Geniedenken 201 Budd diskutiert Cookes Thesen und deren Folgen ausführlich (vergl. ders., Music and the Emotions, u. a. S. 122 f.); in Bezug auf Wittgenstein setzt sich auch Appelquist intensiv mit Cooke auseinander (Dies., Wittgenstein and the conditions of musical communication, S. 66 ff.). 202 PU II xi, S. 300. 203 VB, S. 533.

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hin oder her: eine gewisse abgeklärte Konzentration ist wohl zum Komponieren unumgänglich, der Komponist kann nur mit einem Abstand von einer akuten, eigenen Emotion diese ästhetisch transformieren; und zwar je stärker die Emotion, desto größer wahrscheinlich der Abstand. Es ist im Gegenteil sogar denkbar, dass Chopin während des Komponierens gar nicht melancholisch war, sondern vielmehr ein zufriedenes und frohes Gefühl hatte, wegen einer besonders gelungenen Passage oder des guten Wetters. Hängt man einem naiven Übertragungsmodell an (Komponist fühlt, überträgt Gefühl in Komposition, Hörer hört es wieder heraus), kann man daraus nur schließen, dass die Musik verlogen wäre, weil beim Hörer ein ganz anderes Gefühl ankommt, als vom Komponisten während des Schaffensprozesses gefühlt wurde, und das wäre Unsinn. 204 Die Vorstellung des »Selbstgenusses« vermittels Musik und die Idee der Gefühlsübertragung durch die Komposition findet Wittgenstein bei Lew Nikolajewitsch Tolstoi, von dem der Ausspruch überliefert ist: »Ich liebe die Musik mehr als alle anderen Künste, mir fiele es am schwersten, mich von ihr zu trennen, von den Gefühlen, die sie mir vermittelt.« 205 Wittgenstein fühlte sich nach der Lektüre des umfangreichen Essay »Was ist Kunst?« (von 1889) dazu veranlasst, sich von den theoretischen Überlegungen des ansonsten moralisch und literarisch sehr von ihm geschätzten Tolstoi 206 zu distanzieren: 207 204 Eine Lösung dieses Problems bot Jerrold Levinson 1990 an: Wir hören eine »musical persona«, in der Form, als drücke diese Person (oder mehrere Personen) ihre Gefühle in der Phrase aus. Levinson vertritt diese These erstmals in seinem Buch Music, Art and Metaphysics: Essays in Philosophical Aesthetics, Ithaca 1990, S. 107 ff. Levinson entwirft die Idee eines »lyrischen Ichs« in der Musik in der Nachfolge Peter Kivys, der behauptet, wir hören deshalb Emotion in der Musik, weil wir – in Anlehnung an das Sehen – auch immer antropomorph hören. (Vergl. Kivy, »A ›Physiognomy‹ of Musical Expression« sowie die folgenden Kapitel in: Sound Sentiment. An Essay on the Musical Emotions (including the complete text of The Corded Shell), Philadelphia 1989, S. 46 ff.; mehr dazu weiter unten im Text. 205 Zit. n.: Magdalene Zurek, Tolstojs Philosophie der Kunst (= Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, hrsg. v. Horst-Jürgen Gerigk und Maria Moog-Grünewald, Bd. 2), Heidelberg 1996, S. 208, (deutsche Übersetzung im Anhang, S. 405). 206 Nach Engelmann resultierte Wittgensteins Wunsch, ein einfaches Leben als Dorfschullehrer zu führen (was er auch zwischen 1922–1924 in Haßbach bei Neunkirchen bzw. Puchberg am Schneeberg und Otterthal verwirklichte) aus der Lektüre Tolstois. (Somavilla (Hg.), Wittgenstein – Engelmann, S. 122, 189 aber auch S. 89 f.). 207 Die Verfasser von Wittgensteins Wien, Janik und Toulmin, behaupten in gewisser

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Aus Tolstois schlechtem Theorisieren, das Kunstwerk übertrage ›ein Gefühl‹, könnte man viel lernen. 208

Für Tolstoi ist Musik die »Stenographie der Gefühle«. 209 So wie seiner Ansicht nach Worte der Übertragung von Gedanken und Erfahrungen dienen, vermittele Kunst Gefühle. Der Verständigungsprozess mittels Kunst basiere auf der Fähigkeit des Menschen, Emotionen nachzuempfinden und sich gleichsam von ihnen »infizieren« zu lassen. 210 Kunst sei demnach »eine menschliche Tätigkeit, die darin besteht, daß ein Mensch bewußt, mittels bestimmter äußerer Zeichen, anderen von ihm empfundene Gefühle überträgt, und daß andere Menschen von diesen Gefühlen angesteckt werden und sie durchleben.« Zu diesem Zweck müsse der Künstler ein »in sich einmal empfundenes Gefühl wachrufen und das Gefühl, nachdem er es wachgerufen hat, mittels Bewegungen, Linien, Farben, Tönen, Gestalten, in Worten gefaßt so weitergeben, daß andere das gleiche Gefühl empfinden.« 211 Tolstoi legt in gewisser Weise mit seinem Essay den Grundstein für die später so genannte »Arousal Theory« 212 , gegen die Wittgenstein bereits vor ihrer Herausbildung mit einer bereits zitierten Bemerkung implizit argumentiert: Das Paradox verschwindet nur dann, wenn wir radikal mit der Idee brechen, die Sprache funktioniere immer auf eine Weise, diene immer dem gleichen

Hinsicht Gegenteiliges: »Kunst allein als Spiel der Formen zu betrachten, wie es die Ästheten der 1890er Jahre taten, bedeutete eine Perversion der Kunst. So enthalte der Tractatus auf seine Art genauso eine Verwerfung des l’art pour l’art wie etwa Tolstois Was ist Kunst?« (ebd. S. 232). Hanne Appelquist kritisiert diese Bemerkung in Wittgenstein and the conditions of musical communication (S. 69) und stellt ebenfalls Wittgensteins Ablehnung von Tolstois Theorien heraus. Ihre Argumentation zielt allerdings auf die These, Wittgenstein vertrete eine dezidiert formalistische Perspektive in einer Variation Hanslicks. Ich werde im Kapitel »Ausdruck – Bedeutung – Selbstreferentialität – Formalismus?« diese Behauptung relativieren. 208 VB, S. 533. 209 Tagebuchaufzeichnung Tolstois vom 20. Januar 1905, zit. n.: Zurek, Tolstojs Philosophie der Kunst, S. 206, (deutsche Übersetzung im Anhang S. 404). 210 Vergl. Zurek, Tolstojs Philosophie der Kunst, S. 69 f. 211 Lew Nikolajewitsch Tolstoi, Was ist Kunst? (1889), zit. n.: Zurek, Tolstojs Philosophie der Kunst, S. 70, (deutsche Übersetzung im Anhang, S. 390). 212 Malcolm Budd setzt sich, ausgehend von Tolstoi, mit den Folgen dieser Theorie und ihren verschiedenen Ausprägungen auseinander (vergl. Ders., Music and the Emotions, S. 121 ff.).

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Zweck: Gedanken zu übertragen – seien diese nun Gedanken über Häuser, Schmerzen, Gut und Böse, oder was immer. 213

Übertragen werde gar nichts, weder mittels Worten noch mittels Tönen, vielmehr werde das Wissen um etwas von Komponisten und Hörer geteilt. Bevor ich darauf zurückkomme, sei noch auf einen weiteren denk-historischen Kontext Wittgensteins in der Emotionsfrage verwiesen: Es wird gelegentlich behauptet, dass die oben benannte naive Übertragungstheorie die »Auskunft über den Kunstausdruck« sei, »die in den Texten von Collingwood zu finden ist.« 214 Es wäre insofern naheliegend, dass Wittgenstein sich auf Robin George Collingwood bezogen hätte, als dieser ein Kollege Wittgensteins in Cambridge war, und sein einflussreiches Buch The Principles of Art 1938 erschien, also in dem Jahr, in dem Wittgenstein in Cambridge Vorlesungen zur Ästhetik hielt. Richtig ist vielmehr, dass Collingwood in Bezug auf Emotionen eine Wittgenstein äußerst ähnliche Perspektive vertritt. Gefühle werden nicht einfach übertragen, wie »alte Kleider«: We are apt to think of it [the relation of speaker and hearer] as one in which the speaker ›communicates‹ his emotions to the hearer. But emotions cannot be shared like food or drink, or handed over like old clothes. To speak of communicating an emotion, if it means anything, must mean causing another person to have emotions like those which I have myself. But independently of language neither he nor I nor any third person can compare his emotions with mine, so as to find out whether they are like or unlike. If we speak of such comparison, we speak of something that is done by the use of language; so that the comparison must be defined in terms of speaking and hearing, not speaking and hearing in terms of such comparison. 215

PU I, § 304. Dieser Fehler ist Gustavo Arroyo in seinem Buch Wittgensteins analogisches Denken, (= Forschungsergebnisse zur Philosophie Bd. 73), Hamburg 2006, S. 117 unterlaufen, Collingwoods Überlegungen zu Kunst bzw. Musik und Emotion sind wesentlich differenzierter. 215 Collingwood, Principles of Art (Reprint) London 1978, S. 249. Zum Verhältnis Wittgenstein – Collingwood vergl. u. a. Jay A. Martin, »Collingwood and Wittgenstein on the Task of Philosophy: An interesting Convergence«, in: Philosophy Today, Vol. 25 (Spring 1981), S. 12–23; Peter B. Lewis, »Collingwood and Wittgenstein: Struggling with Darkness«, in: Collingwood Studies, Vol. 5 (1998), S. 28–42; sowie Marnie Hughes-Warrington, ›How Good An Historian Shall I Be?‹ R. G. Collingwood, The Historical Imagination and Education (= British Idealist Studies, Series 2 (Collingwood), Vol. 2), Thorverton 2003, S. 61 ff. 213 214

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Collingwood folgt Tolstoi allerdings insofern, als man den Wert eines Kunstwerkes daran ermessen könne, wie klar es dem Künstler bzw. Komponisten gelungen sei, einen emotionalen Ausdruck in der Musik zu artikulieren. 216 Eine komplexere Überlegung bilden schließlich die verschiedenen Ausprägungen der »emotive-content-theory«, welche die Emotion im Material der Musik verankert. In jüngerer Zeit wird diese These u. a. von Steven Davies und Peter Kivy vertreten. 217 Angenommen, ein bestimmtes Stück wird allgemein unter der Bezeichnung »melancholisch« gehandelt, als Beispiel diene wiederum eine Nocturne von Chopin. Die Melancholie müsste dann in irgendeiner Weise im Notentext verankert sein, um im Spiel immer wieder zum Tragen zu kommen. Das würde bedeuten, dass es so etwas wie ein »musikalisches Korrelat« zu einer Emotion geben müsste, welches wiedererkennbar mit einem Gefühlsbegriff etikettiert werden könnte. Relativ unumstritten ist in der Kognitions- und Emotionsforschung, dass sich kognitive und emotionale Faktoren gegenseitig bedingen und beeinflussen. Wie sich diese Verbindung aber jeweils in einer Situation gestaltet, kann weder aus der logischen Struktur des bewussten Denkens abgeleitet werden, noch aus dem Charakter der beteiligten Emotionen, sondern ausschließlich im Rahmen des jeweiligen Zusammenhanges. Je stärker und eindeutiger die kognitiven und emotionalen Muster dabei in einem konventionalisierten System fixiert sind, desto deutlicher heben sie sich als eigenständige Bestandteile der Situation heraus. Für Musik bedeutet diese Beobachtung, wie u. a. auch Kivy betont, dass es durchaus mög216 Dieser Richtung folgt auch Susanne K. Langer und findet dafür eine überzeugende Formulierung: »An Artist, then, expresses feeling, but not in the way a politician blows off steam or a baby laughs and cries. He formulates that elusive aspect of reality that is commonly taken to be amorphous and chaotic; that is, he objectifies the subjective realm. What he expresses is, therefore, not his own actual feelings, but what he knows about human feeling. Once he is in possession of a rich symbolism, that knowledge may actually exceed his entire personal experience. A work of art expresses a conception of life, emotion, inward reality. But it is neither a confessional nor a frozen tantrum; it is a developed metaphor, a non-discursive symbol that articulates what is verbally ineffable – the logic of consciousness itself.« (Langer, Problems of Art. Ten Philosophical Lectures, New York 1957, S. 26). 217 Vergl. Stephen Davies, Musical Meaning and Expression, Ithaca 1994; Peter Kivy, Sound Sentiment. An Essay on the Musical Emotions (including the Text of The Corded Shell), Philadelphia 1989); Appelquist kommentiert auch diese beiden Ansätze ausführlich (vergl. Dies., Wittgenstein and the conditions of musical communication, S. 79 ff.).

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lich ist, bestimmte Muster innerhalb eines bestimmten Systems lernabhängig zu konventionalisieren: z. B. rhetorische Figuren wie den passus duriusculus oder Seufzermotivik, Marschrhythmen, Fanfaren oder gar »Chiffren« wie das B-A-C-H Motiv. 218 Kivy entwickelt die Idee des »antropomorphen Hörens«. Nach der menschlichen Grundeigenschaft, (auch unbewusst) die Gegenstände der Wahrnehmung entsprechend der menschlichen Gestalt zu beleben und nach menschlichen Handlungsmustern wahrzunehmen, hören wir auch Musik als emotional ausdrucksvoll. 219 Von allen menschlichen Ausdrucksformen sind dabei die Muster des Sprechens (also Phrasierung, Lautstärke, Tempo, Tonfall etc) besonders zum anthropomorphen Hören von Musik geeignet (man spricht daher auch von der sog. »speech-theory«). Davies argumentiert ähnlich: die Evolution hat uns programmiert, empathische, musikalische »quasi-Gesten« (quasi-gestures) zu identifizieren. »The disposition to find human appearances whenever possible seems inherent to our mode of experiencing the world.« 220 Auch wenn sich beide Ansätze vielversprechend ausnehmen, bringen sie mehrere Probleme mit sich, über die Wittgenstein lange vor Kivy und Davies nachdenkt. Zunächst, so Wittgenstein, mag es zwar sein, dass wir gestalthaft wahrnehmen, das heißt aber nicht, dass der traurige Gesichtsausdruck dem Gefühl der Traurigkeit ähnlich sei! Einen traurigen Gesichtsausdruck richtig interpretieren und traurig sein bei seinem Anblick sind zwei völlig unterschiedliche Vorgänge. Ich muss nicht zwangsläufig bei einer Phrase, der ich das Wortfeld »traurig« zuordnen kann, traurig sein, um sie zu verstehen. Verstehen ist kein innerer Prozess. 221 Man kann von der »melancholischen NocVergl. Kivy, Sound Sentiment, insbes. S. 52–55. Vergl. Kivy, Sound Sentiment, insbes. S. 57–63 sowie 172–176; Kivys These wiederum basiert auf Susanne Langers Überlegung, dass Musik und Emotion strukturell isomorph sind (vergl. z. B. Dies. Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, (1942), Berlin 1965, S. 225); was Langer ihrerseits von Hanslick übernimmt: »Was kann also die Musik von den Gefühlen darstellen, wenn nicht deren Inhalt? Nur das Dynamische derselben. Sie vermag die Bewegung eines physischen Vorganges nach den Momenten: schnell, langsam, stark, schwach, steigend, fallend nachzubilden. Bewegung ist aber nur eine Eigenschaft, ein Moment des Gefühls, nicht dieses selbst.« (Eduard Hanslick, Vom Musikalisch Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst (1854), Wiesbaden 1989, S. 26). 220 Stephen Davies, Musical Meaning and Expression, Ithaca 1994, S. 228. 221 Auf diesen Unterschied fokussiert sich auch Sarah Worth in ihrem Beitrag zu Wittgensteins Musikverständnis. Sarah E. Worth, »Wittgensteins Musical Understanding«, 218 219

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turne« bis zu Tränen bewegt sein, ohne ihre spezifischen Kompositionsprinzipien verstanden zu haben, denn um zu reagieren, muss ich nicht verstehen. Auf der anderen Seite kann man eine musikalische Phrase verstehen und sich für ihre Kompositionsprinzipien interessieren, ohne etwas Spezielles zu fühlen. Verstehen ist für Wittgenstein eine Fähigkeit, man kann sie Schritt für Schritt erlernen, ein »melancholisches Gefühl« kann man dagegen nicht lernen, ohne einer ganz bestimmten Kultur anzugehören. Bezogen auf Kivys kulturell codierte »Etiketten« (s. o.) bringt das einige Konsequenzen mit sich. Wittgenstein wählt das simple Beispiel von »Dur« und »Moll«; Bezeichnungen, die nämlich keineswegs vorrangig im Sinne emotionaler Hinweisschilder gebraucht werden. Es bedürfe vielmehr des Verstehens, des Beherrschens einer Technik und des »sich Auskennens« in einem bestimmten musikalischen Kontext, um Dur und Moll als »Hinweisschilder« verstehen zu können: Ein und dasselbe Thema hat in Moll einen andern Charakter als in Dur, aber von einem Charakter des Moll im allgemeinen zu sprechen, ist ganz falsch. (Bei Schubert klingt das Dur oft trauriger als das Moll.) 222 in: British Journal of Aesthetics, Vol. 37, No. 2, April 1997, S. 158–187 (hier insbes. S. 159). Worths Aufsatz betrachtet verschiedene Analogien zwischen dem Verstehen eines sprachlichen Satzes und eines musikalischen Themas und erläutert (terminologisch gelegentlich inkonsequent) anhand entsprechender Wittgenstein-Zitate, dass sowohl das Verstehen von Sprache als auch das von Musik nicht als mentaler Prozess betrachtet werden könne. Peter B. Lewis zieht ähnliche Schlüsse, konzentriert sich dabei aber vor allem auf das Problem der »Erfahrung der Bedeutung eines Wortes«, das ich hier zugunsten mir wichtiger erscheinender Argumente vernachlässige. (Ders., »Wittgenstein on Words and Music«, in: Ludwig Wittgenstein. Criticals Assessments, hrsg. v. Stuart G. Shanker, Bd. 4, London 1986, S. 382–391 (entspricht Ders., »Wittgenstein on words and music«, in: British Journal of Aesthetics 17 (1977), S. 111–121). In diesem Zusammenhang steht auch der Beitrag von Oswald Hanfling, der sich darüber hinaus vor allem mit den Bedeutungen emotionaler Zu- und Beschreibungen von Musik auseinandersetzt. Diese würden im Sinne der »sekundären Bedeutung« (Wittgenstein, PU II xi, S. 346 f.) verwendet und die Art und Weise, wie man solche Begriffe verstünde, ähnele der Art und Weise, wie man überhaupt Musik verstünde (Ders., »Wittgenstein on Music and Language«, in: Wittgenstein, Aesthetics and Philosophy, hrsg. v. Peter B. Lewis, Aldershot 2004, S. 151–164; sowie: Ders., »›I heard a plaintive melody‹ : (Philosophical Investigations, p. 209)«, in: Wittgenstein Centenary Essays, hrsg. v. A. Phillips Griffith, Cambridge 1992, S. 117–133). 222 VB, 570. Vergl. hierzu auch Marie Agnes Dittrich, »Vokalmusik. Die Lieder«, in: Schubert-Handbuch, hrsg. v. Walther Dürr und Andreas Krause, Kassel u. a. 1997: »Ebenso charakteristisch für die Verwendung der Tongeschlechter in Schuberts Liedern ist aber, daß sie häufig entgegen ihrer üblichen Auffassung erscheinen und damit den

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Außerdem, und das ist musiktheoretisch bedeutender, sind Dur und Moll zwar Begriffe, die einen »Gefühlswert« haben können, so Wittgenstein, aber vornehmlich auch konstruktiven Prinzipien der Komposition dienen und damit »auch einzig zur Beschreibung der wahrgenommenen Struktur gebraucht werden können.« 223 (Ich kann eine Mollpassage also durchaus verstehen, ohne eine Empfindung verspüren zu müssen.) Letztendlich muss Kivy auch dahingehend widersprochen werden, dass wir Musik nicht nur als Ausdruck antropomorpher Strukturen hören, sondern auch als Ausdruck der Meeresbrandung, des Waldesrauschens, von Maschinenstampfen oder sonstiger, an sich emotionsfreier Dinge. 224 Eine Antwort auf die oben beschriebenen drei Emotionstheorien (arrousal-theory, self-expression-theory, emotive-content-theory) besteht damit aus Wittgensteinscher Perspektive in einer Reihe recht komplexer Argumentationsschritte, die ich im Folgenden zu erläutern versuche. Zunächst fordert er uns auf, genau zu beobachten, wie und bei welcher Gelegenheit wir überhaupt auf die Idee kommen, ein Hörer verspüre etwas beim Hören von Musik: Noch einmal: Worin besteht es, einer musikalischen Phrase mit Verständnis folgen, oder, sie mit Verständnis spielen? Sieh nicht in Dich selbst. Frag dich lieber, was Dich sagen macht, der Andre tue dies. Und was veranlaßt Dich, zu sagen, er habe ein bestimmtes Erlebnis? Ja, sagt man das überhaupt? Würde ich nicht eher vom Andren sagen, er habe eine Menge von Erlebnissen? Ich würde wohl sagen, ›Er erlebt das Thema intensiv‹ ; aber bedenke, was davon der Ausdruck ist. 225

Text in besonderer Weise interpretieren. So werden oft Worte die im allgemeinen negativ aufgefaßt werden, mit einem Durakkord vertont. […] Oft drückt ein Widerspruch zwischen dem Tongeschlecht und anderen Elementen Ambivalenzen aus, meist im Zusammenhang von Liebe und Schmerz oder Tod und Erlösung.« (Ebd. S. 159). 223 PU II xi, S. 334. Vergl. auch: »Und die Deutung kann aus gewissen rein musikalischen Beziehungen erklärt werden.« BPP I, § 22. 224 Appelquist trifft hier einen interessanten Punkt, wenn sie feststellt: »Ironically, then, the formalist seems less of a purist than the emotive-content theorist, for she can allow any kind of comparison or description of music insofar as it is helpful for us in talking about music.« (Dies., Wittgenstein and the conditions of musical communication, S. 83). 225 VB, S. 522.

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Für Wittgenstein ist die grammatische Fiktion, auf die es zu achten gilt, dass unsere Beschreibung des Verhaltens unsere Beschreibung von Gefühlen ist. Wenn jemand nur genießerisch die Augen schließt, kann man daraus gar nichts schließen, außer, dass er innerhalb einer bestimmten Kultur aufgewachsen ist – er könnte an alles mögliche denken oder seinen Genuss (oder seine Erschütterung) vortäuschen – alles andere sind Fehlschlüsse, die uns die Grammatik der Sprache nahelegt. Es bleibt daher genau zu untersuchen, welche Verhaltensweisen und kulturellen Konventionen dazu führen, Gefühle in einer bestimmten Musik zu suchen und anhand welcher (ebenfalls kulturell gebundener) Reaktionen wir gegebenenfalls auf ihre Wirkung schließen: Das Verständnis der Musik ist eine Lebensäußerung des Menschen. Wie wäre sie Einem zu beschreiben? Nun, vor allem müßte man wohl die Musik beschreiben. Dann könnte man beschreiben, wie sich Menschen zu ihr verhalten. Aber ist das alles, was dazu nötig ist, oder gehört dazu, daß wir ihm selbst Verständnis beibringen? Nun, ihm Verständnis beibringen wird ihm in anderem Sinne lehren, was Verständnis ist, als eine Erklärung, die dies nicht tut. Ja auch, ihm Verständnis für Gedichte oder Malerei beibringen, kann zur Erklärung dessen gehören, was Verständnis für Musik sei. 226

Wittgenstein trennt Verstehen als in kulturellen Kontexten erlernte Fähigkeit mithin von den Gefühlen. Wie steht es dann aber mit denselben? Wittgenstein denkt intensiv in verschiedenen Phasen seines Lebens über dieses Problem nach. Angenommen, so beginnt er, jemand hat Schmerzen und teilt mir dies mit. Was geschieht dann in mir, während ich das höre? Ich empfinde nicht selbst Schmerzen, (»Mit-leid« ist nur eine Metapher, die sich im Laufe der Zeit zum Begriff verfestigt hat.) Ich kann anhand des Gesichtsausdruckes dieser Person, seines Verhaltens, seiner Gesten zwar ahnen, ob er Schmerzen hat, kann aber nicht ausschließen, dass er lügt. Oder angenommen, derjenige wüsste gar nicht, ob das unangenehme Gefühl, welches er verspürt wirklich Schmerzen sind. Dann würde man davon ausgehen, der Betreffende kennt die Anwendung des Wortes »Schmerz« im Deutschen nicht. Wie könnte man es ihm erklären? Durch das Nachahmen eines schmerzverzerrten Gesichtes? Indem man ihn verletzt und sagt: »das ist Schmerz«? Vielleicht hat er durch einen seltenen Gendefekt noch

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nie physische Schmerzen verspürt 227 , leidet aber unter Liebeskummer und kann von diesem Einzelfall aus keine Kategorie »Schmerz« bilden? Wittgenstein entwickelt im Zuge seines Nachdenkens über »Schmerz« ein bekannt gewordenes Gleichnis über die Annahme, weil wir wüssten, was Schmerzen sind 228 , müsse das auch jeder andere wissen: Angenommen, es hätte Jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir ›Käfer‹ nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Andern schaun; und Jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. – Da könnte es ja sein, daß Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, daß sich ein solches Ding fortwährend veränderte. – Aber wenn nun das Wort ›Käfer‹ dieser Leute doch einen Gebrauch hätte? – So wäre er nicht die Bezeichnung eines Dings. Das Ding in der Schachtel gehört überhaupt nicht zum Sprachspiel; auch nicht einmal als ein Etwas: denn die Schachtel könnte auch leer sein. – Nein, durch dieses Ding in der Schachtel kann ›gekürzt werden‹ ; es hebt sich weg, was immer es ist. 229

»Was immer es ist« – Empfindungen sind absolut privat, sie enden mit den Grenzen meines Körpers. Über die Empfindung anderer kann ich nichts wissen (selbst neurologische Experimente liefern mir immer nur Bilder, die ich interpretieren muss, keinen direkten Einblick in den anderen). Ich kann auch deshalb nichts darüber wissen, weil für andere Menschen – wie für mich selbst – keine Notwendigkeit besteht, eine Empfindung auszudrücken, um sie vollgültig zu erleben. Der Ausdruck einer Empfindung ist bereits nicht mehr privater Natur, schon ein 227 Solche Fälle sind in jüngerer Zeit in einer Familie in Pakistan aufgetaucht. (Vergl. James J. Cox/et al, »An SCN9A channelopathy causes congenital inability to experience pain«, in: Nature, Bd. 444 (14. 12. 06), S. 894–898); trotzdem müssen diese Menschen wissen können, was der Begriff Schmerz bedeutet, um sich in einer Gemeinschaft zurechtfinden zu können. 228 Wittgenstein nimmt den »Schmerz« zum Ausgangspunkt einer weit komplizierteren philosophischen Überlegung, die in der Frage mündet: Wenn wir über den Schmerz anderer nichts sicher sagen können, weil wir lediglich eine sprachliche Tradition immer wieder neu verhandeln – in welcher Form kann es dann noch sinnvoll sein, Feststellungen über den eigenen Schmerz (den es natürlich unbestreitbar gibt) zu sprechen? Was hier in seiner Kurzdarstellung befremden mag (wie kann jemand an seinen eigenen Schmerzen zweifeln?) ist bei Wittgenstein ein fein ziselierter Argumentationsstrang zum bereits weiter oben angedeuteten Problem des sogenannten »Privatsprachenargumentes«, welches hier getrost ausgeklammert werden kann. (Vergl. zum Problem der Emotion im Rahmen der privaten Sprache bei Wittgenstein u. a. Savigny, Philosophie der normalen Sprache, insbes. S. 47 ff.; Severin Schroeder, Das Privatsprachenargument. Wittgenstein über Empfindung und Ausdruck, Paderborn u. a. 1998, S. 150 ff.). 229 PU I, § 293.

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Emotion?

Stöhnen ist nicht mehr für mich, sondern eine Form sozialer Interaktion: es soll (bewusst oder unbewusst) bestimmte Verhaltensweisen auslösen: 230 [W]ie lernt ein Mensch die Bedeutung der Namen von Empfindungen? Z. B. des Wortes ›Schmerz‹. Dies ist eine Möglichkeit: Es werden Worte mit dem ursprünglichen, natürlichen, Ausdruck der Empfindung verbunden und an dessen Stelle gesetzt. Ein Kind hat sich verletzt, es schreit; und nun sprechen ihm die Erwachsenen zu und bringen ihm Ausrufe und später Sätze bei. Sie lehren das Kind ein neues Schmerzbenehmen. ›So sagst du also, daß das Wort ›Schmerz‹ eigentlich das Schreien bedeute?‹ – Im Gegenteil; der Wortausdruck des Schmerzes ersetzt das Schreien und beschreibt es nicht. 231

Was immer wir über Emotionen sagen können, betrifft einzig und allein den kulturell geformten, sprachlichen Gebrauch. Beispielsweise reagieren wir auf Schmerzäußerungen eines Schauspielers auf der Bühne vollkommen anders, als wenn derselbe Mensch dieselben Laute auf der Straße ausstößt, obwohl beide Situationen uns gleichermaßen ergreifen oder bedrücken können – objektiv betrachtet hat sich nichts geändert. Man muss den kulturellen Kontext »Theater« in gewisser Weise erlernt haben, um in beiden Situationen angemessen reagieren zu können. (Es ist ja auch nicht so, dass wir uns im Theater und Kino immer der Fiktion bewusst sind, dass hier »in Wirklichkeit« niemand leidet.) Genaugenommen gibt es daher keinen sichtbaren Unterschied zwischen beiden Situationen außer ihren Kontext. Man sieht es dem Ausdruck »er hat Schmerzen« nicht an, sagt Wittgenstein, welche Rolle er in welchem Sprachspiel gerade spielt. 232 Infolge solcher Beobachtungen wird Wittgenstein nicht müde, eines zu betonen: Und hier mache ich darauf aufmerksam, daß die Sprachspiele in weit höherem Maße verschieden sind, als man denkt. 233 230 Vergl. hierzu auch Kathrin Stengel, Das Subjekt als Grenze. Ein Vergleich der erkenntnistheoretischen Ansätze bei Wittgenstein und Merleau-Ponty, Berlin 2003, S. 86 ff. 231 PU I, § 244. 232 Vergl. hierzu auch Steffi Hobuß, »Unbeschreibliche Gefühle«, in: Wittgenstein über die Seele, hrsg. v. Eike von Savigny und Oliver R. Scholz, Frankfurt a. M. 1995, S. 144. Hobuß begründet in einer Fußnote zu dieser Beobachtung anhand von Textmerkmalen, warum gerade diese Beobachtung zwangsläufig in Wittgensteins Frage nach den Aspekten mündet. Ich werde gegen Ende dieses Kapitels zeigen, dass sich das insbesondere für Fragen der Musik tatsächlich ganz natürlich ergibt. 233 PES, S. 78.

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Musik und Emotion

Im Falle der Schmerzen im Theater und denen auf der Straße hat man gelernt verschieden zu reagieren, »[a]ber nicht, weil das Erlebte etwas Spezifisches ist, sondern weil das Sprachspiel es ist.« 234 Im Falle dieser Art Schmerzen entscheidet sich der Kontext durch das Sprachhandeln: So werden diese Worte gebraucht. Es wäre in diesem […] Fall z. B. ganz irreleitend, die Worte eine ›Beschreibung des seelischen Zustandes‹ zu nennen. – Eher könne man sie hier ein ›Signal‹ nennen; und ob es richtig angewendet war, beurteilen wir nach dem, was er weiter tut. 235

Was für Schmerzempfindungen gilt, die sozusagen noch näher an »unmittelbaren Reaktionen« sind, gilt umso mehr für Musik. Um jemandem die Bedeutungen der verschiedenen Reaktionsformen auf Musik erklären zu können, muss ich ihm beibringen, was Musik in unserer Kultur bedeutet und bedeutet hat: ich muss sein Gehör schulen, ihn Harmonie und Formen lehren, mit anderen Worten: ich muss musikwissenschaftliches und -theoretisches Wissen vermitteln. Erst wenn ein Hörer derart – wie Wittgenstein sagt – »abgerichtet« ist, wird er scheinbar wie von selbst und »richtig« auf Stücke reagieren, die ich ihm nicht explizit »beigebracht« habe: Auch, daß eine musikalische Wendung ausdrucksvoll ist, beruht nur auf ihrer Umgebung in der ganzen musikalischen Sprache, zu der sie gehört. 236 Der Eindruck, den es [das musikalische Thema] mir macht, hängt mit Dingen in seiner Umgebung zusammen – z. B. mit der Existenz der deutschen Sprache und ihrer Intonation […]. Wenn ich z. B. sage: Es ist, als ob hier ein Schluß gezogen würde, oder, als ob hier etwas bekräftigt würde, oder, als ob dies eine Antwort auf das Frühere wäre, – so setzt mein Verständnis eben die Vertrautheit mit Schlüssen, Bekräftigungen, Antworten, voraus. Ein Thema hat nicht weniger einen Gesichtsausdruck, als ein Gesicht. […] nämlich der Rhythmus unserer Sprache, unseres Denkens und Empfindens. 237

Als Beispiel würde ein Angehöriger einer Kultur, die traditionell auch Gegenstände animistisch belebt (mithin auch Musikinstrumente) zwangsläufig unter einem »schmerzvollen Ausdruck der Musik« etwas vollkommen anderes verstehen als die stark kulturell codierte Melancholie der Romantik des 19. Jahrhunderts in einer Nocturne von Chopin. 234 235 236 237

BPP I, § 602. PU I, § 180. BEE, MS 130, S. 60. VB, S. 523.

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Emotion?

Das, was man gemeinhin den Ausdruck einer bestimmten musikalischen Wendung nennt, und das, was wir als Ausdruck einer Empfindung bezeichnen, kann beides in einer bestimmten Situation vergleichbare Reaktionen hervorrufen, und der kulturell geprägte Umgang mit diesen Phänomenen bedingt das oft identisch erscheinende Gebrauchsfeld der sie bezeichnenden Worte. Aber, so Wittgenstein: Den Begriff ›Schmerz‹ hast du mit der Sprache gelernt. 238

Und nicht nur der Hörer hat diesen Ausdruck so erlernt, sondern auch der Komponist. Beide teilen eine Kultur mit Regeln und Konventionen, die der Künstler variieren und dehnen, aber nicht vollkommen ignorieren kann. Da der Komponist selber Bestandteil dieser Kultur ist, kann er auch bei absoluter Verleumdung ihrer Traditionen letztlich nicht aus ihr heraus. Er nutzt innerhalb seines Stückes bestimmte Elemente, die aufgrund von historisch erlernten Konventionen – und seien sie noch so sehr verfremdet oder abstrahiert – unter das Attribut »melancholisch« gefasst werden können, wie Seufzermotive, Nonenvorhalte, bestimmte Weisen der Instrumentation und Anweisungen zur Interpretation etc. Dass der Hörer dann davon spricht, ein Gefühl wahrzunehmen, liegt am Sprachspiel des Musikhörens, in welchem eine »ausdrucksvolle Phrase« und »der Ausdruck der Phrase« grammatisch gleich verhandelt werden können. Was man tatsächlich feststellen kann, ist dagegen »nur«, dass zwischen der Lebenswelt des Komponisten bzw. dem, was er über Gefühle und deren kulturellen Ort weiß, und dem Wissen, über welches der Hörer verfügt, eine ausreichend große Schnittmenge besteht. (Was auch erklären hilft, warum nicht jeder emotionale Code in Kompositionen einer vergangenen Epoche heute dieselbe Wirkung auslöst, wie in ihrem vergangenen speziellen kulturellen Umfeld). Mithilfe der Unterscheidung zwischen einer »ausdrucksvollen Phrase« und dem »Ausdruck einer Phrase« – mithin der genauen Unterscheidung der Wortfelder im Sprachspiel – ist Wittgenstein auch in der Lage, einen Lösungsweg zum Problem der Bedeutung einer musikalischen Wendung jenseits der Dichotomie von Formalismus und außermusikalischer Bedeutung anzubieten (vergl. Kapitel »Ausdruck – Bedeutung – Selbstreferentialität – Formalismus?«). Wittgenstein bestreitet also weder, dass ein Komponist sich selbst 238

PU I, § 384.

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und seine Gefühle in einem Werk ausdrücken kann, noch, dass wir eine emotionale Reaktion auf Musik verspüren können: Worte eines Dichters können uns durch und durch gehen. Und das hängt, kausal, natürlich mit dem Gebrauch zusammen, den sie in unserm Leben haben. Und es hängt auch damit zusammen, daß wir, diesem Gebrauch gemäß, unsere Gedanken dorthin und dahin in die wohlbekannte Umgebung der Worte schweifen lassen. 239

Nur bestreitet er vehement, dass dieses »durch und durch gehen« ein Vorgang im Sinne einer direkten, rück-übersetzbaren Übertragung der Dichterworte oder der kompositorischen Entscheidungen wäre. Das »durch und durch gehen« ist deshalb »intersubjektiv«, weil das Verhalten, die Reaktionen und die Begriffe in emotionalen Kontexten sich ähneln. Sie sind damit weder auf geheime Weise in die Musik hineingelegt, noch in den musikalischen Mitteln verborgen oder in einem rätselhaften Bewusstseinszustand des Hörers zu entdecken, sondern sie zeigen oder erweisen sich in der Art der Reaktionen und Rezeption. Man könnte einwenden: Was, wenn die Emotion, die Empfindung einzigartig ist, vom Komponisten völlig eigenständig erfunden wurde und nicht vergleichbar wäre mit allem, was man kennt? 240 Wittgenstein fragt daraufhin zurück: was immer er getan hat, was hat es für einen Zweck? – Wenn man sagt ›Er hat der Empfindung einen Namen gegeben‹, so vergißt man, daß schon viel in der Z, Nr. 155. Walter Koch weist – entgegen der Argumentation Wittgensteins – auf die Möglichkeit hin, dass bei der Einführung einer bisher unbekannten Substanz bei zwei verschiedenen Subjekten eine durchaus qualitativ identische Empfindung möglich sei. Bei der Einführung von Sacharin als künstlichem Süßstoff hätte beispielsweise die überwiegende Mehrheit der Sprecher ein mit dieser chemisch neuen Substanz gesüßtes Getränk als »süß« bezeichnet, »obwohl sie vorher nicht mit dem Getränk in Kontakt gekommen waren und sich folglich nicht über ihren Geschmack bzw. das entsprechende Empfindungswort einigen konnten.« (Walter Koch, Über Bedingung und Möglichkeit sprachlicher Bezugnahme auf Empfindungen. Eine Kritik von Ludwig Wittgensteins Auffassung von Empfindung, Empfindungswort und Empfindungskorrelat (= Europäische Hochschulschriften, Reihe XX Philosophie, Bd. 613), Frankfurt a. M. (u. a.) 2000, S. 136 f.). Dieses Argument ist zwar grundsätzlich bedenkenswert, aber in der vorliegenden Form nicht haltbar. Vielleicht ließe sich ein Beispiel finden, dass Kochs These besser untermauert, denn da der Mensch nur vier verschiedene Geschmacksrichtungen unterscheiden kann, ist bei einem neuen Geschmack die statistisch messbar »richtige« Zuordnung zu einem dieser Felder wahrscheinlicher, als bei einem »bisher unbekannten« Gefühl (falls es so etwas überhaupt gibt). 239 240

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Sprache vorbereitet sein muß, damit das bloße Benennen einen Sinn hat. Und wenn wir davon reden, daß Einer dem Schmerz einen Namen gibt, so ist die Grammatik des Wortes ›Schmerz‹ hier das Vorbereitete; sie zeigt den Posten an, an den das neue Wort gestellt wird. 241

Es mag sein, dass eine Nocturne Chopins einen Aspekt der »Konvention Melancholie« beleuchtet, der vorher noch nie in dieser Klarheit gezeigt worden war. Das ist aber nur deshalb möglich, weil innerhalb des kulturellen Codes bereits der Boden dafür vorbereitet gewesen ist. Dieser »Posten«, an den das neue Wort, oder, im Fall Musik, der neue musikalische Gedanke gestellt wird, »ist auch wieder ein neuer Teil unsrer Sprache, es [das musikalische Thema] wird in sie einverleibt; wir lernen eine neue Gebärde.« 242 Das Ziel ästhetischer Erörterungen nach Wittgenstein ist daher nicht die Suche nach Ursachen für Gefühle oder psychologische Zustände und erst recht nicht deren Stimulation: Ich identifiziere meine Empfindung freilich nicht durch Kriterien, sondern ich gebrauche den gleichen Ausdruck. Aber damit endet das Sprachspiel nicht; damit fa¨ngt es an. 243

»Damit fängt es an«: Wittgenstein fordert uns also in gewissem Sinne auf, eine so gut wie möglich durchdachte Musikvermittlung zu betreiben. Dass wir nicht über innere Prozesse sprechen können, hinterlässt die Aufforderung, das Sprachspiel »über Musik sprechen« immer genauer kennen zu lernen, sich nicht durch seine grammatischen Irrwege täuschen zu lassen, z. B. durch identische Bezeichnungen für vollkommen unterschiedliche Phänomene wie durch den Begriff »Melodie«: Auf die Melodien der verschiedenen Komponisten kann man jenes Prinzip der Betrachtung anwenden: Jede Baumart sei in einem anderen Sinne ›Baum‹. D. h.: Laß dich nicht irreführen dadurch, daß man sagt, alles dies seien Melodien. Es sind Stufen auf einem Weg, der von etwas, was du keine Melodie nennen würdest, zu etwas führt, was du auch keine nennen würdest. Wenn man bloß die Tonfolgen und den Wechsel der Tonarten ansieht, so erscheinen alle diese Gebilde allerdings in Koordination. Siehst du aber das Feld an, in dem sie stehen (also ihre Bedeutung), so wird man geneigt sein, zu sagen: Hier ist die Melodie etwas ganz anderes als dort (sie hat hier einen andern Ursprung, spielt eine andere Rolle, u. a.). 244 241 242 243 244

PU I, § 257. VB, S. 523. PU I, § 290; Hervorhebung von mir. VB, S. 516 f.

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Mithilfe des immer genaueren Sprachspiels können wir schließlich unser Bild von der uns umgebenden Welt mittels der unendlich fein differenzierbaren »Gebärden« der Musik reichhaltiger sehen lernen. Jede einzelne musikalische »Gebärde« wird in einen bereits vorbereiteten Ort unserer Sprachspiele eingepasst, den wir durch die Betrachtung seiner kulturell-historischen Bedingungen und aller seiner Aspekte immer besser kennen lernen können, »[w]ie man ein Gesicht besser sehen lernt, wenn man es zeichnet.« 245 Dem Erkennen und Vermitteln von Aspekten kommt damit bei Wittgenstein eine tragende Rolle im Sprachspiel der Ästhetik zu; darum wird es im folgenden Kapitel gehen.

245

Z, Nr. 255.

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Aspekte sehen Die Menschen heute glauben, die Wissenschaftler seien da, sie zu belehren, die Dichter und Musiker etc., sie zu erfreuen. Daß diese sie etwas zu lehren haben; kommt ihnen nicht in den Sinn. 246

Was Kunst zu »lehren« hat, ist für Wittgenstein eine Frage ihrer Aspekte. Seine Überlegungen zum »Aspektsehen« finden sich vor allem als Bemerkungen über das »sehen als«: 247 Wie ist man denn überhaupt zum Begriff des ›Dies als das sehen‹ [oder dies als das hören] gekommen? Bei welchen Gelegenheiten wird er gebildet, ist für ihn Bedarf? (Sehr häufig in der Kunst.) 248

Im Gegensatz zu »Dilettanten« und »Ästhetikern«, die mithilfe folgenloser ästhetischer Adjektive wie »schön« über ein Werk schwadronieren, wie ein »Hund […] der mit dem Schwanz wedelt, wenn Musik gespielt wird«, 249 zeichne sich der »Kenner« einer Musik dadurch aus, dass er auf eine ganz bestimmte Art und Weise über sie zu reden in der VB, S. 501. Zwar gilt Wittgensteins übergeordnetes Interesse hier dem Unterschied zwischen dem Begriff des »Sehens« im Verhältnis zu dem des »Denkens«, zu einem Ergebnis kommt er jedoch erst mittels des »Umwegs« über die Kunst. Vergl. zu den übergeordneten Beweiszielen der Anmerkungen zum Aspektsehen Thorsten Jantschek, »Bemerkungen zum Begriff des Sehen-als«, in: Ralf Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig 1997, S. 299 ff. Auf die Bedeutung des Aspektsehens für Wittgensteins Überlegungen zum Kunstverstehen haben vor allem Joachim Schulte in Bezug auf Wittgensteins »psychologische« Analyse des Erlebnisbegriffs, Gabrielle Hiltmann in detaillierten Ausführungen mit dem Ziel, Wittgensteins »morphologische Methode« zu charakterisieren, und in jüngerer Zeit Stefan Majetschak in einem kenntnisreichen Aufsatz hingewiesen. Diese Überlegungen sollen hier mit einer Zuspitzung auf die Musik nachgezeichnet werden. (Joachim Schulte, Erlebnis und Ausdruck, Wittgensteins Philosophie der Psychologie, München u. a. 1987; Gabrielle Hiltmann, Aspekte Sehen. Bemerkungen zum methodischen Vorgehen in Wittgensteins Spätwerk (= Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie Bd. 235), Würzburg 1998, sowie Stefan Majetschak, »Kunst und Kennerschaft. Wittgenstein über das Verständnis und die Erklärung von Kunstwerken«, in: ›Ethik und Ästhetik sind Eins‹. Beiträge zu Wittgensteins Ästhetik und Kunstphilosophie (= Wittgenstein-Studien Bd. 15), hrsg. v. Wilhelm Lütterfelds und Stefan Majetschak, Frankfurt a. M. 2007, S. 49–68). 248 Z, Nr. 207. 249 VÄ I, § 17. 246 247

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Aspekte sehen

Lage sei. Wie im Kapitel »Ästhetik?« erläutert, verhalte sich der »Kenner« mithilfe ästhetischer Urteile dem Werk gegenüber in einer bestimmten Weise und vermittele seinen Mitmenschen dadurch – nicht durch den Einsatz kulturell eingeübter Interjektionen – den Eindruck seines tieferen Verständnisses der Musik. Und das beschäftigt Wittgenstein: Was genau macht dieses Verständnis aus? Auf jeden Fall ist das, was man »Verstehen eines Kunstwerks« nennt, so Wittgenstein, weder ein innerer Bewusstseinsvorgang, der als interner Akt die äußere Wahrnehmung begleitet, noch ein spezifischer »Erlebnisinhalt«. Nicht, dass Wittgenstein das Vorhandensein derselben abstreitet, solche Vorgänge seien aber für ein vermittelbares Verständnis irrelevant, da sie absolut privat und damit für niemand anderen nachvollziehbar sind (vergl. Kapitel »Emotion?«). Weil »Kenner« ihr Verstehen anderen darlegen, seien deren Aussagen genau zu untersuchen, sowohl was ihre Form betrifft, als auch, was in ihnen tatsächlich Auswertbares über ein Musikstück (oder andere Kunstwerke) gesagt werde. Wittgenstein: Da fällt mir ein, daß in Gesprächen über ästhetische Gegenstände die Worte gebraucht werden: ›Du mußt es so sehen, so ist es gemeint‹ ; ›Wenn du es so siehst, siehst du, wo der Fehler liegt‹ ; ›Du mußt diese Takte als Einleitung hören‹ ; ›Du mußt nach dieser Tonart hinhören‹ ; ›Du mußt es so phrasieren‹ (und das kann sich auf’s Hören wie auf’s Spielen beziehen). 250

Ein »Kenner« mache mithilfe solcher Anmerkungen auf einen bestimmten Aspekt im Werk aufmerksam, »in dessen Licht seine innere Struktur verständlich, hinsichtlich Richtigkeit oder Falschheit kritisierbar, auf jeden Fall aber interpretierbar wird.« 251 Ein auf diese Weise hervorgehobenes Element, welches mithilfe einer gelenkten Fokussierung in den Vordergrund tritt, bezeichnet Wittgenstein als das »Aufleuchten des Aspekts«. 252 Zur Erklärung zieht er – wie so oft – ein scheinbar simples Beispiel heran, ein optisches Trickbild, das er Joseph Jastrows Fact and Fable in Psychology (1901) entnimmt und als »H-E-Kopf« bezeichnet:

PU II xi, S. 323. Majetschak, Kunst und Kennerschaft, S. 59 f. Vergl. hierzu auch Schulte, »Ästhetisch richtig«, S. 84, Anm. 5. 252 PU II xi, S. 330. 250 251

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Aspekte sehen

Diese Zeichnung kann man bekanntlich entweder als Hasenkopf oder als Entenkopf sehen. 253 Nun unterscheidet Wittgenstein zwischen dem »Bildgegenstand« und der »pikturalen Inskription«: 254 Im Normalfall wird der Bildgegenstand vom Betrachter mit der bildlichen Inskription identifiziert, mit anderen Worten: Wir identifizieren auf einem Foto eine bestimmte Person und zwar nicht deutungs- und aspektabhängig, sondern eindeutig. Wir sehen auf einem Foto nicht einen Umriss »als eine Person«, sondern wir sehen darauf eine Person. Dies ist kein natürliches Ergebnis von objektiven Qualitäten des Bildes, sondern ein Ergebnis unserer Gewöhnung an bestimmte Darstellungsarten, wie in diesem Fall eben die Fotografie. Ein Mensch, der noch nie in seinem Leben ein Foto gesehen hat, wäre vielleicht nicht ohne weiteres in der Lage, auf einer verkleinerten Schwarz-Weiß-Fotografie eine Abbildung von sich selbst zu identifizieren, weil er mit der Übersetzung von Formen und Farben nicht vertraut ist. Dasselbe gilt für Malweisen: Uns ist z. B. die Darstellungsart des Kubismus heute weitgehend geläufig, aber Wittgenstein konnte z. B. über solcherlei sagen: Es gibt z. B. Malweisen, die mir nichts in dieser unmittelbaren Weise mittei-

253 Es wurde versucht, Wittgensteins »sehen als« im Sinne der Wahrnehmung visueller Metaphern zu interpretieren (vergl. Virgil C. Aldrich, »Pictural Meaning, Picture Thinking, and Wittgenstein’s Theory of Aspect«, in: Essays on Metaphor, hrsg. v. Warren A. Shibles, Whitewater (Wisc.) 1972, S. 93–103; Ders., »Visuelle Metapher«, in: Theorie der Metapher, hrsg. v. Anselm Haverkamp, Darmstadt 1983, S. 142–159). Sowohl die Metapher als auch das Aspektsehen können zwar auf der strukturellen Basis des »etwas als etwas anderes sehen« verstanden werden. Um als metaphorisches Verständnis gelten zu können, müssen aber beide Aspekte gleichermaßen erkennbar sein, während sie bei Wittgensteins »sehen als« gerade alternativ wahrgenommen werden. Bei dem H-E-Kopf kann man entweder einen Hasen oder eine Ente erkennen, weil das eine für das andere die Hintergrundstruktur liefert (vergl. auch Kapitel »Morphologische Methode«). 254 Vergl. hierzu Majetschak, »Kunst und Kennerschaft«, S. 60 f.

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len, aber doch anderen Menschen. Ich glaube, daß Gewohnheit und Erziehung hier mitzureden haben. 255

Auf dem Bild eines »dahinjagenden Pferdes« 256 sieht der Betrachter die Bewegung, obwohl sie nur mittels einer Malkonvention existiert, im Film sehen wir ein startendes Flugzeug, dann eine neue Szene und wissen, dass der Protagonist an einem neuen Ort angekommen ist, ohne, dass die Reise gezeigt werden muss, und selbst beim »H-E-Kopf« müssen wir daran gewöhnt sein, Dinge anhand einer vereinfachenden, schwarzen Umrisslinie zu identifizieren. Solche Konventionen sind nicht willkürlich, wir können nicht »nach Belieben eine wählen […] (z. B. die der Ägypter)«, so Wittgenstein. 257 (Natürlich kann jemand »wie die Ägypter« malen, aber dann tut er das zu einem bestimmten Zweck, beispielsweise um Souvenirs zu verkaufen.) Unsere Wahl einer bestimmten Malweise erfolgt daher weder nach Belieben, noch nach den Kriterien von »schön« oder »häßlich«. Trotzdem ist eine Malweise nicht willkürlich, sondern auf eine bestimmte Weise mit unserer Lebensform verbunden. 258 Bei dem »H-E-Kopf« fallen Identifikation von Bildgegenstand und Inskription dagegen gerade nicht in eins. Statt dessen sieht man, je nach Identifikation eines der beiden Aspekte, einen anderen Gegenstand – und diese zweifache Gegenständlichkeit ist gerade das, was das Bild ausmacht. Daher kann man getrost über jemanden sagen, er habe das Bild nicht »verstanden«, der darin lediglich einen Hasen sieht (oder eine Ente), weil ihm ein offensichtlicher und wesentlicher Aspekt entgeht. Um ihm den »Witz« des Bildes, oder man könnte auch sagen, seine »Bedeutung« zu erklären, muss man ihn auf die ihm entgangenen Aspekte hinweisen (etwa in der Weise: »Links im Bild ist entweder der Schnabel oder die Ohren«), so kann der Betrachter dann plötzlich eine Ente sehen, die für ihn vorher »nicht da war«, oder es erschließt sich ihm im Optimalfall die Eigenschaft der zwei Gegenstände als eines Kippbildes. Er kann dann wiederum seinem neu gewonnenen Verständnis in einem interpretativen Satz wie »jetzt sehe ich es als KippPU II xi, S. 321. PU II xi, S. 322 f. 257 PU II xii, S. 368. 258 Vergl. hierzu auch: Richard Raatzsch, »Begriffsbildung und Naturtatsachen«, in: Wittgenstein über die Seele, hrsg. v. Eike von Savigny und Oliver R. Scholz, Frankfurt a. M. 1995, S. 268–280, insbes. S. 280. 255 256

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bild« Ausdruck verleihen. Verstehen dieses Bildes bedeutet mithin, seine verschiedenen Aspekte zu bemerken. Wittgenstein spielt an diesem »Vergleichsobjekt« durch, was Verstehen und Erklären von Kunstwerken in der Praxis bedeuten, 259 denn gerade hier wird ein »Kenner« mithilfe einer bestimmten Art von Erklärungen sein Verständnis und seine Kenntnis der Bildaspekte vermitteln. Man darf sich nun nicht dazu verleiten lassen, daraus vereinfachend zu folgern, das Verstehen eines Kunstwerkes sei so etwas wie das Sehen eines neuen Gegenstandsaspekts. Denn mit dem Eröffnen von neuen Deutungshorizonten kann sich der »Kenner« in den seltensten Fällen auf eindeutig identifizierbare, objektive Qualitäten eines Werkes beziehen. Beispielsweise bei den Auswirkungen des Tempos auf den Charakter einer Phrase: Ich lasse mir ein Thema wiederholt und jedesmal in einem langsameren Tempo vorspielen. Endlich sage ich ›Jetzt ist es richtig‹, oder ›Jetzt erst ist es ein Marsch‹, ›Jetzt erst ist es ein Tanz‹. – In diesem Ton drückt sich auch das Aufleuchten des Aspekts aus. 260

Aber, so Wittgenstein, was als »Aufleuchten des Aspektes« wahrgenommen wird, was den bestimmten »Ton« ausmacht, der das Thema einmal zu einem Marsch, einmal zu einem Tanz werden lässt, ist nicht eine Eigenschaft des Objekts, es ist eine interne Relation zwischen ihm und anderen Objekten. 261

Wir gewahren »eine interne Relation zwischen der objekthaft vorliegenden Inskription und anderen, uns aus anderen Kontexten vertrauten Objekten.« 262 Es ist die Relation, die wir in anderen Kontexten erlernt oder zu hören gelernt haben. Durch sie erschließt sich ein neuer Aspekt für unsere Wahrnehmung. Vordergründig kann es sich dabei durchaus um eine intertextuelle Relation handeln: Ich höre einen Ton – höre ich also nicht, wie laut er ist? – Ist es richtig, zu sagen: wenn ich den Ton höre, müsse ich mir des Grades seiner Lautheit bewußt sein? – Anders ist es, wenn seine Stärke sich ändert. 263 259 260 261 262 263

Majetschak, »Kunst und Kennerschaft«, S. 62 f. PU II xi, S. 330. PU II xi, S. 339. Majetschak, »Kunst und Kennerschaft«, S. 64 f. BPP I, § 538.

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Ein Ton an sich, ohne Umgebung, hat demnach noch keinen Aspekt: »Das Feld fehlt ihm noch«. 264 Was an diesem Beispiel leicht ersichtlich scheint, ist in einem komplexen Werk schon schwieriger zu identifizieren. Eine der wenigen überlieferten Aussagen Wittgensteins zu konkreten Stellen in Werken bezieht sich auf den zweiten Satz von Beethovens 7. Sinfonie: Der Anfangsakkord dieses langsamen Satzes hat die gleiche Farbe wie dieser Himmel [wobei er aus dem Fester zeigt.]

Einige Zeilen vorher hatte Drury beschrieben: »Es war ein trüb-grauer Abend, und die Dämmerung war eben angebrochen.« Und Wittgenstein beschrieb weiter: Ganz am Schluß des Satzes, da tut Beethoven etwas, wodurch man das Thema in völlig anderem Licht sieht. 265

Offensichtlich geht es Wittgenstein um einen Wechsel der Klangfarben, die das Thema tatsächlich in einem »anderen Licht« erscheinen lassen: Beginnt der Satz mit tiefen Streichern im pianissimo und einer einheitlichen, dunklen Färbung, die sich langsam thematisch zu einer horizontalen Linie verbinden, endet der Satz in »durchbrochener Arbeit«: Beethoven spaltet seine Linie auf in ein vertikales Farbspektrum durch Verteilung kleiner Motivzellen auf verschiedene Instrumentengruppen. Beethoven präsentiert, ohne das Thema horizontal zu verändern – so könnte man im Sinne Wittgensteins formulieren – einen anderen Aspekt des Themas. Dass diese Relation eine rein objektive Eigenschaft des Objektes sei, ist ein Irrtum, so sehr die Wahrnehmung des Aspektes auch durch die hörbare Zeichenfolge motiviert sein mag. Dass überhaupt Relationen innerhalb des Kunstwerkes sichtbar werden können, hängt von unserer Kenntnis der Möglichkeiten von Relationen und den Kontextualisierungen ab, mit denen wir sie umgeben. Wittgenstein umgibt den Anfangsakkord mit dem Kontext eines bleiernen Himmels und erinnert sich noch dazu: »Als wir gegen Ende des Krieges auf dem Rückzug vor den Italienern waren, fuhr ich auf einer Lafette mit und pfiff ebendiesen Satz vor mich hin.« 266 Der Aspektwechsel ist zwar in BPP I, § 525. Bemerkung Wittgensteins um 1930 gegenüber M. O’C Drury, in: Rhees (Hg), Wittgenstein: Portraits und Gespräche, S. 164. 266 Ebd. 264 265

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dem Satz motiviert, aber ob, wie und in welchem Maße der Aspekt »aufleuchtet«, hängt davon ab, in welche Vergleichskontexte er eingerückt wird. Denn: Der Eindruck, den es [das musikalische Thema] mir macht, hängt mit Dingen in seiner Umgebung zusammen. 267

Es könnte anhand solcher Bemerkungen vermutet werden, Wittgenstein interessiere sich nicht für den Unterschied zwischen »Gebilden wie dem H-E-Kopf«, die »von vornherein darauf angelegt sind, bestimmte Aspekte aufleuchten zu lassen« und solchen, deren »interne Relation des Zeichengebildes zu anderen Objekten überhaupt nur deshalb aufleuchtet, weil ein Interpret das jeweilige Werk in einen passenden, bislang nicht beachteten Vergleichskontext einrückt.« 268 Solche Überlegungen gehen für Wittgensteins »Ästhetik« eher von Malerei und bildender Kunst als von Musik aus. Denn Musik entsteht gewissermaßen erst durch Interpretation – ein Werk muss immer auch von jemandem gespielt werden, damit es wahrnehmbar wird, denn nur die wenigsten Menschen sind in der Lage, die Musik direkt aus der Partitur heraus zu lesen. Das macht Musik zum bevorzugten Gedankenexperiment und Beispielrepertoire für Wittgensteins implizite Entfaltung einer pragmatischen Bedeutungskonzeption: im Gegensatz zur Malerei geht es Wittgenstein bei der Musik fast ausschließlich um deren richtige Interpretation, gleichsam ganz natürlich um ihren Gebrauch (vergl. hierzu Kapitel »Interpretation und Stil«). Und jede gute Aufführung eines Werkes, mithin jede Interpretation, die eine Wirkung entfaltet, stellt bekannte Tonfolgen oder Harmonien gewissermaßen in einen neuen »Vergleichskontext«: Es gibt so etwas, wie ein Aufflackern des Aspekts. So, wie man etwas mit intensiverem und weniger intensivem Ausdruck spielen kann. Mit stärkerer Betonung des Rhythmus und der Struktur, oder weniger starker. 269

Im Sinne Wittgenstein wären z. B. Glenn Goulds Fugeninterpretationen beispielhaft für ein solches »Aufflackern des Aspekts«. Es geht dabei zunächst nicht so sehr darum, eine historisch richtige Interpretation zu liefern (dieser Vorstellung traut Wittgenstein sowieso nicht recht, wie sich noch zeigen wird). Vielmehr geht es um die Aspekte, 267 268 269

VB, S. 523. Majetschak, »Kunst und Kennerschaft«, S. 65. BPP I, § 507.

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die Gould für uns beleuchtet – mögen es nun maßgebliche Aspekte sein oder nicht – sie liegen als Möglichkeit in den Noten und werden durch ihn mit einem »Spotlight« hörbar gemacht. Denn gerade der historische Abstand zu einer Komposition oder einer kompositorischen Gattung wie der Fuge bedarf der beständigen, kreativen Neuinterpretation, denn: Wer von uns hat denn heute überhaupt noch eine Vorstellung davon, was eine Fuge von Bach wirklich bedeutet hat in der Zeit, in der sie geschrieben wurde? 270

Die historischen Dimensionen des Entstehungskontextes einer jeden Komposition, ihrer Entwicklung und Darstellungsweise bzw. Kompositionstechnik unterliegen zeitgebundenem Interpretationswissen. Wer noch nie ein atonales Werk gehört hat, dem sind die Ausdrucksqualitäten eines Stückes wie Weberns Bagatellen op. 9 nicht zugänglich. Es fehlt diesem Hörer ein Aspekt für sein Verständnis, weil ihm die Darstellungsweise nicht vertraut ist. Um beispielsweise den anders codierten Aspekt des Sehnsuchtsgestus »aufleuchten« hören zu können, bedarf es zunächst eines Einlesens in den ungewohnten Kontext. Dann braucht es vielleicht eine Hilfestellung im Sinne des »H-E-Kopfes«, wie: »Hier, dieser Septimsprung ist doch in seinem syntaktischen Zusammenhang eine hoch verdichtete Geste, hör genau hin«. Und es bedarf sogar des »immer wieder« genau Hinhörens (vergl. Kapitel »Ästhetische Urteile«) sowie einer Kenntnis der musikalischen Umgebung und Herkunft. Darauf weist Wittgensteins (einzige positive) Bemerkung über Mahler hin, daß man viel von Musik, ihrer Geschichte und ihrer Entwicklung verstehen müsse, um Mahler zu begreifen. 271

Einer grundlegenden Kenntnis der Musik bedarf auch das Experiment, zu »lernen, den Schluß einer Kirchentonart als Schluß zu empfinden« 272 , so Wittgenstein. (Die innerhalb eines phrygischen Modus vollgültige Schlussklausel wird in der Harmonik des 19. Jahrhunderts vielmehr halbschlüssig gehört.) Wittgensteins Überlegungen zu den Bemerkung Wittgensteins um 1936 gegenüber M. O’C Drury, in: Rhees (Hg), Wittgenstein: Portraits und Gespräche, S. 185. 271 Bemerkung gegenüber John King, in: Rhees (Hg), Wittgenstein Portraits: und Gespräche, S. 111. 272 PU I, § 535. 270

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Kirchentonarten sind daher geprägt von einem gewissen musikhistorischen Bewusstsein: natürlich kann Wittgenstein eine solche Klausel aufgrund seiner musikalischen Prägung durch Beethoven, Schubert und Brahms (u. a.) gar nicht als Schluss empfinden. Entsprechend folgert er: Eine Kirchentonart verstehen, heißt nicht, sich an die Tonfolge gewöhnen, in dem Sinne, in dem ich mich an einen Geruch gewöhnen kann und ihn nach einiger Zeit nicht mehr unangenehm empfinde. 273

Statt dessen hat sich auch hier, wie oben bei der Fuge, der gesamte Kontext, der diese Musik umgibt, derart geändert, dass sich »Verstehen« nicht mehr allein auf eine Tonfolge beziehen kann. Wittgenstein überlegt daher weiter: Sondern es heißt, etwas Neues hören, was ich früher noch nicht gehört habe […] als ein charakteristisches Ganzes. 274

Was das im Einzelnen sein kann, bestimmt immer der Kontext: Wäre es denkbar, daß über zwei identischen Abschnitten eines Musikstücks Anweisungen stünden, die uns aufforderten, es beim ersten Mal so, beim zweiten Mal so zu hören, ohne daß dies auf den Vortrag irgendeinen Einfluss ausüben sollte. Es wäre etwa das Musikstück für eine Spieluhr geschrieben und die beiden gleichen Abschnitte wären in der gleichen Stärke und dem gleichen Tempo zu spielen – nur jedesmal anders aufzufassen. 275

Es ist durchaus denkbar, dasselbe Stück je nach Anweisung anders zu hören, wenn der Kontext dies nahelegt. Eine solche Anweisung oder ein erklärender Hinweis bezeichnet Wittgenstein als »Erdichtungen«: Und je nach der Erdichtung, mit der ich es [das Musikstück] umgebe, kann ich es in verschiedenen Aspekten sehen. 276

Die »Erdichtung« wird dabei zur »Aspekterkennungshilfe«. Von einem Menschen, der als »Kenner« gilt, z. B. vom Komponisten selbst, aber auch von einem »Kritiker« 277 gegeben, sind diese Kontextuierungen legitim und geradezu notwendig. Denn es gehören bestimmte Fähigkeiten dazu, so Wittgenstein, in einer Sache etwas zu sehen oder in 273 274 275 276 277

PB XV, § 224. PB XV, § 224. BPP I, § 545. PU II xi, S. 336. BPP I, § 545.

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einer Phrase etwas zu hören, was zwar einleuchtend, aber bisher nicht aufgefallen ist. Beispielsweise »diese bloße Dreiecksfigur«

als »das Bild eines umgefallenen Gegenstands« sehen zu können und nicht als rein geometrische Figur, »[d]iesen Aspekt des Dreiecks zu sehen, braucht es Vorstellungskraft.« 278 In gewissem Sinne ist immer »Kennerschaft« von Nöten, um überhaupt Musik »richtig« zu hören, was bedeutet, sie sowohl auf der Folie historischer Vorbilder und Entwicklungen sehen zu können, als auch kreativ über diese »hinauszuhören«. Ebenso wie oben eine Überschrift »umgefallener Gegenstand« über dem obigen Dreieck könnte in der Musik eine Überschrift das Objekt in einen völlig neuen Zusammenhang stellen und damit neue Aspekte sichtbar machen, so Wittgenstein, und nennt beispielhaft »Die Weisung ›Wie aus weiter Ferne‹ bei Schuman« 279 oder die Überschrift »Tanz der Landleute«: Wäre so eine Anweisung nicht vergleichbar mit einer Überschrift der Programmusik (›Tanz der Landleute‹)? 280

Wittgenstein bezieht sich damit sehr wahrscheinlich auf Beethovens 6. Sinfonie »Pastorale«, deren Scherzo mit »Lustiges Zusammensein der Landleute« überschrieben ist. Eine solche »Erdichtung« zur Kontextualisierung kann die Herstellung einer bestimmten Relation zu außermusikalischen Dingen sein, wie die Überschrift, die als konkrete Höranweisung verstanden werden kann. 281 Denkbar wäre aber auch ein stil- oder ideenhistorischer Vergleich zur Beleuchtung der Aspekte: PU II xi, S. 332; die Vorlage für das obige Dreieck findet sich ebd. S. 329. BPP I, § 250. 280 BPP I, § 545. 281 Wittgenstein behauptet dabei keineswegs, dass es bei dem Verstehen solcher Anweisungen um eine übertragene oder metaphorische Verwendung ginge. Wenn Wittgenstein ein solches Verständnis mit »sekundärer Verwendung« bezeichnet, meint das lediglich, dass die »primäre« Bedeutung eines Ausdrucks in einem ungewöhnlichen Kontext verwendet wird. 278 279

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Man kann manchmal eine Ähnlichkeit zwischen dem Stil eines Musikers und dem Stil eines Dichters oder Malers, der zur gleichen Zeit lebte, entdecken. Nehmen wir Brahms und Keller. Ich hatte oft den Eindruck, daß bestimmte Themen bei Brahms sehr Kellersch sind. […] Wenn ich gesagt hätte, daß er Shakespeare oder Milton ähnelte, wäre das nicht von Interesse oder von einem ganz anderen Interesse gewesen. […] Es würde keinerlei Verbindung herstellen. […] Wenn ich sage, daß dieses Thema von Brahms extrem Kellersch ist, dann besteht das Interessante zunächst darin, daß die beiden zur selben Zeit lebten. Auch, daß man von beiden die gleiche Art von Dingen sagen kann – die Kultur der Zeit in der sie lebten. […] Das Interessante mag darin bestehen, daß meine Worte eine verborgene Verbindung andeuten. 282

Aber auch ein »Kenner« kann irren, wenn er – wie Wittgenstein mit Brahms und Keller – seinen Vergleich zur Literatur einseitig betreibt und nicht in einen größeren Rahmen stellt. So ärgert sich Wittgenstein über eine Bemerkung Donald Francis Toveys über Mozart: 283 Das Schicksal spielt ja auch in Mozarts oder Haydns Musik keinerlei Rolle. Damit beschäftigt sich diese Musik nicht. Tovey, dieser Esel, sagte einmal dies, oder etwas Ähnliches, habe damit zu tun, daß Mozart Lektüre einer gewissen Art gar nicht zugänglich gewesen sei. Als ob es ausgemacht wäre, daß nur die Bücher die Musik der Meister bestimmt hätten. Freilich hängen Musik und Bücher zusammen. Aber wenn Mozart in seiner Lektüre nicht große Tragik fand, fand er sie darum nicht im Leben? Und sehen Komponisten immer nur durch die Brillen der Dichter? 284 282 VÄ IV, § 6 (Zusatz); eine in diesem Sinne vergleichbare, wenn auch etwas unklare Stelle beschäftigt sich mit Bruckner und dessen Auseinandersetzung mit Beethoven: »Die Brucknersche Neunte ist gleichsam ein Protest gegen die Beethovensche und dadurch wird sie erträglich, was sie als eine Art Nachahmung nicht wäre. Sie verhält sich zur Beethovenschen sehr ähnlich, wie der Lenausche Faust zum Goetheschen, nämlich der katholische Faust zum aufgeklärten, etc. etc.« (VB, S. 497). 283 Es ist unklar, worauf Wittgenstein sich bezieht. Er könnte diese Bemerkung aus Toveys Essays in musical analysis, (in 5 vol. with an add. vol. containing a Glossary and Index, London 1935–1939) entnommen oder in einem Vortrag Toveys gehört haben. Tovey konzertierte erfolgreich in England von Oxford aus, hatte aber bereits zu Wittgensteins Jugend zusammen mit dem Joachim-Quartett und alleine Erfolge in Wien gefeiert. (Zu Toveys pianistischer Tätigkeit vergl. u. a.: Susann Wollenberg, »Three Oxford pianistic careers: Donald Francis Tovey, Paul Victor Mendelssohn Benecke and Ernest Walker«, in: Susann Wollenberg/Therese Ellsworth, The Piano in Nineteenth-Century British Culture. Instruments, Performers and Repertoire, Aldershot 2007, S. 239–262, sowie Mary Grierson, Donals Francis Tovey. A biography based on letters, London 1952). 284 VB, S. 566. Dass sich die Musik Mozarts oder Haydns nicht mit dem Schicksal beschäftige, ist nicht recht verständlich, auf jeden Fall so pauschal nicht haltbar. Das Zitat

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Eine weitere Möglichkeit neben dem Vergleich mit anderer Kunst bietet auch das genaue Aushorchen von Aspekten des innermusikalischen Gefüges. Bestimmte Elemente können bei einer leichten Veränderung der Umgebung plötzlich eine bisher nicht wahrgenommene Qualität aufscheinen lassen: »Gehört dazu, etwas als Variation eines bestimmten Themas zu hören, nicht Phantasie?« 285 Natürlich, dazu gehört eine bestimmte Erfahrung der Wahrnehmung: Man könnte sich in der Musik eine Variation auf ein Thema denken, die etwa ein wenig anders phrasiert, als eine ganz andere Art der Variation des Themas aufgefaßt werden kann. (Im Rhythmus gibt es solche Mehrdeutigkeiten.) Ja, was ich meine, findet sich wahrscheinlich überhaupt immer, wenn eine Wiederholung das Thema in ganz anderem Licht erscheinen läßt. 286

Ein durch Phantasie neu aufleuchtender Aspekt in der Variation wäre z. B. die dialektische Auffassung der Neuen Musik, dass auch eine nicht-stattfindende Wiederholung, oder eine, die sich absichtlich nicht auf das Thema bezieht, trotzdem einen Aspekt von Variation darstellen kann. Um zu erkennen, was eine Variation sein kann, muss man sie in verschiedenen Kontexten wiedererkennen können. In diesem Sinne ist auch die Bemerkung Wittgensteins über den 4. Satz der 9. Sinfonie von Beethoven zu verstehen: Die drei Variationen vor dem Eintritt des Chors in der 9ten Symphonie könnte man den Vorfrühling der Freude, ihren Frühling und ihren Sommer nennen. 287

beginnt allerdings: »In Beethovens Musik findet sich zum ersten Mal, was man den Ausdruck der Ironie nennen kann. Z. B. im ersten Satz der Neunten. Und zwar ist es bei ihm eine fürchterliche Ironie, etwa die des Schicksals. – Bei Wagner kommt die Ironie wieder, aber in’s Bürgerliche gewendet. Man könnte wohl sagen, daß Wagner und Brahms, jeder in andrer Art, Beethoven nachgeahmt haben; aber was bei ihm kosmisch war, wird bei ihnen irdisch. Es kommen bei ihm die gleichen Ausdrücke vor, aber sie folgen anderen Gesetzen.« (VB, S. 565 f.); Wittgenstein scheint mit dem Begriff des Schicksals daher auf eine spezifisch Beethovensche Prägung abzuzielen. (Zur Idiosynkrasie einiger Bemerkungen Wittgensteins zur Musik vergl. Kapitel »Interpretation und Stil«). 285 PU II xi, S. 341. 286 BPP I, § 517. 287 D, Eintrag vom 7. Februar 1931, S. 39. In diesem Sinne trifft der Kommentar im Anhang der Denkbewegungen von Othmar Costa, den die Herausgeberin Ilse Somavilla zur zitierten Bemerkung um Rat gebeten hat, »die Bezeichnung ›Variation‹ sei allerdings nicht richtig« zwar theoretisch zu, verfehlt aber den eigentlichen Impetus. (Vergl.

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Wittgenstein meint hier offensichtlich das in mehreren Anläufen langsam zu seiner endgültigen Gestalt heranwachsende »Freude«-Thema. Diese Aussage mag musiktheoretisch banal sein, für Wittgensteins Überlegungen zu Kontext und Aspekt ist sie ein treffendes Beispiel. Denn sowohl erklärt die Musik hier einen Aspekt der Tiefengrammatik des Begriffs »Frühling« als auch umgekehrt dieser Begriff einen Aspekt der Musik erhellen kann. Für Wittgenstein gibt es auch das Gegenteil des »Kenners«. Das wäre jemand, der gar nichts in einem Kunstwerk sehen kann. Ein solcher leidet in gewisser Hinsicht unter »Aspektblindheit«, sagt Wittgenstein, und diese »wird verwandt sein mit dem Mangel des ›musikalischen Gehörs‹.«288 Wittgenstein zielt zwar mit seiner Untersuchung zur »Aspektblindheit« (bzw. »Bedeutungsblindheit«) letztlich auf die Untersuchung einer bestimmten Form des Erlebnisbegriffs ab 289 , der Vergleich aber ausgerechnet mit dem »musikalischen Gehör« – nicht etwa mit dem absoluten – verweist nebenbei auf den lernabhängigen Zug der Fähigkeit, Aspekte zu bemerken, mithin auch auf den lernabhängigen Anteil der »Aspektblindheit«. Denn das, was man in Bezug auf Musik gemeinhin ein »musikalisches Gehör« nennt, ist eine Hörgewohnheit, entstanden durch lange Schulung, Einübung und Wissen um Kontexte; neben diesem eher reproduktiven bestimmt das musikalische Gehör vor allem aber auch immer den kreativen Anteil des »etwas als etwas hören«. Umso mehr hat ein derart geschulter »Kenner« gewissermaßen die Pflicht, sein Wissen um Aspekte, die ohne seine Kennerschaft vielleicht nicht zu entdecken gewesen wären, weiterzugeben. Auch das ist eine Konsequenz aus der Wittgensteinschen These »Ethik und Ästhetik sind Eins«; das gemeinsame Streben Arnold Schönbergs und Wittgensteins nach der u. a. von Kraus und Loos stammenden Forderung D, Fußnote Nr. 63, S. 123); zur Bedeutung der Variation für Wittgenstein vergl. das Kapitel »Performative Variationen«. 288 PU II xi, S. 342. 289 Vergl. dazu insbes. LSPP Nr. 781 ff. sowie parallel PU II xi, S. 341 ff.; Wittgenstein spielt ebd. die Idee der »Aspektblindheit« auch an Namen und Schriftzeichen durch. Vergl. zu Wittgensteins übergeordneten Zielen in dieser Frage u. a. Oliver R. Scholz, »Wie schlimm ist Bedeutungsblindheit? Zur Kernfrage von PU II xi«, in: Wittgenstein über die Seele, hrsg. v. Eike v. Savigny und Oliver R. Scholz, Frankfurt a. M. 1995, S. 213–232; zum Vergleich der Aspektblindheit mit dem musikalischen Gehör insbes. 228 ff.; beide unterschätzen allerdings deutlich den kulturellen und lernabhängigen Aspekt des musikalischen Gehörs.

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nach »Echtheit« wird auch hier deutlich. Zwar ist es nicht jedem gegeben, sich künstlerisch auszudrücken, umso dringlicher ist es, so Schönberg daher geboten: Ihn dahin zu bringen, da er nicht Wertvolles selbst zu produzieren vermag, wenigstens das Wertvolle, das andere hervorbringen, entsprechend zu schätzen, ist ein Zweck, der es lohnte, zu lehren. »Es gibt relativ genug Leute, die zu produzieren, aber relativ wenige, die zu konsumieren verstehen«, sagt Adolf Loos. Das könnte ja auch der Zweck der Lehre sein, die Konsumierenden anzuleiten. Nicht durch Schönheitsregeln zwar, aber durch Erweiterung ihres Gesichtskreises. […] Selbstverständlich kann ich das nur dem Gefühl nach tun, und auch dieses mein Gefühl ist abhängig von Vorbedingungen, von jenem, was an angeborener und erlernter Kultur in mir wirkt. 290

Diese »Erweiterung des Gesichtskreises« ist vergleichbar mit der Fähigkeit, jemandem neue Aspekte sichtbar werden zu lassen. Auch für Schönberg ist eine solche Fähigkeit nicht ohne ihren spezifischen kulturellen Kontext denkbar, und so kommt er am Ende des einleitenden Kapitels »Theorie oder Darstellungssystem?« der Harmonielehre zu einem bemerkenswert ähnlichen Ergebnis wie Wittgenstein. Er könne kein System liefern, sondern sei sich bewusst, daß ich nur Vergleiche […] bringe: Symbole; daß nur bezweckt wird, scheinbar fernliegende Ideen zu verbinden, durch Einheitlichkeit der Darstellung die Faßlichkeit zu fördern, durch den Reichtum der Beziehungen aller Tatsachen zu einer Idee befruchtend und anregend zu wirken. Nicht aber, um neue ewige Gesetze aufzustellen. 291

Das trifft ziemlich genau Wittgensteins Credo in ästhetischen Dingen: Es geht nicht mehr um Systeme der Ästhetik, um ewige, überzeitliche Schönheitsgesetze, sondern: Was wir wirklich wollen, um ästhetische Rätsel zu lösen, sind gewisse Vergleiche – die Zusammenführung von bestimmten Fällen. 292

»Gewisse Vergleiche« und »Zusammenführungen« bezeichnet Wittgenstein zwar als »Erdichtungen«, sie sind jedoch keineswegs beliebig. In der Praxis des ästhetischen Urteilens wird ein »Kenner« ein Werk in den Kontext bestimmter, teils expliziter und bekannter Regeln (wie Funktionsharmonik oder Kontrapunktik, Gattungsfragen etc.), teils 290 291 292

Schönberg, Harmonielehre, S. 498. Schönberg, Harmonielehre, S. 6. VÄ IV, § 2.

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aber auch unausgesprochener Beurteilungsmuster einordnen. Solche impliziten Muster erfordern den langen und vertrauten Umgang mit einem Werk, dem Kenner müssen die Operationsweisen geläufig sein, er muss sich bestens in ihnen »auskennen«. 293 Ich höre diese Melodie ganz anders, nachdem ich den Stil dieses Meisters kenne. Ich hätte sie z. B. als heiter beschrieben, nun aber empfinde ich sie als den Ausdruck eines großen Leidens. Ich beschreibe sie jetzt anders, stelle sie mit anderem zusammen. 294

Wenn Wittgenstein Brahms mit Keller vergleicht und eben nicht mit Shakespeare (s. o.), stellt er Interpretationswissen in einen lernabhängigen, historischen Prozess. Beethovens Klaviersonate Op. 27, Nr. 2 cis-Moll kann eben doch in gewissem Sinne falsch verstanden werden, weil hier »subjektive Dispositionen« verschiedener Interpreten zum kollektiven Besitz geworden sind. Die kollektive Verwendung des Begriffes »Mondscheinsonate« – ob es nun den Philologen freut oder nicht – bildet einen Aspekt der Interpretation. Festzustellen, dass dieses Werk mit Mondschein nichts zu tun habe, wäre deshalb falsch, weil es unhistorisch wäre, nicht etwa, weil der Sonate die irgendwie geartete Idee des Mondscheins innewohne. Denn, so Wittgenstein in einer (oben bereits zitierten) zentralen Feststellung: was ich im Aufleuchten des Aspekts wahrnehme, ist nicht eine Eigenschaft des Objekts, es ist eine interne Relation zwischen ihm und anderen Objekten. 295

Ein gängiger Einwand auf eine solche Art der Interpretation, wie sie Wittgenstein als einzig sinnvoll erachtet, ist, dass sie der absolut subjektiven Auslegung, die sich jeglichem Maßstab der Angemessenheit entzieht, Tür und Tor öffnen würde. Mit anderen Worten behaupten die Vertreter dieses Einwandes: Jegliche Kategorie, mit der ein Stück Musik verglichen werden kann, würde zugunsten willkürlich erträumter Landschaftsszenerien oder Ähnlichem beiseite gefegt, Werkinterpretationen von Fachleuten würden überflüssig, jeder hört und denkt, was er will. Genaugenommen handelt es sich bei diesem Vorwurf aus mehreren Gründen gar nicht um ein wirkliches Argument. Selbst der hartge293 294 295

PU II xi, S. 324. LSPP III, § 774. PU II xi, S. 339.

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sottenste Vertreter dieser These wird sich in Wahrheit darüber im Klaren sein, dass z. B. eine Suppenschüssel zwar zahlreiche, aber im Alltag (und das ist nun einmal der Normalfall, mithin der Fall, der die Vergleichsnorm schafft) durchaus limitierte Möglichkeiten ihrer Anwendung oder Benutzung, mit anderen Worten: ihrer Interpretation hat. Sollte jemand eine solche Suppenschüssel permanent auf dem Kopf herumtragen, gibt es zwei Möglichkeiten, diese Handlungsweise zu verstehen: Entweder, derjenige ist nicht ganz bei Verstand und isoliert sich durch sein gesellschaftlich nicht akzeptiertes Verhalten von der ihn umgebenden Gemeinschaft, oder wir akzeptieren seine Interpretation der Schüssel als einen bisher unbekannten, vielleicht ironischen Aspekt dieses Gerätes, wenn ihr Träger sie in beispielsweise einem »Event«Kontext präsentiert. Der einzige wirkliche Unterschied bei diesen Fällen der »Fehlinterpretation« ist: Die eine akzeptieren wir und erkennen darin bisher nie gesehene Aspekte der Suppenschüssel, die andere akzeptieren wir nicht und sorgen dafür, dass sie nach Möglichkeit nicht wieder vorkommt. Man kann sich leicht Ereignisse vorstellen und in allen Einzelheiten ausmalen, die, wenn wir sie eintreten sähen, uns an allem Urteilen irre werden ließen. Sähe ich einmal vor meinem Fenster statt der altgewohnten eine ganz neue Umgebung, benähmen sich die Dinge, Menschen und Tiere, wie sie sich nie benommen haben, so würde ich etwa die Worte äußern ›Ich bin wahnsinnig geworden‹ ; aber das wäre nur ein Ausdruck dafür, daß ich es aufgebe, mich auszukennen. 296

Im Grunde ist es ähnlich bei der Interpretation von Musik: Wenn jemand sich wiederholt beim Hören des Trauermarsches aus der Eroica vor Lachen schüttelt, werden wir ihn als »verdreht« abtun, es sei denn, er kann den Aspekt beleuchten, der seine Lachlust verursacht und den wir bisher so nicht betrachtet haben. Solche Überlegungen führen Wittgenstein zu einer auf den ersten Blick etwas simpel erscheinenden, jedoch tatsächlich weitreichenden Schlussfolgerung: Man muss die Erklärung geben, die akzeptiert wird. Das ist der ganze Witz der Erklärung. 297 Z, Nr. 393. VÄ II, § 39; Stanley Cavell hat in einem Aufsatz seines einflussreichen Buchs Must We Mean What We Say? A Book of Essays, (1987) Cambridge/Mass. 2003 auf die Tatsache hingewiesen, dass ein fundamentaler Unterschied besteht zwischen »Wissen« und »Anerkennen« (insbes. ebd., S. 267–353). Für philosophisch basierte Literaturtheo296 297

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Sollten die Mithörer die Erklärung des Lachenden akzeptieren, ist sie nicht mehr beliebig. In vergangenen Jahrhunderten wäre der Mensch mit einer Suppenschüssel auf dem Kopf von der Gesellschaft getrennt worden. Heute hat sich der Kontext für solche Erscheinungen geändert: Begriffe, Formen und Ereignisse wie Konzeptkunst, Happening oder Eventkultur erlauben uns die »Aspekterkennung« an der Aktion. Parallel dazu könnte man sich bei der zum Trauermarsch lachenden Hörergemeinschaft einen Kontext denken, in welchem diese Musik lustig geworden ist. (Es könnte sich – in einem Gedankenspiel – z. B. um eine Kultur handeln, die keine westliche Musik kennt, durch Zufall aber dieses musikalische Thema immer als Hintergrundmusik für Komödien nutzt.) Wenn hingegen niemand den Grund des Lachens nachvollziehen kann, handelt es sich auch nicht um eine Interpretation, die akzeptiert wird. Gemeinschaft und ihre Geschichte, die uns umgebende Lebensform bestimmen unseren Interpretationsspielraum, die Sprachspiele unserer Interpretationsweisen sind intersubjektiv. Das mag dann zwar im Einzelfall zufällig erscheinen – die Veränderungen dieser Lebensform sind nicht vorhersehbar – aber es ist alles andere als beliebig! Dem Vorwurf der Beliebigkeit kann man daher in gewisser Hinsicht entgegenhalten, dass es gar nicht möglich ist, beim Musikhören »zu denken, was man will«. Bestimmten Voraussetzungen der Interpretation kann man sich als Angehöriger einer Kultur gar nicht entziehen (man kann sie höchstens bewusst ignorieren, kennt sie dann aber umso genauer und ist keineswegs von ihnen frei). Wittgenstein ermöglicht damit auch eine neue Perspektive bei der Beantwortung der Frage, in welcher Weise die Intentionen des Komponisten relevant für unsere Interpretation ihrer Werke ist (und damit insgesamt auf das Problem der »Bedeutung« von Musik, vergl. Kapitel »Ausdruck – Bedeutung – Selbstreferentialiät – Formalismus?«). Sichtbar wird dieser Schritt durch einen Seitenblick auf die Literaturwissenschaft: War man in der Literaturwissenschaft bis etwa 1920 bemüht, die Intentionen eines Autors für seinen Schaffensprozess im Rahmen historischer und biographischer Überlegungen zu rekonstruieren, zielte die Literaturtheorie des sogenannten New Criticism seit dem Aufsatz »The Intentional Fallacy« von William K. Wimsatt und Monroe Beardsley von 1946 auf das genaue Gegenteil: Die Verfasser rien ist dieser Unterschied bereits fruchtbar gemacht worden, vergl. John Gibson, »Between Truth and Triviality«, in: British Journal of Aesthetics 43 (2003), S. 224–237.

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verstanden das literarische Kunstwerk als ein in sich geschlossenes, autonomes textliches System, eventuelle Intentionen eines Autors rekostruieren zu wollen sei weder möglich noch wünschenswert. 298 In der Kontinentalphilosophie behaupteten Michel Foucault und vor allem Roland Barthes: »Die Geburt des Lesers muß mit dem Tod des ›Autors‹ bezahlt werden.« 299 Für Barthes dekonstruktivistischen Ansatz besteht ein Text aus einem »mehrdimensionalen Raum, in dem vielfältige Schreibweisen, von denen keine ursprünglich ist, miteinander harmonieren oder ringen: Der Text ist ein Geflecht von Zitaten, die aus den tausend Brennpunkten der Kultur stammen.« 300 Der Autor ist nur noch Arrangeur eines in ihm sich zusammensetzenden Wörterbuchs ohne eigene »Leidenschaften, Stimmungen, Gefühle oder Eindrücke«. 301 Der Text ist ein Geflecht aus in mehreren Kulturen entstammenden Schreibweisen, deren Dialog sich nur an einem Ort sammelt: »Der Leser ist der Raum, in den sich sämtliche Zitate, aus denen das Schreiben besteht, einschreiben […] die Einheitlichkeit eines Textes liegt nicht an seinem Ursprung, sondern an seinem Bestimmungsort«. 302 Eine solche Leserzentrierte Interpretation setzt die Annahme voraus, dass Intention grundsätzlich nicht wichtig wäre. Um aber überhaupt etwas als Kunstwerk oder künstlerische Arbeit oder Prozess identifizieren zu können, bedarf es der Annahme eines intentionalen Aktes seiner Herstellung, ansonsten könnte das »Musikstück« auch in Wirklichkeit nur aus zufällig wohlklingenden Naturlauten bestehen. Keine Handlung eines Menschen, mithin auch kein Resultat seiner 298 »The design or intention of the author is neither available nor desirable as a standard for judging the success of a work of literary art.« (William K. Wimsatt/Monroe C. Beardsley, »The Intentional Fallacy« (Sewanee Review, vol. 54 (1946): 468–488), neu abgedruckt in: William K. Wimsatt, The Verbal Icon: Studies in the Meaning of Poetry, Lexington 1954, S. 3–18. Vergl. hierzu auch Lutz Danneberg, Hans-Harald Müller, »Der ›intentionale Fehlschluss‹ ein Dogma? Systematischer Forschungsbericht zur Kontroverse um eine intentionalistische Konzeption in den Textwissenschaften. Teil I und II.«, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie XIV, 1983, S. 103–137 und S. 376– 411. 299 Roland Barthes, »Der Tod des Autors« (1968), in: Ders., Das Rauschen der Sprache (= Kritische Essays IV), aus dem französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 2006, S. 57–63, hier S. 63. 300 Barthes, »Der Tod des Autors«, S. 61. 301 Ebd. 302 Ebd. S. 63.

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Handlungen kann ohne eine zugrundeliegende Intention eingeordnet werden. 303 Etwas schwieriger wird es mit der zweiten, diesem »Intentional Fallacy« zugrundeliegenden Annahme: zunächst müssten wir zwischen Autorenintention und Text unterscheiden können als zwei distinkten Objekten, von denen das eine sichtbar ist und das andere sozusagen eine im Kopf des Autors unsichtbare Sphäre ist. Wittgenstein trifft dagegen eine andere Unterscheidung mit weitreichenden Konsequenzen für den »Tod des Autors«: Wenn Sprache und Bedeutung – wie hier bereits hinreichend erläutert – soziale, in unseren zwischenmenschlichen Praktiken verankerte Phänomene sind, liegt auch die Bedeutung der Äußerungen und Handlungsresultate einer Person nicht vornehmlich in ihrem Kopf, sondern in den Worten, das ist: in der sozialen Praxis ihrer Sprachspiele. Um einen Text als Text, einen Klang als Musik erkennen zu können, muss sein Entstehungsprozess intentional gewesen sein. Um zu erkennen, um welche Art Intentionen es sich handelt, brauchen wir nicht mehr in den Kopf des Autors oder Komponisten zu sehen, was gar nicht sinnvoll ist, so Wittgenstein – denn diese Art »innerer Gegenstände« oder »Erlebnisse« seien nicht das, wofür wir sie halten (vergl. Kapitel »Emotion?«). Was sich seit den späten 50er Jahren für die Literaturtheorie zeigt – der Ort des Textes wandert vom Autor zum Leser – gilt auch in der Musikwissenschaft. Dass Interpretation immer dem historischen Prozess der sich wandelnden Theoriebildung unterworfen ist, macht Wittgenstein immer wieder deutlich: Ich gebe Einem eine Erklärung, sage ihm ›Es ist wie wenn …‹ ; nun sagt er ›Ja, jetzt verstehe ich’s‹ oder ›Ja, jetzt weiß ich, wie es zu spielen ist‹. Vor allem mußte er ja die Erklärung nicht annehmen; es ist ja nicht, als hätte ich ihm sozusagen überzeugende Gründe dafür gegeben, daß diese Stelle vergleichbar ist dem und dem. Ich erkläre ihm ja, z. B., nicht [aus] ** Äußerungen des Komponisten, diese Stelle habe das und das darzustellen. 304

Er zieht daraus die weitreichende Konsequenz:

303 Vergl. zu dieser Idee auch Colin Lyas, »Wittgensteinian Intentions«, in: Intention an Interpretation, hrsg. v. Gary Iseminger, Philadelphia 1992, S. 132–151. 304 VB, S. 548; Die mit ** gekennzeichnete Textstelle ist im Manuskript unklar und daher in dieser Art wiedergegeben.

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Die Anziehungskraft gewisser Arten von Erklärung ist überwältigend. Zu gewissen Zeiten ist die Anziehungskraft einer bestimmten Art von Erklärung größer, als man sich vorstellen kann. 305

Als Wittgenstein seine Vorlesungen zur Ästhetik Ende der 30er Jahre hielt, bezogen sich solche Bemerkungen unter anderem auf übermächtige psychoanalytische Erklärungsmuster. 306 Heute ist eines der vorherrschenden theoretischen Systeme der Musikwissenschaft eher die Rezeptionsästhetik: »Wie die Sprachphilosophie seit Mitte der sechziger Jahre allmählich zu einer Sprecherphilosophie wurde, so zeigt auch die Ästhetik starke Tendenzen, sich unter dem mehr oder weniger bewußten Einfluß der pragmatischen Philosophie zu einer Leser- bzw. Hörerphilosophie zu wandeln. Rezeptionsästhetik ist eine vereinfachte Pragmatik.« 307 Eine »vereinfachte Pragmatik« deshalb, weil Wittgenstein im Gegensatz zur Rezeptionsästhetik in gewissem Sinne die Trennung zwischen Rezeption und Produktion verwirft. Auf der einen Seite ist es nicht möglich, Bedeutung aus dem Hörvorgang bzw. der Konstellation der Rezeption alleine abzuleiten, als ob das Material als indifferentes Vehikel in jedem erdenklichem Kontext beliebige Bedeutungen annehmen könnte, denn die Bedeutung des Materials ist nicht gleichzusetzen mit den Bedeutungen seines Rezeptionskontextes. Auf der anderen Seite ist die Vorstellung des reinen »Materials« einer positivistischen Analyse eine Illusion, die historisch dem Unbehagen an jeder Form von Inhaltsästhetik geschuldet ist. 308 Eine musikalisch relevante Struktur entsteht überhaupt erst mit einer Subjekt-Objekt Relation, sie muss im oben genannten Sinne als Ergebnis eines intentionalen Aktes wahr-

VÄ III, § 22. Vergl. auch Majetschak, »Kunst und Kennerschaft«, S. 68. 307 Faltin, Bedeutung ästhetischer Zeichen, S. 88; Faltins anschließende Argumentation im Sinne Wittgensteins hätte vielleicht im Einzelnen noch einmal der »kritischen und sorgfältigen Überarbeitung« bedurft, die, wie seine Herausgeberin Christa Nauck-Börner im Vorwort (S. III) erklärt, durch Faltins frühen Tod nicht mehr zustande kam. 308 Mit Foucault könnte man sicherlich über Wittgenstein hinausgehend die Prozesse der Sicherung von »Herrschaftswissen« durch diskursdominierende Institutionen sprechen, die so individuelle Deutungsprozesse normieren. Für einen solchen postmodernen Ansatz kann man sich auf Wittgenstein – trotz seiner kulturkonservativen Ansichten – im Sinne der bei ihm angelegte Denkstruktur beziehen, nicht aber auf deren Implikationen. Vergl. Jörg Volbers, Selbsterkenntnis und Lebensform. Kritische Subjektivität nach Wittgenstein und Foucault, Bielefeld 2009, insbes. S. 219 ff. 305 306

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nehmbar sein – und im Moment des »Hören als« hört das »reine Material« auf und wird zu einer neuen Qualität. Eine pragmatische Betrachtung im Sinne Wittgenstein hat gegenüber der Rezeptionsästhetik den Vorteil (wie oben für die Autorenintention beschrieben), dass sie nicht mehr die absolut getrennten Komplexe von Material, Produktionsvorgang und Rezeptionskontext mühsam wieder zusammenzufügen hat – diese Bereiche lassen für Wittgenstein gar keine Trennung zu. Sie sind als Aspekte gleichsam alle gleichzeitig vorhanden. Wir nehmen der Musik gegenüber jedoch immer unterschiedliche Perspektiven ein, die jeweils einen bestimmten Aspekt in unterschiedlich starker Weise sichtbar oder dominant für unser Verständnis werden lassen. Auch wenn wir im H-E-Kopf nur entweder den Hasen oder die Ente sehen können, sind beide Aspekte zu gleichen Teilen vorhanden, mehr noch: das Bild besteht in der Gleichzeitigkeit unvereinbarer Aspekte. 309 Diese Haltung entkräftet schließlich auch in letzter Konsequenz das Beliebigkeitsargument hin zu einer sozialen Interaktionsform des »Sehen als«. Innerhalb bestimmter Sprachspiele verhandeln wir unterschiedliche Aspekte mit unterschiedlicher Wertigkeit 310 , weil die Art der Sprachspiele sich kulturell eben so und nicht anders herausgebildet haben. Während also für Wittgenstein in einem bestimmten Gespräch »der Anfangsakkord« des zweiten Satzes der siebten Sinfonie von Beethoven »die gleiche Farbe wie dieser [trüb-graue] Himmel hat« 311 , kann von demselben Akkord in anderen Sprachspiel-Kontexten z. B.

309 Hierzu wäre es vielleicht fruchtbar, eine Parallele zu Walter Benjamins Überlegungen zu ziehen, der sich in gewissem Sinne auf ähnliche Weise in eine kreativen Auseinandersetzung mit dem Gedanken des Entweder-Oder begibt und dabei sein Augenmerk, wie Wittgenstein, auf die besondere Bedeutung des Zusammenhangs von ethischen und ästhetischen Aspekten richtet, wofür sich beide unter anderem mit Kierkegaard auseinandersetzten. Vergl. auch: Paolo Gabrielli, Sinn und Bild bei Wittgenstein und Benjamin, Bern u. a. 2004. 310 Frank W. Liedtke geht davon aus, dass das Wahrnehmen von Aspekten an »Relevanz-Bedingungen« geknüpft ist. Die Verhandlung von Aspekten ist in alltäglichen Situationen nicht notwendig, da man immer davon ausgeht, dass andere Menschen in derselben Situation dieselbe Relevanz an Dingen feststellen. (Vergl. Ders., »›Sehen‹ und ›Sehen-Als‹ in Wittgensteins Spätphilosophie«, in: Akten des 11. internationalen Wittgenstein Symposiums, 4.–13. August 1986, Kirchberg am Wechsel, hrsg. v. Paul Weingartner und Gerhard Schurz, Wien 1987, S. 150–154. 311 Rhees, Wittgenstein: Portraits und Gespräche, S. 164.

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rein strukturell-harmonisch gesprochen werden. Und weil wir eben nicht (s. o.) über objektive Eigenschaften eines Objekts verhandeln, sondern über unser Verständnis und unsere Bewertung der jeweiligen Wichtigkeit seiner Aspekte und deren Umgebung, ist zwischen diesen beiden Polen der Beschreibung – in entsprechenden Kontexten freilich – vieles verhandelbar, aber nichts beliebig.

Interpretation und Stil – biographische Fährten »Ich denke oft darüber, ob mein Kulturideal ein neues, d. h. ein zeitgemäßes oder eines aus der Zeit Schumanns ist. Zum mindesten scheint es mir eine Fortsetzung dieses Ideals zu sein, und zwar nicht die Fortsetzung, die es damals tatsächlich erhalten hat. Also unter Ausschluß der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ich muß sagen, daß das rein instinktmäßig so geworden ist, und nicht als Resultat einer Überlegung.« 312

Über Wittgenstein und seine geistige Umgebung gibt es zahlreiche biographische Arbeiten von ganz unterschiedlichem Anspruch.313 Als eine der herausragenden Denkerpersönlicheiten des 20. Jahrhunderts hat Wittgensteins schillerndes Leben zu umfangreichen modernen Mythenbildungen Anlass gegeben – ein Phänomen, das erst jüngst auf VB. S. 453. Allen voran ist bereits der Titel der Biographie von Ray Monk bezeichnend: Wittgenstein. Das Handwerk des Genies (original: Ludwig Wittgenstein, The Duty of A Genius, 1990) übersetzt von Hans-Günther Holl und Eberhard Rathgeb, Stuttgart 1992. Die beiden »Klassiker« einer mit Werkinhalten verknüpften biographischen Kontextzeichnung sind Allan Janik/Stephen Toulmin, Wittgensteins Wien, sowie McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre. Es gibt zwei deutschsprachige Bände, die Biographisches anhand von Selbstzeugnissen und anderen Quellenmaterialien aufarbeiten: Kurt Wuchterl/Adolf Hübner, Ludwig Wittgenstein. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1979; Michael Nedo/Michele Ranchetti (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Sein Leben in Bildern und Texten, Stuttgart 1983; zur Familie Wittgenstein gibt es auch eher schöngeistige Büchlein, wie das von Birgit Schwaner, Die Wittgensteins. Kunst und Kalkül, Wien 2008. Einen ganz anderen biographischen Schwerpunkt setzte Justus Noll mit seinem in der älteren Wittgensteinforschung heftig umstrittenen Buch, Ludwig Wittgenstein und David Pinsent. Die andere Liebe der Philosophen, Berlin 1998; außerdem gibt es mehrere Romane, die Wittgenstein zum Thema machen und mindestens einen, auch autobiographisch angelegten Film von Derek Jarman (Wittgenstein von 1993). Diese Aufzählung ist nicht vollständig, gibt aber einen Eindruck über die Bandbreite autobiographischer Publikationen.

312 313

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einem Kongress Anlass gab, Wittgensteins Biographiebildung mit der Mozarts zu vergleichen und kritisch zu hinterfragen. 314 Zahlreiche Zeitzeugen haben zum Teil Jahrzehnte nach persönlichen Begegnungen mit dem »Genie Wittgenstein« Erinnerungen notiert, deren Wahrheitsgehalt teilweise eher hagiographischer Natur sein mag. Das betrifft auch den Bereich der Musik: Als echter »Ausnahmemensch« musste Wittgenstein nach der Vorstellung seiner Jünger auch in diesem Bereich unanfechtbare und herausragende Einsichten besitzen. So sind viele seiner – oft mehr oder weniger zufälligen Bemerkungen in Gesprächen oder persönlichen Tagebuchaufzeichnungen nicht immer zu Wittgensteins Vorteil unkommentiert publiziert worden, als handle es sich ausnahmslos um Bedeutendes. Das ist nicht der Fall: Tatsächlich muss man unterscheiden zwischen Bemerkungen, die Wittgenstein als Philosoph zur Musik äußert und solchen, die von ganz persönlichen – immer starken und leidenschaftlichen – aber bei weitem nicht immer besonders tiefgehenden Ansichten über bestimmte Musiker und ihre Werke geprägt sind. 315 In den bisher vorliegenden Texten zu Wittgenstein und der Musik werden seine Aussagen zur Musik überwiegend gleichbehandelt und so gut wie nicht kritisiert. Ich bin der Meinung, wenn Wittgenstein einen Beitrag zur Philosophie der Musik liefern kann, dann nur unter der Bedingung, dass seine Bemerkungen hierüber gefiltert und kommentiert werden, gerade um Nicole L. Immler, »The making of …« Genie: Wittgenstein & Mozart. Biographien, ihre Mythen und wem sie nützen (= Gedächtnis – Erinnerung – Identität, Bd. 11), Innsbruck 2009. 315 Zu letzteren gehören insbes. die Bemerkungen über Mendelssohn. Zwar ist Wittgenstein nach einhelliger Forschungsmeinung kein Antisemitismus vorzuwerfen (vergl. z. B. Janik/Toulmin, Wittgensteins Wien, S. 204 f.), er wurde allerdings offensichtlich von der hierdurch geprägten, weniger hohen Meinung zu diesem Komponisten beeinflusst, z.B »Brahms ist oft fehlerfreier Mendelssohn« (VB, 479); »Was fehlt der Mendelssohnschen Musik? Eine ›mutige‹ Melodie?« (VB, S. 498). »In aller großen Kunst ist ein WILDES Tier: gezähmt. Bei Mendessohn, z. B., nicht. […] In diesem Sinne kann man Mendelssohn einen ›reproduktiven‹ Künstler nennen.« (VB, S. 502). »Wenn man das Wesen der Mendelssohnschen Musik charakterisieren wollte, so könnte man es dadurch tun, daß man sagte, es gäbe vielleicht keine schwer verständliche Mendelssohnsche Musik.« (VB, S. 482). Die einzige Positive Bemerkung Wittgensteins, die ich gefunden habe, betrifft das Violinkonzert: »Mendelssohns Violinkonzert ist insofern etwas Besonderes, als das es das letzte große Violinkonzert ist, das je geschrieben wurde. Im letzten Satz gibt es eine Stelle, die zu den großartigsten Momenten der Musik gehört.« (Bemerkung M. O’C Drury gegenüber, in: Rhees, Wittgenstein: Portraits und Gespräche, S. 160). 314

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seine Leistungen auf diesem Gebiet ins rechte Licht zu rücken. Ich halte es daher für nicht konstruktiv, wie gelegentlich geschehen, willkürlich einige dieser Bemerkungen auszuwählen (oder auch alle, in denen Musik und Musiker erwähnt werden). Ob eine solche Sammlung ein Bild des Musikhörers Wittgenstein ergäbe, ist schon einigermaßen zweifelhaft, eine »Philosophie der Musik« jedenfalls mit Sicherheit nicht. Über Wittgensteins musikalische Begabung und Fähigkeiten existieren zahlreiche Übertreibungen. Michael Nedo, der Herausgeber der neuen Wittgenstein-Ausgabe, nennt Ludwig von allen seinen Familienmitgliedern den »Begabtesten, der sich gerade wegen des Wissens um seine Begabung nicht zum Musikerberuf entscheidet.« 316 Das ist eine ebenso bezeichnende, wie befremdliche Behauptung angesichts der Tatsache, dass der früh verstorbene Bruder Hans mehrere Instrumente, unter anderem sehr gut Violine gespielt haben muss und auch komponierte (ein kleines Trio für Pianoforte Violine und Violoncello ist erhalten geblieben 317 ), Bruder Conrad Violoncello, die ebenfalls früh verstorbenen Brüder Hans und Rudi sowie die Schwestern Hermine und Helene mit der pianistisch sehr versierten Mutter (einer Schülerin Goldmarks) viel vierhändig spielten, von deren Duetten mit dem Vater Wittgenstein, einem guten Geiger und leidenschaftlichen Sammler wertvoller Violinen ganz zu schweigen. Und schließlich ist da noch Paul Wittgenstein, der als professioneller Pianist auch noch nach dem Verlust des rechen Arms im Krieg Konzerte gab, nach New York auswanderte, dort eine erfolgreiche Klavierklasse aufbaute und nicht zuletzt als Auftraggeber mehrerer Klavierkonzerte für die linke Hand bekannt geworden ist. Ludwig Wittgenstein hat lediglich für sein Lehrerexamen ein Instrument, die Klarinette, erlernt, spätestens aber 1932 wieder aufgegeben, sehr wahrscheinlich früher. 318 Über das gemeinsame Musizieren 316 Michael Nedo beim Symposium »Ein Tag für Paul« in der österreichischen Botschaft, Berlin, Dezember 2004, zit. n.: Suchy/Janik/Predota (Hg.), Empty Sleeve, S. 26. 317 Zu sehen in der Fotosammlung des Wittgenstein Archivs in Cambridge, unter der Inventarnummer 1658. 318 Vergl. einen Brief von Koder an Wittgenstein vom Mai 1932, in: Alber (Hg.), Wittgenstein, S. 48. Daher halte ich auch die Bemerkung von McGuinness für falsch, Joseph Labors »frequent use of the clarinet surely either influenced or was influenced by Ludwig’s choice of that instrument for both relaxation and schoolwork« (Ders., »The Brothers Wittgenstein«, in: Suchy/Janik/Predota, Empty Sleeve, S. 57). Labors Klari-

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von Ludwig Wittgenstein und Rudolf Koder, sowie Einblicke in die Kammermusik im Hause Wittgenstein geben der veröffentlichte Briefwechsel zwischen Wittgenstein und Koder sowie die veröffentlichten Familienbriefe einen lebendigen Einblick. Die Geschichte darüber, welche Musiker und Komponisten im Hause Wittgenstein tatsächlich häufig zu Gast waren, müsste erst geschrieben werden. Hier existieren zahlreiche und widersprüchliche Behauptungen. 319 Die fundierteste Beschreibung scheint mir gerade in Texten zu finden zu sein, deren Fokus nicht auf Ludwig Wittgenstein liegt. Ich übernehme daher für eine kurze Skizze des musikalischen Lebens der Wittgensteins eine Passage aus einem Aufsatz, der die Spuren der umfangreichen Musikaliensammlung mit ihren wertvollen Manuskripten (u. a. von Bach, Mozart, Beethoven oder Brahms) verfolgt: Karls [Ludwigs Vater] Gastfreundschaft schloß die großen Musiker der Zeit ein. Brahms war wöchentlicher Gast 320 […]. Gustav Mahler 321 und Arnold Schönberg 322 kamen ebenfalls und erfreuten sich Karls Unterstützung. Rinettenquintett op. 11 ist bereits 1912 bei UE verlegt, Wittgenstein beginnt seine Lehrerausbildung 1919. Wenn überhaupt, hat Labor Wittgenstein bei der Wahl seines Instruments beeinflusst. 319 Daran sind die beiden dominierenden Wittgenstein-Biographien von McGuinness und Janik/Toulmin, die auch das kulturelle Umfeld des Hauses und der Stadt Wien beschreiben, nicht ganz unbeteiligt, da beide Bücher ihre offenbar zahlreichen Quellen zu diesem Thema nicht immer offenlegen. So schreibt McGuinness z. B. »Bergs Werke fand er skandalös« (ders., Wittgensteins frühe Jahre, S. 68), was zwar ohne Weiteres vorstellbar und naheliegend ist, jedoch mit keiner Quelle belegbar. Und in einem Aufsatz schreibt McGuinness gar: »Ludwig was sceptical also of the value of the work of the musical theorist Schenker (his nephew’s teacher), thinking his remarks, when true, too obvious.« (Ders., »The unsayable: a genetic account«, in: Ders., Approaches to Wittgenstein. Collected Papers, London 2002, S. 161); Janik und Toulmin berichten über einen ähnlich interessanten Zusammenhang: »Als er [Wittgenstein] erfuhr, dass G. E. Moores jüngster Sohn Timothy eine erfolgreiche Jazz-Combo gegründet hatte, überredete er ihn, am Klavier ausführlich Struktur und Entwicklung der Jazzmusik zu erklären, also das, was Schönberg deren ›Logik‹ genannt hätte.« (Janik/Toulmin, Wittgensteins Wien, S. 207). Über solche Randbemerkungen hinaus hätte man gerne mehr gewusst, da bei Wittgenstein selbst entsprechende Kommentare nicht zu finden sind. 320 M. Deneke, »Mr. Paul Wittgenstein. Devotion to Music«, in: The Times, 14. März 1961, zit. n.: E. Fred Flindell, »Die Sammlung Wittgenstein«, in: Die Musikforschung XXII (1969), S. 309. 321 Ebd. 322 Interview am 23. Juni 1967 mit Leonard Kastle. Paul Wittgenstein teilte diese Information Herrn Kastle mit, der Wittgenstein als Student und Freund während der Jahre

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chard Strauss 323 und Paul Wittgenstein spielten vierhändig und entwickelten zusammen ein Interesse an Spohrs Kammermusik. Clara Schumann gab inoffizielle Konzerte, und das Joachim-Quartett feierte, inspiriert von einer inneren Wertschätzung, im intimen Wittgensteinkreis Triumphe. 324 Robert Mühlfeld 325 spielte Brahm’s Klarinettensonaten in ihrer ersten privaten Aufführung in Karls Haus. 326 Das Rosé-Quartett zusammen mit dem Klarinettisten Steiner musizierte das Brahmssche Klarinettenquintett in einer privaten Aufführung in Brahm’s Anwesenheit. 327 Das Soldat-Roeger-Quartett hielt seine Generalproben im Hause Wittgenstein ab, zu denen Max Kalbeck und Eduard Hanslick geladen waren. Pablo Casals, Bruno Walter 328, Robert Fuchs, Ferdinand Loewe 329 , Marcella Pregi, Erica Morini, Josef Labor und Marie Baumayer 330 gingen aus und ein in der Villa Neuwaldegg (bewohnt von 1881 an) und im Haus in der Alleegasse (bewohnt von 1890 an). 331 1940–1961 kannte. Zit. n.: E. Fred Flindell, »Die Sammlung Wittgenstein«, in: Die Musikforschung XXII (1969), S. 309. 323 Ein Interview mit Paul Wittgenstein, erschienen am 4. November 1934 in der Montreal Gazette. Zit. n.: E. Fred Flindell, »Die Sammlung Wittgenstein«, S. 309. 324 P. Kupelwieser, »Karl Wittgenstein als Kunstfreund«, in: Neue Freie Presse, Wien, Nr. 17390 vom 21. Januar 1913, S. 11, zit. n.: E. Fred Flindell, »Die Sammlung Wittgenstein«, S. 309. 325 Brief von Bertha Gasteiger an Paul Wittgenstein aus Graz vom 21. Oktober 1935, zit. n.: E. Fred Flindell, »Die Sammlung Wittgenstein«, S. 309. 326 Hermine Wittgenstein, Familienerinnerungen (unveröffentlichtes Manuskript), S. 80 f., zit. n.: E. Fred Flindell, »Die Sammlung Wittgenstein«, S. 309; Hermine berichtet: »Ich denke auch noch mit Freude daran, wie Gretel [die Schwester Maragethe Stonborough] und ich ihn [Brahms] einige Jahre später zu einer musikalischen Veranstaltung in unserem Hause an der Eingangstür erwarteten, wie er uns beide je an eine Hand nahm und wie wir stolz und glücklich so mit ihm die große Treppe zum Musikzimmer hinaufstiegen. Im Stiegenhaus, das in gleicher Höhe mit diesem Raum eine Art Foyer bildet, hörte sich Brahms dann, alleine und gänzlich in Ruhe gelassen, die Musik an, und dort konnte ihn mein Onkel Paul unbemerkt beobachten.« (Ebd.) Letztere Bemerkung zielt auf die in diesem Rahmen entstandene, bekannte Profil-Zeichnung Paul Wittgensteins (nicht zu verwechseln mit Ludwigs Bruder) von Johannes Brahms ab. 327 Hermine Wittgenstein, Familienerinnerungen (unveröffentlichtes Manuskript), S. 79. Dies fand kurz nach der öffentlichen Uraufführung durch das Joachim-Quartett am 12. Dezember 1891 in Berlin statt, zit. n.: E. Fred Flindell, »Die Sammlung Wittgenstein«, S. 309. 328 Bruno Walter, Thema und Variationen, Amsterdam 1950, S. 215 f., zit. n.: E. Fred Flindell, »Die Sammlung Wittgenstein«, S. 309. 329 P. Kupelwieser, »Karl Wittgenstein als Kunstfreund«, in: Neue Freie Presse, Wien, Nr. 17390 vom 21. Januar 1913, S. 11, zit. n.: E. Fred Flindell, »Die Sammlung Wittgenstein«, S. 309. 330 Hermine Wittgenstein, Familienerinnerungen (unveröffentlichtes Manuskript), S. 78, zit. n.: E. Fred Flindell, »Die Sammlung Wittgenstein«, S. 309. 331 E. Fred Flindell, »Die Sammlung Wittgenstein«, S. 309.

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Bei einigen dieser musikalischen Anlässe war Ludwig noch sehr jung (z. B. war er bei der Brahms-Aufführung erst zwei Jahre alt), bei anderen ab 1903 (dem Beginn seiner Realschulausbildung in Linz) nicht mehr regelmäßig zugegen (was an den Familienbriefen abzulesen ist). Welche Menschen und Ereignisse ihn daher tatsächlich beeinflusst haben, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit sagen. Mir geht es in diesem Kapitel vor allem um zwei Aspekte der Musikbetrachtung, die bei Wittgenstein stark biographisch geprägt sind: Zum einen seine absolute Forderung nach Ernsthaftigkeit und der daraus folgenden »richtigen Interpretation«, zum anderen geht es mir um das, was in der Wittgenstein-Forschung immer etwas betreten als sein überaus »konservativer Musikgeschmack« beiseite geschoben wird, meines Erachtens aber ganz wertfrei einen zentralen Punkt seiner Musikanschauung in sich birgt. Den Willen zur »richtigen Interpretation« verbreitete Wittgenstein in seiner Umgebung offensichtlich mit einem unbedingten und schwer zu widerstehenden Anspruch, wie eine Erinnerung des Freundes Paul Engelmann beweist: [E]ines der bekannten Wiener Streichquartette war eingeladen, zu einer späteren Vorführung in diesem Haus ein Musikstück zu proben, und bei einer der ersten Proben war Wittgenstein unter den wenigen Zuhörern. Wie gewöhnlich erst äußerst zurückhaltend, geriet er, nachdem er einmal einige bescheidene Bemerkungen gemacht hatte, schließlich in Feuer, vergaß sich und mischte sich in die Probe ein. Die Musiker reagierten darauf zunächst ein bißchen spöttisch, da sie den unscheinbaren Jüngling in seiner schäbigen Militäruniform (die Jacke trug er auch nach dem Krieg noch längere Zeit) wohl für einen auf seine Musikkenntnisse eingebildeten Dilettanten hielten, gegen den sie, als gegen den Bruder der vornehmen Gastgeberin, nicht so abweisend sein wollten, wie sie es sonst in einem solchen Falle sicher gewesen wären. Ich war aber auch noch Zeuge einer späteren Probe, bei der er, von allen vieren ganz anerkannt, das Wort führte und dessen Einwände und Ratschläge sie in der Haltung aufnahmen, als wäre es Gustav Mahler selbst, der ihnen da dreinredete. Ähnliches habe ich auch auf anderen Gebieten erlebt, wo er sich in analoger Weise betätigte; überall ging den Beteiligten nach kurzem auf, daß man so eine Gelegenheit, Wichtiges zu lernen, nicht auslassen dürfe. Wo er aber seiner Sache nicht ganz sicher war, machte er den Mund nicht auf. 332

Sicher hörten die Musiker Ludwig Wittgenstein auch deshalb zu, als wäre er »Gustav Mahler selbst«, weil seine Familie zu den wichtigen 332

Somavilla (Hg.), Wittgenstein – Engelmann, S. 105 f.

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Wiener Kunstmäzenen zählte; und ob wirklich jedem von ihnen »aufgegangen« war, dass es sich um eine einmalige Gelegenheit handelte »Wichtiges zu lernen«, sei dahingestellt. In jedem Fall ist diese Anekdote symptomatisch für Wittgensteins Umgang mit Musik. Nie, zu keiner Zeit und zu keinem Anlass, durfte Musik einfach der harmlosen Unterhaltung dienen 333 , hier duldete Wittgenstein keine Ausnahme, und schon gar nicht bei sich selbst: Heute Nachmittag h[ö]rte ich Koder der mir vorspielte. Ich redete ihm ins Gewissen, er solle das Klavierspiel ernst nehmen, sein Spiel war mir nicht ernst genug. Dann ging ich zu Helene und pfiff mit Ihrer Begleitung Schubertlieder und meine Gedanken waren nie wirklich kon[z]entriert ich dachte immer an mich selbst und konnte mich nicht wirklich einf[ü]hlen oder der Sache hingeben. Es war nie wirklicher Ernst. Ich tat immer irgendetwas aber es war nie oder beinahe nie das [R]ichtige. Ich sagte mir vor da[ß] die Sache ernst sei aber [es] flog alles an mir vor[ü]ber. Ich f[ü]hlte da[ß] ich ein Schwein bin weil ich auch [E]chtes mit Unechtem mische. 334

Wittgensteins Ernsthaftigkeit und Leidenschaft mag so manchen Musiker von seinen Meinungen überzeugt haben, zumindest in seinem näheren Umkreis verließ man sich ganz auf sein Urteil. Die Familienbriefe sind voll von Berichten der Geschwister über besuchte Aufführungen, über die man gerne Ludwigs Meinung gewusst hätte, und eifrigen Beteuerungen vor allem der Schwester Helene von der Art: »Ich spiele fleißig vierhändig um etwas zu können wenn du kommst«. 335 Oder sie macht Fingerübungen »damit wir Dir ein bisschen vorspielen können. […] Schade dass ich nicht weiss auf was du jetzt Lust hast?« 336 Und beim vierhändigen Spielen der 1. Sinfonie Bruckners mit einer befreundeten Pianistin heißt es gar:

333 So schreibt er dem Freund Rudolf Koder, der immerhin passabel Klavier spielte, einigen Unterricht bei dem Bruder Paul erhielt und vierhändig mit Wittgensteins Familienmitgliedern spielte: »Denn auch das Lesen eines Buches & das Anhören eines Musikstückes sollen keine Dekoration des Lebens, sondern Nahrungsmittel sein, mit deren Hilfe man dann selbst wieder Arbeit leistet.« (Brief Wittgensteins an Koder, Ende November 1929, zit. n. Alber (Hg.), Wittgenstein, S. 30). 334 Wittgensteins Nachlass, MS 108, 28. Dezember 1929. 335 Brief von Helene an Ludwig vom 24. März 1919, in: McGuinness (Hg.), Familienbriefe, S. 59. 336 Brief von Hermine an Ludwig vom 14. März 1930, in: McGuinness (Hg.), Familienbriefe, S 127.

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Das Adagio aus der I. spiele ich jedesmal mit der Staake u. habe auch schon viel herausgefunden aber das erste Thema ist mir noch immer fast ganz schleierhaft ich freue mich schon bis wir Dir’s vorspielen, ich verstehe es dann meistens viel besser. 337

Auch Bruder Paul und der Freund Rudolf Koder bieten wiederholt an, Ludwig wann immer er möchte, vorzuspielen, was er gerne hören würde. Ludwig war derjenige, der in der Familie die Wertmaßstäbe setzte und entschied, – ob es sich um Aufführungen handelte oder um Schallplatten – was eine angemessene Aufführung war. 338 Besonders hart traf seine Kritik offenbar das Klavierspiel seines Bruders: 339 Einmal habe sein Bruder [Paul] Klavier geübt, während sich [Ludwig] Wittgenstein in einem anderen Zimmer des Hauses aufhielt; plötzlich wurde das Spiel unterbrochen, sein Bruder kam in das Zimmer hereingestürzt und sagte: ›Ich kann einfach nicht spielen, wenn du im Haus bist. Ich spüre, wie deine Skepsis unter der Tür hereinsickert.‹ 340

Brief von Hermine an Ludwig vom November 1931, in: McGuinness (Hg.), Familienbriefe, S. 131. 338 Man darf vermuten, dass eine Bemerkung Bertrand Russells zu der großen Verehrung beigetragen haben mag, die die Geschwister Ludwig und seinem Urteil entgegenbrachten. Hermine berichtet in ihren Familienerinnerungen, Russell habe ihr bei einer Einladung zum Tee bereits 1912 mitgeteilt: »We expect the next big step in philosophy to be taken by your brother.« (zit. n.: McGuinness (Hg.), Familienbriefe, S. 126, Anm. 179). 339 Irene Suchy sieht den Grund der Ablehnung Pauls in dem Bruch eines unausgesprochenen Tabus: »Als Paul Wittgenstein sich für den Beruf eines Klaviersolisten entscheidet, bricht er mit einer unausgesprochenen familiären Übereinkunft. Er macht das Hobby in der Familie, das familiäre Alleingut, in dem jeder und jede Experte war, die Mutter die anerkannte Meisterin, zu seinem Beruf […] er bricht mit dem familiären Gesetz, die Musik als abgeschlossene, vollendete Heimat zu bewohnen, zu besuchen, sich in ihr zurückzuziehen. Indem Paul Wittgenstein mit ihr und an ihr arbeitet, sie durch seine Auftragstätigkeit fortsetzt, verstößt er gegen die Gesetze des Vaters, aber auch der Mutter, des überlebenden Bruders und der Schwestern. Er wird auch in seinem Musikgeschmack von der Familienmeinung abweichen.« (Suchy/Janik/Predota (Hg.), Empty Sleeve, S. 26) Dieser Band beschreibt u. a. in verschiedenen Aufsätzen die durch die ausschließlich auf Ludwig bezogene Rezeption der Familie Wittgenstein ungerechtfertigt schlechte Wahrnehmung Pauls als Pianist und Auftraggeber vor allem in Europa. 340 M. O’C Drury, »Gespräche mit Wittgenstein«, in: Rhees (Hg.), Wittgenstein: Porträts und Gespräche, S. 190; F. R. Leavis berichtet, Ludwig hätte das Gefühl gehabt, die Leute gingen in Pauls Konzerte »um sich das Schauspiel anzusehen, als wäre es eine Zirkusnummer.« (Ders., »Wittgenstein – einige Erinnerungsbilder«, in: Rhees (Hg.), Wittgenstein: Porträts und Gespräche, S. 108). 337

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Und so – ob von Ludwig initiiert oder nicht 341 – möchte auch Schwester Hermine Paul »wegen mancher Rohheit […] das Recht absprechen […] Musik zu betreiben« 342 und Schwester Margarethe empfindet noch 1942 sein Spiel als »Vergewaltigung« 343 . »Sie hörten bei seinem Spiel etwas Gewaltsames heraus, das sich nur teilweise durch die Erfordernisse der linkshändigen Ausführung erklären ließ. Sie, die Joachim gehört und über Sarasate die Nase gerümpft hatten, waren argwöhnisch gegenüber jedem Effekt, der nicht ausschließlich von der Musik selbst bedingt war.« 344 Rudolf Koder notiert über Ludwig Wittgenstein: »Gefühl für richtiges Tempo, richtige Dimension, richtige Kleidung«. In der Familie und insbesondere bei Ludwig findet sich Zeit seines Lebens ein ethischer Anspruch an jegliche Form von Ausdruck. Paul mochte noch so ein guter Pianist sein, nach der Vorstellung seiner Familie konnte er Kraft seines Charakters nicht die »Wahrhaftigkeit« des Ausdrucks erreichen, die einzig akzeptabel schien. In gewisser Weise wird das Gegenbild von dem blinden Komponisten und Organisten Josef Labor ausgefüllt. 345 Labor avancierte zum besonderen Protegé der Familie und insbesondere Pauls, der sein Klavierschüler war (wie übrigens auch Schönberg kurze Zeit). Der Großteil seiner Kompositionen wurde mithilfe der finanziellen Unterstützung durch Paul Wittgenstein gedruckt, der auch als Auftraggeber von Kompositionen und Organisator von Konzertabenden in Erscheinung trat. Labor lieferte das Bild eines frommen, einfühlsamen und ernsthaften, vom Schicksal gezeichneten Mannes, das ganz in die Idealvorstellung eines Komponisten der Familie passte. 346 Ludwig schätzte den Menschen Labor, seiner Musik be341 Ein positives Bild des Verhältnisses zwischen Ludwig und Paul, bei dem Ludwig ein weit differenzierteres Bild des Klavierspiels des Bruders zeige, als die übrigen Geschwister, zeichnet Ludwigs Biograph Brian McGuinness, »The Brothers Wittgenstein«, in: Suchy/Janik/Predota (Hg.), Empty Sleeve, S. 53–66. 342 Brief von Hermine an Ludwig vom 29. Oktober 1916, in: McGuinness (Hg.), Familienbriefe, S. 29. 343 Brief von Margarethe an Ludwig von Ende 1942, in: McGuinness (Hg.), Familienbriefe, S. 180. 344 McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, S. 64. 345 Zu Labors Leben und Werk vergl. Paul Kundi, Josef Labor, sein Leben und Wirken, sein Klavier- und Orgelspiel nebst thematischem Katalog sämtlicher Kompositionen, 2 Teile, Diss. Wien 1962. 346 »Vor einigen Tagen war Labor hier und spielte ganz herrlich Bach u. Chopin, er sagte selbst, dass er sich so besonders wohl bei uns fühle u. dass das in seinem Spiel zum

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gegnet er dagegen mit einer gewissen höflichen Zurückhaltung: »Der Ernst Labors ist ein sehr später Ernst.« 347 Auch Paul sorgt sich: Am Anfang des Winters veranstalte ich einen Laborabend. Wenn ich nur Leute finde, die hineingehen, & von diesen wieder wenigstens nicht mehr als die Hälfte einschlafen! 348

Man steht insgesamt der Musik Labors etwas bemüht gegenüber: Dein Urteil über die Introduktion der Phantasie: ›Echt Labor, aber etwas mager‹, unterschreibe ich wörtlich. Labor braucht wohl für seine Stücke den Reiz der Klangerverschiedenheit und Vielstimmigkeit, den eben nur mehrere Intrumente ermöglichen. 349 Die beiden Klarinetten Trios, die Kanons für Frauenstimmen und die neue Fantasie, ein vegetarianisches Diner von vier Gängen. 350

Und Hermine über das selbe Konzert: Das Conzert war wohl recht traurig, lauter Labor, das ist unerträglich, er braucht Schlechtes zur Folie […] oder Gutes zur Abwechslung. 351 Paul […] entzückte mich u. alle Leute hauptsächlich durch die liebe Art wie er sich für Labor einsetzt, trotz des verlorenen Postens. 352

Auch Ludwig setzte sich noch in Cambridge für Labor ein und versuchte einen Konzertabend zu initiieren, der dann aber nicht zustande kam. 353 Die Beispiele Paul Wittgenstein und Josef Labor weisen meiner Ansicht nach auf eine nicht zu unterschätzende Tatsache hin: Der tieAusdruck komme; Mama u. ich waren die einzigen u. ganz begeisterten Zuhörer, das machte es so stimmungsvoll.« Brief von Hermine an Ludwig, vom 27. Mai 1919, in: McGuinness (Hg.), Familienbriefe, S. 60 f. 347 VB, S. 464. 348 Brief von Paul an Ludwig, vom 7. Oktober 1914, dieser Brief ist nicht Bestandteil des von McGuinness editierten Familienbriefwechsels, daher hier zit. n. Alber, »Joseph Labor und die Musik in der Familie Wittgenstein«, in: Ders. (Hg.), Wittgenstein, S. 129). (Leider sind Albers Transkriptionen und Quellenangaben verschiedentlich fehlerhaft und daher nur bedingt zitierbar.) 349 Brief von Paul an Ludwig, vom 8. Oktober 1920, in: McGuinness (Hg.), Familienbriefe, S. 68. 350 Brief von Paul an Ludwig, vom 17. November 1920, in: McGuinness (Hg.), Familienbriefe, S. 71. 351 Brief von Hermine an Ludwig, vom 23. November 1920, in: McGuinness (Hg.), Familienbriefe, S. 75. 352 Brief von Hermine an Ludwig, vom 5. Mai 1921, in: McGuinness (Hg.), Familienbriefe, S. 87. 353 Vergl. McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, S. 206 f.

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fere Grund für Wittgensteins Ablehnung der »Gefühlsästhetik« entsteht nicht aus einer Auseinandersetzung mit entsprechenden musikästhetischen Diskursen, sondern vielmehr aus seinem unbedingten Anspruch an Stil und der davon untrennbaren ethischen Grundhaltung. Hanslicks Theorien werden die Musikauffassung Wittgensteins höchstens mittelbar beeinflusst haben. Als Student Hanslicks brachte Labor wahrscheinlich dessen Ansichten in das häusliche Gespräch ein, allerdings nicht unbedingt namentlich. 354 Dass Hanslick »ein Freund des Hauses« 355 gewesen sei, scheint zumindest übertrieben, da dieser Name jedenfalls in der publizierten Korrespondenz und den Aufzeichnungen der Familienmitglieder keine Rolle spielt. Nach der Begeisterung, die Wittgenstein den Meistersingern, die in seiner Familie zum Lieblingsrepertoire häuslichen Musizierens gehörten, 356 in seiner Jugend entgegen brachte (während seines MaschiSo schreibt Wittgenstein 1947 aus Cambridge an seine Schwester Helene: »Leider spielt zwei Stockwerke unter meinen Zimmern jemand Klavier und ich werde von dem elenden Geklimper (meist Beethoven) sehr gestört. Seltsamerweise hindert es mich manchmal geradezu am Atmen; es ist ein abscheuliches Gefühl. »Es stinkt Musik herauf« hat der Labor gesagt, aber ein wirklicher Gestank wäre mir weit lieber.« (McGuinness (Hg.), Familienbriefe, S. 189) Es mag sein, dass, nach Albers Hinweis (Ders., (Hg.), Wittgenstein, S. 138), Labors Bemerkung zwanzig oder dreißig Jahre früher ursprünglich auf eine bekannte HanslickKritik anspielte, der 1881 anlässlich eines Konzerts schrieb: »Tschaikowskys Violinkonzert bringt uns zum ersten mal auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könne, die man stinken hört.« (Eduard Hanslick, Aus dem Tagebuch eines Rezensenten. Gesammelte Musikkritiken, hrsg. v. Peter Wapnewski, Kassel 1989, S. 30). Wittgenstein verbindet seine Bemerkung aber ganz offensichtlich nicht mit dem Kritiker, zumal er als eigentlicher Beethovenverehrer den »Gestank« im Sinne eines störenden Nervenreizes und nicht etwa als etwas »Anrüchiges« auffasst. 355 Alber (Hg.), »Jetzt brach ein ander Licht heran«, in: Ders. (Hg.), Wittgenstein, S. 141. 356 McGuinness liefert hierfür eine psychologische Deutung, die vielleicht etwas plakativ ist, aber in ihrer eigenen, bürgerlichen Sichtweise wohl eine treffende Skizze des musikalischen Geschmacks der Wittgensteins liefert: »Warum ihm gerade die Meistersinger so viel sagten, läßt sich erraten; zum Teil deshalb, weil wir wissen, aufgrund welcher Eigenschaften das Werk in der Familie besonders beliebt war. Es behandelt Probleme der Musik und des Lebens zur gleichen Zeit, und die Lösung liegt in der Notwendigkeit von Regeln, die sich sogar im Bereich des Spontanen aufspüren lassen, aber nur sofern ein Element von Verehrung hinzukommt. Es gelingt der Oper, dies tatsächlich aufzuzeigen, zumal sie auch ein glückliches Ende hat, wie es für eine derart positive Botschaft vonnöten ist, ohne dabei die mit jeder Leistung einhergehende Resignation und den entsprechenden – vom menschlichen Standpunkt so gesehenen – Verlust außer acht zu lassen. Es paßte gut zum Geschmack und den Belangen dieser Wittgensteins, daß 354

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nenbaustudiums in Berlin gibt er an, 30 Aufführungen dieser Oper besucht zu habe), lag höchst wahrscheinlich der wahre Grund für die Ablehnung Wagners nicht etwa an »parteigängerischer« 357 Gesinnung. Für Wittgenstein war Wagner »der erste der großen Komponisten, die einen unangenehmen Charakter hatten« 358 . Dabei ist es unwichtig, ob diese Bemerkung Wagner oder der Musikgeschichte gerecht wird. (Ganz ähnliche Argumente finden sich auch für die reservierte Einstellung Gustav Mahler gegenüber. 359 ) Wittgenstein empfand ganz offensichtlich Abscheu vor allem Rhetorischen in seiner Umgebung, besonders, wenn es Musik betraf. Im Gegensatz zu anderen musikphilosophischen Ansätzen seiner Zeit (und jüngeren Datums) redet Wittgenstein, wenn es um Musik geht, in den Meistersingern neben diesem allgemeinen Gegenstand die Musik thematisch wird, die für sie ja nicht nur ein Abglanz, sondern Bestandteil des Lebens war, dazu noch in einem bürgerlichen, nicht in einem mythologischen Rahmen.« (McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, S. 102 f. Für McGuinness sind die Meistersinger die »vollendetste von Wagners Schöpfungen«. Ebd.). 357 Es ist bekanntlich nicht richtig, dass Hanslick Wagners Musik in Gänze abgelehnt hätte. In den Meistersingern fand er durchaus »glänzende dramatische Kraft« (Eduard Hanslick, Aus dem Tagebuch eines Rezensenten. Gesammelte Musikkritiken, hrsg. v. Peter Wapnewski, Kassel u. a. 1989, S. 18) und »Szenen, die unter den glücklichsten musikalischen Inspirationen Wagners obenan stehen« (ebd., S. 89). Auch in der Bewertung eines anderen Komponisten, Anton Bruckner, urteilt Wittgenstein anders als Hanslick. Interessant dabei ist, dass Hanslick neben zahlreichen scharfen Polemiken Bruckner unter anderem vorwirft: »In Bruckners Kompositionen vermissen wir das logische Denken, den geläuterten Schönheitssinn, den sichtenden und überschauenden Kunstverstand.« (Hanslick, Aus dem Tagebuch eines Rezensenten, S. 53). Das wäre für Wittgensteins Musikempfinden eigentlich ebenfalls ein Ausschlusskriterium, demnach differiert offensichtlich auch Wittgensteins Begriff der musikalischen Logik von dem, was Hanslick darunter versteht. (Was Wittgenstein insbesondere an Bruckner faszinierte, dazu vergl. Kapitel »Landschaftsalbum«). 358 Wittgenstein gegenüber M. O’C Drury, etwa 1930, in: Rhees (Hg.), Wittgenstein: Portraits und Gespräche, S. 160. An anderer Stelle bemerkt Wittgenstein: »Wagners Motive könnte man musikalische Prosasätze nennen. Und so, wie es ›gereimte Prosa‹ gibt, kann man diese Motive allerdings zur melodischen Form zusammenfügen, aber sie ergeben nicht eine Melodie. Und so ist auch das Wagnersche Drama kein Drama, sondern eine Aneinanderreihung von Situationen, die wie auf einem Faden aufgefädelt sind, der selbst nur klug gesponnen, aber nicht, wie die Motive und Situationen, inspiriert ist.« (VB, S. 507). 359 Vergl. z. B. VB, 544 f., 477. Als Dirigent wiederum scheint Wittgenstein Mahler durchaus geschätzt zu haben: »Mahlers Lehraufführungen waren ausgezeichnet, wenn er sie leitete; das Orchester schien sofort zusammenzusinken, wenn er es nicht selbst leitete.« (VB, S. 503).

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überwiegend über klingende Musik, über Aufführungen und Interpretationen. Musik ist ihm weniger festgeschriebener Text, als immer dynamisches Sprachspiel. Auch Interpretation war historischem Wandel unterworfen, das schlichte Festhalten an dem, was einmal angemessen war, garantierte für ihn keine »richtige« Interpretation. Vielmehr musste eine neue Interpretation sich zu dem Vergangenen als Vergangenem stellen, wie Wittgenstein in einem Gespräch mit Rush Rhees (etwa Mitte der 30er Jahre) forderte: Vorher hatten wir uns über Musik unterhalten und darüber, wie schwierig es ist, heutzutage Brahms zu spielen. Myra Hess spielte Brahms in genau der Weise, die zur Zeit Brahms’ die richtige war. Aber wenn man ihn jetzt so spielte – mit ebender emotionalen Betonung, die den emotionalen Reaktionen der Menschen von damals entsprochen hatte –, wurde die Musik für uns dadurch sinnlos. Es gab nur einen Menschen, den er in den letzten Jahren gehört hatte, nur einen Pianisten, der wirklich gewußt hatte, was diese Musik bedeutete, und sie entsprechend gespielt hatte –, und das war eben der große Brahms. Er hatte einen Riecher dafür, was Musik und was Rhetorik war. So, wie Myra Hess die Sachen spielte, wäre es zu Brahms’ Lebzeiten wirklich Musik gewesen, doch jetzt war es nichts weiter als Rhetorik; und was immer dadurch vermittelt wurde, es war nicht Brahms. 360

Die Familienbriefe bezeugen einen regen Austausch von Schallplatten zwischen den Geschwistern, Empfehlungen von besonders gelungenen Aufnahmen und Kritik an bestimmten Dirigenten oder Interpreten. In der Cambridger Zeit besucht Wittgenstein zahlreiche Bekannte nicht zuletzt um ihres Plattenspielers willen und belagert stundenlang – offensichtlich nicht immer zur Freude der Betreiber – Plattenläden, zum Studieren einer neuen Einspielung. 361 Dabei ist Wittgenstein besonders kritisch gegen allzu empathische Interpretationen musikalischer Werke (oder das, was er als solche empfand, wie eben Myra Hess), z. B. gegen die von Karajan, wie er der Schwester Helene gegenüber bezeugt: »Ich kann mir vorstellen, daß ein sehr keuscher Brahms [es geht um das Requiem] dem Karajan nicht liegt.« 362 Oder an anderer Stelle: Die Platten sind 10 Haydn Quartette und sind weitaus das Beste, was ich finden konnte. Ich wollte Dir das Adagio und Fuge von Mozart schicken, Rhees (Hg.), Wittgenstein: Portraits und Gespräche, S. 268 f. Brief von Margarethe an Ludwig, von Ende 1942, in: McGuinness (Hg.), Familienbriefe, S. 179; es ging hier offenbar um ein Quartett von Robert Schumann. 362 Brief von Ludwig an Helene, undatiert (November 1947), in: McGuinness (Hg.), Familienbriefe, S. 192. 360 361

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wovon es eine sehr schöne Aufführung unter Busch gab. Aber es ist nicht mehr im Druck; dafür aber eine Aufführung von Karajan mit allen den charakteristischen abscheulichen Fehlern. Du wirst auch manches an den Haydn Quartetten auszusetzen haben, aber im Ganzen wirst Du, glaube ich, zufrieden sein. 363

Damit komme ich zu der Frage nach Wittgensteins konservativem Musikgeschmack, die über seine Äußerungen zu bestimmter Musik und Musikern hinaus differenziert beantwortet werden muss. Obwohl Wittgenstein wahrscheinlich so gut wie keine Musik nach Brahms selbst hörte, steht er mit seinem Credo »Ethik und Ästhetik sind Eins« 364 wie in gewissem Sinne auch Schönberg in der Nachfolge von Karl Kraus und Adolf Loos. 365 Kraus war der große Kritiker der Sprache und ihres Missbrauchs durch die »Journaillie«, Sprechen hatte für Kraus immer einen ethischen Anspruch, musste Ausdruck einer geistigen Integrität sein. Wittgenstein, der sonst sehr sparsam umgeht mit dem Eingestehen äußerer Einflüsse, schreibt in den Vermischten Bemerkungen 1931: »So haben mich Boltzmann, Hertz, Schopenhauer, Frege, Russell, Kraus, Loos, Weininger, Spengler, Straffa beeinflußt.« 366 Er lässt sich die Fackel nach Ludwig an Helene vom 17. Juli 1949, in: McGuinness (Hg.), Familienbriefe, S. 199. TLP, 6.421. 365 Zu diesen Zusammenhängen gibt es mehrere, versierte Publikationen, ich beschränke mich daher hier nur auf eine kurze Darstellung dessen, was mir für den Fortgang dieser Arbeit unumgänglich erscheint. Vergl. u. a. Franz Schupp, »Die Ethik der Form. Wiener Kultur und Gegenkultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts«, in: Was du nicht hören kannst, Musik, hrsg. v. Werner Keil, Jürgen Arndt, Christian Zürner, S. 122– 143, sowie den Abschnitt »›Ornamentlosigkeit ist ein Zeichen geistiger Kraft‹ – zu Wittgensteins Tractatus und Schönbergs Harmonielehre«, in: Elisabeth Nemeth, Otto Neurath und der Wiener Kreis. Revolutionäre Wissenschaftlichkeit als politischer Ausdruck, Frankfurt a. M. 1981 (= Campus Forschung Bd. 229), S. 61–75. Vergl. auch Nicholas Cook, »Music theory and ›good comparison‹ : A viennese perspective«, in: Journal of Music Theory, Vol. 33, Nr. 1 (Frühjahr 1989), S. 117–141. Kraus beeinflusste den gesamten Schönberg-Kreis, vergl. hierzu Susanne Rode-Breymann, »Anton Webern and Karl Kraus«, in: Sprachen und Kultur, hrsg. vom Institut für Sprachen und Kultur der Meiji Gakuin Universität Tokio 1998 (= Deutsche Kultur zwischen den beiden Kriegen; Berichte über das Internationale Symposium Anton Webern zu seinem 50. Todesjahr, Tokio 1995) S. 51–81 sowie Dies., Alban Berg und Karl Kraus. Zur geistigen Biographie des Komponisten der Lulu, Frankfurt a. M. u. a. 1988. 366 VB, S. 476. Über Wittgensteins Bewunderung für Otto Weininger ist viel spekuliert und geschrieben worden, vergl. z. B. Davin G. Stern/Béla Szabados (Hg.), Wittgenstein reads Weininger, Cambridge 2004; Rush Rhees erinnert sich »im Hinblick auf Weiningers Thema, die Frauen und das weibliche Element im Manne seien der Ursprung alles 363 364

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Norwegen nachschicken 367 und reagiert auf Kraussche Aphorismen zur Sprache. 368 Schönberg wurde von Kraus gefördert, sogar seine Harmonielehre war in der Fackel beworben worden 369 , und er besaß die meisten ihrer Ausgaben. 370 Schönberg sandte die Erstausgabe der Harmonielehre 1911 an Kraus mit der Widmung: »Ich habe von Ihnen vielleicht mehr gelernt als man lernen darf, wenn man noch selbstständig bleiben will« 371 . Und sein Buch Stil und Gedanke versah er mit der Widmung:

Bösen, rief er [Wittgenstein] aus: ›Wie sehr hat er sich da geirrt, mein Gott, wie sehr hat er sich da geirrt!‹« (Ders. (Hg.), Wittgenstein: Porträts und Gespräche, S. 135). 367 Vergl. Somavilla (Hg.), Wittgenstein – Engelmann, S. 126. Eine Anekdote berichtet von dem ersten und einzigen Treffen zwischen Karl Kraus und Ludwig Wittgenstein. Vermittelt durch Engelmann begegneten sich beide in einem Wiener Café, wo Wittgenstein nach der Überlieferung seines späteren Freundes Werner Kraft während eines Gespräches über einen seiner Lieblingsdichter, Franz Grillparzer, zornig mit der Faust auf den Tisch gehauen haben soll und ausrief: »Der ist ja wohl mehr wert, als Ihr ganzer Stall!«, woraufhin er aus dem Café gestürmt sein soll. Kraus bemerkte darauf verwundert zu Engelmann: »Was haben Sie mir denn da für einen Wilden gebracht?« (Zit n.: Merkel, »Geistige Landschaft« S. 668 f.). 368 Vergl. hierzu Merkel, »Geistige Landschaft«, S. 667 f. Die genauere Beziehung von Wittgenstein und Kraus ist bis in die Werkebene hinein gut dokumentiert und interessiert daher hier nur am Rande. Vergl. insbes.: Werner Kraft, »Ludwig Wittgenstein und Karl Kraus« in: Die Neue Rundschau 72 (1961), Heft 4 (Oktober–Dezember), S. 812– 844; Ders., »Ludwig Wittgenstein und Karl Kraus, direkt und indirekt«, in: Untersuchungen zum Brenner. Festschrift für Ignaz Zangerle zum 75. Geburtstag, hrsg. v. Walter Methlagl, Eberhard Sauermann und Sigard Paul Scheichl, Salzburg 1981, S. 451–459; Ulrich Steinvorth, »Wittgenstein, Loos und Karl Kraus. Eine Kritik der Wittgenstein-Interpretation in Janik und Toulmins ›Wittgensteins Vienna‹«, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung, Bd. 33 (1979), S. 74–89; Janik/Toulmin, Wittgensteins Wien, insbes. S. 79–144; Reinhard Merkel, »Geistige Landschaft mit vereinzelter Figur im Vordergrund«: Ludwig Wittgenstein, in: Merkur 38 (1984), S. 659–671, sowie die Beiträge in Helmut Bachmaier, Paradigmen der Moderne (= Vienese Heritage 3), Amsterdam 1990. 369 Vergl.: Karl Kraus (Hg), Die Fackel, Nr. 339/340, 1911. 370 Vergl. hierzu: Clara Steuermann, »Schoenberg’s Library Catalog«, in: Journal of the Arnold Schoenberg Institute Nr. 2 (1979), S. 216. 371 Vergl. hierzu Schönberg, »Karl Kraus« [1913], in: Arnold Schönberg: Schöpferische Konfessionen, hrsg. v. Willi Reich, Zürich 1964, S. 21. Zum Verhältnis Schönberg-Kraus vergl. auch Bodil von Thülen, Arnold Schönberg. Eine Kunstanschauung der Moderne (= Epistemata, Reihe Philosophie 196), Würzburg 1996, insbes. S. 33–37, sowie Alexander Goehr, »Schoenberg and Karl Kraus: The Idea behind the Music«, in: Music Analysis, Vol. 4, Nr. 1/2, (= Special Issue: King’s College London Music Analysis Conference 1984), März – Juli 1985, S. 59–71.

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Meinen toten Freunden, meinen geistigen Verwandten, meinem […] Adolf Loos, Karl Kraus allen jenen Menschen, mit denen ich so reden konnte, wie ich in einigen Teilen dieses Buches spreche. Sie gehören zu jenen, mit denen man die Prinzipien der Musik, der Kunst, der künstlerischen und bürgerlichen Moral nicht zu erörtern brauchte. Es bestand ein stilles und klares gegenseitiges Einverständnis in all diesen Dingen. Außer daß jeder von uns ständig daran arbeitete, jene Prinzipien zu vertiefen und strenger zu fassen und sie bis ins letzte zu verfeinern. 372

Als Beteiligter wie Beobachter führt Engelmann, der Schüler von Loos und enger Bekannter von Kraus, diese Gedankenlinien zusammen: Die Einsicht [Wittgensteins] in den wesentlichen Zusammenhang zwischen dem Ästhetischen (offenbar auch dem Logischen) und dem Ethischen liegt, wenn auch unter einem anderen Aspekt, auch Krausens Kritik der dichterischen Sprache zugrunde. Kraus war (nach Weininger) der erste ernste Mahner, der in einer Epoche einseitig ästhetischer Kunst- und Lebensbewertung die entscheidende Bedeutung der Moralität eines Künstlers für sein Werk betont hat; 373

Die sich daraus ergebende Forderung besteht weniger in der Frage nach neuen oder alten Formen, sondern in einer inneren »Moralität« und Verantwortung des Künstlers gegenüber seinem Werk, wie sie Kraus vorlebte. 374 Das ist der einzig akzeptable Ausgangspunkt kreativer Prozesse: Das Gemeinsame von Kraus, Loos und Wittgenstein ist ihr Bemühen, richtig zu separieren und zu trennen. […] Damit, daß Seher etwas gesehen und Denker etwas gedacht haben, ist noch nichts getan. Jetzt fehlt noch die Arbeit einer Generation, um diese Gedanken auf allen Gebieten des Lebens fruchtbar zu machen. Leute, wie Wittgenstein, Kraus, Loos, haben die Möglichkeit geschaffen; […] Nicht die Haltung: ›Das ist ja schon gesagt worden; gehen wir zum nächsten Programmpunkt über; was gibt’s denn Neues?‹ ist die richtige. Sondern: Es ist bloß erst gesagt worden, jetzt kommt die Arbeit, es bis in seine Konsequenzen zu verstehen und anzuwenden. 375

Schönberg, Stil und Gedanke, Widmungsblatt (o. S.). Somavilla (Hg.), Wittgenstein – Engelmann, S. 127. 374 »Für das, was in diesen Blättern gesagt wird, ist […] [der Autor] nicht nur als Herausgeber und verantwortlicher Redakteur haftbar zu machen, sondern auch moralisch und intellektuell.« (Kraus, Die Fackel Nr. 14, S. 15). 375 Somavilla (Hg.), Wittgenstein – Engelmann, S. 131. 372 373

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Intellektuell aufrichtige Arbeit und ein »Wahrhaftigkeitsgefühl« 376 , wie Schönberg sich ausdrückt, und nicht das Beherrschen einer avantgardistischen oder wiederentdeckten Technik entscheiden über die Ethik und mit ihr die ästhetische Bewertung der geschaffenen Leistungen: Adolf Loos (der einmal zu Wittgenstein gesagt hat: ›Sie sind ich!‹) setzt den immer erneuten Versuchen der Architekten seiner Zeit, entweder alte Formen wiederzubeleben oder aber neue, angeblich zeitgemäße zu erfinden, seine Forderung entgegen, zu schweigen, wo man nicht reden kann: nichts zu tun, als in richtiger menschlicher Haltung einen Bau technisch richtig zu konstruieren, woraus sich die richtige, allein wirklich zeitgemäße Form von selbst ergeben muß: sie soll vom Architekten nicht am Gebrauchsgegenstand und am Bauwerk absichtsvoll ausgesprochen werden, sondern sich selbst an ihm zeigen. 377

Auch für Schönberg kommt Kunst »nicht von können, sondern vom Müssen« 378 , so dass das »Wichtigste der Persönlichkeit das tiefste Sichversenken in das eigene Wesen« 379 ist. Eine solche Fähigkeit kann »kaum erworben, jedenfalls aber nicht gelehrt werden.« 380 Man könne dem Schüler, so Schönberg weiter, allenfalls auf dem Wege begleiten »sich selbst zu hören« 381 , und dazu ist es vielleicht sogar schändlich, ihn »moderne[] Kunstmittel« 382 , die nicht selbst erworben sind, zu lehren. »Schönheit«, wenn es denn so etwas gebe, entstehe nicht durch technische oder ästhetische Vorgaben, sondern durch nichts anderes, als eben das »Wahrhaftigkeitsgefühl« (s. o.) eines jeden Künstlers383 und sei verbunden mit seiner Fähigkeit zur »Faßlichkeit«: Form in der Kunst, und besonders in der Musik, trachtet in erster Linie nach Faßlichkeit. Die Entspannung, die der zufriedene Hörer erlebt, wenn er einem Gedanken, seiner Entwicklung und den Gründen für diese Entwicklung zu folgen vermag, ist, psychologisch gesehen, eng verwandt mit einer Empfindung von Schönheit. 384

Schönberg, Harmonielehre, S. 494. Somavilla (Hg.), Wittgenstein – Engelmann, S. 128. 378 Schönberg, »Probleme des Kunstunterrichts«, in: Ders., Stil und Gedanke, S. 165. 379 Schönberg, Harmonielehre, S. 493. 380 Ebd. 381 Ebd. 382 Ebd., S. 494. 383 Zum elitären Zug dieses Gedankens bei Schönberg vergl. Manuel Gervink, Schönberg und seine Zeit, Laaber 2000, S. 231 ff. 384 Schönberg, »Komposition mit zwölf Tönen«, in: Stil und Gedanke, S. 72. 376 377

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Diese Überzeugung vertritt auch Wittgenstein, über den der Freund Engelmann berichtet: »Für ihn war ›der Einfall‹ so entscheidend, daß er seinen eigenen philosophischen Satz nur dann anerkannt hat, wenn er ihm in der richtigen sprachlichen Form eingefallen war.« 385 Eine solche Haltung ist natürlich in gewissem Sinne als »konservativ« zu bezeichnen und findet ihren absoluten Ausdruck in einer von Loos geprägten Formel: »Ich habe mehr Verbindung mit der Wahrheit, und wäre sie Jahrhunderte alt, als mit der Lüge, die neben mir schreitet.« 386 Für Wittgenstein und in gewissem, wenn auch geringerem Ausmaß für Schönberg galten Loos’ Forderungen: ›Neue Formen? Wie uninteressant! Auf den neuen Geist kommt es an. Der macht selbst aus den alten Formen das, was wir neue Menschen brauchen‹ (Adolf Loos). Nicht neue Gegenstandsformen, nicht neue philosophische Systeme sind nötig, um einen wirklich neuen Geist, der zu wirklich neuen Lebensformen führen könnte, auszudrücken. 387

Diesen Gedanken nimmt Wittgenstein für sich und seinen Stil in Anspruch und setzt sich sowohl gegen den Gedanken des unbedingten »Fortschritts des Materials« um seiner selbst willen als auch gegen die historistische Neubelebung alter Formen ein. Bemerkenswerterweise vergleicht er das Ergebnis mit einer musikalischen, und man darf der obigen Ausführung hinzufügen, mit der richtigen Aufführung: Man kann einen alten Stil gleichsam in einer neueren Sprache wiedergeben; ihn sozusagen neu aufführen in einem Tempo, das unsrer Zeit gemäß ist. Man ist dann eigentlich nur reproduktiv. Das habe ich beim Bauen getan. Was ich meine, ist aber nicht ein neues Zurechtstutzen eines alten Stils. Man nimmt nicht die alten Formen und richtet sie dem neuen Geschmack entsprechend her. Sondern man spricht, vielleicht unbewußt, in Wirklichkeit die alte Sprache, spricht sie aber in einer Art und Weise, die der neuern Welt, darum aber nicht notwendigerweise ihrem Geschmacke, angehört. 388

Was in dieser Beziehung die Rolle der »Neuen Musik« im Besonderen betrifft – für Wittgenstein alle Musik nach Brahms – ist Wittgenstein »misstrauisch« (s. u.), räumt aber ein, ihre Sprache nicht mehr zu verstehen:

385 386 387 388

Somavilla (Hg.), Wittgenstein – Engelmann, S. 105. Ebd., S. 129. Ebd. VB, S. 535.

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Der Geist dieser [der europäischen und amerikanischen] Zivilisation, dessen Ausdruck die Industrie, Architektur, Musik, der Faschismus und Sozialismus unserer Zeit ist, ist dem Verfasser fremd und unsympathisch. Dies ist kein Werturteil. Nicht, als ob er glaubte, daß was sich heute als Architektur ausgibt, Architektur wäre, und nicht, als ob er dem, was moderne Musik heißt, nicht das größte Mißtrauen entgegenbrächte (ohne ihre Sprache zu verstehen). 389

Wittgenstein selbst sieht sich nicht mehr in der Lage, »moderne Musik« zu verstehen, wie auch das Ausgangszitat dieses Kapitels bezeugt – er sieht sich einer vergangenen Welt angehörig. Wenn »neue Musik« einen Sinn haben soll, jenseits von Neuem um des Neuen Willen, muss sie notwendigerweise einen der bisherigen Musik ganz verschiedenen Charakter tragen und andere Aufgaben erfüllen. Ein aufschlussreicher Tagebucheintrag rückt ihn – bei aller Verschiedenheit – hier zumindest in die Nähe Adornos 390 : Die Musik der vergangenen Zeiten entspricht immer gewissen Maximen des guten & rechten der selben Zeit. […] darum muß gute Musik die heute oder vor kurzem gefunden wurde, die also modern ist, absurd erscheinen, denn wenn sie irgend einer der heute ausgesprochenen Maximen entspricht so muß sie Dreck sein. Dieser Satz ist nicht leicht verständlich aber es ist so: Das Rechte heute zu formulieren dazu ist so gut wie niemand gescheit genug & alle Formeln, Maximen die ausgesprochen werden sind Unsinn. Die Wahrheit würde allen Menschen ganz paradox klingen. Und der Komponist der sie in sich fühlt muß mit seinem Gefühl im Gegensatz stehen zu allem jetzt Ausgesprochenen & muß also nach den gegenwärtigen Maßstäben absurd, blödsinnig, erscheinen. Aber nicht anziehend absurd (denn das ist das was doch im Grunde der heutigen Auffassung entspricht) sondern nichtssagend. Labor ist dafür ein Beispiel dort wo er wirklich bedeutendes geschaffen hat wie in einigen, wenigen, Stücken. 391

Wenn, so Wittgenstein, »heutzutage« Musik geschrieben werden soll, die eine Geltung für sich beanspruchen kann und die die unsere Lebenswelt bereichern und ihre Aspekte erhellen kann, dann muss sie notwendigerweise kritisch zur eigenen Zeit stehen und sich ihr verweigern, indem sie die Wahrheiten und »Maximen« (s. o.) auf das zurückführt, was sie für Wittgenstein sind, nämlich nichtssagend. Sie müsse sich allem Gefälligen und Interessanten verweigern, um die Brüche 389 390 391

VB, S. 458 (frühere Fassung des Vorwortes zu den PB). Vergl. Theodor W. Adorno, Philosophie der Neuen Musik, Frankfurt a. M. 1978. D, Eintrag vom 17. Januar 1931, S. 38.

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und Abgründe einer Zeit aufzudecken, die nicht nur Wittgenstein als den Untergang des Abendlandes empfand (nicht umsonst gibt Wittgenstein Spengler als einen geistigen Einfluss an). An anderer Stelle notiert Wittgenstein eine vergleichbare Überlegung: Ich sollte mich nicht wundern wenn die Musik der Zukunft einstimmig wäre. Oder ist das nur, weil ich mir mehrere Stimmen nicht klar vorstellen kann? Jedenfalls kann ich mir nicht denken daß die alten großen Formen (Streichquartett, Symphonie, Oratorium etc) irgendeine Rolle werden spielen können. Wenn etwas kommt so wird es – glaube ich – einfach sein müssen, durchsichtig. In gewissem Sinne nackt. 392

Starke Kontraste um ihrer selbst willen, ohne den ethischen Anspruch einer sich selbst und seine Umwelt immer wieder in Frage stellenden Künstler- oder Philosophenpersönlichkeit empfand Wittgenstein als unterträglich. Und wenn etwas nicht ethisch rückgebunden war, konnte es eben auch nicht ästhetisch sein. Und so schreibt er – kulturpessimistisch – drei Jahre vor seinem Tod an die Schwester Helene: Du schreibst, daß ihr jetzt Musik mit starken Kontrasten gewöhnt seid. Ich glaube, mir wäre das ungemein zuwider. Ich glaube, ich hätte das größte Mißtrauen gegen so eine Auffassung. Aber vielleicht auch nicht; und vielleicht verstehe ich die neuere Zeit nicht. 393

392 393

D, Eintrag vom 4. Oktober 1930, S. 31. Brief von Ludwig an Helene vom 15. März 1948, Familienbriefe, S. 195.

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III. Musik und Sprache Man kann auch vom Verstehen einer musikalischen Phrase sagen, es sei das Verstehen einer Sprache. 1

Weder Sprache noch Musik lassen sich aus dem herauslösen, was Wittgenstein mit der Gesamtheit der »Lebensform« beschreibt, und diese drückt sich am deutlichsten in dem aus, was wir beständig tun: Sprechen. Unsere Sprache ist ein Bild unserer Lebensform. Ebenso dürfte deutlich geworden sein, dass auch unsere Musik, und alles was mit ihr zusammenhängt, einen Teil dieses Bildes ausmacht. Die methodische Begründung für die Bezeichnung eines eigenen Kapitels über Musik und Sprache ist daher lediglich mit der Auswahl derjenigen Aussagen Wittgensteins gegeben, die sich tatsächlich »im engeren Sinne« mit diesem Zusammenhang befassen. Diese Aussagen benötigen allerdings, um ihre Bedeutungsbandbreite zu entfalten, den Hintergrund der bisher erörterten »Aspekte«, ohne den sie möglicherweise wenig aussagekräftig, zumindest aber missverständlich erscheinen. Weil Wittgenstein sich, wie weiter oben beschrieben, vom referentiellen Modell der Sprache abwendet und das Gegenbild der Sprache als »sozialer« 2 Praxis entwirft, kann er ohne Umstände behaupten: Man kann auch vom Verstehen einer musikalischen Phrase sagen, es sei das Verstehen einer Sprache. 3

Wenn der Ausgangspunkt der Frage, ob Musik eine Sprache sei, nicht mehr von der Beziehung zwischen Wort und Welt ausgeht, sondern in einer Beschreibung dessen münden soll, wie Worte und Musik in verschiedenen Kontexten menschlicher Praxis und menschlichen Handelns genutzt werden, wird ein »Grundproblem« des Musik-Sprache Diskurses obsolet: Dass Musik nicht auf Gegenstände verweisen könne. Z, Nr. 172. »Sozial« steht in Anführungszeichen, da man Wittgenstein nicht im Sinne von »soziologisch« überinterpretieren kann und sollte. Er gibt zwar den theoretischen Rahmen und entscheidende Anstöße mit seinem Begriff der »Lebensform« und der »Sprachspiele«, aber Wittgenstein selbst ist kein Sozialphilosoph. 3 Z, Nr. 172. 1 2

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Wittgenstein erweitert unser Verständnis von Sprache, indem er anhand zahlreicher Beispielsituationen zeigt, dass es der Realität der Sprache nicht gerecht wird, sie zu Gunsten theoretischer Untersuchungen auf wahrheitsfähige Ausdrücke (Propositionen) zu reduzieren. Mitglieder einer Sprechergemeinschaft verwenden die Sprache auch, um auf Gegenstände oder konkrete Ereignisse zu verweisen und auch, um wahre (oder falsche) Propositionen zu äußern – aber eben bei Weitem nicht nur. Das erlaubt uns, auch Literatur nicht mehr länger als Sonderfall betrachten zu müssen, in dem die Sprache anders funktioniert als im alltäglichen Gebrauch. Literatur ist für Wittgenstein nicht ein isoliertes sprachliches Phänomen, sondern kann vielmehr als eine Form sprachlichen Handelns unter vielen ernst genommen werden. Weder bleiben die allgemeinen Regeln der Sprache in der Literatur außer Kraft (es geht immer um die »primäre Bedeutung« der Worte, also unsere Kenntnis von ihrem regulären Gebrauch, nur eben in einem ungewöhnlichen Kontext) noch bezieht sich ein Gedicht auf »andere Welten«. Vielmehr liefert Literatur Beiträge zum Verständnis unserer aktuellen Welt, ist Bestandteil unserer Lebensform. Literarische Texte spielen demnach eine zentrale Rolle in dem komplexen System Sprache. Sie zeichnen sich nicht vornehmlich durch eine andere Form als beispielsweise der eines rein informativen Wetterberichtes aus, sondern durch eine andere Funktion in demselben System: »Literarische Texte zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen das Augenmerk nicht so sehr darauf gerichtet wird, was gesagt wird, sondern vielmehr darauf gerichtet wird, wie es gesagt wird. Die literarische Sprache thematisiert sich selbst, sie lenkt die Aufmerksamkeit mehr auf das Material des Ausdrucks als auf den Gehalt.« 4 Die Sprache macht sich selbst zum Thema: Sie zeigt auf, was gesagt werden kann und vor allem, wie es gesagt werden kann. Literatur lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten der Grammatik – sie führt uns vor Augen, in welchen Kontexten welche Wörter verwendet und mit anderen Wörtern kombiniert werden können. 5 Hier zeigt sich noch einmal die soziale NotWolfgang Huemer, »Wittgenstein, Sprache und die Philosophie der Literatur«, in: Wittgenstein und die Literatur, hrsg. v. John Gibson und Wolfgang Huemer, Frankfurt a. M. 2006, S. 9–32, hier S. 17. 5 Einen vergleichbaren Ansatz vertritt auch David Schalkwyk in seinem Aufsatz »Fiction as ›Grammatical‹ Investigation: A Wittgensteinian Account«, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 53 (1995), S. 287–298: »Fiction can make telling revelations: not by producing empirical discoveries, but by bringing into relief the surface connecti4

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wendigkeit dessen, was Wittgenstein unter einem »kreativen Regelverstoß« versteht (vergl. Kapitel »Regeln folgen«): »Indem sie […] neue Ausdrucksmöglichkeiten für das, was nur schwer auszudrücken ist, erschließen, gehen Poeten bis an die äußersten Grenzen der Sprache – und gelegentlich auch darüber hinaus. Selbst wenn sie die Regeln der Alltagssprache verletzen, lenken sie unsere Aufmerksamkeit auf ebendiese Regeln und öffnen sie der Kritik. Kurzum: Sie erstellen knappe und präzise Schaukästen, in denen vorgeführt wird, wie Sprache funktioniert; so erkunden – und erweitern – sie deren Grenzen.« 6 Es ist offensichtlich, dass solche Behauptungen für Musik gleichermaßen gelten: Daß die Musik nach Mozart (besonders natürlich durch Beethoven) ihr Sprachgebiet erweitert hat, ist weder zu preisen, noch zu beklagen; sondern: so hat sie sich gewandelt. 7

Es ist die Aufgabe der Musik wie der Sprache, dieses »Sprachgebiet« beständig zu erweitern. Und zwar nicht im Sinne eines fragwürdigen, beständig innovativen »Fortschrittsdenkens« 8 , sondern auch innerhalb bereits abgesteckter Grenzen: Auch eine Aufführung eines bekannten Stückes kann zum »Schaukasten« der »Kritik« des jeweiligen Ausdrucks werden, worauf ein anderer Aspekt der bereits zitierten Bemerkung Wittgensteins hinweist: Wenn ich ein Menuett bewundere, kann ich nicht sagen: ›Nimm ein anderes es erzielt den gleichen Effekt.‹ Was meinst du? Es ist nicht das gleiche. 9

Exakt die vom Komponisten oder der Komponistin gewählte Form, mit der Grammatik der Musik umzugehen, exakt ihre Regelverstöße und kreativen Umdeutungen, exakt die Art, wie diese Musik gegen Grenzen unserer Hörgewohnheiten und habituellen Muster der Alltagswahrnehmung unserer Lebenswelt anrennt, ist ihr kritisches Potential, das wir letztlich als »sprachlich« empfinden: Diese Musik »sagt« uns dann »etwas«, sie ist kreative Kritik ihres eigenen Ausdrucks. Das Geons – the conceptual relations of ›grammar‹ – that are always already ›there‹ in our practices.« (ebd. S. 296 f.). 6 Huemer, »Wittgenstein, Sprache und die Philosophie der Literatur«, S. 19. 7 VB, S. 528. 8 Vergl. zu Wittgensteins von Loos geprägter Auffassung dieses »Fortschrittsdenkens« auch Kapitel »Interpretation und Stil«. 9 VÄ IV, § 9. Ich werde weiter unten auf einen weiteren Aspekt dieser Bemerkung zurückkommen.

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fühl dieser Sprachlichkeit erscheint als »etwas Wichtiges und Großes«, so Wittgenstein (wenn es auch nicht in jeder Musik vorhanden ist oder vorhanden sein muss und kein Wertungskriterium darstellt): Denke dran, wie man von Labors Spiel gesagt hat ›Er spricht‹. Wie eigentümlich! Was war es, was einen in diesem Spiel so an ein Sprechen gemahnt hat? Und wie merkwürdig, daß die Ähnlichkeit mit dem Sprechen nicht etwas uns Nebensächliches, sondern etwas Wichtiges und Großes ist! – Die Musik, und gewiß manche Musik, möchten wir eine Sprache nennen; manche Musik aber gewiß nicht. (Nicht, daß damit ein Werturteil gefällt sein muß!) 10

Nebenbei: Die vorsichtige Vermutung liegt nahe, dass das »Wichtige und Große« des Sprechens der Musik bei Wittgenstein möglicherweise auch biographisch motiviert ist. Nicht, dass dies unbedingt einen Einfluss auf die philosophischen Bemerkungen zu Musik und Sprache gehabt haben muss, womöglich kann dieser biographische Kontext aber ein Licht auf den unbekümmerten Zugang werfen, den Wittgenstein von Anfang an zur Verankerung musikalischer Gesten und Gebärden in der sozialen Praxis hatte, was seinerzeit nicht gerade den Normalfall darstellte. Sobald Wittgenstein sich nämlich längere Zeit in bestimmten Gesellschaften befand, wiederholte er, wo immer es möglich war, ein Kommunikationsmuster, dass er von Kind auf beobachtet hatte: zwischen eigenständigen, mitunter schwierigen Persönlichkeiten ließ sich eine harmonische Basis am schnellsten über gemeinsames Musizieren herstellen. »Die Musik spielt eine tragende verbindende, harmonisierende Rolle in der Familie: sie ist, wenn nicht die einzige, so doch die stärkste Verbindung zwischen den Familienmitgliedern. […] Vater Karl hatte die Mutter Leopoldine beim Musizieren erobert, die Geschwister kommunizierten miteinander über Musik, schenkten einander Schallplatten, empfahlen einander Aufnahmen.« 11 Ob während seiner Militärzeit in Olmütz 12 , seiner Schullehrerzeit mit Rudolf Koder 13, während seiner Gefangenschaft in Monte Cassino 14 oder später in Cambridge mit verschiedenen Freunden und vor allem im Umkreis von Moore und Russell: 15 Wo immer es möglich war, suchte WittgenVB, S. 538. Zur Rolle Labors vergl. Kapitel »Interpretation und Stil«. Irene Suchy, »Sein Werk – die Musik des Produzenten-Musikers Paul Wittgenstein«, in: Empty Sleeve, S. 24. 12 Vergl. Somavilla (Hg.), Wittgenstein – Engelmann, S. 87 f. 13 Vergl. den Briefwechsel mit Ludwig Koder, in: Alber (Hg.), Wittgenstein. 14 Vergl. Alber (Hg.), Wittgenstein, Bildteil (o. S.). 15 Vergl. zahlreiche Belege dafür bei McGuinness und Rush Rhees. 10 11

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Musik und Sprache

stein sich Musik als identitätsstiftende Mitte einer Gemeinschaft. 16 Das mag vielleicht auch ein Grund dafür gewesen sein, warum das Problem der Sprachlichkeit von Musik bei Wittgenstein von Anfang an ausschließlich in einem sozialen Kontext zu denken ist: Weist das [musikalische] Thema auf nichts außer sich? Oh ja! Das heißt aber: – Der Eindruck, den es mir macht, hängt mit Dingen in seiner Umgebung zusammen – z. B. mit unserer Sprache und ihrer Intonation, also mit dem ganzen Feld unserer Sprachspiele. 17

Das Verstehen von Musik ist damit ebenso wie das Verstehen von Sprache in ein Netz von Sprachspielen eingebettet. Ohne die musikalische Umgebung ist nicht nur kein Verständnis möglich, außerhalb ihrer hat die Musik auch gar keine »Mitspieler« und verliert ihren Sinn. Eine absolute, das heißt von der menschlichen Rezeption losgelöste Musik hat in diesem Sprachspiel keinen Ort. Ein Spiel, welches nicht gespielt wird, verschwindet aus dem Bewusstsein der Spielenden. Damit ist nichts über die Qualität oder über Eigenschaften des Materials dieser Musik gesagt, sondern nur, dass ihr gegebenenfalls – aus verschiedensten Gründen – die »Mitspieler« fehlen. Betrachtet man die Fälle »vergessener« Kompositionen, wird dieser Zusammenhang musikhistorisch bestätigt: »Im Allgemeinen ist nichts anderes gemeint, als daß ein Werk […] aus der musikalischen Praxis verschwunden ist (oder sich niemals in ihr zu etablieren vermochte) und daß Versuche, die abgebrochene Überlieferung wiederherzustellen, entweder scheiterten oder […] überhaupt nicht unternommen wurden.« 18 Wird ein Werk als etwas rehabilitiert, dessen Bedeutung es nie besessen hat, kann es zu »produktiven Missverständnissen« 19 kommen – Bestandteile des ehemaligen »Spiels, das zu wenige spielten«, werden in ein neues, zeitgemäßes überführt – wie z. B. 16 Auch andere Familienmitglieder suchten sich solche Strategien. Beispielhaft für diese »großbürgerlichen« Ansätze sind in diesem Zusammenhang vielleicht Hermine Wittgensteins autobiographische Lebenserinnerungen. Vergl. dazu Nicole L. Immler, »Familienerinnerungen – Heimatmuseum des Großbürgertums?«, in: Wittgenstein und die Zukunft der Philosophie. Eine Neubewertung nach 50 Jahren. Beiträge des 24. Internationalen Wittgenstein Symposiums in Kirchberg, 12.–18. August 2001, Bd. IX/1, Kirchberg 2001, S. 343–354. 17 Z, Nr. 175. 18 Carl Dahlhaus, »Vergessene Komponisten«, in: Ders., Allgemeine Theorie der Musik I. Historik – Grundlagen der Musik – Ästhetik (= Gesammelte Schriften Bd. 1), S. 247 f. 19 Vergl. ebd., S. 249.

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Bachs Kirchenmusik als Konzertmusik eine neue Zuhörerschaft gesichert wurde. Warum die einen Traditionen überdauern, andere absterben, ist ein komplexes Phänomen, bei dem unter anderem Ideologie, Nationalitäten, Gattungsfragen und musikalische Institutionengeschichte eine Rolle spielen, selten dagegen materiale Eigenschaften der Musik. Dass z. B. die Musik Joseph Leopold von Eyblers auch im Zeitalter der allverfügbaren Aufnahmen nicht mehr (oder kaum) gehört wird, die seines Zeitgenossen Mozart hingegen sehr wohl, hat nichts mit ihrem Bekanntheitsgrad zu Lebzeiten zu tun und womöglich nur wenig mit objektiven Eigenschaften ihrer Musik: Das Veralten von Schriftstellern, die schließlich etwas waren, hängt damit zusammen, daß ihre Schriften von der ganzen Umgebung ihrer Zeit ergänzt, stark zu den Menschen sprechen, daß sie aber ohne diese Ergänzung sterben, gleichsam der Beleuchtung beraubt, die ihnen Farbe gab. 20

Wenn wir bestimmte Musik nicht mehr hören wollen, an ihnen keine Aspekte mehr wahrnehmen, die uns Einsichten in das Funktionieren unserer Lebensform, mithin auch unserer Sprache geben, dann hat sich nicht etwa die Musik geändert, sondern die hinter ihr stehende Sinnkonstitution: unsere Kultur. Musik ist daher wie Literatur gerade kein Nischenphänomen, sondern in die alltägliche Lebenspraxis eingewoben. Genauso ist ihre Interpretation kein unterhaltsames und beliebiges Ornament, sondern eine sprachliche Praxis, ohne deren zentralen Stellenwert wir wahrscheinlich gar nicht in der Lage wären, eine so komplexe Kultur-Sprache zu erlernen. Wittgenstein malt diesen Gedanken mit einem unterhaltsamen Bild aus, auf das wir uns kurz einlassen sollten, denn es erklärt, warum Musik gerade aus diesem Grunde viel mehr dem entspricht, was wir »Sprache« nennen, als andere Phänomene: Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen. 21 VB, S. 562. PU II, xi, S. 358. Dieser Satz ist in der Wittgenstein-Exegese vielfach zitiert und interpretiert worden. Die Bandbreite der Auslegungen reicht dabei von philologischen Untersuchungen bis hin zu Abhandlungen über das Verhalten von Tieren und deren Rechten. Um zu verdeutlichen, wieso diese Bemerkung bei dem Problem des Verstehens und Interpretierens von Musik weiterhelfen kann, greife ich auf die einflussreiche Interpretation von George Pitcher zurück. Pitchers Deutung hat viel Kritik und Gegendarstellungen erfahren, die in dem Aufsatz von C. Grant Luckhardt, »Das Sprechen des Löwen«, in: Wittgenstein über die Seele, hrsg. v. Eike v. Savigny und Oliver R. Scholz,

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Warum eigentlich nicht? »Wir könnten einen Löwen nicht verstehen, weil auch dann, wenn er grammatisch richtige Sätze äußern könnte, sein Verhalten sich vermutlich zu sehr von unserem unterscheiden würde. Angenommen z. B., ein Löwe sagt: ›Es ist jetzt drei Uhr‹, schaut aber nicht auf die Uhr – dann können wir uns denken, daß es nur ein Glücksfall wäre, wenn er das tatsächlich um drei Uhr sagte. Oder angenommen, er sagt: ›Du meine Güte, es ist drei; ich muß mich beeilen, um rechtzeitig hinzukommen‹, bleibt aber liegen, gähnt und bemüht sich gar nicht aufzustehen, so wie Löwen es eben tun. Wenn das Verhalten des Löwen sonst in jeder Hinsicht genau das eines gewöhnlichen Löwen ist, abgesehen von seiner erstaunlichen Fähigkeit, deutsche Sätze zu äußern, dann könnten wir unter diesen Umständen nicht sagen, er habe die Feststellung getroffen oder behauptet, es sei drei Uhr, wenn er auch die passenden Wörter geäußert hat. Wir könnten nicht feststellen, was er, wenn überhaupt, behauptet hat, denn die Verhaltensweisen, in welche sein Gebrauch von Wörtern verwoben ist, sind von unseren zu sehr verschieden. Wir würden ihn nicht verstehen, weil er die dafür wichtigen Lebensformen nicht mit uns teilt.« 22 Im Gegensatz zum Löwen teilen aber der Musikschaffende und der Interpret unsere Lebensform, die Verwobenheit unserer Sprachspiele. Nach dieser Deutung können wir zwar bis zu einem gewissen Grade die Sprachen anderer Kulturen, z. B. das Chinesische erlernen, niemals aber den Löwen verstehen, da wir nicht seine Lebensform teilen 23 : Also, ob ein Wort eines Stammes richtig durch ein Wort der deutschen Sprache wiedergegeben wurde, hängt von der Rolle ab, die jenes Wort im ganzen Leben des Stammes spielt; das heißt von den Gelegenheiten, bei welchen es

Frankfurt a. M. 1995, S. 253–267 zusammengefasst und überzeugend dargestellt wird. Luckhardts Hauptthese soll weiter unten noch Beachtung finden, zunächst erlaube ich mir trotzdem, Pitchers Deutung zu zitieren, da ich das Bild, welches er entwirft, für einleuchtend und erhellend halte. 22 George Pitcher, Die Philosophie Ludwig Wittgensteins, übersetzt von Eike v. Savigny, Freiburg/München, 1969, S. 282 f. 23 Es geht Wittgenstein nicht um Beobachtung von Tierforschern, die womöglich bis zu einem gewissen Grade die Äußerungen eines Löwens deuten können, sondern um antropomorphe Sprachen. Auch der Einwand einer rudimentären Primatensprache kann hier getrost beiseite gelassen werden, es geht um das Bild, nicht um die Möglichkeiten und Grenzen von Tierbeobachtung.

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gebraucht wird, den Ausdrücken der Gemütsbewegung, von denen es im allgemeinen begleitet ist, den Eindrücken, die es erweckt, etc., etc. 24

Nehmen wir aber an, der Löwe spricht nicht deutsche Sätze – einfach wie ein Papagei – sondern er spräche »löwisch«, mit all den Implikationen, die seine Lebenswelt bedeuten, gäbe es einen weiteren Grund, warum wir sein »Sprechen« nicht als Sprache erfassen könnten, und Wittgenstein stellt diesen Grund in den Kontext von Musikverstehen: Verstehen eines Musikstücks – Verstehen eines Satzes. Man sagt, ich verstehe eine Redeweise nicht wie ein Einheimischer, wenn ich zwar ihren Sinn kenne, aber, z. B., nicht weiß, was für eine Klasse von Leuten sie verwenden würde. Man sagt in so einem Falle, ich kenne die genaue Schattierung der Bedeutung nicht. 25

Bei dem Löwen ist es nicht schwierig – wie im Chinesischen 26 – sondern schlicht unmöglich diese Schattierungen zu erkennen. Wir stützen uns bei der Verständigung in einer fremden (und natürlich auch der eigenen Sprache) auf Gesichtsausdruck und Gebärden des Sprechers, um ihn zu verstehen – die sprichwörtliche Verständigung »mit Händen und Füßen«, die immer mehr oder weniger funktioniert: Du wirst finden, daß die Rechtfertigung dafür, einen Ausdruck ›Ausdruck des Zweifels‹, ›der Gewißheit‹, etc., zu nennen, zu einem großen Teil, wenn auch nicht ausschließlich, in Gebärden, im Gesichtsausdruck des Sprechenden und dem Ton der Stimme liegt.« 27

Die Mimik des Löwens ist aber nicht mit der menschlichen vergleichbar. Er lächelt nicht oder gibt mit seinem Gesichtsausdruck seinen Worten eine ironische Bedeutung. Das Bezugssystem unseres Verständnisses ist die gemeinsame menschliche Handlungsweise, mittels derer wir uns eine fremde Sprache deuten. 28 So unterschiedlich diese Anhaltspunkte im Einzelnen sein mögen, sie sind zumindest Anhaltspunkte zum Verstehen. Folglich verstünden wir den Löwen – wie auch immer er spricht – nicht im Sinne einer Sprache, denn Sprache und Bedeutung sind in erster Linie soziale, in unseren zwischenmenschlichen Praktiken verankerte Phänomene. 24 25 26 27 28

EPhB I, Nr. 52, S. 149. BPP I, § 1078. »Chinesische Gebärden verstehen wir so wenig, wie chinesische Sätze« (Z, Nr. 219). EPhB I, Nr. 52, S. 149. Vergl. Luckhardt, »das Sprechen des Löwen«, S. 263 ff.

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Musik als eine Sprache verstanden erfüllt im Gegensatz zum »sprechenden« Löwen beide dem »Löwischen« fehlenden Bedingungen. Sie ist in unsere soziale Praxis eingewoben, sie ist Bestandteil unserer ganz speziellen Lebensform, und wir erkennen in ihr dasselbe gestische Repertoire, mithilfe dessen wir uns verständigen. Im Grunde kann man Musik daher, wie Wittgenstein immer wieder feststellt, in gewissem Sinne zu Recht als Sprache bezeichnen. Welche terminologischen Implikationen diese Feststellung genau mit sich bringt, hält Wittgenstein nicht nur für überflüssig, sondern auch wieder für irreführend, aus falsch verstandener Wissenschaftlichkeit heraus auszudifferenzieren: Statt etwas anzugeben, was allem, was wir Sprache nennen, gemeinsam ist, sage ich, es ist diesen Erscheinungen gar nicht Eines gemeinsam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden, – sondern sie sind miteinander in vielen verschiedenen Weisen verwandt. Und dieser Verwandtschaft, oder dieser Verwandtschaften wegen nennen wir sie alle ›Sprachen‹. 29

Diese »Sprachen« ähneln sich untereinander hinsichtlich ihrer Erscheinungsform genausowenig, wie das Memory- und das Fußballspiel, trotzdem bezeichnen wir beide als Spiele. Das liegt in keiner Weise an feststellbaren Ähnlichkeiten dieser Spiele, sondern an dem Ort, den sie in der sozialen Praxis einnehmen. (Wittgenstein stellt sich einen Außerirdischen vor, dem man anhand solcher unterschiedlichen Spiele die Bedeutung des Begriffes »Spiel« beibringen sollte, was natürlich entweder dann möglich ist, wenn er alle denkbaren Spiele kennen lernt, was aufgrund ihres kreativen, sich entwickelnden Charakters gar nicht geht, oder wenn er vertraut genug mit der menschlichen Lebensform ist, um die vielen Funktionen von Spielen in der Gesellschaft zu begreifen.) Anstatt also danach zu suchen »was ihnen allen gemeinsam ist« (s. o.), sollten wir vielmehr die Verwandtschaftsgrade zwischen dem Sprachspiel einer bestimmten Musik und eines bestimmten Feldes der Sprache untersuchen, deren »Familienähnlichkeiten« 30 sowie unsere kulturell eingespielte Kenntnis derselben: Die Grammatik des Wortes ›wissen‹ ist offenbar eng verwandt mit der Grammatik der Worte ›können‹, ›imstande sein‹. Aber auch eng verwandt der des Wortes ›verstehen‹. (Eine Technik ›beherrschen‹). 31 29 30 31

PU I, § 65. PU I, § 67. (Vergl. zu diesem Begriff Kapitel »Morphologische Methode«). PU I, § 150.

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Musik und Sprache

Was uns etwa für den Umgang mit Musik und ihrer Bedeutung selbstverständlich erscheint, nämlich dass es das Beherrschen einer Technik ist, mittels derer wir verstehen, ohne die Bedeutung bestimmter musikalischer Ereignisse definieren zu können, überträgt Wittgenstein auf die Sätze der Sprache: Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen. Eine Sprache verstehen, heißt, eine Technik beherrschen.32

Sprechen können bedeutet, Verhaltensweisen innerhalb einer Gemeinschaft zu beherrschen. Eine »Familienähnlichkeit« zwischen Musik und Sprache ist mithin die unablässige Verbesserung des »sich Auskennens« 33 , denn (wie bereits zitiert): Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen. Du kommst von einer Seite und kennst dich aus; du kommst von einer andern zur selben Stelle, und kennst dich nicht mehr aus. 34

Ich habe Musik weiter oben als »Stadtteil der Sprache« beschrieben, als Bestandteil dieses Labyrinthes, in dem es gilt, sich »auszukennen«. Der soziale Zug des Sprachspiels ermöglicht Wittgenstein schließlich, einen Schritt über eine in der Romantik verwurzelte Musikphilosophie hinauszugehen, ein Schritt, dessen so völlig unmetaphysische Umsetzung bisher nie dagewesen war. Denn sahen Ästhetiker seit jeher die Musik gerne in Analogie zur Sprache (oder gingen zumindest von einer Sprachähnlichkeit der Musik aus), kehrt Wittgenstein die Projektionsrichtung um und vergleicht unser sprachliches Bedeuten und Verstehen mit demjenigen der Musik: Das Verstehen eines Satzes der Sprache ist dem Verstehen eines Themas in Musik viel verwandter, als man etwa glaubt. Ich meine es aber so: daß das Verstehen des sprachlichen Satzes näher, als man denkt, dem liegt, was man gewöhnlich Verstehen des musikalischen Themas nennt. 35

PU I, §199. Insofern ist Sarah Worth etwas zu weit gegangen, wenn sie erklärt: »Although music is not a language, Wittgenstein considers it to have special, different, comparable capabilities which give it a power to help us understand language, just as an understanding of language illuminates the nature of meaning in music.« (Worth, »Wittgensteins Musical Understanding«, S. 166. Das ist zwar tatsächlich eine Rolle, die Wittgenstein der Musik zuschreibt, aber nur, weil sie in gewissem Sinne eben ein Teil der Sprache ist. 34 PU I, § 203. 35 PU I, § 527. 32 33

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Ausdruck – Bedeutung – Selbstreferentialität – Formalismus?

Damit kann hier der Bogen geschlossen werden zu dem Gedanken des Tractatus, dass die Musik etwas zu verstehen gebe bzw. zeige, das in beschreibenden Sätzen nicht gesagt werden kann (vergl. Kapitel »Sagen und Zeigen«): Zur Erklärung eines sprachlichen Satzes definiert man nicht seine einzelnen Elemente, indem man sagt, was die verwendeten Zeichen in der Wirklichkeit repräsentieren sollen, sondern – so ließe sich die Analogie im Sinne Wittgensteins erläutern – man vergleicht den Satz mit anderen, verwandten Sprachspielen, in dem etwa ein vorkommender Ausdruck oder ein aufscheinender Aspekt ebenfalls gebraucht wird, d. h. man führt unterschiedliche Möglichkeiten des Gebrauchs eines sprachlichen Zeichens vor. Das ist schließlich auch die Art und Weise, wie Musikverstehen funktioniert: Ich kann ein musikalisches Ereignis nur deuten, wenn ich vergleichbare Ereignisse bereits in anderen Kontexten kennen gelernt habe, ob es sich dabei um einen Dominantseptakkord handelt, um eine »klagende Melodie« oder um ein kratzendes Geräusch. Die Komplexität der Situationen, die Ausführung von Handlungen, das Spiel des Deutens scheinen für das »Verstehen eines Satzes in der Sprache« ebenso entscheidend wie für »das Verstehen eines Themas in der Musik« (s. o.).

Ausdruck – Bedeutung – Selbstreferentialität – Formalismus? An dieser Stelle könnte man die Wittgenstein-Lektüre beenden und seine Bemerkungen zu Musik als einem kulturell erlernten Sprachspiel als Bereicherung für eine hermeneutisch geprägte Rezeptionsästhetik verstehen, wäre da nicht ein weiterer Aspekt. In Anbetracht der übermächtigen Gefühlsästhetik äußert Wittgenstein an mehreren verstreuten Stellen eine vergleichbare Bemerkung: Auf eine solche Darstellung sind wir versucht zu antworten: ›Musik vermittelt uns sich selbst‹. 36

Befindet sich Wittgenstein trotz all seiner Bemerkungen zur Musik als sozialer Praxis letztlich doch im Gefolge Eduard Hanslicks, der (musikalischen) Autonomie-Ästhetik und ist schließlich sogar Formalist? 37 36 37

EPhB II, Nr. 22, S. 273. Vergl. zu den folgenden Ausführungen auch Katrin Eggers, »Form und Inhalt in der

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Musik und Sprache

In der Literatur zu Wittgensteins Verhältnis zur Musik sind Aussagen wie diese entsprechend interpretiert worden. 38 Peter Faltin, der sich als einer der ersten mit Wittgensteins Bemerkungen zur Musik befasste, kam zu dem Schluss: »Wittgenstein bezieht hier die radikale Position der Autonomie-Ästhetik. Die ›Vorlesungen‹ erwecken den Eindruck, als seien sie eine brillantere Version von Hanslicks Ästhetik« 39 . Bezeichnenderweise bleibt bei Faltin im Übrigen vollkommen unklar, was mit einer »brillanteren Version« gemeint sein soll. Hanslick legt ein geschlossenes, mehrfach überarbeitetes und nach wie vor einflussreiches Buch vor, Wittgenstein äußert lediglich einige verstreute Bemerkungen zur Musik, die unkommentiert schwer verständlich sind. Fanselau schließt sich Faltin an und resümiert etwas konkreter: »Die Auffassung der Musik als in sich abgeschlossene, nur auf ihre eigene, innere Beschaffenheit verweisende Kunst ist dabei fest in der Tradition der musikalischen Autonomieästhetik verwurzelt, der Wittgenstein jedoch neue Deutungshorizonte eröffnet.« 40 Wobei diese neuen »Deutungshorizonte« ebenfalls nicht weiter ausgeführt werden. In jüngster Zeit schließlich behauptet Hanne Appelquist: »That Wittgenstein held a formalistic view on music, independently of his work in philosophy should not be particularly surprising. His background certainly would have encouraged a formalistic attitude. This is because, in Wittgenstein’s youth, the Viennese musical circles were roughly divided into two camps. The first of these celebrated Wagner’s new ideas on musical expression; the second fostered a more traditional approach on music. The musical icon of the traditional camp was Brahms, his foremost advocate being Hanslick. Wittgenstein’s own family was extremely musical, and had close ties to the traditionalist Brahmsian camp.« 41

Musik – Wittgensteins Beitrag zu einem zentralen musikphilosophischen Problem«, in: Bild und Bildlichkeit in Philosophie, Wissenschaft und Kunst (Image and Imaging in Philosophy, Science, and the Arts), Papers of the 33. International Wittgenstein Symposium, hrsg. v. Heinrich, Richard/Nemeth, Elisabeth/Pichler, Wolfram, Kirchberg am Wechsel 2010. 38 Eine Ausnahme bildet der Text von Boris Voigt, »Musik und Musikverstehen bei Ludwig Wittgenstein«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Heft 52/1 (2007), S. 119–131. 39 Faltin, Bedeutung ästhetischer Zeichen, S. 165. 40 Fanselau, »Die Musik bei Wittgenstein«, S. 87. 41 Appelquist, conditions of musical communication, S. 134, Fußnote 57; im Haupttext

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Ausdruck – Bedeutung – Selbstreferentialität – Formalismus?

Mit der persönlichen Beziehung der Familie Wittgenstein zu Johannes Brahms und der bei Weitem nicht gänzlichen Ablehnung der Musik Richard Wagners habe ich mich weiter oben näher befasst (vergl. Kapitel »Interpretation und Stil«). Allein von dieser persönlichen Verehrung der Familie auch Ludwig Wittgenstein in das »Lager« der Formalisten einzuordnen, ist zwar naheliegend, verfehlt aber nichts desto trotz Wittgensteins eigentlichen Ansatz; seine »musikästhetische Position« im Kontext der Zeit ist nicht so klar zu bestimmen, wie es zunächst scheinen mag. Die Formalismus-/Autonomie-/Gefühlsästhetik-Debatte in der Musik und Musikkritik ist einer der zentralen ästhetischen Diskurse des 19. Jahrhunderts und in zahllosen Arbeiten der Literatur kenntnisreich behandelt worden. 42 Um Appelquists Behauptung zu relativieren, Wittgenstein hätte sich bei der »Teilung in zwei Lager« (s. o.) auf die Seite der Brahmsianer geschlagen, komme ich aber nicht umhin, etwas weiter auszuholen und zwei Positionen des historischen Umfelds zu skizzieren, auf deren Folie sich Wittgensteins Andersdenken erweisen wird. Zum einen handelt es sich dabei um einige bekannte Zitate von Hanslick, dem ich als Antipode August Wilhelm Ambros entgegenstelle. Ich wähle Ambros, weil mich nicht die historische Entwicklung oder gar die polemische Seite des Streites interessiert, sondern vielmehr der Tatsache Rechnung getragen werden soll, dass Wittgensteins Argumente sich durchaus in einigen Fällen auch dieser »gegnerischen Seite« zuordnen ließen, insgesamt betrachtet allerdings auf ein vollkommen anders orientiertes Denken abzielen. Die Frage nach Musik und Sprache entstammt in ihrer heutigen Ausprägung letztlich einer folgenreichen Entwicklung des 19. Jahrhunderts. Die Ergebnisse der Gefühlsästhetik im Zusammenhang mit einer Herausbildung des musikalischen Theoriebegriffs hatten zur Folge, dass sich eine Formenlehre im Sinne einer Schematisierung herausbildete 43 : Die Form eines Musikstückes konnte umso mehr einem Muster entsprechen, als sich das »Eigentliche« der Musik, ihr Inhalt, sowieso der analytischen Herangehensweise entzog. Ob aber ein Scheheißt es etwas kürzer: »I am convinced that Wittgenstein himself held a formalistic view of music throughout his life.« (Ebd. S. 133). 42 Für einen Überblick vergl. Carl Dahlhaus, Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Erster Teil. Grundzüge einer Systematik (= Geschichte der Musiktheorie, hrsg. v. Frieder Zaminer, Bd. 10), Darmstadt 1984. 43 Ebd., S. 71 f.

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Musik und Sprache

ma entwickelt wird, um bestehende Phänomene zu beschreiben und daraus in einem weiteren Schritt eine eigene Wissenschaft bzw. Theorie abgeleitet wird, oder ob dieses Schema – wie bis dahin gehandhabt – den Zweck einer praktischen Kompositionslehre erfüllt, führt zu einem ganz unterschiedlichen »Theoriedesign« mit vollständig anderen Implikationen. Der Geniegedanke und das Entstehen der Musikwissenschaft als Disziplin bedingten sich gegenseitig und mündeten in die im 19. Jahrhundert weit verbreitete Vorstellung, nach der die äußere, sichtbare bzw. hörbare Form des Musikstückes nicht mehr identisch sei mit seinem »Eigentlichen«, seinem »Inhalt«. Dieser sei folglich nicht mehr durch Analyse der Noten fassbar, sondern teile sich allenfalls durch sie hindurch mit. In einer solchen »absoluten Musik«, die nicht mehr an einen Text oder an ein Programm gebunden ist, konnte dennoch der Gedanke einer durch die romantische Musikästhetik geprägten Vorstellung nicht preisgegeben werden, dass sich nämlich durch die äußere Form hindurch ein Gefühl, eine Ahnung, ein Wissen ausdrücke, welches jenseits davon zwar nicht erfasst, wohl aber von »berufenen Ohren geahnt« werden könne: Es entstand die »Sprache, wo Sprachen enden« (Rilke). Es gab nun einen sichtbaren Bereich der Musik und einen transzendenten, der nur noch »gefühlt«, nicht aber mehr diskursiv erfasst werden konnte. Folglich entwickelte sich tatsächlich, (wie Appelquist vollkommen richtig bemerkt) eine Art zwei-Parteien-Landschaft: Die einen ließen diese Ahndungen und Gefühle zu, die anderen wollten sie verbannen. Die seinerzeit überbordende »Ausdrucks-« oder »Gefühlsästhetik« ergoss sich einerseits in mitunter grotesken Ausprägungen in Programmheften und ästhetischen Betrachtungen des erstarkten bürgerlichen Konzertbetriebes. Andererseits entwickelte sich rund um die von Franz Brendel ausgerufene »Neudeutsche Schule« um Richard Wagner, Franz Liszt und andere die Idee von an außermusikalische Programme und Assoziationen gebundenen sinfonischen Dichtungen. Die entgegen gesetzte Richtung bezeichnet man als »Autonomieästhetik«, als deren prominenter Vertreter Hanslick die seit E. T. A. Hoffmann anhand der Sinfonik Beethovens entwickelte Idee der »absoluten Musik« verfocht: Alles, was nicht in der Musik selbst begründet lag, war als außermusikalischer Zusatz abzulehnen, statt dessen lag jeglicher musikalischer Inhalt in der erscheinenden Form begründet. Auf diesem Kampfplatz findet sich Paul Engelmann als Zeitzeuge wieder und ordnet auch seinen Freund Wittgenstein ein: 206 https://doi.org/10.5771/9783495860168 .

Ausdruck – Bedeutung – Selbstreferentialität – Formalismus?

Eine Welle von ›Irrationalismus‹ und Gefühlsverherrlichung, eben das, wogegen die unmittelbare Tendenz des Tractatus sich richtet, war in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu einer neuen Spielart des Unsinns geworden, weil sie wieder von einem Unsinn in den entgegengesetzten verfallen ist. Ihre Losung war: ›Also fort mit dem Verstand, der uns ins Unglück geführt hat. Suchen wir unser Heil im Gefühl ohne Verstand!‹ 44

Gegen diese »Welle von Irrationalismus« wendete sich Hanslick. Er vertrat bereits 1854 in seiner Abhandlung Vom Musikalisch Schönen die These: »Die Musik besteht aus Tonreihen, Tonformen, diese haben keinen anderen Inhalt, als sich selbst. […] die Musik spricht nicht bloß durch Töne, sie spricht auch nur Töne.« 45 Für Ambros bleibt dagegen die »poetische Idee« vorrangig. Hanslick argumentiert gegen diese Vorstellung einer letztlichen Trennung von Form und Inhalt: »Sie stellt sich die kunstreich zusammengefügte Form als etwas für sich Bestehendes, die hineingegossene Seele gleichfalls als etwas Selbständiges vor und teilt nun konsequent die Kompositionen in gefüllte und leere Champagnerflaschen. Der musikalische Champagner hat aber das Eigentümliche: er wächst mit der Flasche.« 46 Hanslicks Bild hierfür ist die Arabeske: als kunstvolles Zwiegespräch von geschwungenen Linien, die sich finden, verzweigen und trennen, könne sie gedacht werden »als tätige Ausströmung eines künstlerischen Geistes, der die ganze Fülle seiner Phantasie unablässig in die Adern dieser Bewegung ergießt.« 47 Den Gegenstand dieses »Bildes« der Musik können »wir nicht in Worte fassen und unseren Begriffen unterordnen«.48 Ambros wiederum warf Hanslick (ohne ihn allerdings beim Namen zu nennen) zwei Jahre später (1856) in seinem Buch Die Grenzen der Musik und Poesie vor, er gehöre ins Lager derjenigen, »welche […] den Inhalt mit der Form völlig zusammenfallen lassen und nur aus dem Formenspiel als solchem und der ›elementaren Kraft der Töne‹ die ganze Wirkung der Musik vollständig herleiten – das heißt mit anderen Worten, die Wirkung eines Gedichtes aus der grammatikalischen und syntaktischen Sprachrichtigkeit, der Reinheit der Somavilla (Hg.), Wittgenstein – Engelmann, S. 104. Hanslick, Vom Musikalisch Schönen, 162 f. Vergl. zu den folgenden Ausführungen auch: Werner Abegg, Musikästhetik und Musikkritik bei Eduard Hanslick (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 44), Regensburg 1974, S. 29 ff. 46 Hanslick, Vom Musikalisch Schönen, S. 67. 47 Ebd., S. 60. 48 Ebd., S. 63. 44 45

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Reime, dem rhythmischen Fall des Versmaßes und dem elementaren Wohlklang der Sprache« 49 . Diese Darstellung entspricht jedoch nicht Hanslicks Absicht, er ließ »Form und Inhalt« nicht »völlig zusammenfallen«, sondern sah sie als zwei Seiten einer Sache, die nicht voneinander getrennt zur Erscheinung kommen können: »Vom Inhalt des Kunstwerkes kann eigentlich nur da die Rede sein, wo man diesen Inhalt einer Form entgegenhält. Die Begriffe »Inhalt« und »Form« bedingen und ergänzen einander. Wo nicht eine Form von einem Inhalt dem Denken trennbar erscheint, da existiert auch kein selbständiger Inhalt. »In der Musik aber sehen wir Inhalt und Form, Stoff und Gestaltung, Bild und Idee in dunkler, untrennbarer Einheit verschmolzen.« 50 Später gestand Hanslick ein, dass sein Versuch, diese gegenseitige Abhängigkeit für die Musik einleuchtend zu beschreiben, ihm in Anbetracht der ablehnenden Reaktionen wohl nicht überzeugend gelungen sei 51 , wahrscheinlich auch deshalb, weil diese beiden Begriffe der Musik einfach nicht adäquat wären. Für Hanslick ist die Musik nichts desto trotz »geistvoll«, das erst mache die Tonverhältnisse zu den vielzitierten, individuellen künstlerisch gestalteten »tönend bewegten Formen«. Unter anderem mittels dieser Formulierung wollte Hanslick darauf hinwirken, die Musikästhetik wegzubewegen von abstrakter, philosophischer Spekulation hin zur Anschauung des Gegebenen, des Musikwerks selbst. Mit seiner Absicht, das, was Hanslick »Kunstgeschichte« nannte, von der Ästhetik zu trennen, wäre er bei Wittgenstein auf Widerstand gestoßen. Denn alleine ist Ästhetik sinnlos, so Wittgenstein, erst im Kontext von Geschichte und Kultur hat sie eine Existenzberechtigung: Ein musikalisches Werk ist vor allem Bestandteil eines sozialen Netzes aus zahllosen Sprachspielen. Damit setzt sich Wittgenstein auch klar von Schopenhauer ab (dazu später mehr), der behauptete, die Musik »könnte gewissermaßen, auch wenn die Welt gar nicht wäre, doch bestehen.« 52 Zu den spekulativen, mithin abzulehnenden Seiten der Musik gehörte für Hanslick auch die Wirkung von Musik, worunter er August Wilhelm Ambros, Die Grenzen der Musik und Poesie. Ein Beitrag zur Aesthetik der Tonkunst, Prag 1856. 50 Hanslick, Vom musikalisch Schönen, S. 167. 51 Hanslick, Aus meinem Leben, Bd. 1 [1894], Westmead 1971, S. 244. 52 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung (= Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand hrsg. v. Ludger Lütkehaus), Zürich 1988, Bd. 1, § 52, S. 341. 49

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genau genommen die Erregung von Gefühlszuständen jeder Art verstand – soweit besteht Einklang zwischen Wittgenstein und Hanslick. Ambros und Andere folgten dagegen dem Hegelschen Diktum: »Das Prinzip der Musik macht die subjektive Innerlichkeit aus« 53 – gerade die »subjektive Innerlichkeit« in der Musik ist eine der phänomenologischen »Irrtümer«, mit denen Wittgenstein aufzuräumen versucht (vergl. Kapitel »Emotion?«). Wittgenstein nimmt von diesem Ausgangspunkt der Wirkung von Musik allerdings einen anderen Weg als Hanslick, der die Wirkung von Gefühlen nicht einfach leugnen konnte und sie daher für ästhetisch irrelevant erklären musste. »Er [Hanslick, Anm. K. E.] war dadurch gezwungen, die Wirkung der Musik generell aus dem Bereich der Ästhetik auszugrenzen. […] Für Hanslick gehörte die Wirkung ebenso wie die Spekulation über den geistigen Ursprung der Kunst zum Umkreis, der das Zentrum, das Kunstwerk, nicht klären half.« 54 Hier argumentiert Wittgenstein eher im Sinne von Ambros, der den unbedingten Einbezug des gesamten historischen und geistesgeschichtlichen Umfeldes in die Interpretation eines Werkes forderte – der Wittgensteinschen »Lebenswelt«. Ambros holte, was Hanslick zu Gunsten seiner Kritik überspitzt hatte, wieder in die Realität des alltäglichen Kunstlebens zurück. Wittgensteins Antwort auf die Frage, was zu einem Kunstwerk und seiner Interpretation gehört und was nicht, ist differenzierter (was keineswegs als »Vorwurf« an Hanslick oder Ambros zu verstehen ist, die immerhin ein halbes Jahrhundert vor Wittgenstein schrieben): Die Art, wie innerhalb einer bestimmten Kultur mit einer bestimmten Form von Musik umgegangen wird, gehört zu unserer Lebenswelt, mithin zur Wirkung von Musik dazu, aber ist nicht Bestandteil des Kunstwerkes. Auch Wittgenstein hielt es für die Interpretation eines Beethoven-Werkes (wie Hanslick und ganz im Gegensatz zu Ambros) nicht nur für irrelevant sowohl für das Hören als auch für den Kompositionsprozess selbst, sondern für schlicht unmöglich zu erfahren, was den Komponisten während seines Schaffensprozesses innerlich be-

53 Hegel, Vorlesungen über Ästhetik, hrsg. v. F. Bassenge, Frankfurt a. M. 1956, Bd. II, S. 320. Vergl. hierzu auch: Abegg, Musikästhetik, S. 33; sowie Carl Dahlhaus, Musikästhetik, S. 79. 54 Abegg, Musikästhetik, S. 34 f.

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wegt haben mochte (vergl. hierzu ebenfalls Kapitel »Emotion?«). Wittgenstein rückt aber dafür den Hörer, dessen Umgebung und sozialen Habitus ins Blickfeld: Wenn man es genießt, Beethovens Neunte zu hören, dann gehört dazu, daß man die Neunte hört. 55

Ein Hörer, und verweigerte er sich noch so sehr dem Beethoven-Kult, ist in seinem Hören niemals unabhängig von dem Wissen darum, wer diese Sinfonie geschrieben hat und welche Wellen der Euphorie sie ausgelöst hatte. 56 Hanslick handelte sich mit seinem polemisch überspitzten Vorschlag, dass man den Inhalt als sich selbst bedeutende Form denken müsste, in gewissem Sinne ungerechtfertigt den Vorwurf des »Formalismus« ein. Wie auch Wittgenstein hielt Hanslick die tatsächliche Form eines Stückes für die unbedingte und einzig mögliche Gestalt, die ein musikalischer Gedanke einnehmen konnte. 57 Nur »volle« oder »leere Champagnerflaschen« (s. o.) wären eben noch keine Musik: Eine Komposition war für Hanslick nur dann musikalisch gelungen (schön), wenn in ihr ein ausgewogenes Verhältnis von Inhalt und Form zu sehen war. Weder durfte eine Komposition formale Mängel aufweisen, noch durfte ihre reine Form zum Eigenwert werden. (Carl Dahlhaus’ Beobachtung, dass Hanslicks Formbegriff weit über das gemeinhin als »formal« Bezeichnete hinausreicht, er somit in seiner Absage an die

55 Drury, »Gespräche mit Wittgenstein«, datiert 1938; in: Rhees, Wittgenstein: Portraits und Gespräche, S. 196. 56 In Wittgensteins Jugend waren unter vielen anderen Beethoven-Ereignissen in der Secession, die von seinem Vater großzügig unterstützt wurden, verschiedene Beethoven-Devotionalien mit Bezug zur neunten Sinfonie entstanden, wie der Beethovenfries von Klimt und die bekannte Klinger-Büste. Vergl. zu dieser Problematik stellvertretend Lydia Goehr, The imaginary museum of musical works. An essay in the philosophy of music, Oxford 2007. 57 Das bedingt auch eine weitere, textliche Nähe Wittgensteins und Hanslicks: Beide verbindet die Abwendung von auslegender Spekulation zugunsten der absoluten Vorrangstellung des Musik-Machens; Bemerkungen Hanslicks wie »Will man jemand den ›Inhalt‹ eines Motivs namhaft machen, so muß man ihm das Motiv selbst vorspielen« (Hanslick, Vom Musikalisch Schönen, S. 169 f.) finden sich in ähnlicher Form mehrfach bei Wittgenstein (und werden in diesem Buch zitiert). Auch die Vorstellung einer strukturellen Analogie zwischen Vorgängen des Lebens und Abläufen in der Musik, die zu einer täuschenden Identifizierung der Resultate führen kann, ist bei Hanslick bereits angelegt. (Vergl. Hanslick, Vom Musikalisch Schönen, S. 43).

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Metaphysik nicht konsequent war und es nicht sein konnte, darf dabei nicht außer Acht gelassen werden. 58 ) Ist das Formalismus? 59 Man kann bei beiden erahnen, aufgrund welcher Äußerungen diese Einordnung bzw. der Vorwurf zustandekommt und man kann bei beiden sagen, dass er nicht voll zutrifft oder zumindest, dass er nicht hilfreich ist: »Die Methode, musikästhetische Texte nach »Richtungen« zu klassifizieren und Hanslick […] zu den Formalisten zu zählen, ist von geringem Nutzen.« 60 Hanslick ist z. B. in seinen Begriffen nur selten wirklich konsequent: »Das eigentliche philosophisch-ästhetische Problem Form-Inhalt hatte Hanslick nicht zu lösen vermocht. Es war ihm wohl gelungen, die Schwerpunkte zu verschieben, Form und Inhalt in der Musik ausschließlich aufeinander zu beziehen. Die Spaltung in die zwei Bezugspaare Form-Inhalt und Form-Gehalt hatte ihm aber Widersprüchlichkeiten eingetragen, die er nicht aufgelöst hat. Über das Verhältnis von Inhalt und Gehalt sagt er nichts. Soviel aber wird geklärt: Form ist in der Musik mehr als Hülle für einen Stoff, sie ist nicht schematisch gemeint, sondern ist das Ergebnis des in ihr entworfenen, speziellen, immanenten, geistigen Gehalts, der ihren Inhalt bildet.« 61 Trotzdem bleibt aufgrund der oben angedeuteten historischen Entwicklung eine Trennung von Form und Inhalt zugunsten eines »Unsagbaren« bis heute wirksam. Und Hanslicks »Selbstbedeutung« ist streng genommen nur eine Scheinlösung mit dem Ziel, sich von einer irrationalen Gefühlsduselei fernzuhalten. Wittgenstein eröffnet diesem Paradoxon eine neue Richtung, um die es im Folgenden gehen 58 Carl Dahlhaus, »Klassische und romantische Musikästhetik«, in: Ders., 19. Jahrhundert II. Theorie/Ästhetik/Geschichte: Monographien (= Gesammelte Schriften Band 5), Laaber 2003, S. 649. 59 Dieser Begriff wird meines Erachtens vor allem deswegen so gerne eingesetzt, weil er so wenig greifbar ist. Unter dem Schlagwort »Formalismus« wird allgemein die Vorrangstellung der Form über den Inhalt verstanden. Das führt zu positiven Reaktionen (z. B. der literaturtheoretischen Schule des Russischen Formalismus) und zu negativen, wie als vernichtendes ästhetisches Urteil in den Kunsttheorien des Sozialistischen Realismus. Noch dazu bezeichnet es eine mathematische Verfahrensweise, deren Aussagen durch Kalküle gewonnen werden, was für Wittgenstein – wenn überhaupt – am naheliegendsten ist. (Des Weiteren gibt es auch noch die Schelersche Formalistische Ethik). 60 Dahlhaus, »Eduard Hanslick und der musikalische Formbegriff«, in: Die Musikforschung Bd. 20 (1967), S. 148; Dahlhaus bezieht sich dabei auf Felix Maria Gatz, Musikästhetik in ihren Hauptrichtungen, Stuttgart 1929. 61 Abegg, Musikästhetik, S. 55.

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wird. Die bereits mehrfach erwähnte Susanne K. Langer benennt den Ausgangspunkt dieser Argumentation treffend in ihrem Buch Philosophy in a New Key (ohne sie allerdings weiter auszuführen): »›Das Thema einer musikalischen Komposition ist ihr wesentlicher Inhalt.‹ Hanslick wußte, daß dies eine Ausflucht war; seine Nachfolger aber fanden es immer schwieriger, sich der Frage nach dem Inhalt zu entziehen, und so wurde die törichte Fiktion der Selbstbedeutung zum Rang einer Lehre erhoben.« 62 Trotz der Nähe einiger Textstellen zu Hanslick und Ambros glaube ich behaupten zu können, dass es sich um eine eher zufällige Nähe Wittgensteins zu diesen Texten handelt. Wittgenstein mag sie gelegentlich aus dem Munde Labors oder anderer gehört haben (vergl. Kapitel »Interpretation und Stil«), ich halte für Wittgensteins Beitrag zur Form-Inhalt-Debatte eine frühere, allen gemeinsame Quelle für wesentlich wahrscheinlicher, die Wittgenstein nachweisbar studiert hat: Schopenhauers Abhandlung Zur Metaphysik der Musik 63 . Nicht nur, dass Wittgenstein Schopenhauer mehrfach erwähnt, er bezieht sich ausdrücklich auf dieses Kapitel: Erscheinungen mit sprachähnlichem Charakter in der Musik […]. Die sinnvolle Unregelmäßigkeit […]. Die Rezitative der Bässe im vierten Satz der neunten Symphonie von Beethoven. (Vergleiche auch Schopenhauers Bemerkung über die allgemeine Musik zu einem besonderen Text.) 64

An der angegebenen Stelle bei Schopenhauer findet sich die Bemerkung, dass die Musik einer Oper zum Text und zur Handlung »im Verhältniß des Allgemeinen zum Einzelnen, der Regel zum Beispiele steht.« 65 Anschließend beschreibt Schopenhauer die »Beethoven’sche Symphonie«, in welcher »die größte Verwirrung, welcher doch die vollkommenste Ordnung zum Grunde liegt« 66 (folglich Wittgensteins »sinnvolle Unregelmäßigkeit«). Es ist mithin eindeutig, dass Wittgenstein sich auf diese Stelle bezieht. Interessant ist das insbesondere desLanger, Philosophie auf Neuem Wege, S. 233. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II (= Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand hrsg. v. Ludger Lütkehaus) Zürich 1988, Drittes Buch, Kapitel 39, S. 520 ff.; einzig Birnbacher weist auf den engen Schopenhauer-Bezug für Wittgensteins Musikauffassung hin, geht allerdings nicht auf den Zusammenhang zum Problem der Selbstbedeutung ein. 64 VB, S. 497 f. 65 Schopenhauer, WWV II, § 39, S. 522. 66 Ebd., S. 523. 62 63

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halb, weil Schopenhauer an dieser Stelle über »Selbstbedeutung« der Musik spricht: Zugleich nun aber sprechen aus dieser Symphonie alle menschlichen Leidenschaften und Affekte […] jedoch alle gleichsam nur in abstracto […] es ist ihre bloße Form, ohne den Stoff […]. Allerdings haben wir den Hang, sie, beim Zuhören, zu realisieren, sie, in der Phantasie, mit Fleisch und Bein zu bekleiden und allerhand Scenen des Lebens und der Natur darin zu sehen. Jedoch befördert Dies, im Ganzen genommen, nicht ihr Verständniß, noch ihren Genuß, giebt ihr vielmehr einen fremdartigen, willkürlichen Zusatz: daher ist es besser, sie in ihrer Unmittelbarkeit und rein aufzufassen. 67

Diesen letzten Satz hat Wittgenstein offenbar sehr ernst genommen und in seinem Sinne weiterentwickelt, wenn er in der bereits zitierten Stelle den Gedanken »abstoßend« findet, dass »manchmal gesagt worden [ist], daß Musik Gefühle der Freude, Traurigkeit, des Triumphes etc. vermittelt«. Und Wittgenstein reagiert wie Schopenhauer auf das willkürliche und wenig hilfreiche Umkleiden der Form mit »Scenen des Lebens und der Natur« (s. o.) mit einer offenen Formulierung: Auf eine solche Darstellung sind wir versucht zu antworten: ›Musik vermittelt uns sich selbst‹. 68

Aufgrund der Bedrängnis durch falsch verstandene Gefühligkeit sind wir »versucht zu antworten« – das beschreibt genau das Dilemma, das Susanne Langer oben andeutet: es ist eine verlockende Fiktion, der man sich nur schwer entziehen kann. Wittgenstein behauptet an keiner Stelle, eine musikalische Phrase bedeute sich selbst. Wann immer es um eine Variation dieser Überlegung geht, steht sie in Anführungszeichen – bei Wittgenstein immer untrügliches Anzeichen dafür, dass es sich um einen zu untersuchenden Ausdruck oder ein Argument handelt, über das noch nachzudenken ist. Zugegebenermaßen bedarf es einer sehr genauen Lektüre, um den Grund dafür im näheren Umfeld, aber auch an ganz anderen Stellen bei Wittgenstein zu finden. Wieder beginnt Wittgenstein bei einem einfach erscheinenden Beispiel, um die dann folgende, komplexe Argumentation vorzubereiten 69 : Ebd., S. 523 f. EPhB II, Nr. 22, S. 273. 69 Ich beziehe mich für die Argumentation vor allem auf EPhB II, Nr. 16 und 17, S. 251– 257. 67 68

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Wir sehen hier nicht auf der einen Seite Striche und auf der anderen Seite ein Gesicht, sondern wir sehen diese Striche als Gesicht mit einem bestimmten Ausdruck. Diesen Ausdruck kann man manchmal befriedigend umschreiben, manchmal auch nicht. Das Hauptproblem dabei ist, so Wittgenstein: das Gefühl, daß das, was man den Ausdruck des Gesichtes nennt, etwas ist, was man von der Zeichnung des Gesichts trennen kann. Es ist, als ob wir sagen könnten: ›Dieses Gesicht hat einen bestimmten Ausdruck, nämlich diesen‹ (indem man auf etwas zeigt). Doch wenn ich an dieser Stelle auf etwas zeigen müßte, so müßte es die Zeichnung sein, die ich ansehe. (Wir sind gleichsam unter dem Einfluß einer optischen Täuschung, die uns durch eine Art Reflexion zu denken veranlaßt, daß es zwei Gegenstände gibt, wo in Wirklichkeit nur einer ist […].) 70

Wir konstruieren zwei »Gegenstände« – das Gesicht und den Ausdruck des Gesichtes – wo nur einer vorliegt, nämlich das ausdrucksvolle Gesicht, da wir sowohl in der Lage sind, einen Ausdruck – etwa von Trauer oder Güte in verschiedenen Gesichtern wiederzuerkennen, als auch das Gesicht eines Menschen unter verschiedenen Gesichtsausdrücken. Genau diese Art zweier »Gegenstände« – oder sagen wir, Betrachtungsobjekte – konstruieren wir auch beim Hören einer musikalischen Phrase: Ich denke an eine ganz kurze von nur zwei Takten. Du sagst ›Was liegt nicht alles in ihr!‹ Aber es ist nur, sozusagen, eine optische Täuschung, wenn du denkst, beim Hören gehe vor, was in ihr liegt. 71

Die »optische Täuschung« entsteht, weil es Gesprächssituationen oder Anlässe gibt, in denen wir tatsächlich von einer Art separatem Ausdruck sprechen, in dem Sinne, in dem Wittgenstein sagen kann: bestimmte Themen von Brahms hätten etwas von Keller (s. o.). Er gibt also, so Wittgenstein, »zwei verschiedene Gebrauchsarten von ›Verstehen‹« 72 , denn: 70 71 72

EPhB II, Nr. 16, S. 251; ein ähnliches Gesicht befindet sich ebd. Z, Nr. 173. Vergl. PU I, § 532.

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Wir reden vom Verstehen eines Satzes in dem Sinne, in welchem er durch einen andern ersetzt werden kann, der das Gleiche sagt; aber auch in dem Sinne, in welchem er durch keinen andern ersetzt werden kann. (So wenig wie ein musikalisches Thema durch ein anderes.) 73

Aspekte des Ausdrucks können wir vergleichen, nicht aber den Ausdruck einer ganz bestimmten Phrase. Hier scheinen Form und Inhalt (bzw. Ausdruck) tatsächlich wie Hanslick sagt in »dunkler, untrennbarer Einheit verschmolzen.« 74 Diese zwei unterschiedlichen Gebrauchsweisen von »den Ausdruck der Phrase verstehen« 75 sind daher auf der einen Seite der Gebrauch, bei welchem man im Anschluss an das Feststellen des Ausdrucks zu einer Erklärung übergehen kann oder möchte. Diese Gebrauchsweise nennt Wittgenstein transitiv. Auf der anderen Seite gibt es die Fälle, in der keine Beschreibung vorbereitet, sondern eine solche geradezu verweigert wird. Man kann eine thematische Wendung »verstanden« haben, ohne dass man angeben können muss, worin dieses Verstehen besteht. Wittgenstein bezeichnet das als den intransitiven Gebrauch. Das Problem ist nun, dass der gleiche Ausdruck, z. B. »diese Phrase drückt etwas aus« sowohl intransitiv verstanden werden kann (und dann vielleicht ein nachdenkliches Kopfnicken bei meinem Gegenüber verursacht) als auch transitiv: Mein Gesprächspartner fragt dann wahrscheinlich etwas wie: »was drückt sie denn aus?« Wir verwechseln wieder einmal unterschiedliche Gebrauchsweisen aufgrund derselben Oberflächengrammatik der Sprache. Das hat mehrere Gründe. Zum einen, so Wittgenstein, müssen wir uns noch einmal ins Gedächtnis rufen, dass wir bei der Musik nicht über Naturphänomene reden, sondern über kulturell gewachsene Strukturen. Wenn wir annehmen, irgendetwas liege in einer Phrase verborgen, vollführen wir bereits den PU I, § 531. Hanslick, Vom musikalisch Schönen, S. 167 (s. o.). 75 Wittgenstein führt diese Begriffe im Zusammenhang mit dem doppelten Gebrauch des Wortes »bestimmt« bzw. »etwas Bestimmtes« im Braunen Buch (EPhB) ein. Ich erlaube mir, den Übertrag auf die Musik bzw. das Verstehen einer musikalischen Phrase ohne Umwege, um den Zusammenhang zum Problem der Selbstbedeutung und dem Form-Inhalt-Streitpunkt deutlich kennzeichnen zu können. Vergl. zu den folgenden Ausführungen auch Steffi Hobuß, Wittgenstein über Expressivität. Der Ausdruck in Körpersprache und Kunst, Hannover 1998, insbes. S. 159 ff. Hobuß beschreibt ausführlich die Stadien der Wittgensteinschen Argumentation, ihr Ziel ist dabei aber nicht, wie hier, die Lösung eines musikästhetischen Problems durch Wittgenstein anzudeuten. 73 74

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ersten Fehlschluss auf dem Weg einer Trennung von Form und Inhalt (wie bei den zwei »Gegenständen« des Gesichtes): ›Brahms hat alles herausgebracht, was in dem Thema liegt.‹ Aber wäre es in dem Thema gewesen, wenn er’s nicht herausgebracht hätte? – D. h.: wenn das Ganze da ist, so ist es als habe die Entwicklung in dem Thema gelegen. ›Es liegt schon irgendwie in dem Thema, er holt es nur heraus.‹ – Wir sind geneigt zu sagen: ›diese Entwicklung liegt bereits in dem Thema.‹ […] Wir hätten auch sagen können. Dies ist die natürliche Entwicklung des Themas. – Und inwiefern ist sie natürlich? Um dies zu beantworten, dazu genügt es nicht daß wir das Thema genau anschauen, sondern (vor allem) die Entwicklungen anderer musikalischer Themen. 76

»Wir sind geneigt, zu sagen« – Mit anderen Worten: es liegt zwar nahe, ist aber irreführend. Statt dass es hier nämlich um ein intransitives Verständnis der Entwicklungsmöglichkeiten eines Themas geht, ist vielmehr ein transitives Erklärungsmuster gefragt. Es handelt sich eben nicht einfach um die »natürliche Entwicklung des Themas«. Das Thema ist ja kein Subjekt, das sich gewissermaßen selbst entfaltet, wie eine biologische Zelle, die einen gewissen genetischen Plan in sich trägt. Das Thema wurde vielmehr in einem bestimmten Zusammenhang von jemandem konstruiert – wie hier – von Brahms. Um nun zu zeigen, warum Brahms die eine oder andere Entfaltung vornehmen kann, müssen wir, so Wittgenstein, zwar auch das Thema »genau anschauen«, gleichsam prüfen, welche inneren Begrenzungen es zwar nicht »von Natur aus«, aber von der Art seiner Konstruktion her mit sich bringt. Vielmehr sollen wir aber vergleichen, wie musikalische Themen überhaupt zu Brahms Zeiten und von ihm entwickelt werden,

BEE, MS 121, 10. Mai 1938; Wittgenstein beschäftigt sich im Kontext dieser Bemerkung (wie in mehreren Schriften) mit Zahlenreihen und deren Eigenschaften. Wie kann man z. B. Schülern beibringen, aufgrund welcher dieser Eigenschaften die Reihe 1, 2, 3, … linear weitergeht und nicht irgendwo einen Sprung macht? Sind das interne Eigenschaften der Reihe? Und wie verhält es sich mit der Wahrnehmung dieser Eigenschaften: 6 Striche nebeneinander können als Block oder in zweier, dreier oder noch anderer Relation zueinander wahrgenommen werden. Mit anderen Worten, worauf Wittgenstein in seinen zahlreichen Beispielen zur Permutation und Kombinatorik hinauswill, ist zu zeigen, dass die Eigenschaften einer Reihe keineswegs eine Art »natürliche Form« sind. Die Art und Weise, wie jemand die Eigenschaften dieser Reihe entfaltet, bezieht sich nur rudimentär auf sie, nur in der Weise, dass gewisse Eigenschaften einer bestimmten Reihe einige Schlussfolgerungen ausschließen. Vielmehr legen die Ergebnisse der Entfaltung einer Reihe fest, wie und warum jemand diese Eigenschaften entwickelt.

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d. h. welchen Regelbildungen und Regelsystemen diese Entwicklung untersteht. Denn, so stellt Wittgenstein nach der Beobachtung von Permutationsmöglichkeiten mathematischer Reihen konsequent fest: Ist nicht Harmonielehre wenigstens teilweise Phänomenologie also Grammatik? 77

Die Entwicklungsmöglichkeiten liegen demnach nicht in der Eigenschaft des Themas, sondern sind schon vorher bestimmt durch die Art der Harmonielehre, die festlegt, was überhaupt ein Thema sein kann und wie es sich entwickeln darf, um verstanden zu werden. 78 Hier konnte die vermeintliche Selbstbedeutung als falsch interpretierte, transitive Gebrauchsweise aufgelöst werden. In anderen Situationen geht es uns aber nicht darum, sondern um etwas anderes: wenn wir uns eine Melodie wiederholen und sie ihren vollen Eindruck auf uns machen lassen und dabei sagen: ›Diese Melodie sagt etwas‹, und es ist, als ob wir finden müßten, was sie sagt. Und doch weiß ich, daß sie nichts sagt, was ich in Worten oder Bildern ausdrücken könnte. Und wenn ich mich nach dieser Einsicht darein ergebe zu sagen ›Sie drückt nur einen musikalischen Gedanken aus‹, dann würde das nicht mehr bedeuten als ›Sie drückt sich selbst aus‹. 79

Das, sagt Wittgenstein, ist eine »Schleife« des Denkens, die »begradigt« werden muss. 80 Denn »wir sind geneigt«, die Frage: »welche Bedeutung?« oder »was bedeutet diese Melodie« mit »eben dies« zu beantworten, und auf die gemeinte Stelle zu verweisen, anstatt zu antworten: »ich habe kein bestimmtes Merkmal gemeint, ich habe nur der Melodie zugehört«. 81 Der erste Ausdruck erweckt aber den Anschein, als antwortete ich im transitiven Sinne, könne nur nicht auf eben das zeigen, was ich meine.

Wittgenstein, BEE, MS 108, 19. Dezember 1930. Harmonielehre ist für Wittgenstein eine kulturelle Setzung ohne letzte Begründung, wie er anhand der Farben verdeutlicht: »Gäbe es eine Harmonielehre der Farben, so würde sie etwa mit einer Einteilung der Farben in Gruppen anfangen und gewisse Mischungen oder Nachbarschaften verbieten, andre erlauben. Und sie würde, wie die Harmonielehre, ihre Regeln nicht begründen.« (BF I, Nr. 74). 79 EPhB II, Nr. 17, S. 256. 80 EPhB II, Nr. 15, S. 248. 81 Ich paraphrasiere hier EPhB II, Nr. 15, S. 248 auf die Melodie hin. 77 78

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Mit anderen Worten, das Wort […] scheint hier transitiv, genauer noch, reflexiv gebraucht zu sein, d. h. wir sehen seine Anwendung hier als einen besonderen Fall des transitiven Gebrauchs an. 82

Auf die Frage, was die Melodie bedeute, erweckt die Antwort »sie drückt sich selbst aus« (s. o.) in Ermangelung von etwas anderem, auf das ich verweisen könnte, den Anschein, als würde sie transitiv mit etwas verglichen, nämlich mit sich selbst. Das bezeichnet Wittgenstein als die Idee, es gäbe einen reflexiven Vergleich 83 : Dies ist nun eine charakteristische Situation für uns, wenn wir über philosophische Probleme nachdenken. Es gibt viele Verwirrungen, die auf diese Weise entstehen, nämlich daß ein Wort einen transitiven Gebrauch und einen intransitiven Gebrauch hat und daß wir den letzteren für einen bestimmten Fall des ersteren halten, indem wir das Wort, wenn es intransitiv gebraucht ist, durch eine reflexive Konstruktion erklären. 84

Ein transitiver Gebrauch fordere eine Spezifizierung ein, deren einziger Anhaltspunkt eben wieder die Melodie »selbst« ist. Dieser Vorgang erscheint dann grammatisch analog zu der Angabe von Merkmalen. Es scheint, als würde der Melodie eine neue Eigenschaft zugesprochen, während in Wahrheit nur eine Betrachtungsweise auf sich selbst zurückgebogen wird. Warum tun wir das? Weil, so Wittgenstein, wir mit der Bemerkung »hör doch hin!« oder eben »diese Melodie sagt sich mir selbst« ein anderes Ziel haben, als der Melodie Eigenschaften zuzuordnen: Wir gebrauchen die reflexive Form der Rede oft, um Nachdruck auf etwas zu legen. Und in all solchen Fällen können unsere reflexiven Ausdrücke ›begradigt‹ werden. 85

Die Form der Aussage »Das ist das« dient, so Wittgenstein, dazu, Nachdruck auf das »das« legen. 86 Die »begradigte« Version von »die Melodie drückt nur sich selbst aus«, die man reflexiv gebraucht, um so viel Nachdruck wie möglich auf die Melodie zu legen, wird tatsächlich nicht anders gebraucht, als wenn man sagte: »Diese Melodie ist ungeheuer ausdrucksvoll« oder »sie ist mir bedeutsam«. Die bogenför82 83 84 85 86

Ebd. Vergl. auch Hobuß, Wittgenstein über Expressivität, S. 159 f. EPhB II, Nr. 15, S. 248 f. Ebd. S. 249. Vergl. ebd. S. 250.

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mig, rückgebogene reflexive Illusion ist allerdings äußerst suggestiv. Genau auf dieses Phänomen bezieht sich meiner Meinung nach eine eine ansonsten eher rätselhafte Bemerkung 87 gegenüber dem Studenten John King, den Wittgenstein gelegentlich in seiner »Studentenbude« 88 besuchte, um bei ihm Schallplatten zu hören. Einmal legte ich den zweiten, dritten und vierten Satz von Beethovens Cismoll-Quartett, op. 131 auf; gespielt wurde er, wenn ich mich nicht irre, von dem Lener-Quartett. Er [Wittgenstein] hörte sehr gespannt zu, und am Schluß der Aufnahme war er überaus erregt. Er sprang auf, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen, und sagte: ›Wie leicht kommt man doch auf den Gedanken, man habe begriffen, was Beethoven gerade sagt‹ (hier griff er nach Bleistift und Papier), ›man denkt, man habe die Projektion verstanden‹ (und hier zeichnete er drei Viertel eines Kreises, etwa so:)

›und dann plötzlich‹ (hier fügte er eine Art Buckel hinzu:)

›merkt man, daß man gar nichts begriffen hat.‹ 89

Weil wir beim Hören den Eindruck gewinnen, »man habe begriffen, was Beethoven gerade sagt«, gehen wir von einer transitiven Bedeutung, also einer Beziehung der Phrase zu etwas aus oder in Wittgensteins Worten: einer Projektion, was ja nichts anderes ist als eine Abbildung von Parametern einer Sache auf eine andere. Innerhalb dieses 87 Diese Bemerkung wurde, soweit ich sehen kann, in der Literatur bisher umgangen, da sie sich tatsächlich nur in diesem speziellen Kontext erklären lässt. Das Cis-moll Quartett hat daher möglicherweise nur untergeordnete, katalytische Bedeutung. 88 John King, »Erinnerungen an Wittgenstein«, in: Rhees, Portraits und Gespäche, S. 108. 89 Ebd., S. 108 f.

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Musik und Sprache

Prozesses transitiver Bezugnahme möchten wir gerne den Bezugspunkt der Projektion benennen können und kommen schließlich in einer Art »Schleife« auf die Phrase selbst zurück: es entsteht eine reflexive Illusion, die aber irgendwie nicht aufgeht, wie Wittgenstein in seiner Zeichnung verdeutlicht, es ergibt sich kein »rundes Bild«. Die »Schleife« muss daher »begradigt« (s. o.) werden, die Intransivität als solche anerkannt, mithin die Phrase nicht als sich selbst ausdrückend, sondern selbst als »ausdrucksvoll« begriffen werden. Es gibt Kontexte, in denen sich diese Darstellung mittels Aspekten und Vergleichen näher beschreiben lässt, und es gibt Kontexte, in denen ich eine nähere Beschreibung gar nicht vermisse, weil mich der Nachdruck des Ausdrucksvollen mittels meiner reflexiven Betonung oder vermittels einer unterstreichenden Geste alleine schon befriedigt. In einem Manuskript Wittgensteins ist dieser ganze Komplex von Varianten des Ausdrucksvollen beschrieben und in den notwendigen, kulturellen Kontext eingeflochten dargestellt 90 : Ich denke hier immer an den Schluß des Allegrettos der 7. Symphonie, die letzte Variation des Hauptthemas, und zwar an die 4 Takte 9 bis 12. 91 Sie sind wie ein (scheiterndes?) Kopfnicken, oder könnten von einem begleitet werden. Sie sind ungeheuer ausdrucksvoll. Gleichsam unvergessliche Worte. Aber doch natürlich nur im Zusammenhang: einmal dieser ganzen Variation; dann aber des ganzen Satzes; und das doch auch nur für den der unsere musikalische Sprache versteht. […] Die Wirkung dieser Takte (als ein spezielles zueilen auf den Schluß) läßt sich natürlich harmonisch erklären, aber nicht der Ernst, die Bedeutsamkeit dieser Gebärde. Was ist nun daran, wenn ich sage, daß Zum-Schluß-gehen dieser letzten Variation sei unbeschreiblich. Ich bin also in der Versuchung eine Beschreibung zu geben (etwas zu beschreiben), kann es aber nicht. Meine Erklärung wird am Schluß darin bestehen daß ich die Töne mit einer Gebärde und Miene begleite. Und diese Erklärung befriedigt mich. Und eine Gebärde wird auch nur der Verstehen, der z. B. weiß, daß dies die letzte Variation eines viel hin und her gewendeten Themas ist, und auch Da der Text in der elektronischen Faksimileversion der Manuskripte nicht leicht zugänglich ist und überhaupt nur bei Schulte (Erlebnis und Ausdruck, S. 46) in Bruchstücken angedeutet wird, erlaube ich mir, den Großteil dieser etwas längeren Stelle hier wiederzugeben. 91 Es ist unklar, auf welche Takte Wittgenstein sich genau bezieht, mit ziemlicher Sicherheit aber nicht auf die angegebenen. Taktangaben scheinen insgesamt nicht zu seinen Stärken gehört zu haben, wie sich im Kapitel »Landschaftsalbum« auch noch an einem Beispiel bei Bruckner zeigen wird. Daraus lässt sich schließen, dass Wittgenstein die Noten nicht (oder zumindest nicht gerade gut) gekannt haben kann. 90

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Ausdruck – Bedeutung – Selbstreferentialität – Formalismus?

nur der, der den eigentümlichen Ton des Ernstes dieser Musik sieht. Und über diesen Ton läßt sich wieder viel sagen; er läßt sich auch wieder nur in einer weiten Umgebung verstehen. […] Nun kann ich nicht sagen, daß sich solch eine Beschreibung nicht geben läßt. Es ließe sich vielleicht in einem Gedicht eine Wendung finden, die diesen Ausdruck der Tonsprache entspricht. Und das gäbe mir gewiß große Befriedigung. 92

So erweist sich ein neuer »Aspekt« einer bereits mehrfach zitierte Bemerkung: »wie ließe sich jemandem beibringen, was ausdrucksvolles Spiel ist?« (s. o.). Indem derjenige lernt, sich immer besser in unserer Kultur auszukennen, insbesondere die Umgebung der musikalischen Phrase, die er als »ausdrucksvoll« oder »bedeutsam« empfindet. Denn es gibt Bedeutung in der Musik, sie liegt in ihrem Ausdruck, ohne eine objektive Eigenschaft des Materials darzustellen, denn was Ausdruck ist, ist eine Frage der kulturellen Gepflogenheiten. Die eigentliche Trennung ist mithin nicht die zwischen Inhalt und Form, sondern die zwischen Form und Gebrauch. In einer – wie ich sehen kann – einzigen Bemerkung zum Formalismus (nicht dem musikalischen, sondern dem logischen Freges) hebt Wittgenstein an: »Etwas am Formalismus ist richtig und etwas ist falsch.« 93 Richtig ist die Zurückweisung des Gegensatzes zwischen Form und Inhalt: Bei Schachfiguren reden wir weder über Holzstückchen noch über die »Bedeutung« beispielsweise des Bauern. Aber: »Es gibt eben noch etwas drittes, die Zeichen können verwendet werden wie im Spiel.« 94 Die Trennung, die wirklich von Interesse und von Relevanz für unsere Lebenswelt ist, beschäftigt sich gar nicht mit ominösen »Inhalten«, sondern: Das Wesentliche sind die Regeln, die für diese Gebilde gelten 95 .

So gewendet kann Wittgenstein ohne jede metaphysische Anmutung behaupten, »in diesem Sinne muss am Schluss jede Sprache für sich selbst sprechen« (s. u.). Ausdrucksvolle Musik spricht »für sich selbst« oder um den Rückgriff auf den Ausgangspunkt Wittgensteins zu machen: der Ausdruck der Musik »zeigt sich« als Form, die auf komplexe Weise Bestandteil unserer Lebensform ist:

92 93 94 95

BEE MS 130, S. 60 ff. WWK III, 19. Juni 1930, S. 103. Ebd., S. 105, Hervorhebung von mir. Ebd.

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Musik und Sprache

Wenn man eine bestimmte Auffassung eines Musikstücks rechtfertigen will, und die Frage beantworten, warum man es gerade so gespielt wünscht, ist man versucht, zu sagen: ich verstehe es eben, ich verstehe, was es sagt. Man kommt aber in Verlegenheit, wenn man sagen soll, was es sagt. Man kann dann nur entweder einen Vorgang angeben, dem man das Musikstück vergleicht und der in irgendeinem Sinn den Rhythmus hat, der unserer Auffassung entspricht oder man führt das Musikstück in dem gewünschten Rhythmus vor uns lässt diesen für sich selbst sprechen. Und in diesem Sinne muss am Schluss jede Sprache für sich selbst sprechen. 96

Man kann zwar nicht in dem Sinne über das »Ausdrucksvolle« sprechen wie wir über Objekte und ihre Eigenschaften sprechen – denn hier wähnt man die Eigenschaft auf geheimnisvolle Weise im musikalischen Material verborgen. Es gibt aber keine Objekte außerhalb des Regelnetzes unserer Sprachspiele. Wir reden daher bei einem intransitiven Gebrauch (die Musik spricht für sich selbst) nicht über objekthafte Eigenschaften der Musik, sondern über ihre vielfältigen Verbindungen zu anderer Musik oder zu unserer Kultur im Allgemeinen, oder mit Wittgensteins Worten: Wir reden nicht über den Inhalt der Musik im Gegensatz zu ihrer Form, sondern wir sprechen über Regeln und »Gebrauch«. Was ist aber mit dem intransitiven Gebrauch anzufangen, wenn der Nachdruck auf das Ausdrucksvolle oder Bedeutsame der Melodie nicht ausreicht und der reflexive Gebrauch zwar vermieden wird, aber mich das Ergebnis, wie Wittgenstein (s. o.) gerade nicht befriedigt? 97 Wenn ich nur noch von »ausdrucksvollen« Melodien oder Phrasen spreche, wird die Redeweise dann nicht willkürlich und inhaltsleer? Jede Melodie könnte in diesem Sinne ausdrucksvoll sein oder mir »etwas sagen«. Wäre das der Fall, wäre es gleichgültig, wie eine Phrase interpretiert, also gespielt wird. ›Aber wenn du sie spielst, dann spielst du sie doch nicht irgendwie, du spielst sie in dieser bestimmten Weise, indem du ein crescendo hier bringst, ein BEE, TS 302. Es handelt sich bei diesem Manuskript um eine Version des sogenannten »Diktat für Schlick«. Zur Textgenese der vier verschiedenen bekannten Versionen vergl. Mathias Iven, »Wittgenstein und Schlick. Zur Geschichte eines Diktats«, in: Stationen. Dem Philosophen Moritz Schlick zum 125. Geburtstag, hrsg. v. Friedrich Stadler und Hans Jürgen Wendel, Wien 2009, S. 63–80. (Da es sich um ein Typoskript handelt, wurde im Original kein »ß« verwendet). 97 Vergl. zu der folgenden Argumentation auch Hobuß, Wittgenstein über Expressivität, S. 170 ff. 96

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Ausdruck – Bedeutung – Selbstreferentialität – Formalismus?

diminuendo hier, eine Zäsur an dieser Stelle, etc.‹ – Genau, und das ist alles, was ich darüber sagen kann. […] Denn in bestimmten Fällen kann ich den bestimmten Ausdruck, mit dem ich sie spiele, mittels eines Vergleichs rechtfertigen, erklären, – wie wenn ich sage ›An dieser Stelle des Themas ist gleichsam ein Doppelpunkt‹ oder ›Dies ist gleichsam die Antwort auf das, was vorher kam‹ etc. (Dies, nebenbei, zeigt, wie eine ›Rechtfertigung‹ und eine ›Erklärung‹ in der Ästhetik aussieht.) Es ist wahr, ich kann eine Melodie hören und sagen: ›So darf sie nicht gespielt werden, sie geht so‹ ; und ich pfeife sie in einem anderen Tempo. 98

Eine intransitive Formulierung »das Thema ist ausdrucksvoll« ist deshalb nicht beliebig, sondern im Gegenteil höchst spezifisch, weil ich nur unter bestimmten Bedingungen der musikalischen Interpretation zu dieser Aussage bereit bin. Meine Rechtfertigung kann dabei graduell transitiv sein (Vergleiche mit Kriterien wie »Doppelpunkt«, »Antwort« etc.), bleibt aber letztlich intransitiv: Ich sage, »die Phrase geht so« oder »sie ist so gemeint« und spiele sie oder deute sie an. Wittgenstein führt die oben zitierte Bemerkung mit einem Gegenargument weiter: Wenn es eine richtige und eine falsche Weise der Interpretation gibt – gibt es dann nicht vielleicht doch ein Paradigma des richtigen Ausdrucks in unserem Geist? Hier ist man geneigt zu fragen ›wie ist das: zu wissen, in welchem Tempo ein Musikstück gespielt werden soll?‹ Und die Idee drängt sich auf, daß es ein Paradigma irgendwo in unserem Geist geben muß, und daß wir das Tempo dem Paradigma angeglichen haben. 99

Nein, es gibt kein Paradigma im Geiste, wie es das auch nicht für Wortbedeutungen gibt. Vielmehr ist es so, wie Wittgenstein weiter feststellt, in den meisten Fällen, wenn jemand mich fragt ›Wie, meinst du, soll diese Melodie gespielt werden?‹, werde ich sie zur Antwort bloß in einer bestimmten Weise pfeifen, und meinem Geist wird nichts gegenwärtig gewesen sein außer der Melodie, wie sie wirklich gepfiffen wurde (und nicht ein Vorstellungsbild davon). 100

Dass sich uns die Vorstellung eines inneren Paradigmas aufdrängt, ist eine falsche Auffassung des Begriffs »Verstehen von Musik«. Denn entweder, dieses Verstehen ist intransitiv, dann brauchen wir nirgendEPhB II, Nr. 17, S. 256 f. Ebd., S. 256 f. 100 Ebd., II, Nr. 17, S. 257. 98 99

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Musik und Sprache

wo nach einem Paradigma zu suchen, weder im musikalischen Material noch in unserem Geiste, oder es ist transitiv gemeint: In beiden Fällen geht es um unsere Kultur. Und so schließt Wittgenstein an anderer Stelle: Das Verstehen von Musik ist weder eine Empfindung, noch eine Summe von Empfindungen. Es ein Erlebnis zu nennen, ist aber dennoch insofern richtig, als dieser Begriff des Verstehens manche Verwandtschaften mit andern Erlebnisbegriffen hat. Man sagt ›Ich habe diese Stelle diesmal ganz anders erlebt‹. Aber doch sagt dieser Ausdruck ›was geschah‹ nur für den, der in einer besondern, diesen Situationen angehörigen Begriffswelt zu Hause ist. 101

Über eines müssen wir uns aber im Klaren sein, so Wittgenstein: wir können nicht den reflexiven Gebrauch als eine Konstruktion entlarven und gleichzeitig insgeheim der Meinung sein, je mehr wir über ein Stück wüssten, desto näher kämen wir ihm schließlich doch. Als sei das intransitiv Ausdrucksvolle durch eine transitive Annäherung zu erreichen: Ich sage mir: ›Was ist das? Was sagt nur diese Phrase? Was drückt sie nur aus?‹ – Es ist mir, als müßte es noch ein viel klareres Verstehen von ihr geben, als das, was ich habe. Und dieses Verstehen würde dadurch erreicht, daß man eine Menge über die Umgebung der Phrase sagt. 102

Ich kann über die Struktur der Phrase, die ausdrucksvoll ist, womöglich einiges (Transitives) sagen. Aber es ist ein Irrtum, nämlich wieder eine reflexive Schleife im Sinne Wittgensteins, dass ich durch das Verständnis ihrer Umgebung immer mehr in das Verstehen der Phrase selbst eindringe, denn die intransitive Redeweise vom Ausdrucksvollen lässt die Frage nach dem »was« gar nicht mehr sinnvoll zu: Wir müssen uns von ihr verabschieden. Vielmehr sagt sie – so Wittgenstein – etwas wie: »Das ist erledigt« oder »[d]ie Sache ist abgeschlossen«. 103 Am Ende muss man sich damit zufrieden geben, von einer Phrase lediglich sagen zu können, sie habe einen starken Ausdruck, ohne jemals angeben zu können, worin dieser besteht, eben weil es sich um einen unhintergehbar intransitiven Gebrauch handelt. Das ist aber nicht die Lösung, sondern in gewissem Sinne eine Aufgabe! 104 Wittgenstein kommt damit Z, Nr. 165. BPP I, § 34. 103 EPhB II, Nr. 15, S. 250. 104 Paul Johnston macht in dem Kapitel »The Musicality of Language« seines Buches Wittgenstein: rethinking the inner (London 1993, S. 100–133) den Fehler, die Formulie101 102

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Ausdruck – Bedeutung – Selbstreferentialität – Formalismus?

schließlich auf eine Bemerkung aus einem Brief an den Lehrerkollegen und Musikfreund Rudolf Koder vom November 1930 zurück, in dem er Koder darauf hinweist: Die einzige Möglichkeit ein Musikstück kennen zu lernen ist doch die: Du spielst es & merkst dabei deutlich, daß Du die & die Stellen noch ohne Verständnis spielst. Du kannst nun entweder auf diese Stimme (in Deinem Inneren) nicht weiter hinhorchen & das Stück verständnislos wie früher spielen, oder Du horchst auf die Stimme, dann wirst Du getrieben, die betreffende Stelle wieder & wieder zu spielen & quasi zu untersuchen.105

Soweit könnte man noch von einer transitiven Annäherung an das Verstehen des Stückes ausgehen, aber dann präsentiert der Brief kurz darauf eine überraschende Wendung: Horche genau hin & befolge was sie dir sagt & du wirst sehen, du wirst dann immer deutlicher hören & Dich immer besser in Dir auskennen. 106

Die »Untersuchung« der Phrase führe letztlich dazu, so Wittgenstein, dass ich mich auf ihre Expressivität einlassen muss, um ihr Bedeutungsfeld von mir aus betrachtet einzugrenzen. Ich kann mich besser in mir auskennen, d. h. ich kann letztlich nur erreichen, meine Position dieser Musik gegenüber und damit in meiner Lebensform immer deutlicher zu finden. 107 Dieser Lösungsweg offenbart schließlich auch einen biographischen Zug von Wittgensteins eigenem Musikhören: Er hörte nicht viele verschiedene Musik, sondern lieber immer wieder dieselben Stücke von verschiedenen Interpreten. Dieser Zug bildet sich auch in diesem Buch ab, es geht hier immer wieder um dieselben Stücke, vor allem um Beethovens 7. und 9. Sinfonie, Bruckners III. Sinfonie, Schuberts Tod und das Mädchen (als Lied und als Streichquartett), Brahms Variationen über ein Thema von Haydn und selbst innerhalb dieser wenigen Werke auch nur um bestimmte Sätze und darin um bestimmte Stellen.

rung »das Bild sagt sich mir selbst« als Lösung im Sinne der Untrennbarkeit von Medium und Mitteilung zu interpretieren (insbes. 107–111); vergl. auch die kurze Besprechung des Buches bei Hobuß, Wittgenstein über Expressivität, S. 182–184. 105 Brief Wittgensteins an Rudolf Koder, undatiert, zwischen dem 25. Oktober und dem 14. November 1930, in: Alber (Hg.), Wittgenstein, S. 37. 106 Ebd., S. 37 f. 107 Für dieses Verständnis spricht auch Wittgensteins Bemerkung zu Schubert und dem Kontrapunkt im Kapitel »Landschaftsalbum«.

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Musik und Sprache

Es gibt eine einzige Möglichkeit, in der die Musik intransitiv agieren kann, in der sie gleichsam »für sich selbst spricht« (s. o.): Das ist, wenn sie sich performativ bespiegelt. Diesen Weg hat Wittgenstein zwar nicht beschrieben, hat aber gleichsam die Basis dazu bereitgestellt, was sicher auch ein Grund dafür ist, warum Komponisten der Neuen Musik sich so gerne auf ihn berufen. Jede Musik verweist – gewollt oder ungewollt – auf die Gesamtheit der vor ihr entstandenen kompositorischen Exemplifikationen, obwohl sie sich – wie beim Erkennen eines Ausdrucks in verschiedenen Gesichtern – in keiner Weise gleichen müssen. Musik verweist hier insofern auf sich selbst, als dass sie auf die spezifische Kultur und Zeit verweist, in der sie entstanden ist. Dazu gehört (wie bereits hinreichend erklärt), die »Gesamtheit der Lebensform« – mithin alles, was eine Kultur geprägt hat – vom Wetter über religiöse Strukturen bis hin zur Kunst. Damit wird der Weg wieder frei für eine Musik, die nicht mehr offensichtlich in klaren Traditionslinien wurzelt, die nicht mehr selbstverständlich auf tradierte Formmodelle zurückgreifen kann und deren harmonische, tonale, ja selbst klangliche Strukturen für jedes einzelne Stück neu hergestellt werden müssen. Für eine Musik eben, der man aus konservativer Deutung einen »Sprachverlust« attestierte. Wir empfinden als Hörer diesen Traditionsverlust, wir können auch als »Kenner« der Musik bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr das Hörerlebnis mehr oder weniger sicher an einer Kultur abgleichen, in deren komplexen Zusammenhängen wir uns zurecht zu finden erlernt haben. Die Formen dieser hergebrachten Musik schienen verbraucht (oder »vermüdelt«, wie Wittgenstein Joseph Labor zitiert 108 ). Es ist ein Gemeinplatz, dass die Neue Musik sich selbst viel bewusster in diesen Strukturen und Prozessen verorten muss, ob sie sich nun für neuartige Experimente entscheidet oder für eine Adaption kompositorischer Techniken vergangener Jahrhunderte. Und es ist kein Zufall, dass eine dieser Entscheidungen darin bestand, »Musik über Musik« 109 zu komponieren. Auch Adorno konstatiert in seinem »FragVB, S. 473. »Musik über Musik«, eine Bezeichnung, die sich häufig sowohl in Aussagen von Komponisten wie in der wissenschaftlichen Literatur finden lässt, wurde in der deutschen Sprache wohl zum ersten Mal von Friedrich Nietzsche formuliert. In Menschliches, Allzumenschliches schreibt er über die Musik Beethovens: »Beethovens Musik erscheint häufig wie eine tiefbewegte Betrachtung beim unerwarteten Wiederhören eines längst verloren geglaubten Stückes »Unschuld in Tönen«: es ist Musik über Mu108 109

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Ausdruck – Bedeutung – Selbstreferentialität – Formalismus?

ment über Musik und Sprache« den Verlust konventionalisierter Chiffren, die mithilfe der Tonalität etabliert werden konnten. Die neue Musik hätte sich dieser »mechanischen« »geronnenen Formeln« entledigt. Und er schließt; »Heute ist das Verhältnis von Musik und Sprache kritisch geworden.« 110 »Kritisch« war das gegenseitige Verhältnis zwischen Musik und Sprache für Wittgenstein in gewissem Sinne schon immer, die Neue Musik hebt diesen Aspekt nur besonders hervor: Alle Sprachspiele bedingen einander, erweitern oder begrenzen ihre Ausdrucksfelder und üben so fortwährende, produktive Kritik aneinander. Die Neue Musik hat damit den »Stadtteil der Sprache« erweitert und in ihm neue Aspekte aufleuchten lassen.

sik. Im Liede der Bettler und Kinder auf der Gasse, bei den eintönigen Weisen wandernder Italiener, beim Tanze in der Dorfschenke, oder in den Nächten des Karnevals, – da entdeckte er seine Melodien: er trägt sie wie eine Biene zusammen, indem er bald hier bald dort einen Laut, eine kurze Folge erhascht. Es sind ihm verklärte Erinnerungen aus der »besseren Welt«: ähnlich wie Plato es sich von den Ideen dachte.« (Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II (= Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe Bd. 2, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari), München 2 1999, S. 615.) Nietzsche meint in dieser Passage nicht etwa eine Musik, die sich auf eine existierende musikalische Vorlage bezieht, sondern er stellt fest, dass dieses Phänomen jeder Musik (bei ihm besonders der Musik Beethovens) zu Eigen ist. Allgemeiner verstanden: Keine Musik ist ohne Beziehung zu Vergangenem, Musik ist in einem weit verstandenen Sinne stets »Musik über Musik«. Vergl. hierzu auch: Volker Scherliess, »›Torniamo all’antico e sarà un progresso‹ – Schöpferische Sehnsucht in der Musik«, in: Canto d’Amore. Klassizistische Moderne in Musik und bildender Kunst 1914–1935, hrsg. v. Gottfried Boehm, Ulrich Mosch, Katharina Schmidt, Basel 1996, S. 39 f. 110 Theodor W. Adorno, »Fragment über Musik und Sprache«, in: Gesammelte Schriften Bd. 16 (Musikalische Schriften I – III: »Quasi una fantasia«), Frankfurt a. M. 1963, S. 252.

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IV. Performative Variationen: Philosophie der Musik – musikalische Philosophie »Mein Stil gleicht schlechtem musikalischen Satz.« 1

Morphologische Methode, Familienähnlichkeiten und Verweigerung der hinweisenden Begriffsdefinition Peter Faltin stellte bei seinen Bemühungen auf der Suche nach einer »ästhetischen Bedeutung« fest, das »zweifellos schwierigste Problem« sei ein »methodisches Problem. […] Denn all die Rätsel, die das Phänomen ästhetische Bedeutung aufwirft, sind nicht sosehr ein Problem der Ontologie von Bedeutung als vielmehr ein Problem der geeigneten Methode, ein Phänomen, das sich der Wortsprache entzieht, so in den Griff zu bekommen, daß es wissenschaftlich diskutierbar wird.«. 2 Tatsächlich war Wittgenstein bemüht, eine methodische Antwort auf das Gewirr von Sprachspielen zu finden, was insbesondere im Bereich der Kunst und vor allem der Musik herrscht – allerdings nicht mit dem Ziel (wie z. B. Faltin, s. o.), sie »wissenschaftlich diskutierbar« zu machen. Statt dessen wählt Wittgenstein ein radikal anderes, ein quasi musikalisches Verfahren, wie ich in den folgenden zwei Abschnitten zeigen werde. 3 Wittgenstein entwickelt an keiner Stelle eine sichtbare, explizite Methodologie, 4 statt dessen finden sich Fragen zur Methode vereinzelt

VB, S. 505. Faltin, Bedeutung ästhetischer Zeichen, S. 112 f. In dem oben ausgelassenen Satz umschreibt Faltin das »Problem« näher: »Es besteht darin, die Adäquanz zwischen intendierter und wahrgenommener Bedeutung auf irgendeine Weise erfassen zu können.« (ebd.) Dass dies in vielfacher Hinsicht nicht Wittgensteins Problem war, habe ich oben aufgezeigt (vergl. z. B. Kapitel »Musik und Sprache«). 3 Vergl. zu diesem Kapitel auch: Katrin Eggers, »Wittgenstein and Schoenberg on Performativity of Music as Method for Philosophy«, in: Performativity in Words and Music (= Proceedings of the Seventh International Conference for Word and Music Studies Vol. 12), hrsg. v. Walter Bernhart und Michael Halliwell Amsterdam/New York 2011. 4 Vergl. zu Wittgensteins Konzeption der »übersichtlichen Darstellung« auch: Joachim Schulte, »Chor und Gesetz. Zur ›morphologischen Methode‹ bei Goethe und Wittgen1 2

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Performative Variationen: Philosophie der Musik – musikalische Philosophie

verstreut im gesamten Korpus des Spätwerkes. Im krassen Gegensatz dazu scheint Wittgensteins Selbstwahrnehmung zu stehen: Er hielt nach der Überlieferung seines Schülers George Edward Moore ausgerechnet seine Methode für den wichtigsten Beitrag zur Philosophie: He went on to say that, though philosophy had now been ›reduced to a matter of skill‹, yet this skill, like other skills, is very difficult to acquire. One difficulty was that it required a ›sort of thinking‹ to which we are not accustomed and to which we have not been trained – a sort of thinking very different from what is required in the sciences. And he said the required skill could not be acquired merely by hearing lectures: discussion was essential. As regards his own work, he said it did not matter whether his results were true or not: what mattered was that ›a method had been found‹. 5

Mit anderen Worten, philosophische Probleme können nur durch eine besondere Fähigkeit, dem Erlernen einer Technik, angegangen werden. Einer Technik und Denkweise, die nicht auf dem normalen, einerseits normativen, andererseits deduktiven Wege eines Philosophiestudiums erlernt werden kann, sondern im Gespräch und der beständigen Auseinandersetzung mit der Lebenswelt verfeinert werden soll. Und diese Methode, so Wittgenstein, unterscheidet sich dann auch erheblich vom gängigen wissenschaftlichen Denken. Wenn man daher Wittgensteins Bemerkung, »eine Methode sei gefunden« (s. o.), ernst nehmen will, muss diese ganz anders geartet sein, als das, was man herkömmlich unter einer Methode versteht. Dieser paradoxe Sachverhalt resultiert aus der Tatsache, dass Wittgensteins methodisches Vorgehen in den Spätschriften den Versuch bildet, »einen ›Text‹ ›ohne‹ operative Schicht zu schreiben, indem die Operationalität der Sprache so eingesetzt wird, daß sie sich im Gebrauch selbst erhellen soll.« 6 Wittgenstein verfährt auf eine komplexe Weise performativ, die erst sichtbar wird, wenn man bereits von ihr weiß: Er entwickelt einen »operationalen Aspekt« auf der Folie der »thematischen Schicht« eines Textes. Diese operative Schicht bildet gleichsam die nicht sichtbar werdende Textur, das Gewebe eines Stoffes als die Trägerschicht der Oberfläche, während die thematische Schicht Muster stein, in: Ders., Wittgenstein im Kontext, Frankfurt a. M. 1990, S. 11–42, insbes. S. 31– 42. 5 George Edward Moore, »Wittgenstein’s Lectures in 1930–1933«, in: Mind 64 (1955), S. 26. 6 Gabrielle Hiltmann, Aspekte sehen, S. 15.

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Morphologische Methode

und Farbe bestimmt. 7 Sein Denkgestus, dessen »beirrende Unruhe« 8 immer unterschwellig mitarbeitet und vielseitige semantische »Wirkarbeit« 9 leistet, ist als ein Vorführen des eigenen, radikalen Vorgehens zu deuten: Wittgenstein tut gleichzeitig das, worüber er spricht, und zwar in nie dagewesenem Ausmaß: »Der Anspruch, die Operationalität von Sprache methodisch zur Untersuchung von Sprache und deren operativen Schichten einzusetzen, ist zuvor nie derart grundsätzlich erhoben und in die Tat umgesetzt worden.« 10 Zwar gibt es einige bekannte Texte, deren poetologische Ausnahmestellung vor allem in ihrer exzeptionellen, der Musik entlehnten performativen Sinn-Herstellung begründet sind. So z. B. der in Wittgensteins Jugend berühmte Chandos-Brief (1902) Hugo von Hofmannsthals, in welchem ein junger Dichter seinen Sprachverlust beschreibt, der währenddessen im Text vollzogen wird. Dass diese, bisher der Dichtung vorbehaltene Art und Weise nun bei Wittgenstein zur »philosophischen Methode« avancieren soll, ist tatsächlich ein kaum zu übertreffender Bruch mit allen Traditionen vor allem der deutschen Philosophie. Wie kann ein solches Denken, das Wittgenstein »eigentlich« nur »gedichtet« sehen wollte, überhaupt zu einem Erkenntnisgewinn führen? Für Wittgenstein ist eine Änderung des Denkens und Schreibens die einzig mögliche konsequente Fortführung seiner philosophischen Behauptungen: liegen die »philosophischen Probleme« in einer Denkund Ausdrucksweise, deren sprachliche Strukturen »gleichsam als Brille auf unsrer Nase« 11 sitzen, löst – wie hinlänglich erläutert – die Änderung des Sprachgebrauchs daher nicht etwa ein solches Problem, sondern das Problem selbst verschwindet, wenn eine bestimmte Ausdrucksweise abgestreift wird. Und wenn Wittgenstein den Sprachgebrauch auf der einen Seite zum Gegenstand, auf der anderen Seite zum Untersuchungsinstrument seiner Überlegungen macht, »kann er die Probleme, die sich in der Untersuchung des Sprachgebrauchs stellen dadurch zum Verschwinden bringen, daß er seinen eigenen SprachVergl. ebd. Die Autorin bezieht sich mit der Stoff-Metapher auf Jean-Pierre Schobinger, »Operationale Aufmerksamkeit in der textimmanenten Auslegung«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 39/1–2 (1992), S. 5–38, hier S. 5. 8 Schobinger, »Operationale Aufmerksamkeit«, S. 6. 9 Ebd., S. 25. 10 Hiltmann, Aspekte sehen, S. 16. 11 PU I, § 103. 7

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Performative Variationen: Philosophie der Musik – musikalische Philosophie

gebrauch ändert […]. Die Änderung des Sprachgebrauchs eröffnet im Sprachgebrauch selbst Differenzen, in denen die Reflexion auf den Sprachgebrauch möglich ist, ohne dafür eine sogenannte Metaebene einnehmen zu müssen.« 12 Wie so oft bei einem komplizierten Denkschritt, entwickelt Wittgenstein den Gedanken an einem Bild. Und obwohl die folgende Figur von Wittgenstein vordergründig zur Erklärung des Aspektsehens betrachtet wird, zeigt sich an ihr auch die Wechselwirkung von operativer Struktur und thematischer Fläche und dient damit selber, wiederum performativ, der Verkörperung eines »Vexiergedankens«.

Dieses Vexierbild 13 nennt Wittgenstein »Doppelkreuz«, »als weißes Kreuz auf schwarzem Grund und als schwarzes Kreuz auf weißem Grund«14 . Man kann die Kreuze als Figuren sehen, aber auch als Grundfläche, auf der sich die andersfarbige Figur überhaupt erst ausbreiten kann. Diese graphische Darstellung von Aspektsehen lässt die Reflexion zu, ein und dasselbe Material verschieden zu sehen, »und bilde[t] einen Versuch, eine Art von ›Technik‹ des Blickwechsels von einer Figur zu einer anderen Figur und von der Figur auf den Grund zu entwickeln.« 15 12 13 14 15

Hiltmann, Aspekte sehen, S. 19. Ein solches Bild findet sich in PU II xi, S. 331. PU II xi, S. 331. Hiltmann, Aspekte sehen, S. 15.

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Morphologische Methode

Dieses Bild macht Wittgenstein zum unausgesprochenen Anschauungsmaterial des Verhältnisses von Sprache und Lebensform, die als »unaussprechbarer Hintergrund« stets präsent ist, jedoch nie vollständig in Sprache verwandelt werden kann, da die für die Bedeutung konstitutive Struktur dann in sich zusammenbrechen würde. 16 Um »im Bild« zu bleiben: Könnten die weißen Flächen gleichzeitig als Figur erkannt werden, die auf dieselbe Weise funktioniert wie die schwarze Figur, würde das Bild unmöglich, es hätte keine operationale Basis, keinen Hintergrund mehr. Wittgenstein interessiert sich vornehmlich für diesen »unausgesprochenen Hintergrund« des Sprachgebrauchs, dafür, was – vom Sprechenden nicht beabsichtigt – in der Verwendung von Sprache ›agiert‹ und Bedeutung überhaupt erst möglich macht. Schon 1931 beschreibt er diesen Gedanken als zentral: Das Unaussprechbare (das, was mir geheimnisvoll erscheint und ich nicht auszusprechen vermag) gibt vielleicht den Hintergrund, auf dem das, was ich aussprechen konnte, Bedeutung bekommt. 17

Ein solcher, immer präsenter, aber nicht unbedingt bewusst wahrgenommener Hintergrund liefert auch der Musik die Basis, auf der hörbare Bedeutung überhaupt erst entfaltet werden kann. Wittgenstein führt diesen Zusammenhang nur indirekt an: Ich sage mir: ›Was ist das? Was sagt nur diese Phrase? Was drückt sie nur aus?‹ – Es ist mir, als müßte es noch ein viel klareres Verstehen von ihr geben, als das, was ich habe. Und dieses Verstehen würde dadurch erreicht, daß man eine Menge über die Umgebung der Phrase sagt. So als wollte man eine ausdrucksvolle Geste in einer Zeremonie verstehen. Und zur Erklärung müßte ich die Zeremonie gleichsam analysieren. Z. B. sie abändern und zeigen, wie das die Rolle jener Geste beeinflussen würde. 18 Die Frage ist eigentlich: Sind diese Töne nicht der beste Ausdruck für das, was hier ausgedrückt ist? Wohl. Aber das heißt nicht, daß sie nicht durch ein Bearbeiten ihrer Umgebung zu erklären sind. 19

Die »Bearbeitung der Umgebung« oder die »Abänderung der Zeremonie« sind Beispiele für die Wahrnehmung der Hintergrundstruktur einer Phrase, Melodie oder eines musikalischen Parameters. Hören ist immer ein »Hören als«: wird ein Stück als Musik gehört, bedient sich 16 17 18 19

Vergl. Hiltmann, Aspekte sehen, S. 24. VB, S. 472. BPP I, § 34. BPP I, § 36.

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Performative Variationen: Philosophie der Musik – musikalische Philosophie

sein Erscheinungsbild zwangsläufig eines Hintergrundes, der sich nicht zugleich offen ausspricht. Wie man das weiße Kreuz nur dann sehen kann, wenn man das schwarze nicht fokussiert, sondern als Hintergrund begreift, kann man auch bei einem Musikstück nicht alle Ebenen des Ausdrucks gleichzeitig wahrnehmen. Man kann durch genügend Übung einer bestimmten Hörweise und Wissen um bestimmte Sachverhalte – mithin als »Kenner« – eine bestimmte musikalische Gestalt als Ausdruck ihrer Zeit hören oder im Kontext ihrer Rezeptionsgeschichte oder Interpretation. Aber wie bei der Figur-HintergrundStruktur ist es nicht möglich, dies alles gleichzeitig wahrzunehmen. Vor allem wenn man bei der Auslegung eines Textes (oder dem Hören von Musik) die Aufmerksamkeit auf das operationale »Grundgewebe« eines Textes richtet, wird diese Schicht zum neuen Hauptthema. Sie beinhaltet eine in keinem Falle vollständig erfassbare Fülle an Faktoren und Informationen, und die Struktur der InterpretationsTheorie bzw. der musikwissenschaftlichen Kategorien bestimmt deren Bedeutungshierarchie. Dabei geht es sowohl um historische Kategoriengebäude, die in Lehrbüchern, Traktaten oder ästhetischen Schriften usw. ihren Niederschlag fanden, aber auch um sozialgeschichtliche Implikationen, die uns durch Briefe, Tagebücher, Reiseberichte usw. überliefert sind und die Veränderungen z. B. der Sprachspiele der Interpretation aufzeigen. Somit ist nicht nur die Veränderung des begrifflichen Verstehens herauszuarbeiten, sondern das Verständnis von Musik selbst hat andere Formen angenommen und muss als bewusster Relativierungsfaktor berücksichtigt werden. Ein Dilemma ist dabei durch noch so genaue hermeneutische Tiefenbohrung jedoch nicht gelöst und nicht lösbar: Es stellt sich kein Fixpunkt ein, der als stabiler, überzeitlich geltender Sachverhalt für die Musikinterpretation fungieren könnte. Durch einen Metabegriff wie »pragmatische Interpretation« ist zwar ein »Erkenntnisgegenstand« gewonnen, nicht jedoch ein stabiles Objekt, dem ein interpretierendes Subjekt entgegentreten könnte. »Das bedeutet, daß die Explikation eine hermeneutische sein muß, da wir uns in diesem Gebiet, sowohl was seine Faktizität als Prozeß (Geschichte) wie auch als Gegenstand (Struktur) betrifft, immer schon befinden. […] Im musikalischen Bereich werden Sachverhalte allererst aufgestellt, sind aber gleichzeitig intentional, d. h. keine Objekte, sondern Objektivationen von Subjekten. Diese Objektivationen sind nur über den pragmatischen Hintergrund zu verstehen; über das Verhältnis dieser Objektivationen zu 234 https://doi.org/10.5771/9783495860168 .

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den Systemen der Konvention, die dahinterstehen, lassen sich Diskussionsstränge verfolgen, die sich in den anderen Sozial- und Geisteswissenschaften fortsetzen und vielleicht Impulse für die musikwissenschaftliche Diskussion geben.« 20 Mithin befindet sich ein solcher Ansatz, wie erfolgreich sein Theoriedesign auch sein mag, immer in der Ausgangsposition, in der wir uns – wie Wittgenstein sagt – nicht »auskennen« 21 und nicht auskennen können, da es sich eben nicht nur um kein stabiles Objekt der Betrachtung handelt, sondern auch der Standpunkt des Betrachters nicht statisch ist, denn »Verstehen ist seinem Wesen nach ein wirkungsgeschichtlicher Vorgang«. 22 Der Rezipient ist selbst Bestandteil des hermeneutischen Prozesses, er kann mittels seiner Sprache nicht über sie hinaus, eine wirkliche »Metasprache« bleibt immer nur gedankliches Konstrukt. Das Sprechen des Subjekts ist nicht autonom, es verfügt nicht über den Sprachgebrauch, sondern bleibt subjektiv verortet. Weil diese menschliche Konstitution unhintergehbar ist, stellt sich für Wittgenstein das Problem auf eine neue Weise: Wenn es keinen stabilen Fixpunkt gibt, von dem aus man »die Welt aus den Angeln heben kann«, bzw. die Komplexität der Sprachspiele übersehen kann, braucht es eine andere Strategie auf dem Weg zur Bedeutungskonstitution beim Interpretieren: Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen. – Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit. – Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, daß wir die ›Zusammenhänge sehen‹. Daher die Wichtigkeit des Findens und des Erfindens von Zwischengliedern. [von Aspekten, Anm. K. E.] Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist für uns von grundlegender Bedeutung. Er bezeichnet unsere Darstellungsform, die Art, wie wir die Dinge sehen. (Ist dies eine ›Weltanschauung‹ ?) 23

Der letzte, eingeklammerte Satz verweist darauf, dass Wittgenstein die »übersichtliche Darstellung« keinesfalls für die Lösung dieses Pro20 Christoph Hubig, »Musikalische Hermeneutik und Pragmatik. Zur Wissenschaftstheorie der Musikwissenschaft«, in: Carl Dahlhaus (Hg.), Musikalische Hermeneutik, Regensburg 1975, S. 145. 21 Vergl. PU I, § 123. 22 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (= Gesammelte Werke Bd. 1), Tübingen (1960) 1990, S. 305. 23 PU I, § 122.

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blems hielt, im Gegenteil: Sollte es eine gut funktionierende pragmatisches Interpretationstheorie geben, stünde man mit ihrer Hilfe in der Gefahr, scheinbar »objektive Tatsachen« der Musikinterpretation zu finden, die tatsächlich nur ein Resultat unserer »Weltanschauung« wären: Das Denken in übersichtlichen Darstellungen, so Wittgenstein, ist der Bequemlichkeit des Geistes geschuldet, wir hätten es gerne alles schön übersichtlich – vor allem bei so rätselhaften Phänomenen wie der Musik, damit es leichter wäre, »sich auszukennen«. Wittgenstein befindet sich mit dieser Ansicht ganz auf einer Linie mit anderen Denkern seiner Zeit, und was als Kritik der »Weltanschauung« von Wittgenstein hier nur zurückhaltend geäußert wird, bringt Schönberg 1911 in einem etwas längeren Passus des Vorwortes zu seiner Harmonielehre unmissverständlich und programmatisch zum Ausdruck: Man löst Probleme, um eine Unannehmlichkeit aus dem Weg zu räumen. Aber, wie löst man sie? Und daß man überhaupt meint, sie gelöst zu haben! Darin zeigt sich am deutlichsten, was die Voraussetzung der Bequemlichkeit ist: die Oberflächlichkeit. So ist es leicht, eine ›Weltanschauung‹ zu haben, wenn man nur das ausschaut, was angenehm ist, und das Übrige keines Blickes würdigt. Das Übrige, die Hauptsache nämlich. Das, woraus hervorginge, daß diese Weltanschauungen ihren Trägern zwar wie angemessen sitzen, aber daß die Motive, aus denen sie bestehen, vor allem entspringen dem Bestreben, sich zu exkulpieren. […] Der Denker, der sucht jedoch, tut das Gegenteil. Er zeigt, daß es Probleme gibt, und daß sie ungelöst sind. […] Der Komfort als Weltanschauung! Möglichst wenig Bewegung, keine Erschütterung. Die den Komfort so lieben, werden nie dort suchen, wo nicht bestimmt etwas zu finden ist. 24

Dieser Zustand muss durchbrochen werden. Aber wie? Schönberg ist sich sicher: Eine Methode erzielt Erstarrung, produktiv kann nur sein, was in Bewegung bleibt: [E]s steckt ein Gedanke dahinter. Nämlich der, daß die Bewegung allein imstande ist, hervorzurufen, was der Überlegung nicht gelingt. Ist es beim Lernenden nicht ebenso? Was erzielt der Lehrer durch Methodik? Höchstens Bewegung. Wenn’s gut geht! Aber es kann auch schlecht gehen, und dann erzielt er Erstarrung. Aber die Erstarrung bringt nichts hervor. Nur die Bewegung ist produktiv. Warum dann nicht gleich mit der Bewegung anfangen?

24

Schönberg, Harmonielehre, S. VI (Vorwort von 1911).

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Aber der Komfort!? Der weicht der Bewegung aus. Ohne sich darum auf die Suche zu begeben. 25

Unsere Wissenschaftskultur neigt zu immer größerer Abstraktion, letztendlich zu einem System von Begriffen und Definitionen, Maximen, Paradigmen und Axiomen, die sich als so beständig wie möglich erweisen sollen. Die diskursive Wissenschaft abstrahiert von der konkreten Erfahrung, vom Ding auf generellere Phänomene, das Ding steht für alle Dinge seiner Art. Wittgensteins Ziel ist dagegen, immer wieder zu zeigen, dass es, bedingt durch die unendliche Vielfalt unserer Sprache, keinen Fixpunkt des Denkens, keine unverrückbare Perspektive gibt, nur eine Fülle variierender Situationen. Immer fortschreitend auf die größere Abstraktion hin entfernen solche Axiome das Denken von der Realität unserer Sprachspiele, die Wittgenstein in ihrer ganzen Vielfalt freilegen möchte: Ob ich von dem typischen westlichen Wissenschaftler verstanden oder geschätzt werde, ist mir gleichgültig, weil er den Geist, in dem ich schreibe, doch nicht versteht. Unsere Zivilisation ist durch das Wort ›Fortschritt‹ charakterisiert. Der Fortschritt ist ihre Form, nicht eine ihrer Eigenschaften, daß sie fortschreitet. Sie ist typisch aufbauend. Ihre Tätigkeit ist es, ein immer komplizierteres Gebilde zu konstruieren. […] Es interessiert mich nicht, ein Gebäude aufzuführen, sondern die Grundlagen der möglichen Gebäude durchsichtig vor mir zu haben. Mein Ziel ist also ein anderes als das der Wissenschaftler, und meine Denkbewegung von der ihrigen verschieden. 26

Das impliziert in gewissem Sinne einen »dekonstruktivistischen« Ansatz: 27 Denn während der herkömmliche Weg der Wissenschaft zur immer größeren Generalisierung neigt, tut ein Komponist das größtmögliche Gegenteil: er schafft eine singuläre Positionierung in der Welt, eine subjektive Objektivation. Ein Komponist erschafft in gewissem Sinne »nur« Grundrisse von verschiedensten Gebäuden, während Ebd. VB, S. 459. 27 Wittgenstein ist nicht zuletzt einer der Vordenker des Poststrukturalismus und hat Denker wie Derrida, Foucault, Barthes und andere stark beeinflusst. Zu diesem Thema wäre an anderem Orte viel zu sagen, zumal bereits zahlreiche Einzeluntersuchungen existieren. Da es sich hier um einen eher denkgeschichtlichen Aspekt, weniger um den Kern Wittgensteinscher Musikauffassung handelt, belasse ich es mit einem Verweis auf die kontextreiche Einführung bei Richard Shusterman, Vor der Interpretation. Sprache und Erfahrung in Hermeneutik, Dekonstruktion und Pragmatismus, hrsg. v. Peter Engelmann, aus dem Amerikanischen von Barbara Reiter, Wien 1996. 25 26

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eine wissenschaftliche Betrachtung zur Erstellung eines geschlossenen Systems strebt. Für Wittgenstein entsteht naturgemäß das Problem: wie sollen jemals unsere allgemeinen, abstrakten Begriffe die denkbar unsystematischen Konkreta in der Musik erklären? Auch mit diesem Problem setzt sich Schönberg auseinander: Die Kunst ist verschieden von der Wissenschaft. Während diese systematisch alle charakteristischen Fälle benötigt, genügen der Kunst eine Anzahl interessanter: soviele als die Phantasie verlangt, um sich vom Ganzen ein Bild zu machen; um von diesem zu träumen. Darum ist auch unter Entwicklung hier niemals zu verstehen, daß alle Fälle entstehen müssen, sondern bloss einige die interessanten. – ›Ein andermal mehr,‹ kann der Künstler sagen – ›für heute genug davon‹. 28

Wie Wittgenstein hegt Schönberg ein tiefes Misstrauen gegen die Verallgemeinerungen der Wissenschaft, ihre Methode und vor allem ihre Sehnsucht nach festen Wahrheiten und eindeutigen Verortungen und formuliert sein Programm ganz im Sinne Wittgensteins: Diese Systeme! Ich werde bei einem andern Anlaß zeigen, wie sie nicht einmal recht das sind, was sie immerhin sein könnten, nämlich: Systeme der Darstellung. Methoden, die einen Stoff einheitlich einteilen, übersichtlich gliedern und von solchen Grundsätzen ausgehen, die eine undurchbrochene Folge sichern. Ich werde zeigen, wie bald dieses System nicht mehr ausreicht, wie bald es durchbrochen werden muß, um durch ein zweites System (das aber keines ist) angestückelt, halbwegs die bekanntesten Ereignisse unterzubringen. Aber es sollte doch anders sein! Ein wirkliches System sollte vor allem Grundsätze haben, die alle Ereignisse einschließen. Am besten: genau so viele Ereignisse, als es wirklich gibt; nicht mehr, nicht weniger. Solche Grundsätze sind die Naturgesetze. Und nur solche Grundsätze, die nicht auf Ausnahmen angewiesen sind, hätten darauf Anspruch, für allgemein gültig angesehen zu werden, die mit den Naturgesetzen diese Eigenschaft unbedingter Geltung gemein hätten. Aber die Kunstgesetze haben vor allem Ausnahmen! 29

Die Ähnlichkeit der beiden Ansätze, vor allem in ihrer Kritik dessen, was beide als »System« kennzeichnen, werden in einer gedanklichen Engführung mit Wittgenstein deutlich: Vor allem fehlt dem, der die Beschreibung versucht, nun jedes System. Die Systeme, die ihm in den Sinn kommen, sind unzureichend; und er scheint 28 29

Schönberg, »Der musikalische Gedanke« (24. Juni 1934), in: The Musical Idea, S. 92. Schönberg, Harmonielehre, S. 5.

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plötzlich sich in einer Wildnis zu befinden, statt in dem wohlangelegten Garten, den er so gut kannte. Es kommen ihm wohl Regeln in den Sinn, aber die Wirklichkeit zeigt nichts als Ausnahmen. 30 Und die Regeln des Vordergrunds machen es uns unmöglich, die Regeln im Hintergrund zu erkennen. Denn, wenn wir ihn mit dem Vordergrund zusammenhalten, sehen wir nur widerliche Ausnahmen, also Unregelmäßigkeit. 31

Wenn die Unvergleichbarkeit, die Ausnahme, die Basis ist, kann es nur eine aufrichtige Konsequenz geben, so Schönberg (in der eben unterbrochenen Textstelle) weiter: Auch ich habe solche Grundsätze nicht finden können und glaube, daß man sie nicht so bald finden wird. […] Das Bemühen, Kunstgesetze aufzufinden, kann also höchstens solche Resultate erzielen, wie sie etwa ein guter Vergleich erzielt: Einfluß gewinnen auf die Art, wie sich das Organ des betrachtenden Subjekts einstellt auf die Eigentümlichkeiten des betrachteten Objekts. Der Vergleich bringt näher, was zu weit ist, vergrößert dadurch Detailzüge und setzt ferne, was zu nah ist, wodurch er Überblick gestattet. Keinen größeren Wert als einen derartigen kann man Kunstgesetzen heute zumessen. Aber das ist ja schon viel. […] Denn nochmals: die Naturgesetze kennen keine Ausnahmen, die Kunsttheorien bestehen vor allem aus Ausnahmen. 32

Anstatt einen Betrachtungsstandpunkt aus weiter Ferne zu wählen, der einen Überblick zu Lasten der »Detailzüge« ermöglicht, wollen wir, wie Wittgenstein immer wieder betont, »in Wirklichkeit bestimmte Vergleiche« (s. o.) und aspekterhellende Bilder für gerade das Objekt, das wir betrachten, die Musik die wir hören. Von der Vogelperspektive der BPP I, § 557. BPP I, § 558. 32 Schönberg, Harmonielehre, S. 5. Das, was Schönberg hier als »Naturgesetze« bezeichnet, zielt auf den Wissenschaftsoptimismus seiner Zeit ab, das positivistische Verlangen, alles zweifelsfrei erklären und ordnen zu können. Dieses Verlangen habe sich auf die Theorien und das Theoretisieren von Kunst übertragen, so Schönberg: »Gäbe sich die Kunsttheorie damit zufrieden, begnügte sie sich mit dem Lohn, den ehrliches Suchen gewährt, so könnte man nichts gegen sie einwenden. Aber sie will mehr sein. […] Sie beobachtet eine Anzahl von Erscheinungen, ordnet sie nach einigen gemeinsamen Merkmalen und leitet daraus Gesetze ab. Das ist ja schon deshalb richtig, weil es leider kaum anders möglich ist. Aber nun beginnt der Fehler. Denn hier wird der falsche Schluß gezogen, daß diese Gesetze, weil sie für die bisher beobachteten Erscheinungen scheinbar zutreffen, nunmehr auch für alle zukünftigen Erscheinungen gelten müßten. Und das Verhängnisvollste: man glaubt einen Maßstab zur Ermittlung des Kunstwerts auch künftiger Kunstwerke gefunden zu haben« (Schönberg, Harmonielehre, S. 2 f.). 30 31

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positivistischen Wissenschaft aus sind wir, so Wittgenstein – man darf hinzufügen insbesondere im Umgang mit Musik – wie »primitive Menschen, die die Ausdrucksweise zivilisierter Menschen hören, sie mißdeuten und nun die seltsamsten Schlüsse aus ihrer Deutung ziehen.« 33 Denn: Das Schwere ist hier, nicht bis auf den Grund zu graben, sondern den Grund, der vor uns liegt, als Grund zu erkennen. Denn der Grund spiegelt uns immer wieder eine größere Tiefe vor, und wenn wir diese zu erreichen suchen, finden wir uns immer wieder auf dem alten Niveau. 34

Redet man von »Lösungen« in der Musik, so haben sie nach Wittgenstein einen vollkommen anderen Charakter als in den diskursiven Wissenschaften, sie ähneln eher einer Berechnung, deren Ergebnis nicht sinnvoll zu hinterfragen ist: Nimm ein Thema wie das Haydnsche (Choral St. Antons), nimm den Teil einer der Brahmsschen Variationen, der dem ersten Teil des Themas entspricht, und stell die Aufgabe, den zweiten Teil der Variation im Stil ihres ersten Teils zu konstruieren. Das ist ein Problem von der Art der mathematischen Probleme. Ist die Lösung gefunden, etwa wie Brahms sie gibt, so zweifelt man nicht; – dies ist die Lösung. 35

Sicher ist eine bestimmte Variation immer nur eine von vielen denkbaren Möglichkeiten von Variationen, aber sie ist eine, bei welcher der »Grund« im oben genannten Sinne erreicht ist. Eine »tiefere Ebene« der Begründung erreichen zu wollen, sei ein Irrtum: Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ›Urphänomene‹ sehen sollten. D. h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt. 36

Eine »Methode«, die sich mit dieser Art Lösung – sprich: mit Kunstwerken beschäftigt, kann keinem »System« im oben genannten Sinne unterstehen, denn Man darf sich wieder nicht durch das allgemeine Begriffswort verführen lassen. Nimm nicht die Vergleichbarkeit, sondern die Unvergleichbarkeit als selbstverständlich hin. 37 33 34 35 36 37

PU I, § 194. BGM, VI, Nr. 31. BGM, VII, Nr. 11. PU I, § 654. VB, S. 555.

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Der Gefahr der Methode einer sich verfestigenden und immer abstrakter werdenden Begriffsdefinition kann Wittgenstein sich nur verweigern, indem er sich dem Fluss der Sprache aussetzt und Philosophie selbst zur »Dichtung« werden lässt: Wenn ich nicht ein richtigeres Denken, sondern eine neue Gedankenbewegung lehren will, so ist mein Zweck eine ›Umwertung von Werten‹ und ich komme auf Nietzsche, sowie auch dadurch, daß meiner Ansicht nach, der Philosoph ein Dichter sein sollte. 38

Ein Dichter wie auch ein Komponist liefert aber keine Methode über seine eigenen Werke hinaus, genau in diesem Sinne will auch Wittgenstein keine umfassende Darstellung liefern, die ihrerseits wieder normativ und damit irreführend wäre. Vielmehr wird nun an Beispielen eine Methode gezeigt, und die Reihe dieser Beispiele kann man abbrechen. [Wie Schönberg oben bemerkt: ›Ein andermal mehr,‹ kann der Künstler sagen – ›für heute genug davon‹. Anm. K. E.] – Es werden Probleme gelöst (Schwierigkeiten beseitigt), nicht ein Problem. 39

Ein philosophisches Problem lag nach Wittgenstein bisher immer darin, dass uns die Einsicht in das Arbeiten der Sprache fehlt und wir »den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen« 40 . Eine irreführende Analogie entstehe durch grammatische Orientierungslosigkeit und »hat die Form: ›Ich kenne mich nicht aus.‹« 41 Wittgenstein reagiert auf diese »Orientierungslosigkeit«, wie er im Vorwort der Untersuchungen andeutet, mit einer »Menge von Landschaftsskizzen« 42 , um die tiefengrammatischen Beziehungen der Sprache in immer neuem Licht erscheinen zu lassen. Vergleichbar ist dieses Verfahren mit dem des Filmes The Draughtman’s Contract von Peter Greenaway 43 : Wittgensteins Philosophische Untersuchungen sind im Gegensatz zu den 12 Skizzen des Filmprotagonisten Mr. Neville, keine »Bemächtigung der Natur« BEE MS 120, 23. März 1938, S. 145 PU I, § 133; Hervorhebung von mir. 40 PU I, § 122. 41 PU I, § 123. 42 PU I, Vorwort, S. 9. 43 Diesen glücklichen Vergleich schlägt Rüdiger Zill vor; vergl. Ders., Der Vertrakt des Zeichners. Wittgensteins Denken im Kontext der Metapherntheorie, in: Ulrich Arnswald, Jens Kertscher, Matthias Kroß, (Hg.), Wittgenstein und die Metapher, Berlin 2004, S. 137–164. 38 39

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durch einen »geometrischen Geist« und technische Überlegungen zur sklavischen Abbildung der Natur, sondern ihre Bedeutung erschließt sich im Gebrauch, so wie sich im Film die Details der Neville’schen Skizzen durch den Gebrauch, den die verschiedene Personen von ihnen machen, verselbständigen. 44 Anstatt also unreflektiert die »unverstandene Verwendung« eines Wortes wie z. B. »verstehen« »als Ausdruck eines seltsamen Vorgangs« 45 zu deuten und darauf aufbauend eine Reihe philosophischer Probleme zu konstruieren, zieht sich Wittgenstein radikal auf die Position der Beschreibung von bereits Bestehendem zurück: Richtig war, daß unsere Betrachtungen nicht wissenschaftliche Betrachtungen sein durften. […] und wir dürfen keinerlei Theorie aufstellen. Es darf nichts Hypothetisches in unsern Betrachtungen sein. Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten. Und diese Beschreibung empfängt ihr Licht, d. i. ihren Zweck, von den philosophischen Problemen. Diese sind freilich keine empirischen, sondern sie werden durch eine Einsicht in das Arbeiten unserer Sprache gelöst, und zwar so, daß dieses erkannt wird: entgegen einem Trieb, es mißzuverstehen. Diese Probleme werden gelöst, nicht durch Beibringen neuer Erfahrung, sondern durch Zusammenstellung des längst Bekannten. 46

Dasselbe fordert auch Schönberg: Es ist geradezu unsere Pflicht, über die geheimnisvollen Ursachen der Kunstwirkungen immer wieder nachzudenken. Aber: immer wieder, immer wieder von vorne anfangend; immer wieder von neuem selbst beobachtend und selbst zu ordnen versuchend. Nichts als gegeben ansehend als die Erscheinungen. 47

Den Sinn des letzten Satzes, »Nichts als gegeben ansehend, als die Erscheinungen« untersucht Wittgenstein u. a. anhand der Musik: Wie oben bei dem Beispiel der Variation von Brahms können wir – transitiv – Aspekte der Variation beschreiben, aber wir können nicht erklären, warum uns diese spezielle Lösung beispielsweise zufrieden stellt: Denk z. B. an gewisse unwillkürliche Deutungen, die wir der einen oder anderen Stelle eines Musikstücks geben. Wir sagen: diese Deutung drängt sich uns auf. […] Und die Deutung kann aus gewissen rein musikalischen Bezie44 45 46 47

Ebd. S. 138 ff. PU I, § 196. PU I, § 109. Schönberg, Harmonielehre, S. 2.

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hungen erklärt werden. – Wohl, aber wir wollen ja nicht erklären, sondern beschreiben. 48

Wittgenstein verstößt mit voller Absicht gegen die Forderung der Eindeutigkeit und linearen Konsequenz wissenschaftlichen Argumentierens. Bei Schönberg münden die Überlegungen konsequenterweise in ein Lehrbuch voller Beispiele, mithin voller »Ausnahmen«, anhand derer der Schüler seine eigene Kreativität schulen und entwickeln soll. Wittgenstein war kein Lehrer in diesem Sinne, er hatte keine Schüler wie Schönberg, die er in einer Weise betreuen musste, die sich in Produktivität auswirken sollte. Wo es ging, entzog er sich seinen Professorenpflichten und unterrichtete nur wenig. Daher kann Wittgenstein es sich leisten, seine Verweigerung einer »Methode« radikaler als Schönberg zu verwirklichen: Wir wollen nicht das Regelsystem für die Verwendung unserer Worte in unerhörter Weise verfeinern oder vervollständigen. […] Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden, gleichsam verschiedene Therapien. 49

Hier gehen Wittgenstein und Schönberg auseinander: Schönbergs Bestrebungen müssen trotz aller Attacken gegen Systeme schließlich doch in eine Art System münden, in sein eigenes nämlich, bzw. während seines Unterrichts in eine geeignete Lehrmethode (und sein Erfolg als Lehrer spricht letztlich dafür, dass er eine gefunden hat). Schönberg hat kompositorische Prinzipien und Vorstellungen und er hat Schüler und Kollegen, denen er diese vermitteln möchte. Er gibt zu: Eine wirkliche Theorie aber dürfte […] immer nur vom Subjekt ausgehen. […] Und wenn ich also theoretisiere, so kommt es weniger darauf an, ob diese Theorien richtig sind, mehr aber, ob sie als Vergleiche geeignet sind, den Gegenstand klar zu machen und der Betrachtung Perspektive zu geben. 50

Das ist der Unterschied: für Schönberg ergeben die »geeigneten Vergleiche« eine »Perspektive«, bei Wittgenstein ergeben dieselben einen multiperspektivischen Ansatz, Methoden oder genauer: »Therapien« (s. o.). Wittgenstein geht damit nicht nur inhaltlich, sondern auch in der äußeren Form seiner Philosophie einen in gewisser Hinsicht radi-

48 49 50

BPP I, § 22. PU I, § 133. Schönberg, Harmonielehre, S. 13 f.

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kaleren Weg, sein Tractatus »ist also kein Lehrbuch«51 , die Philosophischen Untersuchungen wollen »wenn es möglich wäre, jemand zu eigenen Gedanken anregen.« 52 Dazu muss sich der Leser oder damalige Gesprächspartner vollkommen auf seine anti-systematische Art zu denken einlassen, die Mäander und Variationen der Themen mitmachen und darauf eingestellt sein, nicht nach Ergebnissen zu suchen. Wittgensteins erklärtes Ziel ist nicht die Aufstellung einer neuen philosophischen Richtung, sondern seine »Umwertung der Werte« (s. o.), eine Veränderung des Denkens: In gewissem Sinn mache ich Propaganda für einen Stil des Denkens im Unterschied zu einem anderen. 53

Und in einer durch einen Schüler überlieferten Bemerkung wird Wittgenstein sehr konkret in Bezug auf diese Stiländerung: I [Wittgenstein] show that it [the expression] has kinds of uses of which you had not dreamed. In philosophy one feels forced to look at a concept in a certain way. What I do is to suggest, or even invent, other ways of looking at it. I suggest possibilities of which you had not previously thought. You thought that there was one possibility, or only two at the most. But I made you think of others. Furthermore, I made you see that it was absurd to expect the concept to conform to those narrow possibilities. Thus your mental cramp is relieved, and you are free to look around the field of use of expression and to describe the different kinds of uses of it. 54

Um seine Sprache (und das Sprechen über Musik) so zu gestalten, dass in ihr möglichst viele der im Gebrauch nicht immer erkennbaren Aspekte sichtbar werden, müsste das Sprechen sich selbst auslegen lassen. Aber die Sprache ist kein Subjekt, sie kann sich nicht »selbst auslegen«, sie wird durch sprechende Subjekte realisiert, ihre Auslegung geschieht mithin individuell. Ein multiperspektivisches Sprechen, das einen Blick auf all seine Implikationen erlaubt, kann nicht durch einen einzelnen Sprecher verwirklicht werden. Wittgenstein muss sich, um sich diesem Ziel zumindest anzunähern, in seinen späten Schriften in letzter Konsequenz vom »Sprachort« des Autors lösen.« 55 Seine späten Bemerkungen sprechen im Gegensatz z. B. zum Tractatus nicht mehr 51 52 53 54 55

TLP, Vorwort, S. 9. PU I, Vorwort, S. 11. VÄ III, Nr. 37. Norman Malcolm, Ludwig Wittgenstein. A memoir, London u. a. 1966, S. 50. Vergl. zu den folgenden Überlegungen Hiltmann, Aspekte sehen, S. 27 f.

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zu einem Leser, sondern treten in den Dialog mit sich selbst, mittels evokativer Fragen und versuchter Antworten, die ihrerseits wieder zu neuen Fragen Anlass geben, ohne dass eine bestimmte Betrachtungsweise einen sichtbaren Vorzug zu einer anderen erhält oder ein denkerischer Ausgangspunkt fixiert werden könnte. Wittgenstein vollzieht die geforderten Aspektwechsel in seinen Texten, deren »Sprachspieler« immer neue Perspektiven einnehmen (»ich«, »du«, »wir«, »man«): Ich schreibe beinahe immer nur Selbstgespräche mit mir selbst. Sachen, die ich mir unter vier Augen sage. 56

In gewissem Sinne führt Wittgenstein damit auf eine tatsächlich musikalische Weise nicht nur immer neue Themen ein, variiert oder kontrastiert sie und führt sie in neue Kontexte, sondern er stellt diese Themen innerhalb einer sinfonischen Partitur vor: Wittgensteins multiperspektivisches Sprechen ist polyphon. Die verschiedenen Stimmen mit ihren individuellen Klangfärbungen erhalten eigene Rollen in der thematischen Arbeit, treten auf, verschwinden wieder, kommen später zusammen mit anderen in neuen Kontexten und neuen Verbindungen. Nur, dass diese Partitur sich selbst auslegt, sie führt nirgendwo hin, folgt keinem Plan. Wittgenstein notiert, was ihm einfällt, er konstruiert keine entwickelnden Variationen (dazu weiter unten). Umso größer seine Bewunderung für die gedankliche Kraft Mozarts, der in einem berühmten Briefe schreibt, er sähe ein ganzes musikalisches Werk mit einem Schlage vor seinem Geiste. – Wie ist das möglich, hörte er es in rasendem Tempo gespielt vor/in seinem Geiste; oder gar so daß alle Töne gleichzeitig erklangen? Und mit welchem Rechte sagte er dann er habe ein Musikstück im Geiste wahrgenommen? Wie wußte er, daß ein Musikstück dem entsprach was er wahrnahm. 57 Aber war es mir nicht augenblicklich klar daß ich den Gedanken jetzt nur zu entfalten brauchte, daß er bereits ganz da war? Ja, es war mir klar daß ich etwas tun konnte. Aber wenn ich es nun doch nicht tun konnte?! Zu sagen: ich brauche es nur noch entfalten ist eben nur ein Bild (Mozart). 58 VB, S. 560. BEE 124, S. 216 f. Ähnliche Bemerkungen finden sich auch in BEE 116, S. 101 f. sowie 180a, S. 7. Bei dem »ausschließlich im Kopf« komponierenden Mozart handelt es sich um ein populäres Klischee, das in den letzten Jahren relativiert wurde. 58 BEE 164, S. 160 f. Die Briefstelle bei Mozart, auf die Wittgenstein sich bezieht, lautet: »Halt’ ich das nun fest, so kömmt mir bald eins nach dem anderen bey, wozu so ein Brocken zu brauchen wäre, um eine Pastete daraus zu machen, nach Contrapunkt, nach Klang der verschiedenen Instrumente u. u. u. Das erhitzt mir nun die Seele, wenn ich 56 57

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Performative Variationen: Philosophie der Musik – musikalische Philosophie

Wittgensteins ganz eigentümliche Haltung hat zur Folge, dass immer gerade an den Stellen, wo man meint, aufgrund der herausgearbeiteten Gedankenfäden das aufkeimende Gefühl zu haben, eine Wittgensteinsche Kunstlehre entwickeln zu können, der Faden abreißt: So gut wie nie verfolgt Wittgenstein eines seiner improvisatorischen Beispiele bis zu einem Punkt, von dem aus man sich konkrete Hinweise erhoffen könnte. »Der Bericht über die ›Anwendung‹ Wittgensteins auf die Philosophie der Kunst ist, wie ich sagen muss, weitgehend der Bericht über ein ständiges Versagen.« 59 Die versuchten Nachzeichnungen dieses Kapitels von Wittgennämlich nicht gestört werde; da wird es immer größer; und ich breite es immer weiter und heller aus; und das Ding wird im Kopf wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, so daß ich’s hernach mit einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen, im Geist übersehe, und es auch gar nicht nacheinander wie es hernach kommen muß, in der Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen. Das ist nun ein Schmauß! Alles das Finden und machen geht in mir nur wie in einem schönstarken Traume vor; aber das Ueberhören, so alles zusammen, ist doch das Beste.« (Otto Jahn, W. A. Mozart, Leipzig 1858, Bd. III, S. 499). Bereits der frühe Biograph Otto Jahn bezweifelt die Echtheit dieses von Rochlitz überlieferten Briefes an einen unbekannten Baron, anhand seines Inhaltes und seines Stils (ebd. S. 423, Fußnote 7), und druckt ihn nur der Kuriosität wegen im Anhang seiner Abhandlung ab. Hans Biesenbach, der den Nachweis des Mozartbriefes gefunden hat, bemerkt, Wittgenstein habe den Brief womöglich nur mittelbar, durch William James, vermutlich jedenfall nur auf Englisch gekannt. Die entsprechende Stelle bei James lautet: »Mozart describes thus his manner of composing: ›First bits and crumbs of the piece come and gradually join together in his mind; then the soul getting warmed to the work, the thing grows more and more, and I spread it out broader and clearer, and at last it gets almost finished in my head, even when it is a long piece, so that I can see the whole of it at a single glance in my mind, as if it were a beautiful painting or a handsome human being; in which way I do not hear it in my imagination at all as a succession – the way it must come later – but all at once, as it were. It is a rare feast! All the inventing and making goes on in me as in a beautiful strong dream. But the best of all is the hearing of it all at once.‹« (In: William James, The Principles of Psychology [1890], New York 2007, Bd. 1, S. 255 f.). Biesenbachs Vermutung liegt allerdings nicht der deutsche »Originaltext«, sondern eine vermutlich frei rückübersetzte Version zu Grunde. (Vergl. Hans Biesenbach, Anspielungen und Zitate in den Schriften Ludwig Wittgensteins, als PDF-Datei abrufbar auf der Website der Internationalen Wittgenstein Gesellschaft unter: http://www.ilwg.eu/files/Anspielun gen%20u%20Zitate%20I.pdf (Abruf 23. März 09). Wahrscheinlich kannte Wittgenstein diesen in Wien vielfach gedruckten »Brief« Mozarts aber als bürgerlicher Konzertgänger bereits viel früher als Biesenbach vermutet. 59 Joseph Margolis, »Unwahrscheinliche Aussichten für die Anwendung von Wittgensteins ›Methode‹ auf die Ästhetik und die Philosophie der Kunst«, in: Wittgenstein und die Literatur, hrsg. v. John Gibson und Wolfgang Huemer, Frankfurt a. M. 2006, S. 471– 507, hier S. 473. Vergl. auch: Christian Paul Berger, Erstaunte Vorwegnahmen. Studien

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Morphologische Methode

steins »morphologischer Methode« 60 als eines impliziten roten Fadens, eines Hintergrundes im Sinne einer operativen Struktur, auf der sich thematische Flächen anordnen, sind demnach nicht mit den Vorbereitungen zu einer möglichen Anwendung einer eventuellen Methode zu verwechseln. 61 »Die Wahrheit ist, dass es gar keine Methode gibt, und dort, wo wir Anleitung durch eine Lehre fordern könnten, verwischt Wittgenstein die expliziten Spuren seiner Lehren, die seine eigene Darstellung gelenkt haben, sosehr er nur kann.« 62 Diese Einsicht führt zu der Überlegung »alles zu verwerfen, was man als Wittgenstein’sche Ästhetik bezeichnen könnte, außer in dem allerlockersten Sinne einer zum frühen Wittgenstein, mit einem Vorwort von Allan Janik, Wien u. a., 1992, insbes. S. 94 ff. 60 Merkel argumentiert, diese Methode sei maßgeblich von Oswald Spengler beeinflusst, den Wittgenstein auch dezidiert als Einfluss nennt. Letztlich, so weist Merkel weiter anhand von BFB nach, stehe aber hinter Spengler für Wittgenstein der »Übervater« Goethe. Ein Satz aus Goethes Gedicht Die Metamorphose der Pflanzen beschreibe Wittgensteins Methode und könnte sein Motto sein: »Alle Gestalten sind ähnlich und keine gleichet der andern;/und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz,/auf ein heiliges Rätsel.« (Merkel, »Geistige Landschaft«, S. 663). Vergl. auch Joachim Schulte, »Chor und Gesetz. Zur ›morphologischen Methode‹ bei Goethe und Wittgenstein«, in: Ders., Chor und Gesetz. Wittgenstein im Kontext, Frankfurt a. M. 1990, S. 11–42. 61 Mir sind nur drei Fälle einer »Anwendung« Wittgensteinscher Gedanken auf Musik begegnet. Ingolf Max erarbeitet einen Vorschlag, sich komplexen tonalen und polyphonen Strukturen mithilfe des Begriffs der »Familienähnlichkeiten« bei Wittgenstein auf der Basis logischer Operationen anzunähern. Dabei liegt es Max allerdings fern, von einer etwaigen Wittgensteinschen »Methode« zu sprechen. (Ders., »Zur Familienähnlichkeit von Begriffen und Akkorden«, in: expressis verbis. Philosophische Betrachtungen (= Festschrift für Günter Schenk zum fünfundsechzigsten Geburtstag, hrsg. v. Matthias Kaufmann und Andrej Krause, Halle 2003, S. 385–415) sowie ders., »Familienähnlichkeit als Analysemethode von Spätwerken Beethovens und Wittgensteins, in: Bild und Bildlichkeit in Philosophie, Wissenschaft und Kunst (Image and Imaging in Philosophy, Science, and the Arts), Papers of the 33. International Wittgenstein Symposium, hrsg. v. Heinrich, Richard/Nemeth, Elisabeth/Pichler, Wolfram, Kirchberg am Wechsel 2010, S. 196–200); zudem gibt es einen Aufsatz von Brian Kane, »Aspect and Ascription in the Music of Mathias Spahlinger«, in: Contemporary Music Review vol. 27, Nr. 6 (Dezember 2008), S. 595–609. Kane erarbeitet einen dekonstruktivistischen Ansatz in Spahlingers éphémère, für schlagzeug, veritable instrumente und klavier 1977, indem er anhand dieses Stückes eine Idee des »Aspektsehens« erläutert, der sich vor allem gegen die Argumentation Claus-Steffen Mahnkopfs richtet. Eine tatsächlich methodische Anwendung versuchen Judith Etzion/Susana Weich-Shahak, in ihrem Aufsatz »›Family Resemblances‹ and Variability in the Sephardic Romancero: A Methodological Approach to Variantal Comparison«, in: Journal of Music Theory, Vol. 37 No. 2 (1993), S. 267–309. 62 Margolis, »Unwahrscheinliche Aussichten«, S. 473.

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Performative Variationen: Philosophie der Musik – musikalische Philosophie

Inspiration, das heißt in einem Sinn, der Wittgenstein […] notwendig den fremden Zwängen einer vollständiger ausgearbeiteten Philosophie unterwerfen würde.« 63 Man kann daher – wie in einer Komposition – »kein ästhetisches Anliegen des [Wittgensteinschen] Textes suche[n], das von seiner zentralen Arbeit getrennt ist.« 64 Daraus folgt etwas fundamental anderes als in sonstigen ästhetischen Ansätzen: Es gibt keine »Methode«, wohl aber eine Belehrung! So wie ein Musikstück auch keine Methode ist, auch wenn ihm eine Arbeitsweise zu Grunde liegt. Wohl aber ist es eine Lehre, eine einzigartige Belehrung durch die hergestellte Objektivation über die erkennbar werdende Basis des Schaffensprozesses im Sinne eines Bildes vom Sprachhandeln zwischen Komponist, Interpret und Rezipienten. Das wirft noch einmal ein neues Licht auf ein bereits verwendetes Wittgenstein Zitat: »Die Menschen heute glauben, die Wissenschaftler seien da, sie zu belehren, die Dichter und Musiker etc., sie zu erfreuen. Daß diese sie etwas zu lehren haben; kommt ihnen nicht in den Sinn.« 65

Das Musikstück ist eine »Belehrung«, deren sprachliches Gegenstück der Aphorismus ist, die Form, die Wittgenstein seinen philosophischen Aussagen gibt, da »es gerade der Aphorismus vermag, Paradoxien, Brüche, Lücken und unvermittelte Wendungen des Gedankenganges, den Witz und das intellektuelle Überraschungsmoment als zur dargestellten ›Sache‹ gehörig erscheinen zu lassen.« 66 Wittgensteins Schreibweise entspricht so nicht mehr den Maßgaben wissenschaftlich-deduktiver Denkweise, sondern trägt in sich selbst stets bereits einen zeigenden Gestus. Seine Art »Lösungen« in pointierter Kleinform entsprechen

Ebd., S. 484. Stanley Cavell, »Einführende Bemerkung zur Alltagsästhetik der ›Philosophischen Untersuchungen‹«, in: Wittgenstein und die Literatur, hrsg. v. John Gibson und Wolfgang Huemer, übersetzt von Martin Suhr, Frankfurt a. M. 2006, S. 39. 65 VB, S. 501. 66 Vergl. Matthias Kroß, Klarheit als Selbstzweck. Wittgenstein über Philosophie, Religion, Ethik und Gewißheit, Berlin 1993, S. 10. Zu Wittgenstein und dem Aphorismus vergl. auch: Cavell, »Einführende Bemerkung zur Alltagsästhetik der ›Philosophischen Untersuchungen‹«; Timothy Gould, »Unruhe und die Erlangung von Ruhe. Schreiben und Methode in Wittgensteins ›Philosophischen Untersuchungen‹« in: Wittgenstein und die Literatur, hrsg. v. John Gibson und Wolfgang Huemer, übersetzt von Martin Suhr, Frankfurt a. M. 2006, S. 110–133. 63 64

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Morphologische Methode

den »Lösungen«, die Brahms für seine Variation findet (s. o.). Dass es sich dabei um ein genuin musikalisches Prinzip handelt 67 , davon ist auch Schönberg überzeugt, wie er 1936 in Prinzipien des Aufbaus illustriert: Gibt die Wissenschaft Tatsachen, die sie nach gemeinsamen Prinzipien ordnet, so erzeugt die Kunst Bilder, in denen sie den Tatsachen gemeinsame Prinzipien in freier Weise so zusammenfügt, dass der Sinn des zu Sagenden mit einem Male klar erfasst werden kann. Sie verfährt hierin, wie das Sprichwort, welches aus vielen Erfahrungen eine oft magere Weisheit abstrahiert, aber eine deren Bedeutung sofort und unzweifelhaft auffassbar wird. Und ähnlich verfährt auch der Aphorismus, in welchem meist eine gewisse Unausgeglichenheit, Nicht-Ausbalancierung kontrastierender Elemente, eine gewisse Uebertreibung der Kontraste und die rudimentäre Darstellung der Konflikte eine Erregung bezweckt, die wie bei intuitiver Erkenntnis, uns über die Notwendigkeit hinaushebt, die Details, die Nebenumstände, zu prüfen und die Wirkung einer Offenbarung ausübt. 68

67 Zum Aphorismus bzw. neuen Kurzformen der Musik des beginnenden 20. Jahrhunderts existiert eine vielfältige Forschungslandschaft, stellvertretend sei auf zwei wichtige Publikationen hingewiesen: Hermann Danuser, Musikalische Prosa (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 46), Regensburg 1975, darin vor allem »Aphorismus und musikalische Prosa (Der Begriff der musikalischen Prosa bei Arnold Schönberg)«, S. 125–144; Simon Obert, Musikalische Kürze zu Beginn des 20. Jahrhunderts (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft Bd. 63), Stuttgart 2008. 68 Schönberg »Prinzipien des Aufbaus« (15. Oktober 1936), in: The Musical Idea, S. 114.

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Michael Nedo, der Herausgeber der neuen, sogenannten »Wiener Ausgabe« der Schriften Wittgensteins, in denen der Versuch der Einbeziehung von unzähligen Fragmenten aus dem Nachlass gemacht wurde, kam während einer Rede zur Präsentation der ersten 17 Bände zu dem Schluss: He wrote completely differently from the academic, more like a fugue with repetitions of themes reappearing in changing circumstances. [For Wittgenstein] this is how you understood something, by looking at it again and again, first this way, then that, as you do a musical theme. Philosophers translating him could not understand that, and had to use their own language, which is why he has become unreadable. His heirs made the mistake of striking out the repetitions so the changing nature of his writing was lost. 69

Wittgenstein wollte keine Methode schaffen – und schon gar keine für die Kunst. Entsprechend seiner Überzeugung, nur ein Zeigen könne ein anderes Zeigen erhellen, schuf Wittgenstein vielmehr selbst ein zeigendes Gebilde, eine Art Sprachkomposition mit musikalischen Mitteln. Von solchen Beobachtungen ausgehend muss dem bekannten Paragraphen 43 der Philosophischen Untersuchungen, dass die Bedeutung eines Wortes in vielen Fällen »sein Gebrauch in der Sprache« sei, eine weitere Deutungsebene hinzugefügt werden: Wenn »Worte […] auch Taten« 70 sind, ist das nicht nur ein Hinweis auf die performative Dimension der Sprache allgemein, sondern auch auf Wittgensteins eigenen Argumentationsgestus als einer bestimmten Form sprachlichen Handelns: »Der argumentative Gestus eines auszulegenden Gegenstandes und sein Verhältnis zu ›thematischen‹ Aussagen können Spuren bilden, denen zur Annäherung an instrumentale Schichten dieses Gegenstandes gefolgt werden kann. Es kann fruchtbar sein, eine ›thematische‹ Aussage […] als Beschreibung des Denkgestus zu lesen – 69 70

Zit. n.: Simon Tait, »Mind over Music«, in: The Independent, 12. November 2003. PU I, § 546.

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Zum Schluss: »Landschaftsalbum« und musikalische Philosophie

d. h. den Inhalt gleichsam auf die Form zurückzuwenden«. 71 Indem dieser Gestus auf musikalische Prinzipien zurückgeführt und seine »Rückwendung« nachvollzogen wird, werde ich versuchen, was oben von Nedo als musikalische Schreibweise nur angedeutet wird, im Folgenden zu verdeutlichen. Für Wittgenstein dienen die Musikbeispiele der Erhellung bestimmter Aspekte und – wie bei der Doppelkreuzfigur – gleichzeitig dem Aufzeigen eines bestimmten musikalischen Gestus und seiner Rückbeziehung auf die Denkgestalt. In einer ungewöhnlichen Studie zu philologischen Aspekten der Textabfolge zweier Manuskripte versucht Peter Keicher bei Wittgenstein genuin musikalische Kompositionsverfahren nachzuweisen. Dabei will er motivische Strukturen nachvollziehen und meint, zwei Hauptthemen erkennen zu können, deren Verarbeitung bei Wittgenstein er in seinem Text verfolgt. Auch ich bin der Ansicht, dass Wittgenstein nach dem Vorbild musikalischer Prinzipien schreibt, allerdings meine ich, andere musikalische Muster als Keicher nachweisen zu können. Dieser versucht eine genaue motivische Dramaturgie herauszuarbeiten, die auf das Sonatenmodell hinauszulaufen scheint (»symphonische Dimension« und »dramaturgische Entfaltung« 72 ). Dazu kommt die Verwendung von »diatonischer Ordnung« und »chromatischer Modulation«, indem Keicher in einer kurzen Passage die Begriffe der »essentiellen« und »akzidentiellen« Chromatik bei Chopin aus der Forschung 73 entlehnt und deren Übertrag auf Wittgensteins Texte vollzieht. Trotz der interessanten und durchaus innovativen Idee muss zum einen die Metapher der Tonalität für den Aufbau von Texten immer etwas bemüht bleiben, da sie nicht über ihre Bildhaftigkeit hinaus verwendet werden kann. Zum anderen fällt der Name Chopin bei Wittgenstein nicht, es handelt sich daher um einen etwas willkürlich aufgesetzten Vergleich. 74 71 Hiltmann, Aspekte sehen, S. 20; Hiltmann bezieht sich allerdings nicht auf musikalische Vorbilder. 72 Peter Keicher, »Aspekte musikalischer Komposition bei Ludwig Wittgenstein«, in: Das Verstehen des Anderen (= Wittgenstein-Studien Bd. 1), hrsg. v. Katalin Neumer, Frankfurt a. M. u. a. 2000, S. 250 f. 73 Von Maciej Golab, Chopins Harmonik. Chromatik in ihrer Beziehung zur Tonalität, Köln 1995. 74 In einem Gespräch mit Peter Keicher (in Kirchberg 2010) erläuterte er mir, dass seine Absicht in Bezug auf diese Textanalyse eher selbst gewissermaßen ein »künsterischer Versuch« gewesen sei und daher die Wahl seiner musiktheoretischen Basis nicht im Vordergrund stand.

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Wittgenstein spricht aber tatsächlich, und das ist meist übersehen worden, über Formprinzipien musikalischer Komposition, und zwar vornehmlich bei Brahms, Bruckner, Schubert und Beethoven. Dabei kann man zwei Grundprinzipien musikalischer Formbildung herauslesen, die sein besonderes Interesse gefunden zu haben scheinen: auf der einen Seite Variation und Wiederholung, auf der anderen Seite der Kontrast oder genauer das blockartige Gegeneinanderstellen von Klangfeldern. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass diese beiden Prinzipien sich zwar vielleicht nicht für eine detaillierte philologische Analyse wie bei Keicher, doch aber für eine Wittgensteinlektüre fruchtbar machen lassen. Diese Lesart kann Aspekte seiner Schreibweise erhellen, die er selbst nahelegt, ohne sie explizit zu erläutern. Zur Variation und Wiederholung: nicht zufällig ist Brahms, der auch als »Meister der Variationenkunst«75 bezeichnet wurde, einer der häufigen Beispielgeber Wittgensteins. Zahlreiche seiner Kompositionen sind ausschließlich als Variationen gearbeitet, selbst innerhalb größerer Formen fügt Brahms nicht selten Variationssätze ein. Wittgenstein kannte und schätzte mehrere Variationswerke von Brahms, so heißt es über die Variationen und Fuge über ein Thema von Händel, B-Dur, op. 24 in einem frühen Brief: »Die Händel-Variationen von Brahms kenne ich. [Unheimlich] –.« 76 Ein Werk, welches in diesem Zusammenhang bei Wittgenstein mehrfach genannt wird, sind Brahms Variationen über ein Thema von Haydn, B-Dur, op. 56a, welche er der Schwester Margarethe gegenüber lobte, als »in the highest & cleanest cell« 77 : Ich höre Variationen über ein Thema und sage: »Ich sehe nicht, [inwiefern] das eine Variation des Themas ist, aber ich merke eine gewisse Ähnlichkeit (Analogie).« Bei gewissen charakteristischen Punkten der Variation ›wußte ich, wo ich im Thema bin‹ ; und diese Erfahrung konnte darin bestehen, daß mir blitzartig die betreffende Stelle des Themas einfiel, oder es schwebte mir ein Notenbild vor, oder ich machte die gleiche Geste, wie an jener Stelle, etc. 78

Christian Martin Schmidt, Johannes Brahms und seine Zeit, Laaber 1998, S. 91. Vergl. hierzu auch das Kapitel von Schmidts Buch »Variationen-Folgen« (ebd. S. 91–99). 76 Brief von Wittgenstein an Engelmann vom 8. April 1917, Somavilla (Hg.), Wittgenstein – Engelmann, S. 24. 77 Brief von Margarethe an Ludwig, von Ende 1942, in: McGuinness (Hg.), Familienbriefe, S. 179. 78 BEE MS 115, 25. August 1936. 75

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Ich habe bereits im Vorwort erwähnt, dass Wittgenstein ausdrücklich Wiederholung und variative Abwandlungen als Mittel der Erforschung von Zusammenhängen 79 wählt. Ein Aphorismus kehrt häufig in den verschiedenen Schriften in identischer oder leicht abgewandelter Form wieder, taucht über Jahre hinweg nicht auf und ist dann plötzlich, innerhalb eines ganz anderen Gedankenganges wieder da, 80 und dann »wusste man, wo man im Thema ist« (s. o.). Ein Beispiel habe ich mit dem Metronom im Kapitel »Psychologie und Antipsychologismus« näher ausgeführt. Ein anderes, prägnantes »Variationsfeld« bilden die Bemerkungen zu Musik und Sprache. Ich möchte hier beispielhaft drei sehr ähnliche Bemerkungen nebeneinander stellen, die erste aus den Untersuchungen, die zweite aus den Zetteln und die dritte schließlich aus der Philosophischen Grammatik, alle denkbar weit voneinander entfernt und doch augenscheinlich verwandt, wobei jede Stelle einen anderen Aspekt desselben Gedankens verhandelt: 1.

2.

Das Verstehen eines Satzes der Sprache ist dem Verstehen eines Themas in der Musik viel verwandter, als man etwa glaubt. Ich meine es aber so: daß das Verstehen des sprachlichen Satzes näher, als man denkt, dem liegt, was man gewöhnlich Verstehen des musikalischen Themas nennt. Warum sollen sich Stärke und Tempo gerade in dieser Linie bewegen? Man möchte sagen: ›Weil ich weiß, was das alles heißt.‹ Aber was heißt es? Ich wüßte es nicht zu sagen. Zur ›Erklärung‹ könnte ich es mit etwas anderem vergleichen, was denselben Rhythmus (ich meine, dieselbe Linie) hat. (Man sagt: ›Siehst du nicht, das ist, als würde eine Schlußfolgerung gezogen‹ oder: ›Das ist gleichsam eine Paranthese‹, etc. Wie begründet man solche Vergleiche? – Da gibt es verschiedenartige Begründungen.) 81 Man kann auch vom Verstehen einer musikalischen Phrase sagen, es sei das Verstehen einer Sprache. Ich denke an eine ganz kurze von nur zwei Takten. Du sagst ›Was liegt nicht alles in ihr!‹ Aber es ist nur, sozusagen, eine optische Täuschung, wenn du denkst, beim Hören gehe vor, was in ihr liegt. (›Es kommt darauf an, wer’s sagt‹.) (Nur in dem Fluß der Gedanken und des Lebens haben die Worte Bedeutung.) 82

79 Vergl. im Vorwort dieses Buches: »In diesem Sinne ist Wiederholung ein Mittel zur Erforschung dieser Verbindungen.« (Vorlesungsmitschrift von Alice Ambrose, 1933 (Zit. n.: Nedo/Ranchetti, Wittgenstein, S. 393). 80 Vergl. dazu im Einzelnen auch Hiltmann, Aspekte sehen, die auch den Forschungsstand hierüber zusammenfasst. 81 PU I, § 527. 82 Z, Nr. 172 f.

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3.

Das Verstehen eines Satzes ist dem Verstehen eines Musikstücks verwandter als man glauben würde. Warum müssen diese Takte gerade so gespielt werden? Warum will ich das Zu- und Abnehmen der Stärke und des Tempos gerade auf dieses Bild bringen? – Ich möchte sagen: ›weil ich weiß, was das alles heißt‹. Aber was heißt es denn? – Ich wüßte es nicht zu sagen. Ich kann als Erklärung nur das musikalische Bild in das Bild eines andern Vorgangs übersetzen; und dieses Bild jenes beleuchten lassen. 83

Und diese sind nur die besonders ähnlichen Stellen. Dazu kommen nicht wenige, die einfach mit »Verstehen eines Musikstücks – Verstehen eines Satzes« 84 überschrieben sind und sich dann scheinbar mit etwas anderem beschäftigen. Wittgenstein bietet zahlreiche Variationen mit kleinen und kleinsten Änderungen, die sich immer begründen lassen und der Aspekterhellung dienen. Wittgenstein bedient sich in seinen »Variationen« nicht terminologisch sauberer Begriffsbildungen, und es geht ihm schon gar nicht um eine Unterscheidung zwischen Variation als Form und Variation als Technik. 85 Wittgenstein war sicher das musikalische Prinzip der Schönbergschen »entwickelnden Variation« unbekannt, das die Abwandlung von Gestalten und sich entwickelnde Stringenz zusammenführt. Es ging ihm auch bei der Behandlung seiner eigenen »Motive« nicht um deren vegetatives Wachstum, sondern um ein kreisendes, eher statisch angelegtes Variieren: Variation interessiert Wittgenstein vielmehr als ein »Moment musikalischen Denkens« 86 . Ich werde weiter unten eine Parallele zu Schubert ziehen, über den Adorno in seinem Schubert-Aufsatz ausgerechnet die beiden Metaphern benutzt, die Wittgenstein für sein Schreiben und Denken in Anspruch nimmt: Die »Landschaft« und den »Kristall« – »ihr [der Themen Schuberts] Wuchs, bruchstückhaft durchaus und niemals sich selbst genügend, ist vegetabilisch nicht, sondern kristallinisch.« 87

PG I, Nr. 4. BPP I, § 1078. 85 Eine Erörterung der komplexen Beziehungen zwischen thematischer Arbeit und Variation im 19. Jahrhundert ist daher an dieser Stelle nicht notwendig. 86 Horst Weber, Art. Varietas, Variatio/Variation, Variante, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, 14. Auslieferung 1986/87, S. 39. 87 Theodor W. Adorno, Schubert« [1928], in: Gesammelte Schriften Bd. 17 (= Musikalische Schriften Bd. IV. Moments musicaux. Impromptus), hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2003, S. 23. 83 84

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Vorher jedoch noch einmal zurück zur »Entwicklung«: Zwar scheint Wittgenstein von Entwicklung zu sprechen, bei genauem Hinsehen liegt der Fokus aber gerade nicht auf der »natürlichen Entwicklung«, sondern auf dem Kontext der Lebensform. (Der entsprechende Satz steht in Anführungszeichen, kennzeichnet also nach der bekannten Manier einen Satz, über den Wittgenstein nachdenkt, ohne zwangsläufig seine Aussagen zu teilen.) Die ›Notwendigkeit‹, mit der der zweite Gedanke auf den ersten folgt. (Figaro Ouvertüre.) Nichts dümmer, als zu sagen, es sei ›angenehm‹ den einen nach dem andern zu hören. – Aber das Paradigma, wonach das alles richtig ist, ist freilich dunkel. ›Es ist die natürliche Entwicklung.‹ Man macht eine Handbewegung, möchte sagen: ›natürlich!‹ – Man könnte den Übergang auch einem Übergang, dem Eintritt einer neuen Figur in einer Geschichte, z. B., oder einem Gedichte, vergleichen. So paßt dies Stück in die Welt unsrer Gedanken und Gefühle hinein. 88

Wittgensteins Ziel sind nicht musikologische Erkenntnisse, sondern es ist die Schärfung des eigenen Stils an einer thematischen Arbeit, wie sie nur in der Musik zu finden ist und nicht im philosophischen Diskurs. Bei dieser Bemerkung stand offensichtlich, wie oben bei den Brahmsvariationen, das Ausleuchten der thematischen Möglichkeiten, deren »Lösung« man im Moment des Erklingens nicht anzweifelt, im Vordergrund. Wittgenstein ist in seiner Beurteilung des Entwicklungsgedankens nicht durchgehend konsequent. Als Verehrer Beethovens, der wie kaum ein anderer Komponist für Entwicklung mittels motivischthematischer Arbeit steht, scheint er ihm eine Ausnahmestellung zuzugestehen. In den überlieferten Aussagen Wittgensteins zu Beethoven zeichnet sich allerdings auch die Tendenz ab, weniger die keimhaft sich entwickelnden, als vielmehr variativ-abwandelnde (wie das in die88 VB, S. 531. Man darf hier anmerken, dass Wittgensteins Idee, die Übergänge glichen dem »Eintreten einer neuen Figur in einer Geschichte«, bei einer Opernouvertüre nicht sonderlich tiefgreifend ist. Von solchen, etwas »bildungsbürgerlichen« Bemerkungen lassen sich bei Wittgenstein mehrere finden, z. B. »Von einer Brucknerschen Symphonie kann man sagen, sie habe zwei Anfänge: den Anfang des ersten und den Anfang des zweiten Gedankens. Diese beiden Gedanken verhalten sich nicht wie Blutsverwandte zu einander, sondern wie Mann und Weib.« (VB, S. 497). Das ist durchaus typisch für Wittgenstein und sicher auch ein Grund für seine Zurückhaltung, Äußerungen über Musik schriftlich festzuhalten. Ich habe im Kapitel »Interpretation und Stil« bereits auf den Unterschied zwischen Wittgenstein als Philosophen und als Musikhörer verwiesen.

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ser Arbeit bereits mehrfach erwähnte Allegretto der 7. Sinfonie mit seiner »eigenartigen Variationenform« 89 ) oder blockhafte Sätze (wie den Beginn des Finalsatzes der 9. Sinfonie mit seinen collage-artigen Zitaten der vorangegangenen Sätze) zu bevorzugen. Brahms dagegen attestierte er zwar ein »überwältigende[s] Können« 90 und »Gedankenstärke« 91 , empfand seine Musik aber bereits als »abstrakt« 92 . In Wittgensteins Vorstellung komponierte Brahms »mit der Feder denkend«, im Gegensatz zu Bruckner, der »nur mit dem inneren Ohr und einer Vorstellung vom spielenden Orchester« 93 schrieb. (Dass diese Vorstellung eine grobe Vereinfachung ist, war ihm allerdings bewusst. 94 ) Solche Bemerkungen und die erwähnten Stücke lassen eine Tendenz Wittgensteins erkennen, Brahms als schon mit einem Bein in der Moderne stehend zu sehen: Mit Brahms ist die Musik an einen Schlußpunkt gelangt; und selbst bei Brahms kann ich schon etwas Maschinenartiges heraushören. 95 89 Albrecht Riethmüller, »7. Sinfonie A-Dur, op. 92«, in: Beethoven. Interpretationen seiner Werke, hrsg. v. Carl Dahlhaus, Albrecht Riethmüller und Alexander L. Ringer, Laaber 1994, Bd. 2, S. 47. 90 VB, S. 484. 91 VB, S. 482. 92 »In den Zeiten der stummen Filme hat man alle Klassiker zu den Filmen gespielt, aber nicht Brahms und Wagner. Brahms nicht, weil er zu abstrakt ist. Ich kann mir eine aufregende Stelle in einem Film mit Beethovenscher und Schubertscher Musik begleitet denken und könnte einer Art Verständnis für die Musik durch den Film bekommen. Aber nicht ein Verständnis Brahmsscher Musik. Dagegen geht Bruckner zu einem Film.« (VB, S. 485). 93 VB, S. 466. 94 »Kompositionen, die am Klavier, auf dem Klavier, komponiert sind, solche, die mit der Feder denkend und solche, die mit dem inneren Ohr allein komponiert sind, müssen einen ganz verschiedenen Charakter tragen und einen Eindruck ganz verschiedener Art machen. Ich glaube bestimmt, daß Bruckner nur mit dem inneren Ohr und einer Vorstellung vom spielenden Orchester, Brahms mit der Feder, komponiert hat. Das ist natürlich einfacher dargestellt, als es ist. Eine Charakteristik aber ist damit getroffen.« (VB, S. 466). 95 Wittgenstein gegenüber M. O’C. Drury, in: Rhees, Portraits und Gespräche, S. 160; Wittgensteins Begeisterung für Brahms scheint mit zunehmendem Alter schwächer geworden zu sein, so schreibt er in einem Brief an die Schwester Helene vom 16. Januar 1947: »Vor ein paar Tagen hörte ich das 2. Klavierkonzert von Brahms im Radio. Ich fand es nicht ergreifend. Und der 2. und 4. Satz ließen mich ganz kalt.« (McGuinness (Hg.), Familienbriefe, S. 188 f.); für eine solche Einschätzung des »technischen« Genies, der mit größtmöglicher Reduktion seines Materials auskomme, und bei dem »die Farben des Ochersterklanges« nicht gefällige Beigabe, sondern »Farben von Wegmarkierun-

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Eine Ansicht, die er in gewissem Sinne mit den Komponisten der Wiener Schule teilte und die trotz ihrer Laienhaftigkeit eine gewisse Einsicht in kompositorische Entwicklung beweist. Denn auch hier trifft Wittgenstein sich wieder ganz mit Schönberg, der in »Brahms der Fortschrittliche« 96 proklamiert, »daß Brahms, der Klassizist, der Akademische, ein großer Neuerer, ja, tatsächlich ein großer Fortschrittler im Bereich der musikalischen Sprache war.« 97 Und zwar – und das mag Wittgensteins große Bewunderung vor allem genährt haben – in gewissem Sinne innerhalb der Grenzen der bekannten Musik. Während manch »zeitgenössischer Komponist« sich wie ein »Tourist« »unbekümmert« 98 seinen Weg durch Konstruktions- und Formprinzipien suche, sei es, so Schönberg, »wichtig, sich klarzumachen, daß Brahms, ohne auf Schönheit und Gefühl zu verzichten, zu einem Zeitpunkt, als gen« (D, Eintrag vom 6. Mai 1931, S. 44) seien, scheint mir auch eine etwas rätselhafte Überlegung zu sprechen, die Wittgenstein 1931 in seinem Tagebuch notiert: »Wenn der Brahmsschen Instrumentierung Mangel an Farbensinn vorgeworfen wird, so muß man sagen daß die Farblosigkeit schon in der Brahmsschen Thematik liegt. Die Themen sind schon schwarz-weiß, wie die Brucknerschen schon färbig; auch wenn Bruckner sie tatsächlich aus irgendeinem Grund auf nur einem System niedergeschrieben hätte, so daß wir von einer Brucknerschen Instrumentierung nichts wüßten. Nun könnte man sagen: dann ist ja alles in Ordnung, denn zu schwarz-weißen Themen gehört auch eine schwarzweiße (farblose) Instrumentation. Ich glaube nur daß gerade hier die Schwäche der Brahmsschen Instrumentation liegt, indem sie nämlich vielfach doch nicht ausgesprochen schwarz-weiß ist. Dadurch entsteht dann der Eindruck der uns oft glauben macht, wir vermissten Farben, weil die Farben, die da sind, nicht erfreulich wirken. In Wirklichkeit vermissen wir, glaube ich, Farblosigkeit. Das zeigt sich auch oft deutlich z. B. im letzten Satz des Violinkonzerts wo es sehr merkwürdige Klangeffekte gibt (einmal als blätterten die Töne wie dürre Blätter von den Violinen ab) & wo man das doch als einen einzelnen Klangeffekt empfindet, während man die Klänge bei Bruckner als die selbstverständliche Umkleidung der Knochen dieser Themen empfindet. (Ganz anders ist es beim Brahmsschen Chorklang der der Thematik ebenso angewachsen ist wie der Brucknersche Orchesterklang der Brucknerschen Thematik.) (Die Harfe am Schluß des ersten Teils des Deutschen Requiems.) (D, Eintrag vom 24. Oktober 1931, S. 55 f.) 96 Dieser Aufsatz basiert auf einem Vortrag von 1933 und ist 1947 schließlich in Überarbeitung erschienen (in: Stil und Gedanke, S. 35–71). Schönberg beginnt seinen Text mit einer Charakterisierung der Person Brahms und stellt sich eine Szene vor, die eine gewisse Verwandtschaft des Hamburger Protestanten zu Wittgenstein erkennen lässt. Schönberg: »Ich stelle mir vor, daß Brahms hier mit seinem schützenden Wall von Trockenheit die Szene betritt und mich unterbricht: ›Genug der schönen Worte. Wenn Sie etwas zu sagen haben, sagen Sie es kurz und sachlich ohne soviel sentimentales Getue.‹« (Ebd. S. 69). 97 Schönberg, »Brahms der Fortschrittliche«, in: Stil und Gedanke, S. 38. 98 Ebd., S. 61.

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alles an ›Ausdruck‹ glaubte, sich auf einem Gebiet als fortschrittlich erwies, das seit einem halben Jahrhundert brachgelegen hatte,« 99 nämlich »einer Konstruktionsfreiheit […], die sich einer Sprache vergleichen läßt.« 100 Es ist also weniger die Entwicklung von Gedanken, die Wittgenstein verfolgt, als vielmehr ein kreisendes Argumentieren. Diese These wird untermauert durch das zweite angesprochene Grundprinzip musikalischer Formbildung, das Wittgenstein favorisiert: Die Gegenüberstellung zweier oder mehrerer teils konstrastierender, teils (scheinbar) beziehungsloser Formteile oder Blöcke. Auch Wittgenstein »komponiert« in seinen Notizbüchern und Typoskripten beständig und überwiegend »Brüche« und zelebriert das abrupte Wechseln von Themen und Motivebenen. Beispielhaft dafür ist die wiederkehrende Begeisterung für einen Satz der 3. Sinfonie von Bruckner. In diesem Satz stellt Bruckner vollkommen gegensätzliche thematische Felder mittels Generalpause nebeneinander, er reiht eher (zumindest an der von Wittgenstein beschriebenen Stelle), als dass er überhaupt den Gedanken einer Entwicklung aufkommen lässt. Wittgenstein äußert dazu: »Liebe Mining! Danke für Deinen Brief. Ich will nur schreiben daß auch mir den großen Eindruck am Scherzo der III.ten nur das Scherzo gemacht hat und zwar besonders die ersten – sagen wir – 16 Takte des Themas nach den ich glaube 8 Takten Introduktion 101 : Diese Takte (des Themas) sind auch primitiv, aber grandios. – Ja, ganz gewiß zeigt sich diese selbe Primitivität auch in der Aneinanderreihung der Themen; auch an dem gänzlichen Mangel einer Überleitung vom ersten Gedanken zum zweiten in den ersten Sätzen (ähnlich wie bei Schubert und ganz entgegengesetzt der Brahms’schen Weise.)« 102

Ebd., S. 69. Ebd., S. 61; Schönberg führt über den Gedanken der Form hinaus auch mehrere Beispiele zu »Brahm’s ungeheuer fortgeschrittener Harmonik« an. (Ebd., S. 70). 101 Tatsächlich sind es 16 Takte. 102 Ludwig an Hermine Anfang November 1931, in: McGuinness (Hg.), Familienbriefe, S. 132 f. Vergl. auch ebd. S. 131, 144 (außerdem taucht dieser musikalische Satz mehrmals in der Korrespondenz mit Rudolf Koder auf). Dass Wittgenstein sich ausgerechnet auf das möglicherweise etwas unauffällig erscheinende Scherzo dieser Sinfonie beruft, ist vielleicht kein Zufall. Es scheint allgemein zumindest in Wien aufgrund seiner Klassizität hochgelobt worden zu sein. Sogar Hanslick, der Bruckners Musik sonst mit scharfer Polemik zu begegnen pflegte, räumte ein: »Der beste Satz ist jedenfalls das Scherzo, ein rasch fortströmender Dreivierteltakt, von einer bei Bruckner seltenen Konsistenz der Form.« (Eduard Hanslick, Aus dem Tagebuch eines Rezensenten. Gesammelte Musikkritiken, hrsg. v. Peter Wapnewski, Kassel u. a. 1989, S. 53). 99

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Das betreffende Thema ist fast ohne spezifische Thematik und hat etwas martialisch Beharrendes. Tatsächlich setzt der Mittelteil des Scherzos unvermittelt konträr ein und offenbart erst im weiteren Verlauf seine untergründige Beziehung zum ersten Thema mittels der motivischen Drehfigur in den Streichern. Wittgenstein setzt damit die feldartige Brucknersche Kompositionsweise gegen die entwickelnd-vermittelnde von Brahms. In den Kompositionen Schuberts findet Wittgenstein nun im Sinne der Vordergrund-Hintergrund-Struktur beide beschriebenen Elemente wieder. Ensprechend dem obigen Zitat (»ähnlich wie bei Schubert«, s. o.) fasziniert ihn dessen eigentümlicher, spezifisch undramatischer Formverlauf. In seinen sinfonischen Kompositionen zeichnet sich Schubert gelegentlich durch eine Art Aneinanderreihung von blockartigen Feldern aus, die nicht im klassischen Sinne stringent motivisch-thematisch entwickelt werden, sondern oft in unveränderter Form wiederkehren, als die »Wiederkehr des Gleichen in der ausgebreiteten Vielfalt.« 103 Auch die moderne Schubert-Foschung bestätig diesen Eindruck, dass unterschiedliche Komplexe und Motivfelder in eine große, nur noch als Fläche hörbare Einheit umschlagen können. 104 Adorno beschreibt Schuberts kompositorische Anlage so, dass sie auch für Wittgensteins Schreiben gelten könnte; gerade die Formulierungen der »Beschwörung«, der »Umbelichtung« und schließlich der »wachsenden Kristalle« lassen sich ohne Umschweife auf Wittgenstein übertragen: Seine Themen sind Erscheinungen von Wahrheitscharakteren, und das Vermögen des Künstlers ist darauf beschränkt, ihr Bild mit Gefühl zu treffen, und nachdem es einmal erschienen, es wieder und wieder zu zitieren. Kein Zitat aber geschieht zur gleichen Zeit, und darum wechselt die Stimmung. Schuberts Formen sind Formen der Beschwörung des einmal Erschienenen, nicht der Verwandlung des Erfundenen. […] Da treten anstelle von entwickelnden Vermittlungssätzen harmonische Rückungen als UmbelichtunAdorno, »Schubert«, S. 26. Vergl. Hans-Joachim Hinrichsen, »Die Sonatenform im Spätwerk Franz Schuberts«, in: Archiv für Musikwissenschaft, 45. Jg, Hft. 1 (1988), S. 16–49, insbes. S. 47 ff. Hier relativiert Hinrichsen, bei aller Neigung zu Parataxe, Symmetrie und Wiederholung seien Schuberts Sonatensätze trotzdem Entwicklungsformen, allerdings undramatisch verstanden (ebd. S. 49); vergl. auch die umfassende Studie Hinrichsens, Untersuchungen zur Entwicklung der Sonatenform in der Instrumentalmusik Franz Schuberts, Tutzing 1994. 103 104

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gen und führen in ein neues Landschaftsbereich, das in sich so wenig Entwicklung kennt wie der vorige Teil; da wird in Durchführungen verzichtet, die Themen motivisch zu zergliedern, um aus ihren kleinsten Teilen den dynamischen Funken zu schlagen, sondern die unabänderlichen Themen werden fortschreitend enthüllt; da werden rückschauend Themen wieder aufgenommen, die durchmessen, nicht aber vergangen sind; und über allem liegt gleich einer dünnen knisternden Hülle die Sonate, die die wachsenden Kristalle überzieht, um bald zu durchbrechen.105

Bei Schubert zeigt sich für Wittgenstein zusätzlich neben Wiederholungsstrukturen und großen Klangfeldern in der Sinfonik und Kammermusik insbesondere das »Aufleuchten eines neuen Aspektes« mittels unerwarteter, harmonischer Modulation auf ganz unmittelbare Weise (wie Adornos »Umbelichtungen«, s. o.). Der Nachfolger auf Wittgensteins Lehrstuhl für Philosophie in Cambridge, Georg Henrik von Wright, beschreibt in einer biografischen Skizze die Querständigkeit des Stils seines Freundes und zieht erste Parallelen zu musikalischen Kompositionsprinzipien: An aspect of Wittgenstein’s work which is certain to attract growing attention is its language. It would be surprising if he were not one day ranked among the classic writers of German prose. The literary merits of the Tractatus have not gone unnoticed. The language of the Philosophical Investigations is equally remarkable. The style is simple and perspicuous, the construction of sentences firm and free, the rhythm flows easily. The form is sometimes that of dialogue, which questions and replies; sometimes, as in the Tractatus, it condenses to aphorisms. There is a striking absence of all literary ornamentation, and of technical jargon or terminology. The union of measured moderation with richest imagination, the simultaneous impression of natural continuation and surprising turns, leads one to think of some other great productions of the genius of Vienna. (Schubert was Wittgenstein’s favourite composer.) 106

Die von von Wright angesprochenen »surprising turns« stellen ein wesentliches Merkmal der Schubertschen Tonsprache dar und exemplifizieren das dialektische Verhältnis von Komplexität und Einfachheit, welches typisch für Schubert und Wittgenstein ist. Vor allem in Schuberts Liedern bildet eine Vereinfachung des äußeren Formverlaufs den Hintergrund, auf dem die harmonischen Überraschungen um so Adorno, »Schubert«, S. 27. Georg Henrik von Wright, »Biographical Sketch«, in: Norman Malcolm, Ludwig Wittgenstein. A memoir, London u. a. 1966, S. 21. 105 106

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eindrücklicher »aufleuchten« 107 : »Wie Blenden verstellen jene plötzlichen, entwicklungsfremden, niemals vermittelnden Modulationen das Oberlicht« 108 , so Adorno. Wittgenstein bezeichnet diese »Blenden« als »Pointen«, deren zeigender Charakter einen ständigen Lichtwechsel über dem Dargestellten herbeiführt: Von den Melodien Schuberts kann man sagen, sie seien voller Pointen, und das kann man von den Mozarts nicht sagen; Schubert ist barock. Man kann auf gewisse Stellen einer Schubertschen Melodie zeigen und sagen: siehst Du, das ist der Witz dieser Melodie, hier spitzt sich der Gedanke zu. 109

Wittgenstein wollte die wenigen Stücke, mit denen er sich offensichtlich wieder und wieder beschäftigte, so gut wie möglich kennen lernen, nicht so sehr aus dem Bedürfnis, etwas über Musikgeschichte zu lernen, sondern um etwas über sich selbst zu lernen. McGuinness beschreibt dieses Verhalten: Immer wieder kam er auf die gleiche Stelle oder das gleiche Gedicht zurück, wenn dieses ihm ›etwas sagte‹, wie er auch beim Hören einer Schallplatte die Nadel mehrmals an die gleiche Stelle und an einen musikalischen Übergang zurückführte, aus dem er alles herausholen wollte. 110

Diese Haltung beschreibt auch einen Grund, warum Schubert einen so hohen Stellenwert in Wittgensteins Kosmos einnimmt. 111 In seiner Vorstellung zweifelte Schubert mit seinem bekannten Wunsch, gegen Ende seines Lebens noch einmal Unterricht im Kontrapunkt nehmen zu wollen, nicht etwa an seinem stilistischen Können, sondern er wollte vielmehr erneut suchend seine Stellung in den kompositorischen Traditionen hinterfragen – eine Haltung, die Wittgenstein auch für sich 107 Vergl. Marie Agnes Dittrich, »Vokalmusik. Die Lieder«, in: Schubert-Handbuch, hrsg. v. Walther Dürr und Andreas Krause, Kassel u. a. 1997, S. 155 und 158. 108 Adorno, »Schubert«, S. 29. 109 VB, S. 516 f.; Wittgensteins Verständnis von »barock« scheint einem ganz persönlichen, und nicht musikhistorischem Eindruck zu folgen, und bei seiner Beschreibung der Pointen ist das harmonische Element sicher zu ergänzen. 110 McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, S. 69. 111 McGuinness stellt diese Beziehung bereits unmissverständlich her, er trifft allerdings, wie ich meine, nur einen Aspekt dieser Beziehung in einer auf Schubert so nicht ganz zutreffenden Bemerkung: »Schubert zog ihn noch aus einem anderen Grunde an, in dem Ethisches und Ästhetisches einander durchdringen: Gemeint ist der Gegensatz zwischen dem Elend von Schuberts Leben und der völligen Abwesenheit dieses Elements in seiner Musik, dem Fehlen jeglicher Bitterkeit.« (Ders., Wittgensteins frühe Jahre, S. 205).

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und seine Stellung zu den philosophischen Traditionen in Anspruch nahm: Der Kontrapunkt könnte für einen Komponisten ein außerordentlich schwieriges Problem darstellen; das Problem nämlich: in welches Verhältnis soll ich mit meinen Neigungen mich zum Kontrapunkt stellen? Er mochte ein konventionelles Verhältnis gefunden haben, aber wohl fühlen, daß es nicht das seine sei. Daß die Bedeutung nicht klar sei, welche der Kontrapunkt für ihn haben solle. (Ich dachte dabei an Schubert; daran, daß er am Ende seines Lebens noch Unterricht im Kontrapunkt zu nehmen wünschte. Ich meine, sein Ziel sei vielleicht nicht gewesen, einfach mehr Kontrapunkt zu lernen, als vielmehr sein Verhältnis zum Kontrapunkt zu finden.) 112

Das kompositorische Verfahren, hier der Kontrapunkt, bei Wittgenstein Variation und Kontrast, sollte in diesem Sinne immer die Möglichkeit in sich bergen, dem Hörer die Aufgabe der Positionierung zu überlassen, die Anforderung, sich der Musik selbst gegenüber einzuordnen und weniger durch die technische Kraft des Komponisten in die aufgefächterten Welten möglicher Entwicklung mit fortgerissen zu werden. Schubert ließ für Wittgenstein diese Möglichkeit der eigenen Positionierung und des sich immer neu gegenüber der Musik Einfindens offenbar zu. Schuberts »pointierte« Gedanken, die sich oft nicht im klassischen Sinne entwickeln, sondern durch ihre ständige Wiederholung, ihr kreisendes Insistieren auf den immergleichen thematischen Feldern plötzlich einen Aspekts zum »Aufleuchten« bringen, bilden ein wesentliches Merkmal des Wittgensteinsschen Stilideals: Eines ist, in Gedanken säen, eines, in Gedanken ernten. Die beiden letzten Takte des ›Tod und Mädchen‹ Themas, das ~; man kann zuerst verstehen, daß diese Figur konventionell, gewöhnlich, ist, bis man ihren tiefern Ausdruck versteht. D. h., bis man versteht, daß hier das Gewöhnliche sinnerfüllt ist. 113

Wittgenstein verweist hier offenbar auf die Doppelschlagfigur, die in Schuberts Streichquartett Nr. 14 d-Moll D 810 114 nur einmal, an sehr markanter Stelle auftaucht, eben am Ende des »Tod und Mädchen«-Themas zu Beginn des zweiten Satzes. Das 1824 entstandene VB, S. 506 f. VB, S. 523. 114 Den Hinweis, dass diese Bemerkung eher auf das Quartett als auf das gleichnamige Lied Schuberts zielt, verdanke ich Stefan Rohringer. 112 113

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Quartett nimmt dabei das Thema aus dem gleichnamigen Lied von 1817 auf, die bezeichnete Stelle nimmt auch dort eine prominente Position ein, jedoch ohne das im Quartett notierte Doppelschlagzeichen. Diese Tilde ist eine häufig anzutreffende Verzierungsfigur mit einer festgelegten Ausführungsstruktur. Nicht weniger konventionell ist auch das, was diese Verzierung gewissermaßen ›tut‹ : Die Aufhellung des Mollkontextes des Themas mittels der alten Tradition der sogenannten picardischen Terz, welche – passend zum Inhalt des Themas – bereits in der Musik vor Schuberts Zeiten nicht selten bedeutungsleitende Funktion in theologisch-sakralem Sinne hatte (oft im Kontext von Auferstehung, Trost, etc.). Was passiert an dieser Stelle? Der Satz beginnt in g-Moll, um sich, nach der Moll-Wiederholung ab Takt 13 den leitereigenen Dur-Tonarten B-Dur und Es-Dur zuzuwenden. In den letzten vier Takten wäre nun gewissermaßen ›eigentlich‹ die Rückmodulation nach g-Moll zu erwarten, überraschend sind jedoch die von Wittgenstein bezeichneten »beiden letzten Takte« des Themas: Im vorletzten Takt steht ein G-Dur Quartsextakkord, dessen Terz in der Bratsche bei der folgenden Auflösung in den Dominantseptakkord in der obersten Stimme erscheint und somit eine emphatische Übersteigerung des Septakkordes durch die Tredezime erreicht. Die erste Violine erreicht diese besondere Note über die genannte Doppelschlagfigur, somit kommt der von Wittgenstein benannten Figur in der Schlusskadenz die Aufgabe zu, die Durterz überdeutlich aufleuchten zu lassen. Als Tredezime über dem Dominantgrundton wird sie bereits strahlend hervorgehoben und damit die Verwandlung ins Dur vollzogen. Sowohl der Quartsextakkord als auch die Doppelschlagfigur mit der picardischen Terz sind zwar konventionelle kompositorische Mittel, machen aber gerade das dialektische Verhältnis von Einfachheit, die in Komplexität umschlägt, deutlich. »Das Gewöhnliche« ist hier plötzlich »sinnerfüllt«, so Wittgenstein. Auch hier empfindet Adorno ähnlich und führt auf seine Weise aus, was Wittgenstein nur andeutet: Im letzten großen allegorischen Gedicht der deutschen Sprache, dem Bilde des Matthias Claudius vom Tod und vom Mädchen, erreicht der Wanderer den Schwerpunkt seiner Landschaft. Dort wird das Wesen Moll offenbar. Aber wie beim ertappten Kinde die Strafe der Tat, wie im niedrigsten Sprichwort die Hilfe der Not auf dem Fuße folgt, so folgt auf jenem Punkte Trost der Trauer auf dem Fuße. Die Rettung geschieht im kleinsten Schritt; in der Ver-

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wandlung der kleinen in die große Terz; so dicht rücken beide aneinander, daß die kleine Terz nach dem Erscheinen der großen als deren Schatten sich enthüllt. 115

Dass Wittgenstein in dieser Wiederholung ein Beispiel dafür sieht, wie das Gewöhnliche, Konventionelle und selbstverständlich Erscheinende durch diesen Gestus des »Zweimal-sagens« mit »Sinn« erfüllt wird, macht eine gewisse Vorbildfunktion dieser Kompositionsweise für das eigene Schreiben deutlich: ›Die Wiederholung ist notwendig.‹ Inwiefern ist sie notwendig? Nun singe es, so wirst Du sehen, daß ihm erst die Wiederholung seine ungeheure Kraft gibt. 116

Wenn Adorno von »Schuberts […] kristallinischer Form« 117 spricht, werden die Parallelen zu Wittgenstein unmittelbar deutlich. Das bereits im Vorwort dieses Buches herausgestellte Bemühen Wittgensteins um diese kristalline Form erhält hier in ihrer unmittelbaren Verknüpfung zur Musik eine neue Deutungsebene: Ich denke oft das Höchste was ich erreichen möchte wäre eine Melodie zu komponieren. Oder es wundert mich daß mir bei dem Verlangen danach nie eine eingefallen ist. Dann aber muß ich mir sagen daß es wohl unmöglich ist daß mir je eine einfallen wird, weil mir dazu eben etwas wesentliches oder das Wesentliche fehlt. Darum schwebt es mir ja als ein so hohes Ideal vor weil ich dann mein Leben quasi zusammenfassen könnte; und es krystalliert hinstellen könnte. Und wenn es auch nur ein kleines schäbiges Krystall wäre, aber doch eins. 118

In der Forschung wird dieses Zitat meist nur im Hinblick auf den Begriff des »Kristalls« interpretiert. Tatsächlich geht es hier aber um Musik, mehr noch, um die Idee des Komponierens. 119 Ebenfalls im Vorwort dieses Buches ist bereits das zweite Bild Adorno, »Schubert«, S. 30 f. VB S. 523; vergl. auch BPP I, § 435 (dort fehlt allerdings das Schubertbeispiel). 117 Adorno, »Schubert«, S. 27. 118 D, Eintrag vom 28. April 1930, S. 21. 119 Interessanterweise ist die Kristall-Metapher ab den 1920er Jahren in Wien häufig im kompositorischen Umfeld Schönbergs in zahlreichen Kritiken und Analysen anzutreffen und mag Wittgenstein auch in diesem Kontext bekannt gewesen sein. Vergl. u. a. Rafael Köhler, »Der Kristall als ästhetische Idee. Ein Beitrag zur Rezeptions- und Ideengeschichte der Zweiten Wiener Schule«, in: Archiv für Musikwissenschaft, 42. Jg, H. 4 (1985), S. 241–262. 115 116

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Adornos für Schubert angedeutet, nämlich das der Landschaft. Auch Wittgensteins Aphorismen wollen in diesem Sinne »durchwandert« werden: Die philosophischen Bemerkungen dieses Buches sind gleichsam eine Menge von Landschaftsskizzen, die auf diesen langen und verwickelten Fahrten entstanden sind. Die gleichen Punkte, oder beinahe die gleichen, wurden stets von neuem von verschiedenen Richtungen her berührt und immer neue Bilder entworfen. Eine Unzahl dieser waren verzeichnet, oder uncharakteristisch, mit allen Mängeln eines schwachen Zeichners behaftet. Und wenn man diese ausschied, blieb eine Anzahl halbwegser übrig, die nun so angeordnet, oftmals beschnitten, werden mußten, daß sie dem Betrachter ein Bild der Landschaft geben konnten. – So ist also dieses Buch eigentlich nur ein Album. 120

Ihre Konzeption ist nicht auf ein sagbares Ziel und doch immer auf einen sich zeigenden Fluchtpunkt gerichtet, wie es Adorno für Schubert konstatiert: Der exzentrische Bau jener Landschaft, darin jeder Punkt dem Mittelpunkt gleich nah liegt, offenbart sich dem Wanderer, der sie durchkreist, ohne fortzuschreiten: alle Entwicklung ist ihr vollkommenes Widerspiel, der erste Schritt liegt so nahe beim Tod wie der letzte, und kreisend werden die dissoziierten Punkte der Landschaft abgesucht, nicht sie selber verlassen. […] Nicht Geschichte kennen sie, sondern perspektivische Umgehung: aller Wechsel an ihnen ist Wechsel des Lichtes. […] dem Wandernden allein begegnen unverändert, aber anderen Lichtes die gleichen Partien wieder, die ohne Zeit sind und unverbunden vereinzelt sich darstellen. 121

In einer »Landschaftsskizze« all dessen, was unsere Lebensform ausmacht, bleibt der Sinn einzig in einem gemeinsamen »Fluchtpunkt« sichtbar. Und für Wittgenstein besteht dieser Fluchtpunkt in der immerwährenden Suche nach einem ethischen Lebensentwurf: Ob es sich um das Aufstellen mathematischer Axiome handelt, um das Schneidern eines Anzugs oder um Musik: immer geht es ihm um das »richtige«, klarstmögliche in-Beziehung-setzen von Aspekten und das immerwährende Suchen der eigenen Position in diesem Geflecht – wie Schuberts Suche nach seiner Stellung zum Kontrapunkt. Dass man diesen Ansatz nicht unbedingt immer ethisch weiterdenken muss, räumt Wittgenstein selbst ein, indem er, wie gesehen, sein Denken in 120 121

PU I, Vorwort, S. 9 f. Adorno, »Schubert«, S. 25 f.

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einen Prozess jeweils historisch-kulturell legitimierter Sprachspiele stellt: »Man muss die Erklärung geben, die akzeptiert wird. Das ist der ganze Witz der Erklärung.« 122 Denn – um noch einmal obiges Zitat aufzugreifen: »Was wir wirklich wollen, um ästhetische Rätsel zu lösen, sind gewisse Vergleiche – die Zusammenführung von bestimmten Fällen.« 123 Im Englischen kann man glücklich unterscheiden zwischen »Meaning« und »Impact«. Im Grunde bezeichnet das den Unterschied, den Wittgenstein in der Frage der musikalischen Bedeutung zu begründen versucht. Dieser »Impact«, die Bedeutsamkeit von Musik, wird von der Menge aller Faktoren bestimmt, mit denen wir im Gespräch stehen und deren Sprache wir sprechen. Das hat nichts mit Beliebigkeit zu tun, sondern ist eine Warnung Wittgensteins beim Verstehen von Musik aus Gründen einer falsch aufgefassten Wissenschaftlichkeit Methode und System – egal welcher Art – zu verabsolutieren. Denn eine statische Methode, ein festgelegtes System, kann der immer neu geschehenden Musik in ihrer Dichte und dem immer historisch vermittelten Verstehen in seiner Komplexität nicht hinreichend gerecht werden. Würde an dieser Stelle ein Fazit stehen oder gar eine Zusammenfassung, hieße dies in der Konsequenz, Wittgenstein trotz allem doch gründlich missverstanden zu haben. Oder, um es mit Wittgensteins eigenen Worten aus dem Vorwort der Philosophischen Untersuchungen zu sagen: Ich möchte nicht mit meiner Schrift Anderen das Denken ersparen. Sondern, wenn es möglich wäre, jemand zu eigenen Gedanken anregen. 124

In diesem Sinne muss auch die hier versuchte Engführung der Art des Wittgensteinschen Komponierens und musikalischen »Lösungswegen« verstanden werden: Wittgenstein lädt immer wieder dazu ein, alte Fragen in neuem Licht zu sehen – innerhalb bekannter Sprachspiele neue Aspekte zu erhellen, wie er es an dem »großen Könner« Brahms bewunderte. Oder eben, wie bei Schubert, das Gewöhnliche durch eine kleine Wendung, durch eine kompositorische Pointe, mit immer neuem Sinn zu füllen, der nicht unbedingt hinterfragbar ist, wenn er uns »zufrieden« stellt. 122 123 124

VÄ II, Nr. 39. VÄ IV, Nr. 2. PU I, Vorwort, S. 11.

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Wie Wittgensteins »Landschaftsskizzen« können daher auch Schuberts »Kristalle« letztlich nur als »Fragment« bestehen, wie Adorno feststellt: In ihrer Unregelmäßigkeit setzt die Autonomie des getroffenen Bildes über dem abstrakten Willen zur puren Formimmanenz sich durch; ins Gefüge der subjektiven Intentionen und ihrer geschichtlich gesetzten Stilkorrelate jedoch legt sie rechtmäßig Brüche: so muß das Werk Fragment bleiben. 125

Ein Versuch, aus Wittgensteins Aussagen ein pragmatisches System zur Analyse oder zumindest eine Methode abzuleiten, hätte Wittgenstein direkt widersprochen. Statt dessen steht da eine Flut von sich je einstellenden Sprachspielen und ihrer sinnkonstituierenden Kontexte. Einzigartige Objektivationen, musikalische Arbeiten an denen sich ein Aspekt für mich erhellt – oder nicht. Tatsächliches Sprechen ist immer performativ, der Vollzug des Sprechens selbst kann nicht wieder mitgeteilt werden, wie Wittgenstein schon im Tractatus feststellt. Sagen und Zeigen sind absolut voneinander getrennt: Den Elementen der Musik, um die es uns, so Wittgenstein »eigentlich geht« (s. o.), kann man sich zwar teilweise beschreibend annähern, sie können letztlich aber nur performativ durch anderes Zeigen – z. B. das musikalische – aufgewiesen werden. Und eine zeigende Philosophie ist notwendigerweise unsystematisch, sich selbst herstellend, eben performativ. Die Ergebnisse einer »Anwendung« der nicht vorhandenen Musikphilosophie Wittgensteins müssen anders aussehen, als unser eingeübtes, systematisch-methodisches Denken nahelegt. Insofern ist auch der Titel dieses Buches in gewissem Sinne irreführend, weil er eine Provokation enthält. Der Begriff der »Musikphilosophie« kündigt etwas an, was im eigentlichen Sinne des Wortes von Wittgenstein nicht in einem entsprechenden Maße verdichtet worden ist. »Musikphilosophie« meint hier vielmehr den von mir aufgenommenen Denkprozess Wittgensteins, der sich durch Kompilation, Nachzeichnung und hartnäckige Ausleuchtung herausbilden lässt. Es ging mir auch mit der Wahl des Titels darum, etwas nicht Verfestigtes und auf traditionelle Weise auch nur bedingt Verfestigbares sichtbar zu machen und in einer Form in die Tradierung einzubringen, in der es den ihm entsprechenden Rang einnehmen kann. Zwar kann am Ende niemals ein System stehen und es kann keine 125

Adorno, »Schubert«, S. 28.

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festen Antworten geben. Aber nach all der »Belehrung« (s. o.) kann sich der »Stil unseres Denkens« verändert haben. Wittgenstein will letztlich nichts anderes, als uns immer wieder dahin zu lenken, darauf zu achten, was wir mit unserer Sprache tun. Wie wir z. B. Begriffe verwenden und diese Begriffe wiederum vielleicht Probleme verursachen, deren Oberflächengrammatik uns ein Problem des Sinnes eines ganzen Satzes und mit ihm der ganzen Sachlage vermuten lassen. Wie gehen wir mit unserer Sprache der Musik gegenüber um? Was suchen wir in den Diskursen über Bedeutung, über »musical meaning«? Wird das Wort »Bedeutung« noch im Kontext der Entstehungszeit des Werkes begriffen? Oder wird die Frage überhaupt erst durch eine neue Familienähnlichkeit im Wortfeld aufgeworfen? Bestimmt die Art unserer Frage nicht schon die Art der Theorie, die zu ihrer Lösung benötigt wird, mithin die Antwort? Auf eine solche Art von Fragen kann es keine Antwort geben: Die Fragen sind immer wieder selbst die Lösung: Hier stoßen wir auf eine merkwürdige und charakteristische Erscheinung in philosophischen Untersuchungen: Die Schwierigkeit – könnte ich sagen – ist nicht, die Lösung zu finden, sondern, etwas als die Lösung anzuerkennen, was aussieht, als wäre es erst eine Vorstufe zu ihr. ›Wir haben schon alles gesagt. – Nicht etwas, was daraus folgt, sondern eben das ist die Lösung!‹ Das hängt, glaube ich, damit zusammen, daß wir fälschlich eine Erklärung erwarten; während eine Beschreibung die Lösung der Schwierigkeit ist, wenn wir sie richtig in unsere Betrachtung einordnen. Wenn wir bei ihr verweilen, nicht versuchen, über sie hinauszukommen. Die Schwierigkeit ist hier: Halt zu machen. 126

Verschiedene Sprachspiele der Musikwissenschaft und -theorie, aber auch des Musikgenusses, Konzertbesuchs oder eigenen Musizierens ergeben verschiedene »Nester« von Sätzen. »Die Schwierigkeit ist hier«, diese »Nester« als Beschreibungen eines bestimmten Umfeldes, einer bestimmten Kultur oder »Lebensform« zu akzeptieren. Die Beschreibung und das Sichtbarmachen ihrer Aspekte ist die Lösung, die wir tatsächlich suchen, so Wittgenstein, und über die hinaus nichts mehr zu sagen ist. Und Wittgenstein zeigt wieder und wieder, nicht zuletzt in seinen Bemerkungen zur Musik, wie unendlich viel schwerer diese Einsicht ist, als man leichthin annehmen mag.

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Z, Nr. 314.

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Verzeichnis der verwendeten Literatur

Ludwig Wittgenstein: zitierte Werke nach Siglen Wittgenstein, Ludwig, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen (= Werkausgabe Bd. 1), hrsg. v. G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright, Frankfurt a. M. 1984 (TLP zitiert nach Dezimalnummerierung, TB zitiert nach Datum und Seitenzahl). PB Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Bemerkungen, (= Werkausgabe Bd. 2), aus dem Nachlaß hrsg. v. Rush Rees, Frankfurt a. M. 1984 (zitiert nach Teil und Paragraph). WWK McGuinness, Brian (Hg.), Wittgenstein und der Wiener Kreis. Gespräche (= Werkausgabe Bd. 3), aufgezeichnet von Friedrich Waismann, Frankfurt a. M. 1957 (zitiert nach Seitenzahl). PG Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Grammatik (= Werkausgabe Bd. 4), hrsg. v. Rush Rhees. Frankfurt a. M. 1969 (zitiert nach Teil und Nummer). BlB, EPhB Wittgenstein, Ludwig, Das Blaue Buch. Eine Philosophische Betrachtung (Das Braune Buch) (Werkausgabe Bd. 5), hrsg. v. Rush Rees 1985, Frankfurt a. M. 1982 (BlB zitiert nach Seitenzahl, EPhB zitiert nach Teil, Nr. und Seitenzahl). BGM Wittgenstein, Ludwig, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik (= Werkausgabe Bd. 6), hrsg. v. G. E. M. Anscombe, Rush Rhees und G. H. von Wright, Frankfurt a. M. 1984 (zitiert nach Teil und Nr.) BPP, LBPP Wittgenstein, Ludwig, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. Letzte Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, (= Werkausgabe Bd. 7), hrsg. v. G. E. M. Anscombe und G. H. Von Wright, 1984 (zitiert nach Teil und Paragraph). ÜG, BF, Z, VB Wittgenstein, Ludwig, Über Gewißheit. Bemerkung über die Farben. Zettel. Vermischte Bemerkungen, (= Werkausgabe Bd. 8), hrsg. v. G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright, Frankfurt a. M. 1970 (ÜG zitiert nach Seitenzahl, BF zitiert nach Teil und Nr., Z zitiert nach Nr., VB zitiert nach Seitenzahl). PU Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, hrsg. v. G. E. M. Anscombe, G. H. Von Wright und Rush Rees TLP, TB

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Verzeichnis der verwendeten Literatur

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1952, Frankfurt a. M. 1972 (Teil I zitiert nach Paragraph, Teil II nach Abschnitt und Seitenzahl). Wittgenstein, Ludwig, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hrsg. und übersetzt v. Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 1989 (zitiert nach Seitenzahl) Wittgenstein, Ludwig, Bemerkungen über Frazers Golden Bough, in: Ders., Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hrsg. und übersetzt v. Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 1989, S. 29–46 (zitiert nach Seintenzahl). Wittgenstein, Ludwig, »Aufzeichnungen für Vorlesungen über ›privates Erlebnis‹ und ›Sinnesdaten‹«, in: Ders., Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hrsg. und übersetzt v. Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 1989, S. 47–100 (zitiert nach Seitenzahl). Wittgenstein, Ludwig, Denkbewegungen. Tagebücher 1930– 1932/1936–1937 (MS 183), Teil 1: Normalisierte Fassung, hrsg. v. Ilse Somavilla, Innsbruck 1997. Wittgenstein, Ludwig, Wittgensteins’s Nachlass. The Bergen Electronic Edition, the complete edition on CD-ROM (6 CDROMs), Oxford 2000 (zitiert nach Manuskriptnummer und Seitenzahl oder Datum). Wittgenstein, Ludwig, Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben, zusammengestellt und hrsg. aus Notizen v. Yorick Smythies, Rush Rhees und James Taylor von Cyril Barrett, übersetzt von Ralf Funke, Frankfurt a. M. [2000] 2005 (zitiert nach Teil und Nr. (soweit vorhanden) sonst nach Seitenzahl). Wittgenstein, Ludwig, The Big Typescript, hrsg. v. Michael Nedo, Wien 2000 (zitiert nach Seitenzahl).

Zitierte Wittgenstein-Briefwechsel Alber, Martin, Wittgenstein und die Musik. Briefwechsel Ludwig Wittgenstein – Rudolf Koder, Innsbruck 2000. McGuinness, Brian F./von Wright, Georg Henrik, Wittgenstein. Briefwechsel, Frankfurt a. M. 1980 Somavilla, Ilse (Hg.), Wittgenstein – Engelmann. Briefe, Begegnungen, Erinnerungen, unter der Mitarbeit von Brian McGuinness, Innsbruck 2006. Wittgenstein, Ludwig, Briefe an Ludwig von Ficker, hrsg. v. Georg Henrik v. Wright unter Mitarbeit von Walter Methlagl, Salzburg 1969. Wittgenstein, Ludwig, Letters to C. K. Ogden with Comments on the English translation of the Tractatus Logico-Philosophicus, hrsg. With an introdution by Georg Henrik von Wright and with an appendix of letters by Frank Plumpton Ramsey, Oxford 1973.

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Verzeichnis der verwendeten Literatur

Verwendete Literatur zu Wittgenstein 1 Abel, Gu¨nther, Interpretationswelten, Frankfurt 1993. Abel, Gu¨nter, »Sagen und Zeigen«, in: Kultur der Zeichen, hrsg. v. Werner Stegmaier (= Zeichen und Interpretation VI), Frankfurt a. M. 2000, S. 61–98. Aeschenbach, Sebastian, »Peut-on dire le Musique?«, in: Dissonanz Nr. 98 (Juni 2007), S. 28–30. Alber, Martin, »,Jetzt brach ein ander Licht heran, …‹. Über Aspekte des Musikalischen in Bbiographie und Werk Ludwig Wittgensteins«, in: Wittgenstein und die Musik. Briefwechsel Ludwig Wittgenstein – Rudolf Koder, hrsg. v. Martin Alber, Innsbruck 2000, S. 138–193. Alber, Martin, »Joseph Labor und die Musik der Wittgenstein-Familie«, in: Wittgenstein und die Musik. Briefwechsel Ludwig Wittgenstein – Rudolf Koder, hrsg. v. Martin Alber, Innsbruck 2000, S. 121–137. Aldrich, Virgil C., »Pictural Meaning, Picture Thinking, and Wittgenstein’s Theory of Aspect«, in: Essays on Metaphor, hrsg. v. Warren A. Shibles, Whitewater, Wisc. 1972, S. 93–103 Aldrich, Virgil C., »Visuelle Metapher«, in: Theorie der Metapher, hrsg. v. Anselm Haverkamp, Darmstadt 1983, S. 142–159. Appelquist, Hanne, Wittgenstein and the conditions of musical communication (= Acta Philosophica Fennica Bd. 85), Helsinki 2008. Arnswald, Ulrich, Der Denker als Seiltänzer. Ludwig Wittgenstein über Religion, Mystik und Ehtik, Düsseldorf 2001. Arnswald, Ulrich/Kertscher, Jens/Kroß, Matthias (Hg.), Wittgenstein und die Metapher, Berlin 2004. Arroyo, Gustavo, Wittgensteins analogisches Denken, (= Forschungsergebnisse zur Philosophie Bd. 73), Hamburg 2006. Baker, Gordon P./Hacker, Peter, rules, grammar and necessity. An analytical commentary on the »Philosophical investigations« Bd. 2, Oxford 2000. Baltzer, Ulrich/Scho¨nrich, Gerhard (Hg.), Institutionen und Regelfolgen, Paderborn 2002. Bambrough, Renford, »Universals and Family Resemblances«, in: Wittgenstein. The Philosophical Investigations. A collection of Critical Essays, hrsg. v. George Pitcher, New York 1966, S. 187–230. Baum, Wilhelm, Wittgenstein, Rilke und Ludwig von Ficker. Über die Schwierigkeiten, einen Verleger für den ›Tractatus logico-philosophicus‹ zu finden, Wien 1993. Zu Wittgensteins Werk liegen mehrere umfangreiche Bibliographien vor. Aktuellere Titel sind: Stuart Shanker/V. A. Shanker (Hg.), A Wittgenstein Bibliography, London 1986 [Reprint 2000]; Gernot Uwe Gabel, Ludwig Wittgenstein. A comprehensive bibliography of international theses and dissertations 1933–1985, Köln 1988; Guido Frongla/ Brian McGuinness, Wittgenstein. A Bibliographical guide, Cambridge Mass. 1990; sowie die digitalen »Wittgenstein Bibliographien« in den Wittgenstein Studies von Norbert Heinrichs und Rudolf Haller: »1950–1960«, in: 1/1995; »1961–1970«, in: 2/1995; »1970–1982«, in: 2/1994; »1983–1993«, in: 1/1994.

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Verzeichnis der verwendeten Literatur Bering, Kunibert, Die Rolle der Kunst in der Philosophie Ludwig Wittgensteins – Impulse für die Kunstgeschichte? (= Kunst. Geschichte und Theorie, Bd. 6), Essen 1986. Berger, Christian Paul, Erstaunte Vorwegnahmen. Studien zum frühen Wittgenstein, mit einem Vorwort von Allan Janik, Wien u. a., 1992. Bezzel, Chris, Wittgenstein zur Einführung, Hamburg 2000. Bezzel, Chris (Hg.), Sagen und Zeigen. Wittgensteins »Tractatus«, Sprache und Kunst, Berlin 2005. Bezzel, Chris, Wittgenstein, Stuttgart 2007. Bezzel, Chris, »Sprachkörper. Für eine phonologische Poetik«, in: Kodikas/Code 31 (2008), Nr. 1–2, S. 69–90. Biesenbach, Hans, Anspielungen und Zitate in den Schriften Ludwig Wittgensteins, als PDF-Datei abrufbar auf der Website der Internationalen Wittgenstein Gesellschaft unter: http://www.ilwg.eu/files/Anspielungen%20u%20Zitate% 20I.pdf (Abruf 23. 3. 09) Birnbacher, Dieter, »Wittgenstein und die Musik«, in: Wittgenstein und sein Einfluß auf die gegenwärtige Philosophie. Akten des 2. Internationalen Wittgenstein-Symposiums 1977, Wien 1978, 542–544. Birnbacher, Dieter, »Musik und Musikalisches bei Wittgenstein«, in: Musik& Ästhetik 46, (April 2008), S. 49–64. Blume, Thomas, »Der soziale Aspekt von Regelfolgen«, in: Institutionen und Regelfolgen, hrsg. v. Ulrich Baltzer und Gerhard Schönrich, Paderborn 2002, S. 45–57. Blume, Thomas, Wittgensteins Schmerzen. Ein halbes Jahrhundert im Rückblick, Paderborn 2002. Borsche, Tillmann (Hg.), Klassiker der Sprachphilosophie. Von Platon bis Noam Chomsky, München 1996. Bouveresse, Jacques, Wittgenstein: La rime et la raison. Science, Éthique et Esthétique, Paris 1973 (dt. Ausgabe: Poesie und Prosa. Wittgenstein über Wissenschaft, Ethik und Ästhetik, Düsseldorf 1994). Budd, Malcolm, Wittgenstein’s Philosophy of Psychology, London 1989. Cavell, Stanley, Must we mean what we say? A Book of Essays, [1987] Cambridge/Mass. 2003. Cavell, Stanley, Der Anspruch der Vernunft. Wittgenstein, Skeptizismus, Moral und Tragödie (Oxford 1979), Frankfurt a. M. 2006. Cavell, Stanley, »Einführende Bemerkung zur Alltagsästhetik der ›Philosophischen Untersuchungen‹«, in: Wittgenstein und die Literatur, hrsg. v. John Gibson und Wolfgang Huemer, übersetzt von Martin Suhr, Frankfurt a. M. 2006, S. 39–57. Chatterjee, Ranjit, Wittgenstein and Judaism. A triumph of concealment (= Studies in Judaism Bd. 1), New York u. a. 2005. De la Motte-Haber, Helga, »Ludwig Wittgenstein und die Musik« in: Ludwig Wittgenstein. Ingenieur – Philosoph – Künstler (= Wittgensteiniana Bd. 1), hrsg. v. Günter Abel, Matthias Kroß und Michael Nedo, S. 257–266. Eggers, Katrin, »Form und Inhalt in der Musik – Wittgensteins Beitrag zu einem zentralen musikphilosophischen Problem«, in: Bild und Bildlichkeit in Philoso-

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Dank

Die vorliegende Arbeit wurde Ende des Jahres 2009 an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover als Dissertation angenommen. Für die großzügige und unbürokratische finanzielle Unterstützung während meiner Promotion danke ich der Studienstiftung des Deutschen Volkes, für die Förderung der Drucklegung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften. Mein Dank gilt ferner Dr. Stefan Lorenz Sorgner für seine Beratung und Vermittlung und Lukas Trabert vom Verlag Karl Alber für seine umsichtige und freundliche Betreuung bei der Drucklegung. Ein besonderer Dank gilt aber meiner Doktormutter Prof. Dr. Susanne Rode-Breymann, die das Wuchern von Ideen in allen Phasen stets mit großer Toleranz und Vertrauen begleitet hat. So danke ich auch Prof. Dr. Chris Bezzel für seine ideenreiche wie unkonventionelle Unterstützung dieser Arbeit. Für intensive Diskussionen und kritische Auseinandersetzungen bin ich außerdem Prof. Dr. Ingolf Max zu Dank verpflichtet, produktive Anregung verdanke ich zudem Prof. Dr. Hermann Danuser, Prof. Dr. Andreas Dorschel und Prof. Dr. Annette Kreutziger-Herr. Begleitet haben mich auf dem Weg mit Ermunterung und kreativen Anregungen von ersten Ideen bis hin zu diesem Buch viele Freunde: PD Dr. Sabine Meine, Dr. Nina Noeske, Birgit Saak, Dr. Carolin Stahrenberg, Katharina Talkner, Prof. Dr. Melanie Unseld und insbesondere Dr. Regina Schober, sowie meine Eltern und mein Bruder, denen ich für ihre vielseitige Unterstützung zu großem Dank verpflichtet bin. Und schließlich gilt mein größter Dank Michael Lehner für lebhafte Diskussionen, konstruktive Kritik und seine unerschöpfliche Geduld.

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